______

2 Die Musik und ihre Flüsse II: Fließende Übergänge Von Euphrat und Tigris, Jordan und Nil zur Seine

Autor: Die Musikstunden dieser Woche sind den Flüssen gewidmet und dem, was mit ihnen anklingt. Heute geht es – mit fließenden Übergängen – vom Euphrat über den Jordan und Nil bis an die Seine. Der Stadtkern der Hauptstadt des Irak liegt nicht all zu weit entfernt von den Ufern des Tigris (und auch der südlicher gelegen Euphrat ist nicht weit). Daher soll die Ouverture zum Barbier von Bagdad den Auftakt bil- den für einen kleinen musikalischen Parcours vom Orient zum Okzident – wobei der Dichterkomponist Peter Cornelius aus spätromantischer Intention ein auf die Erzählungen aus den Tausendundein Nächten ge- stütztes Märchen-Morgenland heraufbeschwor, das sich um historische Quellen oder Lokalkolorit wenig scherte. Und die heutigen Hörer küm- mern die Verwässerungen wenig, die diese 1858 von in Weimar unter ungünstigen Bedingungen uraufgeführte Komische Oper zunächst nicht auf den Erfolgsweg brachte (der begann später).

Es spielt das SWR-Rundfunkorchester Kaiserslautern unter Leitung von Florian Merz.

Musik 1: P. Cornelius, Ouverture zu „Der Barbier von Bagdad“ (1858) SWR-Rund- funkorchester Kaiserslautern; Florian Merz; M0069607 007; Dauer: 4‘45“

Das SWR-Rundfunkorchester Kaiserslautern unter Leitung von Florian Merz eröffnete mit der Ouverture zu Der Barbier von Bagdad von Peter Cornelius – mit Musik, die von der Begeisterung für Reiseberichte aus dem nahen Osten und dem aufkommenden Exotismus profitierte, ohne mit der orientalischen Musik zu liebäugeln oder sich gar intensiver mit ihr auseinanderzusetzen (wie dies Ernest Reyer dies bereits 1850 mit sei- ner Symphonie orientale Le sélam vorexerzierte). Um eine Projektion, allerdings eine sehr leichtfüßige, handelt es sich auch bei einem der wundersam erotischen Gedichte von Heinrich Hei- ne, in dem die „Fluren des Ganges“ am poetischen Horizont auftauchen. Das literarische Problemsubjekt annonciert da einer als „Herzliebchen“ angesprochen Person einen Freiflug nach Indien. Felix Mendelssohn Bartholdy gesellte dem „seligen Traum“ von der weit nach Osten ent- rückten Liebesnacht 1834 eine Melodie zu nebst zart-gleichförmig per- lender Klavierbegleitung – eine Park-, Luft- und Wassermusik zugleich. Christoph Prégardien singt, begleitet von Andreas Staier am Klavier, das zweite Lied aus Mendelssohns op. 34: Auf Flügeln des Gesanges.

Musik 2: Felix Mendelssohn Bartholdy, „Auf Flügeln des Gesanges“ op. 34 Nr. 2 (nur die erste Strophe); Ausführende: Christoph Prégardien, Tenor; Andreas Staier, Klavier / M0247940 020 Dauer: 2‘35“

3 Die auf die Flüsse des Orients gerichteten literarischen Ausflüge des 19. Jahrhunderts haben eine längere Vorgeschichte. Einer der Quellzuflüsse – neben Tausendundeine Nacht sowie der von der Orientalistik er- schlossenen persischen, indischen oder japanischen Dichtungen – ist das Alte Testament. Zu den nachhaltigen literarischen Figuren der ‚Psalmen Davids’ gehört die Klage um das verlorene Jerusalem und den zerstörten salomoni- schen Tempel: „An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten (...) Denn dort hießen uns singen, die uns gefangen hielten, und in unserm Heulen fröhlich sein: ‚Singet uns ein Lied von Zion!’“1

