Plenarprotokoll 15/126

Deutscher

Stenografischer Bericht

126. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Inhalt:

Nachruf auf den Abgeordneten Hans Büttner 11441 A der Fraktion der CDU/CSU: Für eine mo- derne als Pfeiler einer ver- Entsendung des Abgeordneten Hellmut lässlichen Sicherheits- und Verteidi- Königshaus als stellvertretendes Mitglied im gungspolitik Deutschlands Kuratorium der Stiftung „Erinnerung, (Drucksachen 15/2388, 15/3126) ...... 11443 A Verantwortung und Zukunft“ ...... 11441 C d) Beschlussempfehlung und Bericht des Erweiterung der Tagesordnung ...... 11441 D Verteidigungsausschusses zu dem Antrag Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord- der Abgeordneten Günther Friedrich neten Hartmut Schauerte ...... 11442 C Nolting, Helga Daub, Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Begrüßung des Präsidenten des jordanischen der FDP: Wehrpflicht aussetzen Parlaments al-Majali ...... 11442 D (Drucksachen 15/1357, 15/2963) ...... 11443 B e) Beschlussempfehlung und Bericht des Tagesordnungspunkt 3: Verteidigungsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Christian Schmidt a) Beschlussempfehlung und Bericht des (Fürth), , Ernst-Reinhard Verteidigungsausschusses zu dem Antrag Beck (Reutlingen), weiterer Abgeordne- der Abgeordneten , ter und der Fraktion der CDU/CSU: Für Reinhold Robbe, Ulrike Merten, weiterer den Erhalt sicherheitsrelevanter Struk- Abgeordneter und der Fraktion der SPD turen in der Bundeswehr sowie der Abgeordneten Alexander (Drucksachen 15/2824, 15/3263) ...... 11443 B Bonde, , (Köln), weiterer Abgeordneter und der (SPD) ...... 11443 C Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) GRÜNEN: Durch Transformation die (CDU/CSU) ...... 11444 D Bundeswehr zukunftsfähig gestalten (Drucksachen 15/2656, 15/3125) ...... 11442 D Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 11446 B b) Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses zu dem Antrag Dr. (FDP) ...... 11447 C der Abgeordneten Günther Friedrich Dr. Peter Struck, Bundesminister BMVg . . . . 11449 A Nolting, Jürgen Koppelin, Helga Daub, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU) . . . . . 11452 A der FDP: Zukunftsfähigkeit der Bun- Marianne Tritz (BÜNDNIS 90/ deswehr herstellen – Wehrpflicht aus- DIE GRÜNEN) ...... 11455 A setzen Günther Friedrich Nolting (FDP) ...... (Drucksachen 15/2662, 15/3127) ...... 11443 A 11456 C Rainer Arnold (SPD) ...... 11457 D c) Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses zu dem Antrag Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU) . . . 11458 D II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Ursula Lietz (CDU/CSU) ...... 11460 B 1563 (2004) vom 17. September 2004 des Sicherheitsrats der Vereinten Na- Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) ...... 11461 C tionen Reinhold Robbe (SPD) ...... 11462 D (Drucksache 15/3710) ...... 11490 B Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) b) Erste Beratung des von der Bundes- (CDU/CSU) ...... 11464 B regierung eingebrachten Entwurfs eines Dr. Hans-Peter Bartels (SPD) ...... 11465 C Einundzwanzigsten Gesetzes zur Ände- rung des Bundesausbildungsförderungs- Ina Lenke (FDP) ...... 11466 A gesetzes (21. BAföGÄndG) Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (Drucksache 15/3655 ) ...... 11490 C (CDU/CSU) ...... 11467 B c) Erste Beratung des von der Bundes- Jürgen Herrmann (CDU/CSU) ...... 11467 D regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung von Verjäh- Hans Raidel (CDU/CSU) ...... 11469 B rungsvorschriften an das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts Namentliche Abstimmung ...... 11470 C (Drucksache 15/3653) ...... 11490 C d) Erste Beratung des von der Bundes- Ergebnis ...... 11475 C regierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Transfusionsgesetzes und arzneimittel- Tagesordnungspunkt 4: rechtlicher Vorschriften Antrag der Abgeordneten Johannes (Drucksache 15/3593 ) ...... 11490 C Singhammer, Karl-Josef Laumann, Dagmar e) Erste Beratung des von der Bundes- Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der Frak- regierung eingebrachten Entwurfs eines tion der CDU/CSU: Arbeitsmarktstatistik Gesetzes zur Umsetzung der Richt- aussagekräftig gestalten – Ausmaß der Un- linie 2002/87/EG des Europäischen Par- terbeschäftigung verdeutlichen laments und des Rates vom 16. Dezem- (Drucksache 15/3451) ...... 11470 D ber 2002 (Finanzkonglomeratericht- (CDU/CSU) ...... 11471 A linie – Umsetzungsgesetz) (Drucksache 15/3641 ) ...... 11490 C Klaus Brandner (SPD) ...... 11472 C (FDP) ...... 11477 B f) Erste Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines (BÜNDNIS 90/ Gesetzes zur Änderung des Patentgeset- DIE GRÜNEN) ...... 11479 A zes und anderer Vorschriften des ge- Dirk Niebel (FDP) ...... 11481 A werblichen Rechtsschutzes (Drucksache 15/3658) ...... 11490 C Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 11481 C g) Bericht des Ausschusses für Bildung, For- schung und Technikfolgenabschätzung Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) ...... 11482 A gemäß § 56 a der Geschäftsordnung: Tech- , Parl. Staatssekretär nikfolgenabschätzung – hier: Monito- BMWA ...... 11484 B ring „Maßnahmen für eine nachhaltige Energieversorgung im Bereich Mobi- Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU) ...... 11486 C lität“ Walter Hoffmann (Darmstadt) (SPD) ...... 11488 C (Drucksache 15/851) ...... 11491 A

Tagesordnungspunkt 23: Zusatztagesordnungspunkt 3: a) Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung a) Erste Beratung des von den Abgeordneten der Beteiligung bewaffneter deutscher Joachim Stünker, Hermann Bachmaier, Streitkräfte an dem Einsatz einer Inter- Sabine Bätzing, weiteren Abgeordneten nationalen Sicherheitsunterstützungs- und der Fraktion der SPD sowie den Ab- truppe in Afghanistan unter Führung geordneten , Irmingard der NATO auf Grundlage der Resolu- Schewe-Gerigk, Hans-Christian Ströbele, tionen 1386 (2001) vom 20. Dezember weiteren Abgeordneten und der Fraktion 2001, 1413 (2002) vom 23. Mai 2002, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN 1444 (2002) vom 27. November 2002, eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes 1510 (2003) vom 13. Oktober 2003 und über die Rechtsbehelfe bei Verletzung Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 III

des Anspruchs auf rechtliches Gehör sit durch Österreich vom 1. Januar (Anhörungsrügengesetz) 2004 bis zum 30. April 2004 (Drucksache 15/3706) ...... 11491 A Vorschlag für einen Beschluss des b) Antrag der Abgeordneten Wolfgang Rates über den Abschluss eines Ab- Börnsen (Bönstrup), Dirk Fischer (Ham- kommens in Form eines Briefwech- burg), , weiterer Abgeord- sels zwischen der Europäischen neter und der Fraktion der CDU/CSU: Gemeinschaft und der Republik Slo- Radverkehr fördern – Fortschrittsbe- wenien über das vorläufige Punkte- richt vorlegen system für Lastkraftwagen im Tran- (Drucksache 15/3708) ...... 11492 B sit durch Österreich vom 1. Januar 2004 bis zum 30. April 2004 c) Antrag der Abgeordneten Günther KOM (2003) 835 endg.; Friedrich Nolting, Dr. , Ratsdok. 5100/04 Helga Daub, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Mandat für Kabul – zu der Unterrichtung durch die Bun- und Kunduz/Faizabad trennen desregierung: (Drucksache 15/3712) ...... 11492 B Vorschlag für einen Beschluss des Rates über die Unterzeichnung und vorläufige Anwendung einer Ver- Zur Geschäftsordnung ...... 11491 C waltungsvereinbarung in Form ei- nes Briefwechsels zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Tagesordnungspunkt 24: Schweizerischen Eidgenossenschaft über das vorläufige Punktesystem a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung für Lastkraftwagen im Transit des von der Bundesregierung eingebrach- durch Österreich ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Europäischen Übereinkommen vom Vorschlag für einen Beschluss des 19. August 1985 über Gewalttätigkeit Rates über den Abschluss einer und Fehlverhalten von Zuschauern bei Verwaltungsvereinbarung in Form Sportveranstaltungen und insbesondere eines Briefwechsels zwischen der bei Fußballspielen Europäischen Gemeinschaft und der (Drucksachen 15/3354, 15/3736) ...... 11491 C Schweizerischen Eidgenossenschaft über das vorläufige Punktesystem c) Beschlussempfehlung und Bericht des für Lastkraftwagen im Transit Ausschusses für Verkehr, Bau- und durch Österreich Wohnungswesen zu der Unterrichtung KOM (2003) 836 endg.; durch die Bundesregierung: Vorschlag Ratsdok. 5102/04 für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Ver- – zu der Unterrichtung durch die Bun- wendung von Frontschutzbügeln an desregierung: Fahrzeugen und zur Änderung der Richtlinie 70/156/EWG des Rates Vorschlag für einen Beschluss des KOM (2003) 586 endg.; Rates über die Unterzeichnung und Ratsdok. 13693/03 vorläufige Anwendung eines Ab- (Drucksachen 15/2028 Nr. 2.16, 15/3540) 11491 D kommens in Form eines Briefwech- sels zwischen der Europäischen d) Beschlussempfehlung und Bericht des Gemeinschaft und der Republik Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh- Kroatien über das vorläufige Punk- nungswesen tesystem für Lastkraftwagen im Transit durch Österreich – zu der Unterrichtung durch die Bun- desregierung: Vorschlag für einen Beschluss des Rates über den Abschluss eines Ab- Vorschlag für einen Beschluss des kommens in Form eines Briefwech- Rates über die Unterzeichnung und sels zwischen der Europäischen vorläufige Anwendung eines Ab- Gemeinschaft und der Republik kommens in Form eines Briefwech- Kroatien über das vorläufige Punk- sels zwischen der Europäischen tesystem für Lastkraftwagen im Gemeinschaft und der Republik Slo- Transit durch Österreich wenien über das vorläufige Punkte- KOM (2003) 833 endg.; system für Lastkraftwagen im Tran- Ratsdok. 5103/04 IV Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

– zu der Unterrichtung durch die Bun- menübereinkommen der Weltgesund- desregierung: heitsorganisation vom 21. Mai 2003 zur Eindämmung des Tabakgebrauchs (Ge- Vorschlag für einen Beschluss des setz zu dem Tabakrahmenübereinkom- Rates über die Unterzeichnung und men) vorläufige Anwendung eines Ab- (Drucksachen 15/3353, 15/3734) ...... 11494 A kommens in Form eines Briefwech- sels zwischen der Europäischen Ge- c) Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/ meinschaft und der ehemaligen CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Jugoslawischen Republik Mazedo- NEN und der FDP: Für eine parlamenta- nien über das vorläufige Punktesys- rische Dimension im System der Verein- tem für Lastkraftwagen im Transit ten Nationen durch Österreich (Drucksache 15/3711) ...... 11494 B Vorschlag für einen Beschluss des Rates über den Abschluss eines Ab- Zusatztagesordnungspunkt 1: kommens in Form eines Briefwech- sels zwischen der Europäischen Aktuelle Stunde auf Verlangen der Frak- Gemeinschaft und der ehemaligen tionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/ Jugoslawischen Republik Mazedo- DIE GRÜNEN: Positive Entwicklung des nien über das vorläufige Punktesys- Gewerbesteueraufkommens bei den Kom- tem für Lastkraftwagen im Transit munen ...... 11494 B durch Österreich Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin KOM (2003) 837 endg.; BMF ...... 11494 C Ratsdok. 5104/04 (CDU/CSU) ...... 11496 B (Drucksachen 15/2519 Nrn. 2.18, 2.19, 2.20, 2.21, 2)15/3579) ...... 11492 A (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 11497 C e) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit zu Dr. (FDP) ...... 11498 D der Verordnung der Bundesregierung: Bernd Scheelen (SPD) ...... 11499 C Einhundertdritte Verordnung zur Än- derung der Ausfuhrliste – Anlage AL (CDU/CSU) ...... 11501 B zur Außenwirtschaftsverordnung – Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ (Drucksachen 15/3282, 15/3393 Nr. 2.1, DIE GRÜNEN) ...... 11502 C 15/3733) ...... 11492 D Peter Götz (CDU/CSU) ...... 11503 C f) Beratung des Zweiten Berichts des Aus- schusses für Wahlprüfung, Immunität und Ingrid Arndt-Brauer (SPD) ...... 11504 D Geschäftsordnung zu den Überprüfungs- Heinz Seiffert (CDU/CSU) ...... verfahren nach § 44 b Abgeordnetenge- 11505 D setz (AbgG) Simone Violka (SPD) ...... 11506 D (Drucksache 15/3608) ...... 11493 A Elke Wülfing (CDU/CSU) ...... 11508 B g) – m) Horst Schild (SPD) ...... 11509 C Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) ...... schusses: 11511 A Sammelübersichten 138, 139, 140, 141, (SPD) ...... 11511 D 142, 143 und 144 zu Petitionen (Drucksachen 15/3685, 15/3686, 15/3687, 15/3688, 15/3689, 15/3690, 15/3691) . . . . 11493 A Tagesordnungspunkt 5: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Bildung, Forschung und Tech- Zusatztagesordnungspunkt 4: nikfolgenabschätzung a) Zweite und dritte Beratung des vom Bun- – zu dem Antrag der Abgeordneten desrat eingebrachten Entwurfs eines Ge- (Spandau), Jörg Tauss, setzes zur Änderung des Fleischhygie- , weiterer Abgeordneter negesetzes und der Fleischhygiene- und der Fraktion der SPD sowie der Verordnung Abgeordneten Peter Hettlich, Volker (Drucksachen 15/2772, 15/3735) ...... 11493 D Beck (Köln), Hans-Josef Fell, weite- b) Zweite Beratung und Schlussabstimmung rer Abgeordneter und der Fraktion des des von der Bundesregierung eingebrach- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Rah- Deutsche und europäische Raum- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 V

fahrtpolitik zukunftsorientiert ge- Ernst Hinsken (CDU/CSU) ...... 11531 B stalten Gudrun Kopp (FDP) ...... 11533 B – zu dem Antrag der Abgeordneten Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/ Dr. Georg Nüßlein, , DIE GRÜNEN) ...... 11534 B , weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der CDU/CSU: (CDU/CSU) ...... 11535 A Stärkung der wissenschaftlichen Zu- kunfts- und wirtschaftlichen Wett- bewerbsfähigkeit des Raumfahrt- Tagesordnungspunkt 7: standorts Deutschland in Europa Erste Beratung des von der Bundesregierung – zu dem Antrag der Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur , Ulrike Flach, Neuordnung des Lebensmittel- und des (Homburg), wei- Futtermittelrechts terer Abgeordneter und der Fraktion (Drucksache 15/3657 ) ...... 11536 C der FDP: Stärkung der europäischen Renate Künast, Bundesministerin Raumfahrtpolitik – Gewinn für den BMVEL ...... 11536 D Wirtschafts- und Forschungsstand- ort Deutschland (CDU/CSU) ...... 11537 C – zu der Unterrichtung durch die Bun- Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) ...... 11538 B desregierung: Gabriele Hiller-Ohm (SPD) ...... 11539 A Weißbuch Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) ...... 11540 D Die Raumfahrt: Europäische Hori- zonte einer erweiterten Union Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ Aktionsplan für die Durchführung DIE GRÜNEN) ...... 11542 A der europäischen Raumfahrtpolitik Uda Carmen Freia Heller (CDU/CSU) . . . . . 11542 C KOM (2003) 673 endg.; Ratsdok. 14886/03 Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) ...... 11543 D (Drucksachen 15/2394, 15/2334, 15/1230, Ursula Heinen (CDU/CSU) ...... 11545 A 15/237 Nr. 2.2, 15/3539) ...... 11513 C Swen Schulz (Spandau) (SPD) ...... 11513 D Tagesordnungspunkt 8: Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) ...... 11515 D Antrag der Abgeordneten Dirk Fischer (Ham- Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/ burg), Eduard Oswald, Dr. Klaus W. Lippold DIE GRÜNEN) ...... 11519 A (Offenbach), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Luftverkehrsstand- Cornelia Pieper (FDP) ...... 11520 D ort Deutschland sichern (Drucksache 15/3312) ...... 11546 C , Bundesministerin BMBF ...... 11522 A Norbert Königshofen (CDU/CSU) ...... 11546 C Jörg Tauss (SPD) ...... 11523 A Nina Hauer (SPD) ...... 11547 D (CDU/CSU) ...... 11524 D (Bayreuth) (FDP) ...... 11549 A Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär (BÜNDNIS 90/ BMWA ...... 11526 D DIE GRÜNEN) ...... 11549 D Ilse Aigner (CDU/CSU) ...... 11528 A Klaus Minkel (CDU/CSU) ...... 11551 B Hans-Günter Bruckmann (SPD) ...... 11552 B Tagesordnungspunkt 6: Große Anfrage der Abgeordneten Karl-Josef Tagesordnungspunkt 11: Laumann, Dagmar Wöhrl, Veronika Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Bellmann, weiterer Abgeordneter und der schusses für Kultur und Medien zu dem An- Fraktion der CDU/CSU: Anerkennung von trag der Abgeordneten , Berufsqualifikationen von Handwerk, Eckhardt Barthel (Berlin), , freien Berufen und Industrie weiterer Abgeordneter und der Fraktion der (Drucksachen 15/1378, 15/2236) ...... 11529 A SPD sowie der Abgeordneten Dr. , Volker Beck (Köln), Grietje Bettin, Ernst Hinsken (CDU/CSU) ...... 11529 A weiterer Abgeordneter und der Fraktion Christian Lange (Backnang) (SPD) ...... 11531 A des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: VI Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Schaffung eines internationalen Instru- Bekämpfung des internationalen Terro- ments zum Schutz der kulturellen Vielfalt rismus vorlegen unterstützen (Drucksache 15/3386 ) ...... 11568 A (Drucksachen 15/3054, 15/3584) ...... 11553 C (CDU/CSU) ...... 11568 B Monika Griefahn (SPD) ...... 11553 D Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP) ...... 11555 A BMI ...... 11570 A Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/ Dr. (FDP) ...... 11571 C DIE GRÜNEN) ...... 11555 D (BÜNDNIS 90/ Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP) . . . . 11556 A DIE GRÜNEN) ...... 11572 C Siegmund Ehrmann (SPD) ...... 11557 B (CDU/CSU) ...... 11573 B Frank Hofmann (Volkach) (SPD) ...... 11574 A Tagesordnungspunkt 10: Antrag der Abgeordneten Dr. Hermann Otto Nächste Sitzung ...... 11575 C Solms, Dr. Andreas Pinkwart, Carl-Ludwig Thiele, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der FDP: Reform der Umsatzsteuer – Anlage 1 Durch Umstellung von der Soll- auf die Ist- besteuerung Umsatzsteuerbetrug wirksam Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 11577 A bekämpfen und unnötige Liquiditätsbelas- tungen der Wirtschaft vermeiden (Drucksache 15/2977) ...... 11558 B Anlage 2 Dr. (FDP) ...... 11558 C Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten (CDU/CSU) zur namentlichen Lydia Westrich (SPD) ...... 11559 B Abstimmung über den Antrag: Wehrpflicht Peter Rzepka (CDU/CSU) ...... 11560 D aussetzen (Tagesordnungspunkt 3 d) ...... 11577 A Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 11563 A Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Tagesordnungspunkt 13: und Dr. Gesine Lötzsch (beide frak- tionslos) zur namentlichen Abstimmung über Erste Beratung des von der Bundesregierung den Antrag: Wehrpflicht aussetzen (Tagesord- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur nungspunkt 3 d) ...... 11577 B Neugestaltung des UIG (Drucksachen 15/3406, 15/3680 ) ...... 11564 A Jürgen Trittin, Bundesminister BMU ...... 11564 B Anlage 4 (CDU/CSU) ...... 11565 A Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten , Winfried Hermann, Hans- (SPD) ...... 11566 C Josef Fell, (Augsburg), Josef (FDP) ...... 11567 B Philip Winkler, Marianne Tritz, Dr. Ludger Volmer, , Jutta Dümpe-Krüger, Petra Selg, Volker Beck (Köln) und Anna Tagesordnungspunkt 12: Lührmann (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN) zur namentlichen Abstimmung über a) Antrag der Abgeordneten Wolfgang den Antrag: Wehrpflicht aussetzen (Tagesord- Bosbach, Hartmut Koschyk, Katherina nungspunkt 3 d) ...... 11577 D Reiche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Gesamtkonzept zur Abwehr bioterroristischer Gefah- Anlage 5 ren vorlegen (Drucksache 15/3487) ...... 11567 D Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Antrags: Schaffung eines internationalen In- b) Antrag der Abgeordneten Dr. Max Stadler, struments zum Schutz der kulturellen Vielfalt Jörg van Essen, Gisela Piltz, weiterer Ab- unterstützen (Tagesordnungspunkt 11) geordneter und der Fraktion der FDP: Evaluierungsbericht zu dem Gesetz zur Günter Nooke (CDU/CSU) ...... 11578 C Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 VII

Anlage 6 – Evaluierungsbericht zu dem Gesetz zur Bekämpfung des internationalen Terroris- Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung der mus vorlegen Anträge: (Tagesordnungspunkt 12) – Gesamtkonzept zur Abwehr bioterroristi- scher Gefahren vorlegen Petra Pau (fraktionslos) ...... 11580 C

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11441

(A) (C) Redetext

126. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Beginn: 9.00 Uhr

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Grenzen des Machbaren stoßen lassen. Bedürftigen zu Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die helfen, ob in Botsuana oder in Bodenmais, war das Le- Sitzung ist eröffnet. bensmotto Hans Büttners. Er sprach nicht viel darüber, er tat es. (Die Anwesenden erheben sich) Wir werden Hans Büttner in ehrender Erinnerung be- Wir sind tief betroffen vom Tod unseres Kollegen halten. Unser tiefes Mitgefühl gilt seiner Ehefrau und Hans Büttner, der am Samstag, dem 18. September seiner Familie. 2004, einen Monat vor seinem 60. Geburtstag, verstarb. Sie haben sich zu seinen Ehren erhoben. Ich danke Ih- Geboren am 18. Oktober 1944 in Ingolstadt, blieb er nen dafür. seiner Heimat auch in seinem politischen Engagement immer eng verbunden. Beständigkeit, Aufrichtigkeit und Die Fraktion der FDP schlägt als Nachfolger für den Gerechtigkeitssinn: Diese Eigenschaften prägten seine verstorbenen Kollegen Dr. Rexrodt den Kollegen (B) Arbeit als Parlamentarier und Gewerkschafter. Hellmut Königshaus als stellvertretendes Mitglied im (D) Kuratorium der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung Als grundgütig und gerecht und als sehr menschlich und Zukunft“ vor. Sind Sie damit einverstanden? – Ich haben ihn alle empfunden, die mit ihm gearbeitet haben. höre keinen Widerspruch. Dann ist der Kollege Hellmut Zugleich setzte sich Hans Büttner seit mehr als Königshaus als stellvertretendes Mitglied in das Kurato- 30 Jahren für die Interessen der Menschen in den Ent- rium dieser Stiftung entsandt. wicklungsländern, für internationale Gerechtigkeit und für ein gewaltloses Zusammenleben ein. Sein besonde- Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene res Engagement galt Afrika und insbesondere den Län- Tagesordnung um die in einer Zusatzpunktliste aufge- dern des südlichen Afrikas, die er als Entwicklungsbera- führten Punkte zu erweitern: ter von 1978 bis 1982 auch persönlich kennen gelernt 1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Positive Entwicklung hatte. Hans Büttner hat Afrika nicht nur intellektuell, des Gewerbesteueraufkommens bei den Kommunen sondern auch mit dem Herzen verstanden. 2. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP zu den Dem Deutschen Bundestag gehörte der Verstorbene Antworten der Bundesregierung auf die dringlichen Fragen seit 1990 an. Auch hier hat er als Mitglied des Auswärti- auf Drucksache 15/3705: Äußerungen von Bundesminister Schily zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gen Ausschusses, als stellvertretender Vorsitzender und zum Antrag auf Verbot der NPD als Sprecher des Unterausschusses Globalisierung und (siehe 125. Sitzung) Weltwirtschaft, als Vorsitzender der Parlamentarier- 3. Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren gruppe für das südliche Afrika und als Sprecher seiner (Ergänzung zu TOP 23) Fraktion wichtige Akzente für die Meinungsbildung des a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Joachim Parlaments zur Entwicklungspolitik gesetzt. Als Mitglied Stünker, Hermann Bachmaier, Sabine Bätzing, weiteren des Sportausschusses nahm er sich besonders der Förde- Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abge- rung des Behindertensports und der Paralympics an. ordneten Jerzy Montag, Irmingard Schewe-Gerigk, Hans- Christian Ströbele, weiteren Abgeordneten und der Frak- Gleichgültig, ob sich Hans Büttner in Südafrika oder tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Rechtsbehelfe bei in seinem Wahlkreis engagierte: Wichtig war ihm stets Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (An- die Nähe zu den Menschen und das Gespräch mit ihnen, hörungsrügengesetz) das er als wichtige Unterstützung und als Grundpfeiler – Drucksache 15/3706 – seiner Arbeit ansah. Das Wort Nein hat man von ihm nie Überweisungsvorschlag: gehört. Er war immer für jeden da. Dieses unablässige Rechtsausschuss (f) Bemühen um die Sorgen und Probleme von Mitmen- Innenausschuss schen hat Hans Büttner bisweilen angestrengt und an die Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung 11442 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Außerdem wurde vereinbart, den Tagesordnungs- (C) Börnsen (Bönstrup), Dirk Fischer (Hamburg), Eduard punkt 11 – dabei geht es um den Schutz der kulturellen Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Radverkehr fördern – Fortschrittsbericht Vielfalt – nach Tagesordnungspunkt 8 und Tagesord- vorlegen nungspunkt 13 bereits nach Tagesordnungspunkt 10 auf- – Drucksache 15/3708 – zurufen. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Des Weiteren sollen folgende Tagesordnungspunkte Ausschuss für Tourismus abgesetzt werden: Tagesordnungspunkt 9, Tagesord- Haushaltsausschuss nungspunkt 21 und Tagesordnungspunkt 24 b. c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Günther Friedrich Nolting, Dr. Werner Hoyer, Helga Daub, weite- Außerdem mache ich auf eine nachträgliche Überwei- rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Mandat für sung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Kabul und Kunduz/Faizabad trennen – Drucksache 15/3712 – Der in der 102. Sitzung des Deutschen Bundestages Überweisungsvorschlag: überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Auswärtiger Ausschuss (f) Haushaltsausschuss zur Mitberatung überwiesen wer- Rechtsausschuss den. Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Antrag der Abgeordneten , Gudrun Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Kopp, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter Haushaltsausschuss und der Fraktion der FDP: Privatisierung und 4. Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache öffentlich-private Partnerschaften (Ergänzung zu TOP 24) a) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat einge- – Drucksache 15/2601 – brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des überwiesen: Fleischhygienegesetzes und der Fleischhygiene-Ver- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) ordnung Innenausschuss – Drucksache 15/2772 – Rechtsausschuss (Erste Beratung 108. Sitzung) Finanzausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? – (10. Ausschuss) Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. – Drucksache 15/3735 – Berichterstattung: Zu guter Letzt möchte ich dem Kollegen Hartmut (B) Abgeordnete Dr. Wilhelm Priesmeier Schauerte, der am 13. September seinen 60. Geburtstag (D) Uda Carmen Freia Heller beging, nachträglich die besten Glückwünsche des Hau- Dr. Christel Happach-Kasan ses übermitteln. b) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der (Beifall) Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Rahmenübereinkommen der Weltgesund- Auf der Tribüne hat soeben der Parlamentspräsident heitsorganisation vom 21. Mai 2003 zur Eindämmung des Tabakgebrauchs (Gesetz zu dem Tabakrahmen- al-Majali aus Jordanien mit seiner Delegation Platz ge- übereinkommen) nommen. Wir begrüßen Sie alle sehr, sehr herzlich. – Drucksache 15/3353 – (Beifall) (Erste Beratung 118. Sitzung) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wir hoffen, dass Sie einen aufschlussreichen Eindruck Gesundheit und Soziale Sicherung (13. Ausschuss) von unserer parlamentarischen Arbeit gewinnen können. – Drucksache 15/3734 – Für Ihren Aufenthalt heute hier in unserem Haus, für Ihr Berichterstattung: weiteres parlamentarisches Wirken und auch für Ihr Abgeordneter Jens Spahn Land wünschen wir Ihnen von Herzen alles Gute. c) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/ CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 e auf: FDP: Für eine parlamentarische Dimension im System der Vereinten Nationen a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- – Drucksache 15/3711 – richts des Verteidigungsausschusses (11. Aus- 5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Karl-Josef Laumann, schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer Dagmar Wöhrl, , weiterer Abgeordneter Arnold, Reinhold Robbe, Ulrike Merten, weiterer und der Fraktion der CDU/CSU: Langfristig eine einheit- Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie liche Förderung der Selbständigkeit von Arbeitslosen schaffen der Abgeordneten Alexander Bonde, Winfried – Drucksache 15/3707 – Nachtwei, Volker Beck (Köln), weiterer Abge- Überweisungsvorschlag: ordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) DIE GRÜNEN Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Haushaltsausschuss Durch Transformation die Bundeswehr zu- kunftsfähig gestalten Von der Frist für den Beginn der Beratung soll – so- weit erforderlich – abgewichen werden. – Drucksachen 15/2656, 15/3125 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11443

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Berichterstattung: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für (C) Abgeordnete Rainer Arnold die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre Christian Schmidt (Fürth) keinen Widerspruch. Dann ist auch so beschlossen. b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst richts des Verteidigungsausschusses (11. Aus- der Abgeordnete Gernot Erler. schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Günther Friedrich Nolting, Jürgen Koppelin, Gernot Erler (SPD): Helga Daub, weiterer Abgeordneter und der Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fraktion der FDP Wenn im Deutschen Bundestag Debatten über die Bun- Zukunftsfähigkeit der Bundeswehr herstel- deswehr stattfinden, dann kann man ein bestimmtes len – Wehrpflicht aussetzen Ritual beobachten: Fast jeder Redner bringt irgendwann seinen Dank und seinen Respekt für die Arbeit der Sol- – Drucksachen 15/2662, 15/3127 – datinnen und Soldaten zum Ausdruck. Danach geht es Berichterstattung: aber meistens sehr schnell wieder in die Tiefebenen der Abgeordnete Rainer Arnold Tagespolitik. Diese Auseinandersetzung wird dann nicht Christian Schmidt (Fürth) selten auf dem Rücken derer ausgetragen, denen man ge- rade seinen Dank ausgesprochen hat. c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Verteidigungsausschusses (11. Aus- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So ist schuss) zu dem Antrag der Fraktion der CDU/ das!) CSU Ich möchte heute einen anderen Weg wählen. Ich Für eine moderne Bundeswehr als Pfeiler ei- möchte meinen Dank und meinen Respekt nicht direkt, ner verlässlichen Sicherheits- und Verteidi- sondern indirekt zum Ausdruck bringen, und zwar da- durch, dass ich auf einige Realitäten zu sprechen gungspolitik Deutschlands komme. Dabei möchte ich ein Beispiel wählen. – Drucksachen 15/2388, 15/3126 – Wenn wir von einer jungen Frau oder einem jungen Berichterstattung: Mann hören, der oder die einen vollen Beruf ausübt, um Abgeordnete Rainer Arnold den Lebensunterhalt für sich selbst und vielleicht die ei- Christian Schmidt (Fürth) gene Familie zu verdienen, und daneben noch eine volle Ausbildung oder ein volles Studium absolviert, dann d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- (B) zollen wir ihm oder ihr häufig Respekt und Anerken- (D) richts des Verteidigungsausschusses (11. Aus- nung. Manchmal haben wir auch Sorge, ob das nicht zu schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten einer Überforderung führt. Günther Friedrich Nolting, Helga Daub, Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der Frak- Wenn wir hier von Realitäten sprechen, so behaupte tion der FDP ich: Exakt das ist schon seit langer Zeit die Realität in der Bundeswehr. Dort üben viele Tausende von Frauen Wehrpflicht aussetzen und Männern in der Tat einen Full-Time-Job aus, seit – Drucksachen 15/1357, 15/2963 – dem Jahr 1990 unter ständigen Umstrukturierungen und seit dem Jahr 2000 auch in einem Prozess der vollen Berichterstattung: Transformation, der geradezu verharmlosend Bundes- Abgeordnete Dr. Hans-Peter Bartels wehrreform genannt wird. Nebenbei müssen sie sich Christian Schmidt (Fürth) noch einem außerordentlich fordernden Lernprozess un- terziehen, der mit einer kompletten Ausbildung oder ei- e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- nem kompletten Studium gleichzusetzen ist. Dabei wird richts des Verteidigungsausschusses (11. Aus- auch noch ein völliges Umstellen und Umdenken auf schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten neue Herausforderungen verlangt. Christian Schmidt (Fürth), Ulrich Adam, Ernst- Reinhard Beck (Reutlingen), weiterer Abgeord- Während diese Transformation in diesem Umfang neter und der Fraktion der CDU/CSU stattfindet, haben wir eine Dauerhöchstbelastung der Bundeswehr mit aktuell 7 180 Soldaten im Dienst von Für den Erhalt sicherheitsrelevanter Struktu- schwierigen Auslandsmissionen zu verzeichnen, aber ren in der Bundeswehr auch – das dürfen wir nicht vergessen – mit ständig dop- – Drucksachen 15/2824, 15/3263 – pelt so vielen, die sich auf einen solchen Einsatz vorbe- reiten, und ebenso vielen, die einen solchen Einsatz hin- Berichterstattung: ter sich haben, ihn verarbeiten müssen, die Lehren Abgeordnete Rolf Kramer daraus zu ziehen haben und sich in der Regel auf eine Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) Wiederholung einer solchen Herausforderung einstellen müssen. Über die Beschlussempfehlung des Verteidigungsaus- schusses zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Ich habe das Bild von einem voll Berufstätigen ge- Titel „Wehrpflicht aussetzen“ werden wir später nament- braucht, der neben seinem Beruf einen umfangreichen lich abstimmen. Lernprozess in Form von Ausbildung oder Studium 11444 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Gernot Erler (A) durchmacht. Das Besondere bei der Bundeswehr ist, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) dass es sich bei dieser Ausbildung auch noch um Neu- DIE GRÜNEN – Widerspruch bei Abgeordne- land handelt. Was heißt das: Neuland? Ich meine damit ten der CDU/CSU und der FDP) – lassen Sie mich das hier einmal offen sagen –, dass die Meine Fraktion unterstützt diese Politik der uneinge- europäische Politik in den 90er-Jahren versagt hat, so- schränkten Information und Transparenz nachdrücklich. dass es leider zu vier blutigen Kriegen auf europäischem Wir sind der Meinung, dass dies der richtige Weg ist. Boden in Südosteuropa gekommen ist. Je zweimal hat es in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo militärische In- (Zuruf von der SPD: So ist es! – terventionen gegeben. Die Akte der Terroristen in Af- [CDU/CSU]: Das ist unglaublich!) ghanistan haben dann zu einer militärischen Intervention an einem dritten Ort gezwungen. Im Ergebnis haben wir Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben jetzt seit 1995 in Bosnien-Herzegowina, seit 1999 im Kosovo mehrere Möglichkeiten. Natürlich kann das Parlament und seit dem Jahr 2002 in Afghanistan komplizierte, for- sein Recht wahrnehmen und entsprechende Mittel ein- dernde und schwierigste so genannte Nation-Building- setzen, um die Fehler Einzelner auszuleuchten und zu schauen, ob sich daraus Folgen für die politische Verant- Prozesse. Bei denen müssen mehr als 30 verschiedene wortungsebene ergeben. Man kann aber auch etwas an- Nationen, internationale Organisationen wie die Verein- deres tun: Man kann die Fülle von Informationen, die ten Nationen, die NATO, die EU und die OSZE, interna- auf unseren Tischen liegen, als Chance nutzen, um ein- tionale Finanzorganisationen und andere in einer völlig mal zu erfassen, wie die Situation bei den Nation-Buil- neuen Form zusammenarbeiten und bei denen muss die ding-Prozessen grundsätzlich ist und wo strukturelle Bewältigung völlig neuer Aufgaben unter völlig neuen Verbesserungen notwendig sind. Man kann schauen, wo Arbeitsformen erprobt werden. Das ist in der Tat Neu- eine bessere Abstimmung und eine bessere Kooperation land. zu organisieren ist. Auch das wäre eine Möglichkeit, un- In diese Situation haben wir die Bundeswehr prak- serer politischen Mitverantwortung für diese außeror- tisch zur Bewährung hineingeworfen, weil es nach sol- dentlich schwierigen Aufträge gerecht zu werden und chen Interventionen eine nicht mehr abweisbare Verant- anzuerkennen, unter welch schwierigen Umständen wortung für uns gibt. Wir haben ihr gesagt: Ihr – hinzu kommt der Stress durch die permanente Trans- übernehmt dort die Verantwortung für uns. Von eurem formation der Bundeswehr – die Soldaten die schwie- Erfolg hängt das Ansehen der westlichen Welt, ja auch rigen Aufgaben, die wir ihnen gegeben haben und die unseres Landes ab – so ein bisschen nach dem Motto: Neuland bedeuten, erfüllen müssen. Wir wissen zwar nicht genau, wie Nation-Building-Pro- Dieser ehrliche Umgang mit der Realität, der die Bun- zesse ablaufen; aber wir werfen euch einmal in der Hoff- (B) deswehr bei ihren Einsätzen begegnet, läge einmal au- (D) nung ins kalte Wasser, dass ihr das Schwimmen schon ßerhalb des formalen Dankes. In diesem ehrlichen Um- lernt. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, genau das ist gang mit der Realität wäre nach meiner Auffassung es, was wir mit der Bundeswehr als politisch Verant- mehr Respekt und Dank für die Soldaten enthalten als in wortliche machen. Wir tun das mit 1 150 Soldaten in den üblichen formalen Dankesbekundungen. Deshalb Bosnien-Herzegowina, mit über 1 300 im Kosovo und plädiere ich dafür. mit circa 2 400 in Afghanistan und benutzen dabei sol- che flotten Abkürzungen wie SFOR, KFOR oder ISAF (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und tun so, als ob wir genau wüssten, was das ist, wäh- DIE GRÜNEN) rend wir es in Wirklichkeit nicht wissen und auch gar Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. nicht wissen können. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Damit bin ich bei einem sehr aktuellen Thema, näm- DIE GRÜNEN) lich bei den Vorgängen um die außerordentlich tragi- schen Ereignisse am 17. und 18. März im Kosovo. Da Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: gab es Tote und Verletzte, Vertreibungen von Menschen, Das Wort hat jetzt der Abgeordnete . brennende Häuser, Kirchen und Klöster. Objektiv war das ein schwerwiegender Rückschlag bei einem dieser außerordentlich komplizierten Nation-Building-Prozes- Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (CDU/CSU): se. Es hat Untersuchungen dazu gegeben. Sie haben er- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! geben, dass es bei diesem Rückschlag in der Koopera- Der Schutz Deutschlands und seiner Bürgerinnen tion und in der Kommunikation derjenigen, die Verant- und Bürger bleibt eine wichtige Aufgabe staatlicher wortung vor Ort trugen, ebenso wie bei der Ausrüstung Sicherheitsvorsorge. Mängel gab und wahrscheinlich auch Fehler Einzelner vorgekommen sind. Es hat umfangreiche Reaktionen des So steht es im Antrag der rot-grünen Regierungs- Ministeriums und auch Maßnahmen zur Verbesserung koalition. Die Zielsetzung ist gut. Aber wie sagte schon der Fähigkeiten vor Ort gegeben. Cicero: „Epistula non erubescit“ – Papier ist geduldig. In diesem Falle muss ich sagen: sehr geduldig. Der Bundesminister der Verteidigung Peter Struck (Beifall bei der CDU/CSU) verfolgt bei diesen Vorgängen eine Position der uneinge- schränkten Transparenz und Information des Deutschen Dieser Satz in Ihrem Antrag hat einen großen Fehler, Bundestages. nämlich dass er offensichtlich nicht so gemeint sein Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11445

Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (A) kann, wie er da steht. Es handelt sich um ein reines Lip- Herr Minister, ich frage Sie: Wie viele Soldaten brau- (C) penbekenntnis der rot-grünen Koalition. Denn faktisch chen Sie für den Einsatz in Kunduz und in Faizabad? haben Sie die Landesverteidigung aus dem Aufgaben- Wenn die bisherige Stärke nicht ausreicht, dann sollten katalog der Streitkräfte gestrichen, auch wenn die Vertei- Sie dies heute dem Parlament und der deutschen Öffent- digungspolitischen Richtlinien anderes besagen – und lichkeit sagen. Dafür stehen Sie in der Verantwortung. das in der heutigen Zeit, in der uns die Menschen zu Recht fragen, wie sie vor Ort geschützt werden. Deutschland braucht aber auch ein überzeugendes Konzept zur Landesverteidigung. Richtig ist, dass die Wir fordern einen glaubhaften Schutz der Bürger vor Gefahr eines raumgreifenden, mit Panzern geführten Bedrohungen aller Art, vor Bedrohungen von außen, Krieges im Herzen Europas so nicht mehr gegeben ist. aber auch vor Bedrohungen durch Terroristen im Innern, Richtig ist aber auch, dass neue Bedrohungen und Risi- am Hindukusch ebenso wie in Heidelberg oder in Wein- ken an seine Stelle getreten sind. Nach den Anschlägen heim an der Bergstraße. in New York und Washington und nicht zuletzt im März (Beifall bei der CDU/CSU) dieses Jahres in Madrid kann keiner mehr sagen: Bei uns kann so etwas nicht passieren. Deutschland braucht endlich ein verteidigungspoliti- sches Gesamtkonzept. Dazu gehört ein stringenter Plan Ich stelle Ihnen die Frage: Welche originäre Aufgabe für den Einsatz deutscher Soldaten draußen in der Welt. hat die Bundeswehr bei der Verteidigung unseres Landes Wir führen zurzeit eine aktuelle Diskussion über den im Hinblick auf terroristische Bedrohungen? Offensicht- Sinn und Zweck unseres Engagements auf dem Balkan, lich keine bedeutende; denn ich lese nichts davon, dass speziell im Kosovo, und auch in Afghanistan. Damit Sie die Bundeswehr künftig im Innern die Rolle spielen darf, mich richtig verstehen: Wir diskutieren nicht über das die sie bei Auslandseinsätzen mit ihren spezifischen Ob, sondern über das Wie unseres Engagements. Fähigkeiten und ihrer speziellen Ausrüstung längst (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und selbstverständlich einnimmt. Die Verteidigungs- NEN]: Zum Teil schon über das Ob!) politischen Richtlinien sind nicht vom Kabinett be- schlossen. Warum, Herr Minister? Wir sind es unseren Soldaten schuldig, dass wir klar und deutlich Sinn und Ziel unserer Einsätze darlegen. Das heutige Bedrohungsszenario verlangt neue Ant- Der Wehrbeauftragte war vorgestern sehr nachdenklich. worten. Der Bürger hat das Recht, geschützt zu werden. Wir haben hier eine politische Bringschuld. Unsere Sol- Ich meine, dies kann nur durch die Bündelung aller zur daten müssen zweifelsfrei wissen, was sie im Einsatz ma- Verfügung stehenden Kräfte und Ressourcen vor Ort ge- chen dürfen und was sie machen müssen. Was im März schehen. im Kosovo geschehen ist, das darf es so nicht mehr geben. (B) Meine Damen und Herren, Verteidigung und Sicher- (D) Wenn die parlamentarischen Gremien jetzt daran ge- heit haben ihren Preis. Verpflichtungen im Rahmen der hen, diese Vorgänge zu erhellen, dann geschieht dies NATO, der EU und der UNO sind nicht zum Spartarif zu zum Schutz unserer Soldaten. haben. Ihr politischer Ansatz ist falsch. Sie fragen sich: Was kann ich mit dem wenigen Geld, das ich zur Verfü- (Beifall bei der CDU/CSU) gung habe, machen? Die Frage muss aber ganz anders Durch unsere Forderung nach Klarheit ihres Auftrags, lauten: Was brauche ich an finanziellen Mitteln und an durch unsere Forderung nach einer besseren Vorberei- Ausrüstung, um dem Auftrag der Bundeswehr in einer tung und einer sachgerechteren Ausstattung stärken wir veränderten Welt mit neuen Risiken und Bedrohungen ihnen den Rücken. Hier liegt vieles im Argen. Wir wer- gerecht zu werden? Das ist die richtige Frage. den dies aufklären. Das ist unsere parlamentarische Ver- antwortung und Verpflichtung. Wir dürfen unsere Solda- (Beifall bei der CDU/CSU) ten nicht im Stich lassen und wir werden dies auch nicht Meine Antwort lautet: Wir brauchen viel mehr als die tun. 23,9 Milliarden Euro, die Sie einplanen. Die Rechnung (Beifall bei der CDU/CSU – Winfried der Bundesregierung kann nicht aufgehen: Auf der einen Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sa- Seite gibt es immer mehr Einsätze deutscher Soldaten gen Sie das mal einigen Ihrer Kollegen!) weltweit, immer mehr Verpflichtungen, immer mehr Zu- sagen in der Europäischen Union, in der NATO und in Für die konkrete Durchführung und Einsatzgestaltung großen Reden unseres Außenministers vor den Vereinten tragen Sie, Herr Minister, die Verantwortung. Für den Nationen. Balkan und für Afghanistan gilt das Gleiche: Die Sinn- haftigkeit des Einsatzes ergibt sich aus der Einsehbarkeit (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE des Auftrags. Stabilität und Frieden werden wir auch in GRÜNEN]: Haben Sie die letzte schon gele- Afghanistan nur erreichen, wenn die Weltgemeinschaft sen?) dem Terror mit einem robusten Mandat die Stirn bietet und nicht gleich beim ersten Schuss die Segel streicht. Auf der anderen Seite hat die Bundeswehr immer weni- Das Gleiche gilt für den Kampf gegen die Drogen- ger Geld zur Verfügung und gibt es immer weniger Sol- barone, vor deren Verbrechen wir nicht die Augen ver- daten, immer weniger Standorte und zu wenig moderne schließen dürfen. Ausrüstung. (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE Als NATO-Parlamentarier bin ich es langsam leid, GRÜNEN]: Wer tut das?) mir insbesondere von unseren NATO-Bündnispartnern 11446 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (A) anhören zu müssen, dass wir zu wenig in Zukunfts- Demgegenüber betone ich sehr deutlich: Der Kosovo- (C) technik investieren. Das berührt die Zusammenarbeit im wie auch der Afghanistaneinsatz der Bundeswehr sind in Bündnis und die Interoperabilität der Bündniskontin- hohem, ja in höchstem Sicherheitsinteresse der interna- gente. Deshalb meine Forderung: Der Modernisierungs- tionalen Gemeinschaft, Europas und der Bundesrepu- stau in der Bundeswehr muss aufgelöst werden. Ich blik. fordere eine Technologieoffensive. Nur so ist unsere Bundeswehr zukunftsfähig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Deutschland braucht eine andere, eine bessere Sicher- heits- und Verteidigungspolitik im Innern und nach Auch die Niederlage der internationalen Gemein- außen. Das Gebot der Stunde heißt handeln. Dante schaft vom März im Kosovo schmälert in keiner Weise Alighieri hat es auf den Punkt gebracht: „Der eine war- die jahrelangen Leistungen der dort eingesetzten Solda- tet, bis die Zeit sich wandelt, ten, Polizisten und Zivilexperten. Sie haben zumindest ein Mindestmaß an Stabilität gewährleistet. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wusste der das auch schon?) Schließlich bleibt auch die Philosophie der gegenwär- tigen Friedenseinsätze richtig – trotz aller Defizite, die der andere packt sie kräftig an und handelt“, Herr Schmidt. es gegeben hat –: ihr Ziel der Gewalteindämmung, der Stabilisierung und des Nation Building, ihre Legitimität (Beifall bei der CDU/CSU) und Glaubwürdigkeit durch UN-Mandat und völker- rechtskonformes und verhältnismäßiges Auftreten, ihre Ich weiß: Wir können nicht alles tun; aber wir müssen Multinationalität und ihre Multidimensionalität, also das zumindest das tun, was wir können. Deutschland kann Zusammenwirken von militärischen, polizeilichen und mehr als das, was wir jetzt erleben. Aber dazu brauchen zivilen Säulen. Es geht nach dem März in keiner Weise wir eine andere Regierung. Dafür setze ich mich ein. darum, dass in Zukunft von der Bundeswehr schneller Ich danke Ihnen. geschossen wird. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ausdrücklich zu begrüßen ist, wie schnell Bundes- neten der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] wehr und NATO Konsequenzen aus den März-Unruhen [SPD]: Das wusste der Dante auch schon? Das gezogen haben. Zugleich wird deutlich, dass die Trans- ist ja unglaublich!) formation der Bundeswehr notwendiger denn je ist: Die eine Seite ist die neue Differenzierung der Streitkräfte, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: der Aufbau von Aufklärungs- und Führungsfähigkeit, (B) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Winfried von Mobilität über große Distanz, die entsprechende (D) Nachtwei. Umrüstung. Die andere Seite – über diese wird viel zu wenig gesprochen – ist, dass sich mit dem veränderten Auftrag die Dienst- und Einsatzmotivation und das Fä- Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): higkeitsprofil der Soldaten grundlegend gewandelt ha- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ben. Gefordert ist technische und soziale Kompetenz. Vor gut einem halben Jahr, am 11. März, debattierten wir Gefordert sind die Bereitschaft und die Fähigkeit, gege- zum ersten Mal die heute vorliegenden Anträge. Seitdem benenfalls zu schießen, zum militärischen Kampf, zu- hat sich in Sachen militärischer Sicherheitspolitik Ein- gleich aber die Fähigkeit zur Kommunikation, zur Ko- schneidendes getan: operation, interkulturelle Kompetenz – und das nicht nur Immer ernüchternder, ja katastrophaler sind die Re- beim höheren Führungspersonal mit Silber oder Gold sultate einer militärfixierten Art der Terrorismusbe- auf den Schulterklappen, sondern auch bei den Unter- kämpfung. Wir sehen die katastrophalen Folgen im Irak. offizieren, beim Unterführerkorps. Diese Anforderung ist enorm gewachsen. Es wird heutzutage eine Breite an Die März-Unruhen im Kosovo waren nicht nur ein Verhaltenssicherheit gefordert, und zwar auch von den Gewaltausbruch ungeahnter Intensität und Organisiert- heit. Sie offenbarten auch massive Defizite aufseiten von einfachen Soldaten, wie man sich dies früher nicht vor- KFOR und UNMIK. stellen konnte. Der bisher sehr breite Konsens bezüglich der gegen- Grundlegend verschoben hat sich auch der Kern der wärtigen Friedenseinsätze der Bundeswehr driftet offen- Einsatzmotivation: weg von der Abwehr existenzieller kundig auseinander. In Zweifel gestellt werden zum Teil sichtbarer Bedrohungen, hin zum Einsatz gegen diffuse ihre Notwendigkeit, ihre Wirksamkeit und ihre Verant- Risiken für abstraktere Werte und Sicherheitsinteressen. wortbarkeit. Einige Beispiele: Der FDP-Fraktionsvorsit- Mit dem Konzept des Staatsbürgers in Uniform sind in zende Gerhardt sprach in der „Frankfurter Rundschau“ der Bundesrepublik Deutschland besonders gute Voraus- von „wirklich schwachen Einsätzen“ in Kunduz und setzungen für diesen Wandel gegeben. Eine Bundes- Faizabad. Das ist offensichtlich ein Werturteil. – CDU- wehr, die zur Krisenbewältigung im System der Verein- Kollege Börnsen warf ISAF und der Bundeswehr eine ten Nationen beiträgt, braucht nicht weniger, sondern Begünstigung des Drogenanbaus und -handels in Afgha- mehr solcher Staatsbürger in Uniform. nistan vor und forderte den Abzug von ISAF insgesamt. Der Auftragswandel der letzten Jahre ging mit einem (Gernot Erler [SPD]: Das muss klargestellt schleichenden Ausstieg aus der Wehrpflicht einher. Die werden!) zentrale Begründung und Legitimation der Wehrpflicht, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11447

Winfried Nachtwei (A) nämlich Instrument der Massenmobilisierung, der Mas- Grundlage entbehrt, sollten wir uns nichts vormachen: (C) senrekrutierung angesichts einer potenziell existenziel- Die immer weniger Wehrpflichtigen sind mit dieser len Bedrohung zu sein, ist inzwischen hinfällig gewor- Integrationsaufgabe und „Zivilisierungsaufgabe“ heillos den. Um Sicherheit der Bundesrepublik und der Partner überfordert. zu gewährleisten, ist sie nicht mehr zwingend notwen- dig. Damit aber ist auch der massive Grundrechtsein- Nein, hauptverantwortlich für die Streitkräfte, ihre In- griff, der mit der Wehrpflicht einhergeht, nicht mehr zu tegration in die Gesellschaft und den zurückhaltenden rechtfertigen. Einsatz dieser Streitkräfte sind als Erstes wir – wir, das gesamte Parlament und die Bundesregierung. Dafür ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN antwortlich die gesamte Gesellschaft sind die militäri- und bei der FDP) sche Führung und die Realität der inneren Führung, das sind die Baustellen, auf denen wir noch viel zu tun haben. Wehrpflicht muss, so das Bundesverfassungsgericht, gleich belastende Pflicht sein. Davon kann immer weni- Danke schön. ger die Rede sein, wenn überhaupt nur noch ein Drittel eines Jahrgangs – Tendenz fallend – den Wehrdienst leis- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tet. sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP sowie des Abg. Dr. Gerd Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Müller [CDU/CSU]) Das Wort hat jetzt der Herr Fraktionsvorsitzende der FDP, Wolfgang Gerhardt. Deshalb treten die Grünen und erfreulicherweise inzwi- schen also auch die FDP Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): (Lachen bei der FDP) Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- legen! Es gibt gar keinen Zweifel, dass die Wehrpflicht für den Ausstieg aus der Wehrpflicht und für den verant- eine große Konstituante in der Nachkriegsgeschichte der wortungsvollen Umbau in Richtung Freiwilligenarmee Bundesrepublik Deutschland gewesen ist; darüber muss ein. man nicht streiten. Sie hat die Verankerung einer Armee (Gernot Erler [SPD]: Aber noch regieren wir in einer Demokratie herausgebildet, sie hat die Prinzi- gemeinsam?!) pien der inneren Führung beachtet, sie hat das Bild des Staatsbürgers in Uniform geprägt. Ohne die Wehrpflicht Es ist bekannt und auch ganz normal, dass in dieser wäre eine solche demokratische Tradition zweifels- Frage Dissens in der Koalition besteht, und zwar eben ohne nicht zustande gekommen. (B) nicht einfach nur zwischen Grünen und SPD, sondern (D) zum Teil auch innerhalb der Fraktionen. Das ist, wie (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gesagt, etwas ganz Normales. Wir haben uns in der der CDU/CSU und der SPD) Koalition eindeutig darauf verständigt, diesen Dissens gemeinsam anzugehen. Wir haben vereinbart, die Über- Deshalb gilt auch für uns, die wir heute den Antrag ge- prüfung der Wehrform vor Ende der Legislaturperiode stellt haben, Respekt vor denen, die anderer Meinung vorzunehmen. sind als wir. (Ina Lenke [FDP]: Ja, ja! – Jörg van Essen Nach Überzeugung der Bundestagsfraktion der FDP [FDP]: Sieben Jahre in der Regierung, nichts war die Wehrpflicht in diesem Abschnitt der Geschichte geschafft!) gesellschaftspolitisch überlegen; sie war auch sicher- heitspolitisch geboten. Heute aber, nach dem Ende der Wir halten uns an diesen gemeinsamen Fahrplan. Des- alten bipolaren Welt, ist sie keine überzeugende Antwort halb können wir heute dem FDP-Antrag zur Aussetzung mehr. der Wehrpflicht nicht zustimmen, auch wenn wir die Position teilen. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Denjenigen, die sie weiter vertreten, müssen wir einige SES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Fragen stellen: Wie begründen Sie die unglaubliche Stephan Hilsberg [SPD]) Ressourcenbindung in der Bundeswehr? 10 000 Aus- bilder bilden 30 000 Wehrpflichtige in neun Monaten Aber ich sage Ihnen: Viel wichtiger als ein Abstim- aus, die wir in den Einsätzen, die immer wichtiger ge- mungsbekenntnis ist das, wofür wir arbeiten. Da bleibt worden sind, gar nicht einsetzen können. Dieses Res- das Engagement der Bündnisgrünen für die Überwin- sourcenpotenzial behindert eindeutig die Modernisie- dung der Wehrpflicht unzweifelhaft, beständig und si- rung der Bundeswehr. cherlich für manche in der Koalition auch nervig; aber das nehmen wir alle bestimmt in Kauf. (Beifall bei der FDP) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wer die Wehrpflicht beibehalten will, muss dazu eine Budgetantwort geben. Wenn sie nicht gegeben wird, Immer wieder wird behauptet, die Wehrpflicht garan- kann man die Wehrpflicht nicht mehr begründen. tiere die Integration der Bundeswehr in die Gesell- schaft. Abgesehen davon, dass hier ein Generalverdacht (Rainer Arnold [SPD]: Wer sie abschaffen will, gegen Zeit- und Berufssoldaten mitschwingt, der jeder muss auch eine Budgetantwort geben!) 11448 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Dr. Wolfgang Gerhardt (A) – Richtig. Dann darf ich aber ein zweites Argument in modernisierungsbereit. In dieser Gestalt der Wehrstruk- (C) die Reihen der SPD hineintragen – in ihr werden ja tur vergeuden wir ohne Ende Ressourcen. durchaus mehr und mehr Stimmen kenntlich, die die (Beifall bei der FDP) Wehrpflicht argumentativ nicht mehr halten können; man spürt ja die Unsicherheit –: Natürlich sind die Soldatinnen und Soldaten, die wir in internationale Einsätze schicken, leistungsfähig. Sie (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Selbst auf geben eine eminent gute Visitenkarte für die Bundes- der Regierungsbank!) republik Deutschland ab. Aber dabei kann es bei der Be- Wahr ist – jeder kann große Zeugen der Zeit anführen –, wertung, mit welcher Wehrstruktur wir in die Zukunft dass Wehrpflicht mit Wehrgerechtigkeit verbunden gehen, nicht bleiben. Viele Beobachter sagen, in sein muss. Darüber kann es keinen Zweifel geben. Deutschland müsse alles immer bis zur Neige durchlebt werden, bevor hier Entscheidungen fallen. In Kenntnis (Beifall bei der FDP) dieser Sachlagen wäre es nun an der Zeit, die Wehr- Helmut Schmidt hat sie als „zwei Seiten einer Medaille“ pflicht auszusetzen. Wir sollten nun eine Entscheidung bezeichnet. Der frühere Bundespräsident Roman Herzog treffen und den Bündnispartnern sowie der Bundeswehr hat in einer auch für Nichtjuristen verständlichen Spra- selbst sagen, mit welcher Strukturform die Sicherheit der che ein verfassungspolitisches Gebot benannt, nach dem Bundesrepublik Deutschland und mit den Bündnispart- gegenüber jeder Generation bei Einschätzung der sicher- nern zusammen auch die Sicherheit vieler Menschen auf heitspolitischen Lage die Wehrpflicht eigentlich neu be- dieser Welt in Zukunft garantiert werden kann. gründet werden muss. Sie kann nicht beibehalten wer- Herr Nachtwei, ich kenne Koalitionen. Aber ich weiß den, nur weil sie da ist und einmal beschlossen worden auch, wie die gesellschaftliche und die politische Wirk- war; jede Generation hat Anspruch darauf, dass sie ihr lichkeit aussieht. Sie können nicht dauernd zuwarten, bis gegenüber unter dem Gesichtspunkt der Wehrgerechtig- sich vielleicht auch noch die SPD entschließt, die Reali- keit neu begründet wird. täten zur Kenntnis zu nehmen, was die Wehrgerechtig- (Beifall bei der FDP) keit und die Strukturreform betrifft. Denn wir reden über Tausende von Soldatinnen und Soldaten und über die zu- Wenn heute nur noch weniger als 40 Prozent der Wehr- künftige Generation von jungen Menschen, die dann – pflicht und dem Zivildienst nachkommen und zugleich aber auch nur zum Teil – zur Wehrpflichtleistung heran- 40 Prozent der jungen Generation – auch diejenigen, die gezogen wurden. Sie müssen etwas couragierter sein. wehrdiensttauglich sind – nicht mehr zum Pflichtdienst Wenn es sich so verhält, dass die Wehrgerechtigkeit herangezogen werden, wie will man nur aus der gesell- nicht mehr garantiert werden kann, sind die Grünen auf- (B) schaftspolitischen Überzeugung heraus, man sei für die gerufen, das in der namentlichen Abstimmung nachher (D) Wehrpflicht, dem Teil der jungen Generation, der einge- auch zu sagen. zogen wird, begründen, dass ein anderer Teil nicht ein- gezogen wird? Gerecht ist dies nicht. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Allein auf ein Gremium zu warten, das in dieser Legisla- turperiode zu einer Art innerer Koalitionsstreitschlichter Dies kann dann auch nicht mehr sicherheitspolitisch werden könnte, das reicht mir nicht aus. und gesellschaftspolitisch begründet werden. Es ist ein- fach wahr, dass eine Wehrpflicht nicht akzeptabel ist, ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: wenn sie nicht mehr mit Wehrgerechtigkeit verbunden Man braucht aber auch Mehrheiten in der De- ist. Das ist die jetzige Situation. Darauf müssen auch die- mokratie! Das sollten Sie wissen!) jenigen Rücksicht nehmen, die, wie ich, gesellschafts- – Frau Sager, ich sage Ihnen nur eines voraus: Sie als politisch lange für die Wehrpflicht eintraten und, wenn Grüne werden im Wahlkampf 2006 das fordern, was wir sie mit Wehrgerechtigkeit verbunden wäre, ihr auch heute hier zur Abstimmung stellen. heute immer noch den Vorzug gäben. Wir können es aber aus Gründen der Gerechtigkeit nicht mehr vertre- (Beifall bei der FDP) ten. Diese Strategie ist nicht glaubwürdig. Diese Fragen müssen Sie schon beantworten. Mein (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gespür ist, dass diejenigen, die die Wehrpflicht befür- Das sind doch nur Lippenbekenntnisse! Mehr- worten, schwächer in der Zahl und schwächer in ihren heiten haben Sie auch nicht!) Argumenten werden, wenn sie die Wehrpflicht vor jun- gen Menschen begründen sollen. Wenn man eine Überzeugung hat, dann sollte man dieser Überzeugung auch Ausdruck verleihen. (Dr. Peter Struck, Bundesminister: Das stimmt nicht!) (Beifall bei der FDP) Wir haben eine 300 000 Mann starke Armee, die Unser Antrag auf Aussetzung der Wehrpflicht ist haushaltsmäßig schwach finanziert ist und angesichts nach unserer Auffassung bei der gegenwärtigen Sicher- der neuen internationalen Gegebenheiten und der welt- heitslage geboten; er ist wegen des Gesichtspunkts der politischen Unebenheiten an ihre Grenzen stößt. Die Ar- Wehrgerechtigkeit verfassungspolitisch geradezu zwin- mee ist vom Budget her nicht in ausreichendem Maße gend. Wir können jetzt das machen, wozu die Politik ja Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11449

Dr. Wolfgang Gerhardt (A) immer aufgefordert wird, nämlich nach vorn zu blicken aber keinem einzigen unserer Soldatinnen und Soldaten (C) und zu sagen, wie wir in den nächsten Jahren hinsicht- vor Ort den Vorwurf, dass er bewusst etwas falsch ge- lich der Strukturreform vorangehen wollen. Heute ist der macht hat. Ich stelle mich vor die Soldatinnen und Sol- Zeitpunkt, zu dem wir dieses Signal geben sollten. Wir daten und sage: Sie haben bei diesen Unruhen am beantragen deshalb, die Wehrpflicht auszusetzen. Wir 17. März Menschenleben gerettet. Das muss man hier wollen damit der Bundeswehr sagen, wie wir ihre Struk- doch einmal betonen. tur in Zukunft sehen; wir wollen der jungen Generation (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE signalisieren, dass wir den Gedanken der Wehrgerechtig- GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordne- keit ernst nehmen, und wir bitten um Zustimmung zu un- ten der CDU/CSU) serem Antrag. Wir werden das im Verteidigungsausschuss ordentlich Herzlichen Dank. bereden; die Unterlagen dazu haben wir vorgelegt. Wir (Beifall bei der FDP) haben intern eigene Unterlagen zusammenstellen lassen, die die Grundlage für die Antworten auf die Fragen der Kollegen insbesondere der Opposition bildeten. Man Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: muss im Verteidigungsausschuss beraten, wie man wei- Das Wort hat jetzt der Bundesminister der Verteidi- ter damit umgeht. Ich habe gar keinen Zweifel daran, gung, Peter Struck. dass auch der Verteidigungsausschuss zu dem Ergebnis (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kommen wird: Die Konsequenzen, die gezogen worden des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sind, sind die richtigen. Wenn man zusätzlich noch etwas machen muss, dann machen wir es halt. Darauf haben die Soldatinnen und Soldaten auch und gerade im Dr. Peter Struck, Bundesminister der Verteidigung: Kosovo einen Anspruch. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin den Fraktionen des Deutschen Bundesta- Ferner müssen wir auch über das Thema des Statuts ges sehr dankbar dafür, dass wir einmal in einer Kern- des Kosovo reden. Das haben wir hier schon mehrfach zeitdebatte über die Bundeswehr reden können. angesprochen, Herr Kollege Stinner. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Ich sage das auch im Namen meiner Soldatinnen und Ich will betonen, dass ich da keinen Gegensatz zwischen Soldaten, die in Auslandseinsätzen in schwierigen Mis- mir und dem Außenminister sehe. Die Fragen von Status sionen sind. und Standard müssen zusammen behandelt werden; (B) denn ich frage mich: Wie lange sollen unsere Soldaten (D) (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Wo ist ei- zum Beispiel noch im Dorf Novake Häuser aufbauen gentlich der Bundeskanzler? – Gegenruf von und die Menschen bewachen, der SPD: Ach, Herr Nolting, das ist flach!) (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ja, klar! – Jörg Ich will insbesondere auf einige Punkte, die von Opposi- van Essen [FDP]: Völlig richtig!) tionsrednern in dieser Debatte vorgebracht wurden, ein- gehen. die sich nicht trauen, das Dorf zu verlassen? Wir kennen dieses Thema; aber wir müssen es unter außenpolitischer Zunächst zu dem Thema Kosovo. Herr Kollege Perspektive gemeinsam mit dem Außenministerium in- Lamers hat das angesprochen. Dass es bei dem Einsatz tensiv beraten. der Soldatinnen und Soldaten des KFOR-Kontingents – das KFOR-Kontingent besteht aus 17 000 Soldatinnen (Zuruf von der CDU/CSU: Das tun wir doch!) und Soldaten, nicht nur aus den 3 000 Bundeswehrange- hörigen – – Ja, ich weiß: im Auswärtigen Ausschuss und im Ver- teidigungsausschuss. (Jörg van Essen [FDP]: Sehr richtig, darauf hinzuweisen!) Ich will ganz kurz etwas zu Afghanistan sagen, weil ich mich über Interviews, die Sie, Herr Kollege Kommunikationsprobleme mit der UNMIK, der Polizei Gerhardt, gegeben haben, geärgert habe. der Vereinten Nationen, mit dem Kosovo Police Service, der eigenen kosovoalbanischen Einrichtung, gegeben (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Sagen Sie es hat, das ist unbestritten. Dass wir daraus Konsequenzen mal!) gezogen haben, ist ebenfalls unbestritten. Wir sagen In diesen Interviews haben Sie über Faizabad und dazu: Lessons learnt. Das gilt für die NATO-Ebene und Kunduz gesprochen, obwohl Sie noch nie dort waren. für die bundesdeutsche Ebene. Dass es manchen Solda- tinnen und Soldaten nicht im Bewusstsein war, dass ein (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ja, aber das ist Haus, das nicht von uns überwacht wurde, das so ge- doch nicht der Punkt!) nannte Priesterseminar – das war eigentlich ein leer ste- Wir haben Ihnen, Herr Gerhardt, angeboten, diese Orte hendes altes Gebäude, in dem sich teilweise auch mit uns gemeinsam zu besuchen. Obdachlose aufgehalten haben –, mit zu unserem Kon- trollbereich gehörte, das ist ein Fehler, der passiert ist (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Hört! und den wir aufklären werden. Ich persönlich mache Hört!) 11450 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Bundesminister Dr. Peter Struck (A) Würden Sie nach Kunduz fahren und mit den Menschen Die Niederlande sind in Pol-e-Khomri – das ist in der (C) in Afghanistan reden, würden Sie sehen, dass es richtig Provinz Baghlan, also in unserer Nähe – vertreten. ist, sich dort einzusetzen. Sehen Sie sich die Situation vor Ort doch gefälligst einmal an! (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Wer kommt noch?) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Die Neuseeländer sind ebenso anwesend. Die Briten und wir sind mit jeweils zwei PRTs vertreten. Außerdem sind Sie müssen nur einmal mit den kleinen Kindern oder die Amerikaner dort, allerdings im Rahmen einer ande- ihren Lehrerinnen reden, die zur Schule gehen können, ren Konstruktion. weil wir sie aufgebaut haben und schützen. (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Das ist ja alles (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Die Briten richtig!) widmen doch nur um!) Ich halte es für falsch, einfach zu sagen: Dieses Mandat – Nein, die Briten haben dort zwei ordentliche PRTs, die bringt nichts; brechen wir unseren Einsatz also ab. unserem Konzept entsprechen. Es macht doch keinen Sinn, nur auf die anderen zu warten. Man könnte zwar (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: In dieser Form sagen: Sollen die anderen doch machen; wir beteiligen bringt es nichts!) uns erst später. Aber so arbeiten wir nicht. Am kommenden Wochenende werden wir Faizabad er- neut besuchen. Auch ein Kollege von der FDP, Herr (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE Leibrecht, fährt mit. Ich hoffe, dass es Ihnen, Herr Kol- GRÜNEN]: Fahren Sie doch mal hin!) lege, danach gelingt, in Ihrer Fraktion mehr Sensibilität Das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland ist durch für dieses Thema zu schaffen. die Arbeit der Bundeswehr in Afghanistan uneinge- Was Afghanistan angeht, muss ich sagen: Die schränkt hoch. Man kann nicht hoch genug einschätzen, Mission in Faizabad ist auch von der Union infrage ge- wie angesehen wir dort durch die Arbeit unserer Solda- stellt worden. ten sind. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist doch (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ unglaublich!) DIE GRÜNEN) Ich bin sehr dankbar für die Aussage des Kollegen Ich möchte noch auf einen Punkt eingehen, den Kol- Schäuble, der in einem Interview gesagt hat, dass die lege Lamers in seiner Rede angesprochen hat: Er hat Union dieses Mandat natürlich unterstützt. Was ich auch mehr Geld für die Bundeswehr gefordert. (B) beklage, ist, dass die Beteiligung noch nicht so groß ist (D) wie auf verschiedenen NATO-Gipfeln, zum Beispiel in (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Nein, es Istanbul, vereinbart. geht darum, wie viele Soldaten in Afghanistan sind!) (Jörg van Essen [FDP]: Ja! Das ist doch der Punkt!) Ich wäre froh, wenn ich mehr Geld für die Bundeswehr Aber das heißt doch nicht, dass wir, weil sich die ande- zur Verfügung hätte. Aber Sie müssen auch einmal an ren nicht beteiligen, wieder nach Hause gehen sollten. die Aussagen des ehemaligen Kanzlerkandidaten der So kann man doch nicht arbeiten. CDU/CSU, Herrn Stoiber, denken. Sie dürfen nicht so tun, als gebe es ihn nicht. Denn er wollte den Bundes- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ haushalt um 5 Prozent kürzen. Das würde für meinen DIE GRÜNEN – Jörg van Essen [FDP]: Aber Etat eine Kürzung um 1,2 Milliarden Euro bedeuten. So das Konzept ist doch ganz anders!) kann man nicht arbeiten. Man kann nicht auf der einen Das Wiederaufbauteam – wir nennen es PRT – in Seite mehr Geld für die Bundeswehr und auf der anderen Faizabad ist erforderlich. Dort arbeiten zehn bis zwölf Seite Kürzungen des Haushalts fordern. NGOs, also Hilfsorganisationen aus dem privaten Be- reich, deren Verantwortliche sich darüber freuen, dass (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wir dort sind. Wir werden uns ansehen, was dort ge- DIE GRÜNEN – [CDU/CSU]: macht wird. Darüber hinaus ist es gelungen – das will Sie müssten eigentlich ganz andere Sorgen ha- ich auch noch sagen –, durchzusetzen, dass aus dem ben!) Haushalt des Bundesministeriums für wirtschaftliche – Kollege Glos, sind Sie gerade aufgewacht? Bitte spre- Zusammenarbeit und Entwicklung entsprechende Pro- chen Sie lauter. jekte in Faizabad finanziert werden. Dabei handelt es sich um ähnliche Projekte, wie wir sie auch in Kunduz (Michael Glos [CDU/CSU]: Sie müssten ei- durchgeführt haben. Deshalb rate ich dringend dazu, sich gentlich ganz andere Sorgen haben, als mit die Situation vor Ort anzusehen und unseren Einsatz solchen Kinkerlitzchen daher zu kommen!) nicht infrage zu stellen. Denn auch andere NATO-Staa- ten werden noch zusätzliche PRTs in Afghanistan in- – Ach so, Herr Stoiber ist nicht mehr ernst zu nehmen, stallieren. oder was? (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Das ist das (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: letzte Mal schon gesagt worden!) Stoiber ist ein Kinkerlitzchen!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11451

Bundesminister Dr. Peter Struck (A) Michael Glos sagt also: Herr Stoiber ist ein Kinkerlitz- sind die Einheiten benannt und vorbereitet. Was wir jetzt (C) chen. am vergangenen Wochenende in Nordwijk beschlossen haben, sind die so genannten EU-Battlegroups – darüber Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zur Serio- werden wir sicherlich im Verteidigungsausschuss noch sität zurückkehren und ohne Polemik Folgendes sagen: ausführlich diskutieren –, sozusagen die schnelle Ein- Unser Haushalt hat ein Volumen von 24 Milliarden greiftruppe in kleinerer Zusammensetzung verschiede- Euro. Wenn ich unterwegs bin, sagen mir viele Soldatin- ner NATO-Staaten. Wir bilden mit den Holländern eine nen und Soldaten: Herr Minister, ich kann Ihnen sagen, Battlegroup – dazu habe ich mich vertraglich verpflich- wo wir noch Geld sparen können. – Das geht Ihnen tet – und mit den Franzosen, die deutsch-französische sicher auch so, wenn Sie mit Bundeswehrangehörigen Brigade. Andere Staaten tun das auch. Die Konzeption sprechen. Jeder sagt: Da können wir noch sparen. Wir ist also folgende: Wenn ein Konflikt in Europa oder au- müssen unsere Bundeswehr tatsächlich umstellen. Wozu ßerhalb von Europa auftritt, dann wollen wir schnell eine brauchen wir 4 000 Leopard-Panzer noch? Die kosten solche Battlegroup einsetzen. Deutschland wird dazu Geld, auch wenn sie nur in den Depots stehen. Wozu seinen Beitrag leisten und wir können diesen Beitrag brauchen wir so viele Flugzeuge? Wir haben 80 Torna- auch leisten. dos außer Dienst gestellt; im Rahmen der Auflösung eines Marineflieger-Geschwaders. Die neuen Aufgaben, Zur Wehrpflicht will ich nur sagen: Sie haben sich die wir haben, sind doch gar nicht strittig. Ich bin froh, lange darüber ausgelassen, Herr Kollege Gerhardt. dass die Union wenigstens teilweise bereit ist, den Weg Meine Position kennen Sie. Die Position der SPD ken- der Transformation, der Reform der Bundeswehr weiter nen Sie auch. Natürlich gibt es in ihr auch Stimmen, die mitzugehen. sagen: Brauchen wir so nicht mehr; einige, die diese Meinung vertreten, sind hier im Saal anwesend. Die SPD Worüber wir uns nur „streiten“, ist die Frage: Sorgen wird diese Frage, wie es üblich ist, in ihren Gremien be- wir für genügend Heimatschutz oder nicht? Nach der raten und dann eine Entscheidung treffen. Ich bin ganz Konzeption, die wir vorgelegt haben – es gibt Eingreif- zuversichtlich, dass meine politische Position, bei der kräfte, es gibt Stabilisierungskräfte und es gibt Unter- Wehrpflicht zu bleiben, sich durchsetzen wird. Wenn stützungskräfte –, stand niemals infrage, dass die rund nicht, haben wir eine andere Situation; dann müssen wir 145 000 Unterstützungskräfte auch für den Heimat- damit eben anders umgehen. schutz zur Verfügung stehen werden. Wer wäre ich denn, wenn ich sagen würde: Wenn wir angegriffen werden, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) gibt es keine Verteidigung für unsere Heimat? – Es ist Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee, was be- doch absurd, anzunehmen, wir würden unser Land nicht deutet, dass das gesamte Parlament auch die Verantwor- (B) verteidigen wollen. Der Streit ist also nur theoretischer tung für die Bundeswehr hat, wenn sie in einer schwieri- (D) Natur. gen Situation ist. Wir sind in Afghanistan – in Faizabad, Praktisch auswirken könnte sich dieser Streit aller- in Kunduz, in Kabul – in schwierigen Situationen, weil dings, wenn die Union ihr Konzept jetzt durchsetzen dort Wahlen bevorstehen. Am 9. Oktober wird der Präsi- könnte – wenn sie die Mehrheit dazu hätte –, sämtliche dent gewählt; erster Wahlgang, es gibt 18 Bewerber. Standorte aufrechtzuerhalten; ich habe das in ihren An- Man muss mit Sicherheit davon ausgehen, dass es noch trägen gesehen. Ich weiß ja, dass jeder Abgeordnete sich einen zweiten Wahlgang geben wird, wahrscheinlich im Sorgen um die Bundeswehrstandorte in seinem Wahl- Dezember. Das bedeutet, die Gefahr von Anschlägen kreis macht. Aber wenn wir – das ist nun einmal so – durch Taliban wird noch lange Zeit permanent vorhan- 110 Standorte zu viel haben, weil wir die Bundeswehr den sein. Wir haben unsere Soldaten so ausgestattet, dass verkleinern, müssen eben Standorte geschlossen werden; sie das haben, was sie brauchen; das sage ich auch in Be- es geht doch gar nicht anders. Es sei denn, wir bekom- zug auf Faizabad und Kunduz. In Faizabad, wo zurzeit men mehr Geld, um Standorte aus strukturellen Gründen nur 120 Soldaten stationiert sind, ist es auch nicht so ein- aufrechtzuerhalten; das ist aber nicht meine Aufgabe. fach. Auch da müssen wir sie schützen und sehen, wel- ches Gerät benötigt wird. Deshalb fahren wir ja jetzt Herr Kollege Lamers hat vorhin gesagt: Sie, Herr auch hin. Minister, müssen handeln. – Das hat mir noch nie je- mand vorgeworfen: dass ich nicht handle. Dafür bin ich Sie werden im Kosovo bleiben. Sie müssen aber auch nicht bekannt – ich handle durchaus, auch kräftig und mit dafür sorgen, dass die Albaner ihre politische Ver- energisch. antwortung wahrnehmen – auch dort wird es im Oktober Wahlen geben –, um das zu erfüllen, wozu sie sich in (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Dayton verpflichtet haben und was dort vereinbart DIE GRÜNEN) wurde. Ich will jetzt noch einmal zu den internationalen Ich komme zum Schluss. Mein Freund Gernot Erler Verpflichtungen kommen: Zu der schnellen Eingreif- hat ungefähr gesagt: Man dankt immer den Soldaten. truppe der NATO, der NATO Response Force, haben wir Danach wird oft darüber geredet, dass man die vergisst, Anmeldungen vorgenommen. Im Jahre 2005, also im denen man vorher gedankt hat. – Ich sage aus voller nächsten Jahr, werden auch die ersten Heereseinheiten Überzeugung und aus ganzem Herzen: Ich habe großes dabei sein. Unsere diesbezüglichen internationalen Ver- Vertrauen, dass meine 285 000 Soldatinnen und Soldaten pflichtungen können wir auch einhalten. Dann gibt es und die 115 000 Zivilbeschäftigten der Bundeswehr die die Eingreiftruppe der Europäischen Union. Auch dafür Aufgaben, die das Parlament ihnen auferlegt, gut 11452 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Bundesminister Dr. Peter Struck (A) erfüllen können. Sie können sich an uns wenden, wenn Ich habe eher den Eindruck, bei Ihnen ist es so wie sei- (C) sie glauben, mit dem, was wir ihnen abverlangen, nicht nerzeit beim Kaufhaussortiment des Moskauer Kaufhau- zurechtzukommen. Dafür sind der Generalinspekteur ses GUM: „Gemeinschaft Unabhängiger Minister“, der und die Generale da, von denen ich annehme, dass sie eine sagt dies, der andere das. Das und nicht irgendeine mir all das sagen, was sie denken, und dass sie mir nicht Kritik an der Ausübung ihres Dienstes beschwert die nach dem Mund reden. Soldaten. Herr Kollege Gerhardt, Herr Kollege Schmidt und als Es bedarf eines Weißbuches, in dem verbindlich fest- Fraktionsvorsitzende Frau Kollegin Merkel und Franz geschrieben wird, wozu die Bundeswehr dienen soll. Müntefering, ich glaube, wenn wir das alles zusammen- Dann erst können sich Opposition und Regierung aus- nehmen, dann können wir alle gemeinsam sagen: Die einander setzen. Das wird sicherlich streitig sein, aber Bundeswehr macht einen guten Job und sie erfüllt das, gegenwärtig weiß ich gar nicht so recht, mit wem in der was wir von ihr verlangen, also den Auftrag, den wir ihr Regierung ich mich eigentlich auseinander setzen soll, geben. Sie mehrt das Ansehen unseres Landes in der weil ich für jede Meinung einen Vertreter finde. Hier ist Welt. Deshalb sollten wir ihr außerordentlich dankbar der Bundeskanzler gefragt. sein. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ neten der FDP) DIE GRÜNEN) Es genügt nicht, dass er, wie gestern in einer Rede, schnell etwas zu den Auslandseinsätzen sagt. Ich habe Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: eher das Gefühl, dass hier nach dem Motto Quodlibet Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian eingekauft wird: Wenn es wieder so weit ist, dann sagen Schmidt. wir einen Einsatz zu, sofern uns gerade danach ist. – Das ist keine Linie. Eine solche muss die Bundeswehr aber Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): bekommen. Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die heutige Debatte gibt tatsächlich Gelegenheit und Anlass, den Soldaten, den Soldatinnen und auch den Zi- Das ist das große Defizit dieser Bundesregierung. Sie vilbediensteten zu danken. Kollege Erler, das ist keine haben es in sechs Jahren nicht geschafft, das zu ändern. Formalie, die man gleich wieder vergisst. Man sollte Die Halbzeitbilanz in dieser Legislaturperiode weist des- dies betonen: Menschen, die bis zum Einsatz ihres Le- halb einen ganz großen Fehlposten in diesem Bereich (B) bens für den Auftrag unseres Landes stehen, verdienen auf. Einer Diskussion darüber können Sie nicht auswei- (D) ein Dankeschön jenseits aller Dinge, die im Operativen chen. Diese Diskussion werden wir führen, und zwar diskutiert werden müssen. Das empfangen und verstehen streitig. die Menschen auch so. Das sollten Sie nicht klein reden (Beifall bei der CDU/CSU) und auf die Seite stellen. Geändert hat sich bei der Frage, wo unsere Sicherheit (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) verteidigt werden muss, die Tatsache, dass die Sicherheit Wir sind doch auch hier, um den Einsatz möglichst unseres Landes nicht mehr an den Landesgrenzen vertei- optimal zu gestalten. Es geht aber nicht nur darum. Na- digt werden muss, sondern dass Gefahren wie der Terror türlich möchten wir den Soldaten und Soldatinnen auch auch anderswo in der Welt bekämpft werden müssen. sagen können, für was und warum sie diese Beschwer- Geblieben sind aber die Gefahren bei uns zu Hause, weil lichkeit auf sich nehmen müssen, die die Einsätze und Terrorgruppen oder bewaffnete Insurgenten auch hier auch die Bereitschaft zu Hause in der Heimat mit sich zuschlagen können. Verteidigung dagegen ist schwer, bringen. Es ist nicht klar, welche Rolle der Bundeskanz- aber nicht unmöglich. Eine schnelle, flexible Reaktion ler – ich wiederhole die Frage: Wo ist er eigentlich bei einerseits und eine landesweit vernetzte Sicherheits- einer Debatte, bei der es insbesondere um die Menschen struktur andererseits müssen gestaltet werden. bei der Bundeswehr, um die wir uns kümmern wollen, Sicherheit im eigenen Lande kommt nicht von selbst, geht? – darum muss man sich kümmern. Es ist deswegen falsch, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die Strukturen der bisherigen Territorialverteidigung auf das Niveau von Feierabendtreffs zu reduzieren. Die Ver- und der Bundesaußenminister der Bundeswehr eigent- teidigungsbezirkskommandos darf man nicht komplett lich zubilligen. abschaffen, wenn man Vorsorge für zivil-militärische Zusammenarbeit bei Großschadenslagen und Bedrohun- Herr Verteidigungsminister, was das Kosovo angeht, gen von außen treffen will. so bin ich nicht der Meinung, dass der Außenminister und Sie beim Thema „Standards vor Status“ die gleiche (Beifall bei der CDU/CSU) Zielsetzung verfolgen. Das hört sich bei Ihnen beiden nicht gleich an. Gerade hier hat sich das Regionalprinzip bewährt. Man müsste diese Kommandos vielmehr zu Regionalbasen (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Nicht so ganz, Heimatverteidigung ausbauen und darf sie nicht auf da haben Sie Recht!) eine bloße Funktion für hierfür nicht ausgerüstete oder Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11453

Christian Schmidt (Fürth) (A) ausgebildete Restposten derer, die gerade zu Hause sind, nen Beitrag zur Verteidigungsleistung zu erbitten, wenn (C) reduzieren. die Wehrpflicht als eine sicherheitspolitische Dienstleis- tung an uns allen verstanden wird und die Gebote der Dass Sie, Herr Verteidigungsminister, hier einen Wehr- und Dienstgerechtigkeit in ausreichendem Maße Schnitt machen, indem Sie das Messer am gesunden eingehalten werden. Körper ansetzen, ist falsch. Es kann nur mit dem Ver- such, auf Kosten der Auftragserfüllung zu sparen, erklärt Ich stimme den Worten Roman Herzogs, den Sie zi- werden, dass eine der eigentlich zukunftsträchtigen tiert haben, völlig zu, dass man die Wehrpflicht als Strukturen der Bundeswehr zerstört wird. Zudem werden scharfen Eingriff in die persönliche Freiheit jedes einzel- dann noch die Reservisten als Landsturm der Vergangen- nen Staatsbürgers nicht unter Verweis auf die Zeit von heit karikiert, obwohl wir sie als flexible Aufwuchs- vor 30 oder 40 Jahren legitimieren kann, sondern dass kräfte für solche Aufgaben brauchen. sie mit den Veränderungen begründet werden muss. Ich bin überzeugt davon, dass sie sich auch heute durch die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- veränderten Strukturen und Aufgaben begründen lässt. neten der FDP – Gernot Erler [SPD]: Wer Nur wenn das stattfindet, lässt sich die Wehrpflicht guten macht das?) Gewissens weiter politisch vertreten. Dann wird man in Das ist auch nicht mit dem Ausbruchsversuch zu be- Diskussionen mit jungen Menschen bestehen können. antworten: Wir haben kein Geld, daran ist auch trotz eu- Darüber werden wir streiten. rer Aufforderung nichts zu ändern. – Das Thema der Aber eines ist – das will ich unterstreichen – notwen- Haushaltskonsolidierung ist eine Sache. Das Thema, dig, nämlich die Ausschöpfung des Verfassungs- Schwerpunkte zu setzen und mit den Mitteln in einer Si- rahmens des Art. 12 a des Grundgesetzes, der, wenn tuation, die Sie mit Ihren Haushalten selbst verschuldet man ihn genau liest, den Zivilschutz einbezieht. Es gibt haben, klug umzugehen, ist eine andere Sache. Es geht vielleicht ideologische Hemmnisse bei der jetzigen Re- darum, die Triebe, die langsam wieder sprießen, nicht gierung, weil sie angesichts der asymmetrischen Bedro- abzuschneiden. Hier findet gerade eine völlig falsche hung Probleme hat, eventuell notwendige Gesetzes- und Entscheidung statt. Noch in den Verteidigungspoliti- Verfassungsänderungen zu vollziehen. Aber es findet schen Richtlinien des Verteidigungsministeriums liest sich da eine überzeugende Begründung für unsere Mit- man manches Zustimmenswerte zum Thema eines natio- bürger für eine mittelfristige Notwendigkeit der Wehr- nalen Gesamtsicherheitskonzeptes. Leider ist in der Pra- pflicht. Das Problem ist, dass wir zwar nicht eine xis der Auftrag Heimatschutz unter die Räder geraten. Betrachtung aus der Vergangenheit, aber auch keine Au- Im Übrigen hängt dieses Thema eng mit der Zukunft genblicksbetrachtung machen können. Wehrpflicht kann der Wehrpflicht zusammen. Für Auslandseinsätze sind man nicht ein- und ausschalten wie eine Glühlampe. Wer (B) (D) freiwillig länger dienende Wehrpflichtige ein wichtiges sie aussetzen will, kappt eine sicherheitspolitische Op- Element. Allein damit wird man aber die Wehrpflicht tion, die uns nach meiner festen Überzeugung in den nicht begründen können. Es bedarf einer klaren Zuord- nächsten Jahren fehlen wird. Deswegen werden wir sei- nung von Aufgaben in einer gemischten Armee von Be- tens der CDU/CSU gegen die Anträge der FDP stimmen, rufs- und Zeitsoldaten einerseits und Wehrpflichtigen die keine Perspektive bieten, sondern die Weichen in mit beruflicher Erfahrung und Kenntnissen andererseits. eine falsche Richtung stellen. Das relativiert allerdings, Kollege Gerhardt, Ihren Hin- In einem Punkt aber stimme ich Ihnen, Herr Kollege weis auf die Ausbildungsnotwendigkeit. Auch der spä- Gerhardt, in diesem Zusammenhang zu. Die Volte, die tere Berufssoldat kommt als Unausgebildeter zur Bun- die Grünen vollführen, ist schon beachtenswert. Dage- deswehr und bedarf der Ausbildung und Betreuung. Wir gen sind unsere Begründungen für unsere Ablehnung haben bereits jetzt ein gemischtes System von Berufs- schlüssig und überzeugend. Man sollte sich an der Union und Zeitsoldaten sowie Wehrpflichtigen. Wir können orientieren. schließlich nicht eine eigene Teilstreitkraft Wehrpflich- tige bilden. Das wäre in der Tat das Ende der Legitima- (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt tion der Bundeswehr. [Salzgitter] [SPD]: Ziemlich selbstgerecht!) (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Der Nutzen ist Eines muss der SPD klar sein: Wer nicht einmal in der aber länger!) Lage ist, die sowieso bedürftige Einbindung der Wehr- pflicht von heute in das Zahlenwerk der neuen Bundes- – Wenn Sie sich die Zahlen und die wirklichen, nicht die wehrkonzeption vorzunehmen, der wird nicht durchhal- politisch gefühlten Ergebnisse in den Ländern, die die ten. Die Konzeption, die der Generalinspekteur Wehrpflicht gerade abschaffen oder abgeschafft haben, entwickelt hat, hat einige durchaus interessante Ansätze, im Hinblick auf ihre Etatbelastung ansehen, dann wer- und zwar im Bereich der Neugliederung der Truppe in den Sie feststellen, dass mehr investiert werden muss. Eingreif-, Stabilisierungs- und Unterstützungskräfte. Das hat nicht nur mit der Nachwuchsgewinnung zu tun, Wer aber schon jetzt mangels Mittel höchstens 80 Pro- sondern auch damit, dass die Attraktivität noch stärker zent der eigentlich vorgesehenen Wehrpflichtigenstellen erhöht werden muss. Deswegen geht diese Rechnung besetzt, der fährt in den roten Bereich. Was soll eigent- nicht auf. lich ein Bundeswehrplan, der schon jetzt nicht durchge- Aber nicht nur die gefühlte Sicherheit unserer Mitbür- halten werden kann? Nicht die Verwendungsmöglichkeit ger, sondern auch die reale Sicherheitslage unseres Lan- der Wehrpflichtigen, sondern die Nutzung dieser Mög- des gibt guten Grund, von unseren jungen Männern ei- lichkeit ist das große gefährliche Fehl in der jetzigen 11454 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Christian Schmidt (Fürth) (A) Regierungspolitik. Wir sind bereit, im konstruktiven Ge- Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): (C) spräch über die Wehrpflicht zu bleiben. Vorher erwarten – oder ob eine Art parlamentarische Fallstudie über wir von Rot-Grün dazu aber ein faktisch ehrliches und die schwierigen Seiten der Auslandseinsätze am Beispiel kein politisches Lippenbekenntnis. Wir werden hierüber KFOR notwendig ist, wird sich in den nächsten Tagen diskutieren und streiten müssen. zeigen. Wir werden das sehr genau beobachten und dann entscheiden. (Beifall bei der CDU/CSU) Ein letztes Wort zu der Frage Faizabad – – Transformation ist ein schöner Begriff. Reform sagt man nicht mehr, weil Transformation so schön klingt, dass jeder den Begriff in den Mund nimmt, obwohl kei- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: ner weiß, was damit gemeint ist. Der Verteidigungs- Nein, Herr Kollege Schmidt, Ihre Redezeit ist über- minister hat Standortschließungen angesprochen, die wir schritten. Das geht auf Kosten Ihrer Kollegen. hier nicht im Einzelnen diskutieren. Es ist in der Tat so, dass das Heimatschutzkonzept, das wir vorgelegt ha- Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): ben, den Erhalt einiger Standorte bedeuten könnte. Die Kollegen werden mir das verzeihen. (Rainer Arnold [SPD]: Deswegen brauchen (Lachen bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE wir es!) GRÜNEN und der FDP – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sauber!) Wenn wir am 1. oder 2. November die entsprechenden Informationen bekommen, dann müssen wir über dieses Ich weiß, dass Ihnen die Frage, die ich Ihnen jetzt Thema noch einmal ins Gespräch kommen. Ich bin nicht stellen werde, unangenehm ist, meine Damen und Her- derjenige, der sich hier hinstellt und sagt: Jeder Standort ren von der Koalition. Der Verteidigungsminister ist kann die nächsten 100 Jahre so bleiben, wie er ist. – Seit vom Kollegen Lamers aufgefordert worden, klarzustel- 1990 haben sich einige Veränderungen ergeben. Wo aber len, was er hinsichtlich der Struktur des Mandats strukturell Möglichkeiten zum Erhalt bestehen, müssen Faizabad beabsichtigt. Im ZDF hat er am 14. September wir über dieses Thema reden. Wir sind der Meinung, es im „Heute-Journal“ gesagt, er wisse zwar, dass es zurzeit gibt gute Gründe, gerade auch wegen der Differenzie- keine Mehrheit gebe, um die Zahl der deutschen Solda- rung der Truppe, die auch mit der Wehrpflicht zusam- ten aufzustocken, möglich sei jedoch, dass sich andere menhängt, Standorte zu erhalten oder umzuwidmen. Nationen beteiligen. Das heißt, die anderen Nationen kommen nicht. Man kann sagen: Wenn schon zu Hause bei der Bun- deswehr General Mangel und Oberst Fehl das Kom- (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND- (B) mando führen, dann könnte das wenigstens bei den vie- NIS 90/DIE GRÜNEN – Winfried Nachtwei (D) len Auslandseinsätzen der Bundeswehr anders sein. Die [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die kommen Vorkommnisse im Kosovo belehren uns leider eines wohl! Haben Sie gestern nicht zugehört?) Besseren. Die Informationen, die wir gestern erhalten – Möglichkeit heißt nicht Wirklichkeit. haben, zeigen – soweit wir sie bisher auswerten konn- ten – kein überzeugendes Bild von Führung, Ausrüstung Ich halte es für eine Zumutung, dass der Verteidi- und Krisenbeherrschung. Das geht nicht gegen die gungsminister die Parlamentarier beschimpft, sie wür- Hauptfeldwebel, die hervorragende Leistungen erbracht den ihm nicht mehr Soldaten bewilligen, obwohl er dies haben; es geht vielmehr gegen die politische Führungs- nie gefordert hat. Gestern hat die Bundesregierung den ebene. Darüber muss geredet werden. Beschluss gefasst, die Zahl der Soldaten nicht aufzusto- cken. Das muss aus der Welt geschafft werden. Reicht (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- die Zahl der Soldaten aus oder nicht? neten der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wir wissen gar nicht, ob wir alle Informationen erhal- neten der FDP) ten haben. Denn die schlampige Informationspraxis in- nerhalb Ihres Hauses, Herr Minister, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND- Herr Kollege Schmidt, jetzt muss ich Ihre Rede ab- NIS 90/DIE GRÜNEN) brechen, es sei denn, die Geschäftsführer sagen etwas anderes. – schon gegenüber ihm selbst! – und uns gegenüber gibt Anlass zur Sorge. Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Alle, die meinen, dieses Thema abtun zu können, neten der FDP) werden sich wundern. Wir werden nächste Woche inten- siv über dieses Thema reden. Ob dem mit Nachfragen oder Nacharbeiten alleine be- gegnet werden kann – Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Dr. Werner Hoyer [FDP] – Gernot Erler Herr Kollege Schmidt, denken Sie bitte an Ihre Rede- [SPD]: Das war ein sehr schlechter Auftakt, zeit. Herr Kollege!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11455

