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John Deathridge (London) Ereignis und Wandel bei

Im Jahr 1830 machte FelixMendelssohn einen14-tägigenBesuchbei Johann Wolfgang von Goethe in Weimar.Von seinen Erlebnissenmit dem »treffliche[n] Felix« berichtete Goethe in einemBrief vom 3. Juni 1830 an Carl FriedrichZelterFolgendes:

Mirwar seineGegenwart besonderswohltätig,daich fand mein Verhältnis zur Musiksei noch immerdasselbe; ichhöresie mitVergnügen, Anteil undNachdenken, liebemir dasGeschichtliche, dennwer versteht irgend eine Erscheinungwenner sich von dem Gang desHerankommens [nicht] penetriert?1

DieLiebe Goetheszum Geschichtlichenund zum»Gang desHerankommens«einer Er- scheinungist vielleicht keineÜberraschung, zumalsie hier zu einerZeitzum Ausdruck kommt,als der Ruhm Georg WilhelmFriedrich Hegels sich seinem Höhepunktnäherte. Interessantist,wie Goethe den »Gangdes Herankommens«inder Musikverstand:

Dazu wardenndie Hauptsache, dass FelixauchdiesenStufengang[d.h. den Stufen- gang desGeschichtlichen]recht löblicheinsieht, und, glücklicherweise sein gutes Gedächtnis ihmMusterstückealler ArtnachBeliebenvorführt.Von der Bachischen Epocheheran,hat er mirwiederHeyden,Mozartund Gluckzum Lebengebracht; von den großen neuernTechnikernhinreichende Begriffe gegeben, undendlich mich seineeigenen Produktionen fühlen undübersie nachdenkenmachen; istdaher auch mitmeinenbestenSegnungen geschieden.2

Leider wissenwir nichtmehrgenau,worüber im Gespräch zwischen Goethe undMen- delssohnnachgedacht wurde. Allerdings könnten wiruns vorstellen,dassGoethemit den Worten »großen neuernTechnikern« etwa Beethoven undSchubertmeinte, d.h. sich eine Reihe verschiedener KomponisteninchronologischerFolge von Mendelssohnvorspielen ließ, dievon BachüberHaydn,Beethoven undSchubertbis zu Mendelssohnselbstreichte. Oder fassen wireskurzzusammen: Goethe undMendelssohn betrachteten den Stufen- gang desGeschichtlichen in der Musikals eine Chronologieder bedeutendstenKomponis- ten, dieoffensichtlichmit einerentsprechendenEntwicklung der musikalischenTechnik ein- herging–eineobjektive Betrachtungsweise,die ihrem Vergnügenund ihrem Anteil an dieser Musikkeineswegswidersprach. SelbstverständlichsindGoetheund Mendelssohnnicht dieEinzigenimfrühen19. Jahr- hundert, dieden Satz Hegels »was gewesenist,ist in der That kein Wesen; es istnicht«3 undialektischmissverstanden. Geschichte,Chronologie, »Gangdes Herankommens«–oder

