Plenarprotokoll 15/138 (Zu diesem Protokoll folgt ein Nachtrag)

Deutscher

Stenografischer Bericht

138. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD) ...... 12588 A neten und Siegfried Scheffler ...... 12575 A Dr. (FDP) ...... 12590 C Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ Begrüßung des neuen Abgeordneten Dr. Karl DIE GRÜNEN) ...... 12592 A Addicks ...... 12575 B (CDU/CSU) ...... 12593 C Wahl der Abgeordneten Dorothee Mantel, Doris Meyer (Tapfheim), (BÜNDNIS 90/ und als Schriftführer . . . 12575 B DIE GRÜNEN) ...... 12594 D (SPD) ...... 12596 B Benennung der Abgeordneten Jutta Krüger- Jacob als ordentliches Mitglied für den Pro- Joseph Fischer (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/ grammbeirat für die Sonderpostwertzeichen . 12575 B DIE GRÜNEN) ...... 12597 D Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU) ...... 12598 C Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung ...... 12575 B Joseph Fischer (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 12598 D Absetzung der Tagesordnungspunkte 15 a und b 12576 C Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) ...... 12599 B Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 12576 C (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 12600 B Zur Geschäftsordnung (fraktionslos) ...... 12601 C Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) ...... 12577 A Rüdiger Veit (SPD) ...... 12602 C Dr. Uwe Küster (SPD) ...... 12577 C (SPD) ...... 12604 C

Tagesordnungspunkt 2: Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) ...... 12605 A Jörg Vogelsänger (SPD) ...... Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung 12607 A zu den Ergebnissen des Europäischen Dr. (CDU/CSU) . . . . 12608 B Rates in Brüssel am 4./5. November 2004 Joseph Fischer, Bundesminister AA ...... 12578 A Dr. (CDU/CSU) ...... 12609 B Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU) ...... 12584 A Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD) ...... 12610 A II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Tagesordnungspunkt 3: Fraktion der FDP: Bürokratieabbau und mehr Bürgernähe durch Wettbewerb a) Antrag der Abgeordneten Dr. Maria im Schornsteinfegerwesen Böhmer, , Maria (Drucksache 15/3106) ...... 12625 D Eichhorn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Vermeidung von Spätabtreibungen – Hilfen für Eltern in Verbindung mit und Kinder (Drucksache 15/3948) ...... 12610 A Zusatztagesordnungspunkt 1: b) Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Psy- a) Erste Beratung des von den Abgeordneten chosoziale Beratungsangebote bei Joachim Stünker, Wolfgang Spanier, Schwangerschaftsabbrüchen nach me- Hermann Bachmaier, weiteren Abgeord- dizinischer Indikation ausbauen neten und der Fraktion der SPD sowie den (Drucksache 15/4148) ...... 12610 B Abgeordneten Jerzy Montag, Franziska Eichstädt-Bohlig, (Köln), Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU) ...... 12610 B weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Christel Riemann-Hanewinckel, eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Parl. Staatssekretärin BMFSFJ ...... 12612 B zur Änderung des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuche Ina Lenke (FDP) ...... 12614 C (Drucksache 15/4134) ...... 12625 D Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 12616 A b) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Ge- (CDU/CSU) ...... 12618 A setzes zur Einführung einer Strategi- schen Umweltprüfung und zur Dr. Erika Ober (SPD) ...... 12619 C Umsetzung der Richtlinie 2001/42/EG (SUPG) Maria Eichhorn (CDU/CSU) ...... 12621 C (Drucksache 15/4119) ...... 12625 D

Christel Humme (SPD) ...... 12623 B

Nicolette Kressl (SPD) ...... 12624 C Tagesordnungspunkt 27:

a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Tagesordnungspunkt 26: eines Gesetzes zu dem Dritten Zusatz- protokoll vom 4. Juni 2004 zum Ab- a) Erste Beratung des von der Bundesregie- kommen vom 16. Juni 1959 zwischen rung eingebrachten Entwurfs eines Ersten der Bundesrepublik Deutschland und Gesetzes zur Änderung der Bundes- dem Königreich der Niederlande zur Tierärzteordnung Vermeidung der Doppelbesteuerung (Drucksache 15/4023) ...... 12625 C auf dem Gebiete der Steuern vom Ein- kommen und vom Vermögen sowie ver- b) Erste Beratung des von der Bundesregie- schiedener sonstiger Steuern und zur rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Regelung anderer Fragen auf steuer- zes über die Verwendung elektronischer lichem Gebiete Kommunikationsformen in der Justiz (Drucksachen 15/4026, 15/4166) ...... 12626 A (Justizkommunikationsgesetz – JKomG) (Drucksache 15/4067) ...... 12625 C b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs c) Erste Beratung des Antrags der Fraktionen eines Ersten Gesetzes zur Änderung des der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Transfusionsgesetzes und arzneimittel- GRÜNEN: Sicherheit an unbeschrank- rechtlicher Vorschriften ten Bahnübergängen sofort verbessern (Drucksachen 15/3593, 15/4174) ...... 12626 B (Drucksache 15/4150) ...... 12625 C c) Zweite und dritte Beratung des von den d) Antrag der Abgeordneten Birgit Fraktionen der SPD und des BÜNDNIS- Homburger, Rainer Brüderle, Gudrun SES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Kopp, weiterer Abgeordneter und der Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 III

Änderung wohnungsrechtlicher Vor- Tagesordnungspunkt 4: schriften (Drucksachen 15/3943, 15/4152) ...... 12626 D a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Brandner, , Dr. , Zusatztagesordnungspunkt 2: weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Fritz a) Zweite und dritte Beratung des von der Kuhn, Volker Beck (Köln), Dr. Thea Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Dückert, weiterer Abgeordneter und der eines Gesetzes zur Änderung des Grä- Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE bergesetzes GRÜNEN: Für eine qualifizierte Mitbe- (Drucksachen 15/3753, 15/4170) ...... 12627 A stimmung bei grenzüberschreitenden Fusionen b) Zweite und dritte Beratung des von den (Drucksachen 15/3466, 15/4087) ...... 12645 C Fraktionen der SPD und des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten b) Antrag der Abgeordneten Rainer Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung Brüderle, , des Entschädigungsgesetzes (Ent- (Münster), weiterer Abgeordneter und der schädigungsrechtsänderungsgesetz – Fraktion der FDP: Konzernmitbestim- EntschRErgG) mung neu ordnen – Aufsichtsräte und (Drucksachen 15/3944, 15/4169) ...... 12627 B Eigentümerrechte stärken (Drucksache 15/4038) ...... 12645 D

Zusatztagesordnungspunkt 3: Doris Barnett (SPD) ...... 12645 D

Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktio- Dr. (CDU/CSU) ...... 12647 B nen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Bedeutung des Sparkassensek- Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/ tors für die Mittelstandsfinanzierung vor DIE GRÜNEN) ...... 12649 A dem Hintergrund von Forderungen nach Privatisierung der Sparkassen Rainer Brüderle (FDP) ...... 12650 C

Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD) ...... 12627 C (FDP) ...... 12651 B (CDU/CSU) ...... 12628 C Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär BMWA ...... Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ 12652 C DIE GRÜNEN) ...... 12629 C (CDU/CSU) ...... 12653 D Jürgen Koppelin (FDP) ...... 12630 C Hans-Jürgen Uhl (SPD) ...... 12655 A (SPD) ...... 12632 A Karl-Josef Laumann (CDU/CSU) ...... 12656 D (CDU/CSU) ...... 12633 A

Jutta Krüger-Jacob (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 12634 C Tagesordnungspunkt 5:

Dr. Ralf Stegner, Minister (Schleswig- a) Antrag der Abgeordneten Dagmar Wöhrl, Holstein) ...... 12635 B Anita Schäfer (Saalstadt), Karl-Josef Laumann, weiterer Abgeordneter und der (CDU/CSU) ...... 12638 A Fraktion der CDU/CSU: Konversionsre- gionen stärken – Sechs-Punkte-Plan zur Dr. Bärbel Kofler (SPD) ...... 12639 C Strukturpolitik (Drucksache 15/4029) ...... 12659 A Hartmut Schauerte (CDU/CSU) ...... 12640 C

Gabriele Hiller-Ohm (SPD) ...... 12642 A b) Antrag der Abgeordneten Helga Daub, , Günther Friedrich Ernst Hinsken (CDU/CSU) ...... 12643 B Nolting, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Hilfe durch den Bund (SPD) ...... 12644 C für die von Reduzierung und IV Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Schließung betroffenen Bundeswehr- (Zingst) (CDU/ standorte ist unverzichtbar CSU) ...... 12686 A (Drucksache 15/1022) ...... 12659 A

Peter H. Carstensen (Nordstrand) Tagesordnungspunkt 7: (CDU/CSU) ...... 12659 B

Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär a) – Zweite und dritte Beratung des vom BMWA ...... 12660 C Bundesrat eingebrachten Entwurfs ei- nes … Gesetzes zur Änderung des Helga Daub (FDP) ...... 12662 B Verkehrswegeplanungsbeschleuni- gungsgesetzes (BÜNDNIS 90/ (Drucksachen 15/777, 15/3843) . . . . . 12688 C DIE GRÜNEN) ...... 12663 D – Zweite und dritte Beratung des von Klaus Hofbauer (CDU/CSU) ...... 12665 A den Abgeordneten , Dirk Fischer (), , Rolf Kramer (SPD) ...... 12666 A weiteren Abgeordneten und der Frak- tion der CDU/CSU eingebrachten Ent- Petra Pau (fraktionslos) ...... 12667 C wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Verkehrswegeplanungsbeschleu- Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU) ...... 12668 B nigungsgesetzes (Drucksachen 15/461, 15/3843) . . . . . 12688 C Christian Müller (Zittau) (SPD) ...... 12669 C – Zweite und dritte Beratung des von Joachim Günther (Plauen) (FDP) ...... 12670 A den Abgeordneten (Bayreuth), Joachim Günther (Plauen), Norbert Schindler (CDU/CSU) ...... 12670 B Daniel Bahr (Münster), weiteren Ab- geordneten und der Fraktion der FDP Günter Baumann (CDU/CSU) ...... 12671 A eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Verkehrswegeplanungsbeschleuni- Tagesordnungspunkt 6: gungsgesetzes (Drucksachen 15/221, 15/3843) . . . . . 12688 C Unterrichtung durch die Bundesregierung: Jahresbericht der Bundesregierung zum b) Beschlussempfehlung und Bericht des Stand der deutschen Einheit 2004 Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh- (Drucksache 15/3796) ...... 12672 B nungswesen zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Erfahrungsbericht Dr. h. c. , Bundesminister der Bundesregierung zum Verkehrswe- BMVBW ...... 12672 C geplanungsbeschleunigungsgesetz (Drucksachen 15/2311, 15/2630 Nr. 1.4, (CDU/CSU) ...... 12675 A 15/3843) ...... 12688 D

Arnold Vaatz (CDU/CSU) ...... 12675 B in Verbindung mit Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 12677 C Zusatztagesordnungspunkt 4: Arnold Vaatz (CDU/CSU) ...... 12678 C

Joachim Günther (Plauen) (FDP) ...... 12680 B Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Siegfried Scheffler (SPD) ...... 12681 C NEN eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Verkehrswege- Dr. (CDU/CSU) ...... 12682 B planungsbeschleunigungsgesetzes (Drucksache 15/4133) ...... 12688 D Arnold Vaatz (CDU/CSU) ...... 12684 A Iris Gleicke, Parl. Staatssekretärin Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) ...... 12684 D BMVBW ...... 12689 A

Siegfried Scheffler (SPD) ...... 12685 A Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU) ...... 12690 A Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 V

Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/ land feststellen und bekämpfen DIE GRÜNEN) ...... 12691 D (Drucksache 15/3356) ...... 12700 C Gesine Multhaupt (SPD) ...... Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP) ...... 12693 B 12700 D

Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 12694 B Tagesordnungspunkt 10: Dr. (SPD) ...... 12695 B Antrag der Fraktionen der SPD und des (CDU/CSU) ...... 12697 B BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Stabilisie- rung und Weiterentwicklung des genossen- Volkmar Uwe Vogel (CDU/CSU) ...... 12698 A schaftlichen Wohnens (Drucksache 15/4043) ...... 12703 A

Tagesordnungspunkt 8: Zusatztagesordnungspunkt 6: a) Antrag der Abgeordneten , Lilo Friedrich (Mettmann), Angelika Graf Zweite und dritte Beratung des von der Bun- (Rosenheim), weiterer Abgeordneter und desregierung eingebrachten Entwurfs eines der Fraktion der SPD sowie der Abgeord- Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsge- neten Christa Nickels, Volker Beck setzes und weiterer Gesetze (Köln), Thilo Hoppe, weiterer Abgeordne- (Drucksachen 15/3784, 15/3984, 15/4173) . . 12703 B ter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN: Humanitäre Verantwor- Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär tung für Menschen in Not BMI ...... 12703 C (Drucksache 15/4149) ...... 12700 A (CDU/CSU) ...... 12704 C b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung über die Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ deutsche humanitäre Hilfe im Ausland DIE GRÜNEN) ...... 12707 A 1994 bis 1997 (Drucksache 14/3891) ...... 12700 A Dr. Michael Bürsch (SPD) ...... 12708 B c) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung über die Tagesordnungspunkt 11: deutsche humanitäre Hilfe im Ausland 1998 bis 2001 (Drucksache 15/2019) ...... 12700 A Antrag der Abgeordneten , , Wolfgang Bosbach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ in Verbindung mit CSU: Scheinvaterschaften wirksam be- kämpfen (Drucksache 15/4028) ...... 12709 B

Zusatztagesordnungspunkt 5: Tagesordnungspunkt 12: Antrag der Abgeordneten Holger Haibach, Hermann Gröhe, , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ a) Beschlussempfehlung und Bericht des CSU: Humanitäre Soforthilfe zielgerichtet Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh- gestalten nungswesen (Drucksache 15/4130) ...... 12700 B – zu dem Antrag der Abgeordneten Heidi Wright, Sören Bartol, , weiterer Abgeordneter Tagesordnungspunkt 9: und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten , Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach, Albert Schmidt (Ingolstadt), Volker (Homburg), Cornelia Beck (Köln), weiterer Abgeordneter Pieper, weiterer Abgeordneter und der Frak- und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ tion der FDP: Bildungsarmut in Deutsch- DIE GRÜNEN: Umsetzung des VI Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

nationalen Radverkehrsplans 2002 – Internationalen Arbeitsorganisation 2012 forcieren über Ausweise für Seeleute und zur ver- einfachten Freistellung vom Visumser- – zu dem Antrag der Abgeordneten fordernis Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Dirk (Drucksachen 15/3053, 15/3043, 15/3057, Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, 15/4089) ...... 12710 C weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der CDU/CSU: Radverkehr för- dern – Fortschrittsbericht vorlegen (Drucksachen 15/3467, 15/3708, 15/4103) 12709 C Tagesordnungspunkt 16: b) Beschlussempfehlung und Bericht des Antrag der Abgeordneten Jürgen Klimke, Ausschusses für Tourismus zu dem Antrag Klaus Brähmig, Edeltraut Töpfer, weiterer der Abgeordneten Jürgen Klimke, Klaus Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ Brähmig, Ernst Hinsken, weiterer Abge- CSU: Marketing für die Hauptstadt Berlin ordneter und der Fraktion der CDU/CSU: (Drucksache 15/3491) ...... 12711 B Den Fahrradtourismus in Deutschland umfassend fördern Jürgen Klimke (CDU/CSU) ...... 12711 B (Drucksachen 15/2155, 15/4093) ...... 12709 D Klaus Brähmig (CDU/CSU) ...... 12712 A

Markus Löning (FDP) ...... 12713 A Tagesordnungspunkt 13: Edeltraut Töpfer (CDU/CSU) ...... 12713 D Antrag der Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Markus Löning (FDP) ...... 12714 B Hartmut Koschyk, (Heil- bronn), weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der CDU/CSU: Pilotprojekt für die vir- tuelle Rekonstruktion von vorvernichteten Tagesordnungspunkt 17: Stasi-Unterlagen beginnen (Drucksache 15/3718) ...... 12710 B Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung der Akademie der Tagesordnungspunkt 14: Künste (AdKG) (Drucksachen 15/3350, 15/4127) ...... 12715 B

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP) ...... 12715 C schusses für Wirtschaft und Arbeit Günter Nooke (CDU/CSU) ...... 12716 B – zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜ- Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP) ...... 12716 C NEN: Zu dem Übereinkommen Nr. 185 der Internationalen Arbeitsorganisa- tion über Ausweise für Seeleute und zur Tagesordnungspunkt 18: vereinfachten Freistellung vom Visums- erfordernis a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- – zu dem Antrag der Abgeordneten ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Karl-Josef kommen vom 18. November 2002 zur Laumann, Dagmar Wöhrl, weiterer Abge- Gründung einer Assoziation zwischen ordneter und der Fraktion der CDU/CSU: der Europäischen Gemeinschaft und ih- Zu dem Übereinkommen Nr. 185 der ren Mitgliedstaaten einerseits und der Internationalen Arbeitsorganisation Republik Chile andererseits über Ausweise für Seeleute und zur ver- (Drucksachen 15/3881 (neu), 15/4171) . . 12717 A einfachten Freistellung vom Visumser- b) Antrag der Abgeordneten Klaus-Jürgen fordernis Hedrich, Dr. Friedbert Pflüger, Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter – zu dem Antrag der Abgeordneten Hans- und der Fraktion der CDU/CSU: Für ei- Michael Goldmann, Horst Friedrich (Bay- nen europäisch-kolumbianischen Dia- reuth), Daniel Bahr (Münster), weiterer log und einen erfolgreichen Friedens- Abgeordneter und der Fraktion der FDP: prozess in Kolumbien einsetzen Zu dem Übereinkommen Nr. 185 der (Drucksache 15/3959) ...... 12717 B Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 VII

Zusatztagesordnungspunkt 7: Gesetzes zur Änderung des Ehe- und Le- benspartnerschaftsnamensrechts Zweite und dritte Beratung des von der Bun- (Drucksachen 15/3979, 15/4167) ...... 12717 D desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum internationalen Familien- recht Nächste Sitzung ...... (Drucksachen 15/3981, 15/4168) ...... 12717 C 12718 C

Zusatztagesordnungspunkt 8: Anlage Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 12719 A

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12575

(A) (C) Redetext

138. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Beginn: 10.00 Uhr

Präsident : a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Joachim Stünker, Wolfgang Spanier, Hermann Bachmaier, weite- Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die ren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Sitzung ist eröffnet. Abgeordneten Jerzy Montag, Franziska Eichstädt-Bohlig, Volker Beck (Köln), weiteren Abgeordneten und der Der Kollege Eduard Lintner feierte am 4. Novem- Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- ber seinen 60. Geburtstag und der Kollege Siegfried brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Scheffler am 5. November ebenfalls seinen 60. Ge- Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuche burtstag. Im Namen des Hauses gratuliere ich beiden – Drucksache 15/4134 – Kollegen sehr herzlich und wünsche alles Gute. Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) (Beifall) Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach- Der Kollege Christoph Hartmann hat am 1. Novem- ten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung einer Stra- ber 2004 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundes- (B) tegischen Umweltprüfung und zur Umsetzung der (D) tag verzichtet. Als Nachfolger hat der Abgeordnete Richtlinie 2001/42/EG (SUPG) Dr. am 1. November 2004 die Mitglied- – Drucksache 15/4119 – schaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße Überweisungsvorschlag: Sie sehr herzlich. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit (f) (Beifall) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- wirtschaft Die Fraktion der CDU/CSU teilt mit, dass die Kolle- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ginnen und Kollegen , Melanie ZP 2 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache Oßwald, und ihr (Ergänzung zu TOP 27) Amt als Schriftführer niedergelegt haben. Als Nachfol- a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung ger werden die Kolleginnen Dorothee Mantel, Doris eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung Meyer (Tapfheim), Marlene Mortler sowie der Kollege des Gräbergesetzes Thomas Silberhorn vorgeschlagen. Sind Sie mit diesen – Drucksache 15/3753 – Vorschlägen einverstanden? – Ich höre keinen Wider- (Erste Beratung 129. Sitzung) spruch. Dann sind die genannten Kolleginnen und Kolle- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für gen als Schriftführer gewählt. Familie, Senioren, Frauen und Jugend (12. Ausschuss) Der ehemalige Kollege Hubert Ulrich ist aus dem – Drucksache 15/4170 – Programmbeirat für die Sonderpostwertzeichen ausge- Berichterstattung: schrieben. Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen Abgeordnete Angelika Graf (Rosenheim) Thomas Dörflinger schlägt die Kollegin Jutta Krüger-Jacob als ordentli- Irmingard Schewe-Gerigk ches Mitglied für den Programmbeirat vor. Sind Sie da- Ina Lenke mit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann b) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der ist die Kollegin Krüger-Jacob als ordentliches Mitglied SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- für den Programmbeirat benannt. brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Ent- schädigungsgesetzes (Entschädigungsrechtsänderungs- Interfraktionell wurde vereinbart, die verbundene Ta- gesetz – EntschRErgG) gesordnung um die in einer Zusatzpunktliste aufgeführ- – Drucksache 15/3944 – ten Punkte zu erweitern: (Erste Beratung 132. Sitzung) ZP 1 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses (Ergänzung zu TOP 26) (7. Ausschuss) 12576 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Präsident Wolfgang Thierse (A) – Drucksache 15/4169 – Personalstrukturen bei Drittmittelprojekten im Hoch- (C) Berichterstattung: schulbereich schaffen Abgeordnete Stephan Hilsberg – Drucksache 15/4131 – Manfred Kolbe Überweisungsvorschlag: ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der SPD und Ausschuss für Bildung, Forschung und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Bedeutung des Spar- Technikfolgenabschätzung (f) kassensektors für die Mittelstandsfinanzierung vor dem Innenausschuss Hintergrund von Forderungen nach Privatisierung der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Sparkassen b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Flach, ZP 4 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des , Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs ei- und der Fraktion der FDP: Befristungen von Beschäfti- nes Dritten Gesetzes zur Änderung des Verkehrswegepla- gungsverhältnissen im Hochschulbereich flexibilisieren nungsbeschleunigungsgesetzes – Drucksache 15/4151 – – Drucksache 15/4133 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Technikfolgenabschätzung (f) Rechtsausschuss Innenausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Tourismus Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit ZP 5Beratung des Antrags der Abgeordneten Holger Haibach, erforderlich, abgewichen werden. Hermann Gröhe, Rainer Eppelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Humanitäre Soforthilfe Des Weiteren soll der Tagesordnungspunkt 15 a und b zielgerichtet gestalten – Änderung des Parteiengesetzes – abgesetzt werden. – Drucksache 15/4130 – ZP 6 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung ein- Außerdem mache ich auf geänderte bzw. nachträgli- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Auf- che Überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste enthaltsgesetzes und weiterer Gesetze aufmerksam: – Drucksachen 15/3784, 15/3984 – Der in der 132. Sitzung des Deutschen Bundestages (Erste Beratung 129. Sitzung) an den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Ju- Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses gend überwiesene nachfolgende Antrag soll nunmehr (4. Ausschuss) dem Verteidigungsausschuss federführend überwiesen – Drucksache 15/4173 – werden. Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Michael Bürsch Antrag der Abgeordneten Ina Lenke, Klaus Rüdiger Veit Haupt, Helga Daub, weiterer Abgeordneter und (B) Reinhard Grindel der Fraktion der FDP: Bundeswehr stärken – (D) Josef Philip Winkler Beschäftigungsbedingungen für Soldatinnen Dr. und Soldaten verbessern ZP 7 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum internationalen – Drucksache 15/3960 – Familienrecht Überweisungsvorschlag: – Drucksache 15/3981 – Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Erste Beratung 135. Sitzung) Der in der 132. Sitzung des Deutschen Bundestages Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem (6. Ausschuss) Ausschuss für Tourismus zur Mitberatung überwiesen – Drucksache 15/4168 – werden. Berichterstattung: Abgeordnete Sabine Bätzing Antrag der Abgeordneten Eduard Oswald, Dirk Fischer (Hamburg), , weiterer Ute Granold Irmingard Schewe-Gerigk Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Europäische Eisenbahnmagistrale Paris–Bu- ZP 8 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung ein- dapest im deutschen Abschnitt voranbringen gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ehe- und Lebenspartnerschaftsnamensrechts – Drucksache 15/3715 – – Drucksache 15/3979 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) (Erste Beratung 135. Sitzung) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (6. Ausschuss) Haushaltsausschuss – Drucksache 15/4167 – Der in der 135. Sitzung des Deutschen Bundestages Berichterstattung: überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich Abgeordnete Christine Lambrecht dem Rechtsausschuss, dem Ausschuss für Verbraucher- Ute Granold Daniela Raab schutz, Ernährung und Landwirtschaft sowie dem Haus- Irmingard Schewe-Gerigk haltsausschuss zur Mitberatung überwiesen werden. Sibylle Laurischk Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Reform ZP 9a) Beratung des Antrags der Abgeordneten , Thomas Rachel, Dr. Maria Böhmer, weiterer Ab- der beruflichen Bildung (Berufsbildungsre- geordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Flexiblere formgesetz – BerBiRefG) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12577

Präsident Wolfgang Thierse (A) – Drucksache 15/3980 – Präsident Wolfgang Thierse: (C) Überweisungsvorschlag: Ich erteile das Wort dem Kollegen Küster. Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Dr. Uwe Küster (SPD): Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 9. November 1989 ist für uns immer ein Tag der freudi- gen Erinnerung. Mit diesem Tag nahm der Zug der deut- Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? – schen Einheit seine Fahrt auf; die Mauer fiel. Wir haben Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. uns seit diesem Tag immer gern an die Ereignisse von Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, müssen wir 1989 erinnert, die zur Herstellung der deutschen Einheit zunächst einen Geschäftsordnungsantrag der Abge- geführt haben. Anlässlich des Gedenkens an diesen Tag ordneten Gesine Lötzsch behandeln. Frau Lötzsch hat ist in den vergangenen Tagen alles gesagt worden. Die fristgerecht beantragt, den Tagesordnungspunkt 6 – Be- Medien haben ausführlich darüber berichtet; die unter- ratung des Jahresberichts zum Stand der deutschen schiedlichen Sichtweisen sind ausgetauscht worden. Wir Einheit 2004 – bereits jetzt anschließend mit einer De- werden an dieser Stelle sozusagen keine Vermisstenan- battendauer von zwei Stunden zu beraten. zeige stellen können. Das Wort hat Kollegin Lötzsch. Wir werden die Debatte zum Stand der deutschen Einheit heute Nachmittag in aller Ausführlichkeit und unter reger Beteiligung des Parlamentes führen. Frau Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): Lötzsch, Ihre Vorhersagen, die Sie aufgrund Ihrer sehe- Vielen Dank, Herr Präsident! – Meine Damen und rischen Fähigkeiten geäußert haben, kann ich nicht tei- Herren! Wir als PDS-Abgeordnete halten es für ange- len. messen, dass über den Stand der deutschen Einheit in- Der Zeitpunkt, zu dem wir die Debatte zum Stand der nerhalb der so genannten Kernzeit beraten wird. Wir ha- deutschen Einheit führen, hat nichts mit dem Datum des ben kein Verständnis dafür, dass der Jahresbericht zum 9. November zu tun. Sie wissen, dass es Tradition des Stand der deutschen Einheit erst am späten Nachmittag Hauses ist, dass wir uns jeweils im Herbst über den – außerhalb der Kernzeit und, wie von den Fraktionen Stand der deutschen Einheit auseinander setzen und über intern vorgesehen, bei geringer Teilnahme – besprochen die Konsequenzen für die Fortführung des Prozesses zur werden soll. Wiederherstellung der deutschen Einheit auch auf ande- Gestern hatte ja die Fraktion der CDU/CSU den ren Gebieten debattieren. (B) (D) Wunsch geäußert, in einer Aktuellen Stunde über den Sie von der PDS, der Nachfolgepartei der SED, haben 3. Oktober und dessen Abschaffung als arbeitsfreien die Einheit Deutschlands 40 Jahre lang nicht gewollt. Feiertag zu sprechen. Augenscheinlich durch hand- werkliche Ungeschicklichkeit, wenn ich das richtig ver- (Dr. Peter Danckert [SPD]: Verhindert!) standen habe, ist diese Rechnung nicht aufgegangen; es hat nicht geklappt. Ich kann Sie nur ermuntern: Stimmen Sie tragen die Verantwortung für das Auseinanderdriften Sie meinem Antrag zu, jetzt über den Stand der deut- der beiden deutschen Staaten und für die unterschiedli- schen Einheit zu sprechen! Es ist ja nicht zu übersehen, chen Lebensverhältnisse in beiden deutschen Staaten. dass es in den letzten zehn Tagen in den Medien eigent- Daher fällt es mir sehr schwer, zu akzeptieren, dass Sie lich kein anderes Thema gab als das, wer nun Vater- sich zum Fürsprecher der Debatte zum Stand der deut- landsliebe zeigt und zur deutschen Einheit steht und wer schen Einheit machen. Dieses Haus unterstützt eine sol- den 3. Oktober als Feiertag abschaffen will. che Debatte jederzeit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich habe mir heute Morgen zwar überlegt, ob die Ma- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der cher der Tagesordnung vielleicht vermeiden wollten, CDU/CSU – Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: dass zum Beginn der Karnevalszeit um 11.11 Uhr zum Beschimpfen Sie Ihren Koalitionspartner nicht Stand der deutschen Einheit gesprochen wird; aber ich so!) glaube, diejenigen, die aus dem Rheinland kommen, wissen, dass auch Narren bei wichtigen Themen ernst Wir lehnen Ihren Antrag eindeutig ab. Wir werden sein können. heute Nachmittag die Debatte zu diesem Tagesordnungs- punkt führen. Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, die Bedeu- tung des Themas „Stand der deutschen Einheit“ in der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Form angemessen zu würdigen, dass darüber zu einem des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Zeitpunkt debattiert wird, zu dem die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit durch die Fernsehübertragung ge- Präsident Wolfgang Thierse: währleistet ist, und nicht erst zur Abendbrotszeit, wenn Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den die Fernsehkameras schon abgeschaltet sind. Antrag der Abgeordneten Gesine Lötzsch? – Wer stimmt Vielen Dank. dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der beiden (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) fraktionslosen Abgeordneten abgelehnt. 12578 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Präsident Wolfgang Thierse (A) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf: Damit werden wir wohl noch im November eine neue (C) Kommission bekommen. Dies ist – so unsere Meinung – Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung von entscheidender Bedeutung. Das erweiterte Europa zu den Ergebnissen des Europäischen Rates in braucht starke und handlungsfähige Institutionen und als Brüssel am 4./5. November 2004 entscheidende integrative Institution die Kommission. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä- DIE GRÜNEN sowie bei der SPD) rung zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Wider- spruch. Dann ist so beschlossen. Meine Damen und Herren, der Europäische Rat hat sich intensiv mit der Lissabon-Strategie befasst. Deren Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat Halbzeitüberprüfung wurde konkret vorbereitet. Auf der Bundesminister des Auswärtigen, Joseph Fischer. dem Weg zu dem dafür entscheidenden Frühjahrsrat 2005 sind wir dabei ein großes Stück vorangekommen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Voran? Zu- rückgefallen seid ihr!) Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: – Warum zurück? Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- ren! Nur wenige Tage nach der Unterzeichnung des Ver- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Der Abstand fassungsvertrages in Rom trat der Europäische Rat in wird doch immer größer!) Brüssel zusammen. Dabei standen vier europapolitische Kernthemen im Mittelpunkt der Beratung: erstens die – Zu wem? Lissabon-Strategie, die auf die zentralen Bereiche (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wachstum und Beschäftigung angepasst und ausgerich- NEN) tet wurde, zweitens die Verabschiedung des Haager Pro- gramms, in dem die gemeinsame europäische Asyl- und Ich bitte Sie: Sie können doch nicht allen Ernstes be- Migrationspolitik weiterentwickelt wurde, drittens die haupten, dass wir uns diesbezüglich zurückentwickeln. europäische Öffentlichkeitsarbeit, die angesichts des an- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – stehenden Prozesses der Ratifizierung der Verfassung Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Fah- verstärkt werden muss, und viertens eine ganze Band- ren Sie fort! – Weitere Zurufe von der CDU/ breite wichtiger außenpolitischer Themen. Dabei ging es CSU) vor allen Dingen um die Perspektive für den Friedens- (B) (D) prozess im Nahen Osten, um den Irak und den Iran so- – Ich fahre fort; aber diesen Zuruf nehme ich gerne auf. wie um die Lage in Sudan, Darfur. Damit wird klar, wel- che Bedeutung diese neue Dimension in der erweiterten (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Herr Europäischen Union hat. Bundeskanzler, er soll fortfahren!) Bevor ich auf die einzelnen Themen eingehen werde, Ich kann Ihnen an dieser Stelle nur sagen: lassen Sie mich kurz auf einen anderen, allerdings zen- (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Ein Schritt tralen Aspekt zu sprechen kommen, der selbstverständ- vor und zwei zurück!) lich beim Rat ebenfalls eine Rolle gespielt hat. Während der Europäische Rat tagte, liefen die Bemühungen des Von Wim Kok ist ein Bericht vorgelegt worden; genau designierten Kommissionspräsidenten Barroso um die darüber wurde gesprochen. Aufstellung der neuen Kommission weiter. Auch wenn ( [CDU/CSU]: Schallende Ohr- es formal nicht auf der Tagesordnung des Rates stand, feige!) spielte sein neues Personalpaket eine wichtige Rolle. Die Bundesregierung ist der Meinung, dass der künftige – Das ist keine schallende Ohrfeige. Ich weiß nicht, ob Kommissionspräsident Barroso die richtigen und not- Sie sich selbst dabei bedenken wollen. wendigen politischen Konsequenzen gezogen hat. Ich kann Ihnen an diesem Punkt nur sagen Das Europäische Parlament hat durch seine klare Hal- tung in beeindruckender Weise zu einer Stärkung seiner (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Herr Minister, Rolle im Zusammenspiel der europäischen Institutionen lassen Sie sich doch nicht aus der Ruhe brin- beigetragen. Dies hat das demokratische Prinzip sichtbar gen!) gefördert. Das war auch im Sinne der Verfassungsgeber – nein, ich lasse mich nicht aus der Ruhe bringen –: im Konvent. (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Le- Formell hat der Rat bereits seine Zustimmung zur sen Sie doch einfach weiter vor! Wir können neuen Liste der designierten Kommissare erteilt. Es ist nachher diskutieren!) jetzt erneut Sache des Europäischen Parlaments, eine Entscheidung über die neue Kommission zu treffen. Die Die Empfehlungen des Berichtes der Expertengruppe Bundesregierung hofft, dass der designierte Kommis- um Wim Kok wie auch der Mitgliedstaaten wurden dort sionspräsident im zweiten Anlauf eine klare Mehrheit für vorgelegt und diskutiert. Die Konsequenzen aus diesem die Kommission in der neuen Zusammensetzung erhält. Bericht werden in den Frühjahrsgipfel mit einfließen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12579

Bundesminister Joseph Fischer (A) Mit den Leitlinien des Kok-Berichtes stimmt die Bun- können, müssen die Arbeiten an europaweit geltenden (C) desregierung weitgehend überein. Er hält im Grundsatz Regelungen vorangetrieben werden. an dem ehrgeizigen Ziel fest, Europa bis 2010 zum All das sind Maßnahmen, die von entscheidender Be- stärksten Wirtschaftsraum zu entwickeln. Die Bundes- deutung für die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit regierung unterstützt gemeinsam mit anderen Partnern in sind, die allerdings Anpassungsprobleme für die jeweili- der EU die Konzentration auf die beiden zentralen Ziele: gen nationalen Wirtschaften mit sich bringen. Wer auf nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung, wie es meint, dies sei nicht wichtig, dem kann ich nur sagen, im Kok-Bericht empfohlen wird. dass die Dienstleistungsrichtlinie uns alle gemeinsam Wir teilen auch seine richtigen und wichtigen Aussa- vor sehr große Herausforderungen stellen wird. gen zu zentralen Schlüsselthemen wie Umwelt, For- Ein gesamteuropäisches Vertragsrecht soll geschaf- schung, Binnenmarkt, Bildung und lebenslangem Lernen fen werden, um grenzüberschreitende Geschäfte zu er- sowie die Forderung, das Geschäfts- und Investitions- leichtern. Auch dies ist, wie es scheint, ein trocken klin- klima überall in Europa zu verbessern. gender Punkt; aber es wird ganz erheblicher Leistungen Trotz des schwierigen weltwirtschaftlichen Umfeldes bedürfen, um hier eine Harmonisierung zu erreichen. konnte im Rahmen der Lissabon-Strategie schon einiges Eine einheitliche Bemessungsgrundlage bei der Unter- erreicht werden. Ich will hier nur vier Bereiche nennen: nehmensbesteuerung soll eingeführt werden, um die Erneuerbare Energien leisten einen zunehmenden Beitrag Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Europa insgesamt zu Umweltschutz und Wirtschaftswachstum. Schlüssel- zu fördern. Ein europäisches System der Finanzaufsicht märkte wie die Telekommunikation wurden vollständig soll geschaffen werden, da die Stabilität und Krisenresis- für den Wettbewerb geöffnet. Heute wird in Europa ver- tenz der Finanzmärkte für Europa von entscheidender stärkt in Forschung und Entwicklung investiert. In Bedeutung ist. Zugleich soll ein einheitlicher Rüstungs- Deutschland werden trotz der derzeit schwierigen Haus- binnenmarkt die Konsolidierung der europäischen Rüs- haltslage Bundesmittel in Höhe von rund 8,9 Milliarden tungsindustrie unterstützen und zur Entwicklung einer Euro dafür bereitgestellt. Damit steigt der Anteil der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik bei- Forschungs- und Entwicklungsförderung am Bruttoin- tragen. landsprodukt. Die wissensbasierte Gesellschaft, wie sie Im Rahmen der Vorbereitung der Halbzeitüberprü- in der Lissabon-Strategie eingefordert wird, ist heute in fung hat der Europäische Rat auch die gemeinsame Ini- Deutschland und Europa bereits Realität geworden. tiative des Bundeskanzlers, des französischen Staatsprä- (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Papiertiger!) sidenten und der Ministerpräsidenten von Spanien und Schweden zur stärkeren Einbeziehung der Jugend in den Ende vergangenen Jahres nutzten 98 Prozent der deut- (B) Lissabon-Prozess aufgegriffen. Hierbei geht es konkret (D) schen Unternehmen und mehr als die Hälfte der Privat- darum, einen europäischen Pakt für die Jugend auszuar- personen bereits das Internet. Diese Entwicklung wird beiten, das heißt, allen Jugendlichen die Möglichkeit be- weitergehen. ruflichen Erfolgs zu geben. (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wo leben Sie (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Was für denn?) ein Scheiß!) Wir waren uns auf dem Europäischen Rat aber auch ei- – Ich wage nicht, das zu wiederholen, was Sie gerade ge- nig: Solche Erfolge dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, sagt haben. dass es noch viel zu tun gibt, um das ambitionierte Lissa- bon-Ziel zu erreichen. Die Bundesregierung hat zur Halb- (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Wer zeitbilanz ein eigenes Positionspapier erstellt, das sich hat Ihnen das denn aufgeschrieben?) mit den Grundaussagen des Kok-Berichtes deckt. – Natürlich sind Regierungserklärungen aufgeschrie- (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sagen Sie mal ben. Sie werden nicht frei formuliert; denn Sie wollen ja, was über die ökonomische Wahrheit!) dass sie Ihnen, bevor sie gehalten werden, schriftlich vorliegen. Es wurde der Kommission vorgelegt und während des Rates diskutiert. Seine zentralen Anliegen werden somit Kollege Schäuble, ich will das Wort, das Sie benutzt in die Vorbereitung des nächsten Frühjahrsgipfels ein- haben, nicht wiederholen. Aber ich sage Ihnen: Ange- fließen. sichts der hohen Jugendarbeitslosigkeit, die es zwar nicht in Deutschland, aber in anderen Ländern gibt, ist In diesem Papier betonen wir besonders folgende das eine wichtige Initiative, die ich nicht mit einem solch Punkte: Die Bundesregierung sieht in einem wachstums- unflätigen Wort besetzen würde, wie Sie es gerade getan orientierten Verständnis von Innovation, Wettbewerbsfä- haben. Das muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen. higkeit und Umweltschutz große Chancen. Die Bundes- regierung tritt daher für eine Binnenmarktinitiative ein, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN deren Schwerpunkt in folgenden Bereichen liegen soll: und bei der SPD) Die Energiemärkte und die Energieversorgungssysteme Die Schaffung einer stärkeren Kohärenz der unions- sollen zum Nutzen der Verbraucher weiter liberalisiert weiten Maßnahmen für Jugendliche und die Verbesse- werden. Durch die Einführung einheitlicher Standards rung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf soll der europäische Zahlungsverkehr erleichtert werden. Um Dienstleistungen gemeinschaftsweit anbieten zu (Beifall des Abg. Franz Müntefering [SPD]) 12580 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Bundesminister Joseph Fischer (A) – in diesem Bereich, in dem andere Länder wesentlich der justiziellen Zusammenarbeit noch weiter zu gehen; (C) weiter sind, haben wir in Deutschland aufgrund 16 Jahre aber unser von Frankreich und Spanien unterstützter langer Versäumnisse und einer ideologiegesteuerten Wunsch, schon jetzt mit den nötigen Vorarbeiten, bei- Politik große Defizite –, spielsweise für die Einrichtung einer europäischen Staatsanwaltschaft, zu beginnen, ließ sich noch nicht (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ umsetzen. DIE GRÜNEN) das sind entscheidende Punkte, die der Initiative von Meine Damen und Herren, „Europa den Menschen Staatspräsident Chirac, des Bundeskanzlers und der Mi- vermitteln“, so lautete die Überschrift. nisterpräsidenten von Spanien und Schweden zugrunde (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Da sind liegen. Auch wenn Sie das langweilig finden, handelt es gerade Sie dabei! – Hartmut Schauerte [CDU/ sich hierbei um große Herausforderungen, CSU]: Weit weg davon! – Dr. Wolfgang (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Dann tun Sie Schäuble [CDU/CSU]: Das ist so!) doch endlich etwas!) – Ich will Ihnen eines sagen, Kollege Schäuble: Sie kön- denen wir uns auf europäischer Ebene zu stellen haben. nen mir sicher viel vorwerfen, aber nicht, dass ausge- rechnet ich Defizite hätte, Europa zu vermitteln. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Mit diesen klaren Perspektiven hat der Rat ein Signal in Vorbereitung des wichtigen Frühjahrsgipfels 2005 gege- Im ganzen Europawahlkampf war ich sehr erfolgreich ben. Mit einer verbesserten Lissabon-Strategie hält die unterwegs. Ich kann kein solches Defizit feststellen. EU Kurs, um mehr Wachstum und Beschäftigung zu er- reichen. Das ist für die Bundesregierung ebenfalls ein (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Ent- wichtiges Ziel. schuldigung, Majestät!) Meine Damen und Herren, auf dem Rat wurde da- Dass Sie davon nicht begeistert sind, ist doch völlig klar; rüber hinaus das Haager Programm beschlossen. Dieses darüber brauchen wir nicht zu streiten. neue, auf fünf Jahre ausgerichtete Programm für den Be- reich Justiz und Inneres knüpft an die im Oktober 1999 (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in Tampere vereinbarte Schaffung eines Raumes der sowie bei Abgeordneten der SPD) Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in Europa an. (B) Schauen Sie: Ich saß jahrelang auf den Oppositionsbän- (D) Dies hat zum bisher größten Integrationsschub seit der ken, als Sie die Mehrheit hatten. Ich werde nie die Schaffung des Binnenmarktes geführt. Dieser Erfolg soll Regierungserklärungen morgens um 9 Uhr vom Bundes- jetzt weitergeführt werden. kanzler – heute a. D. – Dr. vergessen: Re- Das Haager Programm setzt dabei drei zentrale, zu- gierungserklärungen sind Regierungserklärungen und kunftsweisende Schwerpunkte: Erstens soll eine gemein- nicht frei gehaltene Reden. Sie tun alles, um wieder in same europäische Asyl- und Migrationspolitik entwi- den Zustand zu kommen, solche Regierungserklärungen ckelt werden, die mit Fragen der inneren Sicherheit, abgeben zu müssen. Und wir tun alles, damit das nicht insbesondere der Bekämpfung des internationalen Terro- eintritt, und Sie können davon ausgehen, wir werden da- rismus, verknüpft wird. bei erfolgreich sein. Zweitens wollen wir europaweit einsetzbare Rechts- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN instrumente schaffen, insbesondere im zivil- und wirt- und bei der SPD – Dr. Andreas Schockenhoff schaftsrechtlichen Bereich, beispielsweise ein europäi- [CDU/CSU]: Tragen Sie erst einmal zu Ende sches Mahnverfahren. vor!) Drittens müssen bereits bestehende Rechtsinstru- – Ihnen, Herr Schäuble, gefällt das nicht. Der vor Ihnen mente im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit aus sitzt, sagt: „Tragen Sie erst einmal zu Ende vor!“ Sie dem Tampere-I-Programm evaluiert und entsprechend werden gleich auf die Regierungserklärung antworten umgesetzt werden. können, also bitte ich Sie: Lassen wir das doch, das sind doch nur Scheingefechte; das wissen Sie als erfahrener Ein längerfristiges Ziel des Haager Programms ist die Parlamentarier so gut wie ich. weitere Ausgestaltung des Raums der Freiheit, der Si- cherheit und des Rechts. Das Programm soll dabei hel- ( [CDU/CSU]: Weiterre- fen, das In-Kraft-Treten des Verfassungsvertrages in die- den! – Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/ sen entscheidenden Politikbereichen vorzubereiten. CSU]: Bringen Sie’s hinter sich! – Zuruf von Deshalb enthält es detaillierte Arbeitsaufträge und klar der CDU/CSU: Für den Papierkorb war die definierte Zeitpläne, so zum Beispiel die Entwicklung Rede! – Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: eines gemeinsamen europäischen Asylsystems sowie Geben Sie’s zu Protokoll!) den Aufbau einer europäischen Asylbehörde bis 2010. – Nein, ich gebe es nicht zu Protokoll. Die Bundesregierung begrüßt dieses Programm nach- drücklich. Wir wären bereit gewesen, gerade im Bereich (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12581

Bundesminister Joseph Fischer (A) Ich muss Ihnen eines sagen: Diese Reihe großartiger Vor allen Dingen der Kollege Wolfgang Schüssel hat (C) Redner hier vorne bei der CDU/CSU, von denen ja nach- hierzu einen besonderen Beitrag geleistet. Herr Bundes- her ein paar zu Wort kommen, kanzler, wir haben es doch selbst gehört: Es waren vor allen Dingen Angehörige von konservativen Mehrheiten (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Lassen Sie – Ministerpräsidenten und Bundeskanzler –, die dieses sich doch nicht aus der Ruhe bringen!) betrieben haben. Ich werde ihnen berichten: Die CDU/ die werden natürlich alle frei reden und jeder von denen CSU-Fraktion findet dieses lustig und meint tatsächlich, würde bei einem Rednerwettbewerb die Nummer eins. man könnte darüber hinweggehen. Dabei kennen wir Ihre Reden seit langem. Jetzt hören (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Wir Sie doch damit auf! waren auf Seite 4! – Zuruf von der CDU/CSU: (Lachen bei der CDU/CSU – Dr. Wolfgang Seite 4, Absatz 2!) Gerhardt [FDP]: Warum lassen Sie sich heute – Es ist überhaupt nicht nötig, mir die Seite zu nennen; Morgen immer aus der Ruhe bringen?) ich weiß selbst, auf welcher Seite ich bin. – Ich lasse mich überhaupt nicht aus der Ruhe bringen, (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Wa- NEN – Lachen bei der CDU/CSU) rum antworten Sie dann auf jeden Zwischen- Es ist ja schön, dass Sie die Seiten mitgezählt haben. Ich ruf, Herr Minister?) sehe, Sie sind mit Begeisterung dabei. Das Thema Eu- sondern ich empfinde es als wohltuend. Insofern kann ropa zu vermitteln, es ist gelungen: Wir können sehen, ich nur sagen – – dass Sie aufgewacht sind. (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Jetzt lacht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) selbst der Kanzler! – Dr. Andreas Der Europäische Rat hat sich weiter mit dringenden Schockenhoff [CDU/CSU]: Der liest auch im- außenpolitischen Fragen beschäftigt; das ist eine, wie ich mer ab! – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: finde, immer wichtigere Dimension. Die Europäische Der lacht Sie aus!) Union ist zunehmend gefordert, ein stärkeres außenpoli- – Herrgott, was soll man dazu sagen? Meine Güte! tisches Profil zu zeigen. Denken wir an das Jahr 2001 zurück, an die furchtbaren Attentate in New York: Da- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Europa mals stellten wir fest, dass die Europäische Union zwar den Menschen vermitteln“, ich sehe, wir sind gerade hef- mit der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungs- tig dabei. Neulich haben wir den Widerspruch Ihrer politik begonnen hatte, eine eigene Außen- und Sicher- (B) (D) Fraktion in der Verfassungsfrage erlebt, Kollege heitspolitik zu entwickeln. Aber angesichts einer solchen Schäuble. Krise wie den furchtbaren Verbrechen vom 11. Septem- (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Aba!) ber 2001 hat sich gezeigt, dass die Europäische Union für die Frage von Krieg und Frieden nicht gebaut war. – Nicht „aba“! Heute stellen wir fest, dass der europäische Beitrag (Lachen bei der CDU/CSU – Heiterkeit beim für die Beantwortung der offenen Fragen im Iran, im BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Irak, im Nahen Osten und auf dem Balkan unverzichtbar Ich habe doch den Kollegen Müller aus München, den geworden ist. Dies gilt auch für Afrika und den Mittleren Kollegen Silberhorn und wie diese genialen Staatsmän- Osten. Krisenbewältigung und Krisenprävention sind ner von der CSU alle heißen – dabei zwei der entscheidenden Aufgaben geworden. (Lachen bei der CDU/CSU – Heiterkeit beim Ohne substanzielle Fortschritte im Nahost-Friedens- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der prozess sind alle anderen Konflikte in der Region unse- SPD) res Erachtens – damit meine ich nicht nur die Bundesre- gierung, sondern den gesamten Europäischen Rat – nicht große Freunde Europas! – hier gehört, als es um die Be- lösbar. Der Plan für den Rückzug aus Gaza und Teilen dingungen ging; ich habe doch gesehen, wie sie mit zu- der Westbank eröffnet eine Chance für einen Fortschritt sammengebissenen Zähnen und ohne die Hand zu rühren im Friedensprozess, die es zu nutzen gilt. Angesichts des dabeisaßen und Frau Merkel vorher, nach dem „FAZ“- Todes von Präsident Arafat – die Bundesregierung hat Artikel, der palästinensischen Führung, der Familie und dem (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Jetzt fan- ganzen palästinensischen Volk ihre Anteilnahme und ihr gen Sie wieder von vorne an!) Mitgefühl ausgedrückt – ist es aber wichtig, dass jetzt kein Machtvakuum entsteht und dass es einen geordne- tapfer durch die Reihen ging und versuchte, die Fraktion ten Übergang auf die Nachfolger gibt. Dieser Plan für zusammenzubringen. Europa vermitteln, das wird sich den Rückzug aus Gaza und Teilen der Westbank eröffnet vor allen Dingen daran festmachen, ob es wirklich ge- nach Meinung des Europäischen Rats die Chance für lingt, hier Mehrheiten für den Verfassungsvertrag zu be- Fortschritte. kommen. Das ist die entscheidende Frage. Die Positionen der EU und des Quartetts hierzu sind (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN klar: Der Abzug darf nicht in einer chaotischen Situation und bei der SPD) enden; er muss vielmehr ein beispielhafter Schritt in 12582 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Bundesminister Joseph Fischer (A) Richtung weiterer Fortschritte auf dem Weg zur Zwei- erfolgreichen Übergang zu Demokratie und Wiederauf- (C) Staaten-Lösung gemäß der Roadmap sein. Das ist von bau. entscheidender Bedeutung, weil wir – damit meine ich Der Europäische Rat hat die jüngsten Terroran- wiederum den Europäischen Rat – der festen Überzeu- schläge, Geiselnahmen und Morde an unschuldigen Zi- gung sind, dass dieser alte, tragische Konflikt, dem auf vilisten im Irak erneut auf das Schärfste verurteilt. Wäh- beiden Seiten so viele unschuldige Menschen zum Opfer rend des Mittagessens beim Treffen mit dem irakischen gefallen sind, nur durch eine Zwei-Staaten-Lösung, ge- Ministerpräsidenten Alawi hat die Europäische Union mäß der Israel und Palästina friedlich als Demokratien am Freitag zum Ausdruck gebracht, dass wir den Kurs in Seite an Seite leben, aus der Welt geschaffen werden Richtung der Wiederherstellung von Sicherheit, Demo- kann. Nur so kann auf Dauer auch das Existenzrecht Is- kratie und Rechtsstaatlichkeit, den das irakische Volk raels gesichert werden, an dem wir ein besonderes Inte- eingeschlagen hat, unterstützen werden. Dabei wurden resse haben. konkrete Maßnahmen aus dem bereits laufenden umfas- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ senden Hilfspaket der Union erörtert. DIE GRÜNEN) Diese Maßnahmen sind breit gefächert. Wir unterstüt- Wenn man dies so sieht, dann ist es allerdings ebenso zen die Wahlen und den Wiederaufbau mit insgesamt wichtig, die palästinensische Staatsfähigkeit herzustel- mehr als 300 Millionen Euro für 2003 und 2004. Darauf len. Die palästinensischen Autonomiegebiete dürfen sich haben wir in einem bilateralen Treffen mit Präsident nicht zu einem Failed State entwickeln, bevor sie über- Alawi deutlich hingewiesen. Bei diesem Treffen hat es haupt die Chance haben, ein eigener Staat zu werden. übrigens überhaupt keine Kritik von seiner Seite gege- Deshalb sind Reformen der Sicherheits-, der Verwal- ben. Im Gegenteil: Das Treffen begann seitens Minister- tungs- und der Wirtschaftsstrukturen unbedingt erforder- präsident Alawi mit Dankesworten für die bisher geleis- lich. Vor allem aber sind Wahlen unerlässlich. Nur sie tete Unterstützung und Hilfe, die Deutschland gegenüber können der palästinensischen Regierung die notwendige dem „neuen“ Irak erbracht hat, und der Bitte darum, Legitimation verleihen, die sie als Verhandlungspartner diese Unterstützung und Hilfe in Zukunft zu intensivie- im Friedensprozess international benötigt. ren. Wir haben gegenüber Ministerpräsident Alawi klar gemacht, dass sich Deutschland bilateral intensiv im Der Europäische Rat hat deshalb das vom Hohen Re- Irak, vor allen Dingen im Bereich des Wiederaufbaus präsentanten Solana vorgelegte Programm gebilligt. Es und der Sicherheit, engagiert. Wir haben für diese Maß- sieht kurzfristig umsetzbare und breit gefächerte Maß- nahmen einschließlich der humanitären Hilfe bisher rund nahmen zur Umsetzung der überfälligen Reformen und 200 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. (B) die Unterstützung der Wahlen in den palästinensischen Wir sind auf dem Treffen des Europäischen Rates (D) Autonomiegebieten vor. Wichtig wird dabei zunächst weiterhin übereingekommen, dass eine integrierte Poli- die Unterstützung der Kommunalwahlen sein, die für zei-, Rechtsstaats- und Zivilverwaltungsmission einen den 23. Dezember 2004 vorgesehen sind. Durch den Tod wertvollen Beitrag zum Wiederaufbau des Iraks leisten von Präsident Arafat kommt jetzt hinzu, dass gemäß der könnte. Wir waren uns aber einig, dass für eine solche Verfassung eine 60-Tage-Frist zu laufen beginnt. Auch Mission, die mit Verbindungselementen im Irak präsent das muss bei diesen Überlegungen berücksichtigt wer- sein soll, erst alle Sicherheitsbedenken ausgeräumt sein den. Die Präsidentschafts- und die Parlamentswahlen müssen; vorher kann keine konkrete Entscheidung ge- müssen im Einklang mit dem palästinensischen Grund- troffen werden. gesetz erfolgen. Auf dem Treffen des Europäischen Rates haben wir Auf dem Europäischen Rat bestand auch Einverneh- einvernehmlich bekräftigt, dass der Ausbau der politi- men darüber, dass alle konkreten Maßnahmen der EU schen Beziehungen mit dem Iran für die Europäische die Aufnahme echter politischer Verhandlungen zwi- Union weiterhin prioritär ist. Unser politisches Ziel blei- schen der palästinensischen Führung und der Regierung ben langfristig angelegte gute Beziehungen, die auch von Israel unterstützen müssen. Wir wollen, dass alle eine wirtschaftliche und technologische Zusammenarbeit konkreten Maßnahmen in diese breite politische Per- umfassen. Entscheidende und unabdingbare Vorausset- spektive eingebettet werden. Zur Untermauerung einer zung für den Ausbau dieser Beziehungen sind aber die solchen Perspektive hat der Rat deshalb beschlossen, Herstellung von überprüfbarem Vertrauen in den friedli- dass Javier Solana in Kürze entsprechende Konsultatio- chen Charakter des iranischen Nuklearprogramms. nen mit den Parteien der internationalen Gemeinschaften Nur die vollständige und anhaltende Suspendierung der und vor allem mit den Mitgliedern des Quartetts durch- Anreicherungs- und Wiederaufbereitungsaktivitäten führen wird. durch den Iran kann den Weg für ergebnisorientierte Ge- spräche über eine langfristige Zusammenarbeit öffnen. Meine Damen und Herren, auch im Irak muss eine politische Lösung gefunden werden. Deshalb haben die Der Europäische Rat hat deshalb nachdrücklich die Vorbereitungen und die Durchführung demokratischer anhaltenden Bemühungen der EU-3 um eine Lösung der Wahlen bis zum Januar 2005 entsprechend der einschlä- Nuklearfrage noch vor Beginn der Sitzung des Gouver- gigen Sicherheitsratsresolutionen eine große Bedeu- neursrats der Internationalen Atomenergie-Agentur am tung, um dort landesweit eine demokratisch begründete 25. November in Wien unterstützt. Es ist gelungen, in Legitimität herzustellen. Die Verbesserung der Sicher- den Gesprächen voranzukommen, aber ich kann noch heitslage ist eine entscheidende Voraussetzung für den keinen Durchbruch vermelden. Der aktuelle Stand ist, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12583

Bundesminister Joseph Fischer (A) dass wir die Gespräche noch nicht wirklich abschließen Europäischen Union und der Afrikanischen Union enga- (C) konnten. giert. Unsere Haltung ist zweifelsfrei klar: Wir wollen nicht Ich möchte nochmals unterstreichen, wie wichtig das das souveräne Recht auf zivile Nutzung der Atomener- Engagement der Afrikanischen Union ist. Die Mittel, gie infrage stellen, das jedem Land im Rahmen der ein- die die Afrikanische Union hat, sind gering. Dort, wo gegangenen internationalen Verpflichtungen vertraglich wir helfen können, sollten wir helfen. Wenn diese Hilfe zusteht. Diese Entscheidungen sind national zu treffen. angefordert wird, sollten wir sie tatsächlich leisten; denn Klar ist aber auch, dass eine militärische Nuklearisie- es ist eine völlig neue Entwicklung in Afrika, dass rung des Irans zu einer gefährlichen Entwicklung in der Afrika die Verantwortung für die Konfliktlösung, für die gesamten Region, die schon heute zu den gefährlichsten Stabilisierung und für den Frieden auf dem eigenen Kon- Regionen gehört, führen würde. Deswegen engagieren tinent übernimmt. Ich denke, das ist eine herausragende wir uns, hier eine Lösung herbeizuführen. Ich hätte mich Entwicklung, die aller Unterstützung seitens der Euro- gefreut, Ihnen am heutigen Tag eine positive Nachricht päer und auch unseres Landes wert ist. übermitteln zu können. Ich kann Ihnen aber weder etwas Positives noch etwas Negatives mitteilen; denn der Pro- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zess ist noch nicht abgeschlossen. Allerdings muss ich und bei der SPD) hinzufügen: Diese Gespräche auf der Ebene der hohen Wir haben deshalb beschlossen, dass die Afrikanische Beamten sind alles andere als einfach gewesen. Union durch uns materiell, finanziell, logistisch und per- Weiterhin hat sich der Europäische Rat mit der Situa- sonell unterstützt wird; denn letztendlich bleibt eine tion in Darfur befasst. Wir hatten gestern beim Besuch politische Lösung notwendig, die wir mit unseren euro- des Premierministers von Äthiopien Gelegenheit, päischen Partnern, insbesondere auch im Sicherheitsrat schwerpunktmäßig über die dramatische Situation in der Vereinten Nationen, weiter mit Nachdruck einfor- Darfur zu sprechen. Die Lage im Westen des Sudans dern. bleibt weiter dramatisch. Mit großer Besorgnis haben Der Europäische Rat vom 4. und 5. November hat in wir in den vergangenen Wochen die eingehenden Be- wichtigen europapolitischen Kernbereichen Neuerun- richte über Angriffe auf die Zivilbevölkerung, anhal- gen oder Vorbereitungen für wichtige Entscheidungen, tende Vergewaltigungen von Frauen und Mädchen sowie die unmittelbar bevorstehen, gebracht. Es war vor allen Vertreibungen zur Kenntnis nehmen müssen. Dingen ein Rat, auf dem vorbereitet wurde, auf dem die Die sudanesische Regierung hat ihre gemachten Ver- Arbeiten nur an wenigen Punkten abgeschlossen werden sprechungen – so der Bericht des Sonderbeauftragten der konnten, ein Arbeitsrat, gleichwohl, wenn man sich die (B) Vereinten Nationen – bisher nicht eingehalten. Die Mili- parallele Entwicklung im Parlament und in der Kommis- (D) zen in der Region wurden entgegen der gemachten Zusa- sion anschaut – das hatte Einfluss auf den Rat –, ein sehr gen bislang nicht entwaffnet. Wir hoffen, dass die ge- bedeutsamer. Es war ein Rat, in dem wichtige außenpoli- samtsudanesischen Friedensgespräche und vor allen tische Fragen zur Entscheidung anstanden. Dingen die Umsetzung zu einem positiven Ergebnis füh- Ich freue mich, dass es gelungen ist, nicht nur Kon- ren. Ermutigend ist die Unterzeichnung von Protokollen sense zu erzielen, sondern zugleich wichtige Entschei- zu humanitären und Sicherheitsfragen durch die sudane- dungen in außenpolitischen Bereichen zu treffen. Ich sische Regierung und die Rebellenorganisationen in erwähne etwa den Plan von Solana, der die Partner- Darfur. schaftsfähigkeit der palästinensischen Seite betrifft, die Es ist jetzt überaus wichtig, dass der politische Druck eine Voraussetzung für eine positive Entwicklung im vor allem auf die sudanesische Regierung, aber auch auf Rahmen der Roadmap ist. Die Unterstützung des Euro- die Rebellenorganisationen weiter aufrechterhalten wird. päischen Rates im Hinblick auf die Initiative der EU-3 Für ein solches politisches Zeichen haben wir uns auf gemeinsam mit Javier Solana gegenüber Iran ist von dem Europäischen Rat entschieden eingesetzt. Ich ver- zentraler Bedeutung, auch wenn ich, wie gesagt, Ihnen hehle nicht: Aufgrund unserer nationalen Position wären noch nicht von einem positiven Abschluss berichten wir gerne weitergegangen. Aber ich denke, dass das kann. Signal, das jetzt gesetzt wurde, ein wichtiges und be- Dieser Rat und sein Erfolg sind nicht zuletzt der ge- deutsames Signal in die richtige Richtung ist. schickten Vorbereitung durch die niederländische Präsi- Die Achtung der Menschenrechte und die Verbesse- dentschaft zu verdanken. Deswegen möchte ich ihren rung der Sicherheitslage für die Bevölkerung in Darfur Beitrag hier abschließend ganz besonders würdigen. bleibt unser zentrales Anliegen. Dahinter steht natürlich Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. die Frage einer drohenden Desintegration dieses großen und für diesen Teil Afrikas und dessen Stabilität ent- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN scheidenden Landes. Die humanitären Besorgnisse ste- und bei der SPD) hen im Vordergrund, aber eine falsche Politik kann dazu führen, dass es nicht zu einem neuen nationalen Konsens Präsident Wolfgang Thierse: kommt, sondern zu dessen Gegenteil und damit zu sehr Ich erteile das Wort Kollegen Wolfgang Schäuble, viel weiter gehenden, sehr viel schlimmeren humanitä- CDU/CSU-Fraktion. ren Folgen. Deswegen bleibt die Bundesregierung mit ihren Partnern in den Vereinten Nationen wie auch in der (Beifall bei der CDU/CSU) 12584 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

(A) Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): und das unterstütze ich auch –, aber Sie haben kein Wort (C) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bun- über die Elfenbeinküste gesagt. Vor allen Dingen haben desaußenminister, Sie haben sich ein wenig betroffen ge- Sie aber über die Vereinigten Staaten von Amerika und zeigt, als wir kritisiert haben, dass Ihre Regierungserklä- über das Verhältnis zwischen Europa und den USA rung eine sehr bürokratische Pflichtübung gewesen ist. gar nichts gesagt. In Amerika waren Präsidentschafts- Sie haben gesagt, bei früheren Regierungserklärungen wahlen und es gibt eine allgemeine Debatte darüber, ob sei das auch so gewesen. Sie hätten gleich hinzufügen jetzt die Chance besteht, in einer neuen Etappe und nach sollen, wie Ihr Verhalten damals als Oppositionspolitiker vorne blickend die Schwierigkeiten im transatlantischen war. Verhältnis, die nicht zuletzt durch die Politik dieser Bun- desregierung in den letzten Jahren verursacht worden (Beifall bei der CDU/CSU – Heiterkeit bei der sind, zu überwinden. CDU/CSU und der FDP) (Widerspruch bei der SPD) Spaß beiseite. Wenn es beim Europäischen Rat ein Thema war, Europa zu kommunizieren, also Europa den Kein Wort darüber in der Regierungserklärung über den Menschen näher zu bringen, dann ist diese Form einer Europäischen Rat. Meine Damen und Herren, das ist ein bürokratischen Regierungserklärung, wo über alle we- Skandal. So kann man die transatlantischen Beziehun- sentlichen Punkte hinweggeredet wird, ein Beispiel da- gen nicht verbessern. für, wie man es nicht machen darf, wenn man die Men- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schen für Europa gewinnen will. Ich nenne als weiteres Beispiel die Lissabon-Strate- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gie. Sie haben es fertig gebracht, hier den Eindruck zu neten der FDP) erwecken, als würden im Zwischenbericht der Kom- Es macht auch keinen Sinn, so zu tun, als wäre alles mission von Wim Kok die erreichten Fortschritte auch Friede, Freude, Eierkuchen und als gäbe es überhaupt noch gelobt. Damit wir uns nicht über Pressemeldungen keine Probleme, und über alles hinweg zu reden. streiten müssen, habe ich die deutsche Übersetzung des Berichts mitgebracht. Bereits im zweiten Absatz der Zu- ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: sammenfassung steht: Es ist doch gerade über Probleme gesprochen worden!) Denn in vielen Bereichen der Lissabon-Strategie wurde es versäumt, die Reformen mit dem erforder- Ich nenne vorweg nur ein Beispiel. Sie sagen: Mit lichen Nachdruck voranzutreiben. Dass die Umset- dem irakischen Ministerpräsidenten Alawi gab es zungsbilanz so enttäuschend ausfällt, hat verschie- überhaupt kein Problem, ganz im Gegenteil. Ich frage (B) dene Gründe: eine überfrachtete Agenda, eine (D) mich nur, warum dann der Bundeskanzler in seiner ihm mangelhafte Koordinierung, miteinander konfligie- eigenen Art davon gesprochen hat, Herrn Alawi sei „ein rende Prioritäten. Vor allem aber mangelt es an ei- Lapsus sprachlicher Art“ unterlaufen. Irgendetwas ist ja nem entschlossenen politischen Handeln. offensichtlich geschehen; es muss also doch ein Problem gegeben haben. (Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört!) (Dietmar Nietan [SPD]: Ein Problem sprachli- Diese Aussagen im Kok-Bericht muss man einmal mit cher Art!) Ihren Aussagen vergleichen. Das geht so nicht! – Es muss jedenfalls eine Auseinandersetzung gegeben (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dietmar haben, weil der irakische Ministerpräsident Kritik an der Nietan [SPD]: Wen meint er denn?) Zuschauerhaltung Deutschlands und Frankreichs geäu- – Ich will Ihnen genau sagen, wen er meint – das ist ßert hat. Beim Problem Irak können wir aber keine Zu- nämlich das Entscheidende an dem Kok-Bericht –, und schauerhaltung gebrauchen. das bringt mich gleich zum nächsten Punkt. Sie, Herr (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei Bundeskanzler, Herr Außenminister, müssen aufhören, der SPD) die Europäische Union als faule Ausrede für die Pro- bleme in unserem Land zu nehmen, die durch Ihre fal- Diese Bundesregierung hat der Resolution des Weltsi- sche Regierungspolitik nicht gelöst, sondern verschärft cherheitsrats ausdrücklich zugestimmt, wonach diese werden. Das ist der Punkt. Übergangsregierung unterstützt werden muss. Man kann deshalb nicht sagen, es habe überhaupt kein Problem ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- geben. Schließlich hat sich Ministerpräsident Alawi neten der FDP – Katrin Göring-Eckardt nicht bedankt, sondern die Haltung Deutschlands kriti- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist völli- siert. Offenbar wollen Sie über diese Kritik nicht reden, ger Quatsch!) sonst hätten Sie dazu in Ihrer Regierungserklärung etwas Kok sagt ganz klar in seinem Zwischenbericht: Ent- gesagt. scheidend für den Erfolg der Lissabon-Strategie – von Ich möchte noch auf einige Themen eingehen, die Sie dem bisher nicht die Rede sein kann; wir haben uns von in Ihrer Regierungserklärung überhaupt nicht erwähnt der Erreichung der Lissabon-Ziele in den ersten Jahren haben, von denen ich aber hoffe, dass beim Europäi- weiter entfernt als angenähert – ist, dass die nationalen schen Rat vielleicht doch darüber geredet worden ist. Sie Regierungen die Probleme lösen. Sie lösen sie aber haben natürlich über Darfur gesprochen – das ist richtig nicht, sondern Sie verursachen sie. Sie müssen dieses Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12585

Dr. Wolfgang Schäuble (A) Land voranbringen durch eine bessere Politik oder Sie vielmehr stellt die Umkehr der Beweislast bei der Visa- (C) müssen als Regierung Platz machen für eine bessere Po- erteilung einen Verstoß dagegen dar. Dazu müssen Sie litik. Das ist der entscheidende Punkt und darüber kann Stellung nehmen. Damit würden Sie sich Ihrer Verant- Europa nicht hinwegtäuschen. wortung stellen. Nur so kommen wir zu einer gemeinsa- men Visapolitik. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU) Weil wir gerade bei dem Thema „faule Ausreden“ sind: Der Bundeskanzler beliebt ja inzwischen immer zu Lassen Sie mich noch etwas zu der Lage im Nahen sagen – auch bei der Debatte über die Lissabon-Strate- und Mittleren Osten ausführen. Bei diesem Thema be- gie –, das würden wir ja alles machen, aber leider haben steht eine größere Übereinstimmung zwischen uns als in wir den europäischen Stabilitätspakt. Meine Damen und anderen Fragen. Sie haben Ihr Mitgefühl gegenüber dem Herren, die Ursache für die wirtschaftlichen und sozia- palästinensischen Volk angesichts des Todes von Jassir len Probleme unseres Landes liegt nun wirklich nicht Arafat zum Ausdruck gebracht. Wir teilen das Mitge- darin, dass wir zu wenig Schulden machen. Wir beraten fühl. Das palästinensische Volk hat mit Jassir Arafat ei- in diesem Monat noch den Bundeshaushalt 2005 und den nen politischen Führer verloren, der ihm über eine lange Nachtragshaushalt 2004. Wir müssen das Verfassungs- Zeit seine Identität vermittelt hat. Aber das Leben von gericht anrufen, weil Sie alle Grenzen sowohl des eu- Arafat war zwischen den beiden Extremen Terrorismus ropäischen Stabilitätspakts wie auch des nationalen und Friedensnobelpreis zerrissen. Insofern ist sein Le- Grundgesetzes überschreiten. Wir haben die höchste ben, wie ich meine, fast ein Symbol für die zutiefst zer- Neuverschuldung in der Geschichte unseres Landes. rissene Lage in diesem Teil der Welt. Im Grunde wün- Und dann kommt diese Regierung und sagt, wenn wir schen wir nicht nur dem palästinensischen Volk, dass es mehr Schulden machen könnten, hätten wir weniger Pro- nach Arafats Tod besser gelingt, die Zerrissenheit im bleme. Nein, das Problem ist: Wir machen zu viele Sinne eines nachhaltigen Friedens zu überwinden. Dafür Schulden und zu wenig Reformen und diese Regierung sollten sich alle einsetzen. Diese Chance sollte genutzt kann es nicht. Das ist der Punkt. werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dies würde übrigens notwendigerweise auch bedeu- ten, dass man sich im Europäischen Rat mit der trans- Deswegen dürfen Sie Europa nicht als Ausrede benut- atlantischen Partnerschaft zu den Vereinigten Staaten zen, um die von Ihnen selbst gemachten Probleme zu er- von Amerika beschäftigt. Denn es wird den Europäern klären. Denn wenn wir die Ursachen der Probleme nicht nicht alleine gelingen, den Anstoß zu geben, um Israel richtig analysieren, dann können sie nicht gelöst werden. und den Palästinensern zu helfen, auf dem Weg des Frie- (B) Darum geht es und darum bitte ich Sie. densfahrplans voranzukommen; dies wird nur gelingen, (D) wenn Europa und Amerika gemeinsam tatkräftig die Ini- Ich will noch etwas zu dem Haager Programm anmer- tiative ergreifen. Ich rate sogar dazu, auch Russland stär- ken. Wenn Sie schon eine Regierungserklärung zu die- ker zu beteiligen. sem Thema abgeben, Herr Bundesaußenminister, dann hätte ich mir gewünscht, dass Sie sich auch zu der Frage Ihre Iranpolitik unterstütze ich. Man sollte nicht geäußert hätten, mit der die Regierung die Öffentlichkeit streiten, wenn dazu kein Anlass besteht. Ich hoffe viel- in letzter Zeit mehr beschäftigt hat als alles andere, ins- mehr, dass Sie mit Ihrer Politik Erfolg haben. Aber ich besondere zu der Reaktion der europäischen Partner auf wiederhole an dieser Stelle: Ich halte es für sehr wichtig, die Idee des Bundesinnenministers, in Afrika Auffang- dass die Politik gegenüber dem Iran nicht nur zwischen lager für Asylbewerber einzurichten. Darüber ist in den Vereinigten Staaten von Amerika und der Europäi- Den Haag gesprochen worden. Ich hätte gerne erfahren, schen Union in engster Abstimmung, Geschlossenheit was die Partner dazu gesagt haben und ob es zutrifft, und auch Entschlossenheit gestaltet wird. Der Iran muss dass unsere engen französischen Freunde diesen Vor- wissen, dass wir alles daransetzen werden, dass der Iran schlag nachhaltig unterstützen oder ob sie eher dagegen keine Nuklearwaffen erhält. Ich rate auch dazu, Russ- sind. Darüber sollte man nicht einfach hinweggehen. land stärker in diese Partnerschaft einzubeziehen. Die Wer Europa kommunizieren will, muss darüber reden, Vereinigten Staaten von Amerika, Europa und Russland was in Europa Sache ist, statt so zu tun, als würde es um zusammen haben die beste Chance, den Iran auf dem Themen gehen, die das Zuhören nicht lohnen. Man ge- Wege der Zusammenarbeit zu überzeugen, dass das Stre- winnt im Grunde den Eindruck, dass der vortragende ben nach Nuklearwaffen auch nicht im wohlverstande- Außenminister schon Mühe hatte, seinen Text nur vorzu- nen Interesse des Iran liegt und dass die Welt gefährli- lesen. cher würde, wenn der Iran über Atomwaffen verfügte. Darauf müssen wir uns konzentrieren. Wenn wir schon über eine gemeinsame Zuwande- rungspolitik reden, dann würde ich von der Regierung Was das Thema Irak anbetrifft – das hat mit der trans- gerne hören – demnächst wird sich auch ein Untersu- atlantischen Agenda zu tun, mit der sich der Europäische chungsausschuss damit beschäftigen –, was es mit der in Rat hoffentlich beschäftigt hat, auch wenn der Bundes- den vergangenen Jahren immer wieder geäußerten Kritik außenminister in seiner Regierungserklärung kein Wort unserer EU-Partner auf sich hat, dass die Visapolitik darüber verloren hat –, so muss in den nächsten Jahren dieser Bundesregierung in der Verantwortung des Bun- die Chance genutzt werden, die schweren Beschädigun- desaußenministers nicht die gemeinsamen konsulari- gen des transatlantischen Verhältnisses zwischen Euro- schen Richtlinien des Schengen-Mechanismus einhält; päern und Amerikanern, die in den vergangenen 12586 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Dr. Wolfgang Schäuble (A) Jahren eingetreten sind, in der kommenden Amtszeit des Vertreter besonders legitimiert seien, eine solche Frage (C) mit einer so eindrucksvollen Mehrheit wiedergewählten zu stellen. Präsidenten Bush zu reparieren. Das liegt doch in unse- rem gemeinsamen Interesse. Ich habe gedacht, dass vielleicht unsere Staats- und Regierungschefs auf dem Europäischen Rat am Es macht gar keinen Sinn, darüber zu diskutieren, wer 4./5. November dieses Jahres über die Fragen betreffend in der Vergangenheit welchen Fehler gemacht oder wer einer europäischen Solidarität, für die Ungarn mit sei- mit welcher Mahnung Recht behalten hat. Wir haben im- nem Engagement im Irak steht, reden werden. Herr mer gesagt: Die Amerikaner können den Krieg vielleicht Fischer, ich hätte gerne etwas von Ihnen dazu gehört; alleine gewinnen, aber nicht für Frieden sorgen. Dies denn wenn wir multilaterale Entscheidungen wollen, bleibt richtig. Aber es liegt auch in unserem gemeinsa- müssen wir multilaterale Entscheidungen auch gemein- men Interesse, dass eine stabilere, friedlichere und nach- sam vollziehen. haltigere Entwicklung im Nahen und Mittleren Osten, insbesondere im Verhältnis Israels zu Palästina, im Iran Die NATO hat beschlossen, die irakischen Streitkräfte und im Irak, möglich wird und dass Fortschritte in der im Rahmen einer von ihr geführten Mission auszubilden, Frage betreffend die Verbreitung von Massenvernich- damit sie die Sicherheit im eigenen Land gewährleisten tungswaffen erzielt werden. Der internationale Terroris- können. Das ist auch unstreitig. Deutschland leistet sei- mus, die zunehmende Verbreitung von Atomwaffen so- nen Beitrag durch die Ausbildung in den Vereinigten wie das Konfliktpotenzial im Irak und im Iran – wo auch Arabischen Emiraten. Das will ich gar nicht kritisieren. immer – bedrohen nicht nur die Amerikaner, sondern Diese Woche war der Oberbefehlshaber der NATO vom auch uns. Deswegen müssen wir für eine stärkere Ge- Kommando in Norfolk, Admiral Giambastiani, in Berlin schlossenheit in den Beziehungen zwischen Amerika zu Besuch. Er hat nicht nur mir, sondern auch Kollegen und Europa sorgen. von den Koalitionsfraktionen gesagt, dass in den Kom- mandos in Norfolk und in Stavanger – dort geht es um Wenn der Europäische Rat in der vergangenen Woche die Transformation der NATO – die meisten Offiziere, eine Aufgabe hatte, dann war es die, vertrauensvoll da- die für die Tätigkeit in integrierten NATO-Stäben ausge- rüber zu beraten, wie wir in Zukunft das, was in den ver- bildet würden, nach den Amerikanern Deutsche seien; gangenen Jahren nicht gut gelungen ist, besser machen aber es stoße auf große Probleme, wenn in konkreten können; denn nur transatlantische Gemeinsamkeit garan- Entscheidungssituationen, beispielsweise während der tiert unsere Sicherheit und kann die Welt insgesamt sta- Ausbildungsmission der NATO im Irak, die deutschen biler machen. Dass Sie dazu kein Wort in Ihrer Regie- Offiziere aus den integrierten Stäben zurückgezogen rungserklärung gesagt haben, ist für mich ein würden. (B) unfassbares Versäumnis. Das zeigt, dass Sie offenbar (D) nicht die Fähigkeit haben, sich der Lösung der Probleme So werden wir multilaterale Entscheidungstendenzen zu stellen. nicht verstärken. Das ist deutscher Unilateralismus. Er ist nicht besser als der Unilateralismus anderer und er (Beifall bei der CDU/CSU) muss aufgegeben werden. Ich möchte ein einfaches, konkretes Beispiel nennen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- In einer Resolution des Weltsicherheitsrates ist beschlos- neten der FDP) sen worden, die irakische Übergangsregierung bis zu den Wahlen zu unterstützen und nach den Wahlen dem Wenn wir multilaterale Strukturen, wenn wir die atlanti- frei gewählten Parlament zu helfen, das Land zu stabili- sche Partnerschaft wollen, dann müssen wir verlässliche sieren. Der Weltsicherheitsrat hat in diesem Zusammen- Partner sein, dann müssen wir integrierte Strukturen hang die Mitgliedstaaten aufgefordert, für den notwendi- stärken und dann dürfen wir nicht das Gegenteil machen, gen Schutz und insbesondere für eine militärische weil wir sonst nicht vorankommen, sondern weiter zu- Absicherung zu sorgen. rückfallen werden. Herr Fischer, ich habe mit Ihrem neu ernannten unga- (Zuruf des Abg. Axel Schäfer [Bochum] rischen Kollegen am Tag seiner Amtseinführung in der [SPD]) vergangenen Woche über das Problem gesprochen, dass – Ja, ich kenne dieses Thema. Ungarn – nach der bisherigen Beschlusslage – zum Jah- resende seine Soldaten aus dem Irak zurückziehen will. Der Bundesaußenminister beschreibt die Bedrohun- In Polen ist die Situation ähnlich. Ich habe den ungari- gen in dieser Welt gelegentlich richtig: internationaler schen Außenminister gefragt, ob es angesichts der Tatsa- Terrorismus, „failing states“, und zwar nicht nur im Na- che, dass im Januar kommenden Jahres Wahlen im Irak hen und Mittleren Osten. Vor einiger Zeit war Kaschmir anstehen und dass wir alle ein Interesse daran haben das allergrößte Problem. Es gibt ohne Ende Gefahren. – auch in den Vereinigten Staaten von Amerika findet Ich erinnere an die Spaltung auf dem afrikanischen Kon- eine entsprechende Überprüfung statt –, die Tendenzen tinent. Man hätte auch etwas zur Elfenbeinküste und zu in der amerikanischen Politik hin zu mehr multilateralen all dem, was sonst noch entsetzlich ist, sagen können. Entscheidungen zu stärken, klug sei, wenn sich weitere Die Beobachtungsliste der Vereinten Nationen zeigt, europäische Truppensteller aus dem Irak zurückzögen. dass die Situation im Osten des Kongo noch schlimmer Er hat mich – so höflich können manche Außenminister als die Lage in Darfur ist. Das ist aber nicht so, weil sich sein – daraufhin gefragt, ob ich glaubte, dass deutsche in Darfur etwas verbessert hat, sondern weil die Situa- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12587

Dr. Wolfgang Schäuble (A) tion im Osten des Kongo noch katastrophaler geworden Auch der Verfassungsvertrag ist in vielen Bereichen (C) ist. zu kompliziert, als dass man ihn wirklich kommunizie- ren kann. Die Erweiterung der Europäischen Union ist in Wenn wir diesen und anderen Bedrohungen wehren Bezug auf ihre politische Dimension noch lange nicht wollen, dann müssen wir uns klar machen, dass dies nur wirklich so konsolidiert, dass sie von den Menschen ak- durch atlantische Solidarität und durch eine Stärkung der zeptiert wird. Ständig über die nächsten Schritte zu re- Gemeinsamkeit der zivilisierten Welt möglich ist. Wenn den, ohne auf die wirklich ernsthaften Besorgnisse, Ge- wir uns noch nicht einmal an integrierten Stäben beteili- fühle, Hoffnungen und Enttäuschungen der Menschen gen, dann stärken wir diese Tendenzen nicht, sondern einzugehen, gefährdet das europäische Projekt. Wenn schwächen sie. Wenn wir nicht in diesem Sinne europäi- man dann noch nicht einmal darüber redet, wie man sche Politik machen, dann werden wir eine Gemeinsame Europa zu unser aller Garanten für Sicherheit, Frieden Außen- und Sicherheitspolitik Europas nicht erreichen. und Freiheit in der atlantischen Partnerschaft entwickeln Wenn wir eine Gemeinsame Außen- und Sicherheits- kann, dann wird man den großen, kritischen Zuspitzun- politik Europas nicht erreichen, dann werden wir die gen in der europäischen Politik nicht gerecht. Menschen nicht davon überzeugen, dass dieses Europa im Interesse unserer eigenen nationalen Zukunft notwen- Europa ist in einer kritischen Phase: Erweiterung, dig ist; schließlich können wir unsere Sicherheit nur ge- Vertiefung; die Institutionen müssen ihre Rolle finden. meinsam gewährleisten. Dann muss sie aber auch ge- Darin bestand der Konflikt zwischen Kommission und meinsam gewährleistet werden. Das alles hat mit der Parlament. Dieser Konflikt, der vielfältige Facetten hat, Integration zu tun. Entscheidend sind dabei nicht die ist noch nicht ausgetragen. Die Ablehnung der Kom- großen abstrakten Phrasen, sondern die konkreten Ent- mission durch das Europäische Parlament war übri- scheidungen. gens eine Niederlage der Regierungen wie der Kommis- sion; schließlich hat der Rat die Zusammensetzung der Man sollte sagen: Lasst uns die Streitigkeiten der Ver- Kommission ausdrücklich gebilligt. Der Bundeskanzler gangenheit vergessen und lasst uns nach vorne blicken! hat sich für die Zustimmung des Europäischen Parla- ments zur Kommission eingesetzt. Es handelte sich also (Dietmar Nietan [SPD]: Dann sagen Sie doch nicht nur um ein Problem der Kommission, sondern einmal konkret, was Sie wollen!) auch um ein Problem der Regierungen der Mitgliedstaa- – Ich habe es doch gerade gesagt: Wir dürfen uns nicht ten. Wir wollen hoffen, dass es jetzt gut geht. aus integrierten Stäben zurückziehen. Das wäre ein ers- (Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Und es handelte ter konkreter Schritt. sich um ein Problem der EVP-Fraktion!) (B) (Dietmar Nietan [SPD]: Dürftig!) – Die haben dafür gestimmt. Dagegen gestimmt haben (D) Wenn wir uns selbst aus integrierten Stäben zurückzie- die wortbrüchigen Sozialdemokraten, obwohl der Bun- hen, dann signalisieren wir: Wir setzen nicht auf Partner- deskanzler auf sie eingewirkt hat, sowie Grüne und schaft. Dadurch wird in Washington die Tendenz ver- Liberale. Aber lassen wir das. – Das zeigt, dass die Insti- stärkt, zu sagen: Am Ende müssen wir es doch wieder tution ihr Selbstverständnis noch nicht hinreichend ge- allein oder mit einer „coalition of the willing“ machen funden hat. Es muss aber gefunden werden. und eben nicht mit Bündnissen, da sie wegen der euro- Eine Bemerkung ist mir noch wichtig. Wenn wir die päischen Partner nicht verlässlich sind. Das ist das Pro- Menschen davon überzeugen wollen, dass Europa im In- blem. Man kann es konkret oder allgemein darstellen. teresse unserer Zukunft und unserer Sicherheit von ent- Wichtig ist, dass dort, wo Entscheidungen anstehen, ent- scheidender Bedeutung ist, dann brauchen wir eine inte- schieden wird. grierte Politik. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Vorsitz: Vizepräsident Dr. ) Es geht um Folgendes: Europa ist doch – das steht im Man muss gelegentlich daran erinnern, dass es schon in Gegensatz zu der Routine, mit der diese Regierungs- der Präambel des Grundgesetzes heißt: „als gleichbe- erklärung vorgetragen wurde – in einer wirklich schwie- rechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden rigen, entscheidenden und auch kritischen Phase. Europa der Welt zu dienen“. ist voller Chancen, aber auch voller Schwierigkeiten und Widerstände. Machen Sie sich weniger Sorgen über die Weil dies so ist: Hören Sie auf, Außenpolitik auf na- Ratifizierung des Verfassungsvertrages! Die Zustim- tionalen Sonderwegen zu machen! Setzen Sie auf ver- mung der Bevölkerung zur europäischen Politik zu lässliche europäische Zusammenarbeit, nicht auf Domi- erlangen ist sehr viel schwieriger. Diese Zustimmung ist nanz von Achsen, sondern auf Gemeinsamkeit aller in aber entscheidend. Wir können Europa nicht als ein arti- Europa, und setzen Sie auf verlässliche atlantische Part- fizielles, bürokratisches Gebilde bauen; vielmehr müs- nerschaft! Das und nicht nationale Sonderwege und Re- sen wir die Menschen in Deutschland, in Frankreich, in nationalisierung von Außenpolitik ist der Weg in eine Polen und in allen Teilen Europas davon überzeugen, bessere Zukunft. dass dieses Europa die politische Einheit ist, der wir un- Herzlichen Dank. ser Schicksal anvertrauen. Daher müssen wir – in einer schwierigen Phase – eine glaubwürdige Politik machen, (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – die über die Probleme der Menschen nicht hinweggeht. Beifall bei der FDP) 12588 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

(A) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: zen der spekulativen Blase an der Börse, den Terroran- (C) Das Wort hat nun die Kollegin Angelica Schwall- schlägen am 11. September, dem Irakkrieg, den steigen- Düren für die SPD-Fraktion. den Weltmarktpreisen für Öl und andere Rohstoffe – in der Tat sehr negativ entwickelt haben. Dies hat natürlich auch Auswirkungen auf Deutschland gehabt: Wir haben Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD): eine dreijährige Phase wirtschaftlicher Stagnation er- Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kolle- lebt. gen! Lassen Sie mich zu Beginn meiner Ausführungen auch vonseiten der SPD-Fraktion dem palästinen- Dennoch, Herr Schäuble, hat Europa in diesem sischen Volk unsere Solidarität ausdrücken; denn es hat schwierigen Umfeld eine Reihe richtungweisender mit dem Tod von Jassir Arafat eine Person verloren, die Reformen auf den Weg gebracht, vor allem bei der Ge- in der Tat die Verkörperung der palästinensischen Identi- staltung des einheitlichen europäischen Binnenmarktes tät bedeutet. Wir hoffen und erwarten, dass die palästi- und bei der Integration der Energie-, Finanz- und Kapi- nensischen Führungskräfte nun ihrer Verantwortung ge- talmärkte. Die gemeinsame Währung konnte erfolgreich recht werden und dem Frieden den Weg ebnen. Alle eingeführt und ihre Stabilität auch in schwierigen Zeiten Mitgliedstaaten der Europäischen Union unterstützen gewährleistet werden. Aber auch in Deutschland sind diesen Weg über die Umsetzung der Roadmap. Sie un- wir dank der Politik der Bundesregierung und der sie tra- terstützen die Zwei-Staaten-Lösung. Sie unterstützen die genden Fraktionen ein gutes Stück vorangekommen. Durchführung demokratischer Wahlen. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, ich glaube, in diesem Bereich müssen wir uns den Schuh Ih- Der Frieden im Nahen und Mittleren Osten ist das rer Kritik nicht anziehen, Wichtigste, was wir in der kommenden Zeit erreichen müssen. Das gilt genauso für den Irak mit der Wieder- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten herstellung einer friedlichen Gesellschaft und mit dem des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ende der Gewalt. Auch hierbei ist die Europäische Union gefordert und hat auf dem Europäischen Rat ihre und zwar aus zweierlei Gründen: Unterstützung zugesagt; mein Kollege Dietmar Nietan wird näher darauf eingehen. Zunächst einmal möchte ich angesichts Ihrer Klage, dass im Rahmen der Lissabon-Strategie nicht ausrei- Das Haager Programm, das den Raum der Freiheit, chend Reformen durchgeführt worden sind, in Erinne- der Sicherheit und des Rechts fünf Jahre nach den Be- rung rufen, in welch starkem Ausmaß Sie selbst dafür schlüssen von Tampere neu anpackt, wird auch ein Pro- die Verantwortung tragen. Sie wissen doch ganz genau, gramm sein, das den Menschen Europa stärker vermit- dass mithilfe des Bundesrates eine ganze Reihe unserer (B) telt; denn wenn sich die Menschen sicher fühlen und Reformvorschläge ausgebremst, abgeblockt und gede- (D) wenn die Menschen demokratische Beteiligung erleben, ckelt wurden. dann werden sie sich mit diesem Europa identifizieren. Deswegen freue auch ich mich darüber, dass am (Zuruf von der CDU/CSU: Weil es Unfug 29. Oktober von den Staats- und Regierungschefs der war!) Verfassungsvertrag unterzeichnet worden ist. Das müssen Sie sich anrechnen lassen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Darüber hinaus möchte ich Ihnen sagen: Herr Schäuble hat heute kein Wort dazu gesagt, geschweige Ich freue mich auch darüber, dass wir nun gute Aus- denn eigene Vorstellungen entwickelt, was im Rahmen sichten dafür haben, dass die neu zusammengestellte dieser Lissabon-Strategie getan werden sollte. Er hat Kommission ihre Arbeit beginnen kann; denn, wie wir darauf verwiesen, dass hierfür die nationale Ebene ver- schon in der Regierungserklärung gehört haben, es liegt antwortlich ist. Das ist richtig. In Ihrem Leitantrag für ein großes Arbeitsprogramm vor uns. den Bundesparteitag im Dezember in Düsseldorf können wir aber kein Konzept für mehr Wachstum und Beschäf- Ich will heute hier vor allem auf die Lissabon-Strate- tigung erkennen. Das Fehlen von Vorschlägen ist auf die gie eingehen; denn sie ist eine Strategie für mehr vielen ungeklärten Widersprüche innerhalb der CDU Wachstum und mehr Beschäftigung. Das ist das, was und erst recht zwischen CDU und CSU zurückzuführen. die Menschen unmittelbar spüren, was sie unmittelbar Warum haben Sie denn beispielsweise das entscheidende erwarten. In den Monaten nach dem Jahr 2000, als die Kapitel Finanzpolitik ausgeklammert? Doch nicht nur, Lissabon-Strategie entwickelt worden ist, ist man von ei- weil Ihnen der Kollege Merz abhanden gekommen ist, nem sehr optimistischen Klima ausgegangen, und zwar sondern auch, weil Ihre Vorschläge für mehr – – im Zusammenhang mit den Entwicklungen im Bereich der New Economy. Jetzt ist es Zeit, eine Zwischenbilanz ( [CDU/CSU]: Melde mich! zu ziehen. Im Hinblick auf den Frühjahrsgipfel wird es Bin hier! Sitze direkt vor Ihnen, gnädige hierzu umfangreiche Debatten geben. Es ist jetzt schon Frau!) klar, dass es eine Neuausrichtung und Neufokussierung dieser Strategie geben muss; denn man kann heute nicht – Sie, Herr Merz, sind insofern abhanden gekommen, als umhin, festzustellen, dass sich die Umstände durch die Sie die wichtige Funktion des Stellvertreters nicht mehr sich rasch verschlechternde weltwirtschaftliche Situation bekleiden, nachdem Ihre Positionen mit anderen nicht in aufgrund einer Reihe von externen Schocks – dem Plat- Übereinstimmung zu bringen waren. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12589