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Sie wird damit den neuen Herausforderungen angepasst. (C) Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Marianne Tritz. Die erste Kategorie sind die Eingreifkräfte für zeitlich begrenzte, friedenserzwingende Einsätze und Evakuie- Marianne Tritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): rungen in Kriegs- und Krisengebieten. Die zweite sind die Stabilisierungskräfte für längerfristige, friedenserhal- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! tende Einsätze. Dazu gehören die Überwachung der Ein- In den letzten Jahren haben wir es in der Sicherheitspoli- haltung von Waffenstillstandsvereinbarungen genauso tik mit völlig neuen Herausforderungen zu tun gehabt. wie der Schutz der Bevölkerung und das Absichern der Mit dem Zerfall der Sowjetunion, der Erweiterung der staatlichen Autorität im Einsatzland. Die dritte Katego- Europäischen Union und der NATO konnte und kann rie sind die Unterstützungskräfte für die logistische Ar- niemand mehr eine existenzielle Bedrohung unseres beit. In Verbindung mit anderen Maßnahmen ist damit Landes erkennen. Niemand glaubt ernsthaft, dass wir in die Bundeswehr auf dem Weg zu mehr Effektivität. naher oder ferner Zukunft einen Angriff mit konventio- nellen Streitkräften auf deutschem Territorium zu erwar- Was wir nicht wollen – das unterscheidet uns von der ten haben. Opposition –, sind Einsätze der Bundeswehr im Innern. Beim Katastrophenschutz ist eine weit gehende Wer die Bundesrepublik Deutschland angreifen will, Kooperation mit der Bundeswehr bereits jetzt möglich. wird sich dafür die weichen Ziele der Zivilgesellschaft Für alle anderen Fälle haben wir die Polizei und den suchen und dafür andere Mittel wählen als eine Panzer- Bundesgrenzschutz. division. Die Bedrohung ist subtiler und perfider gewor- den. Sie ist weniger fassbar. Sie richtet sich gegen die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Menschen in unserem Land, unsere Interessen, unsere sowie bei Abgeordneten der SPD – Jörg van Werte und Normen. Sie gefährdet unsere offene Zivilge- Essen [FDP]: So ist es!) sellschaft und die unserer Bündnispartner. Unsere Infor- Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU mationsgesellschaft in ihrer Komplexität und mit ihren – ich spreche insbesondere Sie, Herr Schmidt, an –, vielen Abhängigkeiten benötigt eine andere Art von Si- wenn Sie ständig den Einsatz der Bundeswehr zur Terri- cherheit und Verteidigung, als wir es bisher kannten. torialverteidigung fordern, dann müssen Sie auch einmal Das ist eine der Lehren, die wir aus dem sagen, wie das gehen soll. Wie, glauben Sie, kann uns 11. September ziehen mussten. Eine andere ist, dass wir die Bundeswehr schützen, wenn die weichen Ziele der Krisen, Konflikten und Verteilungskämpfen möglichst Zivilgesellschaft bedroht sind? Es ist doch zweifelhaft, im Ursprungsland begegnen müssen, wenn wir sie früh- ob zum Beispiel ein Giftgasanschlag wie in der U-Bahn zeitig eindämmen wollen. von Tokio oder die Geiselnahme von Kindern in einer (B) Schule durch das Aufmarschieren einer Armee zu ver- (D) Wir haben mittlerweile einen erweiterten Sicher- hindern gewesen wären. Herr Schmidt, die Idee, 19-jäh- heitsbegriff formuliert, der sich mit internationalen rige Wehrpflichtige im Rahmen von Heimatschutz zur Konflikten, asymmetrischen Bedrohungen und dem Terrorismusbekämpfung einzusetzen, lässt mir eher das Kampf gegen den internationalen Terrorismus auf ver- Blut in den Adern gefrieren. Das ist wirklich eine gruse- schiedenen Ebenen auseinander setzt. Wir setzen dabei lige Vorstellung. auf einen ganzheitlichen Ansatz, auf wirtschaftliche, politische, entwicklungspolitische, finanzielle und hu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN manitäre Maßnahmen, um derartige Bedrohungen abzu- sowie bei Abgeordneten der SPD) wehren. Dazu bedarf es anderer Instrumente, über die wir einmal Unsere Stärken, die Stärken der Bundesrepublik an anderer Stelle konstruktiv reden müssen. Deutschland, liegen eindeutig im Bereich der Konflikt- Des Weiteren möchte ich von Ihnen endlich etwas lösung. Dementsprechend werden Krisenbewältigung Konstruktives zu Afghanistan hören. Ihre Dauer- und Konfliktvorsorge bis hin zu Frieden schaffenden behauptung, für Afghanistan liege kein Gesamtkonzept Maßnahmen mehr denn je auch zentrale Aufgaben der vor, wird durch ständiges Wiederholen auch nicht wahr. Bundeswehr sein. Auf diesen Gebieten engagiert sich die Bundeswehr bereits jetzt auf vielfältige Weise. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Unsere internationalen Verpflichtungen, die wir zu er- füllen haben, und die Verantwortung, die wir eingegan- Ich kann mir ja lebhaft vorstellen, dass es auf der Op- gen sind, haben dazu geführt, dass Anzahl, Intensität, positionsbank manchmal richtig langweilig ist und dass Umfang und Dauer der Einsätze der Bundeswehr stetig man dabei manchmal einschläft. zugenommen haben. Das war und ist mit der Bundes- (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wehr alten Zuschnitts nicht mehr zu machen. Deshalb NEN und bei der SPD) begrüßt meine Fraktion ausdrücklich den Transforma- tionsprozess der Bundeswehr. Das entschuldigt Sie irgendwie, aber auch nur irgend- wie. Denn während Ihrer Tiefschlafphasen scheint Ihnen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN entgangen zu sein, dass zwei Afghanistankonferenzen sowie bei Abgeordneten der SPD) stattgefunden haben Mit der Aufteilung in drei Kategorien kann die Bun- (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Drei deswehr die anstehenden Aufgaben besser bewältigen. sogar!) 11456 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Marianne Tritz (A) – wunderbar! Sie haben doch etwas gelernt –, auf denen mutigen Schritt getan, den man einmal ausdrücklich lo- (C) ein Gesamtkonzept definiert wurde, das auch noch in ben muss. eine Sicherheitsresolution umgesetzt wurde. Das bedeu- Danke. tet, dass wir nicht im luftleeren Raum agieren, sondern dass wir unseren Beitrag zu dem leisten, was die interna- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tionale Staatengemeinschaft gemeinsam beschlossen hat. und bei der SPD) Ich hoffe sehr, dass Sie demnächst der Mandatsverlänge- rung für Afghanistan zustimmen werden. Alles andere Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: würde nämlich die Vorbereitung und die Unterstützung Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Günther Nolting. der Präsidentschafts- und der Parlamentswahlen unmög- lich machen und alles, was die Bundeswehr und die (Gernot Erler [SPD]: Mal sehen, wie er diese zahlreichen Hilfsorganisationen bisher in Afghanistan Charmeoffensive beantwortet!) geleistet haben, infrage stellen. Ich möchte Sie dann ein- mal sehen, wie Sie das vor diesen, vor Präsident Karzai Günther Friedrich Nolting (FDP): und vor der internationalen Staatengemeinschaft recht- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau fertigen würden. Kollegin Tritz, ich glaube, Sie haben mit Ihren Vorwür- fen hier die falschen Fraktionen angesprochen. Wir wis- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sen, welche Verantwortung wir gegenüber unseren Sol- sowie bei Abgeordneten der SPD) datinnen und Soldaten und den zivilen Mitarbeitern der Ein bisschen mehr Sensibilität in bestimmten Fragen Bundeswehr zu tragen haben. stünde Ihnen gut zu Gesicht. Die Art und Weise, wie Sie (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten politische Konflikte auf dem Rücken der Soldaten aus- der CDU/CSU) tragen wollen, ist nicht in Ordnung. Ich finde es richtig, wenn man im Zusammenhang mit den Kosovo-Unru- Wir tragen diese Verantwortung seit vielen Jahrzehnten, hen im März dieses Jahres auf einer lückenlosen Aufklä- im Gegensatz zu Rot-Grün, vor allen Dingen im Gegen- rung der Ereignisse besteht. Dann muss man auch aner- satz zu den Grünen, aus deren Reihen Sie kommen. Wir kennen, wenn der Minister und die Bundeswehr dem stellen unsere Soldatinnen und Soldaten, die Angehöri- nachkommen. Dann aber, wenn die Aufklärung erfolgt gen der Bundeswehr nicht unter Generalverdacht, wie ist und die Verantwortlichen selbst die Mängel benannt Sie es 1998 getan haben, als Sie einen Untersuchungs- haben, einen Untersuchungsausschuss zu fordern ist ausschuss bezüglich eines vermeintlichen Rechtsextre- schon ziemlich dreist. Da liegt der Verdacht nahe, dass mismus in der Bundeswehr gefordert haben. Sie waren bei Ihnen nicht der Wunsch nach Aufklärung im Vorder- es, die die Bundeswehrangehörigen unter Generalver- (B) grund steht, sondern dass Sie bereit wären, die Soldaten dacht gestellt haben. Daran sollten Sie sich erinnern. (D) vor Ort zu demontieren, nur um der Regierung eins aus- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) wischen zu können. Das finde ich billig und durchsich- tig. Was ist eigentlich von dem ehrgeizigen Anspruch aus dem Jahre 1998 geblieben, die größte Reform in der Ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schichte der Bundeswehr einzuleiten? Nicht viel! Seit und bei der SPD – Dr. Karl A. Lamers [Heidel- sechs Jahren regiert Rot-Grün. Was ist passiert? Seit berg] [CDU/CSU]: Es geht uns um den Schutz sechs Jahren doktern Sie an der Bundeswehr herum. Ich der Soldaten!) sage Ihnen: Rot-Grün bringt nicht einmal einen Struktur- entwurf für die Streitkräfte zustande, der dieses Jahr- – Ja, ja. zehnt überlebt. Ich bedauere alle Angehörigen der Bun- An jenem Tag im Kosovo ist sicherlich vieles schief deswehr in Uniform wie in Zivil: Sie wissen über Jahre gelaufen, aus dem man lernen muss. Das hat auch der nicht, ob ihr Arbeitsplatz sicher ist oder ob ihr Wohnort Minister zugegeben. beibehalten werden kann. Ihnen ist jede Planungssicher- heit seit 1998, seitdem Rot-Grün an der Regierung ist, (Dr. Karl A. Lamers [Heidelberg] [CDU/CSU]: abhanden gekommen. Das wollen wir aufklären!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Dennoch können wir davon ausgehen, dass die Soldaten der CDU/CSU) damals in der aufgeheizten Stimmung alles getan haben, Natürlich muss die Bundeswehr reformiert werden. um den Konflikt in den Griff zu bekommen. Ihre Struktur und ihr Umfang entsprachen in keiner Be- ziehung mehr den Erfordernissen der neuen Zeit. Die In den letzten Jahren hat sich die Art und Weise der FDP-Bundestagsfraktion hat als einzige Fraktion bereits Einsätze der Bundeswehr verändert. Jetzt wird es Zeit, vor Jahren ein eigenes Konzept vorgelegt. Vieles davon die Struktur und die Ausrüstung der Bundeswehr an die finden Sie im Bericht der Weizsäcker-Kommission wie- veränderten Erfordernisse anzupassen. Wir alle wissen, der. Wenn der damalige Verteidigungsminister diesen was der Minister der Bundeswehr abverlangt und dass er Vorschlägen doch nur gefolgt wäre, dann hätte er der einige schmerzhafte Wahrheiten verkünden muss. Aber Bundeswehr etliche Irritationen erspart und dann wäre im Gegensatz zur Opposition, die ständig und in allen die neue Struktur jetzt weitgehend Realität. Bereichen immer nur fordert, kritisiert und stets ein Konzept oder eine Antwort schuldig bleibt, hat der Mi- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nister mit dem Transformationsprozess einen wirklich der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11457

Günther Friedrich Nolting (A) Herr Minister, Ihre Verteidigungspolitischen Richt- Faizabad verändert? Es gibt immer noch kein mit den (C) linien gehen in die richtige Richtung. Wir unterstützen Partnern abgestimmtes Gesamtkonzept für die Region. viele Aussagen. Aber wir erwarten, dass endlich ein (Beifall bei der FDP) Weißbuch vorgelegt wird. Das letzte Weißbuch gab es 1994. Seit dem Jahr 2000 versprechen Sie uns solch ein Ich darf an Folgendes erinnern – damit komme ich Weißbuch. Wir wollen wissen, wie die gesamte Bundes- zum Schluss, Frau Präsidentin –: Es war General regierung die sicherheitspolitische, die verteidigungs- Riechmann, der letztes Jahr mit einem Vorauskom- politische Lage einschätzt und welche Konsequenzen die mando vor Ort war und nach seiner Rückkehr gesagt hat: gesamte Bundesregierung – nicht nur der Verteidigungs- Ich brauche für ein PRT mindestens 230 Soldatinnen und minister – daraus zieht. Soldaten. – Jetzt sind in Faizabad keine 100. Wie sieht es da eigentlich mit dem Selbstschutz aus? (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP) Lassen Sie mich noch etwas zur allgemeinen Wehr- Auch dafür tragen wir eine Verantwortung. Dass wir ihr pflicht sagen. Der Kollege Gerhardt hat sich dazu für die nachkommen, kann ich leider nicht erkennen. Wir haben FDP-Bundestagsfraktion geäußert. Herr Minister, auch für den Schutz unserer Soldaten zu sorgen. schauen Sie sich selbst Ihre Verteidigungspolitischen Was den Kosovo angeht, so gibt es keine Vorwürfe Richtlinien noch einmal an! Sie selbst schreiben, dass gegenüber den Soldaten vor Ort, überhaupt nicht. Frau der Hauptauftrag nicht mehr Bündnis- und Landesvertei- Kollegin Tritz, die Soldaten leisten gute Arbeit vor Ort, digung sind, sondern im Wesentlichen die internationa- aber ich mache der rot-grünen Bundesregierung Vor- len Einsätze. Keiner hier im Hause – vielleicht bis auf würfe, weil sie ihrer Informationspflicht nur mangelhaft wenige Ausnahmen – will Grundwehrdienstleistende in nachkommt. Das haben wir gerade in den letzten Tagen solche internationalen Einsätze schicken. Das können wieder erlebt. Wenn es nicht Druck aus der Opposition wir aufgrund fehlender Ausbildungszeiten nicht verant- gegeben hätte, hätten wir bis heute nicht die Informatio- worten. Wir können es aber auch grundsätzlich politisch nen, die wir benötigen. nicht verantworten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ich will auch hier noch einmal sagen: Wehrpflicht ist der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] kein ewig währendes Prinzip. Wehrpflicht muss ständig [SPD]: Das ist unsinnig!) überprüft werden: auf die Länge, auf die Kürze oder da- hin gehend, ob sie insgesamt beibehalten werden muss. Sie muss vor allen Dingen sicherheitspolitisch begründet Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (B) werden. Alle anderen Gründe sind zwar wichtig und Herr Kollege Nolting! (D) müssen berücksichtigt werden, aber sie sind Sekun- därgründe und dürfen nicht zur Legitimation der Wehr- Günther Friedrich Nolting (FDP): pflicht herangezogen werden. Ich komme zum Schluss. (Beifall bei der FDP) Wir sprechen von einer Parlamentsarmee. Von daher muss das Parlament auch die Informationen erhalten, die Die sicherheitspolitische Lage im konventionellen es benötigt, um urteilen zu können. Wir müssen uns Bereich hat sich in den letzten Jahren doch verbessert; darauf verlassen können, dass das, was uns im sonst säßen wir doch nicht hier, in Berlin. Die NATO hat Ausschuss vorgetragen wird, auch richtig ist und der Staaten aufgenommen, die dem ehemaligen Warschauer Wahrheit entspricht. Pakt angehört haben, die zur ehemaligen Sowjetunion gehört haben. Die NATO ist heute jedem potenziellen Vielen Dank. Gegner um ein Vielfaches überlegen. Auch deswegen brauchen wir die Wehrpflicht nicht mehr. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Herr Kollege Schmidt, ich will noch einmal das Thema Wehrgerechtigkeit ansprechen. Wenn heute Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: keine 20 Prozent der jungen Männer eines Jahrgangs Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, bitte mehr Wehrdienst ableisten, dann frage ich mich, woher ich allgemein darum, dass die Schlusssätze nicht noch die Legitimation kommen soll. Ich kenne einige, die eineinhalb Minuten über das Ende der Redezeit hinaus- mittlerweile den Zivildienst, den Ersatzdienst, zur Legi- gehen. timation der Wehrpflicht anführen. Das kann nicht rich- tig sein. Auch darüber werden wir in den nächsten Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainer Arnold. Monaten noch streiten. Rainer Arnold (SPD): (Beifall bei der FDP) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister, Sie haben das Thema Afghanistan an- Eigentlich ist es schade, dass bei einer Debatte, die die gesprochen. Eine Vielzahl der Kollegen aus der FDP- Menschen stärker berührt als viele Themen, die wir hier Bundestagsfraktion ist vor Ort in Afghanistan gewesen. sonst bereden – weil es nämlich um die Frage der Auch insofern haben wir keinen Nachholbedarf. Was hat Sicherheit jedes Einzelnen geht –, die Opposition in die sich in den letzten zwölf Monaten in Kunduz, in üblichen Rituale verfällt. 11458 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Rainer Arnold (A) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Am nächsten Tag erklärt der stellvertretende Fraktions- (C) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) vorsitzende Dr. Schäuble, dass die Regierung selbstver- ständlich bei dieser richtigen Maßnahme auf die Unter- Damit wird eine Chance verspielt, was den größten Per- stützung der Opposition bauen kann. Am darauf sonalkörper angeht, für den der öffentliche Bereich Ver- folgenden Tag erklären Sie, Herr Schmidt, eigentlich antwortung trägt, mit Personal, das wir mit ganz beson- bräuchten wir dort viel mehr Soldaten. ders schwierigen Aufgaben ins Ausland schicken. Das Personal hätte es verdient, dass wir uns seriös mit dem (Dr. Karl A. Lamers [Heidelberg] [CDU/CSU]: auseinander setzen, Wie viele Soldaten brauchen wir denn?) (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Was war denn Ich glaube, Sie reagieren deshalb so gereizt, weil Sie an dem Beitrag unseriös?) ganz genau spüren, dass Sie in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik nicht vernünftig aufgestellt sind und was im Augenblick an Transformation, an Wandel zu nicht konsistent argumentieren. Das ganze Themenfeld bewältigen ist, und dass wir uns seriös und wahrheits- stellt eine richtig offene Flanke der Opposition dar. gemäß mit dem auseinander setzen, was die Soldatinnen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und Soldaten in den Einsatzgebieten erleben. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Dr. Karl A. Lamers [Heidelberg] [CDU/CSU]: BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wie viele Soldaten brauchen wir denn?) Besonders schade ist das deshalb, weil wir uns in der Sie haben vor allen Dingen eines nicht verinnerlicht, Analyse eigentlich einig sind. Die Sicherheitslage in Eu- nämlich dass Sicherheit mehr leisten muss als abschre- ropa hat sich verändert. Wir haben einen euroatlanti- ckende Verteidigung. Sicherheit kann doch nur in einem schen Stabilitätsraum und erkennen, dass wir gleichzei- erweiterten Verständnis erreicht werden: Sie hat doch tig mit neuen, nicht so genau definierbaren Risiken fertig ökonomische, ökologische, soziale und kulturelle Di- werden müssen, also andere Antworten brauchen. Herr mensionen. Die Streitkräfte spielen in diesem Zusam- Schmidt, bei Ihrer Rede habe ich den Eindruck gewon- menhang eine wichtige, aber eben nur eine Rolle unter nen: Sie erkennen in der Analyse zwar die Veränderun- vielen. Zu all diesen Punkten steht in Ihren Anträgen gen richtig, aber an den Antworten, die Sie geben, zum keine Zeile. Beispiel zur Heimatschutzkomponente – Standorte sollen nur wegen dieser Komponente weitergeführt Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: werden –, Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen (B) Schmidt? (D) (Dr. Karl A. Lamers [Heidelberg] [CDU/ CSU]: Wichtig, sehr wichtig!) Rainer Arnold (SPD): merken wir, dass Sie in der Union diesen Wandel mental Gerne. gar nicht wirklich vollzogen haben. (Gernot Erler [SPD]: Der hat doch schon (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des überzogen!) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Um es klar zu sagen, Herr Lamers: Die Soldatinnen und Soldaten gestalten diese Reform nicht auf dem Pa- Meine Zwischenfrage gibt doch dem Kollegen die pier, sondern sie sind in ihrer täglichen Praxis mitten in Möglichkeit, sich noch einmal zur Sache zu äußern, dem Wandel. Die Reform ist Realität. Wir sind in der nachdem er dafür bisher nicht viel Zeit aufgewendet hat. Umsetzung. Die Soldatinnen und Soldaten sind in den Herr Kollege Arnold, wie verhält es sich nun mit dem Köpfen viel, viel weiter als die Politik auf Ihrer Seite. PRT in Faizabad? Wie groß soll es sein? Welche Anzahl wäre nötig? (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Gernot Erler [SPD]: Da lenkt er ab! – Zuruf NEN]) des Abg. Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]) Herr Schmidt – ich kann Ihnen wirklich nicht erspa- ren, Herr Schmidt, dass ich das sage –, die Union zeigt Ist es so, dass der Verteidigungsminister aufgrund von mit dem Finger auf die Regierung Aussagen aus Ihrer Fraktion bzw. von solchen aus der Koalitionsfraktion Bündnis 90/Die Grünen den Ein- (Dr. Karl A. Lamers [Heidelberg] [CDU/ druck gewinnen konnte, die Anzahl der Soldaten für CSU]: Womit sonst?) Faizabad orientiere sich nicht an der Sicherheit und am Team, sondern sei aufgrund von Begehrlichkeiten der und unterstellt vermeintliche Unterschiede in der Bewer- rot-grünen Koalitionsparteien begrenzt worden? tung der Aufgaben. Ich habe mit Interesse gelesen, was Sie, Kollege Schmidt, in den letzten Wochen gesagt ha- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Dämli- ben. An einem Tag ziehen Sie das PRT in Faizabad in che Frage! – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE Zweifel. GRÜNEN: Quatsch!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11459

(A) Rainer Arnold (SPD): Ordner, den der Verteidigungsminister gestern den Ob- (C) Zunächst einmal übersehen Sie, dass die Konzeption leuten übergeben hat – ich bin froh, dass wir ihn haben; der PRTs nicht auf nationaler deutscher Vorliebe beruht, da steht nämlich überhaupt nichts Spektakuläres drin –, sondern die Staatengemeinschaft insgesamt diesen Weg bietet eine saubere Aufarbeitung der Versäumnisse und gewählt hat. Natürlich beruht dieses Vorgehen auf einem Fehleinschätzungen im Kosovo, die bereits im April und Kompromiss zwischen den beiden Polen, entweder Mai aufgestellt wurde und aufgrund derer der General- 70 000 bis 80 000 Mann nach Afghanistan zu schicken. inspekteur bereits im Mai klare Schlussfolgerungen ge- Ich sehe niemanden, der das will bzw. leisten kann – zogen und in Anweisungen umgesetzt hat. oder allein den Weg über Nation-Building zu wählen Das heißt im Klartext: Durch die Informationen in und ganz herauszugehen. Dieses fordert ja die FDP. Das diesem Ordner werden keine Fragen aufgeworfen, son- ist aber unverantwortbar gegenüber den Menschen in dern sie wurden zu einem viel früheren Zeitpunkt, als Afghanistan. Sie sie gestellt haben und versucht haben, einen Skandal (Zuruf von der FDP: Was?) daraus zu machen, klar beantwortet. Ich bin froh und be- ruhigt über diese Informationen; Deshalb stellt das jetzige Vorgehen einen Kompromiss dar, für den sich die NATO mit unserer Unterstützung ( [CDU/CSU]: Sie haben entschieden hat. gerade gesagt, dass Sie nie aufgeregt gewesen seien!) (Zurufe von der CDU/CSU) denn ich konnte erkennen, dass die Bundeswehr eine – Ich beantworte Ihre Frage schon konkret, Herr lernfähige Organisation ist. Der Verteidigungsminister Schmidt. – Die zweite Frage ist, wie viele Soldaten für stellt sich in dieser Frage – das ist ganz klar – zu Recht ein PRT nötig sind. vor seine Soldaten. (Thomas Kossendey [CDU/CSU]: Diese Frage Ein altes Sprichwort sagt: Erfahrung hat man nicht sollten Sie beantworten!) dann, wenn man sie braucht, sondern erst danach. Des- Diese lässt sich erst dann beantworten, wenn zuvor die halb würde ich es für gut finden, wenn wir Politiker in Frage geklärt wird, was ein PRT tun soll. Berlin nicht anfangen, aus unseren warmen Büros heraus operative Entscheidungen, die Soldaten treffen und (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Tolle Ant- verantworten müssen, zu kritisieren. Und wir sollten wort! Selber eine Frage stellen!) nicht meinen, wir alle könnten kleine Feldherren sein. Wenn ein PRT auch Frieden schaffende Maßnahmen in (Dr. Karl A. Lamers [Heidelberg] [CDU/CSU]: (B) einer Großstadt durchsetzen soll, dann braucht man viele Man muss es aber richtig machen!) (D) Hundert Soldaten. Dies soll es aber nicht. Wenn ein PRT einzelne Objekte und Menschen in der Stadt schützen, Das ist nicht unsere Aufgabe. kommunikativ Staatsgewalt aus Kabul auch in die Regi- Verstehen Sie mich nicht falsch: Selbstverständlich onen tragen, Menschen zusammenbringen und mit den muss die Politik die Auslandseinsätze unserer Streit- Akteuren reden und verhandeln soll, zugleich dabei aber kräfte verantwortungsvoll begleiten. Selbstverständlich ein Gewehr im Hintergrund hat, damit man in dieser Ge- ist die Bundeswehr ein Parlamentsheer und die politi- sellschaft als Verhandlungspartner respektiert wird, sche Führung hat gegenüber dem Parlament die Pflicht, wenn das die Aufgabe des PRT ist – und das ist sie –, uneingeschränkt Bericht zu erstatten. Das hat sie auch in dann ist die Größe, die wir gewählt haben, angemessen. diesem Fall getan. Der Generalinspekteur hat uns bereits Wir machen dabei manchmal den Fehler, dass wir von im Mai erklärt, welche Handlungsoptionen es gibt und den Soldaten dann, wenn etwas schief läuft, plötzlich wie die Entscheidungen aussehen. Es liegt also alles auf verlangen, dass sie Aufgaben erfüllen sollen, für die wir dem Tisch. gar kein Mandat erteilt haben. So sollte man mit den Sol- daten nicht umgehen, sondern die Aktionen präzise an Es darf nicht passieren, dass die Politik, wenn Solda- der vorliegenden Aufgabenbeschreibung messen. ten Fehler machen – das wird angesichts der schwierigen Aufgaben immer wieder vorkommen –, einen Kompa- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ niechef oder einen Bataillonskommandeur in den Vertei- DIE GRÜNEN) digungsausschuss nach Berlin zitiert – solche Überle- Die Bundeswehr – das hat sich an dem PRT gezeigt – gungen stellen Sie an –, damit er Rede und Antwort wird dieser Aufgabenstellung längst gerecht. Ich will gar steht. Eine solche Entscheidung hätte eine völlig falsche nicht drum herumreden: Die Ausschreitungen im Signalwirkung für die Truppe. Sie würde die Motivation Kosovo haben gezeigt, dass Fehler gemacht wurden. Es und die Verantwortungsbereitschaft mindern. Es kommt ist notwendig, die nationalen und internationalen Kom- aber darauf an, dass unsere jungen Soldaten die Bereit- munikationsketten zu überprüfen. Es wurden strukturell schaft zeigen, in schwierigen Situationen selbst zu ent- falsche Einschätzungen vorgenommen. Die Schwach- scheiden und Verantwortung zu übernehmen. stellen wurden nicht richtig erkannt, insbesondere nicht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten in ihrer politischen Brisanz. Das alles liegt auf dem des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Tisch. Jetzt kommt aber der entscheidende Punkt: Sie tun so, als ob es, um dies zu erkennen, der Medienbe- Die Soldaten werden dies nur tun können, wenn sie wis- richte im August bedurft hätte. Das ist falsch. Der dicke sen, dass die Politik auch dann hinter ihnen steht, wenn 11460 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Rainer Arnold (A) sie in schwierigen Situationen entscheiden müssen. Das hieß: Ich hoffe, dass das transatlantische Bündnis den (C) bedeutet ganz klar: Wir alle sollten darauf bedacht sein, Irakkrieg überlebt. den jungen Truppenführern die richtigen Signale zu ge- ben. Man sollte sich einmal überlegen, was das bedeutet. Der zweite Satz lautete: Es gibt mittlerweile in der Ich sage sehr deutlich: Ihr Versuch, dieses Thema am NATO zwei Gruppen: die eine Gruppe, die ihren finan- Kochen zu halten – zumindest manche in Ihren Fraktio- ziellen Verpflichtungen nachkommt, und die andere, die nen spielen mit dem „Kampfinstrument“ Untersu- das nicht tut und für die die erste mit einstehen muss. chungsausschuss –, zerstört die Bereitschaft in der Truppe, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Über Wir alle wissen: Wir gehören zur zweiten Gruppe. Ich die Soldaten würde im Grunde genommen Gericht ge- muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Ich habe mich anlässlich halten werden. So würde es jeder Soldat letztlich emp- solcher Sätze für diejenigen, die für unsere Bundeswehr finden. Dies können wir nicht wollen. Wir brauchen Sol- verantwortlich sind – nicht für die Soldaten; das muss daten, die sich ihrer Verantwortung stellen. ich hier ausdrücklich sagen und das werde ich an anderer Stelle noch einmal betonen –, geschämt. Denn dies wirft Ich füge noch hinzu: Ich habe überhaupt keinen ein bestimmtes Licht auf unsere Außen- und unsere Ver- Grund und keinen Anlass, daran zu zweifeln, dass die teidigungspolitik und beeinträchtigt das Vertrauen, das Soldaten die taktischen Spielräume – wie es militärisch wir eigentlich haben sollten. Mit unserer Politik riskie- heißt –, die wir ihnen zur Erfüllung ihres Mandates ge- ren wir, an Glaubwürdigkeit zu verlieren. ben müssen, verantwortungsvoll ausfüllen. Unsere Auf- gabe ist, politische Vorgaben zu machen. Darüber kön- Sie, Herr Verteidigungsminister, haben heute wieder- nen wir streiten und diskutieren. Wenn Fehler passieren, holt, dass Sie davon ausgehen, dass die Opposition die dann reden wir darüber mit dem Verteidigungsminister Reformpläne im Großen und Ganzen billigt. Das ist so und mit den Inspekteuren. Aber wir sollten bitte nicht nicht richtig; denn wir stellen Bedingungen. Diese Be- kleine Operationen, die die Soldaten jeden Tag durch- dingungen lauten, dass die Reform der Bundeswehr und führen müssen, zum Anlass nehmen, ein Spektakel im die Umwandlung in eine Einsatzarmee nur dann durch- Verteidigungsausschuss zu inszenieren; denn das schadet geführt werden können, wenn wir zusätzliche Investitio- der Truppe insgesamt. nen in neue Techniken und in Schutzausrüstungen der Truppe, aber auch – darauf möchte ich mich konzentrie- ren – in Fürsorgemaßnahmen für unsere Soldaten täti- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: gen. Anderenfalls erleiden wir einen Vertrauensverlust; Herr Kollege Arnold, auch Sie bitte ich, zum Schluss die Vorkommnisse der letzten Tage weisen sehr deutlich zu kommen. darauf hin. Wir brauchen eine umfangreichere Versor- (B) gung unserer Soldaten, wenn wir sie in schnelle Einsätze (D) Rainer Arnold (SPD): schicken. Wir brauchen mehr, um ihnen da wieder her- Ich komme zum Ende. auszuhelfen. Alles in allem: Die Reform der Bundeswehr ist viel Herr Verteidigungsminister, seit über einem Jahr sa- weiter, als Sie denken. Am Ende dieses Prozesses wird gen Sie uns – und leider auch den Mitarbeitern von acht die Bundeswehr eine Streitmacht sein, die zusammen Bundeswehrkrankenhäusern –, dass Sie etliche Kran- mit ihren Partnern – nicht allein – mehr Fähigkeiten hat kenhäuser schließen werden. Jede Woche höre ich aus und im Hinblick auf die möglichen Aufgaben, die sie zu demselben Munde unterschiedliche Pläne. Sie vergrät- erfüllen hat, noch besser ausgebildet ist. Sie wird am zen und verunsichern damit das Personal in den Bundes- Ende besseres und moderneres Gerät haben, als dies im wehrkrankenhäusern. Nach all dem, was wir jetzt gehört Augenblick der Fall ist. Dieser Prozess steht nicht am haben, reduzieren Sie circa 35 bis 40 Prozent der in die- Anfang; wir befinden uns mittendrin. sen Krankenhäusern bestehenden Kapazitäten und somit Herzlichen Dank für Ihre Geduld. auch Ausbildungskapazitäten. Im Sanitätswesen wird Personal in der Anästhesie, in der Kopf- und Kiefer- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ chirurgie und in vielen anderen einsatzrelevanten Dis- DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: ziplinen wie etwa der Neurochirurgie reduziert, deren Diese Geduld muss man wirklich haben!) Kenntnisse wir in den zivilen Krankenhäusern nicht kompensieren können. Interessante Modelle, die dazu in Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: einigen Städten erarbeitet worden sind, finden in Ihren Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ursula Lietz. Verhandlungen keinen Platz. (Beifall bei der CDU/CSU) Am 21. September dieses Jahres hat der Inspekteur des Sanitätswesens von einem gigantischen Mangel an Medizinern für den Einsatz gesprochen. Er hat Recht; Ursula Lietz (CDU/CSU): denn wir werden in Zukunft weltweit eingesetzte Trup- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und pen nicht mehr ausreichend medizinisch versorgen kön- Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor nen. 14 Tagen haben die Außen- und Verteidigungspolitiker dieses Hauses ein Gespräch mit einem führenden Wenn Sie glauben, Krankenhäuser in den nächsten NATO-Diplomaten gehabt. Zwei Sätze aus diesem Ge- Jahren auslaufend schließen zu können, dann wird Ihnen spräch sind mir in Erinnerung geblieben. Der erste Satz das nicht gelingen. Denn sobald die Schließungen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11461

Ursula Lietz (A) bekannt werden, werden die guten Leute gehen und mit Vor diesem Hintergrund können wir dieser Reform nicht (C) denjenigen, die bleiben müssen, können Sie den laufen- zustimmen. den Betrieb nicht mehr aufrechterhalten. Schon jetzt er- lassen Sie Einstellungsstopps in den verbleibenden Ich danke Ihnen. Krankenhäusern. Das führt zu Problemen und Engpäs- (Beifall bei der CDU/CSU) sen. Wir stellen immer wieder fest, dass der Vertrauens- verlust in den entsprechenden Einrichtungen groß ist, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: auch wenn man Ihnen das vielleicht nicht sagt. Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gesine Lötzsch. Wir haben das alles in den letzten Jahren bei Schlie- ßungen von Standortverwaltungen miterlebt. Wir erle- Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): ben das jetzt wieder. Sie werden die medizinische Ver- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr ge- sorgung unserer Soldaten im Einsatz und den guten Ruf ehrte Gäste, ich bin Abgeordnete der PDS. der Bundeswehr als Medical Lead Nation – und dies be- zieht sich nicht nur auf das Sanitätswesen – nicht auf- Im Antrag der Regierungsfraktionen zur Transforma- rechterhalten können. tion der Bundeswehr findet sich folgende Passage, die ich nur unterstützen kann: Hinzu kommt, dass Reservisten im Sanitätswesen von 50 000 auf 14 000 reduziert werden sollen. Diese emp- Der grundlegend veränderte Auftrag und die Trans- finden dies so, als ob wir gegenüber denjenigen, die jah- formation der Bundeswehr müssen von einem brei- relang an unserer Seite gestanden haben, plötzlich kein ten gesellschaftlichen Konsens getragen werden. Vertrauen mehr haben. Sie ziehen dabei nicht in Be- Dieser bedarf einer breiten sicherheits- und frie- tracht, dass wir sie als Verstärkungsgruppe für Kliniken denspolitischen Debatte in Politik und Gesellschaft. in Einsatzgebieten und bei der Rückführung verletzter Soldaten, aber auch im Katastrophenfall dringend brau- Das ist völlig richtig. Wo aber wird diese breite sicher- chen. Sie werden feststellen, dass die Schließung von heits- und friedenspolitische Debatte in Politik und Ge- Reservelazaretten bei der zukünftigen Heimatverteidi- sellschaft geführt? In welcher Frage haben Sie in der Ge- gung Probleme macht; wir haben darüber gesprochen. sellschaft einen Konsens in der Sicherheits- und Friedenspolitik erreicht? Sie wissen, dass eine Mehrheit Dann wollen Sie noch in den nächsten fünf bis sechs der Bundesbürger den militärischen Einsatz der Bundes- Jahren zivile Mitarbeiter in einem hohen Ausmaß in wehr in Ex-Jugoslawien und in Afghanistan abgelehnt den vorzeitigen Ruhestand schicken oder auf andere hat und noch immer ablehnt. Stellen versetzen. Sie wollen so die Zahl der zivilen Mit- (B) arbeiter um 40 000 reduzieren. Wenn Sie sagen, dass Sie (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE (D) das sozialverträglich und ohne betriebsbedingte Kündi- GRÜNEN]: Das stimmt nicht!) gungen machen werden, dann werden Sie erneut erleben, Es gibt auch eine Mehrheit in der Bevölkerung, die keine dass die Menschen in der Bundeswehr Ihnen nicht mehr Auslandseinsätze der Bundeswehr will, sondern glauben. Konfliktprävention und verstärkte Bekämpfung der (Beifall bei der CDU/CSU) Ursachen von Terror und Gewalt. Ich denke, dass wir uns auf eine neue Bedrohungslage Die Bundesregierung regt diese Diskussion nicht an. einstellen müssen. Wir haben in diesem Land noch im- Sie verweigert sich dieser Diskussion sogar hartnäckig. mer nicht begriffen, worum es eigentlich geht. Wir erin- (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE nern uns zu wenig daran, dass wir uns verpflichtet GRÜNEN]: Wie bitte?) haben, an der Seite unserer NATO-Partner im internatio- nalen Kampf gegen den Terrorismus zu stehen. Ich erin- Sie schickt die Bundeswehrsoldaten von einem Krisen- nere an das Wort des Kanzlers von der uneingeschränk- herd zum nächsten und setzt das Leben der Soldaten ten Solidarität, die wir so von ihm gar nicht verlangt leichtfertig aufs Spiel. Aus der Bundeswehr selbst ist zu haben. hören, dass diese Art der Sicherheitspolitik als „Ge- fechtsfeldtourismus“ bezeichnet wird. Wir sind an vielen Einsatzorten in der Welt. Unsere Soldaten erwarten von uns, dass wir hinter ihnen stehen. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist In einem Interview haben Sie, Herr Verteidigungsminis- völliger Unsinn!) ter, sogar einen Einsatz im Sudan nicht ausgeschlossen. Die Bundesregierung hat kein sicherheitspolitisches Ich denke, wir müssen dafür sorgen, dass unsere Konzept. Das letzte Weißbuch, das eine Konzeption der Bündnispartner, aber auch unsere Soldaten wieder Ver- Bundeswehr enthielt, wurde 1994 von der Regierung trauen in uns haben. Wegen der Vorkommnisse im Kohl vorgelegt, also vor zehn Jahren. Bekanntlich hat Kosovo brauchen Sie den Soldaten keinen Vorwurf zu sich seitdem einiges in der Welt grundsätzlich verändert. machen, Herr Verteidigungsminister; denn es hat sich Der ehemalige Bundesminister der Verteidigung, Herr gezeigt, dass die Vorkommnisse im Kosovo Führungs- Scharping, hatte bereits für 2001 ein Weißbuch angekün- probleme sind. Führungsprobleme löst man aber nicht digt. Nun soll es, dem Antrag der Koalition entspre- mit Maulkorberlassen. Sie löst man mit Vertrauen in die chend, im Jahre 2005 kommen. Der Kollege Schmidt Soldaten und mit deren Stärkung, durch ausgezeichnete von der CDU/CSU ist darauf schon kritisch eingegan- Ausrichtung, Ausbildung und Ausstattung. All das fehlt. gen. 11462 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Dr. Gesine Lötzsch (A) Auch das bestätigt unseren Eindruck, dass Sie die Wahl gemeinsam mit den Bürgern gegen das Bombo- (C) Bundeswehr in Krisengebiete dieser Welt schicken, ohne drom einsetzen werden. die Folgen zu bedenken. Das ist gefährlicher Aktionis- mus. (Reinhold Robbe [SPD]: Das hilft aber nicht!) (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE Abschließend will ich die Position der PDS zusam- GRÜNEN]: Wissen Sie eigentlich, welche menfassen: Erstens. Wir lehnen weltweite Einsätze der Rolle die Vereinten Nationen spielen?) Bundeswehr ab. Dies wird besonders deutlich, wenn man sich die feh- (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE lende Strategie der Bundesregierung in Afghanistan an- GRÜNEN]: Auch Einsätze der Vereinten Na- schaut: Niemand weiß, wo sich Bin Laden aufhält, die tionen?) alten Herrschaftsstrukturen in den Regionen sind beste- Die Bundeswehr ist für die Landesverteidigung da; wir hen geblieben, der Drogenhandel blüht und die Bundes- halten auch gar nichts von Bundeswehreinsätzen im In- wehr schaut weg. Afghanistan lebt nicht in Frieden und neren. ist weit von einer funktionierenden Demokratie entfernt. Zweitens. Die Zahl der Berufs- und Zeitsoldaten kann Die Bundesrepublik läuft Gefahr, in Afghanistan in auf 100 000 reduziert werden. einen lang andauernden, blutigen und extrem kostspieli- gen Konflikt verwickelt zu werden. Drittens. Wir sind gegen jede Art von Zwangsdiens- ten und dazu gehören Wehrpflicht und Zivildienst. (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kennen Sie die Realität der drei Viertens. Bei Standortschließungen muss die Bundes- Jahre des Einsatzes? – Wilhelm Schmidt [Salz- regierung ein Konversionsprogramm für die betroffenen gitter] [SPD]: Wo bleibt Ihre humanitäre Ein- Regionen vorlegen und es aus dem Rüstungsetat finan- stellung?) zieren. Der derzeitige Präsident der USA, Herr Bush, hat bereits (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- erklärt, dass er kein Ende des Krieges den Terrorismus NEN]: Die Erde ist eine Scheibe!) sieht. Ich glaube, in diesem Punkt stimmt er mit Bin Laden überein. Herr Verteidigungsminister Struck er- Fünftens. Natürlich fordern wir den Verzicht auf Rüs- klärt gern, dass die deutschen Interessen am Hindu- tungsprojekte, die weltweiten Militäreinsätzen dienen, kusch verteidigt werden müssen. Aber warum definiert bzw. deren Abbruch. niemand öffentlich, worin die deutschen Interessen dort (B) Meine Damen und Herren, das wäre die richtige Rich- (D) bestehen? Was Afghanistan betrifft, so sehe ich vor al- tung für die Transformation der Bundeswehr. lem die Interessen der USA und der afghanischen Warlords und Drogenschmuggler. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Die Bundesregierung glaubt augenscheinlich, sich bei Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Reinhold Robbe. den USA für die Nichtbeteiligung am Irakkrieg recht- fertigen zu müssen, und verkauft den USA den Afgha- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) nistaneinsatz als Kompensationsgeschäft. Wir müssen uns aber nicht für die Nichtteilnahme am Irakkrieg bei Reinhold Robbe (SPD): den USA entschuldigen oder rechtfertigen. Der Krieg Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und gegen den Irak ist illegal, wie Kofi Annan festgestellt Herren! Im nächsten Jahr kann unsere Bundeswehr auf hat. Also bedarf es auch keiner Kompensationsge- ihre 50-jährige Geschichte – ich füge hinzu: auf eine schäfte. 50-jährige erfolgreiche Geschichte – zurückblicken. Im Ich will noch zu einem anderen Punkt Ihres Antrags nächsten Jahr wird Anlass für eine umfassende Würdi- kommen. Sie fordern in Punkt 5, dass Standortentschei- gung all dessen sein, was mit unserer Armee verbunden dungen nach militärischen und betriebswirtschaftlichen wird. Vor allen Dingen werden wir im nächsten Jahr Kriterien getroffen werden. In diesem Zusammenhang viele und hoffentlich auch schöne Gelegenheiten haben, habe ich durchaus Fragen an die Grünen: Müssten nicht unseren Soldatinnen und Soldaten Dank zu sagen. auch ökologische Kriterien bei Standortentscheidungen eine Rolle spielen? Wie stellen Sie sich einen transpa- Es führte an dieser Stelle ein wenig zu weit und renten Entscheidungsprozess unter Einbeziehung der würde unserer Debatte heute auch nicht ganz gerecht, Betroffenen vor? wollte man das vorwegnehmen, was im nächsten Jahr in vielfältiger und interessanter Weise stattfinden wird. An dieser Stelle erinnere ich an das Bombodrom bei Hierbei richten sich an den Deutschen Bundestag – da- Wittstock. Die Grünen und die lokale SPD haben sich mit meine ich ausdrücklich nicht nur den Fachausschuss, vor den Wahlen in Brandenburg gegen das Bombodrom also den Verteidigungsausschuss – recht hohe Erwartun- ausgesprochen. Jetzt sind die Wahlen vorbei und die gen. Ich glaube, ich spreche im Namen aller, wenn ich Bürger fragen sich natürlich, was aus dem Engagement sage, dass unsere Soldatinnen und Soldaten es wirklich der Politiker geworden ist. Für die PDS kann ich allen verdient haben, wenn im 50. Jahr ihres Bestehens sehr Bürgern, die sich für eine freie Heide engagieren, versi- deutlich wird, dass unsere Bundeswehr den besonderen chern, dass wir uns nach der Wahl genauso wie vor der Anspruch hat, eine Parlamentsarmee zu sein. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11463

Reinhold Robbe (A) Für uns als Gesetzgeber und für die Bundesregierung gesamt als auch die Bündnispartner in die Lage zu ver- (C) bietet sich eine hervorragende Möglichkeit, das setzen, mit den neuen Herausforderungen besser als in Jubiläum zu nutzen, um einerseits den verantwortungs- der Vergangenheit klarzukommen. vollen Auftrag der Bundeswehr herauszustellen und um andererseits eine breite Diskussion in unserem Lande Wenn wir uns anschauen, mit welchen Problemen wir mit dem Ziel anzuregen, die Sicherheits- und Verteidi- es aktuell in der Welt zu tun haben, so werden unsere ei- gungspolitik als gesamtstaatliche und gesamtgesell- genen sicherheitspolitischen Themen, die naturgemäß schaftliche Aufgabe zu verstehen. von den Bundeswehrauslandseinsätzen bestimmt sind, vom Irakkonflikt, von der äußerst labilen Lage im Kau- Meine Damen und Herren, es ist kein Geheimnis, kasus, dem nach wie vor ungelösten Nahostkonflikt und dass die Sicherheitspolitik und damit auch unsere Bun- zahlreichen Krisenherden von Afrika bis Südostasien deswehr in der deutschen Öffentlichkeit leider nicht so überschattet. stark wahrgenommen wird, wie dies eigentlich wün- schenswert wäre. Dieses mangelnde Interesse ist aber Diese zugegebenermaßen verkürzte Situationsbe- kein deutsches Phänomen, sondern überall in Europa in schreibung wird von einem Thema begleitet, das alle unterschiedlichen Ausprägungen anzutreffen. Politikfelder belastet, nämlich von der Tatsache, dass für die vielen Notwendigkeiten zu wenig Geld zur Verfü- Die Ursachen hierfür sind vielfältig. Es liegt nun ein- gung steht. Auch dies ist natürlich kein typisch deut- mal in der Natur des Menschen, dass er sich lieber mit sches Problem, macht sich jedoch vor dem Hintergrund weniger komplizierten Dingen beschäftigt und deshalb unserer besonderen Situation – ich nenne das Stichwort entsprechend geringes Interesse für Dinge zeigt, die Aufbau Ost – besonders stark bemerkbar. Aus dieser nicht so einfach zu durchdringen sind. Die breiten Be- Situationsbeschreibung ergeben sich meines Erachtens völkerungsschichten verlangen zwar von den politisch folgende Konklusionen: Verantwortlichen eine allumfassende Sicherheit, wobei nicht groß zwischen innerer und äußerer Sicherheit, zwi- Erstens. Gerade weil sich überhaupt nicht abzuzeich- schen Bundeswehr und Polizei oder zwischen Bundes- nen scheint, dass sich die aufgrund unterschiedlichster grenzschutz und Verfassungsschutz unterschieden wird. Ursachen labile Sicherheitslage in absehbarer Zeit posi- Richtig intensiv möchte sich damit aber kaum jemand in tiv verändert, brauchen wir mehr Anteilnahme, mehr In- unserer Gesellschaft beschäftigen. teresse und mehr Bereitschaft für die brennenden Fragen der Sicherheitspolitik. Dies gilt ganz allgemein für un- Andererseits ist das Vertrauen in unsere Sicherheits- sere Gesellschaft. Dies gilt im Übrigen aber in besonde- organe außerordentlich groß, was uns alle zusammen rer Weise für unser Parlament. Unsere im Prinzip ver- vor dem Hintergrund der geschichtlichen Erfahrungen in nünftige und bewährte Form der Fachbereiche und (B) der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch stolz machen Expertenfelder darf nicht dazu führen, dass die Sicher- (D) darf. heitspolitik ausschließlich jenen überlassen wird, die im Verteidigungsausschuss oder im Auswärtigen Ausschuss Derzeit befinden wir uns national und international in tätig sind. Nur wenn es gelingt, der Sicherheitspolitik einer Phase des Umbruchs. Die Sicherheitslage in der einen höheren Stellenwert einzuräumen, werden wir für Welt hat sich im Laufe der zurückliegenden Jahre voll- die Notwendigkeiten Akzeptanz finden, und zwar so- kommen verändert. Der Kalte Krieg ist seit 15 Jahren wohl in politischer als auch in finanzieller Hinsicht. Geschichte. Seit etwa zehn Jahren steht die Bundeswehr Deshalb sind wir allesamt gut beraten, das 50-jährige Ju- praktisch überall in der Welt in der Verantwortung. Seit biläum der Bundeswehr für eine breit angelegte öffent- der ersten echten Auslandsmission im Jahre 1995 haben liche Diskussion innerhalb und außerhalb der politi- wir uns daran gewöhnt, dass Verteidigungspolitik heute schen Parteien, Gewerkschaften, Kirchen, Universitäten anders als zu jenen Zeiten buchstabiert wird, in denen und Schulen zu nutzen. unser Land ausschließlich auf die Sicherung der nationa- len Außengrenzen fixiert war. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Der Umbruch in der Sicherheitspolitik macht sich aber natürlich auch am Datum 11. September 2001 fest. Zweitens. Innerhalb des Parlaments und der im Deut- Der internationale Terror zwingt uns alle zum Umden- schen Bundestag vertretenen Fraktionen muss nach mei- ken. Selbst bei Clausewitz finden wir keine Antwort auf ner Auffassung stärker als bisher über die Frage nachge- die Frage, wie der Staat auf die Herausforderungen der dacht werden, wie wir es schaffen, Sicherheitspolitik asymmetrischen Bedrohungen reagieren soll. Es gibt nicht isoliert, sondern eingebunden in die vielen sonsti- keine Patentlösungen für die komplizierten Fragestellun- gen Politikfelder zu behandeln. Spätestens seit unserem gen mit Blick auf Selbstmordattentate, auf Geiselnah- Engagement auf dem Balkan und in Afghanistan ist je- men oder auf entführte Flugzeuge durch Terroristen. dem klar geworden, dass Sicherheit und Verteidigung auf keinen Fall losgelöst von der Außenpolitik, der Ent- Die freie westliche Welt hat jedoch auf diese neuen wicklungshilfe, der Innenpolitik und weiteren Politik- Herausforderungen politisch und militärisch reagiert. schwerpunkten betrachtet werden können. Die UNO als wichtigste Trägerin des Völkerrechts hat nie ihre Bedeutung verloren. Daran hat auch die Ent- Meine Damen und Herren, auch wenn ich nicht unbe- wicklung des Irakkrieges nichts geändert. Die NATO dingt denen Recht gebe, die für eine Zusammenlegung und alle Mitglieder haben mit der notwendigen Transfor- beispielsweise der Bundestagsausschüsse für Verteidi- mation begonnen, die dazu dient, sowohl die NATO ins- gung, Auswärtiges und wirtschaftliche Zusammenarbeit 11464 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Reinhold Robbe (A) plädieren, so halte ich eine wesentlich stärkere Kohärenz Position zusammengefasst wird, inhaltlich voll zu- (C) auf diesem Feld für absolut notwendig. stimme und Sie auch dabei unterstütze. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Lieber Kollege Erler, Sie haben am Beginn Ihrer CDU/CSU) Rede davor gewarnt – und es auch ein bisschen ange- prangert –, den Soldatinnen und Soldaten einen wohlfei- Die komplexen und umfänglichen Fragestellungen und len Dank abzustatten. Ich gebe Ihnen darin Recht. Was Notwendigkeiten in der Sicherheitspolitik sollten nicht unsere Soldatinnen und Soldaten brauchen, sind nicht von formalen Argumenten oder von Geschäftsordnungs- schöne Worte, sondern Respekt und Wertschätzung für fragen blockiert werden. ihre wichtige und oft auch gefährliche Arbeit. Drittens. Wer mit mir hinsichtlich einer besseren Ver- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ankerung der Sicherheitspolitik im öffentlichen Be- neten der FDP) wusstsein übereinstimmen kann, kann nach meiner fes- ten und ehrlich gemeinten Überzeugung nicht für die Zu dieser Arbeit – der Kollege Nachtwei ist gerade Abschaffung der Wehrpflicht sein. nicht im Saal; er hat es vorhin bemerkenswerterweise angesprochen –, zum Wesen des Soldaten zählt auch die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Fähigkeit zum Kampf. Gerade in kritischen Situationen, der CDU/CSU) wie wir sie im Kosovo hatten, verdienen sie unseren Unabhängig von der Tatsache, liebe Kolleginnen und Rückhalt. Dies scheint mir das eigentliche Problem zu Kollegen, dass eine Berufsarmee zurzeit gar nicht finan- sein, nämlich dass die Bundeswehr nicht genügend zierbar wäre, trägt die Wehrpflicht ganz wesentlich dazu Rückhalt in dieser Bundesregierung findet. Nicht nur bei bei, den nachfolgenden Generationen ein Bewusstsein den Verteidigungspolitischen Richtlinien lässt das Kabi- für den Auftrag der Bundeswehr und damit gleichzeitig nett den Bundesminister der Verteidigung allein, sondern auch für die sich ständig verändernden politischen Vor- auch bei den riskanten Auslandseinsätzen unserer Solda- gaben und Rahmenbedingungen zu vermitteln. ten fehlt vielfach der Rückhalt durch den Außenminister, durch die Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne und Entwicklung. Kastner) (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Von der vor Vor diesem Hintergrund mutet es schon ein wenig allem!) sonderbar an – wenn ich das sagen darf –, wenn gerade eine so große und wichtige Institution wie der Bundes- Vom Finanzminister und vom Bundeskanzler möchte ich verband der Deutschen Industrie in einer Denkschrift die erst gar nicht reden. Abschaffung der Wehrpflicht fordert – in der, wie ich (B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (D) finde, naiven Erwartungshaltung, dass bei einer Ab- neten der FDP) schaffung mehr Finanzmittel für den investiven Bereich zur Verfügung stehen würden. Streitkräfte sind Instrumente der Politik und für alle Mängel, die dieses Instrument im Kosovo gezeigt hat, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: trägt die politische Führung die Verantwortung. Ich darf Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Zeit. hier vielleicht noch einmal die „Tagesschau“ vom 22. September in Erinnerung rufen: Da war von gravie- renden Mängeln im Kosovo die Rede. So hätten Krisen- Reinhold Robbe (SPD): pläne für eine solche Situation gefehlt; die Soldaten Gerne. Ich komme sofort zum Ende, Frau Präsidentin. seien unsicher in der Anwendung der Schusswaffen ge- Es wäre aus meiner Sicht ein gutes Signal – das sage wesen, ihre Englischkenntnisse ungenügend und ihre ich besonders an die Adresse der Kritiker der Wehr- Schutzausrüstung unzureichend. Ich wiederhole: Dafür pflicht in allen Fraktionen –, wenn im Jubiläumsjahr der trägt nicht der Soldat, dafür trägt nicht die Bundeswehr, Bundeswehr das eigentliche Markenzeichen unserer dafür trägt die politische Führung die Verantwortung. Bundeswehr, nämlich die Wehrpflicht, langfristig festge- Wenn Kritik angebracht ist, dann ist sie zu kritisieren schrieben werden könnte. und nicht die Soldaten. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der SPD) Sehr geehrter Herr Minister Struck, Sie schulden uns noch, wie ich meine, eine Antwort auf die Frage: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Ja!) Nächster Redner ist der Kollege Ernst-Reinhard Wie stark muss das Kontingent für die PRTs in Afgha- Beck, CDU/CSU-Fraktion. nistan sein? (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich zitiere eine Aussage von Ihnen: Der Minister wisse zwar, dass es zurzeit keine Mehrheit gebe, um die Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (CDU/CSU): Zahl der deutschen Soldaten aufzustocken. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Da kann er Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Robbe, ich uns nicht gemeint haben!) darf am Anfang sagen, dass ich persönlich den von Ih- nen genannten drei Punkten, in denen sehr präzise eine – Richtig. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11465

Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (A) Man muss hier doch fragen: Wie viele Soldaten brau- bei der Wehrpflicht, um nicht weniger als die Veranke- (C) chen Sie? Reichen die 450 oder brauchen Sie mehr, Herr rung der Streitkräfte in unserer Gesellschaft. Minister? Wenn es so ist, dann müssen Sie es dem Deut- schen Bundestag vorher sagen. Folgende Frage ist eben- Vielen Dank. falls wichtig: Was sollen die PRTs machen? Davon hängt (Beifall bei der CDU/CSU) es ab. Nachdem sie schon eine ganze Reihe von Mona- ten im Einsatz sind, kommt diese Frage etwas spät. Dies Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: kann doch nicht der Punkt sein. Es kann ebenfalls nicht Nächster Redner ist der Kollege Hans-Peter Bartels, angehen, dass man sagt: Wir würden gern mehr tun, aber SPD-Fraktion. dieses Parlament gibt uns nicht die nötigen Mittel. Herr Minister, ich fordere Sie auf: Sagen Sie uns, was Sie brauchen! Diese Frage muss beantwortet sein, bevor wir Dr. Hans-Peter Bartels (SPD): in verantwortlicher Weise über die Verlängerung des Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- Mandats entscheiden können. gen! Die Transformation der Bundeswehr wird – das ist heute schon mehrfach gesagt worden – vieles in unseren (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Streitkräften sehr grundsätzlich ändern. Wir machen Notwendige Strukturveränderungen sind immer ein 15 Jahre nach der Implosion der Bedrohung aus dem Os- schmerzlicher Prozess. Deshalb begleiten wir die Trans- ten Ernst damit, die Bundeswehr in einem permanenten formation mit großer Anteilnahme, aber auch mit Kritik. Prozess auf ihre neuen Aufgaben auszurichten. Denn die Ich stehe nicht an zu sagen, dass in den Verteidigungs- neuen Bedrohungen und Aufgaben wechseln heute häu- politischen Richtlinien nicht viel Richtiges steht und figer als die Generalsekretäre der KPdSU in der Zeit des dass von der Bundesregierung und vom Bundesminister Kalten Krieges. der Verteidigung nicht viel Notwendiges in Angriff ge- Während bis zum Ende der Blockkonfrontation das nommen wird. Ich konzentriere mich auf zwei Punkte, am wenigsten wahrscheinliche Szenario ein tatsächlicher bei denen ich tatsächlich erheblichen Klärungsbedarf Einsatz der Bundeswehr war, sind Einsätze weit außer- sehe und wo ich meine, dass die Weichen falsch gestellt halb unserer Grenzen heutzutage ständige Realität, ja sind. beinahe Normalität. Die Antwort auf diese neue Wirk- Sie haben zu Recht gesagt, dass die eigentlichen Fra- lichkeit ist die Transformation der Bundeswehr. Alle bis- gen lauten: Wie wichtig und notwendig ist die Vorsorge her gültigen Strukturen und Konzepte kommen auf den für den Heimatschutz? Tun wir wirklich das Notwendige Prüfstand. Sie müssen sich daran messen lassen, wel- für den Schutz der Bürgerinnen und Bürger? Wie sieht chen Beitrag sie zur Aufgabenerfüllung der Bundeswehr (B) die Sicherheitsvorsorge unter den Bedingungen eines er- leisten. Darüber ist heute Morgen schon gesprochen (D) weiterten Sicherheitsbegriffs aus? Sind wir wirklich in worden. ausreichendem Maße auf potenzielle Gefahren vorberei- Lassen Sie mich auf einen Aspekt der aktuellen Dis- tet? kussion eingehen, der besonders große öffentliche Auf- Ich meine, dass wir die Weichen in zwei Bereichen merksamkeit verdient: die Zukunft der Wehrpflicht in falsch gestellt haben. Der erste Bereich betrifft die terri- diesem veränderten Umfeld. Einige Stimmen in diesem torialen Wehrstrukturen. Hier hat Kollege Schmidt Hause sind immer sehr schnell mit ihrer Forderung nach völlig Recht: Die VBKs sind nicht abzuschaffen, son- dem Ende der Wehrpflicht zur Stelle. Sie passe nicht dern als Zentren für Heimatschutz und Landesverteidi- mehr in unsere Zeit, hören wir dann. Die Argumente gung auszubauen. wechseln: Einmal wird die angeblich mangelnde Wehr- gerechtigkeit beklagt, dann heißt es wieder, die Wehr- (Beifall bei der CDU/CSU) pflicht sei sicherheitspolitisch nicht mehr begründbar. Manchmal wird auch empirisch argumentiert: Die große Den zweiten Bereich habe ich schon mehrfach ange- Mehrheit der NATO-Mitgliedstaaten – so die FDP in ei- sprochen: Ich warne davor, alle nicht aktiven Truppen- nem ihrer Anträge – habe die Wehrpflicht ausgesetzt teile ersatzlos aufzulösen. Wenn 220 000 Reservisten oder plane, dies zu tun. Deshalb müssten wir nun ebenso den Bescheid bekommen, dass sie nicht mehr gebraucht handeln. werden, ist dies ein fatales Signal für die Wehrpflicht. Das sollte man bedenken. Mich überzeugt keine dieser Begründungen. Im Ge- genteil: An der Wehrpflicht festzuhalten, wie der Vertei- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) digungsminister das will, ist richtig. Ich glaube, dass die Wie ich sehe, ist meine Redezeit bereits fortgeschrit- Entscheidung für die Wehrpflicht, solange wir eigene, ten. Daher komme ich zum Schluss. Die künftige Bedeu- deutsche Streitkräfte unterhalten, solange es noch keine tung der Reservisten allein am operationellen und quan- Europaarmee gibt, richtig bleibt. tifizierbaren Auftrag zu messen, greift zu kurz. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Überhaupt meine ich, dass von der politischen Führung überlegt werden sollte, ob man den Aspekten der Vertei- Streitkräfte ohne Wehrpflichtige wären eine Armee, digungsbereitschaft und der Motivation genügend Rech- die nach und nach nicht mehr zur Alltagserfahrung der nung trägt. Die Erfahrungen und das Engagement von Menschen in Deutschland gehören würde. Das wäre eine Soldaten lassen sich nicht mittels der Expertisen von Un- Bundeswehr, die viele dann nur noch aus der „Tages- ternehmensberatungen darstellen. Hier geht es, wie auch schau“ kennen. Man soll die Zahlen nicht gering 11466 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Dr. Hans-Peter Bartels (A) schätzen: 8 Millionen junge Männer haben in den ver- Bundesrepublik Deutschland und darüber hinaus. Ich (C) gangenen fünf Jahrzehnten in der Bundeswehr gedient. finde das gut. Es enthebt uns aber nicht der Verpflich- Im Jahr 2003 haben 120 000 Rekruten – W9er, FWDLer, tung, uns vor dem Hintergrund der demographischen Zeit- und Berufssoldaten – ihren Dienst in der Bundes- Entwicklung, aber auch geringerer Personalstärke der wehr angetreten und etwa genauso viele, 120 000, sind Bundeswehr Gedanken über die Ausgestaltung der ausgeschieden. Diese Fluktuation, dieser ständige Aus- Wehrpflicht zu machen und sie anzupassen. Aber wir ha- tausch ist eines der wichtigsten Bindemittel zwischen ben heute nicht das Problem einer eklatanten Wehrunge- Bundeswehr und Gesellschaft. Das wollen wir erhalten. rechtigkeit. Wenn Sie die Zahlen zur Kenntnis nehmen, die das Verteidigungsministerium veröffentlicht, werden (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Sie sehen: Weit über die Hälfte tut ihren Dienst. CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Die Wehrpflicht ist aber auch deshalb so wertvoll, CDU/CSU) weil wir nicht wollen, dass die Bundeswehr zu einem be- liebigen Dienstleister in Sachen Sicherheit wird. Gerade Ich will zu einem anderen Argument, das von Geg- in Zeiten, in denen unsere Soldaten in Einsätzen weit au- nern der Wehrpflicht verwendet wird, Stellung nehmen. ßerhalb unserer Grenzen ihren Dienst tun, ist es wichtig, Das ist die sicherheitspolitische Legitimation, die zu dass das Militärische dem Zivilen nicht fremd wird. Zu- Zeiten des Kalten Krieges da war und heute angeblich sammen mit dem Prinzip der Parlamentsarmee gehört fehlt. Seit die Militärblöcke entfallen sind, so heißt es, die Wehrpflicht zu den Sicherungsmechanismen, die uns gebe es keine Legitimation mehr für die Wehrpflicht. Da davor bewahren, das Militär leichtfertig einzusetzen. frage ich mich: Für die Bundeswehr auch nicht mehr? (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Das ist Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: doch dummes Zeug! Quatsch!) Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lenke? – Ich sehe das ganz anders. Herr Nolting, ich gebe Ihnen zu diesem „Quatsch“ jetzt einmal eine Erklärung. Ich hoffe, Sie können sie nachvollziehen. Dr. Hans-Peter Bartels (SPD): Aber gerne. (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Wer hat das aufgeschrieben?) Ina Lenke (FDP): Nach Art. 87 a unseres Grundgesetzes stellt der Bund Herr Kollege, Sie verteidigen so vehement die Wehr- Streitkräfte auf. Sie dienen der Verteidigung und jenen (B) pflicht. Ich möchte gern Ihre Definition von Ein- Zwecken, die das Grundgesetz ausdrücklich zulässt. (D) berufungsgerechtigkeit hören. Wir haben ja keine Diese Zwecke sind in Art. 24 unter anderem beschrie- Wehrgerechtigkeit mehr. Wir haben eine eklatante Wehr- ben. Ich zitiere: ungerechtigkeit, weil fast jeder Zweite nicht mehr zum Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens Wehrdienst oder Zivildienst einberufen wird. Das heißt, einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit die einen jungen Leute dienen und haben in unserer Re- einordnen; publik Nachteile, andere, die sich davon freimachen können und wegen Ihrer niedrigschwelligen Einberu- Gemeinsame Sicherheit, das ist nicht Landesverteidi- fungskriterien nicht gezogen werden, haben zum Bei- gung allein. Ein solches Bündnis muss dazu dienen, spiel die Möglichkeit, ein Jahr eher in den Beruf zu ge- hen. eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbei[zu]füh- Sie haben von Einberufungsgerechtigkeit gesprochen. ren und [zu] sichern. Meinen Sie, dass jetzt, im Jahr 2004, Einberufungsge- rechtigkeit gegeben ist? Diese Frage möchte ich gerne Wir sind Mitglied solcher Bündnisse. Sie heißen UNO, von Ihnen beantwortet haben. NATO und EU. Auf Beschluss dieses Parlaments stellen wir ihnen zur Wahrung des Friedens deutsche Streit- kräfte zur Verfügung. Das ist zwar etwas anderes als Dr. Hans-Peter Bartels (SPD): Landesverteidigung, es ist aber einer der verfassungsmä- Frau Kollegin, um auf den Mythos Wehrungerech- ßigen Daseinszwecke der Bundeswehr. tigkeit einzugehen: 100 Prozent haben wir nie gehabt, auch in Zeiten des Kalten Krieges nicht. Ich habe es ge- (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Das stellt sagt: Wir haben im Jahr 2003 120 000 Wehrpflichtige doch keiner infrage!) zur Bundeswehr eingezogen; das sind die Zahlen, die Das wird oft vergessen oder unterschlagen. Deshalb uns vorliegen. Darüber hinaus leisten 20 000 bis sprechen wir heute im Übrigen von der Transformation 30 000 in den Bereichen Bundesgrenzschutz, Polizei der Bundeswehr. Wenn es nur um Landesverteidigung und Katastrophenschutz ihren Dienst für die Sicherheit ginge, gäbe es nicht viel zu transformieren. unseres Landes und werden deshalb nicht zur Bundes- wehr einberufen. Darüber hinaus haben wir die Kriegs- Die Bundeswehr ist laut Grundgesetz ein Instrument dienstverweigerer, die Zivildienst leisten. Weit über die zur Erfüllung unserer Verpflichtung, dazu beizutragen, Hälfte der Angehörigen eines Jahrgangs leistet ihren den Frieden in der Welt zu sichern oder wiederherzustel- Dienst – nicht nur Wehrdienst – für die Sicherheit der len. So ist es selbst in unserem Grundgesetz vorgesehen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11467

Dr. Hans-Peter Bartels (A) Um diese Bundeswehr optimal aufzustellen, haben falls dagegen, neue Einheiten aufzustellen, um damit die (C) wir nach Art. 12 a des Grundgesetzes in Deutschland das Wehrpflicht zu rechtfertigen, die wir selbstverständlich Instrument der allgemeinen Wehrpflicht. Wir müssen auch ganz anders rechtfertigen können, nämlich mit den nicht krampfhaft nach originellen Legitimationen für die heutigen Aufgaben der Bundeswehr. Dafür brauchen wir Wehrpflicht suchen. keine neuen aktiven Truppenteile. (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Sie sind (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf gerade dabei!) von der SPD: Es gibt bessere Aufgaben für die Reservisten!) Hier ist sie. Sie steht im Grundgesetz. Dies ist die wich- tigste sicherheitspolitische Legitimation der Wehrpflicht Das Argument, andere NATO-Staaten schaffen auch heute: Unser Beitrag zur gemeinsamen Sicherheit, der die Wehrpflicht ab und sind damit ein Vorbild, kann für wir uns verpflichtet haben und die wir mitgestalten. uns, wenn wir genau hinschauen, nicht gelten. Das ist nicht kostengünstiger und nicht besser. Die Wahrheit ist, (Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/ dass selbst im Umfang reduzierte Berufsarmeen höhere CSU) Kosten verursachen, etwa durch erheblich höhere Inves- Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, titionen in Nachwuchsgewinnung und Personalbindung. dafür müssen wir übrigens nicht extra 25 neue Heimat- Schwierigkeiten gibt es auch bei der Gewinnung von schutzbrigaden aufstellen, damit der kritische Bürger Mannschaften und Unteroffizieren. Weil die Haushalts- sagt: Oh, Heimatschutz, das hört sich nach Landesvertei- möglichkeiten, junge Menschen über finanzielle Anreize digung an, also bleibt es bei der Wehrpflicht. Für mich zum Dienst in der Armee zu bewegen, auch bei unseren als Norddeutschen hört sich das eher ein bisschen nach Nachbarn nicht unbegrenzt sind, kommt oft die zweite bayerischem Tüdelkram an. Unsere Verfassungsprinzi- Option zum Zuge, um die Reihen zu füllen: die Senkung pien, unsere Idee von einer friedlichen Welt, unser der Einstellungskriterien. Das ist nicht gerade der Kö- Recht, ohne Terror zu leben, wird nicht nur in Hindelang nigsweg zur Professionalisierung der Streitkräfte. verteidigt, sondern – wo Struck Recht hat, hat er Recht – auch am Hindukusch. So ist die sicherheitspolitische Im Übrigen sind die FWDLer, die freiwillig länger Lage heute. dienenden Wehrpflichtigen, ganz professionell an Aus- landseinsätzen der Bundeswehr beteiligt. Sie haben ih- In diesem Zusammenhang lohnt sich ein Blick auf die ren Anteil am guten Ruf unserer Soldaten in den Einsatz- Lage in jenen NATO-Staaten, deren Abschaffung der gebieten. Wehrpflicht uns ein Vorbild sein soll. Weder gewinnen die Streitkräfte in diesen Ländern den besseren Nach- Die Kontinuität liegt im Wandel. Die Wehrpflicht ist (B) wuchs – eher das Gegenteil ist der Fall – noch sind die kein Dinosaurier aus den Zeiten des Ost-West-Konflikts. (D) dortigen Berufsarmeen kostengünstiger. Sie bleibt notwendig und wird im Sinne des Transforma- tionsgedankens ständig den neuen Erfordernissen ange- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: passt. Wir unterstützen den Bundesminister der Verteidi- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des gung auf diesem Weg. Kollegen Beck? Schönen Dank. (Beifall bei der SPD – Günther Friedrich Dr. Hans-Peter Bartels (SPD): Nolting [FDP]: Keine Drohungen!) Ja. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (CDU/CSU): Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Herrmann, Lieber Herr Kollege Bartels, Sie haben gerade von CDU/CSU-Fraktion. der Aufstellung von Heimatschutzbrigaden gesprochen. Teilen Sie meine Auffassung, dass die vorhandenen Hei- Jürgen Herrmann (CDU/CSU): matschutzbataillone – möglicherweise umgestaltet für Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- neue Aufgaben – diese Aufgabe auch wahrnehmen nen und Kollegen! Am heutigen Tag debattieren wir könnten? über verteidigungspolitische Themen, die für die zu- künftige Gestaltung der Bundeswehr und deren Auftrag Dr. Hans-Peter Bartels (SPD): von elementarer Bedeutung sind. Sie meinen die Reservebataillone? Festzustellen ist, dass sich die Situation in den zu- rückliegenden Jahren für die betroffenen Soldatinnen Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) (CDU/CSU): und Soldaten, aber auch für die „Organisation Bundes- Ich meine die gekaderten Heimatschutzbataillone, die wehr“ vollkommen verändert hat. Nach dem Zusam- nicht aktiven Truppenteile, plus 200 andere nicht aktive menbruch des Warschauer Paktes, der Grenzöffnung und Truppenteile der Bundeswehr. der Wiedervereinigung erlebte das starre System der Bundeswehr, früher zielgerichtet auf den ausschließli- Dr. Hans-Peter Bartels (SPD): chen Auftrag der Landesverteidigung, einen erheblichen Darüber wird man reden können, wenn es um die Re- Wandel. Wie schwierig dieser Umbruch war, zeigt die servistenkonzeption der Bundeswehr geht. Ich bin jeden- Debatte über die Vorkommnisse bei den Märzunruhen 11468 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Jürgen Herrmann (A) im Kosovo oder die Diskussion um eine Mandatsverlän- bedauerliche Entwicklung ab, die durch die Mitte (C) gerung in Afghanistan. Aber gerade die heutige Diskus- Mai 2003 veröffentlichten Verteidigungspolitischen sion über Fehler und Defizite ist sicherlich Anlass ge- Richtlinien unterstützt wird. Zwar wird in dem Papier nug, auch über die notwendigen Veränderungen und auch auf die Landesverteidigung Bezug genommen, je- Korrekturen im Inland zu sprechen. doch werden andere Schwerpunkte deutlich herausgeho- ben und deren Umsetzung forciert. (Beifall des Abg. Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]) Wie ernst die Regierungskoalition das Thema Lan- desverteidigung nimmt, zeigt ein Beispiel im Zusam- Um nochmals auf die veränderten Vorzeichen und menhang mit der heute geführten Diskussion um die Anforderungen nach dem Zusammenbruch des War- Wehrpflicht. Ich zitiere aus den Verteidigungspolitischen schauer Paktes zurückzukommen, muss ich feststellen, Richtlinien: „Aufgaben der Bundeswehr“ – hier wird auf dass viele zum damaligen oder späteren Zeitpunkt ge- die besondere Bedeutung der Wehrpflicht hingewie- troffene Entscheidungen richtig waren, aus heutiger sen –: Sicht jedoch fatal sind. Der Abbau von sicherheitsrele- vanten Strukturen beim Bevölkerungsschutz, angefan- Angesichts der sicherheitspolitischen und strategi- gen von der Demontage von Sirenen bis hin zur deutli- schen Lage können die hierfür erforderlichen zu- chen Verringerung von Dienstposten im Bereich der sätzlichen Kräfte zeitgerecht wieder aufgestellt Bundeswehr, war Folge der sich radikal verändernden werden. Diese Rekonstitution wird vor allem durch Sicherheitslage. Niemand konnte sich damals vorstellen, die allgemeine Wehrpflicht sichergestellt. welche Aufgaben, Gefahren und Herausforderungen auf die internationale Staatengemeinschaft und somit auf die Fakt ist jedoch, dass die Zahl der Wehrpflichtigen bis Bevölkerung in Deutschland zukommen würden. zum Jahr 2010 weiter sinken soll. Ab dem 1. Januar 2005 werden die mit T3 gemusterten Männer nicht mehr Ein Agendaschwerpunkt internationaler sicherheits- zum Wehrdienst herangezogen. und verteidigungspolitischer Aufgaben stellt sicherlich die Bekämpfung des internationalen Terrorismus sowie Dieser Weg, Herr Minister, ist falsch. Anstatt sich für die Stabilisierung der so genannten Failed States dar. So eine gerechte und effiziente Wehrpflicht stark zu ma- richtig es ist, Sicherheitskrisen weltweit präventiv zu be- chen, höhlen Sie sie immer weiter aus, bis sie auf kaltem kämpfen – von der Entwicklungshilfe bis zum UNO- Wege abgeschafft wird. Herr Minister Struck, geben Sie Mandat –, so wichtig ist es, die eigentliche verfassungs- den Gegnern der Wehrpflicht nicht noch mehr Argu- rechtliche Grundlage der Bundeswehreinsätze – Lan- mente für die Abschaffung der Wehrpflicht, sondern desverteidigung – nicht aus den Augen zu verlieren und stellen Sie sie auf ein starkes Fundament! (B) sie anlassbezogen den heutigen Erfordernissen anzupas- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (D) sen. Herr Gerhardt und Herr Nolting, aufgrund der zuvor (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) genannten Gründe und der von Ihnen gemachten Aussa- Die Terroranschläge von New York, Washington, Istan- gen zur Wehrpflicht habe ich Verständnis für einen bul, Madrid und Beslan mahnen uns, heute zu handeln, wachsenden Diskussionsbedarf in dieser Frage. Aber damit wir weitere Terroranschläge verhindern können – das muss deutlich gesagt werden – wer die Wehrpflicht und bei der Bewältigung möglicher Anschläge zumin- aussetzen will, will sie abschaffen. Herr Gerhardt hat dest ausreichend gewappnet sind. eben von den Grünen die Courage gefordert, heute dem FDP-Antrag zuzustimmen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Sehr gut!) Herr Kollege, ich darf Sie einen Augenblick unterbre- Ich hätte mir von Ihnen die Courage gewünscht, dass Sie chen. Ihre Ziele klar formulieren und nicht die Aussetzung der Ich möchte den lieben Kolleginnen und Kollegen, die Wehrpflicht fordern, sondern ganz klar sagen, dass es Ih- noch Gespräche zu führen haben, raten, dies außerhalb nen um die Abschaffung der Wehrpflicht geht. des Plenarsaales in der Lobby zu tun. Die beiden letzten (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Nein, Redner haben noch zehn Minuten Redezeit und es ist un- darum geht es gar nicht!) fair, wenn man sie nicht mehr verstehen kann. Bereits im März dieses Jahres haben wir als Union die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Schaffung eines Organisationsbereiches „Landesvertei- bei Abgeordneten der SPD) digung und Heimatschutz“ in der Bundeswehr und ein Vielen Dank. flächendeckendes Netz von bis zu 50 „Regionalbasen Heimatschutz“ gefordert. Diese Regionalbasen sollen Jürgen Herrmann (CDU/CSU): miteinander vernetzt und jeweils bis zu 500 Soldatinnen Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. und Soldaten stark sein. Dafür können bis zu 80 Prozent Wehrpflichtige vorgesehen werden, die von Zeit- und Wir dürfen somit nicht auf die Erhaltung sicherheits- Berufssoldaten geführt werden. Die Verwendung von relevanter, umfassender Strukturen in der Heimat ver- Reservisten soll im Falle eines Einsatzes einen umfas- zichten, sondern müssen sie stärken und ausbauen. Lei- senden Aufwuchs ermöglichen. Die Ausbildung dieser der zeichnet sich jedoch in diesem Bereich eine Truppe soll katastrophenschutznah erfolgen. Die Soldaten Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11469

Jürgen Herrmann (A) sollen nach ihrer Grundausbildung besondere Fähigkei- Das einzige, was hieran wirklich stimmt, ist, dass unsere (C) ten in Objektsicherung, Fernmeldewesen, ABC-Abwehr, Soldaten eine hervorragende Arbeit daheim und im Aus- Pionier- und Sanitätswesen erwerben. land leisten und wir ihnen dafür Dank schulden, den wir von der CDU/CSU-Fraktion auch heute wieder abstatten Eine flächendeckende Verteilung der Regionalbasen wollen. gewährleistet die schon angesprochene Zusammenarbeit mit zivilen Behörden des Katastrophenschutzes. Daher (Beifall bei der CDU/CSU) ist es besonders wichtig, die Diskussion über unsinnige Alles andere ist Wunschdenken, ist Traum von Rot-Grün Standortschließungen sowie die Auflösung von VBKs auf Wolke sieben und stimmt mit der Wirklichkeit nicht zu beenden; denn gerade der Verbleib der Bundeswehr in überein. der Fläche erlaubt es, ohne Zeit- und Reibungsverluste eine erforderliche zivil-militärische Abstimmung vorzu- Wer genau hinschaut und hinterfragt, stellt fest, dass nehmen. es in der Truppe immer mehr Frust gibt, weil Defizite immer sichtbarer werden. Wo moderne Ausrüstung sein (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: sollte, herrscht Mangel. Der Bundeswehrplan des Herrn Galt das auch vor 1998?) Generalinspekteurs ist lesenswert. Er hat keine Perspek- – Ich habe Ihnen eben gesagt: Wir haben damals auch tive, er hat keinen Optimismus, sondern er weist eher die Fehler gemacht. Da gebe ich Ihnen vollkommen Recht. Fassung eines Mängelberichts auf. (Jörg Tauss [SPD]: Wenn Sie „auch“ streichen, Die Modernisierung der Ausrüstung klemmt an allen ist das okay!) Ecken und Enden. Mühsam gestaltet sich die notwen- dige Transformation der Streitkräfte. Der dringend Bei den vorliegenden Vorschlägen geht es darum, un- notwendige Heimatschutz wird zugunsten der Auslands- ter Einbindung aller Kräfte ein Gesamtverteidigungs- einsätze zurückgefahren und auch bei den Auslandsein- und Heimatschutzkonzept zu verwirklichen, das den sätzen stellen sich immer mehr Fragezeichen. bestmöglichen Schutz unserer Bevölkerung gewährleis- tet. Hierbei sollen die Kräfte für innere und äußere (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Sehr Sicherheit eng miteinander verschränkt werden, die wahr!) zivil-militärische Zusammenarbeit zwischen Bund, Län- Die Regierung übernimmt immer mehr internationale dern und Gemeinden gestärkt und Hilfsorganisationen Aufträge, die die Bundeswehr erfüllen muss. Gleichzei- wie THW und Rotes Kreuz stärker in den Katastrophen- tig schrumpft die Bundeswehr, die Armee wird verklei- schutz eingebunden werden. Dafür brauchen wir Struk- nert, Standorte werden aufgelöst, Rüstungsprogramme turen, Ansprechpartner und eine verlässliche Zeitpla- werden gestrichen oder gestreckt, die Reservisten an den (B) (D) nung. Rand gedrängt und die Wehrpflicht infrage gestellt. Der Die Bundeswehr muss endlich in die Lage versetzt Katalog ließe sich fortsetzen. werden, Aufgaben jenseits der Kriminalitätsbekämpfung (Gernot Erler [SPD]: Sie sollten auswandern!) optimal wahrnehmen zu können, und zwar dort, wo Poli- zei, Technisches Hilfswerk und Rotes Kreuz allein nicht Wo aufgrund einer seriösen Sicherheitsanalyse eine mehr weiterkommen. Die hierfür erforderliche Grundge- stabile Armee geformt werden müsste, wird gestutzt. Wo setzänderung würde von uns getragen und ist im Übrigen Geld für Forschung, Entwicklung, Beschaffung und Ra- in diesem Jahr durch einen Gesetzentwurf unserer Frak- tionalisierung gegeben werden müsste, um die Attrak- tion zur Diskussion gestellt worden. tivität der Bundeswehr zu erhöhen, wird gekürzt. Sicherheitspolitik muss sich an den aktuellen Ereig- Eines ist klar: Deutschland braucht eine tragende und nissen orientieren und nicht an Haushaltsfragen. Ich klar definierte Sicherheitsstrategie dringender denn je. kann uns nur den guten Rat geben, jetzt vorzusorgen, da- Wo stehen wir und wohin wollen wir? Unsere Interessen mit wir in Zukunft Situationen, auf die wir keinen Ein- müssen eindeutig formuliert werden. Dazu müssen fluss haben, meistern können. eigene Beiträge geleistet werden. Deutschland muss seinen politischen Willen zur Herzlichen Dank. Durchsetzung dieser Ziele unter Beweis stellen. Dafür (Beifall bei der CDU/CSU) brauchen wir eine verlässliche Finanzplanung für die Bundeswehr, eine Anschubfinanzierung für Investitio- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: nen und Planungssicherheit. Darüber hinaus ist ein inte- griertes Gesamtverteidigungskonzept notwendig, in Letzter Redner ist der Kollege Hans Raidel, CDU/ dem auch die Aufgaben der Bundeswehr im Heimat- CSU-Fraktion. schutz definiert werden.

Hans Raidel (CDU/CSU): Unsere Bundeswehr hat Anspruch auf die bestmögli- Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten che Ausrüstung. Deshalb brauchen wir auch eine her- Damen und Herren! Wir erleben zum wiederholten Male vorragend aufgestellte wehrtechnische Industrie. Wir be- die Aufführung des Theaterstücks „Die heile Welt von grüßen in diesem Zusammenhang die Schaffung der Rot-Grün in der Außen- und Sicherheitspolitik“. Europäischen Rüstungsagentur, weil wir der Auffassung sind, dass Europa eigenständige und gemeinsame rüs- (Zuruf von der FDP: Leider!) tungstechnologische und -industrielle Fähigkeiten 11470 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Hans Raidel (A) braucht. Das setzt aber den politischen Willen zum Er- gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen (C) halt der Schlüsseltechnologien und Kernfähigkeiten der von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP und der beiden deutschen wehrtechnischen Industrie voraus. Hier be- PDS-Abgeordneten gegen die Stimmen der CDU/CSU stehen meiner Meinung nach bei der Regierung Defizite. angenommen. Wir müssen die Rüstungsindustrie wieder werthaltig Tagesordnungspunkt 3 d: Wir kommen zur Abstim- machen, damit sie beispielsweise mit Frankreich oder mung über die Beschlussempfehlung des Verteidigungs- England mithalten kann, sodass Fähigkeitslücken zwi- ausschusses auf Drucksache 15/2963 zu dem Antrag der schen uns und der NATO bzw. den USA verkleinert wer- Fraktion der FDP mit dem Titel „Wehrpflicht aus- den können. setzen“. Dazu liegen mir etliche Erklärungen nach § 31 der Geschäftsordnung vor, und zwar von der Kollegin (Beifall bei der CDU/CSU) Anna Lührmann, den Kollegen Alexander Bonde, Win- Wenn wir nicht umfassend investieren und rationali- fried Hermann, Hans-Josef Fell und weiteren Abgeord- sieren, dann wird sich nichts ändern und wir werden die neten der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen sowie militärische Transformation nicht zum Erfolg führen von den Kolleginnen Petra Pau und Dr. Gesine Lötzsch können. Wenn wir nicht bereit sind, umzudenken und die und dem Kollegen Jens Spahn.1) notwendigen Mittel in einem mittel- und langfristigen Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Druck- Zeitrahmen zur Verfügung zu stellen, dann wird sache 15/1357 abzulehnen. Es ist namentliche Abstim- Deutschland in sicherheitspolitischer Hinsicht in die mung verlangt. Ich bitte die Schriftführerinnen und zweite Liga absteigen. Das können wir alle nicht wollen. Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Der von Rot-Grün eingeschlagene Weg ist nicht kon- Sind die Plätze an den Urnen besetzt? – Das ist der sequent. Wort und Tat stimmen, wie so häufig, nicht Fall. Ich eröffne die Abstimmung. überein. Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Vielen Dank. Stimmkarte noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht (Beifall bei der CDU/CSU) der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh- lung zu beginnen. Das Ergebnis der namentlichen Ab- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: stimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.2) Ich schließe die Aussprache. Wir setzen die Abstimmungen fort. Deshalb bitte ich Tagesordnungspunkt 3 a: Wir kommen zur Abstim- alle Kolleginnen und Kollegen, ihre Plätze einzuneh- (B) mung über die Beschlussempfehlung des Verteidigungs- men. – Ich bitte insbesondere die Kolleginnen und Kol- (D) ausschusses auf Drucksache 15/3125 zu dem Antrag der legen im Mittelgang, sich zu ihren Plätzen zu begeben. Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit Sonst können wir nicht weiter abstimmen. dem Titel „Durch Transformation die Bundeswehr zu- kunftsfähig gestalten“. Der Ausschuss empfiehlt, den Tagesordnungspunkt 3 e: Beschlussempfehlung des Antrag auf Drucksache 15/2656 anzunehmen. Wer Verteidigungsausschusses auf Drucksache 15/3263 zu stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenpro- dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel be! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit „Für den Erhalt sicherheitsrelevanter Strukturen in der den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei Bundeswehr“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Gegenstimmen der CDU/CSU, der FDP und der beiden Drucksache 15/2824 abzulehnen. Wer stimmt für diese PDS-Abgeordneten angenommen. Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltun- gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen Tagesordnungspunkt 3 b: Beschlussempfehlung des der Koalition und der FDP gegen die Stimmen der CDU/ Verteidigungsausschusses auf Drucksache 15/3127 zu CSU angenommen. dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Zu- kunftsfähigkeit der Bundeswehr herstellen – Wehrpflicht Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: aussetzen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Beratung des Antrags der Abgeordneten Drucksache 15/2662 abzulehnen. Wer stimmt für diese Johannes Singhammer, Karl-Josef Laumann, Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltun- Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen Fraktion der CDU/CSU der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen, der CDU/CSU und der beiden PDS-Abgeordneten gegen die Stimmen Arbeitsmarktstatistik aussagekräftig gestal- der FDP angenommen. ten – Ausmaß der Unterbeschäftigung ver- deutlichen Tagesordnungspunkt 3 c: Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses auf Drucksache 15/3126 zu – Drucksache 15/3451 – dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel Überweisungsvorschlag: „Für eine moderne Bundeswehr als Pfeiler einer verläss- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) lichen Sicherheits- und Verteidigungspolitik Deutsch- Rechtsausschuss lands“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/2388 abzulehnen. Wer stimmt für diese 1) Anlagen 2 bis 4 Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltun- 2) Siehe Seite 11475 C Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11471

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für nen Menschen liegt. Das heißt, nicht die offizielle Zahl (C) die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich von 4,3 Millionen Arbeitslosen, sondern die Zahl von höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. 6 Millionen arbeitslosen Menschen gibt ein realistisches Bild. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Johannes Singhammer, CDU/CSU-Fraktion. Hinzu kommt – auch das will ich an dieser Stelle er- wähnen – die so genannte stille Reserve. Darüber, wie (Beifall bei der CDU/CSU) hoch die ist, herrscht Streit. Die einzelnen wissenschaft- lichen Institute beziffern die Zahl derer, die in dieser stil- Johannes Singhammer (CDU/CSU): len Reserve sind, auf 1 Million bis 2 Millionen. Das sind Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Menschen, die sich gar nicht bemühen, sich bei der Ar- Herren! Eine korrekte Politik braucht korrekte Arbeits- beitsagentur zu melden, weil sie von vornherein glauben, marktzahlen. Falsche Zahlen führen zwangsläufig zu ei- sie hätten ohnehin wenig Chancen. Ein Beispiel ist eine ner fehlerhaften Politik und zu fehlerhaften Entscheidun- Mutter, die nach einer Erziehungspause wieder in den gen. Jedermann in Deutschland weiß, Erwerbsprozess zurück will, aber sieht, dass in ihrer (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Umgebung ohnehin kaum Jobs frei sind. Sie meldet sich NEN]: Was ist mit den Frauen?) gar nicht. Sie will arbeiten, aber sie unterlässt es, sich ar- beitslos zu melden, weil sie glaubt, ohnehin wenig Chan- dass es keine krummeren, keine falscheren, keine un- cen zu haben. sinnigeren, keine kritikwürdigeren Zahlen gibt als die in der Arbeitslosenstatistik, die uns derzeit vorliegt. Wenn man dies alles zusammennimmt – jetzt folgt die eigentlich Schrecken erregende Zahl, die aber realistisch Wir haben es mit folgender bizarrer Situation zu tun: ist –, dann kommt man unter dem Strich auf rund Die Bundesregierung preist Monat für Monat Erfolge in 7 Millionen Menschen, die in unserem Land keine Be- der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Als Beleg führt schäftigung haben, aber gern arbeiten würden. sie diesen Zahlensalat an. Gleichzeitig sehen wir, dass sich die Menschen – vor allem in den neuen Bundeslän- Es gibt natürlich einen engen und unlösbaren Zusam- dern – Tag für Tag schwerer tun, einen Job zu bekom- menhang zwischen dem Verlust an Vertrauen in die men. Nirgendwo wird so geschönt, geföhnt, frisiert, ge- Politik, den wir über die Parteigrenzen hinweg immer färbt wie bei der Arbeitsmarktstatistik. Das beste wieder beklagen, und der sicheren Erkenntnis der Men- Beispiel sind die 80 000 Arbeitslosen, die zu Jahresbe- schen in unserem Land, dass die offizielle Arbeitslosen- ginn in Trainingsmaßnahmen waren. Man hat sie im Ja- statistik keine seriöse und realistische Beurteilung der nuar mit einem Federstrich aus der Statistik entfernt. Al- Lage auf dem Arbeitsmarkt ermöglicht. Die Arbeitslo- (B) (D) lerdings ist keiner der 80 000 Menschen, die aus der senstatistik ist zum Symbol für die Unkorrektheit und für Statistik entfernt worden sind, zu einem Job gekommen; die Unübersichtlichkeit geworden sowie für die Unfä- das Statistikwunder hat nicht zu einem Jobwunder ge- higkeit der Politik und gerade der rot-grünen Bundesre- führt. gierung, die klaren Tatsachen auf den Tisch zu legen. Diese Manipulationen, dieses Schönreden der Statis- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- tik hat Tradition: 400 000 arbeitsfähige ältere Arbeits- neten der FDP) lose über 58 Jahre sind nach § 428 SGB III aus der Sta- An die Bundesregierung gerichtet sage ich – Herr tistik entfernt worden, weil man sagt: Na ja, die haben eh Staatssekretär Andres, geben Sie es dem Herrn Wirt- kaum noch Chancen, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fas- schaftsminister Clement weiter –: Wer sich bei dieser sen. Sie sind zwar aus der Statistik herausgenommen Statistik etwas in die Tasche lügt und Deutschland etwas worden, aber sie haben keinen Job. 670 000 arbeitsfä- vorlügt, zerstört Vertrauen und gewinnt kein Vertrauen hige Rentner, die ihr Altersgeld nicht aufgrund des Errei- zurück. chens der Altersgrenze, sondern wegen Arbeitslosigkeit bereits vor dem 65. Lebensjahr erhalten, sind ebenfalls (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- aus der Statistik gestrichen worden. Einen Job hat von wie des Abg. Dirk Niebel [FDP]) diesen Menschen kein Einziger gefunden. Der Vorgänger von Minister Clement, Herr Bundes- Von den Teilnehmern an längerfristigen Maßnahmen minister Riester, hat kurz vor der Bundestagswahl in die- der aktiven Arbeitsmarktpolitik – Sie preisen sie immer sem Hohen Hause erklärt, er wolle eine klare und trans- an –, wie JUMP, JUMP plus, aber auch ABM, taucht parente Statistik. Herr Staatssekretär Andres, wir niemand in der Statistik auf, obwohl es sich gerade bei nehmen die Bundesregierung gern beim Wort. Wir ha- ihnen um klassische Arbeitslose handelt. Warum sind ben mit unserem Antrag einen Vorschlag vorgelegt, der solche Menschen denn in einer Fortbildungsmaßnahme? Klarheit schaffen kann. Er wird Klarheit schaffen, wenn Gerade weil sie keine Arbeit haben. Dennoch tauchen Sie ihn übernehmen. sie in der Statistik nicht auf. Das geht nicht nach dem Ritual, das viele kennen und Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der ge- das den Bürgern schon unerträglich erscheint, nämlich samtwirtschaftlichen Entwicklung – wenn Sie uns schon dass die Opposition die Zahlen grundsätzlich als zu nied- nicht glauben, dann glauben Sie zumindest diesem von rig ansieht und die Regierung die Zahlen gern etwas Ihnen eingesetzten Gremium – schätzt deshalb zu Recht, schönredet, sondern wir schlagen Ihnen vor, zukünftig ein dass die verdeckte Arbeitslosigkeit bei rund 1,7 Millio- ganz klares Zahlenpaar zu verwenden, ein Zahlenpaar, 11472 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Johannes Singhammer (A) das exakt über den Zustand unserer Wirtschaft Auskunft Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) gibt und das die Schicksalszahlen der Nation – das sind Das Wort hat der Kollege Klaus Brandner, SPD-Frak- die Arbeitslosenzahlen – ganz klar und auch nachvoll- tion. ziehbar dokumentiert. (Dirk Niebel [FDP]: Jetzt kommt wieder eine Wir beginnen mit einer positiven Zahl. Die positive rückwärts gewandte Rede!) Zahl ist in dem Fall die Zahl der Erwerbstätigen, also derjenigen, die einen Job haben, sei es abhängig beschäf- Klaus Brandner (SPD): tigt, sei es selbstständig. Sie liegt derzeit bei 38 Millionen. Sie wissen, dass es dazu noch eine andere Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Zahl gibt, nämlich die der sozialversicherungspflichtig Damen und Herren! Aussagekräftig soll die Statistik ge- Beschäftigten. Diese Zahl ist niedriger. Sie liegt bei staltet werden; Unterbeschäftigung soll verdeutlicht 26 Millionen und ist in den letzten Jahren stark gesun- werden. Richtig ist: Die Statistik ist aussagekräftig und ken. Also zunächst die positive Zahl! Wir wollen die Si- wir verdeutlichen die Unterbeschäftigung. Wir verdeutli- tuation nicht ständig schlechtreden, sondern wir begin- chen sie nicht nur, sondern wir tun auch etwas dagegen, nen mit der positiven Zahl, der der Erwerbstätigen. dass die Unterbeschäftigung in diesem Land zurückge- führt wird. Dem stellen wir die Zahl der Beschäftigungslosen gegenüber, also nicht mehr die Zahl der Arbeitslosen, die (Dirk Niebel [FDP]: Das stimmt! Dagegen tun Sie in der Vergangenheit so verunstaltet haben. Dazu be- Sie etwas!) darf es einer entsprechenden Änderung im Sozialgesetz- – Also, um es klarzustellen: Wir tun etwas dafür, dass buch III; dort brauchen wir eine andere Definition, die ein die Unterbeschäftigung in diesem Land zurückgeführt realistisches Bild ermöglicht. Mit dieser klaren und ein- wird. Das unterscheidet uns von der Arbeit der Opposi- deutigen Definition, nämlich dass derjenige, der arbeiten tion in den vergangenen Jahren. will und arbeiten kann, dann, wenn er keine Arbeit findet, als beschäftigungslos gezählt wird, wird ein realistisches Der Antrag der CDU/CSU – ich glaube, meine Da- Bild der Situation in unserem Land gezeichnet. Damit men und Herren, das ist gerade sehr deutlich geworden – wird auch wieder eine Vergleichsmöglichkeit zum Vor- will nichts anderes als Verunsicherung schaffen. Das ist monat, aber auch zum Vorjahr geschaffen. Durch die aus meiner Sicht bedauerlich, ja, das ist sogar scheinhei- ständigen Veränderungen der Statistik, die Sie vorgenom- lig. men haben, ist ein Vergleich mit den Vorjahresdaten und den Vormonatsdaten immer weniger möglich und sinn- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Nein! Das nehmen Sie sofort zurück!) (B) voll, meine sehr verehrten Damen und Herren. (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- – Das nehme ich nicht zurück, weil ich es auch belegen neten der FDP) kann, lieber Herr Hinsken. Die Statistik ist das eine; die tatsächliche wirtschaft- Bedauerlich ist es, weil wir für das Gelingen der liche Entwicklung ist das andere. Wir wollen neben ei- Arbeitsmarktreformen Vertrauen brauchen. Auch die ner realistischeren Statistik auch bessere Zahlen, damit Damen und Herren von der Union sind im Übrigen bes- den 7 Millionen Beschäftigungslosen in unserem Land ser beraten, ihre Energie darauf zu verwenden, dass ge- und den vielen anderen, die nicht wissen, ob sie von die- nau dieses Vertrauen hergestellt wird, denn die Wahlen sem Schicksal betroffen werden, endlich wieder eine am letzten Sonntag sollten uns alle eine Lehre sein und Perspektive geboten wird. Wenn Sie also wirklich eine deutlich machen, dass solch ein Populismus, wie ihn ge- bessere Statistik vorlegen wollen, müssen Sie auf Wirt- rade Herr Singhammer wieder vorgelebt hat, nicht dazu schaftswachstum setzen. Wir brauchen ein Wirtschafts- führt, dass die demokratischen Kräfte in diesem Land wachstum, das deutlich höher liegt als die 2 Prozent, die gestärkt werden. Sie ansteuern und mit viel Glück vielleicht erreichen. (Widerspruch bei der CDU/CSU) Wir brauchen ein Wirtschaftswachstum, das bei 3 Prozent oder höher liegt. Nur dann wird es zu spürba- Das nämlich, was Sie gesagt haben, heißt nichts anderes, ren Bewegungen auf dem Arbeitsmarkt kommen. So- als dass Sie die Manipulationen, die Sie in der Vergan- lange wir, wie auch in diesem September, noch jeden genheit vorgenommen haben, jetzt gesundreden wollen. Tag 1 000 Arbeitsplätze verlieren, wird sich trotz aller Änderungen, die Sie in der Statistik noch vorhaben, real Scheinheilig an Ihrem Antrag, meine Damen und überhaupt nichts bewegen. Wir brauchen eine Wirt- Herren, ist, dass Sie uns auffordern, Regelungen zurück- schaftspolitik, die zu einem Aufwuchs von Arbeitsplät- zunehmen, die Sie einst selbst vorgenommen haben. Sie zen führt, die statt einem Verlust von 1 000 Arbeitsplät- fordern, Teilnehmer in Maßnahmen sollen in die Ar- zen pro Tag jeden Tag 1 000 Arbeitsplätze neu schafft. beitslosenquote eingehen. Sie zählen hier ein buntes Al- Damit wären wir auf einem guten Weg. Dann könnten lerlei an Maßnahmen auf: Trainingsmaßnahmen, Perso- Sie auch in der Statistik bessere Werte erzielen. nal-Service-Agenturen, JUMP-Programm, ABM, also alle arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, die man sich Ich danke Ihnen. vorstellen kann. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das gab neten der FDP) es zu unserer Zeit alles gar nicht!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11473

Klaus Brandner (A) Dabei wissen Sie genau, dass all diese Personen in der Dabei schließen Sie von sich – das haben wir gerade er- (C) monatlichen Statistik der Bundesagentur für Arbeit lebt – auf andere. Das muss deutlich festgestellt werden. auftauchen. Ausgerechnet Sie fordern zum Beispiel, dass ältere (Walter Hoffmann [Darmstadt] [SPD]: Haben Personen, die eine Altersrente wegen Arbeitslosigkeit die noch nie gelesen!) beziehen, künftig als Arbeitslose in die amtliche Statistik Die monatlich erscheinende Arbeitslosenquote bezieht aufgenommen werden sollen. Ausgerechnet Sie! Ich sich auf diejenigen, die dem Arbeitsmarkt auch tatsäch- muss Ihnen sagen, dass diese Forderung an Populismus lich zur Verfügung stehen. Personen in Maßnahmen wer- kaum zu überbieten ist. Denn in den 90er-Jahren haben den gesondert erfasst. Sie nichts anderes getan, als Menschen mit 58 oder 59 Jahren in die Arbeitslosigkeit und mit 60 Jahren in Ich will Ihnen dazu nur noch sagen: Alle Abgeordne- die Rente abzuschieben. Damit haben Sie Folgendes be- ten bekommen jeden Monat ein riesiges Kompendium wirkt: Erstens haben Sie die Statistik geschönt. Zweitens von der Bundesagentur für Arbeit geliefert. Sie lesen es haben Sie diese Menschen aus dem Arbeitsmarkt ge- offenbar nur bis zur Seite 4. drängt. Drittens haben Sie die Rentenkassen geplündert. (Walter Hoffmann [Darmstadt] [SPD]: Noch Viertens sind Sie mitverantwortlich dafür, dass ältere Ar- nicht einmal so weit!) beitnehmer in dieser Gesellschaft schlechtere Chancen haben. Wenn Sie darüber hinaus weiterlesen würden, würden Sie genau diese differenzierte Auflistung all dieser Maß- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nahmen finden. Wir könnten uns diese Debatte hier spa- DIE GRÜNEN) ren. Es handelt sich um nichts anderes als heiße Luft, Herr Singhammer hat ein Beispiel für Populismus was Sie hier losgelassen haben, Herr Singhammer. Es ist geliefert. Er hat gesagt, Manipulation und Schönreden bedauerlich, dass ich Ihnen das so deutlich sagen muss. hätten Tradition in dieser Regierung. Hier ist der Beleg: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Manipulation und Schönreden haben Tradition in der DIE GRÜNEN – Johannes Singhammer CDU/CSU. [CDU/CSU]: Es ist schon klar, dass Ihnen das (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nicht passt!) DIE GRÜNEN – Hans-Joachim Fuchtel – Es passt uns nicht, weil die Fakten anders sind. [CDU/CSU]: So ein Quatsch!) Sie fordern zum Beispiel: Die Zahlen von älteren Ich will mich an diesem Punkt nicht in Ihren Fehlern Arbeitslosen aus der so genannten 58er-Regelung sol- verlieren, sondern nur kurz an eine Sache erinnern. Im (B) (D) len in die Arbeitslosenquote eingehen. Das ist schon be- Wahljahr 1998 haben Sie kurzfristig die Zahl der ABM- merkenswert. Nur zu Ihrer Erinnerung: Norbert Blüm Stellen – Sie wissen es – um fast 400 000 erhöht. Sie ha- hat in den 80er-Jahren bestimmt, dass dieser Personen- ben damit versucht, die Wählerinnen und Wähler zu täu- kreis eben nicht zu den Arbeitslosen gezählt wird. schen. Diese Irreführung ist Ihnen zum Glück nicht ge- lungen. Der rot-grünen Koalition und mir ist es ein (Zuruf von der SPD: Kurzzeitgedächtnis! – Anliegen, dass eine ehrliche und transparente Arbeitslo- Dirk Niebel [FDP]: Da hat er einen Fehler ge- senstatistik vorgehalten wird. macht!) – Ja, er hat einen Fehler gemacht. Aber die FDP hat da- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: bei mitgeholfen. Heute lehnen Sie die Verantwortung da- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des für ab. Aber genau das ist Ihre Politik gewesen. Kollegen Singhammer? (Beifall bei der SPD – Dirk Niebel [FDP]: Sogar der Kanzler hat schon Fehler zugegeben!) Klaus Brandner (SPD): Ganz abgesehen davon führen wir diesen Personen- Nein, jetzt nicht. kreis in der Statistik auf. Ich sage ganz deutlich und Arbeitslosenzahlen sind keine wahltaktische Manö- drastisch: Was von Herrn Singhammer vorgetragen vriermasse. Es ist unsere tiefe Überzeugung, dass hinter worden ist, ist in der Sache gelogen. Er hat behauptet, jeder einzelnen Zahl in der Statistik ein menschliches dass genau die Maßnahmen, die ich gerade vorgetragen Einzelschicksal steckt. Dessen sind wir uns bewusst und habe, nicht in der Statistik auftauchen. Herr deshalb handeln wir auch so konkret. Singhammer, ich muss Ihnen sagen: Sie tauchen auf. Entweder haben Sie es nicht gewusst oder Sie hier ha- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ben bewusst gelogen. Das muss in diesem Hohen Hause DIE GRÜNEN) einmal gesagt werden. Wir wollen in der Statistik alle arbeitssuchenden Per- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sonen erfassen. Das haben wir in der Vergangenheit ge- DIE GRÜNEN) tan und das werden wir auch in Zukunft tun. Wir waren es, die mit den Programmen JUMP und JUMP plus vie- Sie werfen uns Schönfärberei der Statistik vor. len Jugendlichen, die nicht in der Statistik erfasst wa- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Aber ren, erstmals eine berufliche Perspektive gegeben ha- natürlich!) ben. 11474 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Klaus Brandner (A) (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Wie Personenkreis wichtig. Deshalb haben wir gehandelt. (C) viele waren es denn?) Mit Beginn des neuen Jahres veröffentlicht das Statisti- sche Bundesamt monatlich ergänzende Arbeitslosenzah- Herr Singhammer, natürlich wissen wir, dass 20 Prozent len. Das geschieht parallel zur üblichen Statistik, von der nicht in der Statistik erfasst waren. Das bedeutet, dass ich schon gesprochen habe und die an Deutlichkeit und wir die Menschen sozusagen aus der Versenkung geholt Transparenz nichts zu wünschen übrig lässt. haben. Aber Sie werfen uns heute vor, wir würden sie verstecken. Wir haben ihnen geholfen. Diesen Erfolg ha- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Glauben ben Sie kleingeredet. Herr Schäuble hat davon gespro- Sie das wirklich?) chen, dass es um nichts anderes gehe, als die Menschen aufzubewahren. Wir haben den Menschen Perspektiven Das Statistische Bundesamt wird, wie Sie wissen, mit gegeben und haben ihnen weitergeholfen. Das war not- Befragungen arbeiten und nicht wie die Bundesagentur wendig, weil die Arbeitslosigkeit in diesem Land grö- von der Registrierung ausgehen. ßere Ausmaße hatte, als wir es 1998 bei Übernahme Ih- rer Zahlen erwarten mussten. Warum machen wir das eigentlich? Erstens. Wir kön- nen dadurch die stille Reserve besser erfassen und uns so Die Erfassung der Arbeitslosen ist wichtig. Denn nur ein Bild davon machen, wie viele Personen tatsächlich wenn die entsprechenden Zahlen vorliegen, können wir Arbeit suchen. Zweitens. Unsere Arbeitsmarktzahlen das tatsächliche Ausmaß der Arbeitslosigkeit erkennen werden mit dieser Ergänzung international vergleich- und entsprechend gegensteuern. Uns sind konkrete Hil- bar – und das, denke ich, fordern doch auch Sie. Deshalb fen und Engagement wichtiger als vorteilhafte Zahlen sollten Sie diesen weiteren Präzisierungsschritt in der und Politikgerangel. Statistik im Kern begrüßen. Mit der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe Für uns steht fest: Eine ehrliche Statistik, eine Statis- und Sozialhilfe wird die Arbeitslosenstatistik zum 1. Ja- tik ohne Manipulation ist nicht nur irgendein Ziel. Die nuar ebenfalls ein ganzes Stück ehrlicher: Bislang waren Erstellung einer solchen Statistik werden wir vielmehr viele der erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger eben auch leisten und eine solche Statistik werden wir auch nicht bei der Arbeitsagentur gemeldet. Es handelt sich vorhalten. Bei allen Diskussionen um die Richtigkeit schätzungsweise um 300 000 bis 400 000 Personen, die und Wichtigkeit von Statistiken dürfen wir aber am Ende jetzt ohne Arbeit sind, aber – wie gesagt – nicht in der nicht aus dem Auge verlieren, was wirklich zählt: Wir Statistik erfasst sind. Dieser Personenkreis wird dann der wollen und müssen die Zahl der Arbeitslosen senken, Arbeitsagentur gemeldet werden. Trotz der medialen ganz gleich, ob und in welcher Form sie in der Statistik Ausschlachtung – es wird von einem starken Anstieg der auftauchen. (B) Arbeitslosenzahlen gesprochen werden –, die wir zum (D) 1. Januar 2005 erwarten, wird deutlich werden, dass dies Arbeitslosigkeit ist unser aller Problem. Wenn ich ein richtiger Schritt ist. Dabei ist nichts anderes gefragt, „alle“ sage, meine ich nicht nur die rot-grüne Bundesre- als dass wir die Kraft und den Mut haben, den Umfang gierung, sondern auch Sie, meine Damen und Herren der Arbeitslosigkeit in diesem Lande ehrlich darzustel- von der Opposition. Ich meine Unternehmen und Arbeit- len. geber ebenso wie die Gewerkschaften und all diejenigen, die in irgendeiner Form an der Umsetzung der Arbeits- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Also marktreformen mitwirken. muss doch etwas getan werden!) Das sollten Sie loben und nicht scheinheilig zerreden. Wir sollten uns gemeinsam an einem Leitgedanken orientieren, den uns die Hartz-Kommission mit auf den (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Weg gegeben hat, nämlich dass wir einen Baustein stär- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ker gemeinsam bearbeiten müssen: Es darf keinen Nach- schub für Nürnberg geben. Ich meine damit ganz kon- Ehrlichkeit zahlt sich langfristig aus, und zwar nicht nur kret, dass eine Facette der Politik sein muss, viel dafür für uns als Regierungspartei, sondern auch – darum geht zu tun, dass neue Arbeitsplätze entstehen. Diesen Pro- es mir in erster Linie – für die Arbeitslosen, für diejeni- zess müssen wir unterstützen und begleiten. Die andere gen Menschen, die ohne eine Arbeitsperspektive sind. Facette ist: Wir müssen alles dafür tun, dass die derzeiti- Lassen Sie mich noch auf einen letzten Punkt in Ih- gen Arbeitsplätze in diesem Land erhalten bleiben. Wir rem Antrag eingehen. Sie von der Union fordern in Ih- müssen die handelnden Parteien dazu auffordern, dies in rem Antrag, die stille Reserve der Arbeitssuchenden das Zentrum ihres Handelns zu rücken und den Perso- besser zu erfassen. Das ist ein wichtiger Punkt; aller- nalabbau nicht leichtfertig und leichtsinnig hinzuneh- dings ist er, so wie er formuliert wurde, populistisch. Die men. monatliche Arbeitslosenstatistik der Bundesagentur für Arbeit kann natürlich nur diejenigen erfassen, die sich Wir alle müssen uns darum bemühen, Vertrauen zu- arbeitslos melden. Eine stille Reserve zeichnet sich je- rückzugewinnen. Das gilt nach den Wahlen in Sachsen doch genau dadurch aus, dass sie „still“ ist. und in Brandenburg ganz besonders für die etablierten Parteien. Darum sollten wir uns solche Beiträge, wie sie Zur stillen Reserve gehören in großem Umfang heute von der Opposition kamen und die allgemeine Ver- Frauen, die sich nach der Erziehungsphase nicht wieder unsicherung schaffen, lieber versagen. Wir sollten statt- bei der Bundesagentur gemeldet haben. Uns ist dieser dessen konkrete Sachpolitik betreiben. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11475

Klaus Brandner (A) (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Warum Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) machen Sie es dann nicht?) Ich komme zu Tagesordnungspunkt 3 d zurück und gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern Damit helfen wir den Arbeitslosen in diesem Land mehr. ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über Wir sorgen damit auch dafür, dass die Demokratie stabi- die Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses lisiert wird und nicht an den rechten und teilweise auch zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel an den linken Rändern ausgefranst wird. „Wehrpflicht aussetzen“ – das sind die Druck- Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. sachen 15/1357 und 15/2963 – bekannt. Abgegebene Stimmen 573. Mit Ja haben gestimmt 528, mit Nein ha- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ben gestimmt 44, Enthaltungen eine. Die Beschlussemp- DIE GRÜNEN) fehlung des Ausschusses ist damit angenommen.