Schon rein logisch kann dieses Lamento, das in brutale Rachephanta- sien ausgleitet, in der tradierten Form nicht auf den ums Jahr 1000 v. Chr. regierenden König David, den großen Bauherrn Jerusalems, zu- rückgehen. Es muß aus einer sehr viel späteren Schicht der Überliefe- rung stammen – aus der Zeit nach dem Untergang des Nordreichs Israel und der Zwangsumsiedlung der dortigen Einwohner ins Zweistromland im 8. Jahrhundert sowie nach der Eroberung und Zerstörung der „hoch- gebauten Stadt“ durch babylonische Truppen und der Deportation zu- mindest der jüdischen Oberschicht an die Ufer von Euphrat und Tigris. Zu Beginn des 6. Jahrhunderts entwickelte Nebukadnezar II. die Ge- wohnheit, alljährlich Strafexpeditionen in die zahlungsunwilligen und nicht hinreichend respektvollen Regionen am Rand seines gewaltigen Imperiums durchzuführen und bei diesen Gelegenheiten sein Staatsge- biet zu arrondieren. Er ließ den ägyptischen Einfluß in Palästina zurück- drängen und ordnete, wenig zimperlich, die Verhältnisse in der Levante neu. Die Erinnerung an das babylonische Exil, diese erste Zeit der „Di- aspora“, ist bis heute ein zentrales Moment der jüdischen Kultur – Leo- nard Bernsteins 1. Symphonie von 1942, hier der Anfang dirigiert vom Komponisten, stellt sich in die Tradition der Anrufung der verwüsteten Stadt und des geschändeten zentralen Heiligtums: „Meine Zunge soll an meinem Gaumen kleben, wo ich dein nicht gedenke, [...] Jerusalem“.2

Musik 3: Leonard Bernstein, Jeremiah, 1. Symphonie, 2. Satz „Profanation“ (Anfang) M0050291 002 Dauer: 0'31"

Die Erinnerung, schrieb Jean Paul, sei das einzige Paradies, „aus dem wir nicht vertrieben werden können.“ Auch für die Kunst der christlichen Kirchen bedeuteten die Psalmen ei- nen zentralen Fundus. Auf ihn griffen die Komponisten bevorzugt zurück 4 – lange, ganz nach der Norm, auf die lateinische Version der Texte und zunehmend für kunstfertige mehrstimmige Gebilde. In den Jahrzehnten der Reformation entstand dann, als Grundstock einer von den Gemein- demitgliedern getragenen neuen protestantischen Singpraxis, eine Viel- zahl deutscher, französischer oder englischer Psalmlieder.3 Im Rahmen der Übertragungen ins Deutsche und der Popularisierung einer neuen, in ihrer Einfachheit allen zugänglichen Kirchenkunst komponierte Wolf- gang Dachstein, seit 1521 Organist an der Thomaskirche in Straßburg, eine Melodie zu Psalm 137: An Wasserflüssen Babylon4 und wurde von Johann Sebastian Bach mit einem vierstimmigen Satz bedacht.

Musik 4: J.S. Bach, „An Wasserflüssen Babylon“, Choral zu 4 Stimmen, BWV 653 Gächinger Kantorei , Helmuth Rilling; M0061806 009; Dauer: 1’20“

Von den Wasserflüssen Babylon mag die nicht nur in der asiatischen Kultur gebräuchliche Konnotation von Wasser und Trauer herrühren, die auch das westliche Musikleben wieder berührte – man denke nur an die im Jahr 2000 in Stuttgart uraufgeführte Water Passion von Tan Dun. Was nun Dachsteins Choral aus dem Jahr 1525 betrifft, so rhythmisierte Johann Sebastian Bach die Melodie nach mehr als 200 Jahren vom 4/4- in den 3/4-Takt um und verarbeitete sie auf „verschiedene Art“ zum Orgelchoral (drei Fassungen von Bachs Hand sind überliefert). Die lite- rarische Metapher wurde zu musikalischem Bekenntnis mit reicher in- strumentaler Figuration. Freilich hat es mit der Entstehung dieses Werks eine heiter-komische Bewandtnis, deren Details allerdings nicht verläßlich zu verifizieren sind. So weit wir jedenfalls wissen, reiste der herzoglich weimarsche Hoforga- nist und Konzertmeister im Sommer 1717 nach . Das putzte sich eben prächtig sich heraus und lebte kräftig auf Pump. Sebastian Bach war mit den Arbeitsbedingungen an der Ilm höchst unzufrieden, wollte gerne eine besser angesehene und bezahlte Stelle, da er für eine konti- nuierlich wachsende Familie Brot und Schulgeld heranzuschaffen hatte. [Ob der damals bereits über die Landesgrenzen hinaus ob seiner „gigan- tischen Faust“5 zum Begriff gewordene Bach es selbst war, der sich in der sächsischen Hauptstadt ins Gespräch brachte oder ob es, wie Au- gust Emil Brachvogel behauptete,6 ein Mitglied der Hofkapelle und weitläufiger Bekannter7 war – kurzum:] Im Rahmen von Hofintrigen sollte es zu einer „Gegeneinanderhaltung“8 mit dem am Hofe weilenden, in ganz Europa gerühmten Cembalisten und Organisten Louis Marchand9 im Palais des Marschalls Graf von Fleming kommen. Doch der Maître aus Versailles zog es vor, sich im letzten Augenblick der Gegenüberstel- lung durch diskrete Abreise zu entziehen. Hinterlassen habe er in der Eile nur ein Chanson mit Variationen, das er August III., dem kampf- und lebenslustigen starken Kurfürsten und König, kurz zuvor gewidmet hatte. Diese Blätter, so wird berichtet, seien Bach vorgelegt worden, da- 5 mit er sie den bereits versammelten Schaulustigen vom Blatt weg vor- spiele. Er habe sich aber geweigert,10 statt dessen die Choralbearbei- tung An Wasserflüssen Babylon kredenzt. Die damit demonstrierte Bor- niertheit und die fromme Belehrung im strengen Satz hat der Hof, wenn die Berichte von besagtem Wettspiel mehr sind als nur fromme Legende, nicht goutiert. Der avisierte Aufstieg nach Dresden fiel ins Wasser.