Dr. Angelica Schwall-Düren (A) Glauben Sie allen Ernstes, dass die Menschen drau- Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen aus (C) ßen nicht merken, dass Sie weniger Sozialstaat und we- der Opposition, die Wissensgesellschaft braucht Bildung niger Rechte für Arbeitnehmer wollen? Sie wollen die von Anfang an. Das bedeutet auch Investitionen in die Tarifautonomie einschränken. Sie wollen de facto Kleinen, in die Kinder. Hier hat die Bundesregierung mit Lohnsenkungen. Sie wollen den Rechtsanspruch auf ihrem Programm für die Betreuung der unter 3-Jährigen Teilzeitarbeit abschaffen. Sie wollen eine längere Wo- und mit ihrem Ganztagsschulprogramm einen ganz chenarbeitszeit ohne Lohnausgleich. Sie wollen die Mit- wichtigen Anstoß gegeben. Wir warten darauf, dass die tel für die aktive Arbeitsmarktpolitik kürzen. Länder in ihrer Bildungsverantwortung, die sie gerade im Rahmen der Föderalismuskommission sehr hoch hal- (Zuruf von der SPD: Hört! Hört!) ten, in diesem Bereich nun ebenfalls entscheidend inves- Schließlich sind Sie gegen die Angleichung der Löhne tieren. im Osten an die des Westens und fordern die Kopfpau- Ich komme zum nächsten Punkt: Der Binnenmarkt schale in der Krankenversicherung. Wollen Sie uns heute braucht im Bereich der Dienstleistungen noch eine weismachen, dass Sie in der Gesundheitspolitik tatsäch- Vereinheitlichung, eine konkrete Dynamisierung. Die lich mehr als einen Formelkompromiss zustande brin- Bundesregierung reagiert mit ihrem Vorschlag sehr gen? differenziert auf die Belange und die Chancen des Bin- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Sehr faul!) nenmarktes. Ich möchte an dieser Stelle nur auf den Dienstleistungsbereich eingehen; denn sein Wachstums- Wir fordern Sie auf: Erläutern Sie uns, wie mit sin- potenzial zu entwickeln ist eine ganz entscheidende Zu- kenden Arbeitnehmereinkommen die Binnenkonjunktur kunftsinvestition. Wir müssen dabei aber auch die be- in Schwung kommen soll. Legen Sie einen Vorschlag rechtigten Schutzbelange der Mitgliedstaaten und die vor, auf welche Weise Ihr Bauchladen von Ideen finan- Auswirkungen auf die Beschäftigung berücksichtigen. ziert werden kann. Es ist völlig unklar, wie Sie mehr Bil- Die Dienstleistungsrichtlinie bedarf eines intensiven Be- dung und mehr Forschung, den Sozialausgleich bei der ratungsprozesses, damit Wege gefunden werden, die auf Kopfpauschale, die staatliche Subventionierung von dem Dienstleistungsmarkt Wachstumsimpulse setzen, Niedriglöhnen und die merzsche Steuerreform finanzie- ohne Sozial-, Qualitäts- und Sicherheitsstandards aufzu- ren wollen. Erklären Sie, warum Sie hier im Bundestag geben. unseren Vorschlag, die Eigenheimzulage abzuschaffen, ablehnen. Wir wollten die frei werdenden Mittel in Bil- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dung und Forschung investieren, eines der ganz wichti- DIE GRÜNEN) gen Schwerpunktfelder der Lissabon-Strategie. Wir sind uns bewusst, dass dieses Vorhaben eines der (B) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wichtigsten und umfangreichsten der kommenden Zeit (D) DIE GRÜNEN) sein wird. Deshalb wird meine Fraktion die Gesetzge- bungsarbeit sorgfältig begleiten. Gerade hier gilt, dass Unser Vorgehen leuchtet den Menschen generationen- die Folgenabschätzung europäischer Gesetzgebungsvor- übergreifend ein, während Sie Klientelpolitik betreiben, haben auch mit Blick auf die Beschäftigung verbessert verantwortungslos handeln, die Menschen verunsichern werden muss. und unseren Standort schlechtreden. In diesem Feld ist die Frage des Wirtschaftsklimas Kehren wir zu dem zurück, was in der Bundesrepu- wichtig. Wir brauchen ein wirtschaftsgünstiges, ein blik tatsächlich schon erreicht worden ist. Der Kok- gründungsfreundliches und unternehmensfreundliches Bericht gibt in fünf wichtigen Feldern Hinweise. Das Umfeld. Hier kann uns der Abbau von bürokratischen sind die Wissensgesellschaft, der Binnenmarkt, das Hemmnissen in der Tat sehr voranbringen. Deshalb ist Wirtschaftsklima, der Arbeitsmarkt und die ökologische auch hier die Initiative der Bundesregierung zu begrü- Nachhaltigkeit. Ich will diese Felder der Reihe nach be- ßen. trachten. Wir haben Reformen am Arbeitsmarkt angepackt, In Bezug auf die Wissensgesellschaft stellen wir fest, sie sind beschlossen. Nun geht es darum, diese Refor- dass wir die Zukunft nur gewinnen können, wenn wir die men konsistent umzusetzen. Dazu müssen alle Ebenen Massenökonomie zugunsten einer Wissensökonomie beitragen: Bund, Länder und Gemeinden, aber auch die überwinden, wenn wir mit neuen Produkten, neuen Pro- Agenturen für Arbeit und ihre Beschäftigten, ebenso die duktionsmethoden und Innovationen reagieren und Qua- Unternehmen und die Arbeitsuchenden selbst. Niemand lität produzieren. Dafür brauchen wir Menschen, brau- darf sich aus der Verantwortung stehlen. chen wir Investitionen in die Köpfe. Diese Investitionen hat die Bundesregierung getätigt. Seit 1998 haben wir Außerdem brauchen wir eine Strategie des lebenslan- die Mittel für Forschung und Technologieentwicklung gen Lernens, die Wirtschaft, Gewerkschaften und Politik um 36,7 Prozent erhöht. Während der Kohl-Regierung gleichermaßen in die Verantwortung nimmt. Nur die ist von 1992 bis 1998 aus diesem Zukunftsfeld eine Menschen, denen man die Möglichkeit bietet, sich wei- Summe von weit über 600 Millionen verschwunden. ter zu qualifizieren, können ihre Zukunftschancen ver- Herr Rüttgers lässt grüßen, sage ich. Wo sind hier die bessern und ihre Existenz auf Dauer eigenverantwortlich Zukunftsperspektiven? sichern. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) 12590 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Dr. Angelica Schwall-Düren (A) Nun zur ökologischen Nachhaltigkeit: Dabei geht es Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): (C) insbesondere um die Verbreitung ökologischer Innovati- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und onen, den Ausbau führender Positionen in der Ökoindus- Herren! Wenn wir hier Debatten über internationale Po- trie und die Implementierung von Politiken, die nachhal- litik führen und dann eine solche Debattenkultur – ge- tige Produktivitätssteigerungen im Sinne einer größeren fehlt hätte nur noch das Dosenpfand – über uns gezogen Ökoeffizienz ermöglichen. Hier hat diese Bundesregie- wird, erinnert man sich daran, dass bei uns Problemlö- rung in den vergangenen Jahren schon sehr viel erreicht. sungen im Bereich des Zahnersatzes manchmal auch vor Der Außenminister hat bereits darauf hingewiesen, dass der Lösung der Probleme auf dem Balkan gesucht wer- wir gerade im Bereich der erneuerbaren Energien und den. anderer Umwelttechnologien gut vorangekommen sind. (Zuruf von der SPD: Das hat keiner Bereits heute werden in diesem Bereich 120 000 Ar- verstanden!) beitsplätze gesichert. Aber die neuerliche Ölkrise ver- schärft die Herausforderungen an eine nachhaltige Res- Das macht die ganze Art deutlich, wie wir uns den The- sourcenpolitik. Deshalb müssen wir uns auf den Weg zu men nähern: einer Politik weg vom Öl machen. Wir müssen im Be- reich der Steigerung der Energie- und Materialproduk- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Andreas tivität weiter voranschreiten. Das wird dann auch in der Schockenhoff [CDU/CSU]) Zukunft Arbeitsplätze sichern. Da war ein europäischer Gipfel. Nun müssen sich Gip- felveranstaltungen – das ist richtig – manchmal routine- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mäßig mit vielen Vorlagen beschäftigen. Aber aufgrund DIE GRÜNEN) der Zeitumstände, in denen dieser europäische Gipfel Deutschland hat auf die eingetretenen und anstehen- stattfand, hätte man mehr erwarten dürfen. Im Kommu- den Veränderungen mit einem Modernisierungs- und niqué lese ich: Reformprogramm reagiert, das sich in die europäische The European Council warmly congratulated Presi- Reformagenda einfügt. Zur Bewältigung künftiger He- dent Bush on his re-election. rausforderungen sind allerdings weitere Anpassungen unerlässlich. Zu deren Umsetzung bedarf es der Zusam- Ich hätte in dem Kommuniqué gerne etwas mehr gele- menarbeit aller. Das unwürdige und für die Bürger und sen, weil sich dieser europäische Gipfel, der nach der Bürgerinnen nicht durchschaubare Schauspiel, dass über Wahlentscheidung in Amerika getagt hat, doch da- den Bundesrat wichtige Reformarbeit blockiert und die rüber klar sein muss, dass er sich nach den ganzen Diffe- Verantwortlichkeiten verschleiert werden, darf nicht renzen, die diskutiert worden sind, jetzt überlegen muss, ob nach dieser Entscheidung irgendein Teil des Seiles (B) fortgesetzt werden. (D) wieder erfasst werden kann, um transatlantisch einiges (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des zu entspannen. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Zuruf von der SPD: Hat Ihr Mitarbeiter zu Insofern hoffe und erwarte ich, dass die Kommission zur wenig gelesen?) Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung Arbeits- Natürlich gratuliert man einem amerikanischen Präsi- ergebnisse vorlegt, die die politische Handlungsfähigkeit denten zur Wiederwahl. Aber danach muss eine Gipfel- stärken und für mehr Durchschaubarkeit dergestalt sor- diskussion darüber stattfinden, wie jetzt das transatlanti- gen, dass die Bürger und Bürgerinnen wissen, welche sche Potenzial eingesetzt werden kann, um die weltweit politische Kraft welche Entscheidungen getroffen hat. anstehenden Probleme zu lösen. Wenn darüber auf dem Dann wird es uns auch gelingen, die Menschen auf den Gipfel diskutiert worden ist, warum hat dann der Bun- Weg der Veränderungen mitzunehmen. desaußenminister mit diesem Punkt nicht begonnen? Ich bin überzeugt, dass wir mit diesem Arbeitspro- Denn weder die Fragen des Irak noch die des Iran noch gramm nicht nur die Zukunft unseres Landes und die Zu- die Palästinas/Israels können gelöst werden, ohne dass kunft der Europäischen Union sichern, sondern dass wir dieses geostrategische Potenzial gewinnbringend einge- damit den Menschen Europa auch näher bringen, sodass setzt wird. die Menschen verstehen, dass die gemeinsame Arbeit in (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Europa dazu beiträgt, dass wir die Herausforderungen der CDU/CSU) der Zukunft im Wettbewerb des 21. Jahrhunderts ge- meinsam bestehen. Deshalb fordere ich alle auf, auch Sie Dazu ist nichts gesagt worden. Das ist aber der Kern- von der Opposition, daran mitzuwirken. punkt. Wenn sich im Nahen Osten, Herr Bundesaußenminis- Herzlichen Dank. ter, das Thema Iran zu einem gewaltigen, problemati- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schen Thema schon entwickelt hat und wenn man es DIE GRÜNEN) nicht vorgreiflich mit allen Anstrengungen, die Sie si- cher in Person und als Bundesregierung unternehmen, lösen kann, was in der Region erneut zu einer sehr ner- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: vösen Situation führen wird, dann wird die Lösung des Das Wort hat nun der Vorsitzende der FDP-Fraktion, Problems ohne intensive, klare Gespräche mit den ame- Dr. Wolfgang Gerhardt. rikanischen Freunden nicht funktionieren. Die EU hat Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12591

Dr. Wolfgang Gerhardt (A) viele Möglichkeiten. Sie kann diplomatische Anstren- lich interpretiert werden kann. Der noch amtierende Prä- (C) gungen unternehmen, sie hat ein Talent für Krisenprä- sident der EU-Kommission Prodi konnte diesem Bericht vention und auch für die Nachsorge; das ist unbestritten. nichts hinzufügen. Er hat vielmehr bedauert, dass sich Aber in diesem Fall würde ich mich nicht allein darauf die Nationen in Europa überhaupt nicht an das gehalten verlassen wollen, dass die geschickten bisherigen Bemü- haben, was damals in Lissabon verabredet worden ist. hungen der Europäischen Union – die ich begrüße, die Es nützt eben nichts, dem Iran zu Leibe rücken oder aber noch nicht zum durchschlagenden Erfolg geführt ein gewichtiges Wort bei anderen Konfliktherden der haben – ohne die Vereinigten Staaten von Nordamerika Welt mitreden zu wollen, wenn man nicht eigenes Ge- zu einem guten Ende kommen. Russland haben Sie be- wicht auf die Waage bringt. Eigenes Gewicht auf die teiligt; das weiß ich. Aber jetzt sofort – wir haben kein Waage bringen heißt, dass die Repräsentanten der Euro- großes Zeitfenster – muss gemeinsam mit den Vereinig- päischen Union in internationalen Verhandlungen gar ten Staaten von Nordamerika der Prozess beginnen, im nicht mit lauter Stimme sprechen müssen, weil die ande- internationalen Bereich etwas einzudämmen. Denn wir ren schon wissen, dass in diesem Kontinent ein gewalti- stimmen Ihnen zu: Wir wollen nicht, dass sich dieses ges Potenzial und eine gewaltige Kraft in Wissenschaft, Land zu einer Nuklearmacht entwickelt. Politik, gesellschaftlicher Entwicklung, Forschung und Präsident Arafat ist gestorben. Es ist von allen Fraktio- Innovationsdrang steckt. nen – das tue ich auch für meine – die Anteilnahme ge- (Beifall bei der FDP) genüber dem palästinensischen Volk zum Ausdruck ge- bracht worden, bei allen Zwiespältigkeiten, die ein sol- Das aber hat die Europäische Union bis heute nicht ches Leben verkörpert. Wenn man nun zu einem zustande gebracht. Sie hat sich international kein Ge- europäischen Gipfel zusammentritt und tagt und weiß, wicht gegeben. Selbst bei den Beschlüssen zur eigenen dass eines der wichtigsten Probleme im Nahen Osten Sicherheitspolitik ist erkennbar, dass sich 400 Millio- noch immer nicht gelöst ist, die das Image Amerikas, das nen Europäer im Kern immer noch auf 250 Millionen die Friedensfähigkeit dort nicht herstellt, so nachteilig Amerikaner verlassen. Dass wir mit Amerika angesichts bestimmen, dann muss doch das Thema Israel/Paläs- seiner Verteidigungsausgaben und seiner wirtschaftli- tina zu einem Hauptthema werden, und zwar gerade in chen Kraft nicht mithalten können, ist klar. Dass wir in Verbindung mit der Wahlentscheidung in Nordamerika, Europa aber so wenig aus unseren Chancen machen, das wo ein Präsident wiedergewählt worden ist, der sich jetzt hätte ich mir nach den Beschlüssen von Lissabon nicht eigentlich die Zeit nehmen müsste, dieses Thema, das vorstellen können. wegen des Wahlkampfes praktisch liegen geblieben ist, zuallererst anzugehen. Also hat man doch gute Gründe, Das ist nichts, was auf Brüssel geschoben werden könnte. Denn der Kern der Lissabon-Strategie ist die Er- (B) den amerikanischen Freunden von dieser Seite des At- (D) lantiks aus zu sagen: Gehen wir jetzt gemeinsam entwe- ledigung der eigenen Hausaufgaben in jedem Mitglieds- der in die alte Roadmap oder mit dem israelischen land der Europäischen Union. Deutschland, eine der Ministerpräsidenten und dem Quartett in ein Gespräch größten Volkswirtschaften der Welt, trägt nur sehr wenig darüber, wie wir in dieser Situation wenigstens einiger- dazu bei, dass die Europäische Union zu diesem Kraft- maßen Friedensfähigkeit herstellen können: Wie können paket wird und dieses Fähigkeitspotenzial entwickelt, wir stabile Institutionen in Palästina schaffen? Wie sieht das wir uns alle wünschen. das Angebot der Europäischen Union aus? Wird das so Diese Defizite müssen nicht auf einem europäischen fortgesetzt, läuft das so weiter? Ist das ein spezieller Gipfel besprochen werden. Die eigenen Hausaufgaben Aufgabenbereich für uns? muss man selbst erledigen. Sie müssen sich aber fragen (Zuruf des Bundesministers Joseph Fischer) lassen, wie Sie es begründen, dass das bevölkerungs- reichste Land der Europäischen Union mit einer der – Man mag das besprochen haben, Herr Bundesaußen- größten Volkswirtschaften der Welt bisher einen derart minister. Es wäre besser gewesen, Sie hätten das hier dürftigen Beitrag zur Kraftentwicklung der Europäi- noch einmal konzeptionell vorgetragen. schen Union nach dem Lissabon-Prozess geleistet hat. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Günter Gloser [SPD]: Weil Sie Ihre Haus- der CDU/CSU) aufgaben nicht gemacht haben!) Denn Europa können Sie den Menschen nur näher brin- Wir bleiben weit hinter unseren Möglichkeiten zurück, gen, wenn Sie die Fähigkeit Europas, zur Lösung der und zwar so weit, wie es in der Nachkriegsgeschichte Probleme in der Welt etwas beizutragen, darstellen. der Bundesrepublik noch nie der Fall gewesen ist. Europa hat zu wenig Gewicht. Bezüglich der Lissa- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten bon-Strategie, die das Ziel verfolgt, dass wir 2010 die der CDU/CSU) Besten auf der Welt sind, wenn wir unsere eigenen Be- Man kann den Menschen Europa nur vermitteln, schlüsse ernst nehmen, haben wir ja die Hälfte des We- wenn man ihnen klar macht, dass wir die Chance haben ges bereits zurückgelegt, denn das ist 2000 beschlossen – und das auch wollen –, Probleme aktiv zu lösen, und worden und jetzt haben wir fast 2005. dass wir Führung in internationalen Angelegenheiten Die Bilanz sieht laut Kok-Bericht äußerst mager aus. nach einem Wertekanon übernehmen wollen, der in un- Herr Bundesaußenminister, man kann darüber streiten, serer Verfassung enthalten ist. Man kann den Menschen wie dieser sehr kritische Bericht von Wim Kok sprach- Europa auch nur dann vermitteln, wenn sie das Gefühl 12592 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Dr. Wolfgang Gerhardt (A) haben, dass sie etwas von Europa haben, dass ihre Frei- nommen. In zwei Fällen wurde ein Kommissar ersetzt. (C) heit gesichert wird und dass sie mehr wirtschaftliche Auch in der Energiepolitik hat es einen Wechsel gege- Chancen haben. All das wird gegenwärtig nicht in aus- ben. Gerade bei dem hochaktuellen Thema der Energie reichender Weise getan. Man sollte sich daher hinterher hoffen wir, bald in den Arbeitsprozess überzugehen. Ich nicht wundern, wenn gegrummelt wird und wenn sich will darauf aufmerksam machen, dass sich die Bundesre- Gesellschaften nicht innovativ am europäischen Prozess gierung gemeinsam mit Österreich und Irland erfolg- beteiligen. Diese Aufgabe obliegt uns; denn wir bilden reich dafür eingesetzt hat, dass dem europäischen Ver- die politische Führung des Landes. fassungsvertrag eine Erklärung beigefügt ist, die besagt, dass der Euratom-Vertrag im Rahmen einer so rasch wie Herr Bundesaußenminister, Sie sollten zu einem solch möglich einzuberufenden Regierungskonferenz auf den wichtigen Thema nicht noch einmal eine Regierungser- Prüfstand zu stellen ist. Hierzu wird eine kluge, starke klärung wie nach einem normalen europäischen Gipfel und kompetente EU-Kommission benötigt. abgeben, wenn Sie aus Europa etwas machen wollen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Herzlichen Dank. SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Man kann sich sicherlich die Frage stellen, ob nicht Friedrich Merz [CDU/CSU]: Sehr gut!) eine umfassendere Umgestaltung der designierten Kom- mission angemessen gewesen wäre. Nach der Auswer- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: tung der Befragungen der Kommissare hätten wir uns in Das Wort hat nun die Kollegin Ulrike Höfken, Bünd- einigen weiteren Fällen Veränderungen gewünscht. Aber nis 90/Die Grünen. generell kann man sagen: Demokratie bringt Leben in die Bude und führt zu mehr Aufmerksamkeit für die eu- Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ropäische Politik. Insgesamt lässt sich der Prozess, nach Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und dem sich die neue Kommission letztlich zusammenset- Kollegen! Herr Dr. Gerhardt, der Europäische Rat zeich- zen wird, mit Fug und Recht als Beleg für das Funktio- net sich durch einen komplexen Arbeitsprozess aus, in nieren der europäischen Institutionen und als Beitrag zu dem viele Punkte behandelt werden. Aber Sie haben es ihrer weiteren Stärkung werten. fertig gebracht, zu keinem dieser Punkte wirklich etwas Es zeigt sich übrigens auch, wie weise der Vorschlag zu sagen. des Verfassungskonventes war. Er hatte nämlich vorge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schlagen, aus jedem Mitgliedsland eine Liste von drei und bei der SPD) Kandidaten vorzulegen – darunter mindestens eine (B) Frau –, aus der der Kommissionspräsident wählen kann. (D) Es war sicherlich ganz bewusst kein Gipfel, der sich mit Eine solche Liste hätte den Charme gehabt, dass natio- der US-Wahl oder mit der US-Politik befasst hat. nale Befindlichkeiten nicht so sehr getroffen würden, Ich will Ihr Stichwort aufgreifen, dass man Europa wenn der eine oder andere Kommissar in die Kritik ge- den Menschen vermitteln muss. Dazu gehört für mich, rät. Man kann hoffen, dass es in Zukunft doch noch eine dass man wichtige und positive Entwicklungen in der solche Veränderung geben wird. EU in den Vordergrund stellt. Dazu gehört ganz gewiss Zur Lissabon-Strategie. Ich denke, das ist, wie die die Unterzeichnung der EU-Verfassung durch die Re- Kollegin Schwall-Düren schon betont hat, ein Prozess, gierungschefs. Diese Verfassung bedeutet mehr Demo- der die Menschen in Europa sehr direkt bewegt. Dies ist kratie, mehr Transparenz und die Stärkung des Europäi- darum auch ein sehr wichtiger Prozess für Europa. Nun schen Parlaments. Die für alle Mitgliedsländer und alle geht es um die Halbzeitüberprüfung. Der Plan, die EU Bürgerinnen und Bürger der EU verbindliche Grund- bis 2010 durch eine ausgewogene Strategie, die eine rechte-Charta versteht Europa nicht nur als Wirtschafts- wirtschaftliche, soziale und umweltpolitische Dimension gemeinschaft, sondern auch als Wertegemeinschaft. Das umfasst, zum wettbewerbsfähigsten, wissensbasierten ist ein wichtiger Prozess. Wirtschaftsraum der Welt zu machen, wurde natürlich (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- seinerzeit in der Hochphase der New Economy geboren. SES 90/DIE GRÜNEN) Er war – das wissen wir nun alle – zu ehrgeizig. Die Be- schäftigungsraten auf 70 Prozent zu erhöhen war das Dazu gehört dann auch Butter bei die Fische, Herr Ziel. Dr. Schäuble. Mit Ihrer Polemik vermitteln Sie den euro- Großen Worten – das muss man sagen – sind bisher päischen Prozess auch nicht besser. Dazu gehört viel- mehr, die Ratifizierung der Verfassung in Deutschland zu wenige Taten gefolgt. Das ist nicht nur wirtschaftspo- voranzutreiben, diesen Prozess gegen Instrumentalisie- litisch bedauerlich, sondern, auch was die Glaubwürdig- keit der EU-Politik angeht, ein bedauernswürdiger Pro- rungen von rechts oder auch durch eine Fraktion dieses Bundestages zu verteidigen und diese Ratifizierung zu zess, weil wir keine Erwartungen und Ziele formulieren einem Erfolg zu führen. dürfen, die hinterher nicht erfüllt werden können; das wissen wir auch aus der nationalen Politik. Sonst wird, Zu den positiven Entwicklungen gehören auch die wie es Wim Kok hinsichtlich der Halbzeitbilanz in Be- demokratischen Prozesse um die Bildung der neuen zug auf die Lissabon-Strategie formuliert hat, die EU zu EU-Kommission. Der Europäische Rat hat die neue einem Synonym für verfehlte Ziele und gebrochene Ver- Liste der designierten Mitglieder der Kommission ange- sprechen. Das darf nicht der Fall sein. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12593

Ulrike Höfken (A) Es ist klarzustellen – das hat Herr Schäuble schon be- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (C) tont –: Die negative öffentliche Meinung würde sich in Frau Höfken, denken Sie bitte an Ihre Redezeit. diesem Fall natürlich gegen die Mitgliedstaaten richten. Festzustellen ist aber auch, dass die Schwierigkeiten, die Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gesetzten Ziele zu erreichen, nicht die Ziele an sich, also Ja. – Die Lissabon-Strategie wird dann ein Erfolg, weder die Ziele im Hinblick auf die Beschäftigung noch wenn die Mitgliedsländer der EU – so auch Deutsch- die Modernisierungsstrategie von Lissabon und Göte- land – erfolgreich sind. Unsere Verantwortung, auch die borg, falsch machen. der Opposition, besteht darin, die begonnenen Reformen (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- im Dreiklang von Wirtschaft, Sozialem und Umwelt zu SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) guten Ergebnissen zu führen. Vielen Dank. An der gesellschaftlichen Modernisierungsstrategie, die auf dem Dreiklang von Wirtschaft, Sozialem und Um- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN welt beruht, gilt es festzuhalten. und bei der SPD)

Jetzt wird kritisiert, dass die Agenda durch vielfältige Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Ziele überfrachtet wird. Insbesondere die umweltpoliti- Nächster Redner ist der Kollege Matthias Wissmann, schen Ziele geraten in die Kritik. Als Antwort wird auch CDU/CSU-Fraktion. im Kok-Bericht die Fokussierung auf das Ziel der Wett- bewerbsfähigkeit formuliert. Damit kann allerdings (Beifall bei der CDU/CSU) nicht die Industriepolitik der 60er-Jahre gemeint sein; denn im Zeitalter der Globalisierung kann man das Ziel Matthias Wissmann (CDU/CSU): der Wettbewerbsfähigkeit durch sie ganz gewiss nicht Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe erreichen. Kolleginnen und Kollegen! Der Gipfel verlief den Zei- tungen zufolge fast so wie die Rede des Bundesaußenmi- (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Richtig!) nisters: Europas Erfolg hinsichtlich Wettbewerbsfähigkeit und (Zuruf von der SPD: Ach nein!) Stabilität beruht auf der konzeptionellen Verbindung von Sozialem, Marktwirtschaft und Nachhaltigkeit. Ins- ohne Spannungen und ohne Höhepunkte. besondere der Prozess von Kioto, der jetzt wieder ein- (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: setzt, wird dazu beitragen. Wir erwarten, dass die Euro- Wie ist das denn mit Ihrer Rede?) (B) päische Union, wie es auch der Minister formuliert hat, (D) unterstützt von der Bundesregierung das Zusammenwir- In Wahrheit führte dieser Gipfel aber zu einem der größ- ken von nachhaltiger Entwicklung und nachhaltigem ten Fehlschläge beim Kernthema Lissabon-Strategie. Wachstum zu einem Erfolg führen wird. Welch ein Fehlschlag die Lissabon-Strategie gewesen Eine letzte Bemerkung. Ich habe gesagt, dass die Mit- ist, wird nicht nur von uns christlichen Demokraten be- gliedsländer in die Kritik zu nehmen sind. Aber ich will schrieben. Das hat auch der Vertreter der SPD in der auch ganz deutlich sagen: Es ist unerlässlich, dass wir Kok-Gruppe, Herr Mirow, getan, indem er gesagt hat: unsere Strukturreformen in Deutschland erfolgreich Der wichtigere Aspekt ist, dass die Hausaufgaben umsetzen. Es ist von der Opposition unglaublich schein- nicht gemacht worden sind. heilig, in öffentlichen Debatten eine Fundilinie zu fah- ren, im Bundesrat den Subventionsabbau zu blockieren Der noch amtierende Kommissionspräsident, Romano und gleichzeitig nach dem Stabilitätspakt zu schreien. Prodi, hat die Lissabon-Strategie in der „Financial Wir müssen unsere besagten Hausaufgaben gemeinsam Times“ mit den Worten umschrieben: „Lissabon ist ein erledigen. Ich denke – die Kollegin hat das bereits ge- großer Fehlschlag“. Wim Kok hat immer wieder gesagt: sagt –, dass die Bundesrepublik nicht schlecht da steht, Vor allem die fehlende Handlungsbereitschaft der natio- weder bei der Mehrwert- noch bei der Einkommen- oder nalen Regierungen ist Grund dafür, dass die Lissabon- der Körperschaftsteuer. Strategie bis jetzt gescheitert ist. Meine Damen und Herren, durch diese Aussagen (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ja, ja! wird der Blick auf folgende Frage gelenkt: Was hat ei- Von wegen!) gentlich die Bundesregierung in den letzten vier Jahren Sehr wichtig ist allerdings die Binnenmarktstrategie getan, der Bundesregierung. Dazu wurde ein Positionspapier (Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Haben formuliert, in dem unter anderem deutlich gemacht Sie mir nicht zugehört?) wurde, dass wir bei der Unternehmensbesteuerung eine einheitliche Bemessungsgrundlage und die entsprechen- damit das, was sie unterschrieben hat, auch umgesetzt den Rahmenbedingungen auf europäischer Ebene brau- wird? Dass es anders gehen kann, dass man in einem eu- chen. ropäischen Land Wachstumsimpulse setzen kann und dass man über einen langen Zeitraum Innovationen reali- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sieren kann, zeigt sich beim Vergleich zweier Länder. sowie bei Abgeordneten der SPD) Vergleichen Sie die Entwicklung in Großbritannien in 12594 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Matthias Wissmann (A) den letzten Jahren mit der in Deutschland: Das reale Die Expertengruppe der Europäischen Union mit (C) Bruttoinlandsprodukt ist in den Jahren 2001 bis 2003 in Herrn Mirow, einem sozialdemokratischen Mitglied, Deutschland um 0,9 Prozent, in Großbritannien um nennt in ihrem Bericht dringend erforderliche Maßnah- 6,2 Prozent gestiegen. Hätte Deutschland zwischen 2001 men, die auf europäischer Ebene, aber auch in den Mit- und 2003 das gleiche reale Wirtschaftswachstum er- gliedstaaten angegangen werden müssen. Ich nenne nur reicht wie Großbritannien, läge unser Bruttoinlandspro- einige wenige: dukt heute um mehr als 100 Milliarden Euro höher. Herr Erster Punkt: Forschung und Entwicklung müssen Bundesaußenminister, in den letzten zehn Jahren ist das absolute Priorität bekommen. Sind wir dieses Ziel in Bruttoinlandsprodukt Großbritanniens Jahr für Jahr stär- Deutschland wirklich mit Nachdruck angegangen? Sie ker gewachsen als das Deutschlands. In den letzten zehn haben Ihr Versprechen der Verdopplung der Ausgaben Jahren ist die Arbeitslosigkeit in Großbritannien immer für Forschung nicht eingehalten. Sie sagen jetzt, sie wä- weiter gesunken, auf jetzt unter 5 Prozent – Größenord- ren um 36 Prozent angestiegen. In Wahrheit war es we- nungen, wie wir sie vielleicht noch im mittleren Neckar- niger. Dabei müsste hier im Parlament doch eigentlich raum erreichen. Was die meisten vergessen: Vor zehn Konsens darüber bestehen, dass wir alles machen dürfen, Jahren lag das Nettoeinkommen der Arbeitnehmer in außer bei der Blutzufuhr zum Kopf Deutschlands kür- Großbritannien um 10 Prozent unter dem in Deutsch- zen. land. Heute liegt das Nettoeinkommen der Arbeitnehmer in Großbritannien im Schnitt um 10 Prozent über dem in (Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Ich sage Deutschland. Das heißt, eine langfristig anhaltende, mu- nur: Eigenheimzulage!) tige Innovationspolitik in Großbritannien – früher von Konservativen, heute von Sozialdemokraten – führt ganz Wir brauchen Wissenschaft und Forschung. Wir müssen offensichtlich genau zu den Ergebnissen, die mit der Lis- diese beiden Beispiel stärken und nicht auch noch dort sabon-Strategie beabsichtigt sind. Das gegenteilige Ver- Mittel kürzen, wie wir es in den letzten Jahren leider er- halten führt zu dem großen Fehlschlag, den wir leider in lebt haben. Deutschland, Frankreich, Italien und anderen Ländern (Beifall bei der CDU/CSU) der Europäischen Union zu verzeichnen haben. Ich finde, das müssen wir zum Ausdruck bringen. Zweiter Punkt: der Binnenmarkt. Der Binnenmarkt für den freien Kapital- und Warenverkehr in Europa (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- muss vollendet werden. Auch der Binnenmarkt für neten der FDP) Dienstleistungen muss unverzüglich geschaffen werden. Wie reagiert der Bundeskanzler darauf? Der Bundes- Die schnelle Verabschiedung der Richtlinie der EU- kanzler gibt im Anschluss an den Gipfel zu erkennen, Kommission „Dienstleistungen im Binnenmarkt“ wäre (B) (D) dass er überhaupt nichts davon hält, Ranglisten der re- ein konsequenter Schritt zur Umsetzung der Forderun- formfreudigsten EU-Mitglieder bezüglich der Lissabon- gen und Vorschläge der Kok-Gruppe. Was tun wir in Strategie einerseits und der reformlangsamsten anderer- Deutschland dafür, den vollständigen Binnenmarkt her- seits zu erstellen. Das ist ungefähr so, als würde ein Bun- beizuführen? Ich finde, auch wir in Deutschland tun da- desliga-Fußballverein, der kurz vor dem Abstieg steht, für zu wenig. sagen: Bitte in Zukunft keine Tabelle mehr! Man könnte ja merken, dass wir schlecht gespielt haben. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Wissmann, gestatten Sie eine Zwischen- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) frage des Kollegen Kuhn? Das Gegenteil ist richtig: Wir brauchen Wettbewerb. Wir brauchen Tabellen, um zu erkennen, wo wir Schwä- Matthias Wissmann (CDU/CSU): chen und wo wir Stärken haben. Betrachten wir zwei Bei- Ja. spiele: erstens die Erwerbstätigenquote älterer Arbeit- nehmer. In Deutschland sieht sich mancher schon mit 55, 56, 57 oder 58, früher als er will, aus dem Arbeitsmarkt Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: herausgedrängt. In der EU der 25 liegt die Erwerbstäti- Bitte sehr, Herr Kuhn. genquote älterer Arbeitnehmer bei 40,2 Prozent. In Deutschland liegt sie bei 39,5 Prozent, in den USA bei Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 59,9 Prozent. Das Lissabon-Ziel liegt bei 50 Prozent. Herr Wissmann, Sie haben gerade gesagt, dass Deutschland zu wenig für Forschung, Wissenschaft und Zweites Beispiel: die Forschungsausgaben im Ver- Ausbildung tut und dass deshalb die Lissabon-Ziele hältnis zum Bruttosozialprodukt: 2003 betrug das Ver- nicht erreicht werden. Haben Sie die Haushaltsdiskussio- hältnis in Deutschland 2,5 Prozent, in den USA 2,8 Pro- nen in den letzten Wochen mitbekommen, in denen Rot- zent, in Japan 3 Prozent, in Schweden sogar 4,3 Prozent. Grün den Vorschlag gemacht hat, eine wesentliche Sub- Es genügt nicht, sich darüber hinwegzutrösten, dass die vention alter Strukturen, nämlich die Eigenheimzulage, Ausgaben für einzelne Forschungsbereiche etwas gestie- zu streichen und diese Mittel für Wissenschaft, For- gen sind; das ist ein Irrtum. Wenn wir in Deutschland schung und Bildung auszugeben? nicht mehr in Forschung und Technologie investieren, dann werden wir weiter zurückfallen. Wir haben die Ver- ( [CDU/CSU]: Er will sie doch dopplung der Forschungsausgaben nicht erreicht, die Sie gar nicht streichen, sondern sie für den Haus- einst versprochen haben. halt zur Verfügung stellen!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12595

Fritz Kuhn (A) Wie können Sie sich hier hinstellen und sagen, die Gehen Sie an die viel zu hohen Transferleistungen im (C) Bundesregierung würde diese Ziele nicht anstreben und konsumtiven Bereich! Dann werden Sie unsere Unter- nicht erreichen wollen? Sie, die Union, blockieren dies stützung mit Sicherheit erhalten. systematisch. Sie wollen das Alte subventionieren und (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- damit den Weg für das Neue nicht frei machen. Das, was NEN]: Wo denn? – Dr. Uwe Küster [SPD]: Sa- Sie hier von sich geben, finde ich extrem. gen Sie doch mal, wo gekürzt werden soll! Er- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zählen Sie mal ein bisschen! Wo wollen Sie und bei der SPD) kürzen? Beim Kindergeld?) Ich weiß, dass Sie das nicht gerne hören, aber ohne eine Matthias Wissmann (CDU/CSU): Erhöhung unserer Forschungsausgaben werden wir im Herr Kollege Kuhn, Sie erhalten von uns immer Un- weltweiten Wettbewerb nicht Schritt halten. terstützung für eine intelligente Erhöhung der For- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Außer Blasen nichts schungs- und Technologieanstrengungen nicht nur auf „gewasen“!) Bundes-, sondern auch auf Länderebene. Schauen Sie sich einmal an, was Bayern und Baden-Württemberg tun Meine Damen und Herren, in dem Expertenbericht und vergleichen Sie das mit der Situation in sozialdemo- der 13 wird vorgeschlagen, die Empfehlungen der euro- kratisch regierten Ländern! päischen Task Force „Beschäftigung“ rasch umzusetzen, das heißt unter anderem, Arbeitsmarktreformen durch- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zuführen. Wo sind Ihre Strategien für eine Erneuerung NEN]: In Bayern wird gestrichen, Herr des Arbeitsmarkts über die Agenda 2010 hinaus? Wo Wissmann!) sind Ihre Vorstellungen für eine langfristige Flexibilisie- rung des Arbeitsmarktrechts? Wo sind Ihre Maßnahmen Ich sage Ihnen aber: Wir werden auf gar keinen Fall zur Modernisierung des Jugendschutzes? Wo sind Ihre damit einverstanden sein, dass Mittel von einem Haus- Vorschläge zur Deregulierung von Ausbildungsverord- haltstitel zu einem anderen umgeschichtet werden, wäh- nungen? Wo sind Ihre Vorstellungen, die langfristig zu rend sich gleichzeitig die Schulden erhöhen. Kürzen Sie einer Erneuerung unserer verkrusteten Arbeitsmarkt- den konsumtiven Teil des Haushalts und stärken Sie den strukturen führen? Forschungsteil! Kürzen Sie die Subventionen – auch mit uns –, aber tun Sie das intelligent! Stattdessen hat sich der Bundeskanzler nach dem eu- ropäischen Gipfel dazu verstiegen, den Eindruck zu er- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wecken, man müsse den Stabilitätspakt aufweichen, um (B) NEN]: Wir nehmen Sie beim Wort! – Zurufe der Lissabon-Strategie doch noch zum Erfolg zu verhel- (D) und Lachen bei der SPD) fen. Dieses Argument ist meiner Ansicht nach schlicht- Greifen Sie nicht eine bestimmte Maßnahme heraus und weg falsch. Deutschland hat nicht Schwierigkeiten beim ersetzen Sie diese durch eine andere! Sie erhalten von wirtschaftlichen Wachstum, weil wir zu wenig Schulden uns immer Unterstützung, wenn Sie den Gesamthaushalt machen. Das Wachstum ist vielmehr wegen der schlech- kürzen. ten politischen Rahmenbedingungen und gerade auch wegen der zu hohen Staatsschulden so gering. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Von irgendwoher muss es kommen! Seit dem Jahr der Euro-Bargeldeinführung hat die rot- Was heißt „Gesamthaushalt“? – Ulrike Höfken grüne Bundesregierung die Kriterien von Maastricht be- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Helau! – züglich der Neu- und der Gesamtverschuldung perma- Dietmar Nietan [SPD]: Das war eine Aussage nent verletzt: 2002 betrug die Defizitquote 3,5 Prozent, vom 11. November!) 2003 waren es 3,9 Prozent und für 2004 erwarten wir eine Quote von 3,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Eigenheimzulage gegen Forschung – was für ein Wir verletzen ein weiteres Stabilitätskriterium. 2004 kleinkariertes Spiel! wird die Gesamtverschuldung Deutschlands 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts übersteigen und 66 Prozent (Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Das ist betragen. Damit verstoßen wir elementar gegen den Sta- nicht kleinkariert, sondern zukunftsorien- bilitätspakt. Wir verstoßen auch gegen das, was wir als tiert! – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE Bundestag einmal gemeinsam beschlossen haben. Vor GRÜNEN]: Kleinkarierte Milliarden!) zwölf Jahren hat der Bundestag beschlossen – ich zitiere wörtlich –, sich jedem Versuch zu widersetzen, die Sta- Durch die Streichung der Eigenheimzulage könnten Sie bilitätskriterien aufzuweichen, die in Maastricht verein- die Forschungsausgaben nicht so erhöhen, wie es drin- bart worden sind. gend notwendig wäre. Kürzen Sie im konsumtiven Teil des Haushalts! Der potenzielle Nachahmungseffekt der stabilitäts- widrigen Haltung Deutschlands in Sachen Defizitverfah- (Dietmar Nietan [SPD]: Wo?) ren darf nicht unterschätzt werden. Es wird der Eindruck Gehen Sie an die hohen Ausgaben der Bundesanstalt für erweckt, Regeln zählten in Europa nicht, wenn es sich Arbeit! um die Großen handelt, so wie damals, als Bundeskanz- ler Schröder und Finanzminister Eichel mit der Brech- (Jörg Vogelsänger [SPD]: Wo?) stange einen blauen Brief aus Brüssel abgewendet 12596 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Matthias Wissmann (A) haben. Inzwischen berufen sich andere Nationen auf das ßenpolitischen Rahmenbedingungen, die für Europas Si- (C) schlechte Beispiel Deutschlands. Deutschland hat ein- cherheit und Stabilität von grundlegender Bedeutung mal den Stabilitätspakt herbeigeführt. Heute erwecken sind, wichtige Entscheidungen getroffen und wichtige der Bundeskanzler und die gesamte Bundesregierung Erklärungen abgegeben. Ich will darauf gleich zurück- den Eindruck, als sei der Stabilitätspakt nichts mehr kommen. wert. Sie verfolgen die falsche Strategie. Leider haben Erlauben Sie mir bitte, zu Beginn auf das, was von Sie sich bis heute nicht zu einer Korrektur entschlossen. den Kolleginnen und Kollegen der Opposition gesagt (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wurde, kurz einzugehen. Europa näher bringen bedeutet, dass die Menschen im politischen Wettbewerb in Eu- Ich möchte ein anderes großes Thema des Gipfels an- ropa, aber auch in unserem Land erkennen können, wo- sprechen, das heute leider nur in wenigen Bemerkungen für politische Parteien stehen. Ich bin sehr selbstkritisch thematisiert worden ist, nämlich das Verhältnis zwi- und sage Ihnen, dass manche in unserem Land vielleicht schen Europa und den USA. Wir müssen jetzt, nach schon graue Haare wegen des einen oder anderen hand- der Wahl des neuen amerikanischen Präsidenten, auf eu- ropäischer und amerikanischer Seite alle Anstrengungen werklichen Fehlers dieser Koalition bekommen haben. unternehmen, um Brücken zwischen Europa und Ame- Aber diesen werden die Haare ausfallen angesichts der rika zu bauen. Es gibt Bereiche, in denen wir die Interes- Tatsache, dass sie an diesem Tag nur Gezeter gehört ha- sen bündeln könnten. Wir müssen zum Beispiel neue Im- ben, aber keine Aussage darüber, was diese Opposition pulse für eine Öffnung der Märkte setzen. Wir müssen will. bis 2015 das Ziel verfolgen, einen gemeinsamen euro- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ päisch-amerikanischen Handelsraum, eine Transatlantic DIE GRÜNEN) Free Trade Area, TAFTA, zu erreichen. Wie will man Europa den Menschen näher bringen, Zwischen den beiden Wirtschaftsräumen Europa und wenn sie nicht wissen, wofür die Union steht. Kollege Amerika ist bis heute – das wird auch in Zukunft so blei- Wissmann, Sie wissen, dass ich Sie sehr schätze, aber ben – der größte Handelsraum der Erde entwickelt wor- ich muss an dieser Stelle sagen: Wenn Sie von der Kür- den. 40 Prozent des Welthandels finden in diesem Be- zung von Transferleistungen sprechen, dann sollten Sie reich statt. Die Amerikaner haben ein Interesse daran, auch so mutig sein, zu sagen, welche Sie meinen, und ihre konjunkturelle Entwicklung zu verstärken; die Eu- sich der öffentlichen Diskussion stellen. Wenn die Kopf- ropäer, vor allem wir Kontinentaleuropäer, haben ein In- pauschale kommt, dann werden wir uns über ganz an- teresse daran, zusätzliche Wirtschaftsimpulse zu setzen. dere konsumtive Transferleistungen in diesem Bundes- Der Abbau bestehender Zoll-und-Nichtzoll-Barrieren im haushalt unterhalten. Wie Sie argumentiert haben, das (B) transatlantischen Sektor hätte einen bedeutenden Wachs- nenne ich unredlich. (D) tumsimpuls zur Folge. Für die Europäische Union wird ein Zuwachs von 0,7 bis 2 Prozent des Bruttoinlandspro- (Beifall bei der SPD) dukts geschätzt. Auch für die Amerikaner wären erhebli- Es ist hoch spannend zu sehen, dass der Kollege che zusätzliche Wachstums- und Jobimpulse möglich. Gerhardt – für uns alle nicht überraschend – sogar auf Ich habe eine Aussage dazu vermisst, Herr Bundesau- Englisch zitiert, wie die Schlussfolgerungen des Euro- ßenminister, was wir tun können und tun müssen, um im päischen Rats zum transatlantischen Verhältnis be- europäisch-amerikanischen Dialog neue Wege zu be- ginnen. Es ist auch bezeichnend, dass der Kollege schreiten und positive Impulse zu setzen. Unser Vor- Gerhardt nach dem ersten Satz aufhört. Ich will weiter schlag ist: Setzen Sie nicht nur, aber auch in der Wirt- zitieren. Erlauben Sie mir, dass ich das auf Deutsch tue. schafts- und Handelspolitik neue Impulse! Sorgen Sie Nach dem Glückwunsch heißt es: nicht für Gräben zwischen Europa und Amerika, son- Unsere enge transatlantische Partnerschaft, die auf dern für transatlantische Brücken! Damit täte Europa et- gemeinsamen Werten basiert, ist für Europas Kon- was Gutes für die Welt, für die Wirtschaftsentwicklung zept der Schaffung von Frieden, Sicherheit und zu Hause und die Jobs in Deutschland. Hierzu haben wir Wohlstand auf internationaler Ebene heute eine Aussage vermisst, Herr Bundesaußenminister. In Zukunft wünschen wir uns weniger tönerne Erklärun- – jetzt kommt die entscheidende Passage – gen und mehr klare politische Schritte für Europa, für von grundlegender Bedeutung. Wirtschaftsimpulse und für ein besseres transatlanti- sches Verhältnis. Weiter heißt es in den Schlussfolgerungen des Europäi- schen Rates: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Die EU und ihre Mitgliedstaaten freuen sich darauf, sehr eng mit Präsident Bush und seiner neuen Re- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: gierung zusammenzuarbeiten, damit gemeinsame Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Anstrengungen – und zwar auch in multilateralen Dietmar Nietan. Institutionen – unternommen werden können, um die Rechtsstaatlichkeit zu fördern und eine gerechte, demokratische und sichere Welt zu schaffen. Dietmar Nietan (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn Sie also zitieren, dann zitieren Sie bitte zu Ende Dieser Europäische Rat hat gerade auch zu wichtigen au- und versuchen Sie nicht krampfhaft, den Eindruck zu er- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12597

Dietmar Nietan (A) wecken, als würde diese Regierung weiterhin transatlan- Maße, wie es auch schon Javier Solana mit seinem Maß- (C) tische Gräben aufreißen. Das Gegenteil ist der Fall. nahmenprogramm angedeutet hat, können wir sicherstel- len, dass im Gazastreifen nach einem Rückzug geord- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nete Verhältnisse eintreten. DIE GRÜNEN) Nach dem Tod von Präsident Jassir Arafat stehen wir Ich möchte noch zu einem Punkt des Kollegen hier in der Tat an einem Scheideweg. Ich wünsche mir, Schäuble kommen. Natürlich kann man sagen, dass das, dass die Europäische Union über das hinaus, was sie was dem irakischen Ministerpräsidenten Alawi auf dem dankenswerterweise bisher schon getan hat, diesen Pro- europäischen Gipfel versprochen wurde, noch nicht ge- zess mit weiteren und noch konkreteren Vorschlägen un- nug sei. Aber wenn Sie von einer Zuschauerrolle terstützen wird. Ich glaube, gerade am Beispiel des Deutschlands und Frankreichs sprechen Rückzugs aus dem Gazastreifen wird deutlich, wie wich- (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Er tig die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der hat zitiert! Alawi hat das gesagt!) Europäischen Union ist und wie wichtig Europa als Ak- teur im Friedensprozess in dieser Region ist. – ja, aber Sie haben dem nicht widersprechen wollen – und dies als Untermauerung Ihrer Kritik zitieren, dann Ich halte es auch für dringend notwendig, bei diesen müssen Sie auch sagen, was Ihrer Meinung nach die Bemühungen der Europäischen Union zu unterstreichen, Bundesregierung tun muss, damit man nicht in den Ver- dass der Rückzug aus Gaza der erste Schritt hin zu einer dacht gerät, eine Zuschauerrolle einzunehmen. Sie müs- Zwei-Staaten-Lösung ist. Es muss sichergestellt werden, sen auch zugeben, dass jetzt deutsche Truppen im Irak dass Verhandlungen folgen, die am Ende zu einem er- stünden, wenn es seinerzeit eine unionsgeführte Bundes- folgreichen Abschluss des Friedensprozesses führen regierung gegeben hätte. Ich bin gespannt, ob das die werden. Bevölkerung dazu anhalten würde, Ihren Kurs in dieser Sache zu unterstützen. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Kollegen Fischer? DIE GRÜNEN) Ich will einen letzten Punkt ansprechen: Natürlich ist Dietmar Nietan (SPD): es richtig – das steht außer Frage –, dass wir das transat- Gern. lantische Verhältnis neu beleben und intensivieren müssen. Ich halte es aber für an den Haaren herbeigezo- (Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Al- les muss man selber machen! – Jerzy Montag (B) gen, wenn Sie die Tatsache, dass der Außenminister in (D) seiner Regierungserklärung nicht noch einmal auf diese [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hören Sie Punkte im Schlusskommuniqué eingegangen ist, als nur zu!) Skandal bezeichnen. Der Außenminister hat zu Beginn des Jahres mit seiner Rede auf der Sicherheitskonferenz Joseph Fischer (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE in München GRÜNEN): Herr Kollege, selbstverständlich bedanke ich mich (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: zunächst einmal für Ihre freundlichen Worte, aber ich Zu spät!) möchte Sie fragen, ob Sie meinen Eindruck teilen, dass und auch mit seinen Ausführungen in der „FAZ“ zur Re- Herr Schäuble hier zum wiederholten Male in seiner Kri- konstruktion des Westens gezeigt, dass er sich wie kaum tik an der Irakpolitik der Bundesregierung nichts ande- ein anderer in der Europäischen Union darum bemüht, res vorgetragen hat als seine eigene Position und damit mit ganz konkreten Projekten wie zum Beispiel Broader auch die Position der CDU/CSU, die es für notwendig Middle East die transatlantische Zusammenarbeit zu ver- hält, deutsche Soldaten in den Irak zu schicken, und dass stärken. Ihm jetzt nur deshalb, weil er das an dieser wir hier völlig anderer Meinung sind. Stelle nicht noch einmal betont hat, skandalöses Verhal- ten vorzuwerfen, nenne ich unredlich, Herr Dietmar Nietan (SPD): Dr. Schäuble. Wir beide sind hier völlig einer Meinung und der ge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sunde Menschenverstand lässt aus den Äußerungen von DIE GRÜNEN) Herrn Schäuble nur den Schluss zu, den Sie gerade gezo- gen haben. Herr Gerhardt hat noch einmal zu Recht darauf hinge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wiesen, dass wir im Nahostfriedensprozess in einer ganz DIE GRÜNEN) entscheidenden Situation sind. Das möchte ich hier noch einmal unterstreichen. Ich habe es für das richtige Signal Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will es noch ein- gehalten, dass der Europäische Rat den Beschluss der mal unterstreichen: Ich glaube, dass wir Europäerinnen Knesset vom 26. Oktober unterstützt, sich aus dem Ga- und Europäer die Verpflichtung haben, mit einem kon- zastreifen und aus Teilen der nördlichen West Bank zu- kreten Engagement dafür zu sorgen, dass der Rückzug rückzuziehen. Ich halte es auch für dringend notwendig, aus dem Gazastreifen nicht im Chaos endet, sondern dass die Europäer diesen Prozess unterstützen. Denn ich dass er der Beginn einer Erfolgsstory ist, an deren Ende glaube: Nur mit europäischer Hilfe und nur in dem eine friedenssichernde Zwei-Staaten-Lösung stehen 12598 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Dietmar Nietan (A) wird. In diesem Sinne sollten wir Europäer uns dafür stärken. Deshalb will ich zum Schluss die Forderung von (C) einsetzen. Herrn Schäuble aufgreifen, die Menschen mitzunehmen: Lassen Sie uns durch entsprechende Gesetzesinitiativen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dafür sorgen, dass plebiszitäre Elemente in unsere Ver- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) fassung aufgenommen werden! Lassen Sie die Men- Der Außenminister hat deutlich gemacht, dass Chan- schen in unserem Land gemeinsam über die EU-Verfas- cen für eine Übereinkunft mit dem Iran in der Frage sei- sung abstimmen! Es ist das Beste, sie mitzunehmen, weil nes Nuklearprogramms bestehen. Auch wenn wir noch sie dann ernst genommen werden und eine Stimme ha- nicht absehen können, ob die Verhandlungen am Ende ben. Lassen Sie uns in einem solchen Prozess gemein- erfolgreich sein werden, will ich schon darauf hinwei- sam die Menschen davon überzeugen, mit einer großen sen, dass der Chefunterhändler der Iraner, Hossein Mehrheit für Europa zu stimmen! Wenn Sie uns auf die- Mousavian, deutlich gemacht hat, er gehe davon aus, sem Weg folgen, die Menschen mitzunehmen, dann zei- dass man zu einer vorläufigen Übereinkunft gekommen gen Sie, dass Sie es mit Ihrer Forderung ernst meinen, ist. Ich will sehr deutlich sagen: Wenn es gelingt, durch die Menschen in Europa mitzunehmen. Andernfalls das beständige Engagement der EU 3 nicht nur zu einer – das vermute ich eher – war sie Schall und Rauch. vorläufigen, sondern zu einer echten und belastbaren Vielen Dank. Übereinkunft mit dem Iran zu kommen, die sicherstellt, dass das Zusatzprotokoll zum Nichtverbreitungsvertrag (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ unterschrieben wird und dass es bis zu langfristigen DIE GRÜNEN) Vereinbarungen mit dem Iran zur Suspendierung der Urananreicherung kommt, die ein Monitoring und ein Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Controlling in der Nuklearfrage sicherstellen, wäre das Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege ein großer Erfolg und der Beginn einer neuen Ära in der Schäuble das Wort. gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, liebe Kol- leginnen und Kollegen. Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Abge- DIE GRÜNEN) ordnete Fischer hat in einer Zwischenfrage zum wieder- holten Mal wahrheitswidrig unterstellt, die CDU/CSU Ich halte auch die gewählte Konstruktion nicht für be- habe die Entsendung deutscher Soldaten in den Irak ge- denklich, dass die so genannten EU 3, bestehend aus fordert. Ich habe in meiner Rede ausdrücklich festge- Großbritannien, Frankreich und Deutschland, die Ver- stellt: Es ist in Ordnung, dass die Bundesrepublik handlungen führen. Die Tatsache, dass an den letzten (B) Deutschland ihren Beitrag zur Ausbildung irakischer (D) Verhandlungen am vergangenen Wochenende auch ein Soldaten in den Vereinigten Arabischen Emiraten leistet. Vertreter von Javier Solana teilgenommen hat, zeigt, Ich habe lediglich über das Thema gesprochen und von dass die drei Staaten für die gesamte EU sprechen. Alle einem Gespräch mit Admiral Giambastiani, einem der diejenigen, die das mit einem gewissen Hochziehen der Oberkommandierenden der NATO, am Dienstag dieser Augenbrauen beobachtet haben, bitte ich, dafür zu sor- Woche berichtet, in dem er gesagt hat: Wenn die deut- gen und uns dabei zu unterstützen, dass die europäische schen Offiziere für die Arbeit in integrierten Stäben der Verfassung möglichst schnell ratifiziert wird. Wenn wir NATO ausgebildet würden, sei es schlecht, schädlich in Zukunft nicht mehr die EU 3 brauchen, weil wir einen und widersprüchlich, wenn sie im Einsatzfall zurückge- starken und handlungsfähigen europäischen Außen- zogen würden. minister haben, würde das auch solche Verhandlungen erleichtern und sie erfolgreicher machen. Deswegen möchte ich den Abgeordneten Fischer und den Bundesaußenminister bitten, die wahrheitswidrige (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Verdrehung dessen, was hier gesagt worden ist, zu unter- DIE GRÜNEN) lassen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Europäische (Beifall bei der CDU/CSU) Rat von Brüssel hat aus meiner Sicht deutlich gezeigt: Die EU muss sich weiterentwickeln. Sie muss sich in der Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Gestaltung der verschiedenen Politikbereiche, zum Bei- Zur Erwiderung, Herr Kollege Fischer. spiel der gemeinsamen Agrarpolitik, weiterentwickeln. Sie muss sich auch in der zentralen Frage der Lissa- bonstrategie weiterentwickeln. Es hilft nichts, drum her- Joseph Fischer (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE umzureden: Die Versäumnisse und Schwierigkeiten, das GRÜNEN): Ziel zu erreichen, sind in dem Bericht der Kok-Kom- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrter mission benannt worden. Sie müssen ernst genommen Kollege Schäuble, ich denke nicht daran, irgendetwas werden. Wir sollten sie uns zu Herzen nehmen und daran zurückzunehmen. Sie haben sich zum wiederholten arbeiten, dass die Lissabonstrategie letztlich doch zu ei- Male – es begann bereits vor dem Irakkrieg – in öffentli- nem Erfolg wird. chen Äußerungen dafür ausgesprochen, dass die Bun- desrepublik Deutschland in der Koalition mit Soldaten Genauso wichtig ist es aber, die Institutionen und In- präsent sein soll. Ich habe Sie in einer der letzten Debat- tegrationsfähigkeit der Europäischen Union auch vor ten – aus dem Stand kann ich nicht genau verifizieren, in dem Hintergrund der geplanten weiteren Erweiterung zu welcher – schon einmal darauf hingewiesen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12599

Joseph Fischer (Frankfurt) (A) Heute haben Sie das Argument der Bündnisverpflich- über den europäischen Gipfel in Brüssel nicht den Wahl- (C) tung angeführt. Ich halte Ihnen entgegen, dass die Hal- kampf 2006 vorziehen! tung der Bundesregierung unverändert ist: Wir werden (Beifall bei der FDP) keine Soldaten in den Irak schicken. Auf dem Gipfel sind sehr wichtige Dinge gerade im (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bereich der Innen- und Justizpolitik entschieden wor- und bei der SPD) den, die in der bisherigen Debatte keine Rolle gespielt Dafür gibt es gute Gründe, die ich Ihnen nochmals nen- haben. Ich möchte in diesem Zusammenhang aus dem nen will. Wir waren von Anfang an der Meinung, dass Bericht von Herrn Kok zitieren. Er sagte zu der bisher – anders als im Fall Afghanistan – weder die Gründe be- gescheiterten Strategie für mehr Wachstum und Beschäf- lastbar noch die Folgewirkungen bedacht worden sind. tigung: Deswegen wird die Frage, was westliche Truppen leisten können, von uns negativ beantwortet. Wir sehen uns Die Spitzenvertreter Europas müssen die Hoffnung durch die Entwicklung diesbezüglich bestätigt. verbreiten, dass das Morgen besser sein wird als das Heute. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Genau darum geht es. Wenn wir die Bürgerinnen und Bürger für Europa begeistern wollen, müssen wir klar Wir lassen es Ihnen und Ihrer Partei aber nicht durch- sagen, wo die Defizite liegen und wie sich die derzeitige gehen – ich erinnere in diesem Zusammenhang an den reale Situation darstellt, und zwar gerade unter Berück- gemeinsamen Auftritt Ihrer Parteivorsitzenden mit dem sichtigung der Tatsache, dass wir bisher bei der Umset- Kollegen Pflüger vor dem Weißen Haus in Washington zung der Lissabonstrategie für mehr Wettbewerb, an einem Februartag –, dass Sie die Bundesregierung auf Wachstum und Beschäftigung überhaupt nicht vorange- der einen Seite dafür kritisieren, dass wir unseren Ver- kommen sind. Wir müssen auch erklären, was sich hinter pflichtungen nicht nachkämen, auf der anderen Seite dem Haager Programm – das ist der zweite Komplex – aber insinuieren – und zwar manchmal in der Sprache verbirgt. Dort geht es um Freiheit, Sicherheit, den eines Winkeladvokaten –, dass deutsche Truppen betei- Schutz der Grundrechte, bessere Möglichkeiten zur Ver- ligt werden sollten. Darin liegt der grundsätzliche Dis- folgung von Terroristen und eine bessere Zusammenar- sens zwischen Ihrer und unserer Politik, den man auch beit der Polizeien sowie um eine gemeinsame Asyl- und benennen muss. Das werden wir auch immer wieder tun. Flüchtlingspolitik. Wir müssen den Menschen ehrlich Gegebenenfalls stellen wir die Frage ein weiteres Mal sagen: Jawohl, das beschlossene, umfassende Haager zur Abstimmung. Dann werden wir sehen, wie sich die Programm – das war ein Schwerpunkt des Gipfels in Mehrheit des deutschen Volkes entscheidet. Brüssel – bedeutet in vielen Punkten einen echten Para- (B) (D) Ich bin mir sicher, dass die Irakpolitik der Bundesre- digmenwechsel in der deutschen Innen- und Justizpoli- gierung, die auch durch die Fakten getragen wird, von tik. Wir müssen zudem die Punkte nennen, die wir unter- der Mehrheit unseres Volkes – und zwar auch von vielen stützen, und diejenigen, in denen wir Gefährdungen CDU/CSU-Wählerinnen und -Wählern im konservativen sehen und die wir kritisieren. Süden unseres Landes – unterstützt wird. Wir werden Wir Liberale unterstützen die Forderung nach Verbes- Sie mit Ihrer Position nicht entkommen lassen. serung der Kontrolle und Überwachung der europäi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schen Außengrenzen. Wir wollen des Weiteren eine ge- und bei der SPD – Dr. Andreas Schockenhoff meinsame Asylpolitik in der Europäischen Union. Das [CDU/CSU]: So ein Schwachsinn!) ist schon im ersten Punkt des Asylkompromisses von 1992 vereinbart worden, in dem die Forderung nach ei- ner umfassenden europäischen Asylkonvention erhoben Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: wird. Wir wollen des Weiteren, dass in Zukunft das Eu- Ich erteile das Wort der Kollegin Sabine Leutheusser- ropäische Parlament eine stärkere Rolle spielt, wenn es Schnarrenberger, FDP-Fraktion. um die Innen- und Justizpolitik sowie die Zusammenar- beit der Polizeien in Europa geht. Frau Höfken, Sie und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): auch Vertreter der Sozialdemokraten haben gesagt, dass Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- das Europäische Parlament eine stärkere Rolle spielen nen und Kollegen! Für die FDP steht auf der heutigen müsse. Das könnte es bereits nach dem nun zu Ende ge- Tagesordnung nicht – ich denke, das gilt genauso für die gangenen Gipfel, wenn sich der Bundesinnenminister CDU/CSU –, sich – vielleicht sogar positiv – zu der dafür eingesetzt hätte und wenn er einige zaudernde Kol- Frage zu äußern, ob deutsche Soldaten in den Irak ge- legen, die sonst gerne seiner Fährte folgen, davon über- schickt werden sollen. Das steht tatsächlich nicht auf der zeugt hätte, dass es auch im Bereich der legalen Migra- Tagesordnung. tion qualifizierte Mehrheitsentscheidungen geben muss, und zwar unter Berücksichtigung der Entscheidungs- (Beifall bei der FDP) kompetenz des Europäischen Parlaments; denn das ge- Wir wollen vielmehr, dass sich Deutschland in starkem hört unverzichtbar zusammen. Maße an humanitärer und ziviler Hilfe beteiligt und dass (Beifall bei der FDP) es die Ausbildung gerade derjenigen Kräfte unterstützt, die in Zukunft im Irak für mehr Stabilität und Ordnung Warum macht man das nicht bereits heute – das würde sorgen sollen. Lassen Sie uns mit der heutigen Debatte eine Stärkung des Europäischen Parlaments bedeuten –, 12600 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (A) wenn dies in zwei Jahren nach der Ratifizierung und der Kollege Nietan und der Kollege Fischer sind mir zu- (C) dem In-Kraft-Treten des Verfassungsvertrages sowieso vorgekommen und haben dazu alles Notwendige gesagt. kommen wird? Wir halten das, was jetzt beschlossen Ich erspare es mir deswegen, das zu wiederholen. worden ist, für keine richtige Weichenstellung. Das wird Ich möchte an dieser Stelle nur sagen: Herr Kollege für eine Blockade in der EU sorgen. Schäuble, die Kritik an der Bundesregierung, die Sie be- Da ich leider nur noch wenig Zeit habe, möchte ich züglich des Verhältnisses zu den Vereinigten Staaten eine Bemerkung zur Flüchtlingspolitik machen. Im von Amerika formuliert haben, ist wohlfeil. Bei all Ihrer Haager Programm ist nicht der Vorschlag des Bundesin- Kritik drücken Sie sich immer vor einer konkreten Dar- nenministers aufgenommen worden, außerhalb der Eu- stellung der von Ihnen gewünschten Position der Bun- ropäischen Union Asyllager – oder wie auch immer man desrepublik Deutschland in den weiterhin strittigen Fra- diese Einrichtungen nennen will – zu errichten. Es gibt gen. Ich nenne als Beispiele Kioto, Internationaler zwar einen Prüfauftrag, wonach Zweckmäßigkeit und Strafgerichtshof und – diese Frage ist mit der Wieder- Durchführbarkeit untersucht werden sollen. Das muss wahl von Präsident Bush nicht ad acta gelegt – die Be- aber – das sollten Sie genau nachlesen – auf der Grund- wertung des militärischen Eingriffs im Irak. lage internationaler Konventionen und europäischen Angesichts der Wackelpolitik Ihrer Vorsitzenden in Rechts erfolgen. Das fordern wir ein. Das zu tun ist dieser Frage und der Schwäche der FDP sage ich Ihnen wichtig. Ich vermisse auch in der heutigen Debatte – ge- – auch wenn Sie mit Ihrer Kurzintervention dazu noch rade aus den Reihen der Grünen – Stimmen, die diesen einmal Stellung genommen haben –: Sie dürfen den Vorschlag einmal massiv kritisieren – Menschen im Lande nichts vorgaukeln. Wenn Sie die (Abg. Otto Schily [SPD] meldet sich zu einer Regierung in der entscheidenden Situation geführt hät- Zwischenfrage) ten, dann wären deutsche Soldaten im Irak. Unseretwe- gen sind sie es nicht und das bleibt auch so. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Frau Kollegin! und bei der SPD) Der Europäische Rat hat sich in Brüssel mit dem Haa- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): ger Programm, mit der Fortentwicklung und der Stär- – und deutlich machen, dass wir diese Form von euro- kung der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts der Men- päischer Flüchtlingspolitik nicht wollen. schen in der Europäischen Union, befasst. Seit fünf Vielen Dank. Jahren, seit der Verabschiedung des Vertrags von Amster- dam, wird an einer schrittweisen Errichtung dieses Raums (B) (Beifall bei der FDP) gearbeitet. Das ist auch richtig so. Wir wissen: Wirkliche (D) Freizügigkeit in der Union kann es nur geben, wenn alle Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Menschen in den Mitgliedstaaten der Union gleichen Zu- Da die Redezeit schon deutlich überschritten war, gang zu gleichen oder zumindest zu vergleichbaren Rech- konnte ich keine Zusatzfrage zulassen. ten haben, wenn ihre Grund- und Bürgerrechte im gesam- ten Gebiet der Gemeinschaft gewahrt sind und wenn sie Ich will hier deutlich auf Folgendes hinweisen: Die vor grenzüberschreitender Kriminalität und auch vor ter- Einhaltung der von den Fraktionen vereinbarten Debat- roristischen Anschlägen geschützt werden. tenzeiten können wir nur dann einigermaßen organisie- ren, wenn sich die Redner möglichst an die Redezeiten Dazu hat der Europäische Rat bereits 1999 in Tam- halten, die die Fraktionen für sie angemeldet haben, und pere ein Fünfjahresprogramm aufgestellt, das diese Bun- wenn darüber hinaus keine Zusatzfragen nach Ablauf desregierung und die rot-grüne Koalition – im Sinne von der Redezeit angemeldet und eingefordert werden. Das Hausaufgaben, die uns gestellt worden sind – im Bereich führt nämlich wegen der Nichtanrechnung auf die Rede- der europäischen Justiz- und Innenpolitik abgearbeitet zeit selbstverständlich zu einer weiteren Verlängerung haben. Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht. der Debattenzeit. Ich bitte alle Fraktionen um Nachsicht Die rot-grüne Koalition hat die Grundlagen für die dafür, dass das jeweilige Präsidium bemüht ist, sich an Zusammenarbeit deutscher Strafverfolgungsbehörden mit die Vorgaben zu halten, die die Fraktionen durch ihre Europol und Eurojust geschaffen. Wir haben den Euro- Vereinbarungen gesetzt haben. päischen Haftbefehl in internationales Recht umgesetzt. (Beifall des Abg. Der Bundestag hat zuletzt erstmals auf dem Gebiet der [Wiesloch] [SPD]) Rechtspolitik nach Art. 23 des Grundgesetzes einen Be- schluss in die Debatte über eine Regelung einer europäi- Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Jerzy Montag, schen Beweisanordnung eingebracht. Damit haben wir Bündnis 90/Die Grünen. deutlich gemacht, dass wir gewillt sind, uns in Zukunft frühzeitiger und noch dezidierter in europäische Gesetz- Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gebungsverfahren einzuschalten. Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegin- Dazu hat der Deutsche Bundestag nicht nur das Recht, nen und Kollegen! Ich wollte die Angriffe des Kollegen sondern, wie ich meine, auch die Pflicht. Schäuble und des Kollegen Gerhardt – er ist nicht mehr anwesend – gegen den Bundesaußenminister und die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bundesregierung nicht unwidersprochen lassen. Aber und bei der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12601

Jerzy Montag (A) Angesichts grenzüberschreitender Kriminalität und des Haager Programms muss eine doppelte sein: Europa (C) realer terroristischer Bedrohung machen die Tätigkeit muss Sicherheit für die Grund- und Bürgerrechte der von Olaf sowie die Tätigkeit von Europol und Eurojust Menschen sowie Sicherheit der Menschen vor Verbre- selbstverständlich Sinn. Wir sind auch mit dem ge- chen und Gewalt schaffen. planten Ausbau der Befugnisse dieser Stellen, soweit Danke. sachlich begründet, einverstanden. Die Ergebnisse der vergangenen fünf Jahre belegen jedoch, dass die schritt- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN weise Realisierung des Raums der Freiheit, der und bei der SPD) Sicherheit und des Rechts überwiegend von exekutiven Elementen geprägt ist. Die Terroranschläge vom Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: 11. September 2001 und vom 11. März 2004 haben diese Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Pau. Entwicklung maßgeblich beeinflusst. Wir haben hier im Deutschen Bundestag zum Beispiel mit der Umsetzung des Rahmenbeschlusses zur Terrorismusbekämpfung Petra Pau (fraktionslos): auch auf diesem Gebiet das getan, was wir tun mussten. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich beginne mit einem Vorgipfel, den viele EU-Parlamenta- Die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit hat rier als Sternstunde empfanden: Das EU-Parlament er- in Europa eine rasche Entwicklung genommen. Die zwang eine Neu- und Umbesetzung der künftigen EU- grundlegenden Verfahrensrechte der Menschen sind Kommission. Es verhinderte, dass mittelalterliche Posi- bisher aber dahinter zurückgeblieben. Ich will es so sa- tionen zum Beispiel in der Gleichstellungspolitik in der gen: Die eine Sache steht schon im Gesetzblatt und die EU Gewicht bekamen. Dieses Beispiel macht aber zu- andere Sache steht immer noch in Grünbüchern und in gleich auch eine Schattenseite des EU-Parlaments deut- Entwürfen. Wenn die Kommission in ihrer Mitteilung an lich: Es hat nach wie vor zu wenig Gewicht. Die EU- den Rat und an das Europäische Parlament im Juni die- Politik wird in aller Regel von der Exekutive und den ses Jahres schreibt: „Fakt ist, dass sich das europäische Regierungen der Nationalstaaten dominiert. Das ist eine Aufbauwerk auf diesem Gebiet“ – sicherheitspolitische nach wie vor bestehende Bruchstelle im EU-Gefüge. Da- Maßnahmen – „rigoros auf die Grundrechte stützt“, dann mit bleibt die EU hinter üblichen Demokratiestandards sagen wir und dann sage ich: So soll es sein, so muss es zurück. in Zukunft auch sein, aber so ist es heute noch nicht in vollem Umfang. (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- tionslos]) Der im April 2004 vorgelegte Vorschlag für einen Nun soll durch die künftige EU-Verfassung am Ver- Rahmenbeschluss über bestimmte Verfahrensrechte in hältnis von Parlament zu Kommission einiges verbessert (B) Strafverfahren greift leider nur ganz wenige Aspekte des (D) werden. Das ist gut und wichtig und wird von der PDS Schutzes grundlegender Verfahrensrechte in Europa auf. im Bundestag begrüßt, auch wenn nach unserer Meinung Weite Bereiche wie die Garantien einer fairen Beweis- die angestrebten Änderungen längst nicht ausreichen. aufnahme und des Schutzes der Unschuldsvermutung Der bisherige Zustand aber, nach dem die EU-Bürgerin- sind noch nicht angegangen worden. Eine Kodifizierung nen und -Bürger ein Parlament wählen dürfen, das bei des Verbots der Doppelbestrafung in Europa ist bislang Lichte betrachtet kein richtiges ist, muss überwunden noch nicht zur Entscheidungsreife gekommen. Deswe- werden, auch damit EU-Politik endlich transparenter, er- gen darf sich die Bilanzierung der Ergebnisse von Tam- kennbarer und bewertbarer wird. pere als Voraussetzung für das Haager Programm nicht darauf reduzieren, finde ich, die tatsächlich fehlende Damit bin ich schon bei unserem Dauerthema. Viele Verabschiedung einiger der im Programm vorgesehenen hier im Bundestag und auch viele Redner heute in der Rechtsakte zu beklagen. Im Rahmen des neuen Haager Debatte beklagen, dass die EU einerseits immer wichti- Programms, das diese thematische Schwerpunktsetzung ger wird, andererseits aber von den Bürgerinnen und von Tampere für den Aufbau einer harmonisierten In- Bürgern als fremd und weit weg von ihnen empfunden nen- und Rechtspolitik aufgreift, müssen wir im Sinne wird. Das ist übrigens auch ein Einfallstor für Rechtsex- des von mir beschriebenen Missverhältnisses die Arbeit tremisten, das wir gemeinsam schließen sollten. vielmehr dahin gehend voranbringen, dass die bisher (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- noch fehlenden Mindeststandards für Beschuldigten- tionslos]) rechte geschaffen werden. Ich möchte mich an dieser Stelle ausdrücklich beim Bundesjustizministerium be- Zu diesem Problem trägt allerdings auch der Deutsche danken, das im Rahmen der Vorschläge Deutschlands Bundestag seinen Teil bei: Solange Sie sich weigern, die für das Mehrjahresprogramm 2004 bis 2009 genau die Bürgerinnen und Bürger einzubeziehen, solange Sie eine Vorstellung des Deutschen Bundestages in die europäi- Volksabstimmung über die EU-Verfassung verweigern, sche Ebene eingebracht hat. (Günter Gloser [SPD]: Wer?) Nach einer „Eurobarometer“-Umfrage vom 12. März so lange nähren Sie auch das beklagte Problem. Deshalb dieses Jahres – damit komme ich zum Schluss – sind wiederhole ich die Forderungen der PDS: erstens Ände- 70 Prozent der Bürger der Europäischen Union der An- rung des Grundgesetzes, damit auch auf Bundesebene sicht, dass gemeinsames Handeln der bessere Weg ist, endlich mehr direkte Demokratie möglich wird, um Kriminalität zu bekämpfen. 90 Prozent sind aber so- gar für die Festschreibung gleicher Verteidigungsrechte (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- in allen Mitgliedstaaten. Deshalb sage ich: Die Aufgabe tionslos]) 12602 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Petra Pau (A) zweitens eine Volksabstimmung über die EU-Verfassung (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Und wer hat (C) auch in der Bundesrepublik und drittens ein EU-weites den Präsidenten gewählt? Das amerikanische Plebiszit über die EU-Verfassung am 8. Mai des nächs- Volk! Das interessiert Sie überhaupt nicht! Das ten Jahres, dem 60. Jahrestag der Befreiung vom Fa- ist Demokratie, oder?) schismus. Für eine EU, die das toleriert, ist die PDS nicht zu haben. (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- Wir wollen eine soziale, eine demokratische und eine tionslos]) friedfertige EU. Durch mehr Rechte für das EU-Parlament und mehr (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- Mitbestimmung der EU-Bürgerinnen und -Bürger tionslos]) könnte übrigens auch eine andere Unart eingedämmt werden: das üblich gewordene Spiel über die Bande. Wir Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: alle kennen Beispiele dafür. So manches, was daheim in Das Wort hat nun der Kollege Rüdiger Veit für die der Bundesrepublik nicht mehrheitsfähig ist, wird über SPD-Fraktion. den Umweg EU eingespeist. Dort wird es in Richtlinien gegossen und kehrt als bindendes EU-Recht nach Rüdiger Veit (SPD): Deutschland zurück. Das stärkt nicht die Demokratie, sondern umgeht sie. Ein praktisches Beispiel liegt vor Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und uns: Otto Schily ist ein Fan von persönlichen Daten. Er Herren Kollegen! Zu den allgemeinen Zielsetzungen des sammelt sie und will sie in großen Dateien und kleinen Haager Programms haben der Bundesaußenminister, Dokumenten speichern – natürlich namens der Sicher- aber auch die Kollegin Schwall-Düren und der Kollege heit. Seine Pläne fanden auch im Bundestag Widerhall, Jerzy Montag einiges gesagt. Ich darf mir daher im Rah- insbesondere bei der CDU/CSU. Sie stießen aber insge- men der mir zur Verfügung stehenden, eher knappen Zeit samt auf Skepsis. Von Datenschützern und Bürgerrecht- ein paar innenpolitische Anmerkungen und Hervorhe- lern werden sie ohnehin abgelehnt, und zwar strikt. Das bungen erlauben. Gleiche gilt auch für mich und die PDS. Zunächst einmal zum Komplex Biometrie- und In- formationssysteme bzw. Visumspolitik. Wir finden (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- hierzu im Haager Programm die Absicht, das Schenge- tionslos]) ner Informationssystem, genannt SIS II, das Visainfor- Nun ereilt uns die Erfassung biometrischer Daten doch, mationssystem, genannt VIS, und Eurodac zur Bekämp- von ganz oben, aus der EU. Mehr noch: Es sollen ge- fung der illegalen Einwanderung und der Grenzkontrolle (B) meinsam verfügbare Dateien angelegt werden, um besser miteinander zu verbinden. Ich glaube, in dieser (D) potenzieller Terroristen und Straftäter besser habhaft zu Zielsetzung stimmen wir alle überein. Ihnen, Frau Pau, werden. „Potenziell straffähig“ ist jeder und jede. Das ist möchte ich in diesem Zusammenhang sagen: Machen die Dimension, über die wir hier reden. Ich glaube nicht, Sie sich da keine Sorgen! Wir werden sorgfältig darauf dass jede und jeder seine persönlichen Daten gern beim achten, dass dabei die Einhaltung der Grundrechte und Geheimdienst der Regierung Berlusconi abliefert. Ich auch der Maßstäbe des Datenschutzes, wie wir sie ken- kann mir auch nur schwer vorstellen, dass sich Bürger nen, gewährleistet wird, wie das auch der Rat beabsich- der Bundesrepublik über prophylaktische Vermerke tigt hat. beim CIA oder beim „Heimatschutz“ der USA freuen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das aber ist bzw. wird Praxis dank EU-Bandenspiel. DIE GRÜNEN) Nun noch zu einem weiteren Gipfelthema der EU, Erklärtermaßen sollen Mindestnormen für nationale dem Stabilitätspakt. Er besagt, dass die nationale Ver- Identitätsausweise entwickelt und die Aufnahme biome- schuldung einen Umfang von 3 Prozent des jeweiligen trischer Identifikatoren in Reisedokumente, also in Visa, Haushaltes nicht übersteigen darf. Andernfalls drohen in Aufenthaltstitel und in die Reisepässe der EU-Bürger, drastische Strafen. Die PDS hat diese Regelung immer sowie auch in die Informationssysteme vorbereitet und, abgelehnt, vor allem, weil es zu diesem Geldpakt keinen was die Visa angeht, bis Ende des Jahres 2007 rasch ver- adäquaten Sozialpakt gibt. Er wäre aber sehr wichtig, um wirklicht werden. Ich bin mir sicher – auch das sage ich der EU-weit steigenden Arbeitslosigkeit, der wachsen- an Ihre Adresse, Frau Pau –, dass wir diese Bestrebun- den Verarmung großer Schichten und der ungehemmten gen – die wir vom Grundsatz her für richtig halten und Privatisierung öffentlicher Leistungen zu begegnen. die auch immer das Anliegen von Bundesinnenminister (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [frak- Otto Schily waren –, diese Aufgabe sei auf europäischer tionslos]) Ebene einheitlich anzugehen, sorgfältig beobachten und kritisch begleiten werden. Mein letzter Punkt zum Thema EU-Gipfel heißt „Ver- Bei den Stichworten Terrorismusbekämpfung und wunderung“; denn wenn ich es recht gelesen und gehört polizeiliche Zusammenarbeit finden wir nicht nur als habe, wurde die Wiederwahl des US-Präsidenten nicht Ziel, sondern als die ausdrücklich so formulierte Voraus- nur pragmatisch begrüßt, sondern „besonders“. Wenn setzung – ich zitiere –, das stimmt, dann war das ein übler Kniefall vor jeman- dem, der die UNO missachtet, willkürlich Kriege ent- dass die Mitgliedstaaten die Befugnisse ihrer Nach- facht und die Menschheit gefährdet. richten- und Sicherheitsdienste nicht nur zur Ab- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12603

Rüdiger Veit (A) wehr von Bedrohungen der eigenen Sicherheit, son- und sogar auch in dieser Nacht in den Niederlanden, (C) dern gegebenenfalls auch zum Schutz der inneren dass Rückschläge bei dem Versuch der – offensichtlich Sicherheit der anderen Mitgliedstaaten nutzen; den misslungenen – Integration zu beklagen sind. zuständigen Behörden der anderen Mitgliedstaaten Deswegen ist es notwendig, sinnvoll und richtig, dass alle ihren Diensten vorliegenden Informationen, die europäischen Regierungschefs die zentralen Forde- – ich wiederhole: alle ihren Diensten vorliegenden Infor- rungen der Integration noch einmal vorangestellt haben, mationen – indem sie ausgeführt haben: Integration umfasst Antidis- kriminierungspolitik. Sie setzt selbstverständlich Res- die Bedrohungen der inneren Sicherheit eines der pekt vor den Grundwerten des Gastlandes voraus und er- anderen Mitgliedstaaten betreffen, unverzüglich zur streckt sich vor allem auch auf Beschäftigung und Kenntnis bringen … Bildung. Grundlegend ist dabei die Erkenntnis, es han- An anderer Stelle heißt es, dass mit Wirkung vom dele sich um einen fortlaufenden, wechselseitigen Pro- 1. Januar 2008 unionsweit ein Strafverfolgungsbeamter zess, an dem sich die sich rechtmäßig aufhaltenden alle für die Erfüllung seiner Aufgaben nötigen Informa- Migranten und die Gesellschaft des Gastlandes beteili- tionen auch aus anderen Mitgliedstaaten erhalten soll. gen sollten. An dieser Stelle fragt man sich natürlich unwillkür- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lich, wie eigentlich die Bundesrepublik ihre so eingegan- DIE GRÜNEN) genen oder noch einzugehenden Verpflichtungen auf eu- Am Rande sei bemerkt: Ich fand es erfreulich, dass ropäischer Ebene erfüllen will, solange wir diese der Europäische Rat nicht nur im Dezember 2003 vorge- Aufgabe noch nicht einmal bei uns selbst im Lande auch schlagen hat, mit aller Entschlossenheit gegen Rassis- nur annähernd befriedigend gelöst haben. Ich nenne hier mus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit vorzu- beispielsweise den meines Erachtens völlig unnötigen gehen, sondern dass auch jetzt vorgeschlagen worden ist, Bestand eigenständiger Landesämter für Verfassungs- den Aufgabenbereich der Europäischen Stelle zur Beob- schutz und höchst unzureichende Ermittlungskompeten- achtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in zen des Bundeskriminalamtes. Viele der diesbezüglichen Wien dahin gehend auszuweiten, dass sie zu einer Agen- Vorstellungen von Bundesinnenminister Otto Schily fin- tur für Menschenrechte wird. den ihre aktuelle Begründetheit auch in dem hier darge- legten europäischen Kontext. Einiges davon, wenn nicht Bei der Asyl-, Migrations- und Grenzpolitik wurde vieles oder gar alles, sollte von uns Bundespolitikern ge- eine zweite Phase – Beginn 1. Mai 2004 – eingeleitet; genüber antiquierten Föderalismusdebattierern aus- was wir sehr begrüßen. Zugleich wird angemahnt, die drücklich unterstützt werden. erste Phase durch baldige einstimmige Annahme der (B) (D) Asylverfahrensrichtlinie abzuschließen. Ich erinnere in (Lachen der Abg. Sabine Leutheusser- diesem Zusammenhang daran, dass der Inhalt dieser Schnarrenberger [FDP]) Richtlinie bereits im Frühjahr dieses Jahres politisch Um einmal ein Beispiel herauszugreifen: Können Sie konsentiert wurde, aber in Bezug auf die Frage der Liste mir vielleicht erklären, was das spezifisch Schützens- der sicheren Drittstaaten noch Dissens besteht. Auch werte etwa einer Bremer Landesverfassung ist, dass zu wenn es in der deutschen Flüchtlings- und Anerken- ihrem Schutz eigens zwei Dutzend Beamte aufgeboten nungspraxis insoweit keine aktuellen Probleme gibt, werden müssen, die vielleicht wesentlich sinnvoller als sollten wir aus deutscher Sicht einer Ausweitung der Außenstelle eines Bundesamtes arbeiten würden? Liste sicherer Drittstaaten auf solche Staaten, in denen die Genitalverstümmelung immer noch zur gesellschaft- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) lichen Realität gehört, wie etwa Mali und Benin, wider- Wie gesagt, auch hier wird ausdrückliche Zustimmung sprechen. signalisiert. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Wo bleibt hier DIE GRÜNEN) der Widerspruch aus Bremen? Wo sind die Nun komme ich auf das Stichwort „Auffanglager“ des Leute?) Kollegen Wolfgang Schäuble zurück. Was die Schaffung – Ich habe keinen ausgemacht, ich würde das aber auch einer einheitlichen europäischen Asylbehörde oder auch Nichtbremern – meinetwegen auch Hessen – in ähnli- die Frage von Aufnahmeeinrichtungen in Transit- cher Weise sagen. und Herkunftsländer angeht, würde ich am liebsten die entsprechenden Passagen aus dem Haager Programm (Zuruf von der SPD: Bayern!) wörtlich zitieren: Bezogen auf Bremen ist das Beispiel eigentlich am nied- In dieser Hinsicht lichsten und am deutlichsten. – gemeint ist die zweite Phase bis 2010 – Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein wichti- ger weiterer Punkt ist die Integration. Dieses Thema ha- ersucht der Europäische Rat die Kommission, eine ben wir nicht nur im Zusammenhang mit den Beratun- Studie über die Zweckmäßigkeit, die Möglichkeiten gen des Zuwanderungsgesetzes erörtert und haben das und Schwierigkeiten sowie über die rechtlichen und Jahrzehnt der Integration ausgerufen. Wir bemühen uns praktischen Auswirkungen einer gemeinsamen Be- jetzt um die Umsetzung, erleben aber gerade jetzt aktuell handlung von Asylanträgen in der Union vorzulegen. 12604 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Rüdiger Veit (A) Ferner sollten in einer gesonderten, in enger Ab- gigen Diskussionen hier im Haus – jetzt richte ich meine (C) sprache mit dem UNHCR durchzuführenden Studie Worte an und meine Augen ausdrücklich auf die Kolle- die Vorteile, die Zweckmäßigkeiten und die Durch- ginnen und Kollegen von der CDU/CSU – häufiger be- führbarkeit einer gemeinsamen Behandlung von denken, bevor wir mit populistischen Parolen versuchen, Asylanträgen außerhalb der EU geprüft werden, Stimmung zu machen. wobei dieses Verfahren die gemeinsame europäi- Ich danke für die Aufmerksamkeit. sche Asylregelung ergänzen und den einschlägigen internationalen Normen entsprechen würde. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Weiterhin heißt es dort: Der Europäische Rat stellt fest, dass unzureichend Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: regulierte Wanderungsbewegungen zu humanitären Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Katastrophen führen können. Er verleiht seiner gro- Kollegen Otto Schily. ßen Besorgnis über die menschlichen Tragödien Ausdruck, die sich im Mittelmeer bei Versuchen (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Ange- abspielen, illegal in die Europäische Union einzu- messene kritische Distanz!) reisen. Otto Schily (SPD): In diesen Formulierungen kommt eine durchaus ange- Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! messene kritische Distanz zum Ausdruck. Die Prüfauf- Weil von mehreren Rednern die Frage angesprochen träge verdeutlichen, dass auch der Europäische Rat zu worden ist, wie wir uns bezüglich der Migration aus diesem Themenkomplex mehr Fragen als Patentlösun- Nordafrika nach Europa verhalten sollen, scheint es mir gen oder Antworten parat hat. Insoweit befinden wir uns geboten, Sie über einen Sachverhalt zu informieren. hier in diesem Parlament und auch in den Koalitions- fraktionen in guter Gesellschaft und werden diesen Pro- Bereits Ende November des Jahres 2003 ist vom Rat zess kritisch begleiten. der Europäischen Union ein Programm zur Bekämpfung der illegalen Migration über das Mittelmeer beschlossen Zum Thema Arbeitsmigration kann ich aus Zeitgrün- worden. Es gibt also bereits einen Beschluss. In diesem den leider nicht mehr kommen, obwohl Sie, Frau Beschluss ist enthalten, dass die Personen, die an der il- Leutheusser-Schnarrenberger, mir das Stichwort gege- legalen Einreise über das Mittelmeer gehindert werden, ben haben. in ihre Heimatländer zurückgebracht werden müssen Ich will Ihnen aber auch zu den Themen „Legale Zu- (B) (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Das (D) wanderung“ und „Wechselbeziehung zur Flüchtlingspo- heißt Rückführung! Das haben wir bisher an- litik“ etwas ins Stammbuch schreiben – ders verstanden!)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: und dass man dafür eine Zwischenunterbringung in den Transitländern schaffen muss. Es heißt dort wörtlich, Das müssen Sie aber bitte knapp halten. dass dafür entsprechende Aufnahmeeinrichtungen ge- schaffen werden müssen. Rüdiger Veit (SPD): – das wird geschehen –, was Kofi Annan – so viel (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Weiß das Zeit muss sein – bei der Verleihung des „Sacharow-Prei- auch die SPD?) ses für geistige Freiheit“ vor dem Europäischen Parla- Dieser Beschluss sollte sich vielleicht einmal herum- ment gesagt hat: sprechen, damit über dieses Thema etwas sachlicher dis- Einwanderer brauchen Europa. Aber Europa kutiert werden kann, als es mitunter in der Öffentlichkeit braucht auch Einwanderer! geschehen ist. Binnen der kommenden 50 Jahre werde die alternde (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Halten Sie Bevölkerung der erweiterten Europäischen Union dras- doch in der SPD-Fraktion dazu mal einen Vor- tisch sinken. Daher seien wir zwingend auf Zuwanderer trag!) angewiesen. Er plädiert im Übrigen für „breite Wege für Als zweiten Punkt habe ich zur Sprache gebracht, legale Zuwanderung“. Er erinnerte die Europaabgeord- dass wir uns die Frage stellen müssen, was mit den Men- neten daran, dass eine restriktive Asyl- und Einwande- schen geschieht, die sich auf den Flüchtlingsstatus beru- rungspolitik die Menschen massenhaft in die Fänge kri- fen. Ich habe gesagt – übrigens in Übereinstimmung mit mineller Schlepperbanden treibe und damit zahllose von dem EU-Kommissar Vitorino –: Man muss der Frage ihnen in den Tod. nachgehen, ob es nicht Sinn macht, sich über das Schutz- (Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]: bedürfnis solcher Personen schon außerhalb der Grenzen Da hätte man mehr machen können! – der Europäischen Union ein Bild zu machen und dann darüber zu entscheiden, wie wir diesen Personen helfen Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Das ist ein Irr- weg!) können. Dazu habe ich geäußert: Auch wenn es um ein festgestelltes Schutz- und Hilfebedürfnis geht, ist es Das, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe richtig, dem zu folgen, was grundsätzlich vom UNO- Kolleginnen und Kollegen, sollten wir bei den einschlä- Flüchtlingskommissar immer wiederholt wird und was Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12605

Otto Schily (A) meine Zustimmung findet: dass wir den Schutz und die (Lachen der Abg. Dr. Angelica Schwall-Düren (C) Hilfe für die Flüchtlinge tunlichst in der Region, aus der [SPD]) sie kommen, organisieren. Deutschland war der tragende Ast der europäischen Das ist der Stand der Diskussion. Wenn einige mei- Wirtschaft. Das ist vorbei. Kollegin Schwall-Düren, das nen, zu dem Wort „Lager“, das ich nie gebraucht habe, liegt nicht an der Weltwirtschaft. Sonst müssten die Bri- auf kritische Distanz gehen zu sollen, wie ich es soeben ten andere Auswirkungen der Weltwirtschaft spüren, gehört habe, ist es vielleicht ganz sinnvoll, solche kriti- was natürlich nicht der Fall ist. Der Grund, weshalb wir schen Distanzen auf einer sachlichen Grundlage noch uns in dieser wirtschaftlichen Situation befinden, ist, einmal zu überprüfen, damit man über einen Sachverhalt dass in Deutschland die Hausaufgaben nicht gemacht redet und nicht über ein Mediengespinst. wurden, die man aber machen muss, um in Europa wei- terzukommen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das können Sie doch in der Fraktionssitzung erörtern! – Heute sind Sie an einem Punkt angelangt, an dem Sie Gegenruf des Abg. Otto Schily [SPD]: Das sich angesichts einer komplett verfehlten Wirtschafts- galt auch für Herrn Schäuble! Das war auch und Finanzpolitik genötigt sehen, Hand an den Stabili- sinnvoll, dass Sie das kennen lernen!) täts- und Wachstumspakt zu legen. Dieser Pakt war eine vertrauensbildende Maßnahme bei der Euroeinfüh- rung. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort hat nun der Kollege Dr. Georg Nüßlein für (Peter Hintze [CDU/CSU]: Ja!) die CDU/CSU-Fraktion. Soweit ich das übersehen kann, bestand damals Einig- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) keit über alle Parteigrenzen hinweg, dass diese vertrau- ensbildende Maßnahme notwendig ist. Wer jetzt so vor- geht, wie Sie es vorhaben, wer jetzt Hand an den Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Stabilitätspakt legt, der beschädigt nicht nur sein eigenes Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Ansehen, er beschädigt nicht nur die Europäische Union Herren! Im Jahr 2000 haben die europäischen Regie- und den Euro, sondern er beschädigt auch die gesamte rungschefs in Lissabon beschlossen, dass die Europäi- deutsche Politik. sche Union bis 2010 zum stärksten Wirtschaftsraum der Welt werden soll. Als ob man so etwas einfach beschlie- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (B) ßen könnte! Wissen Sie, ich hatte in meinem Büro eine Tun Sie doch bitte nicht so, als ginge es Ihnen um (D) Zimmerpflanze, die mir vertrocknet ist. Als ich sie ge- Haushaltsspielräume für Wachstum! Ihnen müsste doch kauft habe, habe ich beschlossen, dass sie grünt, wächst bekannt sein, dass Deficit-Spending-Strategien wie und gedeiht; aber dann habe ich das Gießen und Düngen Strohfeuer verpuffen. Die Wirklichkeit sieht doch so aus: vergessen und so ist es halt gekommen. Sie wollen einen Blankoscheck für hemmungslose (Ute Kumpf [SPD]: Nichts von Zielvorgabe Staatsverschuldung. gehört?) (Günter Gloser [SPD]: Reden Sie doch nicht Ebenso haben wir heute wieder erlebt, wie die Regie- so einen Unsinn!) rung zum x-ten Mal beschließt, jetzt endlich erfolgreich Den wird Ihnen die Opposition nicht ausstellen. zu werden. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU – Ute Kumpf [SPD]: Sie sind doch Diplomkaufmann! Dann Der Spielraum, den die Maastricht-Kriterien, bei- kennen Sie was vom Zielesetzen!) spielsweise das 3-Prozent-Kriterium, aufweisen, muss angesichts der demographischen Entwicklung künftig Sie haben die letzten sechs Jahre darauf verwendet, ausreichen. Wenn Sie schon keine Sorge um die langfris- scheibchenweise Reformen durchzuführen, die Sie vor- tige Stabilität des Euro drückt, wenn Sie schon europäi- her im Bundesrat blockiert haben, Stichwort: Steuer- sche Vereinbarungen nicht ernst nehmen, dann sollten reform. Sie haben die Zeit darauf verwendet, Reformen Sie doch bitte wenigstens das Interesse der nachfolgen- durchzuführen, die Sie zuvor rückgängig gemacht ha- den Generation berücksichtigen. ben. Stichworte sind: 400-Euro-Jobs, Selbstbeteiligung Wir laufen im Jahr 2004 auf eine Rekordverschul- im Gesundheitswesen oder der demographische Faktor dung in Höhe von 43,7 Milliarden Euro zu. Finanzminis- in der Rente. Sechs Jahre Fehlerkorrektur! ter Eichel kündigt bereits den nächsten Korrekturbedarf Das zarte Pflänzchen „Wachstum“, das 1998 vor dem an, verbunden mit einer – ich sage es ganz deutlich – lä- Regierungswechsel aufkeimte – vielleicht erinnern Sie cherlichen und unpatriotischen Diskussion um den sich daran, dass der Bundeskanzler schon vor dem Re- 3. Oktober. gierungswechsel den Aufschwung für sich in Anspruch (Peter Hintze [CDU/CSU]: Sehr richtig!) genommen hat und gesagt hat, dass es sein Aufschwung sei –, haben Sie erst vertrocknen lassen. Jetzt sind Sie Jeder fünfte Euro der Steuereinnahmen des Bundes geht dabei, es mithilfe der Opposition mühsam aufzupäppeln. für Zinsen drauf. Die Schuldenuhr rast mit 2 660 Euro 12606 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Dr. Georg Nüßlein (A) pro Sekunde auf den Rekordschuldenstand von rung, so umgeht wie die Bundesregierung, nimmt eine (C) 1,41 Billionen Euro für das gesamte deutsche Gemein- bloße Strategievereinbarung wie die von Lissabon erst wesen zum Jahresende zu. Die Pro-Kopf-Verschuldung recht nicht ernst. Belege dafür gab es heute. Der Bundes- beträgt derzeit knapp 17 000 Euro. außenminister spricht die Telekommunikation als Schlüsselmarkt an. Als Sie aber für teures Geld UMTS- Ich habe einmal folgendes Gedankenspiel durchge- Lizenzen versteigert und die Branche beschädigt und be- führt: nachteiligt haben, haben Sie das offenkundig vergessen. (Günter Gloser [SPD]: Was haben Sie bis 1998 Heute wurde auch über Forschung, Bildung und gemacht, Herr Nüßlein?) Innovationen gesprochen. Dabei wird immer über das Wenn wir ein durchschnittliches Wachstum in Höhe von Geld diskutiert. Das alles ist aber nicht nur eine Frage 2 Prozent unterstellen – das hätten Sie gerne – und eine des Geldes. Sie müssen auch die Frage beantworten, wo Neuverschuldung in Höhe von 3 Prozent annehmen, Sie Forschung, Bildung und Entwicklung vorantreiben dann würde bei dem prognostizierten Bevölkerungsrück- wollen. Diese Frage beantworten Sie nur negativ. Sie sa- gang auf 74,2 Millionen Menschen die Pro-Kopf-Ver- gen: Die Grüne Gentechnik wollen und brauchen wir schuldung im Jahr 2040 rund 66 000 Euro betragen. nicht. Die Chemie wollen und brauchen wir nicht. (Ute Kumpf [SPD]: Deswegen sind wir für (Zurufe von der SPD: Quatsch!) Zuwanderung!) – Durch REACH wird doch der Chemiestandort Europa Das ist in etwa das Vierfache des heutigen Standes. insgesamt beschädigt. – Die Kerntechnologie wollen Noch schlimmer sähe es aus, wenn man nicht die Ge- und brauchen wir nicht. samtbevölkerungszahl, sondern nur die Zahl der Er- werbstätigen betrachten würde. Dann würde die Alte- (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: So ist es! – rung noch stärker durchschlagen. Diese Zahlen muss Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Herr sich jeder vor Augen halten, der den Stabilitätspakt auf- Nüßlein, von Ihnen hätte ich mehr Niveau er- weichen will. wartet!) (Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Hoffent- Meine Damen und Herren, beantworten Sie die Frage, lich auch die CDU/CSU!) wo die Zukunft der Bundesrepublik Deutschland liegen soll und in welchen Bereichen Sie Bildung und For- Ihre Strategie heißt: Augen zu und durch. Mir ist auch schung vorantreiben wollen! Die Geisteswissenschaften klar, warum. Bevor ich Abgeordneter geworden bin, war allein werden zu keinem Erfolg führen. ich Banker. Ich habe vielfach erlebt, wie sich Leute ver- (B) halten, denen das Wasser bis zum Hals steht: Luftbu- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (D) chungen und kreative Finanzierungen. Der Preis für das Günter Gloser [SPD]: Fangen Sie mal bei sich kurzfristige Überleben hat nie eine Rolle gespielt. Es ist an!) doch ganz deutlich: Herr Eichel diskutiert offen darüber, Vielfach ist von Steuerharmonisierung die Rede. Ein- Forderungen gegenüber der Telekom und der Post zu heitliche Bemessungsgrundlagen werden gefordert; auch verkaufen. Das käme uns nicht nur wegen des Ab- das ist richtig. Dann müssten Sie aber auch darüber mit schlags, der in einem solchen Fall erheblich über dem den neuen europäischen Kollegen aus den Ländern re- Zins liegt, den man für die normale Verschuldung zahlen den, die Steuerdumping betreiben und sich ihre Haus- würde, sondern auch deswegen teuer zu stehen, weil die halte über die Europäische Union und den Nettozahler langfristigen Verpflichtungen für Pensionen bei der Post Deutschland ausgleichen lassen. und der Telekom als Verpflichtungen bei der Bundes- republik verbleiben würden. Treffen würde das die junge (Günter Gloser [SPD]: Auch wieder so ein Generation. Schmarren!) (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Gerd Müller Wir beklagen ein Übermaß an Bürokratie; Kollegin [CDU/CSU]: Es ist ein Bankrott!) Schwall-Düren hat dies ausgeführt. Wo bleiben dann aber die Initiativen? Wohlgemerkt, seit der letzten Bun- Pensionszusagen und damit Eventualverbindlichkei- destagswahl haben Sie mehr als 500 neue Rechtsverord- ten haben wir genug. In keinem öffentlichen Haushalt nungen und an die 100 Gesetze erlassen. Das ist Büro- werden diese berücksichtigt. Man müsste sie eigentlich kratieabbau? mit einrechnen. Stattdessen schlagen Sie vor, dass man, um den Stabilitätspakt der Form halber erfüllen zu kön- (Ute Kumpf [SPD]: Gesetze werden erlassen, nen, bestimmte Ausgaben herausrechnen sollte: die damit andere geköpft werden können!) Franzosen die Rüstungsausgaben, Deutschland die Aus- gaben für Bildung und Forschung oder die Nettozahlun- Schauen Sie sich einmal abgesehen von Hartz IV gen an die EU. – diese Reform finde ich insgesamt positiv; das sage ich ganz offen – Ihre Reformen an: Im Rahmen der Ich-AGs Ich sage Ihnen ganz offen: Jeder Gerichtsvollzieher haben Sie 500 000 Arbeitslose weniger pro Jahr verspro- wird Ihnen bestätigen, dass man Schulden nicht wegdis- chen. 180 000 Gründungen sind tatsächlich in zwei Jah- kutieren bzw. wegbeschließen kann, sondern dass man ren erfolgt. 30 000 haben aufgegeben. Dafür wurden aus sie am Ende zahlen muss. Für mich liegt die Vermutung Beitragsmitteln 1,1 Milliarden Euro bis zum Jahresende nahe: Wer mit einem Pakt, mit einer klaren Vereinba- zur Verfügung gestellt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12607

