Swr2-Musikstunde-20110927.Pdf

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_______________________________________________________________________________________ 2 Die Musik und ihre Flüsse II: Fließende Übergänge Von Euphrat und Tigris, Jordan und Nil zur Seine Autor: Die Musikstunden dieser Woche sind den Flüssen gewidmet und dem, was mit ihnen anklingt. Heute geht es – mit fließenden Übergängen – vom Euphrat über den Jordan und Nil bis an die Seine. Der Stadtkern der Hauptstadt des Irak liegt nicht all zu weit entfernt von den Ufern des Tigris (und auch der südlicher gelegen Euphrat ist nicht weit). Daher soll die Ouverture zum Barbier von Bagdad den Auftakt bil- den für einen kleinen musikalischen Parcours vom Orient zum Okzident – wobei der Dichterkomponist Peter Cornelius aus spätromantischer Intention ein auf die Erzählungen aus den Tausendundein Nächten ge- stütztes Märchen-Morgenland heraufbeschwor, das sich um historische Quellen oder Lokalkolorit wenig scherte. Und die heutigen Hörer küm- mern die Verwässerungen wenig, die diese 1858 von Franz Liszt in Weimar unter ungünstigen Bedingungen uraufgeführte Komische Oper zunächst nicht auf den Erfolgsweg brachte (der begann später). Es spielt das SWR-Rundfunkorchester Kaiserslautern unter Leitung von Florian Merz. Musik 1: P. Cornelius, Ouverture zu „Der Barbier von Bagdad“ (1858) SWR-Rund- funkorchester Kaiserslautern; Florian Merz; M0069607 007; Dauer: 4‘45“ Das SWR-Rundfunkorchester Kaiserslautern unter Leitung von Florian Merz eröffnete mit der Ouverture zu Der Barbier von Bagdad von Peter Cornelius – mit Musik, die von der Begeisterung für Reiseberichte aus dem nahen Osten und dem aufkommenden Exotismus profitierte, ohne mit der orientalischen Musik zu liebäugeln oder sich gar intensiver mit ihr auseinanderzusetzen (wie dies Ernest Reyer dies bereits 1850 mit sei- ner Symphonie orientale Le sélam vorexerzierte). Um eine Projektion, allerdings eine sehr leichtfüßige, handelt es sich auch bei einem der wundersam erotischen Gedichte von Heinrich Hei- ne, in dem die „Fluren des Ganges“ am poetischen Horizont auftauchen. Das literarische Problemsubjekt annonciert da einer als „Herzliebchen“ angesprochen Person einen Freiflug nach Indien. Felix Mendelssohn Bartholdy gesellte dem „seligen Traum“ von der weit nach Osten ent- rückten Liebesnacht 1834 eine Melodie zu nebst zart-gleichförmig per- lender Klavierbegleitung – eine Park-, Luft- und Wassermusik zugleich. Christoph Prégardien singt, begleitet von Andreas Staier am Klavier, das zweite Lied aus Mendelssohns op. 34: Auf Flügeln des Gesanges. Musik 2: Felix Mendelssohn Bartholdy, „Auf Flügeln des Gesanges“ op. 34 Nr. 2 (nur die erste Strophe); Ausführende: Christoph Prégardien, Tenor; Andreas Staier, Klavier / M0247940 020 Dauer: 2‘35“ 3 Die auf die Flüsse des Orients gerichteten literarischen Ausflüge des 19. Jahrhunderts haben eine längere Vorgeschichte. Einer der Quellzuflüsse – neben Tausendundeine Nacht sowie der von der Orientalistik er- schlossenen persischen, indischen oder japanischen Dichtungen – ist das Alte Testament. Zu den nachhaltigen literarischen Figuren der ‚Psalmen Davids’ gehört die Klage um das verlorene Jerusalem und den zerstörten salomoni- schen Tempel: „An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten (...) Denn dort hießen uns singen, die uns gefangen hielten, und in unserm Heulen fröhlich sein: ‚Singet uns ein Lied von Zion!’“1 Schon rein logisch kann dieses Lamento, das in brutale Rachephanta- sien ausgleitet, in der tradierten Form nicht auf den ums Jahr 1000 v. Chr. regierenden König David, den großen Bauherrn Jerusalems, zu- rückgehen. Es muß aus einer sehr viel späteren Schicht der Überliefe- rung stammen – aus der Zeit nach dem Untergang des Nordreichs Israel und der Zwangsumsiedlung der dortigen Einwohner ins Zweistromland im 8. Jahrhundert sowie nach der Eroberung und Zerstörung der „hoch- gebauten Stadt“ durch babylonische Truppen und der Deportation zu- mindest der jüdischen Oberschicht an die Ufer von Euphrat und Tigris. Zu Beginn des 6. Jahrhunderts entwickelte Nebukadnezar II. die Ge- wohnheit, alljährlich Strafexpeditionen in die zahlungsunwilligen und nicht hinreichend respektvollen Regionen am Rand seines gewaltigen Imperiums durchzuführen und bei diesen Gelegenheiten sein Staatsge- biet zu arrondieren. Er ließ den ägyptischen Einfluß in Palästina zurück- drängen und ordnete, wenig zimperlich, die Verhältnisse in der Levante neu. Die Erinnerung an das babylonische Exil, diese erste Zeit der „Di- aspora“, ist bis heute ein zentrales Moment der jüdischen Kultur – Leo- nard Bernsteins 1. Symphonie von 1942, hier der Anfang dirigiert vom Komponisten, stellt sich in die Tradition der Anrufung der verwüsteten Stadt und des geschändeten zentralen Heiligtums: „Meine Zunge soll an meinem Gaumen kleben, 2 wo ich dein nicht gedenke, [...] Jerusalem“. Musik 3: Leonard Bernstein, Jeremiah, 1. Symphonie, 2. Satz „Profanation“ (Anfang) M0050291 002 Dauer: 0'31" Die Erinnerung, schrieb Jean Paul, sei das einzige Paradies, „aus dem wir nicht vertrieben werden können.