Werbeseite

Werbeseite MNO DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung Betr.: Ostdeutschland,

a Der falsche Zungenschlag war zu erwarten und die Hausmitteilung im Heft letzter Woche schon mal ein Versuch, zum Thema der Titelgeschichte rechtzeitig ins Licht zu rücken: daß beim Verplempern und Versickern der westlichen Milliardengaben in den deutschen Osten beide Seiten geschädigt wurden und daß die Schuld daran keinesfalls nur in den neuen Ländern zu fin- den ist. Aber es half nichts. Da solle doch, so war dann prompt zu hören und zu lesen, “ein Keil getrieben“ werden zwischen Ossis und Wessis, eine gezielte “Kampa- gne“ wurde gesichtet, und Branden- burgs Regierungschef Manfred Stol- pe konstatierte gar eine “West- Ost-Hetze“ – gerade so, als sei SPIEGEL 7/1995 dieses Sterntalermädchen auf dem Titelbild in Wahrheit das verklei- dete Böse: hinter dem SPIEGEL dunkle Triebkräfte einer Verschwörung oder einfach das redaktionelle Vergnügen daran, Keile zu treiben. Die Geschichte, daß der Bote, der die schlechte Nachricht über- bringt, an allem die Schuld trägt, ist eine ganz alte Geschichte, hat aber von ihrer Absurdität nichts eingebüßt. a Schon seit 1978 lebt Harald Schumann, Autor der Titelgeschichte über Berlin (Seite 42), in der Hauptstadt und weiß nun “plötzlich nicht mehr, wie ich mich fühlen soll in dieser Heimat“: begeistert von der stürmischen Entwicklung, die da anläuft, oder doch eher besorgt über die Zukunft. Der Me- tropole stehen große Belastungen bevor – nicht zu- letzt durch die sprunghaft wachsende Zahl der dort illegal lebenden Ausländer, deren Ängste Claudia Pai am Beispiel des Chilenen Joaquı´n beschreibt (Seite 52). Wie sich Berlin verändern wird, demon- striert das Panorama-Bild auf Seite 42/43 – eine technische Raffinesse. In die Luftaufnahmen, die von einem Hubschrauber aus gemacht wurden, fügte das Hamburger Multi-Media-Unternehmen Dalecki & Partner mit Computer-Hilfe die Modelle riesiger Baukomplexe ein – exakt dort, wo sie bald stehen sollen.

Die nächste SPIEGEL-Ausgabe wird wegen des Rosenmontags in weiten Teilen Deutsch- lands bereits am Sonnabend, 25. Februar, verkauft und den Abonnenten zugestellt.

DER SPIEGEL 8/1995 3 .

TITEL INHALT Berlin – New York in Europa? ...... 42 Klaus Töpfers Umzugspläne ...... 48 Der Alltag eines Illegalen in Berlin ...... 52 Jürgen Leinemann über Gespaltene Republik Seiten 18, 21 die Berliner Republik ...... 57 Die Allzweck-Ruine „Tacheles“ ...... 60 Der Streit um die Mil- Baumeister streiten über die liardenvergeudung „preußische“ Hauptstadt-Ästhetik ...... 70 im Osten spaltet Deutschland. Politi- DEUTSCHLAND ker und Bürger schimpfen aufeinan- Panorama ...... 16 der. „Wir sind den Verschwendung: Die Stunde Westdeutschen nur der Heuchler ...... 18 lästig“, klagt Sach- Interview mit Sachsen-Anhalts sen-Anhalts Regie- Ministerpräsident Reinhard Höppner über rungschef Höppner

den Finanz-Streit zwischen Ost und West ...... 21 H. HAUSWALD / OSTKREUZ im SPIEGEL-Ge- Ostpolitik: Die „back channels“ der Union ...... 24 Ost-Klärwerk (in Elsterwerda) spräch. Schäubles Geheimtreff mit dem KGB ...... 26 Regierung: Die FDP wittert die Chance ...... 28 Umwelt: Experten zweifeln am Fünf-Liter-Auto ...... 32 Kohls KGB-Kanäle Seite 24 SPD: Haftbefehl gegen Wienand ...... 34 Rebellion gegen Saar-Regent Die Empörung der Uni- Oskar Lafontaine ...... 98 on über Egon Bahrs ge- : Interview mit dem heime Moskau-Kontak- Wahlrechtsexperten Hans Meyer zur Klage te ist geheuchelt. Poli- gegen Überhangmandate ...... 35 tiker von CDU und CSU nutzten oft dieselben Strafjustiz: Gisela Friedrichsen Kanäle, um mit den ro- zum Vogel-Prozeß in Berlin ...... 36 ten Kreml-Herren in Forum ...... 39 Kontakt zu bleiben. Spione: Walter Mayr über den Helmut Kohls Vertraute haftverschonten DDR-Agentenchef – ob Berater Teltschik Markus Wolf ...... 80 oder Schäuble – scher- Erotik: Wenn Männer te es dabei überhaupt über Sex reden ...... 86 nicht, daß ihre Ge-

Adel: Erbenstreit um Europas sprächspartner hohe J. H. DARCHINGER R. JAHNKE / ARGUS ältestes Weingut ...... 87 KGB-Offiziere waren. Bahr Kohl Rauschgifthandel: Deutsches Drogengeld für Anatolien ...... 92 Juristen: Rotes Kreuz deckt Ankläger Fünf-Liter-Auto nutzlos? Seite 32 des Dritten Reiches ...... 94 Verkehr: Norddeutsche balgen sich Umweltexperten um eine Autobahn ...... 96 halten das geplante Fünf-Liter-Auto, ein WIRTSCHAFT Lieblingsprojekt von Aufschwung: Geld ist da, Ideen fehlen ...... 100 Angela Merkel, für nutzlos: Der gerin- Daimler-Benz: Sanierungsfall Fokker gere CO2-Ausstoß belastet die Dasa ...... 102 werde durch immer Fusionen: Interview mit Kartellamts- mehr Autos auf im- präsident Dieter Wolf über den mer neuen Straßen schwindenden Einfluß seiner Behörde ...... 104 wettgemacht. Das Konzerne: Philips’ staunenswerter Umweltbundesamt Aufstieg aus der Krise ...... 106 fordert statt dessen Trends ...... 108 Preiserhöhungen Ungleiche Brüder Alibi und Status SZ fürs Autofahren. Energie: Die Bergleute kämpfen um Subventionen ...... 112

GESELLSCHAFT Krisensitzungen wegen Fokker Seite 102 Verkehr: Gewalt auf Deutschlands Straßen ...... 120 400 Millionen Mark hat die Flugzeugfirma Fokker 1994 an Verlusten Interview mit dem Philosophen eingeflogen. Mit Werkschließungen und Massenentlassungen will Peter Sloterdijk über Mensch und Auto ...... 130 Daimler-Benz das Desaster bei der Konzernfirma abwenden. Analy- Medien ...... 137 sten geben Fokker bereits verloren. Idole: Claudius Seidl über Macht und Größenwahn der Topmodels ...... 140

4 DER SPIEGEL 8/1995 .

AUSLAND Panorama Ausland ...... 146 Rußland: Jelzin gibt Rechenschaft ...... 148 Satelliten lotsen Flugzeuge Seite 184 Soldatenmütter holen ihre Söhne heim ...... 150 Afghanistan: Geheimnisvolle Korankrieger ..... 152 Erstmalig sollen Mexiko: Carlos Widmann über Flugzeuge auf Strek- den Feldzug gegen die Zapatisten ...... 154 kenflügen und beim Spanien: Gefahr für Gonza´lez ...... 156 Landen von Satelli- Serbien: Kniefall vor Milosˇevic´ ...... 160 ten geführt werden. Bosnien: Ein Großversuch Erich Wiedemann über den Frust wird ab Juni auf dem der Uno-Friedenssoldaten ...... 162 Flughafen München Frankreich: Formschwäche des Wahlfavoriten .. 167 stattfinden. Die Peru: Grenzkonflikt mit zwei Siegern ...... 170 Schweizer Crossair Südafrika: Winnie Mandela hat die neue Technik im Affärensumpf ...... 175 im Wallis erprobt Großbritannien: Interview mit und fliegt nun das Ex-Premier Sir Edward Heath über den schwierige Lugano Europastreit der Konservativen ...... 176

CROSSAIR an, auf einen Meter Israel: Orthodoxe auf dem Vormarsch ...... 179 Landung einer Chartermaschine in Sion (Wallis) genau. WISSENSCHAFT Prisma ...... 182 Beutekunst aus Geheimdepots Seite 200 Medizin: Schwerhörigkeit durch Disco-Lärm .... 190 Gentechnik: Alzheimer-Mäuse Fünf Jahrzehnte lang wa- für die Forschung ...... 191 ren sie in Geheimdepots Archäologie: U-Boot auf den Spuren verborgen, nun stellt die römischer Frachtschiffe ...... 196 Petersburger Eremitage sie aus: nach Kriegsende aus deutschem Privatbe- TECHNIK sitz in die Sowjetunion ver- Luftfahrt: Wie Flugzeuge mit Hilfe schleppte Meisterwerke von Satelliten landen ...... 184 des Impressionismus. Das Automobile: Plastikkarten glanzvolle Ereignis wird zur Diebstahlsicherung ...... 194 von dem Streit über die – rechtlich überfällige – KULTUR

Rückgabe verdüstert: Die AP Russen stellen sich taub. Gauguin-Bild, Eremitage-Direktor Piotrowski Szene ...... 198 Ausstellungen: St. Petersburg zeigt Kriegsbeute aus deutschen Privatsammlungen .. 200 Regisseure: SPIEGEL-Gespräch mit Christoph Schlingensief über Sex, Gewalt Krank durch Lärm Seite 190 und Witz im Film ...... 209 Stars: Besonders in der jüngeren Generation nimmt die Zahl der Lärm- Der Schauspieler Joachim Kro´l, schwerhörigen alarmierend zu – Folge von Disco-Gewummer und ein melancholischer Komödiant ...... 213 Klangorkanen aus dem Walkman und aus Stereoanlagen. Literatur: Hellmuth Karasek über Robert Menasses Roman „Schubumkehr“ ...... 216 Bestseller ...... 218 Festspiele: Deutsche Film-Pleite auf der Berlinale ...... 222 Ein unaufhaltsamer Aufstieg Seite 230 Autoren: Christian Krachts Deutschlandroman „Faserland“ ...... 226 Ein pikantes Verspre- Fernseh-Vorausschau ...... 246 chen lockte Otto Rehha- gel nach München: Bay- SPORT ern-Präsident Franz Bek- kenbauer sicherte dem Fußball: Cordt Schnibben über Werder-Coach zu, ihn in Otto Rehhagels Sehnsucht nach Abenteuer ...... 230 drei Jahren zum Bundes- Werder Bremen fühlt sich hintergangen ...... 234 trainer zu machen. Vorm Boxen: Der US-Werbefeldzug des Abschied gehen in Bre- Foreman-Herausforderers Axel Schulz ...... 236 men die Emotionen hoch: Liebesschwüre Briefe wechseln mit Verdamm- ...... 7 Impressum ...... 14

L. PERENYI nisurteilen, der Klub Rehhagel sieht sich hintergangen. Personalien ...... 242 Register ...... 244 Hohlspiegel/Rückspiegel ...... 250

DER SPIEGEL 8/1995 5 Werbeseite

Werbeseite .

BRIEFE Völlig allein gelassen stecken dich ins Gefängnis. Man muß sie als Kranke akzeptieren und sie (Nr. 6/1995, Titel: Die heimliche Wende selbst entscheiden lassen, wann sie die in der Drogenpolitik – Leben mit der Kraft haben, sich von der Sucht zu lö- Sucht) sen. Die Drogensucht in ein Recht auf Berlin H. WALTER Rausch umzudeuten entspricht dem Zeitgeist, wonach menschlichem Tun Solange vermutlich zwei Drittel der er- nur „Bock draufhaben“ oder An- wachsenen Bevölkerung ihre Irrmei- spruchshaltung zugrunde liegen kann. nung pflegen, „Junkies“ seien – ganz Daß am Anfang einer Sucht traumati- anders als Millionen alkohol- und me- sche Erlebnisse durchlitten werden dikamentenabhängige „Normalbürger“ mußten, die sozialen Systeme bei deren – genuß- und vergnügungssüchtige Bewältigung versagten und die eigentli- „Wilde“, wird diese Gesellschaft das che Sucht als klinisches Symptom ein Drogenproblem haben, das sie ver- Endstadium darstellt, wird in der Dro- dient. gendebatte ignoriert. Bad Orb (Hessen) ANTONIA LUDWIG Kirchgellersen (Nieders.) ELMAR GEIGER Es gibt bereits seit einigen Jahren – insbesondere in den norddeutschen Die Bevölkerung und vor allem die Poli- Bundesländern – Elterninitiativen, die tiker müssen endlich begreifen, daß es sich vehement für eine Verbesserung Menschen mit einem gewissen „Sucht- der Lebensumstände ihrer Angehöri- potential“ gibt und daß ihnen auf Dauer gen einsetzen. Wir haben genügend nur geholfen werden kann durch Substi- leidvolle Erfahrungen hinter uns, um tution oder legale Vergabe der Droge zu wissen, daß Clean-Therapien und il- Heroin. legalisierende Drogenpolitik das Leben Schmitten (Hessen) A. JACOB unserer Kinder eher zusätzlich gefähr- Mit weit über einer Million Exemplaren den, statt sie vom Drogenkonsum zu haben Sie in die ganze Welt hinauspo- heilen. RAINER ELLING saunt, an welchem U-Bahnhof in Berlin Eltern- und Angehörigeninitiative sich Junkies aufhalten, in welcher Dis- für akzeptierende Drogenarbeit kothek in Hamburg eine Ecstasy-Ta- blette wieviel Mark kostet und unter Es würde mich interessieren, was pas- welcher Adresse im Internet die Dro- sierte, wenn man uns Deutschen den gen-Preislisten für 13 deutsche Städte Alkohol per Gesetz verbieten würde? abzurufen sind. Ist Ihr Bericht etwa ein Jene, die in den Drogen alles Übel und in einen Mantel von warnenden Appel- Unheil der Jugend sehen, würden sich len gehüllter Versuch, den Drogenkon- in bundesweiten Entzugserscheinungen sum zu forcieren? krümmen, schon bald würden die er- Ochtrup (Nrdrh.-Westf.) PATRICK TAPPE sten illegalen Brauereien aus dem Bo- den schießen, und so mancher vorein- Man kann Kranke nun mal nicht da- genommene Drogenhetzer von heute durch heilen, indem man ihnen sagt, würde zum Alkoholdealer von morgen. entweder wirst du jetzt gesund, oder wir Hohenthann (Bayern) OLIVER SCHELL K. RUDOLPH / FORMAT Ausgabe von Methadon: Gefängnisse ohne Gitter?

DER SPIEGEL 8/1995 7 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite .

BRIEFE

Staatliche Methadon- und Heroinabga- Laßt uns „Kater Mikesch“ und „Käpt’n ben dienen dazu, den Bürgern Krimi- Blaubär“ – auf die Stoibers, Bieden- nalität und den Süchtigen Haft und kopfs und Kohls kann man verzichten. Prostitution zu ersparen. Aber diese Büchen (Schlesw.-Holst.) Drogen sind Gefängnisse ohne Gitter. WOLFGANG PRÖPPER Sie helfen den Süchtigen nicht, sondern Die ARD ist eine personell völlig über- beschleunigen ihren Niedergang, ganz besetzte, träge, endlos langweilige, skle- so wie konventionelle Gefängnisse mit rotische Zwangsanstalt. Gittern. Ehingen (Bayern) DR. RALPH DETZEL Köln PROF. JÖRG FENGLER Universität Köln Kohl, der Erlauchte, kennt nur eine Er- ste Reihe, und da hockt er selber, und Darf ich der Vollständigkeit halber an- zwar allein, und will SATt an- und aus- merken, daß über Tanjas Geschichte gestrahlt werden, bis das ganze Volk – im Juli 1994 ein Buch unter dem Titel „Süchtig – Proto- koll einer Hilflosen“ von Sa- bine Braun erschienen ist. Reutlingen ARIANE HANFSTEIN Ensslin-Verlag Besonders problematisch finde ich, das ganze Polami- don-Programm auf die reine Vergabe von Ersatzstoffen zu reduzieren. Die Abhängi- gen werden mit den vielfälti- gen Folgen, die die Einnah- me der Ersatzdroge mit sich bringt, völlig allein gelassen. Nahezu jeder leidet unter schweren Depressionen, die dann mit anderen Medika- menten behandelt werden, wenn überhaupt. Kassel MICHAEL KRÜGER Ecstasy verursacht nicht nur Psychosen, sondern auch ir- reversible Hirnschädigun- gen, insbesondere im Mittel- und Stammhirnbereich. Im

Raum Hannover sind im A. NIMUS letzten Jahr drei Mädchen Leser-Karikatur: Sklerotische Zwangsanstalt mit schwersten Psychosen aufgrund von Ecstasy-Einnahme behan- zwischen den Werbeblöcken – halleluja delt worden. Helmut jubelt. Hannover DR. HINDERK EMRICH Hamburg ERWIN STAHLBERG

Sie liegen mit Ihrer Interpretation dane- Verzückter Nachwuchs ben, wenn Sie die Thesen der Minister- (Nr. 6/1995, Rundfunk: Kohls Attacke präsidenten Biedenkopf und Stoiber als auf das Erste) eine Art Aufräumaktion in der Medien- landschaft zugunsten der Privaten dar- Das schmeckt dem SPIEGEL natürlich stellen. Die Thesen sind ein Diskussi- nicht. Ein notwendiger Vorstoß zur Sa- onsbeitrag zur unausweichlichen Debat- nierung einer offensichtlich maroden te um eine Reform des öffentlich-recht- Verwaltung seines Lieblings-TV. Natür- lichen Rundfunks. Wir haben heute lich darf ein Versuch zur Einschränkung neun öffentlich-rechtliche Vollprogram- der Meinungsfreiheit nicht zugelassen me und Quasi-Vollprogramme, die werden, aber jedes Unternehmen muß größtenteils via Satellit oder terrestrisch irgendwann einer Reform seiner Orga- bundesweit empfangbar sind. Wenn ei- nisationsstruktur zustimmen, um weiter- nes davon in Frage gestellt wird, ist das hin effektiv arbeiten zu können. weder verfassungswidrig noch eine At- Aachen PATRICK JULIUS tacke auf die Rundfunkfreiheit. Dresden M. SAGURNA Wer einmal mit seinem Nachwuchs ver- Sächsische Staatskanzlei zückt vor „Janoschs Traumstunde“ (WDR) hockte, weiß, was er bei den Daß das ARD-Kind WDR bei den Uni- privaten Fast-food-Rambos vermißt. onspolitikern schon immer ungeliebt

10 DER SPIEGEL 8/1995 Werbeseite

Werbeseite .