Dr. Georg Nüßlein (A) Sie sollten ein Wort von Altkanzler Einen weiteren Schwerpunkt der Lissabon-Strategie (C) beherzigen: bildet die Forderung nach größeren Anstrengungen bei den Investitionen in Forschung und in die allgemeine Nicht alle Reformen kosten Geld und nicht alles, sowie berufliche Bildung. Forschung und Entwicklung was Geld kostet, ist deshalb schon eine Reform. haben absolute Priorität. Die Debatte zur Vorbereitung Vielen herzlichen Dank. der Halbzeitbilanz im März 2005 wird sich mit Sicher- heit in besonderer Weise auf diesen Punkt konzentrieren. (Beifall bei der CDU/CSU) Mit dem Ganztagsschulprogramm haben wir dafür deutliche Zeichen gesetzt. Jetzt liegt es an Ihnen, meine Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Damen und Herren von der Opposition, die Mittel, die Nächster Redner ist der Kollege Jörg Vogelsänger, bisher für die Eigenheimzulage zur Verfügung gestellt SPD-Fraktion. wurden, im Bundesrat in eine nachhaltige Förderung des Wissenschaftsstandortes Deutschland umzuwandeln. Jörg Vogelsänger (SPD): (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Josef Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr NEN]) Dr. Nüßlein, Sie sind Nachfolger im Wahlkreis von Dr. . Er war nicht gerade ein Sparkommis- Sie fordern doch immer einen umfassenden Subven- sar gewesen; das sollten wir in diesem Hause einmal tionsabbau. Fangen Sie jetzt damit an! Gemeinsam soll- festhalten. ten wir uns weiterhin für die Erhöhung der Mittel im nächsten, dem 7. EU-Forschungsrahmenprogramm ein- (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Die deutsche setzen, wohlgemerkt innerhalb der Obergrenze von Einheit wolltet ihr gar nicht!) 1 Prozent. Europa ist unsere gemeinsame Zukunft. Auf dem Eine weitere Aufgabe, die in den Schlussfolgerungen Weg zu einem gemeinsamen Europa haben wir einiges des Europäischen Rates in Brüssel genannt wird, ist die erreicht. Bei aller vielleicht nicht immer ganz unberech- Bekämpfung von Schattenwirtschaft und illegaler tigten Kritik an Europa sollte man dies nicht vergessen. Beschäftigung. An dieser Stelle sei den Tausenden Kol- Ich möchte nur daran erinnern, dass noch vor 15 Jahren leginnen und Kollegen der Bundesagentur für Arbeit, hier am Reichstag eine Mauer stand. Diese ist auf Druck des Bundesgrenzschutzes, der Polizei und der Finanzbe- der ostdeutschen Bevölkerung gefallen. Die deutsche hörden gedankt, die die illegale Beschäftigung täglich Einheit aber wurde nur im gesamteuropäischen Konsens bekämpfen. (B) möglich. Wir haben Europa also sehr viel zu verdanken. (D) (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. ) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Durch diese Arbeit und durch die Maßnahmen der Bun- desregierung – ich nenne nur die Stichworte Minijobs, Dies war der entscheidende Schritt für die europäische Ich-AGs und Eingliederungshilfen für Arbeitnehmer – Einigung. Daran, dass die Europäische Union einmal konnten, insbesondere in großen Städten wie Berlin, 25 Mitgliedstaaten haben wird, hat damals allerdings erste sichtbare Erfolge bei der Zurückdrängung illegaler niemand zu denken gewagt. Beschäftigung erreicht werden. In den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates in (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Brüssel am 4. und 5. November werden auf der Basis ei- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ner Analyse des Iststandes das im europäischen Eini- gungsprozess Erreichte und die Aufgaben für die Zu- Trotzdem bedarf es weiterer, zusätzlicher Anstrengun- kunft dargestellt. Neben den Schwerpunkten in der gen. Vor allen Dingen brauchen wir ein entsprechendes Außen- und Sicherheitspolitik und in der gesamteuropäi- gesellschaftliches Klima. schen Innenpolitik steht die Vorbereitung der Halbzeit- überprüfung der Lissabon-Strategie in den Schlussfol- Sehr geehrte Damen und Herren, wie sind die gerungen an erster Stelle. Diese Halbzeitbilanz – das Schlussfolgerungen des Europäischen Rates in Brüssel kann gar nicht anders sein; denn im Jahr 2000 lagen aus der Sicht der Region, aus der ich komme – einer ganz andere Voraussetzungen vor – wird mit Sicherheit Grenzregion zu Polen –, zu bewerten? Der Rat weist da- nicht unkritisch ausfallen. Aber in Deutschland ist eini- rauf hin, dass das Bewusstsein aller Bürger für Europa ges auf den Weg gebracht worden. Im Rahmen dieses gestärkt werden muss. Gestern haben wir zu diesem eingeleiteten Prozesses hat die Bundesregierung, hat Thema – das kann man fraktionsübergreifend so sagen – Gerhard Schröder mit der Umsetzung der Agenda 2010 eine sehr interessante Anhörung im EU-Ausschuss wichtige politische Forderungen realisiert. durchgeführt, auf die ich kurz eingehen möchte. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Der geschäftsmäßige Umgang der Menschen auf bei- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) den Seiten der Grenze ist bereits heute Realität. Die An- erkennung der Realitäten ohne Wenn und Aber bildet ge- Die Umsetzung insbesondere der Reformen am Arbeits- rade für die Entwicklung eines freundschaftlichen und markt ist eine große Kraftanstrengung, bei der sich alle, menschlichen Miteinanders in der europäischen Völker- auch die Opposition, einbringen sollten. familie eine solide Basis. Die neue Koordinatorin für das 12608 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Jörg Vogelsänger (A) deutsch-polnische Verhältnis, Frau Professor Gesine terung der Europäischen Union ihre politische Vertie- (C) Schwan, wird diesen Prozess – dessen bin ich mir si- fung einhergehen muss. Tatsächlich hat die Erweiterung cher – in vorbildlicher Weise befördern. ohne die erforderlichen Integrationsfortschritte stattge- funden. Im Gegenteil, derzeit geben uns deutliche Desin- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tegrationstendenzen in der EU Anlass zu großer Sorge. DIE GRÜNEN) Die Europäische Union kann ihr Potenzial, Wachstum Die Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder und Beschäftigung zu fördern, nicht entfalten, solange mit über einem Drittel ausländischer, insbesondere ost- die beiden größten Volkswirtschaften – vor allem europäischer Studenten unterstützt mit ihrer Ausrichtung Deutschland, aber auch Frankreich – ihre Strukturpro- die Stärkung des Bewusstseins für ein neues Europa. bleme nicht lösen. Der Bundeskanzler hat dazu viel zu Dies färbt natürlich auch auf die Menschen in der Re- spät Anlauf genommen, dann mithilfe der Opposition ei- gion positiv ab. Ein Osteuropa-Kompetenzzentrum in nen Schritt getan und tritt jetzt wieder auf der Stelle. Frankfurt/Oder würde diesen Prozess nicht nur substan- Herr Müntefering nennt das „das Ende der Zumutun- ziell, sondern auch mental unterstützen. gen“. Europa den Menschen vermitteln heißt aber auch, Auf dem Brüsseler Gipfel plädierte der Bundeskanz- dem Ausbau der Verkehrsinfrastruktur auf europäischer, ler für eine Aufweichung der Stabilitätskriterien, weil er nationaler und regionaler Ebene höchste Priorität beizu- wie weiland Lafontaine glaubt, dauerhaftes Wachstum messen. Dafür wurde und wird viel getan, aber es zeigt durch höhere Staatsverschuldung erzeugen zu können. sich schon fünf Monate nach der EU-Erweiterung, dass Genau das, Herr Müntefering, ist eine Zumutung – für dies möglicherweise nicht ausreichen wird. kommende Generationen. Nur wer sich den schwierigen Problemen – Umbau des Gesundheitswesens und der Al- Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen terssicherung, Vereinfachung des Steuerrechtes, Flexibi- und Kollegen, ich habe nur einige Aspekte der Schluss- lisierung des überregulierten Arbeitsmarktes – stellt und folgerungen von Brüssel beleuchtet, doch an diesen lässt Widerstände überwindet, kann Wachstum und Beschäfti- sich exemplarisch festmachen, welchen Weg die Euro- gung in Deutschland und Europa nachhaltig fördern. päische Union schon zurückgelegt hat und welcher Weg noch vor uns liegt. Es bleibt eine spannende Aufgabe, (Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Mit Ih- Europa zu gestalten. Ich wünsche uns – bei allen, unbe- ren Rezepten bestimmt nicht!) strittenen Problemen – ein wenig mehr Mut, ein wenig mehr Zuversicht beim europäischen Einigungsprozess. Der Verfassungsvertrag sieht einen Präsidenten des Das sind wir unseren Menschen in Europa schuldig. Europäischen Rates und einen Europäischen Außenmi- nister vor. Das sind wichtige Schritte, die Europäische (B) Vielen Dank. Union zu einem starken internationalen Akteur zu ma- (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ chen. DIE GRÜNEN) (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Dann sind wir den Joschka endlich los!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Schockenhoff. In ihrer praktischen Politik aber hat die Bundesregierung eine einheitliche Außen- und Sicherheitspolitik der Eu- ropäischen Union verhindert: durch die Alleingänge von Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Schröder und Chirac, nicht nur in der Irakfrage. Im Inte- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! resse unserer eigenen Sicherheit muss sich die Europäi- Vor wenigen Tagen wurde in Rom in einer feierlichen sche Union stärker im Nahen und Mittleren Osten und Zeremonie der Vertrag der europäischen Verfassung un- beim Wiederaufbau des Iraks engagieren. So steht es üb- terschrieben. Am Wochenende befasste sich der EU- rigens in den Schlussfolgerungen des Rates. Gipfel mit der Lissabon-Strategie, mit der Europa bis 2010 zur dynamischsten Wachstumsregion weltweit ge- Nun hat der Kollege Schäuble von einem Gespräch macht werden soll. Müsste eine Regierungserklärung mit dem NATO-Oberbefehlshaber berichtet, wonach die- nach solchen Ereignissen nicht Aufbruchstimmung, Op- ser gesagt habe, es sei problematisch, in integrierten timismus und europäisches Selbstbewusstsein vermit- NATO-Stäben dabei zu sein, aber a priori zu erklären, im teln? Einsatzfall die deutschen Soldaten zurückzuziehen. Da- raufhin hat sich der Abgeordnete Fischer zu einer Kurz- (Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Das ha- intervention gemeldet und zum wiederholten Mal dem ben wir doch gemacht!) Kollegen Schäuble vorgeworfen, er fordere den Einsatz Mit seinem müden, gelangweilten und griesgrämigen deutscher Soldaten im Irak. Das war beim letzten Mal Aktenvortrag hat der Außenminister heute Morgen Anti- wahrheitswidrig und das war auch heute wieder wahr- werbung in Sachen Europa betrieben. heitswidrig. (Dietmar Nietan [SPD]: Ich wusste gar nicht, (Beifall bei der CDU/CSU) dass es bei der Union schon Wahrnehmungs- Der Kollege Fischer hat uns auch explizit gesagt, wes- störungen gibt!) halb er diese Kurzintervention gemacht hat. Er sagte Seit dem Ende des Kalten Krieges waren wir uns im nämlich, dass man darüber 2006 noch einmal abstimmen Bundestag auf allen Seiten einig, dass mit der Osterwei- lassen werde. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12609

Dr. Andreas Schockenhoff (A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn die Bundesre- von halten, dass große Teile der Aussprache zu einer (C) gierung vor einer engen und vertrauensvollen Abstim- Regierungserklärung – vor allem der letzte Teil der De- mung mit den EU-Partnern und mit den Vereinigten batte – ohne ein einziges Mitglied der Bundesregierung Staaten aus rein wahltaktischen Gründen ständig betont, geführt wurden. Ist das nicht eine ausgesprochene Miss- woran sich Deutschland unter keinen Umständen beteili- achtung des Parlaments? gen werde – nicht im NATO-Rahmen und auch nicht im EU-Rahmen –, dann schwächt das die politische Rolle (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Europas und die transatlantischen Beziehungen. Lieber Kollege Fischer, die Wähler sind nicht so blöd, dass sie Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: das nicht merken. Es ist eigentlich nicht üblich, dass die Sitzungslei- tung, die zur Neutralität verpflichtet ist, einzelne Vor- (Beifall bei der CDU/CSU) gänge im Parlament kommentiert. Bei der Reform der Vereinten Nationen strebt die Ich bin aber eben informiert worden, dass Außenmi- Bundesregierung für Deutschland einen ständigen Sitz nister – mit Zustimmung Ihres Ge- im Sicherheitsrat an, mit der Begründung, dass ein euro- schäftsführers, Herrn Kauder – päischer Sitz heute nicht erreichbar sei. Für diesen Pres- tigegewinn der nationalen Außenpolitik will diese Re- (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Moment!) gierung den Preis bezahlen, dass es auf Jahrzehnte keinen europäischen Sitz mehr geben wird. Damit opfert in der Sitzung des Haushaltsausschusses ist. sie ein wichtiges Motiv für eine integrierte europäische (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Wo sind die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Auch das übrigen 40 Mitglieder?) trägt zur Desintegration der Europäischen Union bei. Das ist nun einmal eine parlamentarische Verpflichtung, Die CDU/CSU-Fraktion bleibt dem Ziel einer wert- die zu den Aufgaben eines Ministers gehört. Wenn sol- orientierten Politischen Union verbunden. Um den poli- che Ausschüsse parallel zum Plenum tagen, wird ja die tischen und ideellen Zusammenhalt der EU nicht zu Zustimmung der anderen Geschäftsführer eingeholt. – gefährden, ist die privilegierte Partnerschaft der richtige So viel nur dazu. Weg zur Einbindung der Türkei in Europa. Wenn die Bundesregierung beim nächsten EU-Gipfel am 17. De- Wenn Sie etwas beantragen oder eine Debatte darüber zember 2004 ausschließlich über eine Vollmitgliedschaft beginnen wollen, dann können Sie das tun. Eine Diskus- verhandeln will, dann gefährdet sie die politische Inte- sion mit dem Präsidium ist aber normalerweise nicht üb- gration der EU. lich. (D) (B) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wissen die auch! Das lassen So sieht es im Übrigen auch der SPD-Fraktionsvorsit- wir jetzt!) zende im Niedersächsischen Landtag, . In einem „Focus“-Interview in der vergangenen Woche sagte er – ich zitiere – Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Frau Präsidentin, vielleicht können Sie mir trotzdem Es gehört zur Political Correctness, dass wir immer noch einmal das Wort erteilen. – Auf dieses Argument für EU-Erweiterungen sind und wenig über Vertie- Ihrerseits war ich natürlich vorbereitet. Was Sie sagen, fung reden. Aber erst wenn Dinge wie eine gemein- trifft zwar zu, aber das ist keine Antwort auf meine same Außen-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik Frage; denn die Bundesregierung umfasst nicht nur den geklärt sind, können wir über weitere Beitritte re- Außenminister, sondern auch andere Bundesminister. Es den. wäre ohne weiteres möglich gewesen, sie ins Plenum zu Sigmar Gabriel fährt fort: holen. Früher wäre so etwas nicht passiert, da hätte min- destens ein anderer Bundesminister auf der Regierungs- Zurzeit brauchen wir die Türkei-Debatte doch nur, bank gesessen. um uns vor unseren eigenen Aufgaben zu drücken. Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen, wo Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: er Recht hat, hat er Recht. Jedenfalls sehe ich, dass Sie keinen Antrag stellen wollten. Daher nehme ich Ihren Beitrag als eine Art (Beifall bei der CDU/CSU – Dietmar Nietan Kurzintervention; eine solche Möglichkeit sieht unsere [SPD]: Daran arbeiten wir noch einmal!) Geschäftsordnung ja vor.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Das ist eine Herr Ramsauer, bitte. neue politische Kultur! Wir führen Ausspra- chen ohne die Regierung! Es ist auch besser, dass sie zu Hause bleibt! – Dr. Wolfgang Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Schäuble [CDU/CSU]: Die Bundesregierung Frau Präsidentin! Wir sind bereits am Ende dieser De- ist zurückgetreten!) batte. Da ich der Bundesregierung bewusst die Chance geben wollte, den einen oder anderen Bundesminister Möchte noch jemand dazu das Wort ergreifen? – Frau herbeizuholen, möchte Sie erst jetzt fragen, was Sie da- Schwall-Düren, bitte. 12610 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

(A) Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD): Wir müssen Frauen und ihren Partnern, wir müssen (C) Herr Ramsauer, sind Sie so freundlich, zur Kenntnis dem Kind, das sie erwarten, und wir müssen den Ärztin- zu nehmen, dass auf Wunsch Ihrer Fraktion heute Mor- nen und Ärzten und den Hebammen die notwendige gen zunächst Fraktionssitzungen stattgefunden haben, Hilfe und Unterstützung geben. Darum geht es; das sage die dann noch länger als erwartet dauerten, und deswe- ich in aller Deutlichkeit. Es geht nicht um die Bevor- gen die Debatte eine Stunde später als ursprünglich ge- mundung der Frau, wie es uns von Rot-Grün unterstellt plant begonnen hat, wodurch natürlich die Terminpläne wird. Unser Ziel ist es, die Verzweiflung der Frauen zu der Minister durcheinander gebracht wurden? mindern. Das verdient unseren vollen Einsatz. (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Sind alle (Beifall bei der CDU/CSU) Minister durcheinander? – Peter Hintze [CDU/ Ebenso klar möchte ich sagen, dass niemand bei uns In- CSU]: Das Parlament ist der erste Ort! Was Sie teresse an einer erneuten Diskussion über den hier sagen, ist das Allerletzte!) § 218 StGB insgesamt hat.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall der Abg. Ina Lenke [FDP]) Damit schließe ich zu diesem Punkt die Aussprache. Aber das Bundesverfassungsgericht hat uns eine Beo- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf: bachtungs- und Nachbesserungspflicht auferlegt. Die- sem Auftrag müssen wir endlich nachkommen. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Maria Böhmer, Wolfgang Bosbach, Maria Es gab im Jahr 2003 217 Spätabbrüche. Geht man da- Eichhorn, weiterer Abgeordneter und der Frak- von aus, dass die Lebensfähigkeit des Kindes aufgrund tion der CDU/CSU des medizinischen Fortschritts heute schon sehr viel frü- her gegeben ist, nämlich ab der 22. Schwangerschaftswo- Vermeidung von Spätabtreibungen – Hilfen che, dann ist es im vergangenen Jahr sogar zu 337 Spät- für Eltern und Kinder abbrüchen gekommen. Das mag manchem angesichts von insgesamt 128 000 Schwangerschaftsabbrüchen pro – Drucksache 15/3948 – Jahr wenig vorkommen. Aber die Zahl ist kontinuierlich Überweisungsvorschlag: gestiegen. Dabei ist noch die Dunkelziffer zu berücksich- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) tigen; denn so mancher Schwangerschaftsspätabbruch Rechtsausschuss Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung wird als Totgeburt registriert. Ich will hier eines klar sa- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe gen: Das ist keine Frage von Zahlen. Es geht hier um die Ausschuss für Bildung, Forschung und Frage: Wie können wir in einer besonders bedrückenden (B) Technikfolgenabschätzung Situation Leben schützen? (D) b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD (Beifall bei der CDU/CSU) und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Diese Situation ist deshalb so bedrückend, weil Spät- Psychosoziale Beratungsangebote bei Schwan- abbrüche zu einem Zeitpunkt erfolgen, zu dem die Kin- gerschaftsabbrüchen nach medizinischer Indi- der bereits lebensfähig sind, weil sie Paare betreffen, die kation ausbauen sich ein Kind wünschen, und weil es um den Umgang – Drucksache 15/4148 – mit behindertem Leben geht. Ich hatte in den vielen Ge- sprächen, die wir fraktionsübergreifend geführt haben, Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) den Eindruck, dass wir uns darin einig waren – ich hoffe, Rechtsausschuss dass wir uns darin noch einig sind –, dass das Leben des Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Kindes zu schützen ist, dass Eltern in dieser verzweifel- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ten Situation Hilfe erfahren müssen und dass behindertes Ausschuss für Bildung, Forschung und Leben zu achten ist. Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Wir wissen aber auch – dies zeigt die Entwicklung die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Wi- nach der Reform des § 218 StGB –, dass bei Spätabbrü- derspruch höre ich nicht. Dann ist das so beschlossen. chen ein besonderer Handlungsbedarf besteht; denn die embryopathische Indikation ist damals in guter Ab- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst sicht entfallen. Man wollte dafür sorgen, dass damit die Abgeordnete Maria Böhmer. keine weitere Diskriminierung behinderten Lebens statt- findet. Aber damit ist gleichzeitig die zeitliche Begren- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) zung von Abtreibungen bis zur 22. Woche entfallen. Weggefallen sind auch die verpflichtende Beratung und Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): die Bedenkzeit. Das heißt, Schwangerschaftsabbrüche Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sind im Rahmen der medizinischen Indikation heute Jede Spätabtreibung ist eine Abtreibung zu viel. Deshalb ohne jegliche Beratung und ohne jede Bedenkzeit prak- unternehmen wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion tisch bis unmittelbar vor der Geburt zulässig. Das mag heute erneut den Versuch, dass es hier im Deutschen nachvollziehbar sein und muss es sogar sein, wenn un- Bundestag zu einer tragfähigen Initiative kommt, damit mittelbare Lebensgefahr für die Mutter besteht. Aber das Spätabtreibungen vermieden werden. ist nicht mehr nachvollziehbar, wenn es um eine medizi- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12611

Dr. Maria Böhmer (A) nische Indikation im Zusammenhang mit PND geht. Es Ich glaube, an erster Stelle muss es zu einem Werte- (C) ist doch geradezu widersinnig, dass dann, wenn die wandel in unserer Gesellschaft kommen, und zwar in Schwangerschaft fortgeschritten ist und das Konfliktpo- zweifacher Hinsicht. Wir müssen wieder verstärkt die tenzial und die Belastung der Frau in dieser Situation Tatsache in das Bewusstsein rücken, dass Schwanger- noch größer werden, weil das Kind lebensfähig ist, das schaftsabbrüche dem Grunde nach eine Tötung sind und Schutz- und Beratungskonzept wegfällt. Denn dann sind damit rechtswidrig. keine verbindliche Beratung und keine Bedenkzeit mehr gegeben. Die Mutter steht ohne Hilfe da, sie ist auf sich (Beifall bei der CDU/CSU – Renate allein gestellt, sie ist allein gelassen. Unsere Auffassung Gradistanac [SPD]: Dass das kommt, war ist: So kann es nicht bleiben, das muss geändert werden. klar!) So steht es auch im Urteil des Bundesverfassungsge- (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei richts. Ein ungeborenes Kind hat denselben Anspruch der SPD) auf Schutz wie ein geborenes Kind. Das Ziel, behindertes Leben besser zu schützen, ist Zum anderen brauchen wir eine andere Einstellung zu bisher nicht erreicht worden. Die Praxis zeigt, dass Kin- Menschen mit Behinderungen. Sie dürfen in unserer Ge- der nach wie vor wegen einer erwarteten Behinderung sellschaft nicht ausgegrenzt werden. abgetrieben werden. Das steht in krassem Gegensatz zum Grundgesetz; dort haben wir in Art. 3 den Satz ein- (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der gefügt: SPD) Niemand darf wegen seiner Behinderung benach- Die Aktion Mensch hat im Rahmen ihrer 1 000-Fragen- teiligt werden. Aktion die Frage aufgeworfen: Gibt es ein Recht auf ein gesundes Kind? – Natürlich gibt es ein solches Recht Dieser Vorschlag kam in der letzten Legislaturperiode, nicht. Es gibt den Wunsch von Eltern – der ist nachvoll- als wir interfraktionell darüber beraten haben, von dem ziehbar –, ein gesundes Kind zu haben. Aber was heißt früheren Kollegen Schmidt-Jortzig von der FDP. Wir ha- gesund? Was heißt behindert? Die Aktion Mensch tritt ben ihn gerne aufgegriffen. für ein Recht auf Unvollkommenheit ein. Ich glaube, wir Deshalb möchten wir klarstellen: Eine absehbare Be- brauchen dringend diese neue, andere Sicht behinderten hinderung allein ist kein Grund für einen Schwanger- Lebens sowie auch seiner Qualität und seines Wertes. schaftsabbruch. Es kommt auf die Gefährdung für das Dafür müssen wir uns gemeinsam stark machen. Leben der Mutter an. Es kann nicht sein, dass allein we- (Beifall bei der CDU/CSU) gen einer Behinderung abgetrieben wird. (B) Dem dient unser Ansatz und dem dient unser Bemühen, (D) (Beifall bei der CDU/CSU) Spätabtreibungen zu vermeiden. Sie haben in einem Zwischenruf gefragt, was denn die Wir haben immer wieder neue Anläufe unternommen. Ärztinnen und Ärzte und die Hebammen dazu sagen. Ich Wir haben mit Ihnen das Gespräch gesucht und über will Ihnen aus dem Positionspapier des Bundes Deut- viele Stunden hinweg verhandelt. Oft hatte ich die Hoff- scher Hebammen etwas mit auf den Weg geben. Dort nung, wir würden zusammenkommen und gemeinsam heißt es, dass gerade die Spätabtreibungen die dunkelste einen Weg finden. Wir haben in der letzten Legislaturpe- Seite von pränataler Diagnostik sind, weil die Frauen riode einen Versuch unternommen, aber unser Antrag traumatisiert sind und weil diese Traumata Auswirkun- wurde kurz vor Ende der Legislaturperiode abgelehnt. gen auf die Gesundheit, auf nachfolgende Schwanger- Wir haben es erneut versucht und wir werden auch in schaften und Geburten haben. So sehen es die Hebam- den Ausschussberatungen weiterhin versuchen, gemein- men. Hier besteht Handlungsbedarf. Wir können das sam mit Ihnen diesen Weg zu finden. Ihr heute vorlie- Problem nicht einfach negieren, wie Sie es in Ihrem An- gender Antrag erschöpft sich in Appellen und kann des- trag tun. halb nicht der Weg sein. Wir haben gesehen, dass der in der letzten Legislaturperiode aufgrund Ihrer Initiative (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – beschlossene Appell an die Ärzteschaft, den Rechts- Nicolette Kressl [SPD]: Das tun wir nicht!) anspruch auf Beratung im Mutterpass festzuschreiben, Wenn ein Kind dank medizinischen Fortschritts heute ins Leere gegangen ist und sich nichts geändert hat. ab der 22. Schwangerschaftswoche lebensfähig ist, dann Aus unserem Antrag ergeben sich fünf Ansatz- wird dieses Kind häufig im Mutterleib getötet – das ist punkte, die realisiert werden müssen: Fetozid – oder es kommt auf die Welt und bleibt unter Umständen unversorgt liegen, in der Erwartung, dass es Erstens. Wir legen großen Wert auf eine verbesserte bald sterben wird. Sie alle kennen den Fall des Olden- umfassende Beratung. Sie muss verbindlich sein und sie burger Babys Tim, der durch die Presse gegangen ist. Es muss über die medizinische Beratung hinausgehen. Sie ist 1997 wegen eines Downsyndroms in der 25. Schwan- muss psychosozialer Art sein und sie muss den Müttern gerschaftswoche abgetrieben worden, aber wie durch ein in dieser verzweifelten Situation helfen. Wunder hat Tim überlebt. Er hätte heute wahrscheinlich (Beifall bei der CDU/CSU) weniger Behinderungen, wenn er nicht nach der Abtrei- bung viele Stunden unversorgt liegen gelassen worden Zweitens. Es bedarf der Sicherheit im Befund. Des- wäre. Ein solcher Fall darf sich nicht wiederholen. halb braucht man ein interdisziplinär besetztes Gremium 12612 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Dr. Maria Böhmer (A) von Ärzten. Hier sind neben dem Gynäkologen auch der bleibend bei 0,1 Prozent der gesamten Abbrüche; 2003 (C) Kinderarzt und der Genetiker gefordert. Es geht nicht waren das in Deutschland 217 Fälle. darum, dass die Frau vor ein Gremium zitiert wird, son- dern darum, den ärztlichen Befund abzustützen und da- Heute liegen dem Parlament zwei Anträge zur Bera- mit Klarheit zu schaffen. tung vor. Der CDU/CSU-Antrag zielt in Übereinstim- mung mit den Forderungen der Deutschen Gesellschaft Drittens. Wir brauchen die Einführung einer Bedenk- für Gynäkologie und Geburtshilfe in erster Linie darauf zeit von drei Tagen, denn in einer Schocksituation kann ab, die Position der behandelnden Ärztinnen und Ärzte man nicht verantwortlich handeln. Diese Frist ist not- gegenüber der Schwangeren zu stärken und insofern die wendig, damit die Frauen und ihre Partner sich Klarheit der schwangeren Frau sowohl in rechtlicher als auch in verschaffen können, um Ja zum Kind zu sagen oder un- psychosozialer Hinsicht zu beschränken. ter Umständen in dieser bedrängten Situation doch den Weg zur Abtreibung zu gehen. Diese Entscheidung darf (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nicht in einer Schocksituation getroffen werden. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Thomas Rachel [CDU/CSU]: Genau das wol- Viertens. Wir müssen die Arzthaftung auf den Prüf- len wir eben nicht!) stand stellen. Hierzu enthält der Antrag unter anderem folgende Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Maßnahmen: psychosoziale Pflichtberatung nach präna- Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit! taler Diagnose mit Befund; Kostenübernahme für präna- tale Diagnostik durch die Krankenkassen nur bei Inan- spruchnahme ärztlicher und psychosozialer Beratung; Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Feststellung einer medizinischen Indikation im Zusam- Viele Ärzte drängen die Frauen zur Abtreibung. Des- menhang mit einer Behinderung des Ungeborenen durch halb glauben wir, dass man den Weg, der in Frankreich Begutachtung eines interdisziplinären Gremiums; Haf- eröffnet worden ist, diskutieren muss, nämlich die Haf- tungsbeschränkung behandelnder Ärztinnen und Ärzte tung auf grobe Fahrlässigkeit zu beschränken. bei mangelhafter Durchführung der Pränataldiagnostik; Fünftens. Wir legen Wert darauf, dass der gesetzgebe- Erweiterung des Weigerungsrechts der Ärzte, an einem rische Wille klargestellt wird. späten Abbruch mitzuwirken; Ausweitung der statisti- schen Erfassung sowie Ergänzung des § 218 a Abs. 2 Ich appelliere noch einmal an Sie: Gehen Sie mit uns Strafgesetzbuch in dem Sinne, dass ein embryopathi- gemeinsam diesen Weg. Lassen Sie die Frauen nicht al- scher Befund alleine nicht ausreicht, um eine Abtrei- lein. Helfen Sie denjenigen, die sich ein Kind wünschen, bung durchführen zu können. (B) (D) und helfen Sie, dass behindertes Leben in unserem Land besser anerkannt wird! Ich will mich an dieser Stelle auf den letzten Punkt beschränken. Der Gesetzgeber hat deutlich gemacht Herzlichen Dank. – dass geht aus dem § 218, wie wir ihn 1995 gemeinsam (Beifall bei der CDU/CSU) verabschiedet haben, eindeutig hervor –, dass nicht al- lein ein die Gesundheit der Frau gefährdender Befund im Rahmen der Schwangerschaft, sondern darüber hinaus Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: auch familiäre und soziale Lebensumstände zu berück- Für die Bundesregierung hat die Staatssekretärin sichtigen sind. Damit hat der Gesetzgeber die Konflikte Christel Riemann-Hanewinckel das Wort. und Belastungen der Schwangeren anerkannt, auch aus der Vorausschau auf ihre umfassenden Sorge- und Ein- Christel Riemann-Hanewinckel, Parl. Staatssekre- standspflichten für das Kind. Diese Intention kommt fast tärin bei der Bundesministerin für Familie, Senioren, wortgleich auch in der Entscheidung des Bundesverfas- Frauen und Jugend: sungsgerichts vom 28. Mai 1993 zum Ausdruck. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und (Zuruf von der CDU/CSU: Tragen Sie das mal Kollegen! 1995 haben wir in diesem Haus nach intensi- dem Kind vor!) ver fünfjähriger Debatte und nach dem Urteil des Bun- desverfassungsgerichts von 1993 für Deutschland eine Der Wortlaut der geltenden Regelung im Gesetz von Neuregelung über den Schwangerschaftsabbruch ge- 1995 ist damit eindeutig und nicht ergänzungsbedürftig. schaffen. Die embryopathische Indikation entfiel, da nie- mand mehr wollte, dass eine Schwangerschaft allein we- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gen einer Schädigung des zu erwartenden Kindes des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) abgebrochen werden darf. Ein interdisziplinär besetztes Gremium, das über Mit der Einführung der medizinischen Indikation das Vorliegen der Voraussetzung einer medizinischen In- nach § 218 a Abs. 2 Strafgesetzbuch ging die Zahl der dikation entscheidet, müssen wir nicht gesetzlich fest- danach indizierten Abbrüche seit 1996 kontinuierlich zu- schreiben. Die Kliniken, die heute Spätabbrüche vorneh- rück. Der Anteil an der Gesamtzahl der Abbrüche liegt men – Sie können sich in der Charité erkundigen –, seitdem gleich bleibend bei 3 Prozent. Der Anteil der so arbeiten schon jetzt interdisziplinär und klären mit allen genannten späten Abbrüche – der Abbrüche, die nach betroffenen Fachrichtungen, inwieweit die Befunde eine der 23. Schwangerschaftswoche erfolgen – liegt gleich Gefahr für Leben oder Gesundheit der Schwangeren dar- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12613

Parl. Staatssekretärin Christel Riemann-Hanewinckel (A) stellen. Aus meiner Sicht stellen Sie Forderungen auf, lichen Schwangerschaftsvorsorge mit einem sehr breiten (C) die nach ärztlichem Standesrecht selbstverständlich sind. Spektrum von pränatalen Untersuchungsmethoden aus- einander setzen. Viele wissen nicht – dieses Wissen wird (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Irmingard den Frauen oft vorenthalten –, dass die Untersuchungen Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- neben der Kontrolle des allgemeinen Schwangerschafts- NEN]) verlaufs eine gezielte Suche nach Fehlbildungen bzw. Alles in allem stellen die im CDU/CSU-Antrag gefor- chromosomalen Auffälligkeiten des Fötus beinhalten. Es derten Maßnahmen eine starke Bevormundung und aus macht Sinn, in diesem Hause darüber zu debattieren, meiner Sicht eine Diskriminierung schwangerer Frauen welchen Stellenwert wir insgesamt der Pränataldiagnos- dar. tik beimessen wollen und wie wir als Gesellschaft in Zu- kunft mit den Ergebnissen, die diese Diagnostik zeitigt, (Beifall bei der SPD – Wolfgang Zöller [CDU/ umgehen wollen. CSU]: Das Gegenteil ist der Fall!) Der Zusammenhang zwischen dem Leben der Frau und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dem Schicksal ihres Kindes wird weitgehend vernach- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) lässigt. Leider wird die Pränataldiagnostik häufig ohne ent- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie haben den sprechende Beratung der Schwangeren und ohne The- Antrag wirklich nicht gelesen!) matisierung der Konsequenzen bzw. Aufzeigen von Alternativen durchgeführt. Da bisher nur bei wenigen – Sie können sich sicher sein, dass ich ihn sehr genau ge- Diagnosen intrauterine Therapiemöglichkeiten bestehen, lesen habe. Ich beschäftige mich seit über 20 Jahren mit geht es letztlich zumeist darum, bei einem auffälligen diesem Thema. Befund über einen Abbruch der Schwangerschaft zu SPD und Grüne dagegen wollen die Position der entscheiden. Ein solcher Befund bringt sehr oft die schwangeren Frau stärken, indem ihre Entscheidungs- Schwangere und ihren Partner in enormen Entschei- kompetenz im Zusammenhang mit pränataldiagnosti- dungszwang. Oft genug wird den Betroffenen – auch das schen Maßnahmen und ihre Entscheidungsautonomie wissen Sie alle – die Entscheidung von ärztlicher Seite respektiert bzw. verbessert werden. abgenommen, indem ihnen mit der Verkündung der Dia- gnose gleich der Termin für den Abbruch genannt wird. (Beifall der Abg. Renate Gradistanac [SPD]) Es wird also nicht über Alternativen diskutiert. Hierzu fordern wir unter anderem flexible psychosoziale Beratungsangebote zwischen Beratungsträgern und prä- Was meistens nicht angeboten bzw. worauf nicht ver- (B) nataldiagnostischen Zentren sowie – das ist ein sehr wiesen wird, ist der Anspruch der Schwangeren auf (D) wichtiger Punkt – die Fort- und Weiterbildung von Ärz- psychosoziale Beratung. Notwendig ist die Verpflich- tinnen und Ärzten im Blick auf ihre eigene Beratungs- tung der Ärztinnen und Ärzte, den Betroffenen darzule- kompetenz. Außerdem fordern wir die Bundesärztekam- gen, welche Beratungs- und Hilfsmöglichkeiten es gibt, mer auf, Richtlinien zur verbindlichen Information und damit die Frauen eine für sie verantwortliche und verant- Beratung von Schwangeren zu verabschieden, die auch wortbare Entscheidung treffen können. Dafür muss aber die Kooperation mit Fachleuten anderer ärztlicher Diszi- vor allem die Beratung im Kontext der Pränataldiagnos- plinen und anderer betroffener Berufsgruppen sicherstel- tik sowohl vor als auch nach Inanspruchnahme der Dia- len. Daran herrscht bis heute ein großer Mangel. gnostik verbessert werden, um Frauen eine kompetente Entscheidung für oder gegen die Inanspruchnahme be- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten stimmter diagnostischer Methoden zu ermöglichen. Wir des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) müssen also schon sehr viel früher beginnen, aus der rein medizinischen Betrachtungsweise auszusteigen und zu Was die betroffenen Frauen brauchen, ist keine Pflicht fragen: Was kann und was soll Pränataldiagnostik? Wird zur Beratung. Vielmehr müssen die Ärztinnen und Ärzte respektiert, dass Eltern bestimmte Untersuchungen nicht verpflichtet werden, die schwangere Frau über ihren An- in Anspruch nehmen wollen? spruch auf psychosoziale Beratung nach § 2 Schwanger- schaftskonfliktgesetz und vor allen Dingen über die Aus- Vor diesem Hintergrund finde ich es doppelt ungeheu- wirkungen der pränatalen Diagnostik – und zwar vor erlich, dass im Antrag der CDU/CSU die Finanzierung deren Einsatz – zu informieren. der Pränataldiagnostik an die psychosoziale Beratung Sie müssen auch lernen, zu respektieren, dass es ein gekoppelt werden soll. Die Eltern, die von einer ernst- Recht auf Nichtwissen gibt. Frauen haben mir berichtet, haften Behinderung oder Krankheit ihres ungeborenen dass sie im Paket die Schwangerschaftsvorsorge ab- und in der Regel erwünschten Kindes erfahren, suchen zeichnen und damit Untersuchungen über sich ergehen von sich aus Information und Beratung, ohne dass ihnen lassen mussten, über deren Sinn sie nicht informiert wa- dies bei Strafandrohung vorgeschrieben werden muss. ren und die sie abgelehnt hätten, wenn sie Bescheid ge- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Von Strafandro- wusst hätten. hung steht überhaupt nichts drin! Verdrehung Die Pränataldiagnostik ist in Deutschland in den des Antrags, Frau Staatssekretärin! – Gegenruf letzten Jahren zu einem festen und selbstverständlichen der Abg. Christel Humme [SPD]: Ich habe den Bestandteil der Schwangerenvorsorge geworden. Jede Eindruck, Sie lesen Ihre eigenen Anträge schwangere Frau muss bzw. soll sich heute in der ärzt- nicht!) 12614 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Parl. Staatssekretärin Christel Riemann-Hanewinckel (A) Ein Anspruch auf Beratung, der auch die Information Ina Lenke (FDP): (C) über die Hilfsmöglichkeiten für behinderte Menschen Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen und Kolle- und ihre Familien umfasst, die vor und nach der Geburt ginnen! Der Umgang mit den Chancen und Risiken der eines in seiner körperlichen, geistigen oder seelischen Pränataldiagnostik beschäftigt uns fraktions- und partei- Gesundheit geschädigten Kindes zur Verfügung stehen, übergreifend schon seit langem. Der Schutz des Lebens besteht schon jetzt nach § 2 Abs. 1 des Schwanger- und ganz besonders der Schutz des ungeborenen Lebens schaftskonfliktgesetzes. sind eine wichtige Aufgabe und eine Verpflichtung des Staates, die wir auch heute wieder wahrnehmen wollen. Als eine Frau, die aus der Beratungsarbeit kommt, weiß ich, dass Menschen in Situationen kommen kön- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) nen, in denen sie nicht mehr weiter wissen und in denen Die Frauenorganisation der FDP Bundesvereinigung sie Beratung und Begleitung brauchen. So ist es auch bei Liberale Frauen, deren Vorsitzende ich bin, hat auch im späten Schwangerschaftsabbrüchen. Sie, meine Da- März dieses Jahres einen Beschluss zur Vermeidung von men und Herren von der CDU/CSU, vermuten – das späten Schwangerschaftsabbrüchen gefasst. In diesem wird durch Ihre Forderungen offenbar –, dass Frauen aus Parlament haben wir uns – wir müssen sagen: dank der nichtigen Gründen abtreiben. Doch keine Frau nimmt Union – in einer gemeinsamen Arbeitsgruppe aller Frak- leichtfertig einen späten Abbruch vor. tionen in mehreren Sitzungen mit dieser Problematik be- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten fasst. Bei Fragen der Ethik wie bei der des Schwanger- schaftsabbruchs ist meines Erachtens ein sehr breiter des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) politischer Konsens wichtig. Das stärkt das Vertrauen Alle 217 Spätabbrüche sind besondere und einmalige in die Politik und ist ein gutes Signal an Bürger und Bür- Fälle. gerinnen. (Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Es sind viel Vor diesem Hintergrund möchte ich sehr klar sagen: mehr; das wissen Sie auch! Sie wollen gar Die gesetzlichen Bestimmungen des § 218 StGB mit der nicht wissen, wie viele es tatsächlich sind!) bestehenden Beratungsregelung, die Frauen vor einem Schwangerschaftsabbruch – er ist bis zur zwölften Wo- Es handelt sich um Frauen, die sich ein Kind gewünscht che erlaubt – zur Beratung verpflichten, stehen für die haben. Wer den Konflikt, eine Entscheidung über einen FDP – gerade heute – nicht zur Debatte. Abbruch in diesem Stadium der Schwangerschaft fällen (Beifall bei der FDP) zu müssen, nicht selbst erlebt hat, kann die Tragweite des Konfliktes und der Krise kaum erfassen. Wir alle, die im politischen Geschäft tätig sind, wis- (B) sen, dass das Bundesverfassungsgericht dem Parlament (D) Medizinische Beratung und psychosoziale Begleitung die Pflicht zur Beobachtung und gegebenenfalls zur können Frauen in diesen wirklich schwierigen Situatio- Nachbesserung beim Schutz des ungeborenen Lebens nen helfen. Der Gesetzgeber kann nur Rahmenbedingun- auferlegt hat. Das zwingt uns – da hat die CDU Recht – gen schaffen, damit genügend fachübergreifende Bera- zu einer genaueren Analyse. tungsangebote zur Verfügung stehen und Frauen nicht alleine gelassen werden. 1995 fasste der Deutsche Bundestag § 218 a Abs. 2 StGB mit dem Schwangeren- und Familienhilfe- Wir brauchen keine Klarstellung des § 218 StGB. Wir änderungsgesetz neu. Darauf ist schon in einer der letz- brauchen auch keine Verschärfung des § 218 StGB. ten Reden hingewiesen worden. Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass wir uns klar machen, dass die embryo- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Darum geht es pathische Indikation mit dieser Neuregelung weggefal- überhaupt nicht! – Wolfgang Zöller [CDU/ len ist. Diese Indikation gewährte Straffreiheit bei großer CSU]: Nicht zu glauben! Sie hätten unseren Gefahr einer nicht behebbaren Schädigung des Gesund- Antrag einmal lesen sollen, bevor Sie sich hier heitszustandes des Kindes, die so schwer wiegt, dass die darüber auslassen!) Fortsetzung der Schwangerschaft von der Schwangeren nicht verlangt werden kann. Wir brauchen vor allen Dingen Vertrauen in die Frauen, die in dieser Krise qualifizierte Begleitung, Hilfestellung Gleichzeitig wurde 1995 die so genannte medizini- und Respekt benötigen, und zwar durch Ärztinnen und sche Indikation neu geregelt. Sie sieht vor, dass ein Ärzte, Beraterinnen und Berater, Seelsorgerinnen und Schwangerschaftsabbruch nicht als rechtswidrig gilt, Seelsorger und nicht zuletzt durch Politikerinnen und wenn damit eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr Politiker. einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körper- lichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Vielen Dank. schwangeren Frau abgewendet wird. Das ist ein großer Unterschied. Eine zeitliche Befristung des Abbruchs (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ – deshalb reden wir darüber – sowie eine Pflicht zur Be- DIE GRÜNEN) ratung bestehen in diesen Fällen nicht. Die seit 1996 erfassten Abbrüche nach medizinischer Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Indikation gingen von damals 3,7 Prozent auf 2,7 Pro- Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ina Lenke. zent – in Zahlen: 3 421 – im Jahr 2003 zurück. Auch Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12615

Ina Lenke (A) Frau Böhmer hat darauf hingewiesen. Die Zahl der so (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C) genannten Spätabbrüche bei einer Schwangerschafts- der SPD und der CDU/CSU) dauer von 23 Wochen und mehr – da ist manches Früh- chen schon lebensfähig; diese Fälle beschäftigen uns alle Fraktionsübergreifend wollen wir gemeinsam beraten so sehr – betrug deutschlandweit laut Bundesstatistik im und für folgende Problematiken – jetzt komme ich zu Jahr 2003 217. meinen Punkten – Lösungen finden: Erstens. Frauen sollen sich auf der Basis einer guten Frau Böhmer, diese Zahlen allein sagen uns aber noch Information und Aufklärung für, aber auch gegen prä- nicht, ob ein politischer Handlungsbedarf besteht. Da die nataldiagnostische Maßnahmen entscheiden können. embryopathische Indikation seit 1995 nicht mehr exis- Frauen haben ein Recht auf Wissen; sie haben aber auch tiert, wissen wir nicht – das ist richtig –, wie viele der ein Recht auf Nichtwissen. 3 421 Fälle einer medizinischen Indikation mit einer Ge- sundheitsbeeinträchtigung des ungeborenen Kindes in (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Zusammenhang stehen. der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) Die Pränataldiagnostik, das heißt die Untersuchung der Schwangeren und des Ungeborenen, steht nun im Zweitens. Die Beratung vor und nach der Pränataldia- Fokus der Diskussion. Wir sollten zunächst einmal fest- gnostik soll verstärkt werden, wie die Staatssekretärin halten, dass die Pränataldiagnostik zuallererst eine wert- schon gesagt hat. Wenn der Befund einer Erkrankung, volle medizinische Errungenschaft und eine Chance ist. Behinderung oder Entwicklungsstörung des Ungebore- Oft können mit ihrer Hilfe der Schwangeren die Sorgen nen vorliegt, kann eine interdisziplinäre Beratung durch über den Verlauf der Schwangerschaft genommen wer- Gynäkologen, Humangenetiker oder Pädiater sehr sinn- den, können Risiken ausgeschlossen oder gemindert voll sein. Die psychosoziale Beratung – auch das haben werden. Durch die Pränataldiagnostik können – das ist wir festgestellt – ist besonders wichtig. Frauen und ihre doch das Gute – Fehlbildungen oder schwere Erkrankun- Partner brauchen sie. Wir wollen Frauen in den vielen le- gen des Ungeborenen erkannt werden. In manchen Fäl- benspraktischen und ethischen Fragen, mit denen sie len – das haben uns die Ärzte in den Arbeitskreissitzun- konfrontiert sind, Hilfe von professioneller Seite gewäh- gen gesagt – gibt es bei solch einem Befund pränatale ren. Der lebenspraktische Aspekt ist ganz wichtig, wenn Therapiemöglichkeiten oder auch Therapiemöglichkei- zu dem Kind Ja gesagt wird. ten direkt nach der Geburt. Drittens. Ich plädiere für eine Bedenkzeit von drei Ta- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Sehr richtig!) gen zwischen der Feststellung der medizinischen Indika- tion und der möglichen Durchführung eines Abbruchs. (B) Das ist doch etwas Gutes. Das sollten wir zunächst einmal Eine dreitägige Frist soll für weitere ärztliche und psy- (D) begrüßen. In wenigen Fällen – das wissen wir, die wir uns chosoziale Beratung Zeit geben. Das wollen wir aber damit beschäftigen, auch – ist zu erwarten, dass ein Kind auch wohl alle. nicht lebensfähig sein würde oder mit schweren Behinde- rungen oder schweren Krankheiten leben müsste. (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht in unserem Antrag!) Wir wissen, dass solche Diagnosen zum Teil erst in einem fortgeschrittenen Stadium der Schwangerschaft – Ja. Ich habe doch gesagt, dass wir alle das wollen. gestellt werden können. Man kann das nicht bis zur Aber auch die Position der FDP muss heute hier deutlich zwölften Woche feststellen. Frauen und ihre Partner wer- werden. den durch einen solch schwierigen Befund natürlich oft (Beifall bei der FDP) in eine wirklich verzweifelte Situation gestürzt. Deshalb bin ich der Meinung, dass auch die Zulassung der PID Viertens und letztens. Wir wollen einem Anliegen der am Anfang einer Schwangerschaft – da sind wir unter- Ärzte entsprechen. Ganz klar muss künftig geregelt sein, schiedlicher Meinung, Frau Böhmer – eine Hilfe für dass auch bei einem Schwangerschaftsabbruch nach me- Frauen in Konfliktsituationen sein könnte. dizinischer Indikation der Arzt oder die Ärztin die Mit- wirkung verweigern kann, sofern nicht eine akute Le- Aus der Ärzteschaft selbst und auch von Behinderten- bensbedrohung für die Schwangere besteht. verbänden haben wir im Beratungsvorlauf Anregungen dafür erhalten, wie Frauen in dieser Situation mehr ge- Auch die FDP will das Thema mit Experten in einer holfen und ungeborenes Leben möglicherweise besser Anhörung vertiefen. geschützt werden kann. Die derzeitige Praxis ist also (Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Gut!) sehr sorgfältig zu prüfen. Wir wollen zudem einen eigenen Antrag in den Bundes- Die FDP will die verantwortungsvollen Regelungen tag einbringen. für betroffene Männer und Frauen verbessern und eine überstürzte Entscheidung für einen Abbruch vermeiden Abschließend möchte ich sagen, dass wir alle uns ge- helfen. meinsam bemühen sollten, Frauen in schwierigen Le- benssituationen zu helfen. Sie haben es wirklich nötig. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Da könnten wir einer Meinung sein!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNIS- Darüber sind wir uns doch nun wirklich einig. SES 90/DIE GRÜNEN) 12616 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: dargestellt haben. Darum wollen wir den im Schwanger- (C) Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Irmingard schaftskonfliktgesetz bereits ausdrücklich verankerten Schewe-Gerigk. Rechtsanspruch auf Beratung stärken. Bei vielen, vor allen Dingen bei invasiven Untersuchungen sind die Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE Auswirkungen eines eventuell auffälligen Befundes für GRÜNEN): Frauen nicht übersehbar. Hier sollte in jeder Phase das Recht der Schwangeren auf psychosoziale Beratung aus- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gebaut werden. Ich finde, die Ärztinnen und Ärzte haben Die Grünen haben sich 1995 zu Recht dafür eingesetzt, die Pflicht, die Schwangeren darauf hinzuweisen. Dabei dass die embryopathische Indikation aus dem § 218 he- spielt eine angemessene Bedenkzeit zwischen den Bera- rausgenommen wurde; denn eine Behinderung des Em- tungen nach einem auffälligen Befund bzw. bis zu einem bryos allein – darüber sind wir uns über Fraktionsgren- eventuellen Schwangerschaftsabbruch eine große Rolle, zen hinweg einig – darf kein Grund für einen dass alles seelisch verarbeitet werden kann und voreilige Schwangerschaftsabbruch sein. Aber ich bin davon Entscheidungen vermieden werden können. Auch hier überzeugt, dass die medizinische Indikation, so wie sie sind wir uns mit den Kolleginnen der CDU/CSU und jetzt im Gesetz steht, notwendig ist. auch der FDP einig. Eine Schwangere wäre in unzumutbarer Weise über- Darüber hinaus setzen wir uns aber für eine Stärkung fordert, wenn das Austragen der Schwangerschaft auf der Begleitung der Schwangeren durch Hebammen ein. Kosten ihres eigenen Lebens oder Gesundheitszustandes Dieses könnte der Medizinisierung von Schwanger- von ihr verlangt würde. Der Gesetzgeber hat aber auch schaften etwas entgegensetzen. Das heißt, wir wollen deutlich gemacht, dass nicht allein eine Gefährdung der vermeiden, dass sich immer mehr Schwangere möglichst körperlichen Gesundheit der Frau, sondern darüber hi- vielen, oft risikoreichen Pränataldiagnoseverfahren in naus auch familiär-soziale Lebensumstände zu berück- der Hoffnung auf vorgeburtliche Therapiemöglichkeiten, sichtigen sind. Diese Intention kam im Übrigen schon in die es kaum gibt, unterziehen müssen. Bei einem Herz- der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von fehler ist etwas zu machen, aber bei fast allen anderen 1993 zum Ausdruck. Diagnosen wird den Frauen suggeriert, man könne etwas Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich in tun, obwohl das nicht der Fall ist. Darum wollen wir den diesem Zusammenhang zunächst auf die Fragen der prä- Informed Consent der Schwangeren durch einen Ausbau natalen Diagnostik eingehen. Schwangerschaft wird von Aufklärung und Beratung stärken. zunehmend als Krankheit definiert. Zahlen aus Nieder- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir hatten sowohl sachsen zeigen, dass im Jahre 1999 bei 74 Prozent aller in dieser wie auch in der letzten Legislaturperiode eine (B) schwangeren Frauen Schwangerschaftsrisiken im Mut- (D) interfraktionelle Arbeitsrunde zu diesem Thema. Aller- terpass angegeben wurden. Diesen Schwangeren wird dings wurde deutlich, dass Teile der CDU/CSU eher an nicht nur ein hoher Untersuchungsaufwand zugemutet, einer Verschärfung des § 218 interessiert waren und da- sie werden oft auch zu Untersuchungen gedrängt, über für das Thema Spätabtreibung als Aufhänger nutzten. deren Auswirkungen sie oft nicht genügend informiert sind. Das führt zu Verunsicherungen und zu Ängsten. (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Das ist doch Dabei kommen zwischen 96 und 98 Prozent aller Kin- unerhört! Das ist doch gar nicht wahr! – der gesund auf die Welt. Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das glauben Sie doch selber nicht, was Sie da sagen!) Wir sehen insgesamt mit Sorge, dass den Frauen im- mer mehr pränatal-diagnostische Maßnahmen angeboten Frau Böhmer hat heute den Beweis dafür – erstmalig werden. Das stellt bei sinkenden Geburtenzahlen sicher- hörte ich das von Ihrer Seite, Frau Böhmer – geliefert, lich auch einen wirtschaftlichen Faktor für viele Praxen indem sie sagte, ein Schwangerschaftsabbruch bei einer dar. Die Schwangeren erwarten von der PND ja keine medizinischen Indikation sei rechtswidrig. So stimmt auffälligen Befunde, sondern wollen beruhigt werden, das nicht. Ein Abbruch innerhalb der ersten zwölf Wo- wollen, dass ihnen gesagt wird, dass alles in Ordnung ist. chen ist rechtswidrig, aber straffrei. Das ist auch ein Grund für die hohe Akzeptanz. Wir wol- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- len, dass die Frauen in die Lage versetzt werden, wirk- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – lich nur die Untersuchungen zuzulassen, die sie auch Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Das habe ich wollen. Dabei muss auch das Recht auf Nichtwissen ein- nicht gesagt! Sie müssen genau zuhören! Das geräumt werden. Auch hier sind wir uns einig. Wenn bezog sich auf die psychosoziale Indikation!) sich eine Frau gegen eine Fruchtwasseruntersuchung ausspricht, muss das akzeptiert werden. Ich weiß, dass es – Dann sind wir uns ja einig. häufig ganz schwierig ist, das gegenüber den Ärzten durchzusetzen. Der vorliegende Antrag der CDU/CSU ist meines Er- achtens von einem tiefen Misstrauen gegenüber Frauen Die Wahrscheinlichkeit für eine 37-Jährige, ein Kind sowie Ärztinnen und Ärzten geprägt. Anders sind die mit Down-Syndrom zu haben, liegt bei 0,5 Prozent. Das Forderungen in Ihrem Antrag, eine Zwangsberatung für Risiko, durch eine Fruchtwasseruntersuchung eine Fehl- die Schwangeren vorzusehen, nicht zu verstehen. Sie geburt zu erleiden, ist doppelt so hoch. Das sollte uns zu misstrauen den Frauen so sehr, dass Sie ihnen damit dro- denken geben, liebe Kollegin Lenke. Deshalb sehe ich hen, dass die Krankenkassen die PND nicht bezahlen die Pränataldiagnostik nicht so positiv, wie Sie sie eben würden, wenn nicht vorher eine Pflichtberatung absol- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12617

Irmingard Schewe-Gerigk (A) viert wurde. Wir glauben dagegen, dass Schwangere mit (Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Es ist hoff- (C) einer diagnostizierten Behinderung ihres Kindes ein weit nungslos!) reichendes, umfassendes und zeitnahes Beratungsange- bot brauchen. Sie brauchen die Aufklärung und sie brau- Lassen Sie mich noch etwas zu der von Ihnen vorge- chen die Beratung. Sie brauchen das aber als Angebot, schlagenen Haftungseinschränkung für Gynäkologen nicht als Zwang. Sie brauchen in einer solchen Situation und Gynäkologinnen sagen. Sie soll nur noch bei grober jede Unterstützung, nicht aber die finanzielle Keule der Fahrlässigkeit gelten. Wollen Sie, meine Damen und Krankenkassen. Herren von der CDU/CSU, tatsächlich Schwangere und Ungeborene schlechter stellen als andere Patientinnen? In die Kategorie Misstrauen fällt auch, dass eine me- Mir fehlt dafür wirklich jedes Verständnis. dizinische Indikation nach Ihren Vorstellungen nur durch ein interdisziplinäres Ärztegremium festgelegt werden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN soll. und bei der SPD) (Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Das ist doch Lassen Sie mich zusammenfassen: Es gibt keinen barer Unsinn! – Thomas Rachel [CDU/CSU]: bundesgesetzlichen Handlungsbedarf. § 218 a Abs. 2 Das ist doch eine Unterstellung!) des Strafgesetzbuches ist eindeutig: Eine absehbare Be- hinderung allein ist kein Grund für einen Schwanger- Die Unterstellung, Frauen machten es sich leicht und schaftsabbruch und wäre nach geltendem Recht strafbar. würden wegen einer zu erwartenden Kiefer-Gaumen- Was wir allerdings brauchen, ist eine Verbesserung der Spalte einen Abbruch verlangen, entbehrt jeder Grund- Beratung. Das haben wir in unserem Antrag, der Ihnen lage. vorliegt, sehr deutlich belegt. Die Beratung ist allerdings (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Können Sie sa- nicht Sache des Gesetzgebers, sondern der Ärzteschaft, gen, wer das behauptet hat?) die wir dabei sehr gerne unterstützen wollen. In Gesprä- chen ist ja sehr häufig darauf eingegangen worden, dass – Das wird immer unterstellt; fragen Sie vielleicht ein- die Ärzte von sich aus viel machen müssen. mal Herrn Hüppe. – Es gibt lediglich einen Fall in Eng- land, in dem so etwas aktenkundig geworden ist. Was wir aber auch brauchen, sind eine verstärkte Fortbildung und Qualitätssicherung rund um die präna- (Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Frau tale Diagnostik. Was die Schwangeren dringend brau- Schewe-Gerigk, nehmen Sie einmal Abstand chen, ist eine bessere Information und Aufklärung. Aber von diesen antiquierten Vorstellungen!) auch hier ist nicht der Bund gefragt, sondern der Bun- Zu der anderen Frage: Expertenbefragungen an den desausschuss der Ärzte und Krankenkassen. Eine ange- (B) Universitätskliniken und München haben ergeben, messene Bedenkzeit im Rahmen einer medizinischen In- (D) dass 80 Prozent der durchgeführten Abbrüche Schwan- dikation, wenn Leben und Gesundheit der Schwangeren gerschaften mit außerhalb des Mutterleibs nicht lebens- nicht akut bedroht sind, wird von uns begrüßt, muss aber fähigen Kindern betrafen. Den Kindern fehlten lebens- auch vom Bundesausschuss in den Richtlinien verankert wichtige Organe, sie hätten also nicht leben können. – werden. Tun Sie doch nicht immer so, als wollten wir So viel zur Versachlichung dieser Debatte. hier alles ablehnen. Hier ist nicht der richtige Ort, das zu entscheiden; das muss in den Richtlinien festgelegt wer- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den. Helfen Sie uns, das umzusetzen! und bei der SPD) Ich glaube, dass es gerade in solchen Fällen für die Wie Sie dennoch mit einer statistischen Erfassung Frauen ganz dringend notwendig ist, Bedenkzeit zu ha- über die Art der Behinderung und des Eingriffs künftig ben. Ich würde auch nicht sagen, dass sie drei Tage Zeit Spätabtreibungen verhindern wollen, ist mir ein Rätsel. haben sollen, sondern dass sie angemessen Zeit haben Erstens ist eine Behinderung kein Abbruchgrund. Zwei- sollen. tens reden wir von etwas über 200 Fällen pro Jahr. Auf- geschlüsselt wären das ein bis zwei Personen pro Quartal (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ und Bundesland, auf die natürlich direkte Rückschlüsse DIE GRÜNEN und der SPD) möglich wären. Der Datenschutzbeauftragte hat das in Ich habe mit vielen gesprochen, die gesagt haben: Es kann der letzten Legislaturperiode sehr deutlich gemacht. kürzer sein, es kann aber auch länger sein. Es kann auch (Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Aber er hat Frauen geben, die sagen: Ich möchte 14 Tage Trauerarbeit auch gesagt, dass dies lösbar ist!) machen. Diese Möglichkeit muss man ihnen geben. Dass in Deutschland Spätabbrüche durch Fetozide Dass bei einer diagnostizierten Behinderung Fach- erfolgten – auch Frau Böhmer hat das eben angespro- leute verschiedener Disziplinen hinzugezogen werden, chen –, die in der Bundesstatistik als Totgeburten gemel- damit sich die Eltern umfassend informieren können, ist det wurden, fällt leider auch in die Kategorie Misstrauen. doch eine Selbstverständlichkeit. Es gibt keinen Beweis dafür. Die Zahl der Totgeburten Meine Damen und Herren, die Grünen verbindet ist seit 1996 kontinuierlich zurückgegangen. Wenn Ihre ebenso wie die Sozialdemokraten und früher auch die These stimmen würde, dass neuerdings die Abbrüche FDP eine lange Geschichte mit dem § 218. durch Fetozide zunähmen und als Totgeburten gemeldet würden, dann müsste diese Zahl angestiegen sein. Das (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Das ist wohl entbehrt also jeder Grundlage. wahr!) 12618 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Irmingard Schewe-Gerigk (A) Für mich selbst war dies vor 30 Jahren der Grund, in die sind eine extreme Belastung. Viele Frauen leiden ein Le- (C) Politik zu gehen. Wir haben uns immer für Frauen einge- ben lang unter dem Verlust des Kindes und sind trauma- setzt. Gerade in schwierigen Situationen brauchen die tisiert durch die in einer Zwangslage getroffene Ent- Frauen unsere Unterstützung und nicht unser Miss- scheidung. trauen. Wir aber vertrauen den Frauen, dass sie das Le- ben ihrer Kinder schützen. Das wird auch so bleiben. Nach einer embryopathischen Diagnose befinden sich viele Frauen in einem Schockzustand. Vielen erscheint Ich danke Ihnen. es so, als gäbe es keinen Ausweg mehr. Sie fühlen sich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN angesichts der Vorstellung, ein schwer behindertes Kind und bei der SPD) aufzuziehen, überfordert und meinen, über Jahre daran gefesselt zu sein. Sie verspüren Angst vor Isolation und haben das Gefühl, ein krankes Kind bedeute ein Versa- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: gen ihrerseits. Neben das Gefühl, dem Erfolgsdruck Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Thomas Rachel. nicht gerecht geworden zu sein, tritt oft die Befürchtung, (Beifall bei der CDU/CSU) den erhöhten Betreuungsanforderungen nicht gerecht werden zu können. Nicht unerheblich trägt auch der Druck durch Angehörige dazu bei. Insbesondere die Thomas Rachel (CDU/CSU): Partner fürchten oft den Verlust von Freiheit und drän- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen gen die Mutter nicht selten zum Abbruch. Gravierend ist und Herren! Der Verlust menschlichen Lebens berührt auch die Furcht, den Lebenspartner zu verlieren. uns alle. Ich denke, das gilt in ganz besonderem Maße für das bedrückende Phänomen der Spätabtreibung. Es Die wichtigste Aufgabe ist es deshalb, den Eltern ist tief beunruhigend, dass die Zahlen in den letzten Jah- Perspektiven für ein gelungenes und glückliches Leben ren gestiegen sind. mit ihrem behinderten Kind aufzuzeigen. (Dr. Erika Ober [SPD]: Das stimmt doch (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nicht!) neten der FDP) Das darf uns nicht ruhen lassen. Dazu gehört neben der Erörterung der medizinischen Die Entscheidung der Mutter, ihre Schwangerschaft Fragen auch die Gelegenheit, die seelischen Konflikte in in einem Spätstadium abbrechen zu lassen, wird in ei- Ruhe zu besprechen und nicht zuletzt auch praktische nem großen Gewissenskonflikt getroffen. Die Entschei- Fragen bezüglich eines Lebens mit Behinderung zu klä- dung, das eigene Kind wegen körperlicher Schädigun- ren. Ein ärztliches und ein psychosoziales Beratungsge- (B) gen nicht austragen zu können, mit der seelischen spräch sollten daher unbedingte Voraussetzungen eines (D) Belastung, die individuell empfunden wird, ist die späteren Schwangerschaftsabbruchs sein. Auch der Va- schwerste Entscheidung, die ein Mensch überhaupt tref- ter des Kindes sollte dabei berücksichtigt werden; denn fen kann. beide Elternteile sind davon betroffen. (Ute Kumpf [SPD]: Eine Frau!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die seelische Not der Mutter ist deshalb so groß, weil Eine gute Beratung kann Raum schaffen, der den der Konflikt nicht nur ihr eigenes Schicksal, sondern Eltern ein selbstbestimmtes Ja zum Kind eröffnet. auch das zu erwartende Schicksal ihres behinderten Kin- des betrifft. Es geht hier nicht um die Frage von Gut und Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Böse. Es geht darum, den betroffenen Eltern einen Raum Deutschland, Bischof Huber, hat darauf hingewiesen, zu schaffen, der ein Ja für das Kind ermöglicht. Genau dass Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen, das ist das Anliegen des Antrages der Christlich Demo- damit die Schwangerschaft, also das Lebensverhältnis kratischen Union. zwischen Mutter und Kind, gelingt. Schärfere strafrecht- (Beifall bei der CDU/CSU) liche Vorkehrungen seien dafür weder hilfreich noch sinnvoll, so Wolfgang Huber. Eine Besonderheit bei Abtreibungen nach der 23. Schwangerschaftswoche ist die fortgeschrittene Ent- Sehr geehrte Damen und Herren, an die Beratung wicklung des Kindes, das in diesem Stadium außerhalb muss sich unseres Erachtens stets eine Bedenkzeit von des Körpers der Mutter meist lebensfähig ist. Dies ver- drei Tagen anschließen, sofern das Leben der Mutter leiht der Schutzpflicht des Staates gegenüber dem unge- nicht akut gefährdet ist. Bei so extrem weit reichenden borenen Leben ein ganz besonderes Gewicht. Überlegungen wie der einer späten Abtreibung muss der Frau und dem Paar Gelegenheit zu einer alles abwägen- Je weiter das Kind entwickelt ist, desto größer ist den Entscheidung gegeben werden. Die Frau muss Zeit auch die emotionale Bindung der Mutter an ihr Kind. In haben, sich über ihre Situation und die Beziehung zu ih- der heutigen Zeit fühlt sie ihr Kind nicht nur, sondern sie rem Kind klar zu werden und über das nachzudenken, kann es sehen und beobachten, seinen Herzschlag hören was ihr die Beratung ermöglichen wollte. Die Bedenk- und damit einen ganz besonderen Bezug zu ihrem Kind zeit stellt damit die sinnvolle Fortsetzung einer guten entwickeln. Das bedeutet, dass nicht nur das Kind eines Beratung dar. Deswegen möchten wir diese Bedenkzeit. besonderen Lebensschutzes bedarf. Es geht auch um ei- nen besonderen Schutz der Mutter. Spätabtreibungen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12619

Thomas Rachel (A) Der Mutter wird dadurch auch Zeit gegeben, den Kon- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (C) takt zu Familien mit behinderten Kindern zu suchen. Dies nimmt Ängste. Für die späten Schwangerschaftsabbrüche dürfen nicht allein die Eltern und die Ärzte verantwortlich ge- Das Problem der Spätabtreibung wird auch durch Fol- macht werden. Auch wir tragen Verantwortung. Unsere gendes verschärft. Es gibt Fälle, in denen der Anlass ei- Aufgabe ist es, die Rahmenbedingungen für die Betrof- nes späten Abbruchs eine embryopathische Diagnose ist, fenen zu verbessern, ihnen ein erweitertes Betreuungs- die sich später als falsch herausstellt. Deshalb muss es angebot, finanzielle Unterstützung und eine gelingende uns auch um Qualitätssicherung bei der pränatalen Dia- Integration ihrer Kinder in die Gesellschaft zu ermögli- gnose gehen. chen. Wenn die Eltern das Gefühl haben, dass die Ge- Eine besondere Rolle spielt in diesem Zusammen- sellschaft positiv auf behinderte Kinder zugeht, haben hang der haftungsrechtliche Hintergrund. Gynäkolo- wir schon sehr viel erreicht. Das muss unser gemeinsa- gie und Geburtshilfe ist die heute am stärksten vom Haf- mes Anliegen sein. tungsrisiko belastete Fachrichtung der Medizin. Die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Rechtsprechung zum – Zitat – „so nicht gewollten Kind“ als „Schaden“ hat auch die betroffene Ärzteschaft verun- Ich will abschließend sagen: Es steht uns nicht an, die sichert. Dies verhindert die gebotene Zurückhaltung in betroffenen Eltern zu verurteilen, sondern es ist unsere den Fällen, in denen eine Fehlbildung oder Schädigung Aufgabe, unserer Fürsorgepflicht gerecht zu werden. zwar möglich, aber eben nicht sicher ist. Das wollen wir gemeinsam tun. Deshalb sind wir dafür, eine Beschränkung auf die Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. grobe Fahrlässigkeit, wie es sie auch in Frankreich gibt, einzuführen. Dies erscheint uns als Christdemokraten als (Beifall bei der CDU/CSU) sinnvolle und angemessene Lösung. ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: NEN]: Zynisch ist das!) Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Erika Ober. Sehr geehrte Damen und Herren, bei späten Abbrü- chen sollte auf jeden Fall der Schutzrahmen geschaffen Dr. Erika Ober (SPD): werden, der auch für das Anfangsstadium einer Schwan- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- gerschaft gilt, also Beratung und Bedenkzeit. Hier fehlen gen! Ich stehe heute hier als Abgeordnete, aber auch als die entsprechenden Regelungen. Diese Regelungslücke Gynäkologin und Geburtshelferin. Ich beschäftige mich ignoriert die Tatsache, dass die Schutzbedürftigkeit von mit diesem Thema seit 30 Jahren. Ich weiß um viele (B) (D) Mutter und Kind mit fortschreitender Schwangerschaft schwere Schicksale, die damit verbunden sind. Ich kenne zunimmt und sich die mögliche Konfliktsituation ver- auch die Verzweiflung der Frauen und Familien. Ich schärft. weiß, wovon ich rede. Wir sind deshalb sehr froh, dass der Antrag der Unions- Der Antrag der CDU/CSU „Vermeidung von Spätab- fraktion zur Vermeidung von Spätabtreibungen von der treibungen – Hilfen für Eltern und Kinder“ zielt darauf Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburts- ab, Spätabtreibungen im großen Umfang zu vermeiden hilfe unterstützt wird; denn sie ist an den Betroffenen am und sie eigentlich ganz abzuschaffen. Sie, verehrte Kol- nächsten dran. leginnen und Kollegen von der Union, wollen eine Pflichtberatung bei der Spätabtreibung einführen. An Auch die anderen Fraktionen sehen die Probleme der diese Zwangsberatung soll dann auch die Kostenüber- Spätabtreibung. Wir bedauern es aber, dass sich die Koa- nahme des Eingriffs durch die Krankenkasse geknüpft litionsfraktionen bisher einer wirksamen Regelung ver- werden. Das wurde vorhin zwar geleugnet, aber es ist in sperren. Ihrem Antrag enthalten. Zudem soll eine Frau in dieser (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ sehr schwierigen Situation immer mindestens drei Tage DIE GRÜNEN]: Was ist bei Ihnen denn wirk- warten müssen, bevor ein Eingriff stattfinden kann. Ich sam zur Vermeidung von Spätabtreibungen?) teile Ihre Meinung nicht. Denn mit Ihrem heute vorge- Die Belastungen für Eltern sind generell gestiegen, legten Antrag unterstellen Sie, dass viele Spätabtreibun- sowohl in finanzieller Hinsicht als auch im Hinblick auf gen fälschlicherweise vorgenommen werden. den gesellschaftlichen Kontext. Extremes Gewicht er- Worum handelt es sich, medizinisch gesehen, bei einer langen diese Mehrbelastungen, wenn sich herausstellt, Spätabtreibung? Spätabtreibungen sind Abbrüche der dass das erwartete Kind behindert sein wird. Es wird Schwangerschaft nach der 23. Schwangerschaftswoche. dann zusätzlicher Pflege, Betreuung und Begleitung be- Sie unterscheiden sich von psychosozialen Schwanger- dürfen sowie unter Umständen einen größeren finanziel- schaftsabbrüchen bis zur zwölfte Woche durch ein ganz len Einsatz erfordern. Dies kann aus Sicht der betroffe- wichtiges Merkmal: Bei Abbrüchen nach der zwölfte nen Eltern existenzielle Fragen aufwerfen, vor denen wir Schwangerschaftswoche handelt es sich grundsätzlich nicht die Augen verschließen dürfen. Deshalb müssen um Abbrüche von Schwangerschaften, die gewollt wa- wir bei allen Reformmaßnahmen im sozialen Bereich ren. Hier geht es um Wunschkinder. sehr aufpassen, dass wir den besonderen Anliegen der Behinderten und ihrer Angehörigen gerecht werden. (Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Das ist völlig Dies müssen wir im Blick behalten. richtig!) 12620 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Dr. Erika Ober (A) Das ist ein ganz wichtiger Unterschied. Aber auch wenn tung im Vorfeld der Untersuchung ist ebenso notwendig (C) Mutter und Vater sich für ein Kind entschieden haben, wie nach Erhalt eines möglicherweise pathologischen können Schwangerschaften in ihrem Verlauf entweder Befundes. Über die Notwendigkeit einer qualifizierten für die Mutter oder für das Ungeborene oder für beide Beratung sind wir uns alle sicher einig. erhebliche gesundheitliche Gefahren und Schäden mit sich bringen. Dann müssen die Eltern die Möglichkeit Es gibt heute viele Untersuchungsmethoden für haben, sich neu entscheiden zu dürfen. Schwangere, die während der gesamten Schwanger- schaft auf mögliche gesundheitliche Probleme aufmerk- Mutter und ungeborenes Kind sind eine Einheit. Ein sam machen und gegebenenfalls Erkrankungen in der ungeborenes Kind kann nicht isoliert von der Mutter ge- Schwangerschaft aufdecken und, wie schon gesagt, eine sehen werden. Ich nenne Ihnen drei Gefährdungspoten- Therapie aufzeigen können. Dies schützt Leib und Le- ziale für Mutter und Kind, die aus medizinischer Sicht ben der Mutter und des Kindes. auszumachen sind. Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Union, Erstens kann eine Gefährdung der Mutter vorliegen, Ihr Argument für eine Pflichtberatung ist schwach. Sie wie zum Beispiel ein Herzfehler, eine Uterusmissbil- führen eine Scheindiskussion. Denn Sie geben nicht zu, dung oder eine Lungenerkrankung. Weil Mutter und dass das Mehr an diagnostischen Möglichkeiten eben Kind eine Einheit sind, haben solche Erkrankungen der nicht zu einem Mehr an Spätabtreibungen geführt hat; Mutter auch Auswirkungen auf das Ungeborene. Das auf die entsprechenden Zahlen wurde schon hingewie- Kind ist dann auch gefährdet. Stellt sich eine solche Ge- sen. Die Zahlen der Spätabbrüche – ich habe sie genau fährdung der Mutter im Verlauf der Schwangerschaft notiert – schwanken seit 1996 jährlich zwischen 159 und heraus, darf es keinen Zwang für die Mutter geben, unter 217 – und dies nicht kontinuierlich ansteigend, sondern Gefahr für ihr eigenes Leben das Kind austragen zu müs- von Jahr zu Jahr unterschiedlich. Die Abbrüche sind von sen. der Indikation abhängig. Insgesamt 0,1 Prozent aller in ( [CDU/CSU]: Das will doch keiner!) Deutschland vorgenommenen Abbrüche sind Spätabbrü- che. – Lassen Sie mich die Beispiele weiter nennen! Man sollte diese Punkte einmal systematisch auflisten und (Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Nur die regis- nicht immer nur hochemotional diskutieren. trierten!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir wenden uns ausdrücklich gegen Ihren Antrag, der unserer Meinung nach eine Schlechterstellung von Zweitens kann eine spezifische Schwangerschaftser- Frauen zur Folge hätte. Sie diskriminieren und bevor- (B) krankung auftreten, zum Beispiel eine Präeklampsie, munden mit Ihrem Vorschlag Frauen und Familien. (D) landläufig auch Schwangerschaftsvergiftung genannt. Durch einen solchen Befund sind Mutter und Kind er- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des heblichen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt. Es kann BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Maria zu einem Versagen aller Organe sowohl der Mutter als Böhmer [CDU/CSU]: Das ist eine Scheuklap- auch des Kindes kommen. Auch hier darf es keinen pendiskussion!) Zwang für die Mutter geben. Sie muss zusammen mit – Sie sollten einmal zuhören, um was es hier geht. dem Vater frei entscheiden können. Im Falle von Spätabtreibungen müssen wir davon Drittens können auch die Lebensaussichten von Mut- ausgehen, dass das Kind gewollt und es ein Wunschkind ter und Kind nach der Geburt gefährdet sein. Eine ist, es aber ein für die Einheit von Mutter und Ungebore- Schwangerschaftspsychose und auch eine Suizidgefahr nem schwerwiegendes gesundheitliches Problem gibt. sind für die Lebensaussichten der Mutter und des Kindes Spätabtreibungen kann man nicht durch eine Pflicht- von Bedeutung. oder Zwangsberatung von Frauen verhindern, wie hier Diese drei Gefahrenpotenziale für Mutter und Kind fälschlicherweise dargestellt wird. können wir nicht voneinander trennen. In der Medizin Wir reden bei Spätabtreibungen auch über Kinder, die gibt es oft fließende Übergänge. Es ist keine reine Ma- nach der Geburt nicht lebensfähig sind. Wir reden über thematik. Familien, in denen ein Kind beispielsweise lebenslang Ein weiterer Aspekt. Schwangeren Frauen werden von Maschinen abhängig ist; auch darauf möchte ich immer mehr Untersuchungen angeboten. Das haben wir hinweisen. Wir reden auch über Frauen, die durch den auch heute schon mehrfach gehört. Die meisten Schwan- Antrag der Union möglicherweise neuen Risiken ausge- geren wollen viele dieser Untersuchungen. Ob sie diese setzt wären. Mit Ihrem Antrag müsste zum Beispiel eine Angebote wahrnehmen wollen, ist zu Recht allein eine suizidgefährdete Frau nach einer Pflichtberatung min- Entscheidung dieser Frauen und der werdenden Väter. destens drei Tage auf einen ihr zustehenden Abbruch Sie haben aber auch – das möchte ich betonen – ein warten. Das ist doch nicht Ihr Ernst! Ich frage Sie, Frau Recht auf Nichtwissen. Professor Böhmer: Wie können Sie dieser Frau, die suizidgefährdet ist und drei Tage warten müsste, mit die- Es ist in diesem Zusammenhang wichtig, dass Frauen sem Vorschlag helfen? und Familien vor einer Untersuchung über mögliche Folgen aufgeklärt werden. Die behandelnden Ärzte ha- (Zuruf der Abg. Hildegard Müller [CDU/ ben eine Informationspflicht. Die qualifizierte Bera- CSU]) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12621

Dr. Erika Ober (A) – Das ist keine Seltenheit; das ist in der Praxis Alltag, Vielen Dank. (C) Frau Müller. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich möchte noch ein weiteres Beispiel aus der Praxis DIE GRÜNEN) ansprechen. Bei schwangeren Frauen kann es während der gesamten Phase der Schwangerschaft zu einem Bla- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: sensprung kommen. Dies lässt sich nicht prospektiv Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Maria Eichhorn. feststellen. Es ist fast unmöglich, eine Schwangerschaft mit einem Blasensprung über die normale Dauer einer (Beifall bei der CDU/CSU) Schwangerschaft durchzuhalten. (Ilse Falk [CDU/CSU]: Das ist doch dummes Maria Eichhorn (CDU/CSU): Zeug! Das will doch überhaupt keiner!) Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Meine Kolleginnen und Kollegen von Rot- Die Folgen können sein: Ein Kind kommt durch die sich Grün, es geht nicht um eine Verschärfung des § 218 nach einem Blasensprung entwickelnde Infektion StGB, sondern darum, Frauen in einer extremen Kon- schwer geschädigt zur Welt. Die Frau kann schwer ge- fliktsituation mehr Hilfe anzubieten schädigt sein. Dies kann sogar zum Tode führen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Ilse Falk [CDU/CSU]: Es ist doch absurd, was Sie hier erzählen!) und einen wirksamen Schutz des ungeborenen Lebens zu gewährleisten. Das hat für meine Fraktion und für mich Ich sage es Ihnen in aller Deutlichkeit – das betrifft oberste Priorität. die Mehrzahl der Spätabtreibungen, über die wir reden; Sie wollen sie ja abschaffen –: Es geht bei Spätabtrei- Das Bundesverfassungsgericht hat uns in seinem bungen nicht darum, dass eine Frau ein Kind leichtferti- Urteil vom 28. Mai 1993 beauftragt, menschliches Le- gerweise plötzlich nicht mehr haben möchte. Es wurde ben – auch das ungeborene – zu schützen sowie ausrei- in den Raum gestellt – das wurde mehrfach gesagt; die chende Maßnahmen zu ergreifen, damit ein angemesse- Kollegin eben hat auch darauf hingewiesen –, dass in ner und somit wirksamer Schutz erreicht wird. Als der Deutschland zum Beispiel eine Lippen-Kiefer-Gau- Deutsche Bundestag diese Vorgaben umsetzte, musste menspalte zu Spätabbrüchen führen würde. Ich sage Ih- ich, die ich für die CDU/CSU-Fraktion mit den anderen nen: Das ist unsachlich. Eine späte Abruptio wird nicht Fraktionen verhandelt habe, erleben, wie schwierig es wegen einer Hasenscharte des Kindes vorgenommen, war, nach jahrelangem Streit zu einem parteiübergreifen- sondern kann nur aus Gründen eines schwerwiegenden den Kompromiss zu kommen. (B) medizinischen Befundes der Mutter – wohlgemerkt: der (D) Mit der Verabschiedung des Schwangeren- und Fami- Mutter – vorgenommen werden. lienhilfeänderungsgesetzes wurde im Juni 1995 die so Mit dem Thema Spätabtreibung soll – ich unterstelle genannte embryopathische Indikation als eigener Tatbe- das; das erkennt man, wenn man zwischen den Zeilen stand abgeschafft und als Bestandteil der medizinischen liest – die Diskussion um den § 218 StGB wieder aufge- Indikation aufgenommen. Die Kolleginnen und Kolle- macht werden. gen aus der Union, die damals dabei waren, wissen, wie schwierig uns diese Entscheidung gefallen ist und wie (Widerspruch von der CDU/CSU) sehr wir damals bei diesem Thema miteinander gerun- Wir als SPD-Fraktion wollen das nicht. Wir wollen gen haben. keine Gesetzesänderung und keine Beratungspflicht für Insbesondere die Behindertenverbände, aber auch die Frauen nach einem medizinischen Befund. Kirchen haben uns immer wieder aufgefordert, auf eine (Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Sie wollen keine embryopathische Indikation zu verzichten. Behinderte behinderten Kinder!) Menschen sahen in dieser Indikation eine Diskriminie- rung. In der Begründung zur neu formulierten medizini- Wir wollen keine Verschlechterung der Situation der schen Indikation haben wir klargestellt, dass eine Behin- Frauen durch eine Zwangsberatung. Wir wollen die derung niemals zu einer Minderung des Lebensschutzes Frauen und Familien im Falle eines schwerwiegenden Be- führen darf. Damit haben wir unmissverständlich deut- fundes in dieser ohnehin schwierigen Situation nicht noch lich gemacht, dass eine Behinderung als solche niemals zusätzlich belasten. Wir wollen, dass mit diesem Gesetz der Grund für eine Abtreibung sein kann. auch weiterhin verantwortungsvoll umgegangen wird. Das setzt natürlich voraus, dass wir Rahmenbedin- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: gungen schaffen, die ein Leben mit behinderten Men- Frau Kollegin. schen ermöglichen. Es kommt darauf an, wie wir mit Be- hinderten umgehen und wie wir uns gegenüber Müttern verhalten, die ein behindertes Kind zur Welt bringen. Dr. Erika Ober (SPD): Wenn Eltern behinderter Kinder gefragt werden, ob denn Noch eine Bemerkung, Frau Präsidentin; dann bin ich das Kind nicht hätte abgetrieben werden können, ist das fertig. – Frauen und Männer sollen qualitativ hochwer- ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft. tige Beratungsangebote vorfinden. Das unterstützen wir. Aber Frauen und Familien sollen auch in Zukunft die (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Ina Entscheidungsgewalt über ihre Gesundheit behalten. Lenke [FDP]) 12622 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Maria Eichhorn (A) Die Art und Weise, wie bei uns in zunehmendem Maße vor. Vor dieser Tatsache können Sie die Augen nicht ver- (C) darüber geurteilt wird, ob Leben lebenswert ist, ist er- schließen. schreckend. Das gilt übrigens nicht nur für den Anfang des Lebens. (Beifall bei der CDU/CSU) (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Wohl wahr!) Deswegen ist eine umfassende Beratung vor und nach pränataler Diagnose ein Kernpunkt unseres Antrags. Dieser Entwicklung müssen wir mit allem Nachdruck entgegentreten. (Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!) (Beifall bei der CDU/CSU) Das Recht auf Beratung gibt es bereits, aber es reicht nicht aus, um das ungeborene Leben zu schützen und ge- Das Bundesverfassungsgericht hat uns, dem Gesetz- nügend Hilfen für die Frauen in großer Not anbieten zu geber, eine Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht können. Werdende Eltern müssen frühzeitig über mögli- aufgegeben. Entgegen der gesetzgeberischen Erwartung che Konfliktsituationen aufgeklärt werden, besonders im aus dem Jahre 1995 zeigt sich jedoch, dass Schwanger- Zusammenhang mit Pränataldiagnostik. Deswegen brau- schaftsabbrüche allein wegen einer Behinderung des chen wir die psychosoziale Beratung. Nach einer prä- Kindes erfolgen. natalen Diagnose mit pathologischem Befund muss nach (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- unserer Meinung und nach Meinung der Fachleute Bera- NEN]: So ein Quatsch! Wo zeigt sich das tung erfolgen, und zwar ärztliche und psychosoziale. Die denn?) Praxis zeigt eben, dass Frauen dort, wo ihnen die Diagnose gestellt wird, zugleich der Abbruch angeboten Der Grund für eine medizinische Indikation kann jedoch wird. Diese Frauen stehen unter großem Druck und neh- nur eine schwerwiegende Beeinträchtigung der körperli- men sich oft nicht genug Zeit zum Überlegen, weil die chen oder seelischen Gesundheit der Schwangeren sein. Lösung so nahe zu liegen scheint. Eine sofortige Abtrei- bung bietet sich nicht nur räumlich an, sondern ist auch Da die Kinder immer früher lebensfähig sind, werden praktikabel, weil sich in der Schocksituation zunächst auch immer mehr lebensfähige Kinder abgetrieben. Die- keine andere Lösung anzubieten scheint. ser Tatsache dürfen wir uns nicht verschließen. Die Zah- len, die in Ihrem Antrag genannt werden, beweisen, dass Mit der Beratungspflicht wollen wir erreichen, dass die Anzahl der Spätabtreibungen gestiegen ist. Frau die Entscheidungsfindung nach dem ersten Schock er- Ober, in Ihrem Antrag steht, dass es im Jahre 1996 zu folgt. Unser Ansatz ist, neben einer medizinischen Bera- 159 und im Jahre 2003 zu 217 Spätabtreibungen gekom- tung alle Möglichkeiten und Hilfen aufzuzeigen, die El- men ist. Das ist doch eine Steigerung. tern ermutigen, auch Kinder mit einer Behinderung (B) anzunehmen. Auf der Grundlage möglichst umfassender (D) (Dr. Erika Ober [SPD]: Aber keine kontinuier- Informationen, die alle Aspekte einbeziehen, kann sich liche! Gucken Sie sich doch mal die Zahlen eine Frau für oder gegen die Fortsetzung der Schwanger- von 1998 an!) schaft entscheiden. Wenn aber eine Abtreibung vorge- Der Bundesverband Lebensrecht nennt eine Dunkelzif- nommen wurde, ist die Entscheidung nicht mehr änder- fer von 800 Spätabtreibungen, also weit mehr. Diese bar. Viele leiden ein Leben lang darunter, sich vorschnell Zahlen können Sie nicht einfach vom Tisch wischen, entschieden zu haben. Deswegen fordern wir, nach Fest- meine Damen und Herren von der Koalition. stellen der Indikation eine verbindliche Bedenkzeit von mindestens drei Tagen vorzuschreiben, sofern das Leben (Beifall bei der CDU/CSU) der Mutter nicht gefährdet ist. Bei der medizinischen Indikation findet weder eine Wenn Sie gemäß Ihrem Antrag nur wollen, dass psychosoziale Beratung statt, noch gilt eine Frist für die Schwangere auf eine angemessene Bedenkzeit hingewie- Vornahme des Schwangerschaftsabbruchs. Wir hatten sen werden, wird das keinerlei Verbesserungen bringen. deswegen bereits in der letzten Legislaturperiode Ge- Denn das Recht auf Beratung hatten wir auch bisher. Es spräche geführt und einen entsprechenden Antrag zur ist nicht in genügender Weise wahrgenommen worden. Vermeidung von Spätabtreibungen im Bundestag einge- So ist es mir unbegreiflich, dass Sie, meine Kolleginnen bracht, den Sie aber – leider Gottes – abgelehnt haben. und Kollegen von Rot-Grün, die Ihrer Meinung nach be- Auch jetzt wollen Sie auf unsere Vorschläge nicht einge- währte Beratungsregelung nach § 218 a Abs. 1 StGB für hen. Sie ignorieren auch, dass die Deutsche Gesellschaft die medizinische Indikation ablehnen. Gerade diese für Gynäkologie und Geburtshilfe dringend Änderungen Schwangeren sind in besonderer Not und bedürfen unse- fordert. Bei der Verabschiedung des Gesetzes 1995 rer besonderen Hilfe. Darum geht es. wurde die pränatale Diagnostik wesentlich seltener an- gewandt: nur in Ausnahmefällen. Heute findet bei 70 bis (Beifall bei der CDU/CSU) 80 Prozent aller Schwangerschaften Pränataldiagnostik statt. Das sind völlig andere Verhältnisse. Eine Beratungspflicht und eine verbindliche Bedenk- zeit sollen der Mutter helfen, sie vor einer Entscheidung Natürlich kann man mit der Pränataldiagnostik hel- zu bewahren, die sie vielleicht ihr Leben lang bereut. fen, schon im Mutterleib. Aber der umgekehrte Fall, Um der Nachbesserungspflicht gemäß dem Urteil des nämlich dass mit einer Diagnose sozusagen der Rollla- Bundesverfassungsgerichts gerecht zu werden, ist aus den abläuft und die Frauen sich in dann großer Not zu ei- Sicht der Ärzte eine genauere statistische Erfassung von ner Abtreibung raten lassen, kommt doch weit häufiger Abtreibungen dringend erforderlich. Die Bundesregie- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12623

Maria Eichhorn (A) rung hat auf unsere Kleine Anfrage zur Abtreibung ge- (Ilse Falk [CDU/CSU]: Das wollen wir doch!) (C) antwortet, dass entsprechende Statistiken fehlen. Vor diesem Hintergrund ist nicht nachvollziehbar, warum Sie Wie soll nun unsere Unterstützung aussehen? Meine sich einer verbesserten statistischen Erfassung der Ab- Herren und Damen von der Opposition, Sie fordern eine treibungen widersetzen. ärztliche und psychosoziale Pflichtberatung. Sie sagen: Wird diese nicht wahrgenommen, dann sollen die Kos- (Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Weil sie wissen, ten der pränatalen Diagnostik von der gesetzlichen Kran- dass die Zahlen höher sind!) kenversicherung nicht übernommen werden. Wir glau- ben nicht, dass wir die Frauen bevormunden müssen und Wir werden bei der Anhörung Gelegenheit haben, die dass Druck das richtige Mittel ist, wenn Hilfe benötigt Fachleute zu befragen. Ich hoffe sehr, dass es dann gelin- wird. gen wird, zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen. Nachdem ich hier zu Beginn dieser Legislaturperiode (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ im Rahmen der Debatte über die Regierungserklärung DIE GRÜNEN) das Thema Spätabtreibung angesprochen hatte, kam Mi- Darüber hinaus erfordert die besondere Situation der nisterin auf mich zu und hat gesagt, dass Schwangeren ein besonderes Vertrauensverhältnis zwi- wir das Problem lösen müssen. schen dem behandelnden Arzt und der betroffenen Frau. (Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Heute ist sie Eine Pflichtberatung wäre an dieser Stelle mit Sicherheit nicht da! – Thomas Rachel [CDU/CSU]: Wo kontraproduktiv. Darum setzen wir auf ein freiwilliges ist sie denn?) psychosoziales Beratungsangebot zur Stärkung der Entscheidungskompetenz der Frauen. Ganz genau da- Mit dem Antrag, den Sie vorgelegt haben, werden Sie rum geht es nämlich. die Zahl der Spätabtreibungen nicht verringern. Dieser Antrag ist nur ein Scheingefecht. Der Lebensschutz ist Im Zusammenhang mit der Pränataldiagnostik sehe eine Frage des Gewissens. Daher muss der Fraktions- ich zunehmend die Gefahr, dass Schwangeren heutzu- zwang bei der Abstimmung über die Spätabtreibung tage nicht zuletzt auch aus wirtschaftlichen Gründen und nach unserer Überzeugung aufgehoben werden. häufig auch ohne eine ausreichende Aufklärung und Be- ratung über mögliche Konsequenzen eines so genannten (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Ina – in Anführungszeichen gesprochen – positiven Befun- Lenke [FDP]) des zu viele dieser Untersuchungen angeboten werden. Wenn es Ihnen tatsächlich Ernst damit ist, etwas ver- Wir wollen die Frauen daher ermutigen, nicht zwingend ändern zu wollen, dann bitte ich Sie, die Vorschläge der jede mögliche und verfügbare Pränataldiagnostik durch- (B) (D) Fachleute, die wir in unseren Antrag aufgenommen ha- führen zu lassen. Die Schwangere soll ihr Recht auf ben, aufzugreifen. Nur so ist es nach unserer Überzeu- Nichtwissen ausdrücklich in Anspruch nehmen. Das ist gung möglich, ungeborenes Leben – auch ungeborenes hier von mehreren entsprechend vertreten worden. Dies behindertes Leben – zu schützen und Frauen in größter kann sie aber nur, wenn sie durch eine professionelle Be- Not mehr zu helfen, als das bisher möglich war. ratung unterstützt wird. Hier sehen wir vor allen Dingen die Ärzteschaft in der Pflicht; denn obwohl seit 1992 ein (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Ina Anspruch auf Beratung nach § 2 des Schwangerschafts- Lenke [FDP]) konfliktgesetzes besteht, ist bisher noch kein ausreichen- des psychosoziales Beratungsangebot entwickelt wor- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: den. An dieser Stelle gebe ich allen Vorrednerinnen Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christel Humme. Recht. Die Opposition fordert in ihrem Antrag, dass die Ent- Christel Humme (SPD): scheidung über das Vorliegen einer medizinischen Indi- Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kollegin- kation – – nen! Lassen Sie mich noch einmal daran erinnern, wo- (Ina Lenke [FDP]: Wieso das denn? Die CDU/ rüber wir heute diskutieren. Wir diskutieren heute über CSU fordert das in ihrem Antrag, nicht die Op- die Situation von Frauen, die sich in einer äußerst position!) schwierigen Konfliktsituation befinden, von Frauen, die sich zwar ein Kind wünschen, aufgrund einer medizini- – Danke, Frau Lenke; Sie haben Recht. – Die CDU/CSU schen Indikation aber vor eine schwerwiegende Ent- – das wiederhole ich gerne – fordert in ihrem Antrag, scheidung gestellt werden. Sie werden von den Ereignis- sen häufig überrollt, weil die entsprechende Beratung (Ina Lenke [FDP]: So weit sind wir noch fehlt. nicht! – Markus Grübel [CDU/CSU]: Noch nicht!) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Hat das hier irgendeiner nicht gesagt?) dass die Entscheidung über das Vorliegen einer medizi- nischen Indikation dem behandelnden Arzt entzogen Diese Frauen haben ein Recht auf unsere Unterstützung. werden soll. Sie stehen für uns im Vordergrund. Werdendes Leben kann nicht gegen sie, sondern nur gemeinsam mit den (Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Das ist ja ha- Frauen geschützt werden. nebüchen, was hier behauptet wird!) 12624 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Christel Humme (A) – Hören Sie zu, Sie müssen Ihren Antrag genauer Um es auf den Punkt zu bringen: Der Antrag der CDU/ (C) lesen. – CSU ist nicht zielführend, weder im Hinblick auf die Ver- meidung von Spätabtreibungen noch im Hinblick auf nö- (Lachen bei der CDU/CSU – Wolfgang Zöller tige Hilfestellungen für die Frauen. Deshalb sagen wir: [CDU/CSU]: Sie machen beim Lesen Fehler!) Die derzeitigen gesetzlichen Regelungen sind ausrei- Dabei soll die Schwangere verpflichtet werden, sich der chend und sorgen für die notwendige Rechtssicherheit. Entscheidung eines Ärztekollegiums zu beugen. Die Was Frauen in ihrer sehr persönlichen Notlage tatsächlich Konfliktsituation der Frau ist im jeweiligen Fall tragisch brauchen, ist ein besseres Beratungs- und Hilfsangebot, genug. Ich glaube nicht, dass die Entscheidung eines sol- wie wir es in unserem Antrag festschreiben. chen Kollegiums für die betroffene Frau eine Hilfe dar- Schönen Dank. stellen würde. Im Gegenteil: Sie wird eher das Gefühl haben, einer entwürdigenden Vorführsituation ohnmäch- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tig ausgeliefert zu sein. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Vorführsitua- tion! Da muss man doch böswillig denken!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Nicolette Kressl. Wir dagegen fordern, dass die Ärzteschaft dafür Sorge trägt, dass durch den behandelnden Arzt Fachleute (Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Um Gottes anderer Disziplinen herangezogen werden, wenn die Be- willen, jetzt wird es noch schlimmer!) hinderung des Ungeborenen diagnostiziert wurde. Das ist im Übrigen in vielen Fällen schon heute der Fall. Dies Nicolette Kressl (SPD): noch mehr in das Bewusstsein der Ärzteschaft hineinzu- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- tragen ist unser Anliegen. gen! Bei der heutigen Diskussion um neue oder ergän- zende Regelungen bei späten Schwangerschaftsabbrü- Der Antrag der CDU/CSU enthält den Vorschlag, chen, wie Sie sie fordern, können wir uns diesem Thema § 218 a Abs. 2 Strafgesetzbuch um die Formulierung zu natürlich auf unterschiedliche Weise nähern, wie dies erweitern, dass ein embryopathischer Befund allein kein alle Vorrednerinnen und der Vorredner heute getan ha- Grund für den Abbruch einer Schwangerschaft darstellt. ben. Sie können dies mit moralischen und ethischen As- Eine solche Klarstellung ist aber unserer Ansicht nach pekten, medizinischen und statistischen, bevölkerungs- nicht erforderlich; denn eine diagnostizierte Behinde- politischen oder kulturellen Argumenten tun. Aber ich rung des Ungeborenen stellt bereits heute keinen Grund bin ganz sicher: Zum Schluss sind es meistens ganz sub- für einen Schwangerschaftsabbruch dar. Eine Ergänzung jektive und emotionale Gründe, die unsere grundsätzli- (B) des § 218 a Strafgesetzbuch ist damit völlig überflüssig. che Einstellung zu diesem Thema prägen. Es geht gar (D) Genauso überflüssig ist die von Ihnen gewollte Prü- nicht vorrangig – das darf es auch nicht – um die Frage, fung des Haftungsrechts für Ärzte bei Diagnoseirrtü- ob Schwangerschaftsabbrüche auch in Zukunft möglich mern. Im Klartext heißt das nämlich, Sie fordern eine sein sollen und müssen, sondern – da gebe ich Frau Einengung der Haftung auf Fälle von grober Fahrlässig- Lenke Recht – es muss darum gehen, wie werdende keit. Ich frage Sie: Wollen Sie, dass ausgerechnet gegen- Mütter und Väter in Konfliktsituationen eine bestmögli- über dem ungeborenen Leben eine geringere Sorgfalts- che Betreuung und Beratung erfahren können. Deshalb pflicht der Ärzte gelten soll? Das kann doch nicht Ihr müssen wir uns diesem Thema aus der Sicht der Betrof- Ernst sein. Wir sind der Meinung, dass die geltende Re- fenen nähern und uns fragen, was werdende Mütter und gelung der allgemeinen Arzthaftung im Interesse der be- Väter brauchen. troffenen Frauen beibehalten werden muss. Sie dürfen Sie brauchen eine verbesserte und zielgenauere ärztli- anderen Patienten gegenüber nicht benachteiligt werden. che und psychosoziale Beratung. Darin sind wir uns ei- (Beifall bei der SPD) nig. Aber die Frage ist, auf welchem Weg wir diese er- reichen. Wir sind davon überzeugt, dass eine Schließlich fordern Sie eine deutliche Ausweitung Pflichtberatung, bei der zwischen den Zeilen immer der statistischen Erfassungsmerkmale für die Ab- das Misstrauen gegenüber den Eltern mitschwingen bruchstatistik, Frau Eichhorn. kann, nicht der richtige Weg ist. (Ina Lenke [FDP]: Das haben die (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Schauen Sie Ärzte gefordert!) einmal, was es an Pflichtberatungen gibt!) Ihrer Forderung stehen erhebliche datenschutzrechtliche Ich will ausdrücklich niemandem von Ihnen dieses Miss- Bedenken gegenüber; das wissen wir. Die Quote aller trauen unterstellen, aber ich will Ihnen deutlich machen, medizinisch indizierten Abbrüche liegt bei knapp dass wir die Gefahr, dass Misstrauen zwischen den Zei- 3 Prozent. Spätabtreibungen machen in der Gesamtzahl len mitschwingen kann, vermeiden wollen. aller Schwangerschaftsabbrüche einen Anteil von gerade (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Außer Ihnen einmal 0,1 Prozent aus. So ist es leicht möglich, aus der sieht niemand dieses Misstrauen!) Statistik Rückschlüsse auf die betroffenen Personen zu ziehen. Das können wir nicht zulassen. Der Schutz der Frauen ist notwendig. Das will ich aus- drücklich für uns betonen. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Datenschutz vor Lebensschutz!) (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12625