Endgültiges Ergebnis Siegmund Ehrmann Lothar Ibrügger Franz Müntefering Abgegebene Stimmen: 571; Brunhilde Irber Dr. Rolf Mützenich davon Marga Elser Jann-Peter Janssen Volker Neumann (Bramsche) Gernot Erler Klaus-Werner Jonas ja: 527 Petra Ernstberger Renate Jäger Dr. Erika Ober nein: 43 Karin Evers-Meyer Johannes Kahrs Holger Ortel enthalten: 1 Annette Faße Ulrich Kasparick Heinz Paula Elke Ferner Dr. h.c. Susanne Kastner Johannes Pflug Ja Joachim Poß Rainer Fornahl Hans-Peter Kemper Dr. Wilhelm Priesmeier SPD Gabriele Frechen Klaus Kirschner Hans-Ulrich Klose Dr. Dr. Lale Akgün Lilo Friedrich (Mettmann) Astrid Klug Karin Rehbock-Zureich Gerd Andres Iris Gleicke Dr. Bärbel Kofler Gerold Reichenbach Ingrid Arndt-Brauer Günter Gloser Dr. Carola Reimann Rainer Arnold Renate Gradistanac Karin Kortmann Hermann Bachmaier Angelika Graf (Rosenheim) Rolf Kramer Reinhold Robbe (Neuruppin) Dieter Grasedieck Dr. (B) Doris Barnett Monika Griefahn Ernst Kranz Karin Roth (Esslingen) (D) Dr. Hans-Peter Bartels Nicolette Kressl Michael Roth (Heringen) Eckhardt Barthel (Berlin) Gabriele Groneberg Angelika Krüger-Leißner (Starnberg) Achim Großmann Dr. Hans-Ulrich Krüger Marlene Rupprecht Sören Bartol Wolfgang Grotthaus Volker Kröning (Tuchenbach) Uwe Göllner Horst Kubatschka Gerhard Rübenkönig Karl-Hermann Haack Helga Kühn-Mengel René Röspel Dr. (Extertal) Dr. Uwe Küster Thomas Sauer Hans-Joachim Hacker Dr. Heinz Köhler (Coburg) Anton Schaaf Hans-Werner Bertl Bettina Hagedorn Fritz Rudolf Körper Gudrun Schaich-Walch Petra Bierwirth Klaus Hagemann Alfred Hartenbach Christian Lange (Backnang) Bernd Scheelen (Heidelberg) Michael Hartmann Christine Lehder Siegfried Scheffler (Wackernheim) Waltraud Lehn Horst Schild Gerd Friedrich Bollmann Nina Hauer Dr. Elke Leonhard Horst Schmidbauer Klaus Brandner Eckhart Lewering (Nürnberg) Reinhold Hemker Götz-Peter Lohmann (Aachen) Rolf Hempelmann Erika Lotz Silvia Schmidt (Eisleben) (Hildesheim) Dr. Barbara Hendricks Dr. (Meschede) Hans-Günter Bruckmann Gabriele Lösekrug-Möller Wilhelm Schmidt (Salzgitter) Edelgard Bulmahn Petra Heß Dirk Manzewski Heinz Schmitt (Landau) Ulla Burchardt Monika Heubaum Tobias Marhold Hans Martin Bury Gisela Hilbrecht Lothar Mark Marco Bülow Gabriele Hiller-Ohm Wilfried Schreck Dr. Michael Bürsch Stephan Hilsberg Sabine Bätzing Jelena Hoffmann (Chemnitz) Gerhard Schröder Marion Caspers-Merk Walter Hoffmann Ulrike Mehl Brigitte Schulte (Hameln) Dr. (Darmstadt) Petra-Evelyne Merkel Reinhard Schultz (Wismar) Ulrike Merten (Everswinkel) Peter Dreßen Frank Hofmann (Volkach) Swen Schulz (Spandau) Detlef Dzembritzki Eike Hovermann Ursula Mogg Dr. Angelica Schwall-Düren Dr. Herta Däubler-Gmelin Christel Humme Gesine Multhaupt Dr. Martin Schwanholz Martin Dörmann Klaas Hübner Michael Müller (Düsseldorf) Gerd Höfer Christian Müller (Zittau) Axel Schäfer (Bochum) 11476 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Karsten Schönfeld Dr. Reinhard Göhner Dr. (C) Fritz Schösser Josef Göppel Dr. Erika Simm Peter Götz Friedrich Merz Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Dr. Wolfgang Götzer (Hamm) Dr. Cornelie Sonntag- Holger-Heinrich Haibach Doris Meyer (Tapfheim) Wolgast Wolfgang Spanier Dr. Klaus-Jürgen Hedrich Dr. Margrit Spielmann Helmut Heiderich Klaus Minkel Jörg-Otto Spiller Ursula Heinen Marlene Mortler Dr. Ditmar Staffelt Monika Brüning Siegfried Helias Stefan Müller (Erlangen) Klaus Brähmig Uda Carmen Freia Heller Bernward Müller (Gera) Rita Streb- Verena Butalikakis Dr. Gerd Müller Dr. Peter Struck Hartmut Büttner Jürgen Herrmann Hildegard Müller Christoph Strässer (Schönebeck) (Bremen) Joachim Stünker Dr. Maria Böhmer Ernst Hinsken Henry Nitzsche Rolf Stöckel Wolfgang Börnsen Jörg Tauss (Bönstrup) Robert Hochbaum Jella Teuchner Dr. Wolfgang Bötsch Klaus Hofbauer Dr. Georg Nüßlein Dr. Gerald Thalheim Cajus Julius Caesar Hubert Hüppe Franz Obermeier Franz Thönnes (Emstek) Joachim Hörster Eduard Oswald Hans-Jürgen Uhl Peter H. Carstensen Susanne Jaffke Melanie Oßwald Rüdiger Veit (Nordstrand) Dr. Rita Pawelski Simone Violka Dr. Egon Jüttner Dr. Peter Paziorek Jörg Vogelsänger Bartholomäus Kalb Ulrich Petzold (Pforzheim) Steffen Kampeter Dr. Dr. Marlies Volkmer Irmgard Karwatzki Sibylle Pfeiffer Hans Georg Wagner Vera Dominke Bernhard Kaster Dr. Friedbert Pflüger Hedi Wegener Thomas Dörflinger Siegfried Kauder (Bad Beatrix Philipp Andreas Weigel Marie-Luise Dött Dürrheim) Reinhard Weis (Stendal) Maria Eichhorn Volker Kauder Petra Weis Gerlinde Kaupa Daniela Raab Gunter Weißgerber (Lübeck) Eckart von Klaeden Thomas Rachel Dr. Ernst Ulrich von Jürgen Klimke Hans Raidel Weizsäcker Julia Klöckner Dr. Jochen Welt (B) Dr. Hans Georg Faust Manfred Kolbe Helmut Rauber (D) Dr. Albrecht Feibel Hartmut Koschyk Peter Rauen Lydia Westrich Thomas Kossendey Katherina Reiche Inge Wettig-Danielmeier Ingrid Fischbach Rudolf Kraus Hans-Peter Repnik Dr. Hartwig Fischer (Göttingen) Andrea Wicklein Dirk Fischer (Hamburg) Günther Krichbaum Dr. Jürgen Wieczorek (Böhlen) Axel E. Fischer (Karlsruhe- Günter Krings Heidemarie Wieczorek-Zeul Land) Dr. Martina Krogmann Franz-Xaver Romer Dr. Dieter Wiefelspütz Dr. Dr. Hermann Kues Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Brigitte Wimmer (Karlsruhe) Klaus-Peter Flosbach (Zingst) Dr. Klaus Rose Engelbert Wistuba Norbert Königshofen Kurt J. Rossmanith Barbara Wittig Dr. Hans-Peter Friedrich Dr. Karl A. Lamers Dr. Christian Ruck Dr. (Hof) (Heidelberg) (Weiden) Verena Wohlleben Erich G. Fritz Peter Rzepka Waltraud Wolff Jochen-Konrad Fromme Barbara Lanzinger Volker Rühe (Wolmirstedt) Dr. Michael Fuchs Karl-Josef Laumann Dr. Norbert Röttgen Heidi Wright Hans-Joachim Fuchtel Werner Lensing Dr. Jürgen Gehb Peter Letzgus Norbert Schindler Manfred Helmut Zöllmer Ursula Lietz Georg Schirmbeck Dr. Christoph Zöpel Walter Link (Diepholz) Angela Schmid Eberhard Gienger Eduard Lintner CDU/CSU Georg Girisch Dr. Klaus W. Lippold Christian Schmidt (Fürth) Ulrich Adam Michael Glos (Offenbach) Andreas Schmidt (Mülheim) Ilse Aigner Dr. Kurt-Dieter Grill Dr. Michael Luther Dr. Ole Schröder Dorothee Mantel Bernhard Schulte-Drüggelte Dietrich Austermann Michael Grosse-Brömer (Recklinghausen) Anita Schäfer (Saalstadt) Dr. Markus Grübel (Altötting) Dr. Wolfgang Schäuble Günter Baumann Hermann Gröhe Dr. Conny Mayer Wilhelm Josef Sebastian Ernst-Reinhard Beck Karl-Theodor von und zu (Baiersbronn) (Reutlingen) Guttenberg Dr. Martin Mayer Kurt Segner Veronika Bellmann (Siegertsbrunn) Matthias Sehling Dr. Ralf Göbel Wolfgang Meckelburg Marion Seib Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11477

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Heinz Seiffert Cornelia Behm Ursula Sowa Dr. Werner Hoyer (C) Bernd Siebert Rainder Steenblock Michael Kauch Silke Stokar von Neuforn Dr. Heinrich L. Kolb Johannes Singhammer Grietje Bettin Hans-Christian Ströbele Gudrun Kopp Jens Spahn Alexander Bonde Marianne Tritz Jürgen Koppelin Ekin Deligöz Dr. Antje Vogel-Sperl Dr. Thea Dückert Dr. Antje Vollmer Hellmut Königshaus Jutta Dümpe-Krüger Dr. Ludger Volmer Andreas Storm Franziska Eichstädt-Bohlig Josef Philip Winkler Harald Leibrecht Matthäus Strebl Dr. Uschi Eid Margareta Wolf (Frankfurt) Ina Lenke (Heilbronn) Hans-Josef Fell Sabine Leutheusser- Lena Strothmann Katrin Göring-Eckardt fraktionslose Schnarrenberger Michael Stübgen Markus Löning Winfried Hermann Dr. Gesine Lötzsch Dirk Niebel Edeltraut Töpfer Peter Hettlich Petra Pau Günther Friedrich Nolting Thilo Hoppe Hans-Joachim Otto Volkmar Uwe Vogel Michaele Hustedt (Frankfurt) Andrea Astrid Voßhoff Ulrike Höfken Nein Marko Wanderwitz Fritz Kuhn Detlef Parr Peter Weiß () Undine Kurth (Quedlinburg) FDP Cornelia Pieper Gerald Weiß (Groß-Gerau) Markus Kurth (Münster) Gisela Piltz Renate Künast Dr. Andreas Pinkwart Annette Widmann-Mauz Dr. Reinhard Loske Rainer Brüderle Dr. Klaus-Peter Willsch Anna Lührmann Dr. Max Stadler Kerstin Müller (Köln) Helga Daub Werner Wittlich Dr. Rainer Stinner Winfried Nachtwei Jörg van Essen Elke Wülfing Carl-Ludwig Thiele Christa Nickels Ulrike Flach Dagmar Wöhrl Dr. Dieter Thomae Friedrich Ostendorff Otto Fricke Wolfgang Zeitlmann Jürgen Türk Simone Probst Horst Friedrich (Bayreuth) Willi Zylajew Claudia Roth (Augsburg) Dr. Claudia Winterstein Wolfgang Zöller Krista Sager Dr. Wolfgang Gerhardt Dr. Volker Wissing Christine Scheel Dr. BÜNDNIS 90/DIE Irmingard Schewe-Gerigk Joachim Günther (Plauen) GRÜNEN Enthalten Rezzo Schlauch Dr. Christel Happach-Kasan (B) Kerstin Andreae Albert Schmidt (Ingolstadt) Klaus Haupt CDU/CSU (D) (Bremen) (Berlin) Ulrich Heinrich Volker Beck (Köln) Petra Selg Birgit Homburger

Nächster Redner in der jetzigen Debatte ist der Kol- Ausmaß der Unterbeschäftigung nicht zurückzuführen. lege Dirk Niebel, FDP-Fraktion. Lesen Sie das einmal nach! Ich hoffe, Sie haben das nicht ernst gemeint. Halten Sie sich aber einmal ganz be- Dirk Niebel (FDP): deckt! Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Herren! Vertrauen ist der Schmierstoff der Demokratie, schreibt Hans-Ulrich Jörges diese Woche im „Stern“. Wir sollten das tatsächliche Ausmaß der Unterbe- Die Spiegelfechtereien der beiden immer kleiner wer- schäftigung deshalb aufzeigen, weil es das notwendige denden so genannten Volksparteien beweisen immer Kriterium ist, um den Einsatz finanzieller Mittel und wieder: Egal wer regiert, die Arbeitslosenstatistik war politische Entscheidungen richtig steuern zu können. schon immer ein politisches Kampfmittel. Natürlich hat Herr Brandner Recht, wenn er sagt, dass (Brigitte Schulte [Hameln] [SPD]: Sie waren in dem dicken Wälzer der Bundesagentur für Arbeit über doch immer dabei!) die Arbeitslosenstatistik die einzelnen Personengruppen ausgewiesen werden. Sie tauchen aber nicht in der Ar- Wir sollten uns einmal Gedanken darüber machen, ob beitslosenquote auf. Die Arbeitslosenquote aber ist es, wir nicht neue Wege gehen sollten: hin zu einem die jeden Abend in der „Tagesschau“ und im „Heute- System, welches das tatsächliche Ausmaß der Unter- Journal“ gezeigt wird und auch in den Zeitungen steht. beschäftigung aufzeigt. Wir haben 4,3 Millionen registrierte Arbeitslose. Zudem (Klaus Brandner [SPD]: Mitmachen und an- befinden sich 82 000 Menschen in Eignungsfeststel- schließend nicht verantworten!) lungs- und Trainingsmaßnahmen, 140 000 in beruflicher Weiterbildung und 90 000 in Arbeitsbeschaffungs- – Herr Brandner, Sie sollten sich nachher einmal den maßnahmen, 79 000 sind Überbrückungsgeldempfänger, Versprecher in Ihrer Rede im Protokoll ansehen. Es han- 157 000 bekommen Existenzgründungszuschüsse und delt sich vermutlich nur um einen freudschen Verspre- 400 000 Ältere fallen unter die Regelung nach § 428 cher. Aber Sie haben gesagt, dass Sie alles dafür tun, das SGB III. Wenn Sie diese Gruppen hinzurechnen, 11478 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Dirk Niebel (A) kommen Sie auf eine Arbeitslosenzahl, die weit über hätte gerne einen Stundenlohn, von dem ich mir durch (C) 1 Million höher liegt als die aktuelle Arbeitslosenzahl. eine Stunde Arbeit in der Woche mein Existenzmini- Dies sind unstreitig Menschen, die arbeiten wollen und mum finanzieren könnte. auch arbeiten können. Sie gehören in diese Statistik. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das ist nicht (Beifall bei der FDP) einmal bei Politikern so!) Wenn Sie jetzt Herrn Blüm anführen, sage ich Ihnen Es ist doch für jeden, der einigermaßen gerade denken mit der Gnade des Spätgewählten, der 1998 in den Bun- kann, völlig klar, dass jemand mit einer Stunde wöchent- destag eingezogen ist, klipp und klar: Das war schon da- licher Arbeitszeit unterbeschäftigt ist. Das kann also mals falsch. Wenn man diese Erkenntnis gewonnen hat, nicht das Kriterium sein, nach dem wir arbeiten. muss man es nicht weiterhin falsch machen. Deswegen darf man das heute korrigieren. Natürlich wird jetzt die Regierung behaupten – das stimmt auch zu Beginn –, sie lasse die ILO-Statistik nur (Beifall bei der FDP) parallel erheben. Wir wissen aber aus der Vergangenheit Auf der anderen Seite werden Menschen in der Ar- – das mag es auch in Zeiten, in denen ich noch nicht im beitslosenstatistik aufgeführt, die nachweislich gar nicht Parlament war, gegeben haben –, dass parallel geführte arbeiten wollen oder können. Es geht gar nicht mal um Statistiken irgendwann die erste Statistik ablösen, zu- diejenigen, die nicht arbeiten wollen, weil sie sich mit mindest teilweise. Hier wird ein riesengroßer Betrugs- den Transferleistungen gut eingerichtet haben; das ist versuch gestartet, der dazu führen soll, Ihre vermurkste der deutlich kleinere Teil der Arbeitslosen. Es geht um Wirtschaftspolitik hinterher als glorreichen Erfolg dar- diejenigen, die sich arbeitslos melden müssen, um an- zustellen. Das machen wir mit Sicherheit nicht mit. dere Transferleistungen beziehen zu können. So muss (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sich zum Beispiel der so genannte Kindergeldarbeitslose der CDU/CSU) zwischen Schule und Bundeswehr bzw. Zivildienst beim Arbeitsamt arbeitslos melden, damit seine Eltern weiter- Entscheidend in diesem Land ist es, überhaupt erst hin Kindergeld bekommen. Es gibt die Gruppe derer, die einmal Beschäftigungsmöglichkeiten für die Menschen keine Leistungsansprüche haben zu schaffen. (Klaus Brandner [SPD]: Das sind doch Dinge, (Zuruf von der SPD: Sehr witzig!) die schon erledigt sind!) Eigentlich ist der große Skandal doch gar nicht, wie die und sich bei der Bundesagentur nur deshalb arbeitssu- Arbeitslosenstatistik aufgebaut oder erhoben wird; viel- chend melden, weil dann die Ausfallzeiten bei der Rente (B) mehr besteht der große Skandal in diesem Land doch (D) angerechnet werden. Es gibt diejenigen, die einen Ar- darin, dass wir überhaupt eine Arbeitslosenstatistik brau- beitsplatz haben, diesen aber vielleicht erst in zwei Wo- chen. Also brauchen wir, um diesen Skandal zu bekämp- chen antreten und für die Zwischenzeit keinen anderen fen und um den Menschen, der arbeiten kann und will, Arbeitsplatz annehmen werden. Sie müssen sich in die- eine Chance dazu zu geben, eine andere Steuer-, Wirt- ser Zeit arbeitslos melden, um den Leistungsbezug schafts-, Finanz- und Arbeitsmarktpolitik, als sie in den sicherzustellen. Das sind keine Unterbeschäftigten. Es letzten sechs Jahren durchgeführt worden ist. handelt es sich um eine normale Friktionsarbeitslosigkeit aufgrund des Wechsels des Arbeitsplatzes, die sogar teil- (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der weise wünschenswert ist. Diese Menschen müssen in der CDU/CSU) Statistik nicht aufgeführt werden. Damit Betriebe und Private Geld zum Investieren und Warum nehmen Sie nicht den Vorschlag des Kollegen zum Konsumieren haben, brauchen wir eine klare, einfa- Singhammer auf und vergleichen die Zahl der tatsäch- che, gerechte und transparente Steuerreform, die den lich Beschäftigten, und zwar nicht nur die Erwerbstäti- Menschen und den Betrieben mehr Geld in der Tasche gen, sondern auch das geleistete Arbeitsvolumen als lässt. Hauptkriterium für ein mögliches Wirtschaftswachstum (Hans-Michael Goldmann [FDP]: That’s the in Deutschland, mit der Zahl der Nichtbeschäftigten, die key!) in Arbeit kommen wollen? Das wäre der richtige Weg und würde ein Stück weit wieder zu Vertrauen auch in Damit die Wirtschaft atmen kann, brauchen wir eine die etablierten Parteien führen. Das wäre eine große Veränderung des Arbeitsrechts. Wir brauchen einen grö- Chance. ßeren Spielraum, um all das flexibel handhaben zu kön- nen, was Entlassung und Einstellung betrifft. Wir brau- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten chen mehr Flexibilität bei der Lohnfindung in der CDU/CSU) unterschiedlichen Regionen. Wir brauchen weniger Was das Vertrauen nicht fördern wird, ist das vom Ka- starre Vorgaben. Wir müssen zu einem System kommen, binett beschlossene System der parallel geführten ILO- in dem Bürokratie ab- und nicht aufgebaut wird, wie es Statistik. Man kann Statistiken natürlich auf zweierlei in der gesamten Zeit der rot-grünen Bundesregierung Art manipulieren: einmal, indem man bestimmt, wer er- stattgefunden hat. Da wird groß geredet und von einem fasst wird, und einmal, indem man bestimmt, wie erfasst Masterplan Bürokratieabbau getönt; passiert ist nichts. wird. Aufgrund der ILO-Kriterien gilt jemand, der eine Im Endeffekt sind die kleinen Betriebe diejenigen, die Stunde in der Woche arbeitet, nicht als arbeitslos. Ich – für den Staat kostenfrei – Statistik und Verwaltungsar- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11479

Dirk Niebel (A) beiten zu erbringen haben. Das geht zulasten von Ar- Wir rechnen als arbeitslos auch Menschen ein, die bis (C) beitsplätzen und das haben Sie zu verantworten. zu 15 Stunden pro Woche arbeiten, aber mehr arbeiten wollen; für sie haben wir eine andere Regelung als die (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der EU. Daran können Sie schon sehen, dass in Nürnberg CDU/CSU) nicht, wie Sie unterstellt haben, versucht wird, so wenig Wenn Sie, die beiden immer kleiner werdenden Leute wie möglich als arbeitslos zu erfassen. Volksparteien, Aber ich will Ihre Methode einmal ins Absurde trei- (Lachen bei der SPD) ben. Sie sagen: Weil Sie ein realistisches Nettobild wol- len, rechneten Sie alle, die keine Arbeit haben, dazu. sich darauf einigen könnten, dass wir diesen Weg gehen Wie gehen Sie eigentlich mit der Schwarzarbeit um? Das sollten, dann sollten wir das möglichst schnell tun; denn geschätzte Volumen von Schwarzarbeit in Deutschland allein Transparenz hinsichtlich der Frage, wie viel Ar- beträgt 5 Millionen Erwerbsarbeitsplätze. Sollen wir beitsvolumen in Deutschland erbracht wird und wie viel diese Arbeitsplätze von Ihren 7 Millionen Arbeitslosen Unterbeschäftigung es in Deutschland gibt, wird das wieder abziehen? Vertrauen der Bevölkerung in die deutsche Arbeits- marktpolitik zurückbringen. Dann haben wir auch die (Walter Hoffmann [Darmstadt] [SPD]: Die Möglichkeit, mithilfe der anderen Vorschläge, die ich müssen abgezogen werden!) hier angesprochen habe, Chancen zu eröffnen, damit die Dann wären wir bei 2 Millionen Arbeitslosen. An die- Rattenfänger in der Bundesrepublik nicht mehr den Zu- sem Beispiel können Sie doch sehen, wie absurd Ihr An- griff auf andere Menschen haben. liegen ist. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der FDP) und bei der SPD) Wenn wir auf dieser Schiene noch etwas kreativer wür- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: den, rechneten wir Ihnen die Zahl der Arbeitslosen auf Das Wort hat der Kollege Fritz Kuhn, Bündnis 90/Die Null. Grünen. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das glaube ich! Im Manipulieren seid ihr großartig!) Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie sehen also, dass das, was Sie hier vorgeschlagen ha- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ben, eine Absurdität ist. (B) Herr Singhammer, ich war doch etwas erstaunt, wie we- (D) nig Sie bei Ihrer Rede zur Einbringung des Antrags rot Wer wie die Union 1998 systematische Manipulatio- geworden sind, denn so etwas, wie Sie es hier heute ver- nen betrieben hat, etwa mit den 150 000 Wahl-ABM, die anstaltet haben, habe ich noch nicht erlebt: Sie damals kreiert haben (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Lieber (Gerd Andres, Parl. Staatssekretär: Zusammen Gott!) mit der FDP!) Sie sagen hier, wir sollten systematisch all diejenigen zu- – zusammen mit der FDP; bitte der lieben Ordnung hal- sammenrechnen, die keine Arbeit haben, inklusive der ber keine Zwischenrufe von der Regierungsbank, Herr stillen Reserve, die man übrigens nie genau bestimmen Staatssekretär, obwohl der Zwischenruf gut war –, der kann. Damit wollen Sie den Eindruck erwecken, die Ar- sollte doch insgesamt mit solchen Anträgen vorsichtiger beitslosigkeit – im Volk draußen wird das Wort weiter und zurückhaltender sein. verwendet werden – läge bei 7 Millionen. Sie glauben, Hinsichtlich der Fragestellung, was wir eigentlich tun wir seien so blöd, dieses Spiel mitzumachen. Sie greifen können, damit die Arbeitslosigkeit in Deutschland ganz das dann im Wahlkampf auf und plakatieren: Arbeits- aktuell stärker abgebaut wird – wir alle wissen, dass wir losigkeit um 2 Millionen gestiegen. So einfach machen zusehen müssen, dass auf dem Binnenmarkt mehr inves- Sie es sich; das haben wir in vielen Wahlkämpfen gese- tiert wird und die Leute mehr Geld ausgeben, hen. Das hat keinen Sinn. (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Wir haben (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Das ist doch doch genau das Gegenteil!) so!) weil wir uns beim Export an der äußersten Grenze befin- Jetzt einmal ganz praktisch, Herr Singhammer: Die den –, möchte ich zwei Punkte in den Vordergrund rü- Arbeitslosenquote wird anhand derjenigen Menschen cken, die mich mehr interessieren als der singhammer- errechnet, die keine Arbeit haben, bereit sind zu arbeiten sche Schnickschnack, den wir jetzt verhandelt haben. und dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. So war es in der Vergangenheit. Deswegen sind die stille Reserve Erstens. Die Preistreiberei, die uns von den Energie- und diejenigen Menschen, die in Maßnahmen beschäf- konzernen in den letzten Wochen angekündigt worden tigt sind, nicht in die Quote eingerechnet. Im Übrigen ist ist, darf nicht stattfinden. Es geht nicht an, dass man den die Statistik der Bundesagentur viel restriktiver als etwa Energiepreis weit oberhalb der realen Kostensituation in die der ILO auf der europäischen Ebene; Kollege Niebel einer Größenordnung zwischen 3 und 4 Prozent anheben hat es gesagt. will. Wer dies tut, setzt ein klares Signal gegen die 11480 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Fritz Kuhn (A) Binnenmarktentwicklung und droht, die tatsächliche An diesem Beispiel, Herr Staatssekretär, können Sie se- (C) Wirkung der Steuersenkung, die wir zum 1. Januar 2005 hen, was sich manche in Nürnberg unter Dezentralisierung vornehmen werden, kaputtzumachen. Wer Arbeitslosig- vorstellen. Hier handelt es sich um ein groteskes Bei- keit bekämpfen will – dies richte ich an das ganze Haus –, spiel, weil es die Räumlichkeiten betrifft; der muss schauen, dass diese Preiserhöhungen unterblei- (Dirk Niebel [FDP]: Nein, das ist die ben. Wirklichkeit!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) aber es ist auch ein symbolisches Beispiel für eine Denk- weise, die wir überwinden müssen, wenn wir eine dezen- Zweitens. Auch die angekündigten Preiserhöhungen trale Arbeitsorganisation wollen. Dies betrifft auch die bei der Bahn wirken nicht anders als Kosten treibend Regeln, was in den Jobcentern gemacht wird, wie geför- und damit den Binnenmarkt schwächend. Ich gehe da- dert wird, welche Beschäftigungsverhältnisse eingegan- von aus, dass nach unseren gestrigen Beschlüssen, die gen werden, wie die 1-Euro-Jobs ausgestaltet werden zum Inhalt hatten, dass der Börsengang nicht in dem und wie dies in der Region abgestimmt und mit den Un- Zeitraster kommen wird, wie es Herr Mehdorn vorgese- ternehmern und Gewerkschaften besprochen wird. hen hat, die Preiserhöhungen noch einmal überdacht werden. Im Klartext: Wir werden die positiven Instrumente Hartz I bis IV nur praxiswirksam nutzen können, wenn (Dirk Niebel [FDP]: Vielleicht sollten Sie den es gelingt, eine echte Dezentralisierung zu praktizieren. Vorstandsvorsitzenden mal überdenken!) Um dies zu erreichen, müssen wir den Mist verhindern, der sich in dem von mir vorgelesenen Zitat widerspie- Die Preiserhöhungen sind von der Seite der Energie- gelt. preise her höchstens in einer Größenordnung von 0,4 bis 0,5 Prozent vertretbar. Der Rest war eine Preiserhöhung, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die allein wegen des Börsengangs vorgesehen wurde, und bei der SPD – Dirk Niebel [FDP]: Erin- um schnell zu einer stabilen schwarzen Null zu kommen. nern Sie sich, dass wir die Agentur auflösen Meine Fraktion fordert also die DB AG konkret auf, wollen?) nicht nur den Börsengang zu verschieben, sondern auch – Herr Niebel, mit Ihrem – wie soll ich es nennen? – li- auf diese Preiserhöhung zu verzichten. beralen Chaotenanarchismus kommen wir natürlich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nicht weiter. Sie sagen einfach: Weg mit dem Mist, auf- lösen, abschaffen! Aber Sie haben überhaupt keine kon- Wenn wir die neuen Instrumente von Hartz I bis IV kreten Vorschläge gemacht, wie stattdessen die schwie- wirklich effektiv umsetzen, dann werden wir auch einen rige Arbeit geleistet werden soll, die vielen Arbeitslosen (B) (D) positiven Impuls für den Arbeitsmarkt bekommen. Da- in Jobs zu bringen und auch die Dauerarbeitslosen zu ak- bei ist mir ein Punkt wichtig, den ich hier auch an die tivieren. Da können wir nicht einfach liberal oder pseu- Adresse der Bundesregierung anmerken will, Herr doliberal mit den Schultern zucken und sagen: Da ma- Staatssekretär: Bei der Umsetzung von Hartz IV und bei chen wir den Laden dicht. der Einrichtung der Jobcenter kommt es entscheidend Ich komme zum Schluss. darauf an, dass so dezentral gearbeitet werden kann, wie wir es in den Hartz-Reformen vorgesehen haben. Es soll also das regional jeweils Beste gemacht werden und Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: nicht das, was sonst wo entschieden wird. In diesem Zu- Kollege Kuhn, der Herr Kollege Niebel würde Ihnen sammenhang stelle ich Ihnen ein Beispiel vor, angesichts gern eine Zwischenfrage stellen. dessen ich mir wirklich Sorgen mache, ob das, was wir vorgesehen haben, funktionieren wird. Ich rufe in Erin- Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nerung: Je dezentraler wir vorgehen, desto mehr Arbeits- Nein, das machen wir jetzt nicht. Ich hatte genügend lose können wir in Jobs unterbringen. Redezeit. Herr Niebel, das wäre nicht nötig gewesen. Vielen Dank! Heute schreibt der „Tagesspiegel“, dass man in Berlin immer noch Probleme mit den Gebäuden für die neuen (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Jobcenter hat. NEN]: Das kann er zu Hause im Wahlkreis machen!) (Dirk Niebel [FDP]: Dafür gibt es ein Pflich- Herr Singhammer, das, was Sie heute veranstaltet ha- tenheft der Bundesagentur!) ben, ist, glaube ich, in die Hosen gegangen. Ich hoffe, Im Bezirk Charlottenburg/Wilmersdorf wurde für das dass Sie beim nächsten Mal wieder mit mehr Intelligenz, neue Jobcenter ein Gebäude zur Verfügung gestellt, das mehr Faktenwissen und mehr Kreativität die Debatte be- nun von Nürnberg mit der Begründung abgelehnt wird, reichern können. „die Verteilung der Steckdosen, die Türklinken, die Ich danke Ihnen. Oberlichter in den Räumen und die Fliesenhöhen in den Toilettenräumen“ entsprächen nicht dem Pflichtenheft (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Nürnberger Zentrale. und bei der SPD – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Glauben Sie denn, dass das mit (Dirk Niebel [FDP]: Richtig! Genau! Habe ich den 4,3 Millionen Arbeitslosen stimmt? Das es nicht immer gesagt?) glauben Sie doch selber nicht!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11481

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem Auf die Frage, wer was liest, will ich hier nicht einge- Kollegen Niebel. hen. Das ist mir zu albern. Natürlich kennen wir Ihre Vorstellungen. Ich will einmal ernsthaft darauf antwor- Dirk Niebel (FDP): ten: Wir haben eine andere Grundannahme. Sehr geehrter Kollege Kuhn, nur mit grünem Gebläse (Dirk Niebel [FDP]: Sie haben doch gesagt, können Sie die Fakten natürlich nicht vom Tisch wehen. wir hätten nichts!) Sie wissen ganz genau, dass ein Antrag der FDP-Bun- destagsfraktion, in dem die Neuordnung der Bundes- Deswegen haben wir die Hartz-Gesetze gemacht und die agentur durch Auflösung konkret dargestellt wird, in vielen Reformen eingeleitet. Wir sind der Überzeugung, diesem Hause vorliegt. Auch wenn Sie die Mär verbrei- dass auch diese Behörde mit 90 000 Beschäftigten, die ten, dass es dann hinterher keine Betreuung der Arbeits- Bundesagentur für Arbeit, reformierbar ist. Wir sind fer- losen gäbe – das ist trotzdem falsch. ner der Überzeugung, dass das am besten in der Kon- struktion, wie wir sie heute haben, geschehen kann. Die Auflösung der Bundesagentur für Arbeit, die Diese sieht ja übrigens auch die Beteiligung von Unter- in ihrer jetzigen Form schlicht nicht reformierbar ist, ist nehmen und Gewerkschaften vor. Da haben wir einfach ein Terminus technicus. Durch die Auflösung besteht die eine andere Grundüberzeugung; es ist letztlich eine an- Behörde eine juristische Sekunde lang nicht mehr. Das dere ordnungspolitische Auffassung. heißt, Sie können effektive Strukturen, übrigens auch die von Ihnen geforderten dezentralen Strukturen, einziehen, Ich habe darauf hingewiesen, dass diese Reform nur weil Sie die Vorschriften der Behörde nicht mehr be- dann funktionieren kann, wenn in Zukunft wirklich de- rücksichtigen müssen, weil der Verwaltungsrat mit Frau zentral vorgegangen wird und wenn sich die Nürnberger Engelen-Kefer nicht mehr da ist, weil die Beamten ver- Zentrale auf das absolut notwendige Kerngeschäft der setzt werden können, weil Angestellte mit Änderungs- Vereinheitlichung beschränkt und nicht vor Ort sagt, was kündigungen neue Strukturen einnehmen können. Damit im Einzelnen gemacht werden muss. Das ist eine absolut kann man ein Drei-Säulen-System aufbauen, mit dem andere Konzeption, als Sie sie haben. Ich bin sehr skep- man den Arbeitsmarkt ordentlich ausgleichen und den Menschen helfen kann. tisch, ob Ihre Konzeption in der Praxis wirklich funktio- nieren würde, weil die ideelle Sekunde, mit der Sie ar- Das wäre eine schmale Versicherungsagentur, die gumentieren, eine Art Zerschlagung der bestehenden nichts anderes als die Lohnersatzleistungen bearbeitet, Struktur bedeutet. Diese Zerschlagung hätte die einzel- (B) bei denen der Arbeitgeberanteil ausgezahlt wird, um An- nen Mitarbeiter verunsichert und nicht die Möglichkeit (D) reize für Wahltarife zu schaffen. Es wäre eine kleine Ar- geschaffen, die neuen Reformen jetzt wirklich umzuset- beitsmarktagentur mit ungefähr 200 Mitarbeitern, in der zen. Deswegen gehen wir einen anderen Weg. das überregional Notwendige gemacht wird, in der man sich insbesondere um die Transparenz der offenen Stel- Ich bin nicht überzeugt, dass es hilfreich ist, wenn Sie len und die bundesweite Vermittlung, aber auch um jetzt immer von der Zerschlagung der Bundesagentur Werkvertragsabkommen mit osteuropäischen Staaten sprechen. kümmert und in der entscheidungskompetente An- sprechpartner für Landesprojekte zur Verfügung stehen. (Dirk Niebel [FDP]: Auflösung, Vor Ort, in kommunaler Trägerschaft, würde, steuerfi- nicht Zerschlagung!) nanziert und im Grundgesetz abgesichert, die aktive Ar- – Auflösung der Bundesagentur. Sie kommen ja aus dem beitsmarktpolitik betrieben, weil die Menschen, die die Laden. Arbeitsmarktpolitik brauchen, vor Ort sind und weil die Arbeitsplätze in aller Regel ebenfalls einem konkreten (Dirk Niebel [FDP]: Deswegen Ort zuzuordnen sind. kenne ich mich auch aus!) Von daher: Tun Sie nicht so, als hätten wir kein Kon- Deswegen erstaunt mich auch Ihr Frohsinn bei dem zept! Wir haben jede einzelne Aufgabe der heutigen Thema. Sie müssen sich vorstellen, dass da jetzt Bundesagentur kleinklein unter der Fragestellung durch- 90 000 Leute sitzen – dazu kommt noch die schwierige dekliniert: Muss sie überhaupt noch gemacht werden? Konstruktion, dass man in den Ländern nicht einen Was- Wenn sie gemacht werden muss: Von wem muss sie ge- serkopf belassen hat –, die die neue Konzeption umset- macht werden? Das liegt hier in diesem Hause vor. zen müssen. Da hilft es überhaupt nichts, wenn wir hier Wenn Sie die Bundestagsdrucksachen nicht lesen, dann in Berlin von Auflösung oder Zerschlagung sprechen. sollten Sie gegenüber der Bevölkerung nicht so tun, als gäbe es sie nicht, nur weil Sie Ihre Arbeit offenkundig Vielmehr müssen wir einen Umbau in Richtung einer nicht richtig machen. schnellen, dezentralen Reform anstreben. Für den Weg haben wir uns entschieden. Dieser Weg wird auch ge- (Beifall bei der FDP) gangen, ganz egal, wie lange Sie noch von der Auflö- sung der Bundesagentur reden. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Herr Kollege Kuhn, Sie haben das Wort. sowie bei Abgeordneten der SPD) 11482 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: wortungslos. Früher nannte man ein solches Vorgehen (C) Das Wort hat der Kollege Dr. Michael Fuchs, CDU/ „Weimarer Verhältnisse“. Bei diesen Verhältnissen sind CSU-Fraktion. wir in sehr kurzer Zeit wieder angekommen. Sie sind die Folge rot-grüner Politik. Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Walter Hoffmann [Darmstadt] [SPD]: Weima- Kollegen! Herr Kuhn, eigentlich müsste man eine Rede rer Verhältnisse? So ein Unsinn!) halten, die ausschließlich an Ihre Adresse gerichtet ist; denn es ist enorm, wie viel Falsches Sie in so kurzer Zeit Lassen Sie mich Ihnen zwei Zitate ins Gedächtnis ru- vorgetragen haben. Wenn Sie davon sprechen, dass wir fen: „Ziel des Masterplanes ist es, die Zahl der Arbeits- hier Wahlkampf machen, muss ich Ihnen sagen: Das, losen in drei Jahren um 2 Millionen zu reduzieren.“ So was Sie hier getan haben, war nichts anderes. Es macht äußerte sich Peter Hartz am 16. August 2002. Der Kanz- keinen Sinn, so unredlich miteinander umzugehen, wie ler sagte in seiner nebulösen Art: „Wir müssen aus dem Sie es getan haben. großen Wurf … eine neue Wirklichkeit für Deutschland machen.“ (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Dann machen Sie bessere Anträge!) (Klaus Brandner [SPD]: Sagen Sie auch etwas zur Statistik, Herr Fuchs?) Sie sagen, den kleinen Leuten soll mehr Geld gegeben werden. Warum bitte schön tun Sie das denn nicht? Diese großen Ziele haben Sie verkündet; das ist genau 769 Tage her. Seitdem ist die Zahl der Arbeitslosen pro Der Strompreis in Deutschland besteht mittlerweile Tag um durchschnittlich 460 gestiegen, Herr Brandner, zu 40 Prozent aus staatlich ordinierten Kosten. und 1 550 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze sind (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: pro Tag verloren gegangen. Das hat aber nichts mit den Erhöhungen zu (Klaus Brandner [SPD]: Sie werden ja auch tun!) nicht versteckt!) Das haben Sie zu verantworten. Im Wesentlichen war es Das sind die Folgen Ihrer Politik. die Politik der Grünen, die dazu geführt hat, (Klaus Brandner [SPD]: Es geht um Statistik! (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Sagen Sie etwas zur Statistik!) der FDP) Wenn wir das, was Herr Hartz verkündet hat, noch dass jetzt dafür gesorgt werden muss, dass die Leute schaffen wollen, dann müssten ab jetzt pro Tag 6 415 (B) (D) mehr Geld in der Tasche haben. Durch Ihre Politik be- neue Jobs geschaffen werden, damit die Zahl der Ar- kommen sie aber nicht mehr Geld. Deswegen sollten Sie beitslosen bis Ende dieses Jahres um 2 Millionen zu- Ihre Politik ändern. rückgeht. Nun ein Wort zu Ihnen, Herr Niebel. Aus meiner (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sicht sollte die Bundesagentur für Arbeit nicht aufgelöst Sie reden von „saisonbereinigter“ und „witterungsbe- werden. Aber ebenso man darf sie nicht mit zusätzlichen dingter“ Arbeitslosigkeit. Wir müssten Ihre Politik von Aufgaben befrachten, wie es jetzt durch Hartz IV getan ideologischen Vorstellungen bereinigen; denn dadurch wird. Deswegen haben wir immer dafür plädiert, dass wird den Arbeitslosen kein bisschen geholfen. seine Umsetzung auf kommunaler Ebene durchgeführt werden soll. Herr Kuhn, von diesem Standpunkt waren (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Sie gar nicht weit entfernt, als Sie gesagt haben, dass der FDP) diese Arbeit auf lokaler Ebene geleistet werden muss, weil dort die entsprechenden Kenntnisse vorhanden sind Sie arbeiten mit Tricks. Herr Clement kommt mir und man näher bei den betroffenen Menschen ist. Es tut manchmal vor wie ein Zauberer. Während allerdings ein mir Leid, dass Sie das, was Sie in Ihrer Rede im Prinzip Zauberer immer nur eine einzige Dame in einer Kiste selbst gefordert haben, nicht umgesetzt haben. Nichts- verschwinden lassen kann, hat Herr Clement einmal in destotrotz brauchen wir eine Bundesagentur, die das nur einer Nacht 81 000 Menschen aus der Statistik ver- Ganze regelt, die aber nicht als Moloch mit zusätzlichen schwinden lassen. Das waren diejenigen, die sich in Aufgaben befrachtet werden darf. Trainingsmaßnahmen befunden haben. Diese Art der Manipulation der Statistik kann nicht richtig sein; denn (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dadurch wird kein einziger Arbeitsloser wieder in Lohn NEN]: Sie kennen die Reform offenbar nicht!) und Brot gebracht. Das müsste aber unsere Aufgabe sein. Nun will ich auf die Statistik zu sprechen kommen. Auf dem Papier steht, dass derzeit 4,35 Millionen Men- Herr Brandner, wir müssen uns Gedanken darüber schen arbeitslos sind. Das ist wirklich nur die halbe machen, dass wir Wachstumszahlen in einer Größenord- Wahrheit; Kollege Singhammer hat das eben erklärt. nung von 2 Prozent brauchen, um überhaupt neue Ar- Denn wenn man die stille Reserve berücksichtigt – dem beitsplätze schaffen zu können. Warum das in anderen Frankfurter Institut zufolge liegt sie bei 1,7 Millionen –, Ländern schon bei einem Wachstum von nur 0,5 Prozent sind in Wirklichkeit über 6 Millionen Menschen arbeits- möglich ist, ist mir bis jetzt verborgen geblieben. Daran los. Diese Statistik zu manipulieren, halte ich für verant- sollten wir arbeiten. Wir sollten uns aber nicht damit Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11483

Dr. Michael Fuchs (A) beschäftigen, die Arbeitslosenzahlen zu manipulieren. aufgrund der von der Bundesregierung eingeleiteten Re- (C) Und nichts anderes tun Sie. formen spürbar auf den Arbeitsmarkt auswirken werde. Er hofft also. Gut, lassen wir ihn einmal hoffen, aber mir Das wahre Ausmaß der strukturellen Krise, die wir in wäre es lieber, hier würde gehandelt, damit etwas pas- Deutschland haben, kommt doch durch eine andere Zahl siert. viel besser zum Ausdruck – deswegen ist es richtig, was der Kollege Singhammer gesagt hat, und deswegen gehört Dazu muss die Arbeitsmarktpolitik verändert wer- diese Zahl für mich in die Statistik rein –, nämlich durch den. Die Lohnnebenkosten müssen gesenkt werden. Eine die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Möglichkeit besteht zum Beispiel bei der Arbeitslosen- Im Juni hatten wir gerade noch 26,4 Millionen. versicherung. Wir müssen nur den Mut haben, in dem Bereich ABM – der sowieso nichts bringt – endlich (Klaus Brandner [SPD]: Ein Ahnungsloser!) wirksame Maßnahmen zu ergreifen und die Dinge, die Leider bekommen wir diese Zahl nicht zeitnäher, Herr über Steuern zu finanzieren sind, auch über Steuern zu Brandner. Das wissen Sie. Durch Ihre Politik sind in den finanzieren. letzten zwei Jahren 1,2 Millionen sozialversicherungs- Können Sie mir einmal erklären, warum wir jetzt pflichtige Arbeitsplätze verloren gegangen. auch noch Sprachkurse für Asylbewerber finanzieren? (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 180 Millionen Euro sind dafür in dem neuesten Etatent- NEN]: Haben Sie die Zahlen aus der Statis- wurf der Bundesagentur vorgesehen. Sprachkurse für tik?) Asylbewerber, also nicht etwa für Asylanten, die hier be- rechtigt bleiben dürfen, werden mit 180 Millionen Euro Das sind pro Monat 46 000 Arbeitsplätze. Frau Dückert, gefördert. Dafür habe ich kein Verständnis. das müssen Sie zur Kenntnis nehmen. Das ist der Beweis für das Scheitern Ihrer Politik. Wenn Sie all diese Dinge verändern und den Arbeits- markt deregulieren sowie endlich betriebliche Bündnisse (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) für Arbeit zulassen würden, würden die Arbeitslosen- 1,2 Millionen sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze zahlen positiv beeinflusst. Das Gleiche gilt, wenn Sie auf sind verloren gegangen. Nichts belegt die strukturelle dem Sektor Bürokratieabbau – der Kollege Niebel hat Krise, in der sich unser Land befindet, so sehr. das völlig zu Recht angesprochen – endlich etwas tun würden, was den Namen verdient. Nehmen Sie doch nur Daran zeigt sich für mich auch, dass wir das System das Kleinunternehmerförderungsgesetz: Was Sie da an der Sozialversicherungen, das circa 70 Millionen Men- Statistik verlangen, an Fragebögen, die diese Unterneh- schen umfasst, so mit ziemlicher Sicherheit nicht sanie- mer ausfüllen sollen, ist ein Beschäftigungsprogramm (B) ren können. Deswegen sind die gesamten Versuche, die für Steuerberater, aber doch keine vernünftige Arbeit. (D) Sozialsysteme auf diesem Weg zu sanieren, nicht gelun- gen und werden auch nicht gelingen. (Klaus Brandner [SPD]: Herr Fuchs, der letzte Sonntag hat Sie verunsichert! Wir sind von Ih- Ich möchte noch einen Aspekt hinzufügen, der aus nen klarere Reden gewohnt!) diesen ganzen Statistiken auch nicht hervorgeht, aber dennoch ein Beweis für Ihre gescheiterte Politik ist: Pro – Schauen Sie sich das bitte einmal selbst an, Herr Jahr scheiden mittlerweile circa 200 000 bis 250 000 Brandner, dann werden Sie es auch kapieren. Personen mehr aus dem Erwerbsleben aus, als eintreten. Ich sage Ihnen noch eines voraus: Demnächst kommt Dieser demographische Effekt hätte in den sechs Jahren die nächste Manipulation. Im Oktober sollen 100 000 Ihrer Regierung ja eigentlich zu einer Reduzierung der Langzeitarbeitslose mit Sprachkursen beschäftigt wer- Zahl der Arbeitslosen um circa 1,2 Millionen Menschen den. Die werden wir dann auch nicht mehr in der Statis- führen müssen. Nichts ist davon zu spüren: Die Arbeits- tik finden. losigkeit steigt permanent. Das kann einem hier schon ganz gewaltig die Laune verderben. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: So ist es!) (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ist das eine Aufforderung, diese aus der Demnächst wird auch noch jeder, der einen 1-Euro-Job Statistik herauszunehmen?) hat, aus der Statistik verschwinden; dann haben wir gleich 600 000 Arbeitslose weniger. Wie verhält sich dabei Ihr Bundeswirtschaftsminis- ter? Er ist ja heute bei einer so wichtigen Debatte, in der (Klaus Brandner [SPD]: Ihre Regierung hat es um Arbeitslosigkeit, um die Schicksale der Menschen genau das eingeführt!) geht, nicht einmal im Parlament und schickt Herrn Das kann doch nicht die Lösung unserer Arbeitsmarkt- Andres vor, von dem wir ja gleich noch einiges hören probleme sein. Gehen Sie bitte hin und suchen Sie den werden. Er lässt sich von solchen Zahlen nicht einmal richtigen Weg. die Laune verderben. Die Manipulationen an der Ar- beitsmarktstatistik bezeichnet er als „notwendige Klar- Es war nicht in Ordnung – lieber Herr Brandner, ich stellung“. Wenn man 81 000 Menschen in der Trickkiste kann lauter schreien als Sie; ich habe ein Mikrofon –, dass verschwinden lässt, ist das also eine „notwendige Klar- sich der Bundeskanzler am letzten Wochenende hingestellt stellung“. Liebe Kolleginnen und Kollegen, dafür fehlen und den Menschen Mitnahmementalität vorgeworfen hat. mir die Worte! Dann sagt er in demselben Statement Wer verursacht denn diese Mitnahmeeffekte? Wer schafft weiter, dass er hoffe, dass sich die Konjunkturerholung denn überhaupt die Möglichkeit dazu? Das sind doch Sie 11484 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Dr. Michael Fuchs (A) als Gesetzgeber. Sie können es doch verhindern. Be- Das, was Sie Herrn Kuhn vorgeworfen haben, kann ich (C) schimpfen Sie nicht die Leute, die die Gesetze so anwen- Ihnen gleich zurückgeben. Bei Asylbewerbern angefan- den, wie Sie sie gemacht haben, sondern machen Sie die gen haben Sie in Ihre Rede alles hineingepackt, was Sie Gesetze so, dass sie vernünftig und sauber angewendet hier gerne einmal loswerden wollten. Einen Teil der Po- werden können! Alles andere ist doch unsauber. sitionen, die Sie hier genannt haben, finde ich außeror- dentlich bedenklich. Das will ich Ihnen einmal sagen. (Klaus Brandner [SPD]: Sie verhindern das doch! Sie verhindern den Subventionsabbau Die Sprachkenntnis ist eine Schlüsselfunktion, um an allen Ecken und Enden!) Zugang zum Arbeitsmarkt zu erhalten. Ich darf Ihnen vielleicht die Antwort der Bundesre- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das gierung auf unsere Kleine Anfrage zur Wahrheit und muss aber doch nicht durch die Versicherung Klarheit der Arbeitsmarktstatistik vorlesen: Die einzig bezahlt werden! – Dr. Michael Fuchs [CDU/ wahre Arbeitslosenzahl kann es angesichts unterschied- CSU]: Was hat das mit der Arbeitslosenversi- licher Erkenntnisinteressen nicht geben. So hat die Bun- cherung zu tun?) desregierung auf unsere Anfrage geantwortet. Es ist eine Sie können das bewerten, wie Sie wollen. Ich empfehle Unverschämtheit, uns so zu antworten. Einen besseren Ihnen nur, in Ihrer Rede nachzulesen. Beweis als diesen kann es nun wirklich nicht geben. Wir sollten hier wirklich dafür sorgen, dass vernünftige Poli- Sie sagen, die sozialversicherungspflichtig Beschäf- tik gemacht wird, anstatt mit Nebelkerzen zu werfen. tigten müssten in die Arbeitslosenstatistik aufgenom- men werden. Ich empfehle Ihnen, sich ein einziges Mal Sie sollten Ihre Kräfte auf die Arbeitsmarktpolitik eine solche Statistik anzuschauen. konzentrieren. Tun Sie endlich das Richtige! Bekämpfen Sie die Arbeitslosigkeit und verschönern Sie nicht die (Klaus Brandner [SPD]: Man muss sie aber Statistik! auch lesen können!) Vielen Dank. Ich habe eine dabei. Die offizielle Statistik der Bundesagen- tur für Arbeit beginnt mit dem geschätzten Sachstand am (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ende eines jeden Monats bezogen auf sozialversicherungs- Klaus Brandner [SPD]: Herr Fuchs, von Ihnen pflichtig Beschäftigte. Für Juni stehen dort 26 440 800. habe ich schon bessere Reden gehört! Das war Herr Fuchs, das, was Sie hier beklagen, ist also längst kein Fuchs! – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE Wirklichkeit. GRÜNEN]: Das war ein Murmeltier!) Damit haben Sie ein schönes Beispiel dafür geliefert, (B) dass die Statistikdebatten häufig sehr verlogen sind. Ich (D) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: sage Ihnen ganz offen: Ich kenne das selbst, da ich lang Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär für genug in der Opposition war. Ein Interesse der Opposi- Wirtschaft und Arbeit, Gerd Andres. tion ist es immer, der Regierung ständig vorzuwerfen, dass die Statistik manipuliert wird. Es werde alles he- (Klaus Brandner [SPD]: Die Redezeit müsste rausgerechnet, was nicht hineingehöre, und verlängert werden, um so viel Unsinn gerade- zurücken!) (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Wir haben gut von Ihnen gelernt!) Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- es sei alles ganz schlimm. Die Arbeitslosenzahl wird nister für Wirtschaft und Arbeit: dann auf 5 Millionen, 6 Millionen oder 7 Millionen auf- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und geblasen. Wer hat noch mehr zu bieten? Ich habe mich Herren! Während ich hier die ganze Zeit zugehört habe, gewundert, dass hier noch niemand 8 Millionen gesagt ist mir durch den Kopf gegangen, dass das wahrschein- hat. lich meine dreißigste oder vierzigste Debatte über Ar- (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Das schaffen beitsmarktstatistik hier im Bundestag ist. Sie auch noch!) (Dirk Niebel [FDP]: Dann haben Sie ja gar Herr Singhammer, eines kann ich Ihnen sagen: Lesen nichts Neues zu erzählen!) Sie in Ihrer Rede nach! Alles, was Sie darin aufgelistet Ich muss Ihnen einmal sagen, was mich langsam rich- haben, würde ich daraufhin überprüfen, ob das nicht zu- tig anödet, nämlich dass in diesen Debatten nie die fälligerweise Herr Blüm eingeführt hat. Wahrheit gesagt, sondern je nach Interessenlage argu- (Dirk Niebel [FDP]: Dann war das damals mentiert wird. Man gaukelt sich etwas in einer Art und schon falsch! – Karl-Josef Laumann [CDU/ Weise vor, dass es überhaupt nicht mehr auszuhalten ist. CSU]: Lass mir den „Nobbi“ in Ruhe, das war (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Das bekom- noch ein Minister!) men wir jetzt von Ihnen zu hören!) Um das hier abzuschließen: Ich streite sehr gerne da- Herr Fuchs, Sie waren ein beredtes Beispiel dafür. rüber, ob die Teilnehmer an Trainingsmaßnahmen in die Arbeitslosenstatistik gehören oder nicht. Für meine (Dirk Niebel [FDP]: Kommt jetzt die reine Begriffe sind das keine Arbeitslosen. Deswegen sind sie Wahrheit?) dort nicht hineinzurechnen. Darüber kann man aber Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11485

Parl. Staatssekretär Gerd Andres (A) sach- und fachgerecht diskutieren. Das Schöne ist: Wenn Von einer Änderung der Definition der Arbeitslosigkeit (C) man unter Fachleuten außerhalb der Öffentlichkeit, also der Bundesagentur für Arbeit ist dagegen abzuraten; das intern diskutiert – Karl-Josef Laumann nickt –, dann ge- sage ich ganz ausdrücklich. Diese Definition folgt ben sich alle gegenseitig Recht. Die Debatte hier wird zwangsläufig dem Leistungsrecht des Sozialgesetzbu- aber zu einer Schauveranstaltung genutzt. Dass die Men- ches III; denn grundsätzlich kann nur derjenige Lohner- schen, die hier zuhören oder das an den Fernsehgeräten satzleistungen erhalten, der als arbeitslos registriert ist. mitbekommen, dadurch ein Stück weit Vertrauen in die Nach unserer Definition ist arbeitslos, wer zur sofortigen Politik verlieren, kann ich sehr gut verstehen. Arbeitsaufnahme verfügbar ist, sich bei einer Agentur für Arbeit gemeldet hat und gleichzeitig keiner Erwerbs- (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Die jetzige tätigkeit nachgeht oder aber weniger als 15 Stunden pro Statistik stimmt nun einmal nicht! – Johannes Woche arbeitet. Singhammer [CDU/CSU]: Glauben Sie wirk- lich, dass die jetzige Statistik stimmt?) Die im CDU/CSU-Antrag aufgeführten Personengrup- pen, die zu den bisherigen Arbeitslosen addiert werden Die Arbeitslosenzahlen der Bundesagentur für Arbeit sollen, sind aber nicht regelmäßig verfügbar, weil sie ver- sind ein wichtiger Indikator zur Beobachtung des rentet, im Vorruhestand oder in Weiterbildungsmaßnah- Arbeitsmarktes. Wir alle sind es gewohnt, Monat für men sind. Möglich ist auch, dass sie einer anderen Er- Monat auf diese Zahlen zu warten und der überwiegende werbstätigkeit nachgehen wie zum Beispiel Gründer einer Teil der Öffentlichkeit nimmt diese Arbeitslosenzahlen Ich-AG oder Teilnehmer an Arbeitsbeschaffungsmaßnah- als alleinigen Indikator zur Beurteilung der Arbeits- men. Eine solche Abgrenzung der Maßnahmeteilnehmer marktentwicklung. Dabei sollte zumindest der überwie- von den Arbeitslosen entspricht übrigens auch dem EU- gende Teil derjenigen, die hier sitzen, wissen, dass die Standard, den Eurostat gemeinsam mit den Mitgliedstaa- Vorgänge am Arbeitsmarkt viel zu vielschichtig und ten erarbeitet hat. komplex sind, um sie mit einer einzigen Zahl beschrei- ben zu können. Daher ist es natürlich unverzichtbar, wei- Für die Einbeziehung der so genannten stillen Re- tere Statistiken heranzuziehen. Dies gilt zum Beispiel für serve gilt, dass dieser Personenkreis in keiner Statistik die Teilnehmer an Maßnahmen der aktiven Arbeits- valid erfasst wird und die geschätzten Daten zwangsläu- marktpolitik und Personen im Vorruhestand, aber auch fig nicht die Qualität der anderen Statistik erreichen. Die für Zu- und Abgänge in und aus Arbeitslosigkeit sowie stille Reserve zeichnet sich vielmehr dadurch aus, dass die offenen Stellen und die Ausbildungsplatzsituation. sie sich gerade nicht beim Arbeitsamt meldet oder auf andere Weise aktiv Arbeit sucht. Daher kann man sie Ich sage noch einmal ausdrücklich: Wir haben uns an- nicht einfach zu den registergeschützten Arbeitslosen- (B) gewöhnt, monatlich immer nur eine Zahl zu erfahren, zahlen addieren. (D) nämlich die der Arbeitslosen von zurzeit 4,35 Millionen. Wer einmal genauer hinschaut, der weiß, dass diese mo- Dass die Erwerbstätigen im Zentrum der Arbeitsmarkt- natlich veröffentlichte Zahl ganz wenig aussagt. Nur berichterstattung bleiben müssen, ist für die Bundesregie- dann, wenn man weiß, dass sich im vergangenen Jahr rung klar. Zwar ist die Entwicklung der sozialversiche- 7,7 Millionen Menschen neu arbeitslos gemeldet haben rungspflichtig Beschäftigten für die Entwicklung der und knapp 150 000 weniger aus der Arbeitslosigkeit he- Finanzen der Sozialversicherungen von großer Bedeu- rausfanden, sieht man, wie viel Bewegung auf dem Ar- tung, doch umfasst die Zahl der Erwerbstätigen neben beitsmarkt ist. Solche Zahlen beschreiben viel mehr als der der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten auch die Bestandszahl am Monatsanfang. die Minijobber, die Beamten und die Selbstständigen, die zur Beurteilung der Entwicklung am Arbeitsmarkt Um die Datenlage zum Arbeitsmarkt weiter zu verbes- ebenso wichtig sind. Außerdem ist die Erwerbstätigen- sern, hat die Bundesregierung mit Zustimmung des Bun- zahl neben der Zahl der Arbeitslosen internationaler desrates im Frühjahr dafür gesorgt, dass das Statistische Standardindikator zur Beurteilung der Arbeitsmarktent- Bundesamt demnächst monatliche Arbeitslosenzahlen wicklung. nach dem international vergleichbaren ILO-Standard er- Die Bundesregierung wird insbesondere vor dem heben wird. Hierzu werden pro Monat 30 000 Bürger Hintergrund der Einführung einer neuen monatlichen per Telefon befragt. Die Umfrage hat am 10. September Arbeitsmarktstatistik nach ILO-Standard ihren Teil dazu dieses Jahres begonnen. Die ersten veröffentlichungsfä- beitragen, um für mehr Klarheit in der Arbeitsmarktsta- higen Ergebnisse wird das Statistische Bundesamt vo- tistik zu sorgen. raussichtlich im Februar 2005 für den Monat Januar 2005 veröffentlichen. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Also sollte man doch etwas tun!) Mit dieser neuen monatlichen Statistik werden wir neue Einsichten über Umfang und Struktur der Arbeits- Sie hat dies mit ihrer ausführlichen Antwort auf die losigkeit gewinnen. Das Statistische Bundesamt will die Kleine Anfrage der CDU/CSU-Fraktion zur Wahrheit neue Umfrage außerdem dazu nutzen – sehr gut zuhören, und Klarheit der Arbeitsmarktstatistik Ende März dieses Herr Fuchs –, aktuelle Erwerbstätigenzahlen ohne War- Jahres schon getan. Daraus stammt das Zitat, das Sie, tezeit zu veröffentlichen. Die bisherige Wartezeit von Herr Fuchs, benutzt haben. Ich sage Ihnen ganz aus- zwei Monaten entfällt. Damit steht dieser wichtige Kon- drücklich: Dieses Zitat ist richtig und die Bundesregie- junkturindikator künftig unmittelbar und zeitnah zur rung hat damit Recht. Die Standardzahl zur Beschrei- Verfügung. bung der Arbeitslosigkeit gibt es nicht. Es benutzt jeder 11486 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Parl. Staatssekretär Gerd Andres (A) die Zahl, die er gerade gebrauchen kann. Dafür waren (Dirk Niebel [FDP]: Das haben wir befürch- (C) Sie in dieser Debatte ein leuchtendes Beispiel. tet! – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Ist das eine Drohung?) (Beifall bei der CDU/CSU – Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Natürlich steht die Bundesregierung auch mit dem (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirt- DIE GRÜNEN – Dirk Niebel [FDP]: Die Re- schaftlichen Entwicklung – auch das ist angesprochen gierung bleibt also beratungsresistent! Das ist worden, Herr Singhammer – und den führenden Wirt- tragisch!) schaftsforschungsinstituten in Kontakt. Zur Vorberei- tung der Herbstprognosen wird die Bundesregierung mit Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ihnen in der nächsten Woche unter anderem die Arbeits- Das Wort hat der Kollege Wolfgang Meckelburg, marktentwicklung und mögliche Indikatoren und Verän- CDU/CSU-Fraktion. derungen der Arbeitsmarktstatistik diskutieren. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): Immerhin!) Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- legen! Herr Andres, auch Ihre Rede trägt nicht unbedingt Zu Ihrer Aufforderung, wir sollten doch wenigstens dem dazu bei, dass man weiterkommt. Sachverständigenrat glauben, dann sage ich Ihnen: Herz- lichen Glückwunsch, Herr Singhammer, aufgewacht. (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vielleicht haben Sie das auch schon begriffen. Das hat NEN]: Jetzt haben Sie eine große Chance, übrigens auch die alte Bundesregierung jedes Jahr ge- Herr Meckelburg!) macht. Sie hat jedes Jahr über den Arbeitsmarkt und Sie wirken immer ziemlich rechthaberisch und erwecken über die Statistik diskutiert. Eine Ihrer Forderungen ist den Eindruck, als ob alles außer dem, was Sie sagen, kei- also erledigt. Die können Sie abhaken. nen Sinn habe. So einfach geht das nicht, Herr Andres. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Sie wer- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) den richtig gut!) Ich will an den Anfang stellen – ich hoffe, dass zu- Eine Diskussion der Arbeitslosigkeitsdefinition des mindest darin Übereinstimmung besteht –: Wer Arbeits- SGB III führt allerdings nicht weiter, da sich diese Defi- losigkeit bekämpfen will, muss Arbeitsplätze schaffen nition auch weiterhin am Leistungsrecht des SGB III und darf nicht die Statistik nach oben oder unten bereini- (B) orientieren muss. Ich sage ganz deutlich: Letztendlich gen. Darin sollten wir uns einig sein. (D) müssen wir damit leben, dass es die eine wahre Zahl der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Arbeitslosen nicht gibt, sich die Öffentlichkeit dennoch des Abg. Walter Hoffmann [Darmstadt] gern an eine einzige Zahl klammert. Die neue Statistik [SPD]) nach ILO-Standard bietet die Chance, dies zu ändern. Die Bundesregierung wird diese Chance gemeinsam mit Diese Diskussion ist wirklich so alt, wie es die Arbeits- dem Statistischen Bundesamt und der Bundesagentur für marktstatistiken gibt. Ich will eine Äußerung des Bun- Arbeit nutzen. deskanzlers aus dem Jahr 1998 zitieren. Damals hat er gesagt, die Bundesregierung sei sich völlig im Klaren (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Wie viel darüber, dass sie ihre Wahl wesentlich der Erwartung niedriger ist denn die Zahl? – Gegenruf des verdanke, die Arbeitslosigkeit wirksam zurückdrängen Abg. Dirk Niebel [FDP]: 500 000!) zu können. Genau dieser Herausforderung werde sie sich Die Bundesregierung lehnt den Antrag der CDU/ stellen. Er hat auch einmal gesagt, eine Regierung würde CSU-Fraktion aus den genannten Gründen ab. Was Ihren nicht wieder gewählt, wenn sie das nicht schaffte. 2002 Zwischenruf betrifft, Herr Singhammer, so lesen Sie sah es so aus, als ob nichts passiere. Damals wurde die doch die Antwort auf die Kleine Anfrage. Zahl von 3,5 Millionen Arbeitslosen genannt. Davon sind wir weit entfernt geblieben. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Ich hätte es gern von Ihnen noch einmal gehört!) Es sah wirklich so aus, als ob es zu einem Regie- rungswechsel hätte kommen können. Aber dann kam die – Sie wissen es doch. Das ist ein großer Packen. Flut. Die Flut ist wieder gegangen, aber Schröder und die Arbeitslosigkeit sind geblieben, und das auf einem (Ludwig Stiegler [SPD]: Er kann doch nicht verstetigten Niveau. Das ist das Problem. lesen! Lesen schadet doch nur!) (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Wenn die so – Das glaube ich auch. weitermachen, müssen die ganz Deutschland unter Wasser setzen!) Ich habe für die Bundesregierung geantwortet. Eine freundliche Diskussion über Statistik hilft überhaupt Ich will auf den demographischen Effekt hinweisen. nicht weiter. Das zeigt das Beispiel von heute Morgen Seit dem Antritt der Regierung Schröder scheiden jähr- auch wieder. Wir werden so weitermachen, wie wir be- lich etwa 200 000 bis 250 000 Menschen mehr aus dem gonnen haben. Das halten wir für richtig. Arbeitsmarkt aus, als junge Menschen nachrücken. Das Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11487

Wolfgang Meckelburg (A) hat jedoch keinen Effekt. Die Zahl der Arbeitslosen liegt Die Zahl der Arbeitslosen ist sehr wichtig. Die Frage, (C) – bei steigender Tendenz – nach wie vor bei über wie hoch diese Zahl ist bzw. ob sie bei 4 Millionen, 4 Millionen. 4,3 Millionen oder 4,5 Millionen liegt, interessiert die Menschen. Insofern ist es durchaus entscheidend, ob die Es ist in der Tat richtig, dass die Arbeitslosenstatistik Zahl über Nacht um 80 000 gesunken ist, weil die betrof- ständig frisiert wird. Es ist auch richtig, das Zusammen- fenen Personen statistisch nicht mehr als arbeitssuchend bringen der einzelnen Gruppierungen zu diskutieren und gelten, sondern an den Eignungsfeststellungs- und Trai- in den Blick zu nehmen, wer wirklich arbeitslos ist. Da- ningsmaßnahmen teilnehmen. bei ist insbesondere darauf zu achten, wer von den Ar- beitslosen im ersten Arbeitsmarkt unterkommt. Wir dürfen uns nichts vormachen: Das alles sind Menschen, die letztlich noch arbeitslos sind und nicht im Es gibt in der Tat viele längerfristige Maßnahmen ersten Arbeitsmarkt angekommen sind. Das ist der ent- der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Der Kollege Niebel scheidende Punkt. hat sie eben aufgezählt; ich möchte nur einige Beispiele nennen. Wer beispielsweise an einer Arbeitsbeschaf- Wozu brauchen wir die Statistik? Wir brauchen sie, fungsmaßnahme teilnimmt, wird in der Statistik nicht um deutlich zu machen, dass es den Arbeitsmarkt gibt, mehr geführt. Hinzu gekommen sind auch JUMP und der die Arbeitslosen aufnehmen soll, und wie hoch die JUMP plus. Diese Programme gab es noch nicht, als wir Zahl derjenigen ist, die noch Arbeit suchen. Dafür liefert an der Regierung waren. uns die Statistik sicherlich falsche Zahlen. Ich will noch auf einige Punkte eingehen, mit denen (Klaus Brandner [SPD]: Die habt ihr doch he- wir uns vielleicht in den nächsten Wochen beschäftigen rausgenommen! Das wissen Sie auch! Wir ha- werden. Das ist zum einen die ILO-Statistik, die be- ben die ABM deutlich gekürzt! Auch das wis- kanntlich – Sie haben das eben bereits dargestellt, Herr sen Sie!) Staatssekretär – auf anderen Berechnungsgrundlagen be- – Ja, aber es kommen ständig neue Maßnahmen hinzu ruht als unsere Statistik. Das wird dazu führen, dass die und die Betroffenen fallen aus der Arbeitslosenstatistik Zahl der Arbeitslosen nach der ILO-Statistik um etwa heraus. Wir sollten uns in dieser Hinsicht nichts vorma- 600 000 unter der in der BA-Statistik angegebenen Zahl chen, sondern die Frage beantworten, wie groß die Lü- liegen wird. cke zwischen der Zahl der Menschen, die im ersten Ar- Sie können die Statistiken gerne parallel führen, aber beitsmarkt tätig sind, und der Zahl derjenigen ist, die mit der Einführung der ILO-Statistik darf nicht das Ziel wirklich arbeitslos sind. Ich habe den Eindruck, dass die verfolgt werden, dass wir künftig nur noch über die nied- Statistik dazu tendiert, diese Lücke ständig zu verrin- rigere Zahl reden. Denn eigentlich ist diese Zahl uninte- (B) gern. ressant. (D) (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Bei der ILO handelt es sich um eine Organisation, in NEN]: Kohls Wahl-ABM sind doch das beste der Menschen und Politiker Beispiel dafür!) (Bernd Scheelen [SPD]: Menschen und Politiker! Sie haben diese Tendenz fortgesetzt. Das ist eine interessante Kombination!) Das schlagendste Beispiel dafür sind die Eignungs- aus aller Herren Länder zusammenkommen. Möglicher- feststellungs- und Trainingsmaßnahmen – das ist ein weise gibt es Länder, in denen es entscheidend ist, ob schöner Name –, die am 1. Januar neu hinzugekommen man eine Stunde in Arbeit ist. Aber in Deutschland kann sind. Das sind doch klassische Maßnahmen, an denen es doch für die Beurteilung, ob jemand nicht mehr als ar- man teilnimmt, damit man eine Stelle bekommt. Mithilfe beitslos gilt, nicht ausschlaggebend sein, ob er mehr als der Statistik wird aber so getan, als hätten die eine Stunde gearbeitet hat. Was die Erwartungen des 80 000 Teilnehmer bereits einen Job. Einzelnen an den Arbeitsmarkt angeht, sollten wir un- sere Standards beibehalten. (Klaus Brandner [SPD]: Überhaupt nicht! Ganz im Gegenteil! Das wird doch genau aus- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gewiesen!) Lassen Sie mich noch etwas zu den Hartz-Gesetzen Sie nehmen jedoch deshalb an diesen Maßnahmen teil, und ihren Auswirkungen anmerken. Wir alle wissen in- weil sie einen Job suchen und dabei Hilfe benötigen. zwischen, dass die Hartz-Gesetze für den Arbeitsmarkt nicht sehr viel bringen. Es ist alles groß angekündigt Statistisch nimmt die Zahl der Teilnehmer an arbeits- worden. So sollten die Personal-Service-Agenturen jähr- marktpolitischen Maßnahmen ständig zu. Das wird auch lich 350 000 sozialversicherungspflichtige Jobs brin- aus der Antwort auf die Kleine Anfrage deutlich. Die gen. Sie bringen aber real – selbst an dieser Stelle stellt Statistik weist inzwischen 1,4 Millionen Menschen aus, sich die Frage, ob das tatsächlich der Fall ist – im ersten die an längerfristigen Maßnahmen der aktiven Arbeits- Arbeitsmarkt nur 15 600 dieser Jobs. Das ist doch kein marktpolitik teilnehmen. Nimmt man die anderen Kate- großer Erfolg. gorien noch hinzu, ist die Zahl derjenigen, die aus der (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Statistik wegretuschiert wurden, unwahrscheinlich hoch. Das geht doch erst am 1. Januar 2005 richtig In diesem Punkt ist eine größere Klarheit notwendig, los! Wo leben Sie denn!) weil sonst in den nächsten Wochen und Monaten sicher- lich noch ganz andere Zahlen diskutiert werden. – Darauf komme ich gleich noch zu sprechen. 11488 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Wolfgang Meckelburg (A) Des Weiteren wurde angekündigt, dass es durch Exis- neue Gruppen aus der Statistik herausfallen. Wir dürfen (C) tenzgründungen im Rahmen der Ich-AGs jährlich uns nicht vormachen, dass die Zahl der Arbeitslosen bei 500 000 Arbeitslose weniger geben werde. Bis jetzt gibt 4,3 Millionen liegt. Die tatsächliche Zahl liegt wesent- es aber nur 180 300, wobei noch abzuwarten ist, wie lich höher; das wissen wir alle. Das Einzige, was im viele von diesen das zweite und dritte Jahr überstehen Hinblick auf den Abbau der Arbeitslosigkeit wirklich werden. Außerdem wurde versprochen, dass durch das hilft – das ist genau das, was bisher fehlt –, ist, eine Wirt- Programm „Kapital für Arbeit“ jährlich 120 000 neue schaftspolitik zu machen, die dafür sorgt, dass Arbeits- Jobs entstünden. Entstanden sind bis jetzt gerade einmal plätze auf dem ersten Arbeitsmarkt entstehen. Sie arbei- 12 862. Das, was von den Hartz-Gesetzen bisher wirk- ten nur an der Statistik, bringen aber die Menschen nicht sam ist, hat also für den ersten Arbeitsmarkt relativ we- in Arbeit, weil Sie eine falsche Wirtschaftspolitik ma- nig gebracht. Aber was hat das für die Statistik gebracht? chen. Aus der Statistik sind viele Menschen herausgefallen. Es (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wird so getan, als ob die Arbeitslosigkeit zurückgegan- gen wäre. Das kann man eigentlich nicht sagen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: An das, was von Hartz IV noch zu erwarten sein wird, Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege sollten wir mit Spannung herangehen. Walter Hoffmann, SPD-Fraktion. (Klaus Brandner [SPD]: Ihr geht alles mit Spannung an!) Walter Hoffmann (Darmstadt) (SPD): Erstes Beispiel: Zu den 1-Euro- und 2-Euro-Jobs Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! – derjenige, der diesen Begriff erfunden hat, muss Ich möchte ebenfalls einen Ausflug zu den Wahlen in schlecht geträumt haben; denn welche Wirkung hat wohl Sachsen und Brandenburg am letzten Sonntag ma- chen. Wir alle wissen, dass die großen demokratischen die Vorstellung auf Menschen, für 1 oder 2 Euro zu ar- Parteien dort alles andere als einen Sieg errungen haben. beiten? –: Vor allem die Kommunen sollen Jobs einrich- Das Wahlergebnis der Rechten ist eine weitere Nieder- ten, in denen man 1 oder 2 Euro stündlich verdienen lage für unsere Demokratie. Das hat sicherlich verschie- kann. dene Ursachen. Ich denke, eine Ursache besteht auch in (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: dem Stil der öffentlichen Auseinandersetzung, wie man Plus!) ihn häufig auf allen Ebenen beobachten kann. Ich möchte hier gerne einen Bogen zu unserer Debatte schla- – Es ist völlig klar, dass es sich hier um eine Hinzuver- gen. dienstmöglichkeit handelt. – Wir wollen uns aber nichts (B) vormachen. Die Menschen, die solche Jobs haben, sind Nach meiner Meinung gab es ein paar Ausfälle, die (D) doch nicht auf dem ersten Arbeitsmarkt untergekommen. man nicht unkommentiert stehen lassen kann. Herr Wenn die Inhaber von 1-Euro- bzw. 2-Euro-Jobs im Niebel, bei allen Unterschieden im Detail sollten Sie nächsten Jahr aus der Statistik herausfallen, dann sinkt vorsichtig sein. Sie haben gesagt – ich habe mir das mit- die Zahl der Arbeitslosen auf einen Schlag um 600 000. geschrieben –: Der Aufbau einer zweiten Statistik nach So stellt sich Minister Clement das vor. Aber wollen wir ILO-Standards ist Betrug. Herr Niebel, wir ersetzen die uns wirklich vormachen, dass diese Menschen auf dem erste, die klassische Statistik nicht. ersten Arbeitsmarkt untergekommen sind? Doch wohl (Dirk Niebel [FDP]: Noch nicht!) nicht! Die Statistik wird aber dann vortäuschen, dass die Zahl der Arbeitslosen um 600 000 gesunken ist. Vielmehr werden beide Statistiken parallel geführt. Es gibt nun sowohl die Möglichkeit, aus der einen Statistik Zweites Beispiel für die mögliche Wirkung von Erkenntnisse zu gewinnen, als auch die Möglichkeit, aus Hartz IV – das ist schon angesprochen worden –: Ein der anderen Erkenntnisse zu gewinnen. Mit beiden Sta- Teil derjenigen, die bisher nicht als arbeitslos registriert tistiken sind Vorteile, aber auch gravierende Nachteile sind, wird sich sicherlich arbeitslos melden, weil sie hof- verbunden. Ich finde es gut, dass es beide Statistiken gibt fen, dadurch etwas mehr zu bekommen. Das führt mögli- und dass man die klassische Statistik nicht einfach er- cherweise dazu, dass die Zahl der Arbeitslosen steigt. setzt. Das Vorhandensein zweier Statistiken ist aber kein Drittes Beispiel – das hat noch niemand ange- Betrug, sondern eine Ausweitung des Erkenntnisinteres- sprochen –: Wie viele Menschen werden die 15 Seiten ses in diesem Bereich. Bitte, seien Sie bei dem, was Sie umfassenden ALG-II-Formulare nicht ausfüllen? Einige da sagen, ein bisschen vorsichtig. werden es sicherlich nicht rechtzeitig schaffen oder nicht (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto in der Lage sein, diese Formulare auszufüllen. Die Zahl Solms) dieser Menschen wird wahrscheinlich nicht sehr hoch sein. Andere wiederum werden sich sagen: Ich gebe die- Herr Fuchs, ich schätze Sie als einen Kollegen, der, ses Formular nicht ab, weil ich dort so viel angeben was die Zustandsbeschreibung angeht, häufig der glei- muss, obwohl ich letztendlich nichts zu erwarten habe. chen Meinung ist wie ich. Aber die ganze Statistikdis- Auch dadurch wird sich in der Statistik einiges verän- kussion hat mit den Zuständen in der Weimarer Repu- dern. blik wirklich nichts zu tun. Das ist absoluter Unsinn. Einen solchen Eindruck sollte man noch nicht einmal im Ich glaube, es kommt für uns darauf an, das alles im Spaß erwecken. Blick zu behalten. Wir müssen aufpassen, dass die Sta- tistik nicht dauernd frisiert wird und dass nicht ständig (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11489