BRIEFE

war, ist bekannt. Aber dank der Ver- fassung haben sie es nicht geschafft, daß Sendungen wie „Monitor“ und „ZAK“ offiziell aus politischen Grün- den aus dem Programm geworfen wer- den können. Verständlich, daß sich Herr Kohl ein bißchen über die Demo- kratie ärgert und dann mit Kirchs er- munternden Worten im Rücken schnell einmal über die Verfassung hinweg- setzt. Rostock CHRISTOPHER DIETRICH

Keiner sieht’s, keiner merkt’s (Nr. 4/1995, Psycho-Sekte: Seelenheiler aus Westfalen trieb Patienten in den Wahnsinn) Es ist schon seltsam, daß eine Ordnung

auf dem Psychotherapiemarkt wohl nur F. E. MÖLLER mit dem Steuerrecht erreicht werden Rechtschreibschwaches Kind: Wörter immer neu „denken“ und „malen“ kann. Es fehlt dringend das Psychothera- peutengesetz, welches hilft, aufgepeppte Schön wär’s, wenn man Scharlatane im- haben. Nun wird es die beschriebenen Spreu vom Weizen zu trennen. In einer mer so einfach erkennen könnte wie in Gegebenheiten real auch geben, nur aufgeklärten Gesellschaft ist darüber diesem Fall. Denn viel gefährlicher sind erklären diese nicht die mannigfaltig hinaus nicht nur die Trennung von Staat die Therapeuten, die, selbst bedürftig, auftretenden Häufigkeiten ganz anders- und Kirche konstitutiv, sondern eben ganz „legal“ die Probleme ihrer Klien- artig gelegener Rechtschreibfehler. auch die Trennung von Therapie und Re- ten ausnützen und sie jahrelang (natür- Tettnang (Bad.-Württ.) RUDOLF LENSKE ligion. lich alles freiwillig) und ohne blaue Winterberg (Nrdrh.-Westf.) Flecken schinden. Keiner sieht’s, keiner Auf dem deutschen Buchmarkt zur MICHAEL KASPER merkt’s. Legasthenie sind nur traurige Trost- Ludwigshafen MARTIN HERRLE büchlein für verzweifelte Eltern zu fin- Leider basiert Ihr Artikel ausschließlich den. In Schweden dagegen werden auf Schilderungen von (verbitterten) Dutzende Diagnosetests angeboten und Aussteigern, die ihr eigenes Bild wieder- weit über hundert interessante Übun- geben. Ich, als Insider, kann Ihnen sa- Zuviel hineingestopft gen. Kommentar bei deutschen Verla- gen, daß wir niemals zu irgend etwas ge- (Nr. 6/1995, Pädagogik: Selbsthilfe ge- gen für eine Übersetzung: „Kein zwungen wurden. Die „wilden Wochen- gen Rechtschreibschwäche) Markt“. enden“ waren Tage voller bedeutender Haan (Nrdrh.-Westf.) Erfahrungen mit sich selbst und den an- Nichts gegen den guten Legasthenie- FRIEDHELM FROEMER deren. Ohne diese Therapeuten und die Forscher Haberland, aber alle Jah- vielen Klienten wäre dieser Planet um ei- re wieder meint irgendein Heilsbrin- Die angesprochene Linksausrichtung niges an Mitmenschlichkeit, Wärme und ger, auf dem gewinnträchtigen Lese- der Kinder ist nur ein Teil des Pro- Selbstverantwortlichkeit ärmer. und Rechtschreibschwäche(LRS)-Ak- blems, da die meisten Legastheniker Hamburg HELMUT HÄUSLER ker den „Stein der Weisen“ gefunden zu keine Linkshänder sind. Zugrundelie- gend sind Störungen der visuellen Auf- nahme und Speicherfähigkeit von ähn- lichen Buchstaben und Wörtern, wei- terhin gestörte akustische Aufnahme und Speicherfähigkeit von ähnlich klin- genden Lauten und Wörtern sowie gra- fisch feinmotorische Unsicherheiten, so daß ähnlich geschriebene Buchstaben und Wörter immer wieder neu „ge- dacht“ und „gemalt“ werden müssen. Singen GÜNTER WEIGL Logopäde

Ich gehe noch etwas weiter als Herr Haberland: LRS ist vermeidbar. Das ist keine kühne Behauptung, sondern das Ergebnis meiner 30jährigen Tätig- keit als Grundschullehrerin. Bei mir lernten alle Kinder problemlos lesen und richtig schreiben, und zwar in ei- nem Drittel der heute üblichen Zeit und mit einem Drittel des für Unter- richtsmittel aufgewendeten Geldes. Psychotherapie-Behandlung in Osterwick: Tage voller Erfahrungen Was läuft so falsch in der Schule? Die

12 DER SPIEGEL 8/1995 Folgen körperlicher Überernährung kennt heute jeder; geistig kann dasselbe ablaufen. So wird in die wehrlosen Schulanfänger einfach zuviel hineinge- stopft. Eichenau (Bayern) HILTRAUD PREM

Eine Zusammenarbeit der Therapeuten mit Eltern und Lehrern gehört selbstver- ständlich und schon seit einiger Zeit zu einer Legasthenie-Therapie. Da viele Eltern und Lehrer die Vorschläge des Therapeuten aber als Kritik an Unter- richtsmethoden und Erziehungsstil emp- finden, gestaltet sich die Arbeit oft schwierig. Es ist also keineswegs so, daß die Therapeuten so „vor sich hinmau- scheln“ und dabei viel Knete machen, in- dem sie einen Mythos um die LRS legen. Heidelberg MAREN EICHLER

Widerstand von Anfang an (Nr. 6/1995, Panorama: Rüstungsexport – Zuschuß aus Bonn) Das Vorhaben der Bundesregierung, den Bau von zwei Fregatten für die Tür- kei auf einer deutschen Werft mit 150 Millionen Mark aus dem Bundeshaus- halt zu fördern, ist bei der SPD-Bundes- tagsfraktion von Anfang an auf Wider- stand gestoßen. Ich habe im Haushalts- ausschuß insbesondere auf die perma- nente Verletzung der Menschenrechte in der Türkei hingewiesen. Die Ent- scheidung im Haushaltsausschuß wurde mit unserer Zustimmung bis zur Berei- nigungssitzung im März vertagt, weil wir zuvor die Fraktion mit diesem Thema befassen wollten. Die SPD-Bundestags- fraktion hat am 7. Februar beschlossen, die Finanzierungshilfe für den Bau der Fregatten abzulehnen. Bonn ECKART KUHLWEIN MdB/SPD

Gewinner und Verlierer (Nr. 4/1995, Ökologie: SPIEGEL-Ge- spräch mit AEG-Manager Carlhanns Damm über Reformen) Die Äußerungen von Herrn Damm sind zuwenig differenziert. Natürlich gibt es bei der Einführung von Energiesteuern Gewinner und Verlierer. Die Frage ist angesichts unserer hohen Arbeitslosig- keit: Gibt es durch eine solche Steuer mehr oder weniger Arbeitsplätze? Nach Berechnungen, die wir in der Chemie, aber auch im Verband der Industriellen Energie- und Kraftwirtschaft angestellt haben, sind die Arbeitsplatzverluste durch eine Energiesteuer deutlich höher als die möglichen Gewinne. Das gilt auch für die Branche von Herrn Damm. Es ist ja kein Wunder, daß Daimler- Benz die AEG-Hausgeräte verkauft hat. Werden zu den jetzigen miserablen

DER SPIEGEL 8/1995 13 .