Musik 5: J.S. Bach, Orgelchoral „An Wasserflüssen Babylon“ BWV 653 Orgel: Winfried Enz / M0070834 015 Dauer: 5’30“

Winfried Enz spielte den Orgelchoral An Wasserflüssen Babylon BWV 653 von Johann Sebastian Bach.

Das Verhältnis der Flüsse zu den Menschen ist nicht nur von der Kon- templation des sanften Dahinfließens bestimmt, sondern auch durch die Gefahren, die von den Klippen, Strudeln und Katarakten ausgehen, ggf. Schiffer und Kahn verschlingen – oder von den Folgen der über die Ufer tretenden Wassermassen. Zuletzt, im Sommer 2010, geriet in Asien der Indus ‚außer Kontrolle’.11 Der Überreichtum an Wasser beschert, trotz solcher wiederkehrender Katastrophen, nur einen Teil der Nöte, der Wassermangel für die explosiv gewachsene Bevölkerung in vielen Län- dern zwischen Gibraltar und dem Pazifischen Ozean den anderen und womöglich größeren. Dabei sind die Probleme der großen Dürre keines- wegs neu. – Wir greifen noch einmal auf das Alte Testament zurück, aus dessen Königsbüchern sich Felix Mendelssohn Bartholdy einen Text für sein Oratorium Elias zusammenstellte. Gleich zu Anfang droht der Prophet, der dem Werk den Titel gab, dem König Obadjah, der seiner Ansicht nach vom Pfad des rechten Glaubens abgewichen war, mit dem Ausbleiben des Regens und dem Versiegen von Bächen und Flüssen. Erst nach den mit Stentorstimme in den Raum gestemmten ersten pro- phetischen Drohungen – welch coup de théâtre! – setzt das Orchester mit der Ouverture ein.

Musik 6: F. Mendelssohn Bartholdy, Oratorium „Elias“ op. 70, Nr. 1 und 2 Andreas Schmidt (Elias), Gürzenich-Orchester Köln, James Conlon EMI 5 56475 2 CD 1, Take 1 und 2 Dauer: 4’34“

Der Bassist Andreas Schmidt sang die Worte des Propheten, es spielte das Gürzenich-Orchester Köln unter Leitung von James Conlon.

Zentral geht es im Elias um das Wasser, das höhere Mächte den Men- schen vorenthalten.12 Auch in der Zeit der israelischen und jüdischen Könige haben kluge Herrscher bereits mit Hilfe von Meinungsumfragen regiert.13 Die erste Kraftprobe kann Elias für sich entscheiden: der lan- gersehnte Regen setzt ein und das schwankende Volk dankt dem mit blutiger Strenge durchgesetzten Gott. Wasser und Gnade füllen Fluß 6 und Tal. Bis hinunter zum Jordan. Wegen Meinungsumschwung in der Bevölkerung muß der Prophet freilich ein zweites mal fliehen. Er erinnert sich schließlich als Eremit in einer Höhle hoch über dem Wasser-Rinnsal des auf Jericho zuführenden Wadi Kelt seiner emphatischen Gotteser- fahrung, bevor er im feurigen Wagen entrückt wird (man kann den Origi- nalschauplatz beim Katharinenkloster heute noch besichtigen). Wäre der Jordan nicht ohnedies von alters her schon durch manchen Choral präsent gewesen – Richard Wagner hätte ihn nach Deutschland umgeleitet. Die Meistersinger von Nürnberg beginnen – nach dem wuch- tigen Vorspiel – mit Gemeindegesang in der Katharinenkirche.14 Man singt, vierstimmig und mit vielerlei Bezügen, einen Johannes-Choral – zur Erinnerung an den Täufer am Jordan, der auch Namensgeber für Hans Sachs wurde (den eigentlichen und nur ein bißchen tragischen Helden dieser Großen Komischen Oper). Jordan und Taufe bilden die Introduktion zur konfliktreichen Verhandlung eines anstehenden Initiati- ons-Rituals. Das Jordan-Wasser, inzwischen rarer als Rotwein, und die in der Oper immer wieder aufblitzende König-David-Emblematik grundie- ren schließlich die Apotheose deutscher Kunst der Vergangenheit, Ge- genwart und Zukunft. Das stellt sich als fürwahr meisterhafter fließender Übergang politisch-literarisch-musikalischer Motivik dar. Es ist Transfor- mation des Fließenden ins Handfeste – hier der zarte Anfang in einer historischen Aufnahme mit Chor und Orchester der Wiener Staatsoper unter Fritz Reiner.