Nicolette Kressl (A) Sie wecken mit der Überschrift Ihres Antrags die Drucksache 15/4148 soll an dieselben Ausschüsse über- (C) Hoffnung, echte Hilfen für Eltern und Kinder zu vermit- wiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist teln. In der Passage Ihres Antrags über die Haftung ha- der Fall. Damit ist die Überweisung so beschlossen. ben Sie fast wörtlich die Forderungen der Gynäkologen Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a bis 26 d sowie übernommen. Es geht Ihnen eher um die Hilfen für diese Ärzte. Das können wir nicht mittragen. Wir können nicht die Zusatzpunkte 1 a und 1 b auf: mittragen, die Haftung in solchen Fällen gegenüber der 26 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Haftung in sämtlichen anderen Krankheitsfällen zu be- gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur schränken. Das ist für uns nicht akzeptabel. Das will ich Änderung der Bundes –Tierärzteordnung hier ganz deutlich machen. – Drucksache 15/4023 – (Beifall bei der SPD) Überweisungsvorschlag: Ich frage mich, welch negatives Bild Sie von der Ärz- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und teschaft haben, wenn Sie in Ihrem Antrag schreiben, Landwirtschaft dass in „der ärztlichen Praxis die Tendenz besteht, im Zweifel einen Schwangerschaftsabbruch zu empfehlen“. b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die (Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Das ist eine Verwendung elektronischer Kommunikations- Formulierung der Deutschen Gesellschaft für formen in der Justiz (Justizkommunikations- Gynäkologie und Geburtshilfe e. V.!) gesetz – JKomG) Sie können darauf doch nicht mit einer Beschränkung – Drucksache 15/4067 – der Haftung reagieren. Damit stellen Sie das Problem Überweisungsvorschlag: auf den Kopf und bieten falsche Lösungen an. Rechtsausschuss (Beifall bei der SPD) c) Erste Beratung des Antrags der Fraktionen der Ich bitte Sie, noch einmal Ihren Antrag daraufhin zu SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN überdenken, wie dieses Gremium beraten soll, das Sie Sicherheit an unbeschrankten Bahnübergän- vorschreiben. Frau Böhmer sagt in Interviews, Frauen gen sofort verbessern müssten nicht vor dieses Gremium treten. – Drucksache 15/4150 – (Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Richtig! – Maria Eichhorn [CDU/CSU]: So ist es!) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) (B) Das wäre ein richtiger Ansatz. In Ihrem Antrag ist das Rechtsausschuss (D) offen. Ihre Formulierung kann völlig frei interpretiert d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit werden. Ohne eine Klarstellung ist das für uns indiskuta- Homburger, Rainer Brüderle, Gudrun Kopp, wei- bel. terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Sie beziehen sich auf Sachverständige und nennen da- Bürokratieabbau und mehr Bürgernähe bei vor allem die Gynäkologen. durch Wettbewerb im Schornsteinfegerwesen (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sind das keine – Drucksache 15/3106 – Sachverständigen?) Überweisungsvorschlag: Es gibt Sachverständige in diesem Bereich, die jeden Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Tag mit solchen Situationen zu tun haben: Das sind die Innenausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Beraterinnen und Berater von Pro Familia. Sie müssten Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union deren Brief auf dem Tisch haben, in dem sie uns drin- gend bitten, die Beratungs- und Betreuungssituation der ZP 1a)Erste Beratung des von den Abgeordneten Frauen und Väter zu verbessern, dieses aber nicht durch Joachim Stünker, Wolfgang Spanier, Hermann Regelungen zur Verschärfung der medizinischen Indika- Bachmaier, weiteren Abgeordneten und der Frak- tion oder durch Beschränkungen bei der Haftung zu tun. tion der SPD sowie den Abgeordneten Jerzy In der Anhörung werden wir uns mit diesen Argumenten Montag, Franziska Eichstädt-Bohlig, Volker auseinander setzen. Ich hoffe, dass wir gemeinsam einen Beck (Köln), weiteren Abgeordneten und der sinnvollen, die Würde der Frauen achtenden Weg finden. Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- Vielen Dank. derung des Einführungsgesetzes zum Bürger- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten lichen Gesetzbuche des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) – Drucksache 15/4134 – Überweisungsvorschlag: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Rechtsausschuss (f) Ich schließe damit die Aussprache. Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Drucksache 15/3948 an die in der Tagesordnung aufge- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einfüh- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf rung einer Strategischen Umweltprüfung und 12626 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) zur Umsetzung der Richtlinie 2001/42/EG Gesetzes zur Änderung des Transfusionsgeset- (C) (SUPG) zes und arzneimittelrechtlicher Vorschriften – Drucksache 15/4119 – – Drucksache 15/3593 – Überweisungsvorschlag: (Erste Beratung 126. Sitzung) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Landwirtschaft Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ses für Gesundheit und Soziale Sicherung (13. Ausschuss) Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- ten Verfahren ohne Debatte. – Drucksache 15/4174 – Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an Berichterstattung: die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu Abgeordnete Dr. Marlies Volkmer überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 15/4150 soll Der Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung zusätzlich an den Ausschuss für Tourismus überwiesen empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. che 15/4174, den Gesetzentwurf in der Ausschussfas- Dann sind die Überweisungen so beschlossen. sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 c sowie entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um die Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf. Es handelt sich um die das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aus- Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stim- sprache vorgesehen ist. men von SPD, Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung von CDU/CSU und FDP angenommen worden. Tagesordnungspunkt 27 a: Dritte Beratung Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben, zu dem Dritten Zusatzprotokoll vom 4. Juni wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. – Wer 2004 zum Abkommen vom 16. Juni 1959 zwi- stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzent- schen der Bundesrepublik Deutschland und wurf ist in dritter Lesung mit den Stimmen von SPD und dem Königreich der Niederlande zur Vermei- Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung von CDU/CSU dung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete und FDP angenommen worden. der Steuern vom Einkommen und vom Vermö- gen sowie verschiedener sonstiger Steuern und Tagesordnungspunkt 27 c: (B) (D) zur Regelung anderer Fragen auf steuerlichem Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- Gebiete nen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE – Drucksache 15/4026 – GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung wohnungsrechtlicher (Erste Beratung 135. Sitzung) Vorschriften Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- – Drucksache 15/3943 – schusses (7. Ausschuss) (Erste Beratung 132. Sitzung) – Drucksache 15/4166 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Berichterstattung: ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Abgeordnete Gabriele Frechen (14. Ausschuss) Leo Dautzenberg Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- – Drucksache 15/4152 – empfehlung auf Drucksache 15/4166, den Gesetzent- Berichterstattung: wurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz- Abgeordneter entwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gibt es Gegenstimmen oder Enthaltungen? – Der Gesetzent- Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswe- wurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenom- sen empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- men worden. sache 15/4152, den Gesetzentwurf in der Ausschussfas- sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Dritte Beratung Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wol- und Schlussabstimmung. Bitte erheben Sie sich, wenn len, um das Handzeichen. – Stimmt jemand dagegen? – Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. – Gibt es Ge- Gibt es Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in genstimmen oder Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist zweiter Beratung einstimmig angenommen worden. damit in dritter Lesung einstimmig angenommen wor- Dritte Beratung den. und Schlussabstimmung. Erheben Sie sich bitte, wenn Tagesordnungspunkt 27 b: Sie dem Gesetzentwurf in der dritten Beratung zustim- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- men wollen. – Gibt es Gegenstimmen oder Enthaltun- gierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten gen? – Das ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist da- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12627

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) mit auch in dritter Lesung einstimmig angenommen Bündnis 90/Die Grünen und FDP angenommen worden, (C) worden. während sich die CDU/CSU enthalten hat. Zusatzpunkt 2 a: Dritte Beratung Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben, gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. – Ge- zur Änderung des Gräbergesetzes genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist auch in dritter Beratung mit den Stimmen von SPD, – Drucksache 15/3753 – Bündnis 90/Die Grünen und FDP bei Enthaltung der (Erste Beratung 129. Sitzung) CDU/CSU angenommen worden. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf: ses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Aktuelle Stunde (12. Ausschuss) auf Verlangen der Fraktionen der SPD und des – Drucksache 15/4170 – BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Berichterstattung: Bedeutung des Sparkassensektors für die Mit- Abgeordnete Angelika Graf (Rosenheim) telstandsfinanzierung vor dem Hintergrund Thomas Dörflinger von Forderungen nach Privatisierung der Irmingard Schewe-Gerigk Sparkassen Ina Lenke Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Ju- der Abgeordnete Hans-Ulrich Krüger. gend empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/4170, den Gesetzentwurf in der Aus- Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD): schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen und Kollegen! Gemäß § 2 des Sparkassengesetzes wollen, um das Handzeichen. – Stimmt jemand dage- Schleswig-Holstein haben die dortigen Sparkassen die gen? – Gibt es Enthaltungen? – Einigkeit in der Gräber- Aufgabe, die angemessene und ausreichende Versorgung frage in zweiter Beratung. aller Bevölkerungskreise, insbesondere der mittelständi- Dritte Beratung schen Wirtschaft, mit geld- und kreditwirtschaftlichen Leistungen auch in der Fläche sicherzustellen. Dadurch (B) und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem unterstützen sie die Aufgabenerfüllung der Kommunen (D) Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – im wirtschaftlichen, regionalpolitischen, sozialen und Gibt es Gegenstimmen? – Gibt es Enthaltungen? – Der kulturellen Bereich. Das gilt auch für Nordrhein-Westfa- Gesetzentwurf ist in der dritten Lesung einstimmig ange- len, Herr Dautzenberg. nommen worden. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Jawohl!) Zusatzpunkt 2 b: Gemeinwohlorientierung auf der einen Seite, Mittel- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- standsförderung auf der anderen – das sind die zwei Fun- nen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE damente, auf denen die Sparkassen in Schleswig-Hol- GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Geset- stein wie auch in der gesamten Bundesrepublik zes zur Ergänzung des Entschädigungsgeset- aufbauen. zes (Entschädigungsrechtsänderungsgesetz – EntschRErgG) (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!) – Drucksache 15/3944 – Dies funktioniert so hervorragend, dass Sparkassen mit Marktanteilen von 50, 60 oder sogar 70 Prozent – so- (Erste Beratung 132. Sitzung) wohl was ihre Privatkunden als auch die Firmenkunden Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- angeht – keine Ausnahme, sondern eher die Regel sind. schusses (7. Ausschuss) Die Gründe für diese Erfolgsstory liegen auf der – Drucksache 15/4169 – Hand. Sie liegen zum einen in der dezentralen öffent- lich-rechtlichen Struktur der Sparkassen, zum anderen in Berichterstattung: der Kenntnis der regionalen und lokalen Belange. Die- Abgeordnete Stephan Hilsberg sen in Deutschland bewährten Standard wollen nun die Manfred Kolbe FDP und CDU/CSU in Schleswig-Holstein aufweichen; denn sie beabsichtigen die Privatisierung der Sparkas- Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- sen. Wohin dies führen kann, zeigt das Beispiel Groß- empfehlung auf Drucksache 15/4169, den Gesetzent- britannien. Mehr als 3 Millionen Briten haben kein wurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte Konto. In Großbritannien haben die Kirchen die Funk- diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas- tionen von Finanzdienstleistern übernehmen müssen. sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegen- stimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist da- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Bei der Kol- mit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, lekte oder was?) 12628 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Dr. Hans-Ulrich Krüger (A) Noch schlimmer ist es in Amerika, wo dubiose Geld- täten! Nehmen Sie die Bürgerinnen und Bürger in ganz (C) anbieter Wochen- oder Monatschecks von Menschen Deutschland, das heißt auch in Schleswig-Holstein, im ohne Konto kaufen und für diese Leistung exorbitante Saarland und insbesondere in Stralsund, ernst! Die Bür- Kosten in Rechnung stellen. Solche Zustände wollen wir ger wollen keine Privatisierung der Sparkassen, weil sie in Deutschland nicht haben, Herr Carstensen. das, was Sie vorhaben, als untauglichen und aussichtslo- sen Versuch ansehen! (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Last, not least: Hören Sie auf den Deutschen Spar- kassen- und Giroverband, der deutlich davor warnt, das Es macht keinen Sinn, durch Privatisierung der Spar- Ende der öffentlich-rechtlichen Sparkassen mit der Um- kassen den erfolgreichsten Anbieter auf dem heimischen setzung Ihrer Vorschläge zur Privatisierung einzuläuten. Markt aus dem Rennen zu nehmen. Die Interessen des Mittelstandes und der Kunden an einer zufrieden stellen- Was wir brauchen, sind solide, kundennahe, effektive den Versorgung mit Finanzdienstleistungen vor Ort wür- und potente Finanzdienstleister, wie wir sie in ganz den auf der Strecke bleiben. Eine Großbank, die eine Deutschland und insbesondere in Schleswig-Holstein Sparkasse übernimmt, wird – insbesondere auf dem haben. Die kommunale Familie kommt in diesem Fall Lande – nicht deren Filialnetz fortführen. Damit geht die ohne die Privatwirtschaft sehr gut aus. enge Bindung zu den Kunden vor Ort verloren. Im Mit- Ich danke Ihnen. telpunkt stehen dann nicht mehr die Interessen der Kun- den, sondern die der Bank. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Die Bedeutung der Sparkassen für die Finanzierung des Mittelstandes ist bekannt. Ich verweise hierzu nur auf eine Umfrage der Arbeitsgemeinschaft Selbstständi- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: ger Unternehmer vom November 2003. In der Mittel- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Otto Bernhardt. standsfinanzierung sind die Sparkassen als klare Sieger gegenüber den Privatbanken hervorgegangen. Dies gilt Otto Bernhardt (CDU/CSU): sowohl hinsichtlich der Mittelstandsorientierung als Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich auch hinsichtlich der Betreuungsqualität für die kleinen möchte gleich zu Beginn meiner Rede das wiederholen, oder mittleren Unternehmen, die mehr als 90 Prozent al- was ich von dieser Stelle aus sicherlich schon ein halbes ler deutschen Unternehmen ausmachen, 50 Prozent der Dutzend Mal gesagt habe: Die CDU/CSU-Fraktion steht Bruttoinvestitionen tätigen und 70 Prozent aller Arbeit- hinter den Sparkassen. Für uns sind die Sparkassen ein nehmer beschäftigen. unverzichtbarer Bestandteil des deutschen Bankenwe- (B) (D) Diejenigen von Ihnen, die meinen, bei einem wie in sens. Schleswig-Holstein beabsichtigten Privatverkauf würden (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nur bis zu 49 Prozent an Kunden, Mitarbeitern und Insti- neten der FDP) tutionen veräußert, erkennen nicht, dass im Aktienrecht zum einen kein Platz für Gemeinwohlorientierung ist. Niemand von uns will die Sparkassen gefährden oder Die Gewinnerzielung im Interesse der Aktionäre ist das zerstören. Nein, wir werden alles tun, damit die Sparkas- dominierende Unternehmensziel. Auch ein Minderheits- sen auch morgen so erfolgreich arbeiten können wie aktionär hat Anspruch darauf, dass sein investiertes Ka- heute. pital den höchstmöglichen Gewinn abwirft. Der Vorstand (Beifall bei der CDU/CSU) einer AG handelt daher unter Umständen pflichtwidrig, wenn die AG durch soziale Kosten, zum Beispiel durch Als jemand, der sich beruflich nach wie vor mit der Sponsoring, belastet wird. Zum anderen wird eine Rege- Mittelstandsfinanzierung beschäftigt, erlaube ich mir lung, die eine Eingrenzung des Verkaufs auf nur wenige den Zusatz: Ohne die Sparkassen und die Genossen- Begünstigte vorsieht, mit EU-Recht nicht vereinbar sein schaftsbanken wäre die Finanzierung des Mittelstandes und wird aus Brüssel nur lädiert zurückkommen. in Deutschland mit Sicherheit nicht gewährleistet. Haben Sie in Schleswig-Holstein und überall dort, wo (Beifall bei der CDU/CSU) Privatisierungsüberlegungen verfolgt werden, den Mut, Die konkrete Gestaltung des Sparkassenrechtes ist Ihren Bürgermeistern vor Ort zu sagen, was es heißt, nicht Angelegenheit dieses Hauses; das ist gut so. Das wenn die Sparkassen nach erfolgter Privatisierung die haben vielmehr die Bundesländer zu regeln. Schon heute Aufgaben der Kommunen nicht mehr unterstützen kön- gibt es sehr unterschiedliche Bestimmungen. Einige ge- nen! Alleine im Jahre 2001 haben die deutschen Spar- statten stille Beteiligungen, andere gestatten sogar Ge- kassen hierfür über 270 Millionen Euro ausgegeben. Sie nussscheinanteile. sind damit in Deutschland der größte nicht staatliche Förderer sozialer und kultureller Belange. Sagen Sie den (Zurufe von der CDU/CSU: AG!) aktuell Betroffenen, den 10 000 Mitarbeitern der Spar- Nun wird in Schleswig-Holstein über einen weiteren kassen in Schleswig-Holstein, wie viele von ihnen im Schritt diskutiert. Herr Dr. Krüger, Ihre Ausführungen Falle einer Privatisierung arbeitslos werden! Sagen Sie haben gezeigt, dass Sie die Situation in Schleswig-Hol- den Bürgerinnen und Bürgern, wo sie die nächste geöff- stein nicht kennen. nete Filiale finden werden, wenn ihre Sparkasse eines Tages privatisiert ist! Erkennen Sie doch bitte die Reali- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12629

Otto Bernhardt (A) Dort ist gerade die vierte Sparkasse dabei, eine AG zu Lassen Sie mich abschließend Folgendes feststellen: (C) werden. Die drei, die schon eine AG sind, leisten hervor- Sie von Rot-Grün sollten sich keine Sorgen um die Spar- ragende Arbeit, so auch in meiner Heimatstadt Rends- kassen machen. Die Sparkassen können sich auf uns ver- burg. lassen. Sie sollten eine bessere Mittelstandspolitik ma- chen. Wenn Sie das tun, dann werden wir in Deutschland (Dr. Hans-Ulrich Krüger [SPD]: Und warum manche Probleme nicht haben. beabsichtigen Sie dann, ein neues Gesetz zu verabschieden?) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Was CDU und FDP in Schleswig-Holstein in ihrem Regierungsprogramm festgelegt haben, fordern die Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Fraktionen dieser beiden Parteien schon lange im dorti- Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christine Scheel. gen Landtag. Das ist also überhaupt nichts Neues. Die Aufregung einiger Verbandsfunktionäre kann ich daher Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nicht verstehen. Aber noch fehlt uns die Mehrheit, um Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Herr das, was wir in unseren Regierungsprogrammen festge- Bernhardt, ich schätze Ihre sachliche Art sehr. legt haben, durchzusetzen. Ich sage ganz klar: Dabei geht es um ein Angebot an die Träger. Die Entscheidung, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ob man dieses Angebot nutzt – das unterscheidet uns Sie haben hier so getan, als ob dem deutschen Mittel- wahrscheinlich –, haben die Kommunalpolitiker zu tref- stand 2 Milliarden Euro verloren gingen. Das ist schlicht fen. Wir von der Union haben volles Vertrauen, dass und ergreifend falsch. Kommunalpolitiker vernünftig entscheiden. (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Nein! Ihr (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) baut die Staatsbanken auf!) Sie und auch einige Verbandsfunktionäre scheinen Angst Es ist Unsinn; denn das ERP-Sondervermögen bleibt na- vor den Kommunalpolitikern zu haben. türlich zur Förderung des Mittelstandes erhalten. Das ist Ich sage von dieser Stelle aus sehr deutlich: CDU und doch völlig klar. Daran will doch niemand kratzen. FDP in Schleswig-Holstein befinden sich in guter Ge- (Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Das wären 2 Milliar- sellschaft. Das, was denen vorschwebt, fordern der Inter- den zusätzlicher Finanzierungsmittel!) nationale Währungsfonds, die EU und auch die Deut- sche Bundesbank seit langem. Ich wäre Ihnen wirklich sehr dankbar, hier nicht solche Gerüchte zu verbreiten, die mit der Wahrheit über die (B) (Jürgen Koppelin [FDP]: So ist es!) Förderung des Mittelstandes wirklich nichts zu tun ha- (D) Zurück zur Mittelstandsförderung. Dass weite Teile ben. des Mittelstandes in Deutschland heute gravierende Pro- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bleme haben, hat nichts mit den Banken zu tun. Das ist und bei der SPD) – um es deutlich zu sagen – das Ergebnis Ihrer schlech- ten Mittelstandspolitik. Wir hatten eine sehr unergiebige Diskussion über den möglichen Verkauf der Sparkasse in Stralsund. Wir hat- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ten Auseinandersetzungen über das Thema Sparkassen Sie haben zwar einen Mittelstandsbeauftragten; während des Wahlkampfes im Saarland. Wie wir alle wissen, wird diese Diskussion jetzt auch in Schles- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wo ist der? – wig-Holstein geführt. Herr Bernhardt, ich glaube Ihnen Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Wo ist der schon, dass Sie der Auffassung sind, dass die Sparkassen Mittelstandsbeauftragte?) eine sehr wichtige Funktion in unserer Bankenlandschaft einnehmen. aber die Politik, die Sie für den Mittelstand machen, ist – vorsichtig ausgedrückt; ich neige zur Sachlichkeit – (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ äußerst schlecht.Heute müssen jeden Tag mehr als CSU]: Das ist unser Wahlprogramm! Herzli- 100 mittelständische Firmen Konkurs anmelden. Das ist chen Dank, dass Sie das sagen!) ein Ergebnis Ihrer Mittelstandspolitik und hat nichts mit den Banken zu tun. Ich sehe aber auch, dass es in der CDU/CSU viele, aber noch mehr in der FDP gibt, die der Auffassung sind, dass (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die privaten Großbanken mehr Unterstützung brauchen. Wie Sie zum Mittelstand wirklich stehen, das wird (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne durch eine neue Maßnahme der Regierung deutlich Kastner) – und Sie folgen der Regierung –: Man will jetzt 2 Mil- liarden Euro – das sind 20 Prozent – des ERP-Sonder- Wer die starke Wettbewerbsposition der Sparkassen vermögens, des wichtigsten Instruments zur Förderung auf dem deutschen Bankenmarkt – sie haben eine solche des Mittelstandes, nehmen, um Haushaltslöcher zu stop- Position – zugunsten privater Großbanken verändern fen. Steckte man diese 2 Milliarden Euro in die Mittel- will, muss ehrlicherweise sagen, dass das Management standsförderung, machte man eine vernünftige Politik. mehrerer Großbanken in Deutschland seine Aufgaben offensichtlich nicht gelöst hat. Erst Ende September hat (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die Deutsche Bank den Heimatmarkt wiederentdeckt 12630 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Christine Scheel (A) und einen verantwortlichen Deutschland-Chef ernannt. 60 Prozent aller dieser Kredite, glaube ich, gehen durch (C) Dies ist eine begrüßenswerte Reaktion auf die vielfältige die Sparkasse. Das ist gut so. Dabei soll es auch bleiben. Kritik der mittelständischen Betriebe am Vernachlässi- Danke schön. gen des Kreditgeschäftes auf dem deutschen Binnen- markt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Auch die Dresdner Bank und die Commerzbank ha- ben das Management neu ausgerichtet. Aber das ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass die privaten Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Großbanken im Geschäftsjahr 2003 einen Verlust von Das Wort hat der Kollege Jürgen Koppelin, FDP- 6,8 Milliarden Euro zu verkraften hatten. Der jüngste Fraktion. Quartalsbericht der Hypo-Vereinsbank ist ebenfalls kein Ruhmesblatt. Jürgen Koppelin (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wissen auch, dass die Banken viele Fehlinvesti- Ich bin der Koalition außerordentlich dankbar dafür, tionen mitfinanziert haben und dass sie jetzt mehr oder dass sie diese Aktuelle Stunde beantragt hat; weniger hohe Wertberichtigungen vornehmen. Der Spar- kassenbereich der Deka-Fonds – das muss man ehr- (Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/ licherweise dazusagen – ist ebenfalls betroffen. Jedes CSU]) Management hat vor seiner eigenen Tür zu kehren. denn so kann man doch einiges klarstellen. Gerade an Wenn man sich die finanzielle Situation der Sparkas- Ihrem Beitrag hat man gemerkt, dass Sie von der Sache sen sowie der Volks- und Raiffeisenbanken anschaut, er- anscheinend überhaupt keine Ahnung haben; ich werde fährt man, dass für das Jahr 2003 die Sparkassen nachher auf Schleswig-Holstein zurückkommen. 1,75 Milliarden Euro und die Volks- und Raiffeisenban- (Beifall bei der FDP) ken 1,41 Milliarden Euro Gewinn verbuchen konnten. Die Kollegin Scheel hat gar nicht über die Sparkassen (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Geht jetzt der gesprochen. Sie hat Pfeile in Richtung Großbanken ab- Finanzmarkt hoch oder runter?) geschossen, statt hier einmal darüber zu sprechen, wie Das war ihnen aufgrund ihrer starken Marktstellung in wir die Sparkassen stärken können. Hier geht es doch Deutschland, aber auch aufgrund einer soliden Anlage- um die Stärkung der Sparkassen und um nichts anderes. politik – das muss man natürlich sehen – möglich. Die Länder müssen sich um das Thema kümmern. In- sofern wundere ich mich dann doch darüber, dass die (B) Ich halte es für völlig richtig, dass wir in Deutschland (D) das Drei-Säulen-Modell von privaten Großbanken, Spar- Koalition diese Aktuelle Stunde beantragt hat. kassen und Volksbanken haben. Ich beginne mit einem Zitat aus einer Sitzung des (Zurufe von der CDU/CSU: Wir auch!) Schleswig-Holsteinischen Landtags in dieser Woche. Der Wirtschaftsminister des Landes hat gesagt: Rund die Wir sind damit sehr gut gefahren, weil dieses Modell Hälfte der kleinen und mittleren Betriebe kämpft mit Fi- letztlich einen wirklich starken und funktionsfähigen nanzierungsproblemen. – Warum? Unter anderem auch Wettbewerb sicherstellt. deshalb, weil die Sparkassen nicht helfen können, weil Natürlich befinden sich die Sparkassen und die Lan- ihr Kapital zu gering ist. desbanken durch das Auslaufen der Regelungen zur An- Wir wollen die Sparkassen stärken. Der Vorsitzende staltslast und zur Gewährträgerhaftung in einem Um- der FDP-Fraktion im Schleswig-Holsteinischen Land- strukturierungsprozess; das bestreitet niemand. Aber wir tag, , hat sehr richtig gesagt: Wir wol- meinen, dass es völlig unangebracht ist, Privatbanken zu len den Sparkassen helfen, über private öffentliche Be- ermöglichen, mittels regionaler Aufkäufe einzelner teiligungen mehr Eigenkapital zu erhalten, um den Sparkassen einen verstärkten örtlichen Marktanteil zu Mittelstand zu fördern. – Darum geht es. Das ist unsere erzielen. Zielsetzung. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: In welchem (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Beschluss steht das?) der CDU/CSU) Wettbewerb verlangt Kostenkonkurrenz, nicht Auf- Nun können wir uns darüber unterhalten, ob das der kaufstrategien. richtige Weg ist; vielleicht haben Sie andere Vorschläge. Wir wollen also die Sparkassen stärken. Wir sind der Meinung, dass die Position, die die Spar- kassen mit ihrer ökonomischen Kraft insgesamt haben, (Zuruf von der SPD) gut ist, und zwar auch für den europäischen Binnen- Ihnen soll es möglich sein, zusätzlich Kapitalgeber bis markt. Sie sind mit ihrer Finanzierung gerade für kleine zu einer Grenze von 49 Prozent hereinzunehmen. und mittelständische Betriebe – darauf hat Herr Bernhardt dankenswerterweise schon hingewiesen; die Da gerade dieser Zuruf kam, will ich sagen: Ich weiß Sparkassen sind da wirklich sehr engagiert – gut aufge- gar nicht, warum Sie uns beschimpfen, und zwar auch in stellt. Das beweist übrigens auch der hohe Anteil der Schleswig-Holstein. Wir von der FDP sind da in aller- KfW-Kredite, die über die Sparkassen geleitet werden. bester Gesellschaft. Ich will einmal zitieren, was Karl Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12631

Jürgen Koppelin (A) Otto Pöhl, immerhin Mitglied der Sozialdemokraten, in keine Ahnung. Nehmen wir einmal den Kreis, in dem ich (C) diesem Jahr in der „Wirtschaftswoche“ gesagt hat: wohne, nämlich den Kreis Segeberg. „Dennoch leuchtet es mir nicht ein, warum eine Kom- mune eine Bank besitzen muss. Mittelstandskredite kann (Zuruf des Abg. Ludwig Stiegler [SPD]) auch eine privatisierte Sparkasse effizient vergeben. … Die Kreissparkasse dort hat – hören Sie zu, Kollege Die Politik ist noch nicht soweit. Das ist ein weiterer Stiegler – so eine Totalpleite hingelegt, dass sie sich jetzt Grund, warum sich das deutsche Bankensystem so aus der Fläche völlig zurückzieht. Selbst in Orten mit schwerfällig ändert.“ 3 000 Einwohnern gibt es keine Kreissparkasse mehr. (Ludwig Stiegler [SPD]: Wir sind auch nicht (Zuruf von der SPD: War bestimmt ein FDP- so weit! Gott sei Dank!) Vorstand!) Herr Koch-Weser, Staatssekretär im Finanzministe- Wissen Sie, wie sie gerettet wurde? Sie ist dadurch ge- rium, sagt – das alles ist nachzulesen –: rettet worden, dass der Kreis mit Bürgschaften ein- sprang. Dem stimmte die CDU zu – ich will das den (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist der, Kolleginnen und Kollegen von der CDU nicht vorwer- der den Stabilitätspakt verändern will!) fen –, Sozialdemokraten, Grüne und FDP stimmten da- gegen, weil Vermögen des Kreises für die Kreisspar- Um vermehrt Fusionen in allen drei Säulen und zwi- kasse verbürgt werden musste. Dabei handelt es sich um schen den Säulen zu ermöglichen, müsste, soweit dies nichts anderes als um eine Wettbewerbsverzerrung bzw. von den Eigentümern gewünscht würde – das unterstüt- eine Benachteiligung der anderen Banken. zen wir von der FDP –, im Bereich der öffentlich-rechtli- chen Banken über alternative Rechtsformen nachgedacht (Zurufe von der SPD) werden. Ich weiß, dass sich die CDU dort viele Sorgen um die (Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört!) Kreissparkasse gemacht hat, und will ihr das auch nicht übel nehmen. Aber bei der Diskussion ging es schon Dann verweise ich, Kollegin Scheel, noch auf den heiß her. Erstaunlicherweise waren da SPD, Grüne und Monatsbericht der Bundesbank vom Dezember 2003; FDP auf einer Seite. Hier aber verhalten Sie sich ganz auch Sie lesen ja hoffentlich so etwas. Da hat die Deut- anders. sche Bundesbank genau die gleiche Auffassung vertre- ten. Die FDP befindet sich also in allerbester Gesell- Nun komme ich zu einem weiteren Beispiel: Es ist in schaft. meinen Augen ein Skandal, dass der Sparkassen- und Giroverband in Schleswig-Holstein 500 000 Euro ge- (B) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nommen hat, um eine Kampagne gegen die FDP und die (D) der CDU/CSU – Zuruf von der FDP: Wie im- CDU zu führen. mer!) (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ Wir wollen das daher auch umsetzen. CSU]: Das waren nicht die Schleswig-Holstei- ner!) Nun gibt es neben den öffentlich-rechtlich organisier- ten Sparkassen die privatisierten Sparkassen. Erstaunli- Mit Geldern der Kunden führen sie eine Kampagne. Ich cherweise sagen Vertreter der privatisierten Sparkassen würde gerne einmal wissen, ob eine öffentlich-rechtliche in Schleswig-Holstein, die neue Rechtsform habe ihnen Anstalt für 500 000 Euro Kampagnen gegen Parteien sehr geholfen. Ich zitiere einmal, was der Vorstandsvor- führen darf. So viel Geld habe ich als Landesvorsitzen- sitzende der Sparkasse Lübeck sagt: Mit der neuen der der FDP im Wahlkampf nicht zur Verfügung. Da Rechtsform sind wir besser für die Anforderungen des werden Kunden angeschrieben und ganzseitige Anzei- zu erwartenden Wettbewerbes gerüstet. Ein Vertreter der gen geschaltet. Das geht nicht. Das ist nichts anderes als Sparkasse Bordesholm sagt: Für das Überleben sei es ein Verstoß gegen das Neutralitätsgebot, das für öffent- notwendig, sich in eine AG umzuwandeln. Ich könnte lich-rechtliche Körperschaften gilt. jetzt noch Aussagen von der Spar- und Leihkasse zu (Dirk Niebel [FDP]: Mit Spargroschen Wahl- Bredstedt zitieren, in denen man sich ebenfalls sehr posi- kampf machen! Eine Sauerei!) tiv geäußert hat, usw. Wollen Sie denn behaupten, dass all diese Aussagen falsch sind? Nein, diese Möglichkei- Nun noch Folgendes: Wenn Sie – das sage ich insbe- ten müssen eröffnet werden. Herr Kollege, kommen Sie sondere an Ihre Adresse, Frau Scheel – auf dem Stand- mir nicht mit Beispielen aus England, den USA oder punkt beharren – lassen Sie mich das etwas polemisch sonst woher. Bringen Sie mir doch lieber Beispiele aus sagen –, dass alle Sparkassen weiterhin öffentlich-recht- Ländern wie Rheinland-Pfalz und Bremen. Da wurde lich verfasst bleiben sollen, entgegne ich als Liberaler, genau das mit großem Erfolg gemacht. dass man dann die Spitzenfunktionäre auch nach den Ta- rifen des öffentlich-rechtlichen Dienstes bezahlen sollte. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Man sollte ehrlicherweise nämlich einmal sagen, dass der CDU/CSU – Dirk Niebel [FDP]: Wer re- die Leute teilweise ein höheres Gehalt als die Minister- giert noch einmal in Rheinland-Pfalz?) präsidentin des Landes Schleswig-Holstein haben. Nach dem, was Sie aus Schleswig-Holstein erzählt (Ludwig Stiegler [SPD]: Ein liberaler Neid- haben, muss ich Ihnen sagen, davon haben Sie wirklich hammel sind Sie!) 12632 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: In Wahrheit wollen Sie die Sparkassen den Kapitalmärk- (C) Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende. ten ausliefern und den Mittelstand dazu. (Zuruf von der SPD: Ist auch besser!) (Beifall bei der SPD – Otto Bernhardt [CDU/ CSU]: Sie sollten sich mal mit dem Thema be- Jürgen Koppelin (FDP): schäftigen und hier nicht nur Polemik bringen! Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin; mein letz- Keine Ahnung!) ter Satz: Ich glaube, dass die Sparkassen ohne Funktio- – Jeden Tag sind wir damit befasst. näre überleben könnten; ohne neues Kapital können sie nicht überleben. Wenn wir die Sparkassen nicht hätten, dann wäre der deutsche Mittelstand längst am Ende. Schauen wir uns Vielen Dank. doch einmal die famosen Großbanken an: Im Jahre 1999 haben sie noch 168 Milliarden Euro an den Mittelstand (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ausgeliehen, im Jahre 2004 sind es 131 Milliarden Euro. der CDU/CSU) Die Sparkassen haben ihre Kredite an den Mittelstand im gleichen Zeitraum von 344 auf 389 Milliarden Euro er- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: höht. Der Anteil der Großbanken ist von 19,2 auf Das Wort hat der Kollege Ludwig Stiegler, SPD-Frak- 14,4 Prozent gesunken, der der Sparkassen von 39,2 auf tion. 42,9 Prozent gestiegen. Während die Großbanken mit der Gier nach dem großen Geld mit den Investmentban- Ludwig Stiegler (SPD): ken ins Ausland gewandert sind, haben die Sparkassen Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der zu Hause den Mittelstand aufrechterhalten. Das soll auch Kollege Bernhardt sagte, die CDU/CSU stehe hinter den in Zukunft so bleiben. Sparkassen. Diese Aussage erinnert mich an eine von (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Theo Waigel, der immer sagte: Wenn ich von vorne an- DIE GRÜNEN – Otto Bernhardt [CDU/CSU]: gegriffen werde, stehen meine Freunde hinter mir. Das Und die Genossenschaftsbanken!) ist die Art und Weise, wie Sie damit umgehen. Die Großbanken sollen, wenn sie jetzt heimkehren (Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Das war aber wie der verlorene Sohn, nicht glauben, dass wir ihnen schwach! Nicht einmal Applaus von den eige- das Schwein der Sparkassen braten und dass sie hier nen Leuten!) ohne weiteres aufgenommen werden. Sie sollen ihre Was Sie hier betreiben, führt zu einer Gefährdung der Hausaufgaben machen und sich, genauso wie die Spar- (B) Versorgung des Mittelstandes mit Krediten. Sie wollen kassen, um die kleinen und mittleren Unternehmen küm- (D) im Grunde den Shareholder-Value ins Sparkassensystem mern. Dann kämen wir weiter. einführen. Meine Damen und Herren, es ist ein Schwindel zu be- (Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Lesen Sie haupten, die Sparkassen könnten in der Kreditversor- unsere Formulierungen!) gung nur überleben, wenn sie privates Eigenkapital be- kämen. Die Gemeinnützigkeit und der Förderauftrag sollen also ausgetrieben und der Shareholder-Value eingetrieben (Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Das hat doch werden. Das werden wir als Sozialdemokraten nicht zu- keiner gesagt!) lassen. Sie sind in aller Regel gut für das Kreditgeschäft ausge- (Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Stimmt alles stattet. Deswegen ist das ein Vorwand. Sie wollen, dass nicht! Sie haben nicht einmal den Antrag gele- auch die Sparkassen gezwungen sind, Eigenkapitalver- sen!) zinsungen in derselben Größenordnung wie die Deut- sche Bank anzustreben, statt mit soliden Eigenkapital- Die Argumente, die Sie bringen, sind scheinheilig. Es verzinsungen dem Mittelstand zu helfen. Auch Ihr wird den Sparkassen ein Kapitalbedarf aufgeschwatzt. Argument im Hinblick auf Basel II ist fern jeder Wirk- lichkeit. Die Eigenkapitalanforderungen für den Mittel- (Lachen bei Abgeordneten der FDP) stand sind durch die Granularisierung der Mittelstands- Ich wollte, wir hätten ein Wirtschaftswachstum, das dem kredite eher günstiger als schwieriger geworden. Auch Finanzierungspotenzial der Sparkassen entspricht. Die von daher besteht also keine Notwendigkeit zu Eigenka- Sparkassen könnten leicht das Eigenkapital aufbringen, pitalerhöhungen. das für die Finanzierung eines 5-prozentigen Wirt- Wir können die Städte und Gemeinden nur warnen schaftswachstums notwendig ist. Sie sind nämlich durch – im Saarland genauso wie in Schleswig-Holstein oder ihre Thesaurierung und ihre Verbandsstruktur wohl dafür wo auch immer –, gerüstet. Nachrangkapital konnten sie ja schon immer aufnehmen. Von daher gesehen kommen Sie wie die (Jürgen Koppelin [FDP]: Bremen!) böse Hexe zum Schneewittchen und wollen ihr einen sich für ein Linsengericht einer Einmalzahlung das Erbe vergifteten Kamm bzw. einen vergifteten Apfel verkau- und die Struktur von vielen Jahrzehnten Arbeit am Kun- fen, indem Sie von Kapitalstärkung reden. den und am Mittelstand abkaufen zu lassen. Es wäre ein (Beifall bei Abgeordneten der SPD) schwerer Schlag gegen den Wirtschaftsstandort Deutsch- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12633

Ludwig Stiegler (A) land, wenn wir hier den Einbruch zuließen. Ich kann Sie Wenn ausgerechnet Rot-Grün für die Mittelstandsfi- (C) nur bitten: Verlassen Sie diesen falschen Weg und erhal- nanzierung spricht, geschieht dies wieder einmal nach ten Sie eine Struktur aufrecht, die wir für die Zukunft dem Motto „Haltet den Dieb“. Tatsächlich bedeutet rot- brauchen und die für die Gemeinden keine Anstaltslast grüne Politik: Deutschlands Wirtschaft, insbesondere der mehr bedeutet, sondern eher eine Anstaltslust – von eini- Mittelstand, erlebt die schwerste Krise. Wir haben ein gen Ausnahmen abgesehen. geringes Wirtschaftswachstum, Höchststände bei den Lohnzusatzkosten und immer höhere Belastungen, die Wenn Sie sich einmal anschauen, wie viele private insbesondere dem Mittelstand große Schwierigkeiten be- Banken die BaFin abgewickelt hat, dann können Sie aus reiten. der Tatsache, dass einmal ein bestimmtes Institut dabei ist, keinen Staatsskandal machen. Nein, meine Damen (Ludwig Stiegler [SPD]: Sie haben null Ah- und Herren, Sie betätigen sich hier als Eideshelfer der nung! Vergleichen Sie einmal unsere Zahlen Kapitalmärkte, die dem Mittelstand bisher nie etwas Gu- mit denen von Kohl! Vergleichen Sie die tes bedeutet haben. Lasst uns deshalb gemeinsam Wider- schwarze Zeit mit der rot-grünen Zeit!) stand dagegen leisten und lasst uns die bewährte Spar- Die Insolvenzrate mit über 40 000 Unternehmensin- kassenstruktur im Interesse der Bürgerinnen und Bürger solvenzen im Jahr 2004 ist auf Rekordhöhe. Das hat und der kleinen und mittleren Unternehmen erhalten! doch eine Ursache! Hier muss man vom Erbe sprechen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Ludwig Stiegler [SPD]: Wir hatten die große DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Otto Erblast mit Höchststeuern!) Bernhardt [CDU/CSU]) Unsere Betriebe wollen die Generationenbrücke, wollen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Erbe weitergeben. Sie können es aber nicht aufgrund Ih- rer falschen Wirtschafts- und Finanzpolitik. Das Wort hat der Kollege Hans Michelbach, CDU/ CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Der rot-grüne Zickzackkurs in der Wirtschafts-, Hans Michelbach (CDU/CSU): Steuer- und Finanzpolitik hat zu schwerwiegenden Fehl- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und entwicklungen geführt: Die Investitionsquote sinkt. Die Herren! Diese Aktuelle Stunde ist ein plumpes Ablen- Verbraucher haben hohe Kaufkraftverluste. Der Arbeit- kungsmanöver von Rot-Grün von der selbst verursach- nehmer hat immer weniger netto. Die Konsumwirtschaft ten Wirtschafts- und Finanzmisere in unserem Land. leidet. Die Unternehmen haben keine Planungssicherheit (B) und auch die Nachfrage nach Krediten sinkt. (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Ludwig Stiegler [SPD]: Reden Sie zu den CDU/CSU ist nicht die Gefährdung, Herr Stiegler; wir Sparkassen! Frau Präsidentin, Themaverfeh- sind eine bessere Perspektive. Rot-Grün ist die Gefähr- lung!) dung unserer Wirtschaft und des Mittelstandes. Fazit: Rot-Grün schadet Mittelstand, Banken und den (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Arbeitnehmern in unserem Land. Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Eine 100-Milliarden-Gefährdung sind Ich sage: Nur eine Kehrtwende mit Strukturreformen Sie!) und zuverlässiger Wirtschafts- und Finanzpolitik führt zum Ziel, Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Jeder Mittelständler, der Sie von Kapital sprechen hört, (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kann eigentlich nur noch seine Kasse festhalten. NEN]: Immer die gleiche Rede, egal zu wel- chem Thema!) (Heiterkeit bei der CDU/CSU – Joachim Poß zu mehr Wachstum und Beschäftigung. Es muss eine [SPD]: Wo haben Sie Ihre Kasse denn hinge- neue Vertrauensbasis für unseren Standort hergestellt bracht? Wo ist denn Ihre Kasse? – Heiterkeit werden. Dauerhaftes Wachstum und mehr Beschäftigung bei der SPD) gibt es nur, wenn die angebotsseitigen Rahmenbedin- Herr Stiegler, niemand von der Union will einen Angriff gungen der Wirtschaft in Ordnung gebracht werden. auf die Sparkassen oder will die Einschränkung der Mit- Hierfür benötigen wir eine leistungsfähige Finanzdienst- telstandsfinanzierung. Das ist der rot-grüne Popanz, der leistungsinfrastruktur; denn nur, wo investiert wird und hier aufgezogen wird. Investitionen finanziert werden, kann sich Zukunft ent- wickeln. Hierzu braucht es natürlich Kreditinstitute, die (Ludwig Stiegler [SPD]: Sie sind ja bloß auf in den Regionen vor Ort sind und eine hohe Leistungsfä- der Flucht vor Ihren eigenen Taten!) higkeit gewährleisten. Die Verbesserung der Mittelstandsfinanzierung hat für Bei allen Diskussionen gibt es keinen Zweifel: uns höchste Priorität. Hier lassen wir uns von nieman- dem übertreffen und schon gar nicht von Rot-Grün. (Ludwig Stiegler [SPD]: Sagen Sie etwas zu den Sparkassen! Wie halten Sie es mit den (Beifall bei der CDU/CSU) Sparkassen?) 12634 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Hans Michelbach (A) Die Kreditwirtschaft befindet sich seit Jahren in einem Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) Prozess tief greifender Veränderungen, was durch faule Das Wort hat die Kollegin Jutta Krüger-Jacob, Bünd- Außenstände und niedrige Margen noch verstärkt wird. nis 90/Die Grünen. (Ludwig Stiegler [SPD]: Wollen Sie nun die Sparkassen privatisieren oder nicht?) Jutta Krüger-Jacob (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass nach Weg- NEN): fall von Anstaltslast und Gewährträgerhaftung und bei Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- den zukünftigen Anforderungen nach Basel II die Leis- legen! Es kommt einem wirklich so vor, als stünde jedes tungsfähigkeit und die Mittelstandsunterstützung auch in Jahr nicht nur Weihnachten vor der Tür, sondern auch Zukunft erhalten bleiben. die Debatte um die Reform des Sparkassensystems. Standen zunächst Stralsund und das Saarland im Vorder- (Ludwig Stiegler [SPD]: Wie ist das mit den grund, so ist es jetzt Schleswig-Holstein. Dort will die Sparkassen?) CDU, unterstützt von der FDP, Wir haben in Deutschland durchaus ein gutes Funda- ment. Letzten Endes aber müssen unsere Kreditinstitute (Jürgen Koppelin [FDP]: Umgekehrt: die FDP, die Erträge steigern, die Kosten senken und eine Stär- unterstützt von der CDU!) kung des Haftungsvolumens angehen. zur Stärkung der kommunalen Kompetenz, wie sie selbst (Ludwig Stiegler [SPD]: Die Sparkassen sind sagt, das Sparkassengesetz liberalisieren und die Spar- recht gut! Daran wollen Sie Anteile haben kassen teilweise privatisieren. Ein solcher Schritt hätte oder wie?) verheerende Auswirkungen insbesondere für kleine und mittelständische Unternehmen; denn ein eigenständiges Das alles soll im Konsens geschehen. Es gibt sicher regionales Bankensystem ist die Basis für die Kreditver- Handlungsbedarf. Ich bin dagegen, alles rosarot zu ma- gabe an kleine einheimische Firmen. len, weder bei der Mittelstandsfinanzierung noch bei un- seren Banken und Kreditinstituten. Hier besteht teil- Fakt ist, dass die Sparkassen und Genossenschafts- weise die Notwendigkeit, zu fusionieren und die banken die Hauptlast bei der Finanzierung von kleinen Eigenkapitalbasis zu stärken. Unternehmen vor Ort tragen. Wenn ein kleines Unter- (Ludwig Stiegler [SPD]: Darum haben wir die nehmen Kredite bekommt, dann bei ihnen. Durch die Steuern gesenkt! Wir, nicht ihr!) Privatisierung würden den Bürgerinnen und Bürgern des Landes mittelfristig die Sparkassen entzogen, da das (B) Das ist zu machen. Das muss jedoch dezentral gesche- Vorhaben von CDU und FDP – das dürfte ihnen auch (D) hen und muss von den Verantwortlichen in den Ländern klar sein – eine zwangsläufig geänderte Geschäftspolitik entschieden werden. der Sparkassen zur Folge hätte. Wir brauchen ein klares Gesamtkonzept. Zum einen Aufgabe der Sparkassen ist es, Finanzdienstleistun- müssen wir eine bessere steuerliche Behandlung von Ei- gen für alle und überall anzubieten und mit ihrer gemein- genkapital anstreben. Zum anderen muss es ein breites wohl- und aufgabenorientierten Geschäftspolitik die je- Finanzierungsangebot und bessere Bedingungen für die weilige Region und die dortigen Unternehmen zu Beteiligungsfinanzierung geben. Zum dritten müssen die fördern. Aufgrund ihrer Bindung an die Region verfol- Konditionen im Mittelstandskreditprogramm verbessert gen Sparkassen eine langfristig orientierte Geschäftspo- werden. litik mit auf Kontinuität ausgerichteten Kundenbezie- (Ludwig Stiegler [SPD]: 1,6 Milliarden Euro hungen. Ihre Aufgabe ist es hingegen nicht, die haben die Sparkassenbeteiligungsfinanzierun- Interessen einer beschränkten Zahl von Aktionären gen!) durch möglichst hohe Renditen zu befriedigen. Gerade hier liegt für den Kunden das wesentliche Kriterium. Nicht zuletzt brauchen wir eine mittelstandsfreundliche Denn zu seinen Gunsten oder Lasten wirkt sich aus, ob Umsetzung von Basel II. mit Unternehmensentscheidungen Mittelstandsfinanzie- rungen, flächendeckende Versorgung, langfristige Ge- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: schäftsverbindungen und Leistungen für alle Bevölke- Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende. rungsgruppen angestrebt werden oder aber im Interesse des Börsenkurses die Entscheidungsfreiheit lediglich auf (Ludwig Stiegler [SPD]: Zum Thema hat er die lukrativsten Geschäftsfelder und Kunden beschränkt noch nichts gesagt, Frau Präsidentin!) ist. Da eine börsennotierte Aktiengesellschaft verpflich- tet ist, den größtmöglichen Ertrag für die eigenen Aktio- Hans Michelbach (CDU/CSU): näre im Blick zu haben, wird zwangsläufig eine Konzen- Ich komme zum Schlusssatz. – Die CDU/CSU kämpft tration auf die lukrativsten Kunden, Geschäfte und für eine stetige Verbesserung der Mittelstandsfinanzie- Regionen erfolgen. Die Kreditvergabe an kleine und rung und lässt sich dabei von niemandem übertreffen. mittlere Unternehmen gilt hingegen als renditeschwa- ches Geschäftsfeld, weshalb sich die privaten Banken- Herzlichen Dank. konzerne in der Vergangenheit aus dem Projekt Mittel- (Beifall bei der CDU/CSU) standsfinanzierung systematisch zurückgezogen haben. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12635

Jutta Krüger-Jacob (A) Damit wird deutlich, dass mit dem Wegfall der öffent- strebungen von Sparkassen in Stralsund und im Saarland (C) lich-rechtlichen Sparkassen die Gefährdung der Finan- dank des klaren Bürgerwillens verhindert worden sind, zierung des Mittelstandes Hand in Hand geht und für versucht sich nun die CDU-FDP-Opposition in Schles- diesen, aber auch für einkommensschwache Kunden so- wig-Holstein im dritten Aufguss. wie Kunden in wirtschaftsschwachen Regionen kein ausreichendes Angebot an Finanzdienstleistungen mehr (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Ihre Versuche zur Verfügung stehen würde. sind gescheitert!) Mittelständische Unternehmen in Deutschland sind Das ist Ihre Sache und auch Ihr gutes Recht, meine sehr auf die flächendeckende Präsenz der Kreditwirtschaft verehrten Damen und Herren von der rechten Seite. angewiesen; denn sie brauchen Beratung und Betreuung (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie haben das vor Ort. Kundennähe und Kundenkenntnis sind im Kre- Land in die Irre geführt!) ditgeschäft unersetzlich, wobei die Bedeutung dieser beiden Faktoren durch Basel II und das Rating der Un- Aber eine Zerstörung der Sparkassenlandschaft ist ternehmen sogar noch zunehmen wird. schädlich für unser Land, seine Bürgerinnen und Bürger und seine Wirtschaft. Natürlich kommen auch Sparkassen aus betriebswirt- schaftlichen Gründen nicht an einer Straffung und Um- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ strukturierung ihrer Filialnetze vorbei. Aber gerade die DIE GRÜNEN – Otto Bernhardt [CDU/CSU]: dezentralen Strukturen der Verbundgruppe sind der beste Wer will die in Schleswig-Holstein denn zer- Garant dafür, dass in Regionen ohne Zweigstellen der stören? – Zuruf des Abg. Jürgen Koppelin privaten Großbanken auch weiterhin intensiver Wettbe- [FDP]) werb in der Kreditwirtschaft herrscht, ein Wettbewerb, – Herr Koppelin, ich kann im Gegensatz zu Ihnen sogar der ohne die Sparkassen nicht möglich wäre, ein Wettbe- frei reden. – Es geht bei den Sparkassen allein in Schles- werb, der zugunsten der Verbraucher sowie mittelständi- wig-Holstein um 10 000 hoch qualifizierte Mitarbeite- scher Unternehmen stattfindet, weil er ihnen leistungsfä- rinnen und Mitarbeiter und um deren Familien. hige Angebote zu vernünftigen Konditionen macht. (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie wissen Auch die CDU-Landtagsfraktion in Schleswig-Hol- gar nicht, über was Sie hier reden!) stein stellt zumindest in ihrer Pressemitteilung unstreitig, dass Sparkassen und Genossenschaftsbanken der Garant – Sie müssen offenbar nervös sein. Denn Sie können für eine Stärkung der mittelständischen Wirtschaft und sich meine Ausführungen nicht in Ruhe anhören. – Da damit in einem vom Mittelstand geprägten Land wie hört der „Spaß“ also auf. (B) Schleswig-Holstein von ganz besonderer Bedeutung (D) (Beifall bei der SPD – Hans Michelbach sind. Trotz dieser Bewertung ein erfolgreiches System [CDU/CSU]: Bleiben Sie bei der Wahrheit! – aufzugeben und damit bewusst zum Nachteil des Mittel- Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Etwas mehr Ni- standes zu handeln ist auch bei der Absicht, kommunale veau!) Haushaltslöcher zu stopfen, der falsche Weg. Danke. – Ihre Lautstärke verstärkt nicht die Kraft Ihrer Argu- mente. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Etwas mehr Niveau! Dann sind wir ruhig! – Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Wir sind hier im Bundestag!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Es ist wunderbar: Wir haben wieder neue Kolleginnen und Kollegen. Frau Krüger-Jacob, ich gratuliere Ihnen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: recht herzlich zu Ihrer ersten Rede hier im Deutschen Herr Minister, einen Augenblick bitte. Auch wenn es Bundestag und wünsche Ihnen persönlich und politisch vielleicht nicht immer gefällt: In diesem Hohen Haus be- alles Gute. steht die Gepflogenheit, dass überwiegend der Redner das Wort hat und dass die anderen zuhören. (Beifall) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Hat er doch! Das Wort hat der Finanzminister des Landes Schles- Aber das Niveau sollte schon stimmen!) wig-Holstein, Ralf Stegner. (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Der hat um Dr. Ralf Stegner, Minister (Schleswig-Holstein): diese Aktuelle Stunde gebeten? – Hans Vielen Dank, Frau Präsidentin. Michelbach [CDU/CSU]: Der Wahlkampf lässt grüßen!) Die FDP möchte, dass sich private Geldgeber mit bis zu 49 Prozent bei kommunalen Sparkassen einkaufen können. Die CDU in Schleswig-Holstein wollte zu- Dr. Ralf Stegner, Minister (Schleswig-Holstein): nächst die volle Privatisierung; jetzt ist sie etwas zurück- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und gerudert. Herren Abgeordneten! Wird in Schleswig-Holstein über die Zukunft des öffentlichen Kreditwesens in Deutsch- (Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Keiner wollte die land entschieden? Ich vermute, ja. Nachdem Verkaufsbe- volle Privatisierung! Das stimmt nicht!) 12636 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Minister Dr. Ralf Stegner (Schleswig-Holstein) (A) Der Entwurf des CDU-Bundesvorstandes für den Bun- Bei Ihnen mag das Absicht sein. Aber die EU-wettbe- (C) desparteitag Ihrer Partei sieht übrigens wieder ganz an- werbsrechtlichen Bedenken kümmern Ihren Spitzenkan- ders aus. In ihm werden die besonderen Strukturen be- didaten, den Herrn Agrarexperten, wenig. tont. Offenbar weiß in der CDU die rechte Hand nicht, was die linke Hand tut. Jedenfalls passen diese beiden (Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Dummes Zeug! Positionen nicht zusammen. Wollen die Deutsche Bundesbank und der In- ternationale Währungsfond auch mit dem (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Christine Knüppel antreten?) Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Ludwig Stiegler [SPD]: Da gibt es nur rechte Er sagt sogar fröhlich, dass das, was Sie in Ihr so ge- Hände!) nanntes Regierungsprogramm hineingeschrieben haben, schließlich kein Gesetzentwurf, sondern ein Programm Die schleswig-holsteinische CDU will den Kreis sei. Vielleicht brauchen Sie nicht einen Mittelstandsbe- möglicher Anteilskäufer nun auf Mitarbeiter, Kunden auftragten, sondern einen Mittelmaßbeauftragten für Ih- und Mitglieder der S-Gruppe einschränken. Dieses halbe ren Spitzenkandidaten in Schleswig-Holstein. Zurückrudern ist sicher auch ein Erfolg der Öffentlich- keitsarbeit des Deutschen Sparkassen- und Giroverban- (Jürgen Koppelin [FDP]: Sie sind hier nicht des, dessen Aktivitäten ich nachvollziehen kann. auf dem SPD-Parteitag in Kiel! – Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Und die Deutsche (Jürgen Koppelin [FDP]: Welche Blamage für Bundesbank hat auch den Knüppel in der Schleswig-Holstein!) Hand?) Herr Koppelin, wie kommen Sie als Mitglied einer li- Das ist nämlich das, worüber wir hier eigentlich reden. beralen Partei dazu, so viel Angst zu haben, wenn sich ein Verband äußert? Wir ertragen es seit Jahren, dass der (Beifall bei der SPD – Zurufe von der CDU/ Bauernverband oder andere das, was wir tun, nicht gut CSU: Oh! – Hans Michelbach [CDU/CSU]: finden. Aber Sie können es nicht ertragen, dass der Spar- Wir sind hier doch nicht in der Provinz! – Otto kassen- und Giroverband sagt, was er von dem hält, was Bernhardt [CDU/CSU]: Meine Güte! Zurück Sie vorschlagen. Er hält nichts von Ihren Vorschlägen, ins Ministerium! Das ist nicht das Niveau die- weil sie den Bürgerinnen und Bürgern schaden. ses Hauses!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Selbst wenn Sie sich durchsetzen würden, Herr DIE GRÜNEN – Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Koppelin, wäre es ein Pyrrhussieg. Denn es wäre das Mit dem Geld der Sparkassenkunden macht Ende der Sparkassen und damit der Mittelstandsfinan- (B) ihr das!) zierung in der Fläche. (D) Die Wehleidigkeit, die Sie an den Tag legen, muss einen (Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Darum geht es Grund haben. Sie werden am 20. Februar erleben, wel- nicht!) chen. Es ist doch ganz einfach – der Kollege Stiegler hat es Auch dieses Zurückrudern bleibt jedoch eine Mogel- schon gesagt –: Die Privatbanken haben sich lange Zeit packung. Denn in Wirklichkeit bestimmt im Norden bei nicht um den Mittelstand und um die Privatkunden ge- Schwarz-Gelb die FDP den Kurs. Herr Koppelin, das schert. werden Sie sicherlich bestätigen können. (Ludwig Stiegler [SPD]: Und jetzt wollen sie (Lachen des Abg. Florian Pronold [SPD] – Beute machen!) Ludwig Stiegler [SPD]: Der Schwanz wedelt Jetzt versuchen sie dieses Versäumnis wettzumachen, mit dem Hund!) indem sie angebliche Wettbewerbsverzerrungen bekla- Die Sparkassenpolitik der Opposition in Schleswig-Hol- gen und sich einkaufen wollen. So simpel ist das. Aber stein trägt quasi eine gelbe Binde mit schwarzen Punk- so wird es nicht funktionieren. ten. Mit dem Erwerb durch private Dritte würden die (Heiterkeit und Beifall bei der SPD – Zuruf von Sparkassen den Bürgern entzogen, um sie den Kapitalin- der SPD: Mit drei schwarzen Punkten!) teressen weniger Personen zu öffnen. Wir wollen keine Entwicklung wie in England und den Vereinigten Staa- Dies geschieht teilweise vorsätzlich wie bei dem pri- ten von Amerika. Diese Entwicklung wird es mit der So- vatbankenpolitischen Sprecher Herrn Bernhardt. Ich will zialdemokratie auch nicht geben. Ihnen eines sagen, Herr Bernhardt: Es mag ja sein, dass Sie hinter den Sparkassen stehen, aber – das ist das Pro- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten blem – mit dem Knüppel in der Hand. Das wollen die des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Otto Sparkassen nicht. Bernhardt [CDU/CSU]: Sie haben doch ge- hört, was der Staatssekretär gesagt hat!) (Beifall bei der SPD – Otto Bernhardt [CDU/ CSU]: Das ist eine Frechheit, was Sie sagen! Die schleswig-holsteinische Bevölkerung weiß um Das ist nicht das Niveau des Bundestages, was die Bedeutung von Gemeinwohl und Daseinsfürsorge. In Sie hier bringen! Kommen Sie zurück zum Ni- einer Forsa-Umfrage vom September 2004 sprechen sich veau des Bundestages!) mehr als drei Viertel der Bevölkerung, genauer Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12637

Minister Dr. Ralf Stegner (Schleswig-Holstein) (A) 77 Prozent, gegen den Verkauf von Sparkassen im Land Kooperationen von Sparkassen und Sparkassenver- (C) an private Dritte aus. bänden bleiben bei Gewährleistung des Regionalprinzips ein Weg zur Kapitalstärkung. (Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Die wissen gar nicht, wie viele schon frei sind!) (Jürgen Koppelin [FDP]: Ein teures Spiel für Schleswig-Holstein!) Bei allem Selbstbewusstsein, das ich wirklich habe, muss ich Ihnen, Herr Bernhardt, sagen: Das ist noch ein – Übrigens weiß ich viel besser als Sie, was ich vor ei- wenig mehr als die Stammwählerschaft von Rot-Grün in nem halben Jahr gesagt habe, weil ich nämlich immer Schleswig-Holstein. 77 Prozent sind dagegen. das Gleiche sage, wohingegen Sie sich ab und zu drehen und wenden, (Jürgen Koppelin [FDP]: Was haben Sie vor einem halben Jahr erzählt?) (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh!) Ich glaube, dass Sie darum wissen. Sie haben Angst da- wie das bei der FDP so üblich ist. vor, dass die Wähler das merken. Deswegen sind Sie hier so aufgeregt. (Jürgen Koppelin [FDP]: Das machen wir noch einmal im Landtag klar!) (Beifall bei der SPD) – Aber gern. Die schleswig-holsteinische Landesregierung will so- Es sollte durchaus Veränderungen dadurch geben, lide, kundennahe, effektive und potente Sparkassen. Ich dass sich Sparkassen zusammenschließen. Starke Spar- meine, die Bereitstellung einer Bankverbindung für je- kassen werden ihre Kostenseite unter Beibehaltung von den und jede ist Ausdruck der sozialen Verantwortung Qualität und Service weiter optimieren müssen. Wir der Sparkassen. Wir fügen nämlich dem Wort „Markt- wollen aber nicht – Herr Stiegler hat das zu Recht ge- wirtschaft“ das Adjektiv „sozial“ bei. Manches, was ich sagt –, dass sich die Sparkassen in Richtung Shareholder- von Ihnen höre, enthält dieses Adjektiv nicht. Das ist Value entwickeln. Sie sollen vielmehr dem Gemeinwohl falsch; denn unser wirtschaftlicher Erfolg in Deutsch- verpflichtet bleiben. land hat auch etwas mit sozialer Marktwirtschaft zu tun. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD – Jürgen Koppelin [FDP]: DIE GRÜNEN – Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Sie haben vor einem halben Jahr etwas anderes Das soll die Kommunalpolitik entscheiden!) erzählt! Unglaublich!) Im Übrigen zahlen die Sparkassen im Gegensatz zu Tragfähige Sparkassenstrukturen sind gerade in unse- (B) den meisten Banken sogar noch – auch das finde ich als (D) rem durch kleine und mittlere Unternehmen geprägten Finanzminister richtig – Steuern. Land unentbehrlich. Der Hinweis auf die freien Sparkas- sen, Herr Koppelin, besagt doch das Gegenteil. Wir ha- (Ludwig Stiegler [SPD]: So ist es! Genau!) ben in Schleswig-Holstein ein liberales Sparkassenge- setz. Wir haben freie Sparkassen. Wir brauchen keine Auch dies sollte man hier einmal feststellen. Denn aus Liberalisierung und keine Öffnung in dem Sinne, wie diesen Steuern und nicht aufgrund der windigen Metho- Sie sie wollen. den, die es teilweise gibt, werden die Aufgaben des Ge- meinwesens finanziert. (Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Das ist nun eine Argumentation! Das ist ja schlimm! Jetzt dreht (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ er sich im Kreis!) DIE GRÜNEN) Es funktioniert doch auch so. Insofern sind die Behaup- Wird sich in Schleswig-Holstein die Zukunft des öf- tungen, die Sie aufstellen, eher von Unkenntnis über die fentlichen Kreditwesens entscheiden? Ich sage Ihnen: Ja. Gesetzeslage bestimmt. Ich weise aber auch auf Folgendes hin: Die Zukunft wird bei starken und zukunftsfähigen öffentlich-rechtlichen Das, was Sie über unseren Wirtschaftsminister, Herrn Sparkassen liegen. CDU und FDP wollen hier als Retter Rohwer, gesagt haben, ist natürlich Unfug. Er hat zwar auftreten; aber die Bürger und die Sparkassen vernageln im Landtag gesagt ihre Fenster, weil sie solche Rettertruppen gar nicht ha- ben wollen. (Jürgen Koppelin [FDP]: Das ist doch Zitat!) (Jürgen Koppelin [FDP]: Ach Gott!) – ja, ich habe es gestern gehört; ich saß auf der Regie- rungsbank –, die kleinen und mittelständischen Unter- Sie bewirken nämlich das Gegenteil dessen, was sie er- nehmen hätten ein Kreditproblem. Aber das lösen Sie reichen wollen. doch nicht, indem Sie den Teufel mit dem Beelzebub austreiben und das Problem noch dadurch verschärfen, (Jürgen Koppelin [FDP]: Das ist eine Rede für dass die Privatbanken es in die Hand bekommen. den SPD-Parteitag!) (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie verschär- Opposition ist die Kunst, etwas zu versprechen, was fen es doch!) die Regierung nicht halten kann. Diese Kunst verstehen Sie einigermaßen, mehr aber auch nicht. Zur Regie- Die kümmern sich nämlich überhaupt nicht darum. rungsfähigkeit gehört deutlich mehr. 12638 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Minister Dr. Ralf Stegner (Schleswig-Holstein) (A) Ich bedanke mich sehr bei Ihnen für die Aufmerksam- Daher spielt es im Grunde genommen keine Rolle, für (C) keit. welche juristische Organisationsform man sich entschei- det. Es kommt nach wie vor darauf an, welcher Auftrag (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mit dem Träger, der Organisation, der Sparkasse verbun- DIE GRÜNEN – Otto Bernhardt [CDU/CSU]: den ist. Wären sonst nicht alle Neugliederungen, die wir Das war ein toller Beitrag! Meine Güte! – in manchen Ländern schon durchgeführt haben, fehlge- Jürgen Koppelin [FDP]: In Deutschland kann schlagen, Herr Stiegler? jeder Minister werden! Wie peinlich! – Dirk Niebel [FDP]: Als Schleswig-Holsteiner (Ludwig Stiegler [SPD]: Es geht nicht um die schämt man sich ja für einen solchen Minister! Neugliederung, sondern um den öffentlichen Gut, dass ich aus Baden-Württemberg Förderauftrag!) komme!) Teilweise handelt es sich dabei sogar um die Rechtsform der Aktiengesellschaft. Trotzdem sind damit öffentliche Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Aufträge verbunden. Das Wort hat der Kollege Leo Dautzenberg, CDU/ CSU-Fraktion. Ich möchte betonen: Das, was die schleswig-holstei- nische CDU und das, was sowohl die Bundespartei als auch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion beschlossen ha- Leo Dautzenberg (CDU/CSU): ben, ist widerspruchsfrei. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Stegner, es (Florian Pronold [SPD]: Das wäre das erste muss um die Mehrheitsverhältnisse in Schleswig-Hol- Mal, dass etwas bei Ihnen widerspruchsfrei stein schon sehr schlecht gestellt sein, ist!) (Ludwig Stiegler [SPD]: Nein, nein! Es wird In unserem Papier zum Thema Finanzplatz – Herr Kol- von Tag zu Tag besser!) lege Pronold, vielleicht hören Sie einmal zu – haben wir uns ausdrücklich für die Dreigliedrigkeit der Banken- wenn Sie sich hier in dieser Art und Weise zu sachpoliti- struktur ausgesprochen. Wir wollen sie erhalten und fort- schen Positionen äußern und ein Szenarium an die Wand entwickeln; denn wer nur im Status quo verharrt, wird malen, das jeder Grundlage entbehrt und auch nicht den die Zukunft des Bankensektors nicht gestalten können. Beschluss des Landesparteitages der CDU widerspie- Gewisse Bereiche muss man fortentwickeln. Das soll bei gelt. den Sparkassen auch weiterhin in Form einer öffentlich- (B) (Beifall bei der CDU/CSU) rechtlichen Struktur geschehen. (D) Hier werden, Herr Kollege Krüger, Szenarien an die (Ludwig Stiegler [SPD]: Das ist eine öffent- Wand gemalt, die mit diesem Beschluss nichts zu tun ha- lich-rechtliche Struktur und keine Aktienge- ben und die nicht die Interpretationsmöglichkeit herge- sellschaft!) ben, wie Sie es hier dargestellt haben. Wenn das so wäre, Da dieses Thema der Landesgesetzgebung unterliegt, müsste das Sparkassenwesen in Rheinland-Pfalz im Herr Kollege Stiegler, ist der einzige Punkt, den wir als Grunde schon längst untergegangen und müssten all die Bundesgesetzgeber beeinflussen können, § 40 KWG, in Dinge eingetreten sein, die Sie hier an die Wand gemalt dem festgelegt ist, was Sparkasse bedeutet und inwiefern haben. Wir haben in Rheinland-Pfalz im Sparkassenge- sie als öffentlich-rechtliche Institution geschützt ist. setz als Landesrecht genau die gleiche Gesetzgebung und die gleichen Möglichkeiten, wie es von der Union (Florian Pronold [SPD]: Man muss wirklich gemeinsam mit der FDP für Schleswig-Holstein gefor- keine Ahnung von Gesetzen haben, um eine dert wird. Rede im Bundestag zu halten!) Lassen Sie mich auf die eigentlichen Fakten zurück- Alles andere ist Landesrecht. kommen. Ich darf den Beschluss des Landesparteitages noch einmal kurz darstellen – ich zitiere –: (Ludwig Stiegler [SPD]: Das bleibt auch so!) Es wird gesetzlich sichergestellt, dass die Mehrheit Warum reden wir eigentlich über Subsidiarität und Föde- der Anteile bei den kommunalen Trägern verbleibt ralismus, und die gewünschte Zuführung von Kapital auf (Ludwig Stiegler [SPD]: Wo Sparkasse drauf- Kunden aus der Region, Mitarbeiter und Institutio- steht, ist auch Sparkasse drin! Keine Mogelpa- nen der Sparkassen-Finanzgruppe beschränkt ckung!) bleibt. wenn wir den Ländern hinsichtlich ihrer Sparkassenge- Meine Damen und Herren, das ist klar auf einen Be- setzgebung nicht Raum zur Eigengestaltung lassen, um reich eingegrenzt. Die Mehrheit der Anteile wird sich es so zu regeln, wie es vor Ort erforderlich ist? auch weiterhin in öffentlicher Trägerschaft befinden. Sie sollten verbal abrüsten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ludwig Stiegler [SPD]: Da lacht sogar Herr (Ludwig Stiegler [SPD]: Sie sollten Ihren An- Schauerte!) trag wegschmeißen!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12639

Leo Dautzenberg (A) Wenn ich sehe, welche Untergangsszenarien betreffend Leo Dautzenberg (CDU/CSU): (C) den öffentlichen Sektor hier präsentiert worden sind, Sie sollten nicht aus Wahlkampfgründen wegen der dann glaube ich, dass ich auf der falschen Veranstaltung bevorstehenden Wahl in Schleswig-Holstein auf Neben- bin. kriegsschauplätze ausweichen. (Florian Pronold [SPD]: Das stimmt! – Vielen Dank. Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Nach dem Beitrag von Herrn (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Michelbach zu einem anderen Thema glaube Ludwig Stiegler [SPD]: Sie wollen die Spar- ich das auch!) kassen ruinieren! Das ist jetzt klar geworden!)

Sehen Sie sich doch die Situation in Italien und Spanien Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: an! Dort sind alle öffentlich-rechtlichen Institutionen Das Wort hat die Kollegin Bärbel Kofler, SPD-Frak- über Stiftungen neu konzipiert worden. tion. (Ludwig Stiegler [SPD]: Das brauchen wir Gott sei Dank nicht!) Dr. Bärbel Kofler (SPD): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- Heute gehören sie, zum Beispiel in Italien, sogar zu einer gen! Im Mittelpunkt dieser Aktuellen Stunde steht das der größten Bankengruppen. Trotzdem erfüllen sie wei- öffentlich-rechtliche Sparkassenwesen in Deutschland. terhin einen öffentlich-rechtlichen Auftrag. Jeder kennt das Drei-Säulen-System des deutschen Ban- (Ludwig Stiegler [SPD]: Wir wollen regionale kensektors: Einerseits gibt es das altbewährte System der Kreditversorgung!) Sparkassen mit öffentlich-rechtlicher Trägerschaft und die Genossenschaftsbanken, andererseits die privatwirt- Sehen wir uns an, was in Baden-Württemberg passiert schaftlich organisierten Banken. ist! Dort ist es teilweise schon gelungen, eine Neustruk- turierung des öffentlich-rechtlichen Bankensektors vor- In den vergangenen Jahren haben sich die privaten zunehmen. Dort hat man sich tatsächlich auf die neuen Großbanken zunehmend aus dem Flächengeschäft in Gegebenheiten des Marktes als öffentlich-rechtliche Deutschland zurückgezogen und auf das Geschäft auf Aufgabe ausgerichtet. Das ist auch die Aufgabe der Län- den internationalen Finanzmärkten gebaut. Von 1998 bis der. In Nordrhein-Westfalen, Herr Kollege Krüger, muss 2003 haben die privaten Großbanken jede zweite Zweig- noch Entscheidendes geleistet werden, wenn es um den stelle geschlossen. Plötzlich aber scheint der deutsche Verbund geht. Dies gilt auch für den genossenschaftli- Markt für die Privatbanken wieder interessant zu sein (B) chen Bereich – wir reden hier immer nur über die Spar- und sie versuchen, ihn zurückzuerobern. Genau in die- (D) kassen –, den wir ebenfalls für die Kreditversorgung so- sem Moment machen sich die FDP und die Union stark wohl in der Fläche als auch für die mittelständische für eine Privatisierung des öffentlich-rechtlichen Spar- Wirtschaft brauchen. kassenwesens. Das muss doch sehr verwundern. (Ludwig Stiegler [SPD]: Lenken Sie nicht ab! (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Es geht um die Privatisierung!) DIE GRÜNEN – Ludwig Stiegler [SPD]: Mal schauen, was da an Spenden geflossen ist! – – Auch nach einer Privatisierung kann der öffentlich- Gegenruf des Abg. Dirk Niebel [FDP]: Immer rechtliche Auftrag erfüllt werden, diese Verschwörungstheorien! Mein Gott!) (Ludwig Stiegler [SPD]: Nein!) Die Sparkassen sind in ihrer bisherigen öffentlich- rechtlichen Organisationsform ein Garant für die Stabili- und zwar dann, wenn man sich für die Rechtsform einer tät des deutschen Bankenwesens und der regionalen so- juristischen Person des privaten Rechts entscheidet. Man wie der mittelständischen Wirtschaft. Gerade die kleinen muss sich deshalb darüber klar werden, was man unter und mittelständischen Unternehmen haben dank der Privatisierung versteht. Sparkassen Aussicht auf Kredite, die ihnen von privat- (Ludwig Stiegler [SPD]: Sie wollen Sharehol- wirtschaftlich arbeitenden Bankinstituten nicht angebo- der Value! Das ist alles!) ten würden; diese haben sich vom Finanzgeschäft mit kleinen und mittleren Unternehmen weit gehend verab- Lassen Sie uns keine Szenarien an die Wand malen, schiedet. Es sind die Sparkassen, die mit besonderer Ver- die ohnehin nicht eintreten werden! Lassen Sie uns, die antwortung für die wirtschaftliche Entwicklung in ihrer wir die Strukturveränderungen vornehmen wollen, die Region handeln und lange und stabile Kundenbeziehun- Zeit lieber nutzen, um als Bundesgesetzgeber die Rah- gen pflegen. Das Engagement der Sparkassen für den menbedingungen in der Wirtschafts- und Finanzpolitik Mittelstand und ihre Regionen ist seit Jahren ungebro- so zu setzen, dass mehr Wirtschaftswachstum und Be- chen. Bei gleich hohen Kreditbestandszahlen finanzieren schäftigung generiert wird. die Sparkassen zudem erheblich mehr Einzelvorhaben als private Großbanken. Sie sind damit für die Förderung (Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!) des Mittelstandes unentbehrlich. Für die Privatkunden sind die Sparkassen insbesondere aufgrund ihrer flä- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: chendeckenden Versorgung mit Bankdienstleistungen Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende. bedeutsam. Internet- und Telefonbanking dürfen nicht 12640 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Dr. Bärbel Kofler (A) die einzigen Angebote einer Bank sein; es braucht auch (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) kundennahe Beratung und Betreuung vor Ort. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin Kofler, auch Sie sind eine neue Kolle- Wir haben in Deutschland ein Bankensystem, in dem gin, auch Sie haben heute Ihre erste Rede im Deutschen ein intensiver Wettbewerb herrscht. Dieser trägt dazu Bundestag gehalten. Wir gratulieren Ihnen recht herzlich bei, dass Bankdienstleistungen in Deutschland flächen- und wünschen Ihnen ebenfalls alles Gute für Ihre per- deckend und kostengünstig angeboten werden. Auf- sönliche und politische Zukunft. grund ihres öffentlichen Auftrages unterstützen die Spar- kassen zudem in produktiver Weise die strukturellen (Beifall Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Die Reformprozesse in Deutschland. Mit der Mittelstandsfi- Bayern-SPD rüstet auf!) nanzierung und den Vorsorgemöglichkeiten für alle Teile Das Wort hat der Kollege Hartmut Schauerte, CDU/ der Bevölkerung bilden die Sparkassen den notwendigen CSU-Fraktion. Resonanzboden dafür, dass Reformen in Deutschland im Einklang mit den Menschen erfolgreich sind. Hartmut Schauerte (CDU/CSU): (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Siehe Frau Präsidentin! Meine liebe Kolleginnen und Kolle- Hartz IV! – Weitere Zurufe von der CDU/ gen! Da es um eine wichtige Fragestellung in unserer CSU: Der Meinung sind wir auch! – Bestreitet mittelständisch organisierten Volkswirtschaft geht, soll- doch keiner!) ten wir die Sachlichkeit in den Vordergrund stellen und versuchen, zu überlegen, worüber hier überhaupt Streit – Ohne die Sparkassen, nur mit Privatbanken wäre es entstehen kann und ob er nötig ist. schon schlechter. Die Bundesregierung – Koch-Weser, Clement etc. – (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ hat mehrfach erklärt, dass das dreigliedrige Bankensys- DIE GRÜNEN) tem, also das Drei-Säulen-System, höchst renovierungs- Es gilt somit festzuhalten, dass durch das öffentlich- bedürftig sei und dass man die Dinge ändern müsse. rechtliche Sparkassenwesen in Deutschland ein wichti- (Ludwig Stiegler [SPD]: Deshalb muss man ger Beitrag zur Daseinsvorsorge geleistet wird. Es be- die Säule der Sparkasse nicht einreißen!) steht ein am Gemeinwohl orientiertes Verbandssystem aller Sparkassen. Die Forderungen nach Privatisierung Ich könnte Ihnen die Zitate zeigen. Wolfgang Clement sind hier schädlich. Daher lehnen wir diese ab. sagte: Auf dem deutschen Markt gibt es zu viele Kredit- (B) (D) institute. Ich sollte von hier aus nicht über eine Über- (Beifall bei der SPD) kreuzzusammenarbeit sprechen, aber ich bezweifle, dass Auch in diesem Bereich gilt, was wir aus der Erfahrung wir so weitermachen können wie bisher. – Koch-Weser mit Privatisierungen öffentlich-rechtlicher Einrichtun- plädierte im Oktober 2003 zum Verdruss der Sparkassen gen bereits kennen: Ein Mehr an Privatisierung heißt für säulenübergreifende Fusionen zwischen privaten nicht zwingend ein Mehr an Qualität. Banken, Sparkassen und Genossenschaftsbanken. Was ist das anderes, als die Kapitalbasis zu verbreitern und Darüber hinaus trägt das Drei-Sulen-System des Ban- den öffentlich-rechtlichen Auftrag zu schmälern? Die kensektors zur Krisenfestigkeit des deutschen Finanzsys- Gutachter des Finanzministers sind ganz aktuell dafür, tems bei. Daran hat der öffentlich-rechtliche Bankensek- die Rentabilität des deutschen Bankensystems zu stei- tor der Sparkassen einen erheblichen Anteil. Angesichts gern, der immer größeren, weltweiten Verflechtung der Fi- nanzmärkte ist Stabilität von unschätzbarem Wert. Das (Ludwig Stiegler [SPD]: Das sollen die aber internationale Finanzsystem ist immer wieder von Krisen selbst machen!) geschüttelt worden. Die Funktionsfähigkeit des deut- indem die Sparkassen zurückgedrängt werden. schen Finanzsystems wurde dadurch jedoch nicht beein- Die CDU wird auf ihrem Parteitag in Düsseldorf fol- trächtigt, was für unsere gesamte Volkswirtschaft von genden Text beschließen – ich darf Ihnen den Text vorle- großer Bedeutung war und ist. Nicht zuletzt dient die Sta- sen –, der jetzt abgestimmt ist: bilität des deutschen Banken- und Finanzsystems dem Vertrauensschutz für die Anlagen der Bürgerinnen und Bei der Weiterentwicklung des deutschen Banken- Bürger. Gerade dezentrale Kreditinstitute wie die Spar- marktes kommt den Sparkassen und Genossen- kassen tragen zur Stabilität in konjunkturell schwierigen schaftsbanken eine besondere Bedeutung im Phasen bei und helfen, negative Entwicklung abzufe- Hinblick auf die Kreditversorgung der mittelständi- dern. schen Wirtschaft zu. Hier liegt eine Rechtfertigung für die besondere Struktur des Sparkassensektors. Egal wer nach einer Privatisierung der Sparkassen ruft, ihm muss doch eines klar sein: Dadurch würde Das ist nach dem Parteitagsbeschluss das Programm der nicht nur die Daseinsvorsorge ganzer Regionen betrof- CDU. fen, sondern auch volkswirtschaftlicher Unsinn produ- (Beifall bei der CDU/CSU – Peter H. ziert. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: So steht Danke. es darin!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12641

Hartmut Schauerte (A) Die Bundestagsfraktion hat einen Antrag eingebracht, (Ludwig Stiegler [SPD]: Dafür braucht es kein (C) wonach die dreigliedrige Bankenstruktur in Deutschland privates Kapital!) zu erhalten und fortzuentwickeln ist usw. Was würden Sie denn von der Variante halten, dass man (Ludwig Stiegler [SPD]: Sagen Sie das dem der Bürgerschaft einer Stadt, also dem Mittelstand, die Carstensen! Rufen Sie die Schleswig-Holstei- ein hohes Interesse an dem Erhalt ihrer Sparkasse hat, ner zur Ordnung!) (Ludwig Stiegler [SPD]: Das kann eine stille Das und nichts anderes ist die Gefechtslage. Beteiligung sein!) Im internationalen Vergleich ist die Stabilität im Kre- erlaubt, sich an ihrer Sparkasse zu beteiligen, wodurch ditgewerbe in Deutschland hervorragend. Der stabilste die Sparkasse möglicherweise in den Mauern dieser Teil der deutschen Kreditwirtschaft war der Sparkassen- Stadt erhalten bleibt? und Genossenschaftssektor. Er wurde manchmal zwar (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. belächelt, aber er ist sehr stabil, wertvoll und nützlich. Dirk Niebel [FDP] – Ludwig Stiegler [SPD]: (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dann sollen sie sich still beteiligen! Das kön- Dirk Niebel [FDP] – Ludwig Stiegler [SPD]: nen sie heute schon!) Sagen Sie das mal dem Carstensen!) Das ist zum Beispiel ein Ziel, das mit dem Antrag in Kein Vernünftiger – das kann die CDU also überhaupt Schleswig-Holstein verfolgt wird. Was ist daran nicht treffen; denn in ihr sind alle äußerst vernünftig – schlecht? (Lachen des Abg. Florian Pronold [SPD]) (Ludwig Stiegler [SPD]: Man muss sie nicht zu Gesellschaftern machen!) kann also ernsthaft darüber nachdenken, die Sparkassen abzuschaffen. Diese Legendenbildung passt Ihnen ins Wir haben doch nichts anderes vor. Ich nenne nur das Programm. Wissen Sie, was Sie tun, wenn Sie so weiter- Genussscheinkapital. Das ist doch möglich. reden? Wir werden sowohl im Genossenschafts- als auch im (Ludwig Stiegler [SPD]: Distanzieren Sie sich Sparkassenbereich jede Modernisierung und Verbreite- von Schleswig-Holstein! Dann ist es gut!) rung mitmachen, wenn dafür gesorgt wird, dass mög- lichst viele dezentrale Bankdienstleistungen erhalten Sie sorgen dafür, dass sich diese Diskussion festfrisst. bleiben. Wir wollen keine Konzernierung, aber wir brau- Mit dieser Überzeichnung des Themas schaden Sie den chen an der einen oder anderen Stelle neues Kapital, um (B) Sparkassen sehr. Ich finde das nicht klug und nicht in die Konzentrationsbewegung möglicherweise sogar ver- (D) Ordnung. Ich muss das gar nicht vertiefen. langsamen zu können, damit wir ortsnäher bleiben. (Beifall bei der CDU/CSU) Sie reden davon, dass man spartenübergreifend mit- einander fusionieren kann. Die Banken haben zuallererst Die Bundesbank hat ausdrücklich bestätigt, wie sehr eine Dienstleistungsfunktion. die Sparkassen und die Genossenschaftsbanken zur Sta- bilität beitragen. Sie sind also ein Schatz. (Ludwig Stiegler [SPD]: Eben!) Die eigentliche Frage lautet ganz anders, nämlich: Sie sind nicht aus sich selbst heraus legitimiert, sondern Wie können wir in Deutschland möglichst viele dezen- sie sind legitimiert, weil sie die Finanzwirtschaft in mo- trale Bankdienstleistungen nah am Mittelstand, fest ver- dernen Volkswirtschaften betreiben und optimieren müs- ankert in den Regionen und verbunden mit Wettbewerb sen. aufrechterhalten? Stellen Sie sich einmal vor, die Genossenschaftsbank (Ludwig Stiegler [SPD]: Sagen Sie das dem und die Sparkasse vor Ort fusionieren. Damit sind in den Carstensen! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] meisten Städten und Gemeinden 80 Prozent der Finanz- [SPD]: Ziehen Sie den Antrag zurück! Dann dienstleistungen unseres Landes in einer Hand. Wo soll ist alles klar!) der arme Mittelständler dann noch einen Wettbewerber finden? Ich will Ihnen noch eine ganz nüchterne Frage stellen. In einer Stadt – egal, wie sie heißt – gibt es eine Spar- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: kasse, die sagt, dass ihr Markt zu klein ist oder dass ihr Herr Kollege Schauerte, Ihre Redezeit ist zu Ende. Kapital nicht reicht.