1 Johann Wolfgang vonGoethe, SämtlicheWerke nachEpochen seines Schaffens.MünchnerAusgabe,Bd. 20,2: Briefwechsel zwischen Goethe undZelterinden Jahren 1799 bis1832,hrsg. vonEdith Zehm undSabineSchä- ferunter Mitwirkung vonJürgenGrußund Wolfgang Ritschel,München 1998,S.1357. 2 Ebd. 212 Roundtable IV:Kontinuität und Wandel in der Musik wie3mansonst den Ausdruck »was gewesenist«verstehenwill–alsdas Weseneiner Er- scheinungbekommenwir sogarbei denOpuszahleneines Beethoven oder Hummel zu spüren.Ich meinedamit nichtnur dieWerkeselbst, sondernauchdas bloße Auflistenvon Werken,die dann alssolche in der Welt in einerbestimmtenReihenfolge erscheinen und danach identifiziert werden.(Stellenwir unsdie Verwirrung der Historiker vor,wenn auszwingendenphilologischenGründen etwa die Hammerklaviersonate viel früher in der Chronologiedes BeethovenschenSchaffenseinzuordnenwäreund dieniedrigeOpuszahl fünf oder sechstragenmüsste!) Unddasselbegiltnatürlich fürdas allmählich blühende Geschichtsbewusstsein der Historiker undAnalytikerwie Adolph BernhardMarx, auch wennihrekompliziertere Auffassung von Geschichte letztenEndes von der hegelschen Dialektik grundsätzlichabweicht. Ob der Zeitpunktum1830den wirklichen Anfang der Idee desGeschichtlichen alsdas Wesender Musikrepräsentiertodernicht –von einigen interessantenVorstufen ganz abzusehen, diesogar ins18. Jahrhundertzurückreichen4 – undganzegalwie wirden genauen Zusammenhang desGoethe-Briefesbetrachten, gehen wirsicherrecht in der Annahme, dass dieFrage nach der Kontinuitätund dem Wandel in der Musik, diedie noch ständigzunehmendeSpannungzwischen der ästhetischen Präsenz musikalischerWerkeund einemmöglichenÜbermaß der bloß musealen Darstellungge- schichtlicherInformationen zurVoraussetzung habenmuss, durchaus nichtneu ist. Allerdings istdieseslängstvergangene Nachdenkenüberdie Frageuns nichtsogeläufig, alsdassessichohneweiteresvergegenwärtigenließe. Gewiss binich hier in demhegelschen Satz über dasgrundsätzlicheNicht-Wesen desGewesenen genausoundialektisch verstrickt (fastals ob icheineAufführungder Hammerklaviersonate mitder Geschichte desWerksver- wechselte) wieGoetheund Mendelssohn, mitder zusätzlichen Wendung, dass beimir auch dieernsthafteGefahrbesteht,michineinem postmodernenSpiegelsaal desverwirrenden Reflektierenszubefinden:etwaeineGeschichtedes Nachdenkens über dasGeschichtliche, dieselbstdes Nachdenkens über ihre Geschichte bedarf.Ganzkonkret allerdings istdie ein- facheTatsache, dass wirnur ahnenkönnen, wiedie Gesprächeüberden »Gangdes Heran- kommens«inder Musikbei Goethe undMendelssohn verliefen.Auchbei anderen Musikern wissen wirzwar, dass siesichals lebendes Moment einesbestimmtengeschichtlichen Ver- laufswahrnahmen–und dementsprechendzum Teil auch komponierten –, aber im Detail wissen wirnicht so genau, ob siesichder Konsequenzenihrer Geschichtsauffassung in Bezug aufihreeigeneKompositionspraxis oder ihrer Stellung in der Musikgeschichteüberhaupt vollkommenbewusst waren. Eine Ausnahme bildet .Und der Grundist sicher der,dassersovielüber sich undseinWerkveröffentlichte.Trotzdemist in densechzehn Bänden seiner Sämtlichen Schriften,die auch dieTexte zu seinen Bühnenwerken enthalten, seinen Ideenüberdie Pro- blematik der Kontinuitätund desWandels in der Musiknicht leicht aufdie Spurzukom- men. DieSchriften sind wieein schwarzes Loch – ablack hole,wennich einenTerminusder

3 GeorgWilhelmFriedrich Hegel, GesammelteWerke,Bd. 9: Phänomenologiedes Geistes,hrsg. vonWolf- gang Bonsiepenund ReinhardHeede,Hamburg 1980,S.67. 4 Vgl. John Deathridge,»TheInvention of German Musicc.1800«,in: Unityand Diversity in European Culturec.1800,hrsg. vonTim Blanning undHagen Schulze (= Proceedingsofthe BritishAcademy 134), Oxford 2006. Deathridge: Ereignis und Wandel bei Wagner 213