BRIEFE MNO Standortbedingungen noch Energiesteu- 20457 Hamburg, Brandstwiete 19, Telefon (040) 3007-0, Telefax (040) 3007 2247, Telex 2 162 477 ern draufgesattelt, hat Herr Damm eine CompuServe: 74431,736 . Internet: http://www.spiegel.de/spiegel gute Chance, vorzeitig in den Ruhe- Abonnenten-Service: Tel. 0130-863006. Telefax (040) 30072898, Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg. stand zu gehen. HERAUSGEBER: nida Sa˜o Sebastia˜o, 157 Urca, 22291 Rio de Janeiro (RJ), Tel. (005521) 275 1204, Telefax 542 6583 . Rom: Valeska von Ludwigshafen MAX DIETRICH KLEY CHEFREDAKTEUR: Stefan Aust Roques, Largo Chigi 9, 00187 Rom, Tel. (00396) 679 7522, Tele- BASF AG fax 679 7768 . Stockholm: Hermann Orth, Scheelegatan 4, Joachim Preuß, Dr. Dieter Wild STELLV. CHEFREDAKTEURE: 11 223 Stockholm, Tel. (00468) 650 82 41, Telefax 652 99 97 . REDAKTION: Karen Andresen, Ariane Barth, Dieter Bednarz, Wil- Warschau: Andreas Lorenz, Ul. Polna 44/24, 00-635 Warschau, helm Bittorf, Peter Bölke, Dr. Hermann Bott, Klaus Brinkbäumer, Tel. (004822) 25 49 96, Telefax 25 49 96 . Washington: Karl- Werner Dähnhardt, Dr. Thomas Darnstädt, Hans-Dieter Degler, Heinz Büschemann, Siegesmund von Ilsemann, 1202 National Reaktion der Neider Dr. Martin Doerry, Adel S. Elias, Nikolaus von Festenberg, Uly Press Building, Washington, D. C. 20 045, Tel. (001202) (Nr. 5/1995, Feminismus: Krach um den Foerster, Klaus Franke, Gisela Friedrichsen, Angela Gatterburg, 347 5222, Telefax 347 3194 . Wien: Dr. Martin Pollack, Schön- Henry Glass, Johann Grolle, Doja Hacker, Dr. Volker Hage, Dr. brunner Straße 26/2, 1050 Wien, Tel. (00431) 587 4141, Telefax Kölner Frauenturm) Hans Halter, Werner Harenberg, Dietmar Hawranek, Manfred W. 587 4242 Hentschel, Hans Hielscher, Wolfgang Höbel, Heinz Höfl, Cle- ILLUSTRATION: Werner Bartels, Renata Biendarra, Martina Blu- mens Höges, Joachim Hoelzgen, Dr. Jürgen Hohmeyer, Hans me, Barbara Bocian, Ludger Bollen, Katrin Bollmann, Thomas Ein Wiederaufbau des Bayenturmes mit Hoyng, Thomas Hüetlin, Rainer Hupe, Ulrich Jaeger, Hans-Jürgen Bonnie, Regine Braun, Martin Brinker, Manuela Cramer, Josef Steuergeldern dient ja wohl nicht einzig Jakobs, Urs Jenny, Dr. Hellmuth Karasek, Sabine Kartte-Pfähler, Csallos, Volker Fensky, Ralf Geilhufe, Rüdiger Heinrich, Tiina Hur- Klaus-Peter Kerbusk, Ralf Klassen, Petra Kleinau, Sebastian me, Claudia Jeczawitz, Antje Klein, Ursula Morschhäuser, Corne- und allein Alice Schwarzer, der Anblick Knauer, Dr. Walter Knips, Susanne Koelbl, Christiane Kohl, Dr. lia Pfauter, Monika Rick, Chris Riewerts, Julia Saur, Detlev verschönt das Rheinufer für alle Kölner Joachim Kronsbein, Bernd Kühnl, Wulf Küster, Dr. Romain Leick, Scheerbarth, Manfred Schniedenharn, Frank Schumann, Rainer Heinz P. Lohfeldt, Udo Ludwig, Klaus Madzia, Armin Mahler, Dr. Sennewald, Dietmar Suchalla, Karin Weinberg, Matthias Welker, und Besucher Kölns. Und die Kosten Hans-Peter Martin, Georg Mascolo, Gerhard Mauz, Gerd Meißner, Monika Zucht für die Innenausstattung hat doch die Fritjof Meyer, Dr. Werner Meyer-Larsen, Michael Mönninger, Joa- SCHLUSSREDAKTION: Rudolf Austenfeld, Horst Beckmann, Sa- chim Mohr, Mathias Müller von Blumencron, Bettina Musall, Dr. bine Bodenhagen, Reinhold Bussmann, Dieter Gellrich, Hermann Stiftung getragen, und sie wurden nicht Jürgen Neffe, Dr. Renate Nimtz-Köster, Hans-Joachim Noack, Harms, Bianca Hunekuhl, Rolf Jochum, Karl-Heinz Körner, Inga durch Steuergelder finanziert. Claudia Pai, Rainer Paul, Christoph Pauly, Jürgen Petermann, Lembcke, Christa Lüken, Reimer Nagel, Dr. Karen Ortiz, Andreas Dietmar Pieper, Norbert F. Pötzl, Detlef Pypke, Dr. Rolf Rietzler, M. Peets, Gero Richter-Rethwisch, Thomas Schäfer, Ingrid Seelig, Berlin HERTA HANKAMMER Dr. Fritz Rumler, Dr. Johannes Saltzwedel, Karl-H. Schaper, Ma- Hans-Eckhard Segner, Tapio Sirkka, Ruth Tenhaef, Hans-Jürgen rie-Luise Scherer, Heiner Schimmöller, Roland Schleicher, Mi- Vogt, Kirsten Wiedner, Holger Wolters chael Schmidt-Klingenberg, Cordt Schnibben, Hans Joachim Schöps, Dr. Mathias Schreiber, Bruno Schrep, Helmut Schü- VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Pan- mann, Matthias Schulz, Birgit Schwarz, Ulrich Schwarz, Dr. Ste- orama, Ostpolitik, Regierung, Umwelt, SPD (S. 34), Bundestag, fan Simons, Mareike Spiess-Hohnholz, Dr. Gerhard Spörl, Olaf Titelgeschichte: Dr. Thomas Darnstädt; für Milliardengrab Ost, Stampf, Hans-Ulrich Stoldt, Peter Stolle, Barbara Supp, Dieter G. Forum, Adel, Rauschgifthandel, Juristen, Verkehr (S. 96), SPD Uentzelmann, Klaus Umbach, Hans-Jörg Vehlewald, Dr. Manfred (S. 98): Clemens Höges; für Erotik, Verkehr (S. 120), Stars, Fern- Weber, Susanne Weingarten, Alfred Weinzierl, Marianne Wellers- seh-Vorausschau: Wolfgang Höbel; für Aufschwung, Daimler- hoff, Peter Wensierski, Carlos Widmann, Erich Wiedemann, Chri- Benz, Fusionen, Konzerne, Trends: Peter Bölke; für Medien, stian Wüst, Peter Zobel, Dr. Peter Zolling, Helene Zuber Kiosk: Uly Foerster; für Panorama Ausland, Rußland, Afghanistan, Spanien, Serbien, Frankreich, Peru, Südafrika, Großbritannien, REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND: Berlin: Wolf- Israel: Hans Hoyng; für Prisma, Medizin, Gentechnik, Automobile, gang Bayer, Petra Bornhöft, Markus Dettmer, Jan Fleischhauer, Archäologie: Jürgen Petermann; für Szene, Ausstellungen, Regis- Uwe Klußmann, Jürgen Leinemann, Claus Christian Malzahn, seure, Bestseller, Festspiele: Dr. Mathias Schreiber; für Fußball: Walter Mayr, Harald Schumann, Gabor Steingart, Kurfürstenstra- Heiner Schimmöller; für namentlich gezeichnete Beiträge: die ße 72 – 74, 10787 Berlin, Tel. (030) 25 40 91-0, Telefax Verfasser; für Briefe, Personalien, Register, Hohlspiegel, Rück- 25 40 91 10 . Bonn: Winfried Didzoleit, Manfred Ertel, Dr. Olaf spiegel: Dr. Manfred Weber; für Titelbild: Matthias Welker; für Ge- Ihlau, Dirk Koch, Ursula Kosser, Dr. Paul Lersch, Hans Leyen- staltung: Manfred Schniedenharn; für Hausmitteilung: Hans Joa- decker, Elisabeth Niejahr, Hartmut Palmer, Olaf Petersen, Rainer chim Schöps; Chef vom Dienst: Horst Beckmann (sämtlich Pörtner, Hans-Jürgen Schlamp, Hajo Schumacher, Alexander Brandstwiete 19, 20457 Hamburg) Szandar, Klaus Wirtgen, Dahlmannstraße 20, 53113 Bonn, Tel. . DOKUMENTATION: Jörg-Hinrich Ahrens, Sigrid Behrend, Ulrich (0228) 26 70 3-0, Telefax 21 51 10 Dresden: Sebastian Bor- Booms, Dr. Helmut Bott, Dr. Jürgen Bruhn, Lisa Busch, Heinz Egle- ger, Christian Habbe, Königsbrücker Str. 17, 01099 Dresden, . der, Dr. Herbert Enger, Johannes Erasmus, Dr. Karen Eriksen, Ille Tel. (0351) 567 0271, Telefax 567 0275 Düsseldorf: Ulrich von Gerstenbergk-Helldorff, Dr. Dieter Gessner, Hartmut Heidler, Bieger, Georg Bönisch, Richard Rickelmann, Oststraße 10, . Wolfgang Henkel, Gesa Höppner, Jürgen Holm, Christa von Holtz- 40211 Düsseldorf, Tel. (0211) 93 601-01, Telefax 35 83 44 apfel, Joachim Immisch, Hauke Janssen, Günter Johannes, Ange- Erfurt: Felix Kurz, Dalbergsweg 6, 99084 Erfurt, Tel. (0361) . la Köllisch, Sonny Krauspe, Hannes Lamp, Marie-Odile Jonot- 642 2696, Telefax 566 7459 Frankfurt a. M.: Peter Adam, Langheim, Walter Lehmann, Michael Lindner, Dr. Petra Ludwig, Wolfgang Bittner, Annette Großbongardt, Rüdiger Jungbluth, Ul- Sigrid Lüttich, Roderich Maurer, Rainer Mehl, Ulrich Meier, Ger- rich Manz, Oberlindau 80, 60323 Frankfurt a. M., Tel. (069) . hard Minich, Wolfhart Müller, Bernd Musa, Christel Nath, Annelie- 71 71 81, Telefax 72 17 02 Hannover: Ansbert Kneip, Rathe- se Neumann, Werner Nielsen, Paul Ostrop, Anna Petersen, Peter naustraße 16, 30159 Hannover, Tel. (0511) 32 69 39, Telefax Philipp, Axel Pult, Ulrich Rambow, Dr. Mechthild Ripke, Constanze 32 85 92 . Karlsruhe: Dr. Rolf Lamprecht, Amalienstraße 25, . Sanders, Petra Santos, Christof Schepers, Rolf G. Schierhorn, Ek- 76133 Karlsruhe, Tel. (0721) 225 14, Telefax 276 12 Mainz: kehard Schmidt, Andrea Schumann, Claudia Siewert, Margret Wilfried Voigt, Weißliliengasse 10, 55116 Mainz, Tel. (06131) . Spohn, Rainer Staudhammer, Anja Stehmann, Stefan Storz, Mo- 23 24 40, Telefax 23 47 68 München: Dinah Deckstein, An- nika Tänzer, Dr. Wilhelm Tappe, Dr. Eckart Teichert, Jutta Temme, nette Ramelsberger, Dr. Joachim Reimann, Stuntzstraße 16, . Dr. Iris Timpke-Hamel, Carsten Voigt, Horst Wachholz, Ursula 81677 München, Tel. (089) 41 80 04-0, Telefax 4180 0425 Wamser, Dieter Wessendorff, Andrea Wilkens, Karl-Henning Win- Schwerin: Bert Gamerschlag, Spieltordamm 9, 19055 Schwe- delbandt rin, Tel. (0385) 557 44 42, Telefax 56 99 19 . Stuttgart: Dr. Hans-Ulrich Grimm, Sylvia Schreiber, Kriegsbergstraße 11, BÜRO DES HERAUSGEBERS: Irma Nelles J. SCHWARTZ 70174 Stuttgart, Tel. (0711) 22 15 31, Telefax 29 77 65 NACHRICHTENDIENSTE: ADN, AP, dpa, Los Angeles Times/Wa- Kölner Bayenturm shington Post, New York Times, Reuters, sid, Time REDAKTIONSVERTRETUNGEN AUSLAND: Basel: Jürg Bürgi, Bedeutungsvoll und heißbegehrt Spalenring 69, 4055 Basel, Tel. (004161) 283 0474, Telefax SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG 283 0475 . Belgrad: Renate Flottau, Teodora Drajzera 36, 11000 Belgrad, Tel. (0038111) 66 99 87, Telefax 66 01 60 . Abonnementspreise: Normalpost Inland: sechs Monate DM Da hat es eine Frau geschafft, seit über Brüssel: Heiko Martens, Marion Schreiber, Bd. Charlemagne 130,00, zwölf Monate DM 260,00, für Studenten (nur Inland) DM 45, 1040 Brüssel, Tel. (00322) 230 61 08, Telefax 231 1436 . 182,00. Normalpost Europa: sechs Monate DM 184,60, zwölf 20 Jahren mit ungebrochener Kraft ihr Jerusalem: Jürgen Hogrefe, 29, Hatikva Street, Yemin Moshe, Monate DM 369,20; Seepost Übersee: sechs Monate DM Leben und Wirken für die Rechte der Jerusalem 94103, Tel. (009722) 24 57 55, Telefax 24 05 70 . 189,80, zwölf Monate DM 379,60; Luftpostpreise auf Anfrage. Johannesburg: Almut Hielscher, Royal St. Mary’s, 4th Floor, 85 Verlagsgeschäftsstellen: Berlin: Kurfürstenstraße 72 – 74, Frauen einzusetzen – es ist ihr sogar ge- Eloff Street, Johannesburg 2000, Tel. (002711) 333 1864, Tele- 10787 Berlin, Tel. (030) 25 40 91 25/26, Telefax 25 40 9130; lungen, ein Dokumentationszentrum für fax 336 4057 . Kairo: Volkhard Windfuhr, 18, Shari’ Al Fawakih, Düsseldorf: Oststraße 10, 40211 Düsseldorf, Tel. (0211) Muhandisin, Kairo, Tel. (00202) 360 4944, Telefax 360 7655 . 936 01 02, Telefax 36 42 95; Frankfurt a. M.: Oberlindau 80, Frauenforschung zu gründen und in ei- Kiew: Martina Helmerich, ul. Kostjolnaja 8, kw. 24, 252001 60323 Frankfurt a. M., Tel. (069) 72 03 91, Telefax 72 43 32; nem so bedeutungsvollen und sicher Kiew, Tel. (007044) 228 63 87 . : Bernd Dörler, 6 Hen- Hamburg: Brandstwiete 19, 20457 Hamburg, Tel. (040) rietta Street, London WC2E 8PS, Tel. (004471) 379 8550, Tele- 3007 2545, Telefax 3007 2797; München: Stuntzstraße 16, heißbegehrten Ort wie dem Bayenturm fax 379 8599 . Moskau: Jörg R. Mettke, Dr. Christian Neef, Kru- 81677 München, Tel. (089) 41 80 04-0, Telefax 4180 0425; zu etablieren, und Sie veröffentlichen tizkij Wal 3, Korp. 2, kw. 36, 109 044 Moskau, Tel. (007502) Stuttgart: Kriegsbergstraße 11, 70174 Stuttgart, Tel. (0711) 220 4624, Telefax 220 4818 . Neu-Delhi: Dr. Tiziano Terzani, 226 30 35, Telefax 29 77 65 nicht die Achtung und Anerkennung, 6-A Sujan Singh Park, New Delhi 110003, Tel. (009111) Verantwortlich für Anzeigen: Horst Görner . die Frau Schwarzer verdient hätte, son- 469 7273, Telefax 460 2775 New York: Matthias Matussek, Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 49 vom 1. Januar 1995 516 Fifth Avenue, Penthouse, New York, N. Y. 10036, Tel. dern die Reaktion der Neider. (001212) 221 7583, Telefax 302 6258 . : Lutz Krusche, Postgiro-Konto Hamburg Nr. 7137-200 BLZ 200 100 20 Helmut Sorge, 17 Avenue Matignon, 75008 Paris, Tel. (00331) Druck: Gruner Druck, Itzehoe; maul belser, Nürnberg Berlin SIGRUN BREITUNG . 4256 1211, Telefax 4256 1972 Peking: Jürgen Kremb, Qi- VERLAGSLEITUNG: Fried von Bismarck jiayuan 7. 2. 31, Peking, Tel. (00861) 532 3541, Telefax 532 5453 . Prag: Jilska´ 8, 11 000 Prag, Tel. (00422) 24 22 MÄRKTE UND ERLÖSE: Werner E. Klatten . Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe gekürzt 0138, Telefax 24 22 0138 Rio de Janeiro: Jens Glüsing, Ave- GESCHÄFTSFÜHRUNG: Rudolf Augstein, Karl Dietrich Seikel zu veröffentlichen. DER SPIEGEL (USPS No. 0154-520) is published weekly. The subscription price for the USA is $290.00 per annum. Distributed by German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631. Second class Eine Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe ent- postage is paid at Englewood, NJ 07631 and at additional mailing offices. Postmaster: Send address changes to: hält eine Beilage des Handelsblatts, Düsseldorf, DER SPIEGEL, GERMAN LANGUAGE PUBLICATIONS, INC., P.O. Box 9868, Englewood, NJ 07631-1123. des Verlages Gruner + Jahr, Hamburg, und der Barclays Bank, Hamburg.

14 DER SPIEGEL 8/1995 Werbeseite

Werbeseite .

DEUTSCHLAND PANORAMA

Atomschmuggel Quantensprung mit Folgen Die Gefahr durch illegalen Nuklearhandel hat sich nach einer dem Bonner Kanzler- amt vorliegenden Geheim- studie der Sicherheitsbehör- den 1994 dramatisch zuge- spitzt. Im Jahre 1992 seien weltweit 53 Nuklearschmug- gelfälle registriert worden, im vorigen Jahr habe die „Tendenz fast sprunghaft“

zugenommen: Die Studie re- FOTOS: NOWOSTI / GAMMA gistriert 124 Fälle, darunter Russische Atom-U-Boote der Nordmeerflotte 5, in denen erstmals „waffen- fähige Spaltmaterialien si- re über die Tschechische Re- Drittweltländer in Betracht: blem: Die SPD will bei BND chergestellt“ wurden, 3 da- publik. 1994 wurden in Prag „Ein Quantensprung mit und Bundesamt für Verfas- von in Deutschland. In Ruß- 2,7 Kilogramm hochangerei- schwer kontrollierbaren Fol- sungsschutz (BfV) auch in land sei eine Reihe „von Of- chertes Uranoxid sicherge- gen.“ Zukunft einen der Präsiden- fizieren oder ehemaligen stellt. Der Hinweis auf die ten stellen. Für den Fall, daß Armee- bzw. ehemaligen Täter war aus Deutschland Geheimdienste Eckart Werthebach, der KGB-Angehörigen“ in den gekommen. Es sei, so die BfV-Präsident und Intimus Schmuggel verwickelt. Bei- Studie, nicht damit zu rech- SPD läßt des Unionsfraktionschefs spielsweise versuchten „kor- nen, daß der Schmuggel aus Wolfgang Schäuble, Porzner- rupte Offiziere“ der russi- Rußland „in den nächsten Porzner fallen Nachfolger in Pullach wird, schen Nordmeerflotte an nu- drei Jahren unterbunden“ Die Zeit Konrad Porzners möchte die SPD den Chef kleares Material aus U-Boot- werden könne. „Russische als Präsident des Bundes- des Hamburger Landesamtes Reaktoren zu gelangen. Der oder internationale Mafia- nachrichtendienstes (BND) für Verfassungsschutz, Ernst Transfer des Bombenstoffes strukturen“ würden sich scheint endgültig abgelaufen. Uhrlau, zum BfV-Chef ma- gehe neuerdings über die möglicherweise dem „nu- Zwischen Bundeskanzleramt chen. Das SPD-Verlangen Ukraine und Aserbaidschan klearen Schwarzhandel zu- und SPD bahnt sich eine Ver- kollidiert allerdings mit dem an den Bosporus. Die Türkei wenden“. Als Käufer für das ständigung darüber an, den Anspruch der bayerischen sei „Transitland zu Westeu- Nuklearmaterial, warnen die Sozialdemokraten im Som- CSU, die auf einem eigenen ropa“. Ein anderer Weg füh- Autoren, kämen nun auch mer abzulösen. Einziges Pro- Kandidaten besteht.

Moskau-Reise aus Sowjetzeiten, in dem die rote Reliquie Lenin frisch ge- halten wird, mit Tüchern zu verhängen. Als das Bonner Kanzleramt Bedenken äußerte, kam das Angebot, auf dem Mit Boris in die Berge Roten Platz extra eine riesige Tribüne zu bauen. Der Plan Die Einladung des russischen Präsidenten Boris Jelzin ist inzwischen begraben: An der Kreml-Mauer gibt es zu an zum 50. Jahrestag des Sieges über Hit- viele häßliche Baugruben. ler-Deutschland macht dem Kanzler immer neue Pro- Auch der jüngste Plan für die Jubelfeiern behagt den bleme: Kohl tut sich wegen des Tschetschenien-Krieges Bonnern nicht: Die Russen wollen mit der Parade in die schwer, auf dem Roten Platz zu posieren. Doch der Russe Berge am Rande Moskaus umziehen – just dort soll am 9. drängt: „Ich rechne fest damit, diesen Tag in Deiner Ge- Mai ein riesiges Museum zum Gedenken an den „Großen sellschaft verbringen zu können“, schrieb Freund Vaterländischen Krieg“ eingeweiht werden. Boris Ende Januar dem „lieben Der Druck auf Kohl ist gewach- Helmut“. sen, seit Frankreichs Staatspräsi- Um den Kanzler nach Moskau zu dent Franc¸ois Mitterrand sein locken, waren die Russen zu man- Kommen zugesagt hat. Mit seiner chen Verrenkungen bereit. Ur- Absage könnte Kohl ihn ebenfalls sprünglich sah ihr Plan eine große vor den Kopf stoßen. Militärparade aufdem Roten Platz In seiner Not versuchte der Kanz- vor – mit Abordnungen von russi- ler vorletzte Woche, US-Präsi- scher Armee wie Bundeswehr. dent Bill Clinton zur Teilnahme Doch dann hätte der Ehrengast zu bewegen. Wenn alle da wären, aus Bonn genau an der Stelle vor so die Überlegung, dürfte auch dem Lenin-Mausoleum stehen der deutsche Kanzler dabeisein. müssen, wo einst Erich Honecker Doch Nachkriegskind Clinton, Brüderschaft mit den roten Kreml- Jahrgang 1946, mochte nicht so- Fürsten beschwor – undenkbar. fort zusagen. Unbekümmert ant- Protokollbeamte schlugen deshalb wortete er dem bedrängten Deut- zunächst vor, den Marmorklotz Parade auf dem Roten Platz (1990) schen: „Was soll ich da?“

16 DER SPIEGEL 8/1995 .

Medien Springer-Erbe verkauft Der Kreis der Springer-Er- ben bröckelt. Barbara Cho- remi, 59, einzige Tochter des 1985 gestorbenen Großverle- gers Axel Springer, hat sich von ihrem 10prozentigen Erbanteil getrennt. Für weit über 50 Millionen Mark übernahm, nach einer nota- riellen Grundsatzvereinba- rung um die Jahreswende in Berlin, die Verleger-Witwe Friede Springer, 52, das Pa- ket. Die Übertragung wurde Mitte voriger Woche abge- schlossen. Käuferin Springer verfügt damit über 80 Pro- zent der Anteile in der Er- bengemeinschaft, zu der M. BRINCKMANN Choremi

auch ein Sohn und zwei Enkel- kinder des Verlagsgründers gehören. Die Gesellschaft der Erben ist mehrheitlich an der Axel Springer Verlag AG be- teiligt, dem konservativen Medienkonzern mit Bild, Welt und Hör zu. Vermutun- gen, daß die Transaktion des Erbanteils, samt aller Grund- stücke und Fremdbeteiligun- gen, heimlich von Konzern- Großaktionär Leo Kirch fi- nanziert wurde, dementiert Verkäuferin Choremi: „Das isteine private Sache. Die An- teile bleiben innerhalb der Fa- milie, siegehen nicht an Herrn Kirch.“ Tatsächlich bekunden Konzern-Kenner, daß Friede Springer über ausreichendes Eigenkapital verfüge. Gewerbegebiet in Ostdeutschland*: Millionen sinnlos ausgegeben, verbuddelt, verplempert PRINT