(Ludwig Stiegler [SPD]: Dann kann sie mit ei- Hartmut Schauerte (CDU/CSU): ner anderen fusionieren!) Wenn er mit den fusionierten Banken redet und diese In diesem Fall kann sie mit einer anderen Sparkasse ihm nicht mehr helfen wollen, dann hat er für den Rest fusionieren. Der Fusionsprozess in diesem Säulensystem seines Lebens keine Chance mehr. beschleunigt sich; Erhalten wir also diesen Wettbewerb! Alles, was den (Ludwig Stiegler [SPD]: Das ist okay!) Wettbewerb stärkt und möglichst viel Dezentralität er- möglicht, ist gut für den Mittelstand und den Standort am Ende werden ganze Regionen blankgezogen. Deutschland. Machen Sie hier keine Schaukämpfe! 12642 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) Herr Kollege Schauerte, Ihre Redezeit ist trotzdem DIE GRÜNEN) überschritten. Warum ist Regionalität so wichtig? Wir brauchen in Deutschland eine flächendeckende Versorgung der Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Kommunen mit Finanzdienstleistungen. Es ist die Bera- Die CDU/CSU wird dieses Ziel konsequent weiter- tung von Angesicht zu Angesicht, die die Sparkassen verfolgen. und Genossenschaftsbanken leisten. Ein Glück, dass wir Herzlichen Dank. sie haben! Auch sie müssen sich zwar nach der Decke strecken, aber sie haben ihr Regionalitätsprinzip erfolg- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) reich verteidigt. Was machen CDU und FDP? Sie holen in Schleswig- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Holstein zum großen Schlag gegen bewährte Strukturen Das Wort hat die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm, SPD- aus. Ich komme aus Schleswig-Holstein und verfolge Fraktion. diese Politik mit großer Sorge. Herr Bernhardt, Herr Dautzenberg und Herr Schauerte, wenn Sie sich hier hin- Gabriele Hiller-Ohm (SPD): stellen und behaupten, dass das gar nicht so ist, so sagen Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir Sie schlichtweg die Unwahrheit. wollen Arbeitsplätze in Deutschland sichern und neue (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Lesen Sie Arbeitsplätze schaffen. doch mal den Antrag!) (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Das versucht ihr Natürlich wollen CDU und FDP in Schleswig-Holstein schon seit sechs Jahren!) Dritten Beteiligungen an den Sparkassen ermöglichen Keine Frage: Dafür brauchen wir einen starken Mittel- und damit den Weg für Privatisierung freimachen. Ge- stand. nau darum geht es. (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Ihr seid die (Beifall bei der SPD) Mittelstandsvernichter!) Sie begründen ihr Anliegen auch. Angeblich ist die Die 3,3 Millionen kleinen und mittleren Unternehmen Eigenkapitalbasis der Sparkassen zu schmal und die sind es, die 70 Prozent aller Arbeitsplätze und sogar Banken somit nicht krisenfest. 80 Prozent der Ausbildungsplätze bereitstellen. Wir (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ (B) brauchen in Zeiten zunehmender Globalisierung stand- CSU]: Wo steht denn das? Du hast den Antrag (D) ortfeste Unternehmen, die ihre Produktionen nicht mir doch gar nicht gelesen! Du hast eine Brille und nichts, dir nichts ins Ausland transferieren, wenn sich kannst nicht lesen!) dort bessere Gewinnmaximierungsmöglichkeiten eröff- nen, und mal eben 200, 400, 1 000 oder mehr Menschen Alles Quatsch, sagen dazu die Sparkassen. Ihrer Mei- in die Arbeitslosigkeit entlassen. nung nach ist ihr Haus fit für Europa und damit fit für die Zukunft. Die Sparkassen sollten es doch wohl am Eines ist klar: Ohne wirtschaftsstarke, innovative und besten wissen. investitionsbereite mittelständische Unternehmen wer- den wir die Arbeitslosigkeit in unserem Land nicht in (Beifall bei der SPD) den Griff bekommen. Ohne Moos nichts los – dieser Wenn Sie ihnen nicht glauben, führe ich eine weitere Satz gilt auch für den Mittelstand. Um neue Ideen in Quelle an. Auch der Internationale Währungsfonds be- Produkte umzusetzen, brauchen Unternehmen Kapital. scheinigt dem deutschen Bankenwesen erstklassige Das finden sie nicht auf der Straße, sondern in Banken. Krisenfestigkeit. Diese hohe Sicherheit ist vor allem auf Wie sieht es hier aber aus? Immer mehr private Banken die öffentlich-rechtlichen Kreditinstitute zurückzufüh- und Kreditinstitute ziehen sich aus ihrer Verantwortung ren. zurück und lassen innovationsfreudige, hoffnungsvolle Unternehmer im Regen stehen. (Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Aber die in Lü- beck arbeiten gut!) (Ludwig Stiegler [SPD]: Sehr wahr!) Eines ist klar: Wenn die Tür für private Investoren Im letzten Jahr haben zum Beispiel nur 6 Prozent der auch nur einen Spalt breit geöffnet wird, werden die Handwerksbetriebe ihre Kredite von privaten Banken er- Großbanken nicht zögern, sie ganz aufzustoßen, und un- halten. liebsame Konkurrenz schlucken. Bewährte Sparkassen- Ich komme zu den Sparkassen. Wenn wir sie nicht landschaft ade; es wäre ihr Ende. hätten, dann sähe es düster aus. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall des Abg. Dr. Nicht auszudenken, was das für die Menschen vor allem [SPD]) im ländlichen Raum und für den Mittelstand bedeuten Sie stützen den Mittelstand vor allem durch ihre größere würde. Denn öffentlich-rechtliche Institute sind im Ge- Bereitschaft zur Kreditvergabe und durch ihre Regiona- gensatz zu den privaten Banken dem Gemeinwohl ver- lität. pflichtet. Damit wäre dann Schluss. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12643

Gabriele Hiller-Ohm (A) Deshalb sagen wir: Nein, nicht mit uns, Kolleginnen Stiegler den Antrag der CDU in Schleswig-Holstein (C) und Kollegen von der CDU und FDP aus Schleswig- nicht genau kennt. Wenn aber ein Minister aus diesem Holstein. Wir setzen uns für die ländlichen Regionen Land kommt, hier Falsches sagt und polemisiert, dann ist ein. Wir stärken den Mittelstand. das der Würde des Hauses nicht angemessen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU) Von keiner Seite wird bestritten, dass die Sparkassen Sie schwächen die ländliche Region, schaden dem Mit- ein deutsches Erfolgsmodell sind. Sie garantieren die Fi- telstand und grenzen Menschen aus. nanzierung des Mittelstandes sowie die Versorgung des ländlichen Raums mit Finanzdienstleistungen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) – Ludwig Stiegler [SPD]: Wir (Ludwig Stiegler [SPD]: Darum dürfen wir sie gehen mit der Deutschen Bank auf die nicht ruinieren!) Cayman Islands!) Der Name Sparkasse ist ein Markenzeichen, das jeder Werfen wir einen Blick in die USA und nach Großbri- Mitbürger kennt. Es steht für Kundennähe, persönliche tannien. Da gibt es nämlich das alles schon, womit Sie Ansprache, regionale Verwurzelung und die Betreuung uns in Schleswig-Holstein beglücken wollen. Dort be- von 75 Prozent aller Unternehmen in der Bundesrepu- stimmen die privaten Banken, wo es langgeht: hohe Ge- blik Deutschland. Stolz dürfen die Sparkassen darauf bühren, schlechte Dienstleistungen, von Verantwortung sein, dass vor nicht allzu langer Zeit der Sachverständi- für das Gemeinwohl keine Spur. Ich nenne ein Beispiel: genrat der Bundesregierung wieder bestätigt hat, dass In den USA ziehen Banker rote Linien um Stadtteile, in die Sparkassen und die Landesbanken einen möglichen denen sie keine Hypotheken vergeben. Die Auswirkun- Kreditengpass in Deutschland verhindert haben. gen sind so katastrophal, dass die Regierung schon vor (Ludwig Stiegler [SPD]: Sehr wahr!) einigen Jahren ein Gesetz erlassen musste, mit dem Ban- ken gezwungen werden sollen, dieses Verhalten zu än- Sparkassen und Landesbanken haben bei der Mittel- dern und Kredite und Dienstleistungen über alle sozialen standsfinanzierung nach Berechnungen der Bundesbank Gruppen und strukturschwachen Gebiete zu verteilen. seit Anfang 1999 ihren Marktanteil von 38 Prozent auf über 42 Prozent ausbauen können. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Ludwig Stiegler [SPD]: Darum lassen wir Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist zu Ende. Sie müssen auch die Hände davon!) jetzt den Schlusssatz sagen. Bei Krediten an Handwerksunternehmen liegt der (B) (D) (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Es reicht!) Marktanteil der Sparkassen bei 67 Prozent. Auch hier ist seit drei Jahren eine Steigerung um circa 3 Prozent fest- Gabriele Hiller-Ohm (SPD): stellbar. Da die Institute ständig überwacht werden müssen, ist (Ludwig Stiegler [SPD]: Das soll auch so blei- dies mit einem riesigen bürokratischen Aufwand verbun- ben!) den. Auf diese Verhältnisse verzichten wir dann doch lieber in Deutschland. Schützen wir unsere bewährten Im gleichen Zeitraum haben die privaten Großbanken ih- Sparkassenstrukturen! ren Kreditbestand um über 36 Milliarden Euro bzw. 20 Prozent zurückgefahren. Davon ist überwiegend der Mittelstand betroffen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist jetzt zu Ende. (Ludwig Stiegler [SPD]: Sag das dem Carstensen!) Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Auch bei den KfW-Programmen für kleine und mittlere Das ist gut für die Menschen, das ist gut für den Mit- Unternehmen sowie für die Existenzgründer liegen die telstand und das stärkt den Finanzplatz Deutschland. Sparkassen mit einem Marktanteil bei den Gesamtför- Danke schön! dersummen von 40 Prozent weit vor der Konkurrenz. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Ludwig Stiegler [SPD]: Ernst, das wissen wir DIE GRÜNEN) alles schon!) Das lässt sich hören. Ich möchte das ausdrücklich hier Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: feststellen. Das Wort hat der Kollege Ernst Hinsken, CDU/CSU- Fraktion. Für mich ist unbestritten: Das Drei-Säulen-Modell der deutschen Kreditwirtschaft hat sich bewährt. Es ist (Dirk Niebel [FDP]: Er spricht jetzt über die ein Erfolgsmodell. Berliner Bankgesellschaft!) (Ludwig Stiegler [SPD]: Sag das der CDU!) Ernst Hinsken (CDU/CSU): Wir dürfen alle froh darüber sein, dass der deutsche Ban- Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und kenmarkt stabil ist. Das ist der Mischung zu verdanken, Kollegen! Ich habe Verständnis dafür, dass Kollege zu der die Sparkassen als öffentlich-rechtliche Institute, 12644 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Ernst Hinsken (A) die Genossenschaftsbanken und auch die privaten Groß- Sie müssen sich endlich für bessere wirtschaftliche Rah- (C) banken gehören. menbedingungen einsetzen und damit die Voraussetzung dafür schaffen, dass der Mittelstand weiterhin anpacken (Ludwig Stiegler [SPD]: Willkommen im kann und dass es aufwärts geht. Wir müssen einen Klub!) grundsätzlichen Bewusstseinswandel in der Bundesrepu- Ich meine aber, dass gerade im einheitlichen europäi- blik Deutschland herbeiführen, eine Kultur, die von Un- schen Wirtschaftsraum regional tätige Kreditinstitute ein ternehmergeist und Leistungsbereitschaft geprägt ist. Ich Zukunftsmodell sein müssen. Daran sollten und müssen bin fest davon überzeugt, dass die Sparkassen auch dazu wir arbeiten. ihren Beitrag leisten. (Ludwig Stiegler [SPD]: Ernst, sag es ihnen!) (Ludwig Stiegler [SPD]: Sehr wahr! Und die unterstützen wir!) Ich sage auch deshalb ganz klar: Die Sparkassenfi- Sie sollten hier nicht schwarz in schwarz malen, nanzgruppe darf kein Steinbruch sein, aus dem sich Wettbewerber jeweils ein passendes Stück herausschla- (Ludwig Stiegler [SPD]: Die Sparkassen schrei- gen können. ben schwarze Zahlen und das mögen wir!) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Peter H. sondern auch die positiven Fortentwicklungen sehen, de- Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU] – Zurufe nen wir uns nicht verschließen können. von der SPD: Bravo! Sehr gut!) Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. – Ich bedanke mich für den Beifall. – Das genau will (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) auch die CDU Schleswig-Holstein, an der Spitze Harry Peter Carstensen. Das ist ganz klar. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist der Kol- SPD – Florian Pronold [SPD]: Da lacht die lege Florian Pronold, SPD-Fraktion. CDU selber!) Die Sparkassen sind die wichtigste Bank für Mittel- Florian Pronold (SPD): stand und Handwerk und neben den Genossenschafts- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- banken deren Hausbank. Sparkassenkredite sind der legen! Lieber Herr Hinsken – das darf ich jetzt sagen –, Treibstoff, der den Mittelstand voranbringt. Ohne die alles, was Sie hier zu Sparkassen vorgetragen haben, fin- Sparkassen wäre der Mittelstand nicht zu dem gewor- det, wie Sie an unserem Beifall gesehen haben, die volle (B) den, was er heute ist, nämlich Antriebsmotor der gesam- Unterstützung der SPD. Sie müssen es aber Ihren Kolle- (D) ten deutschen Wirtschaft und Hauptarbeitgeber in ginnen und Kollegen in Schleswig-Holstein sagen, denn Deutschland. die haben das noch nicht begriffen. Meine Damen und Herren, gerade als ein von einem (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Kreistag gewähltes Verwaltungsratsmitglied einer Spar- DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/ kasse weiß ich: Es gibt kaum noch einen Mittelständler, CSU – Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das der Geld braucht und nicht über die restriktive Kredit- ist eine kühne Behauptung!) vergabe klagt. Umfragen zeigen: Über die Hälfte der Fir- Heute ist der 11. 11. und um 11.11 Uhr beginnt die men haben Schwierigkeiten, Kredite zu bekommen. Die fünfte Jahreszeit. Eigenkapitaldecke wird immer dünner und beträgt im Schnitt höchstens 6 Prozent der Bilanzsumme. (Dirk Niebel [FDP]: Das hat man bei der Rede des Ministers gehört!) (Ludwig Stiegler [SPD]: Das musst du dem Wenn ich an das denke, was Herr Michelbach hier von Bernhardt sagen!) sich gegeben hat, kann ich nur sagen: Er hat in dieser Das wirtschaftliche Umfeld des Mittelstandes ist ge- fünften Jahreszeit die erste Büttenrede gehalten. Vor al- kennzeichnet durch schwache gesamtwirtschaftliche lem das, was Union und FDP in Schleswig-Holstein pla- Nachfrage, hohe Arbeitslosigkeit, ständig neue Rekorde nen, ist schlimmer als so mancher schlechte Faschings- bei den Unternehmensinsolvenzen, steigende Bürokra- scherz. Die fünfte Jahreszeit endet, wie mir bekannt ist, tiekosten, explodierende Energiepreise, insbesondere mit der Fastenzeit. Wenn man aber die Sparkassen priva- durch die Ökosteuer, hohe Steuern und Abgaben, künst- tisiert, bedeutet das Fastenzeit für immer, und zwar so- liche Konkurrenz durch staatlich subventionierte Ich- wohl für den Mittelstand als auch für die Masse der Bür- AGs, gerinnen und Bürger, die bisher davon profitieren, dass die Sparkassen auch dem Gemeinwohl verpflichtet sind. (Ludwig Stiegler [SPD]: Ernst, schick dich, die Zeit läuft ab!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Kollege Stiegler. Für diese Bremsklötze sind Sie, meine Damen und Herren, mit verantwortlich. Das kann nicht Ich erinnere mich noch sehr gut an die Aussagen der wegdiskutiert werden. Erfolgsmanager einer großen deutschen Bank und einer anderen Bank, die mit ihr fusioniert hat, sie seien nur (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) noch für Kunden da, die mindestens 200 000 DM – da- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12645

Florian Pronold (A) mals ging es noch um D-Mark – auf der hohen Kante ha- für den Standort Deutschland und dient weder dem Mit- (C) ben, und um das ganze „Kleinvieh“ sollten sich doch die telstand noch uns allen. Sparkassen kümmern. Daran erinnere ich mich noch (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ recht gut. Dieselben Nieten in Nadelstreifen haben sich DIE GRÜNEN) auf den Finanzmärkten das große Geld versprochen. Deswegen bitte ich Sie: Machen Sie nicht die Spar- (Otto Bernhardt [CDU/CSU]: So stellen Sie kassen kaputt, sondern reden Sie wie Ihr Kollege sich die Welt vor!) Hinsken Ihren Kollegen aus Schleswig-Holstein ordent- Wenn man heute in die Bilanzen der Banken schaut, lich ins Gewissen, diesen Unsinn zu unterlassen! sieht man bei den Sparkassen eine durchaus gute Er- Vielen Dank. tragslage, während eben jene, die immer nur auf Share- holder-Value zielen, jetzt mit dem Ofenrohr ins be- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rühmte Gebirge schauen. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Otto Bernhardt [CDU/CSU]: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Die Welt ist anders, ganz anders!) Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ausgerechnet denen, die eine solche Misswirtschaft Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und b auf: betrieben haben, wollen Sie jetzt über die Privatisierung a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- der Sparkassen auch noch dieses Erfolgsmodell auslie- richts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit fern. Es wäre ein Treppenwitz der Geschichte, wenn wir (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten diesen Unsinn mitmachen würden. Wir sind froh, dass es Klaus Brandner, Doris Barnett, Dr. Axel Berg, die Sparkassen als stabile dritte Säule unseres Banken- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD systems gibt, die sich durch die Gemeinwohlverpflich- sowie der Abgeordneten Fritz Kuhn, Volker Beck tung sowohl um den Mittelstand kümmert als auch für (Köln), Dr. Thea Dückert, weiterer Abgeordneter die kleinen Leute da ist. und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Ich wundere mich darüber, dass Sie immer wieder die gleiche Rede zur Mittelstandspolitik halten, Herr Für eine qualifizierte Mitbestimmung bei Michelbach, und ausgerechnet uns, die SPD, mit Vor- grenzüberschreitenden Fusionen würfen überhäufen, – Drucksachen 15/3466, 15/4087 – (Dirk Niebel [FDP]: Wen denn sonst?) (B) Berichterstattung: (D) die im Übrigen falsch sind. Wir haben vor kurzem ge- Abgeordnete Doris Barnett meinsam bei „Antenne Bayern“ über die Bürgerversi- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer cherung und die von der Union vorgesehene Kopfpau- Brüderle, Rainer Funke, Daniel Bahr (Münster), schale diskutiert. Sie haben sich für das Modell von weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP stark gemacht – damit waren Sie meines Wissens bisher der Einzige in der CSU –, Konzernmitbestimmung neu ordnen – Auf- sichtsräte und Eigentümerrechte stärken (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Ist das wahr?) – Drucksache 15/4038 – das eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes vorsieht. Das Überweisungsvorschlag: würde doch am meisten dem Mittelstand schaden, weil Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) das für die vielen Mittelständler der Grenzsteuersatz ist. Rechtsausschuss Sie als Mittelstandsvertreter fordern Steuererhöhungen, Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die die den Mittelstand treffen. Das bringen auch nur Sie Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen fertig. Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- DIE GRÜNEN) gin Doris Barnett, SPD-Fraktion. Lassen Sie mich zur Mittelstandspolitik noch eines anmerken. Wenn Sie so viel für den Mittelstand getan Doris Barnett (SPD): hätten wie wir – wir haben zum Beispiel die Anrechen- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! barkeit der Gewerbesteuer auf die Einkommensteuer er- Unser Antrag könnte keinen aktuelleren Bezug haben als möglicht, massivste Steuerentlastungen für den Mittel- den Schlag mit dem Holzhammer aus dem fernen Detroit stand geschaffen und das Meister-BAföG eingeführt; wir auf die Belegschaft bei Opel. haben mit der KfW zusammengearbeitet und im Rahmen von Basel II Korrekturen vorgenommen –, dann würden Managementfehler wie Investitionszurückhaltung und Sie mit einer Monstranz über jeden Marktplatz laufen Innovationsfeindlichkeit bei ständig wechselnden Vor- und sich beweihräuchern lassen. ständen in Deutschland haben bei Opel zu Betriebsergeb- nissen geführt, die zu harschen Maßnahmen zwingen, Sie machen aber das Gegenteil und reden alles nämlich Tausende Arbeitsplätze in Europa und damit schlecht. Diese Nestbeschmutzung ist die größte Gefahr auch Existenzen von Menschen zu vernichten. Diese 12646 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Doris Barnett (A) Menschen sind aber keine Schachfiguren, selbst wenn die Deshalb haben wir uns nach jahrelangen Verhandlungen (C) Mitarbeiter oft so behandelt werden. erfolgreich eingesetzt und durchgesetzt, dass auch in der Europäischen Gesellschaft, der SE, deutsches Mitbe- Deshalb mutet es schon seltsam an, wenn gerade die stimmungsrecht möglich ist. Für dieses gute Verhand- deutsche Mitbestimmung – also der Betriebsrat und die lungsergebnis darf ich an dieser Stelle unseren Kollegin- Arbeitnehmervertretung im Aufsichtsrat – die Schuld nen und Kollegen des Europäischen Parlamentes, den dafür tragen sollen. Hätte man den Kolleginnen und Kol- Gewerkschaften, aber auch unserer Regierung Danke sa- legen nur rechtzeitig zugehört, wäre die Situation heute gen. eine andere. (Beifall bei der SPD) Die demokratische Teilhabe der Arbeitnehmerschaft – des Faktors Arbeit – an Unternehmensentscheidungen Nachdem die Diskussion über die Richtlinie zur Eu- ist doch gerade die Kehrseite der Medaille der abhängi- ropäischen Gesellschaft zu dem wirklich vernünftigen gen Beschäftigung, der Bindung der Existenz an den Ar- Ergebnis geführt hat, dass sich Kapital und Arbeit über beitsplatz. Im Jahr 2004 kann doch niemand glauben, die Beteiligung auf dem Wege der Verhandlung einigen dass wir uns eine Rückkehr zu Arbeitsbedingungen der und dass – falls das fehlschlägt – die günstigere Mitbe- vorindustriellen Zeitrechnung leisten können. Eine glo- stimmungsregelung zieht, wollen wir dies auch bei der balisierte Wirtschaft bedingt geradezu die gleichmäßige Fusionsrichtlinie umsetzen. Das ist doch die logische Partizipation der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapi- Konsequenz. Oder glauben Sie wirklich, dass wir eine tal. quasi offizielle SE-Regelung wollen, die auch das deut- Wer engagierte Mitarbeiter will, die mit Einfallsreich- sche Mitbestimmungsrecht zulässt, um sie mithilfe einer tum, Erfindungsgeist und Interesse ihre Arbeit versehen, Fusionsrichtlinie durch die Hintertür wieder zu kassie- kann nicht erwarten, dass die demokratischen Prinzipien ren, einer Richtlinie für Firmenzusammenlegungen – im am Werkstor abgegeben werden. Das wissen nicht nur Gegensatz zu Firmengründungen –, die im Falle des die Gewerkschaften in Deutschland, sondern selbst die Scheiterns der Verhandlungen über die Mitbestimmung Arbeitgeber akzeptieren dies und praktizieren es auch. als Lösung das Recht des Sitzlandes vorsieht? Wie die Was wäre aus VW oder der BASF geworden, wenn die Verhandlungen über die Mitbestimmungsrechte der Ar- Umstrukturierungen nach Gutsherrenart statt mit Ver- beitnehmer dann aussehen würden, können wir uns leb- nunft vorgenommen worden wären? haft vorstellen. Das Ergebnis – dafür braucht man keine Kugel – wüssten wir ebenfalls im Voraus. In dem Betrieb in meiner Heimat wurden binnen 15 Jahren ohne allzu große Verwerfungen 18 000 Ar- Wir wollen ein soziales Europa, in dem die Menschen beitsplätze ausgelagert und abgebaut, sodass das Unter- im Mittelpunkt stehen. Deshalb ist auch bei grenzüber- (B) nehmen dank der konstruktiven Mitarbeit der Arbeitneh- schreitenden Fusionen von Firmen die Unternehmens- (D) mer im Betriebsrat und im Aufsichtsrat – also der mitbestimmung kein Nachteil, sondern wird sich als pro- paritätischen Mitbestimmung – und der IG BCE heute duktive Kraft erweisen. Daher kann die von den eine stärkere Marktstellung als je zuvor hat und sogar Arbeitgebern geforderte Reform der Aufsichtsräte nicht zum Worldplayer wurde. Wenn nun Teile des Arbeitge- funktionieren, wenn sie einseitig die Arbeitnehmerseite berlagers behaupten, die Mitbestimmung sei ein Irrtum schwächt. Handeln ist gefordert, aber in eine ganz an- der Geschichte, muss man sich fragen, in welchem Jahr- dere Richtung. In den Aufsichtsräten internationaler hundert und in welchem Land diese Leute leben. Nach- Konzerne, die bei uns ihren Sitz haben, müssen zum Bei- vollziehen kann man das nicht, da Herr Rogowski selbst spiel auch ausländische Arbeitnehmervertreter sitzen. nie schlecht über die Arbeitnehmervertreter im Auf- Deshalb ist das Wahlrecht zu öffnen. Wir brauchen gut sichtsrat seines eigenen Unternehmens gesprochen hat. informierte und qualifizierte Aufsichtsräte auf beiden Aber vielleicht wollte er im vorauseilenden Gehorsam Seiten. Denn wir meinen es mit der Unternehmenskon- europäische Unternehmen, besonders solche, die mit trolle doch wirklich ernst, oder? deutschen fusionieren wollen, vor der deutschen Mitbe- Die Reform des Unternehmensrechts ist notwendig stimmung retten. Oder steckt dahinter vielleicht doch und muss durchgeführt werden. Aber wer glaubt, dass mehr, nämlich dass unser bewährtes Mitbestimmungs- bei dieser Gelegenheit die Mitbestimmung abgeschafft, recht mit Hinweis auf die EU-Kommission und die Welt- zumindest massiv zurückgeführt werden kann, wird lage generell geschleift werden soll? nicht nur mit dem Widerstand der Gewerkschaften und Entgegen der von interessierter Seite ständig erhobe- der Koalition rechnen müssen. Vielmehr hat sich auch nen Behauptung, die deutsche Mitbestimmung sei ein- Heiner Geißler bei denjenigen eingereiht, die Wider- zigartig – das ist sie auch – und nirgendwo sonst gebe es stand leisten werden. Bei einer Veranstaltung der so etwas, kann ich feststellen, dass es Mitbestimmungs- Konrad-Adenauer-Stiftung in Saarburg vor gerade ein- regelungen in 18 von 25 EU-Staaten gibt. Diese sind mal drei Tagen forderte er die großen Volksparteien, also zwar anders ausgestaltet. Dennoch weiß man auch dort, auch die CDU/CSU, auf, die derzeitige Weltwirtschaft dass die Beteiligung von Arbeitnehmern an Entschei- aufzuhalten, weil sie nur das Recht des Stärkeren kenne. dungsprozessen der Unternehmen sinnvoll ist. Nicht um- In der heutigen Ausgabe der „Zeit“ sagt der CDU-Politi- sonst beneidet man uns wegen des sozialen Friedens in ker: den deutschen Betrieben und der damit verbundenen Die Arbeiter in den Industriestaaten und ihre Ge- verschwindend geringen Zahl an Ausfalltagen. werkschaften, die angesichts der Massenarbeitslo- (Beifall bei der SPD) sigkeit mit dem Rücken an der Wand stehen, fühlen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12647

Doris Barnett (A) sich anonymen Mächten ausgeliefert, die von Men- Die Auffassungen der Mitgliedstaaten zur Mitbestim- (C) schen beherrscht werden, deren Gier nach Geld ihre mung von Arbeitnehmern in den Unternehmensorganen Hirne zerfrisst … gehen dabei in Europa krass auseinander. Aus deutscher Sicht ist immerhin erfreulich, dass sich die Europäische Recht hat er. Der Shareholder-Value wird nie ein Ersatz Kommission bereits 1975 prinzipiell zu einer gemein- für Mitarbeiter sein, die ihre ganze Kraft, ihr Können und ihre Leistungsfähigkeit für ihr Unternehmen ein- schaftsrechtlichen Verankerung des Mitbestimmungs- bringen, wenn sie bei Entscheidungen mitwirken kön- gedankens bekannt hat. Dies wiederum ist verstärkt nen, die letztlich auch ihre Existenz bestimmen. worden in der Gemeinschaftscharta der sozialen Grund- rechte der Arbeitnehmer vom 9. Dezember 1989 und (Beifall bei der SPD) auch in Art. 137 Abs. 3 des EG-Vertrages. Wer also be- Wenn das endlich verstanden wird, wenn begriffen hauptet, der Mitbestimmungsgedanke sei in Europa wird, dass der Mitarbeiter wertvoller ist als ein schneller nicht anerkannt – manchmal hört man dies in diesen Ta- kurzfristiger Gewinn, dann wird auch begriffen, dass die gen –, der verkennt die tatsächliche Rechtslage. Mitbestimmung der Arbeitnehmerseite kein Hemm- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) schuh, sondern ein Siebenmeilenstiefel für Unternehmen im Umbruch sein kann. Höchst streitig ist allerdings, wie das Mitbestim- Bei einer sich ständig ändernden Welt wird es auch mungsrecht im europäischen Gesellschaftsrecht veran- ständigen Umbruch geben, der am besten mit den kert werden soll. Diese Frage wird sich nicht nur bei der Mitarbeitern bewältigt wird. Das sehen wir so, das sieht Behandlung der Richtlinie über grenzüberschreitende Heiner Geißler so. Deshalb unsere Einladung an die Fusionen stellen, sondern auch bei der Diskussion über CDU/CSU, an die CDA-Kollegen, besonders an den die Schaffung der europäischen Genossenschaft, einer Kollegen Laumann: Wenn Sie Ihre Partei tatsächlich als europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft, die wie- die „Mutter der sozialen Marktwirtschaft“ betrachten, derum das GmbH-Recht angleichen soll, insbesondere wie es Heiner Geißler tut, dann unterstützen Sie uns und aber bei der Gestaltung des europäischen Konzernrechts. die Regierung in den Anstrengungen, die Fusionsricht- linie nicht zu einer Möglichkeit der Flucht aus der deut- Bei all diesen Regelungen bleibt das deutsche Mitbe- schen Mitbestimmung werden zu lassen. stimmungsrecht der Hauptstreitpunkt. Die Bundesregie- rungen unter Helmut Kohl – daran muss man an dieser Vielen Dank. Stelle wieder erinnern – haben bis 1998 stets deutlich ge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ macht, dass ein europäisches Gesellschaftsrecht, wel- DIE GRÜNEN) ches wegen der Mitbestimmungsregelung zu Standort- (B) nachteilen für Deutschland führen kann, von deutschen (D) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Regierungen nicht akzeptiert wird. Auf diese Weise ha- Das Wort hat der Kollege Professor Dr. Rolf ben unionsgeführte Bundesregierungen die Unterneh- Bietmann, CDU/CSU-Fraktion. mensmitbestimmung in Deutschland vor europaweiter Aushöhlung schützen können. Dr. Rolf Bietmann (CDU/CSU): Mit dem hier so gelobten Formelkompromiss des Jah- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau res 2001 hat Rot-Grün diesen Pfad erstmals verlassen Kollegin Barnett, Sie haben natürlich Recht: Die Union, und einer Verhandlungslösung zugestimmt. Folge ist, CDU und CSU, sind tatsächlich Mutter, Vater, Erfinder dass der Wettbewerb unter den nationalen Mitbestim- der sozialen Marktwirtschaft. Wir lassen nicht zu, dass mungsregelungen in der Europäischen Gemeinschaft das Wort „sozial“ vom Wort „Marktwirtschaft“ abge- nunmehr eröffnet ist. trennt wird; „sozial“ und „Marktwirtschaft“ gehören für uns zusammen. Deswegen sind wir auch Befürworter Wenn heute also über Flucht aus der deutschen Mitbe- der deutschen Mitbestimmung. Wir haben an dieser Mit- stimmung geredet wird, so ist dies auch ein Ergebnis des bestimmung seit 1976 maßgeblich gearbeitet. völlig unausgereiften Kompromisses von 2001. Die Ei- Heute geht es aber nicht um die deutsche Mitbestim- nigung der damals 15 Mitgliedsländer auf die Richtlinie mung, sondern um die Mitbestimmung bei grenzüber- zur Mitbestimmung eröffnet die Möglichkeit, das deut- schreitenden Fusionen, das heißt, es geht um europäi- sche Mitbestimmungsrecht vertraglich aufzuheben, zu- sches Recht. Ihr Redebeitrag hat bei mir den Eindruck mindest aber die Möglichkeit, Europäische Aktienge- hinterlassen, dass Sie überhaupt nicht zur Kenntnis neh- sellschaften unter Außerachtlassung der deutschen men, was sich auf europäischer Ebene zwischenzeitlich Mitbestimmungsregelungen zu gründen. Wenn sich da- getan hat und wie sich das europäische Recht weiterent- her ausgerechnet der Bundeskanzler in diesen Tagen vor wickelt hat. Wir haben in Europa 40 Jahre benötigt, um den Delegierten der Eisenbahnergewerkschaft Transnet zur Europäischen Aktiengesellschaft zu kommen. Diese zum Bewahrer der deutschen Mitbestimmung aufspielt 40 Jahre waren im Kern durch einen Streit um die Mit- und an alle appelliert, die Finger von der Mitbestim- bestimmung von Arbeitnehmern gekennzeichnet. Wer in mung zu lassen, so ist dies angesichts seiner eigenen einem Wirtschaftsraum wie Europa aber gemeinsam Politik in Europa ein geradezu dreister Versuch, Men- handeln will, der braucht natürlich auch gemeinsame Or- schen für dumm zu verkaufen. ganisationsformen. Deswegen brauchen wir in Europa eine Neustrukturierung des Gesellschaftsrechts. Daran (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- müssen wir uns in Deutschland beteiligen. neten der FDP) 12648 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Dr. Rolf Bietmann (A) Mit dem Formelkompromiss von Nizza ist die Tür für Der sich hieraus ergebende Standortnachteil wird dau- (C) den nunmehr so beklagten Wettbewerb um die interes- erhaft zu schweren Schäden für unsere Wirtschaft füh- santesten nationalen mitbestimmungsrechtlichen Lösun- ren. Darum ist es nur natürlich, dass Arbeitgeber wie Ge- gen geöffnet worden. Das hat Rot-Grün zu verantworten. werkschaften über die Praktizierung der Mitbestimmung in Europa neu nachdenken müssen. Gerade bei Fusionen Der Europäische Gerichtshof hat in der Folgezeit in von Unternehmen drängt es sich auf, den fusionierenden einer Vielzahl von Entscheidungen aufgezeigt, dass die Parteien über vertragliche Vereinbarungen die Möglich- von Ihnen beklagte Flucht aus der deutschen Mitbestim- keit der Ausgestaltung der Mitbestimmung im unterneh- mung europarechtlich nicht mehr aufzuhalten ist. Spä- merischen Bereich zu übertragen. Nur wer den Mut hat, testens seit der so genannten Überseering-Entschei- das Wie der unternehmerischen Mitbestimmung Arbeit- dung vom November 2002 steht fest, dass die gebern und Arbeitnehmern in Unternehmen und Betrie- Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Rechtsfä- ben zu überlassen, wird die erkennbaren Standortnach- higkeit und damit die Parteifähigkeit einer Gesellschaft teile für Deutschland abwenden können. Zum Schutz der zu achten haben, die diese Gesellschaft in dem Staat ih- Arbeitnehmer reicht es dann aus, eine fusionierte Gesell- rer Gründung besitzt. Diese Voraussetzung war bisher schaft erst dann handelsrechtlich einzutragen, wenn eine nach deutschem Recht nicht gegeben. Mit anderen Wor- Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer, ten heißt dies, dass europäische Unternehmen mit Sitz gegebenenfalls auch durch besondere Schiedsverfahren, außerhalb Deutschlands aufgrund der Niederlassungs- nachgewiesen ist. freiheit in Deutschland Niederlassungen in beliebiger Größe betreiben können, ohne dem deutschen Mitbe- Nach alledem kann die Union die vorliegenden An- stimmungsrecht zu unterliegen. Es ist nicht einmal zu träge nicht unterstützen. SPD und Grünen ist vielmehr beanstanden, wenn eine Gesellschaft nur deshalb im dringend anzuraten, die europäische Wirklichkeit auch Ausland gegründet wird, um sie bei Tätigwerden in in Sachen Mitbestimmung zur Kenntnis zu nehmen und Deutschland dem deutschen Mitbestimmungsrecht zu mit uns weitere Schäden für den Wirtschaftsstandort entziehen. Deutschland zu verhindern. Wer daher, wie Rot-Grün im vorliegenden Antrag, die Ich sage Ihnen: Es ist höchste Zeit, endlich damit auf- Bundesregierung auffordert, zu verhindern, dass durch zuhören, uns immer wieder selber mit dem Segen der europäische Regelungen die Flucht aus der deutschen Mitbestimmungsordnung zu beweihräuchern. Die deut- Mitbestimmung ermöglicht wird, der nimmt die europäi- sche Mitbestimmung hat natürlich ihren Erfolgsweg, sche Rechtslage nicht zur Kenntnis oder täuscht bewusst aber europaweit werden Fusionen und Neugründungen die deutsche Öffentlichkeit. wegen dieser Mitbestimmungsordnung ohne deutsche (B) (Dr. [SPD]: Oder beides!) Unternehmen stattfinden. (D)

Die europäische Entwicklung ist seit der Einigung Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: über die Europäische Aktiengesellschaft in großen Schritten weitergegangen. Der deutsche Sonderweg in Herr Kollege. Sachen Mitbestimmung wird von der europäischen Wirklichkeit eingeholt. Im Vergleich der Rechtsordnun- Dr. Rolf Bietmann (CDU/CSU): gen hat Deutschland mit seiner ausgeprägten unterneh- Wir sagen weiterhin Ja zum Mitbestimmungsrecht bei merischen Mitbestimmung heute einen Standortnachteil der deutschen Aktiengesellschaft und bei der deutschen gegenüber allen anderen europäischen Staaten. Grün- GmbH. dungen europäischer Gesellschaften unter deutscher Be- teiligung werden eben wegen des hiesigen Mitbestim- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: mungsmodells gescheut. Wir mögen auf die deutsche Herr Kollege, schauen Sie bitte auf die Uhr. Mitbestimmung stolz sein; im Ergebnis wird uns dieses Modell von möglichen Neuordnungen in Europa aus- schließen. Niemand – auch nicht die Bundesregierung – Dr. Rolf Bietmann (CDU/CSU): kann hiervor die Augen verschließen. Von daher ist es Das ist mein letzter Satz. – Wir sagen, dass wir ange- eher ein kontraproduktives Ablenkungsmanöver, nun- sichts der europarechtlichen Entwicklungen darüber dis- mehr die Bundesregierung aufzufordern, durch europäi- kutieren und hier zu neuen Lösungen kommen müssen. sche Regelungen die Flucht aus der deutschen Mitbe- Da bringt es nichts, Frau Kollegin, die Frage zu diskutie- stimmung zu verhindern. Ihr Antrag ist Dokument einer ren, wer mehr und wer weniger für Mitbestimmung ist. gescheiterten rot-grünen Europapolitik in Sachen Mitbe- stimmung. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall bei der CDU/CSU) Herr Kollege, ich dachte, es wäre Ihr letzter Satz. Rot-Grün trägt Verantwortung dafür, dass Deutsch- land im Wettbewerb der europäischen Rechtsordnungen Dr. Rolf Bietmann (CDU/CSU): ohne klare Positionierung in dieser Frage ausgespielt Die Union ist für Mitbestimmung. Wir werden unse- wird. rer Verantwortung nachkommen und sie auch europa- weit verankern. (Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]: Wo er Recht hat, hat er Recht!) (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12649

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Jetzt zu Ihrem Argument, die Bundesregierung hätte (C) Das Wort hat der Kollege Fritz Kuhn, Bündnis 90/Die mit ihrer Zustimmung zur Einführung der Europäischen Grünen. Gesellschaft die Mitbestimmung geschleift. So haben Sie ja argumentiert, wenn ich Sie richtig verstanden habe. Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: De facto Die Union erstaunt mich manchmal schon. Ich will Ih- ist es so!) nen auch sagen, warum. Wenn wir hier Mitbestim- Dazu kann ich nur sagen: Das ist wirklich ein äußerst mungsdebatten führen – das war bei der letzten über die abstruses Argument. Stellen Sie sich einmal vor, was das Europäische Gesellschaft so und ist auch heute bei der bedeutet hätte, wenn die Bundesregierung diesem Kom- über die Fusionsrichtlinie so –, dann wird jemand als promiss nicht zugestimmt hätte. Sie wären doch die Ers- Redner benannt, der uns erzählt, die Union bekenne sich ten gewesen, die gesagt hätten: Nach jahrzehntelangen zur Mitbestimmung. Verhandlungen hat die Bundesregierung verhindert, dass (Dr. Rainer Wend [SPD]: Sehr richtig!) es zur Einführung der Europäischen Gesellschaft kommt. Dieses Argument lief doch schon über die Auf Podiumsdiskussionen bei politischen Veranstaltun- Ticker, bis Sie merkten, dass es sich anders verhält. Dass gen oder in Talkshows treten sehr häufig Vertreter der man Kompromisse eingehen muss, wenn es um die Har- Union auf, zum Beispiel der Herr Merz, die sagen, die monisierung von Mitbestimmungsmodellen unterschied- Mitbestimmung sei ein Risiko für den Standort Deutsch- licher europäischer Volkswirtschaften geht, ist doch land. Was nun, meine Damen und Herren? Darf eine wohl logisch. Volkspartei nach dem Motto verfahren, wir machen es, (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Dazu muss wie es gefällt? Ich sage klipp und klar: So läuft es nicht, man auch stehen!) dass bei jeder Themenstellung jeweils ein anderer, das jeweilige Publikum ansprechender Redner auftritt. Sie Es ist eine gute Lösung, dass bei der Europäischen Ge- müssen öffentlich klar und deutlich sagen, was Sie wirk- sellschaft zuerst über das Mitbestimmungsmodell ver- lich wollen. handelt wird, bevor eine starre Vorschrift greift. Deshalb haben wir zugestimmt. Von daher ist also Ihr Argument (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht viel wert. und bei der SPD) Jetzt komme ich auf die Fusionsrichtlinie zu spre- Damit komme ich zum springenden Punkt: Wenn Sie, chen. Es ist doch klar, dass wir nicht sagen können, bei (B) Herr Bietmann, für die Mitbestimmung sind, also für et- der Europäischen Gesellschaft wurde eine richtige Kon- (D) was, was sich in Deutschland bewährt hat, dann ist es struktion gefunden, aber bei der Fusionsrichtlinie regeln nur vernünftig, auch in Europa dafür zu werben, dass wir das anders. So hat ja die EU-Kommission vorge- diese richtige und gute Lösung dort zum Tragen kommt. schlagen, andere Mitbestimmungsmodelle vorzusehen, Ich kann doch nicht hergehen und sagen: Bei uns finde die in unseren Augen schlechter wären. Deswegen ich sie gut, aber auf europäischer Ebene bin ich gegen verhandeln wir über den vorliegenden Antrag. Im Prin- ihre Umsetzung, weil das einen Standortnachteil nach zip wird in ihm nichts anderes gesagt, als dass bei der sich zöge. Fusionsrichtlinie ein ähnliches Modell festgeschrieben (Dr. Rolf Bietmann [CDU/CSU]: Ist doch werden soll wie bei der Europäischen Gesellschaft. rechtlich längst erledigt!) (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Sie werden es aber nicht erreichen! Das ist der Punkt!) Diese Haltung vertreten Sie aber gegenwärtig in den ent- sprechenden Debatten. Wenn Sie sich vor Ihrer Rede besser informiert hätten, Herr Kollege, hätten Sie wissen können, dass unter der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN irischen Ratspräsidentschaft ein neuer Vorschlag auf und bei der SPD) den Tisch gelegt wurde. Gemäß diesem sollen in der Fu- Damit kommen Sie in diesem Hause nicht durch, weil sionsrichtlinie analoge Regelungen wie bei der Europäi- wir immer dann, wenn es notwendig ist, genau zuhören. schen Gesellschaft vorgesehen werden, indem zunächst verhandelt wird und erst dann, wenn man zu keinem Er- Jetzt wollen wir einmal Ordnung und Struktur in die- gebnis kommt, so wie bei der Europäischen Gesellschaft sen Punkt hineinbringen. Dabei will ich gleich auf Ihre verfahren wird. Das halte ich für vernünftig. Deswegen Argumente eingehen. Wir haben für die Europäische Ge- begrüßen wir einhellig den Vorschlag, den die irische sellschaft eine, wie ich finde, vernünftige Lösung gefun- Ratspräsidentschaft unterbreitet hat. Sie sollten sich jetzt den, nämlich ein abgestuftes Verfahren: Es wird ver- eigentlich nur noch dafür einsetzen, dass er durch- handelt und erst dann, wenn man sich nicht einigt, kommt. Damit hätten wir in beiden Bereichen, die wir zu greifen die Regelungen des Landes, in dem die Mitbe- gestalten hatten, klare Regelungen. stimmung am stärksten ausgeprägt ist, etwa in Form der (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ paritätischen Mitbestimmung. Hierdurch wird, wenn es DIE GRÜNEN) Probleme bei der praktischen Umsetzung gibt, ein hoher Druck auf die Verhandlungen ausgeübt. Genau das wol- Wenn Sie genau hinschauen, dann sehen Sie, dass es len wir. bei dem irischen Vorschlag ein praktisches Problem gibt, 12650 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Fritz Kuhn (A) das noch nicht gelöst ist. Was passiert, wenn ein dualis- Rainer Brüderle (FDP): (C) tisch strukturierter Betrieb, der einen Vorstand und einen Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Aufsichtrat hat, mit einem monistisch strukturierten Be- erste Lesung des Antrags der Regierungskoalition fand trieb, der einen Verwaltungsrat und ein Board of Direc- in einer Nachtsitzung und findet heute zu einer wenig at- tors hat, fusioniert? Zu dieser Fragestellung gibt es den traktiven Zeit statt. Das Ganze ist meines Erachtens eine Vorschlag von der EU, dass nur ein Drittel der Auf- Art Placeboeffekt, den Sie bei Ihren Gewerkschafts- sichtsratssitze von Arbeitnehmervertretern besetzt wird. freunden erzielen wollen. Die Bundesregierung wird Das halte ich für falsch. Da muss meines Erachtens meiner Einschätzung nach nicht ernsthaft meinen, dass nachverhandelt werden. sie auf dieser Basis in Brüssel Verhandlungen führen kann. Der letzte Punkt, den ich in der mir verbleibenden Re- dezeit noch ansprechen will, ist Ihr Diskussionsumfeld. Am deutschen Mitbestimmungswesen wird die Welt Schauen Sie sich doch einmal das Diskussionsumfeld sicherlich nicht genesen. an, in dem Sie sich bewegen. Da gibt es Leute aus dem (Beifall bei der FDP) Unternehmerlager – zum Beispiel Herrn Rogowski –, die sagen, die Mitbestimmung sei ein historischer Irr- Kein Land in Europa hat die Absicht, die deutsche Aus- tum. BDA und BDI schlagen jetzt vor, bei der Mitbe- formung der paritätischen Mitbestimmung zu über- stimmung nicht über ein Drittel der Sitze hinauszugehen. nehmen; kein Land in Europa wird sie übernehmen. Ihre Das heißt, auf der einen Seite starten Leute, die zum Teil protektionistische Haltung bei der Mitbestimmungsfrage in der Union oder unionsnah sind, einen breiten Angriff gefährdet den Unternehmensstandort Deutschland. auf die Mitbestimmung. Auf der anderen Seite gibt es (Peter Dreßen [SPD]: Schwachsinn!) praktische Unternehmer wie die aus Zuffenhausen und aus meiner Heimatstadt , die sagen, dass sich Die Erfahrungen haben es gezeigt: Die Unternehmen, die Mitbestimmung in vielen praktischen Konflikten so die nur verlängerte Werkbänke sind und deren Entschei- bewährt hat, dass sie sie nicht missen möchten. Die dungszentren – die Konzernzentralen und Holdings – Union weiß jetzt nicht so richtig, ob sie sich nach der nicht im Lande sitzen, sind am ehesten vom Arbeits- BDA, nach dem BDI oder nach Herrn Merz richten soll platzabbau betroffen. Deshalb ist Ihre protektionistische oder ob sie sich nach dem Arbeitnehmerflügel richten Haltung falsch. Ich begrüße es übrigens sehr, dass sich und grundsätzliche Bekenntnisse zur Mitbestimmung der CDU-Wirtschaftsrat unseren Vorstellungen weitest- ablegen soll. gehend angeschlossen hat. (Beifall bei der FDP – Zuruf von der SPD: (Klaus Brandner [SPD]: Nach Herrn Göhner, Aha! – Klaus Brandner [SPD]: Da klatscht von (B) nach der BDA!) (D) der CDA keiner!) Ich kann nur sagen: Wir von den Grünen halten die Was man machen muss, ist, die Unternehmensverfas- Mitbestimmung in Deutschland für ein gutes Modell. Es sung in Deutschland zu modernisieren. Wir brauchen gibt nichts Gutes, was man nicht reformieren könnte. Es eine Runderneuerung. Wir müssen die Aufsichtsräte ver- gibt natürlich Punkte, die man reformieren muss. Wir kleinern – nach unserer Ansicht höchstens auf zwölf Per- müssen uns zum Beispiel fragen, ob bei der paritätischen sonen – und die Eigentumsrechte stärken. Es sollte das Mitbestimmung die Zahl der Aufsichtsräte nicht zu groß Recht der Eigentümer, also der Hauptversammlung ist; denn Aufsichtsrat und Vorstand tagen meistens zu- sein, zu entscheiden, ob Managergehälter veröffentlicht sammen, dann sitzen zu viele Leute am Tisch. Ich finde, werden und ob es Zulagenprämien oder Ähnliches gibt. dass man so etwas regeln kann, ohne die paritätische So etwas sollen die entscheiden, denen das Unternehmen Mitbestimmung pauschal anzugreifen, so wie es die gehört. BDA getan hat. Man muss konstruktiv nach vorne ge- richtet die Mitbestimmung verbessern, um sie zu bewah- (Beifall bei der FDP) ren. Es sollte eine Schamfrist geben, wenn ein Vorstandsvor- sitzender Aufsichtsratsvorsitzender werden will. Das (Jürgen Türk [FDP]: Wie wollen Sie es denn kann nicht sofort sein, sonst kontrolliert der Aufsichts- machen?) ratsvorsitzende seine frühere Tätigkeit als Vorstandsvor- Das sollte die Lösung sein. Wenn Sie dem zustimmen, sitzender. dann können Sie jetzt – weil ich zum Schluss komme – (Beifall bei der FDP – Dr. Thea Dünckert [BÜND- heftig Beifall klatschen. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut!) Ich danke Ihnen. Es muss dabei eine Mindestfrist geben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kernpunkt ist aber die paritätische Mitbestimmung, und bei der SPD) die ein deutscher Sonderweg ist. Kein Land der Welt hat diesen Weg übernommen, er war eine Illusion. Ich kann mich sehr gut erinnern: Das ist in den 70er-Jahren ent- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: standen, als man einen dritten Weg zwischen Kapitalis- Nächster Redner ist der Kollege Rainer Brüderle, mus und Sozialismus gesucht hat. Das war die Zeit, als FDP-Fraktion. in gemeinwirtschaftlichen Unternehmen wie der Bank Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12651

Rainer Brüderle (A) für Gemeinwirtschaft, der Neuen Heimat und der Volks- Nach dem Aktiengesetz ist es die Aufgabe des Auf- (C) fürsorge Milliarden von Arbeitergroschen versenkt wur- sichtsrates einer Aktiengesellschaft, das Wohl des Unter- den. Ansatzpunkt war, etwas dazwischen zu erfinden. nehmens und seiner Beschäftigten zu fördern. Wenn der Das Vorhaben ist traurig gescheitert. stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende der , Herr Bsirske, gleichzeitig Streikführer gegen das gleiche (Beifall bei der FDP) Unternehmen sein kann, zeigt das die Absurdität dieser Speziell für die Neue Heimat sollten Sie sich heute noch Regelung und dass das Gewerkschaftsprivileg beseitigt schämen. gehört. Keiner ist gegen Mitbestimmung, man muss aber die- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ihre sen Sonderweg, den Irrweg der paritätischen Mitbestim- Darstellung ist absurd!) mung, zugunsten einer drittelparitätischen Mitbestim- mung, die der Sache gemäß ist, verlassen. Opel und Wer nicht Betriebsangehöriger ist, kann im Aufsichtsrat Karstadt beispielsweise sind paritätisch mitbestimmte seine im Aktienrecht vorgegebene Aufgabe der Wahr- Betriebe und fast alle Beschlüsse sind von den Gewerk- nehmung der Interessen der Betriebsangehörigen eben schaftsvertretern mitgetragen worden. nicht erfüllen. Das ist eine klare Fehlsteuerung. Deshalb muss dies auch geändert werden. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Völliger Unsinn! Sie haben gar keine Ahnung!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Karl-Josef Laumann [CDU/ Das hat eben nicht zur Befriedung der Unternehmen bei- CSU]: Wie ist das mit den Bankenvertre- getragen. tern? – Gegenruf des Abg. Wilhelm Schmidt (Beifall bei der FDP) [Salzgitter] [SPD]: Sehr gut!) Bei Opel in Bochum gab es trotz paritätischer Mitbe- Wenn Unternehmensvertreter wie Herr Schrempp stimmung und Beteiligung von Gewerkschaftsvertretern oder andere der Auffassung sind – was Herr Kuhn an- wilde Streiks. sprach –, dass Herr Steinkühler – sehr erfahren in Insiderfragen –, Herr Zwickel und Herr Peters für ein Nach unserer Auffassung sollten Gewerkschaftsver- Unternehmen sehr hilfreich sind und den Wert des Un- treter, die dem Betrieb nicht angehören, somit Betriebs- ternehmens steigern, haben sie auch heute schon alle fremde sind, nicht im Aufsichtsrat sein. Möglichkeiten: Nach dem Aktiengesetz kann die Haupt- (Beifall bei der FDP) versammlung jeden in den Aufsichtsrat wählen. Wenn Herr Schrempp die Eigentümer seines Unternehmens (B) Am deutlichsten sehen Sie das bei dem grünen Gewerk- überzeugen kann, kann er den Aufsichtsrat seines Hau- (D) schaftsführer Bsirske. ses komplett mit Gewerkschaftsfunktionären besetzen. Das geht heute nach dem Aktienrecht. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des (Peter Dreßen [SPD]: So ein Blödsinn!) Kollegen Niebel? – Sie müssen einmal das Gesetz lesen. Wenn Sie statt zu (Klaus Brandner [SPD]: Jetzt kommen die Karne- schreien, lesen würden, würden Sie schlauer werden, valsweisheiten! Heute ist der 11. 11.!) aber Sie wollen ja nicht. (Beifall bei der FDP) Rainer Brüderle (FDP): Bitte, gern. Er kann den gesamten Aufsichtsrat mit Gewerk- schaftsfunktionären besetzen. Er hat nur ein Problem zu lösen: Er muss die Eigentümer seines Unternehmens, die Dirk Niebel (FDP): ihn als leitenden Angestellten bezahlen, davon überzeu- Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Kollege gen, dass dadurch der Wert des Unternehmens nachhal- Brüderle, Sie haben eben die Mitgliedschaft von be- tig gesteigert wird. Ich wünsche Herrn Schrempp heute triebsfremden Gewerkschaftsfunktionären in den Auf- schon viel Vergnügen bei seinen Bemühungen, sichtsräten angesprochen. Wie beurteilen Sie, dass sich der grüne Gewerkschaftsführer Bsirske als Aufsichts- (Beifall bei der FDP) ratsmitglied bei der Lufthansa mit seiner Gewerkschaft Verdi selbst bestreiken konnte, im Hinblick auf die Inte- seine Eigentümer davon zu überzeugen, dass Herr ressen des Unternehmens? Steinkühler, Herr Zwickel oder Herr Peters als Auf- sichtsräte den Wert des Unternehmens nachhaltig stei- gern. Dafür brauchen wir nichts Neues einzuführen. Man Rainer Brüderle (FDP): muss einfach nur das Aktienrecht kennen. Dieser Fall, Herr Kollege Niebel, ist geradezu exem- plarisch für die Interessenskollision, die hierdurch her- Nun kommen wir zu dem aktuellen Anlass der De- vorgerufen wird. batte. Wenn wir in Europa ernsthaft mitwirken wollen, muss man die Realitäten anerkennen. (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Wie ist das mit den Bankenvertretern? – Dr. Thea Dückert (Dr. Rolf Bietmann [CDU/CSU]: Auch recht- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 11. 11.!) liche Realitäten!) 12652 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Rainer Brüderle (A) Von dem, was Sie heute mit Ihrem Antrag initiieren wol- Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär beim Bun- (C) len, werden Sie nichts erreichen. Ich bin fest davon über- desminister für Wirtschaft und Arbeit: zeugt, dass die Bundesregierung diesen Antrag nicht als Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Basis für ihre Arbeit wählen wird. Er dient zur Beruhi- Herren! Zunächst etwas aus meiner Sicht zum Antrag gung von Zwischenschreiern und Gewerkschaftsfunktio- der Koalitionsfraktionen. Ich habe diesen Antrag so ver- nären, bringt in der Sache aber nichts. standen, dass das deutsche Parlament die Bundesregie- rung in ihrem Bemühen, deutsche Positionen in Europa Wir müssen uns in Deutschland als Standort attraktiv zu formulieren und durchzusetzen, ausdrücklich zu un- halten. Es gibt ja das Europarecht; denn eine holländi- terstützen gedenkt. Das ist der Sinn dieses Antrages. sche Gesellschaft kann hier genauso wirken. Sie werden erleben, wie unser Standort zunehmend an Bedeutung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten verlieren wird. Herr Breuer von der Deutschen Bank hat des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) vor 14 Tagen in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntags- zeitung“ in einem langen Interview dargelegt: Wenn sein Vor diesem Hintergrund haben wir, so denke ich, einen Unternehmen mit einem anderen Institut zusammengeht, guten Anlass, uns darüber zu unterhalten, was wir wol- werden sie wegen der Steuerpolitik und der Mitbestim- len und was bisher auf dem Sektor der europäischen Mit- mung nicht Deutschland als Firmensitz wählen. Das bestimmung erreicht worden ist. können Sie auch für andere nachlesen. Eigentlich – wenigstens einige Ansätze dazu habe ich (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: heute hören können – liegen die großen ideologischen Wegen der FDP! In England gibt es keine Schlachten um die Mitbestimmung ja schon 30 Jahre FDP!) hinter uns. Tun Sie doch bitte einmal etwas für die Arbeitnehmer! (Jürgen Türk [FDP]: Ja, eben! Das sagen wir Tun Sie etwas, dass wir die Standorte und die Entschei- ja!) dungen in Deutschland halten können, damit wir in der Viele Unternehmen leben mit dieser Mitbestimmung Zukunft möglichst viele Arbeitsplätze sichern können. außerordentlich gut. Die Beispiele bestärken uns in die- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Reinhard ser Auffassung. Göhner [CDU/CSU]) Ich sage das vor dem Hintergrund, dass manch ein Und kommen Sie aus den ideologischen Schützengräben Unternehmer, der sich in einer Zeit des Umbruchs und heraus! Den Gewerkschaften laufen die Mitglieder weg; der Modernisierung vorwagt, häufig vergisst, dass Mit- jedes Jahr treten rund 500 000 aus den DGB-Gewerk- bestimmung in guten Zeiten möglicherweise lästig er- (B) schaften aus, weil Sie die Realitäten nicht sehen. Kehren scheinen mag, in schlechten Zeiten aber von vielen her- (D) Sie zu einer Basis zurück, die für Deutschland und die beigesehnt wird, gebraucht wird, unerlässlich ist, um den Arbeitnehmer wirklich etwas bringt. Verlassen Sie die Betriebsfrieden und insbesondere die ökonomische Ba- Schützengräben von vorgestern, aus denen Sie noch im- sis vieler Unternehmen wiederherzustellen. mer operieren. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Zuruf des Abg. Peter Dreßen [SPD]) DIE GRÜNEN) – Spät kommenden Schreiern, die noch nicht in der Rea- Wir sehen das ganz aktuell an den Beispielen Karstadt- lität unserer Tage angekommen sind, – Quelle und Opel. Ich möchte nicht wissen, meine Damen und Herren, wo wir in diesen schwierigen Fällen heute Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: stünden, wenn es nicht eine seitens der Arbeitnehmer- Herr Kollege, Ihre Redezeit! schaft organisierte Verantwortung gäbe, die letztendlich in den Betrieb hinein Einfluss ausübt und damit stabili- sierend wirkt. Wenn mir jemand sagen will, dass diejeni- Rainer Brüderle (FDP): gen, die an der Sanierung mitgewirkt haben, etwa unver- – kann ich nur sagen: Sie haben das Recht zu abwegi- antwortlich gehandelt hätten, dass es nicht einer gen Äußerungen, aber Sie müssen nicht jeden Tag de- erheblichen Bewegung der Arbeitnehmerschaft bedurft monstrieren, dass Sie nichts von der Sache verstehen. – hätte, um diese Unternehmen wieder auf die richtige Stellen Sie die Weichen endlich so, dass die Arbeitneh- Schiene zu bringen, wenn mit dem Finger auf die Mitbe- mer in Deutschland eine Chance haben, ihren Job zu be- stimmung und die Arbeitnehmer gezeigt wird, dann halten! weiß ich nicht, vor welchem Hintergrund das geschieht. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ich warne ausdrücklich davor, dass in dieser Zeit, in der CDU/CSU) der die Gewerkschaften und auch die Arbeitnehmer- schaft weitgehend bereit sind, viele Wege der Reformen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: mitzugehen, so schwer sie auch erscheinen mögen, im- Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär mer und immer wieder draufgesattelt wird, weil es eben Dr. Ditmar Staffelt. gerade ins ideologische Konzept passt. (Dr. Rolf Bietmann [CDU/CSU]: Er kann (Dr. Rolf Bietmann [CDU/CSU]: Nein! Weil nichts mehr erreichen! Es ist längst entschie- die europäische Wirklichkeit weitergegangen den!) ist!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12653

Parl. Staatssekretär Dr. Ditmar Staffelt (A) Das werden wir jedenfalls nicht zulassen. Die Bundes- mungsniveaus im eigenen Land. Wir werden uns auch (C) regierung wird bei ihrer Position bleiben und nicht nach- nicht von Ihnen treiben lassen. Das gilt nicht für Sie, geben. Herr Bietmann. Sie haben heute die große Überra- schungsnummer gezogen. Kollege Kuhn hat das Nötige (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schon dazu gesagt. DIE GRÜNEN) (Zuruf der Abg. Dagmar Wöhrl [CDU/CSU]) Wir wollen die Mitbestimmung auch in Europa si- chern. Wir wissen, dass wir in Europa eine neue Mitbe- – Frau Wöhrl, bei aller Freundschaft muss ich Ihnen sa- stimmungskultur benötigen, weil die Unterschiede in gen: Ausgerechnet Sie, die Sie die Mitbestimmung für den europäischen Ländern außerordentlich groß sind. die größte Plage der letzten 50 Jahre halten, wollen heute das Hohelied der Mitbestimmung mit Ihrem Kollegen Ich denke, dass wir bisher gut verhandelt haben, indem singen. Das geht nicht. Sie sollten da redlich sein. wir Lösungen angestrebt haben, die aus einer Kombina- tion aus Verhandlung und Auffangregelung bestehen. Das Es gibt, wie der Berliner sagt, so ’ne und solche. Ich heißt: Immer dort, wo Unternehmen miteinander fusio- will einigen Mitgliedern Ihrer Fraktion ihre Haltung zur nieren, wird zwischen den Arbeitnehmern und Arbeitge- Mitbestimmung durchaus abnehmen. Aber die Grund- bern verhandelt, um eine tragfähige Mitbestimmungsre- melodie Ihrer Fraktion und Ihrer Partei ist eine andere. gelung zu finden. Sollte dies zu keinem Ergebnis führen, Sie liegt näher bei den Auffassungen von BDI und BDA dann würde über die Auffangregelung praktisch die weit- als etwa bei denen der Gewerkschaften. Da wollen wir gehendste Mitbestimmungsregelung in Kraft treten. Das uns nichts vormachen. ist, wie der Kollege Kuhn zu Recht gesagt hat, ein guter (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ansatz. Denn alle Beteiligten müssen sich mit der Frage DIE GRÜNEN – Dr. Rolf Bietmann [CDU/ auseinander setzen, wie man passgerechte Regelungen CSU]: Sie sind eine Volkspartei?) für europäische Unternehmen schaffen kann, die sowohl den Interessen der Arbeitnehmer wie auch denen der Ar- – Natürlich sind wir eine Volkspartei. beitgeber Rechnung tragen. Ich will an dieser Stelle grundsätzlich sagen: Wir wis- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sen, dass es Herausforderungen gibt, die uns in Europa DIE GRÜNEN) auf diesem Sektor über die Globalisierung erreichen. Aber die Antwort darauf kann nicht etwa die Abschaf- Wir sind uns der Tatsache sehr wohl bewusst, dass wir fung der Mitbestimmung, sondern muss ihre sinnvolle noch nicht alle Hürden genommen haben. Hier ist schon und angemessene Weiterentwicklung in den europäi- der Begriff von der monistischen Leitungsstruktur ge- schen Unternehmen sein. (B) nannt worden. Es ist klar: Wenn es in einem Unterneh- (D) men keinen Aufsichtsrat und keinen Vorstand, sondern (Dr. Rolf Bietmann [CDU/CSU]: Ja, das ist ein Board of Directors gibt – das ist das angloamerikani- richtig!) sche Modell –, dann ist die Implementierung der Mitbe- Ich denke, das ist unser gemeinsames Ziel. stimmung schwieriger. Hier wird man verhandeln müs- sen. Da Sie dieser Feststellung zustimmen, kann ich nur sagen: Es wäre schön, wenn es auf mancher Veranstal- Wir wollen ganz im Sinne der deutschen Interessen so tung und in mancher Fernsehdiskussion mehr Sachlich- viel Mitbestimmung wie nur irgend möglich durchset- keit und ein größeres Miteinander und weniger Konfron- zen. Aber wir wissen auch, dass das nicht einfach sein tation in dieser Frage geben würde. Dann können wir an wird. Deshalb muss man mit Augenmaß und Realismus das anknüpfen, was Sie vorhin zugestanden haben, näm- sehen, was unter diesen Bedingungen an Mitbestim- lich dass auch die CDU und die CSU in Sachen Mitbe- mung durchsetzbar ist. stimmung in diesem Land recht aktiv gewesen sind. (Dr. Hermann Kues [CDU/CSU]: Aha! – Auch wenn es um die Ausgestaltung von Mitbestim- Dr. Rolf Bietmann [CDU/CSU]: Da bin ich mungsrechten in Europa geht, vergessen Sie bitte Ihre aber gespannt!) historischen Wurzeln in diesem Bereich nicht gänzlich. – Was heißt hier „Aha“? Das ist nun einmal so. Europa Danke schön. ist in diesem Bereich sehr unterschiedlich strukturiert. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Spanien hat im Bereich der Mitbestimmung praktisch DIE GRÜNEN) keine Tradition. Deutschland und andere Länder hinge- gen haben eine große Tradition. Das alles muss auf ver- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: nünftige Weise miteinander verbunden werden. Ich Nächster Redner ist der Kollege Max Straubinger, glaube, darüber sind wir uns alle einig. CDU/CSU-Fraktion. Ich sage noch einmal: Wir werden, so gut es nur ir- gend geht, die Mitbestimmung und damit die Interessen Max Straubinger (CDU/CSU): der Arbeitnehmer in Europa verteidigen. Geschätzte Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute über den Antrag der (Beifall bei der SPD) Bundestagsfraktionen der SPD und der Grünen, in dem Wir werden einer Absenkung des Mitbestimmungsni- die Bundesregierung aufgefordert wird, auch auf euro- veaus nicht zustimmen, schon gar nicht des Mitbestim- päischer Ebene das Instrument der Mitbestimmung 12654 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Max Straubinger (A) durchzusetzen. Das ist zwar sicherlich eine gute Forde- wie schützen wir die Arbeitnehmerrechte in Deutsch- (C) rung. Aber möglicherweise ist der Antrag, den beide land? Das oberste Arbeitnehmerrecht ist der Bestand des Fraktionen formuliert haben, nicht ganz realitätskon- Arbeitsplatzes in Deutschland. Das ist meines Erachtens form, weil aufgrund der Beschlüsse, die in der Vergan- an erster Stelle in der Gesetzgebung zu beachten und in genheit mit tatkräftiger Unterstützung der Bundesregie- den gesetzlichen Regelungen vorzusehen. rung getroffen wurden, auf der europäischen Ebene ein Kompromiss – die Europäische Gesellschaft – zustande Wir müssen uns auch die Frage stellen, ob es noch gekommen ist. Natürlich ist es wichtig, einen solchen zeitgemäß ist, dass in den Aufsichtsräten drei Posten Kompromiss herbeizuführen. Aber, Herr Kollege Kuhn, für Gewerkschafter frei gehalten werden. Von mehr als dann sollte man auch zu diesem Kompromiss stehen und 5 200 Aufsichtsratsposten, die hoch dotiert sind, werden nicht versuchen, ihn in der nationalen Umsetzung wieder mehr als 1 600 von führenden Gewerkschaftsmitgliedern auszuhebeln. eingenommen. Natürlich leisten viele von ihnen eine gute Arbeit für ihre Unternehmungen. Aber es kann (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: So ist es!) nicht angehen, dass die, die in den Aufsichtsräten sitzen, einen Streik herbeiführen, wie es bei Lufthansa unter Das kann nicht gut sein und kann nicht funktionieren. dem Gewerkschaftsvorsitzenden Bsirske geschehen ist, Dies ist für den Wirtschaftsstandort Deutschland schäd- und den Unternehmen dadurch Schaden zufügen. lich. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wenn ausländische Investoren solche Handlungsweisen Die CDU/CSU steht zur Mitbestimmung. Wir sind al- von Aufsichtsratsmitgliedern einzelner Unternehmungen lerdings auch dafür, dass die Mitbestimmung in den eu- beobachten, empfinden sie unser Mitbestimmungsrecht, ropäischen Rahmen, den wir nun einmal haben, einge- das wir so hoch loben und das gute Erfolge gezeitigt hat, passt wird. Denn wir möchten die Diskussionen zum Teil als Bedrohung. natürlich nicht realitätsfern führen. Wir müssen uns dieser realistischen Sichtweise stellen, Die Entwicklung sieht ja so aus: 1976 wurde das sie in Gesetzesform gießen und das Mitbestimmungs- Mitbestimmungsrecht unter maßgeblicher Beteiligung recht weiterentwickeln. Wir, CDU und CSU, halten von CDU und CSU eingeführt. Seitdem sind fast nichts von der pauschalen Kritik am Mitbestimmungs- 30 Jahre vergangen. Die europäische Einigung ist voran- recht, wie sie zum Beispiel BDI-Präsident Rogowski ge- gekommen. Es hat die deutsche Wiedervereinigung mit äußert hat. Das ist völlig klar. der Öffnung nach Osten gegeben. Das bedeutet, dass man denjenigen Unternehmungen, die über die Grenzen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (B) hinaus tätig sind und die Niederlassungen und Zweigbe- (D) triebe in anderen Ländern haben, ein Unternehmensrecht Aber wir müssen uns fragen, wie wir durch die bewähr- geben muss, das sie in der Weise agieren lässt, dass in ten Elemente unseres Mitbestimmungsrechts, die in ver- Europa und vor allen Dingen in Deutschland neue Ar- schiedenen Umfragen von deutschen Führungskräften beitsplätze entstehen. genannt worden sind, die Gründung neuer Gesellschaf- ten befördern und Investitionen und Kapital aus aller Deshalb ist es entscheidend, über die daraus entste- Herren Länder in den Wirtschaftsstandort Deutschland henden Fragen ohne ideologische Scheuklappen zu dis- holen können. Das ist mit dem geltenden Recht sicher- kutieren. Wir müssen uns überlegen, was dies für den lich nicht zu schaffen. Wir müssen die Mitbestimmung Wirtschaftsstandort Deutschland bedeutet. Kollege an die neuen Gegebenheiten anpassen. Brüderle hat bereits ausgeführt, dass die Deutsche Bank dann, wenn sie eine Holdinggesellschaft gründet oder Ich glaube, der Antrag von SPD und Grünen hat eigent- sich mit einem anderem Institut zusammenschließt, lich nur einen Sinn: wieder eine starke Bindung zwischen möglicherweise nicht in Deutschland ihren Firmensitz der SPD – bei den Grünen dürfte diese Bindung sicherlich haben wird, sondern im Ausland, in einem europäischen weniger ausgeprägt sein – und den Gewerkschaften bezie- Partnerland. hungsweise ihren führenden Funktionären herbeizufüh- ren. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist so!) (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist wohl Was hat das dann für Auswirkungen auf den Wirtschafts- wahr!) standort Deutschland? Ich glaube, dies wäre ein nicht wieder gutzumachender Verlust. Bei aller Bedeutung der Gewerkschaften muss man fest- stellen, dass die gewerkschaftliche Bindung von Tag zu (Beifall bei der CDU/CSU) Tag schwindet, weil die Arbeitnehmerinnen und Arbeit- nehmer in Deutschland an Arbeitsplätzen und nicht an Welche Auswirkungen sind für die Arbeitnehmerin- theoretischen Diskussionen interessiert sind. nen und Arbeitnehmer zu befürchten, wenn aufgrund von Zusammenschlüssen deutscher Firmen mit euro- Wir müssen alle gemeinsam dafür sorgen, dass die päischen Partnern die Konzernzentralen im Ausland positiven Elemente unseres Mitbestimmungsrechts auch entstehen, um damit deutsches Mitbestimmungsrecht zu im Hinblick auf die neue europäische Aktiengesellschaft umgehen? Das ist möglich, verehrte Kolleginnen und erhalten werden. Das schaffen wir aber nur durch eine Kollegen von der SPD und den Grünen. Das ist blanke gute Zusammenarbeit. Wir müssen eine Diskussion füh- Realität. Wie gehen wir mit diesem Umstand um und ren, die wir als CDU/CSU heute ausdrücklich anstoßen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12655

Max Straubinger (A) wollen und in die wir unsere eigenen Vorschläge einbrin- Die Krise bei Opel bzw. General Motors macht das (C) gen werden. doch ganz deutlich: Die Konzernzentrale der mitbestim- mungsfreien Zone in Detroit schickte Manager nach Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Rüsselsheim, die zur Förderung ihrer persönlichen Kar- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- riere am kurzfristigen Gewinntransfer in die Zentrale, neten der FDP) aber nicht an einer soliden, nachhaltigen Investitions- und Produktpolitik interessiert waren. Ausbaden müssen das jetzt die Arbeitnehmer und ihre Familien. Da ist es Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: doch besser, wenn Betriebsräte mit der Kenntnis der Das Wort hat der Kollege Hans-Jürgen Uhl, SPD- Stärken und Schwächen der Betriebe und des Marktes, Fraktion. unterstützt vom Sachverstand außerbetrieblicher Ge- werkschaftsvertreter, gemeinsam mit den Kapitalvertre- Hans-Jürgen Uhl (SPD): tern und dem Vorstand die Weichen für Innovation und Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Zukunftsentwicklung der Unternehmen stellen. Herren! Die aktuelle Mitbestimmungsdebatte macht deutlich, worum es beim Thema Mitbestimmung geht Darum gilt: Unser in Jahrzehnten bewährtes und er- und wer wo für welche Interessenlagen steht. Herr folgreiches deutsches Mitbestimmungsmodell muss Rogowski, die FDP, insbesondere auch Sie, Herr auch im europäischen Recht gesichert und weiterentwi- Brüderle, und manch einer in der CDU/CSU – wir haben ckelt werden. ja heute wieder zwei Sowohl-als-auch-Reden gehört – (Dr. Rolf Bietmann [CDU/CSU]: Dafür ist es wollen mit ihren Angriffen auf die Mitbestimmung einen schon zu spät! Das ist schon vorbei!) entscheidenden Produktivitätsfaktor ausschalten. Deshalb wollen wir von SPD und Grünen mit unserem Herr Brüderle, die Konsequenz Ihrer Befangenheits- Antrag der Bundesregierung den Rücken für die ab- argumente hinsichtlich der Gewerkschafter wäre, dass schließenden Verhandlungen in Brüssel zur europäi- alle Aufsichtsräte abgeschafft werden müssten; denn schen Fusionsrichtlinie stärken. Wir wollen, dass sich dort sitzen in der Tat Personen, die Interessen vertreten die Arbeitnehmervertreter und die Kapitalvertreter wei- und dementsprechend ein Stück weit befangen sind. Wer terhin auf gleicher Augenhöhe begegnen. die Mitbestimmung und damit die Mitverantwortung der Arbeitnehmer und der Gewerkschaften infrage stellt, der (Dr. Rolf Bietmann [CDU/CSU]: Das ist doch gefährdet den sozialen Frieden. dummes Zeug! Der Rechtsrahmen ist doch (Beifall bei der SPD) ganz anders!) (B) (D) Worum geht es? Die Unternehmensmitbestimmung in Wir wollen, dass der betriebliche Sachverstand und den Aufsichtsräten ist, in enger Verbindung mit den Mit- überbetriebliche Erfahrung auf beiden Seiten dafür sor- bestimmungsrechten der Betriebsräte, ein wesentlicher gen können, die Belange von Kapital und Arbeit auszu- Eckpfeiler unserer Demokratie. Hier erinnere ich an das, gleichen – im Interesse der Unternehmen, der Beleg- was der Arbeitnehmerflügel innerhalb der CDU im schaften und vor allem der Standortregionen. Deshalb Laufe der Geschichte unseres Landes zur Mitbestim- sind BDI und BDA völlig auf dem Holzweg, wenn sie mung beigetragen hat. mit ihren Vorschlägen unseren gesellschaftlichen Kon- sens zur kooperativen Konfliktbewältigung leichtfertig (Klaus Brandner [SPD]: Ja! Das muss man über Bord werfen. sich genau anschauen!) Während sich Daimler-Chrysler-Chef Jürgen Wie wären wohl die Strukturwandelprozesse in den Schrempp, VW-Personalvorstand Peter Hartz und die Branchen Eisen und Stahl, Kohle, Bergbau, bei der Vorstandsvorsitzenden von EnBW und Porsche klar zur Bahn, in der Chemieindustrie und der Automobilindus- Mitbestimmung bekennen, wollen Arbeitgeberverbands- trie abgelaufen, wenn es die qualifizierte Mitbestim- funktionäre und ihre Freunde in Wissenschaft und Poli- mung der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften nicht tik die Mitbestimmung kippen. gegeben hätte? (Dr. Rolf Bietmann [CDU/CSU]: Das können (Klaus Brandner [SPD]: So ist es!) Sie am 1. Mai erzählen, aber doch nicht im Das kann jeder in den Kahlschlagsregionen der USA und Deutschen Bundestag!) Großbritanniens besichtigen. Das ist Rückschritt und schwächt den Standort Deutsch- (Dr. Rolf Bietmann [CDU/CSU]: Darum geht land. es doch überhaupt nicht!) (Beifall bei der SPD) Welchen Grund sollte es deshalb geben, Bewährtes über Bord zu werfen und den Häuserkampf in den Betrieben Tatsache ist: Deutschland ist mit unserer Unterneh- dafür einzutauschen? mensverfassung Exportweltmeister geworden. Deutsch- land ist Investitionsschwerpunkt für amerikanisches Ka- (Beifall bei der SPD – Dr. Rolf Bietmann pital. Die Amerikanische Handelskammer in Deutschland [CDU/CSU]: So ein Unfug! Der Rechtsrah- ist mit über 3 000 Mitgliedern die größte der Welt. Kein Be- men stimmt doch nicht mehr!) triebsrat und kein Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat 12656 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Hans-Jürgen Uhl (A) schrecken ausländische Kapitalgeber davon ab, in Meine Damen und Herren, BDA und BDI wollen mit (C) Deutschland zu investieren. dem Hinweis auf andere Länder und europäische Richt- linien Einschnitte bei der deutschen Mitbestimmung. Sie Meine Damen und Herren, schauen wir uns den vor- sagen, Deutschland sei in der Frage der Mitbestimmung liegenden FDP-Antrag etwas genauer an: isoliert. Das ist für mich Unsinn, zumal in der Mehrzahl (Dirk Niebel [FDP]: Sehr guter Antrag!) der EU-Staaten die Mitbestimmung als Instrument der Unternehmenskontrolle genutzt wird. Die Beitrittsstaa- Ein Zurück zur Drittelbeteiligung kommt für uns nicht ten Tschechien, Slowakei, Ungarn und Slowenien haben infrage. Ihre Angriffe auf die Gewerkschaften sind abge- sich dabei sogar am deutschen Modell der Mitbestim- droschene Ideologie; das höre ich in jeder Talkshow, in mung orientiert. der Herr Brüderle auftritt. (Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Sie haben (Beifall bei der SPD) aber die Drittelparität!) Aber, meine Damen und Herren von der FDP, wo Sie – Schauen Sie sich das einmal an. Slowenien ist zwar ein Recht haben, da haben Sie Recht: Eine Begrenzung der kleines Land, aber dort gibt es die 50/50-Parität; in der Zahl der Aufsichtsratsmandate pro Person halte ich für Slowakei übrigens auch. sinnvoll – gut wäre es, wenn die Aufsichtsräte das frei- willig lösen würden; wir wollen ja nicht alles gesetzlich ( [CDU/CSU]: Nein!) regeln –; denn was auf den Kapitalbänken an Ämterhäu- In Europa gibt es eine Vielzahl von Kulturen und Tra- fung zusammenkommt, ist schon beachtlich. Zehn bis ditionen zur Beteiligung der Arbeitnehmer am Wirt- 15 Aufsichtsratsmandate sind keine Seltenheit; Graf schaftsleben. Deshalb dürfen wir es nicht akzeptieren, Lambsdorff war seinerzeit in dieser Disziplin Weltmeis- dass EU-Richtlinien die Flucht aus der deutschen Mitbe- ter. Es ist wohl so, dass sich in den Aufsichtsräten der stimmung eröffnen. Europa hat nämlich nicht nur eine 100 größten deutschen Unternehmen dieselben rund wirtschaftliche, sondern auch eine soziale Dimension. 30 Spitzenmanager immer wieder begegnen. Dazu gehören Teilhabe und Mitbestimmung. Deshalb (Dirk Niebel [FDP]: Das gilt auch für die Ver- haben die Arbeitnehmer und die Gewerkschaften uns treter der Gewerkschaften!) Sozialdemokraten an ihrer Seite. Alle Achtung, was die an Terminen neben ihrem haupt- Wir wollen die Mitbestimmung in ihrer bewährten beruflichen Job wahrnehmen! Form erhalten und ihr eine europäische und eine interna- tionale Perspektive geben; denn die Mitbestimmung Ebenso halte ich es nicht für sinnvoll, wenn ehema- schafft gerade in globalen Unternehmen die Vorausset- lige Vorstandsvorsitzende nach ihrem Ausscheiden Auf- (B) zung für die demokratische Kontrolle wirtschaftlicher (D) sichtsratsvorsitzende desselben Unternehmens werden Macht und schränkt ihren Missbrauch ein. Wir wollen in- und ihren Nachfolger kontrollieren. novative Unternehmen, in denen Manager und Arbeit- Sie sehen, in Ihrem Antrag stehen durchaus ein paar nehmer den Unternehmen und den arbeitenden Men- Punkte, die man mittragen kann. schen durch die Kontinuität der Entscheidungen Zukunftsperspektiven, sichere Einkommen und Arbeits- Aber fragen wir uns auch, warum immer wieder die plätze bieten und in deren Aufsichtsräten soziale Verant- Unabhängigkeit von Gewerkschaftsvertretern in den wortung praktiziert wird. Aufsichtsräten infrage gestellt wird, nicht aber die der Vertreter der Kapitalseite. Interessenkollisionen erge- Vielen Dank. ben sich häufig gerade auf der Kapitalseite. Nehmen wir (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ doch einmal die Vertreter von Banken, die Kredite an DIE GRÜNEN) Unternehmen vergeben, oder Überkreuzmandate: Erin- nern wir uns an den Übernahmekampf zwischen Thys- sen und Krupp. Die Deutsche Bank war an der Übernah- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: meaktion beteiligt. Sie hatte sowohl einen Sitz im Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Aufsichtsrat von Thyssen als auch in dem von Krupp. Kollege Karl-Josef Laumann, CDU/CSU-Fraktion. Nennen wir das unabhängig? (Beifall bei der CDU/CSU) (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert) Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Gleichzeitig möchte ich diejenigen, die die Gewerk- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und schaften von der Unternehmensmitbestimmung aus- Kollegen! Wer gerade der Rede unseres Kollegen Uhl schließen wollen, warnen. Deutschland gilt als streik- zugehört hat, der hatte den Eindruck, diese Rede sei arme Zone. Das verdanken wir der Tatsache, dass sich schon einmal 1976 gehalten worden und der Kollege Arbeitnehmervertreter und Arbeitgebervertreter häufig hätte nicht mitbekommen, dass wir mittlerweile ein Eu- begegnen, dass sie sich respektieren und dass sie Pro- bleme kooperativ lösen. Warum sollten wir das ändern? roparecht, einen europäischen Binnenmarkt, viele wei- tere internationale Verpflichtungen und große Unterneh- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mensverschmelzungen haben, was man sich damals DIE GRÜNEN – Dirk Niebel [FDP]: Nehmen überhaupt nicht vorstellen konnte. Sie doch Betriebsangehörige!) (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Jürgen Uhl – Die haben wir ja. [SPD]: Da haben Sie nicht zugehört!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12657

Karl-Josef Laumann (A) Das hörte sich gut an und ich hätte die Rede auch so dass es in der Christlich Demokratischen Union auch (C) halten können, den einen oder anderen gibt, der nicht in dieser Tradition steht und vielleicht zu einem anderen Entschluss kommt. (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein Beispiel dafür ist die heutige Entscheidung des Wirt- Tun Sie sich keinen Zwang an!) schaftsrates. aber ob sie mit der Wirklichkeit, in der wir jetzt leben, (Max Straubinger [CDU/CSU]: Das gibt es noch in Einklang zu bringen ist, weiß ich nicht. auch bei den Grünen! – Wilhelm Schmidt (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was [Salzgitter] [SPD]: Da müssen Sie sich aber wollen Sie denn jetzt? – Doris Barnett [SPD]: entscheiden!) Jetzt machen Sie aber mal halblang!) Ich glaube im Übrigen, dass sich dieses Modell be- Ich finde, es gibt einen klaren Grundsatz. In Deutsch- währt hat. Wir haben damit viele Konflikte gelöst. Wer land – dies ist hier so wie in allen anderen Ländern der sich die mitbestimmten Betriebe anschaut, stellt fest, Erde auch – gibt es Interessengegensätze zwischen Ar- dass es in einer Reihe von mitbestimmten Betrieben ge- beit und Kapital. Manchmal sind diese Interessengegen- waltige Umstrukturierungen gegeben hat. Denken Sie an sätze in Unternehmen auch Konflikte. Das haben wir die RAG, an Bayer, an Schering, an die BASF. Überall alle zum Beispiel bei Opel mitverfolgen können. Es ist dort sind die Umstrukturierungen in großem Frieden ver- doch völlig klar, dass ein Land und auch Unternehmen laufen, Spielregeln brauchen, wie man diese Konflikte austrägt. (Doris Barnett [SPD]: Mit der paritätischen Wir haben uns in Deutschland für ein Partnerschafts- Mitbestimmung!) modell ausgesprochen. Dies geschah im Grundsatz im und zwar mit der Parität. Übrigen schon in der Weimarer Republik und dann vor allem während der Entwicklung nach dem Zweiten Zur Wahrheit gehört auch, dass es in Deutschland an- Weltkrieg. erkannte Arbeitgeberpersönlichkeiten gibt, die ganz klar sagen, dass sich diese Idee der Partnerschaft und der (Zuruf von der CDU/CSU: Da war die SPD Mitbestimmung bewährt hat. Ich will nur einmal Herrn noch nicht so weit!) Martin Kannegiesser anführen, der in der „Süddeutschen Dieses Partnerschaftsmodell findet seinen Ausdruck in Zeitung“ vom 26. Oktober 2004 mit den Worten zitiert der überbetrieblichen Mitbestimmung, über die wir wird: heute in erster Linie sprechen und die von den gestellten Mitbestimmung kann in Großkonzernen den Vorteil Anträgen betroffen ist, und in der betrieblichen Mitbe- haben, dass Entscheidungen hier und da langfristi- (B) (D) stimmung, die für noch viel mehr Arbeitnehmer relevant ger angelegt werden – dass also nicht die kurzfris- ist. Das ist unser Modell. tige Auswirkung auf den Börsenkurs das Maß aller Ich sage Ihnen: Dieses Konsensmodell, dieses Part- Dinge ist. nerschaftsmodell, für das wir uns einmal entschieden ha- Wer aber bei einem Mann wie Kannegiesser, den ich ben, sehr ernst nehme, genauer hinschaut, stößt auch auf (Klaus Brandner [SPD]: Das machen wir euro- Sätze wie: Wir müssen, obwohl wir den Grundgedanken patauglich!) richtig finden, zu einer Modernisierung dieser Mitbe- stimmung kommen. Deswegen glaube ich, dass eine hat eher mit der christlich-sozialen Idee in der Ge- Modernisierung der deutschen Mitbestimmung, schichte unseres Landes als mit der sozialistischen Idee wenn wir die Auseinandersetzung und die Überlegungen zu tun. dazu klug führen, dem Ziel eines partnerschaftlichen (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Rainer Modells, wie es auch in der Vergangenheit unser Grund- Brüderle [FDP] – Lachen bei der SPD) anliegen war, nicht unbedingt widerspricht. Deswegen braucht sich hier keiner großartig aufzuregen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Mit der christlich-sozialen Bewegung in Deutschland ist Es scheint mir sehr logisch zu sein, dass gerade die Ar- die deutsche Mitbestimmung, sowohl die überbetriebli- beitnehmervertreter in den mitbestimmten Betrieben che wie die betriebliche, eng verbunden. – das gilt im Übrigen sowohl für die betriebliche wie für (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das klä- die überbetriebliche Mitbestimmung – den Standort ren Sie erst einmal in den eigenen Reihen!) Deutschland sehr genau im Auge haben. Denn wir Arbeit- nehmer – ich sage das einmal so – sind natürlich auf Ar- Sie gehört für die christlich-soziale Bewegung in beitsplätze an diesem Standort angewiesen, wahrschein- Deutschland zu unserer Identität – ich gehöre ihr auch lich stärker als die Kapitalgeber; denn Kapital kann auch durch andere Verbände außerhalb der CDU an – und außerhalb des Landes angelegt werden. Ein Arbeitneh- diese lassen wir uns auch nicht nehmen. mervertreter muss – erst recht, wenn er einem Aufsichts- rat angehört – im Auge behalten, wie viele Arbeitsplätze (Beifall bei der CDU/CSU) es in Deutschland gibt. Daher glaube ich, dass man auf Weil das so ist, ist es völlig klar, dass Mitbestimmung dieser Seite den Standort Deutschland stets im Blick be- und Partnerschaftsmodell in der Christlich Demokrati- hält. Dass sie nicht irrational handeln – das sage ich noch schen Union verwurzelt sind. Ich will nicht bestreiten, einmal –, beweisen die riesigen Umstrukturierungen, die 12658 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Karl-Josef Laumann (A) trotz der Mitbestimmung in Deutschland möglich waren. arbeiten. Wenn sie einen Gewerkschaftsfunktionär vor- (C) Deswegen ist die Mitbestimmung eine bewährte und gute schlagen, dann soll das eben so sein. Gewerkschafts- Sache. funktionäre sind nicht immer schlechter als Bankenver- treter; die können in den Aufsichtsgremien genauso Zur Wahrheit gehört aber auch, dass das Mitbestim- bestimmte Interessen vertreten. mungsgesetz aus dem Jahre 1976 von unseren Kollegen im Bundestag zu einer Zeit durchgesetzt worden ist, als (Beifall bei Abgeordneten der SPD) die Wirtschaft noch sehr national ausgerichtet war. Für diese Bereiche war die Mitbestimmung richtig und ist sie Ich finde, da sollte man fair bleiben: Das Initiativrecht sollte bei den Belegschaften liegen und nicht bei den Ge- auch heute noch unstreitbar. Nur stehen wir heute vor dem Problem transnationaler Unternehmensver- werkschaftszentralen. Wenn wir darin übereinstimmen, schmelzungen. Beschleunigt wird diese Entwicklung können wir uns einigen. vom europäischen Binnenmarkt. Hinzu kommt, dass Eu- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ropa über Richtlinien Recht schafft. Viel schwieriger aber ist die Frage zu beantworten, wie Natürlich hat die Bundesregierung als Vertreterin der wir es schaffen, dass Deutschland in Zukunft auch als industriestärksten Nation dieser Gemeinschaft hier die Sitz für transnational verschmolzene Unternehmen ein ganz große Verantwortung, unsere Art und Weise, Kon- attraktiver Standort bleibt. Daran müssen wir ein Inte- flikte in Betrieben zu lösen, in Europa durchzusetzen. resse haben. 30 Prozent der deutschen Unternehmen, die der Mitbestimmung unterliegen, haben eine ausländi- (Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär: Sehr sche Mutter. Sie haben diese Mutter trotz unserer Mitbe- gut!) stimmung bekommen. Bedenken Sie das, wenn geäußert Dabei wünsche ich der Bundesregierung viel Glück. wird, keiner wolle diese Mitbestimmung. Das ist ein Herr Staatssekretär Staffelt, in Ihrer Rede haben Sie ge- Faktum, das man im Auge haben muss. rade gesagt, dass sich die Bundesregierung dafür stark machen wird. Sie hätten nur noch den Satz hinzufügen Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: müssen: Wir werden uns zwar heldenhaft einsetzen; aber Herr Kollege, denken Sie an Ihre Redezeit! wenn wir am Ende überstimmt werden, werden wir überstimmt. – Das wäre dann die Wahrheit gewesen. Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): (Zustimmung bei der CDU/CSU) Ein Satz noch. – Deswegen finde ich es wichtig, dass wir uns die Entwicklung des europäischen Rechts und Hinzu kommt – das muss man wissen –, dass der Vor- die Richtlinie anschauen. Wir müssen dann die Entschei- (B) schlag der Kommission, der bislang im Raum stand, (D) dungen so treffen, dass die Holdings in Deutschland ent- ohne Aussprache einstimmig zustande gekommen ist. stehen können. Wenn wir vernünftig sind, sprechen wir Ich frage mich dann schon: Wo war denn Herr das mit den beiden Sozialpartnern ab. Daran wäre mir in Verheugen von der SPD und wo war Frau Schreyer vom dieser Frage sehr gelegen. Bündnis 90/Die Grünen, Herr Kollege Kuhn, wenn man doch weiß, dass das auf europäischer Ebene so gelaufen Schönen Dank. ist? Deswegen sind die Anträge, die Sie hier stellen, schon ein bisschen doppelzüngig. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der CDU/CSU) Mir liegt Folgendes am Herzen: Wir werden die Mitbe- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: stimmung in einigen Punkten modernisieren müssen. Ich schließe die Aussprache. Natürlich müssen die Aufsichtsräte effektiver werden. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- Vielleicht werden sie kleiner werden müssen. Das ist schusses für Wirtschaft und Arbeit auf Drucksache 15/ noch leicht zu machen, wenn man es will. Aber die 4087 zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des Frage, wie man ausländische Arbeitnehmer an Wahlen Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Für eine qua- beteiligt, wird schon schwerer zu beantworten sein. lifizierte Mitbestimmung bei grenzüberschreitenden Fu- Ich habe nachgelesen, dass Siemens circa 1 000 auslän- sionen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf dische Töchter – von Südostasien bis nach Südamerika – Drucksache 15/3466 anzunehmen. Wer stimmt für diese hat. Angesichts dessen ein Wahlrecht praktisch zu orga- Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer nisieren, stelle ich mir schwer vor. Wir werden das Pro- enthält sich der Stimme? – Die Beschlussempfehlung ist blem aber lösen müssen, denn das internationale Recht mit Mehrheit angenommen. und das europäische Recht werden verlangen, dass wir ausländische Arbeitnehmer an den Entscheidungen be- Zum Tagesordnungspunkt 4 b wird interfraktionell teiligen. Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/4038 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- Was die Gewerkschaftsvertreter betrifft, so kann ich schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offen- mit der Situation gut leben. Ich finde allerdings, das Vor- kundig der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos- schlagsrecht sollte bei den Belegschaften liegen. Ich sen. würde es für richtig halten, dass die Belegschaften auch Leute vorschlagen können, die nicht im Unternehmen Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf: Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12659

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dagmar 8 900 Dienstposten verlieren, während das Land Schles- (C) Wöhrl, Anita Schäfer (Saalstadt), Karl-Josef wig-Holstein, welches gerade einmal 2,8 Millionen Ein- Laumann, weiterer Abgeordneter und der Frak- wohner hat – ein Sechstel von Nordrhein-Westfalen –, tion der CDU/CSU 8 600 Dienstposten verlieren wird. Konversionsregionen stärken – Sechs-Punkte- Nun wird keiner die Notwendigkeit von Strukturver- Plan zur Strukturpolitik änderungen und Reformen bestreiten. Aber es gibt Zorn und Unverständnis über Einzelentscheidungen, weil – Drucksache 15/4029 – nämlich nicht ausgewogen entschieden wurde und weil Überweisungsvorschlag: die Folgen in einigen Gebieten Schleswig-Holsteins und Auschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) Finanzausschuss in anderen Gebieten der Bundesrepublik Deutschland Verteidigungsausschuss nicht bedacht wurden. Auschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Auschuss für Tourismus Ich bestreite die Aussage des Bundesverteidigungs- Auschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ministers, die Entscheidungen bei der Bundeswehr hät- Haushaltsausschuss ten nichts mit Strukturpolitik zu tun. Wenn man die Entscheidungen der Bundeswehr nur betriebswirtschaft- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Helga lich beurteilt und die volkswirtschaftlichen Auswirkun- Daub, Angelika Brunkhorst, Günther Friedrich gen nicht betrachtet, wird man feststellen, dass die Ent- Nolting, weiterer Abgeordneter und der Fraktion scheidungen zwar zu Einsparungen im Haushalt des der FDP Bundesverteidigungsministers führen werden, dass es Hilfe durch den Bund für die von Reduzierung aber in manchen strukturschwachen Gebieten zu extre- und Schließung betroffenen Bundeswehr- men Belastungen kommen wird, die auf andere Haus- standorte ist unverzichtbar halte verteilt werden müssen. Deshalb muss man einige Entscheidungen noch einmal überdenken und über ei- – Drucksache 15/1022 – nige Auswirkungen wie zum Beispiel Arbeitslosigkeit Überweisungsvorschlag: noch einmal sprechen. Haushaltsausschuss (f) Auschuss für Wirtschaft und Arbeit Ich will Ihnen einmal schildern, welche Auswirkun- Verteidigungsausschuss gen diese Entscheidungen im Landesteil Schleswig, ei- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die nem besonders strukturschwachen Bereich, haben. In Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Dagegen wehrt Schleswig wurde die Kaserne mit 1 400 militärischen sich offenkundig niemand. Dann ist das so beschlossen. und zivilen Dienstposten geschlossen. Ende nächsten (B) Jahres wird der Flugplatz in Eggebek mit 1 800 militäri- (D) Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu- schen und zivilen Dienstposten geschlossen, genauso nächst dem Kollegen für die wie jetzt der Marinehafen Olpenitz mit 2 000 militäri- CDU/CSU-Fraktion. schen und zivilen Dienstposten. Wenn Sie dann noch die (Beifall bei der CDU/CSU) Angehörigen des von der Bundeswehr lebenden Gewer- bes, des zuliefernden Gewerbes und alle anderen, die aus den Depots entlassen werden, hinzurechnen, summiert Peter H. Carstensen (Nordstrand) (CDU/CSU): sich der Verlust von Kaufkraft, wie ihn die IHK ausge- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- rechnet hat, auf eine Höhe von ungefähr 200 Millio- ren! Auch wenn man lange in diesem Parlament gewe- nen Euro im Jahr. Deshalb sind Veränderungen in der sen ist, erlebt man immer wieder etwas Neues. Hilfe notwendig. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das Herr Staatssekretär Kolbow, ich will Sie in diesem stimmt!) Zusammenhang mit drei Forderungen konfrontieren. In Wenn es um die Sparkassen geht und dazu eine Aktuelle einem Papier heißt es: Stunde vereinbart wird, dann kommt ein leibhaftiger Mi- Den Einsparungen im Verteidigungshaushalt müs- nister aus Schleswig-Holstein, um noch einmal die Mög- sen regionale Sonderprogramme zur Schaffung von lichkeit zu haben, im Bundestag zu reden. Die Gelegen- neuen Arbeitsplätzen außerhalb des militärischen heit wird er wahrscheinlich nicht wieder bekommen. Bereichs und zur Verbesserung der regionalen In- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Warten frastruktur gegenübergestellt werden … Sie mal ab!) Die bisher militärisch genutzten Flächen müssen Wenn es aber um die wichtigen Dinge für Schleswig- nach dem Verursacherprinzip von den bisherigen Holstein geht, nämlich darum, die Folgen des Abzugs Nutzern bzw. vom Bund in seiner Gesamtverant- der Bundeswehr zu debattieren, ist die Bank hier vorne wortung von Altlasten befreit und saniert werden … leer. Ich bin schon sehr erstaunt. Die bisher militärisch genutzten Flächen und Lie- Ich glaube, es ist notwendig, einmal auf die Auswir- genschaften sollen zu günstigen Bedingungen für kungen dieser Entscheidungen gerade in dem leider ja eine zivile Verwendung den anderen Gebietskörper- immer noch strukturschwachen Schleswig-Holstein hin- schaften zur Verfügung gestellt werden … Es ist zuweisen. Wir sind am stärksten betroffen. Das Land eine über die Bundeshaushaltsordnung hinausge- Nordrhein-Westfalen mit 18 Millionen Einwohnern wird hende Sonderregelung erforderlich, die eine stark 12660 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Peter H. Carstensen (Nordstrand) (A) verbilligte und in besonderen Fällen auch kosten- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (C) lose Abgabe altlastenfreier Liegenschaften ermög- Das Wort hat nun für die Bundesregierung der Parla- licht … mentarische Staatssekretär Ditmar Staffelt. Die Ministerpräsidentin des Landes hat einen Brief an (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: den Vorsitzenden des Haushaltsausschusses geschrieben. Jetzt ist der Wahlkampf zu Ende! Jetzt kommt die Sachpolitik!) (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Können wir auch einmal über andere Bundesländer sprechen?) Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär beim Bun- desminister für Wirtschaft und Arbeit: – Sicherlich gibt es auch in anderen Bundesländern sol- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und che Probleme, aber ich darf doch wohl die Möglichkeit Herren! Sie werden verstehen, dass ich mich nicht auf nutzen, exemplarisch an einigen Beispielen deutlich zu eine Debatte einlassen kann, die die militärischen Ent- machen, scheidungen betrifft. Ich gehe davon aus, dass alle diese Entscheidungen aus militärisch-funktionaler und be- (Günther Friedrich Nolting [FDP]: An eini- triebswirtschaftlicher Sicht heraus verabschiedet worden gen?) sind wie notwendig es ist, hier zu Hilfen zu kommen. (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: Genau das ist der Fehler!) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Da rührt sich nicht einmal bei der CDU/CSU eine und dass in diesem Hause kein Zweifel daran besteht, Hand!) dass diese Entscheidungen notwendig gewesen sind, weil eine tief greifende Reform unserer Streitkräfte und Es ist notwendig, darüber zu sprechen, weil ich hier ihrer Verwaltung vor dem Hintergrund einer völlig ver- nämlich nicht aus Anträgen zitiert habe, die von uns ge- änderten Sicherheitslage in Deutschland und in der Welt stellt worden sind. unvermeidlich ist. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Über doch peinlich!) die Probleme sind wir uns einig, über die sondern weil ich aus einem Antrag zitiert habe, der mit Lösung nicht!) den Unterschriften von Herrn Kolbow und Herrn Wir sind sehr wohl der Auffassung, dass Entscheidun- (B) Dr. Peter Struck am 1. Juli 1991 hier in diesem Haus ge- gen zur künftigen Stationierung von Streitkräften und (D) stellt worden ist. Das darf man doch wohl noch einmal territorialer Wehrverwaltung für die Angehörigen der erwähnen, meine Damen und Herren. Bundeswehr und die betroffenen Standorte erhebliche Veränderungen und harte Einschnitte mit sich bringt. (Beifall bei der CDU/CSU) Das will niemand bezweifeln. Es muss doch erwähnt werden, dass es durch die Ent- Lassen Sie mich deshalb etwas zu den Zuständigkei- scheidungen an einigen Standorten – nicht nur in Schles- ten und möglichen Hilfen für diesen Strukturwandel bei wig-Holstein, sondern auch in anderen Bundesländern – der Bundeswehr ausführen. Die strukturpolitische Ver- zu einer extremen Belastung kommt. Im Antrag der antwortung für die Bewältigung der Konversionsfolgen CDU/CSU wird dezidiert begründet, warum wir zu einer liegt nach der föderalen Aufgabenverteilung des Grund- Verbesserung der Situation in diesen Regionen kommen gesetzes zweifelsfrei vorrangig bei den betroffenen Län- müssen: weil sie sonst ausbluten und weil der Abbau dern und Gemeinden. Der Bund wirkt daran mit. Des- von Bundeswehrstandorten gerade in strukturschwachen halb wurde im Rahmen des Steueränderungsgesetzes Gebieten zu erheblichen negativen Strukturveränderun- 1992 der Länderanteil am Umsatzsteueraufkommen ab gen führen würde. Deshalb ist es hier dringend notwen- 1993 von 35 auf 37 Prozent erhöht. Im Vermittlungsaus- dig, den betroffenen Bundesländern zu helfen und die schuss einigte man sich damals auf eine Empfehlung, strukturschwachen Gebiete zu stärken. wonach die Senkung des Bundesanteils am Umsatzsteu- Insofern bin ich gespannt, wie sich insbesondere die eraufkommen insbesondere zur finanziellen Flankie- Abgeordneten der Koalition – ob rot oder grün –, die in rung der Folgen des Truppenabbaus dienen sollte. Diese diesen Gebieten wohnen und dort ihre Wahlkreise haben, Mittel stehen den Ländern seit 1993 dauerhaft zur Verfü- in der Abstimmung über die Anträge entscheiden wer- gung. den, ob sie für oder gegen ihre Region abstimmen wer- (Beifall bei der SPD) den. Ich bin sehr gerne bereit, dieses Thema auch vor Ort zu diskutieren. Wir bitten die Länder, die zusätzlichen Mittel, die ihnen aus diesen 2 Prozentpunkten aus dem Steueraufkommen Herzlichen Dank. zufließen, auch für die vorgesehenen Zwecke zur Verfü- gung zu stellen. (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Noch eine peinliche Rede Ich merke in diesem Zusammenhang an, dass bei- von Herrn Carstensen! Völlig am Thema vor- spielsweise dem Land Bayern – dies haben die fleißigen bei!) Haushälter in unserer Fraktion errechnet – aus den Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12661