Musik 7: Richard Wagner, „Die Meistersinger von Nürnberg“, Anfang 1. Aufzug bis kurz vor Einsatz Stolzing; Orfeo C 667 054 L; Chor und Orchester der Wiener Staatsoper, Fritz Reiner Dauer: 3’40“ Take 2 vorne nach dem Orchesterschlag einblenden und bei 3’42 ausblenden

Giuseppe Verdis Aida wurde für die Eröffnung des Suez-Kanals ge- schrieben, kam aber wegen Imponderabilien im Zuge des deutsch- französischen Kriegs von 1870/71 erst mit Verspätung in Dar Elopera Al Misria, zur Uraufführung. [Dies leicht exotisch getönte Werk mag implizit als Antwort auf die deutsch-national gefärbten Meistersinger genommen werden, die 1868 in München erstmals gegeben wurden.] Nicht nur durch den äußeren Anlaß ist die für ein Jubelfest des freien Welthandels geschaffene „Aida“ den orientalischen Wassern verbunden, sondern auch durch Libretto und Musik. Der Feldzug gegen die äthiopischen Truppen, der von Radames erfolgreich geleitet wird, geht dem Nil ent- lang nach Süden – und den großen Fluß hinunter werden auch die Ge- fangenen zur Siegesparade verfrachtet. Der Dritte Akt spielt im Mond- schein „am Ufer des Nils“, auf dem sich eine Barke nähert: die Pharao- nentochter Amneris fleht Isis um künftiges Eheglück an.15

Musik 8: Giuseppe Verdi“, Anfang 3. Akt (bis Einsatz Ramphis); Metropolitan Opera Chorus u. Metropolitan Opera Orchestra New York, James Levine; M0268231 034 Dauer: ca. 2’30“ 7

Giuseppe Verdi, der Anfang des 3. Akts der Oper Aida, in einer Auf- nahme mit dem Metropolitan Opera Chorus und Metropolitan Opera Orchestra New York unter James Levine.

Verdis Aida wurde zwar 1871 in Kairo aus der Taufe gehoben, trat ihren Siegeszug aber in den überarbeiteten Fassungen für die Scala in Mai- land und insbesondere mit der erweiterten Ballettmusik für das Palais Garnier in Paris an. Auf der Reise vom Nil an die Seine, wenn sie – wie früher recht üblich – zunächst von Alexandria bis Süditalien das Schiff nutzt, dann den Land- weg, wird so mancher Fluß überquert, der Eingang in die Musikgeschich- te fand. Schon 1642 setzte sich Ascanio Pio di Savoia in seiner allego- rischen Ballettvorlage Le pretensioni del Tebro e del Po mit den ‚Ansprü- chen’ (oder ‚Anmaßungen’) von Po, dem längsten Fluß Italiens, und Ti- ber, dem drittlängsten, auseinander (der zweitlängste ist die Etsch oder Adige). Der Priester, Harfenist und Komponist Marco Marazzoli schrieb zum Wetteifern der beiden Flüsse Musik – für das Hoftheater in Ferrara. Der Sack, in den die vom Berufskiller Sparafucile abgestochene Gilda am Ende von Giuseppe Verdis Rigoletto gesteckt wird, soll im Mincio bei Mantua versenkt werden (wir überspringen ihn hier, ebenso wie den Rhein, von dem und von dessen Musik morgen gründlicher die Rede sein soll). Charles Gounods Mireille von 1864 basiert auf einem provençalischen Poem von Frédéric Mistral über Leben und Leiden einfacher Leute an der Rhône, das Michel Carré als Libretto einrichtete. Die Lebensum- stände der Binnenschiffer auf der Seine dienten, gestützt auf Didier Golds Schauspiel Houppelande, 1918 dem ersten Teil von Giacomo Puccinis Trittico als Folie für die Eifersuchtstragödie Il tabarro: Auf ei- nem Schleppkahn vor der Stadtsilhouette mit Notre Dame oder Eifelturm blickt Kapitän Michele, der zum Mörder an dem Mann wird, den er für den Liebhaber seiner Frau hält, in die Abendsonne. Auch bei diesem veristischen Kurzdrama spielt der Fluß eine nicht unerhebliche Nebenrol- le. Puccinis Il tabarro gehört mit seinem unmittelbaren Bezug zum Leben auf der Seine zu einem der vielen Zuflüsse, die die Pariser Musik- und Theaterkultur seit dem 17. Jahrhundert zunächst vor allem von italieni- schen Künstlern erfuhr, dann zunehmend auch von deutschen, österrei- chischen oder ungarischen, von polnischen, böhmischen, russischen, spanischen, niederländischen, skandinavischen und denen aus Übersee. Schon der für das Musikleben der französischen Hauptstadt so prägende Jean-Baptiste Lully, der Musik- und Tanzmeister des „Sonnenkönigs“ Louis XIV, stammte ja aus Florenz. Ebenso der um die Wende zum 19. Jahrhundert prägende Komponist und Konservatoriumsdirektor Luigi Cherubini. Imm zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts aber avancierte Paris zum El dorado für Kulturschaffende aus aller Herren Länder.

