
211 John Deathridge (London) Ereignis und Wandel bei Wagner Im Jahr 1830 machte FelixMendelssohn einen14-tägigenBesuchbei Johann Wolfgang von Goethe in Weimar.Von seinen Erlebnissenmit dem »treffliche[n] Felix« berichtete Goethe in einemBrief vom 3. Juni 1830 an Carl FriedrichZelterFolgendes: Mirwar seineGegenwart besonderswohltätig,daich fand mein Verhältnis zur Musiksei noch immerdasselbe; ichhöresie mitVergnügen, Anteil undNachdenken, liebemir dasGeschichtliche, dennwer versteht irgend eine Erscheinungwenner sich von dem Gang desHerankommens [nicht] penetriert?1 DieLiebe Goetheszum Geschichtlichenund zum»Gang desHerankommens«einer Er- scheinungist vielleicht keineÜberraschung, zumalsie hier zu einerZeitzum Ausdruck kommt,als der Ruhm Georg WilhelmFriedrich Hegels sich seinem Höhepunktnäherte. Interessantist,wie Goethe den »Gangdes Herankommens«inder Musikverstand: Dazu wardenndie Hauptsache, dass FelixauchdiesenStufengang[d.h. den Stufen- gang desGeschichtlichen]recht löblicheinsieht, und, glücklicherweise sein gutes Gedächtnis ihmMusterstückealler ArtnachBeliebenvorführt.Von der Bachischen Epocheheran,hat er mirwiederHeyden,Mozartund Gluckzum Lebengebracht; von den großen neuernTechnikernhinreichende Begriffe gegeben, undendlich mich seineeigenen Produktionen fühlen undübersie nachdenkenmachen; istdaher auch mitmeinenbestenSegnungen geschieden.2 Leider wissenwir nichtmehrgenau,worüber im Gespräch zwischen Goethe undMen- delssohnnachgedacht wurde. Allerdings könnten wiruns vorstellen,dassGoethemit den Worten »großen neuernTechnikern« etwa Beethoven undSchubertmeinte, d.h. sich eine Reihe verschiedener KomponisteninchronologischerFolge von Mendelssohnvorspielen ließ, dievon BachüberHaydn,Beethoven undSchubertbis zu Mendelssohnselbstreichte. Oder fassen wireskurzzusammen: Goethe undMendelssohn betrachteten den Stufen- gang desGeschichtlichen in der Musikals eine Chronologieder bedeutendstenKomponis- ten, dieoffensichtlichmit einerentsprechendenEntwicklung der musikalischenTechnik ein- herging–eineobjektive Betrachtungsweise,die ihrem Vergnügenund ihrem Anteil an dieser Musikkeineswegswidersprach. SelbstverständlichsindGoetheund Mendelssohnnicht dieEinzigenimfrühen19. Jahr- hundert, dieden Satz Hegels »was gewesenist,ist in der That kein Wesen; es istnicht«3 undialektischmissverstanden. Geschichte,Chronologie, »Gangdes Herankommens«–oder 1 Johann Wolfgang vonGoethe, SämtlicheWerke nachEpochen seines Schaffens.MünchnerAusgabe,Bd. 20,2: Briefwechsel zwischen Goethe undZelterinden Jahren 1799 bis1832,hrsg. vonEdith Zehm undSabineSchä- ferunter Mitwirkung vonJürgenGrußund Wolfgang Ritschel,München 1998,S.1357. 2 Ebd. 212 Roundtable IV:Kontinuität und Wandel in der Musik wie3mansonst den Ausdruck »was gewesenist«verstehenwill–alsdas Weseneiner Er- scheinungbekommenwir sogarbei denOpuszahleneines Beethoven oder Hummel zu spüren.Ich meinedamit nichtnur dieWerkeselbst, sondernauchdas bloße Auflistenvon Werken,die dann alssolche in der Welt in einerbestimmtenReihenfolge erscheinen unD danach identifiziert werden.