Astronomie entlehnendarf–,indem alles enthaltenzuseinscheint undgleichzeitig un- sichtbar oder zumindestnicht leicht überschaubar ist. Nirgends beziehtsichWagner, der ohnehinabsichtlich einenKrieg gegenakademischesDenkenführte, aufeineverständliche Vorstellungvon Geschichte oder eineneinleuchtenden philosophischen Begriffder Zeit unddes Zeitempfindens. Doch habenwir überall in seinen Schriften dasGefühl, dass es ihmgeradedarum geht.Nirgendsfinden wireinen wirklich einheitlichenGedanken, der Disparates–unter anderem Autobiographie,Geschichte, Philosophie,Politik,Musik- theorie, Aufführungspraxis–als geordnetesSystemhätte erscheinen lassen.Doch haben wirdas Gefühl,dasserauf etwasEinheitliches hinaus will.Erschreibt, er ließe seineSchrif- tendeswegeninchronologischerFolge veröffentlichen, um zu zeigen,wie »selbstdie ver- schiedenartigstenVeranlassungen doch immernur daseineMotiv in mirwachriefen, welches meinem ganzen, noch so zerstreutenschriftstellerischen Wirken zu Grunde liegt«.5 Nirgends aber wird dieses Motiverklärt. Stellenwir zunächst einmal fest,dassWagnerimmer geradezu besessen war, fast alle seineManuskripte genauzudatieren –und zwar manchmal nichtnur aufden Tag, sondern auch aufdie Uhrzeit.6 Ichhabeihn vor einigenJahrenetwas polemischals den »Philo- loge[n]seinerselbst«7 apostrophiert,und heutenehme ichdiese Beschreibung keineswegs zurück.Warum aber bestandWagnerdarauf, sich chronologischindie realeZeitsoklein- lich einzuordnen? Im Vorwortzuden Sämtlichen Schriften –inmancher Hinsicht übrigens einSchlüsseltext zumVerständnisseinerWerkeüberhaupt –spracherzwar, wiewir schon gesehenhaben,von einemeinheitlichen Motiv, dasangeblich dem Wirken der Schriften zu Grunde liegt. Fast im selben Atemzugaberstellte er paradoxerweise fest,die chrono- logischeReihenfolge derSchriften nach ihrerEntstehung habe denVorteil,»denAnschein eineswirklichenwissenschaftlichenSystems«8 beisovielZerstreutem zu verhindern. Der Widerspruch istzum Teil damitzuerklären, dass Wagner hauptsächlich daraninte- ressiert war, mindestens drei verschiedene Zeitebenen in seinen Werken nachzuvollziehen. Alserste gibt es dieKontinuität der Geschichte,inder dasStreben desKünstlers –ein- schließlich der Auseinandersetzungmit einerihm banalenUmwelt –verankertist.Der Künstlerempfindetaberdie Geschichte alsdoppelte Herausforderung:Esgiltdie realeZeit nichtnur zu beherrschen, indem mansichselbstvon TagzuTag datiertund sich damitdas eigeneDenkmal in der Welt setzt, sondernihr alsdem unerbittlich Chronologischenauch zu entkommen. Nach Wagner gelingt dies nurdem wahren Künstler,der imstande ist, sich aufdie Existenz der echten Kunsteinzulassen,deren ewigeGegenwart einengrellen Kon-