Verschwendung „SCHWACHSINN IN POTENZ“ Regierungserklärung im Bundestag, Debatten über Debatten: Politiker in Ost- und Westdeutschland streiten über den Milliardenschwund in Ostdeutschland. Statt Aufklärung zu betreiben, überboten sich die Akteure jedoch vergangene Woche in Schuldzuweisungen – es war die Stunde der Heuchler.

er Wirtschaftsminister sparte nicht Osten die von Helmut Kohl versproche- Schuldvorwürfen, spielten die Fak- mit Eigenlob. „Wir haben einen nen blühenden Landschaften erstehen ten herunter, wiegelten ab und ver- Dgewaltigen Investitionsschub im zu lassen, wies der Wirtschaftsminister wahrten sich gegen den angeblichen Osten unseres Landes ausgelöst“, ver- weit von sich. Die Verantwortlichen „Anschlag auf die innerdeutsche kündete Günter Rexrodt selbstgewiß sind alarmiert durch den republikweiten Solidarität“ (Kanzleramtsminister vor dem Bonner Bundestag. Fette Geld- Unmut, den die SPIEGEL-Titelge- ) – es war die Stunde der transfers, üppige Steuererleichterungen schichte über das Milliardengrab im Heuchler. – der Aufschwung Ost sei vor allem Osten unter Deutschlands Steuerbür- SPD-Vize Wolfgang Thierse wetterte, auch durch „kalkulierbare Förderbedin- gern ausgelöst hat. mit dem Bericht über den Milliarden- gungen“ zustande gekommen. Zeitungskommentatoren, von Flens- schwund solle nur „die Wut gegen die Das war im vorigen September, kurz burg bis Augsburg, von Dresden bis faulen und undankbaren Ossis“ geschürt vor der Bundestagswahl. Vergangenen Neubrandenburg, erregten sich dar- werden. Der Brandenburger Minister- Donnerstag ließ sich Rexrodt ganz an- über, „daß sich solche Sünden zu Lasten präsident Manfred Stolpe beschimpfte ders vor dem Hohen Hause vernehmen: der Steuerzahler nicht wiederholen“ den Westen, er habe den Ostländern „Wo es Subventionen gibt, gibt es leider dürften (Nordkurier). Politiker in Ost „das Geld geradezu aufgenötigt“. „In- auch Subventionsmißbrauch“, räumte und West gerieten in Rechtfertigungs- fam“, bellten Westpolitiker zurück. der Wirtschaftsminister kleinlaut ein. zwang – und simulierten erst einmal Tat- Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Doch an der rechten Einsicht mangelt kraft. Da forderte der bayerische Mini- Reinhard Höppner (SPD) überkam an- es Rexrodt noch immer: Bei dem vielfa- sterpräsident Edmund Stoiber „eine un- gesichts der Tiraden die Erkenntnis, chen Milliarden-Schwund, so der Libe- geschminkte Bestandsaufnahme“. Die „wie tief der Graben zwischen Ost und rale, handle es sich lediglich um einzel- Oppositionspolitikerin Ingrid Matthäus- West noch ist“ (SPIEGEL-Gespräch ne „Mißbräuche und Fehlleitungen“. Maier verlangte, Bonn solle im Osten Seite 21). Gleichwohl will er „die einzelnen För- „das Fördern und Subventionieren von Der Schaden, den der gehässige Zank derinstrumente genau durchleuchten“ Bauten auf Null runterfahren“. Der zwischen Ost und West vergangene Wo- und „gegebenenfalls Konsequenzen er- Bonner Finanzminister che anrichtete, wiegt womöglich noch greifen“. versprach: „Wir werden die Wirtschafts- schwerer als der Ärger über das ver- Daß der Fehler im System liegt, nach- förderung in den neuen Ländern straf- schwundene Geld. Denn der Streit hat dem Bonn seit fünf Jahren versucht, im fen und schrittweise zurückführen.“ gezeigt: Deutschland im fünften Jahr Zugleich überzogen sich Regierende nach der Einheit ist ein im Innern tief * Weimar-Legefeld. in Bund und Ländern gegenseitig mit zerrissenes Land.

18 DER SPIEGEL 8/1995 .

DEUTSCHLAND

Zur Bonner Heuchelei gehört die ge- spielte Ahnungslosigkeit: Die Kontroll- instanzen der öffentlichen Hand, die Rechnungshöfe des Bundes und der Länder, haben seit langem vor dem Mil- liardengrab Ost gewarnt. Der Bundesrechnungshof etwa schickte seit 1993 regelmäßig Alarmmel- dungen an die Regierenden, in denen die Prüfer immer wieder auf den Miß- brauch mit Investitionszulagen für Ost- Projekte hinwiesen. Stichproben in Finanzämtern hatten Fehlerquoten von über 80 Prozent bei Steuerbefreiungen für reprivatisierte Firmen zutage gefördert. Weil die Äm- ter Prüfvorgaben außer acht ließen und Anträge schlampig bearbeiteten, flossen aus staatlichen Kassen nach Schätzung der Kontrolleure allein 500 Steuermil- lionen zu Unrecht an diese Unterneh- men. Auch auf milliardenschwere Schie-

bungen bei der Investitionszulage im J. H. DARCHINGER Osten wiesen die obersten Rechnungs- Wirtschaftsminister Rexrodt: Fakten heruntergespielt prüfer hin. Lakonische Antwort aus dem Waigel-Ministerium: Grobe Bear- vergangenen Jahr in Ostdeutschland in- stellter beispielsweise 250 000 Mark im beitungsmängel müßten abgestellt, wei- vestiert, für dieses Jahr rechnen die Jahr und kauft im Osten eine Wohnung tere Fehler indes hingenommen werden. Wirtschaftsforscher mit etwa 206 Milli- für 340 000 Mark, erläßt ihm das Fi- Immer mal wieder versprach der Bun- arden Mark. Ein Viertel dieser Summen nanzamt bis zu 95 000 Mark Steuern, die desfinanzminister schärfere Kontrollen. werde in den Bau von Mietwohnungen der Investor sonst zahlen müßte. Doch es änderte sich kaum etwas. Aus gesteckt. Acht von zehn Steuersparmo- Solche Rechnungen locken die Inve- rund 150 Finanztöpfen ergossen sich dellen, warnt jedoch Axel Prümm, Re- storen, auch den größten Unfug auf ost- auch fürderhin die Milliardenströme un- daktionschef des Branchendienstes Ka- deutsche Wiesen zu setzen: Experten er- gebremst in die Ostprovinzen. pitalmarkt intern, würden bald zusam- warten reihenweise Pleiten vor allem Überdies wird bis heute manche Steu- menklappen. Was da gebaut werde, sei- bei Gewerbe-Immobilien wie Super- ermilliarde indirekt in den Osten der en „die Altlasten von morgen“. märkten und Lagerhallen. Rund um Republik transferiert, etwa über Son- Wer sein Geld in Bürotürme, Ein- Leipzig etwa wurden bis Mitte 1993 un- derabschreibungen für den Immobilien- kaufszentren oder Mietwohnungen in- gefähr 500 000 Quadratmeter Verkaufs- Bau. Auch ein Großteil dieser Gelder, vestiert, kann ein Viertel bis zur Hälfte fläche genehmigt – „Schwachsinn in Po- warnen Experten, wird sinnlos ausgege- der Baukosten von der Steuer erstattet tenz“, sagt der Leipziger Wirtschaftsde- ben, verbuddelt und verplempert. bekommen; so generös haben die Fi- zernent Christian Albert Jacke. Rund 180 Milliarden Mark, so schätzt nanzämter das Geld noch selten ver- In Städten wie dem brandenburgi- das Münchner Ifo-Institut, wurden im schenkt. Verdient ein leitender Ange- schen Pritzwalk gibt es schon fast dop- pelt soviel Verkaufsfläche pro Einwoh- ner wie in vergleichbaren West-Kom- munen. Auf Dauer werden sich viele Einzelhändler nicht halten können. Wieviel Geld genau durch die undiffe- renziert und unkontrolliert ausgeworfe- nen Fördermittel, Zuschüsse und Steu- ererleichterungen verplempert, versik- kert und versandet ist, ob es 65 Milliar- den Mark sind, wie der SPIEGEL ver- gangene Woche aufgrund von Experten- Schätzungen hochrechnete, oder nur 30 oder gar 70 Milliarden – niemand kann das sagen, weil keiner der Verantwortli- chen den Überblick hat. Zwar behaupteten Politiker vergange- ne Woche allenthalben, die vom SPIE- GEL genannte Summe sei „stark über- trieben“ (der thüringische Finanzmini- ster Andreas Trautvetter) oder „unver- antwortlich hoch“ (Rexrodt) – belegba- re Zahlen indes konnten sie den Schät- zungen nicht entgegensetzen. Recht hatten Kritiker freilich in ei- nem Punkt: Im sächsischen Innenmini- „Können wir’s mal in der umgekehrten Reihenfolge probieren?“ tz, München sterium überlebten die Abteilungen für

DER SPIEGEL 8/1995 19 .

DEUTSCHLAND

Zivilschutz und Landesgeheimschutz aus DDR-Zeiten nicht mit 44 und 65 Mitarbeitern, wie vom SPIEGEL be- richtet, sondern nur mit 6 Leuten. Schnell sollte der Aufschwung kom- men und vor allem rasch sichtbar sein, deshalb wurde der Zugang zum Geld so leicht wie möglich gemacht. So konnten Ost-Kommunen bislang beim Bund, bei den Ländern oder der EU die Geldhäh- ne, entgegen den güldenen Regeln des Haushaltsrechts, einfach anzapfen, selbst wenn noch gar keine Leistung er- folgt ist. Mit nachgerade absurden Folgen: Teilweise parkten Städte die nicht ver- brauchten Gelder auf Festgeldkonten oder legten sie am Londoner Spotmarkt an; teilweise verliehen die Kämmerer sie auch als Kredite an notleidende West-Kommunen, wie der Bund der Steuerzahler bereits Anfang 1994 in ei- nem Bericht darlegte.

„Wir haben nach Bedarf der Gemein- OSTWESTBILD ERFURT den ausgeschüttet, ob da schon Straßen Baustelle im Osten*: Generöse Geschenke vom Finanzamt oder Anlagen gebaut wurden, haben wir Brandenburg, Weimar 1993. Und für 1994 war eine weitere nicht geprüft“, räumt und nach Meißen. Erhöhung der Honorare angekündigt. der Abteilungsleiter Mit dem Geld sollte Rechnungshof-Rüge an das Baumini- bei der Frankfurter die Stadtsanierung sterium: „Die Gestaltung der Vergü- Kreditanstalt für Wie- vorangetrieben wer- tung“ sei „nicht geeignet“, eine „zügi- deraufbau (KfW), den. Doch das ge- ge Durchführung der Sanierungsmaß- Walter Paul, freimütig schah nicht überall. nahmen zu fördern“. ein. Vertreter der Stadt Das Beispiel Brandenburg ist nur ein Für seinen Kollegen Brandenburg müssen Fall von vielen. Im deutsch-deutschen Winfried Polte, ein jetzt vor ihrem Stadt- Förder-Dschungel ist einiges verschol- paar Türen weiter, gel- parlament Rechen- len – auch wenn manche Politiker dies ten ganz andere Re- schaft ablegen – we- immer noch nicht zugeben wollen. geln. Polte wacht über gen Verschwendung Da kündigte der Potsdamer Mini- die Vergabe von För- und Zweckentfrem- sterpräsident Manfred Stolpe Anfang dermitteln an Länder dung von Fördergel- letzter Woche vollmundig an, er werde in der Dritten Welt. dern. Auch das den SPIEGEL verklagen, wegen der Vor jedem Entwick- Bonner Bauministeri- Berichterstattung über das brandenbur-

lungshilfe-Projekt läßt DPA um soll sich vor dem gische Städtchen Elsterwerda. Gegen er Marktstudien und Subventionskritiker Schröder Bundesrechnungshof Ende der Woche freilich wollte der Rentabilitätsprüfun- verantworten. Regierungschef davon nichts mehr wis- gen erstellen – erst danach wird gege- Ein Gutachten der Prüfer hatte er- sen. Sein Pressesprecher redete sich ben. hebliche Unregelmäßigkeiten in Bran- auf ein „Mißverständnis“ heraus. In Deutsch-Ost läuft es umgekehrt: denburg zutage gefördert. Von 72,5 Sa- Stolpes plötzliche Zurückhaltung hat Für Klärwerke und Kanalisationen, nierungs-Millionen, so die Rechnungs- gute Gründe. Elsterwerda taugt nicht Luftreinhaltung und Lärmschutz etwa prüfer, sei ein nicht unerheblicher Teil zur SPIEGEL-Schelte. Für knapp 60 zahlte die Frankfurter Anstalt in ihrem zweckwidrig eingesetzt worden. Millionen Mark hat das Städtchen ein Kommunalkreditprogramm im Auftrag So parkte die Kommune zeitweise Klärwerk ins Land gesetzt, das die Be- des Bundeswirtschaftsministers zwi- Gelder in zweistelliger Millionenhöhe wohner spöttisch „Schwarzwaldklinik“ schen 1990 und 1992 rund 7,3 Milliarden auf Festgeldkonten, weil die Mittel nicht nennen. Einstmals für die Fäkalien von Mark zinssubventionierte Kredite schon gebraucht wurden. Zinsgewinn: zwei 240 000 Einwohnern geplant (und teil- beim ersten Spatenstich an die jeweili- Millionen Mark. Statt Häuser zu sanie- weise auch so ausgebaut), könnte das gen Kommunen aus. ren, förderte Brandenburg mit den Zu- Klärwerk jetzt 80 000 Abwassereinlei- Bereits 1991 monierte der Bundes- wendungen eine Trinkwasserleitung, ei- ter bedienen, doch es ist nicht mal zu rechnungshof diese Praxis. Mittlerweile nen Parkplatz und ein Abwasserhaupt- 35 Prozent ausgelastet. wurde das Programm eingestellt. werk. Und zwei Grundstücke, die gar Wenn die derzeit künstlich niedrig Nachgerade sträflich warfen nach Er- nicht im Sanierungsgebiet liegen, wur- gehaltene Abwassergebühr in Elster- kenntnissen des Bundesrechnungshofes den, für 1,7 Millionen Mark, gekauft. werda heraufgesetzt wird, droht auch der Bundesbauminister und das Auch die vom Bauministerium ausge- Schlimmeres: Ein örtliches Milchwerk, Land Brandenburg Fördergelder raus. wählte Sanierungsgesellschaft bediente der größte Abwasserproduzent, will Schon 1990 hatte die damalige Baumini- sich kräftig. Ihre Honorare stiegen von 3 notfalls eine eigene Kläranlage bauen. sterin Gerda Hasselfeldt fünf ostdeut- Prozent der ausgeschütteten Fördermit- Die Gemeinde ihrerseits hält sich sche Kommunen zu Modellstädten er- tel im Jahr 1991 auf 18 Prozent im Jahr ans Land. Sie klagt auf Kostenbeteili- klärt. Bald flossen fette Finanzspritzen gung; etwa ein Drittel der Ausgaben, nach Stralsund und Halberstadt, nach * Kongreßzentrum in Suhl. rund 20 Millionen Mark, solle Bran-