8 Nach der Julirevolution 1830 brach in Paris die große Zeit der Salons an. Franz Liszt16 kam bereits 1823 als Wunderjüngling in die Hauptstadt der Epoche. Mitte Januar 1834 trat er zusammen mit Ferdinand Hiller aus Frankfurt17 in den Salons Pleyel auf und wenige Tage in den Salons Érard. Im März dann Chez Chantereine und in den Salons Dietz, im April dann mit dem frühvollendeten Ludwig Schuncke aus Kassel18 in den Salons Pape sowie im Hôtel de Ville etc. etc. Auch das Konzertleben profitierte vom Aufblühen der Wirtschaft. Wie ein Magnet zog die Metropole an der Seine fortdauernd Musiker der unter- schiedlichsten Couleur an, Musikenthusiasten und Elevinnen. [Sie be- schallten die Stadt mit ihren Tonkünsten unterschiedlichsten Niveaus. Man genoß den Frühling der Presse- und Versammlungsfreiheit – bis am 5. Jahrestag der Julirevolution auf dem Boulevard du Temple eine Höl- lenmaschine losging, den „Bürgerkönig“ Louis-Philippe verletzte, etliche Leute aus seinem Gefolge und Passanten tötete. Mit den Septemberge- setzen wurde die Pressezensur wieder eingeführt und das Versamm- lungsrecht rigoros eingeschränkt. Anders als die Zeitungen oder die Theater focht dies das Musikleben wenig an. Es florierte – ausufernder, aufschäumender und wütender als zuvor.] Bereits erwähnt wurde die Tendenz zum Sportiven im Konzertbetrieb vor der Neuerfindung der Olympischen Spiele und der Fußballweltmeister- schaften: Quer durch Europa gehörte das Wettspielen, insbesondere von Virtuosen der Tasteninstrumente oder auch von Geigern, zum guten Ton. Bereits berichtet wurde vom legendären „Duell“ zwischen dem fran- zösischen Hoforganisten Marchand und dem um einige Jahre jüngeren Sebastian Bach, das mangels Masse im letzten Moment dann zu einem Bachschen Solo mutierte. Ein anderer berühmter Wettstreit wurde bis zur bittren Neige ausgetra- gen: 1836 traten Liszt und der gleichaltrige Sigismund Thalberg19 eine Pariser Saison lang gegeneinander an – Liszt, technisch nur bedingt überlegen, aber mit gewaltiger Aura auftretend, konnte das Kräftemes- sen in den Salons nach Meinung der tonangebenden Damen klar zu sei- nen Gunsten entscheiden. Der Vortrag des Unterlegenen zeichnete sich durch technische Perfektion aus, aber wohl auch durch dramaturgische Schwächen. Er klang in den Ohren mancher Kritiker zu wenig „beseelt“ und zu gleichförmig: es habe „der zündende Funke“ gefehlt. Doch es ging damals an der Seine nicht nur um Musik, sondern mehr noch um eine gewisse politische Blitzableiterfunktion, welche die Tonkünste von Zeit zu Zeit durchaus entwickeln können.