5 Richard Wagner, SämtlicheSchriften undDichtungen. Volks-Ausgabe,16Bde., Bd.1,Leipzig o.J. [1911/ 1914], S. IV. 6 Am Ende derautographen Meistersinger-Partiturz.B.steht:»Donnerstag, 24.Oct.1867/Abends8Uhr.« Vgl. John Deathridge,MartinGeckund Egon Voss, Wagner-Werk-Verzeichnis(WWV). Verzeichnisder musikalischenWerke RichardWagners undihrer Quellen,Mainzu.a.1986,S.478. 7 John Deathridge,»Vollzugsbeamte oder Interpreten?Zur Kritik derQuellenforschungbei Byron undWagner«,in: DerTextimmusikalischenWerk. Editionsproblemeaus musikwissenschaftlicherund literatur- wissenschaftlicherSicht,hrsg. vonWalther Dürr u.a. (= Beihefte zurZeitschrift fürdeutschePhilologie 8), Berlin 1988,S.267. 8 Wagner, SämtlicheSchriften,Bd. 1, S. IV. 214 Roundtable IV:Kontinuität und Wandel in der Musik trastzuder realen geschichtlichenZeitdarstellt. NatürlichklingenhiereinigeMotive ausder Frühromantikan. Nichtunähnlich dem Poetisieren der Musikbei Schellingoder Schumannbringt Wagner eine dritte Ebeneins Spiel: den Zeitverlauf desMusikdramas selbst.Das warmeLeben wird alsGegensatz zurkaltenChronologieder Geschichte hin- gestellt,die wiederum alsEntsprechungzum Erlebnis der idealenZeitdes musikalischen Kunstwerkes wahrzunehmen ist. Oder wieesimplötzlich strahlenden Schlusssatzdes Vorworts zu den Sämtlichen Schriften heißt:

[Der Leser] wird dann inne werden,daß er es nichtmit dem Sammelwerkeeines Schriftstellers, sondernmit der aufgezeichneten Lebenstätigkeiteines Künstlerszu tunhat,der in seiner Kunstselbst, über dasSchemahinweg,das Lebensuchte. Die- sesLeben aber heißtebendie wahreMusik,die ichals dieeinzige wirklicheKunst derGegenwart wieder Zukunfterkenne.9

Dieses aufgefächerte Empfinden der Zeit führt in den Schriften zu einigeninteressanten Erzählweisenund –umesgelinde auszudrücken –praktischen Problemen im chronologi- schenVerfahren.Inder allererstenSchrift in der Gesamtausgabe, der »Autobiographischen Skizze«aus dem Jahre1843, dieohnehin nach dem Prinzipder Chronologienicht an ers- terStellestehendürfte, findetsichein gespaltenes Erzähler-Ich,das genaudie Spannung zwischenden Zeitebenen im Lebenund Werk Wagnersartikuliert:Einerseitserfährt der Leseretwas vom Künstler,der sich in der realen Welt der Politikund der Geldnotseine Existenz schwer erkämpfen muss.Andererseitsgibtesabund zu den erleuchtenden Ein- schub–die Erzählungvon der stürmischenSchifffahrt über Norwegen nach London zum Beispiel,die den Entwurf des Fliegenden Holländers angeregt habensoll–,der dieideale Umweltdes Künstlersumschreibt.Und wiefastimmer beiWagnerkommt am Ende dieend- gültigeErlösung –schon wieder einplötzlich strahlender Satz, der nach einermythischen Zeit jenseitsvon aller Pedanterie undnüchternenChronologiestrebt:»[I]ch verließ es [Paris]daher im Frühjahr 1842.Zum erstenMal sahich den Rhein, –mit hellen Tränen im Auge schwur icharmer Künstler meinem deutschenVaterlandeewige Treue.«10 Im Aufsatz»Über deutschesMusikwesen« –zunächstauf französischinParis im Jahre 1840 erschienen –verfährt Wagner eher umgekehrt.Zunächstbeschwört er eine mythische Urszeneder deutschenMusik herauf,die es dann im Verlaufder realen Geschichte gegen unauthentischenicht-völkische Traditionenzuverteidigen gilt.11 DieseUrszene,gerade nichtmit irgendeinemabzählbaren Zeitverlauf verbunden,ist alles andere alsmit dem Ereigniseines vorübergehendeninternationalen Erfolges,wie zumBeispieleiner Oper Rossinis, gleichzusetzen:provinziell,örtlich begrenzt,intim,familienfreundlich,himm- lisch, rein, wahrhaftig,bescheiden, gelehrt,und schließlich durcheineinteressenlose und unverfremdete Anwendung der Harmonie unddes Kontrapunkts genährt.Abgesehen vom Innewohnen dieses unberührten Gebietsder deutschenInstrumentalmusik aber gibt es für