20 DER SPIEGEL 8/1995 .

denburg übernehmen, meint der Elster- werdaer Bürgermeister Peter Schwarz. SPIEGEL-Gespräch „Keinen Pfennig Fördermittel“ habe die Stadt bekommen, behauptete Schwarz vergangene Woche. Doch er er- wähnte nicht den Grund: Bei der Auf- „Wir sind nur lästig“ tragsvergabe für Bauarbeiten am Klär- werk 1991 waren Ungereimtheiten auf- Reinhard Höppner über den Milliarden-Streit zwischen Ost und West getaucht, der billigste Anbieter hatte nicht den Zuschlag bekommen. Darauf- hin verweigerte das Land eine verspro- Höppner, 46, ist seit Juli vergangenen Höppner: Es muß sogar darüber geredet chene Zuweisung in Höhe von 750 000 Jahres Chef der SPD-Minderheitsre- werden. Man sagt ja immer, bei Geld Mark. gierung in Sachsen-Anhalt. Der gebür- höre die Freundschaft auf. Aber die Für die im Klärwerk versickerten 60 tige Ostdeutsche war vor der Wende Diskussion sollte nicht auf Vermutun- Millionen Mark wird in jedem Fall der in der evangelischen Kirche aktiv. gen und unbewiesenen Tatsachen auf- Steuerzahler aufkommen müssen, El- 1989 trat er in die SPD ein und stand bauen. So werden nur Vorurteile ge- sterwerda kann sie nicht bezahlen. Bür- bis Oktober 1990 der DDR-Volkskam- schürt. Genau das hat Ihr Bericht of- germeister Schwarz kontert jede Kritik mer als Vizepräsident vor. fenbar ausgelöst. Die heftigen Reaktio- nach Art der Bürger von Schilda: „Das nen zeigen, wie tief der Graben zwi- war schon richtig kalkuliert, nur daß die SPIEGEL: Herr Ministerpräsident, Poli- schen Ost und West noch ist. Jetzt Entwicklung anders kam.“ tiker aller Couleur wollen die Debatte kommt der alte Vorwurf wieder hoch, So war’s wohl allenthalben. Im Lande um die Verschwendung von Steuer-Mil- daß die Ossis faul und dumm sind und Brandenburg sind, räumte der Potsda- liarden abblocken, weil sie den Frieden nicht mit Geld umgehen können. Das mer SPD-Landesvorsitzende und Kul- zwischen alten und neuen Bundeslän- erschreckt mich. tusminister Steffen Reiche selbstkritisch dern störe. Glauben Sie das auch? SPIEGEL: Beides stand ausdrücklich ein, „neunmal so viele Gewerbegebiete Höppner: Es besteht zumindest die Ge- nicht im SPIEGEL. Stammtischreden finanziert, gefördert und in den Sand ge- fahr, daß aus der Debatte darüber eine und die Heuchelei von Politikern, die setzt worden wie in den Altbundeslän- Kampagne wird. Das wäre ein schwe- sich jetzt gegenseitig die Schuld an dem dern“. Sein Thüringer Kollege Gerd rer Rückschlag für den Prozeß des Zu- Milliarden-Debakel zuschieben, sind Schuchardt (SPD) rechnet damit, „daß sammenwachsens zwischen Ost und schwer zu verhindern. Wo liegen nach noch manche haarsträubende Geschich- West. Ihrer Meinung die Ursachen, daß vier te bekannt wird“. SPIEGEL: Warum darf über die Milliar- Jahre danach der Verdruß über die Ko- Was Wunder. „Bereits jetzt“, schrie- den für die neuen Länder und deren sten der Einheit das historische Ereignis ben die Konjunkturforschungsinstitute Verbleib nicht geredet und gerechnet von 1990 so nachhaltig überwuchert? in ihrem letzten Herbstgutachten über werden? Höppner: Das ist für mich eine zentrale die Steuer-Milliarden für das „Aufbau- Frage an die Gesellschaft. Die ist total werk Ost“, sei „der Umfang des Mittel- * Christiane Kohl und Felix Kurz in Höppners auf Geld, Erfolg und Einkommen pro- einsatzes sehr groß und so vielfältig, daß Amtszimmer in Magdeburg. grammiert. In dieser Atmosphäre las- er kaum noch zu überschauen ist“. Da- her falle es auch schwer, „die Effizienz des Mitteleinsatzes zu überprüfen“. Die Präsidenten der ostdeutschen Landesrechnungshöfe räumten letzte Woche ein, im Osten seien binnen 4 Jah- ren mehr Fehlentscheidungen getroffen worden als im Westen innerhalb von 40 Jahren. Der Chef des Landesrechnungshofes Sachsen-Anhalt, Horst Schröder (CDU), verlangt jetzt schärfere Kontrol- len und neue Organisationsmodelle für die ostdeutschen Verwaltungen, in de- nen die Vergabe öffentlicher Aufträge erfolgt. „Eine Rotation der Mitarbeiter“ sei nötig, „damit sich erst gar nicht ir- gendwelche Seilschaften bilden kön- nen“. Zugleich fordert Schröder ein „inter- nes Controlling für alle Behörden“. Schröder: „Jeder, der Steuergelder aus- gibt, gibt das Geld der Bürger aus, da ist er doch auch zur Kontrolle verpflichtet.“ Schließlich sollten „mobile Einsatzgrup- pen“ gebildet werden, die vor Ort auf den Baustellen nachschauen könnten. Der Mann aus Sachsen-Anhalt darf hoffen: Vergangene Woche bekam er Post aus Bonn. Der Bundeswirtschafts-

minister habe um Informationen gebe- WINHÖFER / PRINT ten. Schröder: „Zum erstenmal.“ Höppner (M.), SPIEGEL-Redakteure*: „Wer jetzt den Hahn zudreht, nutzt niemandem“

DER SPIEGEL 8/1995 21 DEUTSCHLAND sen sich Neidgefühle schon beim klein- Osten ärgern sich, daß sie nicht klar ge- geht. Mir kommt die Diskussion vor wie sten Anlaß mobilisieren. nug gesehen haben, daß uns Geschäfte- die Stasi-Debatte; immer weiß der We- SPIEGEL: Also nur Ärger der Wessis macher aus dem Westen über den Tisch sten Bescheid, immer sagen die West- über den Solidarzuschlag, in der Sache ziehen und daß uns Leute beraten, die so deutschen, was wir falsch gemacht ha- ist im Osten alles in Ordnung? fachkompetent gar nicht sind. Wir ärgern ben. Glauben Sie denn nicht, daß wir Höppner: Darüber müssen wir sachlich uns darüber, daß wir nicht zeitiger unse- auch selbstkritisch sind, unsere Fehler reden. Wir werden jetzt schnell und ren gesunden Menschenverstand einge- erkennen – wir sind doch nicht behäm- gründlich durchschaubar machen, wo- schaltet haben. Dann wären wir auf man- mert. Ich habe zunehmend den Ein- hin das Geld geflossen ist und wofür es chen Schmu nicht hereingefallen. druck: Eigentlich sind wir den West- ausgegeben wurde. Wir haben in Sach- Viele Menschen im Osten sind betroffen, deutschen nur lästig. sen-Anhalt, schon bevor die öffentliche daß sie jetzt für ihre guten und ehrlichen SPIEGEL: Fakt bleibt: In den neuen Län- Diskussion in Gang gekommen ist, in ei- Bemühungen Prügel kriegen. Das ist dern sind Milliarden unwirtschaftlich nigen Bereichen festgestellt, daß die schon bedrückend. Da kommt manchmal oder gar unsinnig ausgegeben worden. Verwendungsnachweise von Fördermit- Wut auf. Höppner: Ob wir das Geld effektiver teln schleppend eingehen. Wir werden SPIEGEL: Der Zorn kann den Milliarden- hätten ausgeben können, darüber kön- die Prüfung jetzt beschleunigen und Schwund beim Aufbauwerk Ost nicht nen wir diskutieren. Nach der Wende sorgfältiger angehen. wegzaubern. Der existiert real. haben uns alle gesagt: Ihr müßt Gewer- Ein Grund für Fehler ist sicher: Es hat Höppner: Milliarden-Schwund – das sug- begebiete ausweisen, sonst ist es aus. eine zu schnelle Übertragung von West- geriert, Milliarden seien in private Ta- Eure Gemeinden haben sonst keine Standards in den Osten gegeben. So ha- schen geflossen oder zum Fenster rausge- Entwicklungschancen. Also hat jeder Kommunalpolitiker, der auf sich hielt, ein Gewerbegebiet ausgewiesen und da- für Fördermittel kassiert. Das Ergebnis ist bekannt: Jetzt haben wir viel zu viele Gewerbegebiete. Die Situation ist noch verschlimmert worden, weil die Treu- hand nicht in der Lage war, ihre Flächen schnell für Gewerbeansiedlungen ver- fügbar zu machen. SPIEGEL: Meinen Sie, der Westen hat dem Osten das Geld geradezu aufgenö- tigt? Höppner: Anfangs haben wir in der Tat befürchtet, der Westen beklagt sich, daß wir nicht alles Geld ausgeben. Das hat sich inzwischen ins Gegenteil verkehrt. Es kommt hinzu, daß nach den gelten- den Haushaltsgesetzen die Gelder, die in einem Jahr nicht ausgegeben werden, am Jahresende verfallen. Viele haben da einfach angefangen zu bauen, um das Geld noch zu nutzen. Für mich ist das einzig Positive an dieser Diskussion, daß vielleicht alle Beteiligten darüber nach- zudenken beginnen, wie man die Mittel Alles sauber Die Zeit effizienter einsetzen kann. SPIEGEL: Also doch: Schuld sind die im ben die Politiker und Banker aus dem schmissen worden. Ich glaube, das ist Westen und ihre Bürokratie, unsere Westen nach der Wende gesagt: Wenn nicht der Fall. Das öffentliche Geld, das Leute im Osten haben kaum Fehler ge- jetzt im Osten gebaut werden soll, muß im Osten verplempert wird, ist nicht macht, sie waren allenfalls zu gutgläu- es gleich das Feinste und Beste sein. Das mehr, als was auch in der Alt-Bundesre- big. war nicht unsere Idee. publik üblich ist. Eine rechtliche Prü- Höppner: Ich glaube in der Tat, daß bei SPIEGEL: Aber gewehrt haben Sie sich fung wird das ergeben. Dabei könnten uns viele zu gutgläubig waren. Viele ha- nicht. auch Fälle für den Staatsanwalt heraus- ben die Entwicklung einfach nicht über- Höppner: Wir wären durchaus mit Über- kommen. blickt. Sicherlich haben sich einige auch gangslösungen zufrieden gewesen. Es SPIEGEL: Verschwendung ist nicht nur von Interessengruppen ausnutzen las- gab von Anfang an ein grundlegendes Bereicherung. sen. Aber für all das habe ich Verständ- Mißverständnis: Helmut Kohl hat die Höppner: Dieses Wort Verschwendung nis. Losung von den blühenden Landschaf- empfinde ich als unerträgliche Mißach- SPIEGEL: Welchen Eindruck haben bei ten ausgegeben, die in zwei oder drei tung unserer Bemühungen. Wir haben Ihnen denn die westlichen Verwaltungs- Jahren erreicht werden sollten. Aber nach bestem Wissen und Gewissen ge- helfer hinterlassen? niemand wußte, wie die hinzukriegen handelt, dabei haben wir auch Fehler Höppner: Es gibt ein paar, die inzwi- sind. Deshalb hat es die Bundesregie- gemacht, weil wir noch nicht so genau schen hier fest verwurzelt sind. Die ha- rung erst mal mit Geld versucht. In vie- wußten, wie es richtig geht. Aber das ben sich sehr engagiert ans Werk ge- len Fällen haben West-Firmen davon war doch nicht leichtfertig oder gewis- macht. Aber bei anderen Beratern aus profitiert. senlos. den alten Bundesländern waren die SPIEGEL: Schuld hat also nur der We- SPIEGEL: Das hat Ihnen auch niemand Kommunalpolitiker dankbar, als sie sten? vorgeworfen. wieder gingen. Höppner: Nein, Schuldgefühle haben Höppner: Aber natürlich wollen Sie uns SPIEGEL: Läuft denn die Verwaltung im wir auch. Viele Kommunalpolitiker im jetzt wieder von außen sagen, wie es Osten inzwischen reibungslos?

22 DER SPIEGEL 8/1995 . PMK Einkaufsstraße in Halle: „Wir brauchen das Geld nach wie vor dringend“

Höppner: Ich werde den Teufel tun, ben. Wenn sich jemand außerhalb sol- SPIEGEL: Ein Beispiel: Viele Kommunen meine Hand dafür ins Feuer zu legen. cher Schwerpunktgebiete ansiedeln will, im Osten trauen sich nicht, kostendek- Es knirscht noch vielerorts und oft. Der muß er auf die Landesförderung ver- kende Beiträge für ihre Leistungen zu er- Grund ist einfach: Die Durchschnitts- zichten. heben. Oftmals werden Satzungen, die qualifikation kann in unserer Verwal- SPIEGEL: Ihr bayerischer Kollege Ed- die Höhe der Anschlußgebühren regeln, tung nach vier Jahren noch nicht überall mund Stoiber sieht schon jetzt überall aus Angst vor dem Protest der Bürger so sein wie im Westen. Speckgürtel im Osten. nicht einmal beschlossen. SPIEGEL: Mancher West-Politiker Höppner: Dann soll er doch mal, wenn Höppner: Daß solcheSatzungen imWahl- möchte die Fördergelder für den Osten er das nächste Mal in Berlin ist, 150 Ki- jahr 1994 zum Teil auf die lange Bank ge- am liebsten sofort kappen. Wäre dann lometer weiter fahren nach Sachsen-An- schoben worden sind, will ich nicht be- der Traum von den blühenden Land- halt. Dann wird er kuriert sein. Wir streiten. Aber das ändern wir gerade. schaften ausgeträumt? brauchen das Geld nach wie vor drin- SPIEGEL: Aus der Erwartungshaltung a`la Höppner: Es geht gar nicht um blühende gend. Wer sich mal unsere Innenstädte – DDR scheinen uns einige Ressentiments Landschaften, aber wenigstens ordentli- zum Beispiel Halle – anguckt, wird fest- im Westen herzurühren. Da gibt es die che Wiesen müßten es schon sein. Die Vorstellung: Auch Ostdeutsche sollten Angleichung der Lebensverhältnisse in mal erwachsen werden. Ost und West, die ja ein Verfassungsge- „Manchem wäre Höppner: Wir sind dabei, unseren Leuten bot ist, wird noch viele, viele Jahre in es lieber, wenn der Osten klarzumachen, daß das so nicht mehr Anspruch nehmen. geht, daß sie eigenständiger agieren müs- Mir scheint, manchem wäre es lieber, ein Armenhaus bliebe“ sen, Dinge selbst in die Hand nehmen wenn der Osten ein Armenhaus bliebe. müssen, die früher der Staat regelte, auch Wir werden einen drastischen Unter- stellen, daß der Verfall in manchen Ge- für gewisse Leistungen selbst aufkom- schied zwischen Ost und West – was die genden größer ist als das, was restauriert men müssen. Aber das isteine schwierige Produktion, den Lebensstandard, die und neu aufgebaut werden kann. Wir Gratwanderung. Wir müssen die Leute Wohnlichkeit anbetrifft – aber nicht lan- wollen unser Geld gerne selber verdie- einerseits sozial abfedern, weil sie die Ar- ge aushalten. Ein sozial geteiltes Land nen; aber die Rahmenbedingungen da- beitslosigkeit wie ein Naturereignis über- würde das Ansehen Deutschlands in der für müssen weiter gefördert werden. fallen hat, andererseits wollen wir aber Welt nachhaltig schädigen. Manch einer Sonst schaffen wir das einfach nicht. nicht durch allzuviel staatliche Leistun- im Ausland fragt sich ja schon, was wir SPIEGEL: Uns scheint, es fällt im Osten gen ihre alte Erwartungshaltung konser- Deutschen mit unserem Geschenk der besonders schwer, den Bürgern auch fi- vieren. Einheit machen. Wer jetzt den Hahn zu- nanzielle Beiträge abzuverlangen für SPIEGEL: Wie lange dauert es denn noch, dreht, nutzt niemandem. Leistungen des Staates – schlägt da nicht bisauch inden Köpfen zusammenwächst, SPIEGEL: Also weiter die Gießkanne die alte Versorgungsmentalität aus was zusammengehört? über dem Osten ausschwenken? DDR-Zeiten durch? Höppner: Bis dahin wird noch eine Gene- Höppner: Gießkanne wird es bei uns Höppner: Natürlich gibt es bei uns noch ration groß werden. Die kann dann unbe- nicht mehr geben. In Sachsen-Anhalt diese Erwartungshaltung an Papa Staat: fangener mit der Einheit umgehen, weil laufen bereits Programme mit Schwer- Der soll alles richten. Das kommt noch sie keine eigenen schmerzhaften Erfah- punktgebieten, die wir fördern. Das war von früher, das war die andere Seite der rungen mit ihr verbindet. einer der ersten Schritte, als wir in Mag- Bevormundung, der Staat hat für alle SPIEGEL: Herr Höppner, wir danken Ih- deburg die Regierung übernommen ha- gesorgt. nen für dieses Gespräch. Y

DER SPIEGEL 8/1995 23 .