Walter Hoffmann (Darmstadt) (A) Der Redlichkeit halber muss hier noch einmal er- und keinen politischen Aspekt enthält. Was ich meine, (C) wähnt werden, dass Sie die entsprechenden gesetzlichen möchte ich an einem Beispiel verdeutlichen: Jemand Grundlagen des Begriffs „Arbeitsloser“ in den 80er- und nimmt einen Job in einem gemeinnützigen Betrieb an. in den 90er-Jahren zehnmal geändert haben. Die Ergeb- Er arbeitet in einem Pflegeheim und bekommt dort nisse waren immer wieder die gleichen: 1 oder 2 Euro pro Stunde. Das heißt nichts anderes, als dass diese Person zwar zu einem großen Teil von der Erstens. Wer nicht verfügbar war, wurde aus der Sta- Bundesagentur für Arbeit finanziert wird, aber einen tistik herausgenommen. Vollzeitjob ausübt und, wenn man so will, auch ein Zweitens. Ganze Gruppen des Arbeitsmarktes wurden Stück Verantwortung trägt, da sie jeden Tag mit viel Ge- mithilfe gesetzlicher Änderungen schrittweise aus der duld und Fingerspitzengefühl ihre Arbeit erledigt. Eine Statistik herausgenommen. solche Person ist auf dem besten Weg, aus der Arbeitslo- senstatistik herauszufallen. Nun wollen Sie, dass solche Jetzt machen Sie auf einmal eine Wendung um Personen – ich habe nur einen Fall beschrieben – wieder 180 Grad, also eine Kehrtwendung. Das ist vielleicht in die Arbeitslosenstatistik aufgenommen werden. Sie eine Neuorientierung Ihrer Politik; aber glaubwürdig, sagen: Das sind Arbeitslose. meine Damen, meine Herren der Opposition, ist das in der Tat nicht. (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Ja, das ist wohl ganz sicher! – Johannes Singhammer (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ [CDU/CSU]: Ja, natürlich!) DIE GRÜNEN – Klaus Brandner [SPD]: Ven- tilatorprinzip: viel Wind machen, aber nichts Meine persönliche Auffassung ist, dass Sie diese Per- erreichen!) sonengruppe mit einer solchen Maßnahme auch in der Staatssekretär Andres hat gesagt – ich will das einmal Öffentlichkeit stigmatisieren. Sie stigmatisieren diese ein bisschen flapsig formulieren –: Die einen wollen eine Personen, die gerade aktiv geworden sind und auf einem große Zahl, die anderen wollen eine kleine Zahl. Ich guten Weg sind, ihre Probleme selbstständig zu lösen. denke, darauf kommt es im Prinzip nicht an. Wir alle Wenn Sie Menschen, die in solchen Beschäftigungsver- wissen: Hinter der Statistik stehen individuelle Schick- hältnissen tätig sind, fragen, ob sie sich als arbeitslos sale und Lebenssituationen. Genau deshalb ist so eine empfinden, dann werden Sie im psychologischen Be- Vergröberung und Vereinfachung der Statistik, wie Sie reich gewaltige Sperren feststellen. sie fordern, von der Sache her unsinnig und bringt über- Ich denke, wir müssen auch aus psychologischen haupt keine weiteren Erkenntnisse. Gründen – ich sage noch einmal, dass das weder ein Sowohl ältere Menschen, die dem Arbeitsmarkt viel- rechtliches noch ein politisches Argument ist, sondern (B) (D) leicht nicht mehr voll zur Verfügung stehen wollen, als ein sehr persönliches – bedenken, dass das Umsetzen Ih- auch junge Menschen, die gerade versuchen, zum Bei- rer Forderung Millionen von Menschen dauerhaft, also spiel durch eine Trainingsmaßnahme den Wiedereinstieg über eine lange Zeit, stigmatisiert und bei den Betroffe- in den regulären Arbeitsmarkt zu finden, haben ein Er- nen auch einen Demotivierungsprozess herbeiführt. Wir werbsproblem. Daher ist es wichtig, die entsprechenden sollten den Menschen eher sagen, dass sie auf einem gu- Arbeitsverhältnisse und die damit verbundenen Pro- ten Weg sind und dass sie sich anstrengen müssen. Das bleme differenziert zu betrachten. Darauf kommt es ist nach meiner Auffassung der richtige Weg. letztlich an. Da der Arbeitsmarkt komplex ist, brauchen Ich bin ein Anhänger unserer Statistik – bei allen wir unterschiedliche Modelle zur Lösung des Problems Mängeln, bei allen Kritikpunkten und bei allen Notwen- der Arbeitslosigkeit. Es hilft nichts, alles in einen Topf digkeiten, sie zu verbessern. Diese Einschätzung fußt im zu werfen, umzurühren und dann in die Welt hinauszu- Wesentlichen auf drei Aspekten: gehen und über die hohen Arbeitslosenzahlen zu klagen. Das führt uns in der Tat nicht weiter. Der erste Aspekt. Sie wissen, dass die Basis für un- sere Arbeitsmarktzahlen die Registerdateien sind. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Aber zu Diese Registerdateien werden jeden Monat mit Zahlen hoch sind sie, die Arbeitslosenzahlen!) aus den regionalen Arbeitsagenturen gefüllt. Das heißt, Übrigens, es ist auch international üblich – auch das wir bekommen relativ zeitnah die aktuellen Zahlen, die muss hier deutlich gesagt werden –, Personen, die an ei- zu einem realistischen Bild unserer Arbeitsmarktsitua- ner Fortbildung teilnehmen, für die Dauer dieser Maß- tion zusammengeführt werden. Das ist übrigens der Un- nahme aus der Statistik herauszunehmen. Sie müssen terschied zur Erhebungsstatistik, die auf Stichproben sich im Grunde genommen entscheiden, was Sie wollen: aufbaut und die ab 1. Januar für uns relevant wird. Wollen Sie Zahlen, die einen internationalen Vergleich Der zweite – positive – Aspekt ist die so genannte re- ermöglichen, oder wollen Sie Zahlen, die den Eindruck gionale Tiefe. Meine Damen und Herren, wenn Sie sich vermitteln, dass Deutschland im internationalen Ver- einmal die Statistiken anderer Länder anschauen, dann gleich möglichst schlecht abschneidet, weil im Grunde werden Sie feststellen, dass man dort nicht ermitteln genommen alle Gruppen völlig undifferenziert in die kann, wie die Arbeitslosigkeit zum Beispiel in einer klei- Statistik hineingepresst werden? neren Kommune aussieht. Das funktioniert nicht. Das Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen, der in ging auch bei uns bis in die 70er-Jahre nicht. Wir haben den bisherigen Reden nicht thematisiert wurde. Mir ist mit der Bundesagentur heftige Kämpfe ausgefochten, bis dieser Punkt wichtig, auch wenn er keinen rechtlichen das endlich auch technisch umgesetzt wurde. Nun ist es 11490 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Walter Hoffmann (Darmstadt) (A) möglich, die Daten von der Gemeindeebene über die 2002, 1444 (2002) vom 27. November 2002, (C) Kreisebene und die Landesebene – alle Regionen, bis 1510 (2003) vom 13. Oktober 2003 und 1563 auf die kleinste Einheit – nach Einzelaspekten zu erfas- (2004) vom 17. September 2004 des Sicher- sen. So können wir genaue Analysen durchführen und heitsrats der Vereinten Nationen genaue Aussagen treffen. – Drucksache 15/3710 – Der dritte Aspekt ist die enorme Dynamik des Ar- Überweisungsvorschlag: beitsmarkts. Die Zahlen verschleiern im Grunde in der Auswärtiger Ausschuss (f) Diskussion. Es gibt eine enorme Bewegung in diesen Rechtsausschuss Prozessen. Bei 5 Prozent Arbeitslosigkeit heute und Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe 5 Prozent Arbeitslosigkeit in drei Monaten – theoretisch Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und die gleiche Zahl – werden die Personen komplett ausge- Entwicklung wechselt sein. Diese Dynamik statistisch zu erfassen ist Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO sehr schwierig. Wenn Sie alles das in einen Topf werfen b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- und umrühren, kommt dabei nichts heraus. gebrachten Entwurfs eines Einundzwanzigsten Unser Ziel muss es sein, die vorhandenen Daten bes- Gesetzes zur Änderung des Bundesausbil- ser zu differenzieren. Die ILO-Statistik ab Januar gibt dungsförderungsgesetzes (21. BAföGÄndG) uns die Chance, Veränderungen von Erwerbsverhältnis- – Drucksache 15/3655 – sen endlich ein bisschen genauer zu erfassen. Das ist sehr schwierig. Deswegen ist die Ergänzung eine sinn- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und volle und richtige Sache. Technikfolgenabschätzung (f) Wir haben in den letzten Wochen, Monaten und Jah- Innenausschuss Finanzausschuss ren schon eine ganze Menge gemacht. Herr Niebel, noch Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ein Hinweis: Sie wissen – vielleicht haben Sie es aber Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auch übersehen –, dass seit dem Jahr 2003 für Eltern, die Kindergeld in Anspruch nehmen, eine Meldung bei der c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Bundesagentur ausreicht. Das kommt nicht mehr in die gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpas- Statistik hinein. Das haben wir im Jahr 2003 Gott sei sung von Verjährungsvorschriften an das Ge- Dank geändert. Es war viel zu umständlich und gab auch setz zur Modernisierung des Schuldrechts in der Sache ein völlig falsches Bild. – Drucksache 15/3653 – Wir haben eine ganze Reihe von Änderungen durch- Überweisungsvorschlag: (B) gezogen. Ich habe leider nicht mehr die Zeit, das alles Rechtsausschuss (D) hier darzustellen. Wir haben eine neue Statistik zur d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Teilzeitarbeit, zu Minijobs, zu sozialversicherungs- gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur freien Jobs usw. Wir können uns bei dieser Debatte si- Änderung des Transfusionsgesetzes und arz- cherlich auf die Aussage verständigen, dass nicht die neimittelrechtlicher Vorschriften Statistik das Entscheidende ist, sondern eine aktive, of- fensive Arbeitsmarktpolitik. Wir sind gerade mittendrin. – Drucksache 15/3593 – Dabei können Sie uns weiterhin helfen. Überweisungsvorschlag: Vielen Dank. Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset- DIE GRÜNEN) zung der Richtlinie 2002/87/EG des Europäi- schen Parlaments und des Rates vom Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: 16. Dezember 2002 (Finanzkonglomeratericht- Ich schließe die Aussprache. linie – Umsetzungsgesetz) Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf – Drucksache 15/3641 – Drucksache 15/3451 an die in der Tagesordnung aufge- Überweisungsvorschlag: führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Finanzausschuss verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 g sowie rung des Patentgesetzes und anderer Vor- die Zusatzpunkte 3 a bis 3 c auf: schriften des gewerblichen Rechtsschutzes 23 a) Beratung des Antrags der Bundesregierung – Drucksache 15/3658 – Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut- Überweisungsvorschlag: scher Streitkräfte an dem Einsatz einer Inter- Rechtsausschuss (f) nationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Afghanistan unter Führung der NATO auf Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Grundlage der Resolutionen 1386 (2001) vom Ausschuss für Bildung, Forschung und 20. Dezember 2001, 1413 (2002) vom 23. Mai Technikfolgenabschätzung Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11491

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) g) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil- Die Kollegin Petra Pau hat zu dem Antrag der Bun- (C) dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung desregierung zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffne- (17. Ausschuss) gemäß § 56 a der Geschäftsord- ter deutscher Streitkräfte in Afghanistan auf Drucksache nung 15/3710, für den eine Überweisung im vereinfachten Verfahren vorgesehen ist, gemäß § 80 Abs. 4 der Ge- Technikfolgenabschätzung schäftsordnung eine Aussprache beantragt, mittlerweile hier: Monitoring „Maßnahmen für eine nach- aber auf die Wortmeldung dazu verzichtet. haltige Energieversorgung im Bereich Mobili- tät“ (Petra Pau [fraktionslos]: Ich erhalte den Antrag aber aufrecht!) – Drucksache 15/851 – Überweisungsvorschlag: – Ja. Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ich lasse zunächst über den Antrag auf Aussprache Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit abstimmen. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Ausschuss für Bildung, Forschung und Wer enthält sich? – Dann ist der Antrag abgelehnt. Technikfolgenabschätzung Somit können die Vorlagen, wie interfraktionell vor- ZP 3a)Erste Beratung des von den Abgeordneten geschlagen, an die in der Tagesordnung aufgeführten Joachim Stünker, Hermann Bachmaier, Sabine Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie damit einver- Bätzing, weiteren Abgeordneten und der Fraktion standen? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisun- der SPD sowie den Abgeordneten Jerzy Montag, gen so beschlossen. Irmingard Schewe-Gerigk, Hans-Christian Ströbele, weiteren Abgeordneten und der Frak- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a und 24 c bis tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- 24 m sowie die Zusatzpunkte 4 a bis 4 c auf. Es handelt brachten Entwurfs eines Gesetzes über die sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen Rechtsbehelfe bei Verletzung des Anspruchs keine Aussprache vorgesehen ist. auf rechtliches Gehör (Anhörungsrügenge- setz) Tagesordnungspunkt 24 a: – Drucksache 15/3706 – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) eines Gesetzes zu dem Europäischen Überein- Innenausschuss kommen vom 19. August 1985 über Gewalttä- (B) Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung tigkeit und Fehlverhalten von Zuschauern bei (D) Sportveranstaltungen und insbesondere bei b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Fußballspielen Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Dirk Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, weiterer Abgeordne- – Drucksache 15/3354 – ter und der Fraktion der CDU/CSU (Erste Beratung 118. Sitzung) Radverkehr fördern – Fortschrittsbericht vor- legen Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- schusses (4. Ausschuss) – Drucksache 15/3708 – – Drucksache 15/3736 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Berichterstattung: Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss Abgeordnete Tobias Marhold Dorothee Mantel c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Günther Silke Stokar von Neuforn Friedrich Nolting, Dr. Werner Hoyer, Helga Gisela Piltz Daub, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Der Innenausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/3736, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die Mandat für Kabul und Kunduz/Faizabad dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erhe- trennen ben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz- – Drucksache 15/3712 – entwurf ist einstimmig angenommen. Überweisungsvorschlag: Tagesordnungspunkt 24 c: Auswärtiger Ausschuss (f) Rechtsausschuss Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Verteidigungsausschuss richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Wohnungswesen (14. Ausschuss) zu der Unter- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung richtung durch die Bundesregierung Haushaltsausschuss Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- Parlaments und des Rates über die Verwen- ten Verfahren ohne Debatte. dung von Frontschutzbügeln an Fahrzeugen 11492 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) und zur Änderung der Richtlinie 70/156/EWG wendung eines Abkommens in Form eines (C) des Rates Briefwechsels zwischen der Europäischen KOM (2003) 586 endg.; Ratsdok. 13693/03 Gemeinschaft und der Republik Kroatien über das vorläufige Punktesystem für Last- – Drucksachen 15/2028 Nr. 2.16, 15/3540 – kraftwagen im Transit durch Österreich Berichterstattung: Vorschlag für einen Beschluss des Rates Abgeordnete Heidi Wright über den Abschluss eines Abkommens in Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich- Form eines Briefwechsels zwischen der Eu- tung durch die Bundesregierung eine Entschließung an- ropäischen Gemeinschaft und der Republik zunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- Kroatien über das vorläufige Punktesystem lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be- für Lastkraftwagen im Transit durch Öster- schlussempfehlung ist einstimmig angenommen. reich Tagesordnungspunkt 24 d: KOM (2003) 833 endg.; Ratsdok. 5103/04 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- – zu der Unterrichtung durch die Bundesregie- richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und rung Wohnungswesen (14. Ausschuss) Vorschlag für einen Beschluss des Rates – zu der Unterrichtung durch die Bundesregie- über die Unterzeichnung und vorläufige An- rung wendung eines Abkommens in Form eines Vorschlag für einen Beschluss des Rates Briefwechsels zwischen der Europäischen über die Unterzeichnung und vorläufige An- Gemeinschaft und der ehemaligen Jugosla- wendung eines Abkommens in Form eines wischen Republik Mazedonien über das vor- Briefwechsels zwischen der Europäischen läufige Punktesystem für Lastkraftwagen im Gemeinschaft und der Republik Slowenien Transit durch Österreich über das vorläufige Punktesystem für Last- Vorschlag für einen Beschluss des Rates kraftwagen im Transit durch Österreich über den Abschluss eines Abkommens in vom 1. Januar 2004 bis zum 30. April 2004 Form eines Briefwechsels zwischen der Vorschlag für einen Beschluss des Rates Europäischen Gemeinschaft und der ehema- über den Abschluss eines Abkommens in ligen Jugoslawischen Republik Mazedonien Form eines Briefwechsels zwischen der Eu- über das vorläufige Punktesystem für Last- (B) ropäischen Gemeinschaft und der Republik kraftwagen im Transit durch Österreich (D) Slowenien über das vorläufige Punktesystem für Lastkraftwagen im Transit durch Öster- KOM (2003) 837 endg.; Ratsdok. 5104/04 reich vom 1. Januar 2004 bis zum 30. April – Drucksachen 15/2519 Nrn. 2.18, 2.19, 2.20, 2004 2.21, 15/3579 – KOM (2003) 835 endg.; Ratsdok. 5100/04 Berichterstattung: – zu der Unterrichtung durch die Bundesregie- Abgeordneter Georg Brunnhuber rung Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich- Vorschlag für einen Beschluss des Rates tung durch die Bundesregierung eine Entschließung an- über die Unterzeichnung und vorläufige An- zunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- wendung einer Verwaltungsvereinbarung in lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be- Form eines Briefwechsels zwischen der schlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Europäischen Gemeinschaft und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über das Tagesordnungspunkt 24 e: vorläufige Punktesystem für Lastkraftwa- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- gen im Transit durch Österreich richts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit Vorschlag für einen Beschluss des Rates (9. Ausschuss) zu der Verordnung der Bundes- über den Abschluss einer Verwaltungsver- regierung einbarung in Form eines Briefwechsels zwi- schen der Europäischen Gemeinschaft und Einhundertdritte Verordnung zur Änderung der Schweizerischen Eidgenossenschaft über der Ausfuhrliste – Anlage AL zur Außenwirt- das vorläufige Punktesystem für Lastkraft- schaftsverordnung – wagen im Transit durch Österreich – Drucksachen 15/3282, 15/3393 Nr. 2.1, 15/3733 – KOM (2003) 836 endg.; Ratsdok. 5102/04 Berichterstattung: – zu der Unterrichtung durch die Bundesregie- Abgeordneter Erich G. Fritz rung Der Ausschuss empfiehlt, die Aufhebung der Ver- Vorschlag für einen Beschluss des Rates ordnung nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese über die Unterzeichnung und vorläufige An- Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11493

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) gen? – Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- (C) angenommen. hält sich? – Sammelübersicht 141 ist ebenfalls einstim- mig angenommen. Tagesordnungspunkt 24 f: Tagesordnungspunkt 24 k: Beratung des Zweiten Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsord- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- nung (1. Ausschuss) zu den Überprüfungsver- ausschusses (2. Ausschuss) fahren nach § 44 b Abgeordnetengesetz (AbgG) Sammelübersicht 142 zu Petitionen (Überprüfung auf Tätigkeit oder politische Ver- – Drucksache 15/3689 – antwortung für das Ministerium für Staatssicher- Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- heit/Amt für Nationale Sicherheit der ehemaligen gen? – Sammelübersicht 142 ist bei Enthaltung der FDP- Deutschen Demokratischen Republik) Fraktion und Zustimmung aller anderen Fraktionen an- – Drucksache 15/3608 – genommen. Berichterstattung: Tagesordnungspunkt 24 l: Abgeordnete Erika Simm Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Ich gehe davon aus, dass Sie den Bericht zur Kenntnis ausschusses (2. Ausschuss) genommen haben. – Das ist der Fall. Sammelübersicht 143 zu Petitionen Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe- – Drucksache 15/3690 – titionsausschusses. Das sind die Tagesordnungspunkte 24 g bis 24 m. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- hält sich? – Sammelübersicht 143 ist mit den Stimmen Tagesordnungspunkt 24 g: der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/ Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- CSU- und FDP-Fraktion angenommen. ausschusses (2. Ausschuss) Tagesordnungspunkt 24 m: Sammelübersicht 138 zu Petitionen Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- – Drucksache 15/3685 – ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 144 zu Petitionen (B) Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- (D) hält sich? – Sammelübersicht 138 ist einstimmig ange- – Drucksache 15/3691 – nommen. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Tagesordnungspunkt 24 h: hält sich? – Sammelübersicht 144 ist mit den Stimmen Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- der Koalitionsfraktionen und der CDU/CSU-Fraktion ausschusses (2. Ausschuss) gegen die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen. Sammelübersicht 139 zu Petitionen Zusatzpunkt 4 a: – Drucksache 15/3686 – Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- derung des Fleischhygienegesetzes und der hält sich? – Sammelübersicht 139 ist ebenfalls einstim- Fleischhygiene-Verordnung mig angenommen. – Drucksache 15/2772 – Tagesordnungspunkt 24 i: (Erste Beratung 108. Sitzung) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- ausschusses (2. Ausschuss) ses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- Sammelübersicht 140 zu Petitionen wirtschaft (10. Ausschuss) – Drucksache 15/3687 – – Drucksache 15/3735 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Berichterstattung: hält sich? – Sammelübersicht 140 ist einstimmig ange- Abgeordnete Dr. Wilhelm Priesmeier nommen. Uda Carmen Freia Heller Friedrich Ostendorff Tagesordnungspunkt 24 j: Dr. Christel Happach-Kasan Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und ausschusses (2. Ausschuss) Landwirtschaft empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- Sammelübersicht 141 zu Petitionen lung auf Drucksache 15/3735, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die – Drucksache 15/3688 – dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen 11494 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) wollen, um ihr Handzeichen. – Gegenstimmen? – Ent- Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin beim (C) haltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung Bundesminister der Finanzen: mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fraktion bei Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion ange- Heute haben wir ein wirklich positives Zwischenergeb- nommen. nis zu vermelden. Dritte Beratung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU – und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das Pfeifen Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erhe- im Walde!) ben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz- entwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen Aufgrund der positiven konjunkturellen Entwicklung und der FDP-Fraktion bei Enthaltung der CDU/CSU- und zahlreicher Maßnahmen des Bundesgesetzgebers Fraktion angenommen. sind nämlich die Gewerbesteuereinnahmen im ersten Halbjahr im Verhältnis zum ersten Halbjahr des vergan- Zusatzpunkt 4 b: genen Jahres um brutto 12,8 Prozent bundesweit gestie- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des gen. Das sind im ersten Halbjahr 1,5 Milliarden Euro von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs mehr als im ersten Halbjahr des vorigen Jahres. eines Gesetzes zu dem Rahmenübereinkommen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der Weltgesundheitsorganisation vom 21. Mai DIE GRÜNEN – Dr. Uwe Küster [SPD]: Es 2003 zur Eindämmung des Tabakgebrauchs (Ge- hat sich gelohnt!) setz zu dem Tabakrahmenübereinkommen) Übrigens ist das Aufkommen in den alten Ländern – Drucksache 15/3353 – um 11,6 Prozent und das in den neuen Ländern – zuge- (Erste Beratung 118. Sitzung) gebenermaßen auf niedrigem Niveau – um 27 Prozent Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- gestiegen. Wir sehen also: Hier setzt sich der Aufholpro- ses für Gesundheit und Soziale Sicherung zess fort. Das kann man an dieser Stelle beobachten. (13. Ausschuss) (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Eine Märchen- – Drucksache 15/3734 – stunde ist das!) Berichterstattung: – Die Zahlen, Herr Kollege Seiffert, stimmen. Abgeordneter Jens Spahn (Lachen des Abg. Eckart von Klaeden [CDU/ CSU]) (B) Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (D) empfiehlt auf Drucksache 15/3734, den Gesetzentwurf Sie sind im Monatsbericht des Bundesfinanzministeriums anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent- nachzulesen, der am 20. September, also vor drei Tagen, wurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstim- veröffentlicht worden ist. Er ist Ihnen als Mitglied des men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit den Finanzausschusses sowie auch allen Kolleginnen und Stimmen der Koalitionsfraktionen und der CDU/CSU- Kollegen und der interessierten Öffentlichkeit zugänglich. Fraktion gegen die Stimmen der FDP-Fraktion ange- Sie werden die Zahlen nicht bestreiten können. nommen. Es kam also in den neuen Ländern zu einem Mehrauf- Zusatzpunkt 4 c: kommen von 27 Prozent und bundesweit von 12,8 Prozent und dies führte im ersten Halbjahr zu Mehreinnahmen von Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, 1,5 Milliarden Euro. Dies sind Bruttoeinnahmen; das hat der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE noch nichts mit der veränderten Gewerbesteuerumlage GRÜNEN und der FDP zu tun. Für eine parlamentarische Dimension im Sys- (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tem der Vereinten Nationen NEN]: Genau! – Bernd Scheelen [SPD]: Das – Drucksache 15/3711 – haben die aber noch nicht begriffen!) Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegenstim- – Es kann sein, dass sie das noch nicht begriffen haben. men? – Enthaltungen? – Der Antrag ist einstimmig an- Das werden wir dann gleich in den Erwiderungen hören. genommen. – Die Gewerbesteuerumlage wird ja in diesem Jahr zu- lasten des Bundes und der Länder und zugunsten der Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf: Kommunen in einer Größenordnung von 2,5 Milliar- Aktuelle Stunde den Euro gesenkt. auf Verlangen der Fraktionen der SPD und des (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Ach! Warum habt BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN ihr denn dann dreimal abgelehnt?) Positive Entwicklung des Gewerbesteuerauf- Das geschieht unabhängig von der konjunkturellen Ent- kommens bei den Kommunen wicklung und den übrigen gesetzlichen Maßnahmen. Deswegen ist dies daneben als positiv zu betrachten Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- nerin der Parlamentarischen Staatssekretärin Dr. Barbara (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Hendricks das Wort. NEN]: Sehr gut erklärt! Genau!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11495

Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks (A) und nicht mit der Verbesserung der Lage der Kommunen mal auf das einzugehen, was Sie, Herr Kollege Merz, (C) zu verwechseln, die wir aufgrund der positiven konjunk- sicherlich sagen werden. turellen Entwicklung und anderer gesetzlicher Maßnah- (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP) men der Bundesregierung im ersten Halbjahr beobachten können. Selbst Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Es ist ja zu erwarten, Herr Kollege Merz, dass Sie hier den Oppositionsparteien, werden wohl oder übel nicht wieder der Abschaffung der Gewerbesteuer das Wort re- vollständig die Augen davor verschließen können und den werden. beobachten müssen, (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Da haben Sie (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Wir sind ja nicht Recht!) blind!) – Es ist ja auch nicht schwierig, Ihre einfach strukturier- dass die Entwicklung positiv ist. ten Gedanken zu lesen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Die GRÜNEN – Dietrich Austermann [CDU/ Frage ist, was die Ursache dafür ist!) CSU]: Manche kommen noch nicht einmal mit ihren eigenen zurecht!) Wie Sie wissen, steigt also im nächsten Jahr und fort- laufend allein wegen der Absenkung der Gewerbesteuer- – Herr Kollege Austermann, das können Sie allerdings umlage zugunsten der Kommunen die Entlastung der für meine klar strukturierte Rede, die auf klar struktu- Kommunen auf 3 Milliarden Euro an. Dieses Jahr wer- rierten Gedanken beruht, nun wirklich nicht behaupten. den es 2,5 Milliarden Euro und ab dem Jahr 2005 (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem 3 Milliarden Euro sein. Dies ist für die Kommunen auf BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) jeden Fall gesichert. Oder wollten Sie das Gegenteil nachweisen? Darüber hinaus haben wir, wie Sie alle wissen, den Kommunen im Zusammenhang mit der Zusammenle- Herr Kollege Merz wird also sicherlich wiederum der gung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe mit festen Abschaffung der Gewerbesteuer das Wort reden. Diese Überprüfungsdaten – – ist ja wie so vieles andere auf dem CDU-Parteitag in Leipzig im November des vergangenen Jahres unter gro- (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Davon ßem Jubel beschlossen worden. ist aber noch nichts angekommen!) (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Sehen (B) – Davon kann auch noch nichts angekommen sein, weil (D) Sie, auch Sie können nicht lesen!) sich diese Aufgabe erst zum 1. Januar 2005 ändert. Wie von so vielem anderen wird sich die Union davon (Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ leise weinend, hinterrücks und heimlich verabschieden. DIE GRÜNEN) Im November des vergangenen Jahres war natürlich auf Herr Kollege Fromme, ich weiß aus Ihrem Lebenslauf, dem Leipziger Bundesparteitag der CDU eine große Ju- dass Sie einmal Kreisdirektor waren. Eigentlich müssten belfeier angesagt. Sie wissen, wie öffentliche Finanzströme fließen und (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Es ist dass man drei oder vier Monate im Vorhinein, bevor sich ein Ersatz beschlossen worden! Das ist ein Un- also die Aufgabe tatsächlich ändert, nämlich ab Januar, terschied!) keine Entlastung gewähren kann. Wenn sich dann der eine oder andere aus Ihren Reihen, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der hier oder da, etwa auf der kommunalen oder auf der DIE GRÜNEN) Länderebene, oder der, wenn er genau nachdenkt, auch Wie Sie wissen, haben wir den Kommunen Überprü- auf Bundesebene Verantwortung trägt, die Beschlüsse fungsdaten fest zugesagt; dies steht im Gesetz. Die Ent- im Einzelnen ansieht, stellt er fest, dass zu dem 100-Mil- lastung von 2,5 Milliarden Euro pro Jahr ist garantiert. liarden-Risiko, das schon von Ihrem Kollegen Horst Das heißt, schon im nächsten Jahr wird sich bei den Seehofer für die Politik der Union beziffert worden ist, Kommunen eine Entlastung von 5,5 Milliarden Euro er- noch die Abschaffung der Gewerbesteuer käme, wofür geben. Zusammen mit anderen Maßnahmen, die ich Ih- Sie überhaupt keinen Ausgleich geschaffen haben. Das nen schon nannte und die einen weiteren Aufwuchs der ist eine Größenordnung, die nach aktuellen Zahlen noch Mittel mit sich bringen, kann man ab dem Jahre 2007 im einmal etwa 25 Milliarden Euro – und dies wegen der Vergleich zum laufenden Jahr von einer Besserstellung guten konjunkturellen Entwicklung mit steigender Ten- der Gesamtheit der Kommunen in der Bundesrepublik denz – beträgt. Deutschland von 7 Milliarden Euro pro Jahr – und dies (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Nehmen Sie doch wiederkehrend – ausgehen. einmal unseren Antrag zur Kenntnis! Da steht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten alles drin!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Diese 100 Milliarden Euro, die Ihnen schon Ihr Kollege Herr Kollege Merz ist ja als nächster Redner ange- Seehofer vorausgesagt hat, werden also durch die Ab- kündigt worden. Deswegen erlaube ich mir, schon ein- schaffung der Gewerbesteuer noch einmal um etwa 11496 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks (A) 25 bis 27 Milliarden Euro erhöht werden. Sie sind also im Wahlkampf befindlichen Kommunalpolitikern der (C) ein Sicherheitsrisiko für den öffentlichen Gesamthaus- SPD in Nordrhein-Westfalen in den letzten Stunden halt. Das darf man wohl so sagen. noch etwas Zuversicht mit auf den Weg zu geben. Ich würde mich freuen, wenn es uns gelingen würde – und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ das wird uns gelingen –, deutlich zu machen, dass dies DIE GRÜNEN) ein untauglicher Versuch ist. Nun werden Sie, Herr Kollege Merz, sicherlich sagen, dass Sie die Gewerbesteuer nicht ersatzlos streichen Lassen Sie uns zunächst einmal über das Gewerbe- wollen. Ich kann mir vorstellen, dass Sie auf diese Idee steueraufkommen sprechen. Dies war ja wohl der Grund, kommen. weshalb Sie diese Aktuelle Stunde beantragt haben. Sie haben die Höhe des Gewerbesteueraufkommens in Ver- (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: bindung gebracht mit einem wirtschaftlichen Wachstum, Genauso ist es!) das außergewöhnlich hoch ausfällt. Dann werden Sie aber auch klar sagen müssen, wer statt- Wenn man sich das Gewerbesteueraufkommen ein- dessen die Steuerlast in Höhe von 25 Milliarden Euro mal genau ansieht, so sieht man, Frau Hendricks, dass pro Jahr zu tragen hat, auf welche Schultern Sie das zu- das in diesen Monaten des Jahres 2004 zusätzlich entste- künftig verteilen wollen. Darauf sind Sie bisher jede hende Gewerbesteueraufkommen im Wesentlichen auf Antwort schuldig geblieben. Das werden Ihnen die Bür- den Steuererhöhungen der Jahre 2002 und 2003 beruht. gerinnen und Bürger nicht durchgehen lassen. Auch das Dass Sie sich hier dieser Steuererhöhungen rühmen, wird von Ihnen vor der Bundestagswahl hoffentlich noch spricht für Sie. Es fällt aber auf Sie zurück; denn diejeni- klargestellt werden; denn im Schlafwagen kommt man gen, die davon betroffen sind, werden wissen, worauf bekanntlich nicht an die Macht. dies zurückzuführen ist: auf die Entscheidungen der rot- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ grünen Bundesregierung. Es sind Ihre Steuererhöhun- DIE GRÜNEN) gen. All die Risiken, die in Ihrer unausgegorenen und in Ich kann Ihnen die Gründe für die Höhe des Gewer- sich nicht abgestimmten Politik offenbar werden, wer- besteueraufkommens auch etwas detaillierter darstellen: den durch die Abschaffung der Gewerbesteuer noch po- Mindestbesteuerung auch in der Gewerbesteuer, der Ver- tenziert. Deswegen kann ich die Menschen nur davor lustabzug, der auch bei der Gewerbesteuer begrenzt wor- warnen, sich von so genannten Einfachsteuerkonzepten den ist, die Gesellschafterfremdfinanzierung, die auf die und der Abschaffung ganzer Steuerarten blenden zu las- Gewerbesteuer durchschlägt, der Mindesthebesatz, den (B) sen. Sie haben keine Lösung dafür, was Sie an die Stelle Sie bei der Gewerbesteuer faktisch eingeführt haben, die (D) der Gewerbesteuer setzen, und wenn Sie eine Lösung Drohverlustrückstellungen – wir haben lange darüber haben, dann sind Sie nicht bereit, sie im Vorhinein zu gestritten, ob dies richtig oder falsch war; das spiegelt nennen, weil damit offenbar würde, dass Sie die Belas- sich jetzt in Steuererhöhungen wider –, die Teilwertab- tungen auf die Bürgerinnen und Bürger verschieben wol- schreibungen, die Sie reduziert haben, und nicht zuletzt len, möglicherweise über eine Erhöhung der Mehrwert- die Nachzahlungen aus den Jahren 2001 und 2002. Das steuer, was Sie hier und da schon einmal andeuten. Die alles steckt in den Gewerbesteuereinnahmen des Jahres Bürgerinnen und Bürger werden Ihnen diese Politik, von 2004. Mit Wirtschaftswachstum und mehr Beschäfti- der Sie denken, sie über die nächsten zwei Jahre durch- gung haben sie – Entschuldigung, Frau Hendricks! – re- halten zu können, und von der Sie vielleicht sogar erwar- lativ wenig, wenn nicht sogar kaum etwas zu tun. Sie ten, damit mehrheitsfähig sein zu können, nicht durchge- wissen auch, dass das so ist. hen lassen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sie haben die Gelegenheit genutzt, noch einmal ein DIE GRÜNEN – Jochen-Konrad Fromme flammendes Plädoyer für die Beibehaltung der Gewer- [CDU/CSU]: Das sagt eine Volkspartei mit un- besteuer abzugeben. Gleichzeitig höre ich – das scheint ter 10 Prozent!) die Abwesenheit des Ministers zu erklären –, dass Ihr Minister und Herr Poß sich jetzt endlich an die Arbeit machen, ein Konzept zur Steuervereinfachung auf den Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Weg zu bringen – man kann nur hoffen, dass Ihnen das Das Wort hat jetzt der Kollege Friedrich Merz von der irgendwann gelingt –, denn Sie wollen die Diskussion CDU/CSU-Fraktion. darüber – so lese ich es jedenfalls in den Zeitungen – (Beifall bei der CDU/CSU) nicht allein der Union überlassen. Nehmen Sie einmal Folgendes zur Kenntnis: Wir ha- Friedrich Merz (CDU/CSU): ben ein umfassendes Konzept zur wirklich durchgreifen- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- den Vereinfachung unseres gesamten Ertragsteuersys- ren! Wir haben uns gestern gefragt, warum die SPD aus- tems entwickelt. gerechnet für heute diese Aktuelle Stunde beantragt hat. Im Verlaufe Ihrer Rede, Frau Kollegin Hendricks, wurde (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: In deutlich, dass es der letzte Versuch zu sein scheint, den Rheinland-Pfalz!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11497

Friedrich Merz (A) Dazu gehört auch eine grundlegende Reform bezüglich land ein besseres Steuersystem zu etablieren, dann wer- (C) der Kommunalfinanzen. Das wissen Sie; sonst würden den wir das nur mit einer Integration der Gemeindesteu- Sie nicht vor sich hin lächeln, Frau Staatssekretärin. ern in das Ertragsteuersystem erreichen können, dann Ohne die Integration der Gewerbesteuer in das Ertrag- müssen die Städte und Gemeinden in Deutschland mehr steuersystem können Sie den Anspruch einer grundle- als heute an der Einkommen- und an der Körperschaft- genden Vereinfachung unseres Systems nicht realisieren. steuer beteiligt werden, dann müssen sie sicher sein kön- nen, als Kommunen dauerhaft an der Umsatzsteuer teil- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zuhaben. Daraus wird dann ein Konzept, daraus wird ein Wer umgekehrt auf Beibehaltung der Gewerbesteuer Schuh und daraus wird auch mehr als nur vordergründi- in ihrer heutigen Ausprägung besteht, der muss dann ges Wahlkampfgeplänkel, wie wir es gegenwärtig erle- auch sagen, dass eine wirklich grundlegende Vereinfa- ben. chung des Steuersystems nicht möglich ist; um diesen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sachverhalt geht es. Wenn Sie heute so sehr darauf bedacht sind, die Ein- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nahmeseite für die Kommunen zu sichern, dann sage ich Das Wort hat jetzt die Kollegin Kerstin Andreae vom Ihnen: Dafür haben Sie unsere Zustimmung und uns auf Bündnis 90/Die Grünen. Ihrer Seite. Die Städte und Gemeinden in Deutschland brauchen eine sichere finanzielle Grundlage für die Er- Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): füllung der Aufgaben, die ihnen der Landesgesetzgeber Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr und in noch stärkerem Maße der Bundesgesetzgeber auf- Merz, ich danke Ihnen, dass Sie noch einmal dargestellt erlegt. Es ist unstreitig, dass die Städte und Gemeinden haben, wie sich diese 1,5 Milliarden Euro aus Ihrer Sicht in Deutschland eine solche finanzielle Grundlage brau- zusammensetzen und dass sie mit der Senkung der Ge- chen. Sie brauchen sie dauerhaft; sie müssen sich darauf werbesteuerumlage erst einmal nichts zu tun haben. verlassen können, dass das, was der Bundesgesetzgeber macht und entscheidet, von Dauer ist. Vor allen Dingen Ich zitiere aus einer Pressemitteilung, die heute von müssen sie vor der Übertragung ständig neuer, zusätzli- der CDU herausgegeben worden ist: cher Aufgaben sicher sein, die sie nicht finanzieren kön- Der Zuwachs an Gewerbesteuer in diesem Jahr ist nen. Diesem Anspruch ist die rot-grüne Bundesregie- im Wesentlichen in der von der Union durchgesetz- rung bis zum heutigen Tage nie gerecht geworden. ten Rücknahme der Gewerbesteuerumlage begrün- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) det. (B) Ein zweiter Punkt: Frau Hendricks, Sie wissen – Sie (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Sehr gut!) (D) sind viel vernünftiger, wenn man mit Ihnen mal im Aus- Das ist grundlegend falsch. Tatsache ist, dass die Gewer- schuss oder unter vier Augen redet, als Sie sich heute besteuer Mehreinnahmen von 1,5 Milliarden Euro im Mittag hier dargestellt haben; ersten Halbjahr 2004 gebracht hat. Die Umlage wird am (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Ehrlich?) Schluss abgerechnet. Das Ergebnis des ersten Halbjahres 2004 lautet: plus jedenfalls sagen mir das meine Kolleginnen und Kolle- 1,5 Milliarden Euro bei der Gewerbesteuer. Davon blei- gen, die mehr mit Ihnen zu tun haben als ich; ob das ein ben den Kommunen 80 Prozent statt 70 Prozent. Durch- Vorteil ist, sei dahingestellt –, dass die Gewerbesteuer in gesetzt hat dies Rot-Grün – wenn auch in Zusammenar- Deutschland im internationalen Kontext keine Zukunft beit mit der Union; das sei jederzeit eingeräumt – und es hat. Wenn wir uns daran begeben, die steuerliche Bemes- ist falsch zu sagen, diese 1,5 Milliarden Euro hätten ir- sungsgrundlage in den Mitgliedstaaten der Europäischen gendetwas mit der Gewerbesteuerumlage zu tun. Union zu vereinheitlichen, wenn wir uns daran begeben, eine wettbewerbsfähige Einkommensteuer, ein wettbe- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werbsfähiges Unternehmensteuerrecht in Deutschland so und bei der SPD) zu konzipieren, dass dies nicht nur bei der Höhe der Sätze, sondern auch in der Ausgestaltung des Systems Die Senkung der Gewerbesteuerumlage ist Teil eines wettbewerbsfähig und mit dem in anderen Staaten der Programms für die finanzielle Stärkung der Kommunen; Europäischen Union vergleichbar ist, dann hat die Ge- ein anderer Teil ist Hartz IV, das 2004 noch nicht greifen werbesteuer gegenwärtigen Zuschnitts in Deutschland kann, aber 2005 greifen wird. Von Hartz IV erwarten wir keine Zukunft. Sie wissen, dass das so ist. Entlastungswirkungen bei den Kommunen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro. Wenn die Union nun behauptet, sie Noch einmal: Unstreitig ist, dass an die Stelle der Ge- habe diese 2,5 Milliarden Euro bei Hartz IV durchge- werbesteuer in ihrer heutigen Form eine Beteiligung der setzt, so ist auch das falsch. Gemeinden an den Ertragsteuern treten muss und dass (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Natür- auch eine Beteiligung der Gemeinden an der Umsatz- lich!) steuer erforderlich ist. Dazu kann man nun an verschie- denen Stellschrauben drehen; man kann verschiedene – Rot-Grün hat von Anfang an gesagt: Entlastung für die Varianten und Variablen in das System einbauen. Des- Kommunen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro. Das haben wegen sage ich Ihnen noch einmal: Wenn Sie und wir in wir durchgesetzt, weil für uns die finanzielle Entlastung einen Wettbewerb eintreten mit dem Ziel, für Deutsch- der Kommunen an erster Stelle stand. 11498 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Kerstin Andreae (A) Vor allem haben wir eine Revisionsklausel durchge- der Gewerbesteuer angeht. Aber es lag nicht an uns, dass (C) setzt, also eine Klausel, nach der die Kommunen Spitz es so gekommen ist, sondern an der Union, die im Ver- auf Knopf abrechnen und sagen können, ob das Geld mittlungsverfahren nicht bereit war, die Gewerbesteuer reicht oder nicht reicht, und nach der erforderlichenfalls grundlegend zu modernisieren. nachgeschossen wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Steffen Kampeter [CDU/ und bei der SPD – Jochen-Konrad Fromme CSU]: Es liegt immer an den anderen! Haltet [CDU/CSU]: Wo steht das im Bundeshaus- den Dieb!) halt?) Mein letzter Punkt ist auch hier wieder ein Appell. Also: Das, was derzeit in manchen Bundesländern Als Nächstes wird der Subventionsabbau anstehen, um passiert, ist unvereinbar mit der Aussage, man wolle die die Kommunen finanziell zu stärken. Natürlich wissen Kommunen stärken. In Baden-Württemberg wird in die- alle, dass ein konsequenter Subventionsabbau am Ende sem Jahr eine Mehreinnahme bei der Gewerbesteuer von auch auf die Kommunen durchgreift. Auch hier muss ich grob gerechnet 320 Millionen Euro prognostiziert. Was wieder sagen: Beim Subventionsabbau wirkt das Sankt- macht Ministerpräsident Teufel? Er kürzt den Kommu- Florians-Prinzip perfekt: Oh, heiliger Sankt Florian, ver- nen Zuschüsse in einer Größenordnung von 132 Millio- schon mein Haus, zünd andere an! Wo es um die eigenen nen Euro. Dies hat nicht direkt etwas mit Hartz IV zu Subventionen geht, wird nichts durchgesetzt. tun; aber indirekt hat es natürlich etwas damit zu tun, (Zuruf von der CDU/CSU: Meinen Sie die wenn man im Vermittlungsverfahren sagt, man gebe das Kohle?) Geld weiter, und dann an anderer Stelle kürzt. Geld ist Geld! Hier handelt es sich um ein unsägliches Verhalten Ich appelliere daher an Sie, mit uns zusammen einen der Bundesländer. konsequenten Subventionsabbau durchzusetzen. Das stärkt auch die Kommunen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Vielen Dank. Es verstößt gegen die Vereinbarungen, die im Ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mittlungsausschuss getroffen wurden. Es ist genau das und bei der SPD) eingetreten, was die Kommunen meinten, als sie darauf hinwiesen, sie hätten Angst vor der Politik der klebrigen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Finger der Länder. Nach einer Pressemitteilung von Das Wort hat jetzt der Kollege Professor Andreas heute kürzt Thüringen Zuweisungen um 35 Millio- (B) Pinkwart von der FDP-Fraktion. (D) nen Euro. So ist nicht gewettet worden; das ist ein Un- ding! Ich kann nur an Sie appellieren, an Ihre Landesre- Dr. Andreas Pinkwart (FDP): gierungen heranzutreten und sie daran zu erinnern, dass etwas anderes ausgemacht war: Wir wollten die Kom- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und munen finanziell unterstützen und stärken. Stellen Sie Herren! Wenn wir über die Verbesserung der Gewerbe- sich aufrecht hin und setzen Sie das durch, was im Ver- steuereinnahmen für die Kommunen sprechen, dann ha- mittlungsverfahren vereinbart wurde. ben wir es mit drei Wirkungsbeziehungen zu tun, denen ich hier nachgehen werde. Die Revisionsklausel ist eingeführt worden, um klar- zumachen, dass wir den Kommunen die finanzielle Ent- Die erste Wirkungsbeziehung besteht in der Absen- kung der Gewerbesteuerumlage. Dadurch erhöhen sich lastung wirklich verschaffen werden. Nun steigt die Ge- werbesteuer. Im Gesetzentwurf war im Übrigen davon die Nettogewerbesteuereinnahmen der Kommunen. Das die Rede, dass bei den Kommunen Gewerbesteuer- ist gut so. einnahmen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro zusätzlich Ich halte hier aber fest – das ist mir wichtig, zumal verblieben. Nimmt man von den 1,5 Milliarden Euro wir es auch in Form einer namentlichen Abstimmung 80 Prozent, dann ist man zur Jahresmitte fast exakt bei dokumentiert haben –, dass sich die Fraktionen von SPD der prognostizierten Wirkung der Gewerbesteuer, näm- und Grünen im vergangenen Jahr einer Hilfe verweigert lich bei 1,25 Milliarden Euro. Was also die prognosti- haben, als das Defizit der Kommunen mit zierten finanziellen Wirkungen für die Kommunen an- 8,4 Milliarden Euro am höchsten lag, in einer Zeit der geht, bringen die Gesetze im steuerlichen Bereich das, tiefsten Depression für die Kommunen in Deutschland. was wir gesagt haben: Die Kommunen werden entlastet. Ich will nur erinnern: Noch 1998 haben Sie einen Finan- Auch bei Hartz IV bringt es die Entlastung, von der wir zierungssaldo von plus 2,1 Milliarden Euro vorgefun- gesprochen haben. den. Im vergangenen Jahr gab es zwei Abstimmungen in diesem Hause zu diesem Thema. Anfang des Jahres, als (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Da ist es um einen Antrag der CDU/CSU-Fraktion ging, hieß von Ihrem Konzept aber nicht viel übrig ge- es noch, man könne hier viel fordern, wenn der Bundes- blieben!) rat dem nicht zustimme, mache es auch keinen Sinn, dies – Natürlich hätten wir gern ein besseres Konzept bei der vonseiten der Regierung zu unterstützen. Aber dann kam Gemeindefinanzreform gehabt. Natürlich wären wir lie- zu einem Zeitpunkt, als in den Kommunen die Not am ber weiter in die Richtung der Vorschläge der kommuna- größten war – und dies war auch für Sie erkennbar –, len Spitzenverbände gegangen, was die Ausgestaltung eine Bundesratsinitiative, die zum Gegenstand hatte, die Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11499

Dr. Andreas Pinkwart (A) Gewerbesteuerumlage abzusenken. Über den entspre- ist. Ein solches Steuerrecht käme gerade den kleinen Be- (C) chenden Antrag wurde hier namentlich abgestimmt. Die trieben zugute, den Existenzgründern, denjenigen, die Abgeordneten von SPD und Grünen haben dagegen ge- einsteigen wollen, die jungen Menschen einen Ausbil- stimmt. Wir müssen also festhalten: Als Sie im vergan- dungsplatz oder einen Arbeitsplatz anbieten wollen. genen Jahr die Kommunen um über 2 Milliarden Euro Der uns vorliegende Sachverstand besagt, dass wir entlasten konnten, haben Sie nicht geholfen. Heute wol- unsere Ziele mit diesem Relikt aus früheren Tagen nicht len Sie sich mit fremden Federn schmücken. werden erreichen können. Wir müssen die Gewerbe- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – steuer ersetzen. Die FDP hat dazu ein ganz klares Kon- Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Sehr zept vorgelegt, ein Zwei-Säulen-Konzept, gut!) (Horst Schild [SPD]: Ein untaugliches! Mit Der zweite Punkt betrifft die Konjunktur. Natürlich offenen Fragen!) spielt auch die Konjunktur mit hinein. Das wollen wir das die kommunalen Einnahmen konjunkturunabhängi- gar nicht in Abrede stellen. Es ist auch gut, dass es we- ger machen würde, das Verhältnis zwischen Wirtschaft nigstens ein kleines bisschen wieder bergauf geht. Das und Kommune und das zwischen Bürger und Kommune ist vor dem Hintergrund von 4,3 Millionen offiziell aus- wieder auf eine vernünftige Grundlage stellen würde und gewiesenen Arbeitssuchenden dringend notwendig. Wir das es erlauben würde, dass wir in diesem Saal nicht per- meinen, das ist noch viel zu wenig an Dynamik. Wenn manent über Steuervereinfachung nur reden, sondern sich das in wie aus einem tiefen Tal kommenden, stei- dass dies in Deutschland endlich auch Wirklichkeit wird. genden Einnahmen auch in diesem Bereich widerspie- gelt, kann uns das alle nur freuen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Nur, meine sehr verehrten Damen und Herren – Herr Merz hat es angesprochen –, die Wahl des Zeitpunkts für Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: diese Aktuelle Stunde hat ja möglicherweise auch etwas Das Wort hat der Kollege Bernd Scheelen von der mit dem kommenden Sonntag zu tun. Wenn Sie höhere SPD-Fraktion. Kommunaleinnahmen auf das Wachstum zurückführen, müssen Sie sich auch mit den Zahlen konkret auseinan- Bernd Scheelen (SPD): der setzen. Sie sagen, dass die Gewerbesteuereinnahmen Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- im Bundesdurchschnitt um über 12 Prozent angestiegen ren! Herr Kollege Pinkwart, wenn man Zahlen vorträgt, sind. Wir wollen uns doch einmal anschauen, wie sie dann sollte man sie auch vollständig vortragen. Sie ha- sich in den einzelnen Bundesländern entwickeln. Wenn ben sich die Länder ausgesucht, die Ihnen gerade passen. (B) wir daraus Wachstumsdynamik ableiten, freue ich mich, Ich nenne Ihnen auch noch einige andere. (D) hier für die FDP-Fraktion feststellen zu können: Sach- sen-Anhalt plus 49,8 Prozent, Niedersachsen plus (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Rot-Grün re- 25,6 Prozent, Rheinland-Pfalz plus 24,1 Prozent, Baden- giert nur noch in Nordrhein-Westfalen und Württemberg plus 22,7 Prozent. Diese Länder liegen Schleswig-Holstein!) also ganz erheblich über dem Durchschnitt. Wenn Sie daraus, wie das Gewerbesteueraufkommen in den einzelnen Ländern wächst, Rückschlüsse hinsicht- Jetzt kommen wir zu Nordrhein-Westfalen, wo Rot lich Ihrer Regierungsbeteiligung ziehen, dann heißt das, und Grün seit neun Jahren in der Verantwortung sind. dass Sie meinen, dass Sie dort eine gute Wirtschaftspoli- Hier haben Sie eine ganz extrem unterdurchschnittliche tik gemacht haben. Das widerspricht dem, was der Kol- Entwicklung mit einem Zuwachs von gerade einmal lege Merz vorhin vorgetragen hat. 5,6 Prozent. In Schleswig-Holstein haben sich die Ge- werbesteuereinnahmen sogar negativ entwickelt, in ei- (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Ich habe mich nem Land, in dem Sie seit Jahren Verantwortung tragen. auf die Staatssekretärin bezogen! Auf ihre Das ist doch die Bilanz Ihrer Wachstumspolitik. Ausführungen!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Er hat nämlich gesagt, mit Wirtschaftswachstum und gu- ter Wirtschaftspolitik habe das gar nichts zu tun. Aber in Lassen Sie mich einen dritten Wirkungsfaktor anfüh- dem Punkt stimme ich Ihnen ja zu: Es hat mit der guten ren. Wenn wir zu nachhaltigem Wachstum kommen wol- Wirtschaftspolitik des Bundes zu tun; deswegen haben len – und das sollte unser Interesse sein –, dann müssen wir die guten Zahlen. wir ein Steuerrecht schaffen, das es den Unternehmen auch erlaubt, ihren Beitrag für Wachstum und Beschäfti- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gung tatsächlich leisten zu können. Das heißt, wir müssen DIE GRÜNEN) die Unternehmen von einer Steuer befreien, die sich Ich nenne einige Länderregierungen, an denen Sie nachweislich – auch, weil international unbekannt – wett- nicht beteiligt sind, und die entsprechenden Wachstums- bewerbsverzerrend auswirkt. Diese Steuer schwächt den raten: Berlin-West plus 11,2 Prozent – auch nicht übel –, Standort, statt ihn zu stärken, und ist darüber hinaus ein Bremen plus 31,3 Prozent. Bremen ist fast Spitzenreiter. zentraler Hinderungsfaktor bei unserem Bestreben – auch alle wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute in (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Da sind wir diesem Land empfehlen das dringend –, endlich zu einem gemeinsam beteiligt! Da gibt es einen christ- Steuerrecht zu kommen, das einfach, niedrig und gerecht demokratischen Finanzsenator!) 11500 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Bernd Scheelen (A) Jetzt nenne ich Ihnen die Zahlen für zwei ausschließlich Herr Professor Pinkwart, Sie haben darauf hingewie- (C) von der CDU regierte Länder. Fangen wir einmal mit sen, dass wir dieses Modell zweimal abgelehnt haben. Hessen an, dem hoch gelobten Hessen: plus 1,9 Prozent. Das haben wir aus voller Überzeugung getan, weil es nur Das ist außergewöhnlich schwach und weit unterdurch- die zweitbeste Lösung ist. Die beste Lösung haben wir schnittlich. Der gerade wiedergewählte Peter Müller hat Ihnen vorgelegt, aber Sie wollten uns nicht zustimmen. minus 0,1 Prozent zu verzeichnen. Also hören Sie auf, Um das Entlastungsvolumen für die Gemeinden zu er- hier Rosinenpickerei bei den Zahlen zu betreiben und zielen, mussten wir uns im Vermittlungsausschuss daraus etwas abzuleiten. Insgesamt gilt: Wir haben eine zwangsweise mit Ihnen auf die Absenkung der Gewer- Steigerung bei den Gemeindefinanzen und insbesondere besteuerumlage einigen. bei der Gewerbesteuer festzustellen. Es geht mit den Ge- meindefinanzen aufwärts und das ist gut so. (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Gelitten haben darunter die Kommunen! Das ist falsch!) (Beifall bei der SPD) Aber das Entlastungsvolumen in Höhe von Besonders interessant ist die Dynamik dieser Ent- 2,5 Milliarden Euro hat sehr unsystematische Konse- wicklung: Zwar verlief bereits das erste Quartal dieses quenzen: Dadurch werden die Kommunen mit einer star- Jahres sehr gut, das zweite war aber fast doppelt so gut. ken Wirtschaftskraft begünstigt und diejenigen benach- Im ersten Quartal betrugen die Mehreinnahmen bundes- teiligt, die sich in strukturschwachen Gebieten befinden. weit etwa 8,4 Prozent, im zweiten Quartal 16,7 Prozent. Unsere Lösung wäre deutlich besser gewesen und hätte Es wäre schön, wenn sich diese Entwicklung fortsetzen in allen Kommunen zu sehr stabilen Einnahmen geführt. würde. Selbst der Deutsche Städtetag, der mit seinen Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Die Einbeziehung der Schätzungen vorsichtig ist, geht davon aus, dass am Jah- Freiberufler und Selbstständigen in die Gewerbesteuer- resende Mehreinnahmen aus der Gewerbesteuer in Höhe pflicht hätte deutlich mehr Stabilität in das Gewerbesteu- von etwa 9 bis 10 Prozent zu verzeichnen sein werden, eraufkommen gebracht. Dieses Vorhaben haben Sie ab- was etwa 26 Milliarden Euro entspricht. Dann hätten wir gelehnt, obwohl Sie wussten, dass mit der Einbeziehung fast wieder das Niveau des Jahres 2000 erreicht, in dem der Freiberufler und Selbstständigen für diese Personen- es die höchsten Gewerbesteuereinnahmen gab, die in kreise keine zusätzlichen Belastungen verbunden gewe- dieser Republik jemals zu verzeichnen waren. Daran sen wären. zeigt sich, dass wir mit unseren Reformvorhaben auf dem richtigen Wege sind. (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Dann kann man es auch sein lassen!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Denn Sie wissen, dass gleichzeitig eine Regelung einge- (B) führt worden wäre, die für Personengesellschaften heute (D) An den Kollegen Merz gerichtet möchte ich sagen: bereits im Gewerbesteuerrecht gilt: Wir sind stolz darauf, dass wir die Gewerbesteuer vor Ih- nen gerettet haben. (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Ja, mehr Büro- kratie!) (Zurufe von der SPD: Ja! – Genau!) dass die Gewerbesteuer mit der Einkommensteuer ver- Ihre CDU-Oberbürgermeister, -Bürgermeister und -Land- rechnet werden kann. räte (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Gute Leute des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sind das!) Dieses System hätte dazu geführt, dass wir Einnah- danken uns auf den Knien, dass wir das getan haben. men aus der Einkommensteuer in den Bereich der Ge- werbesteuer hätten verschieben können. Das hätte für (Widerspruch bei der CDU/CSU – Steffen die Gemeinden den Vorteil gehabt, dass sie diese Ein- Kampeter [CDU/CSU]: Aber eines garantiere nahmen in bestimmten Bandbreiten auch selbst hätten ich Ihnen: Sie gehen nicht vor Ihnen auf die beeinflussen können. Bei der Einkommensteuer können Knie!) sie dies nicht, Denn sie trauen Ihrem Konzept, dem Konzept der CDU/ (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Bei unserem CSU, überhaupt nicht. Ich erinnere nur an die geplante Konzept können sie das auch!) Demonstration in Bayern. Letztendlich ist sie zwar aus anderen Gründen abgesagt worden. Aber die Oberbür- aber bei der Gewerbesteuer können sie ihre eigene Fi- germeister in Bayern hatten vor, nach München zu mar- nanzsituation über die Absenkung bzw. Anhebung der schieren und vor der Staatskanzlei für das Kommunal- Hebesätze beeinflussen. Das wäre ein deutlicher Vorteil modell zu demonstrieren, das Rot-Grün Ihnen vorgelegt unseres Reformvorschlages gewesen, hat, das wir beschlossen haben und durch das die Ge- (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Wir haben ja meindefinanzen wirklich nachhaltig stabilisiert worden auch einen vorgelegt!) wären. dem Sie leider nicht gefolgt sind. (Zuruf von der CDU/CSU: Das die Wirtschaft abgewürgt und unter dem Strich zu noch weni- (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Sie unserem ja ger Einnahmen geführt hätte!) auch nicht!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11501

Bernd Scheelen (A) Die aus der Absenkung der Umlage resultierenden Das ist das Verdienst der Oppositionsparteien; ich rechne (C) Einnahmen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro sind zuge- Ihnen das gleich vor. sagt und werden dieses Jahr erzielt. Hinzu kommt, dass Falsch ist die Feststellung, dass es den Gemeinden aufgrund der besseren Gewinnerwartungen der Unter- besser geht. Ich arbeite im Allgemeinen nicht mit Tabel- nehmen höhere Vorauszahlungen fällig werden, Herr len, Grafiken und Ähnlichem, vor allem nicht hier im Götz. Das sage ich, um auf das zurückzukommen, was Plenum, weil man die so schlecht ins Protokoll überneh- die Kollegin Kerstin Andreae von Ihnen zitiert hat. Denn men kann. Deswegen will ich Ihnen zu dem, was ich an diese Mehreinnahmen haben mit der Absenkung der Ge- der Zeichnung zeige, auch die entsprechenden Zahlen werbesteuerumlage nichts zu tun. Es ist so: Die Gewer- nennen. Sie können aus dieser Grafik die Entwicklung besteuereinnahmen haben ein gewisses Volumen. Davon der Finanzdefizite unserer Städte und Gemeinden seit wird ein bestimmter Prozentsatz auf die Länder und den 1998 ersehen. 1998 hatten die Gemeinden Überschüsse Bund umgelegt. Dieser Prozentsatz ist aber unabhängig von 2,5 Milliarden Euro. Das hat sich noch ein bisschen davon, ob die Einnahmen 20, 30 oder 100 Milliarden fortgesetzt bis zum Jahre 2000. Dann ist das Ganze he- Euro betragen, immer gleich. Wenn die Einnahmen stei- runtergegangen. gen, kommt allerdings tatsächlich mehr Geld in den kommunalen Kassen an. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Dieses Seminar brauchen wir nicht! Meine Redezeit ist gleich leider vorbei. Die Tabelle erkennen wir!) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das Leben ist gerecht! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Wir liegen jetzt, im Jahre 2004, nach Schätzung der Gott sei Dank!) Kommunalverbände bei einem Minus von 8,5 Mil- liarden Euro. Die Differenz zwischen diesem Minus von Zum Schluss möchte ich noch sagen: Ihr Modell wird 8,5 Milliarden Euro und dem Plus von 2,5 Milliar- mit uns keine Zukunft haben. Wir werden Ihrem Modell den Euro kann sich jeder ausrechnen. Jetzt unterstelle niemals zustimmen, weil es verschiedene Probleme mit ich einmal, die Gewerbesteuereinnahmen wären nicht sich bringt. Ich möchte nur zwei dieser Probleme anfüh- gestiegen. Dann wäre es zu einem weiteren Abfall ge- ren, von denen eines eben angesprochen worden ist – – kommen. Für jedermann ist offenkundig, dass die So- zialdemokraten und die rot-grüne Regierung gemeinsam Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: einen Verfall der Kommunalfinanzen zu verantworten Herr Kollege Scheelen, Ihre Redezeit ist abgelaufen. haben, den es in der Geschichte der Bundesrepublik bis- her nicht gegeben hat. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (B) (D) Bernd Scheelen (SPD): Jetzt den Eindruck zu erwecken, dass deshalb, weil Ja, Herr Präsident, ich komme zum Schluss. – Bei der die Gewerbesteuereinnahmen im ersten halben Jahr im Verlagerung der Zahllast von Unternehmen auf Arbeit- Vergleich zum Vorjahr angezogen haben, erstens die nehmerinnen und Arbeitnehmer und der Verstärkung der Wirtschaft brumme und es zweitens den Kommunen Stadt-Umland-Problematik werden wir nicht mitmachen. besser ginge, ist völlig aus der Luft gegriffen. Jetzt sage Deshalb sage ich Ihnen: Denken Sie sich ein neues Mo- ich Ihnen die konkreten Zahlen, damit Sie nachvollzie- dell aus, das zu stabilen Gewerbesteuereinnahmen führt. hen können, was die tatsächliche wirtschaftliche Ent- Dann haben Sie uns an Ihrer Seite. wicklung ist und welche Effekte auf die Entscheidung zur Änderung der Gewerbesteuerumlage zurückgehen. Vielen Dank. Wir hatten im letzten Jahr Gewerbesteuereinnahmen der (Beifall bei der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Kommunen von 17,05 Milliarden Euro. Es werden in Sie sollten wirklich mal nacharbeiten!) diesem Jahr möglicherweise 20 Milliarden Euro sein. Das hört sich so an, als gebe es eine Verbesserung um Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: 3 Milliarden Euro. Wenn Sie aber das abziehen, was Das Wort hat der Kollege Dietrich Austermann von durch die wieder abgesenkte Gewerbesteuerumlage da der CDU/CSU-Fraktion. ist, bleibt nicht mehr viel übrig. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dietrich Austermann (CDU/CSU): NEN]: Wieso?) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die So- Sie können das auch nachvollziehen: zialdemokraten versuchen offensichtlich, mit der Aktuel- len Stunde das Trugbild aufzubauen: Die Gewerbesteuer- (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- einnahmen steigen, deswegen geht es den Kommunen NEN]: Wir haben die Umlage gesenkt, Herr gut. Richtig ist, dass die Gewerbesteuereinnahmen über Austermann!) denen des Vorjahres liegen. Die Ursache ist deutlich ge- Schauen Sie sich doch bitte einmal die Situation der macht worden: Das Ganze hängt vor allen Dingen mit der Kassenkredite an! Das sind die Kredite – der Normalbür- Absenkung der Gewerbesteuerumlage zusammen. ger nennt das „Dispo“ –, die man in Anspruch nimmt, (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- damit man überhaupt die Masse hat, um die Gehälter zu NEN]: Herr Austermann, Sie haben es immer bezahlen und bescheidene Maßnahmen, etwa im Bereich noch nicht begriffen!) der Schulsanierung, durchzuführen. Das Volumen dieser 11502 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Dietrich Austermann (A) Kassenkredite hat sich in Nordrhein-Westfalen – von Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) dort kamen die Vorredner der SPD ja alle – seit 1998 Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! verzehnfacht, auf einen Betrag von 5,6 Milliarden Euro. Herr Austermann, wer sich schon so schwer tut wie Sie, Den Schluss zu ziehen, dass es den Kommunen gut das mit der Umlage zu begreifen, der tut sich bei anderen ginge, nur weil die Gewerbesteuereinnahmen im ersten finanzpolitischen Zusammenhängen noch schwerer. Das Halbjahr dieses Jahres im Vergleich zum Vorjahr ein bis- muss man einfach einmal konstatieren. schen angestiegen sind, ist offensichtlich falsch. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- und bei der SPD – Steffen Kampeter [CDU/ neten der FDP) CSU]: Herr Präsident, die Redezeit ist doch wohl schon um?) Nun hat der Herr Müntefering darauf hingewiesen, dass sich die Situation der Kommunen verbessert habe; Das, was Sie hier heute wieder geboten haben, zeigt, das sei insbesondere auch deshalb so, weil im nächsten dass Sie weder die Statistik vernünftig interpretieren Jahr gewaltige Milliardenleistungen vom Bund an die können noch in der Lage sind, zu reflektieren, welche Kommunen gingen. Er hat vor allen Dingen den Aus- Veränderungen es in den letzten Jahren gegeben hat. gleich Ost einbezogen, der seit vielen Jahren in gleicher (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Seine Höhe läuft. Ich fühlte mich an eine Feststellung erinnert, Prognosen waren immer gut!) die der Kollege Rüttgers einmal getroffen hat: dass das, was der Kollege Müntefering sagt, einer Wahrheitsprü- Schauen Sie sich die absoluten Zahlen an. Die Finanz- fung mit einem Detektor selten standhält. In diesem Fall einnahmen der Kommunen sind für viele Kommunen war es genau das Gleiche: Die Situation der Finanzen immer noch nicht befriedigend. der Kommunen hat sich in den letzten Jahren – ich habe das deutlich gemacht – dramatisch verschlechtert. Die (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das ist Zuwendungen des Bundes an die Kommunen haben sich harmlos! – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: nicht erhöht. Insofern hat Herr Müntefering wieder eine Gesundbeterei bringt nichts!) falsche Aussage gemacht. Diese falsche Aussage hat Für viele Städte sind sie gut, für manche Landkreise und drei Tage vor der Kommunalwahl in Nordrhein-Westfa- manche kleinen Kommunen ist die Situation aber immer len natürlich ein besonderes Ziel; das ist bei dem ehema- noch schwierig. Das muss man ehrlicherweise sagen. Al- ligen Landesvorsitzenden der SPD in Nordrhein-Westfa- lerdings – auch das muss man sehen – haben wir von len auch ganz verständlich. Rot-Grün gesetzliche Vorgaben gemacht, die zu wesent- lich mehr Stabilität beigetragen hätten, wenn Sie sich im Ich sage es noch einmal deutlich: Wir können, wir Bundesrat und im Vermittlungsverfahren anders verhal- (B) dürfen den Bürgern keinen Sand in die Augen streuen, (D) ten hätten. was die tatsächliche Lage in unserem Land betrifft. Wenn Sie die Beschäftigungsentwicklung ansehen, wenn Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Lage auf dem Arbeitsmarkt ansehen, wenn Sie die und bei der SPD – Dr. Uwe Küster [SPD]: Ihr Steuereinnahmen insgesamt betrachten, nicht nur einen da drüben lernt es nicht mehr! – Jochen- kleinen Teil davon – demnächst beantragen Sie hier viel- Konrad Fromme [CDU/CSU]: Luftschlösser leicht eine Aktuelle Stunde zum Thema Biersteuern –, waren das!) (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Man muss an dieser Stelle einmal ganz klipp und klar NEN]: Wessen Ideen waren es denn?) sagen, dass die Strategie der Union nicht funktioniert: Auf der einen Seite sagt sie, dass die Kommunen ver- werden Sie feststellen, dass die Entwicklung seit vielen nünftige Einnahmen haben sollen, während sie auf der Jahren stagniert und dass Bund, Länder und Gemeinden anderen Seite nur bestrebt ist, die großen Konzerne zu in der Summe für dieses Jahr von weniger Steuereinnah- schützen. Die Leute draußen sind nicht blöd. Herr Merz men ausgehen als im Vorjahr. Das trifft über den kom- stellt sich hin und sagt, dass die Entwicklung der Gewer- munalen Finanzausgleich, über viele Schienen natürlich besteuereinnahmen nichts mit der Konjunktur zu tun auch die Kommunen. Deswegen werden Sie mit Ihrer habe. Alle wissen, dass sich das wirtschaftliche Bild in Politik die Lage der Kommunen nicht verbessern. Und den letzten Monaten langsam positiver gestaltet hat. Das mit Gesundbeterei erreichen Sie das schon gar nicht. müssen Sie einfach konstatieren, auch wenn Ihnen das in Vielen Dank. Wirklichkeit politisch – mit Blick auf die gesamtstaatli- che Verantwortung sieht das wahrscheinlich anders aus – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) vielleicht nicht gefällt. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Es bleibt eine Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Katastrophe!) Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Scheel vom Bündnis 90/Die Grünen. Wir müssen auch sehen, in welcher Situation wir uns befinden: Über Jahre hinweg hatten sich bei der Steuer- (Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: Ohne Kon- berechnung Strukturen entwickelt, die man in Deutsch- zept! – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Der land nicht akzeptieren konnte. Ich nenne ein Beispiel: Metzger konnte das! Jetzt sind wir mal ge- Der Bundeshaushalt hat eine Größenordnung von round spannt!) about 260 Milliarden Euro. Die Verlustvorträge der Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11503

Christine Scheel (A) Unternehmen in der Bundesrepublik Deutschland betra- (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) gen geschätzte 370 Milliarden Euro; manche sagen, es NEN]: Aber ehrlich!) ist sogar noch mehr. welches System besser ist. Aber wenn Sie schon argu- (Zuruf von der CDU/CSU: Woran liegt das?) mentieren, dann seien Sie bitte ehrlich und sagen ganz klar, dass es hier nur um eine Umschichtung geht, bei Ich frage Sie, ob es angesichts eines solchen Verhältnis- der diejenigen stärker belastet werden, die heute davon ses nicht legitim ist, dass die Politik sagt: Wer Gewinne ausgenommen sind, dafür aber diejenigen entlastet wer- macht, muss wenigstens einen Teil dieser Gewinne ver- den, die heute ihren Beitrag für das Gemeinwohl leisten. steuern, darf sich steuerlich nicht immer auf Null rech- nen können. Danke schön. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) und bei der SPD – Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Das ist doch Unfug! Das stimmt doch Dies geht nämlich zulasten aller Ebenen, zulasten des gar nicht!) Bundes, der Länder und der Kommunen. Deswegen stellt sich nicht die Frage, ob man die Wirtschaft zu stark Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: belastet. Viele Unternehmen zahlen nämlich überhaupt Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Götz von der keine Steuern. Auch die Wirtschaft ist in der Pflicht und CDU/CSU-Fraktion. sie akzeptiert das ja auch. (Beifall bei der CDU/CSU) Mittlerweile fließen wieder mehr Steuern. Wir alle wissen, dass neben der anspringenden Konjunktur die Einschränkung der steuerlichen Gestaltungsmöglichkei- Peter Götz (CDU/CSU): ten ursächlich für die Zunahme der Gewerbesteuerein- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! nahmen ist. Wir stehen dazu, wir müssen dazu aber auch Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Städte, Ge- gesamtstaatlich stehen. meinden und Kreise befinden sich in ihrer schwersten Finanzkrise seit Bestehen der Bundesrepublik Deutsch- Sie sagen, die Gewerbesteuer sei international nicht land. konkurrenzfähig, in den anderen Ländern gebe es sie nicht. Das stimmt nicht; denn auch in anderen Ländern (Bernd Scheelen [SPD]: Gerade nicht mehr!) gibt es sie in vergleichbarer Art. Sie wird dort allerdings Herr Scheelen und Frau Scheel, es ist schon mutig, hier nicht als Gewerbesteuer, sondern anders bezeichnet. Es vorne genau das Gegenteil zu behaupten. Ich habe das (B) gibt dort aber auch Kommunalsteuern. Gefühl, Sie haben schon lange nicht mehr mit den Kom- (D) munalpolitikerinnen und -politikern geredet. (Bernd Scheelen [SPD]: Frankreich, Luxem- burg, Spanien, Kanada, USA!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das gilt für viele Länder, mit denen wir uns wirtschafts- Der Silberstreif im Bereich der Gewerbesteuer, der politisch immer vergleichen. sich jetzt am Horizont abzeichnet, hat ohne Frage viele Ursachen. Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Sie überlegen, die Gewerbesteuer abzuschaffen und Städte- und Gemeindebundes, das geschäftsführende in das Ertragsteuersystem zu integrieren. Dadurch wird Präsidialmitglied Dr. Landsberg – Herr Scheelen, Sie man veranlasst, darüber nachzudenken, ob das Sinn kennen ihn –, hat heute in der Presse erklärt: Eine macht. Im Rahmen dieser Überlegungen müssen Sie der Schwalbe macht noch keinen Sommer. – Recht hat der Ehrlichkeit halber sagen: Wenn man den Betrag von Mann. Was hier herumfliegt, ist eine Schwalbe. Was wir 20 Milliarden Euro – so viel sollte dieses Jahr an Gewer- aber brauchen, sind verlässliche Rahmenbedingungen besteuereinnahmen hereinkommen – in ein anderes Sys- für die Kommunen. tem integrieren will, dann führt das natürlich zu Steuer- erhöhungen an anderer Stelle: bei der Einkommensteuer, (Dr. Uwe Küster [SPD]: Wir haben hier doch bei der Körperschaftsteuer und, je nachdem, wie Sie das keine Schwalbe im Saal!) verteilen wollen, auch bei der Umsatzsteuer. – Entschuldigung. Sie inszenieren wenige Tage vor den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kommunalwahlen diese Aktuelle Stunde. Das, was Sie und bei der SPD) hier geboten haben, ist Man muss den Menschen sagen, dass dies keine Steuer- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: entlastung ist, sondern eine Umschichtung. Durchsichtig!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schwach, durchsichtig und transparent für alle, die diese und bei der SPD) Debatte heute erleben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das bedeutet eine höhere Belastung für die Unterneh- men und eine Entlastung für Normalverdiener und Rent- Ich nehme das Beispiel der Gewerbesteuerumlage, ner. Das ist die Wahrheit. Das ist die andere Seite der weil sie in jedem Redebeitrag eine Rolle gespielt hat. Medaille. Wir können gerne darüber diskutieren – das Jahrelang haben Sie die Rücknahme dieser anerkannten werden wir im Wahlkampf auch tun – Fehlentscheidung verweigert, eine Entscheidung, die 11504 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Peter Götz (A) zulasten der kommunalen Haushalte geht. Lesen Sie ein- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (C) fach die Debatten der letzten Jahre. Oder soll ich Ihnen Dr. Andreas Pinkwart [FDP]) vorlesen, wer in namentlicher Abstimmung unseren An- trag auf Rücknahme der Erhöhung der Gewerbesteuer- Schönreden nimmt Ihnen schon lange niemand mehr ab. umlage abgelehnt hat? Diese Schönrederei schadet Ihnen selbst. Die Forderung des SPD-Parteivorsitzenden Müntefering (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: gestern im „Handelsblatt“, die Länder sollten zur Lö- Alle, die da drüben sitzen!) sung der kommunalen Krise die Fesseln der Haushaltssi- Es sind die Namen der Kolleginnen und Kollegen der cherung lockern, ist ein Offenbarungseid rot-grüner Poli- SPD und der Grünen. tik. Es geht bei der Rücknahme der Gewerbesteuerum- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lage nicht um Geld, das der Staat den Kommunen gibt, Das ist die gleiche Nummer, Frau Kollegin Andreae, als sondern es geht darum – und das ist nicht neu –, den wenn der Finanzminister öffentlich erklärt, dass die Kommunen das zu belassen, was ihnen gehört und was Konvergenzkriterien von Maastricht nicht eingehalten Sie den Kommunen seit 2000 weggenommen haben. werden können, und er versucht, die Konvergenzkrite- rien zu verändern. Das sind falsche Signale. Mit dieser (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Art von Politik treiben Sie die Kommunen und unser Ich will einen zweiten Punkt ansprechen. Seit Jahren Land noch weiter nach unten. Das haben die Menschen verteilt Rot-Grün Wahlgeschenke und lässt die Kommu- in unserem Land nicht verdient. nen dafür bezahlen. Das ist unanständig. Die Ausgaben Lassen Sie mich die Gelegenheit dieser Aktuellen für soziale Leistungen im kommunalen Bereich steigen Stunde nutzen, den vielen ehrenamtlichen und hauptamt- dramatisch. In 2000 waren es 26 Milliarden Euro, mitt- lichen Kandidatinnen und Kandidaten, die sich um ein lerweile sind es 30 Milliarden Euro mit wesentlich stei- kommunales Mandat bemühen, zu danken. Diese Per- gender Tendenz. Gleichzeitig sinken die kommunalen sönlichkeiten, die sich dafür zur Verfügung stellen, wol- Investitionen mit allen negativen Folgen. Schulen, Bä- len in ihrer Heimatgemeinde, in ihrer Stadt aktiv Kom- der, aber auch andere öffentliche Einrichtungen verfal- munalpolitik gestalten. Von diesem Engagement lebt len. Was aber genauso schlimm, wenn nicht noch unsere Demokratie. Wir sollten dafür dankbar sein und schlimmer ist: Das mittelständische Handwerk vor Ort diese Menschen unterstützen. Lassen Sie uns deshalb bricht weg. Das heißt, eine der Krisen unserer Wirtschaft politische Rahmenbedingungen setzen, damit kommu- liegt unter anderem darin begründet, dass das mittelstän- nale Selbstverwaltung vor Ort überhaupt wieder stattfin- (B) dische Handwerk vor Ort keine Chance mehr hat, kom- den kann. Ich fordere Sie deshalb auf, sich nicht zurück- (D) munale Aufträge zu erhalten, weil sich die Kommunen zulehnen, sondern konstruktiv an einer dringend keine Investitionen mehr leisten können. notwendigen Gemeindefinanzreform mitzuwirken, ei- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ner Reform, die den Namen verdient. Die Rücknahme einer Fehlentscheidung ist noch keine Reform. Ich bin Die Schere zwischen kommunalen Einnahmen und der festen Überzeugung: Wenn es den Kommunen in Ausgaben geht immer weiter auseinander. Der Kollege Deutschland wieder gut geht und sie investieren können, Dietrich Austermann hat dies anhand einer Skala ein- dann wird es in Deutschland wieder mehr Arbeitsplätze drucksvoll aufgezeigt. vor Ort geben. Daran sollten wir arbeiten. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Herzlichen Dank. NEN]: So eindrucksvoll war das wirklich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nicht!)

Das kommunale Defizit, das wir jetzt beklagen, ein- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: schließlich der Berücksichtigung der Veränderung im Das Wort hat die Kollegin Ingrid Arndt-Brauer von Bereich der Gewerbesteuer steigt gegenüber dem ver- der SPD-Fraktion. gangenen Jahr trotzdem weiter. Das sollten Sie einfach zur Kenntnis nehmen. Ingrid Arndt-Brauer (SPD): Schauen wir nach Nordrhein-Westfalen; das war ja Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- der Anlass Ihrer Aktuellen Stunde. Wenige Tage vor den ren! Ich danke meinem Vorredner ausdrücklich für die Kommunalwahlen lassen sich die Menschen nicht täu- guten Wünsche für die Kommunalwahl, denn ich gehöre schen. Wie sieht die Situation konkret aus? In Nordrhein- zu denen, die zurzeit draußen im Land unterwegs sind. Westfalen waren im Jahr 2002 insgesamt 78 Städte und (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Was bekommen Gemeinden der Haushaltssicherung unterworfen. Eine Sie da mit? – Dietrich Austermann [CDU/ große Zahl! Im Jahr 2003 waren es 139. Nach einer aktu- CSU]: Zurzeit vor allen Dingen! – Steffen ellen Untersuchung des Städte- und Gemeindebundes Kampeter [CDU/CSU]: In Nordrhein-Westfa- sind es in diesem Jahr 180 Städte und Gemeinden, die len versteckt sich doch die SPD!) der Haushaltssicherung unterliegen. Das als erfolgreiche Politik verkaufen zu wollen ist ein durchsichtiges Manö- Ich bin gar nicht so erfreut, dass wir jetzt diese Aktuelle ver. Stunde haben, weil ich lieber zu Hause wäre, um einige Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11505

Ingrid Arndt-Brauer (A) Missverständnisse auszuräumen, die unter anderem von ben allerdings – insofern möchte ich meinen Vorredner (C) Ihren Kollegen in Nordrhein-Westfalen verursacht wer- ausdrücklich ergänzen – mit dem KfW-Infrastrukturpro- den. gramm geholfen, die Bäder und Sporthallen in den Kom- munen zu erhalten. Ich denke, wir haben damit sehr viel (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Jetzt fängt der für die Kommunen tun können. Wahlkampf an!) (Beifall bei der SPD) In der letzten Woche gab es in meinem Heimatort ein CDU-Plakat, auf dem eine leere Kasse abgebildet war, Außerdem kann ich mich an eine Aufstellung erin- über der stand: Rot-Grün plündert die kommunalen Kas- nern, die ich für meine Kommune erarbeitet habe, aus sen. der hervorgeht, was es für jede einzelne Kommune be- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) deutet hat, dass sie aus dem Flutopferhilfefonds heraus- genommen wurde. Auch das Geld ist den Kommunen Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Wir tun eine ganze Menge geblieben. Es war nicht in ihrer Haushaltsplanung be- in diesem Wahlkampf, aber wir würden nie die Unver- rücksichtigt und konnte als Geschenk angenommen wer- schämtheit besitzen, solche Lügen zu verbreiten. den. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Das ha- DIE GRÜNEN) ben Sie ihnen doch vorher weggenommen!) Es ist durch meine Vorredner ganz klar zum Ausdruck – Nein, das haben wir ihnen nicht weggenommen. Sie gekommen, was wir für die Kommunen getan haben. wissen genau, dass es den umfassenden Konsens gab, Trotzdem ist es notwendig, dass wir all das den Leuten dass jeder seinen Anteil leistet. Wir haben die Kommu- permanent erzählen. Wir sind bei den Leuten draußen im nen davon entlastet. Land. Ich erzähle den Leuten, was wir alles mit unserer Steuerpolitik für sie getan haben. Nehmen Sie zur Was wir jetzt zusätzlich tun, halte ich für sehr wichtig. Kenntnis, dass eine Familie mit zwei Kindern im Jahr Mit dem Geld, das wir durch Hartz IV einsparen, 2,5 Mil- 2005 erst dann Steuern zahlen muss, wenn ihr Bruttoein- liarden Euro, tun wir endlich etwas für die Kinderbetreu- kommen 37 000 Euro übersteigt. ung in diesem Land. Sie haben es jahrelang versäumt, ein Thema wie die Ganztagsbetreuung anzugehen. Wir (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Was hat haben das jetzt getan und dafür insgesamt 4 Milliarden das mit der Gewerbesteuerumlage zu tun? – Euro in die Hand genommen. Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Das hätten Sie schon 1998 haben können, wenn Sie es nicht (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Hat das einen (B) verhindert hätten!) positiven Einfluss auf die kommunalen Haus- (D) halte?) Diese Familie hat 1998 2 900 Euro Steuern gezahlt. Das ist ein sehr großer Fortschritt und widerspricht dem, was Wir haben die tausendste Ganztagsschule eingeweiht. Sie uns unterstellen. Ich denke, das ist ein Riesenerfolg. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir werden in den nächsten Jahren mit den Geldern, DIE GRÜNEN) die bei den Einsparungen im Zusammenhang mit Hartz IV übrig bleiben, die Betreuung der unter Dreijäh- Das Problem, das wir haben, ist, dass die Stimmung rigen ausbauen. Ich denke, das ist ein Erfolg, auf den wir durch Ihre Parolen nach unten gedrückt wird und wir mit im Nachhinein stolz sein können. Dann werden die Bür- Mühe und Not dagegen anreden müssen. Die Entlastung ger auch merken, dass es ein Riesenunterschied ist, ob der privaten Haushalte beträgt seit 1998 mehr als 40 Mil- sie CDU/CSU oder Rot-Grün wählen. liarden Euro. Das müssen wir den Leuten immer wieder sagen. Wir müssen sie zum Konsum anregen, damit sie Ich danke Ihnen. nicht der Verunsicherung erliegen, der Sie sie aussetzen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Sie nehmen ih- DIE GRÜNEN) nen doch durch permanente Steuererhöhungen das Geld weg!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: – Nein, wir haben den Eingangssteuersatz und den Spit- Das Wort hat jetzt der Kollege Heinz Seiffert von der zensteuersatz und damit die gesamte Tarifkurve gesenkt. CDU/CSU-Fraktion. Sie wissen das ganz genau. Sie sollten endlich aufhören, (Beifall bei der CDU/CSU) etwas anderes zu erzählen. Wir haben dafür gesorgt, dass Ihre Klientelpolitik endlich aufhört, und gegen den mas- siven Widerstand von Union und FDP unsere steuerpoli- Heinz Seiffert (CDU/CSU): tischen Maßnahmen durchgesetzt. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich Ihre Redebeiträge höre, liebe Kolleginnen und Kollegen Jetzt komme ich zu den Kommunen. Es ist schon ge- von Rot-Grün, dann frage ich mich, wie weit Sie von der sagt worden, dass wir diesbezüglich umfangreiche Maß- Realität entfernt sind. nahmen gestaltet haben. Wir hatten dabei das Problem, ab einem gewissen Zeitpunkt gegen den Bundesrat agie- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ren zu müssen. Das war nicht immer erfolgreich. Wir ha- neten der FDP) 11506 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Heinz Seiffert (A) Unterhalten Sie sich nie mit Ihren Genossen, die als Bür- wäre es! Aber das glaubt doch kein Mensch. Gibt es in (C) germeister, Gemeinderäte oder Oberbürgermeister in Ihrem Haus niemanden, der dem Minister eine Plausibi- den Rathäusern Verantwortung tragen? litätsrechnung aufmacht, bevor er so etwas sagt? Offen- bar nicht! Sonst hätten Sie gemerkt, dass das nicht sein (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das sind kann. Herr Clement, Sie sollten sich nach Ihrem ehema- nicht mehr viele!) ligen Bundeskanzler Helmut Schmidt richten, der Ihnen Von ihnen müssten Sie doch hören, wie die Lage drau- dringend empfohlen hat, den Menschen endlich die ßen ist. Oder glauben Sie ihnen nicht? Halten Sie die alle Wahrheit zu sagen. für Schwarzmaler oder Pessimisten? (Beifall bei der CDU/CSU) Es ist doch leider eine Tatsache, dass den Kommunen Die bescheidenen Mehreinnahmen beim Gewerbe- die finanzielle Basis dramatisch weggebrochen ist. Die steueraufkommen sind – das ist bereits mehrfach gesagt Steuereinnahmen waren in den vergangenen Jahren worden – auf Steuererhöhungen und die Senkung der rückläufig. Die Ausgaben – vor allem im sozialen Be- Gewerbesteuerumlage zurückzuführen. reich – sind explodiert, und die Investitionen, die für die mittelständische Wirtschaft und das Handwerk so wich- (Zurufe bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tig sind, befinden sich im freien Fall. DIE GRÜNEN: Nein!) Die große Mehrheit der Städte und Gemeinden kann – Natürlich ist es so. – Drei Jahre haben Sie den Kom- seit drei Jahren im Verwaltungshaushalt die gesetzliche munen ohne jeden sachlichen Grund jährlich etwa Mindestzuführungsrate nicht mehr erwirtschaften. Viele 2,2 Milliarden Euro vorenthalten bzw. aus den Kassen mussten Vermögen veräußern und neue Schulden ma- geraubt. Jetzt wollen Sie gefeiert werden, nur weil Sie chen, nur um die ordentliche Kredittilgung leisten zu auf unseren massiven Druck das Diebesgut wieder zu- können. rückgeben. Ich will das am Beispiel der Stadt Ulm, die in meinem (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wahlkreis liegt, deutlich machen. Ulm ist eine Universi- Die Gewerbesteuer ist ein Relikt von gestern. Sie ist tätsstadt mit gemischten Gewerbestrukturen, 115 000 Ein- kein Finanzierungsinstrument, auf das man sich verlas- wohnern und einem SPD-Oberbürgermeister. sen kann, und sie ist auch nicht aufkommensgerecht. 1995 betrug das Gewerbesteueraufkommen 44 Mil- Herr Kollege Scheelen, das möchte ich Ihnen wieder am lionen Euro netto. 2004 werden nach den erzielten Ver- Beispiel der Stadt Ulm darlegen. In Ulm gibt es 8 500 besserungen voraussichtlich wieder 44 Millionen Euro gewerbesteuerpflichtige Betriebe. Von diesen zahlen tat- sächlich nur 1 550 Betriebe Gewerbesteuer. Von diesen (B) netto erreicht. 2005 sollen es sogar 47 Millionen Euro (D) werden. Aber – das ist der springende Punkt – 1995 be- wiederum bestreiten ganze 118 Betriebe über 75 Prozent trug die Nettoinvestitionsrate 15,5 Millionen Euro; nach des Gewerbesteueraufkommens. Das sind hauptsächlich den vorläufigen Planungen für 2005 liegt sie bei minus Mittelständler, die ihre Gewinne nicht verlagern können. 5,1 Millionen Euro. Die Stadt wird also neue Schulden Eine solch schmale Gewerbesteuerbasis gibt doch kei- machen müssen – vielleicht kann sie auch noch etwas nem Kämmerer Planungssicherheit. Hier hilft auch eine von ihrem Vermögen verscherbeln –, nur um die ordent- systematisch völlig blödsinnige und volkswirtschaftlich liche Tilgung erbringen zu können. Ulm ist leider kein falsche Mindeststeuer nicht weiter. Einzelfall, sondern kommunale Normalität. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Wir brauchen eine komplette Neuordnung des Steuer- rechts. Dabei muss zu einer Einkommensteuerreform In vielen kleineren Gemeinden kommt noch hinzu, eine Reform der kommunalen Finanzen hinzukommen, dass die Kreisumlagehebesätze so angestiegen sind, dass wie es vom Kollegen Friedrich Merz bereits dargestellt sie den Kommunen völlig die Luft zum Atmen nehmen. worden ist. Das ist die Lösung. Dieser sollten Sie sich Das ist die kommunale Wirklichkeit, nicht die Schönfär- nicht länger verschließen. Solche rückwärts gewandten berei, die Sie hier bisher geboten haben! Diskussionen, wie Sie sie heute angezettelt haben, füh- Durch die Politik von Rot-Grün ist die kommunale ren nicht weiter und bringen Ihnen – darauf können Sie Selbstverwaltung zur reinen Worthülse verkommen. Was sich verlassen – keine Stimmen in Nordrhein-Westfalen. soll denn ein Stadtrat noch entscheiden, wenn ihm vom Vielen Dank. Bund finanziell das Wasser so abgegraben wird? Ein Stadt- oder Gemeinderat hat doch nur noch die Wahl, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) welche Grausamkeit als erstes beschlossen werden soll. Das ist doch in den von Ihnen regierten Städten genauso. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Sie aber kündigen jetzt goldene Zeiten an. Das Wort hat die Kollegin Simone Violka von der Gestern Abend hat Bundeswirtschaftsminister SPD-Fraktion. Clement öffentlich davon gesprochen, dass die Kommu- nen 2005 um insgesamt 8 Milliarden Euro entlastet wer- Simone Violka (SPD): den. Das würde für die bereits beispielhaft angeführte Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Stadt Ulm – umgerechnet auf die Einwohnerzahl – ein Kollegen! Schlechte Nachrichten verbreiten sich wie ein Einnahmeplus von 11,2 Millionen Euro bedeuten. Schön Lauffeuer. Aber auf gute Nachrichten muss man immer Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11507

Simone Violka (A) und immer wieder hinweisen, damit sie überhaupt wahr- Aufgrund der Zahlen zeigt sich jetzt allerdings, wer (C) genommen werden. Damit bin ich bei dem Grund für die Recht hatte. Eigentlich fehlt in der Pressemitteilung von heutige Aktuelle Stunde. Es geht nämlich um gute Nach- Finanzminister Metz nur der Dank an die rot-grüne Bun- richten, um die steigenden Einnahmen bei der Gewerbe- desregierung; denn ohne unsere politischen Entschei- steuer. dungen auf diesem Gebiet würde er heute keine positi- ven Meldungen über die Gewerbesteuereinnahmen in (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Wenn Sachsen verkünden können – ganz im Gegenteil. Sie Steuererhöhungen als gute Nachrichten empfinden!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) – Herr Fromme, die Lautstärke garantiert noch nicht die Qualität und die Richtigkeit des Inhaltes. Hätte die Unionsmehrheit dem Steuervergünstigungs- abbaugesetz und dem Haushaltsbegleitgesetz 2004 in der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ von uns beschlossenen Fassung im Bundesrat zuge- DIE GRÜNEN – Bernd Scheelen [SPD]: Erst stimmt, hätten alle Gebietskörperschaften in den der Kopf, dann der Kehlkopf!) Jahren 2004 bis 2006 insgesamt 25 Milliarden Euro mehr in ihren Kassen gehabt. Warum Sie dagegen wa- Die Nachrichten von den steigenden Einnahmen bei ren, müssen Sie den Kommunalvertretern einfach einmal der Gewerbesteuer haben nicht nur wir, sondern auch die erklären. Das ist Geld, das alle Ebenen dringend brau- Kommunalvertreterinnen und -vertreter gern gehört. Die chen, auch für Zukunftsinvestitionen. Länder haben diese guten Nachrichten ebenfalls positiv aufgenommen. So äußerte sich zum Beispiel der noch Ganz besonders drollig ist die FDP. Sie brüstet sich amtierende sächsische Finanzminister Metz, der erstaun- im Internetportal damit, dass die Gewerbesteuereinnah- licherweise der CDU angehört, wie folgt – wenn man men überall dort, wo sie mitregiert, angeblich besonders Herrn Austermann und Herrn Merz genau zugehört hat, hoch seien. Gleichzeitig fordert sie aber – ich zitiere – dann weiß man, dass sie Herrn Metz schon im Vorhinein „die Abschaffung des Bürokratiemonsters Gewerbe- als inkompetent bezeichnet haben –: steuer“. Ja, was denn nun? Die sächsischen Kommunen können 2004 gegen- (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Können Sie mal er- über der Novemberschätzung 2003 mit 89 Millio- klären, wo da ein Widerspruch ist?) nen Euro höheren Steuereinnahmen rechnen. Für Ihre Alternative, das ruinöse Konzept, das Sie hier vor- 2005 sind es 81 Millionen, für 2006 sind es 111 Mil- gestellt haben und das Sie so nebulös durch die Lande lionen mehr als bei der letzten Maischätzung prog- tragen, ist nun wahrlich keine ernst zu nehmende Lö- nostiziert. Für die Kommunen werden 2005 um 5,7 (D) (B) sung. höhere Steuereinnahmen geschätzt als bei der Maischätzung 2003. Das sind positive Nachrichten (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Ach so, Sie ha- für die sächsischen Kommunen. ben das ja wahrscheinlich noch nie gelesen!) So weit Herr Metz. Ich frage Sie: Wie passt denn diese Sie müssen den Leuten aber auch sagen, welche Steu- Äußerung eines Ihrer Kollegen zu den Äußerungen Ihrer ererhöhungen auf sie zukommen. Sie können nicht im- Kollegen hier? Ist der Mann nun inkompetent oder sind mer nur sagen, wo Sie entlasten wollen. Sie müssen auch es Ihre Redner? die Finanzierung klarstellen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Ich sage: Recht hat Herr Metz. Aber ich frage mich Wenn Sie das nicht tun, dann ist Ihre Vorgehensweise schon, warum er nicht dafür gesorgt hat, dass die künf- nebulös und unseriös. tige finanzielle Lage in den Kommunen noch besser aus- (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Wenn Sie es ge- sieht. Die Einnahmen könnten nämlich noch besser sein, lesen hätten, wüssten Sie, dass es belastungs- wenn die Union die Einbeziehung der Freiberufler in die neutral ist!) Gewerbesteuer und unseren Vorschlag zur Mindestge- winnbesteuerung, eine 50:50-Regelung, verhindert hätte. Kommunen brauchen verlässliche und stabile Steuer- einnahmen. Die Gewerbesteuer ist nun einmal die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Hauptfinanzierungsquelle der Kommunen. Müssten sie des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sich einzig und allein auf Zuweisungen aus den Ländern Nicht zu vergessen, dass die jetzigen spürbaren Ent- verlassen, so wären sie in vielen Fällen verlassen. Ich lastungen der Kommunen überhaupt nur gegen den mas- brauche nur noch einmal nach Sachsen zu schauen: Der siven Widerstand von Union und FDP durchzusetzen Freistaat brüstet sich mit einer niedrigen Verschuldung, waren. Sie wollten die Gewerbesteuer sogar komplett lässt aber völlig außen vor, wie die Verschuldung in den abschaffen. Kreisen und Kommunen aussieht. Deren Verschuldung kommt aber nicht durch die Verschwendungssucht von (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Bürgermeistern und Landräten zustande, sondern durch Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Guter An- das finanzielle Ausbluten durch den Freistaat. Er kürzt satz!) an allen möglichen und unmöglichen Zuweisungen und 11508 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Simone Violka (A) überträgt immer mehr Landesaufgaben auf die kommu- würdig. Sie scheinen sich von dieser Aktuellen Stunde (C) nale Ebene – natürlich ohne finanziellen Ausgleich. und von ihrer Wirkung doch nicht ganz so viel zu ver- sprechen. (Bernd Scheelen [SPD]: Den Anteil an der Hartz-Milliarde behalten sie auch!) Wie die bisherige Diskussion gezeigt hat, gibt es durchaus einen Bumerangeffekt. Er besteht darin, dass Das geschieht häufig auch dort, wo Gelder aus Berlin für die Finanzsituation der Kommunen nicht besonders gut solche Aufgaben zur Verfügung gestellt werden. ist. Selbst die leicht steigenden Gewerbesteuereinnah- Aber die klebrigen Finger so manchen Finanzminis- men – Frau Hendricks, auch Sie kommen aus Nord- ters sorgen regelmäßig dafür, dass diese Gelder eben rhein-Westfalen – ändern daran kaum etwas. nicht zu 100 Prozent, wie von Berlin abgeschickt, bei Ich will einmal zitieren, was Dr. Landsberg vom den entsprechenden Stellen ankommen. Vorhin kam Deutschen Städte- und Gemeindebund gesagt hat, heute einmal der Einwurf, auch der Bund habe den Kommu- veröffentlicht in einer Meldung der Deutschen Presse- nen nicht mehr Geld zur Verfügung gestellt. Ich frage Agentur: mich schon: Ganztagsschulenprojekt, Fluthilfe, Goldener Plan Ost, Stadtumbau Ost – schon vergessen? Insgesamt werden die Kommunen auch im Jahr Damit kommen den Kommunen ganz erhebliche Gelder 2004 ein Defizit von 8 bis 9 Mrd. Euro zu verzeich- direkt zugute, die sie dringend brauchen. Gerade auf den nen haben. Gleichzeitig explodieren die kommuna- Freistaat Sachsen kann man sich in dieser Beziehung len Kassenkredite, mit denen die Kommunen die überhaupt nicht mehr verlassen. Löcher in ihren Verwaltungshaushalten stopfen müssen. Die Kassenkredite haben sich allein im (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ größten Bundesland NRW verzehnfacht. Im DIE GRÜNEN – Kerstin Andreae [BÜND- Jahre 2000 betrugen sie dort 507 Millionen Euro NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wird ja jetzt bes- und werden im Jahr 2004 voraussichtlich 5,6 Mrd. ser!) Euro betragen.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frau Violka, kommen Sie bitte zum Schluss. Lesen Sie mal den nächsten Satz vor!) Man kann, glaube ich, nicht sagen, dass Nordrhein- Simone Violka (SPD): Westfalen da ein gutes Renommee hat. Wir brauchen die Kommunen als Investitionskraft (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. und als unverzichtbaren Partner für den Mittelstand. Hö- Dr. Andreas Pinkwart [FDP]) (B) ren Sie einfach auf, die zarten Pflänzchen namens „wirt- (D) schaftliche Erholung“ und „Aufschwung“ verbal zu zer- Ich bin inzwischen wirklich der Meinung, dass bei treten, noch bevor daraus Pflanzen werden konnten. Das den kommunalen Finanzen etwas geschehen muss. Ich nützt niemandem, erst recht nicht den Kommunen, die bin lange Zeit, 15 Jahre, Kommunalpolitikerin gewesen als letztes Glied in der Kette Ihre politischen Fehlent- und ich weiß, wie schwierig es ist, die kommunalen scheidungen häufig auszubaden haben. Finanzen in den Griff zu bekommen. Ich bin erfreut da- rüber, dass es der Deutsche Städte- und Gemeindebund (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ genauso sieht wie wir, dass nämlich die Gewerbesteuer- DIE GRÜNEN) umlage auf unsere Initiative hin von 28 Prozent auf 20 Prozent gesenkt worden ist. Von den steigenden Ge- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: werbesteuereinnahmen oder -vorauszahlungen – so muss Das Wort hat die Kollegin Elke Wülfing von der man ja sagen – zahlen die Kommunen nicht 28 Prozent CDU/CSU-Fraktion. – das war Ihr Bier –, sondern 20 Prozent; das ist unser Bier. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Die behalten 80 Prozent!) Elke Wülfing (CDU/CSU): Sie wissen sehr genau, dass Sie diese Senkung in na- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es mentlicher Abstimmung – Herr Götz hat es vorhin er- ist schon interessant, wie hier argumentiert wird und wähnt – abgelehnt haben. welche Themen hier vor oder nach Wahlen behandelt Ich darf dazu noch einmal Herrn Dr. Landsberg in werden. Wenn es so ist, dass die SPD und die Grünen dieser Pressemeldung zitieren: diese Aktuelle Stunde wegen der Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen beantragt haben, Ein großer Teil der zusätzlichen Gewerbesteuerein- nahmen resultiert aus der vom DStGB seit langem (Simone Violka [SPD]: Ich habe Ihnen doch geforderten Senkung der Gewerbesteuerumlage an gerade gesagt, warum wir sie beantragt ha- Bund und Länder von 30 % auf 20 %. ben!) Das können Sie im Ticker nachlesen. dann frage ich mich natürlich ganz besorgt: Wo sind denn all die 60 Kollegen aus Nordrhein-Westfalen, die (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Andreas hier eigentlich sitzen sollten? Das ist doch etwas merk- Pinkwart [FDP]: Hört! Hört!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11509