“ Auch für die Kunst der christlichen Kirchen bedeuteten die Psalmen ei- nen zentralen Fundus. Auf ihn griffen die Komponisten bevorzugt zurück 4 – lange, ganz nach der Norm, auf die lateinische Version der Texte und zunehmend für kunstfertige mehrstimmige Gebilde. In den Jahrzehnten der Reformation entstand dann, als Grundstock einer von den Gemein- demitgliedern getragenen neuen protestantischen Singpraxis, eine Viel- zahl deutscher, französischer oder englischer Psalmlieder.3 Im Rahmen der Übertragungen ins Deutsche und der Popularisierung einer neuen, in ihrer Einfachheit allen zugänglichen Kirchenkunst komponierte Wolf- gang Dachstein, seit 1521 Organist an der Thomaskirche in Straßburg, eine Melodie zu Psalm 137: An Wasserflüssen Babylon4 und wurde von Johann Sebastian Bach mit einem vierstimmigen Satz bedacht. Musik 4: J.S. Bach, „An Wasserflüssen Babylon“, Choral zu 4 Stimmen, BWV 653 Gächinger Kantorei Stuttgart, Helmuth Rilling; M0061806 009; Dauer: 1’20“ Von den Wasserflüssen Babylon mag die nicht nur in der asiatischen Kultur gebräuchliche Konnotation von Wasser und Trauer herrühren, die auch das westliche Musikleben wieder berührte – man denke nur an die im Jahr 2000 in Stuttgart uraufgeführte Water Passion von Tan Dun. Was nun Dachsteins Choral aus dem Jahr 1525 betrifft, so rhythmisierte Johann Sebastian Bach die Melodie nach mehr als 200 Jahren vom 4/4- in den 3/4-Takt um und verarbeitete sie auf „verschiedene Art“ zum Orgelchoral (drei Fassungen von Bachs Hand sind überliefert). Die lite- rarische Metapher wurde zu musikalischem Bekenntnis mit reicher in- strumentaler Figuration. Freilich hat es mit der Entstehung dieses Werks eine heiter-komische Bewandtnis, deren Details allerdings nicht verläßlich zu verifizieren sind. So weit wir jedenfalls wissen, reiste der herzoglich weimarsche Hoforga- nist und Konzertmeister im Sommer 1717 nach Dresden. Das putzte sich eben prächtig sich heraus und lebte kräftig auf Pump. Sebastian Bach war mit den Arbeitsbedingungen an der Ilm höchst unzufrieden, wollte gerne eine besser angesehene und bezahlte Stelle, da er für eine konti- nuierlich wachsende Familie Brot und Schulgeld heranzuschaffen hatte. [Ob der damals bereits über die Landesgrenzen hinaus ob seiner „gigan- tischen Faust“5 zum Begriff gewordene Bach es selbst war, der sich in der sächsischen Hauptstadt ins Gespräch brachte oder ob es, wie Au- gust Emil Brachvogel behauptete,6 ein Mitglied der Hofkapelle und weitläufiger Bekannter7 war – kurzum:] Im Rahmen von Hofintrigen sollte es zu einer „Gegeneinanderhaltung“8 mit dem am Hofe weilenden, in ganz Europa gerühmten Cembalisten und Organisten Louis Marchand9 im Palais des Marschalls Graf von Fleming kommen. Doch der Maître aus Versailles zog es vor, sich im letzten Augenblick der Gegenüberstel- lung durch diskrete Abreise zu entziehen. Hinterlassen habe er in der Eile nur ein Chanson mit Variationen, das er August III., dem kampf- und lebenslustigen starken Kurfürsten und König, kurz zuvor gewidmet hatte. Diese Blätter, so wird berichtet, seien Bach vorgelegt worden, da- 5 mit er sie den bereits versammelten Schaulustigen vom Blatt weg vor- spiele. Er habe sich aber geweigert,10 statt dessen die Choralbearbei- tung An Wasserflüssen Babylon kredenzt. Die damit demonstrierte Bor- niertheit und die fromme Belehrung im strengen Satz hat der Hof, wenn die Berichte von besagtem Wettspiel mehr sind als nur fromme Legende, nicht goutiert. Der avisierte Aufstieg nach Dresden fiel ins Wasser. Musik 5: J.S. Bach, Orgelchoral „An Wasserflüssen Babylon“ BWV 653 Orgel: Winfried Enz / M0070834 015 Dauer: 5’30“ Winfried Enz spielte den Orgelchoral An Wasserflüssen Babylon BWV 653 von Johann Sebastian Bach. Das Verhältnis der Flüsse zu den Menschen ist nicht nur von der Kon- templation des sanften Dahinfließens bestimmt, sondern auch durch die Gefahren, die von den Klippen, Strudeln und Katarakten ausgehen, ggf. Schiffer und Kahn verschlingen – oder von den Folgen der über die Ufer tretenden Wassermassen. Zuletzt, im Sommer 2010, geriet in Asien der Indus ‚außer Kontrolle’.11 Der Überreichtum an Wasser beschert, trotz solcher wiederkehrender Katastrophen, nur einen Teil der Nöte, der Wassermangel für die explosiv gewachsene Bevölkerung in vielen Län- dern zwischen Gibraltar und dem Pazifischen Ozean den anderen und womöglich größeren. Dabei sind die Probleme der großen Dürre keines- wegs neu. – Wir greifen noch einmal auf das Alte Testament zurück, aus dessen Königsbüchern sich Felix Mendelssohn Bartholdy einen Text für sein

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