DEUTSCHLAND

Ostpolitik An Undenkbares gedacht Die Führung von CDU und CSU verfügte – wie die SPD – über klammheimliche Verbindungen nach Moskau und Ost-Berlin. Der damalige Kanzlerberater Teltschik scherte sich wenig darum, ob sein Gesprächspartner dem KGB unterstand oder nicht. Solche Kanäle hatten „vertrauensbildende Wirkung“, sagt Ex-Außenminister Genscher.

as wär’s doch gewesen: ein Unter- suchungsausschuß, der sich eigens Dmit den jahrelangen Verbindungen Egon Bahrs zum KGB befaßt. Denn un- erbittlich aufrechte Gegner der SPD- Ostpolitik in CDU und CSU haben ihn ja immer schon für eine fünfte Kolonne Moskaus gehalten. Daraus wird nun aber nichts. Kanzler Helmut Kohl und Unionsfraktionschef Wolfgang Schäuble legten aus Eigenin- teresse ihr Veto ein. Im Fraktionsvorstand von CDU/CSU warnte Schäuble davor, „sich durch öf- fentliche Äußerungen in Zugzwang zu bringen“. Bei solch einem Unterneh- men könne nichts herauskommen. Kohl sieht es genauso: „Das bringt nichts.“ Vor einen Untersuchungsaus- schuß würden die Sozialdemokraten auch Leute aus den Reihen der Union vorladen, die Kontakte „nach drüben“ hatten: „Die führen uns dann vor.“ Die Sorge ist vollkommen berechtigt. Denn ein „back channel“, wie ihn Bahr seit 1969 im Auftrag und mit Wissen von und später von nach Moskau gebaggert hatte, gehört zu den diplomatischen Gepflo- genheiten. Und CDU/CSU nutzten zum Teil die gleichen Verbindungen, die sie dem SPD-Mann Bahr jetzt unbedingt als Verrat anlasten wollten. Sie hatten ihre

„black channels“. K. MEHNER Den geheimen Kanal gibt es traditio- Gesprächspartner Strauß, Schalck (1985)*: Wenig wählerisch im Umgang nell neben der offiziellen Diplomatie. Vor allem im Umgang mit der Sowjet- Partner für vertrauensvolle politische eine „Ära der Verhandlungen“ zu son- union wurden derlei Möglichkeiten ge- Kontakte. Die beiden trafen sich regel- dieren. nutzt – zum Frommen aller Beteiligten. mäßigimWeißen Haus. Der Russedurfte Auch die Regierung Kohl war keines- Was geht und was nicht geht, sei auf die- sogar sein Auto inder Tiefgarage des Au- wegs wählerisch bei ihrem Umgang. Für sem offiziösen Weg ausgelotet worden, ßenministeriums parken. des Kanzlers außenpolitischen Berater beschreibt der ehemalige Außenmini- „Wir klärten inoffiziell die Hauptziele Horst Teltschik wurde der Bonner So- ster Hans-Dietrich Genscher (FDP) die unserer Regierungen“, schreibt Kissin- wjetbotschafter Julij Kwizinski zum politische Praxis. ger in seinen Erinnerungen an seine Zeit wichtigsten Verbindungsmann zu Ge- Die Beteiligten durften, anders als die im Zentrum der Macht bei Richard Ni- neralsekretär Michail Gorbatschow. Diplomaten, offen über Interessen und xon. Und: „Wenn man bei den offiziellen Gleich nach dem Fall der Mauer am 9. Gegensätze ihrer Staaten reden. „Denn Verhandlungen in eine Sackgasse geriet, November 1989 übermittelte Kwizinski Offenheit“, so Genscher, „hat vertrau- benutzten wir wieder unseren Kanal.“ den dringenden Wunsch Gorbatschows, ensbildende Wirkung.“ Kissinger hatte auch keinerlei morali- „ein Chaos“ zu vermeiden. Er unter- Der „back channel“ war beileibe kei- sche Bedenken, sich mit Abgesandten richtete Teltschik über die Sorge des ne deutsche Besonderheit. Anatolij Do- des sowjetischen Geheimdienstes einzu- Kreml-Reformers, daß bei Kohls Be- brynin, der sowjetische Botschafter in lassen. So traf er seit 1968 regelmäßig im such in Dresden am 19. Dezember „ein Washington, war für den amerikani- New Yorker Hotel Pierre den KGB- Aufruhr entstehe“. schen Sicherheitsberater und Außenmi- Mann Boris Sedow, „der sich als Berater nister Henry Kissinger in den sechziger der Botschaft tarnte“,wiederMemoiren- * Mit Begleitung bei der Begrüßung auf dem Leip- und siebziger Jahren der entscheidende schreiber anmerkte, um die Chancen für ziger Flughafen.

24 DER SPIEGEL 8/1995 .

nicht eingeweiht und Auch das Kohl-Sprachrohr Acker- entsprechend über- mann lernte über Schmelzer einen rascht. KGB-Mann kennen: Wladimir Zagor- Wladimir Markow, ski. Der stellte sich als Vizepräsident ein Vertreter der des sowjetischen Journalistenverbandes Nowosti-Nachrichten- vor, was, wie Ackermann in seinem Er- agentur, gehörte eben- innerungsbuch „Mit feinem Gehör“ kor- falls zu den gern gese- rekt vermutet, „sicherlich nicht seine henen Gästen im einzige Tätigkeit war“. Kanzleramt. Teltschik Als Ackermann im Februar 1973 auf und Kanzler-Intimus Einladung Zagorskis zu einem touristi- Eduard Ackermann schen Besuch in die Sowjetunion reiste, fragten ihn bisweilen hatte Barzel nur einen Wunsch: Sein süffisant, ob er nun Sprecher sollte herausfinden, ob Bre- General oder nur schnew bereit sei, bei seinem bevorste- Oberst des KGB sei. henden Bonn-Besuch auch den Opposi- Versehen mit einem tionsführer zu empfangen. unbefristeten Visum, Kurz vor seiner Abreise erhielt Ak-

F. DARCHINGER hat Markow noch heu- kermann von Zagorski positiven Be- Partner Teltschik, Kwizinski*: Chaos vermeiden te Zugang zum Kanz- scheid. Doch als Breschnew im Mai an leramt. den Rhein kam, war Barzel gerade zu- Teltschik wertete rückgetreten. So empfing der sowjeti- solche Kontakte ganz sche Parteichef Helmut Kohl und Karl nüchtern: Jeden Ge- Carstens, die Barzels Nachfolger in Par- sprächspartner, der tei und Fraktion wurden, dazu Franz Jo- sich anbot, nutzte er sef Strauß. als Boten für seine Po- Immer wieder ließ Strauß im Kreml litik; zugleich sondier- nachfragen, ob er denn nicht auch mal te er die Absichten der kommen dürfe. Sein Spezi Franz Heubl anderen Seite. Ganz pflegte in seinem Auftrag die Kontakte ähnlich setzte Bahr sei- zum Bonner Sowjetbotschafter Wladi- ne „back channels“ mir Semjonow. ein. Parallel zu ihren Versuchen, mit Mos- Wolfgang Schäuble, kau wieder ins Gespräch zu kommen, der jetzige Fraktions- mühten sich die Christdemokraten auch chef der Union, dachte um vertrauliche Kanäle zur DDR-Füh- und verhielt sich ganz rung. 1975 ließ CDU-Präside Walther in diesem Sinn. 1991 Leisler Kiep einen ostdeutschen Emis- verabredete er sich, sär wissen, ein Kanzler Kohl werde „im damals noch Innenmi- Grunde keine andere Politik machen, nister, gar insgeheim als sie Schmidt jetzt betreibt“. mit KGB-Chef Wla- 1978 lockte der Kohl-Abgesandte dimir Krjutschkow. Ottfried Hennig, heute Oppositionschef Nicht einmal der in Kiel, mit dem Wink, die DDR werde Kanzler war einge- „mit einer von der CDU geführten Bun- weiht (siehe Seite 26). desregierung letztendlich besser zu- Die Union hatte al- rechtkommen als mit der labilen sozial-

WEREK lerdings lange ge- liberalen Koalition“. Partner Honecker, Jenninger*: Für Kontinuität gesorgt braucht, bis sie ihre ei- Nicht minder aktiv waren die CSU- genen „back channels“ Oberen, die sich zunächst des Ständigen Im Kanzleramt tummelten sich auch nach Moskau gegraben hatte. Nach Vertreters der DDR in Bonn, Michael Leute aus dem Dunstkreis des KGB. dem Bonner Machtwechsel 1969 und Kohls, bedienten. Strauß wurde nicht Teltschik betrachtete Nikolai Portuga- in der Vertragsphase der Ostpolitik wa- müde zu beteuern, notierte „Rotkohl“ low, damals Mitarbeiter im Moskauer ren ihre Spitzenvertreter erst einmal (Bonner Spitzname) über seine Gesprä- Zentralkomitee, als einen „back chan- von allen Verbindungen abgeschnit- che im Gästehaus des Fleischgroßhänd- nel“. Der fließend deutsch sprechende ten – Preis der Fundamentalopposition lers Josef März, daß er die geschlosse- Russe ließ im Spätherbst 1989 erstmals gegen Ausgleich und Versöhnung mit nen Verträge einhalten werde („pacta durchblicken, daß im Kreml auch über der Sowjetunion, mit Polen und der sunt servanda“). „quasi Undenkbares“ nachgedacht wer- DDR. Der CSU-Vorsitzende biederte sich de – über eine deutsch-deutsche Konfö- Vereinzelte Kontakte gab es immer- überdies mit erlesenen Indiskretionen deration. hin. Dem damaligen CDU-Vorsitzen- an. So äußerte er sich laut Kohl „sehr Dieses Gespräch hatte Folgen. Dar- den hatte Robert Schmel- kritisch zu Brandt und Bahr, die nach aufhin fühlte Kohl sich ermutigt, seinen zer, Chefredakteur der Frankfurter Neu- seiner Ansicht intensiv an Anti-DDR- Zehn-Punkte-Plan über Konföderation en Presse, einen sowjetischen Journali- Intrigen arbeiten“. und Wiedervereinigung der beiden sten als Gesprächspartner vermittelt: Als nützlich erwies sich, daß März deutschen Staaten vorzulegen. Die den KGB-Mann Walerij Lednew. Das schon früh – 1975 – Kontakt zu Alexan- Westmächte waren in diese Initiative ist derselbe Lednew, der am der Schalck-Golodkowski geknüpft hat- Heiligabend 1969 das ersehnte Angebot te und den an Strauß weiterreichte. Die * Oben: im April 1987 in Bonn; unten: beim Ho- direkter Kommunikation zu Kreml- DDR bekam 1983 ihren Milliardenkre- necker-Besuch im September 1987 in Bonn. Chef Leonid Breschnew gemacht hatte. dit; einer der Nutznießer war der im

DER SPIEGEL 8/1995 25 .

DEUTSCHLAND „Wissendes Lächeln“ Schäubles konspirativer Treff mit dem sowjetischen KGB-Chef Krjutschkow

olfgang Schäuble war- plädiert, sei jedoch unterle- tete gut getarnt in ei- gen. Schäuble versprach, daß Wner Limousine mit er sich für besondere Prüfun- West-Berliner Kennzeichen. gen in Einzelfällen einsetzen Der hohe Gast aus Moskau werde. kam pünktlich um 14.30 Uhr Die Deutschen fragten vor- zum konspirativen Treff im sichtig an, ob ihnen der KGB- Japanisch-Deutschen Zen- Chef seine Moskauer Asser- trum in der Berliner Tiergar- vatenkammer öffne und Sta- tenstraße 24. Es war der 10. si-Aktenmaterial überlasse, April 1991. Im Schauspiel- „das uns das Geschäft der Ab- haus am Gendarmenmarkt wicklung erleichtert“ (ein war kurz zuvor die Trauerfei- Teilnehmer). er für den ermordeten Treu- Früher schon hatte Neusel hand-Chef Detlev Karsten seinem Karlshorster Ge-

Rohwedder ausgeklungen. DARCHINGER sprächspartner Nowikow Im Palais der ehemaligen mehrmals auf den Kopf zuge- japanischen Botschaft saßen sagt, Bonn wisse, daß Moskau sich gegenüber: Wladimir über Material verfüge, das Krjutschkow, als Chef des so- Stasi-Mitarbeiter und Zuliefe- wjetischen Geheimdienstes rer aus Westdeutschland be- KGB eine der einflußreich- schafft hatten. Anfangs hatte sten Figuren in der damals Nowikow alles abgestritten, in noch existierenden Sowjetuni- späteren Treffen aber durch on des Michail Gorbatschow; „wissendes Lächeln“ (Neusel) dazu der KGB-Resident in die Existenz derartiger Akten Berlin-Karlshorst, Anatolij in Moskau bestätigt. Nowikow. Schäuble mag sich inzwi- Gastgeber Schäuble, sei- schen an den Teil seines ge- nerzeit noch CDU-Innenmini- heimen Treffs, der die Stasi ster, hatte sich seinen erfahre- betraf, nicht mehr erinnern. nen Staatssekretär Hans Neu- Er habe lediglich, erklärt er,

sel und den Präsidenten des AP seinem Staatssekretär Neusel Bundesamtes für Verfas- Gesprächspartner Schäuble (o.), Krjutschkow Rückendeckung für Routine- sungsschutz, Eckart Werthe- Vorsichtige Frage nach Stasi-Akten kontakte mit dem KGB gege- bach, mitgebracht. ben. Deshalb sei der heimli- Die Herren konferierten zwei zisten ebenso wie der Schutz für die che Termin im Tiergarten zustande Stunden lang, auch über gemeinsa- im Osten noch stationierten sowjeti- gekommen. Er könne sich über- me Maßnahmen gegen Organisierte schen Streitkräfte und die Abwehr haupt nicht erinnern, daß an jenem Kriminalität, über Drogenhandel der KGB-Spionage auf deutschem Tag im April 1991 über Akten ge- und Terrorismus. Gerade waren die Boden. sprochen worden sei. ersten Aktivitäten der Tschetsche- Wichtigstes Thema war jedoch die Erstaunlich für einen Politiker, nen-Mafia in Ostdeutschland und in gemeinsame gegnerische Vergan- der wenige Wochen vor dem Treff Berlin aktenkundig geworden. Und genheit. KGB-Chef Krjutschkow – mit dem im August 1991 am die Sowjets hatten, das war bekannt, er offenbarte erst nach Schluß der Putschversuch gegen Gorbatschow im zentralen Moskauer Erfassungs- Sitzung im Aufzug seine guten beteiligten und dann inhaftierten system „Soud“ für Deutschland Deutschkenntnisse – kam als erster KGB-Chef darüber „nachgedacht“ wichtige Daten gespeichert, bei- auf den Punkt. Es gehe ihm um das hatte, „ob man sie (die Akten) spielsweise über die Aktivitäten der Schicksal seiner ehemaligen Verbün- nicht unbesehen alle vernichten „Roten Zellen“ oder über den Su- deten in Erich Mielkes Ministerium könnte“. perterroristen Carlos. für Staatssicherheit der DDR. Er Schäuble Anfang 1991: „Die Staatssekretär Neusel („Das war bitte dringend, so mahnte er mehr- Phantasie reicht nicht aus, sich aus- kein leichtes Spiel“) verbrachte da- fach, keine Hetzjagd zu veranstal- zumalen, was damit auch an De- mals die halbe Woche im Büro des ten. nunziantentum und Verletzung von ehemaligen DDR-Innenministers. Schäuble, so bestätigen Teilneh- Persönlichkeitsrechten getrieben Dem Bonner oblag die Sicherheit im mer von beiden Seiten des Tisches, werden kann. Keiner wird am En- „Beitrittsgebiet“. Zu den Risiken bat um Nachsicht. Er habe in den de in der Lage sein, zwischen seines Jobs zählte der Umgang mit Verhandlungen um den Einigungs- Wahrheit und Unwahrheit immer rund 110 000 ehemaligen Volkspoli- vertrag für eine maßvolle Amnestie sauber zu entscheiden.“

26 DER SPIEGEL 8/1995 .

Verrat an deutschen Interessen? Ob Bahr, ob Strauß: Sie hatten eine lockere Zunge und fühlten sich pudelwohl in ih- rer Mittlerrolle neben der offiziellen Poli- tik. Der SED-Devisenbeschaffer Schalck war nach der Wende 1982 auch gerngese- hener Gast am Hofe Kohls. Jenninger ließ sich vom BND eine dicke Schalck- Akte vorlegen. Darin stand zu lesen, daß der Mann fürdie Stasi arbeite, Waffenge- schäfte betreibe und nach James-Bond- Manier angeblich ein Tonband in der Armbanduhr trage. Das war am Ende egal, denn Schalk hatte den direkten Draht zu den DDR-Potentaten, und der erwies sich als außerordentlich nützlich. Beim Machtwechsel im Oktober 1982 waren die deutschland- und ostpoliti- schen Weichen längst auf Kontinuität ge- stellt.

F. DARCHINGER „Es war die Kehrseite der personenbe- Ostpolitiker Kohl zogenen Politik Helmut Kohls“, resü- Rat beim Gegner miert der Geschichtswissenschaftler Heinrich Potthoff in einem demnächst Ostgeschäft tätige Fleischgroßhändler bei dtv erscheinenden Buch („Die Koali- März. tion der Vernunft“), daß Kohl „eindeutig Strauß hatte mindestens ebensoviel auf die Herrschenden“ in Moskau und Verständnis wie Egon Bahr für die Re- Ost-Berlin gebaut und damit das kommu- genten im anderen Deutschland. Beim nistische System gestärkt habe. Milliardenkredit nahm er das SED-Re- So gouvernemental und gutnachbar- gime fürsorglich in Schutz vor mögli- schaftlich wie Kanzler Kohl hatte Egon chen Forderungen der Bundesregie- Bahr allezeit geredet und gehandelt. rung. Politischer oder ökonomischer Kein Wunder, daß der Kanzler den ge- Druck in den Verhandlungen mit der scholtenen Oststrategen bis 1990 und DDR könne „zu keinem Ergebnis füh- darüber hinaus regelmäßig zu vertrauli- ren“, notiert Schalck Straußens Worte. chen Gesprächen im Kanzleramt emp- „So kann man keine Politik machen.“ fing, um dessen Rat zu hören. Bahr mel- Auch persönliche Sottisen gegen dete sich, wenn er dem Kanzler Wichti- Kohl („Er ist etwas feige und ein Spieß- ges von seinen Gesprächen in Ost-Berlin bürger“) wie Kohls Staatsminister Phil- oder Moskau berichten konnte. ipp Jenninger („Für diese Sache der un- Kohl-Berater Teltschik erinnert sich: geeignetste Mann“) nahm der MfS- „Das war ein offener Gedankenaus- Oberst von Strauß-Gesprächen mit nach tausch, und wir waren uns in vielen Ziel- Hause. setzungen einig.“ Y J. H. DARCHINGER Kohl-Gesprächspartner Bahr: Meldung beim Kanzler

DER SPIEGEL 8/1995 27 .