Elke Wülfing (A) Das ist gut für die Kommunen. Wir haben dafür ge- Elke Wülfing (CDU/CSU): (C) sorgt, dass von dem, was sich die Kommunen selbst er- – ja, ich bin fertig –: Die derzeitigen Gewerbesteuer- wirtschaften, wirklich etwas bei ihnen bleibt. vorauszahlungen können sich am Ende des Jahres bei der Gewerbesteuerabrechnung wieder verringern, wenn Betrübt stimmt mich, dass man die Bemessungs- die Konjunktur nicht so läuft, wie sich das zum Beispiel grundlage für die Unternehmen derart verbreitert hat, Herr Finanzminister Eichel vorstellt. und zwar gegen unseren erklärten Willen. Um eine Sen- kung der Gewerbesteuerumlage für die Kommunen zu erreichen, mussten wir uns auf diesen Pfad begeben. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Durch die Gesetzgebung aus den Jahren 2002/2003 und Bitte, Frau Kollegin Wülfing. 2004 ist die Grundlage für die Bemessung von Steuern bei den Unternehmen verbreitert worden, Frau Elke Wülfing (CDU/CSU): Hendricks, und dadurch ist ihnen eine zusätzliche Belas- Ich denke, dass wir deswegen eine andere Finanz- tung von immerhin fast 8 Milliarden Euro entstanden. grundlage brauchen als die, die Sie hier vorgestellt ha- Das sind Ihre Zahlen aus dem Finanzministerium, veröf- ben. fentlicht heute mit der Broschüre vom BDI. Danke schön. Man kann mit Fug und Recht sagen, dass das in der (Beifall bei der CDU/CSU) gegenwärtigen wirtschaftlichen Situation für die Kom- munen natürlich nicht günstig ist. Das ist nicht gut für Arbeitsplätze. Lassen Sie doch die Unternehmen in Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ruhe! Das Wort hat der Kollege Horst Schild von SPD- Fraktion. (Lachen bei der SPD) Horst Schild (SPD): Natürlich ist es so, dass steigende Gewerbesteuerzahlen für die Kommunen gut, aber für die Unternehmen Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich schlecht sind. Deswegen hat man dabei immer ein la- bin jetzt ein bisschen verunsichert, weil ich keinen roten chendes und ein weinendes Auge. Faden in der Argumentation der Opposition erkennen kann. Alles, was Arbeitsplätze schafft, ist sozial. (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Noch (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. nicht einmal einen schwarzen!) Dr. Andreas Pinkwart [FDP]) (B) Was haben wir denn, Frau Kollegin Wülfing? Wir (D) Deswegen ist es wichtig, denke ich, dass die Kommunen stellen fest: Die Gewerbesteuereinnahmen haben sich im in Deutschland wieder investieren können. Deshalb darf ersten Halbjahr 2004 deutlich positiv entwickelt. man ihnen vorher nicht alles Mögliche abgraben, vor al- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) lem nicht das Geld, Nun können wir darüber streiten, woran das im Einzel- (Lachen bei der SPD) nen gelegen hat. Dass es aber eine deutlich positive Ent- wicklung, wenn auch regional durchaus differenziert das sie dringend für Investitionen brauchen. Investitio- – das ist bei der Gewerbesteuer ja immer so gewesen –, nen schaffen Arbeitsplätze. Dann haben auch die Kom- gegeben hat, ist unstrittig. Eines ist auch klar – das war munen wieder stetige Gewerbesteuereinnahmen. eine Forderung der kommunalen Spitzenverbände –: Wenn Sie nachlesen wollen, wie nach unserer Vorstel- Wenn wir die Gewerbesteuer zu einer dauerhaften und lung eine Gemeindefinanzreform aussehen soll, dann tragfähigen kommunalen Einnahmequelle machen wol- schauen Sie bitte in unseren Antrag. Friedrich Merz hat len, dann reicht es nicht aus, nur die Umlage zu senken das vorhin erwähnt. Er hat ihn ausgearbeitet und er ist – wir haben frühzeitig signalisiert, dass wir dazu bereit von der CDU und CSU gemeinsam in den Bundestag wären, wenn es innerhalb eines Gesamtkonzeptes er- eingebracht worden. Machen Sie es so, wie es da steht! folgt –, Ein Beteiligungsmodell mit Hebesatzrecht ist eine sehr (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Sie haben aber vernünftige Lösung, die wir gemeinsam mit den Kom- dagegen gestimmt!) munen erarbeiten sollten. Damit hätten wir eine sichere Finanzgrundlage für die Kommunen und nicht eine der- sondern dazu gehört auch die Verbreiterung der Bemes- artig volatile Grundlage wie die Gewerbesteuer, die mit sungsgrundlage. Das schafft Verlässlichkeit und Stabili- der Konjunktur ständig rauf und runter geht. Das werden tät auch für die kommunale Seite. wir noch erleben – (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Das schädigt aber die Unternehmen!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: – Ich komme auch noch auf Sie zurück. Frau Kollegin Wülfing, kommen Sie bitte zum Schluss. Wir haben nun Mehreinnahmen bei den Kommunen. Das ist zu begrüßen. Wir haben Ihnen mit dieser Aktuel- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Diese Frau ist am len Stunde die kleine Chance gegeben, zu sagen: Auch Ende!) wir als Opposition haben im Vermittlungsverfahren 11510 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Horst Schild (A) etwas dazu beigetragen, dass die Kommunen heute bes- Seit mit den Kommunen in Niedersachsen zu verhin- (C) ser dastehen als im letzten Jahr. dern, was die niedersächsische Landesregierung mit den Kommunen vorhat. (Simone Violka [SPD]: So clever sind die nicht!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Reinhard Grindel [CDU/ Nun gut, Sie wollten das nicht. CSU]: Da hätten Sie einmal früher aufwachen Dann müssen wir uns aber über einen anderen Punkt sollen! – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Herr unterhalten: Sie negieren, dass es den Kommunen besser Schild, warum wurde die SPD denn in Nieder- geht und malen die kommunale Situation schwarz. sachsen abgewählt?) (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Stimmt doch Ich will noch zwei, drei Sätze sagen: Hier wird doch nicht! – Zuruf des Abg. Steffen Kampeter von der CDU/CSU das Konzept vertreten – der Kollege [CDU/CSU]) Merz hat das auch wieder getan –, dass sie Gewerbe- steuer in der jetzigen Form nicht mehr wollen. Darüber – Niemand sagt ja, dass wir aus dem Gröbsten heraus kann man ja gegebenenfalls reden. sind. – Nun schauen wir uns aber einmal an, was einige Bundesländer machen, und erklären Sie mir einmal, wie (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Sehr gut!) das vor dem Hintergrund dieser katastrophalen finanziel- Aber dann muss man eine Alternative haben. len Situation in den Kommunen zu verantworten ist. Das Land Thüringen geht hin und kürzt den kommunalen (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Haben wir!) Finanzausgleich im nächsten Jahr um 35 Millionen. – Herr Kollege Pinkwart, Sie haben sie nicht. In Ihrem (Zuruf von der SPD: Hört! Hört!) Konzept ist eine Umverteilung bei der Umsatzsteuer in Höhe von 12 Prozentpunkten enthalten. Sie haben aber Kollegin Andreae hat vorhin gesagt, das Land Baden- nirgendwo gesagt, woher das Geld kommen soll. Württemberg geht hin und kürzt den kommunalen Finanzausgleich um 123 Millionen. Nun geht das Land (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Das haben wir Niedersachsen hin und kürzt den kommunalen Finanz- gerechnet!) ausgleich um 150 Millionen. – Gerechnet reicht nicht. Irgendeiner muss doch zahlen. (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Weil der (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Es ist doch Gabriel den ganzen Haushalt pleite gemacht dargelegt!) hat! Das ist wirklich an den Haaren herbeige- zogen!) Wenn Sie den Kommunen 12 Prozentpunkte mehr geben (B) wollen, (D) Wenn eine Regierung die Verantwortung für ein Land (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: 10 Prozent- trägt, dann kann sie nicht den Gemeinden so ohne weite- punkte!) res einmal 150 Millionen wegnehmen. dann müssen Sie diesen Anteil dem Bund und den Län- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dern wegnehmen. Aber diesen Punkt lassen Sie offen. DIE GRÜNEN) Das Gleiche gilt für das, was der Kollege Merz vorhin Das sehen ja nicht nur wir so. Den Kollegen Fromme, gesagt hat. Er hat in verräterischer Weise von der Beteili- der sich mit seinen Zwischenrufen inzwischen völlig gung der Gemeinden gesprochen. Was gilt denn nun: verausgabt hat, möchte ich wenigstens lobend als einen Hebesatzrecht oder Beteiligung? der verantwortlichen Kommunalpolitiker im Lande Nie- dersachsen erwähnen, der vehement kritisiert hat, dass (Peter Götz [CDU/CSU]: Beides!) die niedersächsische Regierung, an der die FDP beteiligt Bleibt es bei Art. 28 des Grundgesetzes? Was wollen Sie ist, den kommunalen Finanzausgleich gekürzt hat. Auf eigentlich? diese Weise fallen natürlich die positiven Effekte, die wir den Kommunen zukommen lassen, wieder weg, Weiterhin muss man fragen, wie Sie die Stadt-Um- wenn Sie Geld an anderer Stelle streichen. land-Problematik lösen wollen. Die Mehrheit der CDU/ CSU-regierten Länder im Bundesrat ist unseren Weg (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Das ist doch mitgegangen, weil sie in kluger Vorausschau wussten unglaublich!) – auch Herr Faltlhauser hat das gesagt –, dass Ihr Modell Nachdem der Kollege Seiffert von Diebesgut gespro- nicht ausgereift ist und dass damit die Probleme Stadt/ chen hat, das wir zurückgegeben haben, sollten Sie sich Umland nicht zu lösen sind. einmal selbst überlegen, wie Sie den Fischzug einiger Ich bitte Sie: Wenn Sie schon Vorschläge machen, CDU-geführter Landesregierungen klassifizieren wol- dann feilen Sie sie so aus, dass nicht mehr Fragen aufge- len, die den Kommunen an anderer Stelle das wieder worfen als beantwortet werden. wegnehmen, was wir ihnen gerade haben zukommen lassen. Ich danke Ihnen. Kollege Fromme, ich hoffe, Sie behalten noch ein biss- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ chen von dem Engagement, das Sie bei meinen Vorred- DIE GRÜNEN – Steffen Kampeter [CDU/ nern durch Zwischenrufe an den Tag gelegt haben, zu- CSU]: Das stimmt doch gar nicht! Sie wissen rück, damit Sie noch genügend Kraft haben, um Seit an es selber besser!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11511

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wir, die PDS, sind der Auffassung, dass die struktu- (C) Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch. relle Schieflage der kommunalen Finanzausstattung dau- erhaft und nachhaltig überwunden werden muss. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- ren! Sehr geehrte Gäste, ich bin Abgeordnete der PDS. Wir fordern eine Reform der Kommunalfinanzen, die diesen Namen auch wirklich verdient. Wir wollen, dass Die „taz“ titelte am Dienstag im Bezug auf die SPD die Kommunen Planungssicherheit haben. sehr zutreffend: „Wahlverlierer in Siegerlaune“. Ein biss- chen empfinde ich auch diese Debatte so. Sie, meine (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Sehr gut!) Damen und Herren von der SPD, tun so, als hätten Sie Die Ergebnisse der Landtagswahlen am letzten Wo- die Gemeinden aus ihrer Finanznot gerettet. Es müsste chenende sind heftig und kontrovers diskutiert worden. Ihnen doch aufgefallen sein, dass die Vertreter der Kom- Wie eingangs schon zitiert, liefen Wahlverlierer in Sie- munen die von der Bundesregierung verbreitete Eupho- gerlaune umher. Ich finde, die geringe Wahlbeteiligung rie nicht teilen können. ist eine Niederlage für die demokratischen Parteien. Ge- Am Mittwoch hat Bundesminister Stolpe viele warme rade die Wahlenthaltung in kleinen Kommunen zeigt, Worte zum Stand der deutschen Einheit und zur wirt- dass viele Menschen von der Politik dort nichts mehr er- schaftlichen Entwicklung im Osten gesagt; die Bundes- warten. Wenn die Kommunen vor Ort zu wenig Geld ha- regierung hat gar die wirtschaftliche Wende entdecken ben, um zu investieren und das Leben vor Ort lebenswert wollen. Das Konjunkturbarometer des Instituts für Wirt- zu gestalten, ist das auch eine Gefahr für die Demokra- schaftsforschung in Halle spricht jedoch eine andere tie. Sprache. Die Wirtschaft in Ostdeutschland hat im ersten Stabile und gesicherte Kommunalfinanzen sind eine Halbjahr mit der konjunkturellen Entwicklung im Wes- Frage der Demokratie. Ein halbes Jahr mit leicht steigen- ten Deutschlands und im Ausland nicht mithalten kön- der Tendenz bei den Gewerbesteuereinnahmen reicht da nen. Der gravierende Unterschied zwischen den Kom- nicht aus. munen in Ost und West bleibt. Die Steuereinnahmen ostdeutscher Kommunen erreichen im Vergleich mit de- Vielen Dank. nen westdeutscher Städte und Gemeinden nur ein Ni- (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) veau von 30 Prozent. Aber auch die westdeutschen Kommunen leiden Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: finanzielle Not. Es kann doch wohl nicht als Erfolg ver- Als letzte Rednerin in dieser Aktuellen Stunde hat die (B) rechnet werden, dass die kommunalen Investitionen im Kollegin Bettina Hagedorn von der SPD-Fraktion das (D) vergangenen Jahr weiter gefallen sind und um ein Drittel Wort. unter dem Stand des Jahres 1992 lagen. Ganz im Gegen- satz zu den gesunkenen Investitionen sind die Sozialaus- Bettina Hagedorn (SPD): gaben in den Kommunen dramatisch gestiegen. Ich Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe nehme noch einmal das Jahr 1992 als Bezugspunkt, ob- Kollegen! Es ist immer wieder erstaunlich, dass in die- wohl ein Redner neulich gesagt hat, dass man mit dem sem Haus selbst hervorragende Botschaften von Ihnen Nennen jeder neuen Zahl ein Drittel seiner Zuhörer ver- so schlechtgeredet werden. liert: (Beifall bei der SPD – Lachen bei der CDU/ (Lachen des Abg. Dr. Andreas Pinkwart CSU) [FDP]) Das lassen wir Ihnen wirklich nicht durchgehen. Dazu Im Jahr 2004 werden die Sozialausgaben der Kommu- braucht man auch keine rosarote Brille. nen um 45 Prozent über dem Niveau von 1992 liegen. Es gibt also eine totale Schieflage. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Eine orange Brille, würde ich sagen!) Ich glaube, es ist eine gefährliche Illusion, zu glauben – das wird verbreitet –, dass im Ergebnis von Hartz IV Ich selbst bin bis vor anderthalb Jahren 20 Jahre lang die Kommunen entlastet werden. Das Gegenteil wird der Kommunalpolitikerin, Bürgermeisterin und Amtsvorste- Fall sein. herin gewesen; Herr Kollege Kampeter, Sie wissen das. (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das habe ich oft genug von Ihnen gehört, Frau Kollegin! Auch deshalb gehört Hartz IV grundlegend korrigiert. Die wissen schon, warum sie Sie weggeschickt Die Folgekosten von Hartz IV werden die Kommunen haben!) empfindlich belasten. Insofern betrachte ich die Kommunalfinanzen mit gro- Wenn jetzt der Anstieg der Einnahmen aus der Ge- ßem Interesse. Ich weiß, dass es im Hinblick auf die werbesteuer im letzten halben Jahr als Erfolg gefeiert Kommunalfinanzen grundsätzlich noch keine Entwar- wird, halte ich das für kurzsichtig. Dem stellvertretenden nung gibt. Geschäftsführer des Sächsischen Städte- und Gemeinde- tages ist zuzustimmen, wenn er sagt: „Kassensturz wird (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Sehr gut! Ganz erst zum Jahresende gemacht.“ richtig!) 11512 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Bettina Hagedorn (A) Aber da gleich mehrere Ihrer Redner fälschlicher- Verbesserung der Kommunalfinanzen ansteht. Die (C) weise gesagt haben, dass die Gewerbesteuerumlagesen- Staatssekretärin hat die entsprechenden Summen ge- kung irgendetwas mit der jetzigen Botschaft von den gu- nannt; sie werden in der Summe bei mehr als 6,5 Milliar- ten Zahlen zu tun habe, müssen wir wirklich an Ihrem den Euro liegen. finanzpolitischen Sachverstand zweifeln. (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Und ihr glaubt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten das alles? – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sozialdemokratische Finanzpolitik ist Luftbu- chungspolitik!) Vor diesem Hintergrund möchte ich Ihnen sagen, dass es natürlich unbestritten ist – dies wird in einem Artikel Ein entscheidender Punkt ist: Was machen die Kommu- im „Handelsblatt“ vom 16. September dieses Jahres nen jetzt mit diesem Geld? Wenn sie nämlich auf Sie hö- bestätigt –, dass die konjunkturelle Entwicklung der ren, die Sie unseren Standort weiter schlechtreden, eigentliche Faktor für die jetzt positiven Zahlen ist. (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Das wird Ihnen dann wird dieses Geld in erster Linie – dies ist von Ihrer der Finanzminister aber nicht bestätigen kön- Seite bereits angekündigt worden – zur Entschuldung nen!) der Kommunen genutzt. Im Zusammenhang mit der Gemeindefinanzreform, die (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Gemeinde- wir gemeinsam im Vermittlungsausschuss beschlossen rat, sage ich da nur! – Jochen-Konrad Fromme haben, zeitigt die Mindestgewinnbesteuerung, die der [CDU/CSU]: Das ist doch vernünftig!) Kollege Merz vorhin als eine zusätzliche Steuererhö- hung gegeißelt hat, jetzt bei den Kommunen erste Er- – Nein, das ist völlig unvernünftig. Es ist nämlich nicht folge. so, dass wir als Bund in unsere Tasche greifen, damit die Kommunen dann letzten Endes eine Entschuldungspoli- (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Das tik betreiben. Nein, das Geld wird für öffentliche Auf- liegt doch an der Steuererhöhung und nicht an träge vor Ort bzw. zur Ankurbelung der Wirtschaft ge- der Konjunktur!) braucht. Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Erst wegnehmen sollten sich schon entscheiden: Auf der einen Seite kriti- und dann wiedergeben ist keine Wohltat!) sieren Sie öffentlich vor Mikrofonen – ich muss Sie da- ran erinnern –, dass ein Großunternehmen wie Vodafone Es wird, Herr Kampeter, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf, vor allen Dingen zur Verbesserung von (B) versucht, die Verluste aus den Vorjahren mit dem Ge- (D) winn zu verrechnen. Auf der anderen Seite geißeln Sie Bildung und Betreuung in den Kommunen gebraucht; da unsere Mindestgewinnbesteuerung als eine Steuererhö- ist sich Rot-Grün mit der Wirtschaft vollkommen einig. hung. Sie sollten sich überlegen, wie Sie das den Bürge- (Beifall bei der SPD – Steffen Kampeter rinnen und Bürgern erklären wollen. [CDU/CSU]: Da geht es wohl mehr um Sup- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten penküchen und nicht um Qualitätsbetreuung!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Auch da hören wir schon, dass die Kommunen die Darüber hinaus ist es völlig unbestritten, dass sich ne- feste Vereinbarung, die es hier gegeben hat, nämlich von ben den Einnahmen aus der Mindestgewinnbesteuerung den 2,5 Milliarden Euro, die im Zusammenhang mit und den Auswirkungen der positiven Konjunktur die Hartz IV bei den Kommunen verbleiben werden, Senkung der Gewerbesteuerumlage bis zum Jahresende 1,5 Milliarden Euro insbesondere in die Betreuung der bei den Kommunen positiv bemerkbar machen wird. Da- unter Dreijährigen zu investieren, nicht einhalten wollen. bei ist mit 2,5 Milliarden Euro zu rechnen. Für dieses Programm haben wir in Deutschland nicht nur die Unterstützung der Wirtschaft, sondern auch führen- (Dr. Andreas Pinkwart [FDP]: Das hätten wir der gesellschaftlicher Kräfte und im Übrigen auch die schon voriges Jahr haben können!) Unterstützung vieler Frauen aus Ihren Reihen. Es hätte natürlich aus unserer Sicht noch viel besser (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Herr Präsi- kommen können; an uns hat es aber nicht gelegen. Wenn dent, was macht die Uhr?) man in die Gewerbesteuerreform, so wie wir sie gewollt hätten, zusätzlich die Freiberufler einbezogen und man Nun bringen wir in diesem Zusammenhang einen Ge- die Bemessungsgrundlage verbreitert hätte, dann wären setzentwurf in den Bundestag ein. Frau Gönner aus Ba- gerade in Kommunen in strukturschwächeren Regionen den-Württemberg hat ja schon angekündigt, das Gesetz mehr Gelder angekommen. nicht in Kraft treten lassen zu wollen. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Mit guten (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Das Gründen!) waren doch Papiergewinne! Sie hätten Ar- beitsplätze vernichtet!) Dazu muss ich Ihnen sagen: Damit stellen Sie sich ein Armutszeugnis aus. Ich möchte aber Ihren geschätzten Blick ein bisschen darauf richten, dass für das kommende Jahr unter ande- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rem im Zusammenhang mit Hartz IV eine zusätzliche des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11513

Bettina Hagedorn (A) Von den über 6 Milliarden Euro, mit denen die Kommu- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- (C) nen ab dem kommenden Jahr durch die Kombination richts des Ausschusses für Bildung, Forschung von Gewerbesteuerreform, Hartz IV und anderen Geset- und Technikfolgenabschätzung (17. Ausschuss) zen besser gestellt werden – zu dem Antrag der Abgeordneten Swen Schulz (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Die Zahlen (Spandau), Jörg Tauss, Doris Barnett, weiterer sind wahrscheinlich so falsch wie Ihr Haus- Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie halt!) der Abgeordneten Peter Hettlich, Volker Beck (Köln), Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter – ich kann Ihnen die Zahlen einmal in Ruhe darlegen, und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE Herr Kampeter –, sollen 1,5 Milliarden Euro für die Be- GRÜNEN treuung der unter Dreijährigen bereitgestellt werden. Wir streben nach dem Gesetz 230 000 zusätzliche Betreu- Deutsche und europäische Raumfahrtpolitik ungsplätze bis zum Jahr 2010 an, 60 000 im nächsten zukunftsorientiert gestalten Jahr und durchschnittlich 34 000 in den Folgejahren. Die – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Georg Kommunen sind frei in der Gestaltung, in welchem Um- Nüßlein, Katherina Reiche, Thomas Rachel, fang sie diese Plätze pro Jahr bereitstellen werden. weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Der entscheidende Punkt ist, dass wir bei der Schaf- CDU/CSU fung der 230 000 zusätzlichen Plätze auf die Finanzsi- Stärkung der wissenschaftlichen Zukunfts- tuation der Kommunen Rücksicht genommen haben. und wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit des Raumfahrtstandorts Deutschland in Eu- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ropa Frau Kollegin Hagedorn! – zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Pieper, Ulrike Flach, Christoph Hartmann Bettina Hagedorn (SPD): (Homburg), weiterer Abgeordneter und der Wenn im nächsten Jahr 400 Millionen Euro investiert Fraktion der FDP werden, verbleiben noch 1,1 Milliarden Euro – Stärkung der europäischen Raumfahrtpoli- tik – Gewinn für den Wirtschafts- und For- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: schungsstandort Deutschland Sie haben Ihre Redezeit weit überschritten. Ich muss – zu der Unterrichtung durch die Bundesregie- (B) leider intervenieren. rung (D) Weißbuch Bettina Hagedorn (SPD): – bei den Kommunen, um die Erfüllung öffentlicher Die Raumfahrt: Europäische Horizonte ei- Aufträge zu gewährleisten bzw. um im Rahmen der ner erweiterten Union Ganztagsbetreuung – wir haben 4 Milliarden Euro für Aktionsplan für die Durchführung der euro- bessere Bildung und Betreuung zur Verfügung gestellt – päischen Raumfahrtpolitik ergänzend tätig zu werden. KOM (2003) 673 endg.; Ratsdok. 14886/03 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: – Drucksachen 15/2394, 15/2334, 15/1230, Vielen Dank, Frau Kollegin. 15/2373 Nr. 2.2, 15/3539 – Berichterstattung: Bettina Hagedorn (SPD): Abgeordnete Ulrike Flach Ich appelliere an die Kommunen, das Geld in die Swen Schulz (Spandau) Hand zu nehmen –, Dr. Georg Nüßlein Peter Hettlich Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Vielen Dank! Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Bettina Hagedorn (SPD): Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- und zwar zugunsten der Familien. ner dem Kollegen Swen Schulz von der SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Swen Schulz (Spandau) (SPD): Die Aktuelle Stunde ist beendet. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Heute möchte ich Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: mich als Hellseher betätigen. Ich sage voraus, was die 11514 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Swen Schulz (Spandau) (A) CDU/CSU hier im Wesentlichen zum Thema Raumfahrt Um das sicherzustellen, müssen wir Prioritäten set- (C) vortragen wird. zen, also herausarbeiten, wo wir Spitze sind oder werden können, und uns auf diese Felder konzentrieren, anstatt Meine Kolleginnen und Kollegen von der Union, Sie überall ein wenig zu machen und damit ins Mittelmaß zu werden deutlich machen, dass Sie zur Raumfahrt stehen, rutschen. und einige gute und vollkommen unkontroverse Erläute- rungen dazu abgeben. So weit, so gut. Dann werden Sie Wir haben uns in der europäischen und deutschen aber betonen, dass Deutschland die Chancen der be- Raumfahrt eine Menge vorgenommen. Die drei wohl mannten Raumfahrt nicht verpassen dürfe. Konkret: Sie größten Herausforderungen will ich benennen: das Trä- wollen gemeinsam mit US-Präsident Bush zum Mars gersystem Ariane 5, das Satellitennavigationssystem Ga- fliegen. lileo und die internationale Raumstation ISS. Das sind wirklich dicke Brocken, die einen Großteil der zur Ver- (Jörg Tauss [SPD]: Es wäre ja nicht schlecht, fügung stehenden Ressourcen in Anspruch nehmen. wenn sie mitflögen!) Wir müssen unbedingt die Ariane flott bekommen; Das würde mich an sich nicht weiter stören. Sie wollen sonst haben wir nicht den angesprochenen unabhängigen das aber natürlich auf Kosten der Steuerzahler machen. Zugang zum Weltraum und können die Raumfahrt dann Das bereitet Probleme, die Sie nicht lösen können, ja, im Grunde genommen sowieso abhaken. leider auch gar nicht erst lösen wollen. Sie werden nicht erklären, woher das Geld für die Programme der be- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mannten Raumfahrt kommen soll. Sie merken es: Ich DIE GRÜNEN) sage auch voraus, was Sie nicht sagen werden. Bundesministerin Bulmahn hat in diesem Feld ein wirk- Diese inhaltliche Lücke wird Sie aber nicht daran hin- lich glanzvolles Verhandlungsergebnis erreicht dern, die Regierungskoalition anzugreifen, weil für die (Beifall bei der SPD) Raumfahrt, insbesondere im Rahmen des nationalen Programms, zu wenig Geld zur Verfügung gestellt und den Trägerbereich neu strukturiert, die deutschen werde. Ausgaben begrenzt und darüber hinaus den Abbau des Rückflussdefizits vereinbart. Ich fürchte, das gehört zu Der Reihe nach: Über die Bedeutung der Raumfahrt den wichtigen Dingen, die die CDU/CSU verschweigen muss ich hier wohl nicht mehr viel sagen. wird. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Jörg Tauss [SPD]: Lassen wir uns positiv überraschen!) (B) Sie ist von großer strategischer Bedeutung, Motor des (D) wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts, Galileo bietet eine riesige Chance für Europa und ge- schafft Arbeitsplätze und hilft, Probleme auf der Erde zu rade auch für Deutschland. Die Bundesregierung hat hier lösen: vom Umweltschutz über Kommunikation und Na- einen weiteren tollen Erfolg zu verzeichnen, denn sie hat vigation, Katastrophenschutz usw. Deutschland die Führung des Projektes erstritten. Wir brauchen aufgrund der Bedeutung der Raumfahrt ei- (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) nen eigenen, einen unabhängigen Zugang zum Weltraum. Doch wir dürfen uns damit nicht zufrieden geben, son- Wir dürfen uns in diesem Schlüsselbereich nicht von an- dern müssen die daraus resultierenden Möglichkeiten deren Staaten abhängig machen. Die bringen doch die nutzen. Wir müssen das System auf die Beine stellen und eigene Konkurrenz nicht in den Weltraum, und wenn, darauf achten, dass die Zusammenarbeit von öffentlicher dann nur zu härtesten Bedingungen. und privater Seite funktioniert und dass Unternehmen in Natürlich schaffen wir Deutsche das nicht allein. Wir Deutschland Nutzen daraus ziehen. benötigen die enge Zusammenarbeit mit unseren europäi- Bei dem vielleicht Schwierigsten, der internationa- schen Freunden. Wir wollen darum – das ist einer der len Raumstation ISS, können wir derzeit allerdings wichtigen Punkte unseres Antrages – die EU stärker ein- nicht viel mehr machen als warten: warten auf die beziehen. Damit erhalten wir eine breitere Basis für die USA, darauf, ob die Vereinigten Staaten zu ihrem Wort europäische Raumfahrt und können insbesondere die an- stehen und die Raumstation mit dem Space Shuttle an- wendungsorientierten Aktivitäten durch Beteiligung der fliegen und dann die ISS mit unserem Forschungsmo- Nutzer bei Konzeption und Finanzierung stärken. dul Columbus fertig stellen. Erst dann können wir die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ISS auch richtig nutzen. DIE GRÜNEN) Um auch von den Finanzen her die Dimension klar zu Wir dürfen darüber aber nicht die nationalen Anstren- machen: Deutschland ist der größte europäische Bei- gungen vernachlässigen. Wir können nicht einfach so tragszahler für die Raumstation. Jährlich werden dafür tun, als ob Europa das alles für uns erledige. Nur wer in etwa 100 Millionen Euro aus deutschen Steuermitteln der ersten Reihe mitmischt, wird auch richtig von der verwendet. Insgesamt wurden dafür von uns bereits Raumfahrt profitieren können. heute über 1 Milliarde Euro ausgegeben. Das kann man begrüßen oder auch kritisch sehen; das ist aber nicht (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mein Punkt. Mein Thema ist, dass es vollkommen von DIE GRÜNEN) den USA abhängt, ob unsere Ausgaben irgendwann auch Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11515

Swen Schulz (Spandau) (A) einmal einen Nutzen bringen. Wir bauen Columbus und 300 Millionen Euro mehr für Bildung und Forschung ha- (C) das Teil wartet in irgendeiner Halle darauf, dass sich der ben möchten, gegenfinanziert durch den Abbau der US-Präsident erbarmt und es mit nach oben auf die Steinkohlesubventionen. Raumstation nimmt. (Jörg Tauss [SPD]: Stoiber will Kürzungen!) (Jörg Tauss [SPD]: Ja, unglaublich!) Das geht so natürlich gar nicht. Sie wissen das auch, Ich will mich nicht zu lange mit den Fehlleistungen der aber Sie glauben, es höre sich gut an. Sie haben sich Regierung Kohl aufhalten; wir können das heute nicht nicht zu dem Vorschlag von Edmund Stoiber verhalten, mehr ändern. Wir sind vertragstreu und fordern auch die gewissermaßen mit dem Rasenmäher überall die Ausga- USA dazu auf. ben zu kürzen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Dafür allerdings, liebe Kolleginnen und Kollegen von Das hörte sich nicht mehr so gut an und vertrüge sich na- der CDU/CSU, dass Sie nach dieser Erfahrung jetzt mit türlich auch nicht mit Ihren ständigen Forderungen nach den Amerikanern offenbar ein neues Abenteuer der be- mehr Ausgaben. mannten Raumfahrt eingehen wollen, fehlt mir jedes Wir haben einen Weg vorgeschlagen, der nicht leicht, Verständnis. aber tatsächlich gangbar ist, nämlich in die Köpfe anstatt (Jörg Tauss [SPD]: Und denen das Geld!) in Beton zu investieren. Wir geben heute Milliarden für die Eigenheimzulage aus, Geld, das wir dringend für Sie stellen sich hier hin, befreit von jedwedem lästigen Bildung und Forschung benötigen, auch für die Raum- Realitätssinn, und fordern, dass wir im Himmel einen fahrt. Jahrmarkt veranstalten. Das geht nicht. In unserem Antrag steht, dass insbesondere die natio- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nale Raumfahrt finanziell gestärkt werden muss; ich DIE GRÜNEN) hatte schon auf ihre Bedeutung hingewiesen. Wir haben Sie wissen dabei genau, dass wegen des Aufwandes für in dieser schwierigen Haushaltslage eine Stabilisierung Sicherheit und Überlebenssysteme die Kosten für der Ausgaben erreicht. Aber es ist richtig, wir benötigen einen Aufwuchs. Ich schlage Ihnen daher eine Abma- bemannte Raumfahrt um ein x-faches höher sind als chung vor: Sorgen Sie dafür, dass die CDU/CSU der Ab- für unbemannte Raumfahrt. Aber selbst wenn Sie den schaffung der Eigenheimzulage zustimmt, und ich sorge ganzen Aufwand bewältigen, die technischen Probleme dafür, dass die Ausgaben für die Raumfahrt steigen. (B) lösen und alles bezahlen können, stellt sich immer noch (D) eine kleine, aber nicht ganz unwichtige Frage: Wenn Sie (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem einen Menschen auf den Mars gebracht haben, was soll BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Peter Hettlich der dann da bitte schön machen? Die europäische Fahne [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dabei helfe in roten Sand rammen und dann wieder nach Hause flie- ich!) gen? Eine solche Zusage von Ihnen würde mich freuen, (Jörg Tauss [SPD]: Roter Sand ist gut!) ebenso, wenn Sie hier erklärten, dass Sie keine Aben- teuer fordern, oder wenigstens sagten, woher die Milliar- Ich bitte alle: Bleiben Sie auf dem Teppich! Die Kos- den kommen sollen. Es würde mich überraschen, aber ten-Nutzen-Relation der unbemannten Raumfahrt ist freuen. Dann könnte ich auch verschmerzen, dass es mit nicht zu schlagen. Es steht das schöne Wort von Bundes- meinen hellseherischen Fähigkeiten doch nicht so weit ministerin Bulmahn: Die Amerikaner können ja gerne her ist. zum Mars fliegen – unser Roboter wird ihnen die Tür aufmachen. Herzlichen Dank. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Sie mögen einwenden, dass wir Visionen brauchten. Okay, aber leider verwechseln Sie wie so oft Visionen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: mit Spinnerei Das Wort hat der Kollege Dr. Georg Nüßlein von der CDU/CSU-Fraktion. (Jörg Tauss [SPD]: Wolkenkuckucksheim!) und kümmern sich dabei nicht darum, dass wir zunächst Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): die real vor uns liegenden Herausforderungen bewälti- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten gen müssen. Wir konzentrieren uns auf das Wesentliche, Damen und Herren! Ich finde es zunächst spannend, wir stellen die Grundlage her, auf der dann neue Vorha- dass der geschätzte Kollege Schulz hier Astrologie und ben verantwortbar konzipiert werden können, keine Astronomie vermischt hat. Nicht spannend finde ich das, fragwürdigen Prestigeprojekte, sondern effiziente For- was Sie uns vorhergesagt haben, weil hier im Hause be- schung, Entwicklung und Anwendung. kannt ist, dass Sie die Probleme und Schwierigkeiten sehr wohl kennen, nur nicht an deren Lösung arbeiten. Zum Abschluss natürlich noch ein paar Worte zum Geld. Gestern im Ausschuss haben wir gehört, dass Sie (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 11516 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Dr. Georg Nüßlein (A) Angesichts dessen sind Vorhersagen alles andere als eine wortet. Wenn sie ins Ausland gehen, werden sie nicht (C) Kunst. mehr zurückkommen. Nun sind Vorhersagen hier auch deshalb nicht schwie- (Jörg Tauss [SPD]: Haben Sie das dem Herrn rig gewesen, weil wir uns bei der letzten Debatte schein- Stoiber schon gesagt?) bar weitgehend und fraktionsübergreifend über die Be- Nach aktuellen Umfragen sind 70 Prozent der deutschen deutung der Raumfahrt einig waren. Natürlich muss man Wissenschaftler in den USA nicht gewillt, nach Deutsch- bei so viel Einigkeit ein bisschen zwischen den Zeilen land zurückzukommen. lesen. Es spricht Bände, wenn der Kollege Hettlich von den Grünen in der letzten Debatte relativiert hat: (Jörg Tauss [SPD]: Nach Ihren Klagen gegen die Juniorprofessoren wird es nicht besser!) Die technologischen Fortschritte durch die Raum- fahrt wurden und werden auch heute noch etwas – Das ist so wie mit dem Schwarzgeld: Nur zum Steuer- überschätzt. zahlen, Herr Tauss, kommt niemand nach Deutschland zurück. (Peter Hettlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Die bemannte!) (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Damit haben Sie von der CDU/ – Nein, das haben Sie nicht gesagt. Das ist im Protokoll CSU ja die beste Erfahrung!) nachzulesen. Die Innovationsoffensive nimmt man dieser Regie- Ich bin froh, dass trotzdem die Schlussfolgerungen al- rung nicht ab. Wer bei der Kernenergie Experten aus ler Beteiligten ähnlich ausfallen: Wir wollen den natio- dem Land treibt oder die Grüne Gentechnik im Keim er- nalen Etat aufstocken, kleine und mittlere Unternehmen stickt, dem nimmt man so etwas nicht ab. Bei der Raum- nach wie vor an der Raumfahrt beteiligt wissen, den wis- fahrt habe ich – auch nach Ihrer Rede, Herr Schulz – den senschaftlichen und technischen Nachwuchs fördern und Eindruck, dass es gerade einmal darum geht, bestehen- die europäische und internationale Zusammenarbeit aus- den internationalen Verpflichtungen nachzukommen, aber bauen. Nun ist es ein halbes Jahr her, dass wir an dieser nicht darum, weiterzudenken und sich die Frage zu stel- Stelle diskutiert haben. Daher dürfen wir die Frage stel- len, wie man in diesem Bereich der Spitzentechnologie len, was in diesem halben Jahr passiert ist. in Deutschland langfristig vorankommt. (Jörg Tauss [SPD]: Das ist eine berechtigte (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Wir arbeiten Frage!) Ihre Probleme ab!) (B) Die Regierung hat ziemlich zeitgleich mit der letzten – Daran arbeiten Sie schon sechs Jahre. (D) Debatte eine Innovationsoffensive angekündigt. Wir haben das letzte Mal eine langfristige Strategie (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) angemahnt. Da kam reflexartig der Verweis auf Ihr Raumfahrtprogramm. Das ist nichts Langfristiges; das Dass seit sechs Jahren keine innovativen Impulse aus der endet im Jahr 2006. Die Raumfahrt denkt aber in ganz Politik kommen, bildet sich mittlerweile in der Wirt- anderen Zyklen. schaft deutlich ab. Im Jahr 1999 waren 60 Prozent der Unternehmen mit Produktinnovationen auf dem (Vorsitz: Vizepräsident Dr. ) Markt, 2002 waren es nur noch 53 Prozent. Bei den Pa- Das wissen Sie. Die Rosetta-Mission zum Beispiel tentanmeldungen wurde Deutschland nach 13 Jahren wurde Mitte der 80er-Jahre gestartet. Der Start der Ra- Vorreiterrolle im Jahre 2003 erstmals von Japan überrun- kete war heuer und die Landung auf dem Kometen wird det. Der Anteil forschungsintensiver Erzeugnisse am Ex- im Jahre 2014 stattfinden. Heutige Haushaltsschwierig- port sinkt. Im Jahr 2000 importierte Deutschland im Be- keiten sind nicht die Haushaltsschwierigkeiten von reich der Spitzentechnologie erstmals mehr, als es ; das sind Ihre Haushaltsschwierigkeiten. exportierte. (Beifall bei der CDU/CSU) (Jörg Tauss [SPD]: Daran sehen Sie, was Sie uns hinterlassen haben!) Sie können nicht die Strategie in der Luft- und Raum- fahrt auf alle Zeiten dominieren. – Auf diese Bemerkung komme ich noch zurück. Es geht doch um Fragen der kompetenten Standortsi- Ihre Innovationsoffensive, meine Damen und Herren, cherung, um Wachstum. Ich muss mir doch, wenn ich ist und bleibt eine Ankündigungsoffensive. Mir persön- über Strategie rede, erst einmal die Frage stellen: Wo lich stellt sich die Frage, was Sie noch ankündigen könn- will ich hin? ten, wenn Sie all das, was Sie in den letzten sechs Jahren (Jörg Tauss [SPD]: Da müssten Sie sagen: Wo angekündigt haben, auch umgesetzt hätten. Gar nichts! komme ich her?) Genauso viel ist passiert. Als ein Stichwort nenne ich die Eliteuniversitäten. Es wäre gut, wenn wir uns um die Und dann: Mit welchen Mitteln kann ich das erreichen? Eliten kümmerten. Allein am Deutschen Luft- und Jetzt sage ich einmal etwas Positives – das haben Sie Raumfahrtzentrum rangeln momentan 400 Doktoranden vorhin ja angemahnt; ich hätte es aber auch so ge- um eine Festanstellung, die sie nicht bekommen werden. macht –: Deshalb finde ich es gut, Frau Ministerin, dass Die Frage, wohin sie gehen werden, ist schnell beant- das Ministerium und das DLR am Freitag darüber disku- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11517

Dr. Georg Nüßlein (A) tieren werden. Ich bitte Sie nur: Machen Sie keinen Pflicht! Schaffen Sie Rahmenbedingungen, damit die (C) Dauerlutscher daraus, nicht etwas, was ewig dauert, son- Wirtschaft wieder läuft und Investitionen wieder mög- dern etwas, was auch zu konkreten Ergebnissen führt. lich sind! Schaffen Sie Rahmenbedingungen, damit Un- Denn die Wirtschaft braucht ganz dringend Verlässlich- ternehmen in der Luft- und Raumfahrt in Deutschland keit der Politik. Das gilt besonders für die kleinen und eine Zukunft haben! mittleren Unternehmen, die in der schwierigen Situation (Beifall der Abg. Ilse Aigner [CDU/CSU] – sind, dass auf der einen Seite Impulse des Staates und Gegenruf der Abg. Nicolette Kressl [SPD]: Da der Politik für den Bereich der Raumfahrt fehlen und klatschen nicht mal die Eigenen! – Jörg Tauss dass auf der anderen Seite die wirtschaftlichen Rahmen- [SPD]: Das ist echt nett!) bedingungen in Deutschland momentan so schlecht sind, dass man sich schwer tut, durch Anwendungsorientie- Ich sage auch deutlich, warum wir hier darüber disku- rung Standbeine zu schaffen. tieren. Ich bin der Überzeugung, dass auf dem Gebiet der Raumfahrt der Staat in ganz besonderer Weise in der (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Pflicht ist. Ich habe schon bei der letzten Debatte da- GRÜNEN]: Sagen Sie mal was zur Eigen- rüber versucht, zu betonen, dass es Grenzen der Kom- heimzulage!) merzialisierbarkeit gibt. Das gilt für die Grundlagenfor- – Ich weiß nicht, was die Eigenheimzulage mit der schung – da sind wir uns einig –; das gilt aber auch für Raumfahrt zu tun hat. den Bereich der Anwendungsorientierung. (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sie haben das Stichwort Galileo gebracht. Da geht es DIE GRÜNEN) ja auch weiter. Wir erkennen den Erfolg sehr wohl an, der sich darin zeigt, Ich sage Ihnen eines: (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD] – Swen (Dr. Uwe Küster [SPD]: Auf jeden Fall sind Schulz [Spandau] [SPD]: Das ist schon mal Ihre Überlegungen in Ihrem Eigenheim einge- was!) schlossen!) dass der Sitz von Galileo Industries in München ist – Wenn Sie ein Wohnungsbauprojekt auf dem Mond pla- auch deswegen, weil ich aus Bayern komme. Ich sehe nen würden, dann wäre das visionär. Mit dieser Eigen- ebenfalls, dass in den neuen Bundesländern Leute auf heimzulage – das ist die einzige diesbezügliche Debatte, Impulse rechnen, etwa auf ein Geoforschungszentrum die wir momentan im Bundestag führen – versuchen Sie, für Potsdam. Das sind alles wichtige Themen. Aber das alle Probleme, die sich im Haushalt aufgetürmt haben, ist nicht das Allheilmittel für die Raumfahrt. (B) zu lösen. (D) Die Arbeitsplätze, die im Rahmen von Galileo entste- (Jörg Tauss [SPD]: Nein, bei Bildung und hen, werden im Endgerätebereich entstehen. Wir tun uns Forschung!) dabei noch etwas schwer mit der Umsetzung. Es kann Die Größenordnung, um die es sich bei der Eigenheim- doch niemand genau sagen, ob die Investition 2,6, 2,7 oder zulage handelt, ist dafür überhaupt nicht geeignet. vielleicht sogar 3,5 Milliarden Euro ausmachen wird. Das ist aufzubringen, wenn man absehen kann, dass es (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE zu Rückflüssen kommen wird, dass Geld verdient wird. GRÜNEN]: Das ist ja auch die größte Subven- Es können nicht die Autofahrer allein sein, die das über tion! – Dr. Uwe Küster [SPD]: Nach den das Navigationssystem bezahlen werden. Weitere Kun- Bäuerlein!) den könnten sein: die Bahn, die Schifffahrt und die Luft- Im letzten Jahr wollten Sie mit diesem Geld nicht for- fahrt. Aber wir werden auch das Militär benötigen. schen; im letzten Jahr wollten Sie noch konsolidieren. Da sind wir schon an einem Punkt, an dem wir uns Heute wollen Sie forschen. Ich bin gespannt, was Sie reichlich schwer tun. Das Militär nutzt noch bis 2015 übermorgen mit der Eigenheimzulage machen wollen. kostenlos GPS. Wir werden in diesem Haus die Frage So können wir natürlich die Probleme in diesem Land beantworten müssen, was uns die Unabhängigkeit von nicht lösen. den USA in diesem Bereich wert ist. Der Staat wird da- (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss rüber hinaus sicherstellen müssen, dass dieses Signal [SPD]: Dann verhandeln wir mal darüber! dauerhaft vorhanden ist, dass Galileo also dauerhaft füh- Dann legen wir das gemeinsam für Bildung rend ist. Das ist nur durch staatliche Bürgschaften mög- und Forschung fest!) lich. Insofern wird sich der Staat hier nicht aus der Pflicht nehmen können. Neben der Eigenheimzulage gibt es auch noch einen anderen Punkt: Wenn Ihnen nichts mehr einfällt, dann Sie haben angesprochen, dass all dies eine Frage der fordern Sie immer die Mitverantwortung der Industrie Finanzierung ist. Das ist richtig. Es ist nicht so, dass wir und der Wirtschaft ein. diesen Aspekt ausblenden. Aber ich sage ganz deutlich: An der Finanzmisere, in der wir uns momentan befinden, (Jörg Tauss [SPD]: Der Länder! Der von Ihnen ist einzig und allein diese Regierung schuld. regierten Länder!) (Beifall bei der CDU/CSU – Swen Schulz Pflicht ist offenbar, meine Damen und Herren, das, was [Spandau] [SPD]: Sie haben den Subventions- Sie von den anderen erwarten. Ich sage: Tun Sie Ihre abbau verhindert!) 11518 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Dr. Georg Nüßlein (A) Sie haben sie zu verantworten. (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Helmut Kohl (C) hat viel mehr abgebaut! Da waren es 20 Pro- (Jörg Tauss [SPD]: Das kann man ändern, zent weniger!) wenn man die Eigenheimzulage streicht!) Wenn sich am nationalen Programm künftig nichts – Durch die Streichung der Eigenheimzulage kann man ändert, dann stellen sich die Fragen: Wie sollen wir die an dieser Situation, allein aufgrund der Größenordnung, von der EU geforderte Kofinanzierung aufbringen? Wie null Komma nichts ändern. sollen wir im Rahmen des 6. Forschungsrahmenpro- (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: 3 Milliarden!) gramms erfolgreich sein? Dann zieht auch der Einwand, mit dem ich eigentlich gerechnet habe, nicht, dass der – Herr Schulz, nachdem Sie nun sechs Jahre an der Re- ESA-Beitrag seit 1998 von 494,4 Millionen Euro auf gierung sind, können Sie nicht immer noch nach der Ma- 561,75 Millionen Euro aufgestockt wurde. nier „Haltet den Dieb!“ verfahren und sagen, die Regie- rung Kohl sei schuld. (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Da sehen Sie mal!) (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Doch, weil Sie leider noch immer alles blockieren! – Josef Denn abgesehen davon, dass dieser Betrag nicht aus- Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- reicht, werden sich durch Galileo, ISS und Launcher NEN]: Der Dieb läuft ja immer noch weg!) außerordentlich hohe Mehrkosten ergeben. Ich sage Ihnen: Schaffen Sie finanz- und wirtschaftspoli- Im nächsten Jahr wollen Sie den ESA-Beitrag gegen- tische Rahmenbedingungen, die zu Wachstum führen! über der Anforderung des BMBF um 10 Millionen Euro und gegenüber dem Finanzplan für das Jahr 2003 um Nun konkret zum Haushalt: Wir waren einhellig der 20 Millionen Euro reduzieren. Man könnte sagen: Das Meinung, dass das nationale Programm gestärkt wer- ist wunderbar! Das war unser Vorschlag. Es ist ja nicht den muss, weil es der Schlüssel ist, mit dem in Europa so, dass wir keine Finanzierungsvorschläge machen. Das mehr Wettbewerbsfähigkeit erreicht werden kann. Aber ist ein Vorschlag, wie man die Mittel für das nationale wie sieht die Realität aus? In Deutschland beträgt das Programm schrittweise anheben könnte. Aber was pas- Verhältnis zwischen den Mitteln für das nationale Pro- siert? Genau das Gegenteil: Die Einsparungen kommen gramm und dem ESA-Beitrag 20 zu 80. In Frankreich ist der Aufstockung des nationalen Programms nicht zu- das Verhältnis umgekehrt, 65 zu 35, und zwar auf deut- gute. Die Millionen verschwinden im schwarzen Loch lich höherem Niveau. In Italien beträgt es etwa 50 zu 50. des rot-grünen Haushalts. (B) Unsere Partner bereiten sich auf die neuen EU-Kom- (Jörg Tauss [SPD]: 16 Minuten können (D) petenzen schlicht und einfach besser vor. Ich habe den quälend lang sein!) Eindruck, wir wollen all unsere Probleme und Ein- schränkungen wieder „wegeuropäisieren“ bzw. weghar- – Geld ist nicht alles und die Zurufe von Herrn Tauss monisieren. Aber wir werden erleben, dass der Wettbe- sind es Gott sei Dank auch nicht. Es ist schon traurig, werb der Volkswirtschaften auch in einem geeinten dass der liebe Gott Sie mit so einer lauten Stimme ausge- Europa bestehen bleibt. Das wird auch für die Luft- und stattet hat. Da sieht man, dass unser Herrgott auch nicht Raumfahrt gelten. unfehlbar ist. Was ist also aus unserer gemeinsamen Forderung Es ist nicht immer nur eine Frage des Geldes, meine nach Aufstockung des nationalen Programms geworden? Damen und Herren. Diese Erfahrungen haben der Herr Herr Schulz, meine Prognose war richtig: Die Fraktio- Staatssekretär Dudenhausen und einige Kollegen ge- nen von SPD und Grünen fordern eine Aufstockung des meinsam mit mir bei einem Raketenstart in Kourou ge- nationalen Raumfahrtprogramms, die Regierung aber macht. Es gab dort erst nach Drängen der CDU/CSU- stockt die Schulden auf. Mitglieder eine deutsche Führung. Die Franzosen konn- ten oder wollten nicht erklären, welche Raketenteile aus (Jörg Tauss [SPD]: Ach, nein!) Deutschland kommen. Jetzt kann man sagen: Das ist al- Seit dem Regierungswechsel im Jahre 1998 erodiert les entschuldbar. Nur eines muss man klar sehen: Frank- das nationale Programm zunehmend: Die Mittel wurden reich finanziert etwa 27 Prozent der ESA, wir etwa von 167 Millionen Euro im Jahr 1998 scheibchenweise 25 Prozent. Deshalb ist eine französische Dominanz in auf 138,3 Millionen Euro reduziert. diesem Ausmaß nicht gottgegeben und wir sollten alles daransetzen, daran etwas zu ändern. Das ist eine Frage (Jörg Tauss [SPD]: Ein bisschen mehr Selbst- des Auftretens, der Ansprüche und des Selbstbewusst- kritik bitte!) seins. Jetzt werden Sie zwar einwenden, dass sie im Moment Mir ist daran gelegen, dass wir unsere Wettbewerbs- 145,5 Millionen Euro betragen. Aber ich sage Ihnen: position verbessern und ausbauen und dass wir unseren Von diesen 145,5 Millionen Euro sind derzeit noch Blick nicht zu sehr einschränken. Wir dürfen unsere sehr 18 Millionen Euro gesperrt. Gelder, die im Oktober gute Ausgangsposition, wie ich meine, nicht leichtfertig eines Jahres noch gesperrt sind, stehen faktisch nicht zur aufs Spiel setzen, Verfügung. Das ist reine Augenwischerei und Makulatur. Das muss man in dieser Deutlichkeit sagen. (Jörg Tauss [SPD]: Überhaupt nicht!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11519

Dr. Georg Nüßlein (A) insbesondere mit Blick auf die internationale Raumsta- (Jörg Tauss [SPD]: Machen Sie mal einen (C) tion ISS, an deren Nutzung Deutschland ein außeror- Diavortrag darüber!) dentliches Interesse haben muss. – Machen wir, gerne, vielleicht sogar im Bundestag. Unabhängig davon, wie ernst man Ankündigungen von Präsident Bush nimmt: Die bemannte Basis auf dem Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Mond mag teuer und visionär sein, ich weiß aber, dass sie hier im Saal manchem weniger zu teuer als vielmehr Ich bin einmal gespannt, welche Redezeiten die Frak- zu visionär ist. Dennoch sollten wir nicht von vornherein tionen dafür anmelden. Themen ausschließen, nur weil nicht sein kann, was in den Augen von Rot-Grün nicht sein darf. Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Jörg Tauss [SPD]: Der rote Planet ist doch Diese Missionen haben uns darüber hinaus bereits etwas Schönes!) jetzt einen riesigen Erkenntnisgewinn gebracht – ich kann es nur jedem empfehlen, diese Internetseiten ein- Meine Damen und Herren, Herr Tauss, als die Loko- mal aufzurufen –: So haben uns die Bilder des Mars motive erfunden wurde, haben skeptische Mathematiker Rover „Opportunity“ nicht nur die faszinierende Welt präzise nachgewiesen, dass sie nicht auf glatten Schie- der Landestelle „Meridiani Planum“ näher gebracht, nen fährt, weil die Räder durchdrehen. Präzise falsch. sondern mithilfe des an Bord befindlichen Mössbauer- Massenspektrometers auch den Nachweis führen kön- Vielen herzlichen Dank. nen, dass in diesem Gebiet vor langer Zeit eine große (Beifall bei der CDU/CSU) Lagune mit salzhaltigem Wasser existiert haben muss. Den Beweis, dass es tatsächlich Leben auf dem Mars ge- geben hat, sind uns diese Sonden zwar noch schuldig ge- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: blieben, aber ein bisschen spannend darf es aber ruhig Nächster Redner ist der Kollege Peter Hettlich, Bünd- noch bleiben: Schließlich regt das die Fantasie an. nis 90/Die Grünen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Jörg Tauss [SPD]: Herr Hettlich, nun sagen und bei der SPD) Sie mal, was Sie Böses geschaffen haben!) Warum bin ich jetzt etwas ausführlicher auf diese ak- Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): tuellen Missionen eingegangen? Sie sind für mich zum einen ein Beweis dafür, dass deutsche und europäische Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und (B) Raumfahrttechnologie und -forschung absolute Welt- (D) Kollegen! In einem sind wir uns sicherlich einig: Die spitze darstellen, und zum anderen zeigen diese Missio- Raumfahrt ist aus unserem Alltag nicht mehr wegzuden- nen deutlich, dass wir zur Erforschung ferner Welten ken. Sie hat in den vergangenen Jahrzehnten in vielen keine bemannten Missionen brauchen. Bereichen, manchmal sogar unbemerkt, unverzichtbare Funktionen übernommen, sodass es uns heute gar nicht Das vorgenannte Mössbauer-Massenspektrometer auf mehr möglich ist, zum Beispiel ohne Wetter-, Telekom- dem US-amerikanischen Mars Rover wurde beispiels- munikations- oder Fernsehsatelliten auszukommen. Eng weise von der Universität Mainz entwickelt und gebaut. verknüpft ist damit die Raumfahrtforschung, die durch Die jetzt schon legendäre Stereokamera auf der europäi- ihre technologische und wissenschaftliche Arbeit vielen schen Mars-Express-Sonde stammt aus der Schmiede Innovationen auch den Weg in andere Technologiefelder von Professor Neukum von der FU Berlin. Auch an der bereitet hat. Aber – das möchte ich Herrn Nüßlein ins Saturnmission Cassini ist Europa – und damit auch Stammbuch schreiben – die bemannte Raumfahrt konnte Deutschland – mit dem Mondlander Huygens beteiligt. viel dazu beitragen, weil es in erster Linie um die Ver- lässlichkeit von Bauteilen ging! Das war nämlich lebens- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN notwendig für die Astronauten. Die Technologie von und bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Trotz der Apollo und dem Space Shuttle ist zum Teil auch heute Unkerei der anderen Seite!) noch regelrecht archaisch. Diese ausgewählten Beispiele sind nur ein kleiner Die Raumfahrt leistet aber auch einen unverzichtba- Ausschnitt, aber ein Beweis für die hohe Anerkennung, ren Beitrag zur Beantwortung der Menschheitsfragen die deutsche und europäische Raumfahrtexperten inter- nach der Entstehung und Zukunft unserer Welt oder un- national – auch bei den Amerikanern – genießen. Sie zei- seres Universums. Von zentraler Bedeutung ist dabei gen uns aber auch, dass wir trotz einer von uns gewollten auch die Frage, ob es Leben – in welcher Form auch im- und geförderten gemeinsamen europäischen Raumfahrt- mer – außerhalb unseres Planeten gibt bzw. gegeben hat, politik weiterhin ein nationales Raumfahrtprogramm womöglich sogar in unserem Sonnensystem. Als lang- benötigen. Daher ist es auch wichtig, dass wir in unse- jähriger engagierter und begeisterter Amateurastronom rem Antrag fordern, dass wir unsere mittelfristige Fi- verfolge ich über das Internet beinahe täglich die aktuel- nanzplanung auf eine Neuorientierung der programmati- len Expeditionen auf dem Mars und am Saturn. Die Pro- schen Zielsetzung des nationalen Raumfahrtprogramms duktion täglich neuer, fantastischer Bilder des Mars Ex- mit dem Ziel einer Verstetigung des Mittelflusses und press, des Mars Rover oder der Saturnsonde Cassini ist damit einer Absicherung und des Erhalts deutscher nur die eine Seite. Kompetenzen abstimmen. 11520 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Peter Hettlich (A) Ich will an dieser Stelle aber betonen: Wir können dert und fördern will, sollte auch so ehrlich sein und uns (C) und wir werden uns nicht in einen nationalen Wettlauf verraten, wo er künftig die Prioritäten setzen möchte und mit anderen Staaten begeben. Es kommt vielmehr auf wo er die Mittel dafür herbekommen will. die Konzentration auf diejenigen Kerngebiete an, die mit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Blick auf unsere Fähigkeiten und kommerziellen Pers- und bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Die Mil- pektiven die höchsten Potenziale bieten. Dabei ist es liarden!) wichtig, dass wir die Kompetenz kleiner und mittelstän- discher Unternehmen in der Raumfahrtindustrie erhal- Zum Schluss noch etwas in eigener bündnisgrüner ten. Deshalb setzen wir uns dafür ein, dass ihre Interes- Sache: Wenn wir als Bündnisgrüne einmal der Stationie- sen bei der Vergabe von Entwicklungsprogrammen und rung von deutschen Soldaten im Kosovo und in Afgha- Aufträgen auch im europäischen Rahmen angemessen nistan zugestimmt haben – zugegebenermaßen unter berücksichtigt werden. Schmerzen –, dann stehen wir auch dazu, dass wir damit eine Verwendung von Raumfahrttechnologie im Rahmen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN des Dual Use, zum Beispiel bei der Luftüberwachung, und bei der SPD) der Luftaufklärung sowie der Kommunikation und im In den vergangenen Monaten habe ich diesbezüglich Rahmen des Global Positioning Satellite Systems bzw. einige Gespräche geführt. Dabei habe ich die Erkenntnis später bei Galileo, akzeptiert haben. gewonnen, dass deutschen Unternehmen in den USA Mit Blick auf die aktuelle Situation und die Pläne für zum Teil fairere Chancen bei der Mitwirkung geboten eine noch weiter gehende Militarisierung des Weltalls wurden als im Rahmen von europäischen Projekten. An- möchte ich aber deutlich sagen: Wir wollen diese nicht gesichts unseres hohen finanziellen Beitrages zur ESA- und erteilen daher insbesondere der Entwicklung und Finanzierung hat es nichts mit nationalem Egoismus zu Stationierung von Waffensystemen im Weltraum eine tun, wenn ich an dieser Stelle die Forderung nach einem klare Absage. fairen Projektzugang in den Raum stelle. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Die Gemeinsame Initiative für einen starken Luft- und Raumfahrtstandort in Ostdeutschland – Staatssekretär (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Staffelt hat sie ins Leben gerufen – soll deutlich machen, und bei der SPD – Swen Schulz [Spandau] dass wir ein großes Potenzial für ein drittes Zentrum der [SPD]: Wir auch!) Raumfahrtindustrie neben Hamburg/Bremen und München an den Standorten Berlin-Adlershof, Jena oder Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: im Raum Dresden haben. Ziel muss es sein, eine über- Das Wort hat nun die Kollegin Cornelia Pieper, FDP- (B) greifende Zusammenarbeit und eine stärkere Vernetzung Fraktion. (D) der bestehenden Kompetenzzentren anzuregen und zu organisieren. Das könnten wir mit der anstehenden Neu- (Jörg Tauss [SPD]: Wollen Sie auf den Mars ordnung der Förderinstrumente beim Aufbau Ost übri- fliegen, Frau Pieper?) gens gezielt unterstützen. Das bedeutet für mich auch, dass die beiden westdeutschen Standorte nicht in allen Cornelia Pieper (FDP): Fällen und bei allen Projekten die erste Geige spielen Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr müssen. Tauss, der Kollege von der SPD-Fraktion möchte auf den Mars fliegen. Ich dachte, Sie sind gegen die be- Die Frage des unabhängigen europäischen Zugangs mannte Raumfahrt. zum Weltall und die europäischen Trägersysteme habe ich bereits im Februar angesprochen. Dazu muss ich In dem Bericht des Ausschusses zu den Anträgen al- heute nichts mehr sagen. Swen Schulz hat ja auch aus- ler hier im Haus vertretenen Fraktionen, den Sie vorlie- führlich etwas dazu gesagt. gen haben, wird anerkennend hervorgehoben, dass die Initiative der FDP-Bundestagsfraktion, die jetzt über ein An dieser Stelle will ich noch einmal explizit auf die Jahr zurückliegt, der Förderung der Raumfahrtstrategie bemannte Raumfahrt eingehen. Wir leisten mit dem dient und eine intensive Raumfahrtdebatte hier im Parla- europäischen Beitrag an der ISS bereits einen großen ment überhaupt erst ermöglichte. Beitrag zum Aufbau dieser Orbitalstation und stehen auch zu den erheblichen internationalen Verpflichtun- (Jörg Tauss [SPD]: Na ja!) gen. Das ist gut so. Dazu haben wir eine intensive Diskussion (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Forschungsausschuss gehabt. Es gab zu strategischen und bei der SPD) Punkten große Übereinstimmung, die ich hier noch ein- mal hervorheben möchte. Allerdings stellt sich für mich zunehmend die Frage nach dem Sinn der bemannten Raumfahrt, wenn sogar Was uns offensichtlich alle eint, ist die Auffassung, die Raumfahrtnation Nummer eins, die USA, erfolgrei- dass Raumfahrt und Raumfahrtforschung aus unserer che Projekte wie das Hubble-Space-Telescope für zwei- modernen Wissensgesellschaft nicht mehr wegzuden- felhafte Zukunftsprojekte wie zum Beispiel eine be- ken sind. Dabei ist uns allen klar, wie wichtig es für mannte Marsexpedition regelrecht opfern will. Für uns Deutschland als eine der weltweit führenden Wirt- lag und liegt die Zukunft daher in der unbemannten schaftsnationen ist, mit seinen europäischen Partnern ei- Raumfahrt. Wer die bemannte Raumfahrt weiterhin for- nen eigenen Zugang zum Weltraum zu besitzen. Wir alle Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11521

Cornelia Pieper (A) sind der Meinung, dass Europa über das autarke und sehr (Beifall bei der FDP sowie des Abg. (C) präzise Satellitennavigationssystem Galileo verfügen Dr. Martin Mayer [Siegertsbrunn] [CDU/ muss, um einerseits die zivilen Möglichkeiten der Satel- CSU] – Jörg Tauss [SPD]: Deshalb der Vor- litennavigation für neue innovative Technologien breit schlag, die Eigenheimzulage zu streichen!) zu nutzen und um andererseits den Sicherheitsbedürfnis- sen Europas Rechnung zu tragen. Er lässt keinerlei Spielraum für die Vorbereitung neuer Projekte nach dem Auslaufen des Programms im (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Jahre 2006; auch das will ich hier einmal sagen. Für uns der CDU/CSU) ist es ungeheuer wichtig, dass wir den Technologievor- sprung in bestimmten Kernfeldern und die Spitzenfor- Aber auch der Beitrag Deutschlands für friedenser- schung, die wir in der Raumfahrt erreicht haben, auch haltende und Frieden schaffende Maßnahmen der Ver- nach 2006 halten. Wir regen eine strategische Diskus- einten Nationen erfordert ein störungsfreies, zeitgenaues sion an, wie es mit dem deutschen Raumfahrtprogramm und präzises System. Ich freue mich deswegen auch, nach 2006 weitergehen soll. Ich glaube, dass das außer- dass alle Fraktionen dieses Hauses ihr Bekenntnis für ordentlich wichtig ist. eine Ausweitung von Galileo auf die militärische Nut- zung satellitengestützter Technologien abgelegt haben. (Beifall bei der FDP) Ich anerkenne in diesem Zusammenhang auch die kon- sequente Haltung der Bundesregierung beim Streit mit Herr Tauss, wir sind bereit, über alle Subventionen, den Vereinigten Staaten von Amerika um die Frequenz- die es gibt, nachzudenken. frage und den gefundenen Kompromiss, der die berech- (Jörg Tauss [SPD]: Sehr gut!) tigten sicherheitspolitischen Interessen beider Seiten be- rücksichtigt. Wir sind bereit, hier in diesem Haus auch im nächsten Jahr Initiativen für den Haushalt zu starten, so wie wir es (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Jörg auch bisher gemacht haben, um die Mittel für Zukunfts- Tauss [SPD]) investitionen zu erhöhen, insbesondere für den Haushalt Ich möchte auf ein weiteres gemeinsames Ziel, das im Forschung und Entwicklung. Ausschuss zwischen allen Fraktionen diskutiert und das Die FDP hat Sie bei der mittelfristigen Finanzplanung auch schon angesprochen wurde, hinweisen: Wir alle an- dafür kritisiert – das haben wir sehr deutlich gemacht –, erkennen die Rolle der Weltraumforschung und -technik dass Sie das große und strategische Ziel, bis 2010 3 Pro- im Rahmen des nationalen Raumfahrtprogramms und zent des Bruttoinlandsprodukts für Bildung und fordern dessen Stärkung und anschließende Versteti- Forschung bereitzustellen, haushaltspolitisch nicht um- (B) gung. Das haben alle Redner vor mir zum Ausdruck ge- setzen. Das wird auch beim Ansatz für die Raumfahrt- (D) bracht. Ich kann hier nur mit Erich Kästner sagen: Es forschung wieder einmal deutlich. Ich kann nur sagen: gibt nichts Gutes, außer man tut es. Lippenbekenntnisse reichen hier nicht aus. Wir brauchen (Zuruf von der FDP: So ist es!) mehr. Ich kenne außer dem Antrag der FDP-Bundestagsfrak- (Beifall bei der FDP) tion keinen weiteren Antrag zur Aufstockung des natio- Lassen Sie mich auf Folgendes hinweisen: Wir stehen nalen Programms im Haushalt, der gerade in den Aus- im Wettbewerb mit anderen, auch hier in Europa. Sie ha- schüssen beraten wird. Wir haben gefordert, dass das ben einen Bogen darum gemacht. Frankreich und Italien nationale Programm um mindestens die Beträge aufge- setzen klare Schwerpunkte bei ihren nationalen Vorha- stockt wird, um die Sie es in den letzten vier Jahren ge- ben, was die Raumfahrt anbelangt. Frankreich zum Bei- kürzt haben. spiel gibt 63 Prozent der Gesamtaufwendungen für die (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Martin Raumfahrt für nationale Vorhaben aus, Italien 57 Pro- Mayer [Siegertsbrunn] [CDU/CSU]) zent. In Deutschland sind es lediglich 31 Prozent. Alles andere würde bedeuten, dass wir die Spitzenfor- Das alles hat auch etwas mit der Stärkung des Wirt- schung und unseren Technologievorsprung in der Raum- schaftsstandortes Deutschland zu tun. Das alles hat auch fahrt aufgeben. mit der Stärkung insbesondere der mittelständischen Wirtschaft zu tun. Ich will darauf hinweisen, dass es im- Doch dieses Bekenntnis allein – das sage ich noch mer unser Anliegen war, insbesondere die kleinen und einmal – nutzt recht wenig. Schauen wir uns doch ein- mittelständischen Unternehmen am Standort Deutsch- mal den Einzelplan 30 für 2005 an. Das nationale Pro- land mit Projekten und Aufträgen aus diesem Bereich zu gramm ist für die Regierungskoalition ein Steinbruch für stärken. Ich sage bewusst auch im Interesse der ostdeut- haushaltspolitische Kürzungen. Im laufenden Haushalts- schen Standorte: Es geht überhaupt nicht darum, zulas- jahr muss das nationale Programm nicht nur eine globale ten von Bayern oder Bremen, wie es im Antrag der Minderausgabe von 8,2 Millionen Euro verkraften. Union formuliert worden ist, Standorte aufzugeben. Es Nein, es wurden vom Haushaltsausschuss zugleich noch geht vielmehr darum, die Vernetzung der Raumfahrtka- 10 Millionen Euro gesperrt. Der Ansatz für 2005 ist wie- pazitäten der neuen Bundesländer mit den nationalen der zu gering und gefährdet unserer Auffassung nach die und europäischen Forschungs- und Entwicklungskompe- Kernfähigkeiten der deutschen Raumfahrtforschung und tenzen herzustellen und zu effizienten Strukturen zu Raumfahrtentwicklung. kommen. 11522 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Cornelia Pieper (A) Ich glaube, dass wir diese Diskussion brauchen. Wir Die CDU- und CSU-geführten Länder waren es, die das (C) laden Sie dazu ein, diese Diskussion im Ausschuss fort- verhindert haben. zuführen. Bitte stimmen Sie dem Antrag in den Haus- haltsberatungen zu. Dann werden Sie das umsetzen kön- Das gleiche gilt für die Juniorprofessur. nen, was Sie selber gefordert haben. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Das sind die, die den Vielen Dank. Wettbewerb blockieren!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Wir haben hier im Parlament alle mit großer Entschie- der CDU/CSU) denheit für die Einführung der Juniorprofessur gestrit- ten, am Anfang auch Sie. Irgendwann haben Sie sich dann still und heimlich davon distanziert. Sie wollten Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: das nicht so richtig offen tun. Das gilt nicht für die FDP. Das Wort hat nun die Bundesministerin Edelgard Bulmahn. (Harald Leibrecht [FDP]: Danke!) (Beifall bei der SPD) Das gilt für die CDU. Dann haben drei Ihrer Länder da- gegen geklagt. Wir haben Jungwissenschaftler über die Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung Juniorprofessur wieder vom Ausland zurückgewonnen. und Forschung: Der Anteil der Berufungen aus dem Ausland beträgt Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten 15 Prozent. Das stellen Sie wieder infrage. Dazu muss Damen und Herren! Raumfahrt fasziniert die Menschen ich sagen: Schaffen Sie Ordnung in Ihrer eigenen Partei! heute noch genauso wie bei der Landung des ersten Dann können wir weiterreden. Menschen auf dem Mond. Das war in der Debatte hier (Beifall bei der SPD – Dr. Georg Nüßlein im Deutschen Bundestag gerade sehr deutlich spürbar. [CDU/CSU]: Das machen wir doch hier! – Das war auch am Tag der Raumfahrt am letzten Wo- Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Das ist zu viel chenende und bei der Nacht der langen Sterne spürbar, für Herrn Nüßlein!) die von Hunderttausenden von Menschen genutzt wor- den sind. Hunderttausende von Menschen haben sich Natürlich ist Raumfahrt nicht nur Faszination der voller Faszination und Begeisterung mit den Ergebnis- Wissenschaft. Raumfahrt ist heute Triebfeder für wissen- sen und den neuen Erkenntnissen, die wir durch die schaftliche und technologische Entwicklungen und ein Weltraumforschung gewonnen haben, auseinander ge- wichtiger Eckpfeiler auch des Industriestandorts setzt. Ich sage ausdrücklich: Das gilt sowohl für Jung als Deutschlands. Für Märkte mit Milliardenumsätzen ist (B) auch für Alt. die Raumfahrttechnologie inzwischen unverzichtbar. (D) Das gilt nicht nur für die Fernsehbilder, die uns übermit- Herr Nüßlein, lassen Sie mich eine Bemerkung hinzu- telt werden, sondern auch für die gesamte weltweite Da- fügen. Wenn Sie Deutschland so schildern, als ob Wis- tenkommunikation. senschaft und Forschung keine Bedeutung hätten, dann leben Sie offensichtlich in einer anderen Welt. Die Informationsmöglichkeiten, die das Internet bie- (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Das hat nie- tet, sind ohne Satellitenkommunikation nicht denkbar. mand gesagt!) Das gilt für die Kenntnisse, Bilder und Daten im Zusam- menhang mit Wetterentwicklungen – zum Beispiel die Das, was man am Wochenende erleben konnte, zeigt Wege, die ein Hurrikan nimmt –, über die wir inzwi- ganz deutlich, wie begeistert viele Menschen in unserem schen verfügen, wie auch für Informationen, die wir Land von Wissenschaft und Forschung sind und mit durch Erdbeobachtung über Waldbrände, die Umwelt- welch hohem Interesse und großer Neugier sie die Mög- verschmutzung der Meere etc. erhalten. Die Raumfahrt- lichkeiten nutzen, diese kennen zu lernen. technologie ist also nicht mehr wegzudenken. Das alles zeigt, dass die Raumfahrt inzwischen Bestandteil unse- (Beifall bei der SPD) res Alltags geworden ist. Gestatten Sie mir noch eine zweite Bemerkung, auch Die drei vorliegenden Anträge zur Raumfahrtpolitik wenn sie nicht direkt zum Thema gehört. Wenn Sie, Herr zeigen – das ist erfreulich –, dass es ein großes Maß an Nüßlein, sich hier hinstellen und beklagen, dass der Übereinstimmung zwischen allen Parteien gibt. Das ist Wettbewerb der Spitzenuniversitäten noch nicht ge- vielleicht in den Redebeiträgen nicht so deutlich gewor- startet sei, den wie in den Anträgen. (Jörg Tauss [SPD]: Das ist die Spitze!) (Cornelia Pieper [FDP]: Doch! Ich habe das dann frage ich mich, welch ein gespaltenes Bewusstsein gesagt!) jemand besitzen muss, dessen eigene Partei verhindert, dass dieser Wettbewerb startet. Wenn es nach der Bun- Meines Erachtens zeigt sich auch, dass Sie durchaus das desregierung und den SPD-geführten Ländern gegangen anerkennen, was die Bundesregierung in den vergange- wäre, dann hätten wir den Wettbewerb im Juli dieses nen Jahren in der Raumfahrtpolitik erreicht und durchge- Jahres starten können. setzt hat. Tatsache ist, dass wir inzwischen eine gute Grundlage für die Weiterentwicklung der Raumfahrt in (Beifall bei der SPD) Deutschland geschaffen haben. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11523

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) Mit den Entscheidungen der ESA-Ministerkonfe- klare Strukturierung von Entscheidungen und Verant- (C) renz in Paris unter deutschem bzw. meinem Vorsitz hat wortung erreicht. die Bundesregierung den europäischen Trägersektor Wir haben zudem seit 1998 den Raumfahrttitel er- wieder auf eine solide Basis gestellt. höht. Statt jedes Jahr aufs Neue Kürzungen vorzuneh- (Beifall bei der SPD) men, haben wir finanzielle Sicherheit geschaffen. Diese solide Basis gab es leider in den 90er-Jahren nicht Ich will auch in dieser Runde deutlich zum Ausdruck mehr. Wir haben sie wieder geschaffen. bringen, dass wir alles dafür tun werden, gerade auch das nationale Programm aufzustocken. (Abg. Jörg Tauss [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage) (Zuruf von der CDU/CSU: Da sind wir ge- spannt!) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Wir brauchen dazu aber auch die Bereitschaft der Frau Ministerin, der Kollege Tauss möchte Ihnen Opposition, die Mittel aus dem weitaus größten Subven- überraschenderweise gerne eine Zwischenfrage stellen. tionstitel im Bundeshaushalt, nämlich der Eigenheimzu- lage, zugunsten von Forschung und Bildung umzuwid- (Heiterkeit) men. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hans- Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung und Forschung: Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Dr. Uwe Küster [SPD]: Ran an die Spar- Meinem Kollegen Tauss würde ich niemals eine Zwi- büchse!) schenfrage verwehren. Die Mittel werden dringend für die Forschung und Bil- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: dung benötigt. Das gilt für den Bundeshaushalt genauso Nun ist die Verblüffung komplett und der Kollege wie für die Länderhaushalte. Deshalb ist das für Sie, Tauss erhält das Wort zu einer Zwischenfrage. meine Damen und Herren von der Opposition, die Na- gelprobe, ob Sie hier etwas fordern, das Sie in der Reali- tät aber nicht ernst meinen, oder ob Sie es wirklich ernst Jörg Tauss (SPD): meinen und bereit sind, diesen Schritt mitzugehen. Das Vielen herzlichen Dank. – Sie haben die verlässlichen Angebot von unserer Seite steht. Ich hoffe, Sie nutzen Grundlagen angesprochen, Frau Ministerin. Der Kollege es. Dr. Nüßlein hat uns in beeindruckender Weise von sei- (B) nem Ausflug nach Kourou berichtet. Wir freuen uns da- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hans- (D) rüber, dass er wieder zurückgekehrt ist. Das ist anderen, Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – die früher auf der Teufelsinsel waren, nicht gelungen. Jörg Tauss [SPD]: Danke schön!) Ich komme zurück zum Ariane-Start und den verläss- Wir haben es mit diesen Entscheidungen auf der lichen Grundlagen, die Sie angesprochen haben. Können ESA-Ministerkonferenz in Paris geschafft, die Ariane Sie angeben, welche Finanzplanungen Sie bei Ihrem wieder zukunftssicher zu machen. Wir haben aber noch Amtsantritt im Zusammenhang mit der Ariane und der etwas anderes geschafft. Wir haben das deutsche Rück- internationalen Raumfahrt vorgefunden haben? flussdefizit, das sich unter der Kohl-Regierung über viele Jahre bei der ESA gebildet hatte – der Kollege Hettlich hat darauf bereits hingewiesen –, wieder ausge- Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung glichen. Wir haben jetzt also eine ausgeglichene Bilanz. und Forschung: Kurz gesagt: Unter der SPD-geführten Regierung wer- Ich habe eine Finanzplanung vorgefunden, derzu- den mit den Steuergeldern, die an die ESA gezahlt wer- folge der Raumfahrttitel in den Jahren 1992 bis 1998 von den, Standorte in Deutschland gestärkt. Das war meine 824 Millionen auf 661 Millionen DM gekürzt worden Verhandlungszielsetzung und das haben wir auch er- ist. reicht. (Jörg Tauss [SPD]: Gekürzt! Aha!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Das hat im Ergebnis zu dem großen Problem geführt, dass Deutschland in der ESA keine wichtige Rolle mehr Wir haben es nach harten Verhandlungen ebenfalls ge- spielte. Das gilt zum Beispiel auch für die Reorganisa- schafft, für die Entwicklung des europäischen Satelli- tion, die dringend notwendig war. Ich habe das geändert. tennavigationssystems Galileo die Systemführung und den Sitz des Unternehmens nach Deutschland zu holen. Wir haben durch sehr schwierige und zähe Verhand- Die Federführung für das wichtigste Zukunftsprojekt der lungen – das sage ich ganz offen – erreicht, dass zum ei- europäischen Raumfahrt liegt damit in Deutschland. nen die Industrie jetzt mehr Verantwortung trägt und dass es zum anderen in der ESA klare Entscheidungs- Der konkrete Nutzen für die Menschen steht für die strukturen gibt. Das war und ist eine sehr wichtige Vo- Bundesregierung im Vordergrund ihrer Raumfahrtpoli- raussetzung dafür, dass die Ariane nicht nur in technolo- tik. Wir werden uns in Zukunft in der nationalen Förde- gischer Hinsicht ein Erfolg wird, sondern auch ihre rung noch stärker auf die deutschen Kernkompetenzen Position am Markt behauptet. Das haben wir durch die konzentrieren. Ich befinde mich zurzeit darüber im 11524 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) Gespräch mit der Wissenschaft und der Industrie. Ich bin (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) gerne bereit, darüber auch im Forschungsausschuss mit DIE GRÜNEN) den Kolleginnen und Kollegen zu diskutieren. Deutsch- Zweitens. Wir brauchen realistische Finanzierungsan- land besitzt eine ganze Reihe von Stärken. Genau diese sätze. Drittens. Auch in der EU ist eine klare Prioritäten- wollen wir weiterentwickeln, um nach entsprechender setzung erforderlich. Viertens. Schließlich muss die Umsetzung in der europäischen Raumfahrtpolitik die Industriepolitik die Besonderheiten der Raumfahrtindus- Früchte zu ernten. trie berücksichtigen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich bin sehr optimistisch, dass das mit Kommissar Verheugen, der künftig auch für die Raumfahrtpolitik Wir wollen weiterhin dafür sorgen, dass die Ergeb- der EU zuständig sein wird, gelingen wird. nisse der Raumfahrtforschung zügig in Anwendungen überführt werden. Auch hier sind wir erheblich vorange- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ kommen. Mit Projekten in Public Private Partnership DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Sehr gut! wie zum Beispiel Terra-SAR und Rapid-Eye haben wir Dann kann es nur aufwärts gehen!) zusammen mit der Forschung den Einstieg in die Kom- Wir werden gut kooperieren. Ich freue mich deshalb auf merzialisierung der Erdbeobachtung eingeleitet. Solche eine sehr engagierte Diskussion – zumindest im Fach- Partnerschaften sind nicht nur für gute Forschungsergeb- ausschuss, wenn nicht auch hier im Parlament – über die nisse, sondern auch für kommerzielle Markterfolge Neustrukturierung der europäischen Raumfahrtpolitik. entscheidend. Mit dem Projekt GATE stellen wir eine in Europa einzigartige Infrastruktur bereit, die beste Vo- Vielen Dank. raussetzungen dafür schafft, Anwendungen für Galileo (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zu entwickeln und sie kommerziell zu nutzen. Davon DIE GRÜNEN) werden wir profitieren. Einen weiteren Schwerpunkt set- zen wir bei der Telekommunikation, die schon jetzt der Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: kommerziell wichtigste Bereich im Zusammenhang mit der Raumfahrt ist. Ich erteile das Wort der Kollegin Ilse Aigner, CDU/ CSU-Fraktion. Kurz gesagt: Raumfahrtgestützte Infrastruktur ist be- reits heute die Grundlage für zahlreiche kommerzielle (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Anwendungen auf Hochtechnologiemärkten, die weiter Jörg Tauss [SPD]: Frau Aigner, da oben hockt wachsen werden. Da wir unsere entsprechenden Mög- der Herr Fischer! Der guckt kritisch und weiß, (B) lichkeiten in vollem Umfang ausschöpfen wollen, brau- wie es früher war!) (D) chen wir einen weiteren Investitionsschub. Deshalb ist die Umwidmung von Mitteln, beispielsweise für die Ei- Ilse Aigner (CDU/CSU): genheimzulage, in Mittel für die Forschungsförderung Das weiß ich schon. – Sehr geehrter Herr Präsident! und in Bildungsinvestitionen so notwendig und wichtig. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Am Anfang ist es schon angebracht, herauszustellen, dass gerade die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Raumfahrtpolitik über viele Jahre ein gemeinsames Ziel DIE GRÜNEN) hatte. Ich glaube, dass die Zusammenarbeit auf diesem Lassen Sie mich noch eine kurze Anmerkung zur Gebiet gut war. Man sieht auch an den Anträgen, dass es Neuordnung der europäischen Forschungspolitik ma- im Prinzip sehr viele Gemeinsamkeiten gibt. chen; denn ich glaube, wir stehen hier vor einer wichti- Ich will einige Aspekte der jetzigen Situation, insbe- gen Entscheidung, über die auch im Parlament diskutiert sondere was die haushaltstechnische Ausstattung be- werden sollte. Sie wissen, dass die EU-Kommission mit trifft, ansprechen. dem Weißbuch zur Raumfahrt einen Aktionsplan vorge- legt hat, der die Raumfahrt für die Bürger Europas bes- Es sei mir erlaubt, auf die Eigenheimzulage einzuge- ser nutzbar machen soll. Bisher ist dieser Plan – leider – hen. Es ist wirklich beachtlich, wie oft Sie die durch den teilweise nicht viel mehr als eine große Wunschliste, die Wegfall der Eigenheimzulage frei werdenden Mittel sehr viele Felder enthält, auf denen die Kommission ak- schon verbraten haben. tiv werden möchte. Ich halte es für entscheidend und (Jörg Tauss [SPD]: Noch gar nicht! – Dr. Uwe wichtig, dass wir sicherstellen, dass der Ansatz einer Küster [SPD]: Sie können uns noch richtig starken Anwendungsorientierung der gemeinschaftli- helfen! Das ist das Schöne! Wenn Sie da mal chen Raumfahrtpolitik in der Kommission verfolgt wird. reinlangen, das gibt was!) Dafür ist Folgendes wichtig: Erstens. Zwischen der ESA und der EU muss es nicht nur eine enge Zusammenar- – Wenn Sie mich ausreden lassen, dann kann ich es Ih- beit, sondern auch eine klare Arbeitsteilung geben. nen erklären. – Ich weiß, dass in den gesamten Haushalt dieses Jahres schon 95 Millionen Euro eingestellt sind. (Jörg Tauss [SPD]: Ja!) Davon entfallen allein 63 Millionen Euro auf den Es darf nicht sein, dass wir Infrastruktur- und Anwen- Einzelplan 30. Egal wie es mit der Eigenheimzulage dungsprojekte parallel über die ESA und die EU fördern. weitergeht: Am Raumfahrtetat wird sich nichts ändern. Es ist nicht sinnvoll und nicht hilfreich. Das ist sicher- Wenn die Eigenheimzulage nicht wegfällt, dann – das lich auch nicht im deutschen Interesse. hat das Berichterstattergespräch über den Haushaltsplan Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11525

Ilse Aigner (A) am Dienstag gezeigt – werden die gemeinsamen Mittel Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass uns der (C) für den Hochschulbau abgesenkt. In jedem Fall wird frühere Kollege Lothar Fischer – heute sitzt er als Zu- kein Cent mehr in die Raumfahrt fließen. schauer auf der Besuchertribüne – 1998 verteufelt hat, als der Anteil für das nationale Programm auf 25 Prozent (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Sie müssen abgesenkt wurde. Momentan liegt dieser Anteil bei schon ein bisschen weiter denken! Ein biss- 20 Prozent. 80 zu 20 Prozent! Ich muss Ihnen das leider chen Perspektive!) in Erinnerung rufen; denn ich halte das für besonders tra- – Herr Schulz, Sie müssten vielleicht einmal mit Ihren gisch. Haushältern sprechen. Sie müssen sich irgendwann ent- Ich finde es durchaus begrüßenswert, dass sich die scheiden, wofür Sie die durch den Wegfall der Eigen- EU in den Bereich Raumfahrt einmischen will. Aber an- heimzulage frei werdenden Mittel verwenden wollen. ders als bei der ESA gibt es dort keine Rückflusskrite- Sie können sie nicht zehn- oder 15-mal verwenden. Das rien. Das heißt, dass wir im Prinzip – in gewisser Weise funktioniert einfach nicht. handelt es sich um Industriepolitik – keine Arbeitsplätze (Jörg Tauss [SPD]: Wir denken bis zum Jahre auf deutschem Boden gewährleisten können. Diese Arbeitsplätze können wir nur dann gewährleisten, wenn 2014 wie der Kollege Nüßlein!) wir unsere Kompetenzen im nationalen Bereich aus- – Sie sollten einmal mit den Haushältern reden. Die kön- bauen. nen es Ihnen genau erklären. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Unabhängig davon gilt in Bezug auf die bisherige neten der FDP) Finanzplanung auf dem Gebiet Raumfahrt – die Minis- Diese Kompetenzen erhalten wir durch diese Politik ge- terin weiß das sehr genau –: Beim ESA-Budget wurde rade nicht. um 20 Millionen Euro gekürzt, während im nationalen Bereich um 3 Millionen Euro aufgestockt wurde. Die Frau Ministerin, ich erkenne durchaus an, dass Sie da- Finanzplanung – auf sie verlassen sich letztendlich auch für gesorgt haben, dass die Rückflüsse verstärkt werden. diejenigen, die das Ganze irgendwie umsetzen sollen – (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und sieht also 17 Millionen Euro weniger vor. Was die der SPD) Finanzplanung bis 2010 angeht – ich habe alle infrage kommenden Zahlen vorliegen; auch Sie kennen sie –, Ich glaube, das war im Interesse der Raumfahrt. Das ist gehen für den Bereich Raumfahrt insgesamt 170 Millio- überhaupt keine Frage. nen Euro verloren. Frau Ministerin, ich kann es Ihnen Ich erkenne auch an, dass Sie mit der Ariane die vorrechnen: Für die ESA sah der Finanzplan fünfmal (B) Struktur verändert haben. Das ist ein gemeinsames Be- (D) 582 Millionen Euro vor; in der mittelfristigen Finanzpla- mühen gewesen. Dabei haben wir Ihnen meines Erach- nung ist der entsprechende Betrag auf 552 Millio- tens auch nichts in den Weg gelegt, nen Euro abgesenkt worden. Man kann eine Hochrech- nung vornehmen und erkennen, wie es um diese Gelder (Zuruf von der SPD: Das wäre ja noch schöner steht. gewesen!) Ich will Ihnen verdeutlichen: Die Raumfahrt ist eine sondern Sie unterstützt. Dass die Ariane in diese langlebige Geschichte. Man kann nicht nach dem Motto Schwierigkeiten gekommen ist, ist nicht die Schuld der „Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln“ vorge- Politik, sondern ein Ergebnis der Marktentwicklung; Sa- hen. Man muss auch längerfristig planen können. tellitenmärkte sind eingebrochen usw. usf. (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Ja, das ist (Jörg Tauss [SPD]: Wie bei der Maut!) richtig!) Dafür kann die Politik nichts. Projekte im Bereich der Raumfahrt gehen – der Kollege Noch einmal: Diese Herausforderungen sind auf uns Nüßlein hat schon darauf hingewiesen – über viele zugekommen. Natürlich sind zusätzliche Mittel erforder- Jahre. Deshalb ist eine Strategie nötig. Wenn man Mittel lich. Momentan schaut es so aus – Frau Ministerin, das abzieht, dann muss man sagen, wo man einsparen will. wissen auch Sie genau –, dass es bei der ESA eine krea- Es macht keinen Sinn, überall häppchenweise zu kürzen; tive Haushaltsführung gibt, sodass wir nach der jetzigen vielmehr muss man auch Schwerpunkte setzen. Dass Sie Planung in 2005 bei der ESA insgesamt mit über das tun, kann ich beim besten Willen nicht erkennen. 170 Millionen Euro in der Kreide stehen. (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Dann müssen Diese Bugwelle – das ist das Nächste – schieben wir Sie genauer hinschauen!) über viele Jahre vor uns her. Das heißt, dass wir in späte- ren Jahren eine Dauerlast haben. Was hier passiert, ist im Man muss den Zusammenhang der ESA mit der EU Prinzip nichts anderes als eine verdeckte Kreditauf- sehen. Wie Sie selbst wissen, wächst die Bedeutung der nahme. Das wird uns irgendwann einholen, vielleicht EU immer mehr: zunächst Galileo, danach GMES usw. nicht mehr Sie, vielleicht eine andere Regierung, viel- usf. Bei der EU ist allein die Wettbewerbsfähigkeit aus- leicht eine andere Ministerin; ich weiß es nicht. Es wird schlaggebend. Deshalb ist dieses nationale Programm uns auf alle Fälle einholen und das ist das eigentlich Be- für uns so wichtig. Umso trauriger ist es, dass Sie die dauerliche. Mittel, die Sie der ESA nicht mehr zukommen lassen, nicht in das nationale Programm investieren. (Zuruf des Abg. Jörg Tauss [SPD]) 11526 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Ilse Aigner (A) Es ist schon über Schwerpunkte gesprochen worden. (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD] – Dr. Peter (C) Herr Schulz, Sie haben irgendetwas davon erzählt, dass Ramsauer [CDU/CSU]: Die brauchen gar wir auf den Mars fliegen wollen. Ich weiß nicht, woraus keine Macht mehr!) Sie das entnehmen. sodass Sie die Kollegen aus den anderen Ressorts akti- (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Gucken Sie vieren könnten, mehr Gelder zur Verfügung zu stellen. mal in Ihren Antrag!) Ich glaube nämlich, dass manche Anwendungsprobleme in anderen Bereichen mittels der Raumfahrt wesentlich – Ich kann Ihnen daraus vorlesen. Da steht nur „an der besser und effektiver gelöst werden könnten. Sie haben bemannten Raumfahrt festzuhalten und ISS zu stützen“. leider das Problem, dass Sie die anderen Minister nicht Ich weiß nicht, ob Sie das nicht auch für sinnvoll halten. anzapfen können. Dass Sie es könnten, würde ich mir in (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Arbeiten am der Hinsicht manchmal wünschen. AURORA, Mars und Mond!) Das gemeinsame Ziel aber können wir, glaube ich, in den Vordergrund stellen. Raumfahrt ist wichtig für die Ich glaube, dass die bemannte Raumfahrt wichtig Forschung, aber auch in vielen Nutzungen für die Men- ist. Wenn wir mit vielen Mitteln, auch Steuermitteln, schen auf der Erde. Ohne Raumfahrt könnten wir mitt- eine Raumstation aufgebaut haben, dann müssen wir die lerweile viele Probleme nicht mehr lösen. Wenn wir auch entsprechend nutzen. Deshalb werden wir auf die- einen Tag alle Satelliten usw. ausschalten würden, würde sem Gebiet weiter forschen müssen; sonst wäre es ein einiges auf der Erde nicht mehr funktionieren. Das allein ziemlicher Blödsinn. zeigt schon, wie wichtig die Raumfahrt auch für uns hier (Jörg Tauss [SPD]: Also sind Mars und Mond auf dem Boden ist. gestorben! – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Herzlichen Dank. Also wollen Sie nicht auf den Mars!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Dass das Columbus-Modul momentan auf dem Bo- bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- den steht, bedauern wir alle sehr. Es hätte nach den Pla- NISSES 90/DIE GRÜNEN) nungen im Oktober starten sollen. Für diese Situation können wir nichts. Dafür können auch Sie nichts. Dass Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: der Shuttle abgestürzt ist, ist wirklich ein bedauerlicher Das Wort hat nun der Koordinator der Bundesregie- Unfall. Aus forschungstechnischer Sicht schmerzt uns rung für die Luft- und Raumfahrt, der Parlamentarische massiv, dass wir dieses wunderbare Modul, das wir oben Staatssekretär Ditmar Staffelt. für Forschungsaktivitäten einsetzen könnten, momentan (B) nicht nutzen können. (Jörg Tauss [SPD]: Alle Macht dem Staffelt!) (D) Abschließend will ich noch etwas sagen, weil immer so getan wird, als wenn wir irgendwelche Waffensys- Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär beim Bun- teme im All stationieren wollten; ich glaube, der Kollege desminister für Wirtschaft und Arbeit: vom Bündnis 90/Die Grünen hat darauf hingewiesen; Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und möglicherweise haben Sie es auch getan. Herren! Zunächst durften Sie, Herr Nüßlein, eben erfah- ren, dass jene, die Erfahrung in den Fragen der Luft- und (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Habe ich Raumfahrt haben, ein sehr viel sachlicheres Verhältnis nicht! – Jörg Tauss [SPD]: Sie wollen es also zu den Dingen haben, als das in Ihrer Rede zum Aus- nicht!) druck gekommen ist. – Ich habe das so verstanden, dass uns das unterstellt (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wird –. Wir sind uns aber doch insgesamt darüber einig, DIE GRÜNEN) glaube ich, dass die Raumfahrt aus der bloßen For- Sie müssen eines wissen: Diejenigen, die in der Luft- schungsecke raus muss, dass es eine Nutzung über alle und Raumfahrt zu Hause sind, können sich in der Sache Bereiche der Politik geben muss, die hier in Deutschland auseinander setzen, aber sie verlieren den roten Faden vertreten sind. nicht. Bei Ihnen habe ich schwerste Bedenken – das (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, des muss ich ganz ehrlich sagen –, ob Sie wirklich zum rich- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der tigen Tagesordnungspunkt geredet haben. FDP) (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Es war eine gute Das geht von der Verteidigung über die Umwelt bis zur Rede!) Landwirtschaft; da kann man sich alles Mögliche vor- Ich habe mir Ihren Antrag, den Antrag der CDU/ stellen. CSU, noch einmal angesehen. Darin steht – das sollten Sie laut und deutlich sagen –: Da kann ich mich eigentlich nur an den Staatssekretär Staffelt wenden – er ist der Koordinator für die Luft- und Auch die deutsche Raumfahrt kann auf eine vielfäl- Raumfahrt; er wird nach mir sprechen –; wir sind uns, tige Erfolgsgeschichte zurückblicken. Ihr Beitrag glaube ich, weitestgehend einig. Ich wünsche Ihnen, zum gemeinsamen europäischen Erfolg, vor allem Herr Staffelt, noch etwas mehr Macht innerhalb der Bun- bei Ariane, war beachtlich und verdient Anerken- desregierung, nung. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11527