(Stellenwir unsdie Verwirrung der Historiker vor,wenn auszwingendenphilologischenGründen etwa die Hammerklaviersonate viel früher in der Chronologiedes BeethovenschenSchaffenseinzuordnenwäreund dieniedrigeOpuszahl fünf oder sechstragenmüsste!) UnDDasselbegiltnatürlich fürdas allmählich blühende Geschichtsbewusstsein der Historiker undAnalytikerwie Adolph BernhardMarx, auch wennihrekompliziertere Auffassung von Geschichte letztenEndes von der hegelschen Dialektik grundsätzlichabweicht. Ob der Zeitpunktum1830den wirklichen Anfang der Idee desGeschichtlichen alsdas Wesender Musikrepräsentiertodernicht –von einigen interessantenVorstufen ganz abzusehen, diesogar ins18. Jahrhundertzurückreichen4 – undganzegalwie wirden genauen Zusammenhang desGoethe-Briefesbetrachten, gehen wirsicherrecht in der Annahme, dass dieFrage nach der Kontinuitätund dem Wandel in der Musik, diedie noch ständigzunehmendeSpannungzwischen der ästhetischen Präsenz musikalischerWerkeund einemmöglichenÜbermaß der bloß musealen Darstellungge- schichtlicherInformationen zurVoraussetzung habenmuss, durchaus nichtneu ist. Allerdings istdieseslängstvergangene Nachdenkenüberdie Frageuns nichtsogeläufig, alsdassessichohneweiteresvergegenwärtigenließe. Gewiss binich hier in demhegelschen Satz über dasgrundsätzlicheNicht-Wesen desGewesenen genausoundialektisch verstrickt (fastals ob icheineAufführungder Hammerklaviersonate mitder Geschichte desWerksver- wechselte) wieGoetheund Mendelssohn, mitder zusätzlichen Wendung, dass beimir auch dieernsthafteGefahrbesteht,michineinem postmodernenSpiegelsaal desverwirrenden Reflektierenszubefinden:etwaeineGeschichtedes Nachdenkens über dasGeschichtliche, dieselbstdes Nachdenkens über ihre Geschichte bedarf.Ganzkonkret allerdings istdie ein- facheTatsache, dass wirnur ahnenkönnen, wiedie Gesprächeüberden »Gangdes Heran- kommens«inder Musikbei Goethe undMendelssohn verliefen.Auchbei anderen Musikern wissen wirzwar, dass siesichals lebendes Moment einesbestimmtengeschichtlichen Ver- laufswahrnahmen–und dementsprechendzum Teil auch komponierten –, aber im Detail wissen wirnicht so genau, ob siesichder Konsequenzenihrer Geschichtsauffassung in Bezug aufihreeigeneKompositionspraxis oder ihrer Stellung in der Musikgeschichteüberhaupt vollkommenbewusst waren. Eine Ausnahme bildet Richard Wagner.Und der Grundist sicher der,dassersovielüber sich undseinWerkveröffentlichte.Trotzdemist in densechzehn Bänden seiner Sämtlichen Schriften,die auch dieTexte zu seinen Bühnenwerken enthalten, seinen Ideenüberdie Pro- blematik der Kontinuitätund desWandels in der Musiknicht leicht aufdie Spurzukom- men. DieSchriften sind wieein schwarzes Loch – ablack hole,wennich einenTerminusder 3 GeorgWilhelmFriedrich Hegel, GesammelteWerke,Bd. 9: Phänomenologiedes Geistes,hrsg. vonWolf- gang Bonsiepenund ReinhardHeede,Hamburg 1980,S.67. 4 Vgl. John Deathridge,»TheInvention of German Musicc.1800«,in: Unityand Diversity in European Culturec.1800,hrsg. vonTim Blanning undHagen Schulze (= Proceedingsofthe BritishAcademy 134), Oxford 2006. Deathridge: Ereignis und Wandel bei Wagner 213 Astronomie entlehnendarf–,indem alles enthaltenzuseinscheint undgleichzeitig un- sichtbar oder zumindestnicht leicht überschaubar ist. Nirgends beziehtsichWagner, der ohnehinabsichtlich einenKrieg gegenakademischesDenkenführte, aufeineverständliche Vorstellungvon Geschichte oder