9 Ebd.,S.VI. 10 Wagner,»AutobiographischeSkizze«,in: Sämtliche Schriften,Bd. 1, S. 19. 11 Ichbeziehe mich aufbisherunveröffentlichte ForschungenEoinColemans über dieFrühschriften WagnersamKing’sCollege London, diedie Wichtigkeitder erstenfranzösischen Fassung gegenüber derspäterendeutschen Überarbeitungbesonders hervorhebt. Deathridge: Ereignis und Wandel bei Wagner 215 den deutschenGenius, der sich »von neuem einenfestenStandpunkt verschaffen« will,die Möglichkeit, sich »aus seinen Gränzenzuerheben undsomit [bei seinen Nachbarn]etwas Allgemeinesfür dieganze Welt zu schaffen.«12 Dashießfür den jungenWagnernatürlich Frankreich,woder deutsche KomponistMeyerbeerauf dem Gebiet der Oper bereits ge- zeigthatte,wie Deutsche eine universelleRichtungganzimSinne der zeitlosenUrszene der deutschenInstrumentalmusik »auf fremdem Terrain«13 ohne dieBeschränkungender Alltagskunst undtäglichen Geldmacherei anbahnen könnenund müssen. Fürden 58-jährigen Komponisten, der im Jahr 1871 an dieHerausgabeseiner Sämtlichen Schriften ging,war dasnatürlich etwaspeinlich.Der deutsch-französische Kriegwar gerade vorbei undMeyerbeerohnehin schonlängstzum Hauptbösewicht in der wagnerschen Idee vonMusikgeschichte avanciert.Deswegen versah er seinenfrüheren Text mitironischen Fußnoten –wie etwa dem Satz Mephistopheles »Ihr sprechtschon fast wieein Franzos!« ausGoethes Faust –, oder er ließ dieLobgesängeüberMeyerbeereinfach weg. In anderen Worten:Wagnerwurde sein eigener Zensor.Und dies warnur der Anfang.Imzweiten Band zumBeispielkommt dieEntstehung des Rings etwasdurcheinander,indem Wagner –wie ichmit Martin Geck undEgonVossimWagner-Werkverzeichnisnachgewiesen habe14 – den Aufsatz»DieWibelungen« dem erstenEntwurf des Ring-Konzeptsvoranstellte, ohne dabeizuerwähnen, dass er an diesem Aufsatzüberdie angeblichenZusammenhänge zwi- schenFriedrich Barbarossa undder -Legende mindestens biszum Ausbruchder Dresdener Revolution im Maides Jahres 1849 weitergearbeitetund ihnkurzvor seiner Veröffentlichung im September desselbenJahressogar »mannigfachneu«15 redigiert und erweiterthatte.AuchinseinerAutobiographie stellterdie Entstehung seiner Abhandlung Oper undDrama unddie erstenEntwürfezur Musikdes Rings einfachum.16 Diechronologische Einordnung,auf dieder Philologe Wagner so viel Wert legte, stimmt an diesen Stellenabsolut nicht. Wagner hatdiese Retuschen an der tatsächlichen ChronologieseinerSchriften sicher mitAbsicht vorgenommen. Aber warum? Einesist ganz klar:Wir befindenuns hier an ei- nerder empfindlichstenGrenzenimWerk Wagners–dem Übergangvon der Unfreiheit desandie entfremdete Zeit gebundenen Opernkomponistenindie Freiheit desExilkünst- lers,von der Geschichte zumMythosund von der Oper zumMusikdrama. So siehteswe- nigstensinden Schriften aus. DieFluchtaus der entfremdetenOpernwelt, speziell der