Parl. Staatssekretär Dr. Ditmar Staffelt (A) Deutsche Ingenieurleistungen … haben wesentlich mit wir unsere Kompetenzen weiterentwickeln können. (C) zum Ruf des made in beigetragen. Mehr will ich zu dem Thema jetzt aber nicht mehr sagen. (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Alles unbe- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ stritten!) DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Die haben Deutschland ist an den oben aufgeführten europäi- schon viel Schlimmeres gesagt!) schen Raumfahrtinitiativen als zweitgrößter Bei- Wir haben heute gehört – das ist mir sehr wichtig –, tragszahler der ESA und in der industriellen Füh- dass wir die Systemführung bei Galileo haben. Deutsch- rungsrolle bei Galileo in wesentlichem Umfang land hat, wie ich denke, ein gewichtiges Wort bei der beteiligt und spielt nach wie vor eine tragende Rolle Formulierung des EU-Forschungsrahmenprogrammes in der europäischen Raumfahrtpolitik. mitzusprechen. Die „Ariane“ ist saniert. Wir haben einen Völlig richtig beschrieben! Das teilen wir voll und ganz. Auftragnehmer, der diese Sanierung auch voranbringt, und zwar erfolgreich. Darüber hinaus gibt es die Zusam- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ menarbeit im Trägersektor mit den Russen; hier werden DIE GRÜNEN) Synergieeffekte erzielt. Das ist ein ganz wesentliches Deshalb wäre es viel richtiger gewesen, Sie hätten bei al- Feld, das mit dazu beigetragen hat, dass hier auch ein ler Kritik und der Sorge, die man immer äußern kann, Stückchen mehr betriebswirtschaftliche Vernunft ein- erst einmal diesen Aspekt in den Mittelpunkt Ihrer Rede kehrt. Hinzu kommt die strategisch-politische Dimen- gestellt. Wenn Sie in Kourou ähnlich verwirrt geredet sion dieses Unterfangens. Wir sind dabei, ein Stück mehr haben sollten, kann ich verstehen, dass die französischen Kommerzialisierung und damit auch mehr Verantwor- Ingenieure Ihnen keine Geheimnisse der Ariane-Rakete tung der Privatwirtschaft in die Raumfahrt zu implan- haben preisgeben wollen. tieren – ein ganz wichtiges Thema. Darüber hinaus haben wir von der Ministerin gehört – bitte vergessen (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Den Staats- Sie das nicht –, es geht heute um Straffung und sekretär haben sie nicht ernst genommen! Effizienzsteigerung bei der ESA-Programmplanung Ihren Kollegen!) und -durchführung. Hier hat Frau Bulmahn in den ver- gangenen Monaten eine ganz gewichtige Rolle gespielt. Ich füge hinzu, dass eine solche Äußerung im deutschen Das können Sie doch nicht einfach wegdiskutieren. Parlament wirklich nicht akzeptabel ist. Ich ärgere mich darüber, denn wir haben eine hervorragende Koopera- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tion mit den Franzosen und den französischen Ingeni- DIE GRÜNEN) (B) euren. Es gibt überhaupt keinen Grund, in einem deut- (D) schen Parlament die Vermutung zu äußern, dass hier Meine Damen und Herren, es steht auch überhaupt etwa so genannte Geheimnisse nicht preisgegeben wor- nicht infrage, dass wir in Deutschland nach wie vor ei- den wären. Sie hätten sich schlicht und einfach informie- nen harten Kampf um Workshares in der internationalen ren sollen. Zusammenarbeit führen. Da sollte nun gerade jemand, der aus Bayern kommt, nicht allzu große Beschwerde (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ führen, denn eine Vielzahl der Investitionen, die von DIE GRÜNEN – Zurufe des Abg. Dr. Georg staatlicher und insbesondere von bundesstaatlicher Seite Nüßlein [CDU/CSU]) unterstützt werden, kommt genau in Ihrem Lande an. Ich Das ist ja überhaupt kein Thema. Darüber hätte Sie näm- bin überhaupt nicht dagegen, um das einmal klar zu sa- lich auch die deutsche Industrie vorher informiert. Die gen. Ihr Land hat große Kompetenzen, aber Sie sollten wissen da ebenso wie die Frau Ministerin ganz genau das auch einmal berücksichtigen. Herr Wiesheu hätte im Bescheid. Sie sollten hier also wirklich noch ein Stück Übrigen mit der Rede, die Sie hier gehalten haben, über- hinzulernen. Das kann ich Ihnen nur raten. haupt nichts anfangen können. Er sieht die Dinge näm- lich in sehr viel besserem Licht, als Sie es hier darge- (Dr. Uwe Küster [SPD]: PISA ernst nehmen! – stellt haben. Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sie sind doch kein Oberlehrer, sondern ein Mitglied der Regie- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rung!) DIE GRÜNEN – Dr. Peter Ramsauer [CDU/ CSU]: Sie verstehen Wiesheu doch gar – Passen Sie einmal auf, ich will Ihnen eines sagen: Sie nicht! – Weiterer Zuruf des Abg. Dr. Georg waren bei der Rede vorhin nicht dabei. Nüßlein [CDU/CSU]) (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ich habe gese- hen, wie Sie sie vorgetragen haben!) Noch ein Wort zu den Zahlen. Frau Aigner, ich habe eben noch einmal Rücksprache mit Frau Ministerin So etwas, was uns hier vorgetragen worden ist, habe ich Bulmahn genommen. Eines ist klar: Die BMBF-Ausga- im Bereich der Luft- und Raumfahrt, Kolleginnen und ben für die ESA und für den nationalen Bereich der Kollegen, bisher noch nicht gehört: weit entfernt von Raumfahrt werden von 2005 bis 2008 stabil bei den Realitäten, weit entfernt von dem, was wir wollen. 697,3 Millionen Euro bleiben. Die Voraussetzung hier- Wir wollen nämlich, dass Deutschland eine wichtige für ist – so hat die Ministerin mir gesagt –, dass entspre- Rolle spielt. Das wollen wir mittragen und auch gegen- chende Regelungen bei der Eigenheimzulage, die der über der Öffentlichkeit in positiver Weise darstellen, da- Freisetzung von Ressourcen dienen und die hier schon 11528 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Parl. Staatssekretär Dr. Ditmar Staffelt (A) angesprochen worden sind, von Ihnen mitgetragen wer- Ich möchte ebenfalls erwähnen – das ist auch schon (C) den. gesagt worden –, dass wir zum einen in Deutschland am Selbstverständnis der Luft- und Raumfahrt weiter arbei- (Abg. Ilse Aigner [CDU/CSU] meldet sich zu ten müssen. Da sollten alle mithelfen. Zum anderen einer Zwischenfrage – Jörg Tauss [SPD]: Herr – das ist ebenfalls ein ganz wichtiger Punkt – müssen Präsident, Frau Aigner hat eine Frage!) wir den KMUs helfen, im Geschäft zu bleiben. Ich sage ganz ausdrücklich, dass sie nicht nur an einem Unterneh- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: men hängen dürfen. Wir wollen ihnen weltweit den Zu- Möchten Sie Ihre Redezeit durch die Beantwortung gang zu anderen Systemanbietern und zu anderen Märk- einer Zwischenfrage der Kollegin Aigner verlängern? ten öffnen. Wir müssen allerdings Wert darauf legen, dass sie einen Restrukturierungsprozess mitmachen, der (Heiterkeit) sie fit hält und wettbewerbsfähig macht. Darüber hinaus – auch diesen Punkt möchte ich an- Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär beim Bun- sprechen – gilt unser Blick der Förderung des fachli- desminister für Wirtschaft und Arbeit: chen Nachwuchses, also der Human Resources, die so Ja, bitte schön, wenn sie möchte. unendlich wichtig sind, um auf einem solch hohen Level weiterhin eine wichtige Rolle in der Welt spielen zu kön- Ilse Aigner (CDU/CSU): nen. Ich denke, dass unser Ansatz auch da der richtige Herr Staatssekretär, können Sie mir bestätigen, dass ist. ich mich auf die Finanzplanung 2005 bis 2008, die in Ich fasse zusammen. Die drei wesentlichen Elemente, dem Haushaltsgesetz 2004 enthalten ist, bezogen habe? denen wir uns widmen müssen, sind: erstens der Aufbau Für die ESA sind demnach Ausgaben in Höhe von einer integrierten und selbstständig wettbewerbsfähigen 572 Millionen Euro in 2005 und 582 Millionen Euro in Unternehmensstruktur, zweitens die technologische Füh- den Folgejahren vorgesehen. Aber die aktuelle Finanz- rungsrolle und drittens die Koordinierung der nationalen planung – ich habe eine entsprechende Liste gestern be- und europäischen Forschungsförderung. Herr Nüßlein, kommen – sieht für das Jahr 2005 und auch für die fol- die Fraktionen dieses Hauses sollten, so gut es eben geht, genden Jahre Ausgaben in Höhe von 552 Millionen Euro in diesen Punkten zusammenarbeiten. vor. Das sind also 30 Millionen Euro weniger pro Jahr. Ich habe nichts anderes gesagt, als dass im Vergleich zur Schönen Dank. Finanzplanung des letzten Jahres ein Minus von (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 170 Millionen Euro besteht. Können Sie mir das bestäti- DIE GRÜNEN) (B) gen? (D)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär beim Bun- desminister für Wirtschaft und Arbeit: Ich schließe die Aussprache. Mir liegt die gleiche Zahl vor. Ausgaben in Höhe von Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- 551,8 Millionen Euro für die ESA und in Höhe von ses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- 145,5 Millionen Euro auf der nationalen Ebene ergeben zung auf der Drucksache 15/3539. Der Ausschuss emp- zusammen 697,3 Millionen Euro. Das ist die Zahl, die fiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, den Antrag mir Frau Ministerin Bulmahn zur Klarstellung mit auf der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grü- den Weg gegeben hat. Wenn Sie auf der Grundlage von nen auf Drucksache 15/2394 mit dem Titel „Deutsche und 100 Jahren rechnen würden, dann würde das Defizit europäische Raumfahrtpolitik zukunftsorientiert gestal- noch weiter wachsen. Wir können dies natürlich tun, ten“ in Kenntnis der Unterrichtung durch die Bundesre- aber es wäre nicht hilfreich. Nichtsdestotrotz ist eines gierung auf der Drucksache 15/2373 Nr. 2.2 anzunehmen. klar: Es wird Jahr für Jahr um Ansätze gerungen werden. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Die Frau Kollegin Aigner, wir sind uns in folgendem Beschlussempfehlung ist angenommen. Punkt doch völlig einig. Wir wissen, dass es auf diesem Gebiet weltweit einen harten Wettbewerb gibt. Wir wis- Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss, den Antrag der sen auch, dass sich die Europäer auf diesem Feld stre- Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/2334 mit cken müssen. Wir tun alles, was wir tun können. Aber dem Titel „Stärkung der wissenschaftlichen Zukunfts- wir müssen Prioritäten setzen; wir werden sie auch set- und wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit des Raum- zen. Auch was die Budgetbemessung angeht, ist die fahrtstandorts Deutschland in Europa“ in Kenntnis der Raumfahrt bei Frau Ministerin Bulmahn in guten Hän- Unterrichtung durch die Bundesregierung abzulehnen. den. Lassen Sie uns gemeinsam über die Frage reden, Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer wie wir die Ansätze weiter hochfahren können. Wir alle stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Auch gehen doch vom gleichen Kuchen aus. Diese Tatsache diese Beschlussempfehlung ist mehrheitlich angenom- sollten Sie in Ihren Betrachtungen einmal mit berück- men. sichtigen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Beschlussempfehlung auf der Drucksache 15/3539, den DIE GRÜNEN) Antrag der Fraktion der FDP auf der Drucksache 15/1230 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11529

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) mit dem Titel „Stärkung der europäischen Raumfahrtpo- war. Für mich ist einfach nicht nachvollziehbar – ich halte (C) litik – Gewinn für den Wirtschafts- und Forschungs- dies in einer solch wichtigen Angelegenheit auch nicht für standort Deutschland“ in Kenntnis der Unterrichtung vernünftig –, dass eine Richtlinie gleichermaßen für den durch die Bundesregierung abzulehnen. Wer stimmt für Handwerksmeister und den Arzt gelten soll. Man kann diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – doch nicht alle Berufe in einen Topf werfen. Diese Frage Wer enthält sich? – Auch diese Beschlussempfehlung ist möchte ich daher in diesem Zusammenhang besonders mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der herausstellen. FDP bei Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion angenom- men. Meine Damen und Herren, erst vor fünf Jahren wurde für die Industrie und das Handwerk eine Richtlinie zur Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 6 auf: Anerkennung von Berufsqualifikationen verabschiedet und bereits jetzt wird wieder gesetzlich herumgefum- Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten melt. Karl-Josef Laumann, Dagmar Wöhrl, Veronika Bellmann, weiterer Abgeordneter und der Frak- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Na, na, na!) tion der CDU/CSU Es ist weder im Interesse der EU noch im Interesse der Anerkennung von Berufsqualifikationen von mittlerweile 25 Mitgliedstaaten, wenn die Anerkennung Handwerk, freien Berufen und Industrie von Berufsqualifikationen in schneller Folge geändert – Drucksachen 15/1378, 15/2236 – werden muss. Das sorgt für Verunsicherung in den Un- ternehmen und bei den Beschäftigten, die flexibel und Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die mobil sein müssen, aber angesichts der ständigen Verän- Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Dazu derungen bei der Anerkennung ihrer Berufsqualifikatio- höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos- nen einfach den Überblick verlieren. sen. Es besorgt mich, dass die Europäische Union die be- Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu- währten sektoralen Anerkennungsrichtlinien ohne Not nächst dem Kollegen Ernst Hinsken für die CDU/CSU- aufgegeben hat. Sie haben doch Jahrzehnte funktioniert. Fraktion. Ich meine, verehrte Kolleginnen und Kollegen: An Be- währtem sollte man festhalten. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Ernst Hinsken (CDU/CSU): Die Bundesregierung ist in der Pflicht, die drohende Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen (B) Entwertung deutscher Berufsabschlüsse durch die EU (D) und Kollegen! Bereits im Juli 2003, also vor eineinvier- zu verhindern; denn unser Ausbildungssystem mit den tel Jahren, hat meine Fraktion die heute zur Debatte ste- jeweiligen Abschlüssen ist nach wie vor das beste in Eu- hende Große Anfrage gestellt, um frühzeitig die Position ropa und weit darüber hinaus. Um weltweit bestehen zu der Bundesregierung in Erfahrung zu bringen. Die Ant- können, brauchen wir ein Mehr an Qualität in der Aus- wort kam sachgemäß im Dezember des gleichen Jahres. bildung und nicht eine immer stärkere Absenkung der Seit dem haben wir schon wieder eine neue Situation Anforderungen. Zu der bereits zu verzeichnenden Nied- und dies deshalb, weil die Europäische Kommission im riglohnkonkurrenz durch die EU-Osterweiterung darf Frühjahr einen geänderten Richtlinienvorschlag vorge- nicht auch noch ein Qualitätsdumping bei den Berufsab- legt hat. schlüssen treten. Wir müssen und wollen besser sein als Ich möchte gleich vorweg anmerken: Es war richtig, die anderen. dass die Bundesregierung im Europäischen Rat zusam- Ein Handwerker, Arzt oder Architekt legt in Deutsch- men mit Griechenland gegen diese Richtlinie gestimmt land mit seiner Prüfung ein Bekenntnis zu Leistung und hat. Dies war auch deshalb richtig, weil die Qualitätsprü- Können ab; dies ist der vollen Anerkennung wert. Wenn fungen bei der Anerkennung von Berufsqualifikationen jemand das Gefühl hat, dass das, was er geleistet hat, et- gerade beim Handwerk nicht weit genug gehen. Deshalb was wert ist, dann ist er viel stärker motiviert. Diese Mo- meine ich, dass sich die Bundesregierung in unserem In- tivation brauchen wir dringend auch in der Zukunft. teresse im weiteren Verfahren nachhaltig einbringen muss und hierzu eine ganze Reihe von Hausaufgaben zu Das Handwerk und die freien Berufe haben meiner erledigen hat. Herr Dr. Staffelt, Sie als Parlamentarischer Meinung nach nur dann eine Zukunft, wenn es tüchtigen Staatssekretär und Vertreter der Bundesregierung stehen und gut ausgebildeten Nachwuchs gibt. Der Nachwuchs in der Pflicht, entschieden für die deutschen Interessen ist der Hoffnungsträger für unser aller Zukunft. Deshalb einzutreten. ist jeder Versuch, den Meisterbrief weiter auszuhöhlen, entschieden abzulehnen. (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das macht er doch auch!) (Beifall bei der CDU/CSU) Die EU will die Anerkennung von Berufsqualifikatio- Zwar wird in der Richtlinie festgeschrieben, dass bei nen vereinfachen. Das ist zwar verständlich; das Ergeb- der Erbringung grenzüberschreitender Dienstleistungen, nis ist aber das genaue Gegenteil: Die überarbeitete zumindest bei besonders sensiblen Berufen aus den Be- Richtlinie ist noch komplizierter, noch bürokratischer und reichen der öffentlichen Gesundheit oder Sicherheit, der noch unverständlicher geworden, als sie es ohnehin schon Aufnahmestaat auch weiterhin ein Qualitätsprüfungsrecht 11530 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Ernst Hinsken (A) hat. Die Richtlinie schweigt sich aber darüber aus, wel- Berufen nun einmal haben, durch die EU nicht immer (C) che Berufe hier genau gemeint sind. Das ist einfach mehr ausgehöhlt werden. stümperhaft und kann nicht hingenommen werden. (Beifall bei der CDU/CSU) Gerade für das Handwerk ist diese Situation über- Unsere Nachbarn sind gefordert, ihr Niveau anzuheben, haupt nicht akzeptabel. Das möchte ich als Handwerks- nicht aber wir, unser Niveau zu senken. meister besonders unterstreichen. Aus guten Gründen ist für die Ausübung eines gefahrgeneigten Gewerkes der (Beifall bei der CDU/CSU) Meisterbrief erforderlich. Bewusst haben wir dies bei Wenn Europa mit der Konkurrenz in der ganzen Welt der Handwerksnovelle so beschlossen; denn nur so kön- wirtschaftlich Schritt halten will, dann muss sich unsere nen Sicherheit und Qualität für den Verbraucher garan- Wirtschaft auf ihre Stärken besinnen, die sie einmal groß tiert werden. Dessen Interessen sind hier in besonderer gemacht haben. Durch gute Ausbildung in Handwerk, Weise zu sehen. Gewerbe und Industrie sowie bei den freien Berufen Deshalb ist die Bundesregierung nachhaltig aufgefor- wurde gerade die Bundesrepublik Deutschland zu einer dert, dafür zu sorgen, dass dies nicht seitens der Europäi- der führenden Wirtschaftsnationen der Welt. schen Union unterlaufen wird. Ansonsten – das prophe- Werte Kolleginnen und Kollegen, nicht nur Juristen zeie ich Ihnen – ist eine Prozesslawine der Betroffenen ist einleuchtend, dass einige Berufe so beschaffen sind, bis hin zum Europäischen Gerichtshof zu befürchten. dass bestimmte Prüfungen und Lehrgänge zwingend Handwerk und Mittelstand haben doch etwas anderes zu vorgeschrieben sind und es bleiben müssen. tun, als die Qualität der Ausbildung in diesen Bereichen auch noch gerichtlich durchsetzen zu müssen. Sie haben doch schon genug Probleme. Sie sind zum Beispiel ge- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: nügend mit Bürokratie behaftet. Bauen wir diese Büro- Herr Kollege, Sie denken bitte an die Redezeit. kratie ab und reden wir nicht nur immer darüber! Ernst Hinsken (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU) Jawohl, ich bin schon beim Schluss, Herr Präsident. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es ist richtig, dass Ich bleibe jetzt so weit wie möglich in der Zeit. derzeit nicht zwischen grenzüberschreitenden Dienstleis- Das sollte jedoch nicht in Brüssel, sondern muss in tungs- und Niederlassungsvorgängen unterschieden wird. den einzelnen Ländern entschieden werden. Gerade die Dies soll nach den Vorschlägen für die neue Anerken- Unterschiede zwischen den Rechtssystemen der einzel- nungsrichtlinie anders werden. Die Begründung hierfür ist nen Staaten rechtfertigen solche Regelungen. Es muss (B) aber nicht einleuchtend. Die EU sieht dies nämlich als doch jedem einleuchten, dass eine Ausbildung mit Di- (D) notwendig an, um nach der Lissabon-Strategie in Europa plomen, Zeugnissen und sonstigen Leistungsnachweisen bis zum Jahre 2010 den dynamischsten und wettbe- aus dem Herkunftsland nicht unbedingt die rechtlichen werbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt zu schaffen. Kenntnisse abzudecken hat, die im Aufnahmeland auf Dies ist als Ziel richtig. Dazu sind jedoch keine Sonder- diesem Rechtsgebiet verlangt werden. regelungen bei der Anerkennung von Berufsqualifikatio- nen im Zusammenhang mit grenzüberschreitenden Lassen Sie mich zum Abschluss Folgendes sagen: Ich Dienstleistungsvorgängen erforderlich. Deshalb stellen meine, bestimmte Begriffe müssen genau definiert wer- sich doch folgende Fragen: Aus welchem Grund sollen den. eigentlich die Anerkennungsvoraussetzungen bei den (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das grenzüberschreitenden Dienstleistungen geringer sein stimmt! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: als bei der Niederlassung? Wird hier nicht eine neue Un- Das ist immer richtig!) gerechtigkeit geschaffen, anstatt sie beiseite zu schie- ben? Die Sicherung von Qualitätsstandards muss iden- Nach deutschem Vorbild müssen sie in den Richtlinien- tisch sein, unabhängig davon, ob der Leistungserbringer text aufgenommen werden. Dazu gehört, dass vor allen seine gewerbliche Niederlassung im In- oder im Ausland Dingen auch weiterhin die Voraussetzungen geschaffen hat. werden, bei der beruflichen Qualifikation nicht nur zu verlangen, man müsse wissen, was Sache ist; vielmehr Verehrte Kolleginnen und Kollegen, bereits das der- muss die Grundlage für uns sein, darauf zu drängen, dass zeitige System der Anerkennung von Berufsqualifikatio- man sich sprachlich etwas näher kommt. Wenn das der nen sichert eine Mobilität der Selbstständigen und der Fall ist, dann ist mir nicht bange, dass man auch die an- abhängig Beschäftigten innerhalb der EU. Leider ist in deren Herausforderungen leichter bewältigen kann, als den letzten Jahren vermehrt eine Tendenz seitens der Eu- es bislang der Fall ist. ropäischen Kommission festzustellen, Regelungen vor- zuschlagen, die über dasjenige hinausgehen, was zur Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Verwirklichung des Binnenmarktes tatsächlich erforder- (Beifall bei der CDU/CSU – Christian Lange lich ist. [Backnang] [SPD]: Viel heiße Luft!) Ich fordere deshalb auch im Namen meiner Fraktion die Bundesregierung auf, nachhaltig dafür zu sorgen, Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: dass qualitativ hochwertige Ausbildungen, wie wir sie in Es wäre ja zu schön, wenn die Geschäftsführer ihren Deutschland mit dem Meisterbrief oder bei den freien Rednern die gleichen Redezeiten angeben könnten wie Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11531

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) dem Präsidenten, um die Unstimmigkeiten, die es in den rung durch den Kollegen Lange darauf zurückzuführen (C) jeweiligen Vorgaben gibt, in Grenzen zu halten. ist, dass er nicht aufgepasst hat. Anderenfalls wüsste er genau, dass ich hier die Bundesregierung sogar gelobt Als nächstem Redner erteile ich dem Kollegen habe, weil sie mit der griechischen Regierung zusammen Christian Lange, SPD-Fraktion, das Wort. versucht hat, einiges an Unheil abzuwenden. Hätten Sie aufgepasst, Herr Kollege Lange, dann bräuchten Sie dies Christian Lange (Backnang) (SPD): von mir jetzt nicht einzufordern. Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Da- men und Herren! Lieber Kollege Hinsken, leider war Ihre Christian Lange (Backnang) (SPD): Rede wieder einmal ein Beitrag zum Politikverdruss. Dann bedanken wir uns für die Unterstützung durch (Beifall bei der SPD – Zuruf von der CDU/ die Opposition, Herr Kollege Hinsken. Wir wünschen CSU: Sie haben doch gar nicht zugehört!) uns aber, dass Sie dies in Zukunft nicht nur in diesem Hohen Hause, sondern auch dann klar und deutlich zum Erstens haben Sie den Eindruck erweckt, als hätten Ausdruck bringen, wenn Sie über das Handwerk und die wir vonseiten der Regierungskoalition den Zeitpunkt für Anerkennung unserer Handwerksberufe in der Europäi- diese Debatte hinausgezögert. Das ist falsch. Sie haben schen Union sprechen. Sie wissen genau, dass bei der das Aufsetzungsrecht. Novelle der Handwerksordnung die Haltung der Euro- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sie haben nicht päischen Union einer der zentralen Gründe war, warum aufgepasst! Was habe ich im ersten Satz ge- wir diesen Weg gemeinsam gegangen sind. sagt?) Meine Damen und Herren, der Richtlinienvorschlag Im Dezember 2003 kam die Antwort. Sie hätten also seit bezieht sich dabei auf reglementierte Berufe, also auf Januar dieses Jahres diese Debatte hier führen können. Berufe, bei denen der Berufszugang oder die Berufsaus- übung an den Nachweis einer bestimmten Qualifikation Zweitens haben Sie den Eindruck erweckt, als gäbe es gebunden ist. Davon sind insbesondere solche Berufe eine Differenz zwischen Bundesregierung, SPD-Frak- betroffen, bei denen aus Gründen des Allgemeininteres- tion, Grünen-Fraktion, CDU/CSU-Fraktion, FDP-Frak- ses, zum Beispiel Gesundheit und Verbraucherschutz, tion und den Verbänden in Deutschland zur Position der Berufszugang bzw. Berufsausübung an den Nachweis Bundesregierung; bestimmter Voraussetzungen geknüpft ist. – So weit die (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Waren Sie denn Richtlinie. dabei?) Die Bundesregierung vertritt die Auffassung – sie tat (B) denn Sie haben einen ganz wichtigen Punkt verschwie- dies in ihrer Antwort bereits zu einem Zeitpunkt, zu dem (D) gen: dass wegen ihrer Argumente, die sie hier vorgetra- sie sich im Rat noch nicht festgelegt hatte –, dass jeder gen hat, die politische Einigung im Wettbewerbsfähig- Mitgliedstaat weiterhin die Möglichkeit behalten soll, keitsrat am 18. Mai 2004 mit qualifizierter Mehrheit diese Nachweise von jedem EU-Staatsbürger zu fordern, gegen die Stimmen der deutschen und der griechischen der auf seinem Gebiet tätig werden möchte. Die Libera- Delegation erzielt worden ist. lisierung des Dienstleistungsverkehrs und des Nie- derlassungsrechts in der Gemeinschaft ist grundsätzlich (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das habe ich ge- zu begrüßen; Liberalisierung darf aber nicht zulasten der sagt!) Schutzbedürftigen, insbesondere der Verbraucher, ge- hen. Auch darin sind wir uns, wie ich denke, einig. Un- Meine Damen und Herren, ich frage mich wirklich, beschadet des notwendigen Kompromisses wird die warum wir diese Debatte, wenn wir sie schon führen Mobilität der Fachkräfte in Europa gefördert, ohne aber müssen, an dieser Stelle in dieser Form führen, da wir den Verbraucherschutz oder den Wettbewerb wesentlich uns doch in der Sache einig sind. Ich hätte zumindest er- zu vernachlässigen. wartet, dass Sie die Einigkeit, die in diesem Hohen Hause besteht, entsprechend betonen und darstellen. Angesichts der divergierenden Interessenlagen der Ratsmitglieder halte ich das, was als Ergebnis herausge- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: kommen ist, zumindest für vertretbar, wenn auch nicht Darf Ihnen der Kollege Hinsken eine Zwischenfrage für unterstützenswert. Übrigens haben auch die betroffe- stellen, Herr Kollege Lange? nen Verbände des Handwerks, der freien Berufe und der Industrie bislang keinerlei Einwände gegen das von der Bundesregierung im Rat erzielte Verhandlungsergebnis Christian Lange (Backnang) (SPD): erhoben. Ja. Lassen Sie mich deshalb die wichtigen Regelungen, Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: die trotz der Ablehnung noch erreicht worden sind, hier Bitte schön. darstellen: Erstens. Die bewährten Regelungen zur Niederlas- Ernst Hinsken (CDU/CSU): sung bleiben von der Diplomanerkennungsrichtlinie Ich bin dankbar, Herr Präsident, dass ich diese Zwi- weitgehend unberührt. Das heißt, dem Aufnahmemit- schenfrage stellen darf, weil ich zu meinem großen Be- gliedstaat steht weiterhin das Recht zur Qualifikations- dauern feststellen muss, dass die schlechte Qualifizie- prüfung der betroffenen Person zu. 11532 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Christian Lange (Backnang) (A) Zweitens. In dem umstrittenen Bereich grenzüber- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Wie viele darun- (C) schreitender Dienstleistungen konnte erreicht werden, ter sind Ich-AGler?) dass zumindest für die besonders sensiblen Berufe aus dem Bereich der öffentlichen Gesundheit oder Sicherheit Die Handwerksordnungsnovelle wollte auch durch dem Aufnahmemitgliedstaat auch weiterhin ein Qualifi- mehr Freiheit und Wettbewerb die Attraktivität des kationsprüfungsrecht zusteht. Handwerks gerade für junge Leute erhöhen. Was wurde bislang erreicht? Die Zahl der Ausbildungsverträge Drittens. Welche Berufe hiervon erfasst sind – in die- nahm im August 2004 um 2,4 Prozent gegenüber dem sem Punkt hat der Kollege Recht – wurde in der Richtli- Vorjahresmonat zu. Das ist, denke ich, ohne Zweifel ein nie allerdings nicht festgelegt; dies bleibt späteren Ein- Erfolg des Ausbildungspaktes – da ist insbesondere das zelentscheidungen vorbehalten. Hier teile ich Ihre Handwerk ganz positiv hervorzuheben –, aber auch der Meinung: Es wird wahrscheinlich Entscheidungen des neuen Handwerksordnungsnovelle. Trotz nach wie vor Europäischen Gerichtshofs geben. Aber so ist es, wenn schwacher Handwerkskonjunktur und einer beispiello- man sich gegen eine überwältigende Mehrheit nicht sen Verunsicherungskampagne steht fest: Das neue durchsetzen kann. Handwerksrecht wirkt und zeitigt bereits nach kurzer Zeit beachtliche Erfolge. Viertens. An dieser Stelle geht der Bundesregierung insbesondere im Hinblick auf das Handwerk die Be- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sie lügen sich in schränkung der Qualifikationsüberprüfung auf die vor- die eigene Tasche!) genannten Berufsgruppen nicht weit genug. Deshalb hat – Aber Herr Kollege, Sie haben doch sogar zugestimmt. sie im Rat auch gegen die Richtlinie gestimmt. Sie war aber mit Ausnahme von Griechenland insoweit isoliert. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Aber Sie spre- chen über den Erfolg!) Meine Damen und Herren, allerdings braucht das Handwerk die europäische Konkurrenz nicht zu fürch- Ich bitte Sie, wenigstens nachdem Sie zugestimmt haben ten; denn dank der großen Handwerksordnungsnovelle, – hier im Deutschen Bundestag haben die Fraktionen die wir gemeinsam auf den Weg gebracht haben, ist es von CDU/CSU und FDP zugestimmt –, zu den Erfolgen bestens gerüstet. Dies zeigen übrigens auch die jüngst zu stehen, die wir gemeinsam auf den Weg gebracht ha- veröffentlichten Zahlen des Zentralverbands des Deut- ben. Ich gehe sogar so weit, dass ich mich bei Ihnen schen Handwerks zur Entwicklung des Handwerks in herzlich dafür bedanke, dass Sie diesen Weg zur Novel- der ersten Jahreshälfte 2004. Der jahrelange Abwärts- lierung der Handwerksordnung und damit zur Öffnung trend im deutschen Handwerk konnte gestoppt und um- des deutschen Handwerks nach Europa mitgegangen sind. Das ist ein guter Weg und Ihnen gebührt eigentlich (B) gekehrt werden. Die Zahl der Handwerksbetriebe nimmt (D) wieder zu, die Zahl der Ausbildungsplätze auch. Fast Dank dafür, dass Sie ihn mitgegangen sind. Diesen Weg 2 Prozent oder über 16 200 Betriebe mehr zählt der ZDH sollten wir gemeinsam vertreten, so wie wir ihn auch ge- im ersten Halbjahr 2004. meinsam beschlossen haben. (Beifall der Abg. Grietje Bettin [BÜNDNIS 90/ Die Hauptursache für diese positive Entwicklung ist DIE GRÜNEN]) das neue Handwerksrecht, das seit 1. Januar in Kraft ist. Ziel der Novelle war und ist es nämlich, mehr Existenz- Meine Damen und Herren, ich möchte außerdem dar- gründungen durch weniger Handwerksberufe mit Meis- auf hinweisen, dass die Diplomanerkennungsrichtlinie terzwang zu ermöglichen. Was wurde bisher erreicht? gerade im Handwerk vor dem Hintergrund der EU- Die Zahl der Existenzgründungen bei den Handwerksbe- Osterweiterung von Bedeutung war. Die Richtlinie wird rufen, die jetzt nicht mehr dem Meisterzwang unterlie- nach ihrer Verabschiedung zum gemeinschaftsrechtli- gen – Anlage B –, ist um knapp 16 Prozent oder gut chen Besitzstand zählen und muss somit auch von den 11 700 Betriebe gestiegen. neuen osteuropäischen EU-Mitgliedsländern umgesetzt werden. Dass es an dieser Stelle zu keinen weiteren Un- Die Handwerksordnungsnovelle wollte mit dem stimmigkeiten mit dem Handwerk kam, liegt auch maß- neuen Handwerksrecht einen wirksamen Beitrag zur geblich an der Durchsetzung von Übergangsfristen im Verringerung der Schwarzarbeit leisten. Was wurde bis- Bereich der Arbeitnehmer- und Dienstleistungsfreiheit lang erreicht? Neugründungen nach der Anlage B sind von bis zu sieben Jahren durch die Bundesregierung. Für vor allem in den typischen Schwarzarbeitgewerken er- die sonstigen Berufsgruppen ist aber vorgesehen, dass zielt worden, wie bei den Fliesenlegern, den Gebäuderei- bei der erstmaligen Dienstleistungserbringung ein Nach- nigern, den Damen und Herren Schneidern oder den Par- weis über die rechtmäßige Niederlassung im Herkunfts- kettlegern. staat sowie Unterlagen über die Berufsqualifikation und Berufserfahrung gefordert werden können. Die Novelle wollte Gesellen mit langjähriger Berufs- ausübung im Handwerk mit Meisterzwang – der Lassen Sie mich noch festhalten, dass das Diploman- Anlage A – die Chance einräumen, sich wirksam, früher erkennungsrecht keinen Einfluss auf das jeweilige na- und schneller selbstständig zu machen. Was wurde seit- tionale Bildungssystem hat. Das in der Richtlinie festge- her erreicht? 60 Prozent aller Existenzgründungen im legte Anerkennungssystem dient lediglich dazu, dass Handwerk mit Meisterzwang, also 2 100 von 3 500 Neu- trotz der unterschiedlichen Bildungssysteme in den Mit- gründungen, wurden von berufserfahrenen Gesellen gliedstaaten die Freizügigkeit auf dem Wege der gegen- ohne Meisterbrief vorgenommen. seitigen Anerkennung von Qualifikationen und des Aus- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11533

Christian Lange (Backnang) (A) gleichs wesentlicher Unterschiede gesichert wird. So zu einer zusammengeführt werden und dass es um die (C) können die nationalen Eigenheiten bewahrt werden und Vereinfachung von Vorschriften, den Abbau von Büro- stellen gleichzeitig kein Hindernis auf dem Wege der kratie und eine verbesserte Umsetzung der europäischen Liberalisierung des Dienstleistungsverkehrs und der Vorgaben geht. Das ist in der Tendenz positiv zu bewer- Niederlassungsfreiheit in Europa dar. ten. Zum Schluss möchte ich noch sagen, dass ich fürchte Wir als FDP sagen, dass bei aller Liberalisierung und – auch deshalb habe ich mit dem Satz angefangen, dass allem Änderungsbedarf, den auch wir sehen, auf eines wir hier einen Beitrag zum Politikverdruss haben –, dass hingewiesen werden muss: Die Besonderheiten eines be- wir uns noch in einem Verfahren befinden. stimmten Landes, die auch Gegenstand des Wettbewerbs sind, dürfen nicht komplett eingeebnet werden. Diese (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Deshalb reden Besonderheiten muss man beachten, damit sich jedes wir doch heute darüber!) Land wieder findet. Es wäre – wenn es so bleibt, wie es Das heißt, auch das, worüber wir heute diskutieren sich bisher abzeichnet – ein positives Ergebnis, dass für – Herr Kollege Hinsken, Sie haben das vorhin schon kri- Handwerk, freie Berufe und Industrie auch in Zukunft tisiert –, ist wieder nur ein Zwischenstand. Denn wir funktionierende und weitgehend unbürokratische Auf- wissen: Gegen Ende 2004 wird mit der Vorlage des ge- sichtsmechanismen erhalten bleiben. Wichtig ist uns, meinsamen Standpunktes des Rates gerechnet, der dann dass dadurch die alleinige Kontrolle von Qualität und dem Europäischen Parlament zur zweiten Lesung vorge- Kompetenz durch den Entsendestaat ausgeschlossen legt wird. Es ist nicht auszuschließen, dass sich daran ein wird. Insofern ist auch dies positiv. Vermittlungsverfahren zwischen Rat und Europäischem Jetzt komme ich zu dem Teil, den ich etwas kritischer Parlament anschließt. bewerte. Die Änderung der Handwerksordnung war mit Die Positionen der Bundesregierung und des Hohen Blick auf die EU notwendig. Wir haben gemeinsam um Hauses sind klar: Wir ziehen an einem Strang. Das soll- dieses Ergebnis gerungen. Wir finden, dass sich auch ten wir auch heute zum Ausdruck bringen. hier eine ganz positive Tendenz abzeichnet. So haben wir zum Beispiel die Altgesellenregelung gemeinsam (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sehr beschlossen. gut! Ohne jeden künstlichen Konflikt!) Aber, Kollege Lange, Sie haben eben die Anzahl der In diesem Sinne freue ich mich auf einen konstruktiven Unternehmen genannt, die neu gegründet wurden. Hier Verlauf der weiteren Debatte. muss man ein bisschen genauer hinschauen. Wir als FDP Herzlichen Dank. haben ausdrücklich gesagt: Wir nehmen wahr, dass es (B) beim Handwerk nach wie vor problematische Entwick- (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lungen gibt. So meldete zum Beispiel das Statistische DIE GRÜNEN) Bundesamt erst vorgestern einen Rückgang der Beschäf- tigtenzahlen im Handwerk um 4 Prozent gegenüber Juni Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: des Jahres 2003. Das Wort hat nun die Kollegin Gudrun Kopp, FDP- Schauen Sie sich einmal an, welchen Anteil Ich-AGs, Fraktion. die staatlich subventioniert werden,

Gudrun Kopp (FDP): (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das ist Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Da- doch unglaublich! Jeder fängt mal klein an!) men! Für die FDP-Bundestagsfraktion kann ich erklären, an allen Firmenneugründungen haben. dass unsere Beurteilung des heute vorliegenden Zwi- schenstandes hinsichtlich der Anerkennung von Berufs- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So ist es! Darüber ha- qualifikationen von Handwerk, freien Berufen und In- ben Sie kein Wort gesagt, Herr Lange!) dustrie recht positiv ausfällt. Es ist zu erkennen, dass an Gestern haben wir im Wirtschaftsausschuss diesbezüg- der Richtlinie bis zum heutigen Tag entscheidende Ver- lich eine sehr interessante Zahl gehört: Bislang sind besserungen vorgenommen worden sind. 157 000 Ich-AGs gegründet worden, für die im Haushalt Wer möchte, dass die EU bis zum Jahr 2010 zum 850 Millionen Euro zur Verfügung gestellt wurden. dynamischsten und wettbewerbsfähigsten Wirtschafts- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Hört! Hört!) raum wird, der muss für Liberalisierungen offen sein, die für den Binnenmarkt zu mehr Wettbewerb, auch bei Allein im August 2004 sind 6 200 dieser Ich-AGs vom den Qualifikationen, führen – allerdings nicht ohne Markt verschwunden. Grenzen, auch nicht völlig uferlos und schon gar nicht (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So ist es! Und da um den Preis von Qualifikationsdumping. Das wollen spricht er von großen Erfolgen!) wir nicht. Eine seriöse Evaluierung nach Branchen und Bestand (Beifall des Abg. Ernst Hinsken [CDU/CSU]) – ohne staatliche Subventionierung – steht noch aus. Aber wir müssen sagen: Es geht um die Flexibilisie- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) rung der Arbeits- und Dienstleistungsmärkte im Binnen- markt. Wir vermerken positiv, dass 15 Einzelrichtlinien Es ist sehr fraglich, wie das aussehen wird. 11534 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Gudrun Kopp (A) Ich möchte an dieser Stelle noch einmal an uns selbst, Wir sehen die neue EU-Richtlinie zur Anerkennung (C) insbesondere aber an die rot-grüne Bundesregierung ge- von Berufsqualifikationen mit den in den Verhandlungen richtet sagen, dass die Tragfähigkeitsbescheinigung, die inzwischen erreichten Änderungen auf einem guten und jetzt eingefordert wird – also etwas Ähnliches wie ein praktikablen Weg. Der überwiegende Teil der bisherigen Businessplan, der von den Kammern auszustellen ist –, Richtlinien geht nun in der neuen Richtlinie auf. Die so ein ganz wichtiges Element immer noch nicht enthält, verbesserte Transparenz hilft Antragstellern und Verwal- nämlich die Notwendigkeit für Ich-AGler, sich selbst ge- tungen. Eigene Richtlinien bleiben nur für die Berufe gen Regressansprüche zu versichern. Wir erleben der- Rechtsanwalt sowie Wirtschafts- und Steuerprüfer beste- zeit Betriebsgründungen, ohne dass bedacht würde, dass hen; diese werden von der neuen EU-Richtlinie ausge- Regressansprüche abgesichert sein müssen. Das ist nommen. Dies halten wir für gerechtfertigt; denn wel- wichtig für den Menschen, der sich selbstständig macht, cher deutsche Rechtsanwalt würde sich schon in die aber auch wichtig für seine Kundschaft. Hierauf wird zu englische Prozessordnung hineinwagen? wenig Sorgfalt verwendet. Gegenüber dem ursprünglichen Kommissionsent- Ich sage abschließend: Grundsätzlich sehen wir die wurf sehen wir in dem inzwischen erreichten Verhand- Beratungen zu dieser Richtlinie in der Tendenz positiv. lungsergebnis deutliche Verbesserungen. Wir müssen natürlich abwarten, was hier noch folgt. Aber ich sage auch noch einmal, dass sich die rot-grüne (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bundesregierung wirklich anstrengen muss, und bei der SPD) (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So ist es!) Die Anmeldung bei gewünschter Niederlassung und bei grenzüberschreitenden Dienstleistungen erfolgt um eine bessere Wirtschaftspolitik für den Mittelstand künftig im Aufnahmeland und nicht, wie ursprünglich zu machen. Wir brauchen passende Rahmenbedingun- geplant, im Herkunftsland. Die Kontrollmöglichkeiten gen, nämlich Kostensenkungen. Wir müssen darauf ach- des Aufnahmelandes werden dadurch erheblich verbes- ten, dass wir tatsächlich Entbürokratisierung schaffen. sert. Ob eine grenzüberschreitende Tätigkeit oder eine Diesbezüglich ist es mit der Reformfähigkeit dieser Re- Niederlassung vorliegt, entscheiden die zuständigen Be- gierung immer noch nicht weit her. Mittelständische Un- hörden des Aufnahmelandes wie bisher im konkreten ternehmen müssen sich am Markt wirklich entfalten Einzelfall. Sie behalten den erforderlichen Ermessens- können. Es geht um echte Existenzen von Dauer und von spielraum. Das ist viel besser als eine starre zeitliche Qualität. Hier bleibt für Sie noch sehr viel zu tun. Fristsetzung, wie sie die EU-Kommission ursprünglich Vielen Dank. vorgeschlagen hatte. Die Behörden werden sich bei der (B) Prüfung, ob eine Tätigkeit als gelegentlich oder vorüber- (D) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gehend einzustufen ist, wie bisher daran halten, ob der Antragsteller noch fest in der Wirtschaft des Herkunfts- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: landes verankert bleibt. Die bewährten Regelungen zur Das Wort hat nun die Kollegin Grietje Bettin, Bünd- Niederlassung bleiben nach dem jetzigen Verhandlungs- nis 90/Die Grünen. stand weitgehend unberührt: Der Aufnahmestaat hat weiterhin das Recht zur Qualifikationsprüfung, wenn ein Europäer die Niederlassung beantragt. Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- Für Menschen, die grenzüberschreitende Dienstleis- gen! Wohl kaum jemand möchte heute den freien Waren- tungen anbieten, wird die neue Richtlinie dagegen eine fluss zwischen den Ländern der EU missen. Als export- große Erleichterung sein. Für die meisten Berufe gilt orientierte Nation profitieren wir auch volkswirtschaft- dann nicht mehr das Qualifikationsprüfungsrecht des lich davon: Rund 60 Prozent unserer Exporte gehen in Aufnahmelandes. Dienstleister aus einem anderen EU- die EU. Wir können uns freuen über offene Grenzüber- Land müssen nur noch den Nachweis ihrer rechtmäßigen gänge ohne Warteschlangen und inzwischen auch über Niederlassung im Herkunftsland sowie Unterlagen über das Ende der Wechselstuben. ihre Berufsqualifikation und Berufserfahrung vorlegen. Davon ausgenommen werden die Bereiche Gesundheit Mit dieser positiven Grundhaltung sollten wir auch und öffentliche Sicherheit. Wir Grüne halten das durch- weitere Chancen, die uns die Europäische Union bietet, aus für richtig. ergreifen. So sollten wir es auch mit der gegenseitigen Anerkennung von Berufsqualifikationen in Europa hal- Die aktuelle Diskussion um die Qualität der Pflege in ten. Bisher regelt ein Wust von EU-Richtlinien die Aner- Deutschland zeigt, dass wir hier besonders auf die beruf- kennung von Berufsqualifikationen. Die Kommission liche Qualifikation achten müssen. Dort, wo es um die will dies nun endlich ändern und mehr Transparenz und Gesundheit der Menschen geht, müssen wir gegebenen- Mobilität für Dienstleistungen erreichen. Aus europapo- falls Anpassungsmaßnahmen fordern können, wie etwa litischer und wettbewerbspolitischer Sicht ist dieses An- Fortbildungslehrgänge für Pflegekräfte. liegen grundsätzlich begrüßenswert. Die Frage ist jetzt, inwieweit die geplante Regelung den Verbraucherschutz, Nicht ausgenommen sind dagegen 41 Handwerksbe- die Qualitätssicherung – zum Beispiel im Gesundheits- rufe, die in Deutschland aus sicherheits- und/oder ausbil- bereich – und faire Wettbewerbsbedingungen für die An- dungstechnischen Gründen an den Meisterbrief gebun- bieter gewährleistet. den sind. Unserer Meinung nach muss dies auch nicht so Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11535

Grietje Bettin (A) sein. Für einige Berufe wäre eine Ausnahme zwar durch- enthaltenen Regelungen zur Anerkennung beruflicher (C) aus begründbar gewesen, aber nicht für alle 41. Befähigungsnachweise sollen in einer einzelnen Richt- linie gebündelt und zusammengefasst werden. Das Ziel Bei der Liberalisierung der Dienstleistungen in der soll eine Vereinfachung sein. Wenn ich mir aber den EU sollten wir nicht ängstlich auf die Konkurrenz aus Umfang des jetzigen Richtlinienvorschlages anschaue, anderen EU-Staaten schauen. Die gemeinsame Regelung dann sind hier Zweifel und Skepsis angesagt. zur Anerkennung von Berufsqualifikationen nützt auch deutschen Dienstleistern. Das betrifft etwa Physiothera- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist wohl peuten und andere Anbieter im Gesundheitsbereich und wahr!) in Handwerksberufen, die in manchen EU-Staaten eine Vonseiten der CDU/CSU-Fraktion haben wir bereits akademische Ausbildung erfordern. Mitte letzten Jahres einen erheblichen Klärungsbedarf Europa bedeutet mehr als nur freier Warenfluss und gesehen und mit einer Großen Anfrage an die Bundesre- fehlende Wechselstuben. Bei dieser Neuregelung geht es gierung den Fokus vor allem auf drohende Wettbewerbs- um die Schaffung einer gemeinsamen Arbeitswelt für verzerrungen und Gefahren für den Verbraucherschutz die Menschen. Wir alle in diesem Haus wollen die Be- gelegt. Bedingt durch den Umstand, dass zeitgleich auch rufsausbildung in Deutschland fit für Europa machen. die Dienstleistungsrichtlinie verhandelt wird, drohen Dafür müssen wir den europäischen Weg in der Berufs- Grenzziehungen zu verwischen und ein Kompetenzwirr- anerkennung aber auch konsequent gehen. warr zu entstehen. Gerade bei der Dienstleistungsrichtli- nie sind noch manche Fragen offen. So ist in dieser bei- Danke schön. spielsweise das Herkunftslandprinzip vorgesehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Damit wäre der Herkunftsstaat für eine Kontrolle seiner und bei der SPD) Staatsangehörigen im ausländischen Tätigkeitsstaat zu- ständig. Kontrollen liefen damit aber ins Leere, weshalb Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: dadurch allenfalls die Schwarzarbeit begünstigt würde. Letzter Redner in der Aussprache zu diesem Tages- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Genauso ist es!) ordnungspunkt ist der Kollege Gunther Krichbaum, Insoweit besteht bei der Dienstleistungsrichtlinie erheb- CDU/CSU-Fraktion. licher Klärungsbedarf. (Beifall bei der CDU/CSU) Soweit der Vorschlag der Kommission im Rahmen der Anerkennungsrichtlinie das Ziel verfolgt, die Freizü- Gunther Krichbaum (CDU/CSU): gigkeit qualifizierter Personen im Binnenmarkt zu er- (B) Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die leichtern, ist dagegen nichts einzuwenden. Die Union (D) gegenseitige Anerkennung von Berufsqualifikationen steht einer Liberalisierung der Dienstleistungs- und spielt für die wirtschaftliche Entwicklung der EU unbe- Niederlassungsfreiheit positiv gegenüber. Schließlich strittenermaßen eine herausragende Rolle. Aus diesem gilt es, im Rahmen der Lissabonner Strategie für eine Grund sollen Berufsqualifikationen in der EU automa- dynamischere EU-Wirtschaft die Erbringung von tisch anerkannt werden. Gerade für uns als exportorien- Dienstleistungen zu erleichtern. Hierbei müssen aber tierte Nation ist es wichtig, dass wir nicht nur unsere auch bestimmte und bewährte Standards eingehalten Waren in andere Länder ungehindert liefern, sondern werden. dort auch Dienstleistungen erbringen können. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall des Abg. Ernst Hinsken [CDU/CSU]) Als Union legen wir deshalb erheblichen Wert darauf, Gerade hier haben wir Deutsche Nachholbedarf, da wir dass Dienstleister aus anderen EU-Staaten den qualitati- hier hinter den USA und Großbritannien liegen. Umge- ven Anforderungen entsprechen, die wir unseren eige- kehrt gilt freilich, dass auch Dienstleister aus anderen nen Erwerbstätigen abverlangen. Ansonsten laufen wir Ländern der EU hier tätig werden können. Gefahr, eine unzulässige Inländerdiskriminierung vorzu- Das Handwerk und die freien Berufe haben bei uns nehmen. eine jahrzehntelange Tradition und sind zwei der tragen- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Jawohl!) den Säulen unserer Wirtschaft. Gerade das Handwerk unternimmt in einer Zeit, in der Ausbildungsplätze Für die Berufe in den Bereichen des Gesundheitswesens knapp sind, enorme Anstrengungen, um jungen Leuten und der öffentlichen Gewalt ist dies bereits gelungen. eine Berufsqualifikation zu vermitteln und ihnen damit Gleiches muss aber auch für die freien Berufe, beispiels- eine Zukunftschance zu geben. Das kann nicht oft genug weise der Rechts- und Steuerberater wie auch der Wirt- gewürdigt werden. schaftsprüfer, gelten. Im Interesse eines aktiven Verbrau- cherschutzes fordern wir deshalb die Bundesregierung (Beifall bei der CDU/CSU) auf, in den weiteren Gesprächen alle Möglichkeiten aus- zuschöpfen, um dieser Interessenlage nachhaltig Rech- In einer zunehmend europäisch werdenden Wirtschaft nung zu tragen. brauchen sie deshalb verlässliche Rahmenbedingungen und uns als politische Partner. (Beifall bei der CDU/CSU) Seit nunmehr über zwei Jahren wird in Brüssel an einer Keinesfalls sollte es genügen, dass wir uns mit der Richtlinie gearbeitet. Die in zahlreichen Einzelrichtlinien Regelung eines Nachweises entsprechender Berufshaft- 11536 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Gunther Krichbaum (A) pflichtversicherungen begnügen, die bei einer mangel- Festzuhalten bleibt, dass das Ziel einer automatischen (C) haften Leistung Schäden der Verbraucher ausgleichen Anerkennung von Berufsqualifikationen innerhalb der sollen. Allein diese Sichtweise ist schon verkehrt; denn EU ein Schritt in die richtige Richtung ist. Gerade wir es geht hierbei um mehr. Es geht darum, dass wir unsere als Exportnation von Waren und Dienstleistungen wer- Qualitätsstandards, auf die unsere Verbraucher seit den hier in besonderer Weise profitieren. Im Interesse Jahren vertrauen, sicherstellen. Die Güte der Beratungs- der Bürgerinnen und Bürger ist es aber auch wichtig, und Dienstleistungen darf nicht zum Spielball im Feld dass diese auf die Güte der Leistungen weiterhin ver- der europäischen Harmonisierungsbestrebungen werden. trauen dürfen. Für jene, die sich hier in Deutschland dauerhaft nie- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. derlassen wollen, sieht Art. 14 der Richtlinie vor, dass (Beifall bei der CDU/CSU) der Staat, in dem sich der Dienstleistende niederlässt, eine entsprechende Eignungsprüfung oder wahlweise Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: entsprechende Lehrgänge verlangen kann. Es ist deshalb wichtig, dass die Bundesregierung schon jetzt entspre- Ich schließe die Aussprache. chende Vorkehrungen trifft, damit nach Verabschiedung Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf: der Richtlinie eine zügige Umsetzung erfolgen kann. Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Leider ist es in den Verhandlungen nicht gelungen, gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neu- eine Regelung durchzusetzen, um die eben beschriebe- ordnung des Lebensmittel- und des Futtermit- nen Maßnahmen auch auf jene anwenden zu können, die telrechts sich nur zeitlich befristet hier bzw. in einem anderen – Drucksache 15/3657 – Mitgliedstaat aufhalten. Wie eben erwähnt, ist dies nur Überweisungsvorschlag: für Gesundheitsberufe und die Berufe im Bereich der öf- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und fentlichen Gewalt gelungen. Diese Einschränkung ist im Landwirtschaft (f) Interesse der deutschen Verbraucher zu bedauern. Von- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung seiten der CDU/CSU-Fraktion hätten wir uns hier mehr Hierzu ist nach einer interfraktionellen Vereinbarung gewünscht. Gleichwohl wissen wir, dass dieses Ansin- eine Aussprache von 45 Minuten vorgesehen. – Ich höre nen nicht an der Bundesregierung, sondern vielmehr am keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Widerstand der Kommission und anderer EU-Partner- staaten scheiterte. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Bundesministerin Renate Künast. (B) Wir begrüßen es, dass die Mitgliedstaaten in Zukunft (D) die Möglichkeit haben, von Dienstleistern aus anderen Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucher- EU-Staaten vor ihrer erstmaligen Leistungserbringung schutz, Ernährung und Landwirtschaft: eine Anmeldung zu verlangen. Dabei gehen wir davon Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- aus, dass ein entsprechendes Meldeverfahren tatsäch- ren! Der vorliegende Gesetzentwurf zur Neuordnung des lich installiert wird, das auf unbürokratische, aber effi- Lebensmittel- und Futtermittelrechts ist eines der Kern- ziente Weise den Schutz der Verbraucher in Deutschland stücke des aktualisierten, modernen Lebensmittelrechts sicherstellt. und auch ein wichtiger Baustein in der Verbraucherpoli- tik der Bundesregierung. Man kann sagen, er ist ein wei- Schließlich sei noch das Problem der so genannten terer Meilenstein für mehr Lebensmittelsicherheit in gemeinsamen Plattformen erwähnt, wonach in Zukunft Deutschland. ausschließlich die Berufsverbände den Katalog für einen Verzicht auf die oben erwähnten Ausgleichsmaßnahmen Halten wir uns noch einmal die Probleme der vergan- – sprich: Qualifikationstest oder Lehrgang – bestimmen genen Jahre vor Augen: Blei in Paprika, Dioxin in Fut- können. Hierbei bestünde nach dem jetzigen Richtlinien- termitteln bis hin zu Lasalocid in Eiern. Das ist bei wei- vorschlag kein Mitspracherecht des Parlaments mehr, tem nicht die ganze Liste. Dahinter stecken folgende also weder des Bundestages noch des Europäischen Par- Probleme: Einmal wurde bei der Produktion zu oft nur laments. Hierbei besteht nun die Gefahr, dass der Anfor- auf Masse statt auf Klasse und Qualität gesetzt. derungskatalog der europäischen Verbände hinter unse- (Gerda Hasselfeldt [CDU/CSU]: Schon ren qualitativen Standards zurückbleibt. Dies bedeutet wieder!) einerseits, dass wir den hiesigen Handwerkern und Frei- beruflern Standards abverlangen, die ein EU-Dienstleis- – Ich finde gut, dass Sie behalten haben, dass ich das öf- ter nicht erbringen müsste, und es zu einer Benachteili- ter sage. Das war auch meine Absicht. gung inländischer Dienstleister käme. Andererseits darf (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das haben Sie so dieser Umstand nicht dazu führen, dass wir uns mit un- oft gesagt, dass es uns zum Hals heraushängt!) seren Qualitätsstandards nach unten orientieren und da- mit das Dienstleistungsniveau abgesenkt würde. – Bei manchen muss man es oft wiederholen, bei ande- ren weniger oft. Sie haben es behalten und das ist okay. (Beifall bei der CDU/CSU – Ernst Hinsken [CDU/ (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Öfter mal etwas CSU]: Das ist das Entscheidende!) Neues, Frau Minister!) Ein „race to the bottom“ darf es nicht geben. – Ministerin! So viel Zeit muss sein. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11537

Bundesministerin Renate Künast (A) Zum anderen geht es um die Futtermittel. Die meis- gesundheitlichen Verbraucherschutz als Thema auf, er- (C) ten oder nahezu alle Lebensmittelskandale haben ihren leichtert die Verbraucherinformation, schafft Transpa- Ausgang bei Futtermitteln genommen. Das heißt, dass in renz und verhindert die Rechtszersplitterung, wie sie un- der Futtermittelwirtschaft etwas falsch gelaufen ist. Das glücklicherweise im Lebensmittel- und Futtermittelrecht hatten die Bauern zumindest bei den Preisen auszuba- besteht. den. Mit jeder neuen Hiobsbotschaft haben die Verbrau- Ich glaube, dass sich in diesem Gesetzeswerk die cherinnen und Verbraucher Vertrauen verloren. Grundüberzeugungen aller Fraktionen – wenn ich sie Wir haben deshalb – ich weiß, dass das zu großen Tei- beim Wort nehme – wiederfinden. Insofern müssten ei- len gemeinsam und fraktionsübergreifend geschehen ist – gentlich alle zustimmen, wenn es darum geht, etwas Gu- die Organisation des Lebensmittelbereichs auf den Prüf- tes für die Gesundheit der Verbraucher und für die stand gestellt. Wir haben die Prävention und den Vorsor- Lebensmittelsicherheit zu tun. In diesem Sinne dürften gegedanken beim Verbraucherschutz als Leitbild ver- die Beratungen einfach werden. ankert. Wir haben damit dem Verbraucherschutz (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Priorität eingeräumt, weil das Problem so groß war, dass und bei der SPD) er vor kurzfristigen wirtschaftlichen Interessen Vorrang haben musste. Ich betone: kurzfristigen; denn langfristig lebt jeder davon, dass man auf die Verbraucher und ihre Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Gesundheit Rücksicht nimmt. In der Konsequenz bedeu- Ich erteile der Kollegin Marlene Mortler von der tet das, dass das Lebensmittelrecht am gesundheitlichen CDU/CSU-Fraktion das Wort. Verbraucherschutz ausgerichtet wird. (Beifall bei der CDU/CSU) Zudem haben wir mit dieser Vorlage ein einheitliches Konzept im Lebensmittelbereich, das die gesamte Le- Marlene Mortler (CDU/CSU): bensmittelherstellung vom Acker – das betrifft die Be- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten standteile des Futters oder auch des Brotes – über die Damen und Herren! Verarbeitung bis hin zur Theke und den Teller umfasst. Das entspricht übrigens auch den Grundsätzen des Weiß- Man kann sagen, er buchs der Europäischen Union. – der Gesetzentwurf – Mit unserem Gesetzentwurf leisten wir auch einen ist ein weiterer Meilenstein für mehr Lebensmittel- Beitrag zur Entbürokratisierung und Vereinfachung, sicherheit in Deutschland. weil wir aus elf Gesetzen eines machen. Das erleichtert (B) in Zukunft die Rechtsfindung. Wir alle reden davon, die Diese Aussage von Ministerin Künast ist maßlos über- (D) Situation für die Wirtschaft einfacher zu machen. Für trieben. mich heißt das, dass man gut beraten ist, aus elf Geset- Tun Sie doch nicht immer so, als ob es erst seit Be- zen eines zu machen. ginn Ihrer Regierungszeit in diesem Land Verbraucher- Wir haben mit diesem Gesetzentwurf einen Paradig- schutz gäbe. menwechsel vollzogen. Futtermittel werden als erstes (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Glied der Lebensmittelherstellungskette verstanden und Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]) konsequent in diese einbezogen. Spätestens seit BSE weiß das jedes Kind. Damit entspricht der Gesetzent- Sie täuschen mit diesen Aussagen, die mit der Lebens- wurf den hohen Erwartungen der Verbraucherinnen und wirklichkeit und den Bedürfnissen der Menschen in un- Verbraucher an gesunde Lebensmittel in der gesamten serem Land wenig zu tun haben, die Verbraucher. Kette. (Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Der Vorwurf Er trägt übrigens auch dem Recht auf Information ist ja ungeheuerlich!) Rechnung, weil wir in den Gesetzentwurf eine Art Denn mit der formalen Verschmelzung von bisher Verbraucherinformationsgesetz implementieren. Da eigenständigen Gesetzen in den Bereichen Lebensmit- die Opposition angekündigt hat, dass sie sich in Zukunft telhygiene, Futtermittel, Bedarfsgegenstände und Kos- auch um die Verbraucherinnen und Verbraucher – und metika in einem Gesetzbuch wird die Lebensmittel- zwar alle; auf dem Land wie in der Stadt – kümmern sicherheit nicht automatisch erhöht. will, dürfte dies in den weiteren Beratungen, auf die ich mich freue, kein Problem darstellen. Möglich ist allen- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. falls, dass Sie mehr fordern. Aber dann sollten Sie nicht Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]) immer sagen „Später in Brüssel“. Sie sollten es hier auf Im Gegenteil: Die Art und Weise der Zusammenlegung Erden statt später im Himmel fordern. der verschiedenen Regelungen erleichtert weder die (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das war doch Rechtsanwendung noch erhöht sie die Transparenz. vorhin das Thema!) Es ist abzusehen, dass sich in der praktischen Anwen- Der vorliegende Gesetzentwurf zur Neuordnung des dung des neuen Gesetzes ähnliche Schwierigkeiten wie Lebensmittel- und des Futtermittelrechts schafft einheit- beim Vollzug des Arzneimittelgesetzes ergeben, in dem liche Standards und wird bis hin zu der Straf- und Buß- die Bereiche Humanarzneimittel und Tierarzneimittel geldbewehrung von der Wirtschaft begrüßt. Er greift den ebenso undurchsichtig wie praxisfern geregelt sind. 11538 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Marlene Mortler (A) Eine andere Gestaltung des Gesetzbuches – nämlich Marlene Mortler (CDU/CSU): (C) ein Aufbau mit mehreren in sich geschlossenen Kapiteln Sehr geehrter Herr Dr. Priesmeier, Österreich gibt uns für die Regelungsbereiche Lebensmittel, Futtermittel so viele Steilvorlagen – ich denke nur an die Maut –, und Bedarfsgegenstände – würde aus meiner Sicht für dass ich überzeugt bin, dass man dort trotzdem auf ei- alle Betroffenen die Durchführung erheblich vereinfa- nem besseren Weg ist. chen. (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt Einen einfachen Weg ist in diesem Zusammenhang [Salzgitter] [SPD]: Wo bleibt Ihr Patriotismus? wieder einmal Österreich gegangen. Österreich fühlt Frau Merkel will den Patriotismus nach vorn sich dem gemeinschaftlichen Konzept „Vom Acker bis bringen!) zum Teller“ genauso verpflichtet wie wir. Das Lebens- Leider weicht der vorliegende Gesetzentwurf an vie- mittelgesetz und das Futtermittelgesetz wurden dort len Stellen bei Begriffsdefinitionen und materiellen Re- nicht verschmolzen, sondern jeweils an das EU-Recht gelungen unnötigerweise von den einschlägigen EU- angepasst. Richtlinien ab. Solche Abweichungen führen zu Ausle- Mag auch der Ansatz der Zusammenführung von Le- gungsschwierigkeiten und beeinträchtigen die EU-weite bensmittel- und Futtermittelrecht nach dem Konzept des einheitliche Anwendung der gemeinschaftsrechtlichen EU-Weißbuchs 2000 geboten sein und eine echte Juris- Vorschriften. Weitere Wettbewerbsverzerrungen zulasten tenseele erfreuen, so ist doch eines klar: Keine Verbrau- unserer Wirtschaft sehe ich hier vorprogrammiert. cherin und kein Verbraucher wird sich je ohne fachjuris- (Beifall der Abg. Dr. Christel Happach-Kasan tischen Beistand in dem Labyrinth des einschlägigen [FDP] – Zurufe von der SPD: Wo denn? Wer- EU-Lebensmittel- und -Futtermittelrechts, des vorlie- den Sie einmal konkret!) genden Gesetzentwurfs und der darauf gestützten natio- nalen Durchführungsverordnungen zurechtfinden kön- Die teilweise von Rot-Grün geschürte BSE-Hysterie nen. ist schon lange abgeklungen. Die Diskussion hat sich in- zwischen versachlicht. Deswegen wird es aus meiner (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So ist es!) Sicht allmählich Zeit, zu überprüfen, ob das allein in Deutschland gültige Verbot der Verfütterung tierischer Wenn das aber unbestreitbar ist, dann sollten Sie, Frau Fette beibehalten werden sollte; denn es ist doch der Ministerin, nicht das Gegenteil behaupten, erst recht Gipfel der Schizophrenie, wenn solche Fette in der Ver- nicht in der Gesetzesbegründung und mit demselben fütterung verboten, aber für die menschliche Ernährung Wortlaut in der Gegenäußerung der Bundesregierung zugelassen sind. Nach wissenschaftlichen Erkenntnis- zur Stellungnahme des Bundesrats. In beiden Texten ist sen steht fest, dass von der Verfütterung tierischer Fette (B) nämlich zu lesen: keine Gefahr für die menschliche oder die tierische Ge- (D) Für die Verbraucherinnen und Verbraucher, die sundheit ausgeht. Ansonsten wäre ein solches Verfütte- Wirtschaftsbeteiligten und die Verwaltung wird es rungsverbot auch auf EU-Ebene erlassen worden. einfacher, die geltenden nationalen Vorschriften im (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Was Lebensmittel- und Futtermittelbereich zu ermitteln; wollen Sie uns denn damit erklären?) die Rechtsanwendung wird so erleichtert. – Ich will damit erklären, dass das wieder ein nationaler Der geneigte Leser fühlt sich getäuscht, wenn nicht so- Alleingang ist, liebe Frau Wolff. gar verhöhnt. Sollten wir nicht endlich ehrlich zugeben, dass das Ganze kein Volkslesebuch werden kann? Andererseits gehen in Deutschland verbotene Lebens- mittel aus anderen EU-Ländern mit niedrigeren Stan- dards über unsere Ladentheken. Das ist weder logisch Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: noch fair. Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Priesmeier? Bei allen Meinungsverschiedenheiten bezüglich Auf- bau, Gliederung und Ausgestaltung sollten wir in einem übereinstimmen: Entscheidend für den vorbeugenden Marlene Mortler (CDU/CSU): gesundheitlichen Verbraucherschutz sind die Anwen- Bitte. dung und die Kontrolle der lebensmittel- und der fut- termittelrechtlichen Vorschriften. Es ist nicht ihre Zu- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: sammenführung zwischen zwei Buchdeckeln. Bitte, Herr Dr. Priesmeier. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich komme zum Schluss. Was eine effizient arbei- Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): tende amtliche Lebensmittelüberwachung leisten kann, Frau Kollegin Mortler, da Sie die Österreicher so lo- zeigt der soeben vorgestellte Jahresbericht des Bayeri- ben, ist Ihnen sicherlich bekannt, dass Teile der öster- schen Landesamtes für Gesundheit und Lebens- reichischen Regelungen vor allem betreffend das In-Ver- mittelsicherheit in Erlangen. Danach sind bayerische kehr-Bringen und die Kennzeichnung letztendlich Lebensmittel ausgesprochen sicher. Nur 0,46 Prozent keinen Bestand gehabt haben. Wenn Sie also ausländi- der 79 000 untersuchten Lebensmittel und Bedarfsge- sche und insbesondere österreichische Regelungen als genstände waren als gesundheitsschädlich einzustufen. Vorbild darstellen, kann ich nur sagen: Gemach, ge- mach! Gehen Sie in dieser Ansicht mit mir konform? (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11539

Marlene Mortler (A) Diese geringe Quote ist ein deutlicher Beleg für eine gut legin Mortler, nehmen Sie doch bitte einmal zur Kennt- (C) funktionierende Lebensmittelkontrolle und entzieht je- nis, dass das neue Gesetz den Ländern eine solide der Panikmache die Grundlage. Grundlage dafür bietet, die Kontrollen der beiden Berei- che besser zusammenzuführen, dadurch Reibungsver- Vielen Dank. luste zu vermeiden und ihr Krisenmanagement zu opti- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mieren! (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: DIE GRÜNEN – Marlene Mortler [CDU/ Nun erhält das Wort die Kollegin Gabriele Hiller- CSU]: Eben nicht!) Ohm, SPD-Fraktion. Brandenburg hat diesen Schritt bereits getan. Die ande- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ren Länder müssen diesem Beispiel nun folgen. DIE GRÜNEN) (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das glauben Sie alles selber nicht!) Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr ge- Drittens. Der Schutz der Verbraucherinnen und Ver- ehrte Frau Kollegin Mortler, auch wenn Sie es nicht braucher vor Täuschung bei Bedarfsgegenständen wird gerne hören: Die Neuordnung des Lebensmittel- und des verbessert. Irreführende Bezeichnungen und irrefüh- Futtermittelrechts ist verbraucherpolitisch ein wichtiger rende Werbung sollen zukünftig per Verordnung verbo- und konsequenter Schritt hin zu mehr Lebensmittel- ten werden. Das heißt, der Schmuckhändler, der die Ver- sicherheit in Deutschland. braucher mit angeblich nickelfreien Ohrsteckern täuscht, macht sich strafbar. Ebenso ist es dem Spielzeugherstel- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ler verboten, damit zu werben, dass Spielzeug PVC-frei DIE GRÜNEN) ist, wenn dies irreführend ist. Wir begrüßen diese Initiative ausdrücklich. Inzwischen hat sich auch der Bundesrat in erster Le- (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne sung mit dem neuen Gesetzbuch befasst. Er begrüßt im Kastner) Grundsatz die Neuordnung des Lebensmittel- und Fut- termittelrechts. Das ist schon einmal eine gute Aus- Was ist neu an dem Gesetz? – Ich greife drei wesentli- gangslage für eine Einigung. Es gibt aber auch Kritik. che Änderungen heraus: Ich nenne drei Kritikpunkte: Erstens. Lebensmittel- und Futtermittelrecht werden Erstens. Das Gesetz sei zu unübersichtlich und nur et- (B) in ein Gesetzbuch zusammengeführt. Nach dem Motto was für Experten. – Wir nehmen die Kritik aus dem Bun- (D) „Aus elf mach eins“ wurden elf bisher eigenständige Ge- desrat in der Regel sehr ernst. An dieser Stelle ist sie je- setze zusammengefasst. Überflüssige Passagen wurden doch für uns nicht nachvollziehbar. Das Gesetz – da hat herausgenommen oder an anderer Stelle geregelt. Von der Bundesrat sicherlich Recht – liest sich nicht so leicht 200 Paragraphen sind jetzt nur noch 70 übrig geblieben. wie ein Krimi, doch ich kenne, ehrlich gesagt, kein ein- Das nenne ich Transparenz! Das nenne ich Abbau von ziges Gesetz, das diesem Anspruch Genüge tun würde. Bürokratie! Das neue Gesetzbuch zeichnet sich doch gerade durch (Beifall bei der SPD – Marlene Mortler [CDU/ seine Übersichtlichkeit und durch seine klare Gliederung CSU]: Realitätsverlust!) aus. Frau Mortler, ich empfehle Ihnen wirklich: Werfen Sie einen Blick in das neue Gesetzbuch! Zweitens. Durch die Zusammenführung des Lebens- mittel- und Futtermittelrechts machen wir den Weg für (Marlene Mortler [CDU/CSU]: Habe ich doch eine ganzheitliche Betrachtungsweise der Lebensmittel- schon!) kette frei. Das war bisher nicht der Fall: Futtermittel und Dann werden Sie sehen: Diese Kritik ist wirklich nicht Lebensmittel wurden als eigenständige, voneinander ge- angebracht. trennte Bereiche betrachtet. Das ist jetzt anders: Futter- mittel werden im neuen Gesetzbuch als erstes Glied in (Gustav Herzog [SPD]: Sie geht mit dem Ge- der Kette der Lebensmittelherstellung manifestiert. Wa- setzbuch unter dem Arm einkaufen!) rum ist dieser Paradigmenwechsel so wichtig? – Erin- Zweitens. Der Gesetzentwurf enthalte zu viele Ver- nern wir uns – es wurde schon darauf hingewiesen – an ordnungsermächtigungen. Das führe zu einem Macht- die Lebensmittelskandale der Vergangenheit! Die Ursa- verlust des Bundestages. – Es ist schon interessant, dass che lag häufig bei den Futtermitteln, zum Beispiel beim sich ausgerechnet der CDU/CSU-dominierte Bundesrat BSE-Skandal, aber auch beim Dioxin- und beim Nitro- so große Sorgen um unsere Handlungsfähigkeit hier im fenskandal. Bundestag macht. Oft genug ist es gerade der Bundesrat, Jetzt haben wir einen neuen, einen ganzheitlichen ver- der unsere Handlungsfähigkeit einschränkt. braucherpolitischen Ansatz: „From stable to table“. Auf Was hat es nun mit den Verordnungsermächtigun- Hochdeutsch: Vom Stall bis auf den Teller. Dieser neue gen auf sich? Verordnungsermächtigungen geben der Ansatz bietet den Bundesländern die Möglichkeit, ihre Verwaltungsebene Spielräume, Zuständigkeiten in diesem Bereich besser zu koordinie- ren. Die Bundesländer sind für die Lebensmittel- und (Ursula Heinen [CDU/CSU]: Das ist das Futtermittelkontrollen zuständig. Sehr geehrte Frau Kol- Problem!) 11540 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Gabriele Hiller-Ohm (A) zum Beispiel dem Bundesministerium für Verbraucher- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) schutz, Ernährung und Landwirtschaft. Es wird ermäch- DIE GRÜNEN) tigt, in bestimmten, im Gesetz fest umrissenen Bereichen Frau Kollegin Heinen, ich hoffe aber, dass uns in die- Verordnungen zu erlassen. Warum ist das notwendig? ser Legislaturperiode doch noch der große Wurf gelin- Können wir darauf verzichten? Nein, das können wir gen wird und wir ein eigenständiges Verbraucherinfor- nicht. Verordnungsermächtigungen sind erstens wichtig, mationsgesetz gemeinsam auf den Weg bringen. um schnelles Handeln sicherzustellen. Von der EU wird auch immer wieder eingefordert, dass wir schneller wer- (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- den. Durch die Verordnungsermächtigungen können wir NEN]: Die Hoffnung stirbt zuletzt!) zweitens flexibler auf neue Anforderungen der EU-Ge- Unsere Verhandlungsbereitschaft steht. setzgebung reagieren, ohne jedes Mal das Gesetz ändern zu müssen. Geben Sie sich also einen Ruck, meine Damen und Herren von der CDU/CSU! Helfen Sie mit, Ihre Kolle- Wir freuen uns natürlich über die Fürsorglichkeit des ginnen und Kollegen im Bundesrat zu überzeugen! Die Bundesrates uns Parlamentarierinnen und Parlamentari- Verbraucherinnen und Verbraucher in Deutschland wer- ern gegenüber, finden es aber doch schon erstaunlich, den es Ihnen danken. dass die Kritik gerade jetzt angebracht wird. Laut Minis- terium wurden – vom Bereich Fleischhygiene abgesehen – Wie geht es nun mit der Neuordnung des Lebensmit- überhaupt keine neuen Verordnungsermächtigungen in tel- und Futtermittelrechts weiter? Im Ausschuss für Ver- den Entwurf aufgenommen. Es gibt sie also fast alle braucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft haben schon. Sie sind im neuen Gesetzbuch lediglich zusam- wir in dieser Woche eine Anhörung zu diesem Themen- mengeschoben worden. Sie haben sich nicht vermehrt, komplex beschlossen. Sie soll am 20. Oktober stattfin- aber durch das Zusammenschieben erhalten wir einen den. Dann können die Fraktionen Änderungsanträge ein- viel besseren Überblick. bringen. Im Januar 2005 soll das neue Gesetz in Kraft treten. Drittens. Der Bundesrat meint, die Verbraucherin- formation komme in dem neuen Gesetz zu kurz. Was Ich hoffe sehr, dass wir diese Zeitschiene halten wer- heißt das? Für den Fall etwa, dass eine größere Menge den und dass uns der Bundesrat nicht wieder die Suppe von Lebensmitteln in Verkehr gekommen ist, die zum versalzt. Wir brauchen die Neuordnung des Lebensmit- Verzehr nicht geeignet sind, fordert der Bundesrat nach tel- und Futtermittelrechts. Das ist ganz wichtig, um den dem Vorbild Baden-Württembergs das Recht, die Öf- vorsorgenden Verbraucherschutz in Deutschland weiter fentlichkeit zu informieren. Wir werden diese Anregung nach vorn zu bringen. (B) aus dem Bundesrat sehr genau prüfen. Natürlich – das ist (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (D) doch ganz klar – sind auch wir an guter, an besserer Ver- DIE GRÜNEN) braucherinformation interessiert. Gerade aus diesem Grund haben wir doch in der letzten Legislaturperiode wie die Löwen für ein eigenständiges umfassendes Ver- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: braucherinformationsgesetz gekämpft. Fast hätten wir es Das Wort hat die Kollegin Dr. Christel Happach- auch hinbekommen. Sozusagen in letzter Sekunde ist es Kasan, FDP-Fraktion. am Widerstand der CDU/CSU im Bundestag und vor al- (Beifall bei der FDP) lem nachher im Bundesrat, also an Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, gescheitert. Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Hört! Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hört!) Ich will doch noch einmal in dieser Diskussion daran er- innern: Es ist Aufgabe der Landwirtschaft wie auch der Sie waren es, die das Verbraucherinformationsgesetz Ernährungsindustrie, gesunde Lebensmittel zu produzie- und damit mehr Rechte für Verbraucherinnen und Ver- ren. Sie tun dieses, und zwar, Kollegin Mortler, nicht nur braucher ausgebremst haben. in Bayern. Sie tun das im gesamten Bundesgebiet. Lob dafür gebührt den Betrieben und nicht der Politik, die Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: keine weitere Aufgabe als die der Kontrolle hat. Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der (Beifall bei der FDP) Kollegin Heinen? Ich will weiter daran erinnern, alle angeblichen Skan- dale der letzten Jahre – nehmen wir Nitrofen, nehmen Gabriele Hiller-Ohm (SPD): wir Acrylamid – haben die Gesundheit der Menschen Sie hat nachher die Möglichkeit, sich zu äußern. Ich nicht gefährdet. Diese so genannten Skandale haben möchte jetzt weitermachen. nichts weiter als ein Rauschen im Blätterwald erzeugt (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sehr und sind nur ein Ausdruck der Unsicherheit der Men- gut!) schen, (Dr. Werner Hoyer [FDP]: So ist es!) Sich jetzt hier hinzustellen, den dicken Maxen zu ma- chen und mehr Informationsrechte einzufordern, wirkt aber nicht von Unsicherheiten der Nahrungsmittel. Diese nicht sehr überzeugt, meine Damen und Herren. sind sicher. Alle Institute, auch die von dieser Bundes- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11541

Dr. Christel Happach-Kasan (A) regierung beauftragten, bestätigen uns dies. Wer Men- der Eindruck, die Regierung will die Misstrauenswelle (C) schen schützen will, muss sie auch davor schützen, sich gegen Lebensmittel, die durch allgemeine Unsicherheit um die falschen Dinge Sorgen zu machen. Die wirkli- gespeist wird, zu ihren Gunsten nutzen. chen Gefahren liegen nicht in der Qualität der Lebens- mittel, sondern in der Auswahl der Lebensmittel. Eine (Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Plattitüden!) Diät aus Chips und Cola ist nicht gesund, auch wenn die Lebensmittel werden so zu einem Spielball innerhalb ih- Produkte einwandfrei sind. Wir sind uns bewusst, dass rer politischen Strategie. Das lehnen wir ab. die Gesetzgebung darauf allenfalls minimalen Einfluss haben kann. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: In einem zusammenwachsenden Europa ist es konse- Das ist vollkommen am Thema vorbei, Frau quent, die Lebensmittel- und Futtermittelgesetzge- Happach-Kasan!) bung zu vereinheitlichen. Die in der EU entwickelte Strategie „vom Acker auf den Teller“ ist ein umfassen- – Das Thema ist ein wenig umfangreicher, als Sie es in der Ansatz, der griffig beschreibt, was wir wollen. Der Ihrer Gläubigkeit an die Regierung überhaupt erfassen. gesunde Jungbulle soll einmal als saftiges Steak, die (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Unglaublich!) Mohrrübe in einem knackigen Salat auf dem Teller lan- den. Dafür sind wir alle. Das vorliegende Gesetz umfasst 150 Einzelermäch- tigungen für Verordnungen. Teilweise sollen durch Ge- (Dr. Werner Hoyer [FDP]: So ist es!) setze geregelte Tatbestände zukünftig über Verordnun- – Wie ich sehe, hat mein Kollege sie schon vor Augen. gen geregelt werden. Das lehnen wir ab. Die Regierung hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, der (Beifall bei der FDP – Gabriele Hiller-Ohm verschiedene Gesetze bündelt. In der Zielbeschreibung [SPD]: Ist doch jetzt auch schon so!) heißt es: Das Lebensmittelrecht soll transparenter, die Wir können erstens nicht erkennen, dass ein Gesetz mit Anwendung vereinfacht werden. Dieser Zielsetzung 150 Verordnungen die Rechtsanwendung erleichtert. Wir stimmen wir zu. Die Anhörung wird zeigen, ob dies tat- sind zweitens der Auffassung, dass eine so umfassende sächlich erreicht wird. Für die FDP will ich auch noch Verlagerung der Regelungskompetenz vom Parlament in einmal hinzufügen: Wir wollen in einem solchen Gesetz die Hände der Regierung eine Entmachtung des Parla- keine den Wettbewerb verzerrenden Vorschriften. Sie ments bedeutet. Dem können wir nicht zustimmen. sind durch nichts zu rechtfertigen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (B) Wir müssen leider feststellen: Wie immer versucht die der CDU/CSU) (D) Bundesregierung unter dem Deckmantel der Umsetzung einer EU-Richtlinie, den Wettbewerb verzerrende Vor- Drittens haben wir – das will ich auch hinzufügen – kein schriften und Sonderregelungen einzuführen. Genau die- Vertrauen darin, dass diese Regierung mit dieser Er- ses lehnen wir ab. mächtigung ordentlich umgeht. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP – Zuruf von der SPD: Das der CDU/CSU) ist doch Unfug!) Wir haben ein sehr hohes Maß an Lebensmittelsi- – Das ist kein Unfug, sondern ein Erfahrungstatbestand. cherheit. Frau Hiller-Ohm, ich hätte mich gefreut, Sie Im Hinblick auf die Rechtsanwendung ist überhaupt wären auch darauf einmal eingegangen, denn um unsere fraglich, ob die vorgenommene Bündelung von Geset- Lebensmittel geht es. Jeder, der dieses leugnet, zerstört zen wirklich zu mehr Transparenz und einer Vereinfa- bestehendes Vertrauen und verunsichert die Menschen. chung der Anwendung führt. Sollte nicht beispielsweise Das kann nicht Ziel eines Verbraucherschutzes sein, der ein originäres Gesetz für Tabakerzeugnisse entwickelt die Eigenverantwortung der Bürger stärken will. werden, das im Namen deutlich macht, was geregelt wird? Ist die Einbeziehung der Kosmetika in diesem Ge- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) setz im Hinblick auf den Anwender des Gesetzes wirk- Alle Betriebe der Landwirtschaft und der Ernährungsin- lich zielführend? Weiterhin haben wir eine Fülle von dustrie sind sich ihrer hohen Verantwortung bewusst. Einzelregelungen, die im Vergleich zu Formulierungen Das ist der beste Garant für eine durchgängig hohe Qua- in anderen Ländern – es wurde schon auf das Beispiel lität der Lebensmittel. Wir können nämlich nicht alles Österreich verwiesen – komplizierter sind und das Ver- prüfen. Wir müssen darauf setzen, dass die Betriebe ih- ständnis des Gesetzes erheblich erschweren. rer Verantwortung gerecht werden. Die FDP fordert eine sehr sorgfältige Gesetzesbera- Vor diesem Hintergrund gibt es keinerlei Begründung tung mit einer umfangreichen Anhörung, um das Gesetz für die Einführung von Sonderregelungen in Deutsch- vollzugsfähig zu gestalten. Nur so kann es seinem Ziel land, die die Position unserer Betriebe im Wettbewerb gerecht werden, nämlich Transparenz zu schaffen und schwächen. Wir brauchen vielmehr Rahmenbedingun- die Rechtsanwendung zu erleichtern. gen, die die Betriebe stärken, die so zum Erhalt der be- Ich danke für die Aufmerksamkeit. stehenden Arbeitsplätze beitragen und die Möglichkeit eröffnen, neue zu schaffen. Es entsteht einmal wieder (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 11542 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Die anderen Anregungen des Bundesrates – die Infor- (C) Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulrike Höfken, mationsrechte hat meine Kollegin schon angesprochen – Bündnis 90/Die Grünen. nehmen wir gerne auf. Wenn der Bundesrat zu dem steht, was er sagt, werden wir die Gespräche über das Verbraucherinformationsgesetz weiterführen und ent- Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sprechende Maßnahmen umsetzen. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- nen und Kollegen! Ich bin manchmal sozusagen ganz Danke schön. platt, wenn ich sehe, mit welcher unglaublichen Arro- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ganz die Kolleginnen und Kollegen der FDP in ihren Re- und bei der SPD) den real existierende Probleme ignorieren und sich über den Verbraucherschutz hinwegsetzen. Wollen Sie Anar- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: chie und großes Chaos? Genau das ist die Politik der Das Wort hat die Kollegin Uda Heller, CDU/CSU- FDP. Fraktion. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und (Beifall bei der CDU/CSU) bei der SPD – Widerspruch bei der FDP) So etwas darf es in der Verbraucherpolitik nicht geben. Uda Carmen Freia Heller (CDU/CSU): Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Frau Mortler, wir wollen keine blühenden Landschaf- Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren ten versprechen. Wir wollen auch kein Buch, das man, auf den Tribünen! Neuordnung des Lebensmittel- und wie Gustav Herzog sagt, beim Einkaufen mitnimmt. Futtermittelrechts – das klingt wie eine Verheißung und Dieses Gesetz für den Bereich des Lebensmittel- und weckt große Hoffnungen, dass endlich vernünftige Futtermittelrechts stellt eine Anpassung an EU-Vorga- Strukturen in das Dickicht dieses unübersichtlichen und ben dar. Es bedeutet sowohl eine deutliche Rechtsverein- komplexen Bereichs kommen. fachung Wir alle wissen aus vielen Lebensmittel- und Futter- (Marlene Mortler [CDU/CSU]: mittelskandalen nur zu gut um die Komplexität dieses Das ist sie nicht!) Bereiches unserer Arbeit und die Schwierigkeiten, hier vernünftige Eingriffsmöglichkeiten des Gesetzgebers zu als auch eine Strukturreform. schaffen. Die Folge ist eine schier unüberschaubare Flut von Richtlinien, nationalen und europäischen Gesetzen, Selbstverständlich brauchen wir darüber hinaus wei- (B) Verordnungen und anderen gesetzlichen Regelungen, (D) tere Maßnahmen. Frau Künast hat in diesem Zusammen- um diesen Bereich in den Griff zu bekommen. Hinzu hang einen langfristig angelegten und vorbeugenden kommt, dass diese Regelungen international abgestimmt Verbraucherschutz skizziert. Er wird mit diesem Ge- werden müssen. setz geschaffen: mit mehr Transparenz und mehr Sicher- heit. Dieses Instrument ist Teil einer konsequenten Stra- So ist der zugrunde liegende Gedanke dieses Geset- tegie, die wir gemeinsam fahren. zes, dass das Herstellen von Futtermitteln ganz am Anfang der Produktionskette von Lebensmitteln steht, Darüber hinaus geht es natürlich um die Herkunft, durchaus richtig und nachvollziehbar. Klar und unbe- Herstellungsbedingungen und die Verwendung von Zu- stritten ist auch, dass dem Futtermittelhersteller damit satzstoffen. In Bezug auf die Allergene muss es bis zum die gleiche Verantwortung für die Sicherheit und die Be- November ebenfalls zu einer Umsetzung ins nationale schaffenheit unserer Nahrungsmittel zukommt wie dem Recht kommen. Auch bei den Health Claims müssen wir späteren Lebensmittelhersteller. Dennoch ist fraglich, ob endlich vorankommen. Wichtig ist daneben die AVV man diese beiden bislang eigenständigen Bereiche, die RÜb. Damit komme ich auf den Bundesrat zu sprechen. auch in der Praxis, im Vollzug, in der Rechtsprechung, in der Rechtsberatung und auch in der Überwachung deut- Es kann doch angesichts der globalen Märkte einfach liche Unterschiede aufweisen, einfach zusammenfügen nicht sein – da müssen Sie Farbe bekennen, sehr geehrte kann und soll, so wie Sie dies in dem vorliegenden Ge- Damen und Herren der Opposition –, dass die Länder setzentwurf getan haben. weiterhin Eigenbrötelei betreiben. Auch von Ihrer Seite wird doch angesichts der globalen Märkte die Import- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- problematik immer wieder aufgezeigt. Wir teilen Ihre neten der FDP) Auffassung, dass es in der Lebensmittelüberwachung ei- Ich weiß sehr wohl, Frau Ministerin Künast, wie nen ungeheuren Koordinationsbedarf gibt. Genau dieser schwierig für Sie und Ihre Mitarbeiter die Aufgabe war, Bedarf soll mit der AVV RÜb gedeckt werden. Damit die beiden großen Bereiche Futtermittel und Lebensmit- schaffen wir endlich – das war schon längst überfällig – tel mit ihrer Vielzahl von Einzelregelungen in ein kom- einheitliche Untersuchungsstandards. Ich bitte Sie in- plexes Gesetzeswerk zusammenzufügen, das sämtliche ständig, morgen im Bundesrat Ihren Einfluss geltend zu Stufen in der Lebensmittelkette erfassen soll. Dennoch machen, dass wir diesen Teil des Verbraucherschutzes sei angemerkt, dass dies durchaus schon früher und letzt- endlich beschließen können. lich auch besser hätte geschehen können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- und bei der SPD) neten der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11543

Uda Carmen Freia Heller (A) In diesem Bereich sind einige Bundesländer schon wei- Vorschriften in unterschiedlichen Abschnitten befinden, (C) ter, insbesondere Baden-Württemberg. sodass die Reichweite mancher Verbote nicht immer ein- deutig bis zum Anwender nachzuverfolgen ist. Transpa- Den hochgesteckten Zielen einer Anpassung an das renz und Rechtssicherheit stelle ich mir etwas anders Gemeinschaftsrecht sind Sie nach dem ersten Eindruck, vor. den Experten gewinnen konnten, leider nicht nachge- kommen. Noch immer hapert es für viele Anwender an Erhebliche Probleme sehe ich auch beim Gesetzes- der Transparenz und der Verständlichkeit; Frau Hiller- vollzug. Ein bundeseinheitliches Vollzugsniveau stellt Ohm, hier haben wir unterschiedliche Meinungen. der Gesetzentwurf in keinster Weise dar. Dies zeigt bei- spielsweise das Nebeneinander von § 39 und § 47 des Ein weiterer Kritikpunkt sind die von Ihnen im Geset- Entwurfes. Hier sind noch einige Klarstellungen vonnö- zestext verwandten Definitionen. Hier weichen Sie des ten. Bei über 1 Million registrierter Lebensmittelbetriebe Öfteren von den im europäischen Recht verwendeten sind im täglichen Gebrauch des Gesetzes schon jetzt ver- Definitionen ab, beispielsweise bei kosmetischen Mit- schiedene Missstände vorprogrammiert. teln oder bei Verarbeitungshilfsstoffen. Hierdurch sind Probleme bei der Abstimmung des nationalen Rechts mit Meine Damen und Herren, lassen Sie mich als Fazit dem europäischen Recht abzusehen, liebe Kollegen von festhalten: Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist der Koalition. Besonders möchte ich hierbei die Hygie- im Kern zu begrüßen und richtig. nevorschriften erwähnen, für die Brüssel die Maßstäbe festsetzt und nicht Berlin. Deshalb unsere Forderung an (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sehr die Bundesregierung: Gleichen Sie diese Vorschriften gut! – Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: unbedingt mit denen aus Brüssel ab! Ansonsten ist das Schön!) Chaos vorprogrammiert und davon haben wir zurzeit ei- – Ich bin noch nicht fertig. gentlich genug. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was? (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Nach dem ersten Halbsatz hätten Sie das neten der FDP) durchaus beenden können! – Waltraud Wolff Allein eine Orientierung an den in der EU-Verordnung [Wolmirstedt] [SPD]: Nein? Das hast du so festgelegten Sicherheitsstandards würde die Übersicht- schön gesagt! Sag es doch noch einmal!) lichkeit der Rechtsanwendung in einem ausreichenden Denn der Gesetzentwurf geht entschieden zu weit. Im Maße gewährleisten. Vorwort Ihres Gesetzes steht das Ziel der Vereinfachung Ein wenig Augenwischerei sehe ich bei diesem Ge- und Erleichterung. Diesem Ziel wird Ihr Gesetzentwurf (B) setz aus einem Guss in einem weiteren Punkt: Auch leider nicht gerecht, im Gegenteil. (D) wenn Sie das neue Lebensmittel- und Futtermittelrecht Wir sollten uns im weiteren Gesetzgebungsverfahren aus elf früheren Gesetzen geformt haben, so darf das um mehr Übersichtlichkeit und Verständlichkeit bemü- nicht darüber hinwegtäuschen, dass Sie einen Großteil hen, damit dieses neue Gesetz für Anwender tatsächlich bisheriger gesetzlicher Vorschriften einfach auf die eine Erleichterung in ihrer Arbeit bringt. Auf Ihrer Ebene von Verordnungen heruntergeholt haben; das ha- Agenda, meine Damen und Herren der Regierungsfrak- ben auch schon einige Vorredner so gesehen. Hier stört tionen, steht doch das Wort „Entbürokratisierung“. Las- nicht nur uns die Flut von unklar gefassten Ermächti- sen Sie uns dies an diesem Gesetz beispielhaft durchfüh- gungsgrundlagen zum Erlass von Rechtsverordnungen. ren. Wir arbeiten gern mit. Man kann hierbei, wie ich meine, sicher nicht von Trans- parenz sprechen. Vielmehr sollten wir die Verordnungs- Vielen Dank. ermächtigungen auf ihre Erforderlichkeit hin überprü- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) fen. Frau Hiller-Ohm, Sie haben gesagt, das sei nicht nötig. Ich denke aber, Frau Happach-Kasan hat es richtig dargestellt: 150 Einzelermächtigungen sind einfach zu Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: viel. Nächster Redner ist der Kollege Dr. Wilhelm Priesmeier, SPD-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) (Beifall bei der SPD) Sie verlagern damit zudem in bedenklicher Weise Re- Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): gulierungskompetenzen von der Legislative zur Exeku- tive und schalten damit bei den so wichtigen Fragen des Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Verbraucherschutzes und der Lebensmittelsicherheit den Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe, als Bundestag einfach aus. Dies wird nicht nur von der Le- ich mir Gedanken darüber gemacht habe, was heute zu bensmittelwirtschaft durchaus kritisch gesehen, Frau diesem Gesetzentwurf zu sagen ist, rückschauend auf Ministerin. Auch wir als Parlamentarier haben hier ein meine eigene Biografie geblickt: Vor 24 Jahren habe ich Wörtchen mitzureden. Ich denke, hierüber wird in der mich mit der gleichen Problematik beschäftigt. Damals Anhörung im Oktober noch zu sprechen sein. befand ich mich im Staatsexamen und habe mich mit dem Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz, dem Unübersichtlich ist auch, dass sich in Ihrem Entwurf Futtermittelgesetz, dem Lebensmittelbuch und dem wesentliche und zum Teil gleich gelagerte materielle Fleischhygienegesetz beschäftigt. Für viele war es 11544 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Dr. Wilhelm Priesmeier (A) wirklich ein Grauen, sich mit dieser Materie auseinander eigentliche Problem, das wir im Augenblick beim Ver- (C) setzen zu müssen. braucherschutz haben. Es geht darum, dass länderüber- greifend nach einem Gesamtkonzept, basierend auf ge- (Dr. Peter Jahr [CDU/CSU]: Das ist heute meinsamen Grundlagen, Verbraucherschutz und auch nicht anders!) Kontrolle betrieben werden. Einige meiner damaligen Kommilitonen sind aus diesem Es mangelt doch schon bei den Veterinärämtern, wo Grunde gar nicht erst zur Prüfung angetreten. Ich halte die Kolleginnen und Kollegen den einen oder anderen es von daher schon für einen erheblichen Fortschritt, Lebensmittelkontrolleur abgezogen bekommen, und das dass sich die zukünftigen Kolleginnen und Kollegen bei steigenden Vorgaben. Das ist nicht die Ebene, über meines Berufsstandes im nächsten Jahr nur noch mit ei- die wir diskutieren. Ich möchte nur einmal darauf hin- nem einzigen Gesetz zu beschäftigen haben. weisen, wie die Realität faktisch aussieht. Ich selber Aber Spaß beiseite. Kommen wir nun, abweichend habe jahrelang im Rahmen des Fleischhygienegesetzes von den Debattenbeiträgen, die wir heute gehört haben, entsprechende Kontrollen vorgenommen. Ich kann Ihnen zum eigentlichen Kern der Angelegenheit und lassen wir sagen, wie das aussieht. Die Probleme stecken im Detail. die politischen Plattitüden einmal ein bisschen außen Deshalb ist es sinnvoll, diese beiden Bereiche – im vor. Wesentlichen geht es um Futtermittelrecht und Lebens- (Zurufe von der CDU/CSU) mittelrecht – so zusammenzuführen, wie wir es jetzt tun. Die Tatsache, dass andere Bereiche wie die Bedarfsge- – Das ist eine Aufforderung, die im Allgemeinen gilt. genstände dabei einbezogen werden, ergibt sich aus der Ich selber habe vielfach erlebt, welche dramatischen Tradition des Lebensmittel- und Bedarfsgegenständege- Auswirkungen gerade Kontaminationen von Futtermit- setzes. Das wollen wir hier nicht vollständig vom Tisch teln haben, und zwar lange vor BSE. In meiner Praxis wischen; es ergibt sich aus unserer Rechtsetzungssyste- zum Beispiel hat es einen Fall mit Lindan gegeben. Da- matik. Aus diesem Grunde ist die im Augenblick vorge- von waren, wie ich glaube, zehn Betriebe betroffen; sie sehene Vorgehensweise mehr als sinnvoll. konnten dauerhaft keine Milch abliefern. Damals gab es Probleme mit diesem Gesetzentwurf habe natürlich keine entsprechenden gesetzlichen Regelungen, zum auch ich, so mit § 40, der Möglichkeit zur Tötungsan- Beispiel keine vernünftigen Höchstgrenzen für Futter- ordnung bei Tieren, denen wissentlich oder unwissent- mittel. Das ist zwar schon einige Jahre her – zwischen- lich Substanzen verabreicht worden sind, die letztend- zeitlich ist in diesem Bereich einiges in der Gesetzge- lich unter die Kategorie Arzneimittel fallen und nicht zur bung erfolgt –, zeigt aber, dass sich letztendlich auch der Anwendung kommen dürfen. Konkret finde ich es pro- (B) gesetzgeberische Prozess, den wir hier zu vollziehen ha- blematisch, wenn allein das Faktum der Anwendung ei- (D) ben, den Gegebenheiten anpassen muss. Dies ist die nes Mittels wie Clenbuterol – das hatten wir alles schon Folge dessen, was wir im Rahmen der Futtermittelskan- einmal –, das im Bereich der Humanmedizin zugelassen dale und auch von BSE erlebt haben. ist, hundertprozentig verstoffwechselt wird und keine Wer sich das Weißbuch der EU angesehen hat, der Rückstände hinterlässt, die Tötung rechtfertigt. Hierbei weiß, dass dies die Grundlage für all das ist, was wir um- stellt sich für mich auch als Tierschutzbeauftragten die setzen. Es ist auch die Grundlage für die Betrachtungs- Frage, ob es moralisch zu rechtfertigen ist, ein Tier nur weise, die wir zwischenzeitlich entwickelt haben. Wir aufgrund der Tatsache ins Jenseits zu schicken, dass ihm sehen die einzelnen Bereiche auch im Rechtssystem jemand etwas unerlaubt gefüttert hat. nicht mehr solitär, sondern fassen die verschiedenen Be- (Beifall des Abg. Dr. Peter Jahr [CDU/CSU]) reiche zusammen, weil es sinnvoll ist, vom Anfang bis zum Ende zu denken. Bei Ihnen habe ich manchmal das Das könnte man vielleicht im Rahmen all dieser Vor- Gefühl, dass Sie gelegentlich nicht über den Anfang hi- gänge noch einmal angehen. naus denken. Wichtig ist, dass wir hier das Prinzip der Aktions- (Dr. Peter Jahr [CDU/CSU]: grenzwerte verankern. Das bedeutet Tätigwerden im Sie vereinfachen!) Vorfeld, sodass wir hier im Rahmen des Futtermittel- rechts das Vorsorgeprinzip ebenso konsequent wie in an- Wer sich die Komplexität dieser Materie anschaut, deren Bereichen umsetzen. Wenn man schon im Vorfeld der erkennt, dass man die Vorgaben, die man vereinfa- bei dem einen oder anderen Produzenten tätig werden chen möchte, nicht zu viel vereinfachen kann. Ansonsten kann, bei dem es Probleme gibt – selbst wenn die Grenz- wird es bei der Umsetzung ein Problem geben. Wir werte nicht erreicht werden –, hilft dies, wirtschaftliche haben in diesem Zusammenhang kein Problem bei der Schäden zu verhindern. Gesetzgebung. Das Problem liegt ganz woanders. Das Problem liegt in der Umsetzung vor Ort, in der Überwa- Darüber hinaus sollte man unter Umständen auch da- chung, also im Wesentlichen auf der Ebene der Länder. rüber nachdenken, unsere gesamte Struktur der Lebens- Darüber können wir uns lange unterhalten. mittel- und der Futtermittelüberwachung, die man jetzt zwangsläufig zusammenführen muss, entsprechend neu Ich nenne als Beispiel die AVV RÜb. Wir haben lange zu organisieren, um sie den modernen Erfordernissen darüber gestritten und es wird immer noch darüber ge- anzupassen. Das in der Verwaltung bestehende System stritten. Ich nehme einmal an, dass es jetzt zu einem gu- rührt von Anfang bzw. Mitte der 50er-Jahre her. Insofern ten Ende kommen wird. – In diesen Bereichen steckt das ist es an der Zeit, einmal darüber nachzudenken, nicht Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11545