Parl. Staatssekretär Dr. Ditmar Staffelt (A) 2 Prozentpunkten am Umsatzsteueraufkommen pro Jahr Landesthemen befasst; Sie sollten sich das schon für die (C) eine Summe von 300 Millionen Euro zur Verfügung Debatten merken, die Sie als Oppositionspolitiker im steht. Schleswig-Holsteinischen Landtag führen werden –, re- gionale Schwerpunkte und Prioritäten beim Einsatz die- (Abg. [CDU/CSU] meldet ser Förderinstrumente zu setzen. Die Höhe der GA-Mit- sich zu einer Zwischenfrage) tel konnte bis 2008 verstetigt werden. An eine Aufstockung ist allerdings aus haushaltspolitischer Sicht Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: – das sage ich hier sehr deutlich – nicht zu denken. Herr Staatssekretär – – Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang aus aktu- ellem Anlass kurz etwas zu der anstehenden Entschei- Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär beim Bun- dung der Föderalismuskommission hinsichtlich der GA desminister für Wirtschaft und Arbeit: sagen. Gerade die Bundesländer fordern die Abschaf- Nein. fung der GA. Sie sollten sich aber im Klaren darüber sein, dass in diesem Fall ein Einsatz dieses regionalpoli- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: tischen Förderinstrumentariums zur teilweisen Bewälti- Sie wissen doch noch gar nicht, was ich fragen will. gung des konversionsbedingten Strukturwandels nicht mehr möglich sein wird. Andererseits ist ein eigenstän- (Heiterkeit bei der CDU/CSU) diges bundesfinanziertes Konversionsprogramm nicht Aber ich interpretiere Ihren Reflex so, dass Sie meine vorgesehen. mögliche Frage, ob Sie eine Zwischenfrage zulassen Die in den beiden Anträgen geforderte Verbilligung würden, negativ bescheiden wollen. der Veräußerung zukünftig nicht mehr militärisch ge- nutzter Liegenschaften im Rahmen des neuen Standort- Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär beim Bun- konzeptes ist nicht geplant. Ein derartiges, früher beste- desminister für Wirtschaft und Arbeit: hendes Verbilligungsprogramm ist bereits mit dem Ja, ich wollte schneller zum Ende kommen. Bundeshaushalt 2001 – von wenigen Ausnahmen abge- sehen – ausgelaufen. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ Dann teile ich das hiermit dem Kollegen Heiderich CSU]: Fragen Sie doch einmal Frau Simonis, mit. was sie dazu sagt!) Im Übrigen sind Verbilligungen umso effizienter, je hö- (B) Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär beim Bun- (D) her der Bodenwert liegt. Dieser ist aber in struktur- desminister für Wirtschaft und Arbeit: schwachen Regionen, von denen Sie sprechen, in der Die Regionen können – auch das will ich klarstellen – Regel besonders gering, sodass gerade hier das Instru- bei der Bewältigung der Konversionsfolgen zusätzlich ment der Verbilligung eher wenig greifen würde. auf die zur Verfügung stehenden Förderinstrumente wie die Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik, der Verkehrs- Der Bund beteiligt sich aber nach wie vor an für zivile politik, der Städtebauförderung sowie der Mittelstands- Anschlussnutzungen notwendigen Kosten für die Sanie- und Existenzförderung zurückgreifen. rung der von Boden- und Gewässerverunreinigungen be- troffenen bundeseigenen Liegenschaften. Wie bisher Die regionalpolitischen Instrumente der Europäischen wird der Bund bei der zivilen Anschlussnutzung der Union, des Bundes und der Länder können in den betrof- bundeseigenen Liegenschaften eng mit den Kommunen fenen strukturschwachen Gebieten, sofern die entspre- zusammenarbeiten. chenden Konversionsstandorte von der Fördergebiets- karte erfasst werden, zielgerecht eingesetzt werden. (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ Auch auf die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung CSU]: Das ist doch wohl eine Selbstverständ- der regionalen Wirtschaftsstruktur“ könnte grund- lichkeit! Das hat man bei jedem Handwerker!) sätzlich unter Berücksichtigung der GA-Förderregeln im – Entschuldigung, Sie haben doch das Recht auf eine Rahmen des bis Ende 2006 beihilferechtlich genehmig- vollständige Berichterstattung zu Ihrem Antrag. Hätte ten Fördergebiets zurückgegriffen werden. Allerdings ich es nicht gesagt, hätten Sie es mir vorgeworfen. Also bietet der derzeitige finanzielle Rahmen der GA nur ge- immer schön ruhig bleiben! ringen Spielraum zur Bewältigung der Konversionslas- ten. Das ist uns sehr wohl klar. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Peter H. Hinzu kommt, dass die von Schließung bzw. Trup- Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: Und ich penreduzierung betroffenen Standorte nur zu circa habe das Recht, Zwischenrufe zu machen! 54 Prozent im Fördergebiet der GA liegen. Soweit Kon- Nicht so arrogant, Herr Staffelt!) versionsstandorte in den Fördergebieten der GA liegen, können sowohl Investitionen der gewerblichen Wirt- Für einzelne Liegenschaften, insbesondere mit Ent- schaft als auch Investitionen in den Ausbau der wirt- wicklungspotenzial, hat das BMVg die Verwertungszu- schaftsnahen Infrastruktur mit GA-Mitteln gefördert ständigkeiten der Gesellschaft für Entwicklung, Be- werden. Alleinige Verantwortung der Länder ist – Herr schaffung und Betrieb übertragen. Einer in dem Antrag Carstensen, Sie sind im Moment in allererster Linie mit der CDU/CSU-Fraktion geforderten Entbürokratisierung 12662 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Parl. Staatssekretär Dr. Ditmar Staffelt (A) des Verfahrens bedarf es jedenfalls aus unserer Sicht begründete Neustrukturierung der Bundeswehr mittra- (C) nicht. gen wird. Wir stehen zu unserem Wort. Für die personelle Umsetzung der Strukturmaßnah- (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE men gilt weiterhin: Die notwendigen Maßnahmen wer- GRÜNEN]: Gut!) den so sozialverträglich wie nur möglich und ohne be- Die neue Ausrichtung der Bundeswehr mit all ihren triebsbedingte Kündigungen umgesetzt. Ich denke, das Konsequenzen erfordert eine neue Struktur. Es war mehr ist ein ganz wichtiger Sachverhalt. als an der Zeit, die lange bekannten Notwendigkeiten Die Personalführung der Bundeswehr hat bereits vor- umzusetzen. In letzter Konsequenz aber, nämlich in der beugend Initiativen ergriffen, um dies sicherzustellen. Wehrpflichtfrage, hat es die rot-grüne Regierung – das Dabei hat die Prüfung struktursicherer Weiterbeschäfti- muss hier angesprochen werden – dennoch nicht getan. gungsmöglichkeiten besondere Bedeutung. Außerdem (Beifall des Abg. Günther Friedrich Nolting steht unter anderem der Tarifvertrag über sozialverträgli- [FDP]) che Begleitmaßnahmen im Zusammenhang mit der Um- gestaltung der Bundeswehr vom 18. Juli 2001 zur Verfü- Leider muss die Bundeswehr noch immer mit einer zu gung. Dieser enthält bereits vielfältige Möglichkeiten geringen finanziellen Ausstattung auskommen. Ich zur sozialverträglichen Begleitung, zum Beispiel Alters- spreche das hier ganz bewusst an; das Ganze ist schließ- teilzeit, Härtefallregelung, Abfindungen und die erwei- lich gemacht worden, um Betriebsmittel zugunsten von terte Altersteilzeitregelung für Beamte. Investitionen einzusparen. Wir alle kennen die Hiobsbot- schaften: Der Verteidigungsetat wurde erneut um circa Wir sehen sehr wohl, dass es gilt, Probleme in den be- 250 Millionen Euro gekürzt. Das ging zulasten der Leis- troffenen Bereichen gemeinsam anzupacken. Aber wir tungsfähigkeit der Bundeswehr und ihrer Soldatinnen wollen hier in aller Klarheit sagen: Jede Ebene hat ihre und Soldaten. Aufgaben wahrzunehmen. Der Bund wird die seinen wahrnehmen. Aber die Länder sollen wissen: Sie müs- (Beifall des Abg. Christian Schmidt [Fürth] sen vor dem Hintergrund der geschaffenen Strukturen [CDU/CSU]) der letzten Jahre ihre Verantwortung in vollem Umfang Für den Verteidigungshaushalt ist jetzt das Ende der wahrnehmen. Dazu fordern wir sie auf. Fahnenstange erreicht. Die Bundeswehr ist ganz einfach Dies ist eine gemeinsame Aufgabe. Ich habe hier in nicht das Sparschwein der Nation. Sie steht vor großen der Fragestunde schon erlebt, dass jeder Abgeordnete Herausforderungen und muss wenigstens die mageren um seinen Standort besorgt ist. Das Bundesverteidi- Mittel erhalten, die angekündigt waren. gungsministerium befindet sich in einem intensiven Dia- (B) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (D) log mit den Abgeordneten. Dieser Dialog wird fortge- der CDU/CSU) setzt. Mir kommt das Ganze vor wie die Geschichte von Ich füge noch eines hinzu: Auch wir aus dem Bundes- Hase und Igel: Der Verteidigungsminister trifft Entschei- wirtschaftsministerium sind selbstverständlich bereit, dungen, um zu sparen, und der Finanzminister freut sich wann immer erforderlich und wann immer wir es kön- und sagt: Ich bin schon da! Ich habe erwartet, dass der nen, Auskünfte zu erteilen und im Rahmen der Gegeben- Finanzminister und nicht nur ein Vertreter aus dem Wirt- heiten, die ich Ihnen hier eben vorgetragen habe, mitzu- schaftsministerium hier anwesend ist. helfen. Der Schock in den von Schließungen betroffenen Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Standorten und Gemeinden ist verständlicherweise groß. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die Bundeswehr war dort ein großer Wirtschaftsfaktor. DIE GRÜNEN) Dass den betroffenen Kommunen geholfen werden muss, steht für die FDP außer Frage. Der Blick muss jetzt aber nach vorne gerichtet werden. Ich lebe im Hier Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: und Heute und kenne die von der rot-grünen Bundesre- Das Wort hat nun die Kollegin Helga Daub für die gierung zu verantwortende desolate Haushaltslage. Des- FDP-Fraktion. halb müssen Hilfen zielgerichtet sein. Nach dem Gieß- kannenprinzip vorzugehen bringt hier natürlich nichts. Helga Daub (FDP): Wenn man sich die Schließungspläne anschaut – wir Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- alle haben die Pläne bekommen –, dann kann man ren! Die Standortentscheidungen sind gefallen. Sie be- durchaus erkennen, dass es auch kommunale Filetstücke treffen fast alle Bundesländer und eben nicht nur Schles- gibt. Diese liegen mitten in der Stadt, sind infrastruktu- wig-Holstein. rell günstig gelegen und werden meines Erachtens ohne (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten größere Probleme einer anderen Nutzung zuzuführen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE sein. Hier liegt es vornehmlich in der Hand der Kommu- GRÜNEN) nen, durch zielgerichtetes und kreatives Handeln eine Lösung herbeizuführen. Dazu gehört natürlich auch, die Die FDP-Fraktion hat immer deutlich gemacht, dass sie Liegenschaften gegebenenfalls in die Verfügungsgewalt eine vernünftige, militärisch und betriebswirtschaftlich der Standortgemeinden zu überführen, damit diese zu- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12663

Helga Daub (A) sammen mit den zuständigen Behörden – Bundesbehör- (Beifall bei der FDP – Peter H. Carstensen (C) den, Landesbehörden – Nachnutzungskonzepte entwi- [Nordstrand] [CDU/CSU]: Wir haben doch ckeln können. eine Position! – Weitere Zurufe) (Beifall bei der FDP) – Warten Sie es ab, wie es in Ihrer Fraktion sein wird! Es gibt aber auch andere Regionen; wir wissen das. Zurück zu den Standortschließungen. Es gibt Härtefälle, die einer Härtefallregelung bedürfen. Olpenitz, Schneeberg und Wildeshausen seien jetzt nur Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: als Beispiele genannt. Es ist ganz klar ersichtlich, dass Darüber werden Sie sich, wenn überhaupt, nur noch die betroffenen Garnisonen und Regionen die Konver- ganz kurz äußern können. sion nicht ausschließlich aus eigener Kraft bewältigen können. Hilfe seitens des Bundes, der die Standortschlie- (Heiterkeit bei der FDP) ßungen verfügt hat, sind – auch das steht für die FPD au- ßer Frage – zwingend vonnöten. In unserem Antrag ha- Helga Daub (FDP): ben wir in Form von Forderungen konkret aufgelistet, Ja. – In den betroffenen Gemeinden haben sich in den wie den betroffenen Kommunen geholfen werden kann. vielen Jahrzehnten der Bundeswehr spezielle Wirt- Es bedarf einer genauen Prüfung und der Einbeziehung schaftsstrukturen entwickelt. Ohne Hilfe des Bundes ste- aller bestehenden Förderprogramme. hen kleine und mittelständische Betriebe, die daran hän- gen, vor dem wirtschaftlichen Aus. Die FDP-Fraktion Ich möchte noch einen Punkt ansprechen. Mit den wird dagegen kämpfen. Diese Politik ist gegen die Men- Standortschließungen wird ein weiteres Argument für schen gerichtet. Nicht alle Standards dürfen unter die fi- den Erhalt der Wehrpflicht – nach meiner Auffassung nanzpolitische Guillotine kommen. und nach Auffassung meiner Fraktion ist es inzwischen nur noch vorgeschoben – endgültig ad absurdum ge- Danke. führt. (Beifall bei der FDP) (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Dazu sagt der Nachtwei gleich etwas!) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Nun erhält, wie angekündigt, der Kollege Winfried – Ja, mit Sicherheit. Er wird auch direkt nach mir Nachtwei für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grü- reden. – Ich spreche in diesem Zusammenhang von dem nen das Wort. immer wieder angeführten Argument der Integration der (B) Bundeswehr in die Gesellschaft durch die Wehrpflichti- (D) Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gen. Das war lange Zeit so richtig. Das war unter einem anderen Konzept der Bundeswehr auch gut. Aber jeder Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Standort weniger und damit jeder Wehrpflichtige weni- der vorigen Woche wurde so breit und lebendig wie seit ger bedeutet in dieser Logik auch ein Stück weniger In- Jahren nicht über die Bundeswehr diskutiert. War end- tegration. Das bestärkt uns einmal mehr in der Position, lich bewusst geworden, dass wir zurzeit in der radikals- dass die Wehrpflicht ausgesetzt werden muss. ten Bundeswehrreform seit der Gründung der Bundes- wehr stehen, dass wir es mit einem historischen Ich freue mich auf die nächste Wehrpflichtdebatte, Auftragswandel zu tun haben? Nein, es ging um die Herr Nachtwei, vor allem deshalb, weil sich die Grünen Bundeswehr zu Hause am Standort. Das betrifft die in dieser Woche endlich öffentlich zu der Position der Menschen direkt und ist deshalb auch zu Recht Thema. FDP-Fraktion bekannt haben. Wenn ich das richtig ver- Aber es ist völlig falsch, dieses Thema ganz von seinem standen habe und wenn Sie nicht wieder umfallen, sind sicherheits- und militärpolitischen Hintergrund zu tren- Sie offenbar gewillt, auch im Deutschen Bundestag noch nen, wie es in den Oppositionsanträgen geschieht und in dieser Legislaturperiode den SPD-treuen Pro-Wehr- wie es auch in der Eröffnungsrede des Kollegen pflicht-Kurs zu verlassen. Wir haben zu dem Thema ges- Carstensen eben sehr deutlich zum Ausdruck kam. tern erneut einen Antrag in den Bundestag eingebracht. Hintergrund ist die Transformation der Bundes- Wir werden Sie beim Wort nehmen. Im Gegensatz zu Ih- wehr und der Wandel ihres Auftrages. Die Bundes- nen – Sie hätten ja sonst schon im September unserem wehr ist selbstverständlich weiterhin für den äußeren Antrag zustimmen können – wissen wir, was wir wollen. Schutz Deutschlands zuständig, das tut sie aber nicht (Beifall bei der FDP – Winfried Nachtwei mehr durch traditionelle Landesverteidigung, sondern [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sind wir hier dadurch, dass sie ihren Beitrag zur Bewältigung interna- im Kindergarten?) tionaler Krisen im Rahmen des Systems der Vereinten Nationen leistet, Unterstützung beim Katastrophen- Noch ein Wort an die beiden großen Fraktionen in schutz gibt usw. Dementsprechend werden die bisheri- diesem Haus. Wir sind nicht hier im Deutschen Bundes- gen 123 Heeresbataillone um 45 auf 78, die bisherigen tag – der Meinung sind wir jedenfalls –, um wichtige 17 Artilleriebataillone auf sechs und die 13 bisherigen Entscheidungen – die Entscheidung über die Wehr- Panzerbataillone ebenfalls auf nur noch sechs Bataillone pflichtfrage ist eine solche – am Ende den Gerichten zu reduziert. Da Bataillone standortbegründend sind, heißt überlassen. Wir sind gewählt worden, um selber zu ent- das im Klartext, dass viele Standorte sehr stark reduziert scheiden. Das sollten wir dann auch tun. oder gar geschlossen werden müssen. 12664 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Winfried Nachtwei (A) Richtig ist, dass der Bundesminister der Verteidigung Mitverantwortung für die Folgen des eigenen Tuns. Des- (C) nach militärisch-funktionalen und betriebswirtschaftli- halb haben wir in der Koalitionsvereinbarung festge- chen Kriterien entschieden hat. Richtig ist, dass er dabei schrieben: sehr wohl auch Rücksicht auf den Katastrophenschutz genommen hat, dieser also in keiner Weise vernachläs- Die Bundesregierung wird auch in Zukunft gemein- sigt wird. Dieses Konzept ist durchdacht und – das muss sam mit Kommunen und Ländern an der Konver- man heutzutage ausdrücklich sagen – es ist auch mutig. sion militärisch genutzter Liegenschaften arbeiten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Staatssekretär Staffelt hat gerade darauf hingewiesen, und bei der SPD) in welchen Bereichen der Bund diese Mitverantwortung wahrnimmt. Wer von der Opposition wusste denn in der Sie, Herr Carstensen, haben dagegen in Ihrer Rede ein letzten Woche überhaupt, dass die Umsatzsteuer im Jahr Beispiel für politischen Opportunismus gebracht. 1993 um 2 Prozentpunkte angehoben wurde und welche Einnahmen das noch jetzt Jahr für Jahr ausmacht? (Zuruf des Abg. Peter H. Carstensen [Nord- strand] [CDU/CSU]) (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Zur Bewältigung der deutschen Einheit!) Dieses Konzept entspricht auch den Empfehlungen der Weizsäcker-Kommission aus dem Jahre 2000. Das darf man doch nicht einfach so beiseite wischen. Bei aller Notwendigkeit starker Reduzierung bzw. des Die anderen Maßnahmen brauche ich jetzt nicht anzu- Schließens von Standorten sind deren Folgen oft sprechen. Sie sind vom Staatssekretär genannt worden. schmerzhaft und auch bedrohlich für die entsprechenden Ein Problem ist, dass die entsprechenden Programme auf Kommunen, EU-Ebene meines Wissens inzwischen ausgelaufen sind. Da ist dann auf EU-Ebene zu diskutieren, ob eine Neu- (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ auflage bezogen auf die Beitrittsländer und auf struktur- CSU]: Nicht für die Kommunen, für die Men- schwache Regionen in den übrigen EU-Ländern nötig schen!) ist. Zu Zeiten weniger leerer Kassen haben auch wir die Forderung nach einem Bundeskonversionsprogramm durch Arbeitsplatz- und Kaufkraftverluste sowie sin- unterstützt. Wir müssen aber nüchtern feststellen, dass kende Steuereinnahmen. Experten des Internationalen dies seit einigen Jahren leider nicht mehr machbar ist. Konversionszentrums Bonn, die bundesweit vielleicht Auch der Vorschlag, Hilfen für Konversionen aus Ein- die beste und umfassendste Expertise in diesem Bereich sparungen des Verteidigungsetats zu nehmen, ist nicht haben, haben aber in der letzten Woche vor Endzeitstim- (B) realisierbar. Es ist übrigens bemerkenswert, wer das (D) mung bzw. entsprechender Stimmungsmache gewarnt: heute vorschlägt: Die CDU im Düsseldorfer Landtag Bei allen Problemen sollten wir nicht vergessen, schlägt dies in einem Antrag vor. Die CDU hier im Bun- dass die bis dato durchgeführten Konversionsvor- destag lehnt dies übrigens kategorisch ab. gänge durchaus nicht nur zu einer Schwächung der (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Hört! jeweiligen Kommunen und Regionen geführt ha- Hört!) ben. Von erfahrenen und erfolgreichen Konversionsbeauf- Inzwischen gibt es einen reichen Erfahrungsschatz tragten auf Länderebene hören wir in den letzten Wochen gelungener Konversionen. Ich verweise nur auf den letz- wieder verstärkt, dass auf Bundesebene eine Anlaufstelle ten Konversionsbericht des Landes Nordrhein-Westfa- fehlt und dass so etwas wie ein Konversionsbeauftrag- len, in dem die in den letzten zehn Jahren in diesem Be- ter als Informations- und Koordinationsstelle sowie als reich gesammelten Erfahrungen dargestellt werden. Lotse in dieser schwierigen Materie sehr wohl dringend Dabei wird deutlich, dass es ganz entscheidend darauf notwendig wäre. Für Anfang nächsten Jahres lädt der Mi- ankommt, und zwar als erstes, wie man die mit der Kon- nister der Verteidigung betroffene Bürgermeister zu einer version verbundenen Herausforderungen angeht. Es großen Konversionskonferenz ein. Daran werden auch kommt also dabei nicht als erstes aufs Geld an, sondern das Finanzministerium, das Ministerium für Wirtschaft auf die Methode. und Arbeit sowie entsprechende Experten von Instituten In den Anträgen der Opposition wird mittels der darin teilnehmen. Ich sage ausdrücklich, dass das ein sehr gu- erhobenen Forderungen der Bund zum Hauptverantwort- ter Schritt ist. Ich bin mir sicher, dass das nicht einfach lichen für die Konversion erklärt. eine Show ist, mit der Konversionsmitverantwortung si- muliert werden soll. Nein, dies wird ein Beitrag zur Kon- (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ version auch von der Bundesebene aus sein. Ich hoffe, CSU]: Wer denn sonst?) dass unser Vorschlag zur Schaffung eines Konversions- beauftragten dabei entsprechende Unterstützung finden Das widerspricht der föderalen Ordnung des Grundge- wird. setzes, gemäß dem die Hauptverantwortung für Wirt- schaftsförderung bei Ländern und Kommunen liegt. Der Ich danke Ihnen. Bund steht deshalb keineswegs außerhalb der Verant- wortung. Streitkräfte können und dürfen zwar kein Mit- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tel der Strukturpolitik mehr sein, aber der Bund trägt und bei der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12665

(A) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Ein zweiter Punkt, den Sie ansprechen, ist die euro- (C) Nächster Redner ist der Kollege Klaus Hofbauer für päische Strukturpolitik. Herr Staatssekretär, Sie wis- die CDU/CSU-Fraktion. sen, dass die jetzigen Richtlinien der europäischen Strukturpolitik dieses Thema nicht beinhalten. In den (Beifall bei der CDU/CSU) Grundsätzen der europäischen Strukturpolitik ist eine Konversion von Bundeswehrstandorten nicht enthalten. Klaus Hofbauer (CDU/CSU): Ich frage Sie, Herr Staatssekretär: Haben Sie entspre- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten chende Initiativen bei der EU eingereicht, sodass dieses Kolleginnen und Kollegen! Die Reform der Bundeswehr Problem behandelt wird? Wird die EU-Strukturpolitik ab bedeutet tief greifende Einschnitte für die Bundesrepu- 2006 völlig neu geschrieben? Haben Sie die Vorausset- blik Deutschland, und zwar in militärischer als auch in zungen dafür geschaffen, dass wir europäische Gelder strukturpolitischer Hinsicht. Man kann über diese Struk- bekommen? Auch Sie wissen, dass viele Orte von der turreform diskutieren. Es bestehen auch einige Befürch- EU-Strukturpolitik nicht mehr berücksichtigt werden. tungen. Eine Befürchtung aus militärischer Sicht ist, Die Bundesrepublik West fällt in Zukunft fast ganz he- dass unsere Bundeswehr erhebliche Probleme bekom- raus. men wird, die Auslandseinsätze überhaupt noch bewälti- Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich darf gen zu können. Die Probleme bei der inneren Sicherheit noch einen Punkt herausgreifen: den Verkauf von Im- werden schwerwiegend sein. Wenn man die Ankündi- gungen des Finanzministers hört, dass der Verteidi- mobilien. Ich habe Herrn Staatssekretär Kolbow schon einmal erzählt: Als einer Ihrer Beamten an den ehemali- gungsetat wieder gekürzt werden soll, dann kommt man gen Bundeswehrstandort Kötzting, unmittelbar an der zu dem Schluss, dass diese Reform von Haus aus zum Scheitern verurteilt ist, bevor sie überhaupt begonnen Grenze, kam, erwähnte er die Preise, die in Pullach bei München erzielt würden, und meinte, diese könne er hat. auch in Kötzting erreichen. Zu geringeren Preisen ver- (Beifall bei der CDU/CSU) kaufe man nicht; man gebe die Immobilien nicht verbil- ligt an die Kommune ab. – Wir fordern ganz konkret, Uns muss bewusst sein, dass wir insgesamt – wenn man dass bei diesen Verhandlungen über Immobilien die auch das Umfeld einer Kaserne mit heranzieht – von Schwerfälligkeit der Behörden abgeschafft wird. Die 100 000 Arbeitsplätzen sprechen, die in der Bundesrepu- Verhandlungen dürfen nicht so langwierig geführt wer- blik Deutschland durch diese Entscheidung verloren ge- den. Vor allem muss die Preisgestaltung praxisnah – an- hen. 100 000 Arbeitsplätze in der jetzigen, wirtschaftlich hand der örtlichen Verhältnisse – erfolgen. schwierigen Zeit! (B) Herr Kollege Nachtwei, Ihren Vorschlag, einen An- (D) Die SPD macht ja Ankündigungen. Zum Beispiel hat sprechpartner entweder im Wirtschaftsministerium letzte Woche der stellvertretende Fraktionsvorsitzende oder im Verteidigungsministerium zu benennen, halte der SPD, Herr Stiegler, in Bayern Tag und Nacht über ich für gut. Darüber sollte man diskutieren. Ein solcher Rundfunk bekannt geben lassen, dass der Bund in die Ansatz kann helfen. Zur Lösung der Probleme vor Ort Konversion einsteigt. In der Praxis müssen wir feststel- benötigen die Kommunen beim Bund einen konkreten len, dass der Bund nur ein Ziel hat, nämlich die Pro- Ansprechpartner. bleme auf die Länder und die Kommunen abzuschieben und selber keinen Beitrag zu leisten. Meine Damen und Herren, der Antrag der CDU/CSU- Bundestagsfraktion enthält ganz konkrete Vorschläge. Herr Staatssekretär Staffelt, Sie haben einige Bei- Ein solcher Antrag ist 1991 von der SPD gestellt wor- spiele aufgezeigt. Ich weiß, dass Sie diese Themen hier den. behandeln. Eines möchte ich Ihnen aber sagen: Alle Ihre Vorschläge sind stumpfe Schwerter, die in der jetzigen (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Und Phase überhaupt nichts bringen. Sie wissen, dass zum er ist verfolgt worden!) Beispiel die GA-West fast auf null gefahren wurde. Die gesamte heutige Spitze des Verteidigungsministeri- (Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär: ums hat diesen Antrag unterschrieben. Stellen Sie sich 100 Millionen!) doch hinter diese Forderungen und unterstützen Sie sie! – Wenn ich sehe, Herr Staatssekretär, dass zum Beispiel Die damalige Bundesregierung hat gehandelt. Sie hat in Ostbayern 7,7 Millionen Euro von diesen 100 Millio- wirklich etwas für die Konversion der Bundeswehr- nen Euro übrig geblieben sind, dann muss ich feststellen, standorte getan. dass man davon keine Wirtschaftsförderung mehr betrei- ben kann. Dieses stumpfe Schwert hilft uns in der jetzi- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gen schwierigen Phase nicht. Erlauben Sie mir eine abschließende Bemerkung. (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Werner Dieser Antrag bedeutet keine Zustimmung der Opposi- Bertl [SPD]: Was macht die Bayerische Staats- tion bzw. meiner Fraktion zu dieser Reform der Bundes- regierung mit den Umsatzsteuerpunkten? In wehr. Sie wirft noch ganz erhebliche Probleme auf. Aber welche Kasse laufen die?) eines ist klar: Der Bund kann sich nicht aus der Verant- wortung stehlen. Er muss handeln, und zwar sofort. – Auf diesen Punkt komme ich noch zu sprechen. – Die GA fällt also in Gänze aus. Danke fürs Zuhören. 12666 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Klaus Hofbauer (A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ (C) CSU]: Völlig korrekt! Aber es ist doch richtig, dass wir 8 600 Dienstposten verlieren!) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Ich erteile das Wort dem Kollegen Rolf Kramer für Der Bundesdurchschnitt liegt bei 3,5 Dienstposten je die SPD-Fraktion. 1 000 Einwohner, in Schleswig-Holstein sind es nach wie vor 9,1 Dienstposten je 1 000 Einwohner. Damit führen Sie die Hitliste in Deutschland an. Rolf Kramer (SPD): (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und CSU]: Sollen wir uns dafür bedanken, dass es Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die jetzige nicht mehr geworden sind?) Standortentscheidung des Verteidigungsministers mit der angekündigten Schließung von 105 Standorten der – Ich finde schon, dass Sie sich dafür bedanken können, Bundeswehr bis zum Jahre 2010 ist ganz zweifellos ein dass Schleswig-Holstein im Bundesdurchschnitt nach gravierender Einschnitt. Aber dieser Einschnitt ist vor wie vor sehr gut dasteht. dem Hintergrund der sich verändernden sicherheitspoli- An dieser Stelle darf auch gesagt werden: Die bisher tischen Rahmenbedingungen notwendig geworden. Die- schon stattgefundene Reduzierung der Bundeswehr war ser neuen Ausgangslage muss sich auch die Bundeswehr eine große Leistung. Wir haben im Augenblick etwa anpassen, um das veränderte Aufgabenspektrum und die 280 000 Dienstposten militärischer Art und 110 000 zi- gestiegenen internationalen Verpflichtungen abzude- vile Dienstposten. Diese große Leistung ist dem Engage- cken. Wir werden feststellen, dass dann, wenn die Re- ment der Beschäftigten der Bundeswehr zu verdanken. form beendet ist, die Bundeswehr mehr Fähigkeiten ha- In den letzten 15 Jahren hat sich die Struktur der Ver- ben wird als bisher. teidigung gewandelt, von der Heimatverteidigung hin (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Winfried zu internationalen Verpflichtungen im Rahmen von Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) UNO und NATO, einschließlich der Auslandseinsätze. Die Zahl der Auslandseinsätze nimmt zu und wird leider War zu Zeiten des Kalten Krieges eine breit aufge- auch in Zukunft weiter zunehmen. Seit dem 11. Septem- stellte, in der Fläche dislozierte und hauptsächlich auf ber 2001 hat diese Entwicklung eine neue Qualität be- die Panzerwaffe gestützte Bundeswehr zur Erfüllung der kommen, auf die der Bundesminister der Verteidigung ihr gestellten Aufgaben erforderlich, so hat sich dies spä- mit dem Erlass der Verteidigungspolitischen Richtlinien testens seit dem Fall der Mauer vor nunmehr 15 Jahren im Mai letzten Jahres angemessen und auf die Zukunft ausgerichtet reagiert hat. (B) entscheidend geändert. Alle Verteidigungsminister seit (D) 1990 haben in ihrer jeweiligen Amtszeit nicht nur einen Die von Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegen Umbau der Bundeswehrstrukturen eingeleitet, sondern von der Opposition, kritisierte Entscheidung zur Statio- auch eine Reduzierung der Anzahl der Bundeswehrange- nierung der Bundeswehr setzt diesen 2003 eingeleiteten hörigen sowie der Standorte vorgenommen. Ich darf nur Transformationsprozess konsequent fort. Die Maßstäbe daran erinnern, dass von ehemals rund 670 000 deut- dieser Entscheidung waren allerdings erstmals rein mili- schen Soldaten und mehr als 230 000 Zivilbeschäftigten tärisch und betriebswirtschaftlich begründet. Angesichts in Zukunft 250 000 Soldaten und 75 000 Zivilbeschäf- der allgemeinen Lage der öffentlichen Haushalte, nicht tigte übrig bleiben. nur des Einzelplans 14, ist dies ein aus meiner Sicht un- umgängliches und zugleich transparentes Verfahren. Die Konfrontation der Blöcke ist beendet, die be- Die Einsparungen im Bereich der Personalausgaben und fürchteten Panzerschlachten in der norddeutschen Tief- der Betriebskosten sind erforderlich, um die notwendi- ebene drohen nicht mehr. gen Beschaffungsinvestitionen im Bereich der Bundes- (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Dann brau- wehr finanzieren zu können. chen wir auch keine Wehrpflicht mehr!) Wir sind uns doch alle einig, dass der investive Anteil am Verteidigungshaushalt ansteigen muss, meine sehr – Das sagen Sie, Herr Nolting; darüber werden wir dann verehrten Damen und Herren. Eine wichtige Wegmarke reden. – Ich denke, man sollte sich häufiger die gute in Bezug auf dieses Ziel ist die Anpassung der Standorte Nachricht vergegenwärtigen, dass wir in Deutschland in an die aufgeführten Notwendigkeiten. Mit der Auftei- einem sicherheitspolitisch guten Umfeld leben. lung in 35 000 Eingreifkräfte, 70 000 Stabilisierungs- Herr Carstensen, Sie äußern, dass Schleswig-Hol- kräfte und 106 000 Unterstützungskräfte sowie 75 000 zi- stein von der Schließung der Standorte ganz besonders vile Beschäftigte ist die Bundeswehr für die jetzt bekannten Herausforderungen in Zukunft gut und ver- stark betroffen sei. Ich sage Ihnen und allen, die das nünftig aufgestellt. Diese Größe und die neuen Aufga- noch nicht gelesen haben: Ja, die Schließung der Stand- ben sind die Grundlage für die Dislozierung in der Flä- orte in Schleswig-Holstein ist beschlossen; zwei Stand- che. orte mit über 1 000 Dienstposten, sechs Standorte mit elf bis 100 Dienstposten usw. werden gestrichen. Sie haben Die am 2. November vom Minister vorgestellten aber nicht gesagt, Herr Carstensen, dass Schleswig-Hol- Standortschließungen wie auch die Reduzierungen sind stein nach wie vor das Ranking der Stationierungsdichte für die betroffenen Regionen teilweise hart und sicher- anführt. lich in vielen Fällen nur schwer zu verkraften. Das steht Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12667

Rolf Kramer (A) außer Frage. Im Zweifelsfall – das ist nur zu verständ- erneuten Aufforderung durch den Bundestag, die Be- (C) lich – sind jede Reduzierung und vor allem jede Stand- lange der Bundeswehrangehörigen zu berücksichtigen, ortschließung für die Betroffenen von Nachteil. wie im CDU/CSU-Antrag populistisch gefordert, bedarf es aus unserer Sicht nicht. Dies ist seit langem Wirklich- Auch die Klagen der betroffenen Kommunen waren keit. in der Vergangenheit und sind auch heute aus ihrer je- weiligen Sicht sicherlich begründet. Diese Kommunen Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. haben einen Anspruch darauf, nicht allein gelassen zu (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ werden. DIE GRÜNEN) (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ CSU]: Dann mal los!) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Die negativen Folgen müssen – hier sind alle Beteiligten Das Wort hat nun die Kollegin Petra Pau. in der Pflicht – so weit wie möglich abgemildert werden. Petra Pau (fraktionslos): Im Rahmen ihrer Möglichkeiten und einer guten Zu- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sammenarbeit mit den Kommunen wird die Bundeswehr Bundesverteidigungsminister Struck will 105 Standorte ihren Beitrag hierzu leisten, wie es auch schon in der der Bundeswehr schließen. Schon sein Vorgänger, Bun- Vergangenheit geschehen ist. Die in einigen Bundeslän- desminister Scharping, hatte 76 Filialen geschlossen. dern eingerichteten Konversionsarbeitsgruppen leisten Ginge es um systematische Abrüstung: Die PDS im hier bereits eine gute Arbeit. Diese Verantwortung wird Bundestag würde diesen Schließungen sofort zustim- aus unserer Sicht von den Ländern allerdings sehr unter- men. schiedlich wahrgenommen. (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch Erlauben Sie mir an dieser Stelle als niedersächsi- [fraktionslos]) scher Bundestagsabgeordneter einen Appell an die CDU-geführte Landesregierung in Hannover: Stellen Sie Aber das Gegenteil ist der Fall. Es geht um Umrüs- sich Ihrer Verantwortung gegenüber den betroffenen tung. Die Bundeswehr wird zu einer Interventionsarmee Kommunen und nehmen Sie die Streichung der Konver- umgebaut. Die Landesverteidigung rückt ins dritte sionsmittel zurück! Glied. Stattdessen soll die Bundeswehr weltweit agieren. Insofern, Herr Kollege Nachtwei, haben Sie ein wahres (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Jetzt ruft Wort gesprochen. Fürwahr, es ist eine ganz radikale Re- ihr: Haltet den Dieb!) form. (B) (D) Die Forderungen aus der CDU-Landtagsfraktion in Han- Das widerspricht allerdings dem Grundgesetz. nover nach einem vom Bund finanzierten Konversions- programm sind angesichts dieser Streichung einfach nur (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE billige Polemik. GRÜNEN]: Ich habe gesagt: im Rahmen des Systems der Vereinten Nationen!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Peter H. Carstensen [Nord- Aber es ist inzwischen Programm aller im Bundestag strand] [CDU/CSU]: Guckt bitte nach, was in vertretenen Parteien, ausgenommen die PDS. Wir blei- anderen Ländern an Mitteln für die Gemein- ben bei unserem Nein. Wir wollen stattdessen eine wirk- schaftsaufgabe abgerufen wird!) liche Abrüstung, wozu im Übrigen auch die Abschaf- fung der Wehrpflicht gehört. Lassen Sie mich zum Abschluss noch einmal auf die durch die Standortentscheidung betroffenen Angehöri- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch gen der Bundeswehr eingehen. Ich – wie auch der Ver- [fraktionslos]) teidigungsminister – verkenne nicht, dass dieser Trans- Nun befürchten viele Städte und Gemeinden, die von formationsprozess, verbunden mit einem Abbau der einem Abzug der Bundeswehr betroffen werden, dro- Truppenstärke, oft persönliche Härten für die Soldatin- hende Bedeutungs-, Steuer- und Kaufkraftverluste. Da- nen und Soldaten, für die Zivilbeschäftigten und auch rauf komme ich gleich zurück. deren Angehörige nach sich zieht. Das war allerdings bei allen Standortentscheidungen seit 1990 der Fall. In all Es gibt aber auch Regionen, in denen gegen den Wil- diesen Fällen hat das Verteidigungsministerium die Fol- len der Landesregierung, gegen den Willen der Land- gen der Veränderungen durch geeignete Personalmaß- kreise und gegen den Willen der Bürgerinnen und Bür- nahmen und durch entsprechende tarifvertragliche Ver- ger aufgerüstet wird. Ich nenne zum Beispiel die Kyritz- einbarungen geregelt und aufgefangen. Ruppiner Heide, wo das so genannte Bombodrom unbe- irrt wieder in Betrieb genommen werden soll, diesmal Es hat bisher keine betriebsbedingten Kündigungen für die NATO. Ich warte insofern immer noch sehr ge- gegeben. Das wird auch in Zukunft so sein. Die Zusage spannt auf Ihren im Brandenburger Wahlkampf so voll- des Ministers steht. Auch die insgesamt gesehen ver- mundig angekündigten Gruppenantrag, der das verhin- nünftige und attraktive Möglichkeit des frühen Aus- dern soll, Kollege Nachtwei. scheidens aus dem Arbeitsleben wird ganz sicherlich verlängert werden. Die Angehörigen der Bundeswehr (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch können den Aussagen ihres Ministers vertrauen. Einer [fraktionslos] – Winfried Nachtwei [BÜND- 12668 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Petra Pau (A) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Keine Bange! Ist un- (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Sehr (C) terwegs! Gut Ding will manchmal Weile ha- wahr!) ben!) Aber dieses Wie wird immer fraglicher. Erst gestern ha- Als die Bürgerrechts- und Friedensbewegung der ben wir erfahren, dass der Verteidigungsetat nochmals DDR seinerzeit mit der Forderung „Schwerter zu Pflug- vom Finanzminister gekürzt wird. Bei dieser Regierung scharen“ auftrat, war ihr der Beifall aus der alten Bun- sind die Gläser nicht halb voll; sie sind leer. desrepublik gewiss. Nun wendet die neue Bundesrepu- Wir alle hier in diesem Hause haben zwei epochale blik zum Beispiel in der Kyritz-Ruppiner Heide das politische Zäsuren erlebt: den Zusammenbruch des War- Friedenssymbol: Sie macht aus Pflugscharen Schwer- schauer Paktes und den terroristischen Angriff auf die ter – und das unter Federführung von SPD und Grünen. Vereinigten Staaten. Waren diese Ereignisse vorherseh- Nun zu den Sorgen der betroffenen Standorte. Sie bar? Nein. Heute kämpfen deutsche Spezialeinheiten am sind berechtigt. Berechnungen besagen: Je sieben Solda- Hindukusch, sichern Tausende Soldaten die Demokrati- ten, die abgezogen werden, kosten die heimische Wirt- sierung Afghanistans, steht die Bundesmarine im Indi- schaft einen Arbeitsplatz. Bundesweit geht es bei dieser schen Ozean. Strukturreform um Zigtausende zivile Arbeitsplätze. In Daraus sollten wir die Lehre ziehen: Nichts ist vor- manchen Garnisonsorten geht es dann ans Eingemachte. hersehbar. Wer in unseren Tagen Heimatschutz und Nun höre ich vom Bundesverteidigungsminister, er Bündnisverteidigung als wichtige Pfeiler einer verant- entscheide streng nach militärischen Gesichtspunkten wortungsvollen Vorsorgepolitik abschafft, hat sicher- und nach Effektivitätskriterien der Bundeswehr, für die heitspolitisch nichts gelernt. Er verstößt aber auch gegen regionale Entwicklung sei er nicht zuständig. Auf den das Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung. Die Attentate ersten Blick mag das einleuchten. Aber er ist auch Be- in Madrid haben uns deutlich vor Augen geführt, dass standteil der Bundesregierung, die eine Gesamtverant- auch wir in Europa nicht vor Anschlägen sicher sein wortung hat und nicht nur für den militärischen Teil zu- können. ständig ist. Sicherheit erfordert aber Investitionen. Als die Kol- legen von der SPD noch in der Opposition waren, haben (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch sie ständig davor gewarnt, den Verteidigungshaushalt zu [fraktionslos]) einem Steinbruch zu machen. Die Genossen haben es als Die PDS erwartet, dass die betroffenen Regionen mit Regierung heute sogar fertig gebracht, den Steinbruch den Umstrukturierungsproblemen nicht allein gelassen der Bundeswehr fast leer zu räumen. Ihr Konzept lebt von der Hand in den Mund. Es ist ohne Weitblick. Es ist (B) werden. Insofern teilen wir das Anliegen des CDU/CSU- (D) Antrages; es kommt ja nicht oft vor, dass PDS und CDU/ – so wie Ihre ganze Bundeswehrplanung – nicht an den CSU übereinstimmen. möglichen Bedrohungsszenarien ausgerichtet. Noch ein kleiner Tipp für den Staatssekretär. Die An- Lassen Sie mich nur zwei Fragen stellen, die zeigen, frage des PDS-Abgeordneten André Brie an den zustän- wie riskant Ihr Konzept ist: Die ABC-Abwehrtruppe digen EU-Kommissar hat bestätigt, dass die Europäische wird um zwei aktive Bataillone reduziert. Wie wollen Union umfangreiche Fördermittel für Konversionspro- Sie mit den verbliebenen Kräften alle – zwar nicht wün- gramme zur Verfügung stellt. Die sind aber an die Be- schenswerten, aber möglichen – Szenarien bewältigen? dingung geknüpft, dass es auch entsprechende nationale Wenn sich ein Einsatz wie der in Kuwait wiederholt, Programme gibt, die die betroffenen Städte und Kommu- dann stünde fast die Hälfte der deutschen ABC-Abwehr- nen fördern. Sie können solche Programme nicht den truppe im Ausland. Zu eventuell notwendigen Hilfeleis- Kommunen und den Ländern aufbürden, die ohnehin tungen im Inland wäre die Bundeswehr nicht mehr in der klamm sind. Lage. Der derzeit für die Soldaten bestehende Rhythmus eines Zweijahreseinsatzes wäre eine Utopie. Sieht so (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch eine umsichtige Planung aus? [fraktionslos]) (Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Bei den Standortschließungen bleibt so manches im Ich erteile das Wort der Kollegin Anita Schäfer, CDU/ Unklaren. Die Jägerbrigade 37 bleibt bestehen. Ihre bei- CSU-Fraktion. den Jägerbataillone aber verschwinden. Mit 1 400 Sol- daten liegt der moderne Standort Schneeberg weit über der neuen Durchschnittsgröße von 900 Soldaten. Ge- Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU): birgsjäger sind schon heute im Rahmen der Auslands- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 50 Jahre einsätze besonders wichtig. Warum also wird dieser nach ihrer Aufstellung steht die Bundeswehr vor ihrer Standort geschlossen? In Rheinland-Pfalz trifft es den Neugründung. Anders kann man den Vorgang nicht be- Heeresfliegerstandort Mendig. Kein Einsatz läuft ohne zeichnen, den die Bundesregierung Transformation Heeresflieger ab. Sie sind ein Stück Zukunft. Der Flie- nennt. Sicher, die weltpolitische Situation hat sich gerhorst Mendig wurde mit Millionensummen auf den grundlegend geändert. Die Ausrichtung auf neue Be- neuesten Stand gebracht. Der Minister soll den Soldatin- drohungsszenarien ist unumgänglich. Es steht also nen und Soldaten in Mendig einmal erklären, warum nicht das Ob zur Debatte, sondern das Wie. dieser Standort geschlossen wird. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12669

Anita Schäfer (Saalstadt) (A) (Beifall bei der CDU/CSU) vorliegenden Antrag und helfen Sie den betroffenen Ge- (C) meinden! Es gibt viele solcher Fragen, die zeigen, dass es die- sem Konzept an weitsichtiger Planung fehlt. Dass der Vielen Dank. Verteidigungsminister noch vier Stützpunkte für zivilmi- litärische Zusammenarbeit erfunden hat, ist nur ein Fei- (Beifall bei der CDU/CSU – Winfried genblatt, gewährleistet im Notfall aber nicht den Schutz Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: der Bevölkerung. Wir haben es also mit einem Streich- Das Letztere wollen wir auch!) konzert zu tun, bei dem längst nicht mehr der Verteidi- gungsminister, sondern der bankrotte Finanzminister den Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Taktstock schwingt, Nächster Redner ist der Kollege Christian Müller, SPD-Fraktion. (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Sehr wahr! Genauso ist es!) Christian Müller (Zittau) (SPD): einem Konzert, das schwere Auswirkungen auf die Bun- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- deswehr und die betroffenen Gemeinden hat. ren! Die Bedeutung der Bundeswehrreform und ihre Fol- Die Gemeinden haben in der Vergangenheit Geld in gen sind zu Recht von allen Seiten diskutiert und be- die Infrastruktur gesteckt, die von den Soldatinnen und leuchtet worden. Insgesamt ist das ein sehr ernstes Soldaten gebraucht wurde. Mit dem Abzug der Soldaten Thema, über das auch ernsthaft diskutiert wird. Lassen verlieren die Gemeinden Einwohner, also Kaufkraft. Sie mich deswegen unterstreichen, dass es für keine Re- Gleichzeitig gehen auch noch viele Arbeitsplätze verlo- gion leicht ist, mit den Folgen eines tief greifenden ren. Diese dramatischen Standortschließungen finden in Strukturwandels gleich welcher Art fertig zu werden. einer Zeit statt, in der sich Deutschland in der tiefsten Hierzu liegen aus den letzten 14 Jahren – nicht nur, aber Strukturkrise der Nachkriegszeit befindet. Insbesondere vor allem auch aus den ostdeutschen Regionen – um- die strukturschwachen Regionen sind von einer mehrjäh- fangreiche Erfahrungen vor. Das gilt insbesondere für rigen ökonomischen Talfahrt betroffen. Besonders die Folgen der Schließung von Bundeswehrstandorten, schmerzlich vermissen wir, dass die Standortschließun- die jetzt ansteht. gen in Deutschland entgegen der Aussage des Bundes- Strukturpolitische Herausforderungen infolge Kon- ministers der Verteidigung nicht mit den Amerikanern version stehen allerdings in einer Reihe mit den Folgen abgestimmt wurden. Ich befürchte daher schon heute, der Globalisierung, dem überregionalen Wettbewerb der dass manch eine Gemeinde doppelt betroffen sein wird. Standorte, dem Standortwettbewerb innerhalb der Euro- (B) (D) Sehr geehrte Damen und Herren von der Regierung, päischen Union und dem Strukturwandel im ländlichen ich prophezeie Ihnen, dass Sie Ihre Verweigerung nicht Raum und anderswo. Auch angesichts der noch nicht be- durchhalten werden und am Ende doch Konversions- hobenen wirtschaftlichen Defizite in Ostdeutschland hilfe leisten werden. Im Jahre 1991 haben Sie von der bleibt dies ein ernstes Thema. Allerdings tritt keines die- SPD in einer ähnlichen Situation vehement gefordert, ser Probleme für sich allein auf. Folglich ist ihnen auch auf strukturschwache Regionen besonders Rücksicht zu nicht mit der gelegentlichen Auflage einzelner Sonder- nehmen. Wir als Union haben uns schon damals unserer programme zu begegnen. Mit anderen Worten: Wir müs- Verantwortung als Regierung gestellt. Die Menschen in sen die vorhandenen Instrumente und Programme – so Schneeberg, Mendig und anderswo können jetzt erken- sie denn noch greifen – nutzen und vernünftig miteinan- nen, wie treu die SPD zu ihren Forderungen von damals der kombinieren. Natürlich ist die Frage, ob eine schwa- steht. che Region den Strukturwandel aus eigener Kraft zu- wege bringt, durchaus berechtigt, wenngleich dafür nach Deshalb ist es besonders wichtig, dass den betroffe- dem Grundgesetz auch ihr Bundesland zuständig und nen Soldaten und den zivilen Mitarbeitern so schnell wie verantwortlich ist. Deswegen halte ich es für sehr sinn- möglich verlässlich mitgeteilt wird, wann genau ein voll, dass Bund und Länder eine verstärkte Verantwor- Standort geschlossen wird. Herr Staatssekretär, Sie ha- tung für Moderation, Koordinierung und Begleitung des ben eine besondere Fürsorgepflicht für die Menschen in Strukturwandels in den Regionen übernehmen. der Bundeswehr. Werden Sie ihr gerecht und schaffen Ich will unterstreichen, was unser Kollege Staffelt Sie für die Ihnen anvertrauten Menschen eine verlässli- ausführlich dargestellt hat: dass wir zurzeit noch über ein che Perspektive. bewährtes strukturpolitisches Instrumentarium verfügen, (Beifall bei der CDU/CSU) das wir zur Anwendung bringen können. Die Gemein- schaftsaufgabe ist in ihrer Bedeutung bereits gewürdigt Kollege Hofbauer hat die Notwendigkeit unseres An- worden. Sie wird, wie Sie wissen, seit 2001 von den Mi- trags klar dargelegt. Daher möchte ich nur eines ergän- nisterpräsidenten offensiv infrage gestellt, was im Übri- zen: Der Verteidigungsminister sollte nicht die unmögli- gen im Kontrast zu den Ansichten der Wirtschaftsminis- che GEBB beauftragen; denn sie kostet nur Geld, ter der Bundesländer steht, die nach wie vor etwas von verkauft aber fast keine Liegenschaft. der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ halten. Zum Schluss meiner Rede möchte ich die Abgeordne- ten der Regierungsfraktionen auffordern: Stehen Sie zu Es ist schon auf die Verhandlungen zur Entflechtung Ihren früheren Forderungen, unterstützen Sie unseren der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern 12670 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Christian Müller (Zittau) (A) hingewiesen worden. Das halte ich persönlich für ein holder, der sozusagen übermorgen tot wäre – da sollen (C) sehr sorgenvolles Thema und deswegen hielte ich etwas die Lichter ausgehen; diese Entscheidung trifft der davon, wenn wir alle gemeinsam darauf achten würden Bund –, dann ist bei aller Freude über die Rückführung – auch dort, wo man Einfluss auf ein jeweiliges Bundes- der militärischen Gewaltpotenziale, die wir Gott sei land ausüben kann –, dass uns bewährte, bundesweit Dank nicht mehr brauchen, meine Frage an Sie: Was ge- gültige, vor allen Dingen regelgebundene Systeme wie staltet der Bund als Ausgleich und als Fördermaßnahme die Gemeinschaftsaufgaben nicht abhanden kommen. für solche Regionen? Diese Antwort sind Sie in der De- Denn ich glaube nicht, dass wir ohne sie künftig besser batte bis heute schuldig geblieben. Haben Sie darauf fahren würden oder besser fahren könnten, auch wenn eine Antwort? das einige in dieser Republik offenbar glauben. Christian Müller (Zittau) (SPD): Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Ich persönlich werde Ihnen diese umfängliche Ant- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des wort so nicht geben können, weil sie eine gemeinsame Kollegen Günther? Antwort sein muss – vom Bund und den Ländern. Mit meinem Hinweis auf die Föderalismusdiskussion wollte Christian Müller (Zittau) (SPD): ich auf die Gefahr aufmerksam machen, dass wir künftig Ja, bitte schön. viel schlechter auf solche Dinge reagieren könnten. Wenn der Bund nicht mehr in der strukturpolitischen Joachim Günther (Plauen) (FDP): Verantwortung wäre, sondern nur noch die Länder, wie wollten wir als Bundestagsabgeordnete dann in unseren Herr Kollege Müller, Sie sprachen gerade von Ein- Regionen auftreten? Wir müssten sagen: Tut uns Leid, flussnahme und von Strukturwandel in den Regionen. Welchen Einfluss haben Sie denn als Sachse darauf ge- das geht uns nichts mehr an. Darüber nachzudenken war nommen, dass zum Beispiel in Schleswig-Holstein, wie mein Plädoyer. Denn wir können immer wieder Struk- wir gehört haben, 9,1 Soldaten auf 1 000 Einwohner turwandel bekommen, egal ob durch Konversion bedingt kommen, in Sachsen nach dem Standortabbau in einer oder aus anderen Gründen. Wir sollten die Instrumente, der schwächsten Regionen aber nur noch 1 Soldat auf die uns zur Verfügung stehen, in der Zukunft nicht ver- 1 000 Einwohner kommen wird? lieren. Darum geht es mir; vielen Dank. Daran anknüpfend dürfte es sehr wichtig sein, dass Christian Müller (Zittau) (SPD): wir uns in den nächsten Jahren alle zusammen etwas Wissen Sie, wir führen hier nicht zum ersten Mal eine mehr Gedanken darüber machen müssen, wie es zusam- Debatte, die zugleich Standortentscheidungen in der Ver- menpasst, dass es auf der einen Seite einen sich be- (B) teidigungspolitik und ihre strukturpolitischen Folgen schleunigenden Strukturwandel gibt und dass wir auf der (D) zum Gegenstand hat. Die letzte solcher Debatten war anderen Seite die entsprechenden regionalpolitischen eine intensive bayerische Debatte: Bayern glaubte da- Handlungsmöglichkeiten und Instrumente nicht zuletzt mals, besonders benachteiligt zu werden. Lieber Kol- auch wegen der europäischen Entwicklung und des lege, ich finde, das führt am Ende zu nichts, weil sich so Wirkens der Kommission in Brüssel vielleicht nicht präzise, dass überall in etwa die gleiche Zahl Soldaten mehr in der Hand haben könnten. Das heißt also, künf- pro Einwohner herauskäme und die Folgen überall tig, ab 2007, geht es darum, dass wir die regionalpoliti- gleich wären, wohl nicht planen lässt. Insofern geht schen Instrumente beihilferechtlich absichern müssen. diese Diskussion eher an der Realität vorbei; es tut mir Wenn wir dies nicht mehr können, verlieren wir an die- Leid. ser Stelle natürlich Möglichkeiten. Deswegen unterstüt- zen wir die Bundesregierung dabei, Spielräume für eige- (Joachim Günther [Plauen] [FDP]: Damit ist nes regionalpolitisches Handeln zu behalten. meine Frage nicht beantwortet!) (Norbert Schindler [CDU/CSU]: Wird noch Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: mehr abgebaut?) Herr Kollege, nun möchte auch die CDU/CSU-Frak- – Wir können uns ja hinterher noch ein bisschen unter- tion in Gestalt des Kollegen Schindler Ihre Redezeit ver- halten. Also bitte, ich rede jetzt doch nicht über den Ab- längern. bau der Bundeswehr. Ich rede über Regionalpolitik und (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) Strukturpolitik. Das sind ja wohl Facetten dieses The- mas. Christian Müller (Zittau) (SPD): (Norbert Schindler [CDU/CSU]: Das hörte sich an- Ja, bitte schön, gerne. ders an! Das war am Thema vorbei!) Ich bin der Meinung, dass Erfolge bei der Regional- Norbert Schindler (CDU/CSU): entwicklung und natürlich auch bei der Konversion am Die Gestalt ist ja in Ordnung, Herr Präsident. – Herr besten und am ehesten durch eine vernünftige regionale Kollege Müller, es ist schon ein starkes Stück, wenn Sie Koordinierung auf Projektebene erreichbar sind, so- die Föderalismusdiskussion, von deren Vorschlägen dass erkennbaren Mängeln beim Zusammenführen der noch keiner Gesetzeskraft hat, jetzt als Entschuldigung raumwirksamen Politiken des Bundes und der Länder hernehmen für etwas, wofür andere die Verantwortung begegnet werden kann. Dass wir die Instrumente leis- zu tragen haben. Nehme ich einen Standort wie Baum- tungsfähig erhalten müssen, ist heute schon angeklun- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12671

Christian Müller (Zittau) (A) gen. Das ist ebenfalls kein einfaches Thema. Mit Blick (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Das (C) auf Ihre Anträge sage ich: Sie gehen damit natürlich an ist richtig!) der Wirklichkeit Ihrer eigenen haushalts- und finanzpoli- In einer Region, die nicht einmal in der Lage ist, Eigen- tischen Vorstellungen vorbei, weil Sie in diesen Anträ- anteile zu beschaffen – ich nenne als Beispiel die Stadt gen überhaupt nicht erklären, wie Sie das mit Ihrer ge- Zeithain, die vor zwei Jahren vom Hochwasser fast zer- planten Politik der Steuersenkung und Ihrer Form von stört wurde –, kann der Hinweis, mit GA-Mitteln etwas Haushaltskonsolidierung verbinden wollen. aufzubauen, nicht ernst genommen werden. Woher sollte Insofern können wir diese bedauerlicherweise nur ab- eine Stadt wie Zeithain, die stark vom Hochwasser 2002 lehnen. Die Lösung sind also nicht neue Programme. zerstört wurde, die Eigenanteile für eine GA-Förderung Nur die bessere Koordinierung der vorhandenen und be- nehmen? währten strukturpolitischen Instrumente kann es sein. (Beifall bei der CDU/CSU) Vielen Dank, meine Damen und Herren. Ihr zweiter Vorschlag, die Mittel aus der Erhöhung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der Mehrwertsteuer um 2 Prozentpunkte, die 1993 be- DIE GRÜNEN) schlossen worden ist, zu nutzen, kommt ebenfalls nicht in Betracht, weil dieses Geld – ich glaube, das wissen wir alle – zur Finanzierung der deutschen Einheit ge- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: dacht war, nicht um in irgendeiner Form die Schließung Zum Schluss dieser Debatte erhält der Kollege Günter von Bundeswehrstandorten auszugleichen. Baumann für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig! – (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Das stimmt doch gar nicht! Das ist falsch! – Winfried Nachtwei Günter Baumann (CDU/CSU): [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist falsch gewesen!) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag der CDU/CSU hat für die Kaser- – Darüber können wir diskutieren. nenschließungen in den neuen Bundesländern eine ganz (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE besondere und existenzielle Bedeutung, weil die Lage GRÜNEN]: Nein, darüber kann man nicht dis- dort noch ein ganzes Stück komplizierter ist. Ich möchte kutieren!) versuchen, dies an einem ganz konkreten Beispiel darzu- stellen, nämlich an Schneeberg im Freistaat Sachsen. Das Stationierungskonzept, das gegenwärtig vorliegt, (B) ist auch militärisch sehr fragwürdig und haushaltspoli- (D) In Schneeberg gibt es gegenwärtig über 1 500 Dienst- tisch ein Fall für den Bundesrechnungshof. Exakte Zah- posten. Diese fallen nach den Plänen des Ministers weg. len zur Wirtschaftlichkeit – das ist heute auch schon ge- Dadurch ginge Kaufkraft verloren. Die heimische Wirt- sagt worden – und eine überzeugende militärpolitische schaft verlöre ihren größten Auftraggeber im Ort. Circa Begründung zu den Schließungsabsichten blieb auch 100 Betriebe wären betroffen und Kündigungen wären Herr Staatssekretär Wagner am Mittwoch in der Frage- die Folge. Es gibt ein Studie der TU Dresden, nach der stunde schuldig. Er hat auf diese Fragen keine Antwor- man 200 Millionen Euro investieren müsste, wenn man ten geben können. diese Verluste kompensieren wollte. Das ist in dieser Grenzregion in Sachsen illusorisch. Kurzum: Für die Wie fragwürdig das Konzept ist, zeigt sich ebenfalls Region Schneeberg mit bereits jetzt 20 Prozent Arbeits- bei dem Gebirgsjägerbataillon am Standort Schnee- losigkeit wäre die Schließung der Kaserne ein wirt- berg. Erstens. Die überwiegend aus Sachsen stammen- schaftliches Desaster. Es wäre aber zusätzlich ein demo- den Soldaten dürfen sich spätestens seit ihrem Einsatz in graphisches Desaster, weil die Abwanderung der jungen Afghanistan zur militärischen Elite in unserer Armee Menschen aus dieser Region bereits jetzt sehr stark ist zählen. Zweitens. Seit 1991 sind in diesen Standort – das und sich noch weiter verstärken würde. muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen – über 60 Millionen Euro investiert worden. Im Jahr 2001 Der Bundesverteidigungsminister hat gesagt, dass er hat der Verteidigungsminister Scharping nach einer Prü- nicht für die Infrastruktur zuständig ist. Das mag richtig fung festgelegt, Schneeberg bleibt erhalten und es wird sein. Das Problem ist aber, dass man nicht weiß, wer in weiter investiert. Von 2001 bis heute, und zwar auch der Bundesregierung wirklich für die Infrastruktur zu- noch in diesem Jahr, sind über 20 Millionen Euro inves- ständig ist. Nicht einmal der Minister für den Aufbau tiert worden. Ost hat hierauf eine Antwort gegeben. Von Herrn Stolpe war auch nichts zu hören, als der Verteidigungsminister (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Das am 2. November 2004 in einer Pressekonferenz meinte, muss die Jahrhundertreform von Herrn dass nicht der Bund, sondern allein die Wirtschaftsmi- Scharping gewesen sein, die gerade einmal nister der Länder für entsprechende Kompensationen zwei Jahre gehalten hat!) sorgen sollten. In Schneeberg steht eine der modernsten Kasernen der Republik. Diese zu schließen ist auch vor dem Hinter- Herr Staatssekretär Staffelt, der Hinweis in Ihrer Rede grund der Finanzlage in Deutschland keinem Bürger auf die GA-Mittel kann angesichts der Diskussion, die mehr zu vermitteln. wir gegenwärtig führen, nicht als ernste Alternative an- gesehen werden. (Beifall bei der CDU/CSU) 12672 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Günter Baumann (A) Die Kollegin Schäfer wies bereits darauf hin – ich Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand (C) möchte es noch einmal unterstreichen –, dass die Auflö- der deutschen Einheit 2004 sung des Standortes Schneeberg auch die Ressourcen des Heimatschutzes empfindlich treffen würde. Die – Drucksache 15/3796 – Schneeberger Soldaten haben sich bereits im zivilen Ka- Überweisungsvorschlag: tastrophenschutz als starke Truppe bewährt. Ich erinnere Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Innenausschuss an das Hochwasser der Oder 1997 oder 2002 in Sachsen. Sportausschuss Der Einsatz war hier in einer sehr kurzen Reaktionszeit Finanzausschuss möglich. Soldaten von Truppen aus anderen Bundeslän- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit dern hätten nicht das erreichen können, was Schneeber- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und ger Soldaten in Sachsen durch ihren schnellen Einsatz Landwirtschaft ermöglicht haben. Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nicht nur die Auflösung des Standortes Schneeberg Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung würde das zeitnahe Heimatschutzkonzept der Bundeswehr Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung erheblich schwächen. Nach den Plänen des Verteidigungs- Ausschuss für Tourismus ministers wird, wenn die Schließung umgesetzt wird, Ausschuss für Kultur und Medien Sachsen nur noch 1,1 Dienstposten auf 1 000 Einwohner haben. Der Bundesdurchschnitt liegt bei 3,5 Dienstpos- Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen ten. Von den zehn größten Schließungen in der Bundes- der CDU/CSU und der FDP vor. republik sind drei in Sachsen vorgesehen: Schneeberg, Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die Zeithain und Leipzig. Aussprache eine Stunde dauern. – Dazu höre ich keinen (Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört! – Das Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. ist ungeheuerlich! – Pfui!) Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Bundesminister Manfred Stolpe. Nennen Sie uns eine einzige Begründung, warum diese großen Schließungen in Sachsen stattfinden sollen und Sachsen dann mit 1,1 Dienstposten weit unter dem Bun- Dr. h. c. Manfred Stolpe, Bundesminister für Ver- desdurchschnitt liegen wird. kehr, Bau- und Wohnungswesen: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Herren! Vor zwei Tagen wurde in ganz Deutschland an den Fall der Mauer erinnert. Für uns Potsdamer geschah Sachsen ist in den vergangenen Wochen als einziges (B) das Wunder genau heute vor 15 Jahren. Am 11. Novem- (D) Land dafür gelobt worden, dass die Mittel aus dem Soli- ber 1989 wurde die Glienicker Brücke wieder für Deut- darpakt ausschließlich für Investitionen eingesetzt wor- sche freigegeben. Sie hatte 28 Jahre Ost und West den sind. Ausgerechnet dafür wird Sachsen gegenwärtig getrennt und war nur für Alliierte und ausländische Di- am härtesten getroffen. Seine Bürger empfinden dies plomaten passierbar. Heute ist sie wirklich Brücke der nach den Anstrengungen, die sie in den letzten 15 Jahren vollbracht haben, als – ich sage das einmal so – Strafe. Einheit, so wie sie in der Mauerzeit offiziell hieß. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich appelliere an den Bundesverteidigungsminister: DIE GRÜNEN) Wenn Sie schon die Gebirgsjäger nicht am Standort Schneeberg lassen wollen – aus welchen Gründen auch Wer dort die Trennung erlebte und heute die Brücke immer –, dann denken Sie bitte über eine militärische überquert, vergisst nicht das Wunder der Freiheit und Nutzung für andere Einheiten nach, um die Einheit, gleich ob er vom Westen oder vom Osten 60 Millionen Euro Steuergelder nicht sinnlos investiert kommt. Vielleicht brauchen wir mehr Brücken der Erin- zu haben. nerung an das Geschenk vom Herbst 1989. Herzlichen Dank. Einheit und Freiheit haben wir gewonnen. Zu berich- ten ist, wie wir nun teilungsbedingte Belastungen Ost- (Beifall bei der CDU/CSU) deutschlands abbauen. Die Bundesregierung hat im Sep- tember den „Jahresbericht zum Stand der Deutschen Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Einheit“ nach 15 Jahren Aufbau Ost vorgelegt. Wir be- richten über Erfolge, Fortschritte und Leistungen, über Ich schließe die Aussprache. Probleme, Hemmnisse und verbleibende Aufgaben. Der Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Aufbau Ost ist noch nicht beendet. Was fast ein halbes den Drucksachen 15/4029 und 15/1022 an die in der Jahrhundert gewaltsam getrennt war und sich radikal Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. auseinander entwickelte, braucht Zeit und Geduld, um Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann wieder vergleichbar zu werden. sind die Überweisungen so beschlossen. Bis 2019 haben wir den Solidarpakt II gemeinsam für Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: den Aufbau Ost beschlossen. Das sind dann 30 Jahre nach dem Fall der Mauer. Jetzt haben wir Halbzeit. Des- Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- halb muss die Bundesregierung auch weiterhin jährlich gierung Bericht erstatten; denn es ist wichtig, dass die Fortset- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12673

Bundesminister Dr. h. c. Manfred Stolpe (A) zung des Aufbaus Ost in der parlamentarischen Beratung halb werden die ostdeutschen Länder ihre Struktur- und (C) auch künftig die nötige Priorität hat. Die Zukunft Ost- Förderpolitik konsequent auf Modernisierung und deutschlands ist die Zukunft ganz Deutschlands. Betrof- Wachstum ausrichten müssen. fen sind alle Deutschen. Es geht um eine nationale Auf- gabe. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Deshalb muss auch der Bund weiterhin Mittel für arbeits- platzschaffende Investitionen zur Verfügung stellen. Der Weg ist ohne Alternative. Wir müssen den Aufbau Ost konsequent fortsetzen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die ostdeut- schen Länder brauchen effektive Verwaltungsstrukturen. Finanzielle Hilfen und eigene Anstrengungen der Ostdeutschland hat in den eineinhalb Jahrzehnten des Länder waren erfolgreich. Der Osten Deutschlands hat rechtsstaatlichen Verwaltungsaufbaus aus der Not eine seit 1990 einen Entwicklungssprung gemacht: die Mo- Tugend entwickelt. Abläufe mussten nicht nur gelernt dernisierung von Städten und Gemeinden, die Erneue- werden, sondern ihre praktische Anwendung stand im rung und der Ausbau der Verkehrswege, die Infrastruk- Vordergrund. So ist das Bewusstsein für die grundsätzli- tur der Telekommunikation, der Produktivitätszuwachs, che Eilbedürftigkeit von Entscheidungen sehr hoch. die Etablierung neuer Dienstleistungen, die am Verbrau- cher orientierte Qualitätssteigerung der Agrarbetriebe Ausländische Investoren erkennen die Standortvor- und der Nahrungsmittelwirtschaft. teile Ostdeutschlands. So war zum Beispiel kürzlich in der italienischen Presse zu lesen: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Ostdeutsche Gebiete befinden sich heute im Zen- Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des trum des europäischen Binnenmarktes und stellen Kollegen Kretschmer? gleichzeitig einen natürlichen Zugang zum östli- chen Teil des alten Kontinents dar sowie einen Dr. h. c. Manfred Stolpe, Bundesminister für Ver- Produktionsstandort, der in den letzten Jahren Ge- kehr, Bau- und Wohnungswesen: genstand radikaler Erneuerungs- und Modernisie- Der Kollege Kretschmer wird erleben, dass ich alles rungsmaßnahmen war. sage. Zum Schluss antworte ich gerne. Die Bundesregierung hat die besondere Situation in Im Osten ist ein unternehmerischer Mittelstand ent- Ostdeutschland durch Vereinfachung der Verwal- standen, eine halbe Million neuer Unternehmen. Der tungsverfahren berücksichtigt. Gute Erfahrungen wer- (B) Saldo von An- und Abmeldungen der Gewerbe ist posi- den auch bundesweit umgesetzt. Ein Beispiel ist das (D) tiv. Die erste Hälfte des Aufbaus Ost hat gute Ergebnisse Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz. Ich be- gebracht. In der zweiten Hälfte müssen wir uns auf die grüße es, dass sich die Koalitionsfraktionen auf eine Ver- Hauptaufgaben für einen erfolgreichen Abschluss des längerung verständigt haben. Aufbaus Ost konzentrieren: Arbeit schaffen, Abwande- (Zurufe von der CDU/CSU: Um ein Jahr!) rung stoppen und das Schlechtreden beenden. Die Bundesregierung beabsichtigt, für ganz Deutschland (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zur Planungsvereinfachung bei allen Verkehrsträgern zu DIE GRÜNEN) kommen. Eine erneute Verlängerung des Verkehrswege- Mit dem Solidarpakt II sind die finanziellen Grund- planungsbeschleunigungsgesetzes ermöglicht den direk- lagen für die zweite Hälfte des Aufbaus Ost gesichert. ten Übergang in ein für ganz Deutschland verbessertes 156 Milliarden Euro stehen in den nächsten 15 Jahren Planungsrecht. zur Verfügung. Die Sonderzuweisungen des Bundes an Wir wissen, dass die ostdeutschen Länder Stärken die ostdeutschen Länder machen mit mehr als entwickelt und Potenziale ausgebildet haben. Diese Stär- 100 Milliarden Euro den größten Teil aus. Über die Ver- ken und Potenziale wollen wir zielgenauer fördern. Des- wendung legen die Empfänger jedes Jahr ihren Fort- halb strebe ich mit den ostdeutschen Ländern und mit schrittsbericht vor. den Förderministerien des Bundes eine Handlungs- Im Jahr 2003 haben die neuen Länder grundlage für den Solidarpakt II an. Bund und Länder 10,5 Milliarden Euro Sonderhilfen des Bundes zum können durch einen gezielten Einsatz der Investitions- Abbau des infrastrukturellen Nachholbedarfs und zum und Innovationsförderung Unternehmensnetzwerke, Ausgleich der kommunalen Finanzkraft erhalten. Im Er- Branchenschwerpunkte und Kompetenzfelder stärken. gebnis sehen wir, dass wieder erhebliche Fortschritte Kompetenzen stärken und Innovationen voranbringen, beim Infrastrukturausbau zu verzeichnen sind. Aber wir das sind ganz wesentliche Herausforderungen in den vor müssen auch feststellen, dass ein großer Teil der Auf- uns liegenden Jahren. baumittel noch durch die allgemeinen Bedarfe der Län- Wer Regionalpolitik macht, weiß, dass wir dafür auch derhaushalte aufgezehrt wurde. Die Konjunktur stockte den Verkehrswegebau brauchen. und die Steuerausfälle kamen schockartig. Das waren objektive Härten des vergangenen Jahres. (Beifall bei der SPD) Doch wir alle haben die Pflicht, den ostdeutschen Der Bundesverkehrswegeplan 2003 sieht für die neuen Aufbauprozess durch Investitionen abzusichern. Des- Bundesländer im Zeitraum bis 2015 einen Anteil von 12674 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Bundesminister Dr. h. c. Manfred Stolpe (A) rund 35 Prozent für alle Verkehrsträger am vordringli- Wirtschaft, die wettbewerbsfähig ist. Der Arbeitsmarkt (C) chen Bedarf vor. Damit geben wir ein Signal für den im Osten reagiert flexibel auf die Bedürfnisse der Unter- Aufbau Ost an die ostdeutsche Wirtschaft und an Inves- nehmen. Die Ostdeutschen arbeiten länger und sind be- toren. reit, betriebliche Bündnisse für Arbeit einzugehen. Die Arbeitsmarktreformen mit der starken Betonung auf För- (Zustimmung bei der SPD) dern und Fordern, auf Wiedereingliederung der Men- Notwendig sind die Verlängerung der A 14 von Magde- schen in den Arbeitsmarkt werden dem Osten, aber auch burg nach Schwerin und der Bau der A 72 von Chemnitz anderen schwierigen Regionen helfen. nach Leipzig. So werden wirtschaftliche Entwicklungs- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kerne miteinander vernetzt. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir müssen immer auch die Wirtschaftsimpulse Denn das gesamte arbeitsmarktpolitische Instrumenta- durch die Osterweiterung der Europäischen Union im rium steht jetzt allen erwerbsfähigen Arbeitslosen zur Auge behalten. Deshalb ist der Bau der A 17 zwischen Verfügung. Berufliche Weiterbildungs- und Trainings- Dresden und der tschechischen Grenze vorrangig von maßnahmen, Beschäftigung schaffende Infrastruktur- uns vorangetrieben worden. maßnahmen, Mobilitätshilfen und kommunale Zusatz- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ jobs können in Anspruch genommen werden. DIE GRÜNEN) (Zuruf von der CDU/CSU: Sagen Sie etwas Das gilt auch für den Ausbau der Eisenbahnstrecken von zur Arbeitslosigkeit!) Berlin über Frankfurt/Oder bis Poznan und von Dresden Arbeitsmarktregionen mit vielen Langzeitarbeitslosen über Görlitz nach Wroclaw. und wenigen offenen Stellen werden besonders berück- Unsere Infrastrukturförderung erschließt die Po- sichtigt. Die Eingliederungsmaßnahmen für Langzeitar- tenziale der ostdeutschen Länder. Fortschritt gibt es aber beitslose werden aus Bundesmitteln bezahlt. 2005 sind nicht nur in Ballungsräumen. Stabile Produktion, mo- 10 Milliarden Euro vorgesehen. Ein überproportionaler derne Dienstleistungen und neue Technologien finden Anteil von 42 Prozent fließt in die ostdeutschen Länder. sich auch in den dünner besiedelten Landesteilen. Es In der Monitoringgruppe achten wir gemeinsam mit gibt die Potenziale des ländlichen Raums. Neben der meinem Kollegen Clement und Vertretern der ostdeut- klassischen Landwirtschaft zählen Nahrungsmittel, schen Ländern auf Probleme im Reformprozess. Zusätz- Holzverarbeitung, aber auch Energietechnologie dazu. lich wurden Christine Bergmann, und Rohstoffanbau für und Produktion von Bioethanol sind Hermann Rappe als Mitglieder eines Ombudsrates zur bedeutsam. Sonnenenergie, Windkraft und Biomassean- (B) Begleitung der Arbeitsmarktreform berufen. Das ist ein (D) lagen schaffen Arbeit und Einkommen. Das ist kein positives Signal. Diese Persönlichkeiten kennen sich in Wunschtraum, sondern bereits Realität. den Bedingungen des Ostens aus. Sie werden dafür Im Feld der Dienstleistungen haben wir den Touris- Sorge tragen, dass Einzelschicksale ebenso berücksich- mus zu einer Erfolgsgeschichte des Ostens gemacht. Der tigt werden wie die grundsätzlichen Probleme in diesem Osten hat seinen Anteil am gesamtdeutschen Tourismus Prozess. von 10 auf 20 Prozent verdoppelt. Der „Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit“ (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten liefert Daten und Einschätzungen, die ein genaues und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) differenziertes Bild bieten. Der Verlauf des Aufbaus Ost zeigt an vielen Orten wichtige Erfolge. Wir sind nicht Eine gute Nachricht aus dem Osten ist das überpro- gescheitert. Wir sind aber noch nicht am Ziel. Wir haben portionale Wachstum des produzierenden Gewerbes. im Osten Schlüsselbranchen angesiedelt, die auch als Trotz der Konjunkturschwankungen wuchs die Produk- Motoren der Entwicklung wirken – von der Chemie, tion der ostdeutschen Industrie in den vergangenen zehn Pharmazie und Optoelektronik über die Automotive, die Jahren mit einer durchschnittlichen Jahresrate von Luftfahrt und die Halbleiterindustrie bis zur Avantgarde 5,5 Prozent. Die Exportquote ist seit 1991 auf knapp der Biotechnologie und der Softwaresystematik. 25 Prozent gestiegen; sie hat sich mehr als verdoppelt. Diese Chance wollen wir in förderpolitischer Hinsicht in Zu den Stärken des Ostens gehört aber auch die Lo- eine Wachstumsstrategie umsetzen. gistik. Mit hervorragenden Standortbedingungen hat sich der Flughafen Leipzig im europäischen Wettbewerb Die wirtschaftlichen Entwicklungskerne und Techno- durchgesetzt. Das neue zentrale Logistikzentrum der logieregionen sind unsere Joker; in diesen Bereichen DHL kommt nach Ostdeutschland. wird die Vergleichbarkeit mit westdeutschen Standorten am schnellsten erreicht werden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD – Lachen bei der CDU/ Wir erwarten dadurch einen Beschäftigungsschub von CSU) mindestens 3 000 direkten und mehr als 6 000 indirekten Arbeitsplätzen. Dieser Erfolg kann uns für die zweite – Sie lachen über sich selber. Das sind schließlich Regio- Halbzeit des Aufbaus Ost ermutigen. Ich bin sicher, dass nen, in denen auch Sie politisch tätig sind. wir die große nationale Aufgabe des Aufbaus Ost ge- Absolut vordringlich ist die Bekämpfung der Ar- meinsam – dies ist wirklich nur gemeinsam möglich – beitslosigkeit. Arbeit, die Bestand hat, entsteht in einer bewältigen können. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12675

(A) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: für einen großen Erfolg, auf den wir alle gemeinsam (C) Der Kollege Kretschmer hat jetzt die Möglichkeit zu stolz sein können. einer Zwischenfrage oder besser gesagt: zu einer An- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – schlussfrage; denn die Redezeit des Ministers ist vorbei. Siegfried Scheffler [SPD]: Jetzt können Sie mal den Bundeskanzler und Wirtschaftsminis- Michael Kretschmer (CDU/CSU): ter Clement loben!) Ich wollte Sie fragen, ob Sie unserem Antrag zustim- men werden und ob Sie dies auch Ihren Kollegen emp- Ich möchte ausdrücklich sagen, dass das eine Ge- fehlen. Denn Sie haben zu Recht festgestellt – ich freue meinschaftsleistung ist. Ich habe überhaupt nichts dage- mich, dass ich Ihnen einmal zustimmen kann –, dass ein gen, wenn sich auch die Bundesregierung diesen Erfolg jährlicher Bericht zum Stand der deutschen Einheit not- an das Revers heftet. wendig ist. Wir brauchen in der Tat einen solchen Be- Aber ich möchte Folgendes hinzufügen: Herr Stolpe richt. Es ist wichtig, dass das Thema immer wieder auf hat seine Ausführungen mit einem Rückblick begonnen. die Tagesordnung kommt. Auch hier ist es notwendig, zurückzublicken, wenn man Wir haben gemeinsam mit der FDP einen exzellenten die Voraussetzungen für den Zuschlag an den Flughafen und sehr sachlichen Entschließungsantrag eingebracht. Leipzig/Halle erkennen will. Sie wissen genauso gut wie Ich bitte Sie, bei Ihrem Wort zu bleiben und ihn Ihren ich, dass der Zuschlag erst durch die sehr schnellen Ge- Kolleginnen und Kollegen zur Beschlussfassung zu nehmigungsverfahren in Sachsen – innerhalb kürzester empfehlen. Zeit wurde über die Verlängerung von Rollbahnen ent- schieden – sowie durch die außerordentlich präzise Vor- arbeit der sächsischen Staatskanzlei und insbesondere Dr. h. c. Manfred Stolpe, Bundesminister für Ver- durch das zähe Drängen des sächsischen Ministerpräsi- kehr, Bau- und Wohnungswesen: denten, Georg Milbradt, möglich wurde. Ich glaube, es gibt noch eine Zwischenfrage. (Beifall bei der CDU/CSU – Siegfried Scheffler [SPD]: Und durch den Bund finan- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: ziert worden ist!) Ich kann nach dem Ende Ihrer Redezeit, Herr Minis- ter Stolpe, nicht noch serienweise Zwischenfragen zulas- Ohne dieses Drängen wäre der Zuschlag nicht erteilt und sen. demzufolge wäre die Finanzierungsnotwendigkeit wahr- scheinlich nicht erkannt worden. (B) Dr. h. c. Manfred Stolpe, Bundesminister für Ver- Eigentlich haben die Vorarbeiten noch sehr viel früher (D) kehr, Bau- und Wohnungswesen: begonnen, nämlich mit dem unverzüglichen Ausbau des Herr Kretschmer, schönen Dank für Ihren Hinweis. Flughafens Leipzig/Halle. Ich möchte daran erinnern, Ich halte es für zwingend notwendig und habe begrün- was die anderen Bundesländer zu diesem Zeitpunkt ge- dete Hoffnung, dass das nicht umsonst gewesen ist. macht haben. Die damalige Regierung Höppner hat sich aus diesem Projekt langsam davongestohlen und hing ei- (Siegfried Scheffler [SPD]: Das war doch nem Gedankengebilde von einem riesigen Luftdrehkreuz schon vorher abgestimmt! Da brauchen Sie gar in der Altmark nach. Davon will mittlerweile niemand nicht mit einem Antrag zu kommen!) mehr etwas wissen. Herr Stolpe, Sie haben damals als Ministerpräsident das Cargolifter-Geld im märkischen Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Sand verscharrt. Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Arnold Vaatz (Beifall bei der CDU/CSU) für die CDU/CSU-Fraktion. Berlin und Brandenburg standen 13 Jahre auf der Stelle, (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. als es um den Ausbau des Flughafens Berlin-Schönefeld Joachim Günther [Plauen] [FDP]) gegangen ist.

Arnold Vaatz (CDU/CSU): (Joachim Günther [Plauen] [FDP]: Immer noch!) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bun- desminister Stolpe, mit dieser Auskunft haben Sie uns Das sind die Unterschiede: Erfolge in Ostdeutschland aus dem Herzen gesprochen. Ich bedanke mich. Ich gibt es dort, wo wie im Fall des Flughafens Leipzig/ hoffe, dass die Koalitionsfraktionen tatsächlich Ihrem Halle – ich möchte hinzufügen: zum Teil gegen den er- Aufruf folgen und den gemeinsamen Entschließungsan- bitterten Widerstand der sozialdemokratischen Fraktio- trag von CDU/CSU und FDP annehmen. nen in den Landtagen – vernünftige Investitionsentschei- dungen schnell durchgesetzt werden konnten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU – Siegfried Scheffler [SPD]: Jetzt sagen Sie mal etwas Ich möchte mit dem Positiven beginnen. In den Flug- zum SPD-Oberbürgermeister!) hafen Leipzig/Halle werden 300 Millionen Euro für die Errichtung des Logistikdrehkreuzes der Deutschen- Sie machen der Öffentlichkeit ständig weis, auch die Post-Tochter DHL investiert. Ich halte das tatsächlich CDU/CSU habe keine Konzepte für den Aufbau Ost. 12676 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Arnold Vaatz (A) Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Unsere Konzepte liegen falschen Gleis, Sie sind in die falsche Rille ge- (C) Ihnen vor und sind anhand der Unterschiede zwischen raten!) den einzelnen Bundesländern sogar optisch sichtbar. Wir stellen heute im Bundestag unseren gemeinsamen Ent- – Natürlich sind wir in dieser Frage mehrfach und nicht schließungsantrag zur Abstimmung, in dem Sie aufge- nur einmal initiativ geworden. fordert werden – das tun wir schon seit längerer Zeit –, Es genügt nicht, uns den Aufbau Ost statistisch aufzu- mit dem Bürokratieabbau sowie der Verkürzung von bereiten, wie Sie das auch im diesjährigen Bericht getan Planungs- und Genehmigungszeiten – das geht weit über haben. Wäre die Lage nicht so ernst, müsste man fast das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz hi- schmunzeln, wenn Sie in Ihrem Bericht ein Wachstum naus – ernst zu machen und insbesondere den Bundes- von 0,2 Prozent im Jahr 2003 als hoffnungsvoll werten ländern mehr Gestaltungsspielräume zu geben, damit und die Wirtschaft bei einer Arbeitslosenquote von solche positiven Leistungen wie beispielsweise der 18 Prozent auf gutem Wege sehen. Meine Damen und schnelle Ausbau des Flughafens Leipzig/Halle Herren von der Bundesregierung, Sie beschönigen die (Zurufe von der SPD: Oh!) Situation, weil sich die Schere zwischen Ost und West, was die Positionen Arbeitsplatzdichte, Wachstum, Kon- keine Eintagsfliegen bleiben, sondern zur Regel werden. sequenzen der demographischen Entwicklung, Kauf- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- kraftentwicklung in Ostdeutschland angeht, in den letz- neten der FDP) ten Jahren eben nicht weiter geschlossen, sondern weiter geöffnet hat. Es ist diese Tendenz, die uns in Ostdeutsch- Herr Stolpe, Sie selbst haben gesagt, es gebe in Ost- land beunruhigt. Die Bürger erwarten keine Veränderung deutschland ein starkes Bewusstsein für die grundsätzli- ihrer Lage von heute auf morgen, aber sie erwarten, dass che Eilbedürftigkeit von Entscheidungen. Ich halte das die Tendenz in Richtung Anstieg, Verbesserung, Norma- für eine hervorragende Formulierung. Jetzt machen Sie lisierung geht. Leider ist immer noch genau das Gegen- bitte Nägel mit Köpfen und sorgen Sie dafür, dass in teil zu verzeichnen. Ostdeutschland nicht nur die Politiker daran arbeiten, die Bürokratie ein Stück weit abzubauen. Sorgen Sie da- (Beifall bei der CDU/CSU) rüber hinaus dafür, dass der Bürger, insbesondere derje- Ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen. nige, der investieren, ein Unternehmen gründen und Ar- beitsplätze schaffen will, das Gefühl bekommt, dass Man sucht in Ihrem Bericht vergeblich nach Rezepten diese Regierung es mit Bürokratieabbau und mit Geneh- dafür, wie man neue Arbeitsplätze generieren und der migungsbeschleunigungen wirklich ernst meint. In Ih- ostdeutschen Wirtschaft neue Impulse und neue Hoff- (B) rem Bericht ist davon leider nichts zu erkennen. nung geben kann. Im konkreten Handeln tun Sie das Ge- (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- genteil von dem, was Sie versprechen. neten der FDP) Wir haben eben eine große Diskussion über den Ab- Nun komme ich auf das Verkehrswegeplanungs- bau der Militärstandorte gehabt. Bundesminister beschleunigungsgesetz zu sprechen. Ich sage Ihnen zu- Struck hat zu Recht darauf hingewiesen, dass er nicht In- nächst ausdrücklich: Ich begrüße, dass Sie sich mittler- frastrukturminister, sondern Verteidigungsminister ist. weile durchgerungen haben, die Gültigkeitsdauer dieses Das ist allen klar. Er hat aber die Gelegenheit versäumt, Gesetzes um ein weiteres Jahr zu verlängern. Gleichzei- die Stationierungsdichte Ost an die Stationierungsdichte tig sage ich: Das ist nicht das, was wir wollten. Dieses West heranzuführen. Er hat die Stationierungsdichte Ost eine Jahr ist eine kurze Atempause, die uns aber langfris- gegenüber der Stationierungsdichte West prozentual so- tig keine Planungssicherheit gewährt. Ich fordere Sie gar verringert. Das ist die Realität. Das kann nicht der auf, dieses Gesetz nicht nur befristet bis 2005, sondern Geist des Aufbaus Ost sein. unbefristet in Kraft zu setzen. Ich darf Sie an Folgendes erinnern: Wir hatten einmal (Beifall bei der CDU/CSU) eine Föderalismuskommission, die beispielsweise fest- gelegt hat, dass der Osten bei der Schaffung neuer Insti- Ich bin froh und erleichtert darüber, dass Sie die Gül- tutionen vorrangig berücksichtigt werden soll. Niemand tigkeitsdauer dieses Gesetzes endlich verlängern wer- konnte sich damals vorstellen, dass der Osten auch beim den. Dennoch frage ich Sie: War es eigentlich nötig, dass Abbau von bestehenden Strukturen vorrangig berück- wir erst so eine lange Diskussion, so eine lange Zeit der sichtigt werden würde. Eine solche Vorgehensweise ge- Verunsicherung aller Beteiligten in Kauf nehmen muss- neriert nicht Arbeit, sondern Arbeitslosigkeit. Das zeigt, ten, bis Sie sich jetzt, also anderthalb Monate vor dem dass Ihr konkretes Handeln von Ihren konkreten Reden planmäßigen Ende der Gültigkeitsdauer dieses Gesetzes, oftmals weit entfernt ist. dazu durchringen konnten, endlich einmal Ja zu sagen? So hätten Sie schon vor anderthalb Jahren, vor zwei Jah- (Beifall bei der CDU/CSU) ren oder vor vier Jahren handeln können. Das ist die Re- alität. Da wird auch die überproportionale Zuwendung von Eingliederungsmitteln nicht viel helfen. Eingliederungs- (Uwe Beckmeyer [SPD]: Von Ihnen ist doch mittel sind eine Notmaßnahme, nachdem das Kind in gar keine Initiative gekommen! – Dr. Uwe den Brunnen gefallen ist. Das ist eher ein Eingeständnis Küster [SPD]: Junger Mann, Sie sind auf dem von tiefer Ratlosigkeit. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12677

Arnold Vaatz (A) Zu den allgemeinen Rahmenbedingungen für den Herren Schröder, Eichel, Clement und Stolpe versucht, (C) Aufbau Ost, zu klaren Perspektiven und Zielen, aber vor wegen der klammen Steuerkassen den Tag der Deut- allem auch zur Zukunft der Strukturförderung bleibt Ihr schen Einheit als gesetzlichen Feiertag abzuschaffen. Bericht vage und unbestimmt. Sie wollen die Förderung Meine Damen und Herren von der Regierung, das war mehr auf Wachstumszentren konzentrieren, notfalls einfach unwürdig. auch so genannte Cluster schaffen. Dazu kann ich nur (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sagen: Erstens. Willkommen im Klub! Zweitens. In Ih- neten der FDP) rem Bericht sucht man vergeblich nach Formulierungen, die dies konkretisieren. Wir wollen endlich wissen, was Das hat uns international bloßgestellt. mit Wachstumszentren und Clustern konkret gemeint ist. Herr Bundesminister Stolpe, Sie haben eben die Bio- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: technik als Ihren Joker vorgestellt. Ich weiß nicht, ob Herr Kollege Vaatz, Ihre Redezeit ist zu Ende. Sie wissen, dass im Englischen der Komparativ von „joke“ nicht „joker“ heißt. Arnold Vaatz (CDU/CSU): (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ja; mein letzter Satz. – Das hat zudem gezeigt, dass Sie diesen Feiertag für den entbehrlichsten von allen hal- Alles das kann nur dann wirklich in die Zukunft weisen, ten. Das wiederum zeigt, Herr Stolpe: Aufbau Ost ist für wenn sich die Biotechnik auch entfalten kann. Da ist die Sie alles andere, aber nicht Herzenssache. technikfeindliche Philosophie, die wir beispielsweise von den Grünen oft hören, Gift für den Standort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU) Biotechnik ja, aber eine befreite Biotechnik, die sich hier Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: genauso entfalten kann wie in Amerika und wie in ande- Das Wort hat der Kollege Peter Hettlich, Bündnis 90/ ren Staaten Westeuropas, in denen das Wort Wachstum Die Grünen. noch kein Fremdwort ist! Sie haben auch keine Klarheit darüber geschaffen, Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): wie Sie sich nun den Einsatz der 51 Milliarden Euro aus Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und dem Korb II des Solidarpakts II vorstellen. Das wüssten Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Vaatz, wir schon gern. Solange diese Klarheit nicht vorhanden nachdem ich den Entschließungsantrag Ihrer Fraktion und der Fraktion der FDP gelesen habe, habe ich ge- (B) ist, ist keine reale Kalkulationsgrundlage für die ostdeut- (D) schen Länder gegeben. dacht: Na ja, die Wahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen sind vorbei und jetzt kommen wir wieder zu Wir brauchen außerdem Klarheit darüber, wie wir ei- ein bisschen mehr Sachlichkeit zurück. Aber Ihre Rede gentlich die meisten ostdeutschen Landeshaushalte aus war eigentlich ein deutliches Beispiel dafür, dass sich die ihrer bedrückenden Lage befreien können. Die Landes- Lage offensichtlich nicht verändert hat. Wenn diese Ver- haushalte sind durch Entscheidungen des Bundes- satzstücke Ihr Programm für den Aufbau Ost darstellen, verfassungsgerichts so mit Kosten überfrachtet worden, dann ist das wirklich ein Armutszeugnis für Ihre Frak- insbesondere was die Bedienung der Sonderversor- tion. gungssysteme aus der DDR-Zeit betrifft, dass etliche neue Länder überhaupt nicht mehr die Möglichkeit ha- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ben, die für Investitionen gedachten Mittel auch tatsäch- und bei der SPD – Arnold Vaatz [CDU/CSU]: lich investiv einzusetzen. Wir haben über den Bericht gesprochen!) (Beifall bei der CDU/CSU – Peter Hettlich Es tut mir wirklich Leid, dass ich das so feststellen muss. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und was ist Ich beschäftige mich lange genug mit dem Thema und die Lösung?) ich muss sagen: Das war wirklich traurig. Die Bundesregierung ist unter anderem auch dazu da, Ich habe mir bei der Vorbereitung auf diese Rede solche Situationen zu erkennen und Wege dafür aufzu- noch einmal meine Rede vom letzten Jahr zu diesem zeigen, wie man aus dieser beklemmenden Lage wieder Thema angeschaut und dabei ist mir aufgefallen, dass herauskommt; sie darf nicht alles auf die Länder abwäl- ich damals gesagt habe: Ich glaube, dass Ost und West in zen. den letzten Jahren stärker zusammengewachsen sind und dass die Mauer in unseren Köpfen ein Stück niedriger Ich freue mich darüber, dass Sie für die nächsten geworden ist. Jahre die Berichtspflicht wieder einführen wollen. Des- halb werde ich dazu nichts weiter sagen. (Günter Baumann [CDU/CSU]: Schön wär’s!) (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Wenn ich mir die Situation im Jahre 2004 anschaue, Kastner) dann muss ich feststellen, dass diese Hoffnung ein biss- chen enttäuscht worden ist. Dazu haben sicherlich auch Trotzdem stelle ich noch genug Zeichen dafür fest, die unselige und noch immer nicht beendete Debatte über dass Ihre Beziehung zu dem Prozess der deutschen Ein- die angeblich zu hohen Transferleistungen an den Osten heit noch eine sehr kühle ist. Erst letzte Woche haben die oder die Demonstrationen gegen Hartz IV beigetragen, 12678 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Peter Hettlich (A) die manches längst vergessene Vorurteil über die Ost- – Stellen Sie eine Zwischenfrage oder lassen Sie mich (C) deutschen wieder hervorgebracht haben. ausreden. (Beifall des Abg. [SPD]) Wir sollten uns von daher überlegen, ob der Solidar- pakt II nicht eventuell dahin gehend ergänzt werden Mir ist bewusst, dass der Weg zur Einheit in den sollte, dass wir den Ländern eine bessere Planung für die Köpfen noch lang und steinig ist und wir ihn nur bewäl- Mittelverwendung abverlangen, möglicherweise eine tigen können, wenn wir ihn gemeinsam gehen. Von da- stärkere Kontrolle einführen und gegebenenfalls her kann ich immer wieder nur dafür werben – das sage auch – das tut mir Leid – Sanktionen vereinbaren. ich insbesondere an die Adresse der Westdeutschen –: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Kommen Sie in die neuen Bundesländer, schauen Sie Renate Blank [CDU/CSU]: Steht alles in unse- sich an, was die Menschen in Ostdeutschland in den ver- rem Antrag!) gangenen 15 Jahren auch mit Ihrer Unterstützung geleis- tet haben, und lassen Sie sich bitte von Ihren Vorurteilen Darüber hinaus sollten wir uns auch die Frage stellen, heilen. was eigentlich investive Verwendung bedeutet. Ich er- innere mich noch an den Perspektivenkongress zum (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Thema Ostdeutschland, auf dem sowohl Bundesminister und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Stolpe als auch Ministerpräsident Platzeck sagten: Infra- CDU/CSU) struktur ist mehr als Beton. Als gebürtiger Wessi darf ich noch einmal zuspitzend sa- gen: Es ist für mich eine Schande, dass 15 Jahre nach Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: dem Mauerfall viele Westdeutsche, nämlich circa Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des 50 Prozent, von sich aus sagen, dass sie noch nie in Ost- Kollegen Vaatz? deutschland gewesen sind. Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich will nicht verhehlen, dass die Debatte über die Gerne. Transferleistungen von West nach Ost den Fokus auch darauf gelenkt hat, dass wir in Ostdeutschland unsere Hausaufgaben nicht immer zufriedenstellend erledigt ha- Arnold Vaatz (CDU/CSU): ben. Die Kritik an der Fehlverwendung der Solidar- Herr Kollege Hettlich, Sie haben jetzt eine Reihe von paktmittel ist nicht neu. Wir wissen schon seit länge- Forderungen vorgetragen, rem, dass die ostdeutschen Bundesländer Probleme (Peter Hettlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (B) haben, die Mittel tatsächlich investiv einzusetzen. Ich NEN]: Vorschläge!) (D) habe immer wieder davor gewarnt, dieses Thema auf die leichte Schulter zu nehmen oder es zu ignorieren. Außer- die ich vorhin in meiner Rede auch genannt habe. Nach- dem registriere ich in letzter Zeit eine steigende Zahl von dem Sie denselben Mangel festgestellt haben, möchte Veranstaltungen zu diesem Thema, die dann in der Frage ich Sie Folgendes fragen: Können Sie mir erklären, wa- gipfeln: Muss der Solidarpakt II reformiert werden? Am rum der Bericht zur deutschen Einheit, über den wir ja 25. November wird hierzu eine Veranstaltung in Halle bei diesem Tagesordnungspunkt debattieren, auf diese stattfinden, erst neulich gab es eine Veranstaltung vom Fragen keine Antworten enthält? BDI dazu. Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich warne an dieser Stelle, dass uns hier möglicher- Ich kann Ihnen das nicht beantworten, weil ich den weise eine Diskussion droht, die wir nicht mehr kontrol- Bericht nicht geschrieben habe. Ich nehme in dieser De- lieren können. Da nutzen keine Hinweise seitens der batte die sich viel zu selten bietende Gelegenheit wahr, Länder, die Fehlverwendung wäre nur dem Berechungs- allgemeine Themen zu behandeln, die uns als ostdeut- verfahren geschuldet oder man könne sich halt aufgrund sche Fachpolitiker umtreiben. Deshalb arbeite ich hier der Haushaltssituation nicht anders verhalten. Dann nicht den Bericht zum Stand der deutschen Einheit ab, müssen sich eben alle Beteiligten zusammensetzen und sondern setze von meiner Seite aus Akzente und spreche versuchen, eine Klärung im Sinne des Gesetzgebers her- die mir wichtigen Punkte an. Sie müssten also im Prinzip beizuführen, Herr Vaatz. Augen zu und durch ist dabei den Verfasser dieses Berichtes fragen, warum das nicht die falsche Taktik. in ihm steht. Ich spreche an dieser Stelle nicht für die Bundesregierung, sondern über das, was mir aufgefallen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist; tut mir Leid. sowie bei Abgeordneten der SPD – Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Ja also! Das ist ein Vor- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- schlag!) SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

– Na also, das ist ein Angebot; das können wir dann ja Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: machen. Wunderbar. Gestatten Sie noch eine Frage des Kollegen Vaatz? (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Ich bedanke mich für die Bestätigung! Entschuldigen Sie sich Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dann auch für die Ausfälle!) Er kann ruhig noch eine Frage stellen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12679