DEUTSCHLAND

Regierung Auf Kohlen Die Liberalen sehen plötzlich Land – sie wollen sich zum Ärger Kohls als Steuersenkungspartei großtun.

er Bundeskanzler stellte die Koali- tionsfrage. „Wir müssen uns ent- Dscheiden“, sprach Helmut Kohl, „wollen wir zusammenarbeiten, oder wollen wir nicht.“ Klaus Kinkel und gerieten in Verlegenheit. Beim Ersatz für den Kohlepfennig, so stellten sie klar, könnten die Liberalen der Uni- on keinen Millimeter entgegenkommen. Es bleibe bei dem Grundsatz: „Keine neue Steuer.“ Damit war das Koaliti- onsgespräch am Ende. Wenn die Union auf ihren Steuerplä- „Förderung bis auf weiteres gesichert, Kumpel!“ Neue Osnabrücker Zeitung nen beharre, beantwortete hinterher der FDP-Energieexperte Paul K. Friedhoff keinen Strom verbrauchen. Und das sei die Kohl-Frage, „weiß ich nicht, was wir mit dem Prinzip der Abgabe, deren dann in dieser Koalition wollten“. Aufkommen hauptsächlich zugunsten Die Stimmung der Regierung ist der Zahler verwendet werden muß, denkbar schlecht. Dabei haben alle Teil- nicht vereinbar. haber das größte Interesse daran, die Drei Wege böten sich an, die bereits Koalition zu erhalten. einvernehmlich zugesagten Milliarden- Die FDP hat, wenn sie die Union ver- Subventionen aufzubringen, schrieben läßt, weit und breit keinen Partner. Und die Beamten dem Finanzminister, Theo Opposition war noch nie die Sehnsucht Waigel (CSU), auf: der Pöstchenpartei. i „eine Finanzierung allein oder über- Die CSU wiederum freut sich, weil sie wiegend aus dem Haushalt“; seit Oktober stärker ist als die FDP. i „eine wertabhängige Stromsteuer“ in „Wir hatten noch nie soviel Einfluß in gleicher Höhe wie der verfassungs- Bonn“, schwärmt Landesgruppenchef widrige Kohlepfennig; Michael Glos, „davon hat Franz Josef i die „Einführung einer Energiesteu- Strauß nur geträumt.“ er“, die den Strompreis senken, aber Das könnte, käme es nach einem Benzin um 2,2 Pfennig sowie Diesel Bruch zur wahrscheinlichsten Lösung, um 2,4 Pfennig pro Liter und Erdgas

einer Notgemeinschaft von Union und J. EIS um 2,2 Pfennig für zehn Kilowattstun- Sozialdemokraten, nur schlechter wer- Steuererhöhungsgegner Solms den teurer machen würde. den. Die Große Koalition aber ist auch Geschenk aus Karlsruhe Die Kohlemilliarden aus dem Etat des Helmut Kohl eher ein Greuel. Bundes zu nehmen halten die Beamten Keiner mag denn auch glauben, das erhalten die Stromproduzenten die Dif- für unmöglich. Dafür sei angesichts der Bonner Bündnis von abgemagerter Uni- ferenz zwischen billiger Importkohle anderen Aufgaben und Risiken kein on und ausgezehrter FDP werde ausge- und dem teuren Brennstoff aus dem Spielraum. Exemplarisch nennen sie die rechnet an einem Nebenthema wie der Ruhrpott erstattet. Steuerbefreiung des Existenzminimums Kohle scheitern. Dennoch herrscht Rat- Im vergangenen Jahr hatte die Koali- und eine deutlich verbesserte Familien- losigkeit. „Ich weiß keine Auflösung des tion den Kumpel versprochen, 1996 zu- förderung, zusammen mindestens 22 Streits“, unkt CDU-Arbeitsminister gunsten der Kohle 7,5 Milliarden Mark Milliarden teuer. Norbert Blüm. Aber selbst wenn sich zu beschaffen und dann bis 2000 jährlich Gegen eine Energiesteuer, die den die Kontrahenten einigten, sieht Kohl 7 Milliarden Mark. Dazu kommt noch Druck der Kohlefinanzierung auf „brei- das Koalitionsklima „nachhaltig und auf eine Milliarde Mark zum Abtragen alter tere Schultern“ verteilen würde, führen Dauer gestört“. Verstromungsschulden. Waigels Experten Lastverschiebungen Die explosive Lage ist Folge eines Ur- Seit der Kohlepfennig den Stempel in der Industrie an – zum Nachteil ener- teils des Bundesverfassungsgerichts. „verfassungswidrig“ trägt, ist das Zah- gieintensiver Branchen wie Chemie, Karlsruhe hatte den Kohlepfennig als lungsversprechen der Regierung Kohl/ Stahl und Zement – sowie neue Bürden verfassungswidrig verworfen. Diese Ab- Kinkel nicht mehr gedeckt. für die Autofahrer. Bleibt eine reine gabe – ein Aufschlag von in diesem Jahr Die Zwangsabgabe, hatte Karlsruhe Verbrauchssteuer auf Strom. 8,5 Prozent auf jede Stromrechnung in gerügt, belaste einseitig die Stromkun- Die würde gegenüber dem heutigen den alten Ländern – dient dazu, das den. Die Sicherung der heimischen Zustand faktisch nichts ändern. Ob der Verstromen teurer deutscher Steinkohle Energiebasis aber komme allen Bürgern Stromkunde über eine verfassungswidri- zu finanzieren. Aus dem Aufkommen zugute, ob sie nun viel, wenig oder gar ge zweckgebundene Abgabe oder über

28 DER SPIEGEL 8/1995 Werbeseite

Werbeseite .

DEUTSCHLAND

Glos: „Es sieht aus, als ob zwei Züge aufeinander zurasten.“ Der Hickhack in der Koalition löste bereits die üblichen Proteste an Saar und Ruhr aus: Mahnfeuer auf den Hal- den, eine brennende Kohlenlore vor dem Rathaus in Hamm, Bergarbeiter- frauen besetzten die Christuskirche in Kamp-Lintfort, der Marsch der Knap- pen auf Bonn ist fest geplant (siehe Seite 112). „Wenn die Protestler kommen“, fragte Kohl seine liberalen Partner, „wo werden Sie dann sein?“ Für die Probleme mit dem Kohlepfen- nig kann die uneinige Koalition sich noch ein wenig Zeit lassen, die könnten theoretisch bei den im März beginnen- den Gesprächen über den Energiekon- sens mit erledigt werden – falls die Sozi- aldemokraten mitspielen. Das aber ist wenig wahrscheinlich. Im Mai wird an Rhein und Ruhr gewählt. Der Düssel- dorfer SPD-Ministerpräsident Johannes

J. H. DARCHINGER Rau wird die Gelegenheit nutzen, die Kohle-Subventionierer Waigel: „Alte Steuer, gute Steuer“ Koalition als Feind des Ruhrgebietes vorzuführen. Das schmerzt die CDU al- eine nicht zweckgebundene verfas- Sarkastisch versuchte Waigel die Li- lemal mehr als die Liberalen, die im Re- sungsgemäße Steuer geschröpft wird – beralen zu quälen. Ob er den Landwir- vier ohnehin kaum Wähler finden. im Portemonnaie spürt er von diesem ten die Dieselsubventionen streichen, Doch einmal in Fahrt, gibt sich die juristischen Feinschliff nichts. die Mittelstandsförderung kappen oder FDP auch auf dem zweiten Feld der Das Motto der Steuerexperten heißt Geld zur Forschung in Zukunftsindu- Kohlesubventionen widerborstig, bei „alte Steuer, gute Steuer“. An die sind strien auf die Konten der Kumpel um- der Kokskohle. Der Bund und Nord- die Bürger gewöhnt, sie provoziert kei- lenken solle, fragte er. Das alles sind rhein-Westfalen unterstützen den Ver- nen Widerstand. Nach gängigem Etatposten, von denen die FDP-Klien- brauch deutscher Kokskohle bei der Bonner Muster hätte es nahegelegen, tel bevorzugt profitiert. Stahlproduktion mit vielen Milliarden. die Abgabe getreu den Wünschen Wai- Keine Regung bei den Spitzenlibera- Bislang stand Bonn für zwei Drittel der gels geräuschlos in eine Steuer umzu- len, nur der stereotype Hinweis, die Kosten ein, ein Drittel übernahm Nord- wandeln und damit praktisch alles neue Steuerschätzung im Mai werde für rhein-Westfalen. beim alten zu lassen, gemäß der Wai- Spielraum sorgen, die gute Konjunktur Weil die Koalition ihr Engagement gel-Losung: „Es muß etwas geschehen, alles ins Lot bringen. Es brachte Waigel reduzieren will, kalkulierte sie für die doch es darf nichts passieren.“ Jahre 1995 bis 1997 nur 50 Prozent Ko- Aber dies Muster gilt nichts mehr. sten ein. Für den Rest sollen Nordrhein- Mit einem Mal sahen die Liberalen „Wenn die Protestler Westfalen und das ebenfalls SPD-regier- den Karlsruher Spruch als ein Ge- kommen – wo werden te Kohleland an der Saar aufkommen. schenk, das ihnen endlich Chancen zur Gedacht war der niedrigere Haus- Profilierung lieferte. Sie bockten gegen Sie dann sein?“ haltsansatz, so Blüm, als Eröffnung ei- jede neue Steuer, auch wenn sie eine nes Pokers. Am Ende sollte ein Kom- alte Abgabe ersetzen sollte. Parole: keinen Deut weiter, hartnäckig vorzu- promiß herauskommen, der die Kohle- Wir sind die Steuersenkungspartei. rechnen, die guten Wachstumszahlen länder ein bißchen mehr rupft als bis- Verbal stehen sie zwar zu dem Milli- seien längst einkalkuliert. lang und der dem Bund die Last ein we- ardenversprechen an den Bergbau – Die FDP stilisiert ihren Steuerwider- nig leichter macht. Doch in der vergan- Waigel soll aus dem Haushalt überwei- stand zum Markenzeichen, aber auch genen Woche beharrten die Liberalen sen. Doch Kinkel, Solms und Friedhoff für die Union geht es längst um mehr als steinhart auf dem 50-Prozent-Deckel. wissen, daß damit ein großer Teil der Geld. Der Fraktionsvorsitzende Wolf- Das ist gefährlich. Denn wenn Ende Kohle-Zusagen zur Disposition steht, gang Schäuble hat die Familienpolitik März 1,7 Milliarden Mark Kokskohle- und es ist ihnen auch recht. Parole: zum strategischen Thema erkoren. beihilfe zu wenig im Haushalt stehen, Wir sind die Partei der Subventionsab- Auf diesem Feld soll die christliche hat das sofort Folgen. Die Ruhrkohle bauer. Volkspartei demonstrieren, daß konser- AG, schrieben Waigels Experten ihrem Der Kanzler selbst mühte sich um vative Werte ihr auch etwas wert sind. Chef auf, müßte ihre Förderung um vier einen Kompromiß, der es den Libera- Sechs Milliarden Mark hat Waigel für Millionen Tonnen jährlich verringern, len sogar erlaubt hätte, sich mit ein mehr Kindergeld und höhere Freibeträ- also an der Ruhr ein bis zwei Zechen bißchen Steuersenkung zu schmücken. ge bereitgelegt. Ungeduldig drängen der dichtmachen. Das kostet bis zu 8000 Ein paar Milliarden könne man viel- Alt-Sozialpolitiker Heiner Geißler und Kumpel den Job. leicht noch einsparen, lockte Kohl, für der niedersächsische Nachwuchsmann Außerdem spart es kein Geld. Die den größeren Teil aber brauche man Christian Wulf, diesen Topf weit groß- Kohlegesellschaft müßte die Stillegun- die Stromsteuer. Nichts da, lehnten zügiger aufzufüllen. gen aus dem Eigenkapital finanzieren. Solms und Kinkel ab: Mit ihnen über- Das Ansinnen des Koalitionspartners, Das wäre rasch weg, und die Existenz haupt keine Steuer, und das werde Haushaltsmittel für die Kohlepolitik zu des gesamten Unternehmens mit rund auch nach der Hessenwahl nicht an- nutzen, gefährdet die Familienbeglük- 42 000 Beschäftigten stünde abrupt auf ders. kung der Union unmittelbar. Michael dem Spiel. Y

30 DER SPIEGEL 8/1995 Werbeseite

Werbeseite .

DEUTSCHLAND

Umwelt Wie die Schnecke Ministerin Merkel feiert einen Scheinsieg: Das Fünf-Liter-Auto bringt nicht die ersehnte Wende in der Umweltpolitik.

ngela Merkel sieht sich fast am Ziel. In zähen Gesprächen ver- Apflichtete die CDU-Umweltmini- sterin die widerstrebenden deutschen Autobosse, vom Jahre 2005 an dem Fünf-Liter-Auto Vorfahrt auf den Pro- duktionsbändern zu schaffen. Im Prinzip jedenfalls. Noch hakeln die Techniker der Branche mit den be- amteten Experten aus Umwelt- und

Verkehrsressort über schwierige De- J. SEIDEL tails. Aber vor der internationalen Kli- Klimavergifter Kohlekraftwerk: Ehrgeiziges nationales Ziel ma-Konferenz in Berlin Ende März, darauf baut die Ministerin, kann sie ih- freiwilliger Vereinbarungen schaffen, Matthias Wissmann (CDU), riskieren. ren nationalen Triumph verkünden. den Verbrauch der Autoflotten deut- Dann müßten sie höhere Spritpreise, Beflügelt vom Fortgang der Gesprä- scher Produzenten im Jahre 2005 auf Tempolimits und Fahrverbote in den che mit den schwierigen Autoherren durchschnittlich fünf Liter pro 100 Ki- Städten vorschlagen – alles Pläne, die nutzte Merkel ihre 100-Tage-Amtsbi- lometer zu drücken. Frohgemut fügte geeignet sind, Wähler zu vergraulen. lanz in der vergangenen Woche, sich sie hinzu, selbstverständlich halte die Seit die Bundesregierung 1991 ihre öffentlich unter Zugzwang zu setzen. Regierung auch an dem ehrgeizigen „Minderungsabsicht“ verkündet habe, Sie werde es mit Hilfe „weitgehend“ nationalen Ziel fest, bis dahin den Ge- resignieren die Umweltexperten in ih- samtausstoß des Klimagiftes CO2 um rer Expertise, seien „vier Jahre vergan- 30 Prozent zu verringern. gen, in denen dem Wachstumstrend im Wieder einmal feiert in Bonn ein Verkehr nichts entgegengesetzt wur- Umweltminister einen Scheinsieg. de“. Mit jedem Jahr, das verstreiche, Tatsächlich kommt Angela Merkel werde es nicht nur schwieriger, das ge- ihrem CO2-Ziel selbst dann nicht nä- setzte Ziel zu erreichen. Das UBA: her, wenn Fünf-Liter-Autos die Stra- ßen noch rascher erobern, als sie es mit den Autobossen vereinbaren will. Die Vorschläge der Ändert sich sonst nichts, werden die Wissenschaftler machen Bundesbürger nicht von ihrem Wahn lassen, in noch mehr Autos noch wei- jedem Politiker angst ter und schneller als bislang zu fahren. „Mit einer Verminderung des Kraft- „Das ständig steigende Niveau der Ver- stoffverbrauchs allein“, heißt es in ei- kehrsleistungen macht es auch immer ner neuen Expertise des Umweltbun- schwieriger, überhaupt eine Wende ein- desamtes (UBA) in Berlin, sei „weder zuleiten.“ eine Stabilisierung noch eine Vermin- Im Jahre 1987 kamen aus den Aus- derung des CO2-Ausstoßes zu errei- pufftöpfen 169,2 Millionen Tonnen chen“. CO2; das war rund ein Fünftel der ge- Die Verbrauchssenkung, so die er- samten Kohlendioxidmenge. Der Rest nüchternde Modellrechnung des dem stammt aus Kraftwerken, der Industrie, Merkel-Ministerium nachgeordneten dem Flugverkehr und Privathaushalten. Amtes, werde „durch das Verkehrs- Die Vorausberechnungen der künftigen wachstum mehr als kompensiert“. Fa- Giftfracht aus dem Autoverkehr sind zit: „Es ist daher von besonderer Be- bei allen Instituten ähnlich. Wenn keine deutung, in diese Dynamik einzugrei- drastischen Maßnahmen greifen, wer- fen und das Verkehrswachstum zu den diese CO2-Emissionen 2005 nicht, bremsen.“ wie die Bundesregierung verspricht, um