12 Wagner,»Über deutschesMusikwesen«,in: Sämtliche Schriften,Bd. 1, S. 160. 13 Ebd. 14 WWV,S.329 –330. 15 Briefvom 16.9.1849anTheodor Uhlig, in:Richard Wagner, SämtlicheBriefe,Bd. 3: Briefe derJahre 1849 –1851,hrsg. vonGertrud Strobelund Werner Wolf,Leipzig 1975,S.122. 16 Richard Wagner, Mein Leben,Bd. 2, hrsg.von Martin Gregor-Dellin,München 1969,S.477.Nach dieser Quelle soll Wagner »noch ermüdet«von seiner »angestrengten Arbeit an ›Operund Drama‹«, in »flüchtiger Skizze«die MusikzuSiegfriedsTod (der erstenFassung der Götterdämmerung)entworfen haben. Doch istbereits derzweiteEntwurf dieses Erstversuchs zurKompositiondes Rings mitdem Datum»12.august[18]50« versehen,während in seinen »Annalen«Wagner»September[1850]: ›Oper undDrama‹begonnen« schreibt (Richard Wagner, Das braune Buch,hrsg. vonJoachim Bergfeld,Zürich undFreiburg i.Br.1975, S. 119).Nachprivataufgezeichneten Angabenalsowar derVorgang gerade umgekehrt. 216 Roundtable IV:Kontinuität und Wandel in der Musik großen Oper Meyerbeers undEugène Scribes, istalsonachdiesemSzenarium nurals er- folgreich zu betrachten. Istaberdie von Wagner selbst vorgeschlagene Dreiteilungseinermusikalischen Werk- biographie –die große Oper bis ,die bis ,das musika- lische Dramavom Ring biszum –allgemein akzeptiert worden,soentsprichtdiese Einteilung der Geschichte seiner Textekeineswegs. Gerhartvon Graevenitzhat sicher Recht, dass beiWagnerTextund Musiknicht nurdem ästhetischenRangnachinkommen- surabelsind, sondern auch ganz verschiedene innere Wandlungen genommen haben.17 Währendsichdie MusikWagners im LaufeseinesLebensvon der großen Oper immer mehr entfernte, istdas dramaturgische Verfahren seiner Libretti dem Musterder großen Oper immerverhaftetgeblieben.Eng verhaftet, wieGraevenitzmeint,ist allerdings eine Übertreibung,denndie TheatererfahrungenWagners,die er in seinesogenannten Dich- tungen einbrachte, schlossen auch Züge ausWerken von Aischylos, Shakespeare, Schiller undanderen ein. Dem Verfahren von Scribe undMeyerbeerinder großen Oper aber, Geschichtsbilder alspolitischeAllegorieninSzene zu setzen,die um dasunbewältigte Trauma derRevolutionkreisten, istWagnerimGrundegenommentreugeblieben. Daraus erklärt sich diefrappierende Ähnlichkeit desjournalistischenDeutungsstils einesGeorgeBernard Shaw mitder literarischenTechnik Heinrich Heines,der auch nicht zögerte, eine große Oper wie Robert le diable einerpolitischen Entschlüsselung zu unter- ziehen.Man könntesogar mitGraevenitzbehaupten,die Techniksei repräsentativfür das schriftstellerischeVerfahren beiMeyerbeer/Scribeund Wagner überhaupt.Wennbei Shaw Siegfriedals BakuninoderSiegfried alsProtestantdem bösen Reaktionär Alberich als Bismarck unfreiwillignachgibt, so kann beiHeine Robertlediable, »der Sohn einesTeufels, der so verruchtwar,wie PhilippÉgalité«, alsGeist sowohl »seinesVaterszum Bösen, zur Revolution« alsauch»seiner Mutter zumGuten,zum altenRegime« erscheinen.18 Die entgegengesetztenBewertungen einermöglichengesellschaftlichenUmwälzung einerseits undder restaurativen Kräfte des Ancien Régime andererseits ändern nichts an derTatsache, dass dieliterarischeTechnik,derer sich Heineund Shaw beiihren Deutungenbedienen, fast diegleiche istund den allegorischen Synkretismusdes Meyerbeer/Scribeschen und WagnerschenVerfahrenswiedergibt. SynkretistischimselbenSinne istdie MusikWagners aber gewiss nicht. Entspricht der quasi-dialektische Verblendungszusammenhang des Ring-Textes, in demdie Spuren zwi- schenGeschichteund Mythos eher verwischt alsdeutlichvoneinander getrennt werden,der tatsächlichen Chronologieder Entstehung des Rings,sohat dieMusik gleich vom Anfang an eine solche plastische Präsenz, dass mannur voneinem semiotischen Aufeinanderprallen sprechen kann,das immerhin dasunter Wagner-Anhängern endloseKämpfen um den so- genanntenrichtigen Inszenierungsstilbeim Ring erklärenkönnte. In den Texten Wagners wird –wie in fast jeder großen Oper der Zeit –das geschichtliche Lebeneiner Epochein allegorischer Gestaltzum Gehalt desWerkes undwiederumdiese Allegoriezum Status einesMythosemporgehoben, der allepolitischeRealitätzugleichübersteigen undsubjektiv