Musik 11: Sigismund Thalberg, Fantaisie sur l’Opera ‚La Fille du régiment’ (von G. Donizetti); Francesco Nicolosi, Klavier; Naxos 8.223365 (Take 1, von 7’33“ bis 8’53“) Dauer: 1’20“

Einen immensen Zufluß beschert haben dem französischen Musikleben Franz Liszt wie Sigismund Thalberg, aus dessen Fantasie über The- 9 men aus Gaetano Donizettis Oper Die Regimentstochter Francesco Nicolosi einen Ausschnitt zu Gehör brachte – nicht anders als Chopin und Dutzende anderer Virtuosen. „Diese ewige Klavierspielerei ist nicht mehr zu ertragen“, rekapitulierte Heinrich Heine 1843 in einem Bericht für die Augsburger Allgemeine. „Ja, Pianoforte heißt das Marterinstrument, womit die jetzige vornehme Gesellschaft noch ganz besonders torquiert und gezüchtigt wird für alle ihre Usurpationen. Wenn nur nicht der Unschuldige mit leiden müßte!“20 Was aus den von Érard oder Pleyel & Co. gebauten Kästen drang, ver- glich der eidechsenöhrige Emigrant mit den schlimmsten alttestamenta- rischen Plagen: „Diese grellen Klimpertöne ohne natürliches Verhallen, diese herzlosen Schwirrklänge, dieses erzprosaische Schollern und Pi- ckern, dieses Pianoforte tötet all unser Denken und Fühlen, und wir wer- den dumm, abgestumpft, blödsinnig“.21 Gerade die Klaviermusik, der technische Fortschritt beim Klavierbau – hin zu lauteren und voluminöse- ren Instrumenten – und die Entstehung einer „Musikindustrie“ war ihm ein Indikator von sozialer, ökonomischer und politischer Entwicklung. Heine wörtlich: „Die Triumphzüge der Klaviervirtuosen sind charakteris- tisch für unsere Zeit und zeugen ganz eigentlich von dem Sieg des Ma- schinenwesens über den Geist. Die technische Fertigkeit, die Präzision eines Automaten, das Identifizieren mit dem besaiteten Holze, die tö- nende Instrumentwerdung des Menschen, wird jetzt als das höchste ge- priesen und gefeiert. Wie Heuschreckenscharen kommen die Klaviervir- tuosen jeden Winter nach Paris“22 – die Extravaganten und die Introver- tierteren, die Schausteller des in kapitalistischer Jugendblüte sich erhe- benden bürgerlichen Musiklebens und die „musikalischen Gentlemen“, die „furchtbaren Klavierschläger“23 und die Missionare der verstorbenen großen Komponisten, die Donnergötter und die „Raffaels des Fortepia- no“ mit dem sanfteren Fluß ihrer Darbietungen.24

Musik 12: Frédéric Chopin, Valse Des-Dur op. 64 Nr. 1 Idil Biret, Klavier; Naxos 8.553170 Dauer: 1’44“

Zu den „Raffaels des Fortepiano“ rechnete Heinrich Heine in erster Li- nie Frédéric Chopin aus Warschau;25 Idil Birit spielte einen seiner „Greatest Hits“ – einen Walzer, der dahingleitet wie ein Bach, von dem sich die Tonkunst ohnedies so manches abgelauscht zu haben scheint. Doch war Chopin in den Vormärzjahren nur ein Stern unter anderen am Pariser Pianisten-Zenith – ein Konkurrent der „älteren Pharaonen“ wie aus Nordhessen,26 aus Mannheim,27 Carl Czerny aus Wien,28 Ignaz Moscheles aus Prag,29 aus Wien,30 und zugleich der jüngeren wie Alexander Dreyschock aus Zak bei Czaslau in Böhmen31 oder dem wohl in Genf geborene Thalberg: Mitbewerber bei der Dauerkonkurrenz in den ver- schiedenen Disziplinen des Schnell- und Lautspielens, des Verblüffens und des Schmachtens. 10 Zu den Nachzüglern bei den Pianisten, die sich in Paris unter höchsten Konkurrenzbedingungen qualifizierten, gehört der 1841 aus Amerika ge- kommene Louis Moreau Gottschalk, der dorthin auch wieder zurück- kehrte und nach einem ziemlich irrwitzigen Leben Ende 1869 in Tijuca bei Rio de Janeiro starb. Mit Gottschalks Scherzo Romantique soll die heutige Musikstunde ausklingen – mit einer Pièce, die die beliebten In- gredienzien der Salonmusik in sich vereinigte, die Idee der französisch- revolutionär gemünzten Romantik ironisch brach und sich mit sanften Wellenbewegungen einschmeichelte.

Musik 13: L. M. Gottschalk, „Scherzo Romantique“; Alan Marks (Klavier) Nimbus Records NI 7045/6, II, Take 10 Dauer: 3’50“

Absage: Zum Abschluß der Musikstunde von Frieder Reininghaus über einige Flüsse und Zuflüsse in der Musik spielte Alan Marks das Scherzo Romantique von Louis Moreau Gottschalk.