eineneinleuchtenden philosophischen Begriffder Zeit unDDes Zeitempfindens. Doch habenwir überall in seinen Schriften dasGefühl, dass es ihmgeradedarum geht.Nirgendsfinden wireinen wirklich einheitlichenGedanken, der Disparates–unter anderem Autobiographie,Geschichte, Philosophie,Politik,Musik- theorie, Aufführungspraxis–als geordnetesSystemhätte erscheinen lassen.Doch haben wirdas Gefühl,dasserauf etwasEinheitliches hinaus will.Erschreibt, er ließe seineSchrif- tendeswegeninchronologischerFolge veröffentlichen, um zu zeigen,wie »selbstdie ver- schiedenartigstenVeranlassungen doch immernur daseineMotiv in mirwachriefen, welches meinem ganzen, noch so zerstreutenschriftstellerischen Wirken zu Grunde liegt«.5 Nirgends aber wird dieses Motiverklärt. Stellenwir zunächst einmal fest,dassWagnerimmer geradezu besessen war, fast alle seineManuskripte genauzudatieren –und zwar manchmal nichtnur aufden Tag, sondern auch aufdie Uhrzeit.6 Ichhabeihn vor einigenJahrenetwas polemischals den »Philo- loge[n]seinerselbst«7 apostrophiert,und heutenehme ichdiese Beschreibung keineswegs zurück.Warum aber bestandWagnerdarauf, sich chronologischindie realeZeitsoklein- lich einzuordnen? Im Vorwortzuden Sämtlichen Schriften –inmancher Hinsicht übrigens einSchlüsseltext zumVerständnisseinerWerkeüberhaupt –spracherzwar, wiewir schon gesehenhaben,von einemeinheitlichen Motiv, dasangeblich dem Wirken der Schriften zu Grunde liegt. Fast im selben Atemzugaberstellte er paradoxerweise fest,die chrono- logischeReihenfolge derSchriften nach ihrerEntstehung habe denVorteil,»denAnschein eineswirklichenwissenschaftlichenSystems«8 beisovielZerstreutem zu verhindern. Der Widerspruch istzum Teil damitzuerklären, dass Wagner hauptsächlich daraninte- ressiert war, mindestens drei verschiedene Zeitebenen in seinen Werken nachzuvollziehen. Alserste gibt es dieKontinuität der Geschichte,inder dasStreben desKünstlers –ein- schließlich der Auseinandersetzungmit einerihm banalenUmwelt –verankertist.Der Künstlerempfindetaberdie Geschichte alsdoppelte Herausforderung:Esgiltdie realeZeit nichtnur zu beherrschen, indem mansichselbstvon TagzuTag datiertund sich damitdas eigeneDenkmal in der Welt setzt, sondernihr alsdem unerbittlich Chronologischenauch zu entkommen. Nach Wagner gelingt dies nurdem wahren Künstler,der imstande ist, sich aufdie Existenz der echten Kunsteinzulassen,deren ewigeGegenwart einengrellen Kon- 5 Richard Wagner, SämtlicheSchriften undDichtungen. Volks-Ausgabe,16Bde., Bd.1,Leipzig o.J. [1911/ 1914], S. IV. 6 Am Ende derautographen Meistersinger-Partiturz.B.steht:»Donnerstag, 24.Oct.1867/Abends8Uhr.« Vgl. John Deathridge,MartinGeckund Egon Voss, Wagner-Werk-Verzeichnis(WWV). Verzeichnisder musikalischenWerke RichardWagners undihrer Quellen,Mainzu.a.1986,S.478. 7 John Deathridge,»Vollzugsbeamte oder Interpreten?Zur Kritik derQuellenforschungbei Byron undWagner«,in: DerTextimmusikalischenWerk. Editionsproblemeaus musikwissenschaftlicherund literatur- wissenschaftlicherSicht,hrsg. vonWalther Dürr u.a. (= Beihefte zurZeitschrift fürdeutschePhilologie 8), Berlin 1988,S.267. 8 Wagner, SämtlicheSchriften,Bd. 1, S. IV. 214 Roundtable IV:Kontinuität und
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