17 Gerhartvon Graevenitz, Mythos.Zur Geschichteeiner Denkgewohnheit,Stuttgart 1987,S.261. 18 Heine, zitiertnachGraevenitz, Mythos,S.262. Deathridge: Ereignis und Wandel bei Wagner 217 ergründen soll.Die MusikaberstellteineRealitätdes mythischen Lebens aufAnhieb dar, dienur jenseitsaller Geschichte undrealenLebenserfahrung existieren kann.Spiegeltdie entstellte Chronologiebei Wagner keineswegsdie eigentliche Kontinuitätimdramatur- gischenVerfahren von der großen Oper biszum Ring,sostelltsie einenideologischen PunktseinerMusik frappierenddar:den endgültigenBruch mitMeyerbeerund miteiner an Geschichte gebundenen jüdischenMusik,die mitdem zeitlosenMythosdes deutschen Volksnichtszuschaffen hat. DieseexklusivemusikalischeInnenweltder Subjektivitätwurde polemisch–und ganz zu Recht–von Nietzschespäterdem Anspruch aufdie Vitalitätdes tatsächlichen Lebens in der Musikvon Bizets Carmen entgegengesetzt. Undzur Debatte steht hier wirklich der Wert einerMusik,die –aus welchen Gründen auch immer–imLeben Wagnersder chro- nologischenZeitdes historischen Lebens immerradikaler den Rückenzukehrte. Oder wie Wagner in seiner im Jahre1870verfasstenSchrift »Beethoven« feststellte –einer Schrift übrigens, in der er mitder Hilfeder Philosophie Schopenhauers dasVerhältnis zwischen der Geschichte,dem utopischemKünstlerleben undder Zeiterfahrungdes musikalischen Kunstwerksneu zu definieren versucht:

Hier ist[in einemjener berühmtenKirchenstücke Palestrinas]der Rhythmus nurerst noch durchden Wechselder harmonischen Accordfolgen wahrnehmbar,während er ohne diese, alssymmetrischeZeitfolge fürsich, garnicht existirt;hierist dem- nach dieZeitfolge noch so unmittelbarandas,ansichzeit- undraumloseWesen der Harmonie gebunden,daß dieHilfe der Gesetzeder Zeit fürdas Verständniseiner solchenMusik noch garnicht zu verwenden ist.19

Diestrikte Abtrennung der Musikvon den Gesetzen der realen Zeit,auchwennsie von einergeschichtlichen KontinuitätinseinendramaturgischenVorstellungenabgeschwächt wird,ist beiWagnerdas wahrepolitischeMoment, indem er durchseine Musikeine Utopiedes durchExklusionen unverfremdetengesellschaftlichenDaseins darstellen will. Allerdings dürftendie darin enthaltenenideologischenVerstrickungen, einschließlich der antisemitischen, beim Musikhistorikerkaumetwas anderesals eine Hermeneutikdes Miss- trauenswecken. Eine Hermeneutikdes Vertrauens, dieimstandeist,positiv nach den Grün- den desälteren Wagner fürdie Rekonstruktionder Ereignisseund Wandlungen im eigenen Werk zu fragen,könnteaberzudem Schluss kommen,dasshiereineArt Lehrstückvor- liegt, wieman zwischen der Musikgeschichteund der ästhetischen Präsenzmusikalischer Werkevermittelnkannund sogarmuss, um der Bedeutungder Musikgerechtzuwerden. Oder vielleicht eben nicht. Der Ausdruck Goethesüberden »Gangdes Herankommens« in seinem BriefanZelter, nachdem ihmMendelssohn einige Passagen ausden Werken der großen Komponistender VergangenheitinchronologischerFolge vorgespielthatte, hört sich nach einergründlichen Lektüreder Sämtlichen Schriften Wagnersfastnaivan. Dennoch bleibt im Sinnevon Goethe undMendelssohn der Satz von Carl Dahlhausdurch- ausnochzuverstehen: »Das Empfinden fürdie zweieinhalbJahrhunderte, dieuns von der