(A) Arnold Vaatz (CDU/CSU): Wir müssen eingestehen, dass wir quasi eine Unter- (C) Herr Hettlich, ich kann aber davon ausgehen, dass Sie nehmensgeneration in Ostdeutschland schon verloren den Bericht gelesen haben? haben; denn – das ist eine weitere bittere Erkenntnis – wer in Deutschland einmal als Unternehmer gescheitert (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ ist, der kommt nicht mehr auf die Beine, von einer zwei- DIE GRÜNEN]: Da kennen Sie den Peter ten Chance zu einer Unternehmensgründung ganz zu Hettlich schlecht! So eine Frage! – Zurufe von schweigen. Uns fehlt die Unternehmenskultur; da sind der SPD: Oh!) die USA ausnahmsweise einmal Vorbild. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): SES 90/DIE GRÜNEN) Natürlich habe ich ihn gelesen. Wir haben ihn sogar umfangreich durchgearbeitet. Da kennen Sie mich wirk- Ich möchte dafür werben, dass wir den weiteren Auf- lich schlecht. So eine Frage ist wirklich schwach. bau Ost auch von unten her denken und gestalten. Von unten her heißt für mich: Wir brauchen mehr Unterneh- Ich will noch einmal auf den Punkt investive Verwen- mensgründer, wir brauchen mehr Unternehmen, die dung zurückkommen. Hier scheint mir möglicherweise expandieren, und wir brauchen dafür viele langfristig ein Problem zu liegen, deshalb hatte ich eben ja noch tragfähige und innovative Unternehmenskonzepte und einmal auf die Aussage verwiesen, Infrastruktur ist mehr -ideen. Ich glaube, da sind wir gar nicht so weit von- als Beton. Das heißt, wir sollten uns zumindest einmal einander entfernt. Das gilt für Ostdeutschland, dürfte Gedanken darüber machen, ob investive Mittel nur in aber zunehmend auch für Westdeutschland gelten. die Infrastruktur gesteckt werden dürfen oder ob wir sie Wenn wir also die wirtschaftliche Entwicklung und nicht auch in andere Bereiche wie zum Beispiel Bildung, damit die Entstehung von Arbeitsplätzen in Ostdeutsch- Wissenschaft, Forschung und Entwicklung, ja sogar in land fördern wollen, dann müssen wir genau hier anset- die Unternehmensförderung umschichten können. Ich zen. Das können wir zum einen in den Bereichen verweise nur darauf, dass einige Leute aus der Wissen- Bildungs-, Wissenschafts-, Forschungs- und Entwick- schaft, beispielsweise Vertreter des IWH, diese Vor- lungsförderung und zum anderen im Bereich Wirt- schläge schon unterbreitet haben. schaftsförderung. Ich weiß, dass das ein heikles Thema ist und es kei- Erst einmal müssen wir junge Wissenschaftler und nem den Vorwand bieten sollte, sich aus der Verantwor- Forscher dazu bringen, sich überhaupt in die Selbststän- tung für einen verfassungsmäßigen Haushalt zu stehlen. digkeit zu trauen. Dazu gehören Mut, eine gute Ge- Aber angesichts der demographischen Entwicklung schäftsidee und das betriebswirtschaftliche Know-how. (B) müssen wir uns schon die Frage gefallen lassen, wer (D) denn in 20 oder 30 Jahren die Infrastruktur in Ost- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Und einen deutschland nutzen und unterhalten soll, in deren Auf- langen Atem bei Genehmigungsverfahren!) bau wir in den kommenden Jahren nochmals sehr viel Hier ganz praktische Unterstützung zu leisten, zum Bei- Geld investieren wollen. spiel bei der Bewertung von Geschäftsideen oder beim (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zusammenbringen von potenziellen Geschäftspartnern, wäre schon ein erster Schritt. Hier ist auch ein stärkeres Dabei muss uns bewusst sein: Die für den weiteren Kon- interdisziplinäres Handeln schon an den Hochschulen vergenzprozess zur Verfügung stehenden Mittel sind be- wünschenswert, wenn nicht sogar Voraussetzung. grenzt und vor allen Dingen in ihrem Mittelfluss – insbe- sondere was den Solidarpakt II angeht – degressiv Dann gilt es, dafür zu sorgen, dass diese Start-ups gestaltet. Das heißt, ab spätestens 2010 werden wir dies dabei unterstützt werden, das notwendige Kapital für auch praktisch zu spüren bekommen. Die Antwort wird eine Unternehmensgründung zusammenzubekommen. dann nicht mehr lauten können: Wir brauchen noch mehr Es fehlt insbesondere am Eigenkapital – ein spezielles Geld. Vielmehr muss die Antwort dann lauten: Wir müs- Problem in Ostdeutschland. sen aus dem Geld, das wir bekommen, mehr machen. Weiterhin müssen wir uns dringend Gedanken ma- chen – das sollten wir gemeinsam tun –, wie wir die Brü- Nach der Währungsunion und der Wiedervereinigung cke zwischen der Mittelstandsbank und den Hausbanken setzte ab 1990 in den neuen Bundesländern eine beispiel- schlagen. Wir müssen uns der Frage stellen, wie wir an- lose Gründungswelle ein. Viele Unternehmensgründun- gesichts sinkender Immobilienwerte in Ostdeutschland gen waren der puren Not geschuldet, die notwendigen eine Besicherung von Krediten in Zukunft vornehmen Voraussetzungen – ausreichendes Eigenkapital, betriebs- wollen. wirtschaftliches Know-how, eine tragende Geschäfts- idee – waren oft nicht vorhanden. Das ist kein Vorwurf Das sind eine ganze Menge Fragen, auf die es im Au- an die damalige Gründergeneration, sondern eine genblick kaum Antworten gibt. Erst dann, wenn diese schlichte Tatsache. Insofern ist es auch eine bittere Er- Fragen beantwortet sind, kämen für mich die verschiede- kenntnis, dass sich erst seit Mitte der 90er-Jahre – da nen Möglichkeiten einer Wirtschaftsförderung hinzu; waren wir noch nicht an der Regierung – der Saldo zwi- denn Voraussetzung dafür ist, dass vorher die Grundla- schen den Gründungen und den Insolvenzen in Ost- gen aus eigenem Antrieb oder gegebenenfalls mit ent- deutschland nur ganz leicht im Positiven bewegt. Daran sprechender gezielter Unterstützung geschaffen worden hat sich erst im letzten Jahr etwas geändert. sind. Nur da, wo etwas ist, kann auch etwas gefördert 12680 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Peter Hettlich (A) werden. Das gilt im Kleinen wie auch im Großen, also damit umgehen, dass der Weg zur Angleichung der Le- (C) dann, wenn wir von einer stärkeren Förderung von bensverhältnisse in Ost und West länger als erwartet und Wachstumsregionen und -branchen sprechen. schwieriger als erhofft ist. Wir müssen für Antworten sorgen. Lassen Sie mich zum Schluss – auch angesichts der aktuellen Föderalismusdebatte – nochmals eine Lanze Deshalb ist es besonders wichtig, in diesem Land we- für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der re- niger Zwietracht zu streuen. Damit meine ich nicht uns gionalen Wirtschaftsstruktur“ brechen. hier, sondern die allgemeine Diskussion. Vielmehr soll- ten wir auf den gemeinsamen Erfahrungen von Ost und (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- West aufbauen. Mit diesen Erfahrungen wird es uns ge- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) lingen – davon bin ich überzeugt –, die Aufgaben, die Sie ist sicherlich nicht das Allheilmittel, aber sie hat sich vor uns stehen, mit großer Sensibilität anzugehen und als eines der erfolgreichsten Förderinstrumente bewährt. ihre Lösung voranzubringen. Wenn ich an die letzte Debatte in diesem Hause zu die- sem Thema zurückdenke, dann kann ich feststellen, dass (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten es damals keinen glühenderen Verfechter für die GA gab der CDU/CSU) als Herrn Milbradt. Jetzt müssen wir hören, dass sich die Doch dazu brauchen wir einen klaren politischen ostdeutschen Bundesländer – Sachsen vorneweg – einer Kompass, den ich im Moment bei der Regierungskoali- Abschaffung der GA offensichtlich nicht mehr verwei- tion vermisse. 1998 hat der Herr Bundeskanzler die gern wollen. Hier kann ich nur sagen: Nicht mit uns. Es Chefsache Ost ausgerufen. Ein merklicher Fortschritt ärgert mich, dass wir über den Bundeshaushalt die Mittel ist nach wie vor nicht erkennbar. zur Verfügung stellen, manche Bundesländer sich bezüg- lich ihrer Mitverantwortung aber einen schlanken Fuß (Zuruf von der SPD: Na, na, na!) machen. Herr Bundesminister, bei der Vorstellung Ihres Jah- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- resberichtes sprechen Sie von der konsequenten Fortset- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) zung des Aufbaus Ost. Hier muss ich fragen: Was wird konsequent fortgesetzt? Hätte die Bundesregierung in Wer bezahlt, muss auch mitbestimmen, welche Musik den letzten Jahren ein Gesamtkonzept erstellt und um- gespielt wird; denn als bloßer Abnickaugust bin ich mir zusetzen versucht und hätten Sie als neuer Minister für zu schade. den Aufbau Ost die Umsetzung dieses Gesamtkonzepts (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- in Ihrem Hause zusammengeführt und besser struktu- riert, würden wir vielleicht über eine niedrigere Arbeits- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) (D) (B) losenquote sprechen. Wir schlagen daher vor, dass die GA zumindest bis 2019 erhalten bleibt und die Investitionszulage – sollte Sie haben ebenfalls verkündet, dass der Bund die Mit- dies finanziell möglich sein – nach 2006 mit ihr zusam- tel für ausgewählte Programme verstetige und bündele. mengeführt wird. So steht es im Bericht. Im vorgelegten Bericht fehlt es aber an Konzepten, Rahmenbedingungen, Perspektiven Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. und strategischen Zielsetzungen. Ich zumindest kann sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht finden. Sie sind vage, besonders im Hinblick auf und bei der SPD) die Infrastruktur. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: der CDU/CSU) Das Wort hat der Kollege Joachim Günther, FDP- Fraktion. Nach wie vor fehlen auch klare Aussagen zu wichti- gen Dingen, die die Bundesregierung vorantreiben wollte. Ich nenne die von der EU-Osterweiterung betrof- Joachim Günther (Plauen) (FDP): fenen grenznahen Regionen. In einer Synopse der Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! SPD-Fraktion werden Äußerungen der Herren Dohnanyi Herr Minister Stolpe, Ihr Eingangszitat hat mir ausge- und Stolpe und anderer hierzu gegenübergestellt. zeichnet gefallen, da Sie heute die Gelegenheit genutzt haben, an den Mauerfall zu erinnern, der vor zwei Tagen Antworten sind vorhanden. Auch in Ihrer Fraktion seinen fünfzehnten Jahrestag hatte. Umso verwunderter wird von einer Sonderwirtschaftszone Ost gesprochen. bin ich, dass Mitglieder Ihres Kabinetts vor fünf Tagen Wo aber bleiben Ergebnisse? Wo bleiben Ansätze? Man den Tag der Deutschen Einheit abschaffen wollten. So kann in dieser Richtung nichts wahrnehmen. etwas passt aus meiner Sicht nun wirklich nicht zusam- Wir fordern, dass im Osten, aber auch in struktur- men. schwachen Gebieten des Westens Modellregionen ge- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – schaffen werden. Wir sollten Öffnungsklauseln erpro- Siegfried Scheffler [SPD]: Den will überhaupt ben, die den Ländern etwa im Arbeits- und im Baurecht keiner abschaffen!) Sonderregelungen ermöglichen. Ich glaube, so würden wir schnell einen Schritt vorankommen. 15 Jahre nach dem Mauerfall sollte die deutsche Einheit keine Selbstverständlichkeit sein. Wir müssen vernünftig (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12681

Joachim Günther (Plauen) (A) Handlungsbedarf besteht auch im Bereich der Infra- Mietnebenkosten erheblich ansteigen. Das ist ein großes (C) struktur. Wir haben die Bundesregierung aufgefordert, Feld und wir müssen schnell reagieren. die Fördermittel aus den Strukturfonds vordringlich zum Deshalb bin ich sehr optimistisch, dass Sie heute un- Ausbau grenzüberschreitender, transeuropäischer Ver- serem Vorschlag zustimmen, dass wir auch in den nächs- kehrsnetze in Ostdeutschland, aber auch in Ostbayern ten Jahren über den Bericht der deutschen Einheit disku- einzusetzen. Diese Grenzregionen haben im Moment mit tieren. Denn es ist dringend erforderlich, in weitere zum Teil unerträglichen Verkehrsbelastungen zu kämp- Details einzusteigen. fen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Herr Minister, Sie nennen hier den Ausbau der A 17 Dresden–Prag als Beispiel. Ich möchte vorsichtig daran erinnern, dass die SPD bis 1998, als sie in der Opposi- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: tion war, diese Strecke am entschiedensten bekämpft hat. Nächster Redner ist der Kollege Siegfried Scheffler, Erst heute ist das anders geworden. SPD-Fraktion.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Siegfried Scheffler (SPD): Wir brauchen diese leistungsfähigen Verkehrswege. Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- Sie sind für ganz Deutschland wichtig. Ich befürchte, legen! Sehr verehrte Damen und Herren! Meckern und dass die Kürzungen bei den Verkehrsinfrastrukturmaß- Klagen gehört fast schon zum guten Ton beim Thema nahmen, die für 2004 bis 2008 vorgesehen sind, auch Aufbau Ost in diesem Hohen Hause. Wir werden nach- zahlreiche Projekte im Osten gefährden werden. her mit der Rede vom Kollegen Kuhn von der Opposi- tion den Höhepunkt erleben. Die Standortschließungen haben wir bereits vorhin hier diskutiert. Auch hier ein Auszug aus Ihrer Synopse (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ost: Es sollten maßgeschneiderte Ansiedlungen entste- DIE GRÜNEN) hen, habe ich gelesen. Ich bin gespannt, wann wir das Aber ich sage ganz deutlich: Damit tut man den Men- erste Erfolgserlebnis haben. Ich wäre Ihnen sehr dank- schen im Osten Unrecht, die täglich ihre Frau oder ihren bar, wenn Sie es mir vorstellen könnten. Mann stehen, und damit tut man auch der Bundesregie- In diese Schiene passt auch die von Ihnen jetzt ge- rung Unrecht, die einiges geleistet hat. machte Aussage, dass mit den Ländern weiter über die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Förderkonzeption verhandelt werden müsse. Diese An- DIE GRÜNEN – Renate Blank [CDU/CSU]: kündigung haben wir schon oft gehört. Ich fordere Sie Die Grünen haben das aber anders gesehen!) (B) deshalb auf, hier wirklich zu handeln. Aus den vorgeleg- (D) ten – freiwilligen – Fortschrittsberichten der neuen Bun- Ich sage das jedes Mal: Wenn wir nicht blind sind, müs- desländer geht hervor, dass lediglich Sachsen die Mittel sen wir feststellen, dass wir zwischen Ostsee und Erzge- des Solidarpaktes II für Investitionen eingesetzt hat. birge sehr viel erreicht haben. Andere haben damit weiterhin Haushaltslöcher gestopft. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Hört! DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU) Hört!) – Ich sage das, weil es stimmt, aber Sie wollen das nicht Das müssen wir ändern; wir müssen die Investitionen er- wahrhaben. höhen. Der Jahresbericht der Bundesregierung blickt nicht (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nur zurück, sondern gibt auch einen Ausblick, wie die Neujustierung des Aufbaus Ost vorangebracht werden Ich möchte noch kurz ein anderes Thema ansprechen, kann. Hauptanliegen ist die Weiterentwicklung der das eine große Rolle spielt: die Abwanderungsproble- Förderkonzeption. Das hätten Sie sich einmal genauer matik. Es reicht nicht, festzustellen, dass das ein wichti- ansehen können. Ich werde mich im Wesentlichen darauf ges Thema ist. Wir müssen Wege finden, die Abwande- konzentrieren. rung zu stoppen oder zumindest zu verlangsamen, denn sonst wird die Situation noch komplizierter. Wir haben Zuvor möchte ich aber meiner Freude darüber Aus- dazu im Juni dieses Jahres eine Große Anfrage einge- druck verleihen, dass gestern die Entscheidung gefallen bracht. Herr Minister, ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn ist, dass die Deutsche Post den Flughafen Leipzig/Halle Sie jetzt zeigten, dass der Aufbau Ost Chefsache ist, in- als Drehkreuz für den Frachtflugverkehr ausbauen will. dem Sie diese Anfrage möglichst schnell beantworten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das ist auch im Interesse der ostdeutschen Länder. Viel- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der leicht können wir hieraus die eine oder andere Konse- CDU/CSU und der FDP) quenz ziehen. Aber neben dem Erfreulichen gibt es auch Negatives. Die bedrückend hohe Abwanderung von Ost nach Negativ sind die auch von Ihnen, liebe Kollegen von der West hat fatale Folgen. Ich nenne nur einige: Die Kom- Opposition, immer wieder genannten Horrorzahlen über munen in Ostdeutschland ziehen weniger Steuern ein, den West-Ost-Transfer. Ich will die gewaltigen, auch die Kosten für die städtische Infrastruktur verteilen sich heute noch stattfindenden Transfers in keiner Weise auf immer weniger Personen, wodurch zum Beispiel die schmälern; aber man sollte angesichts der Zahlen redlich 12682 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Siegfried Scheffler (A) bleiben. Sie sollten vor allem – Sie haben ja vor Jahren sich die Zahlen unter seiner Verantwortung sogar noch (C) selbst jemandem vorgeworfen, dass er das nicht könne – erhöht –, muss ich diesen Vorwurf zurückweisen. Der brutto und netto unterscheiden können. Von den genann- Weg, den Sie in Sachsen-Anhalt eingeschlagen haben, ten vierstelligen Milliardensummen sind nach den Be- ist nicht nur nicht besser. Er hat sogar noch zu einer hö- rechnungen des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle heren Verschuldung geführt. rund 300 Milliarden Euro direkt in die Staatskassen ge- flossen. Diese Summe wäre also schon einmal in Abzug (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf zu bringen. Von dem noch immer großen Rest entfällt von der CDU/CSU: Das war nichts, Siggi! – der weit überwiegende Teil auf gesetzlich für ganz Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Das ist eine Infor- Deutschland – ich betone: für ganz Deutschland – fest- mationslücke, Herr Scheffler!) gelegte Leistungen wie zum Beispiel die Renten. An die- Lassen Sie mich auf die investiven Mittel zurück- sem Teil ließe sich nur dann etwas ändern, wenn die Ein- kommen. Wir sollten uns zukünftig für einen effektiven heit als solche auf den Prüfstand gestellt würde. Aber ich Einsatz dieser Mittel stark machen, insbesondere was die glaube, das wollen wir alle hier nicht. im Rahmen des Solidarpakts II vorgesehenen Leistungen Wirklich beeinflussbar ist nur der Bereich der investi- des Bundes angeht. Hier werden wir in einen Dialog mit ven Mittel. Hier sollten wir uns mit Recht für einen ef- den Ländern treten müssen. Die Schlussfolgerung muss fektiven und sparsamen Einsatz stark machen. Sie haben lauten, alles dafür zu tun, dass im Osten ein möglichst das ein bisschen verklausuliert schon angesprochen. Ins- großer Teil dessen, was verbraucht wird, auch selber er- besondere Sachsen-Anhalt ist Spitzenreiter im negativen arbeitet wird. Das ist meines Erachtens ganz wichtig. Sinne unter den Ländern, die Mittel aus der GA für kon- Das geht nur über Investitionen. sumtive Ausgaben heranziehen und ihre Haushaltslöcher (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des damit stopfen. Aber das betrifft auch die anderen neuen BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Bundesländer, insbesondere – das sage ich als Berliner an die Adresse des Berliner Senats – die Berliner Senats- Ob investiert wird, darf nicht die Frage sein. Aber wo verwaltung. und wie investiert werden soll, sollte der Deutsche Bun- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) destag bestimmen. Wir als Mitglieder der Arbeitsgruppe „Aufbau Ost“ haben uns vorgenommen, uns die Investi- tionen zukünftig genauer anzusehen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Kollegen Bergner? des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (B) In diesem Zusammenhang bin ich froh, dass es uns (D) Siegfried Scheffler (SPD): gelungen ist, ein besonders wirkungsvolles Instrument Bitte schön. der Wirtschaftsförderung in strukturschwachen Regio- nen, nämlich die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesse- Dr. Christoph Bergner (CDU/CSU): rung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, finanziell Herr Kollege Scheffler, als Berliner bewundere ich besser auszustatten. Die bisherige Kappungsgrenze von ein wenig Ihren Mut, in Sachen Mittelverwendung auf 35 Millionen Euro bei den rückfließenden Mitteln ent- Sachsen-Anhalt zu zeigen. Sind Sie sich eigentlich der fällt. Tatsache bewusst, dass die Art der Mittelverwendung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mit dem sehr viel höheren Schuldendienst zusammen- DIE GRÜNEN) hängt, den Sachsen-Anhalt im Vergleich zum Freistaat Sachsen zu leisten hat? Das hätten Sie ruhig einmal lobend erwähnen können. In Bezug auf die Ursachen dieses hohen Schulden- Ich denke, dieses hervorragende Instrument wurde von dienstes möchte ich Sie fragen: Wissen Sie, dass es in den Ländern positiv aufgenommen. der Zeit des so genannten Magdeburger Modells unter Es gehört zu jeder Diskussion, über den schleppenden dem Ministerpräsidenten Höppner von der SPD gang Bürokratieabbau zu reden. Wir müssen sagen, dass die und gäbe war, dass Sachsen-Anhalt bei der Nettoneuver- in 40 Jahren zivilen Wachstums in der alten Bundesrepu- schuldung Spitzenreiter in Deutschland war? Auf wen blik gewachsenen Regelungen für eine Pioniersituation, wollen Sie eigentlich zeigen, wenn Sie solche Behaup- wie sie der Aufbau Ost darstellt – da stimme ich Ihnen tungen aufstellen? ausdrücklich zu –, nicht immer geeignet sind. Die Bun- (Beifall bei der CDU/CSU) desregierung hat sehr viele Instrumente zum Bürokratie- abbau eingeführt. Sie hat die Novellierung der Hand- werksordnung auf den Weg gebracht. Da haben Sie Siegfried Scheffler (SPD): leider nicht mitgespielt. Ihre Entscheidung im Bundesrat Da ich an der Veranstaltung mit Ihrem Ministerpräsi- hat sich nicht gerade positiv ausgewirkt. Da könnten wir denten und dem Minister Manfred Stolpe in der sachsen- ein bisschen weiter sein. anhaltinischen Landesvertretung teilgenommen habe, auf der mir Ihr Ministerpräsident auf meine Frage aus- (Lena Strothmann [CDU/CSU]: Das hat nichts drücklich bestätigt hat, dass dies nicht nur unter der Re- mit Bürokratieabbau zu tun! – Zuruf des Abg. gierung Höppner so war – proportional gesehen haben Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12683

Siegfried Scheffler (A) – Lieber Kollege, ich habe meinen Handwerksmeister in (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) den 60er-Jahren gemacht. Die Zeit ist seitdem vorange- DIE GRÜNEN) schritten; sie ist nicht stehen geblieben. Wenn es nur Stillstand geben würde, dann könnte kein Land vorange- Ihre Analyse ist nicht ehrlich. Zum einen sehen Sie posi- bracht werden. tive Ansätze, auf die Sie in Ihrem Antrag hinweisen, und zum anderen bemängeln Sie das Tempo. In diesem Zu- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sammenhang möchte ich Ihren Altkanzler Helmut DIE GRÜNEN) Kohl zitieren, der gestern laut „Tagesspiegel“ gesagt hat – ich zitiere, Frau Präsidentin –: Wir müssen das Übermaß an Regelungen im Steuer-, Bau- und Umweltrecht zurückfahren, damit die Investi- Es dauerte viel länger, als ich geglaubt habe, und tionsfreudigkeit gefördert wird. Der Hinweis auf das po- mir sind dabei … Fehler unterlaufen. sitive Beispiel des Planungsbeschleunigungsgesetzes ist Zudem zeigt sich Kohl davon überzeugt, dass sich die allein nicht ausreichend. Lebensverhältnisse in den neuen Ländern bessern wür- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und den: der FDP – Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Sehr Schon bald werden wir in den neuen Ländern wei- richtig!) tere erhebliche Fortschritte erreicht haben. Unter Bundesminister Clement wurden drei Pilotregio- (Ute Kumpf [SPD]: Aha!) nen festgelegt. Die entsprechenden Ergebnisse müssen wir abwarten. Wir können nämlich nicht über Projekte Recht hat der Mann. diskutieren, wenn die Ergebnisse noch nicht bekannt Da wir, wenn man als Bezugspunkt das Auslaufen des sind. Wir werden die entsprechenden politischen Konse- Solidarpaktes II im Jahre 2019 nimmt, erst die Hälfte des quenzen daraus ziehen. Insofern, Herr Minister Stolpe, Weges zurückgelegt haben, werden wir am Ende das er- kann ich Sie nur ermuntern, in Ihren Bemühungen nicht reicht haben, von dem Ihr Altkanzler in der Zeitung nachzulassen. spricht. Wir brauchen dafür Steigerungsraten von mehr Im Übrigen vertraue ich auf die Kraft des Faktischen. als 5 Prozent. Die gibt es im verarbeitenden Gewerbe; Die Haushaltslage in den neuen Ländern, die sich durch der Minister hat es angesprochen. Die derzeit negative die demographische Entwicklung nicht wesentlich ver- Entwicklung wird natürlich erheblich durch die Bauin- bessern wird, ist so, dass kein Weg daran vorbei führt, dustrie beeinflusst. Verwaltungen zu verkleinern. Es ist übrigens schade, dass heute zur gleichen Zeit (B) (D) Da Sie Berlin angesprochen haben, lieber Kollege: der Zentralverband des ostdeutschen Baugewerbes einen parlamentarischen Abend veranstaltet und wir aus der (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Ja, das interessiert zuständigen Arbeitsgruppe bzw. dem zuständigen Aus- uns!) schuss nicht teilnehmen können. Dort hätten Sie die Bot- schaft mitbringen können, dass es Ihre Politik Anfang Das, was Berlin hinsichtlich der Verkleinerung der Se- der 90er-Jahre war, die zu einer großen Spekulations- natsverwaltung und im Rahmen der Bezirksreform ge- blase in der Bauindustrie geführt hat. Sie hätten dem leistet hat, sollten andere neue Bundesländer nachholen. Zentralverband auch sagen müssen, dass es Ihr Minister- Ich sage es ausdrücklich: Auch ich bin nicht über die präsident Milbradt war, der mit einem Kabinettsbe- Entscheidung glücklich, dass die Länder Berlin und schluss die Investitionszulage für den Mietwohnungsbau Brandenburg zumindest kurzfristig nicht zu einem Bun- gestoppt hat. Sie sollten auf die neue Regierung diesbe- desland zusammenwachsen. Hier hätten wir für die züglich Einfluss nehmen, um die Arbeitslosigkeit unter neuen Bundesländer eine Pilotfunktion übernehmen den Bauarbeitern und in der Bauindustrie zu verringern. können. Insgesamt ist die Arbeitslosigkeit – das wurde schon (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Die Brandenbur- angesprochen – natürlich das große Problem. Mit der Si- ger waren dagegen!) tuation sind wir – ob in den alten oder in den neuen Bun- desländern ist völlig gleich – überhaupt nicht zufrieden. Nun zu Ihren Anträgen. Herr Vaatz und Herr Kuhn, Deshalb ist der Reformprozess, der mit der Agenda 2010 warum Sie Ihren Antrag, der ebenso wie der der FDP un- und mit Hartz I bis IV eingeleitet wurde, der richtige serem Ausschuss vorliegt – es sind meines Erachtens in Weg. Denn nur wenn wir insgesamt eine starke Bundes- einigen Teilen doch recht vernünftige Anträge –, jetzt republik Deutschland haben, wird es auch in den neuen durch einen neuen ersetzen, ist mir schleierhaft. Wir hat- Bundesländern weiter aufwärts gehen. ten uns ja darauf verständigt, dass über die Anträge ge- meinsam mit dem heute zu debattierenden Bericht abge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ stimmt wird. Ich muss schon die Frage stellen: Halten DIE GRÜNEN) Sie von Ihrem ursprünglichen Antrag so wenig, dass Sie ihn durch einen neuen ersetzen müssen? Das sollten Sie Mir geht es natürlich wie Ihnen viel zu langsam. Aber uns einmal erklären. ich habe weder von Ihnen, Herr Kollege Vaatz, in den Ausschussberatungen noch von den Wirtschaftsweisen Was Sie heute vorgelegt haben, ist meines Erachtens und den so genannten Experten den Königsweg genannt wirklich nicht das Gelbe vom Ei. bekommen. 12684 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) Herr Kollege, gestatten Sie trotzdem eine Zwischen- Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen. frage des Kollegen Vaatz? (Ute Kumpf [SPD]: Herr Vaatz, Sie haben Siegfried Scheffler (SPD): wohl ein großes Redebedürfnis?) – Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss –, zu sa- gen, dass wir keine Mittel aus dem Haushalt zur Verfü- gung stellen können. Ihre Entscheidung, gegen die Ab- Siegfried Scheffler (SPD): schaffung der Eigenheimzulage zu votieren Ja, bitte schön. (Zuruf von der FDP: Sie müssen zum Schluss Arnold Vaatz (CDU/CSU): kommen!) Herr Kollege Scheffler, können Sie mir erklären, wel- und so zu verhindern, dass wir mehr Geld für Bildung che positiven Effekte von einer weiteren Unterstützung und Forschung haben, war falsch. des Mietwohnungsbaus beispielsweise in Sachsen ange- sichts dessen zu erwarten sind, dass wir dort im Augen- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ blick einen Leerstand von circa 100 000 Mietwohnun- DIE GRÜNEN) gen aufzuweisen haben? Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Siegfried Scheffler (SPD): Herr Kollege Scheffler! Das kann ich Ihnen sagen: Diese Mittel könnten, ob in Sachsen oder in Sachsen-Anhalt, für den Stadtumbau Siegfried Scheffler (SPD): Ost und ähnliche Projekte verwendet werden. Insbeson- Mein letzter Satz, Frau Präsidentin. dere beim Stadtumbau Ost in Sachsen könnten sie für den Abriss bzw. Umbau der Platte eingesetzt werden. In- Was wir gemeinsam für den Aufbau Ost tun könnten, sofern war Ihre Frage sehr gut. ist, den Standort nicht schlecht zu reden, wie Sie es land- auf, landab tun. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei Abgeordneten der SPD) DIE GRÜNEN) Auch von dieser Debatte sollten positive Signale ausge- Was Deutschland braucht, was insbesondere die hen. neuen Länder brauchen, sind – das wurde angespro- (B) chen – qualitativ hochwertige, innovative Produkte und Vielen Dank. (D) Produktionen mit hoher Wertschöpfung. Das werden Sie aber nicht durch die Einführung von Billiglöhnen errei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ chen. Die Investoren in diesen Regionen stellen keine DIE GRÜNEN – Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Vergleiche mit Löhnen an, die in Tschechien, Polen oder Wir haben nichts schlecht geredet!) anderen vergleichbaren Ländern gezahlt werden. Natür- lich brauchen die qualifizierten Facharbeiter, Ingenieure Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: und Meister zur Sicherung ihres Lebensunterhalts ein Das Wort hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch. bestimmtes Lohnniveau; das muss man einmal sagen. Sie aber wollen praktisch über den Umweg Ostdeutsch- Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): land die soziale Landschaft in Deutschland verändern. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin Das wird mit uns nicht geschehen. Abgeordnete der PDS. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich bin mir sicher, dass kaum jemand den Jahresbe- DIE GRÜNEN) richt zum Stand der deutschen Einheit vollständig gele- Im Bericht der Bundesregierung zum Stand der Deut- sen hat; schen Einheit werden die zur Neujustierung notwendi- (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Herr Hettlich hat gen Schritte vorgestellt, die in der neuen Legislaturpe- ihn gelesen!) rio-de, insbesondere im Jahr 2007, mit den Einnahmen aus dem Solidarpakt II und dem Korb II des Steuerver- denn dann wäre Ihnen aufgefallen, dass auf mehreren günstigungsabbaugesetzes eingeleitet werden. Mit dem Seiten, so zum Beispiel auf Seite 49, ein ganzer Absatz Soli-darpakt II haben wir eine solide Finanzierungs- doppelt abgedruckt wurde. Ich habe mir überlegt: Viel- grundlage geschaffen; auch das hätten Sie loben können. leicht hat der Herr Bundesminister diesen Fehler extra Aber angesichts der gegenwärtigen Haushaltslage – ich eingebaut, um zu sehen, ob überhaupt jemand seinen Be- möchte das nicht näher erläutern und nenne als Stich- richt gelesen hat. worte nur „Globalisierung“ und „fehlende Steuereinnah- men“ – (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und Um es kurz zu machen: Es ist jedes Jahr das Gleiche. Es der FDP) werden Erfolgsberichte vorgelegt, die mit der Realität nicht übereinstimmen. Viele fragen sich: Warum soll ist es ein Gebot der Ehrlichkeit – man diese geschönten Berichte eigentlich lesen? Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12685

Dr. Gesine Lötzsch (A) Meine Damen und Herren, ich habe den Eindruck, Mit dieser Antwort können Sie nach Hause gehen und (C) dass der Bundesregierung, aber auch einigen Minister- dort in Ruhe darüber nachdenken. präsidenten der Osten einfach lästig geworden ist. Die Meine Damen und Herren, es ist doch deutlich gewor- Diskussion über die Abschaffung des 3. Oktober als den: Der Osten ist vielen lästig geworden. Ohne Frage: Feiertag ist dafür nur ein Beispiel. Ich kann mir gut vor- Die Transferzahlungen in den Osten sind beträchtlich. stellen, was dem Kanzler, als er dies vorgeschlagen hat, Für viele Menschen in Ost und West ist der Solidarbei- durch den Kopf gegangen sein muss: Am trag eine zusätzliche Last. Aber nehmen wir einmal an, 15. Hochzeitstag will er nicht mehr an die Hochzeit und Sie würden die Transferleistungen nach Ostdeutschland die Braut erinnert werden. Es ist schon schlimm genug, noch heute einstellen und die Ossis würden dazu dass er so viel Geld zahlen muss. nichts sagen. Was würde passieren? Als Erster würde Herr Rogowski vom Bundesverband der Deutschen In- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: dustrie, als Zweiter Herr Hundt von der Bundesvereini- Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des gung der Deutschen Arbeitgeberverbände und vielleicht Kollegen Scheffler? als Dritter Herr Stoiber aufjaulen. Warum? Der Solidar- pakt ist doch kein Geschenk des Westens an den Osten. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): Er ist das größte steuerfinanzierte Konjunkturprogramm Ja, bitte schön. der Bundesrepublik Deutschland. Damit werden Ar- beitsplätze und Aufträge gesichert – in Ost und West. Wer am Solidarpakt rüttelt, der rüttelt an der schwä- Siegfried Scheffler (SPD): chelnden Konjunktur. Frau Kollegin Lötzsch, Ihnen ist offensichtlich ent- gangen, dass der zuständige PDS-Minister in Mecklen- (Siegfried Scheffler [SPD]: Da rüttelt doch gar burg-Vorpommern insbesondere die dortige wirtschaftli- keiner! So ein Quatsch!) che Entwicklung der letzten Jahre in sehr blumiger Da die Konjunkturdiagramme von der Regierung und Sprache hervorgehoben hat. Er hat betont, wie viele Ar- der konservativen Opposition wie Götzenbilder angebe- beitsplätze in Mecklenburg-Vorpommern entstanden tet werden, habe ich keine ernsthaften Sorgen um das sind und wie positiv sich unter dieser Regierung der Fortbestehen des Solidarpaktes. Diejenigen aber, die den Tourismus und die Schiffbauindustrie entwickelt haben. Solidarpakt infrage stellen, sind zahnlose Tiger, die glau- Das ist das Gegenteil dessen, was Sie uns hier vortragen. ben, die Ostdeutschen auf diese Weise gefügig machen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) zu können. Natürlich verstehe ich Herrn Eichel. Er braucht Geld (B) Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): für einen ausgeglichenen Haushalt; darum macht er auch (D) Herr Kollege Scheffler, Sie haben keine Frage ge- absurde Vorschläge. Wir als PDS haben da einen solide- stellt, sondern eine Bemerkung gemacht. Trotzdem will ren Vorschlag – er sichert den 3. Oktober als Feiertag ich gern darauf eingehen. und bringt zusätzlich 5 Milliarden Euro in die Kasse –: Verzichten Sie auf die Absenkung des Höchststeuer- Selbstverständlich sind unter der Regierung in Meck- satzes von 45 auf 42 Prozent ab dem 1. Januar 2005 und lenburg-Vorpommern, an der die PDS beteiligt ist, we- Sie haben im nächsten Jahr rund 5 oder 6 Milliarden sentliche Fortschritte erreicht worden. Euro mehr in der Kasse! Damit könnte man sogar fünf (Lachen bei der CDU/CSU und der weitere Feiertage finanzieren. Aber das wollen wir gar FDP – Zuruf von der CDU/CSU: In Berlin ist nicht. Besser wäre es, zum Beispiel das Kindergeld zu es anders!) erhöhen. Das kurbelt die Binnennachfrage an und bringt mehr Steuereinnahmen in die Kasse. Aber Sie können doch nicht leugnen, dass die Arbeitslo- sigkeit im Osten ungeheuer hoch ist. (Jörg van Essen [FDP]: Das muss aber bezahlt werden!) Wenn Sie sich hier nur einmal im Saal umschauen, dann werden Sie feststellen: Die Kollegen aus dem Wes- Ich denke, der Zeitpunkt und auch der Verlauf dieser ten, die jetzt angereist sind, sind für den nächsten Tages- Debatte haben gezeigt, dass die Behauptung des Bundes- ordnungspunkt da, nämlich für den Verkehrswegeplan. kanzlers, der Osten sei Chefsache, nicht zutreffend ist. Schauen wir auf die Regierungsbank. Wer sitzt dort? Da Ich schlage vor, Sie alle unterstützen meinen Vorschlag, sitzen der hochverehrte Kollege Stolpe, der Kollege dass der Bundeskanzler den Bericht zur Deutschen Ein- Schwanitz und noch zwei Staatssekretäre, die mir per- heit im nächsten Jahr persönlich hier vorträgt. sönlich sympathisch sind, aber da sitzt kein weiteres Vielen Dank. Mitglied der Bundesregierung. Ich frage mich natürlich auch: Warum spricht der Bundeskanzler niemals zum (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos] und Stand der deutschen Einheit? des Abg. Jürgen Türk [FDP]) (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Er hat es zur Chefsache erklärt, aber er spricht nicht Das Wort hat der Kollege Werner Kuhn, CDU/CSU- dazu. Fraktion. (Beifall des Abg. Jürgen Türk [FDP]) (Beifall bei der CDU/CSU) 12686 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

(A) Werner Kuhn (Zingst) (CDU/CSU): angelegt war. Ich glaube, dass es notwendig war, zu han- (C) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen deln, und diese Regierung hat gehandelt nach dem und Kollegen! Es ist schon erstaunlich, wer sich heute Motto: Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie Abend in der Debatte alles aufschwingt, Stararchitekt nicht, gehen wir zu ihr. Die Flüchtlingslager in den alten der deutschen Einheit zu sein. Damals war die linke Bundesländern, in Westdeutschland, waren völlig über- Seite des Parlaments Zaungast. Sie standen draußen an laden. Wie hätte man denn 17 Millionen Ostdeutsche in der Schaufensterscheibe und haben gekrittelt gegen all diesem Land integrieren können? Das war genau die das, was CDU und CSU zusammen mit der FDP zu- richtige Entscheidung. Dadurch wurden das Vertrauen, stande gebracht haben. Ich bin schon überrascht, wie Sie die Kaufkraft und die Binnenkonjunktur gestärkt. jetzt reden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dass Ihnen auf der linken Seite dieses Hauses das Ich freue mich aber, dass Herr Minister Stolpe diese nicht passt, kann ich mir schon vorstellen. Der Traum Debatte genutzt hat, um ein Stück Würde einzubauen. der Zweistaatlichkeit, die Anerkennung der DDR-Staats- Mit Mut und Besonnenheit, aber auch mit einem unbän- bürgerschaft und der Traum von der sozialistischen digen Willen zur Freiheit haben die Menschen in der Alternative auf deutschem Boden sind wie eine Seifen- ehemaligen DDR den Eisernen Vorhang, der Europa ge- blase zerplatzt. teilt hat, zerstört und die menschenverachtende Mauer, die unser Vaterland geteilt hat – mitten durch Berlin –, (Siegfried Scheffler [SPD]: Sag doch mal et- niedergerissen. was zu eurem Antrag!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Frau Präsidentin, mit Verlaub: Das geschah mit dem Se- gen des Himmels und das ist auch gut so. Wir haben den 15. Jahrestag dieses epochalen Ereig- nisses vor zwei Tagen würdig gefeiert. Ich hoffe, dass (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) Sie sich in diesen Reigen einbringen können; ich habe Wie sieht es nun 14 Jahre nach der Wiedervereini- nicht sonderlich viel davon gehört. gung im Jahre sechs von Rot-Grün mit der Entwicklung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) in den neuen Bundesländern aus? Wir haben gehört, dass der Osten aufholt. Ich denke, in vielen Bereichen ist Ich kann nur sagen: Unsere Fraktion, die CDU/CSU, ist das richtig. Diese Tendenz ist aber nur im verarbeitenden stolz darauf, was unsere Landsleute vor 15 Jahren für Gewerbe zu verzeichnen. Allerdings ist das nicht unbe- Demokratie und Freiheit in Deutschland vollbracht ha- dingt das Verdienst von Herrn Minister Stolpe. Wir ha- (B) ben. Wir sind auch stolz darauf, welche Aufbauleistun- ben damals schon gesagt, dass Schwerpunkte geschaffen (D) gen in Ostdeutschland in einer Generation, binnen werden müssen und dass sich Cluster bilden müssen, wo 15 Jahren, realisiert worden sind. Aber es kann einen sich Universitäten befinden. Wo es außeruniversitäre manchmal ärgern und es können sich einem die Nacken- Forschung gibt und wo Industrieunternehmen angesie- haare aufstellen, wenn man im öffentlich-rechtlichen delt sind, die Know-how besitzen, muss etwas entwi- Fernsehen in Talkshows mit ansehen muss, wie die Ar- ckelt werden; das ist völlig klar. Die Produktentwicklung beit derer, die in dieser Zeit politisch verantwortlich wa- darf aber nicht erfolgen, um einen Verdrängungswettbe- ren, klein geredet wird und wie die Entscheidungen, die werb durchzuführen, sondern, um neue Märkte zu er- von der Dynamik der Straße geprägt waren, mit einem schließen. Nur so kann man Devisen generieren, nur so Male kritisiert und die damals handelnden Akteure desa- kann man Wertschöpfung in den neuen Bundesländern vouiert werden. schaffen und nur so können wir die Wirtschaft dort wie- der ankurbeln. Das muss aber in die Realität umgesetzt Unser Altbundeskanzler Helmut Kohl ist wahrlich werden und darf nicht nur auf dem Papier stehen. der Stararchitekt der deutschen Einheit. Er hat es einfach nicht verdient, in der Öffentlichkeit so behandelt zu wer- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- den, wie es am letzten Sonntag in der uns allen bekann- neten der FDP – Siegfried Scheffler [SPD]: ten Talkshow im ersten Programm des öffentlich-rechtli- Sag mal etwas zu eurem Antrag! Ihr habt ja ei- chen Fernsehens geschehen ist. Wir müssen ihn einfach nen Antrag!) in Schutz nehmen. Das, was da abgelaufen ist, war schä- big. Wer sich mit einer Wachstumsrate von 0,2 Prozent begnügt, der muss seine Ansprüche bei einer Arbeitslo- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- senquote von immerhin noch 18,5 Prozent schon relativ neten der FDP) weit herunterschrauben. Das ist kein guter Weg. Der Ohne eine solche europäische Führungspersönlichkeit Kollege Vaatz hat das vorhin in seiner Rede zum Aus- wäre die politische Einigung mit den Siegermächten nie druck gebracht. Wer für schlappe 0,1 Prozent Wirt- so souverän zustande gekommen. schaftswachstum den Tag der Deutschen Einheit wieder in einen stinknormalen Arbeitstag umwandeln will, der Ich möchte noch eines sagen: Die Dynamik der Straße braucht sich nicht zu wundern, wenn die Menschen in war ein ganz entscheidender Punkt. Es wird gesagt, Ostdeutschland die Hoffnung verlieren, dass der Aufbau dass die Wirtschafts- und Währungsunion am Ost wirklich noch Chefsache ist. Die Bundesregierung 30. Juni 1990 viel zu früh kam und dass der Umtausch- hat dies möglicherweise schon längst aufgegeben. Des- kurs – er betrug übrigens eins zu zwei – viel zu schwach halb brauchen wir uns nicht darüber zu wundern, dass Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12687

Werner Kuhn (Zingst) (A) nach Umfragen 20 Prozent der Menschen sagen, die nenmarkt muss sich unbedingt verbessern. Die potenzi- (C) Mauer müsse eigentlich wieder aufgebaut werden. Das ellen Auftraggeber müssen finanziell wieder in die Lage ist ein schlechtes Ergebnis Ihrer Regierungsarbeit. Das versetzt werden, Aufträge auslösen zu können. Dabei muss sich verbessern. Es muss auch mental, also in den spielt die öffentliche Hand eine sehr große Rolle. In den Köpfen, klar werden, dass wir ein Volk sind, dass wir die Kommunen sind diesbezüglich noch genügend Aufga- Wiedervereinigung wollen und dass wir diese schwere ben zu erledigen, egal ob es Straßen, Schulen oder Kran- Aufgabe gemeinsam schultern werden. kenhäuser sind, die hergerichtet werden müssen. Hier müssen ganz gezielt Investitionsprogramme aufgelegt (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- werden. Ich sage Ihnen auch, wie. neten der FDP) Wir haben Ihnen gesagt, dass die Hartz-IV-Reformen Es gab große Wanderbewegungen; das ist völlig klar. in Ostdeutschland einen riesigen Kaufkraftverlust mit Wir hören immer nur, dass jedes Jahr 118 Milliarden sich bringen werden. Von der Bundesregierung soll jedes Euro an Transferleistungen von West nach Ost fließen Jahr 1 Milliarde Euro zur Verfügung gestellt werden, um müssen, während der Osten aufgrund seiner eigenen diesen Kaufkraftverlust auszugleichen. Wollen Sie den Steuerkraft gerade einmal 33 Milliarden Euro erwirt- Leuten dieses Geld direkt auszahlen? Ich bin dafür, ein schaftet. Investitionsprogramm aufzulegen. Für die Kosten sol- (Siegfried Scheffler [SPD]: Das ist doch len zu 50 Prozent der Bund und zu 50 Prozent die Kom- Quatsch!) munen aufkommen. Auf diese Weise würde Bewegung in die Gesamtwirtschaft kommen. In Ihrem Vortrag, Herr Nun überlegen Sie doch einmal, wohin nach 1992, als Stolpe, haben mir einfach die Visionen gefehlt. Wir müs- die Sozialpläne in den von der Treuhand verwalteten sen raus aus dem Teufelskreis VEBs in Kraft getreten sind, die gut ausgebildeten, rela- tiv jungen Leute, denen gemäß dem Sozialplan zuerst (Lachen bei der SPD) gekündigt werden musste, und die Älteren, die schlecht von Abwanderung, negativer demographischer Entwick- auf dem Arbeitsmarkt zu vermitteln waren, gegangen lung und Überschuldung unserer Haushalte. sind. Sie haben natürlich eine Alternative gesucht. Sie sind jetzt im Maschinenbaubereich als gute Facharbeiter, Sie haben erklärt, dass die Reform der Gemeindefi- im Elektrobereich als Ingenieure und in der Hotellerie nanzen die Lage der Kommunen verbessern wird und und im Gaststättenwesen tätig. Sie sind in der Bundesre- wieder investiert wird. Bitte schön, probieren Sie es aus. publik geblieben, aber nicht in den neuen Bundeslän- Ich habe einen Vorschlag gemacht. Aber ich bin dage- dern, sondern in den alten. Dort verdienen sie gut und gen, dass durch die Abwanderung eine immer stärkere zahlen ihren Beitrag zur Rentenversicherung und zur Zentralisierung der weichen Standortfaktoren stattfindet, (B) (D) Krankenversicherung und alle anderen Solidarbeiträge. das heißt, Schulen, Krankenhäuser und Kindergärten nur Davon steht kein Wort in Ihrem Bericht. Auch diese noch in Mittel- oder Oberzentren angesiedelt werden. Leistungen sind letztendlich von den Ostdeutschen voll- Wir müssen aufpassen, dass das flache Land nicht an At- bracht worden. traktivität verliert und unsere kleineren Städte und Ge- meinden, wo sich viele Menschen zu Hause fühlen, bei (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- diesem Prozess nicht hinten herunterfallen. Die Men- neten der FDP) schen fühlen sich aber von dieser Bundesregierung ver- Da stimmt der Generationenvertrag noch. Ihre Altvor- lassen. dern sind zu Hause und zahlen einen Solidarbeitrag, da- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- mit sie ihre Rente bekommen. neten der FDP) In Talkshows oder Zeitungsüberschriften zum Thema Alles in allem ist die Situation keineswegs so befrie- deutsche Einheit wird das oft anders dargestellt. Herr digend, wie Sie es vorhin dargestellt haben. Ich halte es Eichel sagt, an unserem Desaster in Deutschland seien für ein Riesenproblem, dass es bezüglich der Wirt- die Kosten der deutschen Einheit schuld; sie hätten zu schaftsförderung ein Wirrwarr an Fördermaßnahmen der hohen Neuverschuldung geführt. Deshalb kämen wir gibt. Auch von der Bundesregierung offerierte Unterstüt- auf keinen grünen Zweig. Ich sage Ihnen: Nicht die Kos- zungsleistungen wie Existenzgründungsprogramme der ten für die deutsche Einheit sind der Grund, sondern die Mittelstandsbank, Förderung von Gründer-Service- Kosten von 40 Jahren real existierender sozialistischer Agenturen oder Gründer-Coaching brachten bis dato Misswirtschaft. Diese Hypothek wollen wir aber tragen. nicht den gewünschten Erfolg. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Unser Ausschuss hat gemeinsam mit der Kreditanstalt neten der FDP – Arnold Vaatz [CDU/CSU]: für Wiederaufbau eine interessante Sitzung durchge- Dahinten sitzen sie!) führt. Das Grundproblem ist, dass die ostdeutschen Un- Herr Stolpe, ich will noch einmal auf Folgendes hin- ternehmen nach wie vor zu wenig Eigenkapital haben. weisen – das mache ich in den Debatten öfter –: Sie Hier müssen die Fördermaßnahmen der Bundesregie- müssen darauf achten, nicht nur die Innovationen von rung ansetzen. Herr Stolpe, die Programme zur Gewäh- Unternehmen in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen- rung von Mezzanin-Krediten mit Haftungsfreistellung Anhalt oder Sachsen hervorzuheben. Sie müssen auch für die Hausbanken müssen endlich Anwendung finden. die existierenden Betriebe im Blick haben. Die Be- Es reicht nicht, wenn dies nur auf dem Papier steht. Die standspflege ist sehr wichtig. Die Auftragslage im Bin- Binnennachfrage ist tot. Die Menschen geben kein Geld 12688 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Werner Kuhn (Zingst) (A) aus, weil sie auf Ihre Reformen warten. Das ist ein struk- wiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist (C) turelles Problem. Keiner weiß, was er in Zukunft für der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. seine Rente oder im Gesundheitsbereich privat leisten muss. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b sowie Zusatzpunkt 4 auf: Die Unternehmen warten auf die Belebung des Bin- 7 a) – Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat nenmarktes. Nur wenn Nachfrage vorhanden ist, können eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- sie Investitionen in Angriff nehmen. Erst dann können derung des Verkehrswegeplanungsbeschleuni- Arbeitsplätze, die dringend notwendig sind, entstehen. gungsgesetzes Hier müssen Aktivitäten entwickelt werden. In den neuen Bundesländern fehlen 3 000 kleine und mittel- – Drucksache 15/777 – ständische Unternehmen. Wir haben 1,6 Millionen Ar- beitslose und 48 000 offene Stellen. Was Hartz IV zu (Erste Beratung 46. Sitzung) leisten hat, ist schon enorm. Da muss eine Unterstützung – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- erfolgen. neten Arnold Vaatz, Dirk Fischer (Hamburg), Herr Minister, mich würde schon interessieren, wel- Eduard Oswald, weiteren Abgeordneten und der che Zielvorstellung die Bundesregierung für das Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs Jahr 2010 hat. Im Bericht zum Stand der deutschen Ein- eines Gesetzes zur Änderung des heit finde ich keine. Wie viele Arbeitsplätze werden wir Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgeset- im Jahr 2010 haben? Wie hoch wird unser Bruttoin- zes landsprodukt sein? Wie hoch werden die Wertschöpfung – Drucksache 15/461 – und die Kaufkraft sein? All diese Angaben fehlen. In der gegenwärtig schwierigen wirtschaftlichen Situation ap- (Erste Beratung 28. Sitzung) pelliert der Bundeskanzler an den Patriotismus seiner – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- Landsleute. Die deutschen Konzerne sollen am Standort neten Horst Friedrich (Bayreuth), Joachim Deutschland produzieren und Arbeitsplätze nicht in Bil- Günther (Plauen), Daniel Bahr (Münster), weite- liglohnländer verlagern. Die Menschen in Ost und West ren Abgeordneten und der Fraktion der FDP ein- sollen enger zusammenrücken und die nationale Auf- gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur gabe der Reformen schultern. Änderung des Verkehrswegeplanungsbe- schleunigungsgesetzes Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: – Drucksache 15/221 – (B) Herr Kollege, ich unterbreche ungern Ihre tempera- (D) mentvolle Rede, aber Ihre Redezeit ist bereits überschrit- (Erste Beratung 28. Sitzung) ten. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Werner Kuhn (Zingst) (CDU/CSU): (14. Ausschuss) Ich halte das nicht nur für völlig verfehlt, unangemes- – Drucksache 15/3843 – sen und untragbar, sondern für ein geniales Ablenkungs- manöver. Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Peter Danckert Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Werner Kuhn (Zingst) Herr Kollege, ich erinnere Sie noch einmal, auch b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- wenn Sie ignorant sind: Ihre Redezeit ist zu Ende. richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (14. Ausschuss) zu der Unter- Werner Kuhn (Zingst) (CDU/CSU): richtung durch die Bundesregierung Frau Präsidentin, ich bin sofort am Ende. – Das ist nur Erfahrungsbericht der Bundesregierung zum hilfloser Aktivismus, ohne eine Vision für ganz Deutsch- Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz land und unsere Zukunft. – Drucksachen 15/2311, 15/2630 Nr. 1.4, Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. 15/3843 – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Peter Danckert Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Werner Kuhn (Zingst) Ich schließe die Aussprache. ZP 4 Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf brachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes Drucksache 15/3796 an die in der Tagesordnung aufge- zur Änderung des Verkehrswegeplanungsbe- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschließungs- schleunigungsgesetzes antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 15/4163 soll an dieselben Ausschüsse über- – Drucksache 15/4133 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12689

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Auschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Das ist auch der wesentliche Grund dafür, dass jetzt (C) Rechtsausschuss über die anstehende dritte Verlängerung des Gesetzes Auschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Auschuss für Tourismus diskutiert wird. Natürlich steht außer Frage, dass ein verkürzter Zu dem Erfahrungsbericht der Bundesregierung liegt Rechtsweg beschleunigende Wirkung haben kann, näm- ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor. lich dann, wenn es zu Anfechtungsklagen kommt. (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Sie bestäti- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gen im Bericht selbst, dass er es hat!) Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Der Erfahrungsbericht der Bundesregierung zum Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz hat aller- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Parla- dings deutlich gemacht, dass die Vorhabenträger mit den mentarische Staatssekretärin Iris Gleicke. Einwendungen der betroffenen Bürgerinnen und Bürger in der Regel sehr sorgfältig umgegangen sind, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ Iris Gleicke, Parl. Staatssekretärin beim Bundesmi- DIE GRÜNEN]: So ist es!) nister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen: sodass es im Berichtszeitraum kaum zu Verfahren kam, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! die durch Urteil beendet werden mussten. Meine Damen und Herren! Auf der Tagesordnung stehen Ich will auch noch einmal an den eigentlichen Grund heute eine ganze Reihe von alten Gesetzentwürfen und für die seinerzeitige Einführung dieser Regelung erin- ein neuer Entwurf der Koalitionsfraktionen, die sich alle nern. Die neuen Bundesländer verfügten damals nicht mit der Verlängerung der Geltungsdauer des Verkehrs- über funktionierende Oberverwaltungsgerichte. Daher wegeplanungsbeschleunigungsgesetzes befassen. Sie rei- war es konsequent, das Bundesverwaltungsgericht aus- chen von einer Verlängerung um ein Jahr – das ist der nahmsweise auch als Tatsacheninstanz zu bestimmen. Vorschlag der Koalitionsfraktionen – bis zu einer Verlän- Sie werden ja wohl mit mir konform gehen, dass eine gerung bis zum Jahr 2010 bzw. 2019, zum Teil auch ver- bunden mit der Forderung nach einer Übertragung auf das nicht funktionierende Gerichtsbarkeit heute überhaupt gesamte Bundesgebiet. Das ist ein Zeichen dafür, dass wir nicht mehr in Rede steht. Es hat sich einiges verändert. alle in diesem Haus dieses Thema sehr ernst nehmen. Daher kann ich die Forderung nach einer Verlänge- rung bis zum Jahr 2010 oder gar bis zum Jahr 2019 nicht (B) (Zuruf von der CDU/CSU: Das bringt Pla- wirklich ernst nehmen. (D) nungssicherheit!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Ich will die Historie dieses Gesetzes hier nicht im BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Einzelnen darstellen, aber doch einige Aspekte betonen. Mit dem Gesetz ist nach der Wiedervereinigung eine Das hieße nämlich in der Tat, die enormen Fortschritte ganz wesentliche Entscheidung für den zügigen Aufbau und Entwicklungen in den neuen Bundesländern zu ne- einer leistungsfähigen Verkehrsinfrastruktur in den gieren, die es dank des Gesetzes beim Aufbau der Infra- neuen Bundesländern getroffen worden. Mit strengen struktur, aber eben auch beim Aufbau der öffentlichen Fristen für Behörden, vereinfachten Verfahren der Ent- Verwaltung gegeben hat. eignung bei ungeklärten Eigentumsverhältnissen und der Liebe Kolleginnen und Kollegen, Verständnis habe Beschränkung der gerichtlichen Überprüfung von Plan- ich allerdings für den Wunsch der neuen Länder nach ei- feststellungsbeschlüssen auf eine Instanz, nämlich das nem pragmatischen Übergang vom Verkehrswegepla- Bundesverwaltungsgericht, wurden die Voraussetzungen nungsbeschleunigungsgesetz zum bereits im gesamten für zügige Planungsverfahren geschaffen. Bundesgebiet geltenden Planungsrecht. Deshalb haben Es war konsequent, diese positiven Erfahrungen mit wir uns zu einer nochmaligen Verlängerung des Gesetzes dem Gesetz auch für die alten Bundesländer nutzbar zu um ein Jahr entschlossen. Ich will diese Entscheidung machen. Mit dem Planungsvereinfachungsgesetz von und insbesondere auch die Frist von einem Jahr begrün- 1993 wurden nahezu alle wesentlichen Inhalte des den: Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes in bun- Erstens. Planungsverfahren, für die der Antrag auf desweit geltendes Planungsrecht aufgenommen. Daher Linienbestimmung noch innerhalb der Gültigkeit des geht übrigens die Forderung nach einer Übertragung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes gestellt Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes auf das wird, werden auch nach dem Gesetz zu Ende geführt. gesamte Bundesgebiet an den Tatsachen weit vorbei. Das wissen Sie. Es macht aber keinen Sinn, dass für (Beifall bei Abgeordneten der SPD) wichtige Projekte, für die dieser Antrag in Kürze ansteht, jetzt übereilt Unterlagen eingereicht werden, um die Zu den wenigen nur für die neuen Bundesländer noch Frist zu wahren, die Unterlagen dann aber unvollständig geltenden Sonderregelungen gehört insbesondere die oder unzureichend sind. Damit ist nichts gewonnen, das Beschränkung des Rechtsweges für Anfechtungsklagen können wir also auch nicht wollen. Hier wollen wir noch gegen Planfeststellungsbeschlüsse oder Plangenehmi- einmal die Gelegenheit zu sorgfältiger Planungsvorbe- gungen auf das Bundesverwaltungsgericht. reitung geben. 12690 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Parl. Staatssekretärin Iris Gleicke (A) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des zes arbeitet. Es ist aber nichts geschehen. Das Verkehrs- (C) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wegeplanungsbeschleunigungsgesetz würde nach der gegenwärtigen Rechtslage in etwas mehr als sieben Wo- Zweitens. Die Bundesregierung beabsichtigt, für ganz chen auslaufen. Es besteht aber weiterhin ein besonderer Deutschland weitere Maßnahmen zur Planungsverein- Nachholbedarf der neuen Länder am Ausbau der Ver- fachung bei allen Verkehrsträgern zu ergreifen. Diese kehrsinfrastruktur. Die Anforderungen an das Verkehrs- Maßnahmen werden natürlich nicht mehr bis zum Aus- system nach der deutschen Wiedervereinigung und der laufen des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgeset- EU-Osterweiterung sind noch nicht erfüllt. Wie auch in zes greifen, sondern können erst im Jahr 2005 in Kraft Ihrem Bericht aufgeführt ist, sind Beschleunigungsef- treten. fekte um ein bis eineinhalb Jahre durch die Verkürzung Eine erneute Verlängerung des Verkehrswegepla- gerichtlicher Verfahren bei erst- und letztinstanzlicher nungsbeschleunigungsgesetzes ermöglicht also den glei- Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts nach wie tenden Übergang in ein für ganz Deutschland verbesser- vor gegeben. Angesichts der gestiegenen Transitfunktion tes Planungsrecht. Eine Verlängerung bis zum Deutschlands halte ich es sogar für klug, Lehren aus die- 31. Dezember 2005 halten wir deshalb für angemessen ser Strukturveränderung zu ziehen und bei großen Ver- und ich bitte Sie ganz herzlich, dem Gesetzentwurf der kehrsprojekten über eininstanzliche Gerichtsverfahren in Koalitionsfraktionen zuzustimmen. ganz Deutschland nachzudenken. Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Begonnene Planungen in den neuen Bundesländern DIE GRÜNEN) können zwar nach dem Verkehrswegeplanbeschleuni- gungsgesetz zu Ende geführt werden, viele wichtige Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Großvorhaben der Verkehrsplanung können aber zu- Das Wort hat der Kollege Dirk Fischer, CDU/CSU- künftig nicht mehr davon profitieren. Anträge auf Li- Fraktion. nienbestimmung für überregionale Verkehrsverbindun- gen, die erst mit dem In-Kraft-Treten des neuen (Beifall bei der CDU/CSU) Bedarfsplans zum Fernstraßenausbaugesetz am 16. Ok- tober 2004 in den vordringlichen Bedarf aufgenommen Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): wurden, können aufgrund des planungstechnischen Vor- Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- laufs nicht mehr rechtzeitig gestellt werden. Es reicht gen! nicht aus, einen Brief zu schreiben, in dem die Linienbe- stimmung beantragt wird; es müssen die notwendigen (B) Wir haben in den letzten Jahren in Ostdeutschland (D) Planungsunterlagen beigefügt sein. gute Erfahrungen mit dem Verkehrswegeplanungs- beschleunigungsgesetz gemacht. Ein langer Name Viele wichtige Infrastrukturvorhaben sind wegen für kurze Planungszeiten! Wir haben uns vorge- der unzureichenden Infrastrukturfinanzierung sogar nur nommen, dass Bauen schneller und einfacher wer- im weiteren Bedarf vorgesehen, sodass die Planungen den soll. Ich kann mir gut vorstellen, dass wir die- nicht vor 2015 aufgenommen werden können. Investitio- ses Gesetz angesichts der Erfahrung, dass es keine nen sind für die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Minderung an Demokratie gab, nicht 2004 enden neuen Bundesländer als Wirtschaftsstandorte von he- lassen, sondern dass wir gemeinsam Möglichkeiten rausragender Bedeutung. Es besteht also dringender für dessen Fortbestand erarbeiten. Lassen Sie mich Handlungsbedarf. etwas ketzerisch in den Raum stellen: Warum sol- CDU und CSU haben den Ernst der Lage frühzeitig len gute Erfahrungen, die wir im Osten gemacht ha- erkannt. Unsere Vorschläge liegen bereits seit über an- ben, nicht auch für das ganze Land interessant sein? derthalb Jahren vor. Ich meine mich zu erinnern, Kollege (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Horst Friedrich, dass die der FDP sogar noch länger vor- Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]) liegen. So könnte ich meine Rede heute beginnen, aber ich (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Ja!) muss Sie enttäuschen: Ich habe nur unseren Bundesver- Nach den Ausführungen Stolpes und den von uns ge- kehrsminister Dr. Stolpe zitiert, dessen Anwesenheit in lieferten Entwürfen stellt sich die Frage, warum es bis dieser wichtigen verkehrspolitischen Debatte wir eigent- heute keinen Gesetzentwurf der Bundesregierung zur lich erwartet haben. Er hat uns aber keinen plausiblen Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsver- Grund mitgeteilt, warum er diese Sitzung des Bundesta- fahren in ganz Deutschland gibt. Wo bleibt die Initiative ges verlassen musste. aus dem Hause Stolpe, die das Außer-Kraft-Treten des (Zuruf von der SPD: Das ist unanständig!) Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes verhin- dert bzw. kompensiert? Die Vertreterin der Bundesregie- Ich kritisiere das für die Opposition ausdrücklich. rung hat sich so geäußert, als hätte die Bundesregierung etwas vorgelegt. Von der Bundesregierung ist aber nichts Herr Stolpe hat die zitierten Äußerungen in der Haus- vorgelegt worden. Es gibt etwas vonseiten der Fraktio- haltsdebatte am 5. Dezember 2002 vorgetragen. So wie nen, aber nicht von der Bundesregierung. er sich im Parlament geäußert hat, hätte ich eigentlich er- wartet, dass er seit 2002 an dem Fortbestand des Geset- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12691

Dirk Fischer (Hamburg) (A) Wann folgen den auf der Verkehrsministerkonferenz Geltungsdauer für die neuen Bundesländer – wie der (C) am 12. und 13. Oktober 2004 in Bad Neuenahr-Ahrwei- Bundesrat und die Bundesländer das fordern – wenigs- ler geäußerten Worten Taten? Ich zitiere: tens bis zum Wirksamwerden eines bundeseinheitlichen Gesetzes vorsieht. Eine solche Gesetzesinitiative zur Be- Minister Stolpe hat für die nahe Zukunft ein Gesetz schleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfah- angekündigt, das die Beschleunigung von Planungs- ren ist von der Bundesregierung unverzüglich zu erarbei- und Genehmigungsverfahren unter Berücksichtigung ten. Auch dies gehört zum Fitnessprogramm für den der Ergebnisse des Länderfachausschusses „Straßen- Standort Deutschland. Nur so können wir unsere Aufga- baurecht“ vom August 2003 bundesweit vorsieht. ben im Herzen Europas erfüllen. Daraufhin haben die Verkehrsminister der Länder fast (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- einstimmig einen Entschließungsantrag angenommen und Minister Stolpe aufgefordert, die Geltungsdauer des neten der FDP) Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes bis zum Abschließend: Noch ist es nicht so weit – das hätte In-Kraft-Treten des von ihm angekündigten Gesetzes zu ich dem anwesenden Minister gerne zugerufen –, dass verlängern. Wir haben dies in unserem vorliegenden wir ihn, salopp gesagt, in Ruhe lassen können, was er Entschließungsantrag textgleich gefordert. Es wird sich sich – nach seinen Äußerungen in einem Interview in der zeigen, welche Werthaltigkeit solche Ankündigungen „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ vom haben oder ob sie nur Schall und Rauch sind. 31. Oktober 2004 – am allermeisten wünscht. Wir müs- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. sen vielmehr verlangen, dass alle Möglichkeiten ergeb- Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]) nisoffen geprüft werden, auch eine Ausdehnung der erst- und letztinstanzlichen Zuständigkeit des Bundesverwal- Das Problembewusstsein ist bei Stolpe seit Ende 2002 tungsgerichts auf die alten Bundesländer, was für diese – ich habe ihn zitiert – vorhanden. Auch positive Erfah- neu wäre. Um im Gegensatz die Werthaltigkeit Ihrer rungen hat er als Ministerpräsident über viele Jahre heutigen Ankündigungen zu überprüfen, bleibt dem Ple- gewonnen. Warum verzögern Sie unabdingbare Infra- num des Deutschen Bundestages nur die Möglichkeit, strukturvorhaben und damit die Angleichung der dem Gesetzentwurf und dem Entschließungsantrag von Lebensverhältnisse in Ostdeutschland an die in West- CDU und CSU zuzustimmen. deutschland? Warum dulden Sie zusätzlichen Verwal- tungsaufwand und höhere Kosten? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Auch der mit heißer Nadel gestrickte Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen bringt die neuen Bundesländer Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (B) nicht weiter. Herr Kollege Fischer, mir wurde soeben mitgeteilt, (D) dass der Minister zu einer Sitzung des Haushaltsaus- (Dr. Peter Danckert [SPD]: Mit heißer Nadel?) schusses musste. Herr Kollege Dr. Danckert, während der Beratungen im (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Ich Verkehrsausschuss hielten SPD und Grüne die Verlänge- finde das Plenum wichtiger als den Haushalts- rung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgeset- ausschuss, mit Verlaub!) zes für unnötig. Ich frage mich deshalb, warum Sie jetzt eine Verlängerung von einem Jahr vorsehen. Die Bun- Nächster Redner ist der Kollege Albert Schmidt, desregierung sollte doch – so stand das einmal in Ihrem Bündnis 90/Die Grünen. Entschließungsantrag – „Vorschläge für eine gesetzgebe- rische Umsetzung“ vorlegen. Da aber nichts Belastbares Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE herausgekommen ist, blieb Ihnen vorgestern nur noch GRÜNEN): Zeit für ein Plagiat, das aber leider schlecht ist. Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Kollegen! Herr Fischer, Ihre Aufregung über die Wert- schätzung, die der Bundesverkehrsminister in der letzten Es handelt sich um eine fehlerhafte Kopie, in der die Phase der entscheidenden Haushaltssitzung den Haus- Formulierung „bis 2019“, also eine Verlängerung bis hältern sowie dem Bundeshaushalt und insbesondere zum Auslaufen des Solidarpaktes II, wie von Bundesrat dem Verkehrshaushalt entgegenbringt, können Sie sich und der CDU/CSU-Bundestagsfraktion beantragt, in schenken, genauso wie Ihre künstliche Aufregung über „bis 2005“ umgefälscht wurde. In einem Ihrer anderen das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz. Ich Entwürfe war noch von 2006 die Rede. Sie haben also werde Ihnen erklären, warum. den Zeitraum für die Verlängerung noch einmal um ein Jahr verkürzt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dirk Fischer [Hamburg] (Dr. Peter Danckert [SPD]: Wir sind flexibel, [CDU/CSU]: Dann muss der Haushaltsaus- Herr Fischer!) schuss eine Dreiviertelstunde warten!) Eine Verlängerung bis zum 31. Dezember 2005 reicht – Da Herr Fischer sich nicht abregt, warte ich noch ein nicht aus; denn kaum ist dieses „Magerprogramm“ be- bisschen, bis ich meine Rede fortsetze. schlossen, herrscht schon wieder Zeitdruck. So können die neuen Bundesländer nicht sinnvoll planen. Wir brau- (Renate Blank [CDU/CSU]: Wir sind nicht in chen unverzüglich ein Gesetz, das eine Verlängerung der der Schule, Herr Kollege Schmidt!) 12692 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Albert Schmidt (Ingolstadt) (A) Wir debattieren, und zwar in aller Ruhe und ohne Weiterhin wird in diesem Bericht daran erinnert – das (C) Schaum vor dem Mund, heute über ein Gesetz, dessen hat die Staatssekretärin zu Recht ausgeführt –, dass der Name wie die Rede des Kollegen Fischer im Grunde Grund für die Beschränkung auf die eine Instanz im eine Suggestion ausdrückt: das Verkehrswegeplanungs- Bundesverwaltungsgericht zum Zeitpunkt der Verab- beschleunigungsgesetz. Lassen Sie uns einen Moment schiedung des Gesetzes 1991 darin bestand, dass sich die darüber nachdenken, was dieses Gesetz eigentlich noch Verwaltungsgerichtsbarkeit im Osten Deutschlands beschleunigt. In Wahrheit geht es – das hat die Frau noch im Aufbau befand. Dieser Grund sei – so steht es Staatssekretärin völlig richtig ausgeführt – allein um die ebenfalls im Bericht – heute entfallen. Genau so ist es. Verkürzung des Instanzenweges für beklagte Verkehrs- Dort gibt es heute eine flächendeckende Oberverwal- planungen auf die erste und letzte Instanz Bundesver- tungsgerichtsbarkeit. waltungsgericht; denn alle anderen Beschleunigungs- maßnahmen, die dieses Gesetz vorsieht, sind schon 1993 Auch im Eckpunktepapier des Bundesverkehrsminis- umgesetzt – das müssten Sie doch eigentlich wissen; da- teriums „Bauen einfacher machen“ vom 7. Oktober 2004 mit hatten Sie doch etwas zu tun – und in das allgemeine heißt es, dass die wahren Verzögerungen andere Gründe Planungsrecht, das für das ganze Land gilt, übernommen haben, zum Beispiel die verspätete Anmeldung von worden. Das kann man also gar nicht mehr anders in FFH-Gebieten, also von Schutzgebieten nach der Kraft setzen. Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie, durch die Länder. Bei diesen Verspätungen ist übrigens Bayern Spitzenreiter. (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Ihr In diesem Eckpunktepapier heißt es wörtlich: habt das damals abgelehnt!) Die noch verbliebenen Regelungen des Verkehrs- Herr Kollege Fischer, durch dieses Verkehrswegepla- wegeplanungsbeschleunigungsgesetze werden die- nungsbeschleunigungsgesetz wird keine einzige Planung ser Entwicklung gerade nicht entgegenwirken kön- auch nur um einen einzigen Tag beschleunigt – im Ge- nen. genteil. Wenn die Länder ihren Pflichten der Anmeldung von Jetzt wollen wir einmal darüber reden, was Planungen FFH-Gebieten nicht nachkommen, dann kann nicht zu wirklich verlängert und verzögert. Ende geplant werden. Da helfen auch zehn Beschleuni- (Renate Blank [CDU/CSU]: Die Grünen! Eure gungsgesetze nichts. Verhinderung!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Da fallen mir ganz andere Dinge ein: Das sind nicht nur und bei der SPD) Möglichkeiten, sondern auch Erfahrungen. Zum Beispiel Der Präsident des – nach Ihrem Willen bis 2019 für (B) fällt auf, dass die Mittel nicht auf realistische Projekte ganz Deutschland allein zuständigen – Bundesverwal- (D) konzentriert werden, sondern dass nach dem Gießkan- tungsgerichts in Leipzig, Eckart Hien, zog bei einem nenprinzip – überall ein bisschen – finanziert wird. Expertengespräch der SPD-Bundestagsfraktion zu dem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Thema, das uns heute beschäftigt, folgendes Fazit: Es fällt auch auf, dass die Planungen in den Ländern Die Verlängerung der Zuständigkeit nicht sorgfältig genug durchgeführt werden. Darüber hi- – gemeint ist die Alleinzuständigkeit – naus fällt auf, dass Verkehrsinvestitionen gekürzt wer- den, weil wieder Geld für die Rente oder für einen allge- des Bundesverwaltungsgerichts nach dem Ver- meinen Sparbeitrag eingesammelt werden muss. Das kehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz ist sach- und nicht das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungs- lich nicht gerechtfertigt und verfassungsrechtlich gesetz sind die wahren Gründe für Verzögerungen. bedenklich. Eine Ausdehnung dieser Zuständigkeit auf das ge- (Renate Blank [CDU/CSU]: Als bayerische samte Bundesgebiet dürfte eindeutig verfassungs- Politiker müssen wir solche Angriffe zurück- rechtlich unzulässig sein; weisen!) sie wäre auch rechtspolitisch verfehlt, weil die Ver- Herr Kollege, es gibt einen Erfahrungsbericht der waltungsgerichtsbarkeit der Länder ohne tragfähi- Bundesregierung vom Dezember 2003, der uns allen gen Grund geschwächt würde und weil in einem so vorliegt. Darin steht wörtlich: wichtigen Rechtsgebiet eine rechtliche Kontrollin- stanz (Rechtsmittelinstanz) sowohl zur Fortent- Die von den einzelnen Vorhabenträgern übermittel- wicklung des Rechts als auch zur Gewährung eines ten Daten zu den Planfeststellungs- und Plangeneh- ausreichenden Rechtsschutzes notwendig erscheint. migungsverfahren zeigen für den Berichtszeitraum 1. Januar 2000 – 31. Juli 2003 durchschnittliche Damit ist klar: Verfassungs- und verwaltungsrechtlich ist Verfahrensdauern. … Die Daten lassen nach Aussa- das alles hochproblematisch. gen der Vorhabenträger keine Unterschiede zu Ver- Uns liegen verschiedene Anträge zur Verlängerung fahren erkennen, bei denen die Regelungen des der Gültigkeitsdauer dieses Gesetzes vor. Die FDP will Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes nicht die Gültigkeitsdauer bis 2010 verlängern und die Union zur Anwendung kamen. sogar – nach dem Motto „Wer bietet mehr?“ – bis 2019. Das heißt, in den letzten drei Jahren gab es in Bezug auf Die Union möchte, dass es bis 2019 ein Sonderrechtsge- die Planungsdauer keine signifikanten Unterschiede. biet Ost und damit ein zwischen West und Ost gespalte- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12693

Albert Schmidt (Ingolstadt) (A) nes Recht gibt. Das ist die Rechtsauffassung der Retter dieses Gesetzes uns Ideologie vorwirft, ist schon er- (C) des Nationalfeiertages. staunlich. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten und bei der SPD) der CDU/CSU) Dazu kann ich nur sagen: Das ist alles Unfug. Wenn am 9. November 2004 ein Gesetzentwurf vor- gelegt wird, der der Zustimmung des Bundesrates bedarf Wir gewährleisten hier – das ist vernünftig –, dass – dazu muss man wissen, dass die letzte Sitzung des kein Dezemberfieber ausbricht und dass vor dem Ablau- Bundesrates in diesem Jahr am 17. Dezember stattfin- fen der Gültigkeitsdauer des Gesetzes schnell noch det –, dann kann das nur wieder ein Gesetzgebungsver- schlampige, also nicht ausreichend sorgfältig ausgear- fahren im Schweinsgalopp werden – mit allen offenen beitete Planungen eingereicht werden, um noch davon Fragen – oder von vornherein das Eingeständnis sein: zu profitieren, dass der Instanzenweg auf das Bundes- Wir haben irgendwo die Notbremse gezogen; wir wuss- verwaltungsgericht beschränkt ist. Das muss verhindert ten uns nicht mehr anders zu helfen. Das zeigt, dass man werden. Deswegen ist die Verlängerung um ein Jahr eben nicht ein geordnetes Gesetzgebungsverfahren zur sinnvoll. Sie ist zielführend, weil damit ein übertriebener Lösung all dieser Fragen auf den Weg bringen möchte. Zeitmangel, aber auch eine übertriebene Verlängerung einer Ausnahmerechtssituation bis auf den Sankt-Nim- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — merleins-Tag vermieden wird. Renate Blank [CDU/CSU]: Die Notbremse gezogen!) Wir brauchen letztlich keine Verkürzung von Rechts- wegen, um Verkehrswege in Deutschland schneller pla- Der Kollege Dirk Fischer hat schon darauf hingewie- nen und bauen zu können. Wir brauchen in erster Linie sen: Unser Vorschlag, Herr Kollege Beckmeyer, ist vom eine verantwortliche Bürgerbeteiligung einschließlich 18. Dezember 2002. Die Kollegen der Union haben im aller Instanzen. Februar 2003 einen Gesetzentwurf vorgelegt, fast gleich lautend mit einem Gesetzentwurf des Bundesrates. Sie Die Erfahrung zeigt – das sagt auch Herr Hien vom haben dagegen bis vorgestern gebraucht, um wenigstens Bundesverwaltungsgericht Leipzig –: In 95 Prozent aller einen Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen vorzule- Fälle, die überhaupt beklagt werden, reicht eine Instanz; gen; wahrscheinlich wollten Sie sich nicht auch noch die nur 5 Prozent gehen überhaupt in die nächste Instanz, Zeit für die Stellungnahme des Bundesrates aufbürden zum Bundesverwaltungsgericht. lassen. Ihr Gesetzentwurf bleibt allerdings die Antworten auf (B) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: die wesentlichen Punkte des Erfahrungsberichts schul- (D) Herr Kollege, auch Sie darf ich an die Redezeit erin- dig. Was muss ich denn daraus entnehmen, wenn es im nern. Einleitungsteil heißt: „Die Bundesregierung beabsich- tigt, für ganz Deutschland weitere Maßnahmen zur Pla- Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE nungsbeschleunigung und -vereinfachung und Verbesse- GRÜNEN): rung des Verfahrensmanagements zu ergreifen“? Wo Ich komme zum letzten Satz. – Von daher ist die Ar- sind denn Ihre konkreten Vorschläge dazu? Seit 2003 beit eines Oberverwaltungsgerichts, das ortsnah ist, das versprechen Sie den Länderverkehrsministern Vor- Ortstermine schnell und mit größerer Sachkenntnis orga- schläge dazu. Nichts davon steht im Gesetzentwurf, nisieren kann, der richtige Weg. Das ist die Erfahrung, nichts. die wir gemacht haben und die auch in verschiedenen (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Berichten niedergelegt ist. Danach haben wir gehandelt. CDU/CSU) Alles andere ist ideologische Schaumschlägerei. Das eigentlich Entscheidende in Ihrem eigenen Erfah- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rungsbericht ist – das widerlegt all Ihre Bedenken vom und bei der SPD) Beginn der Debatte 1991/92 –, dass selbstverständlich sorgfältig damit umgegangen wird, aber jetzt zu erken- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: nen ist, dass durch Umweltvorschriften, überwiegend Das Wort hat der Kollege Horst Friedrich, FDP-Frak- solche der EU, das, was man durch Verfahrensverkür- tion. zungen an Zeitersparnis erreicht hat, mittlerweile aufge- fressen zu werden droht. (Beifall bei der FDP) (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): DIE GRÜNEN]: Das ist ja kein Beschleuni- gungsgesetz! Wollen Sie das EU-Recht ab- Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen schaffen? Oder was?) und Kollegen! Dass nun ausgerechnet die Partei, die beim Gesetzgebungsverfahren zum Verkehrswegepla- Herr Kollege Schmidt, aus dem Punkt 3.2 „Beschrän- nungsbeschleunigungsgesetz mit Schaum vor dem Mund kung des Rechtsweges auf eine Instanz“ in der Zusam- die Bedenken durch das Land getragen hat und von Be- menfassung in der Unterrichtung durch die Bundesregie- schneidung der Bürgerrechte sowie katastrophaler Ver- rung ist die Aussage zu zitieren, dass eine Verkürzung kehrswegeplanung gesprochen hat, bei der Verteidigung des Rechtswegs auf eine Instanz eine Beschleunigung 12694 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Horst Friedrich (Bayreuth) (A) des gerichtlichen Verfahrens um circa ein bis einein- er müsse dann mehrere zusätzliche Senate einrichten, (C) halb Jahre bringen wird. weil sonst die Arbeit gar nicht zu bewältigen wäre? (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Es ist DIE GRÜNEN]: Des gerichtlichen Verfahrens, doch nicht jede Dorfstraße gemeint! – Ute wenn es überhaupt eines gibt! In 95 Prozent Kumpf [SPD]: So sind sie halt, die FDPler!) der Fälle gibt es keines!) Das ist genau die Zeit, um die es geht und um die das Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Verfahrensbeschleunigungsgesetz dem Planungsverein- Herr Kollege Schmidt, offensichtlich machen Sie das, fachungsgesetz immer noch überlegen ist. Über diese was Sie anderen vorwerfen, selbst auch. Sie regen sich Zeit müssen wir reden. nämlich auf, bevor Sie alles gehört haben. Ich habe wört- lich aus dem Erfahrungsbericht der Bundesregierung (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ Punkt 3.2 zitiert: DIE GRÜNEN]: Sie können nicht lesen!) Im Vergleich mit Verfahren, die in den alten Län- – Natürlich. Ich habe es Ihnen gerade vorgelesen. Oder dern geführt werden, dürfte die Verkürzung des leugnen Sie, dass das in dem Erfahrungsbericht steht? Rechtsweges auf eine Instanz (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Aber wo keine Planung statt- DIE GRÜNEN]: Dürfte!) findet, kann sie nicht beschleunigt werden!) eine Beschleunigung des gerichtlichen Verfahrens – Aber hundertprozentig steht das darin. um ca. 1 bis 1½ Jahre bringen. Im Übrigen steht darin – auch das widerlegt Ihre Aus- (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ sagen zu Beginn des Gesetzgebungsverfahrens –, dass DIE GRÜNEN]: Des gerichtlichen Verfahrens, man ordentlich damit umgeht. Sie bestätigen selbst, dass nicht des Planungsprozesses!) 95 Prozent der Fälle nicht zum Gericht gehen. Warum – Er hört noch nicht einmal zu, wenn man antwortet. wehrt man sich dann dagegen, dass die Regelung mit Warum sollte ich Ihnen überhaupt noch antworten, Herr dem einen Instanzenzug auf das ganze Bundesgebiet Kollege Schmidt, wenn Sie sowieso alles besser wissen? ausgedehnt wird? (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil das unpraktikabel ist!) Ich habe in all meinen Begründungen zu unseren Ge- (B) setzentwürfen gesagt, dass ich es in Kauf nehmen würde, (D) Unser Gesetzentwurf vom 2. Dezember 2002 sieht wenn das dazu führte, dass ein zweiter Senat beim Bun- vor, Herr Kollege Schmidt, dass die Geltungsdauer nicht desverwaltungsgericht etabliert werden müsste. Dafür einfach bis 2010 verlängert wird, sondern dass die Rege- fielen bei sämtlichen Oberverwaltungsgerichten die Ver- lung auch auf beide Teile Deutschlands ausgedehnt wird kehrssenate weg. und dann untersucht wird, ob das verfassungsrechtlich, planungsrechtlich und von der Abwicklung der Verfah- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ren her funktioniert. Genau das steht in unserem Ent- Wo gäbe es da eine Mehrung von Bürokratie – um auch wurf. Damit haben Sie sich bisher offenbar nicht befasst. den anderen Zwischenruf noch zu beantworten? Man kann sich gerne darüber streiten, ob es Sinn macht. Nur (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) wenn von den planfeststellenden Behörden mit den Rechten der Bürger bei diesen Fragen so verantwor- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: tungsbewusst, wie es die Bundesregierung in ihrem eige- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des nen Erfahrungsbericht dokumentiert hat, umgegangen Kollegen Schmidt? wird, dann sollte man meiner Meinung nach die Chance nutzen und in einem Versuch bis 2010 testen, ob eine Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): solche Verkürzung des Instanzenweges funktioniert. Da- für könnte man auch die Einrichtung eines zweiten Sena- Natürlich, immer. tes beim Bundesverwaltungsgericht in Kauf nehmen. Darüber können wir uns gerne streiten; dazu mögen un- Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE terschiedliche Auffassungen bestehen. GRÜNEN): (Beifall bei der FDP und der CDU/ Herr Kollege Friedrich, wollen Sie hier allen Ernstes CSU – Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜND- vorschlagen, dass ein einziges Gericht, nämlich das NIS 90/DIE GRÜNEN]: Allerdings!) Bundesverwaltungsgericht in Leipzig, in diesen Fra- gen die Verwaltungsgerichtsbarkeit für das gesamte Das Problem, vor dem ich stehe, ist, dass Sie offen- Bundesgebiet übernehmen soll, dass es also die Allein- sichtlich die Situation nicht ernst nehmen. Ich fürchte, zuständigkeit eines einzigen Gerichts für sämtliche Ver- dass Sie über den Umweg des EU-Umweltrechtes ver- fahren in der ganzen Republik geben soll? Ist Ihnen be- suchen werden, die Vereinfachungen, die wir mit dem wusst, dass gerade dazu der Präsident des von Ihnen Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz im Pla- beglückten Bundesverwaltungsgerichtes ausgeführt hat, nungsrecht umgesetzt haben, rückgängig zu machen, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12695

Horst Friedrich (Bayreuth) (A) (Renate Blank [CDU/CSU]: Richtig! – Jürgen Dieses Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz (C) Türk [FDP]: Richtige Vermutung!) wurde 1991 unter Ihrer Regierung beschlossen. nämlich zügigere Verkehrsplanungen zum Wohle aller. (Renate Blank [CDU/CSU]: Richtig! – Horst Es muss doch zu denken geben, Herr Kollege Schmidt, Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Gott sei Dank!) dass Sie hier gerade Bayern als Beispiel zitiert haben. Wissen Sie, mit welcher Geltungsdauer? Bis 1995, also Sie sollten doch eigentlich wissen, dass das Verkehrswe- für vier Jahre. Diese Zeit hatten Sie sozusagen im Blick. geplanungsbeschleunigungsgesetz in Bayern, abgese- Sie waren der Meinung, dass dieses Gesetz nur vier hen von drei Ausnahmen, nicht gilt. Bei den drei Aus- Jahre gelten sollte. nahmen handelt es sich um die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ A 9, A 71 und A 73. Sie sind im We- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wir haben sentlichen bereits abgeschlossen. Was soll also der ent- es aber rechtzeitig verlängert!) sprechende Vorhalt hier? Warum vergießen Sie darüber Heute bringen Sie einen Gesetzentwurf ein, der die Gel- Krokodilstränen? Wer auf andere zeigt, sollte sich zu- tungsdauer bis zum Jahre 2019 ausdehnt. Wie kann man nächst einmal überlegen, welche Gesetzgebungsarbeit er mit dem Finger auf andere zeigen, wenn man selbst ein selber zu leisten hat. so widersprüchliches Verhalten an den Tag legt? Ich bleibe dabei: Ich freue mich, dass mittlerweile (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ auch die Kollegen von der Union bereit sind, darüber DIE GRÜNEN) nachzudenken, Die Geltungsdauer des Gesetzes ist dann 1995 – das (Lachen bei der SPD – Zuruf von der CDU/ sage ich, damit wir die historische Wahrheit nicht ver- CSU: Wir sind Vordenker! – Albert Schmidt drängen; ich habe ja Verständnis dafür, dass man das [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: will, aber das sollte man nicht tun – bis 1999 verlängert Jetzt ist der Schlussapplaus verdorben!) worden. die Rechtssituation mit dem Bundesverwaltungsgericht (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ auf die alten Länder auszudehnen. DIE GRÜNEN]: Wieder nur für vier Jahre! Warum nur für vier Jahre?) (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Die Zwangsbeglückung des Daran haben Sie auch mitgewirkt. Nach meiner Erinne- Bundesverwaltungsgerichts!) rung waren Sie damals an der Regierung. Dann hat sich herausgestellt, dass weiterer Bedarf bestand. Deshalb ha- Ich stimme Ihnen zu, dass wir kein zweigeteiltes Pla- ben wir das 1999 zunächst einmal bis zum 31. Dezember (B) (D) nungsrecht in Deutschland bis zum Jahr 2019 benötigen. 2004 verlängert. Das ist die Situation. Da sind wir uns völlig einig. Zwischenzeitlich haben viele Erfahrungen aus diesen (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ planungsrechtlichen Vorgängen dazu geführt, dass man DIE GRÜNEN]: Den Blödsinn auf ganz ein Planungsvereinfachungsgesetz erarbeitet hat. Daran Deutschland ausdehnen!) haben auch Sie mitgewirkt; Sie haben ja gerade dem Ich bin allerdings ebenso der Meinung, dass eine Verlän- Kollegen Schmidt vorgeworfen, dass er damals vehe- gerung der geltenden Regelung bis zum Jahre 2005 das ment dagegen gestimmt hat. Problem in keiner Weise löst. (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Da war ich noch gar nicht im (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Bundestag! Ich bin erst 1994 Mitglied des Ho- hen Hauses geworden!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Aus meiner heutigen Sicht – ich war damals nicht im Das Wort hat der Kollege Peter Danckert, SPD-Frak- Parlament – war es sicherlich eine sinnvolle Maßnahme, tion. dieses Gesetz zu verabschieden. Planungsvereinfa- chung ist doch das Gebot der Stunde. Wir wollen unsere Dr. Peter Danckert (SPD): Bürgerinnen und Bürger an den Planungen beteiligen. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das heißt ja nicht, dass Planungszeiträume von 20 bis Die Aufregung, die hier vonseiten der CDU/CSU und 30 Jahren angemessen sind; das kann wirklich nicht die auch von Herrn Friedrich von der FDP verbreitet wurde, Lösung sein. verstehe ich ehrlich gesagt nicht. (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das ist (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Ich war aber die Realität!) nicht aufgeregt! Das war der Kollege Von daher war es die richtige Entscheidung, das Pla- Schmidt!) nungsvereinfachungsgesetz zu erarbeiten und das Angesichts der Geschichte dieses Gesetzes mit dem Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz zu verlän- monströsen Namen hat wohl keiner hier im Raum gern. Wir haben die Fristen verkürzt und die Behörden Grund, mit dem Finger auf den anderen zu zeigen. haben effektiver zusammengearbeitet. Dadurch hat sich wirklich eine Straffung ergeben, die insbesondere in den (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Natürlich!) neuen Ländern viel bewirkt hat, weil gerade dort sehr 12696 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Dr. Peter Danckert (A) viele Maßnahmen im Straßenbau, im Wasserstraßenbau (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (C) und im Schienenbau erforderlich waren. Was haben uns die neuen Länder empfohlen? Wir haben Ein weiterer Grund für die damalige Entscheidung an dieser Stelle nachgefragt. Dabei hat sich herausge- war, dass die Oberverwaltungsgerichte noch nicht einge- stellt, dass sehr viele Projekte unter dem Gesichtspunkt richtet waren. Wie ich glaube – vielleicht bin ich da mit der Linienführung noch nicht so weit sind, dass sie unter unserem grünen Koalitionspartner nicht unbedingt einer dem jetzt geltenden Verkehrswegeplanungsbeschleuni- Meinung –, war es eine weise Entscheidung, die gericht- gungsgesetz abgewickelt werden können. Viele wichtige liche Überprüfung auf eine Instanz zu beschränken. Da- Projekte in den neuen Ländern, die eine wirtschaftliche mit ist der Rechtsstaatsgarantie Genüge getan worden. Entwicklung in den neuen Ländern in Gang setzen Das hat in der Tat zu einheitlichen Entscheidungen ge- würden, wenn sie umgesetzt werden könnten, ließen führt. Auch das muss man einmal sehen. Wenn wir das sich nach jetzigem Rechtszustand, der ein Auslaufen wieder ändern – das scheint ja in der Debatte zu sein – des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes und die Oberverwaltungsgerichte erstinstanzlich ent- zum 31. Dezember dieses Jahres vorsieht, nicht realisie- scheiden lassen, dann muss als weitere Stufe das ren. Bundesverwaltungsgericht die Vereinheitlichung der Rechtsprechung wiederherstellen. Das ist ein kompli- Die Fülle der Projekte, die wir uns sehr genau angese- zierter Vorgang. Deshalb spricht, glaube ich, viel dafür, hen haben, hat uns dazu gebracht, unseren geschätzten es bei einer Entscheidungsinstanz zu belassen. Ich weiß Koalitionspartner, der nicht allzu große Bereitschaft ge- nicht, ob nun beim Bundesverwaltungsgericht ein weite- zeigt hat – wenn ich das einmal so vornehm sagen rer Senat eingerichtet werden muss oder nicht. darf –, (Beifall bei der FDP) (Peter Hettlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ja!) Die Tatsache, dass es nur eine Instanz gab, hat in den letzten 15 Jahren dazu geführt, dass wir in diesen Fra- zu überzeugen und mit ihm einen Kompromiss zu fin- gen, die insbesondere die neuen Länder betreffen, eine den. Ich finde das gar nicht besonders problematisch. Zu einheitliche, zügige Rechtsprechung hatten. Lieber ge- anderen Zeiten konnten Sie von der CDU/CSU die FDP schätzter Kollege Schmidt, wenn wir die Zeiteinsparung nicht immer überzeugen und umgekehrt. von eineinhalb bis zwei Jahren, die sich durch diese zü- Wir haben hier einen Kompromiss gefunden, der ak- gige Rechtsprechung ergeben hat, verlieren – das wäre zeptabel ist nämlich der Fall, wenn wir den Instanzenzug von Ober- verwaltungsgericht und Bundesverwaltungsgericht wie- (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ (B) derherstellen würden –, dann ist das eine Planungsverzö- DIE GRÜNEN]: Ein Kompromiss ist Aus- (D) gerung, die nicht zu akzeptieren ist und die man druck von Demokratie!) niemandem erklären kann. Es geht dann nur noch um die und der Ausdruck von Demokratie und von einem guten rechtliche Überprüfung. Wenn die Oberverwaltungsge- Verhältnis zueinander ist. Wir haben uns auf den richte uneinheitlich entscheiden, dann haben wir an die- 31. Dezember nächsten Jahres verständigt. Ich hoffe ser Stelle ein Problem. Von daher sollten wir darüber in – das ist meine Bitte an die Bundesregierung –, dass wir aller Ruhe noch einmal miteinander reden. bis dahin ein gesamtdeutsches Planungsvereinfachungs- (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ gesetz realisieren können. Das wird nicht ganz einfach DIE GRÜNEN]: Da ist der Präsident anderer sein. Ich vermute, dass es viele Diskussionspunkte auch Meinung!) aus Ihren Kreisen geben wird und dass wir Anhörungen stattfinden lassen werden. Aber ein einheitliches Pla- Der Gesetzentwurf, den die FDP eingebracht hat, geht nungsrecht ist das eigentliche Ziel, hinter das auch Sie in eine ganz andere Richtung. Er sieht vor, dass das Pla- sich eigentlich stellen könnten. nungsrecht gesamtdeutsch angelegt sein soll. Das ist na- türlich im Augenblick ein zusätzliches Problem, weil wir (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Da sind an dieser Stelle verfassungsrechtliche Gesichtspunkte wir uns einig!) beachten müssen. Wir wissen ja, was der Präsident des – Ein Planungsrecht für Gesamtdeutschland ist auch Ihre Bundesverwaltungsgerichtes – er ist eben schon zitiert Absicht. Insofern müsste es unser gemeinsames Ziel worden – dazu gesagt hat. Er hatte – ich will es einmal sein, so schnell wie möglich ein effektives Planungsver- vorsichtig ausdrücken – ganz erhebliche Bauchschmer- einfachungsgesetz zustande zu bringen. zen, was diesen Vorgang angeht. Nun kann man mit dem Kopf schütteln und das für bedenklich halten; das ist je- (Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Für alle Bau- denfalls die Situation. projekte!) Wenn wir das resümieren, dann stellen wir fest, dass Ursprünglich wollten wir bis 2006 abwarten. Ich bin wir ganz unterschiedliche Denkansätze gehabt haben. ganz froh, dass jetzt auch für das Ministerium ein gewis- Deshalb sollten wir in aller Ruhe prüfen, was eigentlich ser Zeitdruck entsteht. Das kann gar nicht schädlich sein. notwendig ist. Auch wir waren anfangs im Zweifel, ob Ich hoffe, dass Anfang des Jahres ein passabler Gesetz- eine weitere Verlängerung wirklich erforderlich ist. Wir entwurf vorliegt, an dem wir uns dann abarbeiten kön- haben dann auf die neuen Länder gehört, nicht nur auf nen, den wir in den Arbeitsgruppen und in den Aus- das, was die Verkehrsminister gesagt haben. schüssen diskutieren können und den wir dann hier im Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12697

Dr. Peter Danckert (A) Plenum verabschieden können. Ich glaube, das ist der rungen aus den vergangenen Jahren belegen. Ich zitiere (C) richtige Weg. aus dem stenografischen Protokoll vom 7. November 1991 eine SPD-Kollegin: Ich würde es sehr begrüßen, wenn Sie sich der Verlän- gerung um ein Jahr, verbunden mit der Erwartung, dass Zu einem raschen Wirtschaftsaufschwung in den dann ein einheitliches Planungsvereinfachungsgesetz zu- neuen Bundesländern trägt das Gesetz nicht bei. Im stande kommt, anschließen könnten. Das entspricht der Gegenteil, es behindert die eigenständige regionale Intention der Verkehrsminister, die natürlich etwas mehr Entwicklung auf Jahre hinaus. Statt den Bestand der erwartet haben. Aber wenn wir ein für ganz Deutschland Verkehrswege zu sichern, erhält der Verkehrsminis- einheitliches Planungsvereinfachungsgesetz im Fokus ter ein Ermächtigungsgesetz und damit einen Blan- haben, dann müssen wir als Parlament jetzt Druck ma- koscheck auf die verkehrspolitische Zukunft und chen. Das können wir nicht tun, indem wir das Gesetz dieser Blankoscheck ist auch noch ungedeckt. bis 2010, 2015 oder 2019 verlängern. Hier wird nämlich ein Sonderrecht nicht zugunsten, Das ist der richtige Weg. Schließen Sie sich unserem sondern zulasten der Bürger und Bürgerinnen in Vorschlag an! Wir haben ein gemeinsames Ziel. Seien den neuen Bundesländern geschaffen. Weder die wir an dieser Stelle einmal ehrlich: Die Materie ist so technische Qualität der Planungen noch die wirk- neutral, dass sie sich für eine parteipolitische Auseinan- same Umweltvorsorge noch die Rechtssicherheit dersetzung wahrlich nicht eignet. und der Rechtsschutz der Bürger werden gewähr- leistet. (Beifall bei der SPD) So viel zu den Äußerungen von damals und Ihrer ne- Wir wollen im Interesse der Bürger deren Beteiligung gativen Haltung. und im Interesse der Wirtschaft, die sich darauf verlas- sen muss, eine schnelle Änderung. Damit ist uns allen (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE gedient. Das dient der Entwicklung der Verkehrsinfra- GRÜNEN]: Wer war das? Wir raten mit!) struktur in den neuen Ländern und der zügigen Abwick- Angesichts des Erfolges dieses Gesetzes ist das nahezu lung dessen, was wir im neuen Fernstraßenausbaugesetz peinlich, meine Damen und Herren von Rot-Grün. beschlossen haben. Es ist der entscheidende Punkt, dass wir an dieser Stelle zu einem positiven Ergebnis kom- (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ men. DIE GRÜNEN]: Wer war das denn? Wenn das ein Zitat ist, müssen Sie das schon belegen!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Tatsache ist auch, dass der heftigste Widersacher da- (B) Herr Kollege, darf ich Sie an Ihre Zeit erinnern? mals die niedersächsische Landesregierung mit Minis- (D) terpräsident Schröder und Landesminister Trittin war. Dr. Peter Danckert (SPD): Man merkt, dass Sie lange brauchen, bis Sie in die Pu- Frau Präsidentin, ich danke Ihnen und wünsche Ihnen schen kommen. Auch die SPD und die Bündnisgrünen für Ihre Erkältung alles Gute. haben gegen das Gesetz gestimmt. Man muss Ihnen die Geschichte schon einmal vorhalten, Kollege Beckmeyer, (Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei damit Sie sie mit dem vergleichen können, was Sie heute Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE sagen. Da sind manche Dinge peinlich. GRÜNEN und der CDU/CSU) (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber ich war nicht dabei!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächste Rednerin ist die Kollegin Renate Blank, 1999 war es ein großer Kraftakt, mit einem Bundes- CDU/CSU-Fraktion. kanzler Schröder und einem Bundesminister Trittin die Gültigkeit des Gesetzes zu verlängern. Nur durch eine (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Paketlösung ist das damals gelungen.