Dr. Wilhelm Priesmeier (A) nur das Gesetz zu novellieren, sondern auch die Syste- lesen. Es wäre sinnvoll, wenn Sie sich dem anschlössen (C) matik der Lebensmittelüberwachung zu modernisieren. bzw. sich damit auseinander setzten. Hinsichtlich dieser Überwachungsvorgänge muss dem Bund meiner Einschätzung nach ein größeres Maß an Wir stimmen Ihnen zu, dass die Entwicklung des Le- Kompetenz und Verantwortung zukommen. bensmittelrechts in den letzten 20 Jahren zu einem kom- plizierten Nebeneinander verschiedener nationaler und In diesem Sinne möchte ich Sie, meine Damen und europäischer Gesetze geführt hat. Es ist in der Tat Herren, bitten, dieses Gesetz mitzutragen und sich hier höchste Zeit, hier eine Flurbereinigung vorzunehmen. nicht querzulegen. Dieses Gesetz ist sinnvoll. Es wird Doch die Umsetzung der zugrunde liegenden europäi- sich auch in der Zukunft bei seiner Umsetzung als sehr schen Verordnungen in den vorliegenden Gesetzentwurf praktikabel erweisen; davon bin ich überzeugt. entspricht in weiten Teilen in der jetzt vorliegenden Fas- Vielen Dank. sung überhaupt nicht unseren Vorstellungen; denn der praktische Umgang und die Orientierung innerhalb die- (Beifall bei der SPD) ses Regelwerkes sind sehr schwierig: so schwierig, dass von Transparenz, einfacher Handhabung und Anwender- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: freundlichkeit keine Rede mehr sein kann. Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ursula Heinen, CDU/CSU-Fraktion. Es gibt über eine Million registrierter Lebensmittelbe- (Beifall bei der CDU/CSU) triebe in Deutschland, die mit diesem Gesetz umgehen müssen. Der Verbraucherzentrale Bundesverband Ursula Heinen (CDU/CSU): führte in einer ersten Stellungnahme zu diesem Gesetz- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- entwurf aus: legen! Zunächst einmal eine Anmerkung zum Thema Verbraucherinformationsgesetz, weil dies vorhin in der Erhebliche Probleme haben wir … mit der Über- Debatte angesprochen worden ist: CDU und CSU haben sichtlichkeit und Lesbarkeit des Gesetzestextes ins- im Frühjahr vergangenen Jahres einen Antrag zugunsten gesamt. einer besseren Verbraucherinformation in den Deutschen (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Eine Bundestag eingebracht. Dieser Antrag von uns, der auch bessere Gliederung als in diesem Entwurf gibt Eckpunkte für ein Verbraucherinformationsgesetz vor- es gar nicht!) sah, wurde von Ihnen abgelehnt und niedergestimmt. Wir hatten kaum eine Aussprache dazu und wir warten Ich nenne Ihnen gern ein Beispiel, das auch meine (B) bis heute auf die erneute Vorlage eines Entwurfs für ein Kollegin Mortler eben schon erwähnt hat und das deut- (D) Verbraucherinformationsgesetz. lich macht, wie schwierig es für die Verbraucher wird, dieses Gesetz zu lesen. Am Anfang des Gesetzes werden (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Da hat- Lebensmittel definiert: ten wir ein ganz tolles!) Lebensmittel sind Lebensmittel im Sinne des Vonseiten der Bundesregierung ist in dieser Legislatur- Artikels 2 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002. periode bislang nichts dergleichen erfolgt. Wir stehen zu Gesprächen darüber bereit, (Gustav Herzog [SPD]: Das ist doch nicht für (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Das ist die Verbraucher!) doch toll! Dann klappt das doch diesmal!) – Haben Sie das verstanden, Herr Herzog? Dann erklä- aber Sie scheinen es tatsächlich nicht zu wollen. ren Sie es mir doch bitte einmal. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU – Gustav Herzog [SPD]: Sie fahren ja auch nicht mit der Stra- Aber da uns jetzt ein Gesetzentwurf vorliegt, hat das ßenverkehrs-Ordnung unter dem Arm Auto, Land Baden-Württemberg in der Bundesratsdebatte ei- oder?) nen Vorschlag zur Verbraucherinformation gemacht, den man aufnehmen kann. Dieser Vorschlag umfasst eine Wenn Sie diesen Gesetzentwurf so verabschieden, wesentlich umfassendere Informationsregelung, als das dann muss der Verbraucher bzw. der Lebensmittelbetrieb heute der Fall ist; denn im vorliegenden Entwurf zieht immer einen Juristen an der Hand haben, der ihn durch sich die Bundesregierung auf EG-Recht zurück und sagt, dieses Gesetz führt. eine Information der Öffentlichkeit unter Nennung von (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Das ist Produkt- oder Herstellernamen sei nur als Maßnahme doch gar nicht für den Verbraucher! Das wis- zur Gefahrenabwehr möglich, also nur dann, wenn der sen Sie doch, Frau Heinen!) hinreichende Verdacht eines Risikos für die Gesundheit von Mensch oder Tier besteht. Namens des Landes Ba- Sie werben mit einer Verringerung von 200 auf den-Württemberg schlägt Minister Stächele wiederum 72 Paragraphen. Aber selbst diese wenigen Paragraphen vor, jetzt Vorschriften in das Gesetz aufzunehmen, die müssen auch von den Unternehmen und den Verbrau- sich bereits seit 1991 im Verwaltungsvollzug beispiels- chern, also von den Anwendern, verstanden werden. An- weise in Baden-Württemberg bestens bewährt haben. sonsten ist die vorgebliche Vereinfachung nur eine Mo- Dies ist auch in der Stellungnahme des Bundesrates zu gelpackung. 11546 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Ursula Heinen (A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist das Rich- Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Über- tige! Die ganze Regierung ist eine Mogelpa- weisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 15/3657 an ckung!) die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das Die Einzelermächtigungen sind schon erwähnt wor- ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos- den. Hier findet eine Beteiligung des Parlaments nicht sen. statt. Das ist Ihr Demokratieverständnis. Aber auch hier gibt es eine Ihnen nahe stehende Organisation, die dies Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf: kritisiert. Ich zitiere Foodwatch, die nicht uns nahe ste- Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk hen, sondern eher für die Grünen als Beispiel herhalten: Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, Dr. Klaus Der Gesetzentwurf enthält großzügige ministerielle W. Lippold (Offenbach), weiterer Abgeordneter Verordnungsermächtigungen. und der Fraktion der CDU/CSU (Zuruf von der SPD) Luftverkehrsstandort Deutschland sichern – Ich zitiere weiter; hören Sie gut zu. – Drucksache 15/3312 – Ob ein höheres Schutzniveau erreicht wird, hängt Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) damit von Verwaltungsakten ohne parlamentarische Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Kontrolle ab. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Dies sagt Foodwatch. Haushaltsausschuss (Dr. Peter Jahr [CDU/CSU]: So was lassen Sie Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die zu?) Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Nun noch ein letzter Punkt: Zurzeit gibt es noch ein erhebliches Durcheinander von faktisch nebeneinander Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Kollege stehenden Aufhebungen und vorläufigen Fortgeltungen Norbert Königshofen, CDU/CSU-Fraktion. von Gesetzen. So heißt es einmal, das Säuglingsnah- rungswerbegesetz werde aufgehoben, wenig später wird (Beifall bei der CDU/CSU) es für fortbestehend erklärt, bis von der Verordnungser- mächtigung Gebrauch gemacht worden ist. Sie sehen, Norbert Königshofen (CDU/CSU): (B) dieses Gesetz ist in der jetzt vorliegenden Fassung ein Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (D) wirkliches Durcheinander, das überhaupt nicht zur Klar- 2002 gab es auf deutschen Flughäfen 137 Millionen heit beiträgt. Fluggäste. Nahezu alle Bevölkerungsschichten nutzen heute das Flugzeug. Die Benutzung des Flugzeugs ist, (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Heillos, genau!) nicht zuletzt durch die Billiganbieter, erschwinglich ge- Deshalb gibt es jetzt auch Kritik von allen Seiten: von worden und trägt ganz selbstverständlich zur beruflichen Foodwatch über die Verbraucherzentralen bis hin zum und privaten Mobilität bei. Darüber hinaus besteht ein Bauernverband. enger Zusammenhang zwischen Luftverkehr und Wohl- stand. In Flughafenregionen liegen die Einkommen weit (Dr. Peter Jahr [CDU/CSU]: Von uns ganz zu über dem Landesdurchschnitt, die Arbeitslosenquote schweigen!) deutlich darunter. Rund 750 000 Arbeitsplätze hängen Sie alle haben Ihnen schon oft geschrieben, wo es schief direkt oder indirekt vom Luftverkehr und der Luftfahrt- läuft. industrie ab. Dabei ist die Tourismusbranche noch nicht einmal berücksichtigt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Luftfahrtbranche ist heute eine der wenigen Job- Daher kann ich Ihnen zum Schluss nur empfehlen, die maschinen. Die Mitarbeiterzahlen steigen kontinuier- Vorschläge anzunehmen, die der Bundesrat in einer um- lich. Dabei gelten folgende Faustformeln: 1 Million zu- fangreichen Stellungnahme gemacht hat. Wir sind bereit, sätzliche Fluggäste schaffen rund 1 000 neue Jobs; im sie mit Ihnen entsprechend einzuarbeiten. Frachtbereich sorgen 100 000 Tonnen zusätzliche Fracht (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Das für rund 2 600 neue Jobs. sind immer die Versprechen, die nicht einge- Außerdem besitzt die Luftverkehrsbranche eine he- halten werden!) rausragende Bedeutung für unseren Status als zweit- Die Verbraucherinnen und Verbraucher würden es Ihnen größte Exportnation dieser Welt: Wertmäßig werden danken, wenn es zu einem anwender- und leserfreundli- rund 40 Prozent der deutschen Ausfuhren per Luftfracht chen Gesetz käme. abgewickelt. Danke schön. Die positive Wirkung der Luftverkehrswirtschaft auf Wachstum, Wohlstand und Beschäftigung dürfte damit (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – wohl unbestritten sein. Ohne einen leistungsfähigen Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das hat geses- Luftverkehr kann Deutschland im globalen Wettbewerb sen! Jetzt wisst ihr, was Sache ist!) nicht bestehen. Daher müssen wir alles tun, um den Luft- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11547

Norbert Königshofen (A) verkehrsstandort Deutschland zu sichern, nicht zuletzt Hier muss nachgearbeitet werden. (C) deshalb, weil Wirtschaftsexperten gerade jetzt von einer entscheidenden Phase in der Entwicklung der globalen (Beifall bei der CDU/CSU) Luftverkehrswirtschaft sprechen. Für Daniel Stelter, Dazu biete ich unsere Mitarbeit an. Flughafenexperte bei der Boston Consulting Group, werden – ich zitiere – „die internationalen Flughafen- Von Ihrem grünen Koalitionspartner wird ja in regel- märkte jetzt verteilt“. mäßigen Abständen die Forderung nach Einführung ei- ner Kerosinsteuer ins Spiel gebracht. Die Begründung Dabei entscheiden zunehmend die Fluggesellschaf- lautet, dass sich der Luftverkehr durch die Steuerfreiheit ten bzw. Allianzen wie Star Alliance, One World oder auf Flugbenzin vermeintliche Wettbewerbsvorteile ge- Wings, wo der internationale Luftverkehr startet und lan- genüber anderen Verkehrsträgern erschleiche. det. Sie wählen den in ihrem Sinne besten Flughafen aus. Daher müssen unsere internationalen Drehkreuze, un- (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ sere Hubs Frankfurt und München bedarfsgerecht ausge- DIE GRÜNEN]: Das ist so!) baut werden. Das ist nachweislich falsch. (Beifall bei der CDU/CSU und der Richtig ist hingegen, dass sich der Luftverkehr als FDP – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Wo bleibt einziger Verkehrsträger ausschließlich nach dem Nutzer- der Beifall auf der anderen Seite?) prinzip über Gebühren und Entgelte finanziert und da- Ansonsten verlieren wir im internationalen Wettbe- durch seine Kosten für die Benutzung von Flughäfen, für werb entscheidend an Boden, zumal unsere Flughafen- die Flugsicherung und den Wetterdienst abdeckt. Die kapazitäten schon jetzt nicht mehr ausreichend sind. Das Einführung einer Kerosinsteuer würde daher zu einer gilt besonders für das Drehkreuz Frankfurt. Doppelbelastung des Luftverkehrs durch Gebühren und Steuern führen. Das würde die deutschen Luftverkehrs- Eine Studie der Boston Consulting Group warnt unternehmen benachteiligen, Arbeitsplätze kosten und gleichzeitig aber auch davor, unkoordiniert öffentliche letztlich auch die Fluggäste belasten. Kurzum: Die Ein- Mittel in Regionalflughäfen zu investieren. Der Grund: führung einer Kerosinsteuer wäre ein Desaster für die Die meist dort ansässigen Billigfluggesellschaften sind deutsche Luftverkehrswirtschaft und für die deutsche in ihrer Flugplangestaltung nicht stetig. Dementspre- Wirtschaft insgesamt. Zudem wäre Deutschland dann chend ist es für die Regionalflughäfen schwierig, über- das einzige Land, in dem es diese Steuer gibt. haupt in die Gewinnzone zu kommen. Wir beobachten zurzeit, dass überall dort, wo früher Militärflughäfen wa- Durch unseren Antrag wollen wir den Luftverkehrs- ren, die Gemeinden glauben, durch die Ansiedlung von standort sichern. Wir wollen erreichen, dass die deutsche (B) Billigfliegern ein Geschäft zu machen. Das wird auf Luftverkehrswirtschaft ihre internationale Bedeutung (D) Dauer nicht gehen. festigen und ausbauen kann. Wir wollen erreichen, dass der Luftverkehr seine Schlüsselfunktion für den Export (Beifall des Abg. Winfried Hermann [BÜND- sichern und ausbauen kann. Wir wollen erreichen, dass NIS 90/DIE GRÜNEN] – Eduard Oswald die deutsche Luftverkehrswirtschaft ihre nationale Rolle [CDU/CSU]: Sehr interessante Feststellung!) als Wohlstands- und Jobmotor verstetigen und ausbauen Da ist natürlich die Regierung gefragt, da ist der Bund kann. gefragt. Wir fordern deswegen die Bundesregierung auf, (Beifall bei der CDU/CSU) im Rahmen der Luftverkehrsinitiative Deutschland einen Masterplan vorzulegen. Das Ziel muss eine bundesweite, Daher bitte ich Sie, meine Damen und Herren von der mit den Ländern abgestimmte, verbindliche Flughafen- Regierungskoalition, um Ihre Unterstützung. Stimmen planung sein. Sie unserem Antrag zu! Nachdrücklich unterstützen wir auch das Vorhaben, (Beifall bei der CDU/CSU – Eduard Oswald das Fluglärmgesetz von 1971 zu novellieren. Die darin [CDU/CSU]: Damit Sie sich auf den richtigen festgelegten Grenzwerte werden dem veränderten Ver- Weg begeben! – Reinhard Weis [Stendal] kehrsaufkommen und dem gestiegenen Lärmbewusst- [SPD]: Wir werden ihn erst einmal beraten!) sein der Menschen nicht mehr gerecht. Sie müssen ange- passt werden, zumal auch deutsche Gerichte die Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Grenzwerte schon längst für unzureichend erklärt haben. Nächste Rednerin ist die Kollegin Nina Hauer, SPD- Allerdings kommt die Bundesregierung ihrem 1998 ab- Fraktion. gegebenen Versprechen, das Gesetz endlich zu novellie- ren, bis heute nicht nach. Offensichtlich kann sich das (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Jetzt schauen Kabinett seit sechs Jahren nicht auf einen gemeinsamen wir mal, ob sie richtig gut antwortet!) Vorschlag einigen. Auch der jetzt vorliegende Referen- tenentwurf ist bisher nicht abgestimmt. Er trägt einmal Nina Hauer (SPD): mehr die einseitige, ideologische Handschrift des Herrn Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Liebe Trittin. Die CDU/CSU-Fraktion jedenfalls wird diesem Kolleginnen und Kollegen von den Unionsfraktionen! Entwurf nicht zustimmen. Sie haben einen netten Antrag vorgelegt. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Wir haben uns kann doch gar nicht sein!) viel Mühe gegeben!) 11548 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Nina Hauer (A) Darin fordern Sie die Bundesregierung auf, sich für den hätte dazu beitragen können, dass der Flughafen Frank- (C) Ausbau des Frankfurter Flughafens einzusetzen. Sie furt schneller ausgebaut wird. sagen, dies sei eine „Infrastrukturmaßnahme von natio- Ende März dieses Jahres hat die Europäische Kom- naler Bedeutung“. mission dem Land Hessen bescheinigt, dass sein Plan (Zurufe von der CDU/CSU: So ist es! – der Flughafenerweiterung, die Nordwest-Variante, nicht Richtig!) mit europäischem Recht zu vereinbaren ist. Die „Stör- fall-Kommission“ des Bundes hat das auch bestätigt. Ich will Ihnen ganz ehrlich sagen: Diese Auffassung Nun liegt ja Wiesbaden bekanntermaßen näher am teile ich. Frankfurter Flughafen als Brüssel, aber muss denn erst (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Respekt!) ein Rüffel aus Brüssel kommen, damit der hessische Mi- nisterpräsident sieht, dass er da einen erheblichen Fehler Denn der Flughafen Frankfurt ist, wenn man die Zahl gemacht hat, der zu Verzögerungen führt? Das passt, mit der Passagiere zugrunde legt, der zweitgrößte Flughafen Verlaub, nicht zu den Ausführungen, die Sie hier ma- in Europa; er ist der größte Frachtflughafen, den es in chen, nämlich dass Sie den Luftverkehr in Deutschland Europa gibt, und mit den 62 000 Menschen, die dort ar- unterstützen. beiten, die größte Arbeitsstätte Deutschlands. Am Ende wird es so sein, dass wir auf den Ausbau Ich bin eine Abgeordnete, die aus der Rhein-Main- Jahre länger warten müssen, weil Schlampereien, Fehl- Region kommt. Ich unterstütze den Ausbau des Flug- einschätzungen und offensichtlich auch riesige Tomaten hafens ausdrücklich. auf Ihren Augen dazu geführt haben, dass die hessische Landesregierung das Planungsverfahren an die Wand ge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der fahren hat, weil das Chemiewerk Ticona, das bei der CDU/CSU) Nordwest-Variante im Wege steht, dem hessischen Mi- Denn in dieser Region lebt die Hälfte der Menschen in nisterpräsidenten vorher nicht in den Sinn gekommen Hessen. Zwei Drittel der hessischen Arbeitsplätze beste- ist. hen dort und drei Viertel des hessischen Bruttosozialpro- (Beifall bei der SPD – Horst Friedrich [Bay- dukts werden in der Rhein-Main-Region erwirtschaftet. reuth] [FDP]: Das ist doch Unsinn, was Sie da An dieser wirtschaftlichen Leistung hat der Frankfurter sagen! Das ist doch völliger Unsinn! Unsinn Flughafen als Verkehrsdrehkreuz und als Wirtschafts- auf hohem Niveau!) motor erheblichen Anteil. Der Ausbau des Flughafens wird diesen Umstand zusätzlich befördern. Er hat ja vorgeschlagen, die Eigner zu enteignen. Liebe Kollegen von der CDU/CSU, da kann ich nur sagen: (B) (D) Aber Sie verkennen völlig den Adressaten Ihres An- Wenn das die „neue soziale Marktwirtschaft“ Ihrer Par- trags. Sie fordern die Bundesregierung auf, sich dafür teivorsitzenden ist, dann wünsche ich viel Vergnügen. einzusetzen, dass der Flughafen ausgebaut wird. Dabei ist die Bundesregierung für das Planungsverfahren nicht (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Jetzt kommt verantwortlich. gleich der Kollege Horst Friedrich, der wird das alles klarstellen!) (Zuruf von der SPD: Genau!) Der hessische Wirtschaftsminister hat zu diesem ganzen Verantwortlich dafür ist das CDU-geführte Land Verfahren nichts anderes zu sagen als „Gründlichkeit Hessen. geht vor Schnelligkeit“. Das ganze Verfahren ist gründ- lich verdorben, lieber Herr Rhiel. Darunter leiden wir (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- alle, vor allen Dingen das Bundesland Hessen, aber auch SES 90/DIE GRÜNEN) die Bundesrepublik Deutschland. An diesem Infrastruk- Auch ist die Bundesregierung nicht für die erheblichen turprojekt zeigen Sie, dass Sie nicht in der Lage sind, Planungsfehler, die dort gemacht werden, verantwort- Wirtschaftspolitik so zu gestalten, dass ein Land auch lich. Verantwortlich dafür ist das CDU-regierte Land zukunftsfähig wird. Hessen. Ein weiteres Beispiel sind die neuerlichen Urteile des (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Verwaltungsgerichtshofs zu Planung und Ausbau der Halle für den Airbus A380. Auch das haben Sie verzö- Ebenfalls ist die Bundesregierung nicht verantwortlich gert, in diesem Falle durch juristische Schlampereien in- dafür, dass Verzögerungen eingetreten sind, die dem nerhalb des hessischen Wirtschaftsministeriums. Das Flughafenausbau schon seit zwei oder drei Jahren im wird zu einer neuerlichen Debatte darüber führen, ob die Wege stehen. Verantwortlich dafür ist die CDU-Regie- Lufthansa ihre Halle nicht lieber gleich in Bayern baut. rung in Hessen. Wenn Sie dem bayerischen Ministerpräsidenten Wirt- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des schaftshilfe leisten wollen, kann ich das aus Ihrer Sicht BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Eduard verstehen – aus hessischer Sicht kann ich das nicht be- Oswald [CDU/CSU]: Na, na!) grüßen. Ich plädiere dafür, dass Sie sich an die eigene Nase fassen und dafür sorgen, dass Ihr Parteifreund Liebe Kolleginnen und Kollegen, der hessische Mi- Roland Koch dieses Verfahren so gestaltet, dass wir uns nisterpräsident Roland Koch ist der eigentliche Adressat in Zukunft darauf verlassen können, dass die Planung or- Ihres Antrags. Denn er und nicht die Bundesregierung dentlich läuft. Wir brauchen den Ausbau des Flughafens, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11549

Nina Hauer (A) für Hessen, aber auch für die Bundesrepublik Deutsch- wir keine Zuständigkeit; das hat die Kollegin Hauer rich- (C) land. tigerweise dargestellt. Sollen wir es finanziell machen? Das können wir auch nicht. Dafür fehlt die Gesetzes- Vielen Dank. grundlage. Ideell können wir es gerne machen; das ha- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ben wir auch schon. Es wird aber nichts weiter nützen, DIE GRÜNEN – Renate Blank [CDU/CSU]: da es irgendwann entschieden werden muss. Positiv reden und negativ abstimmen!) Ich habe allerdings nichts dagegen, aus den ganzen Initiativen, Masterplänen und sonstigen Vorschlägen be- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: treffend die Luftfahrt – vieles davon ist Semantik – ein Nächster Redner ist der Kollege Horst Friedrich, in sich stimmiges Konzept zu machen, das dem Bund in FDP-Fraktion. diesen Fragen mehr Kompetenz zubilligt; denn wir sind (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ja ohnehin gefragt, wenn es darum geht, Straßen, Auto- bahnen und Schienenwege zu bauen. Hier müssen wir dann tatsächlich tätig werden. Deswegen halte ich das Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): für eine der entscheidenden Fragen. Man muss sie aber Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! detailliert beantworten. Ich kann für die FDP dem, was Sie, Herr Kollege Königshofen, über die Bedeutung der Luftfahrt in Es ist auch schon angesprochen worden, dass wir Deutschland gesagt haben, in weiten Teilen vorbehaltlos noch etwas anderes zu klären haben. Wir müssen dafür zustimmen. Ich gebe allerdings zu, ich habe ein paar sorgen, dass die neue Gesetzgebung zum Lärm die Probleme mit den von Ihnen aufgestellten Forderungen. Luftfahrt in Deutschland nicht verhindert, sondern ein Auskommen im wohl ausgewogenen Interesse zwischen Auch wenn Kollegin Hauer die Tatsachen, was den der Luftfahrt, den Flughäfen und den Anwohnern Flughafen Frankfurt angeht, geschickt verdreht hat, so schafft, das über das hinausgeht, was in dem ersten Refe- muss Folgendes schon nachdenklich machen: Als die Er- rentenentwurf des Umweltministeriums vorgelegt weiterung des Chemiewerkes anstand, hat der Gutachter wurde. Dies würde nämlich die Verhinderung von Luft- die Frage, ob der Flughafen ein Gefahrenpotenzial dar- fahrt bedeuten. Dazu geben wir uns nicht her; das muss stellt, im Planfeststellungsverfahren verneint; jetzt, da verändert werden. Den Antrag der CDU/CSU muss man umgekehrt der Flughafen eine neue Landebahn plant, sicherlich noch ein wenig unterfüttern, um ihn wirklich stellt derselbe Gutachter das bestehende Chemiewerk ernsthaft beraten zu können. auf einmal als große Gefahrenquelle dar – und das, ob- wohl schon bei der bestehenden Situation über das Che- Danke sehr. (B) miewerk angeflogen wird. Da feiert die Ideologie natür- (D) lich fröhliche Urständ. So einseitig sollte man es nicht (Beifall bei der FDP – Eduard Oswald [CDU/ darstellen. CSU]: Jawohl, wenn uns die DB AG Zeit lässt!) (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Völlig unabhängig davon ist die Entscheidung, wo die Das Wort hat der Kollege Winfried Hermann, Bünd- Lufthansa letztendlich ihre Hallen für den Airbus A380 nis 90/Die Grünen. platziert. Das ist natürlich zum einen eine Entscheidung des Flughafens, aber es ist auch eine Entscheidung des Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Unternehmens. Die Flugzeuge der Typklasse A380 wer- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und den dort stationiert werden, wo die Wartungshalle in ab- Herren! Lassen Sie mich mit einem für manche von Ih- sehbarer Zeit installiert werden kann. Das muss man na- nen vielleicht überraschenden Bekenntnis beginnen: türlich abwägen. Wenn das Land Hessen, wie gesagt Auch wir Grünen wissen, dass Flugverkehr in modernen – insofern teile ich Ihre Meinung, Frau Hauer –, nicht zu Gesellschaften wichtig und notwendig ist. einer rechtzeitigen Planfeststellung kommt, ist niemand daran zu hindern, schon gar nicht die Lufthansa, zu über- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – legen, ob sie diese Hallen nicht zum Beispiel am zweiten Renate Blank [CDU/CSU]: Habt ihr dazuge- Hub in Deutschland, in München, installiert. Das ist aber lernt?) eine Entscheidung, die das Unternehmen treffen muss. Ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Die meisten von uns Nun bin ich im Detail bei den Überlegungen der Kol- wissen, dass man nicht mit dem Fahrrad nach Amerika legen von der Union. In mehreren Spiegelstrichen stellen kommt, Sie in dem zu debattierenden Antrag Forderungen auf, so zum Beispiel: (Renate Blank [CDU/CSU]: Bravo, das ist eine neue Erkenntnis!) den Ausbau des Flughafens Frankfurt/Main als In- frastrukturaufgabe von nationaler Bedeutung zu un- und kaum einer fährt mit dem Zug von Berlin nach terstützen. Istanbul. Was heißt das, liebe Freunde? Sollen wir das planungs- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Und das rechtlich machen? Das können wir nicht. Dafür haben von den Grünen! Das ist ein Skandal!) 11550 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Winfried Hermann (A) Ein solches Bekenntnis muss sein. Sie haben Recht, die politik für einen Standort gemacht werden. Ich finde es (C) Luftfahrt ist ökonomisch bedeutungsvoll. nicht angemessen, dass man vor allen Dingen über den Flughafen Frankfurt spricht, wenn man über den Flug- Ich komme jetzt zu unserem Herzensanliegen. Wenn verkehr in Deutschland redet. man über den Flugverkehr in Deutschland spricht, ist es nicht angemessen, dies ausschließlich aus der Perspek- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das ist nun tive und durch die Brille einer Standortpolitik zu tun. In einmal der größte Flughafen!) Ihrem Falle kommt noch hinzu, dass Sie einen Antrag geschrieben haben, in dem manche Sätze identisch sind Es geht darum, die verschiedenen Verkehrsträger besser mit den Ausführungen des Vorsitzenden der Fraport, die aufeinander abzustimmen und dafür die entsprechenden er im Verkehrsausschuss getätigt hat. Ich muss sagen: Instrumente zu entwickeln. Das ist ein völlig falsches Verständnis von Verkehrspoli- Jetzt komme ich zu dem Punkt, der schon angespro- tik, eine einseitige und verkürzte Sichtweise auf die chen wurde, nämlich dass wir Grünen wieder einmal die Standortinteressen und auf die Wirtschaft. Sie blenden Einführung der Kerosinsteuer fordern. Es ist doch uner- dabei das aus, was auch zum Flugverkehr gehört, dass träglich, dass die Autofahrer und selbst die Bahnfahrer Flugverkehr nämlich umweltbelastend ist, dass die Mineralölsteuer und Ökosteuer zahlen, also einen finan- Menschen, die im Umfeld von Flughäfen wohnen, ziellen Beitrag für die Belastung der Umwelt durch den schwere Belastungen beim täglichen Leben erfahren und Verkehr leisten. Aber der Verkehrsträger, der die Atmo- dass Luftverkehr auch klimaschädliche Aspekte hat. sphäre, in Relation betrachtet, am meisten belastet und Darüber müssen wir genauso reden. besonders klimaschädlich ist, ist von der Steuer befreit. Wenn wir über eine Perspektive nachdenken – ich Das kann ökologisch und auch ökonomisch nicht gut teile hierbei Ihre Einschätzung, dass es in den nächsten sein. Jahren zu einem weiteren starken Wachstum des Flug- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verkehrs kommen wird –, kann diese nur lauten: Wir sowie bei Abgeordneten der SPD) müssen den Flugverkehr nachhaltig, sozialverträglich, umweltverträglich und ökonomisch sinnvoll gestalten. Wir müssen dem Flugverkehr die externen Kosten ein Stück weit anlasten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Horst Friedrich [Bayreuth] Ich komme zu der Behauptung, die immer wieder auf- [FDP]: Was heißt das?) gestellt wird: Der Flugverkehr trägt sich doch selber, während für den Ausbau der Infrastruktur bei Bahn und Was heißt das jetzt? Ich komme nun zu den Vorschlä- Straße immer wieder Geld zur Verfügung gestellt wird. (B) gen in Ihrem Antrag. Ich bin wie Sie durchaus der Mei- Dazu kann ich nur sagen: Da gibt es einen kleinen Unter- (D) nung, dass es ein wichtiger Schlüssel zur Lösung des schied. Das Geniale beim Fliegen ist, dass in den Wol- Problems ist, die Verkehrsmittel – Schiene und Flughä- ken keine Infrastruktur benötigt wird, die daher auch fen – besser miteinander zu verzahnen. Die Flughäfen nicht bezahlt werden muss. Für das Fliegen wird nur der müssen auch über die Schiene besser miteinander ver- Flughafen gebraucht, das entspricht in etwa dem Bahn- bunden werden. Es gibt einige gute Aspekte – das gilt hof. Für den Flughafen ist zwar die Zufahrt wichtig, aber beispielsweise für die Strecke Frankfurt–Köln –, es gibt die entsprechende Infrastruktur ist in der Regel öffent- aber auch noch einiges zu tun. lich. Insofern ist es nicht ehrlich, zu sagen, dass sich der (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das ist ein Flugverkehr selbst trägt. Die Zufahrt zum Flughafen ist schlechtes Beispiel!) Teil der öffentlichen Infrastruktur, die gefördert wird. Es wäre gut, wenn die Flugwirtschaft selber einen Teil der – Es ist ein teures Beispiel, da haben Sie Recht; es ist Kosten dadurch bezahlt, dass sie sich daran beteiligte. aber kein schlechtes Beispiel. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das hat überhaupt nichts gebracht!) Wir sind auch der Meinung, dass die Privilegierung des Flugverkehrs bei der Mehrwertsteuer endlich auf- Ich teile Ihre Einschätzung, dass wir einen Master- gehoben werden muss. Wir haben zwar im Bundestag plan brauchen; das ist keine Frage. Durch einen Master- verabschiedet, dass die Privilegierung aufgehoben wird, plan müssen wir dafür sorgen, dass endlich Schluss mit aber Sie haben die Umsetzung im Bundesrat mit Ihrer dem Provinzialismus gemacht wird, dass nämlich jeder Mehrheit blockiert. Hier können Sie für Gleichheit sor- Landrat auf irgendeinem ehemaligen Militärflughafen- gen. Sie können etwas für die Bahn tun, indem Sie auch gelände einen eigenen privaten oder regionalen Flugha- den Flugverkehr belasten. Wir würden das dann einge- fen entstehen lässt. Wir brauchen nicht noch mehr Regio- nommene Geld gerne dafür verwenden, den Mehrwert- nalflughäfen. steuersatz für die Bahn zu senken. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sowie bei Abgeordneten der SPD – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Eine gewagte Es gibt ein schönes Projekt, das wir vom Bundestag Feststellung!) unterstützen können. Ich meine das Projekt Atmosfair, auf dessen Internetseite mit dem Emissionsrechner die Es muss auch Schluss mit der unsinnigen Konkurrenz klimaschädlichen Wirkungen des Fliegens dargestellt unter den Flughafenbetreibern und mit billiger Standort- werden können. Einen Teil der durch das Fliegen verur- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11551

Winfried Hermann (A) sachten Schäden kann man über Investitionen in Pro- Sie haben auch vergessen, zu erwähnen, dass die pla- (C) jekte, die einen Ausgleich herbeiführen sollen, finanziell nungsrechtlichen Probleme bei der Landebahn durch die kompensieren. Übrigens liegt beim Bundestagspräsiden- rot-grüne Mehrheit in der regionalen Planungsversamm- ten der Antrag eines Kollegen vor, dass sich der Bundes- lung und durch eine rot-grüne Prozessserie zustande ge- tag insgesamt daran beteiligt. kommen sind. Lassen Sie mich zum Schluss in aller Kürze noch et- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- was zum Fluglärmgesetz sagen. neten der FDP) Hätte es in diesen Gremien eine Unterstützung für den Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Flughafen gegeben, dann hätte die Landesregierung die Herr Kollege, bitte fassen Sie sich wirklich kurz; Ihre prozessualen Schwierigkeiten vermeiden können. Die Redezeit ist vorbei. Landesregierung ist aber dabei, diese Hürden zu über- winden. Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es wird ein neuer Landesentwicklungsplan erarbeitet, Das ist schade, weil der Kollege Willsch gerade eine der auch die planungsrechtliche Seite umfasst. Von den Zwischenfrage stellen will. Risiken im Zusammenhang mit dem Ticonawerk ver- sprechen sich manche Flughafengegner mehr, als dieses Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Werk halten kann. Nein, ich gestatte keine Zwischenfrage, weil die Re- (Beifall bei der CDU/CSU – Horst Friedrich dezeit abgelaufen ist. Herr Kollege, Sie müssen zum [Bayreuth] [FDP]: So ist es!) Schluss kommen. Es ist nämlich geplant, künftig die Abflüge wegfallen zu lassen und sie durch Anflüge zu ersetzen. Die gefähr- Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): lichsten Chemikalienbehälter können für wenig Geld Gut, ich komme zum Schluss. – Ich kann zum Flug- eingekapselt werden. Dann wird die Sicherheitslage dort lärmgesetz nicht mehr viel sagen, ich möchte nur noch besser als zuvor sein und nicht schlechter. darauf hinweisen, dass dieses Fluglärmgesetz in Arbeit ist, wir voraussichtlich noch in diesem Jahr einen Ent- (Beifall bei der CDU/CSU) wurf einbringen werden und wir gerne mit Ihnen über Was die Wartungshalle für den A380 anbelangt, so einen ausgewogenen Ansatz diskutieren würden, der die habe ich höchstpersönlich mit meinen Kollegen von der Interessen der Bewohner und der Umwelt auf der einen CDU und der FDP in der regionalen Planungsversamm- (B) Seite und der Flugwirtschaft auf der anderen Seite be- lung im Abweichungsverfahren die Hand zugunsten die- (D) rücksichtigt. Aber da müssen Sie sich bewegen; denn Sie ser Wartungshalle gehoben. Wenn wir das nicht getan haben bisher im Wesentlichen nur die Position der Flug- hätten, hätte es für diese Wartungshalle keine Mehrheit wirtschaft vertreten. gegeben. Denn die Grünen waren dagegen und die SPD (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist aber ein war nur zur Hälfte dafür. Das ist die Wahrheit. langer Schlusssatz!) (Beifall bei der CDU/CSU) Vielen Dank. Die Rhein-Main-Region ist durch Rot-Grün wirklich schon genug geschädigt worden. Es war eine hessische (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Spezialität, vor jeder Wahl einen kleinen Störfall bei der sowie bei Abgeordneten der SPD) Hoechst AG hochzuziehen, damit man sich hinterher als Schützer von Mensch und Umwelt produzieren konnte. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Ergebnis davon ist, dass die einst größte Pharma- Nächster Redner ist der Kollege Klaus Minkel, CDU/ firma der Welt ins Ausland verduftet ist. Das Ausland CSU-Fraktion. stellt künftig die teuren Rechnungen an Deutschland aus. (Beifall bei der CDU/CSU) (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) Klaus Minkel (CDU/CSU): Wir müssen aufpassen, dass uns beim Luftverkehr und Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! beim Flughafenstandort Frankfurt nicht dasselbe pas- Verehrte Frau Hauer, ich kann mir überhaupt nicht vor- siert. stellen, dass Sie an das glauben, was Sie hier vorgetra- gen haben. Sie haben vergessen, zu erwähnen, dass sich (Beifall bei der CDU/CSU) der frühere hessische Ministerpräsident Eichel mit seiner Mit dem Frankfurter Flughafen spielen wir noch in der rot-grünen Regierung acht Jahre lang um das Thema Weltliga mit. Wir müssen alles daran setzen, dass wir Flughafenerweiterung herumgedrückt hat. uns diesen Trumpf erhalten und das nicht alles verstol- (Renate Blank [CDU/CSU]: Sehr gut! – pern. Widerspruch bei der SPD) (Uwe Beckmeyer [SPD]: Sie sind ein schwarzer Kasper!) – Es wurde nur geschwätzt, aber es wurde nicht ge- schafft. – Wer hier kaspert, will ich Ihnen gleich erläutern. 11552 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Klaus Minkel (A) Schauen wir uns einmal die Wirklichkeit an. Die (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (C) K-Gruppen und die Putztruppen waren mit ihren bürger- Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kriegsähnlichen Umtrieben die entschiedensten Gegner NEN]) der Startbahn West. Diese Kasper sind bei den Grünen Deshalb werden Sie jetzt von mir hören, sehr geehrter sehr spät sozialisiert worden. Inzwischen haben sich ge- Herr Minkel, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass vor rade die Grünen in Berlin zu Vielfliegern entwickelt. knapp 100 Jahren die Gebrüder Wright mit ihrem Motor- Joseph Fischer, Herr Trittin, Frau Künast, Rezzo segler Luftfahrtgeschichte geschrieben haben. Schlauch und Cem Özdemir können gar nicht genug von der Fliegerei bekommen, wenn es sie nichts kostet und (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Ist das schon so es auf Staatskosten geht. lange her?) (Beifall bei der CDU/CSU – Winfried – Das ist genau 100 Jahre her. – Damals war man skep- Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: tisch, was die Fortbewegung eines Menschen in der Luft Geht es noch billiger? Können Sie noch tiefer angeht. Heute ist der Luftverkehr – das wird von allen fliegen?) Seiten dieses Hauses bestätigt – ein fixer Bestandteil un- serer Mobilität. Aufgrund dieser Tatsache hat der Ver- Unter solchen Verhältnissen gehen wir von der CDU/ kehrsträger Luftfahrt ein enormes Wachstum zu ver- CSU-Fraktion selbstverständlich davon aus, dass auch zeichnen. die Grünen unserem guten Antrag zustimmen. Alles an- dere wäre Heuchelei und scheinheilig. In der Luftverkehrsbranche war eine Reihe von Pro- blemen im Zusammenhang mit dem 11. September (Beifall bei der CDU/CSU) 2001, mit SARS und dem Krieg im Irak zu verzeichnen. Natürlich hat auch der Gesamtstaat einen Anteil an Eine Reihe von Luftverkehrsgesellschaften – vor allem diesem Projekt. Die Bundesrepublik Deutschland hat in den Vereinigten Staaten, aber auch in Europa – war nämlich den rechtlichen Rahmen für Großprojekte aller diesen Schwierigkeiten nicht gewachsen. In der Frage Art geschaffen. Die Wirklichkeit ist, dass wir einen der Sicherheit stehen wir vor ganz anderen Herausforde- Rechtsstaat haben wollten, aber im Grunde genommen rungen – die wir gemeinsam zu meistern haben –, als es einen Rechtsmittelstaat bekommen haben. Ihren Redebeiträgen in dieser Debatte zu entnehmen war. (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Was ist das für ein Redner?) Ein Blick auf die aktuelle Situation und in die Zu- kunft zeigt die Wachstumsraten und die Anzahl der Das heißt, die wahren Kosten entstehen nicht wegen der Menschen, die direkt oder indirekt in der Luftverkehrs- (B) Verfahren, sondern aufgrund der langen Verfahrens- wirtschaft beschäftigt sind. Der Kollege Königshofen (D) dauer. Wir, der Bundestag, sind aufgerufen, diese lang- hat bereits die richtige Zahl von 750 000 genannt. Ich wierigen Abläufe zu reformieren, damit es in diesem gehe nun noch etwas weiter und betrachte die Perspekti- Lande schneller vorangeht und damit wir keinen Tempo- ven. Ich greife das auf, was Winfried Hermann deutlich verlust erleiden. Denn das Ausland schläft nicht. Es war- gemacht hat, nämlich dass ein Wachstum im Luftverkehr tet darauf, dass wir unsere Pflicht und Schuldigkeit nicht in den nächsten Jahren auch unter veränderten Rahmen- tun. bedingungen zu erwarten ist und dass in diesem Bereich bis zu 100 000 neue Arbeitsplätze entstehen können. Vielen Dank. Ich gehe davon aus, dass wir als Land in der Mitte (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Europas mit einer sehr hohen Wirtschaftskraft und ei- Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]) nem hohen Exportanteil diese Infrastruktur brauchen. Deshalb begrüßen wir, dass die Luftverkehrswirtschaft Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: mit der Frage an das Ministerium herangetreten ist, ob Das Wort hat der Kollege Hans-Günter Bruckmann, die Bundesregierung bereit ist, sich an der Initiative SPD-Fraktion. „Luftverkehr für Deutschland“ zu beteiligen. Der Ver- kehrsminister hat, vertreten durch die Staatssekretärin, Hans-Günter Bruckmann (SPD): die Schirmherrschaft für die Initiative der Luftverkehrs- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe wirtschaft „Luftverkehr für Deutschland“ übernommen. Kolleginnen und Kollegen! Kollege Minkel, wir haben (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Alle Achtung!) jetzt hessisches Lokalkolorit gehört. Wir haben gehört, wie Sie über den Rechtsmittelstaat gesprochen haben, Wenn es darum geht, die Weichen für einen zukunfts- wir haben gehört, wie Sie die Bürgerinteressen, die fähigen und nachhaltigen Luftverkehr zu stellen, dann wahrgenommen worden sind, im Grunde genommen ad müssen wir uns neben den positiven Aspekten der Luft- absurdum geführt haben, verkehrswirtschaft auch mit der Frage auseinander set- zen, welche negativen Folgen auftreten. Ohne jeden (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Zweifel hat die Luftverkehrstechnik dazu beigetragen, NEN]: Beschimpft!) dass trotz des Wachstums eine Verringerung der Um- weltbelastung erfolgt ist. aber wir haben wenig darüber gehört, wie man den Luft- verkehr in seiner Gesamtheit organisiert und unter wel- Im Ergebnis bietet die Luftfahrtindustrie allen Betei- chen Rahmenbedingungen wir das zu tun haben. ligten gleichermaßen eine Perspektive. Das gilt zum Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11553

Hans-Günter Bruckmann (A) einen für die Menschen, die vom Luftverkehr betroffen Wir werden das alles im Fachausschuss begleiten und (C) sind, und zum anderen für diejenigen, die ihn nutzen diskutieren. Rot-Grün wird einen gemeinsamen Antrag wollen. einbringen. Wir werden versuchen, unsere Vorschläge mit den Intentionen der Opposition zu synchronisieren. Eben ist vom Fluglärmgesetz gesprochen worden. In Vielleicht bringen wir so etwas Gemeinsames zustande. der vorletzten Woche wurden die Verbände angehört. Ich würde mich darüber freuen. Ich freue mich auf jeden Wir werden die Ergebnisse dieser Anhörung auswerten Fall auf die Diskussion im Fachausschuss. und dann zu entscheiden haben. Wir werden sehen, in- wiefern Sie und wir die Belange der Menschen, die in Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. den Einflugschneisen wohnen, berücksichtigen. Auf der (Beifall bei der SPD) einen Seite steht die Wirtschaft und auf der anderen Seite stehen die Interessen der Menschen. Beidem muss man gleichermaßen gerecht werden. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich schließe die Aussprache. Was die Frage angeht, wie die Verkehrsträger mit- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf einander vernetzt werden, greife ich die Äußerung des Drucksache 15/3312 an die in der Tagesordnung aufge- Kollegen Hermann auf, es mache Sinn, die unterschied- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- lichen Stärken der Verkehrsträger miteinander zu vernet- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung zen, damit der Luftverkehr stattfinden könne. Es macht so beschlossen. auch Sinn, den Kurzstreckenluftverkehr auf die Schiene zu verlagern; das steht außer Frage. Die dadurch frei Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: werdenden Slots können möglicherweise von denjenigen Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- genutzt werden, die den Luftverkehr als Carrier organi- richts des Ausschusses für Kultur und Medien sieren. (21. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Maximal ten Monika Griefahn, Eckhardt Barthel (Berlin), 5 Prozent des ganzen Luftverkehrs!) Ulla Burchardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Wir wissen selber, dass eine optimale Vernetzung Dr. Antje Vollmer, Volker Beck (Köln), Grietje den Ausbau von Flughäfen nicht ersetzen kann. Aber Bettin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion sollte dies nur deutschlandweit oder darüber hinaus des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN europaweit erfolgen? Diese Frage betrifft die deutsche Ebene, auf der wir uns zu organisieren und unsere Inte- Schaffung eines internationalen Instruments zum Schutz der kulturellen Vielfalt unterstüt- (B) ressen zu vertreten haben. Das gilt gleichermaßen für (D) den europäischen Rahmen. Es reicht nicht aus, interna- zen tionale Drehkreuze zu fördern. Es geht vielmehr auch – Drucksachen 15/3054, 15/3584 – um die Erstellung eines länderübergreifenden Konzepts. Hier sind wir auf der Bundesseite genauso gefordert wie Berichterstattung: die Länder selbst. Abgeordnete Monika Griefahn Günter Nooke In diesem Zusammenhang möchte ich einen Aspekt Dr. Antje Vollmer der heutigen Diskussion aufgreifen. Es ist davon gespro- Hans-Joachim Otto (Frankfurt) chen worden, dass es im Regionalverkehr teilweise Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Kannibalismus gibt. Dieser mag vielleicht aus örtlicher Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Sicht nachvollziehbar sein. Aber für uns bedeutet das, keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. dass es unbedingt notwendig ist, die Initiative „Luftver- kehr für Deutschland“ dahin gehend zu unterstützen, Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- dass es einen abgestimmten Masterplan für den Luftver- gin Monika Griefahn, SPD-Fraktion. kehr in Deutschland gibt. Lieber Horst Friedrich, ich teile deine Einschätzung. Es macht Sinn, wenn wir darü- Monika Griefahn (SPD): ber reden und uns abstimmen. Es macht aber auch Sinn, Liebe Frau Präsidentin! Guten Abend, meine lieben beispielsweise auf die Kommunen zuzugehen, die in ih- Kolleginnen und Kollegen! Es wurde höchste Zeit, den ren Bebauungsplänen eine so flughafennahe Bebauung Schutz der kulturellen Vielfalt auf internationaler Ebene vorsehen, dass der schon vorhandene Protest automa- in Angriff zu nehmen. Das ist nun im letzten Jahr unter tisch verstärkt wird. deutschem Vorsitz im UNESCO-Exekutivrat geschehen. Wir unterstützen die Initiative „Luftverkehr für Die Arbeiten sind in vollem Gange. In der laufenden Deutschland“ und das Bemühen der Bundesregierung, in Woche tagt erstmals ein Expertengremium der Regierun- dieser Frage zu einem Konsens zu kommen. Nach unse- gen in Paris, um über den Entwurf der UNESCO-Kon- rer Meinung macht es Sinn, das Ganze auf der Bundes- vention zum Schutz der kulturellen Vielfalt zu diskutie- und der Landesebene so abzustimmen, dass wir zu ei- ren. Die Debatte kommt zu einer sehr guten Zeit; denn nem Masterplan für den Luftverkehr kommen, der ein gerade wird in der EU über eine Dienstleistungsrichtlinie Flughafenkonzept einbindet. diskutiert, die einen Einstieg bietet, auch die kulturellen und die audiovisuellen Dienstleistungen dem Marktge- Frau Präsidentin, ich sehe, dass ich zum Ende kom- schehen zu unterwerfen. Damit besteht zumindest eine men muss. Das werde ich gerne tun. – Nur noch so viel: Gefahr für die kulturelle Vielfalt. 11554 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Monika Griefahn (A) Wovon reden wir? Was sind kulturelle Dienstleistun- GATS-Regelwerken rechtlich verschränkt werden, damit (C) gen und Güter und wie können wir ihren Schutz garan- kulturpolitische Maßnahmen nicht von vornherein als tieren? Wir vertreten einen weiten Kulturbegriff. Da- handelspolitisch unerwünschte Hemmnisse eingestuft nach ist jede Erscheinungsform künstlerisch-kreativen werden können. Das ist ganz wichtig, denn bislang lau- Handelns ein kulturelles Gut: Literatur, Musik, Schau- fen diese Regelwerke nebeneinander und sind rechtlich spiel, Malerei, Architektur, Kunsthandwerk, Film, noch nicht miteinander verwoben. Hier müssen wir Ver- Video, Rundfunk, neue Medien und nicht zuletzt so änderungen erreichen. Darauf müssen wir unser Augen- genannte kulturelle Dienstleistungen wie bürgerschaftli- merk richten. ches und freiwilliges Engagement, die Kochkunst, Kul- turtourismus, Sport sowie soziokulturelle Arbeit. Sie se- Der wirtschaftliche und technologische Wandel eröff- hen, wie vielfältig dieses Politikgebiet ist. Allein aus net ungeahnte Möglichkeiten für Kreative und für die dieser Vielfalt ergibt sich die Notwendigkeit des Schut- Schaffung von Innovationen. Dem müssen wir Rech- zes. Diese Vielfalt ist das gemeinsame Erbe der Mensch- nung tragen. Deshalb müssen wir uns besonders um Fra- heit. Sie ist das Hauptelement tragfähiger Entwicklun- gen des Urheberrechts und des geistigen Eigentums gen. Ihr Schutz ist deshalb ebenso wichtig wie der Erhalt kümmern. Wie wichtig das ist, habe ich gerade auf der der Artenvielfalt. Reise mit dem Außenminister in China gemerkt, wo Ur- heberrecht noch überhaupt keine Rolle spielt. Wenn dem Die UNESCO hat in ihrem Entwurf betont, dass diese freien Markt der Umgang mit geistigem Eigentum über- Besonderheit zu beachten ist und dass kulturelle Güter lassen wird, dann bekommen wir große Probleme. Auch als Träger von Identitäten, Wertvorstellungen und Sinn darauf müssen wir unser Augenmerk richten. nicht einfach als Waren und Konsumgüter betrachtet werden können. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) In der EU wird uns aber genau diese Frage im Rah- men der GATS-Verhandlungen noch intensiv beschäf- Zivilgesellschaft und Wirtschaft in Europa sollen in den tigen. Ich glaube, dieser Zusammenhang wird zu wenig Diskussionsprozess eingebunden werden. Ich glaube, die beachtet: Das eine hat etwas mit dem anderen zu tun. Arbeit der bundesweiten Koalition, die sich für die Kon- Deshalb sollte jedem Staat überlassen sein, im Rahmen vention zur kulturellen Vielfalt engagiert, ist wichtig. internationaler Verpflichtungen seine eigene Kulturpoli- Eine wichtige Frage ist mit der Vielfalt der Medien tik zu definieren und umzusetzen. Zum Beispiel muss verbunden. Besonders der öffentlich-rechtliche Rund- die nationale Förderung von einheimischen Musik- und funk kann sehr gefährdet sein. Es wird nämlich ange- Filmproduktionen weiterhin möglich sein. sichts sich ändernder Kommunikationsgewohnheiten der (B) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Bevölkerung und der Nutzung des Internets und anderer (D) DIE GRÜNEN) Kommunikationstechnologien immer wichtiger, ihre Rolle klar zu definieren. Wir erleben gerade die Debatte Ich betrachte deshalb den Erhalt des kulturpolitischen um die Neustrukturierung des öffentlich-rechtlichen Gestaltungsspielraums eines Mitgliedstaates angesichts Rundfunks. Bei aller Diskussion um die Gebühren muss des fortschreitenden Liberalisierungsdrucks und der zu- eines sicher bleiben: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk nehmenden Globalisierung als vorrangige Aufgabe. Das muss den freien Fluss von Ideen in Wort und Bild in al- ist übrigens auch Konsens im Kulturausschuss des Bun- len Bereichen gewährleisten. Er stellt sicher, dass sich destages. Wir haben diesen Punkt auch in die EU-Verfas- alle Kulturen ausdrücken und bekannt machen können. sung eingebracht, denn Europa gestaltet sich gerade Unter diesem Gesichtspunkt novellieren wir gerade das durch die Einheit in der Vielfalt. Genau das ist unsere Deutsche-Welle-Gesetz. Das ist ganz wichtig. Stärke und das müssen wir hierbei auch zeigen. Was kann aber passieren? Wir dürfen in der Fortent- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wicklung der Ergebnisse der GATS-Verhandlungen nicht DIE GRÜNEN) an einen Punkt kommen, an dem das gegenseitige Geben Bei den Verhandlungen im Rahmen der World Trade und Nehmen auf dem Basar dazu führt, dass zum Bei- Organization und im Zusammenhang mit dem „General spiel die Zulässigkeit unserer Rundfunkgebühren von Agreement on Trade in Services“, dem berühmten WTO-Regeln bestimmt wird. Das würde dazu führen, GATS, halte ich deshalb eine kontinuierliche und ange- dass in dem Fall, dass sich ein anderer Staat über uns be- messene Berücksichtigung der Besonderheiten des Kul- schwert, ein Expertenpanel der WTO, das aus drei Ex- turbereiches für unverzichtbar. Deshalb muss für die EU, perten besteht, entscheiden könnte, ob unsere Gebühren die in den GATS-Verhandlungen mit einer Stimme dem internationalen Handelsrecht entsprechen oder spricht, die Einstimmigkeit in den Kulturfragen erhalten nicht. Wird ein Verstoß festgestellt und wir bestehen bleiben. Es darf wie gesagt nicht wieder auf dem Basar trotzdem auf unseren Gebühren, so kann der Beschwer- der Begehrlichkeiten hin- und hergeschoben werden. deführer gegen uns Handelssanktionen verhängen, und zwar in jedem Bereich. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Das muss man sich einmal lebhaft vor Augen führen. Solch eine Entwicklung müssen wir abwenden. Deswe- Wir brauchen deshalb in der UNESCO-Konvention gen ist unsere gemeinsame Erklärung, die wir im Aus- Mindestanforderungen an die Kulturverträglichkeit, die schuss verabschiedet haben und heute hier gemeinsam völkerrechtlich und bindend festgeschrieben und mit den verabschieden werden, auch ein Stück weit Rückenwind Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11555

Monika Griefahn (A) für die Bundesregierung in ihren Verhandlungen im Zu- rung, liebe Frau Griefahn, ist also nicht der Gegensatz (C) sammenhang mit dem GATS, mit den EU-Dienstleis- zur Vielfalt, sondern Liberalisierung ermöglicht Vielfalt. tungsrichtlinien sowie mit der UNESCO-Konvention zur (Beifall bei der FDP – Eckhardt Barthel kulturellen Vielfalt. Ich freue mich, dass wir das gemein- [Berlin] [SPD]: Na, na, na!) sam verabschieden können. Nationale Quoten aber bauen Mauern auf und behindern (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ internationalen Kulturaustausch. DIE GRÜNEN) (Dr. Antje Vollmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: NEN]: Da ist Herr Koppelin aber ganz anderer Nächster Redner ist der Kollege Hans-Joachim Otto, Meinung!) FDP-Fraktion. – Liebe Frau Vizepräsidentin, Sie erhalten nach mir das Wort. Sie können sich dann äußern. Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): Wir haben in der nächsten Woche im Ausschuss eine Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau öffentliche Anhörung zum Thema einer Quote für Kollegin Griefahn, ich will es vorwegnehmen: In der Tat Musik in Deutschland. Wenn es um gesetzliche Quoten unterstützen wir von der FDP-Fraktion diesen Antrag. geht – liebe Frau Vollmer, Sie haben sich schon im Vor- Wir halten es für unerlässlich, dass der Bundestag in die- feld für gesetzliche Quoten ausgesprochen –, müssen wir ser kulturpolitisch wirklich wichtigen und folgenreichen dafür sorgen, dass Kulturaustausch dadurch nicht behin- Frage international mit einer Stimme spricht. dert wird. Um das klarzustellen: Wir wollen nicht einen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Einheitsbrei von amerikanischen Charts in den Radio- DIE GRÜNEN – Horst Kubatschka [SPD], zur sendungen. Aber Vielfalt bedeutet das Bekenntnis zu in- FDP gewandt: Da könnten Sie auch ternationaler Vielfalt, das heißt kein Einheitsbrei, son- klatschen! – Beifall bei der FDP) dern internationale Mischung. Die schafft man nicht zwangsläufig durch Mauern oder Quoten, sondern durch Die nationale Allianz, die Sie eben beschworen haben, Liberalisierung und durch offene Auseinandersetzung. steht also. Zusammengefasst Folgendes – meine Redezeit ist lei- Ich möchte meine drei Minuten Redezeit nutzen, um der zu Ende; das ist mir bewusst –: Wir müssen einen ein bisschen vor Übertreibungen zu warnen. Ich warne Ausgleich zwischen den Interessen der Wirtschaft und insbesondere davor – das habe ich auch schon im Aus- den Notwendigkeiten für Kultur schaffen. Ich bin nicht schuss getan –, die wirtschaftlichen Überlegungen und so blauäugig, zu glauben, dass die Interessen der Kultur (B) (D) Interessen, die in dieser Frage betroffen sind, völlig über eine stärkere Durchsetzungskraft haben als die Interes- Bord zu werfen. Die Bedenken, die die Länder USA, sen der Wirtschaft. Weil das so ist und weil wir alle uns Großbritannien, Niederlande und Australien gegen eine natürlich für eine Stärkung der Kultur einsetzen, setzen UNESCO-Konvention zum Schutz der kulturellen Viel- wir uns auch für diese Konvention ein. Aber wenn sie falt erheben, müssen wir ernst nehmen. Was sie im Blick zum Erfolg führen soll, dürfen wir die Bedenken der ge- haben, ist in bestimmtem Umfang durchaus auch in un- nannten Länder nicht über Bord werfen. Wir brauchen serem Interesse. Wenn wir den Handel, den Kunsthan- diese Länder zur Durchsetzung der UNESCO-Konven- del, dadurch lähmen würden, dass der Schutz der kultu- tion. Ich möchte an sie appellieren, mitzumachen, damit rellen Vielfalt zu starr ist, dann hätte niemand etwas es wirklich zu dieser UNESCO-Konvention kommt. davon. Eine solche Regelung wäre kontraproduktiv. Danke schön. Wir sollten eines nicht vergessen: Es gibt nicht nur öf- (Beifall bei der FDP) fentlich geförderte Kultur, sondern es gibt auch Kultur- wirtschaft. Die Kulturwirtschaft schafft mehr Arbeits- plätze als die öffentlich geförderte Kultur. Deswegen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: sind die Bedenken der vier genannten Länder ernst zu Das Wort hat die Kollegin Dr. Antje Vollmer, Bünd- nehmen. nis 90/Die Grünen. Sie haben folgende Forderungen: Erstens. Die Han- Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): delbarkeit von Kulturgütern und Dienstleistungen muss gesichert bleiben. Das sollten wir akzeptieren und auch Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! übernehmen. Zweitens. Die geplante Konvention darf Unsere einzigartige Kulturlandschaft schützen wir bisher keine neuen Hürden für Kulturaustausch und Informa- in unterschiedlicher Form. Wir schreiben zum Beispiel tionsfluss aufbauen. Drittens. Die Marktmechanismen zur Filmpreise aus, unterstützen durch staatliche Finanzie- Sicherung kultureller Vielfalt müssen ebenso anerkannt rung Museen, Theater und Opern, unterhalten staatli- werden wie staatliche Intervention. Wir dürfen also nicht cherseits Projekte und Institutionen, steuern und fördern vergessen, dass Kultur und Wirtschaft keine Gegensätze durch rechtliche Rahmenbedingungen – zum Beispiel sind, sondern miteinander in Einklang gebracht werden durch die Buchpreisbindung tragen wir dazu bei, dass es müssen. eine eigene Literatur gibt – und richten möglicherweise auch Quoten ein. Herr Otto, wenn neu erschienene Mu- Eines möchte ich noch zu bedenken geben. Vielfalt, sik, die hier produziert wurde, 1 Prozent der Sendezeit die wir alle wollen, setzt Austausch voraus. Liberalisie- unserer Sender, und zwar der öffentlich-rechtlichen und 11556 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Dr. Antje Vollmer (A) der privaten, ausmacht, haben wir eine Einheitsquote sen auf globaler Ebene ausgeht. Kulturelle Güter können (C) von 99 Prozent dagegen. Dagegen müssen wir, wie ich eben nicht wie industrielle Güter von allen Handels- glaube, vorgehen. schranken und anderen Barrieren befreit werden, wenn man einzelne nationale und regionale Kulturen erhalten Möchten Sie eine Frage stellen? Von mir aus sehr will. gerne, denn dann bekomme ich Zeit. (Beifall bei der SPD) (Horst Kubatschka [SPD]: War die bestellt?) Viele Länder diskutieren übrigens, wenn ich noch ein- mal auf meine geliebte Musikquote zurückkommen darf, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: darüber, wie sie ihre Kultur erhalten können. Wenn ich Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Otto? es richtig sehe, haben schon ungefähr 20 Länder, da- runter Uruguay, Polen und Kanada, solche Quoten ein- Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): geführt. Das heißt, in ganz vielen Ländern gibt es das Ja, gerne. Bewusstsein, dass eigene Identität und Kultur zusam- menhängen und dass hier auch bestimmte eigene Wur- Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): zeln zu erhalten sind. Liebe Frau Vizepräsidentin bzw., da Sie ja in dieser Deswegen ist es auch grundfalsch, kulturelle Dienst- Eigenschaft nicht sprechen, liebe Frau Dr. Vollmer, wä- leistungen unter ein Abkommen wie das des GATS fas- ren Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass alle Unter- sen zu wollen. Frau Griefahn hat dazu schon eine Menge suchungen, die es gibt – die werden wir ja sicherlich in gesagt. Denn sobald der Handel mit kulturellen Dienst- der Anhörung noch einmal präsentiert bekommen –, auf leistungen unumkehrbar liberalisiert wird, ist die wesentlich höhere Anteile von in Deutschland produ- einzelne nationale Kultur durch die übermäßige Konkur- zierter und sogar von deutschsprachiger Musik in den renz für immer verloren. Freier Marktzugang für alle, In- Radiosendungen hier in Deutschland kommen? Ich bitte länderbehandlung für alle Marktteilnehmer und die Sie also, die Ergebnisse der Anhörung, die wir am Mitt- Meistbegünstigungsklausel, Unumkehrbarkeit der ein- woch nächster Woche haben werden, nicht vorwegzu- mal gemachten Zugeständnisse, alle diese typischen nehmen. Merkmale der Dienstleistungen, die unter dem Namen GATS bereits liberalisiert worden sind, eignen sich nicht (Horst Kubatschka [SPD]: Sie aber auch für den Kulturbereich, genauso wenig übrigens für die nicht!) Bildung. Sind Sie also bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (B) sich um einen zigfach höheren Anteil handelt als dieses und bei der SPD) (D) eine Prozent? Eindrucksvoll war ja für alle Kollegen das Beispiel Mexikos, das 1994 mit seinem Beitritt zur Nordatlanti- Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): schen Freihandelszone auch seine gesamte Filmindustrie Ich bin sehr gerne bereit, mit Ihnen dann über die und Verlagslandschaft unumkehrbar der blanken Markt- konkreten Zahlen zu streiten. Wir werden ja auch sehen, konkurrenz ausgeliefert hat. Als Mexiko hinterher ver- auf welcher Basis diese verschiedenen Untersuchungen sucht hat, diese Gebiete durch nationale Gesetzgebung beruhen. Da ich mich nun schon sehr lange intensiv mit zu schützen, durfte es das nicht mehr. Mexiko stellt für diesem Thema beschäftige wie übrigens auch Ihr FDP- uns ein warnendes Beispiel dar. Kanada, übrigens eben- Kollege Koppelin, der ein großer Befürworter der Quote falls Mitglied der NAFTA, war da viel weitsichtiger und ist schaffte es, den Kultursektor von diesen Verhandlungen (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Sie ausdrücklich auszuklammern. Ich muss offen sagen, sehen, wie liberal wir sind!) dass für viele Kollegen aus dem Kulturausschuss gerade Mexiko ein warnendes Beispiel ist und wir gesagt haben: und im Gegensatz zu Ihnen etwas von dem Markt ver- So darf es uns bei den GATS-Verhandlungen nicht erge- steht, weil er darin so lange gearbeitet hat, glaube ich, hen. dass wir zu guten Ergebnissen kommen werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Horst Kubatschka [SPD]: Das war aber ein und bei der SPD) Nasenstüber, Herr Otto!) Die Globalisierungsbewegung ist sehr stark. Um ge- Die Globalisierung aller Bereiche der Gesellschaft, sellschaftliche Bereiche davon auszunehmen, bedarf es nicht zuletzt durch die modernen Wege der Kommunika- einer weltweit flächendeckenden Information, einer star- tion, hat ihre Vorzüge und ihre Nachteile. Über die Vor- ken Lobby und vor allen Dingen der Aufmerksamkeit al- züge haben wir schon sehr viel diskutiert, gerade über ler verhandelnden Parteien. Nicht zuletzt deswegen dis- die im Informationsbereich. Es gibt aber auch die Gefahr kutieren wir hier darüber. Wir möchten nämlich nicht, der Vereinheitlichung und Nivellierung der Kulturen. dass die Kultur zu einer Verhandlungsmasse wird und Die Tendenz dazu gibt es schon jetzt. Allein durch die am Ende der Verhandlungen Zugeständnisse gemacht starken Einflüsse der USA sind die einzelnen unter- werden, um andere Ziele durchsetzen zu können. Wir schiedlichen Kulturen der Nationen in ihrem Bestand ge- wollen gemeinsam mit Ihrer Unterstützung klarstellen, fährdet. Am größten ist jedoch die Gefahr, die von der dass wir in diesem Punkt keine Abstriche hinnehmen Vereinnahmung der Kultur durch wirtschaftliche Interes- wollen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11557

Dr. Antje Vollmer (A) Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass weder Angebot und Nachfrage und sind daher den Marktme- (C) unser Antrag noch die UNESCO-Konvention eine welt- chanismen nur bedingt zugänglich. weit rechtliche Bindungswirkung entfalten können. Sie Der freie Zugang zur Kultur, unabhängig von sozia- können nur als Referenz für Argumentationslinien und len Schranken, ist der Humus, aus dem sich Demokratie als Grundlage für nationale Verhandlungsprinzipien die- und Emanzipation entwickeln können. nen. Um aber diese minimale Wirkung zu entfalten, ist es sehr wichtig, dass wir nicht auf die Forderungen der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ angelsächsischen Länder eingehen. DIE GRÜNEN) Ich möchte noch einmal ausdrücklich betonen: Kul- Deshalb müssen die staatlichen Gestaltungsmöglich- turgüter dürfen eben nicht anderen Handelsgütern keiten gewahrt bleiben. Ob Buchpreisbindung, Filmför- gleichgestellt werden. derung oder auch das Gemeinnützigkeitsrecht – Kollegin Vollmer hat bereits darauf aufmerksam gemacht –: Diese (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Instrumente sichern, dass sich gewachsene nationale und und bei der SPD) regionale Kulturlandschaften weiter entwickeln können. Gerade im Kulturbereich müssen wir Hürden und Über die UNESCO-Konvention müssen daher nationale Hemmnisse aufbauen dürfen, die wir in der sonstigen Ausgestaltungsmöglichkeiten völkerrechtlich „wetter- Wirtschaft nicht mehr haben wollen; denn jedes Land fest“ gemacht und gegenüber lupenreinen Liberalisie- hat seine eigene kulturelle Tradition. Soweit es möglich rungsstrategien abgefedert werden. ist, muss die Konvention auch eine völkerrechtliche Bin- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dungswirkung haben. Genau über diese Punkte wird ge- DIE GRÜNEN) stritten. Deswegen wünschen wir uns, dass mithilfe der großen Unterstützung des Parlaments unsere Verhand- Um Missverständnissen vorzubeugen: Die von mir lungsführer in diesen Punkten Rückgrat zeigen können. skizzierte grundsätzliche Position stellt nicht darauf ab, Das ist der Sinn dieser Debatte. vermeintliche Besitzstände in Strukturen und Finanzie- rungsmodalitäten zu wahren. Die Praxis der Kultur- Vielen Dank. arbeit belegt, dass hier vieles im Fluss ist und sich im- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mer wieder neu legitimieren muss. Dies beobachten wir und bei der SPD) im Übrigen in der Arbeit unserer Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ sehr genau. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Es ist gut, dass diese Debatte hier und heute geführt Der Kollege Günter Nooke, CDU/CSU-Fraktion, hat wird. Aber ebenso wichtig ist, dass sich die Zivilgesell- (B) 1) (D) seine Rede zu Protokoll gegeben. Der nächste Redner schaft ebenfalls in dieses Thema einklinkt. ist der Kollege Siegmund Ehrmann, SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Siegmund Ehrmann (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Herzlichen Dank an die Initiatoren der „Bundesweiten Kollegen! Meine Damen und Herren! Frau Vollmer hat Koalition zur kulturellen Vielfalt“, die Mitte des Jahres es gerade angesprochen: Es ist wichtig und ein gutes mit einer Auftaktveranstaltung das Thema in die Öffent- Zeichen, wenn der heute zu beschließende Antrag von lichkeit getragen hat. Dies fördert den zivilgesellschaftli- allen Fraktionen des Deutschen Bundestages getragen chen Diskurs. Diese Initiative ist weltweit vernetzt. Ich und unterstützt wird. erhoffe mir, dass die anstehenden internationalen Bera- tungen von einer kritischen Öffentlichkeit begleitet wer- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ den. DIE GRÜNEN sowie des Abg. Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]) Im Oktober wird die „Bundesweite Koalition zur kul- turellen Vielfalt“ in einem weiteren Fachgespräch das Das wird unsere Position in der internationalen Gemen- Thema vertiefen. Nach Durchsicht des Veranstaltungs- gelage sicherlich stärken. programms bin ich sehr sicher, dass wir aus dieser Ver- Nach den doch etwas relativierenden Ausführungen anstaltung sehr viel Honig für unsere Debatte saugen von Herrn Otto möchte ich in dieser Debatte Gelegenheit können. In Köln geht es unter anderem darum, solche nehmen, einige grundsätzliche Positionen meiner Frak- kultur- und medienpolitischen Prinzipien, Instrumente tion zu skizzieren, die sich auch in diesem Antrag wider- und Marktanreize zu sichten und zu entwickeln, die kul- spiegeln. turelle Vielfalt sichern und erzeugen. Bei aller Bedeutung der Kulturwirtschaft ist Kultur (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mehr als ein Wirtschaftsfaktor. Sie haben zu Recht die DIE GRÜNEN) Bedeutung der Kulturwirtschaft hervorgehoben. Kul- Dabei wird es nicht um eine abstrakte akademische tur, Bildung und Medien sind als öffentliche Güter we- Debatte gehen; auch das mag ganz interessant sein. Viel- sentliche Elemente unseres Staatsverständnisses. Sie le- mehr werden aus der Sicht vieler kommunaler und freier gitimieren sich nicht ausschließlich nach den Regeln von Träger, aber auch aus der Sicht der Kulturwirtschaft kon- krete Fallbeispiele betrachtet. Das wird sicherlich eine 1) Anlage 5 spannende Veranstaltung. 11558 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Siegmund Ehrmann (A) Zur EU-Binnenmarktrichtlinie ist zwar bereits einiges FDP fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen (C) gesagt worden; aber auch ich will zum Schluss darauf Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. eingehen. Erwähnt wurde, dass diese Richtlinie auch die grenzüberschreitenden audiovisuellen und kulturellen Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dienstleistungen erfasst. Im Übrigen wird in dieser Dr. Volker Wissing, FDP-Fraktion. Richtlinie klargestellt, dass nicht marktbestimmte, vom Staat erbrachte soziale, kulturelle und bildungspolitische Dr. Volker Wissing (FDP): Tätigkeiten nicht unter diese Richtlinie fallen. Dies gilt Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und allerdings nicht für den Rundfunk. Vor dem Hintergrund Herren! Das Ifo-Institut schätzt die Umsatzsteueraus- der Debatte um die UNESCO-Konvention ist die deut- fälle auf jährlich etwa 20 Milliarden Euro allein in sche Forderung an die EU, audiovisuelle Dienstleistun- Deutschland und auf 60 Milliarden Euro in Europa – gen – ob Fernsehen, Hörfunk oder Film – aus dieser Tendenz steigend. Das Hinterziehungsvolumen bei der Richtlinie herauszunehmen, zwingend. Umsatzsteuer liegt damit bei 19,4 Prozent. Die Ausfälle (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten entsprechen dem Aufkommen aus der Erbschaftsteuer des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) von sechseinhalb Jahren. Andernfalls wäre die besondere meinungsbildende und Bereits seit dem Jahr 1999 bleibt die Entwicklung der Vielfalt sichernde Funktion dieser Medien extrem ge- Einnahmen aus der Umsatzsteuer hinter der gesamtwirt- fährdet. schaftlichen Entwicklung deutlich zurück. Grund dafür ist neben der ständig zunehmenden Schwarzarbeit der Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. international organisierte Betrug durch so genannte Karussellgeschäfte. Die EU-Osterweiterung wird zu ei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nem weiteren Anstieg dieser kriminellen Aktivitäten DIE GRÜNEN) führen.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Alle Maßnahmen der Bundesregierung, die Übertra- Ich schließe die Aussprache. gung der Steuerschuld auf den Leistungsempfänger, die Schaffung neuer Haftungstatbestände und die Gewäh- Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- rung des Vorsteuerabzugs nur gegen Sicherheitsleistung, schusses für Kultur und Medien auf Drucksache 15/3584 hatten keinen Erfolg. Im Gegenteil: Sie bedeuten mehr zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnis- Bürokratie und höhere Kosten, was besonders die mittel- ses 90/Die Grünen mit dem Titel „Schaffung eines inter- ständischen Unternehmer belastet. Ganze Unterneh- (B) nationalen Instruments zum Schutz der kulturellen Viel- menszweige wie etwa die Bauindustrie geraten unter den (D) falt unterstützen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag Generalverdacht des Betruges. Diese Maßnahmen müs- auf Drucksache 15/3054 in der Ausschussfassung sen zurückgenommen werden. anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschluss- (Beifall bei der FDP) empfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses an- Um das Problem aber in den Griff zu bekommen, genommen. muss das System generell umgestellt werden. Die FDP (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schlägt vor, bei der Umsatzsteuer von der Sollbesteue- DIE GRÜNEN) rung auf die Istbesteuerung überzugehen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: (Beifall bei der FDP) Beratung des Antrags der Abgeordneten Das bedeutet auf der einen Seite, dass der Unternehmer Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Andreas Pinkwart, die Umsatzsteuer erst dann anzumelden und abzuführen Carl-Ludwig Thiele, weiterer Abgeordneter und hat, wenn er den Rechnungsbetrag vom Kunden erhalten der Fraktion der FDP hat. Auf der anderen Seite entsteht der Vorsteuer- anspruch erst dann, wenn die entsprechende Rechnung Reform der Umsatzsteuer – Durch Umstellung bezahlt ist. von der Soll- auf die Istbesteuerung Umsatz- steuerbetrug wirksam bekämpfen und unnö- (Dr. Max Stadler [FDP]: Sehr vernünftig!) tige Liquiditätsbelastungen der Wirtschaft vermeiden Von einer solchen Umstellung würden alle profitie- ren. Die Istbesteuerung ist wesentlich unternehmer- – Drucksache 15/2977 – freundlicher, weil die Umsatzsteuer nicht mehr für den Überweisungsvorschlag: Staat vorfinanziert werden muss. Die Liquidität der Un- Finanzausschuss (f) ternehmen gerät nicht unter Druck, wenn wegen der Innenausschuss schlechten Zahlungsmoral viele Rechnungsbeträge ver- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit spätet eingehen. Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Wenn der Vorsteuerabzug erst nach Rechnungsein- Haushaltsausschuss gang geltend gemacht wird, können bei auffälligen Be- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die trägen schneller als bisher Kontrollmaßnahmen durch Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die die Finanzverwaltung eingeleitet werden. Der Staat kann Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11559

Dr. Volker Wissing (A) sich durch unseren Vorschlag auf stabilere Einnahmen das Risiko eines Bankraubes. Was in manchen Fällen an (C) bei der Umsatzsteuer verlassen. Geld herauszuholen ist, wird man kaum in einem norma- len Banktresor finden. Die Entdeckung und die Weiter- Es werden auch andere Möglichkeiten diskutiert, wie gabe des Wissens um die vielfältigen Möglichkeiten der die Umsatzsteuer zu reformieren sei, beispielsweise das Umsatzsteuerhinterziehung hat zusammen mit der rela- Reversed-Charge-Modell oder das Cross-Check-Verfah- tiv risikoarmen Ausführung zu einem drastischen Ein- ren, über das im Bundesfinanzministerium nachgedacht bruch der Einnahmen und gleichzeitig zu bedrohlichen wird. Auch der rheinland-pfälzische Finanzminister hat Wettbewerbsverzerrungen zulasten der vielen Unterneh- Vorschläge unterbreitet. Vielleicht liegt die Lösung auch men geführt, die selbstverständlich steuerehrlich sind. in einer Kombination verschiedener Modelle. Die FDP wird sich einer Diskussion hier nicht verschließen. Deshalb ist es notwendig, die Entwicklung in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit zu stellen. Das tun Aber eines ist klar: Es muss endlich etwas passieren. wir eigentlich schon seit geraumer Zeit. Die Koalitions- (Beifall bei der FDP) fraktionen haben diesem Phänomen durchaus nicht ta- tenlos zugeschaut. Wir haben eine Reihe gesetzgeberi- Der EU-weite Umsatzsteuerbetrug gehört endlich auf die scher Maßnahmen gegen Ihren Widerstand, gegen den Tagesordnung des Ecofin-Rates. Es ist Sache von Bun- Widerstand der Oppositionsfraktionen, desfinanzminister Eichel, dafür zu sorgen. (Peter Rzepka [CDU/CSU]: Weil sie untaug- Statt die Bürger ständig mit Steuererhöhungen oder lich sind, wie man ja sieht!) der Ankündigung von Steuererhöhungen zu drangsalie- ren, auf den Weg gebracht. (Jörg Tauss [SPD]: Welche Steuererhöungen?) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) hat die rot-grüne Bundesregierung die Pflicht, erst ein- So haben wir der Finanzverwaltung in unseren Augen mal die bestehenden Steuern richtig zu erheben. Es ist wirksame Instrumente zur Bekämpfung des Umsatzsteu- unnötig, die Wiedereinführung der Vermögensteuer zu erbetrugs in die Hände gegeben. fordern (Dr. Volker Wissing [FDP]: Wirksame?) (Beifall bei der FDP) Die Länder, die sie konsequent anwenden, können oder die Erhöhung von Erbschaftsteuer oder Mehrwert- durchaus Erfolge vorweisen, zum Beispiel Rheinland- steuer ins Spiel zu bringen, wenn endlich die wirksame Pfalz, aber auch Nordrhein-Westfalen. Ich kann alle Bekämpfung des Umsatzsteuerbetrugs forciert wird. Länder nur auffordern, über den Schatten des Länder- (B) Dann steigen – darin sind sich alle Fachleute einig; auch finanzausgleichs – an dem hängt es oft – zu springen und (D) Sie, meine Damen und Herren, wissen das hoffentlich – die Umsatzsteuersonderprüfungen hinreichend zu ver- die Steuereinnahmen von Bund, Ländern und Gemein- stärken. Dabei geht es nicht nur ums Geld, sondern auch den um einen zweistelligen Milliardenbetrag. Die FDP um ein Signal an die kriminellen Elemente, dass der will dieses Geld den Steuerbürgern im Rahmen einer Staat sich nicht einfach ausplündern lässt. umfassenden Einkommensteuerreform zurückgeben. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Kerstin Ich danke Ihnen. Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der FDP) Richtig ist, dass die Betrugsanfälligkeit im jetzigen System selbst begründet ist. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Dr. Volker Wissing [FDP]: Deswegen muss Nächste Rednerin ist die Kollegin Lydia Westrich, man es ändern!) SPD-Fraktion. Deshalb zielt Ihr Antrag, Kolleginnen und Kollegen aus Lydia Westrich (SPD): der FDP-Fraktion, auf eine Reform der gesamten Um- satzsteuer. Darüber haben wir schon verschiedentlich Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Erst im im Finanzausschuss und im Sommer auch hier im Ple- Juli haben wir in diesem Haus über die Umsatzsteuer ge- num geredet. Es gibt schon seit einiger Zeit das Modell redet. Ich glaube, sie wird uns noch eine ganze Weile be- von Finanzminister Gernot Mittler, das die Umsatzsteuer schäftigen. Sie ist einfach unsere größte Einnahmequelle. erst auf der Endverbraucherstufe erheben will. Alle an- Schon deswegen bedarf sie erhöhter Aufmerksamkeit. deren Lieferungen und Leistungen im zwischenunter- Die Umsatzsteuer in der Bundesrepublik Deutschland nehmerischen Bereich erfolgen danach steuerfrei. sei der Shootingstar in der Steuerhinterziehungsszene, Dieser Lösungsansatz hat wirklich beträchtlichen sagt die Deutsche Steuer-Gewerkschaft. Leider ist daran Charme, da er nicht nur die zurzeit gebräuchliche Steu- etwas Wahres. Wir haben hier schon öfter darüber ge- erhinterziehung unterbindet, sondern natürlich auch be- sprochen. Auch Herr Dr. Wissing hat das noch einmal trächtliche Steuervereinfachungspotenziale für die Un- angesprochen. ternehmen und für die Verwaltung enthält. Allerdings Umsatzsteuerhinterziehung ist deutlich einfacher, stößt dieses Modell durchaus nicht überall auf Begeiste- lukrativer und risikoärmer als ein Banküberfall. Die rung, weder hier in Berlin noch und besonders in Brüs- Wahrscheinlichkeit der Aufdeckung ist viel geringer als sel. Ohne Zustimmung des Bundesrates und der 11560 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Lydia Westrich (A) europäischen Ebene können wir neues Recht im Be- nicht belegen. Sonst beschweren Sie sich ständig über zu (C) reich Umsatzsteuer leider nicht umsetzen. Natürlich hat kurze Beratungszeiten und nun wollen Sie eine grundle- dieses Modell auch seine Tücken, die gründlich durch- gende Reform quasi ohne Debatte machen, denn dafür dacht werden müssen. stünden nur noch wenige Wochen zur Verfügung. Der Vorschlag der FDP-Seite, von der Soll- auf die Wenn ich Sie in Ihrer fachlichen Qualifikation ernst Istbesteuerung überzugehen, wird seit geraumer Zeit im nehmen soll, dann kann es bei Ihrem Antrag eigentlich Finanzministerium überprüft. nur darum gehen, die geltenden Maßnahmen zur Be- kämpfung der Steuerhinterziehung, die wir mühsam So wie Finanzminister Mittler bereits 2001 mit seinen durchgesetzt haben, wieder rückgängig zu machen. Das neuen Überlegungen seinen Beitrag zur Bekämpfung des machen wir natürlich nicht mit. Umsatzsteuermissbrauchs geleistet hat, gibt es auch schon seit diesem Zeitpunkt, nämlich seit 2001, eine (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Bund-Länder-Expertengruppe, die an der Entwicklung DIE GRÜNEN) des Reverse-Charge-Modells arbeitet, das die Umkehr Selbst das Ifo-Institut, dessen Studie Sie vorhin zitiert der Steuerschuldnerschaft beinhaltet. Das Modell wurde haben, hat zur besseren Sicherung der Staatseinnahmen der EU-Kommission bereits vorgetragen; Eichel hat hier empfohlen, alle Kontrollmöglichkeiten des bisherigen seine Arbeit also schon geleistet. Derzeit läuft ein Plan- Systems erst einmal auszuschöpfen. Sie halten das für spiel zur Folgenabschätzung. Mitte 2005 werden wir uns eine bessere Methode, als auf die Schnelle neue, uner- mit dessen Ergebnissen beschäftigen können. Wie Sie probte Systeme einzuführen, die dann natürlich an ir- wissen, hat die Wirtschaft ein hohes Interesse daran und gendeiner anderen Stelle auch wieder betrugsanfällig sie ist in die Arbeit eingebunden. sein werden. Das Gleiche gilt auch für das zweite Modell, die von Wenn Sie wirklich die Sicherung der Umsatzsteuer- Ihnen geforderte Istbesteuerung. Auch daran arbeiten einnahmen im Sinn haben, dann kann ich Ihnen nur bereits Experten des Bundes und der Länder, des Bun- empfehlen, diesen Antrag zurückzuziehen. desrechnungshofes und der Wirtschaft. Die EU ist über diese Konzeption natürlich ebenfalls informiert worden. (Beifall bei der SPD) Das heißt, Sie laufen mit Ihrem Antrag nicht nur bei Wir können uns im Ausschuss im Wege der Selbstbefas- uns, sondern sicherlich auch bei den Kollegen aus der sung sehr schnell über den Stand der derzeit laufenden CDU/CSU-Fraktion offene Türen ein, Arbeiten informieren lassen. Wir können die Meinung der EU-Kommission dazu einholen. Wir können uns mit (Zuruf von der SPD: Dabei stößt er sie noch Gernot Mittlers Modell befassen. Wir können in Gesprä- (B) auf!) (D) chen mit der Wirtschaft, dem Bundesrechnungshof und soweit es die Überlegungen als solche betrifft. Außer- den Experten im Haus das Planspiel und die Machbar- dem hatten wir uns bereits im Sommer verabredet, dass keitsstudie begleiten. Wir haben für den November be- wir uns diesem Thema im Ausschuss ausführlich wid- reits entsprechende Gespräche dazu geplant. men. Was soll dann jetzt dieser Schnellschuss mit In- Wir alle haben ein hohes Interesse daran, die betrugs- Kraft-Treten zum 1. Januar 2005? anfällige Sollbesteuerung im Umsatzsteuerbereich auf (Dr. Volker Wissing [FDP]: Wenn Sie erklä- den Prüfstand zu stellen und neue Lösungsansätze zu ren, dass Sie seit 2001 beraten!) finden. Ein Hauruckverfahren, wie Sie es jetzt wollen, dient weder den Interessen der Wirtschaft noch den Das ist doch wirklich Populismus pur. Staatseinnahmen. Deshalb müssen wir diesen ungeeig- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ neten Antrag jetzt leider ablehnen. DIE GRÜNEN) Vielen Dank. Die Umsatzgrenze, die Sie in Ihrem Antrag eingezo- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gen haben, betrifft 94 Prozent aller Unternehmer. Selbst DIE GRÜNEN) die Wirtschaftsverbände reden von einer grundlegenden Reform und warnen vor erheblichen Kontrollproblemen bei einer Umstellung, die natürlich auch sie selbst beträ- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: fen; Sie aber fordern, das in wenigen Wochen durchzu- Das Wort hat der Kollege Peter Rzepka, CDU/CSU- ziehen. Ich weiß nicht, wie das machbar sein sollte. Das Fraktion. ist nicht ernst zu nehmen, Peter Rzepka (CDU/CSU): (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Umsatz- sondern wirklich nur – das ist schade – rein populistisch, steuer mit einem Aufkommen von etwa 137 Milliarden ganz abgesehen von der erforderlichen Sondergenehmi- Euro im Jahre 2003 gehört zu den wichtigsten Steuer- gung durch die EU, die wir vielleicht erhalten, aber nur quellen des Staates. Obwohl das Bruttoinlandsprodukt dann, wenn wir nachweisen, dass die neue Regelung der in den Jahren 2000 bis 2003, wenn auch bescheiden, ge- Bekämpfung von Steuermissbrauch dient. Das jedoch stiegen ist, ist das Umsatzsteueraufkommen im glei- können wir alle nur vermuten; wir können es im Moment chen Zeitraum entgegen allen Prognosen gesunken. Die Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11561

Peter Rzepka (A) neuesten Statistiken aus dem Bundesfinanzministerium gens auch darum, weitere Komplizierungen des Steuer- (C) zeigen, dass sich dieser Trend auch 2004 fortsetzen wird. rechts und zusätzliche Risiken für die große Anzahl der Als eine der Ursachen für diese negative Entwicklung ehrlichen Unternehmer als untaugliche Mittel zur Be- gilt die Hinterziehung von Umsatzsteuer, insbesondere kämpfung des Umsatzsteuerbetrugs zu vermeiden. durch den Umsatzsteuerkarussellbetrug, der hier schon angesprochen worden ist. (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms) Durch Umsatzsteuerbetrug werden dem Fiskus jähr- lich Beträge in zweistelliger Milliardenhöhe entzogen; Nach dem geltenden Steuerrecht ist die Umsatzsteuer allein für 2003 wird der Betrag für die Bundesrepublik grundsätzlich nach vereinbarten Entgelten, der so ge- Deutschland und ihre Gebietskörperschaften auf über nannten Sollbesteuerung, zu berechnen. Die Steuer ent- 17 Milliarden Euro geschätzt. Die Berichte des Ifo-Insti- steht also schon mit Ablauf des Voranmeldungszeit- tuts und des Bundesrechnungshofs sind uns allen be- raums, in dem die Leistung ausgeführt wurde. Bei der Istbesteuerung entsteht die Steuer dagegen erst mit der kannt; wir hatten bereits Gelegenheit, darüber im Ple- Vereinnahmung des Entgelts, also regelmäßig zu einem num und in den Ausschüssen zu diskutieren. späteren Zeitpunkt. Schwächen im Umsatzsteuersystem werden von Be- Allerdings war mein damaliger Hinweis, über die trügern ausgenutzt. Der Bundesrechnungshof hat ermit- Ausweitung der Istbesteuerung nachzudenken, so ge- telt, dass Vorsteuern geltend gemacht werden, denen meint, dass vor einem Systemwechsel mit hinreichender keine Erwerbsgeschäfte mit entsprechenden Umsatz- Sicherheit feststehen muss, dass die beabsichtigten Ziele steuerzahlungen gegenüberstehen, Firmen als Subunter- in der Praxis auch erreichbar sind und der Systemwech- nehmer sich vor der Zahlung von Steuern und Sozialab- sel nicht zu unverhältnismäßigen bürokratischen Anfor- gaben dem Fiskus entziehen, während die Auftraggeber derungen an die Finanzverwaltung und an die Unterneh- Vorsteuern und Betriebsausgaben abziehen, Scheinunter- men führt. nehmen nur zum Zweck der Ausstellung von Rechnun- gen gegründet werden, Scheinunternehmen gezielt in die Drei Tage nach der Debatte vom September des vori- Insolvenz geschickt werden, um bei der Rückabwick- gen Jahres hat Frau Staatssekretärin Hendricks in einer lung von Geschäften die ausgezahlten Vorsteuern behal- Rede auf einer Gemeinschaftskonferenz des Finanzmi- ten zu können, Scheinunternehmen in der Insolvenz Um- nisteriums Rheinland-Pfalz und des Ifo-Instituts, als es satzsteuern aus ausgestellten Rechnungen nicht bezahlen um das Thema „Mehrwertsteuerhinterziehung und Mo- können, für die die Abnehmer Vorsteuern bereits geltend dellansätze zu ihrer Vermeidung“ ging, dargelegt, dass gemacht haben, und Unternehmen zwar Rechnungen im Finanzministerium ebenfalls über einen Wechsel von ausstellen, die geschuldeten Steuern aber nicht erklären der Soll- zur Istbesteuerung nachgedacht wird, verbun- (B) (D) und abführen. den mit dem elektronisch unterstützten Kontrollverfah- ren eines Cross-Checks. Dabei wird der Ausgangsumsatz Vor dem Hintergrund der dramatischen Haushaltslage eines leistenden Unternehmens mit dem entsprechenden des Bundes ist dies ein unerträglicher Zustand. Eingangsumsatz aufseiten des Leistungsempfängers ab- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der geglichen, um festzustellen, ob die Voraussetzungen für FDP) den Vorsteuerabzug vorliegen. – Ich stelle fest, dass wir alle uns in diesem Hause einig Hinsichtlich der Einführung des Cross-Check-Ver- sind. Geschädigt werden nicht nur Bund, Länder und fahrens hat die Staatssekretärin schon damals auf den Kommunen; betroffen sind auch alle ehrlichen Unter- erheblichen technischen Aufwand für Finanzverwaltung nehmen, die letztlich die hohe Steuerlast tragen müssen, und Unternehmen hingewiesen, diese aber damals noch durch gesetzgeberische Maßnahmen zur Bekämpfung mit dem Interesse an einer sichereren Steuererhebung des Umsatzsteuerbetrugs mit zusätzlicher Bürokratie gerechtfertigt. Im Juni dieses Jahres wurden in den Ant- und Haftungsrisiken überzogen werden und von Wettbe- worten auf meine Fragen im Finanzausschuss die dama- werbsverzerrungen betroffen sind. Ziel einiger Täter war ligen Aussagen allerdings relativiert. Vor dem Hinter- es, eine marktbeherrschende Stellung zu erlangen, um so grund einer laufenden Machbarkeitsstudie – auch darüber war hier schon die Rede – teilte die Staatssekre- die Konkurrenz auszuschalten. Eine solche Entwicklung tärin mit, dass das Cross-Check-Verfahren voraussicht- schädigt unsere Volkswirtschaft und beeinträchtigt die lich nicht umsetzbar sei. Insgesamt kam der Finanzaus- Steuermoral, denn der Ehrliche meint, wieder einmal der schuss einvernehmlich zu dem Ergebnis, dass noch Dumme zu sein. erheblicher Beratungsbedarf im Zusammenhang mit (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie dem Umsatzsteuerbetrug besteht. des Abg. Horst Kubatschka [SPD]) Der vorliegende FDP-Antrag ist danach weder beson- Zu dem Thema des Umsatzsteuerbetrugs habe ich be- ders originell, reits mehrmals Stellung bezogen. In meiner Rede vom (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 26. September 2003, also vor fast genau einem Jahr, DIE GRÜNEN – Kerstin Andreae [BÜND- habe ich in diesem Hause dargelegt, dass es meines Er- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Da muss man klat- achtens lohnenswert sein dürfte, zur Bekämpfung des schen!) Umsatzsteuerbetrugs über die Ausweitung der Istbe- steuerung nachzudenken. Wir haben dazu vor kurzer noch berücksichtigt er den gegenwärtigen Stand der Dis- Zeit auch Ansätze vorgelegt. Damals ging es mir übri- kussion. Es wäre besser gewesen, das Ergebnis der 11562 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Peter Rzepka (A) laufenden Machbarkeitsstudie abzuwarten; denn die Pro- Aus den vorgenannten Gründen scheint eine Zustim- (C) bleme liegen in der Kontrolle, ohne die eine Umstellung mung zu dem FDP-Antrag zum gegenwärtigen Zeit- keinen Sinn machen würde, wenn das Ziel, den Umsatz- punkt nicht möglich. Lassen Sie uns gemeinsam unsere steuerbetrug wirksam zu bekämpfen, erreicht werden Überlegungen zur Bekämpfung des Umsatzsteuerbe- soll. trugs weiter vorantreiben! Nehmen wir uns aber anderer- seits auch die Zeit, einen Systemwechsel erst dann (Beifall bei der CDU/CSU) durchzuführen, wenn alle damit zusammenhängenden In der Beschlussvorlage der FDP-Fraktion heißt es dann Fragen und Probleme hinreichend geklärt sind. auch, dass der Anspruch auf Vorsteuerabzug erst dann (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- entstehen solle, wenn der Unternehmer eine Rechnung neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE nachweislich gezahlt habe – nachweislich. Die FDP- GRÜNEN) Fraktion bleibt uns aber mit ihrem Antrag eine Antwort auf die Frage schuldig, wie diese Nachweise in der Pra- Die Union fordert die Bundesregierung deshalb er- xis erbracht und geprüft werden sollen. neut auf, das bestehende System betrugssicher zu ma- chen, das geltende Recht konsequent anzuwenden und Es geht also um die praktische Durchführung und die die jetzt möglichen Kontrollen durchzuführen. Es wird ist nach meiner Einschätzung nur mit erheblichem büro- notwendig sein, die Finanzverwaltung dafür mit besser kratischen Aufwand in der Finanzverwaltung und in geschultem und zusätzlichem Personal sowie mit neues- den Unternehmen zu leisten. ter Technik auszustatten. Möglicherweise macht es auch (Ortwin Runde [SPD]: Das sehen wir ähnlich!) Sinn, eine auf Bundesebene angesiedelte Ermittlertruppe einzurichten, wie sie die Deutsche Steuer-Gewerkschaft Die „Financial Times Deutschland“ zitiert in einem Be- gefordert hat. Sie könnte länderübergreifend effektiv ge- richt vom 20. September einen Datenexperten, der min- gen international operierende Banden vorgehen. destens 1 000 zusätzliche Beamte in der Finanzverwal- tung für erforderlich hält. 60 Millionen Kontrollen Die Bundesregierung ist weiterhin aufgefordert, mit müssten, wenn Rechnungen ab 5 000 Euro geprüft wür- Nachdruck an einem bundeseinheitlichen EDV-Risiko- den, im Jahr bewältigt werden. Erwartet wird eine rie- management zur Unterstützung der Umsatzsteuersach- sige Bugwelle von Zweifelsfällen, die die Finanzämter bearbeitung und an einer Ergänzung des bestehenden au- vor sich herschieben würden. Auch aufseiten der Unter- tomatisierten Besteuerungsverfahrens im Hinblick auf nehmen wird – nach allem, was wir wissen – mit einer die Umsatzsteuer zu arbeiten. Entscheidend ist, dass ge- erheblichen Komplizierung der Buchhaltung gerechnet, handelt wird und dass die personellen Ressourcen der Fi- sodass zusätzliche Personalkapazitäten vorgehalten wer- nanzverwaltung auf diese wichtige Aufgabe konzentriert (B) den müssten, um diese Aufgaben zu bewältigen. werden. (D) Dass die Umstellung auf die Istbesteuerung im Übri- Unseres Erachtens könnte die Finanzverwaltung bei gen nicht nur Liquiditätsvorteile für die Unternehmen der Bekämpfung des Umsatzsteuerbetrugs wesentlich mit sich bringt – wie Sie von der FDP offenbar meinen –, wirksamer sein, wenn sie durch eine entscheidende Ver- sondern auch zu Liquiditätsnachteilen führen kann, einfachung des Steuerrechts von anderen Aufgaben möchte ich nicht unerwähnt lassen. Dies gilt für die Un- entlastet würde. Denn schon jetzt sind die Fehlerquoten ternehmen, die bisher Vorsteuerüberhänge geltend ma- in den Finanzämtern Untersuchungen zufolge, die wir chen können. alle kennen, unerträglich hoch. Deshalb brauchen wir endlich eine umfassende Reform des deutschen Steuer- Schließlich müssten alle Unternehmen zur Durchfüh- rechts, wie sie von den Unionsparteien vorgeschlagen rung des Cross-Checks zur monatlichen Abgabe von worden ist. Helfen Sie mit, unser Steuersystem einfa- Umsatzsteuervoranmeldungen verpflichtet werden, was cher, unbürokratischer und damit gerechter zu machen! bei Unternehmen, die bisher nur jährlich oder viertel- Sie entlasten dadurch auch die Finanzbeamten und er- jährlich die Umsatzsteuer anmelden müssen, zu zusätzli- möglichen es ihnen, sich verstärkt den wichtigen Aufga- cher Bürokratie führen und damit den sonst immer be- ben wie der Bekämpfung des Umsatzsteuerbetrugs zuzu- tonten Intentionen der FDP zuwiderlaufen würde. wenden. Ich schlage deshalb vor, dass wir erst einmal abwar- (Beifall bei der CDU/CSU) ten, zu welchen Ergebnissen die Bund-Länder-Kommis- sion gelangt Während man in unseren Nachbarstaaten, beispiels- (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- weise in den Niederlanden, an ausgefeilten Risikoanaly- NEN]: Das ist ein sehr guter Vorschlag, den sesystemen gearbeitet hat, mit denen man selbst Schein- wir unterstützen!) firmen bei uns in Deutschland aufdecken und damit unseren Ermittlungsbehörden Anhaltspunkte für ein Tä- und ob die Kommission einen praktikablen Lösungsweg tigwerden geben kann, ist in der Bundesrepublik nichts aufzeigt. Zudem sollten wir unsere Vorgehensweise mit oder zu wenig geschehen. Das ist Ihnen, Frau Staatsse- der EU-Kommission und den europäischen Partnern ab- kretärin, immer wieder durch die Berichte des Bundes- stimmen; denn die Systemumstellung setzt die Zustim- rechnungshofes bestätigt worden. Dies hat der Bundes- mung der EU-Kommission voraus, wie Sie wissen und rechnungshof auch schon im Jahre 2000 beanstandet. offenbar auch in Ihrem Antrag voraussetzen und unter- Dennoch haben wir von einer gesetzgeberischen Maß- stellen. nahme abgesehen, die unseres Erachtens nur zusätzliche Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11563