19 Richard Wagner,»Beethoven«, in: SämtlicheSchriften undDichtungen. Volks-Ausgabe,16Bde., Bd.1, Leipzigo.J.[1911/1914],S.61–126,hier: S. 79.Für denHinweis dankeich Eoin Coleman. 218 Roundtable IV:Kontinuität und Wandel in der Musik

Entstehungszeitder Matthäus-Passion trennen, störtdie ästhetischeKontemplationkeines- wegs, sondernbildeteinen Teil von ihr.«20 Kann manaberdas Wesender Musikinder Kontinuitätdes Geschichtlichenüberhaupt noch finden? Schwächen dieGedanken über Ereignisund Wandel der Musikinder Vergangenheitdie Erfahrungder Musikdermaßen ab,dassesnicht mehr möglichist,die offizielleMusikwissenschaftals eine fähige kritische Instanzinder allgemeinen Öffentlichkeit zu betrachten? In der BlütezeitHegelswaren Goethe undMendelssohn natürlichnicht bereit, sich solche ketzerischen Fragen zu stellen. BeiWagnerdagegen findenwir eine große Skepsisder akademischenMusikgeschichts- schreibung gegenüber, diezwarinihrer ideologischenÜberfrachtung kompromittiertist, aber mitihren idiosynkratischenund zerstreutenquasi-philosophischen (aberauchnicht gerade hegelschen)Ideen über verschiedenartige Zeiterlebnisse an den Kern von Musikund Musikgeschichteund deren Kontinuitätund Wandel gelangen könnte.

Karol Berger (Stanford, CA) Time’sArrow and the Advent of Musical Modernity*

It wasone of theeffects of ScottBurnham’sbook, BeethovenHero1,tohaveremindedus to what extent theexpectationsand valuesofall thosebroughtupinthe Europeanart musictradition continue to be informed by theassumptions derived from thekey worksof Beethoven’s heroicstyle,not theleast amongthemthe 5thSymphony.The particular as- sumptionIaminterestedinhere,however,goesbeyondthe confines of theheroicstyle and underlies virtuallyall of theclassical Viennese instrumental repertory,the repertory which forErnst Thoedor Amadeus Hoffmann wasthe paradigm of musicalmodernity.The assump- tion is,simply, that in musicthe temporal order in whichthe events occuralwaysmatters. Therecan be little doubtthatitdoesindeedmatterinthe Viennese sonata-genres. The dispositionofeventsinasonata(or astringquartet,asymphony, aconcerto),the temporal order in whichtheyappear, is of theessence:totamperwithitistodrasticallychange, or destroy,the meaningofthe work.The reason forthisis, most generally, that in themusic of this kind thetemporalpositionofanevent is an essential componentofthe event’s meaning. Thetemporalpositions of themainand second subjects, or of theexpositionand recapitulation,cannotbeswapped at will.Ifone is to experiencesuchworks with under- standing,one hastoregister, however dimly, that thematerialbeing developed hasbeen

20 Carl Dahlhaus, Grundlagender Musikgeschichte,Köln1977, S. 15. * Acomplete versionofthispaper appearsin: KarolBergerand Anthony Newcomb(eds.), Musicand theAestheticsofModernity: Essays,Cambridge, MA 2005.Reprintedbypermission. 1 ScottBurnham, BeethovenHero,Princeton, NY 1995.