Renate Blank (CDU/CSU): So versucht Rot-Grün bis heute mit allerlei faden- Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! scheinigen Argumenten, den Erfolg des Gesetzes klein Kollege Danckert, in einem Punkt gebe ich Ihnen Recht: zu reden, den Bedarf für erledigt zu erklären und somit Der Gültigkeitszeitraum des Gesetzes war von Anfang eine fehlende Notwendigkeit für eine Verlängerung der an etwas zu knapp bemessen. Aber im Unterschied zu Geltungsdauer des Gesetzes zu konstruieren, obwohl Ihnen haben wir das rechtzeitig gemerkt und ihn verlän- doch auch in einer Anhörung von Experten durch die gert, während Sie unter Schmerzen und erst am SPD-Fraktion im März 2003 festgestellt wurde – Frau 9. November endlich mit dem grünen Koalitionspartner Präsidentin, ich zitiere wieder –: eine Gesetzesvorlage gemacht haben. Das VerkPBG habe unter Wahrung der Bürger- rechte eine schnelle und kompetente Durchführung (Dr. Peter Danckert [SPD]: Sie haben zunächst von Klageverfahren ermöglicht, die sonst nicht bis 1995 beschlossen und dann bis 1999 ver- möglich gewesen wäre. Es habe nach der Wieder- längert!) vereinigung ein großes Maß an Akzeptanz auf allen Dass sich die Bundesregierung und Rot-Grün mit die- Seiten bestanden, möglichst rasch den Zustand der sem Gesetz sehr schwer tun, lässt sich leicht mit Äuße- Verkehrsinfrastruktur zu verbessern. Die Bevölke- 12698 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Renate Blank (A) rung habe dieses Anliegen des VerkPBG unterstützt (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ (C) und so eine friedliche und sehr schnelle Abwick- DIE GRÜNEN]: Was?) lung der Verfahren ermöglicht. Zum Beispiel heißt eine Ihrer Gesetzesänderungen, die Vergleichen Sie jetzt einmal Ihre Worte von 1991 mit einen 17-seitigen Antrag nach sich zieht, schlicht den Worten der Experten in dieser Anhörung! Dann „Hartz IV“. müssten Sie sich doch eigentlich Ihrer Bemerkungen aus dem Jahr 1991 schämen. Die Union verabschiedete im Dezember 1991 das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Da war nur eine (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Mit der falsche Regierung! – Dr. Peter Danckert FDP! So viel Zeit muss sein!) [SPD]: Frau Blank, jetzt doch nicht mehr! Das ist doch verjährt! Sie müssen nicht so viel in Das ist zugegebenermaßen ein schwieriger Name für ein der Vergangenheit leben!) Gesetz, das Bürokratie verhindert, Entscheidungen be- schleunigt und durch das wichtige Infrastrukturprojekte Das Fazit aus all den Jahren: Die Wahrnehmung und schneller verwirklicht werden können. Dieses Gesetz hat Argumentation von Rot-Grün und die Wirklichkeit der wesentlich zu den Erfolgen des Aufbaus Ost beigetra- Menschen sind weiter denn je voneinander entfernt. gen. Daher sollte es nach meiner Meinung besser Auf- Um dies zu ändern, sollten Sie unserem Gesetzent- baugesetz heißen. wurf zustimmen, denn das Verkehrswegeplanungsbe- Autobahnprojekte wie die A 71, die A 73 oder auch schleunigungsgesetz hat zu einer erheblichen Verkür- die Ostseeautobahn A 20 würden heute vielleicht nur zung der Genehmigungsverfahren geführt, ohne dass über die Flure der Verwaltungsgerichte verlaufen, gäbe der Rechtsschutz von Betroffenen eingeschränkt worden es dieses Gesetz nicht. ist. Für den Aufbau Ost – wir hatten ja vorhin eine Dis- (Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Sei doch kussion darüber – war und ist eine Überregulierung, wie froh, dass es anders ist!) wir sie im Westen teilweise haben, ein regelrechter Klotz Auch Länder wie Bayern, Niedersachsen, Hessen und am Bein. Schleswig-Holstein konnten von der Verfahrensbe- (Siegfried Scheffler [SPD]: Darum machen schleunigung profitieren, wenn es sich um länderüber- wir Planungsvereinfachung!) greifende Projekte handelte. Die Realisierung der Ver- kehrsprojekte ist für die neuen Länder von zentraler (B) Wir brauchen einen Aufschub des Verfalls des Geset- Bedeutung. Darum will die Unionsfraktion, dass dieses (D) zes. Die rot-grüne Verweigerung läuft darauf hinaus, Aufbaugesetz weiterhin Bestand hat. Es hat sich in der dass demnächst beispielsweise wieder der Instanzenzug Praxis bewährt. in verwaltungsgerichtlichen Streitigkeiten eröffnet wird. Was das bedeutet, ist aus der Vergangenheit und aus den (Beifall bei der CDU/CSU) alten Bundesländern hinlänglich bekannt: Es ist mit zeit- aufwendigen Klageverfahren zu rechnen. Es gibt Pro- Es ist daher völlig unverständlich, dass die Bundes- jekte, die seit über 30 Jahren beklagt werden. ratsinitiative des Freistaates Thüringen und der Gesetz- entwurf der CDU/CSU-Fraktion, dieses Gesetz bis zum Im Bundesrat, meine Damen und Herren, wird dies, Jahre 2019 zu verlängern, im Verkehrsausschuss keine unabhängig von der Parteizugehörigkeit, genauso gese- Mehrheit gefunden haben. Das daraufhin von der Bun- hen. Die Verkehrsministerkonferenz hat einstimmig eine desregierung für den Sommer 2004 angekündigte Gesetz Verlängerung der Geltungsdauer des gegenwärtig noch zur Planungsbeschleunigung für Gesamtdeutschland gültigen Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgeset- liegt leider immer noch nicht vor. Ich bin der Meinung, zes bis 2019 beschlossen; denn diese ist für ein zügiges das Herz dieser Bundesregierung schlägt eben nicht für Umsetzen der noch vor uns stehenden Verkehrsplanun- Ostdeutschland. gen unabdingbar. Also stimmen Sie unserem Gesetzent- wurf im Ausschuss am besten zu! (Peter Dreßen [SPD]: Das wird durch Wieder- holen nicht wahrer!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Diskussion über die Abschaffung des 3. Oktobers Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: als unseren Nationalfeiertag hat dies in aller Deutlichkeit Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege gezeigt. , CDU/CSU-Fraktion. Was wir brauchen, ist mindestens die Verlängerung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) der Gültigkeitsdauer des Verkehrswegeplanungsbe- schleunigungsgesetzes über den 31. Dezember dieses Volkmar Uwe Vogel (CDU/CSU): Jahres hinaus, bis eine neue Regelung in Kraft tritt. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und (Zuruf von der SPD: Das machen wir doch!) Herren! Bei einem ist die rot-grüne Bundesregierung ge- schickt, nämlich wenn es darum geht, Namen für Ge- Nur so bleibt Planungssicherheit für notwendige und an- setze zu finden. stehende Verkehrsprojekte erhalten. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12699

Volkmar Uwe Vogel (A) (Beifall bei der CDU/CSU – Siegfried Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent- (C) Scheffler [SPD]: Das wird doch gemacht! Das wurf des Bundesrates zur Änderung des Verkehrswege- ist lang und breit erörtert worden!) planungsbeschleunigungsgesetzes auf Drucksache 15/ 777. Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungs- Sinnvoll ist aus unserer Sicht eine bundeseinheitliche wesen empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung Regelung. auf Drucksache 15/3843, den Gesetzentwurf abzuleh- (Siegfried Scheffler [SPD]: Auch das wird ge- nen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim- macht!) men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage- gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in Was sich beim Aufbau Ost bewährt hat, wird auch dem zweiter Beratung mit den Stimmen der SPD, des Aufschwung ganz Deutschlands helfen. Diese Regelung Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP gegen die Stim- wird aber leider aufgrund der Untätigkeit der Bundes- men der CDU/CSU abgelehnt. Damit entfällt nach unse- regierung am 1. Januar 2005 nicht in Kraft sein. Nur rer Geschäftsordnung die weitere Beratung. durch unsere Initiative und durch den Druck der Länder hat Rot-Grün doch noch einen eigenen Gesetzentwurf im Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion Hauruckverfahren ins Parlament gebracht und will die- der CDU/CSU zur Änderung des Verkehrswegepla- sen wohl bis zum 17. Dezember durchpeitschen. Dessen nungsbeschleunigungsgesetzes auf Drucksache 15/461: Halbherzigkeit zeigt sich nach unserer Auffassung vor Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen allen Dingen darin, dass die Gültigkeitsdauer nur um ein empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Jahr verlängert werden soll. Drucksache 15/3843, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen Doch mühsam ernährt sich das Eichhörnchen. Damit wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – es überhaupt vorwärts geht, werden wir uns dem rot-grü- Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter nen Gesetzentwurf nicht verschließen, wenngleich auch Beratung mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/ hier deutlich zu erkennen ist, dass diese Entscheidungen Die Grünen und der FDP gegen die Stimmen der CDU/ der rot-grünen Bundesregierung den Menschen keinerlei CSU abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäfts- Planungssicherheit geben. Denn – auch das muss gesagt ordnung die weitere Beratung. werden – noch im September vertraten Sie im Verkehrs- ausschuss die Ansicht, dass eine Verlängerung dieses Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion Gesetzes nicht notwendig ist. der FDP zur Änderung des Verkehrswegeplanungsbe- schleunigungsgesetzes auf Drucksache 15/221: Der Bitte führen Sie sich noch einmal vor Augen, was wir Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen emp- in 15 Jahren nach dem Fall der Mauer erreicht haben. fiehlt unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung auf (B) (D) Wichtige Projekte wie die Neu- und Ausbaustrecken der Drucksache 15/3843, den Gesetzentwurf abzulehnen. Autobahnen, der Bau neuer Schienenwege und neuer Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen Wasserstraßen und zum Beispiel auch der Aufbau der wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – gesamten Infrastruktur um den Flughafen Leipzig sind Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter so schnell zustande gekommen, weil es dieses Aufbau- Beratung mit den Stimmen der SPD und des gesetz gab. Wir müssen uns die Frage stellen: Wohin Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen der FDP würde die DHL wohl mit ihrem europäischen Logistik- und der CDU/CSU abgelehnt. Damit entfällt nach unse- zentrum und den über 6 000 Arbeitsplätzen gehen, wenn rer Geschäftsordnung die weitere Beratung. der Ausbau dieser Infrastruktur um Leipzig immer noch bei Gericht anhängig wäre? Tagesordnungspunkt 7 b: Unter Nr. 4 seiner Be- schlussempfehlung auf Drucksache 15/3843 empfiehlt Viele Fernstraßenprojekte sind realisiert oder im Bau. der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, In den nächsten Jahren brauchen wir eine Planungsbe- in Kenntnis des Erfahrungsberichtes der Bundesregie- schleunigung für die schnellen Anbindungen der Regio- rung zum Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz nen an das Fernstraßennetz. Dazu gehören auch Umge- eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese hungsstraßen als Entlastung für Mensch und Umwelt. Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltun- Liebe Kolleginnen und Kollegen, entscheiden Sie gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen sich für den Aufbau Ost und für den Aufschwung der Koalition gegen die Stimmen der CDU/CSU und der Deutschlands! FDP angenommen. (Peter Dreßen [SPD]: Haben wir doch immer Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent- gemacht!) schließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/4164. Wer stimmt für diesen Entschlie- Stimmen Sie unseren Anträgen zu! Alles andere wäre ßungsantrag? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Ent- halbherzig und planlos. schließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalition ge- gen die Stimmen der CDU/CSU und der FDP abgelehnt. Danke. Zusatzpunkt 4: Interfraktionell wird Überweisung des (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Gesetzentwurfes auf Drucksache 15/4133 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht Ich schließe die Aussprache. der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. 12700 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 c sowie nen auf Drucksache 15/4149 mit dem Titel „Humanitäre (C) Zusatzpunkt 5 auf: Verantwortung für Menschen in Not“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun- 8 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rudolf gen? – Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalition bei Bindig, Lilo Friedrich (Mettmann), Angelika Gegenstimmen der CDU/CSU und Enthaltung der FDP Graf (Rosenheim), weiterer Abgeordneter und angenommen. der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Christa Nickels, Volker Beck (Köln), Thilo Tagesordnungspunkte 8 b und 8 c: Interfraktionell Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion wird Überweisung der Vorlagen auf den Druck- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sachen 15/3891 und 15/2019 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit Humanitäre Verantwortung für Menschen in einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Über- Not weisungen so beschlossen. – Drucksache 15/4149 – Zusatzpunkt 5: Abstimmung über den Antrag der b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/4130 mit gierung dem Titel „Humanitäre Soforthilfe zielgerichtet gestal- ten“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dage- Bericht der Bundesregierung über die deut- gen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen sche humanitäre Hilfe im Ausland 1994 bis der Koalition bei Gegenstimmen der CDU/CSU und 1997 Enthaltung der FDP abgelehnt. – Drucksache 14/3891 – Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Auswärtiger Ausschuss Flach, Christoph Hartmann (Homburg), Cornelia Verteidigungsausschuss Pieper, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung der FDP Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Bildungsarmut in Deutschland feststellen und Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union bekämpfen c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- – Drucksache 15/3356 – gierung Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und (B) Bericht der Bundesregierung über die deut- Technikfolgenabschätzung (f) (D) sche humanitäre Hilfe im Ausland 1998 bis Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2001 Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung – Drucksache 15/2019 – Die Kolleginnen und Kollegen Dr. Ernst Dieter Überweisungsvorschlag: Rossmann, Bernward Müller (Gera), Werner Lensing, Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Grietje Bettin und Ulrike Flach haben ihre Reden zu Pro- Auswärtiger Ausschuss tokoll gegeben.2) Die Kollegin Gesine Multhaupt will Verteidigungsausschuss ihre Rede halten. Das ist verständlich, weil es ihre erste Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Rede im Deutschen Bundestag ist. Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und (Beifall) Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Das Wort hat die Kollegin Gesine Multhaupt. Bitte ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Holger schön. Haibach, Hermann Gröhe, Rainer Eppelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Gesine Multhaupt (SPD): CDU/CSU Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- legen! Chancengleichheit verwirklichen, eine solide Humanitäre Soforthilfe zielgerichtet gestalten Grundbildung für alle unabhängig von der sozialen Her- – Drucksache 15/4130 – kunft oder der kulturellen Zugehörigkeit, verlässliche berufliche und akademische Aus- und Weiterbildung, Die Abgeordneten Angelika Graf (Rosenheim), Karin das sind für uns Sozialdemokraten die wichtigsten Leit- Kortmann, Melanie Oßwald, Holger Haibach, Anke gedanken unserer Bildungspolitik. Eymer (Lübeck), Thilo Hoppe und Rainer Funke sowie die Staatsministerin Kerstin Müller haben ihre Reden zu (Beifall bei der SPD) Protokoll gegeben.1) Vor diesem Hintergrund unterstützen und begrüßen Wir kommen daher zur Abstimmung über den Antrag wir grundsätzlich die im vorliegenden Antrag aufge- der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grü- stellte Forderung, Bildungsarmut in Deutschland zu be-

1) Die Redebeiträge werden in einem Nachtrag zu diesem Protokoll 2) Die Redebeiträge werden in einem Nachtrag zu diesem Protokoll abgedruckt. abgedruckt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12701

Gesine Multhaupt (A) kämpfen. Aufgrund unserer Tradition, also historisch be- treuung“ hat die Bundesregierung als Reaktion auf die (C) gründet, und vor dem Hintergrund der großen Aufgaben, gravierenden sozialen Disparitäten in unserem Bildungs- die vor uns liegen, ist es für uns Sozialdemokraten ent- system das größte Schulentwicklungsprogramm auf den scheidend, in dieser Debatte auf den Zusammenhang Weg gebracht, das es in Deutschland je gab. von Chancengleichheit und sozialer Gerechtigkeit im Bildungswesen hinzuweisen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jörg (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Tauss [SPD]: Und die da drüben haben nur ge- DIE GRÜNEN) motzt!) Wir wollen das Bildungswesen auf Integration und Jeder Schüler kann durch eine ganztägige Betreuung Motivation ausrichten und Selektion und Sanktionen unabhängig von seiner sozialen Herkunft gefördert wer- entgegenwirken. Gut ausgebildete Menschen aus allen den. So gelingt es uns, gerade sozial schwächere Fami- Bereichen unserer Gesellschaft sind das Fundament un- lien stärker als bisher in das Schulleben zu integrieren. serer wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung. Ganztagsschulen leisten so einen Beitrag dazu, das Bil- dungsgefälle zwischen lernstarken und lernschwachen (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Schülerinnen und Schülern abzubauen. Solms) (Jörg van Essen [FDP]: So viel zur Theorie!) Für die Förderung aller jungen Menschen in unserer Ge- sellschaft unabhängig von ihrem sozialen oder kulturel- Ganztagsbetreuung darf nicht nur einseitig an sozialen len Milieu darf es nie zu früh, aber auch nie zu spät sein. Brennpunkten oder aber nur in gutbürgerlichen Vororten angeboten werden, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP-Frak- tion, diesen Grundsatz in der Arbeitsmarkt- und Bil- sie soll und muss für Kinder unterschiedlichster sozialer dungspolitik von morgen, diesen umfassenden Anspruch Herkunft offen sein. Das verstehen wir unter sozialer vermisse ich in der Rhetorik des von Ihnen vorgelegten Gerechtigkeit und Chancengleichheit im Bildungsbe- Antrags ein wenig. reich. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Bis 2010 werden wir außerdem schrittweise ein be- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) darfsgerechtes Betreuungsangebot für Kinder unter drei Jahren schaffen. Damit ermöglichen wir eine frühzeitige (B) Im vorliegenden Antrag wird beispielsweise die Forde- individuelle Förderung unserer Kleinsten. In den letzten (D) rung nach theoriegeminderten Berufsbildern aufgestellt. Jahren hat die Forschung klar bewiesen, dass gerade die An dieser Stelle möchte ich Ihnen zunächst mit der frühkindliche Lernphase entscheidend die weiteren Bil- OECD-Studie „Bildung auf einen Blick“ antworten. dungs- und Lebenschancen prägt. Dort heißt es: Die in Ihrem Antrag treffend beschriebene Gruppe Es muss mehr in weiterführende Ausbildungsgänge der großen Verlierer in unserer Gesellschaft sind nicht gesteckt werden, in denen die Menschen fit für die selten Kinder, die vor Eintritt in die Grundschule nicht beruflichen und sozialen Anforderungen der Zu- ausreichend gefördert oder sogar vernachlässigt wurden. kunft gemacht werden. Das ist sehr viel wichtiger Gleichzeitig unterstützen wir mit dem Tagesbetreuungs- als einzelne Qualifikationen, die heute vielleicht ausbaugesetz Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder. Das nachgefragt werden, langfristig aber keine Zu- Armutsrisiko von Familien wird verringert und die ei- kunftsperspektive haben. genständige Lebensführung, insbesondere von Müttern (Beifall bei Abgeordneten der SPD) und Alleinerziehenden, wird ermöglicht. Diese Erkenntnis aus der OECD-Studie beschreibt für (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ uns Sozialdemokraten treffend die große Aufgabe, die DIE GRÜNEN) vor uns liegt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die knappe Debat- (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des tenzeit erlaubt es mir nicht, alle von der Bundesregie- Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE rung bereits auf den Weg gebrachten Maßnahmen darzu- GRÜNEN]) stellen. Auf dem Arbeitsmarkt von morgen werden immer stär- (Werner Lensing [CDU/CSU]: Gott sei Dank!) ker Beschäftigte nachgefragt, die in der Lage sind, sich Lassen Sie mich deswegen nur kurz, Herr Lensing, zu als Person weiterzuentwickeln und Innovationsfähigkei- der von Ihnen geforderten sprachlichen Förderung von ten für sich zu nutzen. In diesem Sinne gilt es, Bildungs- Migrantinnen und Migranten sagen, dass Rot-Grün auch armut zu bekämpfen und alle jungen Menschen gleich- hier bereits vieles auf den Weg gebracht hat: berechtigt an unserem Bildungsgeschehen teilhaben zu lassen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir lassen unseren Worten Taten folgen. Mit dem Die Mittel für die Sprachförderung werden bis zum Ganztagsschulprogramm „Zukunft Bildung und Be- Jahre 2005 auf insgesamt 141 Millionen Euro aufge- 12702 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Gesine Multhaupt (A) stockt; das ist eine Steigerung von rund 40 Millionen Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (C) Euro. Ohne Frage zeigt nicht zuletzt auch der Bericht der Frau Kollegin – – Bund/Länder-Kommission, dass in allen Bundesländern bei der Bekämpfung der Bildungsarmut eine Menge dis- Gesine Multhaupt (SPD): kutiert und auch angepackt worden ist. Zusätzlich wird durch eine Reihe von Maßnahmen Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP-Frak- die frühe Auslese verschärft und die Durchlässigkeit tion, im zweiten Absatz Ihres Antrags formulieren Sie zwischen den Schulformen reduziert. völlig zu Recht, dass Anstrengungen zur Verbesserung der Lebenschancen von Migrantinnen und Migranten Natürlich will ich auch die Regierungskoalition in nur im Zusammenwirken mit den Ländern entwickelt Rheinland-Pfalz nicht unerwähnt lassen. werden können. (Werner Lensing [CDU/CSU]: Und die in (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: So ist es!) Nordrhein-Westfalen?) An dieser Stelle würde mich besonders interessieren, ob Unter den Bundesländern spielt Rheinland-Pfalz beim das auch Ihre Parteifreunde in den Länderparlamenten Ausbau der Ganztagsschulen eine führende Rolle. wissen, (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Josef (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- DIE GRÜNEN – Horst Friedrich [Bayreuth] NEN]: So doll ist es auch wieder nicht!) [FDP]: Natürlich!) Mit einem erheblichen finanziellen Kraftakt stellt die insbesondere in den Bundesländern, in denen Sie in ei- Landesregierung in Rheinland-Pfalz zusätzliche Lehrer- ner Regierungskoalition Verantwortung tragen. stunden für die pädagogische Arbeit zur Verfügung. Gestatten Sie mir darum an dieser Stelle einen Blick (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE auf die Bildungspolitik einiger von Ihrer Partei mitre- GRÜNEN]: Das hat die SPD gegen die FDP gierter Bundesländer. Für die vorschulische Sprachför- durchgesetzt!) derung ausländischer Kinder steht in Niedersachsen kein zusätzlicher Cent zur Verfügung. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Jörg Tauss [SPD]: Unglaublich! – Josef Philip Frau Kollegin Multhaupt, kommen Sie bitte zum Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Un- Schluss. (B) erhört!) (D) Gesine Multhaupt (SPD): Die schulbegleitende Sprachförderung für ausländische Schülerinnen und Schüler wurde gestrichen, der mutter- Mit einem von der Landesregierung finanzierten Bud- sprachliche Unterricht um 13 Prozent gekürzt. get können die Schulen zusätzliches Personal einstellen, beispielsweise für die Förderung unterschiedlich begab- (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: So sind ter Schülerinnen und Schüler. Sie!) Die Lernmittelfreiheit wurde ganz abgeschafft, die Vizepräsident Dr. : Hausaufgabenhilfe für alle Kinder gestrichen und die Liebe Kollegin Multhaupt, Sie haben Ihre Redezeit kostenlose Schülerbeförderung stark eingeschränkt. mittlerweile um 50 Prozent überzogen. Auch bei der ers- ten Rede hier im Deutschen Bundestag gibt es irgendwo (Jörg Tauss [SPD]: Das ist die Bekämpfung eine Grenze. der Bildungsarmut à la FDP! – Gegenruf des Abg. Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das (Jörg Tauss [SPD]: Darf ich eine Zwischen- wird auch durch dumme Zwischenrufe von frage stellen? – Heiterkeit bei der SPD) Herrn Tauss nicht besser! Dass ich mir das um 21 Uhr noch antue!) Gesine Multhaupt (SPD): In Hessen, so habe ich nachgelesen, fehlen 2 020 Leh- Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es große Ge- rerstellen. Diese strukturelle Mangelversorgung hat zur rechtigkeitsdefizite hinsichtlich der Bildungschancen in Folge, dass die Lehrerzimmer in Hessen immer leerer, unserem Land gibt, ist keine neue Tatsache. Ich glaube, die Klassenzimmer aber immer voller werden. ich habe deutlich gemacht, dass die rot-grüne Bundesre- gierung auf einem guten Weg ist, diesen Disparitäten im (Jörg van Essen [FDP]: In Hessen trägt die sozialen Bereich entgegenzuwirken. FDP keine Regierungsverantwortung; das wollte ich nur einmal feststellen!) Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie diese Idee der Chancengleichheit im Bildungsbereich in Ihren FDP- Zeitgleich wird in Hessen die Chance vertan, veränder- Antrag aufnehmen und dieser Verantwortung auch in tes Lernen und eine intensive Förderkultur in neuen den von Ihnen geführten Bundesländern nachkommen Ganztagsschulen umzusetzen. Schulen, die Ganztags- würden. schulen werden wollen, werden hingehalten und abge- blockt. Herzlichen Dank. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12703

Gesine Multhaupt (A) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Berichterstattung: (C) DIE GRÜNEN – Horst Friedrich [Bayreuth] Abgeordnete Dr. Michael Bürsch [FDP]: Damit haben wir ja schon angefangen!) Rüdiger Veit Reinhard Grindel Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Josef Philip Winkler Frau Kollegin Multhaupt, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer Dr. Max Stadler ersten Rede im Deutschen Bundestag. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (Beifall – Dr. Michael Bürsch [SPD]: Das nächste Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Mal wird die Redezeit verlängert!) keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich muss allerdings dazusagen, dass Sie sich bei Ihrer Ich eröffne die Aussprache. Als erstem Redner erteile zweiten Rede an die Redezeit halten müssen. ich dem Parlamentarischen Staatssekretär Fritz Rudolf Körper für die Bundesregierung das Wort. (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/3356 an die in der Tagesordnung aufge- Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär beim Bun- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit desminister des Innern: einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich sung so beschlossen. glaube, wir können stolz darauf sein, dass wir die Zu- Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf: wanderungsgesetzgebung in diesem Jahr gemeinsam er- folgreich über die Bühne gebracht haben. Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Stabilisierung und Weiterentwicklung des ge- nossenschaftlichen Wohnens Der nun vorliegende Gesetzentwurf zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes und weiterer Gesetze dient in erster – Drucksache 15/4043 – Linie dazu, dringende redaktionelle und gesetzestechni- Überweisungsvorschlag: sche Anpassungen vorzunehmen, um eine reibungslose Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Umsetzung des Zuwanderungsgesetzes ab dem Rechtsausschuss 1. Januar 2005 sicherzustellen. Dieses Ziel sollten wir (B) Finanzausschuss (D) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend insbesondere im Interesse der Länder, die das neue Auf- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung enthaltsrecht auszuführen haben, nicht aus den Augen verlieren. Mit dem Änderungsgesetz soll und wird der Bei diesem Tagesordnungspunkt sollen die Reden zu Kompromiss zum Zuwanderungsgesetz nicht infrage ge- Protokoll gegeben werden. Es handelt sich um die Reden stellt. der Kollegen Wolfgang Spanier, SPD, Klaus Minkel und Gerhard Wächter, CDU/CSU, Franziska Eichstädt- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Bohlig, Bündnis 90/Die Grünen, und Eberhard Otto, BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) FDP.1) Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Ich appelliere auch an die Vertreter der Opposition, Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf dies nicht zu versuchen. Drucksache 15/4043 an die in der Tagesordnung aufge- Die Mehrzahl der Änderungsvorschläge des Bun- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit desrates, nämlich acht von 14, die auch von der CDU/ einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei- CSU-Fraktion eingebracht wurden, haben die Bundesre- sung so beschlossen. gierung und die Koalitionsfraktionen positiv aufgegrif- Ich rufe Zusatzpunkt 6 auf: fen. Sie sind jetzt Bestandteil des heute zur Abstimmung stehenden Gesetzes. Das ist ein gutes Beispiel für das Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- konstruktive Umgehen mit diesen Vorschlägen. gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes und (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des weiterer Gesetze BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das sind aber keine we- – Drucksachen 15/3784, 15/3984 – sentlichen Änderungen gewesen!) (Erste Beratung 129. Sitzung) Darüber hinaus wird mit der Schaffung einer Fundpa- Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- pierdatenbank ein Anliegen insbesondere der Innenmi- schusses (4. Ausschuss) nisterkonferenz aufgegriffen. Die Forderung wird auch in dem hier zur Debatte stehenden Antrag der CDU/CSU – Drucksache 15/4173 – zur Beseitigung von Abschiebungshindernissen erhoben. Mit der von der Bundesregierung vorgeschlagenen Ein- 1) Die Redebeiträge werden in einem Nachtrag zu diesem Protokoll richtung einer zentralen Passabgleichsstelle wird die Zu- abgedruckt. ordnung aufgefundener ausländischer Ausweispapiere 12704 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Parl. Staatssekretär Fritz Rudolf Körper (A) zu passlosen ausreisepflichtigen Ausländern und damit men, da es sich um einen relativ kleinen Personenkreis (C) deren Rückführung erheblich erleichtert werden. handelt. Die von der CDU/CSU-Fraktion darüber hinaus vor- Der Zuwanderungskompromiss wird auch mit der geschlagene Delegation der Regelungen auf den Verord- Änderung des § 1 Abs. 1 Nr. 3 des Asylbewerberleis- nungsgeber begegnet hingegen verfassungsrechtlichen tungsgesetzes nicht infrage gestellt. Sie ist vielmehr eine Bedenken. Mit den betroffenen Regelungen zu Inhalt weitere Folge aus der Verabschiedung der Hartz-IV-Ge- und Verfahren der Fundpapierdatenbank sind Eingriffe setzgebung. Vom Asylbewerberleistungsgesetz sollen in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ver- danach nur diejenigen erfasst werden, die über keine bunden. Wesentliche Regelungen wie die Frage der Nut- Bleibeperspektive verfügen. Dieser Rechtszustand, der zer der Fundpapierdatenbank, der Dauer der Datenauf- im Übrigen der geltenden Rechtslage entspricht, wird bewahrung, der Verpflichtung zu Maßnahmen der mit der Änderung hergestellt. Datensicherheit und des Datenschutzes muss der parla- Die Auseinandersetzung mit den Vorstellungen der mentarische Gesetzgeber daher selbst treffen. Der Vor- Opposition dazu zeigt deutlich, dass der vorliegende Ge- schlag der CDU/CSU-Fraktion kommt daher insoweit setzentwurf eine vernünftige Ergänzung zu unserer Zu- nicht in Betracht. wanderungsgesetzgebung darstellt. Ich bitte um Zustim- Darüber hinaus lehnt die Bundesregierung Ände- mung. rungswünsche ab, die entweder sachlich nicht vertretbar Herzlichen Dank. sind oder vonseiten der Opposition den Zuwanderungs- kompromiss infrage stellen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Dies betrifft zum Beispiel den Antrag zur Verschärfung Als nächster Redner hat das Wort der Kollege des Tatbestandes der Ermessensausweisung. Die Er- Reinhard Grindel von der CDU/CSU-Fraktion. messensausweisung zu eröffnen, sobald ein Ausländer Arbeitslosengeld II erhält, widerspricht der neuen sozial- (Beifall bei der CDU/CSU) gesetzlichen Systematik, die auch mit den Stimmen der Union zu den Hartz-IV-Reformen eingeführt worden ist. Reinhard Grindel (CDU/CSU): (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Parlamentarische Staatssekretär verdient für seine Rede (B) Der von der CDU/CSU-Fraktion geforderte Aus- mildernde Umstände. Es ist der 11. 11. Das hat weite (D) schluss der Widerspruchsmöglichkeit gegen die Versa- Teile Ihrer Rede geprägt. Sie hatte mit der Realität nicht gung einer Duldung berührt auch den Kompromiss zum so schrecklich viel zu tun. Zuwanderungsgesetz. Was allerdings fast auch als Narretei betrachtet wer- (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD] – Reinhard den kann, ist der Umstand, dass wir uns über Änderun- Grindel [CDU/CSU]: Kollege Tauss weiß gen des Zuwanderungsgesetzes unterhalten, das erst am doch gar nicht, worum es geht!) 1. Januar 2005 in Kraft treten wird. Das, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ist ein starkes Stück. Ohne Die Diskussion sollte bei diesem Gesetz nicht noch ein- die Erfahrungen mit dem Zuwanderungsgesetz abzuwar- mal geführt werden. Wir haben darüber ausführlich ge- ten, ohne überhaupt das In-Kraft-Treten abzuwarten, nug debattiert. Sofern die CDU/CSU-Fraktion ihrerseits wird dieses Zuwanderungsgesetz in einer Vielzahl von den Vorwurf erhebt, verschiedene Änderungsanträge der Fällen sehr materiell verändert. Ich halte das für eine Koalition würden den Zuwanderungskompromiss unter- sehr schlechte Vorgehensweise. höhlen, weise ich diesen mit aller Klarheit zurück. (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wir sind flexibel!) Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das musste einmal gesagt werden!) Es ist in der Tat eben nicht so, Herr Staatssekretär, dass nur einige Anpassungen zu zeitgleich verabschiede- Mit der unter anderem kritisierten Änderung des ten Gesetzen, wie dem Kommunalen Optionsgesetz oder § 6 des Asylbewerberleistungsgesetzes wird lediglich dem Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz, vorgenommen die europäische Richtlinie über die Gewährung von vo- werden, rübergehendem Schutz in nationales Recht umgesetzt. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) NEN]: Das hat er auch nicht gesagt!) Es geht darum, Ausländern, die aufgrund der Richtlinie sondern diese Änderungen betreffen grundsätzliche Fra- über die Gewährung von vorübergehendem Schutz eine gen des Aufenthaltsrechts. Aufenthaltserlaubnis erhalten, die erforderliche medizi- nische und sonstige Hilfe auch in den Fällen posttrauma- Flüchtlinge, denen kleines Asyl gewährt wurde, er- tischer Belastungsstörungen zu gewähren. Dies ent- halten jetzt nach drei Jahren sofort eine Niederlassungs- spricht übrigens weitgehend der bisherigen Praxis. Auch erlaubnis. Die Pflicht des Bundesamtes für Migration die Kosten halten sich in einem überschaubaren Rah- und Flüchtlinge, vor einer Verfestigung des Aufenthaltes Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12705

Reinhard Grindel (A) solcher Personen zu prüfen, ob die Situation im Her- ist falsch und verstößt gegen den Zuwanderungskompro- (C) kunftsland überhaupt noch einen Schutz erfordert, soll miss. wegfallen und damit auch die Prüfung, ob das kleine (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Asyl zurückzunehmen oder zu widerrufen ist. Meine Herren! Hängen Sie das mal tiefer!) Es war sehr verräterisch, was Herr Beck im Innenaus- – Lieber Herr Kollege Tauss, Sie sind im Kehlkopf stark, schuss dazu gesagt hat. Er hat gesagt, er habe die Sorge, dass wegen der zurückgehenden Asylbewerberzahlen im (Jörg Tauss [SPD]: Im Hirn auch! Das unter- Bundesamt in Nürnberg viele Mitarbeiter sitzen, die scheidet uns!) nicht mehr mit der Bearbeitung von Asylanträgen be- im Kopf nicht ganz so. Denn hätten Sie heute in die fasst sind, sondern sich damit beschäftigen könnten, zu „Frankfurter Rundschau“ geschaut – ein Blatt, das bei prüfen, ob diejenigen, die sich auf das kleine Asyl beru- Ihnen morgens wahrscheinlich immer ganz oben liegt –, fen, diesen Schutz immer noch verdienen. Das, was die Mitarbeiter in Nürnberg machen, ist ihre Pflicht. Sie (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wollen das abschaffen. Ich sage Ihnen: Es geht Ihnen um NEN]: Was liegt denn bei Ihnen oben?) einen Rutschbahneffekt in Richtung auf ein Dauerauf- hätten Sie lesen können, dass der Bundesinnenminister enthaltsrecht. Das verstößt gegen den Zuwanderungs- diesen Vorschlägen von Herrn Wiefelspütz und Herrn kompromiss, den wir gemeinsam verabredet haben. Beck eine klare Absage erteilt hat. Sie fahren eine Dop- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – pelstrategie: Sie beruhigen Pro Asyl und andere am lin- Rüdiger Veit [SPD]: Nein, das entspricht sei- ken Rand, indem Sie solche Interviews geben, und um ner Systematik!) diejenigen SPD-Wähler, die in der Ausländerpolitik so denken wie wir, kümmert sich der Bundesinnenminister. – Herr Kollege Veit, es geht nicht um Systematik, son- In Wirklichkeit aber nehmen Sie eine diesem diametral dern es geht darum, dass Sie – Herr Wiefelspütz und entgegenstehende Position ein. Herr Beck – gerade in diesen Tagen eine Diskussion (Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Das ist heuchle- über Bleiberegelungen begonnen haben, risch!) (Rüdiger Veit [SPD]: Das ist ein anderes Das ist keine saubere Linie. Diese Doppelstrategie wer- Thema!) den wir deutlich enttarnen. Das alles ist mit uns nicht zu machen. obwohl wir diese bei den Zuwanderungsverhandlungen nach langen und schwierigen Diskussionen ausgeschlos- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE (B) sen haben. GRÜNEN]: Wir gehen wenigstens offen damit (D) um!) (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die haben die Kirchen begon- – Der Kollege Winkler hat gesagt – dies für das Proto- nen!) koll –: Wir gehen wenigstens offen mit diesen Wider- ständen um. Das ist eine Zustimmung, lieber Herr Kol- SPD und Grüne haben im Menschenrechtsausschuss ei- lege Winkler, für die ich sehr dankbar bin. nen Entschließungsantrag eingebracht, allen rund SPD und Grüne sagen mit dem Aufenthaltsände- 200 000 ausreisepflichtigen Ausländern, die geduldet rungsgesetz, über das wir diskutieren, die Niederlas- werden, ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht einzuräumen. sungserlaubnis für GFK-Flüchtlinge sei aus Gründen Dieses ist eine Aufkündigung des Zuwanderungskom- der Integration notwendig. Wir haben es hier mit Perso- promisses. Das müssen wir mit aller Deutlichkeit fest- nen zu tun, die höchstens drei Jahre in Deutschland sind. stellen. (Zuruf von der SPD: Menschen!) Ich sage mit Bedacht: Wir als CDU/CSU haben uns, gerade unter dem Eindruck der Gespräche, die wir mit Integration ist da nicht maßgeblich, sondern das Schutz- den Kirchen geführt haben, beim Aufenthaltsrecht er- bedürfnis dieser Menschen, dieser Flüchtlinge. Wir heblich bewegt. Wenn Sie fair wären, würden Sie das brauchen mehr Integration und nicht mehr Zuwande- zugestehen: bei der Härtefallregelung, bei der weit ge- rung. Wir lehnen jede Maßnahme ab, bei der mehr Zu- henden Abschaffung der Kettenduldungen. Ohne Aus- wanderung durch die Hintertür organisiert werden soll, wirkungen des Zuwanderungsgesetzes abzuwarten, wol- wie Sie es vorhaben. len Sie jetzt eine Bleiberechtsregelung einführen. Die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Änderungen des Aufenthaltsgesetzes sind die Ouvertüre dazu. Ich sage Ihnen: Mit uns ist so etwas wie eine Blei- Die Bundesregierung, Herr Staatssekretär, kündigt an beregelung nicht zu machen. Personen, die durch Tricks einer anderen Stelle in der Tat den Zuwanderungskom- und Täuschungen, durch die Verschleierung ihres Reise- promiss auf. Sie will künftig Personen, die aufgrund weges und die Vernichtung ihrer Ausweispapiere ihren einer Bleiberegelung der obersten Landesbehörden eine Aufenthalt in Deutschland künstlich verlängern, jetzt mit Aufenthaltserlaubnis besitzen, sowie Personen, deren einem Bleiberecht zu versehen, Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen verlän- gert wird, nicht mehr Leistungen nach dem Asylbewer- (Rüdiger Veit [SPD]: Das will kein Mensch! berleistungsgesetz gewähren, sondern diese sollen ent- Das wissen Sie!) weder Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe erhalten. 12706 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Reinhard Grindel (A) Auch da sagt die Bundesregierung, dieses sei aus Inte- Ich möchte gern noch einen letzten Punkt ansprechen. (C) grationsgründen notwendig. Ich sage Ihnen: Diese Rege- Der Kollege Beck hat gestern nach den Beratungen im lung behindert gerade die Integration, weil sie wegen der Innenausschuss eine Pressemitteilung veröffentlicht, in höheren Sozialleistungen, die die Flüchtlinge erhalten, der es heißt: jeden Antrieb erlahmen lassen, dass diese Menschen Wir haben letzte Unstimmigkeiten im Zuwande- sich um Arbeit bemühen und sich dadurch in Deutsch- rungsgesetz beseitigt. So haben wir dafür gesorgt, land integrieren. dass vorübergehend geschützte Personen, die zum (Zuruf von der SPD: Unfug!) Beispiel Folter, Vergewaltigung erlitten haben, ei- nen Anspruch auf die erforderliche medizinische Bisher hatten diese Personen eine Duldung. Durch das Behandlung erhalten. Zuwanderungsgesetz bekommen sie, und zwar mit unse- rer ausdrücklichen Zustimmung, einen Aufenthaltstitel (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE und eine Arbeitsmöglichkeit. Nur wollen wir damit GRÜNEN]: Richtig!) keine Besserstellung im Falle des Bezugs von Sozialleis- – Sie sagen: Richtig. tungen. Wir sagen: Wir wollen die Arbeitsmöglichkeiten nach einer Wartefrist von einem Jahr, um Schwarzarbeit (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE und Kriminalität entgegenzuwirken. Das soll jedoch GRÜNEN]: Richtig zitiert, meine ich!) nicht dazu führen, dass sich diese Menschen auf ein Das heißt im Umkehrschluss, dass diese Menschen, die umfassendes Unterstützungspaket nach dem zum Teil seit vielen Jahren bei uns sind, bisher keine Arbeitslosengeld II berufen können und dieses für sie ausreichende medizinische Versorgung erhalten haben. gilt. Eine solche Behauptung ist unerträglich. Wir weisen das mit allem Nachdruck zurück. Auch an dieser Stelle ist Völlig widersprüchlich ist es, wenn SPD und Grüne die Änderung, die Sie im Aufenthaltsgesetz durchsetzen im Bundestag auf der anderen Seite den dauerhaften Be- wollen, nicht notwendig. zug von Arbeitslosengeld II nicht zum Ausweisungstat- bestand machen wollen. Ich muss Ihnen klar entgegen- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- halten, auch dem Staatssekretär, der das hier vertreten NEN]: Das erkläre ich Ihnen gleich!) hat: Eine Reihe von A-Ländern haben im Bundesrat da- für votiert – Sie nicken zustimmend –, dass der Bezug Ich will gern nach dem Motto „Wo bleibt das Posi- von Arbeitslosengeld II Ausweisungstatbestand wird. tive?“ ein Positives deutlich hervorheben: Richtig ist die Einführung der dateigestützten Passabgleichstelle. In Bisher ist Sozialhilfebezug ein Ausweisungstatbe- der Tat gibt es 20 000 herrenlose Pässe, die wir dringend (B) stand. Der Kollege Veit hat im Innenausschuss gesagt, da ausreisepflichtigen Ausländern zuordnen sollten, um de- (D) es nun ja viel mehr Bezieher von Arbeitslosengeld II als ren Rückführung ins Heimatland zu ermöglichen. Sozialhilfeempfänger gebe, wollten Sie diese Regelung Wir brauchen aber, Herr Staatssekretär, natürlich noch nicht. Auf der anderen Seite haben wir eben auch des- viel mehr Anstrengungen, um Abschiebehindernisse zu halb deutlich weniger Sozialhilfeempfänger im Sinne beseitigen. Wir als CDU/CSU-Fraktion haben dazu ei- des jetzigen Ausweisungstatbestandes, weil über nen Antrag vorgelegt. Wir wissen zum Beispiel, dass die 1 Million Personen in Zukunft in das Arbeitslosengeld II Pässe ausreisepflichtiger Ausländer plötzlich wieder auf- wechselt. tauchen und bei unseren Botschaften und Konsulaten im Deshalb muss man fragen: Was ist der Sinn dieser Ausland vorgelegt werden, wenn Verwandte und Be- Vorschrift zu den Ausweisungstatbeständen? Es ist nicht kannte dieser Personen nach Deutschland kommen wol- im Interesse der Bundesrepublik Deutschland, dass Aus- len, um diese ausreisepflichtigen Ausländer in Deutsch- länder hier in Deutschland anwesend sind, die auf Dauer land zu besuchen. Ich verstehe nicht, weshalb man in auf Sozialleistungen angewiesen sind. Das ist der Sinn diesen Fällen nicht Kopien dieser Pässe zieht und sie mit der Vorschrift. Das Arbeitslosengeld II ist eine staatliche den ausreisepflichtigen Personen abgleicht. Das wäre Sozialleistung; es ist keine Versicherungsleistung. Des- eine sehr praktikable Lösung, um Pässe, die wir drin- wegen haben wir als Bundestagsabgeordnete in erster gend brauchen, um ausreisepflichtige Personen in ihr Linie die Interessen unseres Landes und nicht die Inte- Heimatland zurückführen zu können, wieder ans Tages- ressen der möglicherweise von Abschiebung bedrohten licht zu befördern. Eines allerdings muss man dazusa- Ausländer zu wahren. gen: Wenn man Visa im Minutentakt vergibt, hat man natürlich keine Zeit für diese notwendige Maßnahme. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Darüber werden wir morgen diskutieren – ich hoffe, bei GRÜNEN]: Das sehen Sie so! Wir sehen das noch vollerem Haus; denn auch dieses Thema verdient anders! Das kann man doch nicht gegeneinan- es. der aufwiegen!) Ich danke für die Aufmerksamkeit. Deshalb muss der Bezug von Arbeitslosengeld II ein (Beifall bei der CDU/CSU) Ausweisungsgrund sein, wie es unter anderem auch SPD-regierte Bundesländer wollen. Wir machen uns da- für jedenfalls deutlich stark. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als nächster Redner hat der Kollege Josef Winkler (Jörg Tauss [SPD]: Tapfer! Tapfer!) von Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12707

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) (Jörg Tauss [SPD]: Er antwortet jetzt auf die- spräche. Das wollen wir nicht. Wir wollen, dass Men- (C) sen Staatsmann!) schen, die vorübergehend geschützt sind – Sie nennen das „kleines Asyl“ –, die unter Folter oder Vergewalti- Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gung gelitten haben oder Opfer von Menschenhandel ge- NEN): worden sind, einen Anspruch auf die erforderliche medi- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr zinische Behandlung erhalten. Grindel, da Sie in Ihrer zwölfminütigen Redezeit (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Kriegen sie (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Ich habe aber doch jetzt schon!) nur zehn Minuten genutzt!) – Sie als Christlich Demokratische Union können gerne mindestens einmal pro Minute etwas falsch dargestellt auch weiterhin dagegen sein. Wir als Koalition wollen haben, kann ich nur auf wenige Aspekte eingehen. das aber ändern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) und bei der SPD – Reinhard Grindel [CDU/ CSU]: Nun wird es aber unsachlich!) Ich möchte aber im Gegensatz zu Ihnen sachlich bleiben. Wie der Staatssekretär ausgeführt hat, müssen wir oh- Mit dem vorliegenden ersten Änderungsgesetz zum nehin eine EU-Richtlinie umsetzen. Insofern werden Aufenthaltsgesetz – das ist das in der Öffentlichkeit als auch andere EU-Mitgliedstaaten folgen. Wir führen also Zuwanderungsgesetz bekannte Gesetzespaket – in Deutschland nicht etwa ein Luxusverfahren ein; viel- mehr kommen wir einer Rechtsverpflichtung nach. ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein Einwanderungsge- Ich will noch einen anderen Aspekt ansprechen. Sie setz!) haben zum Beispiel die Niederlassungserlaubnis scharf kritisiert, die den Flüchtlingen nach der Genfer Flücht- hat die rot-grüne Koalition rechtliche Hürden für das lingskonvention unmittelbar erteilt wird. Das ist unserer In-Kraft-Treten des Zuwanderungsgesetzes zum 1. Ja- Meinung nach auch aus integrationspolitischer Sicht nuar 2005 aus dem Weg geräumt. sinnvoll. Im Übrigen handeln wir als Koalition nicht al- (Zuruf von der SPD: Sehr gut!) leine; auch etliche Bundesländer halten das für sinnvoll. Es ist schwer zu vermitteln, dass Menschen, die seit Jah- Wie der Herr Staatssekretär völlig korrekt angemerkt ren in Deutschland leben – zum Beispiel afghanische hat, waren diese Änderungen unter anderem durch die Flüchtlinge –, die integriert sind und in Deutschland (B) zwischenzeitlich in Kraft getretene Hartz-IV-Gesetzge- bleiben wollen und müssen, (D) bung sowie die Strafvorschriften zur Bekämpfung der Schwarzarbeit notwendig geworden, Herr Grindel. Des (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Darum geht Weiteren haben wir noch einige Unstimmigkeiten im es doch nicht! Es geht um ein Schutzbedürfnis Zuwanderungsgesetz beseitigt. Sie haben von dramati- und nicht darum, was sie wollen!) schen Änderungen gesprochen; ich nenne Ihre Dramatik dann, wenn sie einen Antrag auf Einbürgerung oder Fa- gekünstelt. milienzusammenführung stellen, mit einer automati- (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Mit Hartz IV schen Widerrufung ihres Asylstatus rechnen müssen hat das nichts zu tun!) (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Nein! Mit ei- Die Anpassungen sind notwendig, weil es in einem so ner Überprüfung, wie es das Gesetz bisher vor- großen Vermittlungsverfahren vorkommen kann, dass sieht!) eine bestimmte Gruppe übersehen werden kann. Wenn und damit unter Umständen die Einbürgerung vergessen wir schon rechtzeitig merken, dass ein kleiner Fehler können. Das geht unserer Meinung nach nicht an. Die aufgetreten ist, dann müssen wir das vor dem In-Kraft- von Ihnen angesprochene Überprüfung bleibt auch nach Treten des Gesetzes ändern. Sollen wir stattdessen war- der Änderung notwendig. ten, bis das Gesetz in Kraft getreten ist, nur damit Sie uns das nicht vorwerfen können? Darauf verzichten wir, (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Eine pflicht- Herr Grindel. gemäße Überprüfung schaffen Sie ab!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Es geht nicht darum, eine Rutschbahn zu schaffen. und bei der SPD) Wir wollen aber nicht, dass Beamte nur aus Lust am Ak- tenbewegen die Aktendeckel aufklappen. Wir wollen Sie haben die erforderliche medizinische Behand- keine Überprüfungspflicht; gegebenenfalls kann aber lung erwähnt, von der in der Pressemitteilung des Kolle- auch weiterhin jeder Fall geprüft werden und können be- gen Beck die Rede war. Sie wehren sich mit Vehemenz reits gewährte Leistungen und sogar der Aufenthaltssta- gegen den Begriff „erforderlich“, weil sonst nach dem tus widerrufen werden. Asylbewerberleistungsgesetz nur minimale Therapien möglich sind. Das heißt, dass statt notwendiger umfang- In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinwei- reicher psychotherapeutischer Maßnahmen nur eine Kri- sen, dass wir dem Bundesrat weitgehend entgegenge- senintervention stattfinden kann, was der abgestuften kommen sind. Die Fundpapierdatei wurde bereits er- Leistung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ent- wähnt. Wir haben acht von 14 Änderungsanträgen des 12708 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Josef Philip Winkler (A) Bundesrats übernommen, die sich zum Teil auf wesentli- (Beifall bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Schlecht (C) che Änderungen bezogen. Insofern ist das eine ausgewo- recherchiert, Herr Grindel!) gene Sache. Ich rufe in Erinnerung, was wir nach langer Mühe tat- Im Übrigen haben wir mit der gesamten Opposition sächlich – für manche unerwartet – geschafft haben. Mit verhandelt. Die FDP hat in einer Pressemitteilung deut- dem Zuwanderungskompromiss im Sommer dieses lich gemacht, dass sie sich Ihrer Aufregung nicht an- Jahres haben wir in Deutschland parteiübergreifend die schließen könne und dass sie nicht davon ausgehe, dass Grundlage für ein modernes, in die Zukunft gerichtetes der Zuwanderungskompromiss aufgekündigt sei. Inso- Zuwanderungsrecht geschaffen, mit dem wir Migration fern können Sie das Ihrerseits nicht einseitig feststellen. nach Deutschland steuern können. Es hat lange genug gedauert, bis wir in Deutschland ein solches Zuwande- (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das stellen rungsrecht auf den Tisch legen konnten. Lieber Herr wir zur Not auch für die FDP fest!) Grindel, das gerät bei allem Klein-Klein allzu schnell in Abschließend möchte ich – auch diesen Punkt haben Vergessenheit. Es wird versucht, das klein zu reden so- Sie bereits angesprochen – auf die Bleiberechtsrege- wie mit Polemik und Populismus aus der Welt zu schaf- lung zu sprechen kommen. Meine Fraktion würde sich fen. Sie müssen sich einfach an den beschlossenen Kom- sehr freuen, wenn wir für die Menschen, die bisher kei- promiss gewöhnen. Es gibt genügend Mitglieder Ihrer nen entsprechenden Status haben, obwohl sie schon Fraktion sowie CDU- und CSU-Mitglieder aus den Bun- lange in Deutschland leben – nach dem neuen Zuwande- desländern, die diesen Kompromiss gewollt und begrüßt rungsgesetz bekämen sie einen solchen Status –, eben- haben. Wir wissen aus der Entstehungsgeschichte, dass falls eine Regelung finden könnten. es gerade in Ihrer Fraktion Widerstand gab. Ich plädiere aber dafür, nun keine Nachhutgefechte anhand solcher (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Jetzt lässt er notwendigen Ergänzungen zu führen. die Katze aus dem Sack!) (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das machen Da dies aber mit dem vorliegenden Gesetzentwurf über- Sie doch mit der Bleiberechtsregelung!) haupt nichts zu tun hat, wird es darum im jetzigen Ge- setzgebungsverfahren nicht gehen. Wir werden vielmehr Das neue Zuwanderungsrecht liegt durchaus in deut- gemeinsam mit den christlichen Kirchen, die ebenfalls schem Interesse. Der Wirtschaftsstandort Deutschland seit vielen Jahren eine Lösung für diese Menschen for- benötigt hoch qualifizierte ausländische Fachkräfte. Mit dern, eine entsprechende Initiative starten. Auch Kolle- dem neuen Aufenthaltsgesetz haben wir den richtigen gen von der SPD-Fraktion haben bereits angekündigt, Weg beschritten, um die Bedürfnisse der deutschen dass sie sich damit ernsthaft beschäftigen wollen. Ich Wirtschaft zu befriedigen. Ebenso sind wir im eigenen (B) hoffe, dass sich von den beiden Oppositionsfraktionen Land darauf angewiesen, dass deutsche und ausländi- (D) nicht nur die FDP, sondern auch die CDU/CSU damit sche Mitbürger gedeihlich zusammenleben. Dabei auseinander setzen wird. kommt es auch darauf an, dass die hier lebenden Auslän- der ihren eigenen Beitrag zur Eingliederung in die deut- Vielen Dank. sche Gesellschaft leisten. Deutschland wird im Rahmen des neuen Aufenthaltsgesetzes diesen Beitrag unterstüt- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zen und Maßnahmen zur Integration fördern. und bei der SPD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: DIE GRÜNEN) Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Michael Bürsch Mit dem heute von uns vorgelegten Entwurf eines Ge- von der SPD-Fraktion. setzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes ergänzen wir den Zuwanderungskompromiss um das am 1. Januar Dr. Michael Bürsch (SPD): 2005 in Kraft tretende Gesetz in einigen wenigen not- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Politik wendigen Punkten. Wir passen ihn an die inzwischen ver- zeigt offensichtlich immer wieder, welche selektiven änderte Rechtslage an und machen ihn praktikabel. Um Wahrnehmungen und welche unterschiedlichen Ausle- es klar zu sagen: Der Zuwanderungskompromiss steht gungen von eigentlich klaren Gesetzesvorlagen möglich inhaltlich nicht zur Disposition. Er wird durch das heute sind. Ich wiederhole in aller Ruhe und Besonnenheit zu beratende Gesetz weder geschmälert noch ausgewei- – das richtet sich besonders an die Adresse meines Vor- tet. Der Kompromiss wird in der Sache nicht angetastet. vorredners, Herrn Grindel – folgende drei Punkte: Er bleibt so bestehen, wie er im Sommer dieses Jahres beschlossen worden ist. Ich sähe es gern, wenn in diesem Punkt eins. Materielle Änderungen des beschlossenen Haus darüber Konsens bestünde. Vielleicht können wir Zuwanderungsrechts finden nicht statt. in den kommenden Monaten auch noch die letzten Zweifler von unserem Kurs überzeugen. Punkt zwei. Eine Bleiberechtsregelung steht heute nicht auf der Tagesordnung und ist auch nicht Gegen- Ich komme zum Schluss. Die momentanen Ereignisse stand der Entscheidung, die wir zu treffen haben. in Holland zeigen, mit welcher Sensibilität man das Thema „Migration und Integration“ behandeln muss. Punkt drei. Die heute zu beschließenden Ergänzungen des Aufenthaltsrechts sind sinnvoll, maßvoll und erfor- (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Da müssen Sie derlich. sich doch an die eigene Nase fassen!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12709

Dr. Michael Bürsch (A) Ich sage in Richtung aller Fraktionen, insbesondere an weiterer Abgeordneter und der Fraktion der (C) die Adresse derjenigen Fraktion, die dieses ganze Gesetz CDU/CSU und manche Ergänzung, die wir zuletzt vorgenommen haben, kritisiert: Wir müssen alle Fragen der Zuwande- Scheinvaterschaften wirksam bekämpfen rungspolitik jetzt und in Zukunft mit allergrößter Sorg- – Drucksache 15/4028 – falt, mit großer Sensibilität und mit einer konstruktiven Grundhaltung beantworten. Was schadet, sind Polemik, Überweisungsvorschlag: Populismus und Dramatisierung. Rechtsausschuss (f) Auswärtiger Ausschuss (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend DIE GRÜNEN) Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Das Einzige, was uns nützt, ist die Gemeinsamkeit al- Alle Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sollen zu ler Fraktionen in diesem Hause. Sie müssen daran inte- Protokoll genommen werden. Es handelt sich um die Re- ressiert sein, dass wir friedlich miteinander umgehen den der Kolleginnen und Christine Lambrecht von der SPD-Fraktion, der Kollegin Ute (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Integration Granold und des Kollegen Roland Gewalt von der CDU/ brauchen wir und nicht Zuwanderung!) CSU-Fraktion, des Kollegen Philip Josef Winkler von und dass wir die Probleme der Zuwanderung in einer der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der friedlichen, demokratischen Weise lösen. Kollegin Sibylle Laurischk von der FDP-Fraktion.2) Herzlichen Dank. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/4028 an die in der Tagesordnung aufge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- DIE GRÜNEN) verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich rufe den Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b auf: Die Rede des Kollegen Dr. Max Stadler von der FDP nehmen wir zu Protokoll.1) a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das hätten Wohnungswesen (14. Ausschuss) (B) wir gerne noch gehört!) (D) – zu dem Antrag der Abgeordneten Heidi Wright, Ich schließe die Aussprache. Sören Bartol, Uwe Beckmeyer, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der SPD sowie der Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- Abgeordneten Winfried Hermann, Albert desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände- Schmidt (Ingolstadt), Volker Beck (Köln), wei- rung des Aufenthaltsgesetzes und weiterer Gesetze, terer Abgeordneter und der Fraktion des Drucksache 15/3784 und 15/3984. Der Innenausschuss BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- sache 15/4173, den Gesetzentwurf in der Ausschussfas- Umsetzung des nationalen Radverkehrs- sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem zustim- plans 2002 – 2012 forcieren men wollen, um ihr Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Bera- – zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang tung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Börnsen (Bönstrup), Dirk Fischer (Hamburg), FDP-Fraktion gegen die Stimmen der CDU/CSU-Frak- Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der tion angenommen. Fraktion der CDU/CSU Dritte Beratung Radverkehr fördern – Fortschrittsbericht vorlegen und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu- stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – – Drucksachen 15/3467, 15/3708, 15/4103 – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion gegen Berichterstattung: die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen. Abgeordnete Heidi Wright Wolfgang Börnsen (Bönstrup) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute richts des Ausschusses für Tourismus (19. Aus- Granold, Roland Gewalt, Wolfgang Bosbach, schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen

1) Der Redebeitrag wird in einem Nachtrag zu diesem Protokoll abge- 2) Die Redebeiträge werden in einem Nachtrag zu diesem Protokoll druckt. abgedruckt. 12710 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Klimke, Klaus Brähmig, Ernst Hinsken, weiterer Überweisungsvorschlag: (C) Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Innenausschuss (f) Haushaltsausschuss Den Fahrradtourismus in Deutschland umfas- Auch die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sol- send fördern len zu Protokoll genommen werden. Es handelt sich um – Drucksachen 15/2155, 15/4093 – die Reden von Barbara Wittig, SPD-Fraktion, Hartmut Büttner (Schönebeck), CDU/CSU-Fraktion, Silke Stokar Berichterstattung: von Neuforn, Bündnis 90/Die Grünen, Gisela Piltz, Abgeordnete Annette Faße FDP-Fraktion, und des Parlamentarischen Staatssekre- 2) Auch hier sollen die Reden zu Protokoll genommen tärs Fritz Rudolf Körper. werden. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Gabriele Hiller-Ohm und Heidi Wright von der SPD- Drucksache 15/3718 an die in der Tagesordnung aufge- Fraktion, der Kollegen Wolfgang Börnsen (Bönstrup) führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- und Klaus Brähmig von der CDU/CSU-Fraktion, des verstanden? – Das ist der Fall. Die Überweisung ist so Kollegen Winfried Hermann von der Fraktion des Bünd- beschlossen. nisses 90/Die Grünen und des Kollegen Horst Friedrich von der FDP-Fraktion.1) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- empfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Woh- richts des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit nungswesen auf Drucksache 15/4103. Der Ausschuss (9. Ausschuss) empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die – zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des Annahme des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Bündnisses 90/Die Grünen, Drucksache 15/3467 mit dem Titel „Umsetzung des nationalen Radverkehrsplans Zu dem Übereinkommen Nr. 185 der Inter- 2002–2012 forcieren“. Wer stimmt für diese Beschluss- nationalen Arbeitsorganisation über Aus- empfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die weise für Seeleute und zur vereinfachten Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali- Freistellung vom Visumserfordernis tionsfraktionen gegen die Stimme der Oppositionsfrak- – zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang tionen angenommen. Börnsen (Bönstrup), Karl-Josef Laumann, Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung Dagmar Wöhrl, weiterer Abgeordneter und der (B) des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Fraktion der CDU/CSU (D) Drucksache 15/3708 mit dem Titel „Radverkehr för- Zu dem Übereinkommen Nr. 185 der Inter- dern – Fortschrittsbericht vorlegen“. Wer stimmt für nationalen Arbeitsorganisation über Aus- diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent- weise für Seeleute und zur vereinfachten haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- Freistellung vom Visumserfordernis men der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen von CDU/CSU- und FDP-Fraktion angenommen. – zu dem Antrag der Abgeordneten Hans- Michael Goldmann, Horst Friedrich (Bay- Beschlussempfehlung des Ausschusses für Tourismus reuth), Daniel Bahr (Münster), weiterer Abge- auf Drucksache 15/4093 zu dem Antrag der Fraktion der ordneter und der Fraktion der FDP CDU/CSU mit dem Titel „Den Fahrradtourismus in Deutschland umfassend fördern“. Der Ausschuss emp- Zu dem Übereinkommen Nr. 185 der Inter- fiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/2155 abzulehnen. nationalen Arbeitsorganisation über Aus- Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen- weise für Seeleute und zur vereinfachten stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung Freistellung vom Visumserfordernis ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. – Drucksachen 15/3053, 15/3043, 15/3057, 15/4089 – Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: Berichterstattung: Beratung des Antrags der Abgeordneten Abgeordneter Wolfgang Börnsen (Bönstrup) Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, Thomas Die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sollen Strobl (Heilbronn), weiterer Abgeordneter und ebenfalls zu Protokoll genommen werden. Es handelt der Fraktion der CDU/CSU sich um die Reden der Kollegen Dr. , Pilotprojekt für die virtuelle Rekonstruktion SPD-Fraktion, Wolfgang Börnsen (Bönstrup), CDU/ von vorvernichteten Stasi-Unterlagen begin- CSU-Fraktion, Dr. Thea Dückert, Bündnis 90/Die nen Grünen, und Hans-Michael Goldmann, FDP-Fraktion.3) – Drucksache 15/3718 – 2) Die Redebeiträge werden in einem Nachtrag zu diesem Protokoll abgedruckt. 1) Die Redebeiträge werden in einem Nachtrag zu diesem Protokoll 3) Die Redebeiträge werden in einem Nachtrag zu diesem Protokoll abgedruckt. abgedruckt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12711

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- (Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär: „Völ- (C) schusses für Wirtschaft und Arbeit auf Druck- ker“ hat er gesagt!) sache 15/4089 zu den Anträgen der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen, der Fraktion der füge ich als Abgeordneter, der nicht aus Berlin kommt, CDU/CSU und der Fraktion der FDP mit dem gleich hinzu: Denn sie gehört uns, meine Damen und Herren, lautenden Titel „Zu dem Übereinkommen Nr. 185 der sie geht uns an. Wir alle tragen Verantwortung für Ber- Internationalen Arbeitsorganisation über Ausweise für lin. Im Ausland wird Berlin geliebt. Wir als Deutsche Seeleute und zur vereinfachten Freistellung vom Vi- sollten der Welt nacheifern und unsere Hauptstadt von sumserfordernis“. ganzem Herzen lieben und alle Berliner werden. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner (Beifall bei der CDU/CSU) Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion der Fangen Sie heute damit an, indem Sie unserem Antrag SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Druck- zustimmen. sache 15/3053 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer Seit 14 Jahren ist Berlin die Hauptstadt des wieder- enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den vereinigten Deutschlands. Durch die Erweiterung der Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung von Europäischen Union nimmt unsere Hauptstadt im jetzt CDU/CSU- und FDP-Fraktion angenommen. vereinten Europa eine immer stärkere zentrale Rolle ein. Die wachsende Zahl an Staatsbesuchen, Messen, Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp- Kongressen und Ausstellungen demonstriert die natio- fiehlt der Ausschuss, den Antrag der Fraktion der CDU/ nale und internationale Beachtung Berlins. Wir wissen CSU auf Drucksache 15/3043 abzulehnen. Wer stimmt aber auch, Berlin ist nicht London, nicht Paris, nicht für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dage- Warschau, nicht Moskau und nicht Madrid. Während gen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist diese Hauptstädte in ihren Ländern mit Stolz ganz selbst- mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP- verständlich als die Zentrale, als die Hauptstadt betrach- Fraktion bei Gegenstimmen der CDU/CSU-Fraktion an- tet werden, ist das bei Berlin leider noch etwas anders. genommen. Die Stadt wird als Ort mit einer teilweise belasteten Ge- Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch- schichte wahrgenommen, in der zugleich aber auch ein- stabe c seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der malige historische Chancen für das Zusammenwachsen Fraktion der FDP auf Drucksache 15/3057 abzulehnen. Europas ergriffen wurden. Die Erinnerung an die preußi- Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer sche Hauptstadt ist hier ebenso lebendig wie das Berlin stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss- der Nationalsozialisten oder auch die Wunden der Tei- (B) empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio- lung, die hier, ganz wenige Schritte vom Reichstag ent- (D) nen und der CDU/CSU-Fraktion gegen die Stimmen der fernt, zu sehen sind. FDP-Fraktion angenommen. Dann gibt es noch das Problem mit der „Umzugs- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: schere“ in den Köpfen. Viele Westdeutsche sind trotz des Umzuges immer noch nicht in Berlin angekommen. Sie Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen haben noch Bonn als Regierungssitz der alten Bundesre- Klimke, Klaus Brähmig, Edeltraut Töpfer, weite- publik im Kopf. rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU (Horst Kubatschka [SPD]: So ein Schmarren!) Marketing für die Hauptstadt Berlin Zudem erleben wir immer noch die Nachwehen der Ber- – Drucksache 15/3491 – lin-Bonn-Debatte, die die Öffentlichkeit geteilt hat und Überweisungsvorschlag: von hitzigen Diskussionen und eben auch durch ein Ausschuss für Tourismus (f) knappes parlamentarisches Bekenntnis für Berlin ge- Auswärtiger Ausschuss prägt war. Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Meine Damen und Herren, was ist die Konsequenz Ausschuss für Kultur und Medien aus dieser Analyse? Manche mögen diese Analyse als Haushaltsausschuss Quatsch bezeichnen, manche mögen sie dementieren, Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die aber sie ist jedenfalls aus westdeutscher Sicht richtig. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Was ist also die Konsequenz daraus? Wir müssen Berlin keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. stärker in den Köpfen und in den Herzen der Deutschen verankern, Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Jürgen Klimke von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall des Abg. Eckhardt Barthel [Berlin] [SPD]) Jürgen Klimke (CDU/CSU): aber nicht nur in den Herzen der Deutschen, sondern Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Anleh- auch in den Herzen internationaler Besucher. Hierfür ist nung an den großen Berliner Bürgermeister Ernst jetzt ein guter Zeitpunkt, denn die Popularität Berlins als Reuter, der gesagt hat: „Deutsche, schaut auf diese Reiseziel ist ungebrochen. Die Besucherzahlen steigen Stadt!“, stetig. Berlin zieht aber nicht nur Touristen an, sondern 12712 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Jürgen Klimke (A) auch Studenten, Schriftsteller und Künstler können sich nutzen. Diese Maßnahmen würden dazu beitragen, dass (C) dem Sog der Hauptstadt nicht entziehen. Berlin als nationales Projekt von allen Deutschen und dass Berlin auch vom Ausland verstanden wird. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der CDU/CSU) Herr Kollege Klimke, erlauben Sie eine Zwischen- frage des Kollege Brähmig? Meine Damen und Herren, vor allem liebe Kollegin- nen und Kollegen von der SPD, ich kann Sie nur auffor- dern: Unterstützen Sie unseren Antrag! Wir bieten Ihnen Jürgen Klimke (CDU/CSU): eine einzigartige Gelegenheit, die peinliche Diskussion Ja, gerne. um den 3. Oktober wenigstens etwas vergessen zu ma- chen. Nutzen Sie die Chance und stimmen Sie unserem Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Antrag zu. Bitte, Herr Brähmig. (Beifall bei der CDU/CSU) Klaus Brähmig (CDU/CSU): Der Antrag hat folgende Schwerpunkte. Wir wollen Lieber Herr Kollege Klimke, ich will jetzt nicht über die Etablierung einer Projektgruppe „Hauptstadt Berlin“ die Frage Bonn-Berlin sprechen, sondern Sie über das unter der Leitung von Berlin Tourismus-Marketing Verhältnis zwischen Hamburg und Berlin befragen. Die GmbH, in der Vertreter des Bundesministeriums für Deutsche Bahn beabsichtigt ja, im Dezember eine Fern- Wirtschaft und Arbeit und Vertreter des Landes Berlin verbindung mit einer Rekordreisezeit von 90 Minuten zusammenarbeiten sollen. Wir wollen vor allen Dingen zwischen diesen beiden großen deutschen Metropolen auch die Ressourcen von staatlichen und nicht staatli- einzurichten. Sind Sie mit mir der Meinung, dass dieses chen Einrichtungen im In- und Ausland nutzen, ob das den Wirtschafts- und Tourismusstandort Berlin letztend- Botschaften sind, ob das Außenhandelskammern sind, lich stärken wird und wir solche Schnellverbindungen ob das die Deutsche Zentrale für Tourismus ist oder ob nicht nur zwischen Berlin und Hamburg brauchten, son- das die Goethe-Institute oder die Deutsche Welle sind. dern durchaus auch – das sage ich jetzt im Hinblick auf Sie alle sollen Berlin als Hauptstadt national und interna- die EU-Osterweiterung – in Richtung Osteuropa? tional vermarkten. Noch etwas ist aus unserer Sicht ganz besonders Jürgen Klimke (CDU/CSU): wichtig. Es gab zum Beispiel zu meiner Schulzeit die Herzlichen Dank, Herr Kollege Brähmig, für diesen Verpflichtung jeder deutschen Abschlussklasse einer Hinweis. Natürlich finde ich es ganz einzigartig, dass die Volks- und Realschule – der neunten Klasse –, für eine (B) Fahrt zwischen Hamburg und Berlin bzw. umgekehrt Woche nach Berlin zu fahren. Wir sollten diese Ver- (D) nicht mehr 2:30 Stunden dauert, was ja 150 Minuten ent- pflichtung, auch wenn wir sie subventionieren müssen, spricht, sondern nur noch 90 Minuten. Wir sparen also wieder aufleben lassen. Meine Tochter fährt mit ihrer eine Stunde. Die Städte können damit zusammenwach- Klasse mit Ryanair nach Pisa. Pisa ist wunderschön, aber sen. Ich hoffe im Übrigen, dass beide Städte davon unter ich finde, sie sollte lieber nach Berlin fahren. Das gilt im touristischen und unter Marketinggesichtspunkten profi- Übrigen für alle. tieren werden. Man kann als Hamburger, der in Berlin gewesen ist, oder als Berliner, der in Hamburg war, Wir haben hier in Berlin Bertelsmann, wir haben abends nach dem Theater noch nach Hause fahren. Springer, wir haben öffentliche und private Medienein- richtungen. Die Verantwortlichen dieser Häuser sollten (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Fährt ja kein Zug wir direkt ansprechen und sie auffordern, eine Medien- mehr!) kampagne „Berlin – Hauptstadt der Deutschen“ durch- zuführen. Berlin ist mehr als nur ein Zweitwohnsitz. Das zeigt, wie wichtig solche Schnellverbindungen zwi- schen den großen Städten sind. Ich könnte mir so etwas (Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Brähmig beispielsweise auch zwischen Berlin und Prag mit Zwi- [CDU/CSU]: Die Zweitwohnsitzsteuer muss schenstopp in Dresden vorstellen. weg! – Gegenruf von der SPD: Das kann ich bestätigen!) Wir müssen das große Interesse, das im Moment an Berlin besteht, nutzen. Unsere Hauptstadt muss als Ge- – Richtig, auch ich kann das bestätigen. sicht des föderalen Deutschlands und als Identifikations- punkt für das föderale parlamentarische System noch Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: stärker wahrgenommen werden. Ich glaube, es ist not- Herr Kollege Klimke, kommen Sie bitte zum Schluss. wendig, dass wir die Bundesorgane und die deutsche Geschichte in ihrer Gesamtheit, aber auch das architek- tonische Erbe hier in Berlin würdig darstellen. Wir müs- Jürgen Klimke (CDU/CSU): sen die kulturellen Ereignisse und Einrichtungen mit Mit einem Zitat habe ich begonnen und mit einem Zi- Hauptstadtbedeutung fördern. Wir müssen auch den vor tat komme ich zum Schluss. John F. Kennedy hat gesagt: wenigen Monaten hier beschlossenen Wiederaufbau des „Ich bin ein Berliner.“ Meine Damen und Herren, wir Berliner Stadtschlosses umsetzen. Im Übrigen, Herr alle, die wir hier sind, aber auch diejenigen, die nicht Kollege Brähmig, könnten wir dabei auch die Erfahrun- hier sind, sollten das als Anspruch und als Ansporn nut- gen vom Wiederaufbau der Frauenkirche in Dresden zen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12713

Jürgen Klimke (A) Herzlichen Dank. standen, Herr Kollege! Es geht um die Haupt- (C) stadt, nicht um die Berliner Kommune!) (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Aber Ernst Reuter hat trotzdem Die Essenz Ihrer Rede – dass die Deutschen stolz auf gesagt: „Ihr Völker der Welt, schaut auf diese ihre Hauptstadt sein sollen – können Sie mit einem An- Stadt“, nicht: „Deutsche, schaut auf diese trag im Deutschen Bundestag beim besten Willen nie- Stadt“! Lesen Sie das noch einmal nach!) mals erreichen. Das erreicht Berlin aus eigener Kraft und eigener Stärke. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Sehr gut!) Jetzt hätte eigentlich die Kollegin Brunhilde Irber von der SPD das Wort, aber sie gibt ihre Rede zu Protokoll. Dazu bedarf es keiner Anträge in diesem Haus. Vielmehr Das Gleiche gilt für die Kollegin Franziska Eichstädt- sind es die Lebendigkeit der Stadt Berlin, ihr Kulturle- Bohlig1). ben, die Menschen, die nach der Wende zugezogen sind, und die Berliner, die hier schon immer leben, die die Deswegen hat jetzt der Kollege Markus Löning von Stadt lebenswert und liebenswert machen und die zu ih- der FDP das Wort. rer Geschichte mit all ihren Brüchen – mit dem Schlech- ten der Vergangenheit ebenso wie mit dem Guten der (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Vergangenheit – stehen, die einen Teil der Faszination dieser Stadt ausmachen. Wir brauchen keine bürokrati- Markus Löning (FDP): schen Marketingmaßnahmen, um zu erreichen, dass die Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Stadt geliebt wird. Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Kollege Klimke, es gibt in Ihrem Antrag einen Absatz, der mir sehr gut ge- (Beifall bei der FDP und der SPD – Klaus fällt, und zwar der Absatz über den beschlossenen Wie- Brähmig [CDU/CSU]: Sie müssen den Antrag deraufbau des Stadtschlosses. In diesem Punkt stimme einmal lesen! Da geht es doch nicht um Büro- ich Ihnen in der Tat aus vollem Herzen und aus voller kratie!) Überzeugung zu. Auch die Idee, sich an dem Wiederauf- Insofern finde ich es sehr schade, dass wir zu einem bau der Frauenkirche in Dresden zu orientieren, halte ich so wichtigen Thema wie der Hauptstadt anhand eines so für eine gute Idee. bürokratischen Antrages sprechen. Es tut mir wirklich Leid. Ansonsten, muss ich sagen, finde ich Ihren Antrag au- ßerordentlich enttäuschend. Es ist richtig, die Völker der Es gibt einiges zu Details zu sagen, die Sie hier ange- (B) Welt schauen auf diese Stadt. Diese Stadt braucht eine sprochen haben. Eine Klassenfahrt nach Berlin als (D) Menge, sie hat eine Menge nötig. Wenn Sie sich den der- Pflicht – entschuldigen Sie, wo leben wir denn heute? zeitigen Senat anschauen, dann wissen Sie auch, warum: Wo leben wir denn, dass wir unseren Kindern verordnen Das ist ein Senat, der wenig kann und noch weniger sollen, nach Berlin an die Mauer zu fahren? Das sind macht. Sie müssen zugeben: Auch Herr Diepgen war als doch Vorstellungen von vorgestern. Die Kinder kommen Regierender Bürgermeister nicht jemand, der die Stadt von alleine hierher. Das brauchen wir ihnen nicht zu ver- Berlin besonders prickelnd dargestellt und der Welt be- ordnen. Das ist uns doch viel lieber. sonders viel Geschmack auf Berlin gemacht hat. (Beifall bei der FDP und der SPD) (Günter Nooke [CDU/CSU]: Das ist jetzt ge- schmacklos! – Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Das In diesem Sinne, lieber Herr Kollege, fürchte ich, dass holt Wowereit jetzt nach!) wir diesen Antrag ablehnen werden. (Beifall bei der FDP) Ich will Ihnen ganz ehrlich sagen: Solch ein Antrag, der versucht, das Marketing dieser Stadt dermaßen zu bürokratisieren, wie Sie sich das hier vorstellen, geht Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: doch völlig daneben. Das, was Sie hier vorschlagen, Das Wort hat jetzt die Kollegin Edeltraut Töpfer von muss doch in die Hose gehen – entschuldigen Sie den der CDU/CSU-Fraktion. Ausdruck an dieser Stelle. Ich kann – bei allem Respekt für das Wirtschaftsmi- Edeltraut Töpfer (CDU/CSU): nisterium – auch nicht verstehen, wie Sie auf die Idee Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und kommen, dass das Bundeswirtschaftsministerium diese Kollegen! Ich muss doch sagen, dass mich die Rede mei- Stadt besonders gut vermarkten könnte. Dafür gibt es nes FDP-Kollegen sehr enttäuscht hat. Denn es macht ei- eine gewählte Landesregierung. Die gewählte Landesre- nen Riesenunterschied, ob es um Berlin als solches oder gierung soll sich darum kümmern. Der gewählten Lan- um Berlin als Hauptstadt geht. desregierung sollte man das ins Stammbuch schreiben. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der SPD – Jürgen Seit nunmehr 14 Jahren ist Berlin die Hauptstadt des Klimke [CDU/CSU]: Sie haben es nicht ver- wiedervereinigten Deutschlands. Im Bewusstsein der Bundesbürger besitzt Berlin als Hauptstadt, wie mein 1) Die Redebeiträge werden in einem Nachtrag zu diesem Protokoll Kollege Klimke bereits gesagt hat, aber nur selten den abgedruckt. Stellenwert, den andere Hauptstädte wie zum Beispiel 12714 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Edeltraut Töpfer (A) Rom, Paris, London, Moskau oder Tokio für ihre Staats- getan hat, als das jegliche bürokratische Regelung, wie (C) bürger, aber auch für Ausländer haben. Sie sie hier vorschlagen, jemals erreichen könnte? Durch diesen Antrag möchten wir erreichen, dass (Beifall bei der FDP) Berlin in seiner Funktion als Bundeshauptstadt positiv im Bewusstsein der Menschen aus der Bundesrepublik Edeltraut Töpfer (CDU/CSU): und der ganzen Welt verankert wird. Die Hauptstadt Lieber Herr Kollege Löning, beides ist gefordert. Wir unseres Landes muss deshalb mehr als bisher als brauchen zunächst eine gemeinsame Projektgruppe der Identifikationspunkt des föderalen, parlamentarischen Bundesregierung und der Berlin Tourismus Marketing Systems der Bundesrepublik wahrgenommen werden. GmbH. Dann finden wir auch weitere private Förderer Über 50 Jahre freiheitliche Demokratie auf deut- und können so Berlin als Hauptstadt besser vermarkten. schem Boden sind auch eine Chance für Berlin, für seine Es gibt gute Beispiele für private Förderung; aber das hat Rolle im durch die Osterweiterung der Europäischen nichts mit der Förderung Berlins als Hauptstadt zu tun. Union friedlich wiedervereinigten Europa. Da muss man differenzieren. Notwendige Voraussetzung für die positive Weiter- (Beifall bei der CDU/CSU) entwicklung Berlins als weltoffener Stadt ist eine gute Die Einrichtung einer Projektgruppe hat mein Kol- touristische Vermarktung auch als Hauptstadt. Schon lege schon erwähnt. Innerhalb eines Zeitraums von drei heute liegt Berlin mit circa 11 Millionen Übernachtun- Jahren soll die Projektgruppe die Planung und Durchfüh- gen im Jahr hinter Paris und London auf Platz drei in rung von Maßnahmen zur nationalen und internationalen Europa. Berlin ist ein interessanter Treffpunkt nicht nur Darstellung Berlins als Hauptstadt koordinieren. Dabei für Touristen, sondern auch für Studenten, Schriftsteller, sollen auch die Ressourcen von deutschen Einrichtungen Künstler und die Medienbranche geworden. Bereits im Ausland – wie deutsche Botschaften, Goethe-Insti- heute erwirtschaftet die Tourismuswirtschaft in unserer tute und Deutsche Welle – genutzt werden. Stadt einen Bruttoumsatz von rund 5,2 Milliarden Euro. Sie sichert direkt und indirekt 66 000 Arbeitsplätze, Berlin sollte sich dabei unter anderem als kultureller meine Herrschaften, und verschafft damit dem Land Schmelztiegel, als das Tor zum Osten und als Spiegel Berlin Steuereinnahmen in Höhe von circa 590 Mil- der gesamtdeutschen Geschichte präsentieren. Zur Rolle lionen Euro jährlich. Da frage ich Sie, liebe Kollegen: Ist Berlins als weltoffene und gastfreundliche Metropole im Berlin es nicht wert, es als Hauptstadt weiter zu ver- Herzen Europas gehört unter anderem eine verständliche markten? Wir brauchen Steuereinnahmen; Sie alle ken- und würdige Darstellung der in Berlin vertretenen Bun- nen das Loch im Berliner Staatshaushalt. desorgane, insbesondere des Bundesrates und des Bun- (B) destages, der wechselvollen und zum Teil dramatischen (D) Berlin kann die Hauptstadtaufgaben nicht allein aus Geschichte dieser Stadt und seines eindrucksvollen ar- eigener Kraft wahrnehmen. Das kann vom Land Berlin chitektonischen Erbes aus verschiedenen, unser ganzes auch niemand guten Gewissens fordern; denn es handelt Land prägenden Epochen. sich hier um Aufgaben der gesamten Nation. Insbeson- dere der Bund ist hier gefordert, sich für seine Haupt- Die Projektgruppe muss selbstverständlich finanziell stadt nachhaltiger als bisher zu engagieren. solide ausgestattet sein, damit sie ihre Ziele auch errei- chen kann. Die benötigten finanziellen Mittel könnten (Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Brähmig aus dem Budget der Bundesregierung für Öffentlich- [CDU/CSU]: Das unterstützen wir ausdrück- keitsarbeit umgeschichtet werden. Ich bin mir sicher, lich!) dass für eine bessere Vermarktung dann auch private Sponsoren gefunden werden würden. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Meine Damen und Herren, eine weitere sehr sinnvolle Frau Kollegin Töpfer, erlauben Sie eine Zwischen- Maßnahme könnte meines Erachtens die – nicht zwangs- frage des Kollegen Löning? weise, sondern freiwillige – Förderung von Abschluss- fahrten von Schülern aus dem gesamten Bundesgebiet Edeltraut Töpfer (CDU/CSU): sein. Ja, bitte. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: In Berlin kann und sollte den jungen Menschen ein tiefer Einblick in die wechselhafte deutsche Geschichte er- Bitte schön. möglicht werden. Zahlreiche geschichtsträchtige Orte, ( [CDU/CSU]: Der hat doch Gedenkstätten und Museen bieten einen hervorragenden alles schon gesagt!) Querschnitt der Geschichte unseres Landes der letzten 200 Jahre. Markus Löning (FDP): Neben den großen Erfolgen auf dem Weg zur äußeren Sehr geehrte Frau Kollegin Töpfer, sind Sie nicht mit und inneren Einheit unseres Landes können die Schüle- mir der Meinung, dass ein Event wie die MoMA-Aus- rinnen und Schüler in der Bundeshauptstadt auch den stellung, ein rein privat finanziertes Event, wesentlich Werkstattcharakter der Stadt auf dem Weg zur deutschen mehr für das Image und die Attraktivität unserer Stadt Einheit – quasi wie auf einer Bau- und Schaustelle – er- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12715

Edeltraut Töpfer (A) leben. Klassenreisen nach Berlin steigern die Anzie- Lothar Mark (C) hungskraft der Stadt für junge Menschen. Ein Teil von ihnen kehrt, wie wir in der Vergangenheit gesehen ha- Jürgen Koppelin ben, möglicherweise zum Studium, zur Ausbildung oder zur Berufstätigkeit in die Stadt zurück und stärkt das Po- Die Reden der Kolleginnen und Kollegen Eckhardt tenzial der Hauptstadt. Ich bin mir sicher, dass man mit Barthel, , Heinrich-Wilhelm Ronsöhr, einem solchen Programm auch etwas gegen die häufig Dr. Antje Vollmer und Dr. Christine Weiss für die 1) erwähnte Politikverdrossenheit der Jugend erreichen Bundesregierung werden zu Protokoll gegeben. Es ver- kann. bleibt die Rede des Kollegen Otto von der FDP-Frak- tion. Die Durchführung einer Medienkampagne hat mein Kollege Klimke schon erwähnt. (Beifall bei der FDP) Bevor ich zum Schluss komme, möchte ich noch ei- nige Sätze zu einer sehr hilfreichen Unterstützung unse- Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): rer Marketingoffensive für Berlin sagen. Es freut mich in Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich nutze diesem Zusammenhang besonders, dass auch die CDU- die wenigen Minuten meiner Redezeit, um Ihnen zu be- Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus einen eigenen gründen, warum die FDP-Fraktion diesem Gesetzent- Antrag mit dem Titel „Mehr als eine schöne Stadt – Tou- wurf nicht ihre Zustimmung erteilen kann. rismusinitiative für Berlin unterstützend begleiten!“ ein- Die Akademie der Künste hat es nicht verdient, in ei- gebracht hat, der das Anliegen meiner Fraktion aufgreift ner Art Verschiebebahnhof von der Verantwortung des und nachdrücklich unterstützt. So wird in diesem Antrag Landes Berlin in die Verantwortung des Bundes über- zu Recht die aktive Teilnahme des Regierenden Bürger- führt zu werden. Dies soll nicht etwa deswegen gesche- meisters an der geplanten Projektgruppe „Hauptstadt hen, weil dafür sachliche Gründe vorliegen, sondern Berlin“ gefordert. weil wieder einmal Geld im Berliner Kulturhaushalt Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. fehlt. (Beifall bei der CDU/CSU) Es waren genau 22 Millionen Euro, (Günter Nooke [CDU/CSU]: 22,5 Millionen!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. die für die Berliner Opernstiftung benötigt wurden. Frau Weiss und auch Herr Flierl sind deswegen auf die Idee (B) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf gekommen, dass drei Berliner Institutionen in die Ver- (D) Drucksache 15/3491 an die in der Tagesordnung aufge- antwortung des Bundes verschoben werden müssen. führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit Darunter befindet sich auch die Akademie der Künste. einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei- sung so beschlossen. Als in diesem Hause – übrigens ohne Aussprache – in erster Lesung dieser Gesetzentwurf beraten wurde, hat Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: der Bundesrat Einspruch erhoben, weil er der Meinung Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- war, dass der Bundestag aufgrund fehlender Gesetzge- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes bungskompetenz nicht darüber entscheiden kann. Da- zur Errichtung der Akademie der Künste raufhin haben die Fraktionen von SPD und Grünen dem (AdKG) Gesetzentwurf hinzugefügt – das ist eine wunderbare Wortklauberei –, dass die Akademie der Künste eine na- – Drucksache 15/3350 – tional bedeutsame Einrichtung sei und der Repräsenta- (Erste Beratung 118. Sitzung) tion des Gesamtstaates diene. So kann man mit angese- henen Institutionen nicht umgehen. Man kann nicht a) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- einfach schreiben, diese Maßnahme sei wichtig für den schusses für Kultur und Medien (21. Aus- Gesamtstaat. schuss) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) – Drucksache 15/4124 – Was wir von Frau Weiss und von der Regierungsko- Berichterstattung: alition erwarten, ist, dass in die Hauptstadtkulturförde- Abgeordnete Eckhardt Barthel (Berlin) rung, deren Mittel rund zwei Drittel der gesamten För- Günter Nooke dermittel des Bundes ausmachen, eine Systematik Dr. Antje Vollmer hineinkommt und dass begründet wird, warum be- Hans-Joachim Otto (Frankfurt) stimmte Institutionen in die Verantwortung des Bundes b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- kommen und bestimmte Institutionen in der Verantwor- schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung tung des Landes Berlin verbleiben. Dies hätten wir schon im Falle der Akademie der Künste erwartet. – Drucksache 15/4127 –

Berichterstattung: 1) Die Redebeiträge werden in einem Nachtrag zu diesem Protokoll Abgeordnete Steffen Kampeter abgedruckt. 12716 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (A) Es ist ein problematischer Vorgang, dass eine Institu- ner möglichst breiten Mehrheit des Parlamentes zu ver- (C) tion in den Verantwortungsbereich des Bundes verscho- sehen. ben wird – die Zusatzkosten dafür belaufen sich auf 16,2 Millionen Euro im Jahr –, weil Löcher im Haushalt Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: des Landes Berlin aufgetreten sind. Wir bekennen uns Zur Erwiderung Herr Otto. zur Verantwortung des Bundes für die Hauptstadtkultur. Aber wir akzeptieren es nicht länger, dass irgendwelche Institutionen hin und her geschoben werden und die Ver- Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): antwortung immer mehr auf den Bund abgeladen wird, Lieber Herr Kollege Nooke, wir betrachten es nicht wenn sich im Haushalt des Landes Berlin ein Haushalts- als die Krönung der Anerkennung, wenn eine Institution loch auftut. Wir verlangen von Ihnen, dass Systematik, in die Verantwortung des Bundes gerät. Wir stehen zur Transparenz und Rationalität in die Hauptstadtkultur Arbeit der Akademie der Künste. Wir sind allerdings der eingeführt werden. Deswegen können wir diesem Gesetz Meinung, dass sie dort, wo sie bisher ist, nämlich in der unsere Zustimmung nicht erteilen. Verantwortung des Landes Berlin, bleiben kann. Jeden- falls darf die Akademie der Künste nicht zu einem Ver- Ich möchte klarstellen, dass sich die Ablehnung der schiebebahnhof werden. FDP-Fraktion nicht gegen die Akademie der Künste richtet. Sie leistet eine hervorragende Arbeit. Aber uns Wir erwarten, dass bei künftigen Verantwortungs- hat niemand klar machen können, warum diese Akade- verschiebungen zwischen dem Land Berlin und dem mie und auch andere Institutionen in die Verantwortung Bund eine Systematik hergestellt wird, indem erklärt des Bundes überführt werden sollen. Wir müssen in die- wird, warum bestimmte Institutionen vom Bund zu über- sem Feld zu einer Systematik kommen. Deswegen sehen nehmen sind und andere nicht. Was hier in den letzten wir uns außerstande, diesem Gesetzentwurf die Zustim- Jahren passiert ist, ist nicht mehr nachzuvollziehen. mung zu erteilen. Ich will es noch einmal deutlich sagen: Unser Vorge- Vielen Dank. hen richtet sich nicht gegen die Akademie der Künste. (Beifall bei der FDP) (Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Das haben wir ver- standen, Herr Otto! Es richtet sich nicht gegen die Akademie der Künste! – Gegenruf des Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Abg. Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Gegen wen Eigentlich war das der letzte Redner des heutigen Ta- richtet es sich dann?) ges. Aber der Kollege Günter Nooke hat das Bedürfnis, (B) eine Kurzintervention zu machen. Diese wollen wir dann Es richtet sich gegen die unterlassene Rationalität und (D) doch noch anhören. – Bitte schön. die unterlassene Transparenz aufseiten der Regierungs- koalition. Wir wollen dies nicht auf dem Rücken der Akademie der Künste austragen. Günter Nooke (CDU/CSU): Danke. Herr Präsident, das klingt ja so, als ob wir jetzt nicht mehr reden dürfen, weil die Zeit schon so weit fortge- (Beifall bei der FDP – Günter Nooke [CDU/ schritten ist. Ich denke, es lohnt sich schon, noch kurz CSU]: Einverstanden!) auf Herrn Otto zu reagieren, da ich ihn aus Sicht der CDU/CSU-Fraktion in allem, was er zu den verfahrens- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: technischen Aspekten gesagt hat, nur unterstützen kann. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Es ist in der Tat ein Gesetz gemacht worden, das viel- Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes leicht gar nicht nötig gewesen wäre, das im Bundesrat zur Errichtung der Akademie der Künste auf abgelehnt und dann verändert wurde. Im Zugriffsverfah- Drucksache 15/3350. Der Ausschuss für Kultur und ren wurde ohne jede Systematik eine Berliner Institution Medien empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf ausgewählt, die vom Bund übernommen werden sollte. Drucksache 15/4124, den Gesetzentwurf in der Aus- Das geht so nicht; das ist völlig richtig. schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei- Ich will noch einmal für unsere Fraktion feststellen: chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz- Wir kommen zu einem anderen Ergebnis als die FDP. entwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Weil die Staatsministerin so schäbig mit einer wichtigen Koalitionsfraktionen und der CDU/CSU-Fraktion gegen Institution umgegangen ist und verfahrenstechnisch alles die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen. falsch gemacht hat, was man falsch machen kann, sagen wir: Dieses Vorgehen sollte die ehrwürdige Akademie Dritte Beratung der Künste nicht gefährden. Wir stimmen diesem Ge- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu- setzentwurf zu, obwohl ich die Verfahrenskritik, die Kol- stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – lege Otto vorgetragen hat, teile. Insofern ist es, glaube Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung ich, wichtig, deutlich zu machen, dass es uns nicht da- mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der CDU/ rum geht, die kleinlichen Verfahren in den Vordergrund CSU angenommen. zu stellen, sondern eine wichtige Einrichtung in Berlin finanziell gut auszustatten und mit der Unterstützung ei- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a und 18 b auf: Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12717

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung (C) von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs so beschlossen. eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 18. No- Ich rufe Zusatztagesordnungspunkt 7 auf: vember 2002 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Gemeinschaft und Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Repu- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes blik Chile andererseits zum internationalen Familienrecht – Drucksache 15/3881 (neu) – – Drucksache 15/3981 – (Erste Beratung 132. Sitzung) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- schusses (6. Ausschuss) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärti- gen Ausschusses (3. Ausschuss) – Drucksache 15/4168 – – Drucksache 15/4171 – Berichterstattung: Abgeordnete Sabine Bätzing Berichterstattung: Christine Lambrecht Abgeordnete Gert Weisskirchen (Wiesloch) Ute Granold Klaus-Jürgen Hedrich Irmingard Schewe-Gerigk Dr. Ludger Volmer Sibylle Laurischk Dr. Auch hier sollen die Reden zu Protokoll genommen b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus- werden. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen Jürgen Hedrich, Dr. Friedbert Pflüger, Christine Lambrecht von der SPD-Fraktion, Ute Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter und Granold, CDU/CSU-Fraktion, Irmingard Schewe- der Fraktion der CDU/CSU Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen, Sibylle Laurischk, Für einen europäisch-kolumbianischen Dialog FDP-Fraktion, und des Parlamentarischen Staatssekre- 2) und einen erfolgreichen Friedensprozess in tärs Alfred Hartenbach. Kolumbien einsetzen Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- – Drucksache 15/3959 – desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zum interna- tionalen Familienrecht, Drucksache 15/3981. Der Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/4168, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die (B) Innenausschuss (D) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz- Landwirtschaft entwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenom- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und men. Entwicklung Wir kommen zur Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Hier sollen alle Reden zu Protokoll genommen wer- dritten Beratung den. Es handelt sich um die Reden von Lothar Mark, und Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, möge SPD-Fraktion, Klaus-Jürgen Hedrich, Erika Steinbach sich erheben. – Die Frage nach Gegenstimmen und Ent- und Heinrich-Wilhelm Ronsöhr von der CDU/CSU- haltungen erübrigt sich. Der Gesetzentwurf ist einstim- Fraktion, Hans-Christian Ströbele vom Bündnis 90/Die mig angenommen. Grünen und Harald Leibrecht von der FDP-Fraktion.1) Ich rufe Zusatztagesordnungspunkt 8 auf: Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes dem Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwi- zur Änderung des Ehe- und Lebenspartner- schen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mit- schaftsnamensrechts gliedstaaten einerseits und der Republik Chile anderer- seits, Drucksache 15/3881 (neu). Der Auswärtige – Drucksache 15/3979 – Ausschuss empfiehlt auf Drucksache 15/4171, den Ge- Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- setzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem schusses (6. Ausschuss) Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf – Drucksache 15/4167 – ist einstimmig angenommen. Berichterstattung: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Abgeordnete Christine Lambrecht Drucksache 15/3959 an die in der Tagesordnung aufge- Ute Granold führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Daniela Raab

1) Die Redebeiträge werden in einem Nachtrag zu diesem Protokoll 2) Die Redebeiträge werden in einem Nachtrag zu diesem Protokoll abgedruckt. abgedruckt. 12718 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Irmingard Schewe-Gerigk Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der (C) Sibylle Laurischk Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig ange- nommen. Auch die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sol- len zu Protokoll genommen werden. Es handelt sich um Wir kommen zur die Reden der Kolleginnen Christine Lambrecht, SPD- dritten Beratung Fraktion, Ute Granold, CDU/CSU-Fraktion, Irmingard Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen, Sibylle und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu- Laurischk, FDP-Fraktion, und des Parlamentarischen stimmen wollen, sich zu erheben. – Die Frage nach Ge- Staatssekretärs Alfred Hartenbach.1) genstimmen und Enthaltungen erübrigt sich. Der Gesetz- entwurf ist einstimmig angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände- Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tages- ordnung. rung des Ehe- und Lebenspartnerschaftsnamensrechts, Drucksache 15/3979. Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- Drucksache 15/4167, den Gesetzentwurf anzunehmen. destages auf morgen, Freitag, den 12. November 2004, Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen. 1) Die Redebeiträge werden in einem Nachtrag zu diesem Protokoll abgedruckt. (Schluss: 22.17 Uhr)

(B) (D) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 138. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2004 12719

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Blumenthal, Antje CDU/CSU 11.11.2004 Rübenkönig, Gerhard SPD 11.11.2004

Friedrich (Mettmann), SPD 11.11.2004 Rupprecht SPD 11.11.2004 Lilo (Tuchenbach), Marlene Grasedieck, Dieter SPD 11.11.2004 Seib, Marion CDU/CSU 11.11.2004 Griese, Kerstin SPD 11.11.2004 Dr. Skarpelis-Sperk, SPD 11.11.2004 Gröhe, Hermann CDU/CSU 11.11.2004 Sigrid

Heil, Hubertus SPD 11.11.2004 Steenblock, Rainder BÜNDNIS 90/ 11.11.2004 DIE GRÜNEN Hennrich, Michael CDU/CSU 11.11.2004 Dr. Wend, Rainer SPD 11.11.2004 Hörster, Joachim CDU/CSU 11.11.2004 Dr. Wodarg, SPD 11.11.2004 Kossendey, Thomas CDU/CSU 11.11.2004 Wolfgang Lietz, Ursula CDU/CSU 11.11.2004

* * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- Lintner, Eduard CDU/CSU 11.11.2004 sammlung des Europarates

(B) (D)

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