Peter Rzepka (A) Bürokratie mit sich bringen würde, aber das Thema an die Daten miteinander abgeglichen haben, ist der Steuer- (C) seiner eigentlichen Wurzel nicht bewältigen könnte. kriminelle schon weg. Karussellgeschäfte werden getä- tigt, um Vorsteuern zu erschleichen. Die Bundesrepublik Deutschland scheint sich zu ei- nem Eldorado für Umsatzsteuerbetrüger zu entwickeln. Der Betrug muss mit allen Mitteln bekämpft werden. Es gibt Befürchtungen, dass sich durch die Erweiterung Jetzt ist natürlich die Frage: Was sind die richtigen Mit- der EU neue Betätigungsfelder für Umsatzsteuerhinter- tel? Aus unserer Sicht gehört dazu die internationale ziehung eröffnen, wodurch zusätzliche Risiken für den Zusammenarbeit. Da tut sich viel. Seit dem 1. Mai, deutschen Fiskus entstehen können. also dem EU-Beitritt, sind die neuen EU-Staaten in Pro- gramme eingebunden, die EU-weit laufen. Davon ver- Einerseits ist ein Rechtsstaat, der gegen Steuerbetrug, sprechen nicht nur wir uns Wirkung, sondern auch die der zu Steuerausfällen in zweistelliger Milliardenhöhe EU-Kommission betont immer wieder, dass der Betrug führt, nicht effizient vorgeht, unglaubwürdig. Anderer- dann eingedämmt werden kann, wenn die Mitglieder ko- seits dürfen aber die Maßnahmen, die wir gegen derar- operieren. tige Betrügereien anwenden, nicht unverhältnismäßig sein. Wir werden den Antrag der FDP-Fraktion im Fi- Ich möchte auf die Idee einer Bundessteuerverwal- nanzausschuss intensiv beraten. Die Union bietet jede tung eingehen. Wir unterstützen explizit den Vorschlag, Hilfe bei einer effektiven Bekämpfung des Umsatzsteu- der im Finanzministerium entwickelt wird, weil auch wir erbetruges an. Schon heute einen Systemwechsel bei der glauben, dass dieser organisierte Steuerbetrug durch die Umsatzsteuer zu beschließen ist aus unserer Sicht jedoch streng getrennten Finanzverwaltungen der Länder be- nicht verantwortbar. günstigt wird. Wenn die Daten der einzelnen Länderfi- Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. nanzverwaltungen nicht kompatibel und damit nicht aus- tauschbar sind, dann hat das Konsequenzen, die sich (Beifall bei der CDU/CSU) auch in solchen Betrugstatbeständen äußern. Zumindest was den Umsatzsteuerbereich angeht, ist zu prüfen, ob Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: diese Verwaltungskompetenz auf der Bundesebene nicht Das Wort hat die Kollegin Kerstin Andreae vom besser aufgehoben wäre. Da unterstützen wir das Vorge- Bündnis 90/Die Grünen. hen des Ministeriums. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Die FDP schreibt in ihrem Antrag: Herren! Trotz eines jährlichen Umsatzsteuerbetrugs in Der Missbrauch … kann erheblich eingeschränkt (B) der Größenordnung von 20 Milliarden Euro sieht es so werden, da der Unternehmer nachweisen muss, (D) aus, als wären die Abgeordneten dieses Hauses an dieser dass er eine Rechnung bezahlt hat. Thematik nicht sehr interessiert. Wir sind hier unter uns, wie man auch im Finanzausschuss unter sich ist. Viel- Aber eine Rechnung und ein Kontoauszug sind in Zeiten leicht liegt das daran – Kollege Rzepka hat das auf be- von Onlinebanking genauso betrugsanfällig wie sonst ir- eindruckende Weise dargelegt –, dass über diesen Antrag gendetwas. Das heißt, wir brauchen ein Kontroll- und im Augenblick noch ohne ernsthaften Hintergrund, über Prüfverfahren; ohne das geht es nicht. Es geht nicht den wir seitens des BMF noch unterrichtet werden sol- durch Stichproben, es geht nicht nach dem Motto „hier len, diskutiert wird. Deswegen sage ich gleich zu Be- mal prüfen, da mal prüfen“. ginn, dass er auch von uns abgelehnt wird. Zu welchen Ergebnissen das BMF auch immer Richtig ist aber: Die Finanzierung staatlicher Aufga- kommt, diese Ergebnisse brauchen wir, um in dieser ben soll gerecht erfolgen. Dafür ist nicht nur die Steuer- Frage voranzukommen. Ich stimme ja mit Ihnen überein, gesetzgebung verantwortlich, sondern das muss auch dass die Istbesteuerung aus der Sicht der Unternehmen durch die tatsächliche Um- und Durchsetzung des Steuer- durchaus interessant und von Vorteil ist. Nur, ohne ein rechts durch die Finanzverwaltungen erfolgen. Der jährli- Prüfverfahren wollen wir das Richtige und tun das Fal- che Umsatzsteuerbetrug in Höhe von 20 Milliarden Euro sche, weil wir die Betrugsbekämpfung in keiner Weise entspricht ungefähr dem Fünffachen des jährlichen Erb- angehen. schaftsteueraufkommens. Dabei handelt es sich also um (Peter Rzepka [CDU/CSU]: Im FDP-Antrag eine enorme Größenordnung. Der durch Umsatzsteuerbe- steht: „nachweislich“!) trug entstehende volkswirtschaftliche Schaden ist enorm. Gäbe es diesen Betrug nicht, würde das deutsche Defizit Insofern ist es absolut richtig, sich die Zeit zu lassen, die deutlich unter dem Maastricht-Kriterium von 3 Prozent wir brauchen, um das zu prüfen. Im Moment gibt es liegen; das muss man ja auch sehen. auch noch keine geeignete Software. Wir werden darü- ber zusammen intensiv diskutieren; wir liegen ja nicht Das Ausmaß der kriminellen Energie, die hier aufge- weit auseinander. bracht wird, ist enorm. Eine Aufzählung macht deutlich, wo die Kontrolle und vor allem Zusammenarbeit – natio- Unser Fazit: Umstellung der Besteuerung – ja. – Diese nal und international – vonnöten ist, um wirksam einzu- Zielsetzung ist unserer Ansicht nach richtig. Gleichzeitig greifen: Wir bekommen fingierte Rechnungen. Schein- brauchen wir ein effizientes Kontrollverfahren. Das eine firmen werden in dem einen Bundesland gegründet und geht nicht ohne das andere. Wir müssen die interna- in dem anderen sofort wieder abgemeldet; bis die Länder tionale Zusammenarbeit ebenso wie die nationale 11564 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Kerstin Andreae (A) Zusammenarbeit verbessern. In diesem Zusammenhang weil wir alle ja etwas gegen lange Verwaltungsverfahren (C) müssen wir eine Verlagerung von Kompetenzen auf die haben. Künftig müssen diese innerhalb eines Monats ge- Bundesebene prüfen. Wir unterstützen das Ministerium klärt sein. Wir stellen die Informationen für alle kosten- in seinem Vorgehen und halten die effektive und wirk- frei zur Verfügung und wir verpflichten die Bundesver- same Bekämpfung des Umsatzsteuerbetrugs für eine der waltung, solche Informationen auch unter Nutzung des ganz großen Aufgaben, die wir in der kommenden Zeit Internets und anderer Medien umfassender zu verbrei- haben werden. Ich bin mir sicher, dass wir da gut zusam- ten. menarbeiten können, aber mit der nötigen Zeit und Ruhe. Durch den Gesetzentwurf setzen wir die Umweltin- Vielen Dank. formationsrichtlinie der Europäischen Union rechts- sicher um. Damit wollen wir vermeiden, dass sich das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wiederholt, was der alten Bundesregierung 1998 passiert und bei der SPD) ist, als der Europäische Gerichtshof ihr Umweltinforma- tionsgesetz gestoppt hat. Deswegen haben wir auch alle Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Anliegen der Bundesländer, die sich gegen die Richtlinie Ich schließe die Aussprache. gewandt haben, leider – oder Gott sei Dank – nicht auf- nehmen können. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/2977 an die in der Tagesordnung aufge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- sowie bei Abgeordneten der SPD) verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung In einem Punkt sind die Länder aber noch in der beschlossen. Pflicht: Sie müssen nämlich genau das gleiche Recht und Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: die Richtlinie bei ihnen in ein Landesgesetz umsetzen. Hier stehen wir wieder einmal vor dem Problem, dass Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- 16 Bundesländer das Gleiche machen. Ich würde mir gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuge- wünschen, dass wir diesen Zustand, 16-mal das Gleiche staltung des UIG zu machen – 17-mal, wenn man den Bund hinzunimmt –, – Drucksachen 15/3406, 15/3680 – beenden. Eine einheitliche Kompetenz für die Umwelt Überweisungsvorschlag: sollte ein gemeinsames Anliegen als Ergebnis der Bera- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) tungen der Föderalismuskommission sein, um solche bü- Innenausschuss rokratischen Verfahren bei der Umsetzung europäischen Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Rechts zu unterbinden. Landwirtschaft (B) Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die und bei der SPD) Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Ich glaube, man täte dem Gesetz Unrecht, wenn man keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. es über das Verfahren, durch das es zustande gekommen Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- ist, beurteilen würde. Wir brauchen dieses lebendige Ge- ner dem Bundesminister Jürgen Trittin das Wort. setz für Transparenz. Es führt dazu, dass sich die Bürger qualifiziert und erfolgreich an öffentlichen Entscheidun- gen beteiligen können und dass sie schon im Vorfeld, Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur- also bereits während der Entscheidungsfindung, Einfluss schutz und Reaktorsicherheit: nehmen können. Hier kommt es zu einer Wirkung auf Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie sieht das Verwaltungshandeln: Eine gut informierte Öffent- eigentlich die Kosten-Nutzen-Rechnung für die weitere lichkeit spornt die Verwaltung nämlich zu anspruchsvol- Vertiefung der Elbe aus und wie verändert sie sich, wenn lem Handeln an. Für mich ist der Zugang zu Informatio- man den Jade-Weser-Port in Betrieb nimmt? Dazu gibt nen ein Schlüssel zu dem, was wir in internationalen es eine Studie im Verkehrsministerium. Künftig wird Verfahren oft Good Governance nennen. Wir wollen das diese Studie für jedermann einsehbar sein. umsetzen. Je informierter ein Bürger ist, desto umwelt- Ich nenne ein anderes Beispiel. Was steht in dem gerechter wird er sich verhalten. Wer teilhat, kooperiert Pflege- und Entwicklungsplan – ein schrecklicher Be- und gehorcht nicht; er nimmt eben teil. griff – für das Naturschutzvorhaben Spreewald? Das Insofern wird durch dieses Gesetz Schluss mit dem können Sie schon heute im Bundesamt für Naturschutz Missstand gemacht, dass für die Umwelt engagierte Bür- nachlesen. Künftig wird das Bundesamt verpflichtet ger vor den verschlossenen Türen des Amtsgeheimnisses sein, diesen Pflege- und Entwicklungsplan im Internet stehen. Mit dem Umweltinformationsgesetz setzen wir zu veröffentlichen. Das ist eine Folge des Umweltinfor- auf ein neues Verständnis von Verwaltung. Wir setzen mationsgesetzes, durch das der Zugang der Bürgerinnen auf transparente Dienstleistung anstatt auf Fortschrei- und Bürger zu Umweltinformationen verbessert wird. bung des alten preußischen Amtsgeheimnisses. Künftig gilt: Wir erweitern den Kreis der informa- Ich diesem Sinne wünsche ich uns allen produktive tionspflichtigen Stellen. Nicht nur das Umweltministe- Beratungen. rium, sondern auch das Verkehrsministerium und das Wirtschaftsministerium müssen also umweltrelevante (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Informationen herausgeben. Wir verkürzen die Frist, und bei der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11565

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (C) Das Wort hat jetzt der Kollege Eberhard Gienger von Durch den vorliegenden Gesetzentwurf werden alle der CDU/CSU-Fraktion. Stellen der öffentlichen Verwaltung des Bundes zur (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Herausgabe von Umweltinformationen verpflichtet, unabhängig davon, ob sie im Umweltschutz spezielle Aufgaben wahrnehmen. Die Veröffentlichung von Um- Eberhard Gienger (CDU/CSU): weltinformationen versetzt den Bürger in die Lage, in Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Ergänzung der Aufsichtstätigkeit von Behörden Um- Kolleginnen und Kollegen! Politisches Handeln setzt in weltbelastungen zu erkennen und gegebenenfalls dage- einer Demokratie Urteilsfähigkeit des Bürgers voraus. gen vorzugehen. Bürger werden nach diesem Konzept zu Davon kann aber nur dann ausgegangen werden, wenn Sensoren und Partnern und bekommen die Möglichkeit, dieser die Möglichkeit hat, sich umfassend über staatli- Aufsichtsbehörden zu kontrollieren. Die frühzeitige Ein- che Zusammenhänge zu informieren. Durch die Neufas- beziehung von Bürgerinnen und Bürgern in umweltrele- sung des Umweltinformationsgesetzes wird der Zugang vante Planungsprozesse dient dem möglichst frühen Er- zu Umweltinformationen für Bürgerinnen und Bürger kennen und Moderieren von Konflikten. deutlich verbessert. Der Informationszugang wird durch die Novelle auf (Beifall des Abg. Winfried Hermann [BÜND- solche Daten erweitert, die die Behörden zwar nicht in NIS 90/DIE GRÜNEN]) den Akten haben, von Dritten aber anfordern können. So werden alle Stellen der öffentlichen Verwaltung Dies ist im Grunde zu begrüßen. Damit sind alle Daten des Bundes zur Herausgabe von Umweltinformationen erfasst, die in den Betrieben durch verbindliche Eigen- verpflichtet, unabhängig davon, ob sie nun im Bereich messungen entstehen, der Behörde aber nur auf Verlan- des Umweltschutzes spezielle Aufgaben wahrzunehmen gen herausgegeben werden müssen. In diesen Fällen haben. Der Informationsbegriff wird wesentlich erwei- richtet sich der Informationsanspruch weiterhin an die tert. Die Fristen für die Beantwortung von Anfragen zu Behörde, die dann für Auskunftszwecke die Daten bei Umweltinformationen werden halbiert und dürfen in der den Unternehmen anfordert. Regel nur noch einen Monat betragen. In begründeten Zudem wird durch die Neufassung der Begriff der Ausnahmefällen kann es aber auch bis zu zwei Monaten Umweltinformation erweitert. Er bezieht sich zukünftig dauern. unter anderem auch auf Informationen aus den Berei- Außerdem wird die Bundesverwaltung verpflichtet, chen Gentechnik und Verbraucherschutz. umfassender als bisher von sich aus aktiv Umweltinfor- (B) Die Verwaltungen werden verpflichtet, die Bürgerin- (D) mationen zu verbreiten, zum Beispiel indem Verzeich- nen und Bürger durch Benennen von Auskunftspersonen nisse mit Übersichten von zugänglichen Informationen oder Veröffentlichung von entsprechenden Verzeichnis- veröffentlicht oder öffentlich zugängliche Informations- sen beim Stellen von Anträgen zu unterstützen. Die Ver- netze und Datenbanken eingerichtet werden. Das Inter- waltungen werden des Weiteren ausdrücklich darauf hin- net soll hierbei ein schnelles und modernes Medium sein gewiesen, beim Zusammenstellen der Informationen und zunehmend genutzt werden. Um damit wirklich ein darauf zu achten, dass diese aktuell, korrekt und ver- breites Spektrum in der Bevölkerung zu erreichen, müs- gleichbar sind. sen bei der Bereitstellung von Informationen die techni- schen Anforderungen berücksichtigt werden. Minimal- Es gibt aber durchaus noch Probleme. Die Umsetzung voraussetzungen müssen ausreichen, um an diese der EU-Richtlinie ist die eine Sache. Aber muss man Informationen gelangen zu können. denn gleich wieder einen deutschen Sonderweg mit ver- schärften Anforderungen einschlagen? Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden für die Bundesverwaltung die Anforderungen der neu gefassten (Beifall bei der CDU/CSU) Umweltinformationsrichtlinie vom 14. Februar 2003 der Denken Sie an die Spritzmittelverordnung oder auch das Europäischen Gemeinschaft umgesetzt. Mit der Neufas- Kioto-Protokoll. Ich möchte anhand eines Beispiels do- sung des Umweltinformationsgesetzes werden zugleich die kumentieren, dass dieser Gesetzentwurf an manchen Verpflichtungen des von Deutschland 1998 unterzeichneten Stellen zu weit geht. Aarhus-Abkommens über den Zugang zu Umweltinforma- tionen erfüllt. Diese Aarhus-Konvention – nach der däni- (Beifall bei der CDU/CSU) schen Stadt benannt, in der 1998 das Abkommen unter- Bei Art. 1 § 8 Abs. 1 Nr. 1 kann von dem Prinzip der schrieben wurde – ist der erste völkerrechtliche Vertrag, Eins-zu-eins-Umsetzung der Richtlinie nicht mehr die der jeder Person Rechte im Umweltschutz zuschreibt. Rede sein. Während in der Richtlinie der Anspruch auf Informationen und Zugang zu den entsprechenden Infor- den Informationszugang bereits dann abgelehnt werden mationen sind der Schlüssel zur Bürgergesellschaft. Nur kann, wenn die Herausgabe der Umweltinformation ne- wer als Bürger informiert ist, kann auch öffentliche Ent- gative Auswirkungen auf die öffentliche Sicherheit scheidungen mittragen, sich beteiligen, die Verwaltungen hätte, schränkt der hier vorliegende Gesetzentwurf die- wirksam kontrollieren und Entscheidungen nachvollzie- sen Ausschlussgrund ein. Es wird hier ohne Not über das hen. Ich möchte an die Adresse der Bundesregierung sa- Ziel hinaus geschossen. gen, dass ich diese Bürgernähe bei einigen Ihrer Gesetze vermisse. (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Aha!) 11566 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Eberhard Gienger (A) Die Neuregelung verlangt, dass sich die Bekanntgabe (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie (C) der Umweltinformationen auf genau definierte bedeut- des Abg. Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/ same Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit nachteilig DIE GRÜNEN]) auswirken muss, wie zum Beispiel die internationalen Beziehungen oder die Verteidigung. Statt dieser stärke- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ren Einschränkung sollte man, wie ich finde, den Wort- Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Bierwirth von laut der Richtlinie übernehmen und das Prinzip der Eins- der SPD-Fraktion. zu-eins-Umsetzung anwenden. (Beifall bei der CDU/CSU) Petra Bierwirth (SPD): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Ich stelle hier auch noch die Frage nach den Kosten. ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Innerhalb der Sie gehen in dem vorliegenden Gesetzentwurf nur vage Europäischen Union ist in den vergangenen Jahren viel auf eventuelle Kosten ein. Wenn ich mir den Aufwand dafür getan worden, die Mitwirkungsmöglichkeiten der für die Bereitstellung der Informationen, vor allem die Bürgerinnen und Bürger und Nichtregierungsorganisa- Digitalisierung von Plänen und Entwürfen sowie den tionen im Umweltbereich Schritt für Schritt auszubauen. Aufbau und die Pflege von Datenbanken vorstelle, dann Angefangen hat dieser Trend 1985 mit der UVP-Richtli- sehe ich einen erheblichen finanziellen Aufwand. Wie nie. Wir erinnern uns sicherlich alle an die noch nicht diese Mittel durch Aufgabenbündelungen und Um- allzu lange zurückliegenden Diskussionen im Deutschen schichtungen in stark gekürzten Etats ausgeglichen wer- Bundestag im Zusammenhang mit der Umsetzung der den sollen, kann ich mir momentan beim besten Willen Richtlinie in nationales Recht. Mit dem vorliegenden nicht vorstellen. Entwurf des Umweltinformationsgesetzes wird dieser Trend fortgesetzt. Auch teile ich den Optimismus der teilweisen Der Entwurf eines Umweltinformationsgesetzes dient Refinanzierbarkeit durch die Kostenregelung nicht. Wie der Umsetzung der Umweltinformationsrichtlinie der soll ein Teil der nicht zu beziffernden Ausgaben mit un- EU vom Januar 2003 über den Zugang der Öffentlich- bekannten Einnahmen ausgeglichen werden? Diesen keit zu Umweltinformationen und der weiteren Umset- Ansatz finde ich gewagt. Hier sollten mehr Zahlen und zung der Anforderungen der Aarhus-Konvention in Ge- Fakten auf den Tisch. Dort steht zum Beispiel, dass bei meinschaftsrecht. Die Aarhus-Konvention ist 1998 von der „Erteilung einer umfassenden schriftlichen Auskunft der Bundesregierung gezeichnet worden. In der Koali- auch bei der Herausgabe von Duplikaten“ Gebühren bis tionsvereinbarung von 2002 wurde ihre zügige Ratifizie- zu 250 Euro anfallen oder bei der Erteilung einer schrift- (B) rung festgelegt. Ich denke, dass wir mit dem vorliegen- (D) lichen Auskunft bei Herausgabe von Duplikaten, die im den Entwurf sehr gut im Zeitplan liegen. Einzelfall außergewöhnlich aufwendige Maßnahmen er- fordern, Gebühren bis zu 500 Euro anfallen. Ich finde, Deutschland hat auf dem Gebiet der Information über hier ist der Willkür der Ämter Tür und Tor geöffnet. Da Umweltdaten gegenüber den Bürgern allerdings heute schon einiges vorzuweisen. Ich denke in diesem Zusam- muss eine andere Kostenregelung herbeigeführt werden. menhang zum Beispiel an das Internetportal gein.de. (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ihre Bedenken, dass es kostenaufwendig ist, digitali- NEN]: Das ist Ländersache!) sierte Pläne ins Internet zu stellen, teile ich nicht. In dem Internetportal gein.de können Sie schon heute auf solche Es ist noch nicht einmal die genaue Zuständigkeit Pläne zurückgreifen. Das Umweltinformationsnetz be- zwischen Bund und Ländern geklärt, wer konkret für steht seit Juni 2000. Hinter diesem Angebot stehen über die Regelung der Informationspflicht für bestimmte pri- 250 000 einzelne Webseiten und neun Schnittstellen zu vate Stellen unter Kontrolle des Bundes zuständig ist. Datenbanken. Es ist von Bund und Ländern unter der Diese Zersplitterung beeinträchtigt den Anspruch des Hoheit des Umweltbundesamtes gemeinsam erarbeitet nach Informationen suchenden Bürgers. Die Regelung worden. Wenn Sie dieses Informationsnetz näher be- hinsichtlich der auskunftspflichtigen Privatunternehmen, trachten, dann werden Sie erkennen, dass kein allzu gro- etwa der Telekom als Betreiberin von Mobilfunksende- ßer Arbeitsaufwand erforderlich ist, um dem Umweltin- masten, soll laut Gesetzentwurf selbst dann ausschließ- formationsgesetz gerecht zu werden. lich den Ländergesetzgebern überlassen bleiben, wenn Ein weiteres Beispiel ist das Schadstofffreisetzungs- sie der Kontrolle der Bundesbehörde unterliegen. Die register, mit dem der Öffentlichkeit Emissionsberichte Regelungskompetenz für die Telekom liegt aber beim von Unternehmen zur Verfügung gestellt werden. Für Bund. Es ist mir aus diesem Grunde nicht ganz begreif- den Bürger ist es interessant, zu erfahren – das kennen lich, einen solchen Fall der Ländergesetzgebung zu un- wir auch aus unserer eigenen Arbeit –, welche Schad- terwerfen. stoffe in welcher Konzentration aus dem Schornstein des Unternehmens von nebenan ausgestoßen werden. In dem Gesetzentwurf stecken gute Ansätze. Wir von der CDU/CSU werden dem Gesetzentwurf gerne näher Vergleicht man das bereits bestehende Umweltinfor- treten. Es besteht aber nach wie vor erheblicher Diskus- mationsrecht mit der neu gestalteten Gesetzgebung, so sionsbedarf. fallen einige Verbesserungen auf: Alle Stellen der Ver- waltungen des Bundes werden zur Herausgabe von Um- Schönen Dank. weltinformation verpflichtet. Das gilt also nicht mehr Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11567

Petra Bierwirth (A) nur für das Umweltministerium, sondern beispielsweise Ich möchte nun auf einen Punkt eingehen, den Herr (C) auch für die Verkehrsbehörden. Die Fristen für die Be- Gienger angesprochen hat und den Frau Bierwirth dann antwortung von Anfragen der Bürgerinnen und Bürger – zu Recht – korrigiert hat, nämlich die Informations- werden verkürzt. Die Anfragen müssen künftig inner- pflicht privater Stellen. Nach einem übernommenen halb von einem Monat beantwortet werden. Des Weite- Änderungswunsch des Bundesrates richtet sich der An- ren werden die Bundesverwaltungen verpflichtet, Um- spruch der Bürgerinnen und Bürger nun nicht nur an alle weltinformationen ausführlicher als bisher zum Beispiel Stellen der Bundesverwaltung. Informationspflichtig auf ihren Webseiten darzustellen und zu verbreiten. Die sind vielmehr auch Unternehmen, die umweltbezogene Auskunftspflichten von Landesbehörden werden in lan- Dienstleistungen erbringen und der Kontrolle des Bun- desrechtlichen Vorschriften zur Umsetzung der neuen des unterliegen. Hier liegt die Krux in der Formulierung. Umweltinformationsrichtlinie geregelt. Was bedeutet „umweltbezogen“? Aus dem geänderten Gesetzestext erschließt sich nicht klar genug, welche Auch der Bundesrat hat schon sehr intensiv über den Unternehmen denn das konkret sind. Sind Telekom und Entwurf des Umweltinformationsgesetzes diskutiert. Die die Deutsche Bahn erfasst oder nicht? Die jetzt gefun- Länderkammer hat vorgeschlagen, die Informations- pflicht auf private Stellen, die unter der Kontrolle des dene Gesetzesformulierung ist zu unbestimmt und führt Bundes stehen, auszudehnen. Damit werden – das wurde zu Rechtsunsicherheit. Sie muss deshalb präzisiert wer- bereits angesprochen – in Zukunft auch die Telekom und den. die Deutsche Bahn auskunftspflichtig in Bezug auf Um- (Beifall bei der FDP) weltbelange. Wir begrüßen das sehr und unterstützen diesen Vorstoß der Bundesländer. Auch für die Neufassung des UIG gilt das, was wir schon bei anderen Richtlinienumsetzungen gesagt ha- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ben: kein deutscher Sonderweg, sondern eine Eins-zu- DIE GRÜNEN) eins-Umsetzung europäischer Vorgaben, keine zusätz- Ohne die Bereitstellung zuverlässiger Daten und wis- lichen Belastungen durch bürokratische Regelungen, senschaftlich fundierter Informationen ist es für die Bür- sondern schlanke und effiziente Lösungen. Diesen Vor- gerinnen und Bürger nicht möglich, sich ein eigenes Ur- gaben wird der Gesetzentwurf noch nicht in allen Punk- teil über den Zustand ihrer Umwelt zu bilden. Das neue ten gerecht. Ein Beispiel: Nach dem Entwurf liegt eine Umweltinformationsgesetz schafft die Voraussetzungen Ablehnung des Antrages auch dann vor, wenn der An- dafür; denn nur wer Informationen über den Zustand der tragsteller auf einen anderen Informationszugang ver- Umwelt bekommt, kann sich aktiv für den Schutz der wiesen wird, zum Beispiel auf eine Internetdatenbank. Umwelt einsetzen. Wir wissen aus unserer Arbeit, dass Die Folge ist, dass der Antragsteller einen Anspruch auf (B) (D) die Bürgerinnen und Bürger von diesem Recht sehr aktiv ein Vorverfahren erhält, das in einem gerichtlichen Ver- Gebrauch machen. fahren überprüft werden kann, obwohl er die verlangten Informationen bekommt, wenn auch auf einem anderen Der leichte Zugriff der Öffentlichkeit auf umweltrele- Zugangsweg. Eine solche Regelung wird von der EU- vante Daten und Informationen bildet meiner Ansicht Richtlinie nicht verlangt und belastet die Verwaltung nach eine unverzichtbare Grundlage für eine bürger- durch ein unnötiges Verfahren. nahe und transparente Umweltpolitik. Ich freue mich deshalb auf die Diskussion über den vorliegenden Ge- (Beifall bei der FDP) setzentwurf im Ausschuss. Ich denke, wir werden das Ganze zu einem positiven Abschluss bringen. Die FDP begrüßt die Weiterentwicklung des Umwelt- informationsgesetzes. Gerade die Stellungnahme des (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Bundesrates hat aber einige Fragen aufgeworfen. Über DIE GRÜNEN) diese sollten wir im weiteren Gesetzgebungsverfahren konstruktiv diskutieren. Wir, die FDP, sind dazu gerne Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: bereit. Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Kauch von (Beifall bei der FDP) der FDP-Fraktion.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Michael Kauch (FDP): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der Ich schließe die Aussprache. Neugestaltung des Umweltinformationsgesetzes wird Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen das UIG nicht nur an die Vorgaben der EU-Richtlinie auf den Drucksachen 15/3406 und 15/3680 an die in der angepasst. Es wird vielmehr auch ein Schritt zur Umset- Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. zung der Aarhus-Konvention getan. So wird die Verwal- Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann tung verpflichtet, die Verbreitung von Umweltinforma- sind die Überweisungen so beschlossen. tionen aktiv zu betreiben, und zwar gerade durch den Einsatz moderner elektronischer Mittel. Die Öffentlich- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b auf: keit kann somit umweltrelevante Entscheidungen wirk- samer als bisher beurteilen. Wir Liberalen begrüßen a) Beratung des Antrags der Abgeordneten diese Zielsetzung ausdrücklich. Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, Katherina 11568 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Reiche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Ich möchte mich auf ein paar Schwerpunkte unseres An- (C) der CDU/CSU trags beziehen. Gesamtkonzept zur Abwehr bioterroristischer Terrorangriffe mit biologischen, chemischen oder ato- Gefahren vorlegen maren Stoffen – mit so genannten schmutzigen Bom- ben – sind Anschläge von mindestens bundesweiter Di- – Drucksache 15/3487 – mension, die eine enorme Zahl von Menschen betreffen Überweisungsvorschlag: können. Das muss besonders bedacht werden. Innenausschuss (f) Auswärtiger Ausschuss Erstens. Es bedarf zwingend eines bundesweit ein- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit heitlichen Führungssystems für alle Rettungs- und Verteidigungsausschuss Hilfskräfte, und zwar inklusive der Bundeswehr. Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (Gerold Reichenbach [SPD]: Fangen Sie mal Ausschuss für Bildung, Forschung und in Bayern an!) Technikfolgenabschätzung Es bedarf daher eines gemeinsamen Einsatzzentrums des b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Max Bundes und der Länder, damit wirklich alle Kräfte unse- Stadler, Jörg van Essen, Gisela Piltz, weiterer Ab- res Landes optimal und ohne Koordinierungsverluste geordneter und der Fraktion der FDP zum Einsatz kommen können. Wir haben schon in einem Evaluierungsbericht zu dem Gesetz zur Be- anderen Zusammenhang darüber gesprochen, etwa bei kämpfung des internationalen Terrorismus der Flutkatastrophe. Dort gab es Tausende von helfenden vorlegen Händen, aber es gab zu viele Köpfe. Das könnte auch be- sonders auf solche kaum denkbaren Großschadensereig- – Drucksache 15/3386 – nisse zutreffen. Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) (Gerold Reichenbach [SPD]: Deshalb müssen Auswärtiger Ausschuss sich die Länder bewegen!) Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Das angesprochene Einsatzzentrum muss als überre- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe gionaler, gemeinsamer Führungsstab die notwendigen, gut ausgestatteten Arbeitsplätze und Führungsmittel vor- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die halten, die zum gemeinsamen Einsatz erforderlich sind: Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre alle Kräfte des Bundes, zum Beispiel der Bundeswehr, keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. des Bundesgrenzschutzes und des Technischen Hilfs- (B) (D) Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- werks, alle Kräfte der Länder, zum Beispiel Polizeien nerin das Wort der Kollegin Beatrix Philipp von der und Feuerwehren. CDU/CSU-Fraktion. (Gerold Reichenbach [SPD]: Und der Länder! (Beifall bei der CDU/CSU) Wir kommen demnächst auf Sie zurück, Frau Philipp! – Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Mit den Ländern müssen wir anfangen!) Beatrix Philipp (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist kein – Ich finde es toll, dass wir uns hier so einig sind. Ich angenehmes Thema, mit dem wir uns hier befassen müs- kann dann eine kürzere Rede halten und wir können über sen. Die letzten Monate und Jahre haben gezeigt, dass es den Antrag gleich beschließen. Dann hätten wir die Sa- für terroristische Anschläge keine geographische Be- che gleich erledigt. Ich habe aber das Gefühl, dass es grenzung und – was noch bedeutsamer ist – keine mora- doch Unterschiede in den Auffassungen darüber gibt, lischen Hemmschwellen mehr gibt. Der neue Typ des was notwendig ist und vor allem darüber, was bezahlt Terroristen, dem das eigene Leben nichts wert ist, lässt werden muss, wenn man solche Vorbereitungen treffen mögliche Katastrophenszenarien zu wahren Horrorvor- will. Wie immer steckt der Teufel im Detail. Natürlich stellungen werden. Es hat auch nichts mit Panikmache bekommen wir das, was wir brauchen, nicht kostenlos. zu tun, wenn wir im Bundestag das Thema „Bioterror“ Schließlich brauchen wir – neben den Kräften der thematisieren und debattieren. Im Gegenteil: Es ist un- Länder, also den Polizeien und Feuerwehren – natürlich sere Pflicht gegenüber den Menschen in unserem Land, auch die Kräfte der zahlreichen nicht staatlichen Hilfs- offen und ehrlich, aber auch schonungslos sachlich über organisationen, der Malteser, der Johanniter, des Roten die Probleme in diesem Bereich zu sprechen. Kreuzes usw. Wir alle wissen, dass es fast unmöglich ist, terroristi- Die Betonung liegt in diesem Zusammenhang auf sche Anschläge völlig auszuschließen. Wir müssen uns „gemeinsam“. Ausnahmsweise sind für entsprechende aber damit befassen und darauf vorbereitet sein. Wir Regelungen Gott sei Dank keine Grundgesetzänderun- müssen also auch für den Fall eines Terrorangriffs mit gen erforderlich. Das würde uns daran hindern, hier ak- biologischen und chemischen Stoffen gewappnet sein. tiv zu werden. Wir sind es nicht. Deshalb fordern wir die Bundesregie- rung auf, endlich ein Gesamtkonzept vorzulegen. Zweitens. Damit solche sofortigen Reaktionen über- haupt möglich werden, muss zwingend auch ein (Beifall bei der CDU/CSU) bundesweiter Sofortmaßnahmen- und Einsatzplan Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11569

Beatrix Philipp (A) erstellt werden. Dazu gehören die Erstellung von Impf- im Zusammenhang mit der Debatte des Deutschen Bun- (C) plänen, die Ausweisung von Quarantänegebieten, even- destages über die Bundeswehr besprochen wurde, näm- tuell Stufen der Beschränkung der Mobilität der Bevöl- lich dass die Reservelazarette aufgelöst werden sollen, kerung usw. Wenn man in seinem Büro sitzt und nicht dann ist das nicht nur bedauerlich, sondern ausgespro- weiß, wie man sich ablenken soll, kann man einmal im chen fahrlässig. Internet schauen, wie die Amerikaner das auf ihren (Beifall bei der CDU/CSU) Homepages darstellen. Mit unseren Vorbereitungen sind wir meilenweit davon entfernt. Wir haben noch nicht ein- Sechstens. Die Katastrophenschutzkräfte – das alles mal alles bedacht, was dort schon ausgeführt worden ist. wissen wir ja – sind zurzeit nicht ausreichend mit geeig- Drittens. Die aufgestellten Notfallpläne müssen unter neter Schutzausrüstung und Fahrzeugen ausgestattet. Einbeziehung der gemeinsamen Führung mit allen betei- 367 ABC-Erkundungswagen sind zwar bestellt worden – ligten Hilfskräften richtig geübt werden. Auch darüber das ist in Ordnung; das begrüßen wir; wir loben auch ist hier schon einmal gesprochen worden. Erinnern Sie gern einmal die Bundesregierung, sich an die Debatte um das Flugzeug, das über Frankfurt (Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär: flog! Nur durch den Mut der handelnden Person konnte Das ist schön!) – nicht durch Gesetze abgedeckt – das Schlimmste ver- hindert werden. Hilfreich war, dass der Flieger nicht wenn es sich nun gar nicht vermeiden lässt –, aber die per- wirklich Böses im Schilde geführt hat. Großübungen sönliche Schutzausstattung der Helfer, Herr Staatssekretär, sind nicht angenehm, aber sie müssen durchgeführt wer- hat – das wird immer wieder betont – große Mängel. In die- den, um derartige Ereignisse zu simulieren. sem und im kommenden Jahr werden 6 250 Schutzausrüs- tungen beschafft. Herr Reichenbach, 78 000 wären notwen- (Gerold Reichenbach [SPD]: Die werden doch dig. durchgeführt!) (Gerold Reichenbach [SPD]: Wer hat die denn – Herr Reichenbach, Sie sagen immer, dass für alles ge- eingesammelt? Die gab es doch schon mal, sorgt ist. Wenn Ihrer Meinung nach alles in Ordnung ist, Frau Philipp!) dann müssten wir mit solchen Dingen bereits befasst worden sein. Das ist leider nicht der Fall. Selbst wenn Man höre und staune: Die Innenministerkonferenz hat man nachschaut, egal ob auf der Homepage der Bundes- das Ende 2002 auch beschlossen. Jetzt muss es nur noch regierung oder auf der Seite des Robert-Koch-Instituts, gemacht werden. erkennt man nur, dass große Defizite vorliegen. (Beifall bei der CDU/CSU) Großübungen sind also erforderlich, um die Wirk- (B) Auf Jahre hinaus also sind die Katastrophenschutzhelfer (D) samkeit der Planung zu überprüfen und Schwachstellen nicht ausreichend geschützt. offen zu legen. Sie werden doch wohl nicht ernsthaft be- haupten, dass wir auf all das, was wir in unserem Antrag (Gerold Reichenbach [SPD]: Wer hat die denn erwähnen, vorbereitet sind. Streuen Sie den Leuten kei- eingesammelt? Die waren doch schon mal alle nen Sand in die Augen! Bei uns schaffen Sie das schon ausgestattet!) einmal gar nicht, weil wir mit der Sache befasst sind. – Sie können das alles gleich vom Mikrofon aus sagen. Viertens. Bei den Großkatastrophenszenarien, von Quaken Sie nicht immer dazwischen! Das ist ja fürchter- denen wir hier sprechen, ist auch die unverzügliche lich. Warnung und Information der Menschen in unserem Der Bedarf an Fahrzeugen für den Katastrophen- Lande von essenzieller Bedeutung. Die Bundesregierung schutz wird von der Bundesregierung selbst auf 1 363 Fahr- verweist jetzt auf das satellitengestützte Warnsystem. zeuge beziffert. Beschafft werden 95. Wir halten eigentlich von den altbekannten Alarmsire- nen sehr viel mehr. Wir haben solche Sirenen in Düssel- (Irmgard Karwatzki [CDU/CSU]: Das kann dorf wieder eingeführt, weil die Leute eben nicht – Sie nicht wahr sein!) behaupten das – immer in geschlossenen Räumen oder Deswegen finde ich den Zwischenruf: Es ist alles in Ord- auf der Straße anzutreffen sind. Ich kann nur sagen: Die nung! schlichtweg – um es ganz vorsichtig auszudrücken Installation solcher Sirenen ist nicht einmal teuer, aber und mir keine Rüge einzuhandeln – nicht in Ordnung. sie muss angeordnet oder angeregt werden. Es ist jeden- falls notwendig, in diesem Bereich zu handeln. Last, but not least: Die Zusammenarbeit von Kräften des Katastrophenschutzes mit den Streitkräften muss vo- (Beifall bei der CDU/CSU) rangetrieben werden. Frau Tritz – Sie sind im Moment Fünftens. Wir brauchen auch ein Konzept für die Ver- im Präsidium –, Sie haben sich heute Morgen auch zu sorgung einer großen Zahl Schwerstinfizierter oder dieser Frage geäußert. Ich hatte das Gefühl, dass Sie durch chemische Stoffe geschädigter Menschen. Darauf nicht verstanden haben, worum es geht. sind wir nicht vorbereitet. Die Krankenhäuser haben aus (Dr. Max Stadler [FDP]: Vielleicht wird sie unterschiedlichen Gründen Bettenabbau in großer Zahl jetzt noch klug!) betreiben müssen. Wenn man einmal in den einzelnen Städten nachfragt, wie viele Notfallbetten vorgesehen Sie meinten ausführen zu müssen, dass es zweifelhaft ist, sind, dann kann einem angesichts der Zahlen nur angst ob zum Beispiel ein Giftgasanschlag wie in der U-Bahn und bange werden. Wenn es zutrifft, was heute Morgen von Tokio durch das Aufmarschieren einer Armee zu 11570 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Beatrix Philipp (A) verhindern wäre. So blöd sind wir alle nicht! Wenn Sie spielsweise auch Gefährdungen durch bioterroristische (C) sich einmal mit den Folgen auseinander setzen, dann er- Anschläge einbezogen. Die Nachrichtendienste werden kennen Sie, was eigentlich alle wissen – vielleicht kann bei der Erstellung von Gefährdungslagebildern eng ein- das von Ihnen noch dazugelernt werden –: Wir brauchen gebunden und die Ergebnisse werden sogar den Ländern auch die Hilfe der Bundeswehr für die Folgen eines sol- zur Verfügung gestellt. chen Anschlages. (Zuruf von der CDU/CSU: Selbstverständlich- Ich bedanke mich herzlich. keiten!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Es wird also eine umfassende Gefährdungsanalyse er- neten der FDP) stellt. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Wir gehen auch einen Schritt weiter, indem wir das Ana- Fritz Rudolf Körper. lyse- und Informationszentrum des BKA und des BfV in Berlin-Treptow einrichten. Entsprechende Maßnahmen Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär beim Bun- wurden also getroffen. desminister des Innern: Dann, liebe Frau Philipp, habe ich die herzliche Bitte, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will dass Sie zur Kenntnis nehmen, dass es in unserem föde- einen Zielsatz formulieren: Umfassenden Schutz zu bie- ralen System eine Aufgabenteilung zwischen dem Bund ten und Vorsorge zu treffen ist das Ziel und die Aufgabe auf der einen Seite und den Ländern auf der anderen unseres politischen Handelns im Bereich des Zivil- und Seite gibt. Der Bund ist für den so genannten Zivilschutz Katastrophenschutzes. – An dieser Stelle, liebe Kolle- zuständig, die Länder für den so genannten Katastro- ginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, er- phenschutz. Da muss man auch die Mitarbeit und Zu- warte ich eigentlich Applaus. sammenarbeit von den Ländern einfordern. Ich denke, (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des das ist dringend notwendig. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD – Zuruf der Abg. Beatrix – Das war aber ein bisschen wenig. Philipp [CDU/CSU]) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sie haben das Thema Zivilschutzfahrzeuge ange- DIE GRÜNEN) sprochen. Ich kann nur festhalten: Wir haben 650 Zivil- (B) schutzfahrzeuge angeschafft. Darauf ist diese Regierung (D) – Sehr schön. stolz. Wir sagen dem Haushaltsgesetzgeber Dank, dass Es liegen heute zwei Anträge zu diesem Thema vor. er das zugelassen hat. Wir haben eine hervorragende Der FDP-Antrag „Evaluierungsbericht zum Gesetz zur Ausstattung im Bereich von ABC-Erkundungsfahrzeu- Bekämpfung des internationalen Terrorismus vorlegen“ gen. Jetzt kommt es konzeptionell darauf an, diejenigen, ist relativ schnell abzuhandeln. Lieber Herr Stadler, wir die solche Fahrzeuge bedienen, mit entsprechenden werden in Kürze einen solchen Bericht vorlegen. Ich Schutzanzügen auszustatten. Dieser Bereich stellt in die- bitte aber um Verständnis dafür, dass wir ein Stück Ge- sem Haushalt einen Beschaffungsschwerpunkt dar. setzespraxis brauchen, um einen solchen Bericht in guter Liebe Frau Philipp, das ist hervorragend. Danke, dass Qualität vorlegen zu können. Wir alle wissen genau, seit wir das auch umsetzen können. wann diese gesetzlichen Maßnahmen in Kraft sind. Wir (Beifall bei der SPD) brauchen einfach ein Stück praktischer Erfahrung. Das wird erledigt. Wir hätten keine Aufforderung gebraucht. Wir haben weiterhin ein Gemeinsames Melde- und Lagezentrum in Bonn im Rahmen des Bundesamtes für (Dr. Max Stadler [FDP]: Das war schon gut!) Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe eingerichtet. Aber sie schadet auch nicht. Wir machen es trotzdem Ein solches Gemeinsames Melde- und Lagezentrum ist allerdings nur so gut, wie es die Beteiligten zulassen. Zum CDU/CSU-Antrag. Ich will an ein paar Beispie- Deswegen appelliere ich an die Länder, hier auch mitzu- len deutlich machen, dass dieser Antrag eigentlich am machen. Das ist, wie ich denke, ganz wichtig. Geist der Zeit vorbeigeht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD – Widerspruch bei der DIE GRÜNEN) CDU/CSU) Wenn Sie, liebe Frau Philipp, sagen, es werde nicht Man hat nicht zur Kenntnis genommen oder hat nicht zur richtig geübt, dann kann ich Ihnen nur raten, sich einmal Kenntnis nehmen wollen, was in diesem Bereich vor- die Arbeit unserer Akademie für Krisenmanagement, Not- handen ist. Ich mache das nur kurz und stichwortartig. fallplanung und Zivilschutz in Bad Neuenahr-Ahrweiler In dem Antrag wird beispielsweise eine umfassende anzuschauen. Da geht es genau darum, Großübungen Gefährdungsanalyse gefordert. Meine Damen und Her- vorzubereiten und sie sorgfältig umzusetzen sowie alle ren, die Aufgabe einer Analyse möglicher Gefährdungen Beteiligten, nicht nur die auf Bundesebene, bei diesen durch den internationalen Terrorismus wird längst durch Übungen mit einzubeziehen. Das ist, wie ich denke, der das Bundeskriminalamt erledigt. Dabei werden bei- richtige Weg. Dass wir diesen beschreiten müssen, hängt Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11571

Parl. Staatssekretär Fritz Rudolf Körper (A) mit den föderalen Strukturen zusammen. Innerhalb die- Dr. Max Stadler (FDP): (C) ses Systems ist aber genau das der richtige Weg. Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- ren! Die FDP-Fraktion hat in den vergangenen Monaten Wir waren es schließlich, die das Bundesamt für wiederholt eine Evaluierung – so sagt man heute; besser Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe eingerich- wäre es vielleicht, von einer Auswertung zu sprechen – tet haben. Dass dieses Amt nur eine koordinierende der Anti-Terror-Gesetze von Anfang 2002 verlangt. Funktion wahrnehmen kann, liegt doch nicht an der Aber es ist nichts passiert, Herr Staatssekretär. Deswe- Bundesebene, also an der Bundesregierung und am gen haben wir heute einen Antrag gestellt. Ich nehme Deutschen Bundestag, sondern daran, dass die Länder es mit Befriedigung zur Kenntnis, dass Sie aufgrund unse- nicht zugelassen haben, dass uns auch nur ein Hauch res Antrages unserem Anliegen Rechnung tragen wer- operativer Kompetenzen zugestanden wird. den.

(Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Das (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Helmut kann man nicht oft genug sagen!) Heiderich [CDU/CSU] – Silke Stokar von – Das muss man hier sagen und das kann man nicht oft Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!) genug sagen. – Nehmen Sie das doch bitte einmal zur Kenntnis. Ich bin stolz darauf, dass uns zumindest dieser Es müsste eigentlich ein selbstverständliches Anliegen Schritt gelungen ist. sein, dass eine Politik der inneren Sicherheit betrieben wird, die sich auf die Auswertung von Fakten und Tatsa- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ chen stützt und nicht nur auf Meinungen. DIE GRÜNEN) Ich gehe auch noch einmal auf das Technische Hilfswerk (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Ist es ja ein. Schauen Sie sich einmal die Haushaltsansätze an! auch! Das haben wir festgestellt!) Trotz schwierigster Situation der öffentlichen Haushalte Wir haben den Antrag auch deswegen gestellt, weil auf Bundesebene sind wir stolz darauf, dass wir zwar nur wir mit der Art und Weise der Gesetzgebung in der leicht, aber immerhin steigende Haushaltsansätze haben. letzten Zeit nicht zufrieden sein können. Es gibt ganz Dass uns das möglich ist, darauf sind wir stolz. Der Be- eindeutig eine anlassbezogene Gesetzgebung. Wenn weis dafür, dass das richtig ist, wird dadurch erbracht, – bedauerlicherweise – etwas Schlimmes passiert, dann dass das Technische Hilfswerk eine hervorragende Ar- kommt die Gesetzgebungsmaschinerie in Gang und die beit leistet. Auch das muss man hier einmal deutlich ma- Parteien überbieten sich mit Vorschlägen für neue Ge- (B) chen. setze. Das ist die Situation. Wir wollen aber eine ratio- (D) nale und an den Rechtstatsachen orientierte Innenpoli- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tik. Dies zu erreichen ist der tiefere Grund unseres DIE GRÜNEN) Antrags. Letzte Bemerkung: Sie haben das Alarmierungs- bzw. (Beifall bei der FDP – Dr. Cornelie Sonntag- Warnsystem angesprochen. Ich rufe Ihnen da einmal in Wolgast [SPD]: Das kann man doch nicht im Erinnerung, dass es unsere Vorgängerregierung und die Voraus planen, Herr Kollege!) sie tragenden Fraktionen gewesen sind, die zwar die Si- renen abgeschafft, aber nicht für eine Alternative gesorgt Ich darf daran erinnern, wie das Verfahren nach den haben. furchtbaren Anschlägen vom 11. September 2001 gewe- sen ist. Die bis dato umfangreichste Änderung der Ge- (Otto Fricke [FDP]: Mit Ihrer Zustimmung!) setze zur inneren Sicherheit ist von Rot-Grün im Bun- Wir haben für eine Alternative gesorgt. Am 15. Oktober destag mit einem raschen Tempo – weitgehend mit 2001 haben wir ein erstes System installiert. Wir werden Zustimmung der CDU/CSU – verabschiedet worden. weiter daran arbeiten. Dabei hat es sich nicht nur um eine umfangreiche quanti- tative Änderung der Gesetze, sondern auch um eine Leider ist meine Redezeit abgelaufen. Ich könnte Ih- qualitative Änderung unseres Rechtsstaates gehan- nen noch eine Menge Beispiele nennen, die Ihre Kritik delt. Ich sage das nicht bewertend; es ist vielmehr ein widerlegten. Ich glaube aber, auch das bisher Gesagte Faktum. Denn wir sind im Polizeirecht von der klassi- reicht dazu aus. schen Aufgabe der Verfolgung begangener Straftaten oder der Verhütung von konkret bevorstehenden Strafta- Schönen Dank. ten weggekommen hin zu einem auf Prävention ausge- richteten Staat, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Otto Fricke [FDP]: Leider wahr!)

in dem die Polizei immer mehr eingreift, ohne dass es Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: dafür konkrete Anlässe gibt. Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Max Stadler von der FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP) 11572 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Dr. Max Stadler (A) Vielleicht ist dies notwendig. Aber es muss im Zuge Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE (C) einer Evaluierung einmal geklärt werden, was diese GRÜNEN): Maßnahmen gebracht haben Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Eva- luierung der Sicherheitsgesetze – da können Sie sicher (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE sein, Herr Kollege Stadler – liegt unserer Fraktion ge- GRÜNEN]: Sehr richtig!) nauso am Herzen wie Ihnen. und wo vielleicht Lücken sind. Diese Evaluierung muss (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – natürlich ergebnisoffen sein und sie muss jetzt stattfinden. Dr. Max Stadler [FDP]: Fünf Jahre sind zu Denn die Debatten, die damals geführt worden sind, ent- langsam!) wickeln sich fortlaufend weiter. Ich nenne einige Bei- spiele. Deswegen haben wir damals diese Möglichkeit im Ge- setz aufgenommen. Es ist für uns völlig selbstverständ- Erstes Beispiel ist die zukünftige Rolle des Bundes- lich, dass wir die Gesetze, die wir hier beschließen, auch kriminalamtes. Herr Schily will, dass es mehr Kompe- umsetzen. Seien Sie versichert, es wird an der Evaluie- tenzen bekommt. rung der Sicherheitsgesetze gearbeitet. Für uns ist völlig selbstverständlich: Eine Evaluierung bedeutet, dass das (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE ergebnisoffen ist. GRÜNEN]: Kriegt er nicht!) In den Abendstunden des Donnerstags, in denen wir Die Länder sagen, dass es die von Schily behaupteten Si- die Debatten zu Themen der inneren Sicherheit häufig cherheitslücken nicht gibt. führen, wird mir immer wieder deutlich: Ich bin froh, dass Rot-Grün eine verlässliche Innenpolitik macht und (Gerold Reichenbach [SPD]: dass wir eine stabile Mehrheit für die Durchsetzung un- Falsche Behauptung!) serer Politik, unserer Konzepte und unserer Ideen haben. Das ist ein typisches Beispiel für einen Fall, in dem man Völlig klar ist: Die CDU/CSU hat für die Durchsetzung eine Evaluierung braucht. ihrer Vorstellungen keinen Partner. Die CDU/CSU ist nicht mehrheitsfähig und das wird sie auch nach 2006 (Beifall bei der FDP) nicht sein. Ich nenne als weiteres Beispiel den Grundsatz der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Trennung von Geheimdiensten und Polizei. Dies ist Deswegen, Herr Kollege Stadler: Unterstützen Sie wei- seit 50 Jahren ein eherner Grundsatz des Rechtstaates. Er (B) ter den Bürgerrechtsansatz der Grünen! Dann tun Sie et- (D) wird heute leichterhand zur Disposition gestellt. was Gutes. Rot-Grün wird weiter eine verlässliche Ich nenne weiterhin die Debatte um die Sicherheits- rechtsstaatliche Innenpolitik mit Augenmaß machen. architektur. Wir von der FDP sagen, dass wir im Zuge Meine Damen und Herren, ich komme zum Antrag der Maßnahmen für die Aufrechterhaltung der inneren der CDU/CSU; wir debattieren ja heute über zwei An- Sicherheit dem Staate das geben, was des Staates ist – träge. Wir sind uns in der Analyse einig: Angriffe mit nicht weniger, aber auch nicht mehr. Biowaffen sind eine reale Bedrohung. Aber ich denke, (Beifall bei der FDP) man muss in diesem Zusammenhang auch einmal sagen, wo diese Bedrohung angefangen hat. Richtig ist: Biolo- Um dies rational zu klären, brauchen wir – um mit gische Waffen haben wir nur, weil insbesondere die den Worten von Erhard Denninger, dem bekannten westlichen Regierungen irgendwann entschieden haben, Frankfurter Staatsrechtler, zu sprechen – nicht nur eine diese Waffen zu entwickeln. Überprüfung der schon geltenden Gesetze auf ihre Effi- Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auch fest- zienz und auf ihre Lücken hin, sondern auch eine Über- halten: Seit der Unterzeichnung der Biowaffenkonven- prüfung unter dem Gesichtspunkt, ob die Balance von tion im Jahre 1972 wird erfolglos über Kontrollmecha- innerer Sicherheit und Freiheit noch gewährleistet ist. nismen verhandelt. Die USA haben eine Gewehrgranate Vielen Dank. patentieren lassen, die zum Abschuss von Biowaffen ge- eignet ist. Ich denke, wir sollten in unserer Außenpolitik (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten auch deutlich machen, dass die Biowaffen, die uns heute der CDU/CSU und des Abg. Hans-Christian real bedrohen, nicht in Bagdad, aber mit Sicherheit in Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Baltimore in den USA zu finden sind. Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Das wird doch alles gemacht! Sie können den An- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – trag zurückziehen!) Clemens Binninger [CDU/CSU]: Was für ein sinnloser Beitrag!) Welche tollen Maßnahmen die rot-grüne Regierung Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: durchgeführt hat, hat Herr Körper ausführlich darge- Das Wort hat jetzt die Kollegin Silke Stokar von stellt. Ich gehe darauf nicht weiter ein, da ich nur noch Neuforn, Bündnis 90/Die Grünen. wenig Redezeit habe. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11573

Silke Stokar von Neuforn (A) Lassen Sie mich daher ein anderes Reizthema anspre- Das betrifft nicht nur Wissenschaftler weltweit, sondern (C) chen. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz, das wir leider auch Akteure mit böswilligen Absichten. eingerichtet haben, muss sich derzeit auf die Planung und Koordinierung von Maßnahmen im Bereich des Zi- Vor diesem Hintergrund ist die nach wie vor zu ge- vilschutzes beschränken. Ansonsten haben wir es hier ringe Forschungsaktivität in diesem Bereich ein Kern- mit 16 Ländern, 16 unterschiedlichen Gesetzen und problem. Hier fehlt es ganz entscheidend an Unterstüt- 16 unterschiedlichen Qualitäten in der Umsetzung dieser zung durch die Bundesregierung. Herr Staatssekretär, die Gesetze zu tun, weil die Länder für den Katastrophen- wachsenden Haushaltsansätze, die Sie eben ins Feld ge- schutz zuständig sind. Wenn wir uns schon einig darin führt haben, kann ich nicht erkennen. sind, dass wir eine neue Bedrohungslage haben, dann sollten wir meiner Meinung nach auch darin überein- Ich will einige Beispiele herausgreifen. Es fehlen stimmen, dass die Zweiteilung einerseits in den Zivil- Hochsicherheitslabors der so genannten Stufe 4, in de- und andererseits in den Katastrophenschutz nicht mehr nen man solche Forschungen überhaupt vornehmen zeitgemäß ist. Diese Zweiteilung wird den neuen He- kann. Da sieht es leider nicht so erfolgreich aus, wie Sie rausforderungen nicht gerecht. es gerne darstellen wollen. Nach unseren Initiativen im vergangenen Jahr ist jetzt immerhin – so sind meine letz- Was den Zivil- und Katastrophenschutz angeht, ten Informationen; man höre und staune! – die Baupla- sage ich: Wir brauchen uns hier nicht über einen erwei- nung für ein solches S-4-Labor am Robert-Koch-Institut terten Einsatz der Bundeswehr im Innern zu unterhalten; in Gang gekommen. Da sind wir schon einen tollen das ist für diese Bereiche geregelt. Aber die Unvernunft Schritt vorangekommen. Das zweite Labor, das wir in des Föderalismus wird gerade durch die Aufteilung des Deutschland haben, nämlich das am Bernhard-Nocht-In- Zivil- und Katastrophenschutzes deutlich. Sie fordern stitut in Hamburg, wird inzwischen immerhin renoviert. hier etwas von der Bundesregierung, was unsere Verfas- Auch das ist sicherlich etwas, aber nun wirklich nicht sung überhaupt nicht zulässt. Ich habe noch immer die der Fortschritt, den wir auf diesem Gebiet so dringend gute Hoffnung, dass in der Föderalismuskommission benötigen. doch noch sachliche Gespräche über Grundgesetzände- rungen in Bezug auf den Zivil- und Katastrophenschutz Die Schaffung eines erhöhten Wissensstandards auf geführt werden. unserer Seite ist einer der wichtigsten Beiträge zur Ab- wehr solcher Gefahren für die Bundesrepublik Deutsch- (Beifall bei der SPD) land. Um noch einmal die angeblich wachsenden Haus- Ich hoffe, dass auch das Land Bayern über seinen Schat- haltsansätze aufzunehmen: Der Vergleich mit den USA (B) ten, über seine föderale Eigensinnigkeit springt, damit macht mehr als nachdenklich. Dort stehen rund (D) wir gemeinsam für die Gewährleistung der Sicherheit 7 Milliarden Dollar zur Verfügung, um Strategien gegen unserer Bevölkerung sorgen können. den Bioterror zu entwickeln. Bei uns lassen sich gerade einmal 4 Millionen zusammenrechnen. Zudem werden Danke schön. dem Robert-Koch-Institut im Rahmen der künastschen (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Umgestaltung gerade auch noch wesentliche Kompeten- DIE GRÜNEN und der SPD) zen im Bereich der Bio- und Gentechnik entzogen. Da- mit wird dieses Institut nicht gerade leistungsfähiger ge- macht. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Helmut Heiderich von In besonderem Maße fehlt aber – darauf hat schon die der CDU/CSU-Fraktion. Frau Kollegin Philipp hingewiesen – ein konzeptionell (Beifall bei der CDU/CSU) entwickelter und dem Thema angemessener Forschungs- auftrag und Forschungsumfang, der eine kontinuierliche Arbeit über Jahre hinweg ermöglicht und zu entspre- Helmut Heiderich (CDU/CSU): chenden Erfolgen führen kann. Dabei könnte Deutsch- Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! land doch gerade hier im internationalen Kontext – er Die Bekämpfung des Bioterrorismus ist eine Aufgabe, wird in unserem Antrag angesprochen – eine Führungs- die nicht nur die organisatorischen und Zuständigkeitsre- rolle übernehmen und im Zusammenwirken mit anderen geln angeht, sondern auch die technologischen Grund- Nationen die Rolle eines Kompetenzzentrums ausfüllen. sätze betrifft. Auf diesen Bereich möchte ich an dieser Das gilt zum Beispiel für die Entwicklung diagnosti- Stelle einmal eingehen. Ich meine, dass die Bundesregie- scher Verfahren, für schnelle, automatisierte Erken- rung an dieser Stelle bisher eindeutig nicht ausreichend nungssysteme und für andere Voraussetzungen, die ein aufgestellt ist. schnelles Handeln überhaupt erst möglich machen. Es geht nicht nur um vorhandene Waffensysteme, die Hier braucht es endlich ein Gesamtkonzept und nicht meine Vorrednerin in den Mittelpunkt gestellt hat. Es nur – wie in Ihrer Antwort auf unsere Anfrage im letzten kann doch gar nicht davon abgelenkt werden – und wir Jahr geschehen – die Umdefinition von Projekten, die ei- sind uns doch alle darüber im Klaren –, dass es noch zu gentlich für ganz andere Dinge vorgesehen sind, und von keiner Zeit zuvor technisch machbar war, so umfassende Einrichtungen, die bisher für ganz andere Ziele gearbei- Veränderungen an Organismen gezielt vorzunehmen. tet haben, zu Elementen des Kampfes gegen den Bio- 11574 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

Helmut Heiderich (A) terrorismus. Die Bundesregierung ist vielmehr gefordert, möglichen bioterroristischen bzw. ABC-Angriffen zu (C) von der Analyse bis zum Einsatzkonzept, das eben schon schützen, längst erledigt. breit diskutiert worden ist, langfristig zu projektieren und auch zu finanzieren und zudem eine international er- (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Sie müssen kennbare Positionierung vorzunehmen, statt dieses weiterlesen!) Thema in den Debatten – wie auch eben wieder – mehr oder weniger auszuklammern. Das wurde bereits getan und wird ständig optimiert.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. Haben Sie sich nicht mit dem Konzept „Neue Strate- gien zum Schutz der Bevölkerung in Deutschland“ be- (Beifall bei der CDU/CSU) fasst, das ein Jahr vor Ihrem Antrag auf Initiative des Bundesinnenministers auf den Weg gebracht und von der IMK verabschiedet wurde? Ich frage mich und frage Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Sie: Weshalb befassen Sie sich in Ihrem Antrag vor die- Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt sem Hintergrund isoliert mit den Gefahren des Bioterro- erteile ich dem Kollegen Frank Hofmann von der SPD- rismus? Fraktion das Wort. Ich habe Ihren 19 Punkte umfassenden Forderungska- talog genau geprüft und bin zu dem Ergebnis gekom- Frank Hofmann (Volkach) (SPD): men, dass vonseiten des Bundes kein Punkt mehr zu er- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr ledigen ist. Alles ist geplant oder läuft bereits. Stadler, zu dem Antrag, den Sie eingebracht haben: Wenn Sie einmal in das Gesetz geschaut hätten, dann Um die wirklichen Probleme bei der Abwehr terroris- hätten Sie gewusst, dass wir das von Ihnen Geforderte tischer Gefahren drücken Sie sich. Die Verbesserung sowieso machen. Wenn Sie die Koalitionsvereinbarung der Sicherheitsstrukturen erwähnen Sie mit einem gelesen hätten, wüssten Sie, dass es auch darin steht; Halbsatz, drücken sich aber davor, überhaupt Forderun- wenn es darin steht, dann werden wir es auch tun. Sie gen aufzustellen, weil Sie erstens wissen, dass Sie bei wissen, dass wir bei der Evaluierung Wert darauf legen, den Ländern damit auf Granit stoßen, und es zweitens dass es ein guter Bericht wird, mit dem man etwas an- keine abgestimmte Position innerhalb der CDU/CSU fangen kann. Wir werden das so tun; es wäre auch sonst gibt. geschehen, aber der Antrag ist selbstverständlich un- schädlich. (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Doch!) (B) (D) Mit diesem Antrag hatte ich auch keine Probleme, Das Rüttgers-Papier vom März 2004 lässt sich mit Posi- aber mit dem der CDU/CSU. Dieser Antrag hat mich tionen von Herrn Beckstein, CSU, nie und nimmer in doch sehr verwundert. Hier wird gleich am Anfang un- Einklang bringen. terstellt, die Bundesregierung verdränge die Möglichkeit bioterroristischer Angriffe. Ich frage Sie: Wer tut das? Bundesinnenminister und die Innen- und Dazu habe ich von Ihnen nichts gehört. Warum unterstel- Rechtspolitiker der Koalitionsfraktionen drücken sich len Sie so etwas? nicht um dieses Thema. Wir tun uns zugegebenermaßen schwer, zu einer gemeinsamen Linie zu finden, wir drü- Dann schreiben Sie weiter, die CDU/CSU fordere die cken uns aber nicht. Wir diskutieren und suchen noch Bundesregierung auf, „jenseits von Panikmache“ die nach einer vernünftigen Lösung. Dabei könnten Sie mit- Herausforderungen anzunehmen und die notwendigen helfen. Erfüllen Sie Ihre Aufgaben, statt Feuerchen zu Planungen für einen eventuellen Ernstfall vorzulegen. schüren. Halten Sie sich doch noch einmal die Folgewir- Ich nehme Ihnen nicht ab, dass es Ihnen nicht auch um kungen vor Augen, die die mit Anthraxsporen kontami- Panikmache geht. nierten Briefsendungen in den USA hier bei uns hatten.

(Beifall bei der SPD) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Hinsichtlich der Einschätzung bioterroristischer GRÜNEN]: Wer war das?) Gefahren wissen Sie genauso gut wie ich, dass es sich In Deutschland gab es 4 000 Verdachtsfälle und dabei nicht um den wahrscheinlichsten Fall eines terro- 27 Festnahmen von Tatverdächtigen, ohne dass Anthrax ristischen Anschlages handelt, sondern um einen eher nachgewiesen wurde. unwahrscheinlichen Fall. Das sagen uns die Sicherheits- behörden. Für diesen Fall hat die Bundesministerin für Ich appelliere an Ihre Verantwortung, mit einem der- Gesundheit und Soziale Sicherung bereits am artig heiklen Thema nicht zu spielen und kein parteipoli- 29. November 2001 festgestellt, dass im Falle einer Be- tisches Süppchen zu kochen. Spielen Sie nicht mit dem drohung durch einen bioterroristischen Anschlag für Feuer! Deutschland umfassend Vorsorge getroffen wird. Des- halb ist auch die Forderung in Ihrem Antrag, Maßnah- Ich danke Ihnen. men einzuleiten – nicht die Forderung, Forschungsauf- träge zu vergeben –, um die Bevölkerung besser vor (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11575

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offensichtlich (C) Ich schließe die Aussprache. der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Die Rede der Kollegin Petra Pau nehmen wir zu Pro- Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- tokoll.1) ordnung. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- den Drucksachen 15/3487 und 15/3386 an die in der Ta- destages auf morgen, Freitag, den 24. September 2004, gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. 1) Anlage 6 (Schluss: 20.15 Uhr)

(B) (D)

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11577

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten Abstimmung über den Antrag: Wehrpflicht aussetzen (Tagesordnungspunkt 3 d)

entschuldigt bis Die FDP begehrt im Antrag 15/1357 die Aussetzung Abgeordnete(r) einschließlich der Wehrpflicht und in Zukunft deren Abschaffung. So weit, so zustimmungsfähig für die PDS im Bundestag. Fischer (Frankfurt), BÜNDNIS 90/ 23.09.2004 Die Wehrpflicht ist ein Anachronismus. Dass sie Joseph DIE GRÜNEN obendrein ungerecht praktiziert wird – wie der FDP-An- trag und Gerichte konstatieren –, kommt hinzu. Im Kern Kumpf, Ute SPD 23.09.2004 ist die Wehrpflicht ein Zwangsdienst. Deshalb muss sie abgeschafft werden. Otto (Godern), Eberhard FDP 23.09.2004 Trotzdem sehen wir uns gezwungen, mit Nein zu Schauerte, Hartmut CDU/CSU 23.09.2004 stimmen. Denn die FDP verbindet ihren Antrag mit der Aufforderung, die „Zukunftsfähigkeit der Bundeswehr Schöler, Walter SPD 23.09.2004 herzustellen“, und meint damit unter anderem: „die Bun- deswehr schnell und konsequent bündnisfähig zu ma- Straubinger, Max CDU/CSU 23.09.2004 chen“; „die frühere Landesverteidigung ausschließlich als Bündnisverteidigung zu begreifen“; „die Bundes- Stünker, Joachim SPD 23.09.2004 wehr schnellstens in die Lage zu versetzen, alle Aufträge erfüllen zu können, die sich aus den Eckpfeilern deut- Dr. Westerwelle, Guido FDP 23.09.2004 scher Außen- und Sicherheitspolitik ergeben“; eine Na- tionalgarde aufzustellen, „die sich aus 5 000 aktiven Sol- datinnen und Soldaten sowie 55 000 Reservistinnen und Anlage 2 Reservisten zusammensetzt“. – Ferner soll die wehrtech- nische Industrie auf europäischer Ebene konsolidiert Erklärung nach § 31 GO werden, um „im transatlantischen Rahmen eine Wettbe- des Abgeordneten Jens Spahn (CDU/CSU) zur werbs- und Kooperationsfähigkeit zu erreichen“ und „Wettbewerbsnachteile und einen damit einhergehenden (B) namentlichen Abstimmung über den Antrag: (D) Wehrpflicht aussetzen (Tagesordnungspunkt 3 d) weiteren Rückgang nationaler wehrtechnischer Kern- kompetenzen zu verhindern“. Ich lehne den Antrag der FDP-Fraktion auf alternativ- Die PDS im Bundestag lehnt die zunehmende Milita- lose Aussetzung der Wehrpflicht zum jetzigen Zeitpunkt risierung der nationalen und EU-Außenpolitik ab. Die ab. zukünftige EU-Verfassung enthält sogar ein Aufrüs- Gleichwohl führt uns insbesondere die zunehmende tungsgebot und das Vorhaben der Schaffung einer euro- Wehrungerechtigkeit zu einem steigenden legitimatori- päischen Interventionsarmee. Auch diese Vorgaben leh- schen Druck gegenüber den jungen Menschen, die zum nen wir ab. Dienst eingezogen werden, und damit gegenüber den Der FDP-Antrag zielt aber im Kern darauf, die Bun- Gleichheitsrechten der Verfassung. Eine Bundeswehr in deswehr auf dieses Vorhaben einzustellen. Deshalb der jetzigen Struktur und mit dem heutigen Umfang je- stimmt die PDS im Bundestag gegen diesen Antrag. denfalls wird dem Grundsatz der Wehrgerechtigkeit an keiner Stelle gerecht. Neben der Frage der Wehrgerechtigkeit bleibt zu prü- Anlage 4 fen, ob die sicherheitspolitische Lage weiterhin eine Erklärung nach § 31 GO Pflicht zum Wehrdienst zur effektiven Verteidigung un- seres Landes voraussetzt und damit rechtfertigt. Diese der Abgeordneten Alexander Bonde, Winfried Diskussion ist mit der heutigen Abstimmung nicht been- Hermann, Hans-Josef Fell, Claudia Roth (Augs- det, sie gewinnt vielmehr mit Blick auf eine zunehmende burg), Josef Philipp Winkler, Marianne Tritz, Ausrichtung der Bundeswehr auf Auslandseinsätze und Dr. Ludger Volmer, Cornelia Behm, Jutta im Schatten der neuen, terroristischen Bedrohung eine Dümpe-Krüger Petra Selg, Volker Beck (Köln) neue Qualität. und Anna Lührmann (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur namentlichen Abstimmung über den Antrag: Wehrpflicht aussetzen (Tagesord- Anlage 3 nungspunkt 3 d) Erklärung nach § 31 GO Der mit der Wehrpflicht verbundene Eingriff in die Grundrechte und Lebensplanung junger Männer ist si- der Abgeordneten Petra Pau und Dr. Gesine cherheitspolitisch nicht mehr begründbar und militärisch Lötzsch (beide fraktionslos) zur namentlichen nicht mehr unabdingbar. Aus diesem Grund werben die 11578 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

(A) Bündnisgrünen seit Jahren mit sachlichen Argumenten den Leitzielen von größtmöglicher Freiheit, Gleichheit (C) für ein Ende der Wehrpflicht. Auch wenn wir zur Kennt- und Gerechtigkeit verbunden fühlt, kann sich auf Dauer nis nehmen müssen, dass die Wehrpflichtfrage bei eini- der Lösung dieser eklatanten Wehr- und Einberufungs- gen immer noch einen starken Bekenntnisreflex auslöst, ungerechtigkeit entziehen. so konnten in den vergangenen Jahren dennoch zahlrei- Die Koalitionsfraktionen haben in der Koalitionsver- che Mythen und Legenden abgebaut werden. In allen einbarung festgehalten, dass über die Frage der Wehr- Parteien, auch in den beiden Volksparteien, in der Bun- pflicht noch vor Ende der Legislaturperiode entschieden deswehr und der Fachöffentlichkeit ist die Einsicht ge- wird. Auch wenn wir die im Antrag 15/1357 getroffenen wachsen, dass ein Übergang von einer Wehrpflicht- zu Feststellungen inhaltlich teilen, müssen wir diesen zum einer Freiwilligenarmee keine nationale Katastrophe jetzigen Zeitpunkt ablehnen, da die notwendige politi- wäre, sondern aus vielfältigen Gründen unumgänglich sche und gesellschaftliche Diskussion noch nicht been- und machbar ist. det ist. Wir teilen insofern die im Antrag 15/1357 getroffene Die gegenwärtige Auswahlwehrpflicht für junge Feststellung, dass die Wehrpflicht sicherheitspolitisch Männer ist für uns nur für eine kurze Zeit hinnehmbar. nicht länger erforderlich ist. Wir können es auch gut Als mittelfristige Einrichtung ist sie verfassungsrechtlich nachvollziehen, dass es die Antragsteller sehr begrüßen bedenklich, den Betroffenen nicht zumutbar und auf würden, wenn ein Beschluss zur Aussetzung der allge- Dauer auch gesellschaftlich nicht haltbar. meinen Wehrpflicht von einer rotgrünen Regierung ge- fällt werden könnte. An den Bündnisgrünen wird – das ist allgemein bekannt – ein schnellstmöglicher Ausstieg Anlage 5 nicht scheitern. Zu Protokoll gegebene Rede Wer ehrlich ist, muss sich eingestehen: Im Zuge des Reform- und Transformationsprozesses bewegt sich zur Beratung des Antrags: Schaffung eines in- auch die Bundeswehr seit Jahren in großen Schritten in ternationalen Instruments zum Schutz der kul- Richtung Freiwilligenarmee. Die in mehreren Stufen er- turellen Vielfalt unterstützen (Tagesordnungs- folgte Reduzierung der Streitkräfte, die Einführung des punkt 11) freiwilligen und länger dauernden Wehrdienstes sowie zahlreiche Maßnahmen zur Steigerung der Attraktivität Günter Nooke (CDU/CSU): Was wir heute hier ver- des Dienstes in der Bundeswehr haben dazu beigetragen, handeln, ist alles andere als der Zweig einer Orchideen- dass die Wehrpflichtabhängigkeit drastisch reduziert wissenschaft, sondern beim Schutz der kulturellen Viel- (B) wurde. Die neuen Strukturen sind so auszugestalten, falt handelt es sich um den Stamm unserer Kulturpolitik (D) dass eine Veränderung der Wehrform zu keinen funda- schlechthin und den Erhalt der föderalen Struktur in mentalen Verwerfungen in der Bundeswehr führen Deutschland. würde. Es geht um handfeste Interessen. Es sind vor allem Die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr wird durch wirtschaftliche Interessen, die nach dem Gesetz der fort- eine reine Freiwilligenarmee nicht gefährdet. Im Gegen- schreitenden Liberalisierung auch die kulturelle Vielfalt teil: Die weitere Reduzierung des Anteils der Grund- bedrohen können. Darüber lohnt es sich im Deutschen wehrdienstleistenden geschieht nicht zuletzt mit dem Bundestag zu diskutieren. Es soll uns niemand aus den Ziel, die Effizienz der Bundeswehr als Einsatzarmee zu Ländern vorhalten, wir hätten die föderale Vielfalt in steigern. Zahlreiche Militärexperten halten eine reine Deutschland nicht verteidigt. Freiwilligenarmee für wesentlich effektiver und volks- wie betriebswirtschaftlich kostengünstiger. Auch die Zu Beginn ist festzustellen, dass das Anliegen von al- Weizsäcker-Kommission hat in ihrem Bericht vom Mai len Fraktionen des Deutschen Bundestages getragen wird. 2000 bestätigt, dass eine Freiwilligenarmee im Umfang Das Thema eignet sich auch nicht für parteipolitische von 220 000 Berufs- und Zeitsoldaten den sicherheitspo- Streitereien. Ich stelle eingangs also lediglich fest, dass litischen Anforderungen in vollem Maße entspricht. die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag das Thema schon früh und als erste – bereits im Januar 2003 Die Zeiten, in denen mehr als die Hälfte der bis zu im Vorfeld der GATS-Verhandlungen – in den Bundes- 490 000 Bundeswehrsoldaten aus Grundwehrdienstleis- tag getragen hat. Wir haben damals ein völkerrechtliches tenden bestand und mindestens die Hälfte eines Geburts- Abkommen gefordert, ein „Instrument zum Schutz der jahrgangs Wehrdienst leistete, sind vorbei. Nur noch kulturellen Vielfalt“ als Referenzgröße für weitere Libe- 30 000 der 250 000 Soldaten der Bundeswehr werden ei- ralisierungen im Dienstleistungssektor. nen neunmonatigen Grundwehrdienst leisten. Dies be- Das war – mitsamt den Auswirkungen für Kultur und deutet, dass jährlich maximal noch 40 000 Männer für Bildung – der Koalition offenbar nicht so wichtig, denn den klassischen Wehrdienst herangezogen werden kön- die faktische Nicht-Präsenz der Koalitionäre von SPD nen. Das sind weniger als 10 Prozent eines Geburtsjahr- und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hatte damals dazu ge- gangs von durchschnittlich 415 000 jungen Männern. führt, dass eine Debatte im Bundestag nicht stattgefun- Von einer „allgemeinen“ Wehrpflicht kann deshalb keine den hat. Rede mehr sein. Diese Gerechtigkeitslücke wird noch durch die geschlechtspezifische Ungleichbehandlung Dieser Umstand hatte mich damals zu der Äußerung von Männern und Frauen verstärkt. Niemand, der sich genötigt, das Parlament dürfe in Zukunft das Thema Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11579

(A) „nicht verschlafen“. Inzwischen sind alle aufgewacht. Ohne „Hoheiten“ zu verletzen, muss sich Deutsch- (C) Darüber bin ich sehr froh. Und ich betone: Es herrscht land im Zuge der anstehenden Verhandlungen mit welt- Einigkeit in der Sache. Die CDU/CSU-Fraktion im weiter Tragweite dazu bekennen, seine kulturelle Viel- Deutschen Bundestag hat diesem Antrag im federführen- falt zu behaupten, und zwar aufgrund der berechtigten den Ausschuss für Kultur und Medien zugestimmt. Interessen der Kultur, aber auch aus wirtschaftlichen In- teressen. Worum es geht, wurde von meinen Vorrednern ge- schildert und ist in mindestens ebenso eindrucksvoller Drittens: Die nationale Kulturpolitik – die UNESCO- Weise in der vorliegenden Drucksache dargestellt. Texte sprechen, sachlich korrekt, im Plural, daran muss man sich gewöhnen –, die nationalen Kulturpolitiken Ich beschränke mich also auf fünf Aspekte, die eng also dürfen nicht durch gut gemeinte Regulierung oder miteinander verbunden sind. Deregulierungen den wirtschaftlichen Interessen geop- fert werden. Im Gegenteil. Ein Ziel der Konvention muss Erstens: Die Grundlagen sind gelegt. Im Januar 2004 es sein, jedes Land, das seinen Markt zugunsten kulturel- hat das EU-Parlament im Beschluss zur kulturellen Viel- ler Vielfalt regulieren möchte, vor Sanktionen zu schüt- falt die Freiheit der nationalen Kulturpolitiken sicherge- zen. stellt. Ein wichtiger Schritt. Im August dieses Jahres wurde bei einem Treffen der UNESCO und der WTO Es müssen Rahmenbedingungen geschaffen werden, betont, dass „kulturelle Güter und Dienstleistungen um die Vielfalt kulturellen Ausdrucks zu schützen, zu gleichzeitig wirtschaftliche und kulturelle Aspekte ha- fördern und weiterzuentwickeln. Staatliche Kulturförde- ben und dass sie – da sie Identitäten, Wertvorstellungen rung – ob, wer und wie viel gefördert wird, muss weiter und Bedeutungen übertragen – nicht wie normale Han- in Deutschland und das heißt vorrangig in den Ländern delsware oder Konsumgüter behandelt werden dürfen“. entschieden werden. Diese Formulierung des Sachverhaltes habe ich zitiert aus dem mittlerweile vorliegenden „Entwurf eines Über- Viertens: Die Enquete-Kommission „Globalisierung einkommens zum Schutz der Vielfalt kultureller Inhalte der Weltwirtschaft – Herausforderungen und Antwor- und künstlerischer Ausdrucksformen“ der UNESCO. ten“ des Deutschen Bundestages hat in der vergangenen Einfacher zu behalten ist das Schlagwort der „Doppelna- Legislaturperiode festgehalten, dass unsere Zukunft tur“ der Kultur als öffentliches Gut und als Wirtschafts- nicht Industriestandort heißt, sondern Kreativmarkt, also gut. in weitest denkbarer Weise auf Innovationen gegründet ist, die nicht in Einheitlichkeit entstehen kann. Auch dieser Entwurf – der künftig in den Gremien zu verhandeln ist – ist eine der Grundlagen. Schon an dieser Das hat sich vielleicht noch nicht so richtig herumge- (B) (D) Stelle möchte ich ein wichtiges Fazit vorwegnehmen: sprochen. Aber im Filmbereich und in der Musikwirt- Wir sollten diesen Entwurf, der bisher nur in einer Ar- schaft ist das sehr anschaulich: einerseits die große wirt- beitsübersetzung vorliegt, unterstützen und seine Ver- schaftliche Wertschöpfung, andererseits die enorme wirklichung anstreben. kulturelle Vielfalt allein in Europa. Die große Chance Deutschlands und der Europäi- Zweitens: Vielfalt ist eine Stärke. In der Süddeut- schen Union liegt in der Vielfalt der Kultur. Aber sie ist schen Zeitung war dieser Tage zu lesen: „Die auf den auch – wirtschaftlich gesehen – ein Problem. Und ein Handel verengte Sichtweise der „WHO“ – Welthandels- Blick in die Kinoprogramme stimmt nachdenklich, wenn organisation – macht es für einzelne Staaten immer man sich die sehr unterschiedlichen Marktanteile an- schwerer, ihren Markt in einer Weise zu regulieren, die sieht, die sich oft allein aus der Größe des in der Regel kulturelle Vielfalt weiterhin gedeihen lässt.“ Das stellt eben englischen Sprachraums ergeben. der in Utrecht lehrende Professor für Politische Wissen- schaften und Kulturpolitik, Joost Smiers, fest – „Süd- Wir müssen aus der Dichte, der Qualität, der Einzig- deutsche Zeitung“ 19. August 2004. Er folgert daraus, artigkeit und der regionalen Vielfalt des Kulturangebots dass die „Übergabe aller Kulturfragen an das Marktge- in Deutschland einen Exportschlager machen. Aber da- setz und seine ausführenden Organe“ unvereinbar ist mit für müssen wir uns auch zuerst dieses Wertes bewusst der Menschenrechtskonvention. Und ebenso deutlich ist werden, zweitens alles daran setzen, diese Vielfalt zu er- seine Feststellung: „Die Geschichte lehrt uns, dass der halten und drittens natürlich auch fragen, welche Pro- Markt allein nicht alle Formen künstlerischen Ausdrucks dukte sich daraus bilden lassen, die eventuell ein welt- pflegen kann“. Er warnt davor, dass eine Konzentration weites Interesse hervorrufen. Als Beispiel seien nur die der öffentlichen Aufmerksamkeit auf „eine Hand voll „Berliner Philharmoniker“ genannt. Stars, Blockbuster und Bestseller“ vergessen machen kann, dass es mehr gibt als diesen marktwirtschaftlich Fünftens: Unsere Aufmerksamkeit müssen wir zuneh- erzeugten Eindruck eines Kanons. mend auf solche regionalen Marken lenken. Erfolgreiche regionale Marken sichern die Vielfalt. Das gilt vielleicht Unsere Frage ist also: Wie kann kulturelle Vielfalt sogar für das deutsche Bier, das Münchner Oktoberfest dauerhaft gesichert und entwickelt werden? Wir müssen und ganz sicher für unseren Tageszeitungsmarkt – auch hier mit nationalem Selbstbewusstsein feststellen, dass wenn es hier derzeit Bestrebungen der Bundesregierung Regelungen notwendig sind; und zwar einerseits im ei- gibt, das zu konterkarieren. Kulturelle Vielfalt ist ge- genen Staatsgebiet und andererseits mit Blick auf inter- prägt von Tradition, Brauchtum, Religion und eben auch nationale Zusammenarbeit. regionalem oder nationalem Bewusstsein davon. 11580 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004

(A) Dagegen kann man jede große, wirtschaftlich erfolg- Selbstverpflichtungserklärungen der Sender, die die not- (C) reiche, internationale „Marke“ eher als eine Bedrohung wendige Sensibilität erkennen lassen. der kulturellen Vielfalt beschreiben. Wer internationale Fazit: Dieses Jahr ist für die Verhandlungen zum Hotelketten kennt, weiß, was damit gemeint ist; aber Schutz der kulturellen Vielfalt enorm wichtig. Im Okto- auch Coca Cola, Gucci oder Ikea gehören wohl dazu. ber werden die „zehn nächsten Schritte auf dem Weg Aber was unterscheidet die Marke „Berliner Philhar- zum Schutz kultureller Vielfalt“ beim zweiten Fachge- moniker“ von der Marke „Michael Jackson“? Holly- spräch verabredet, im November beginnt die Konferenz. woodfilme werden als Verringerung der kulturellen Viel- Die Formulierung „Zehn Schritte“ macht deutlich, falt wahrgenommen, während ein mongolischer oder dass es noch eine Weile dauern wird, aber die Diskus- selbst mexikanischer Film schon als Bereicherung ver- sion läuft. Wir sollten sie selbstbewusst führen. standen wird. Wo ist da der Unterschied? Nur weil die Vermarktung von Hollywood aus erfolgreicher ist, kann daraus kein Vorwurf konstruiert werden. Anlage 6 Gerade weil die Abgrenzung von Kultur- und Wirt- Zu Protokoll gegebene Rede schaftsgut, wie eben beim Film angedeutet, nicht gelingt und damit innerhalb der GATS- bzw. WTO-Verhandlun- zur Beratung der Anträge: gen kein hinreichender „Kulturschutz“ möglich ist, brau- – Gesamtkonzept zur Abwehr bioterroristi- chen wir eine internationale Konvention zum Schutz der scher Gefahren vorlegen kulturellen Vielfalt. Bei der Menschenrechtskonvention ist klar, was mit dem Schutz der Menschenrechte ge- – Evaluierungsbericht zu dem Gesetz zur Be- meint ist. Bei der Konvention zum Erhalt der Artenviel- kämpfung des internationalen Terrorismus falt, der Biodiversität, werden alle auf den Schutz von vorlegen Pflanzen und Tieren eingeschworen. Bei der hier in Rede (Tagesordnungspunkt 12) stehenden Konvention kann es meines Erachtens nicht darum gehen, dass andere bestimmen, dass alle Men- Petra Pau (fraktionslos): Beide „Otto-Pakete“ blei- schen dauerhaft ihre jetzige Kultur, das heißt kulturelle ben Gift. Entwicklungsstufe zu erhalten haben. Erstens. Die FDP hat beantragt, die so genannten Worum es geht, ist meines Erachtens einzig und al- Otto-Pakete I und II zu überprüfen. Sie sollten der Si- lein, dass es ihnen erlaubt bleibt, ihre kulturelle Le- cherheit dienen und sie greifen Bürgerrechte an. Dieser (B) bensumwelt so zu erhalten und so weiterzuentwickeln, Widerspruch war schon nach dem 11. September 2001 (D) wie sie es für richtig halten. Das wird schwer genug und den Terroranschlägen in den USA umstritten. Des- durchzusetzen sein. halb hatte die PDS im Bundestag ja auch beide „Otto-Pa- kete“ abgelehnt. In Deutschland bedeutet das zum Beispiel, dass wir das duale Rundfunksystem erhalten und finanzieren kön- Zweitens. Damals hatten etliche Grüne tief geschluckt nen. Das heißt aber, es müsste mehr von Kultur und regio- und hoch versprochen: Nach drei Jahren werden wir im nalem Bezug geprägt sein als heute. Der regionale Bun- Bundestag überprüfen lassen, was sinnvoll war und was desligaverein reicht dafür nicht aus. Aber das wäre eine überzogen ist. Aber nicht die Grünen, sondern die FDP andere Diskussion. Wichtig war nur der Hinweis, dass hat die Evaluierung beantragt. Die PDS im Bundestag wir hier nicht nur die so genannte Kulturhoheit der Län- hat leider kein Antragsrecht. Deshalb danke ich der FDP der verteidigen, sondern auch die Rundfunkhoheit, wenn für ihre Initiative. sie sich denn als Teil kultureller Vielfalt verstünde und Drittens. Mit den Sicherheitsgesetzen I und II, die 2001 nicht als bloßer Mitläufer im Quotenrennen. von Bundesinnenminister Otto Schily initiiert wurden, Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Ich sollte der internationale Terrorismus bekämpft werden. bin sehr für den Bestand des öffentlich-rechtlichen Ob dies erfolgreich war, hat bislang niemand belegt. Er- Rundfunks. Je mehr regionale Schwerpunkte verankert wiesen ist aber, dass damit der ohnehin angeschlagene werden und vor allem: je relevanter die Inhalte mit demokratische Rechtsstaat bis ins Mark getroffen wurde. Bezug zur Kultur sind, desto klarer wird der öffentlich- Viertens. Die Befugnisse der Geheimdienste wurden rechtliche Rundfunk den Kriterien der Konvention zum erweitert, der Datenschutz wurde abgebaut. Das Auslän- Schutz der kulturellen Vielfalt gerecht. derrecht wurde verschärft und der große Lauschangriff erweitert. Das Bundesverfassungsgericht hat derweil Dabei geht es auch um die mediale Vermittlung und Entscheidungen von Rot-Grün als grundrechtswidrig Pflege der deutschen Sprache. Daher ist die Aufgabe kassiert. Aber Rot-Grün blieb im Fahrwasser der CDU/ nicht zu unterschätzen, die hier auch den öffentlich- CSU, von Schily und Beckstein. Auch das gehört zur rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten zukommt. Negativbilanz. Wissen und Kenntnis um die kulturellen Grundlagen unserer Gemeinschaft zu vermitteln und damit eine ent- Fünftens. Überhaupt tut sich Rot-Grün schwer, wenn sprechende Nachfrage bei den Bürgern zu pflegen muss es um Bürgerrechte und Demokratie geht. Ich bedauere als Aufgabe in der Breitenvermittlung der Sendeanstal- das ausdrücklich; denn versprochen war anderes. Aber ten begriffen werden. Daher begrüße ich die jüngsten bislang gibt es weder ein hinreichendes Antidiskriminie- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 126. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 23. September 2004 11581

(A) rungsgesetz noch ein ernsthaftes Angebot für mehr De- Siebtens. Die „Otto-Pakete“ müssen überprüft wer- (C) mokratie. Dabei bietet die künftige EU-Verfassung jeden den. Ich habe sie von Anfang an für überzogen, für Anlass, um Volksabstimmungen auf Bundesebene end- falsch gehalten. Denn wenn die These stimmt, dass fun- lich einzuführen. damentale Terroristen rechtsstaatliche Gesellschaffen zerstören wollen, dann darf man ihnen nicht noch vo- Sechstens. Stattdessen wird der Kampf gegen den rauseilen. Terrorismus genutzt, um verbriefte Bürgerrechte auszu- hebeln. Ich erinnere an ein Paradebeispiel. Die USA ver- Achtens. Die PDS lädt übrigens zum 2. Oktober zu ei- langen von Passagieren und Überfliegern mehr als ner Datenschutzkonferenz nach Berlin ein. Ich würde 30 persönliche Daten. Das EU-Parlament klagt dagegen. mich über Teilnehmer der FDP freuen. Aber auch die Der SPD-Innenminister und der grüne Außenminister in- Grünen sind eingeladen. Sie könnten sich in eigener Sa- des finden das gut und richtig. Klarer kann man einstige che erinnern: Es war nicht alles schlecht, was sie der- Ideale nicht verraten. einst einte.

(B) (D)

Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Amsterdamer Str. 192, 50735 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Telefax (02 21) 97 66 83 44 ISSN 0722-7980