1 Psalm 173, Vers 1 und 3. 2 Psalm 173, Vers 6. 3 Martin Luther entwickelte nachhaltig wirkende Modelle. Von den in der Mitte des 16. Jahrhunderts entstandenen Sammlungen ist wohl Clément Marots Genfer Psalter heute noch die bekannteste. 4 Die Weise diente später auch dem Passionschoral Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld. 5 Vier Jahrzehnte nach J.S. Bachs Tod diktierte der süddeutsche Journalist und Musikexperte Chris- tian Daniel Friedrich Schubart (1739–1791) als politischer Gefangener des württembergischen Her- zogs auf dem Hohenasperg einem Mithäftling Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, die posthum er- schienen; in diesem bedeutenden Quellentext heißt es über Bach: Dieser „war Genie im höchsten Grade. Sein Geist ist so eigenthümlich, so riesenförmig, daß Jahrhunderte erfordert werden, bis er einmahl erreicht wird“. Und: „Seine Faust war gigantisch“ (Christian Daniel Friedrich Schubart, Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, hg. v. Ludwig Schubart, Wien 1806, S. 99ff.). 6 August Emil Brachvogel (1824–1878), Friedemann Bach. Ein Roman aus der Zeit Friedrichs des Großen, Berlin 1858, S. 13ff. 7 Jean Baptiste Volumier (Woulmyer, Voulmier), *~1686 in den spanischen Niederlanden, Violinvirtuose, Dirigent und Komponist, gestorben am 7.10.1728 in Dresden. 8 Die mutmaßlich älteste Quelle dürfte sich in der Leipziger Verteidigung Bachs gegen Scheibes An- griffe von Johann Abraham Birnbaum (1702–1748) finden (erstmals im März 1739 und wieder ge- druckt in Hamburg 1745); in diesem Text wird en passant die pianistische Technik, Improvisationsga- be und kompositorische Meisterschaft Bachs der von „Mons. Marchand“ gegenübergestellt, der „zu seiner Zeit für den größten Meister auf dem Clavier und der Orgel in ganz Frankreich gehalten wurde“; Birnbaum bezieht sich auf Begebenheiten „vor nicht eben gar zu langer Zeit“ in Dresden, die zu be- obachten er wohl selbst keine Gelegenheit gehabt hatte (jedenfalls behauptet er nicht, Augenzeuge gewesen zu sein; er erwähnt auch keine Gewährsleute und führt keine Belege an) – und führt aus, daß „Mons. Marchand, welcher bey seiner Anwesenheit in Dreßden, und da sich der Herr Hofcompositeur ebenfalls daselbst befand, auf Veranlassen und Befehl einiger Großen des dasigen Hofs, von dem letztern zum Versuch und Gegeneinanderhaltung beyderseitiger Stärke auf dem Clavier, durch ein höfliches Schreiben aufgefordert wurde, sich auch anheischig machte, verlangtermaßen zu erscheinen. Die Stunde, da zwey große Virtuosen eins mit einander wagen soll- ten, erschien. Der Herr Hofcompositeur benebst denenjenigen, so bey diesem musikalischen Wett- streite Richter seyn sollten, erwarteten den Gegenpart ängstlich, aber vergebens. Man brachte endlich in Erfahrung, daß selbiger bey früher Tageszeit mit der geschwinden Post aus Dreßden verschwun- den war. Sonder Zweifel mogte der sonst so berühmte Franzose seine Kräfte zu schwach befunden haben, die gewaltigen Angriffe seines erfahrnen und tapfern Gegners auszuhalten. Er würde ausser- 11 dem nicht gesucht haben, durch eine so schnelle Flucht sich in Sicherheit zu setzen.“ Bach habe „die Ehre der Deutschen und seine eigene völlig behauptet“. (zit. nach Neumann/Schulze, Fremdschriftli- che und gedruckte Dokumente zur Lebensgeschichte Johann Sebastian Bachs 1685–1750, etc. 1969, S. 348) 9 Louis Marchand (1669–1732), Cembalist, Hoforganist in Versailles und. Komponist in Paris. 10 Nach einer anderen Version der Legende übertrumpfte Bach den Flüchtling mit dessen eigenen Waffen, indem er dessen „Liedchen“ seinen rauschenden Improvisationen zugrunde legte. 11 Die Überschwemmung weiter Teile Pakistans im Sommer 2010 kostete fast 2.000 Menschen das Leben und machte Millionen zu Flüchtlingen. 12 So prächtig ein an den Oratorienmodellen des 18. Jahrhunderts sich orientierendes Werk wie Men- delssohns Elias die Chormassen in Bewegung und Wallung versetzt, so bedenklich bleibt sein Grund- ton. 1846, als der im Zenith seines Ruhmes stehende Künstler sein op. 70 beim Musikfest in Birming- ham uraufführte, galt es nicht mehr als schicklich, die Hohen Priester einer konkurrierenden Konfessi- on wegen religiöser Auffassungsunterschiede gefangen zu setzen, hinab an den Bach zu führen und – wie der Text umstands- und kommentarlos mitteilt – daselbst zu „schlachten“ (1. Teil, Rezitativ und Chor Nr. 16), dabei auch noch laut zu singen: „Danket dem Herrrn, denn er ist frrreundlich“ (die Hinge- richteten werden von dieser Art der Freundlichkeit weniger angetan gewesen sein). Der gewisse Überdruck des Tonsatzes, welche die Glaubensbekundung und den großen Dankchoral prägt, mutet ein wenig an wie das Pfeifen des eigentlich gar nicht ängstlichen Manns im finsteren Wald. Aber im- merhin setzt der langersehnte Regen ein und das schwankende Volk dankt dem von Elias mit blutiger Strenge durchgesetzten Gott. Wasser und Gnade füllen Fluß und Tal. Bis hinunter zum Jordan. 13 Allerdings fanden Meinungsumfragen und Marktforschung damals noch nicht per Telefon statt, son- dern durch Späher in den Bazaren. 14 … und der sich zunehmend in die Bildmitte schiebenden Werbung des Junkers Walther von Stolzing um die Goldschmiedstochter Eva Pogner. 15 Die Komposition fängt die Uferidylle ein. Sie benötigt diesen stillen Frieden und die kurzen Gebete, um die Fallhöhe zur folgenden tödlichen Intrige herzustellen. Die gefangene Königstochter Aida, Dienstleisterin im Gefolge der Amneris, ist sich der Risiken und Nebenwirkungen ihres Verhältnisses zu Radames noch keineswegs in vollem Umfang bewußt – und fürchtet doch zu Recht, daß „des Niles dunkle Tiefe“ ihr Grab werden könnte. Sie akzentuiert in ihrer hoch erotischen Melancholie ein Ver- hältnis zum verlorenen Vaterland, das dem des Wagnerschen Sachs diametral entgegengesetzt scheint: es ist der fließende Übergang von Ungewißheit ins Bewußtsein des Unglücks. 16 Franz Liszt (1811–1886). 17 Ferdinand Hiller (1811–1885). 18 Ludwig Schuncke (1810–1834). 19 Sigismund (Sigismond) Fortuné François Thalberg wurde am 8. Januar 1812 möglicherweise in Genf geboren, einigen Quellen zufolge als Sohn einer Baronin Wetzlar und des österreichischen Gra- fen Moritz Dietrichstein (in der Geburtsurkunde sind Fortunée Stein und Joseph Thalberg zu Frank- furt/M. als Eltern eingetragen); bereits mit zehn Jahren kam er nach Wien, um dort auf eine Diploma- tenlaufbahn vorbereitet zu werden (was für Dietrichsteins Vaterschaft spricht), warf sich dann aber ganz auf die Musik; vom 14. Lebensjahr an konzertierte er öffentlich und in Salons (u.a. im Hause Metternich); nach erfolgreichen Tourneen durch Deutschland und Großbritannien reüssierte er in Paris mit so durchschlagender Öffentlichkeitswirkung, daß sich Liszt veranlaßt sah, von Genf in die Haupt- stadt der Epoche zurückzukehren, um dort in der „Arena“ präsent zu sein; 1855 ging er nach Süd- und Mittelamerika auf Tournee, blieb bis 1858 in den USA, zog sich dann – nur noch selten in den wich- tigsten Metropolen konzertierend – nach Posillipo bei Neapel zurück, wo er am 27. April 1871 starb. 20 Heinrich Heine, Lutezia, Frankfurt/M. 1959, S. 212; auch in: Sämtliche Schriften in 12 Bd., hg. v. Klaus Briegleb, München und Wien 1976, Bd. V, S. 343. 21 Augsburger Allgemeine Zeitung v. 20.3.1843; Lutezia S. 212. 22 Ebenda. 23 Ebenda S. 216 (vgl. auch Heine-Jahrbuch 2006, FWM S. 125). 24 Ebenda S. 225; auch Briegleb V 358. 25 Frédéric Chopin (1810–1849). 26 Friedrich Kalkbrenner (1785–1849). 27 Johann Peter Pixis (1788–1874). 28 Carl Czerny (1791–1857) 29 Ignaz Moscheles (1794–1870). 30 Henri Herz (1803–1888). 31 Alexander Dreyschock (1818–1869).