P/F/H Genau das aber wollen weder die 30 Prozent unter, sondern um 40 Pro- Klimapolitikerin Merkel Umweltministerin noch ihr Verhand- zent über denen des Jahres 1987 liegen. Unter Zugzwang gesetzt lungspartner, der Verkehrsminister „Ursache dieser Steigerung“, so das

32 DER SPIEGEL 8/1995 .

Geschieht außer dieser Verbrauchs- senkung nichts, um die Autofahrer zu verprellen oder auf die Bahn zu trei- ben, steigt der CO2-Verbrauch in den ersten beiden Varianten bis 2005 trotz der Sparmühen der Ingenieure immer noch um über 30 Prozent über das Giftniveau von 1987, in der dritten, ex- trem ehrgeizigen Variante noch um 21 Prozent. Die Erklärung für den geringen Ef- fekt drastischer Verbrauchssenkungen ist einfach. Weil jeder Kilometer billi- ger wird, fahren immer mehr immer weiter und immer schneller. Nur wenn das Benzin in gleichem Maße teurer wird, in dem der Verbrauch sinkt, win- ken Sparerfolge. Die UBA-Studie: „Um einen weiteren Minderungseffekt zu erzielen, ist als flankierende Maß- nahme die Stabilisierung der Kilome- terkosten notwendig.“ Der durchschnittliche Fünf-Liter- Verbrauch pro 100 Kilometer ist zu- dem eine unsichere Größe. 1993, so das Bundesverkehrsministerium, lag er bei Pkw im Schnitt bei 9,7 Litern. 27

J. H. DARCHINGER Jahre vorher lautete die Kennziffer 9,4 Klimavergifter Flugverkehr: „Immer schwieriger, die Wende einzuleiten“ Liter. Die Autos wurden in dieser Zeit

UBA, „ist in erster Linie die Zunahme nahmen sollen Busse und Bah- des Straßenverkehrs.“ nen attraktiver machen. Tem- Die ist in der Tat beeindruckend. Im polimits von 100 Stundenkilo- Jahre 2005 rollen die Pkw den Progno- metern auf Autobahnen, 80 sen zufolge zwischen 43 und 56 Prozent auf Landstraßen und 30 in Ort- mehr Kilometer ab als 1987. Den La- schaften sollen auch hartnäcki- stern trauen die Experten gar Zuwächse ge Autofreaks dem öffentli- zwischen 53 und 76 Prozent zu. Die chen Verkehr als Kunden zu- CO2-Emissionen nehmen nur deshalb treiben. nicht im gleichen Ausmaß wie die Fahr- Dem Güterverkehr wollen leistungen zu, weil die Fachleute einkal- die UBA-Leute eine dreifach kulieren, der Energieverbrauch pro 100 höhere Mineralölsteuer, höhe- Kilometer werde bis 2005 im Maß des re Kfz-Steuern inklusive höhe- technischen Fortschritts auch ohne poli- rer Straßenbenutzungsgebüh- tische Aktivitäten um elf Prozent sin- ren aufbürden. Sicherheitsan-

ken. forderungen und Emissions- ARGUS Das UBA hat der Umweltministerin grenzwerte, Geschwindigkeits- Klimavergifter Autoabgase nun aufgeschrieben, was geschehen kontrollen und Überholver- Pflichtgaragen, Parkgebühren, Tempolimit müßte, um die Schadstofffracht wenig- bote für Laster sollen das stens auf das Niveau von 1987 zurückzu- Angebot der Bahn konkurrenzfähig ma- immer schwerer und schneller, der tat- führen. chen. sächliche Energieverbrauch pro Fahr- Der Handlungskatalog der Wissen- All diese Maßnahmen zusammen sind zeug aber, entscheidend für die Schad- schaftler macht jedem Politiker angst: nach Ansicht der Experten nötig, wenn stofflast, blieb in der Vergangenheit Autos sollen durch verschärfte Zulas- der CO2-Ausstoß wieder auf das Ni- fast konstant: Der Fortschritt beim sungsvorschriften um zehn Prozent teu- veau von 1987 sinken soll. Wer weiter Sparen war eine Schnecke. rer werden; die Kfz-Steuer wird zur runter will, muß sich noch mehr ein- Doch über den echten Durch- schadstoffabhängigen CO2-Steuer; das fallen lassen. Daß dabei Frau Mer- schnittsverbrauch verhandelt Angela Angebot öffentlicher Parkplätze wird kels Fünf-Liter-Auto kein guter Ein- Merkel mit den Autobossen nicht ein- verringert, der Pkw-Besitzer zu teurer fall ist, können die UBA-Leute vorrech- mal. Ihr Thema ist nur der Verbrauch, Garagennutzung gezwungen. Die Mine- nen. der sich bei einem genau definierten ralölsteuer klettert um eine Mark (Preis- Das UBA hat drei Spritspar-Varian- Fahrverhalten und bestimmten festge- basis: 1989), die Kilometerpauschale ten im Computer simuliert. In der ersten legten Geschwindigkeiten ergibt. Die- wird abgeschafft. Hinzu kommen „deut- sinkt der Spritdurst der Pkw von 1996 an ser genormte Zyklusverbrauch beträgt lich höhere“ Parkgebühren in den In- jährlich um drei Prozent. Das heißt: Im gegenwärtig nicht 9,7, sondern nur 7,6 nenstädten sowie städtische Straßenbe- Jahr 2005 verbrauchen die Autos im Liter. nutzungsgebühren. Schnitt 30 Prozent weniger. Im zweiten Wollte die Umweltministerin den Schluß ist mit dem Neubau von Stra- Szenario führt der jährliche Abschlag Verbrauch wirklich halbieren, müßte ßen. Nur wenn der Bundesverkehrswe- zur Halbierung des Verbrauchs. Im drit- sie als Verhandlungsergebnis einen Zy- geplan zur Makulatur werde, lasse sich ten soll dieses Ziel schon im Jahr 2000 kluswert von weniger als vier Litern die Blechlawine stoppen. Die Mehrein- erreicht sein. präsentieren. Y

DER SPIEGEL 8/1995 33 ..

SPD Rote Mappe Haftbefehl gegen Wienand: Hat ein Mittelsmann versucht, Spuren zur Stasi zu verwischen?

er herzkranke Patient, diagnosti- zierte der Kölner Professor Erland DErdmann, könne vermutlich „nach Ablauf der Reha-Maßnahmen wieder seinen Geschäften nachgehen“. Der Me- diziner mahnte den Kranken allerdings „in einsichtsvoller Weise Risikofak- toren“ zu meiden – vor allem Aufre- gung. Die Einsicht war da, aber sie konnte die Aufregung nicht verhindern. Am vo- rigen Freitag mittag wurde gegen Karl Wienand, 68, den einstigen Fraktionsge-

schäftsführer der SPD, Haftbefehl we- J. H. DARCHINGER gen Flucht- und Verdunkelungsgefahr erlassen. Wienand darf allerdings un- ter Auflagen vorläufig in der Herz- Kreislauf-Klinik zu Bad Berleburg bleiben. Der Fall des angeblichen Ost-Agenten Karl Wienand ist für ständig neue, bizar- re Überraschungen gut. Der Prozeß gegen den alten Haudegen der SPD sollte am 18. Januar vor dem 4. Strafsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf beginnen. Die Anklage lau- tet auf geheimdienstliche Agententätig- keit für die DDR. Doch das Verfahren

fällt, bis auf weiteres, aus. DARCHINGER Erdmann hat den Kranken verhand- Verdächtigter Wienand, Anwaltsbüro lungsunfähig geschrieben. Es mache Fund in der Schatulle nicht den Eindruck, so der Mediziner, als könne Wienand „der Situation angemes- nand aus der Klemme helfen. Syttkus, sene klare Gedanken fassen“. auch Sozialdemokrat, kennt den Ange- Das ist schwer genug, denn der Fall ist klagten seit 39 Jahren. Und seit einiger kompliziert. Wienand bestreitet ener- Zeit beräter, hinterdem Vorhang, seinen gisch, mit der Stasi kooperiert zu haben. Freund Wienand beim Umgang mit drei Doch für den SPD-Mann wurde es im- Anwälten. mer enger. Im Haftbefehl ist jetzt erst- Mandant Handrischick prahlte mit sei- mals von „dringendem“ Tatverdacht die nen Verbindungen zuden dunklen Mäch- Rede. In Bonn war der Vermerk Willy ten der Stasi. Er wolle, so verstand ihn Brandts aus dem Jahre 1992 aufgetaucht, Syttkus zunächst, für Wienand entlasten- der den bösen Verdacht gegen Wienand des Material herbeischaffen. formulierte, er habe für den „dortigen An einem Wochenende im Januar lieh Dienst“ gearbeitet (SPIEGEL 4/1995). der Anwalt dem Ostdeutschen seinen Seit voriger Woche ist ein neuer Ak- Daimler. Handrischick tourte durch Ber- teur im Spiel: Klaus Handrischick, ein ins lin. In einem Umschlag trug er 2000 Mark Rheinland gewechselter Ostdeutscher bei sich, die er von Syttkus bekommen mit sächsischem Akzent. hatte. Das Geld war für einen Detektiv Der Mann ist eine schillernde Figur. bestimmt, der sich um Stasi-Akten über Wegen Betrugsverdachts saß Handri- Wienand bemühen sollte. schick voriges Jahr in U-Haft. Rechtsan- Als Handrischick von seiner Reise zu- walt Ulrich Syttkus, 66, aus Sankt Augu- rückkam, kassierte er 500 Mark Spesen stin bei Bonn holte ihn aus dem Knast. und machte seinem Auftraggeber ein in- Der Mandant bot dem Anwalt aus Dank- teressantes Angebot: Er könne über Mit- barkeit Unterstützung an. Die konnte telsmänner für 15 000 Mark einen ge- Syttkus brauchen, denn er wollte, koste fälschten Revisionsbericht der Stasi be- es, was es wolle, dem alten Kumpel Wie- schaffen, der Wienand entlaste. Es gebe

34 DER SPIEGEL 8/1995 .

DEUTSCHLAND

auch die Möglichkeit, eventuell bela- Ein Oberstaatsanwalt aus Karlsruhe Doch die Auswertung der Funde und stendes Material zu vernichten. reiste an. Am vorvergangenen Wochen- Vernehmungen erhärtete den Verdacht Handrischick wirbelte weiter. Er ende wurde Handrischick richterlich ver- der Ermittler, daß die alten Kumpel machte sich so wichtig mit seinen Infor- nommen. Inzwischen ist er untergetaucht Wienand und Syttkus ohne Kenntnis der mationen über Wienand, daß Bonner und wird per Haftbefehl gesucht. Wienand-Verteidiger versuchen wollten, Ermittler auf ihn aufmerksam wurden. Am Montag durchsuchte der Bonner die unklare Affäre um Wienand noch ein Der Rechercheur erzählte wilde Ge- Staatsanwalt Andreas Schütz die Kanzlei wenig unklarer zu machen. schichten. Er habe den Auftrag gehabt, von Syttkus wegen Verdachts versuchter Auf „Verdunkelungsgefahr“ deutet je- wichtige Zeugen zu beobachten und zu Strafvereitelung. Er stellte Aktenver- denfalls ein schmales Papierchen, das in verunsichern. Auch sollte er für Sytt- merke, Terminkalender sowie etliche einer Schatulle gefunden wurde: „Am kus und Wienand gefährliche Unterla- Dokumente wie „rote Mappe Wienand, 18.1.95 habe ich2500,- DM nach Abspra- gen aufspüren und vernichten. Er habe blauer Ordner Wienand“ sicher. che mit K.W. am 17.1.95 für Informati- die Spur in Richtung KGB legen sol- Wienand versichert, von den Aktivitä- onsbeschaffung an Handr. ohne Quit- len. ten des Anwalts nichts gewußt zu haben. tung ausgezahlt.“ Y

Bundestag „Die Sache hat alle Chancen“ Wahlrechtsexperte Hans Meyer über Verfassungsklagen gegen Überhangmandate im Parlament

Meyer, 61, ist Professor für Staats- Meyer: Der Bundestag ist außeror- Meyer: Direkt nicht. Aber das Ge- und Verwaltungsrecht an der Uni- dentlich zögerlich. Jetzt erst soll richt hat die Erfolgsaussichten in der versität Frankfurt am Main. über die Wahlprüfung verhandelt Sache ausdrücklich offengelassen. werden. Das riecht nach Verschlep- Das ist bemerkenswert. SPIEGEL: Das Bundesverfassungsge- pung. Wenn das noch lange so SPIEGEL: Sie meinen, wenn die richt hat die Grünen-Klage gegen geht, sollte man sich mit einer Be- Richter die Klage für Unsinn halten die Überhangmandate im Bundestag schwerde direkt nach Karlsruhe würden, hätten sie das deutlich ge- abgewiesen. Überrascht Sie das? wenden. macht? Meyer: Die Klage ist ja am Fristver- SPIEGEL: Wird der Streit in dieser Meyer: So kann man es sehen. Die säumnis gescheitert, weil das Ge- Legislaturperiode entschieden? Sache hat alle Chancen. setz, um das es geht, schon zu lange Meyer: Mit Sicherheit. SPIEGEL: Kann es dazu kommen, in Kraft ist. Die Entscheidung war SPIEGEL: Läßt sich aus dem jüng- daß das Gericht im Ergebnis zwar zu erwarten. Denn es ist sehr sten Beschluß des Verfassungsge- die Mandatsverteilung im Bundestag schwer, bei Klagen gegen gesetz- richts etwas über die Ansicht der bestehen läßt, aber eine Änderung geberisches Unterlassen die Sechs- Richter zu den Erfolgsaussichten des Wahlgesetzes für die Zukunft monatsfrist einzuhalten. einer zulässigen Klage entnehmen? verlangt? SPIEGEL: Kann Meyer: Das geht jetzt überhaupt nicht. Das Gericht noch jemand kla- hat über die korrek- gen? te Zusammenset- Meyer: Ja. Das zung des 13. Deut- Land Niedersach- schen Bundestages sen wird ein Nor- zu entscheiden. Und menkontrollverfah- die Zahl der über- ren in derselben hängenden Manda- Sache einleiten. te ist wirklich zu Ich schreibe gerade kraß. die Klageschrift. SPIEGEL: Ihr Ver- Im März ist sie dikt, die Überhang- in Karlsruhe. Das mandate imBundes- Verfassungsgericht tag seien „eklatant wird außerdem be- verfassungswidrig“, müht werden, wenn hat unter Ihren Kol- der Wahlprüfungs- legen eine wütende ausschuß, wie zu er- Debatte ausgelöst. warten, die zahl- Bleiben Sie dabei? reichen Einsprüche Meyer: Ja, natürlich. gegen die Mandats- Die Kollegen, die verteilung abweist. sich anders geäußert

SPIEGEL: Wie lange S. MORGENSTERN haben, sind keine kann das dauern? Staatsrechtler Meyer: „Das riecht nach Verschleppung“ Experten.

DER SPIEGEL 8/1995 35 .

DEUTSCHLAND

Strafjustiz Regeln im schmutzigen Spiel Gisela Friedrichsen über den Prozeß gegen den Rechtsanwalt Wolfgang Vogel

er hat je fest mit dem Mauerfall, über den bösen Kalten Krieg hinaus bis Doch das unverhofft vereinte Deutsch- der Einheit Deutschlands noch in in die letzten Tage der DDR als der ein- land dankt Vogel nicht. Nun sind nur Wdiesem Jahrhundert gerechnet? zige Fährmann in die Gefilde der Seli- noch Vorwürfe übrig. Die Justiz hat sie Niemand, nicht einmal die Personen im gen galt. zu „bewältigen“, das heißt, einen der Westen, denen das Bekenntnis zur einen Mehr als eine Viertelmillion Famili- „Großen“exemplarisch abzustrafen: Die Nation eine Glaubenssache geworden enzusammenführungen, 33 755 Häft- Notlage der Menschen, die raus, raus, war, und schon gar nicht jene im Osten, lingsfreikäufe, ungezählte Interventio- raus wollten aus der DDR, habe Vogel die über die wahre politische und wirt- nen in aussichtslos verfahrenen Fällen: zum Vorteil der SED, sagt die Anklage, schaftliche Lage getäuscht wurden. Vogel meint wohl auch, die Mauer we- wohl auch zum eigenen, ausgenutzt. Wie der Bäcker es nicht für möglich nigstens an ein paar Stellen aufgeweicht Da sich heute im vereinten Deutsch- hält, daß seine warmen Semmeln von ei- zu haben; daß also in gewisser Weise land wandeln läßt, wann, wo und wie je- nem Tag auf den anderen nicht mehr ge- auch ihm, gerade ihm, zu danken sei. der will, fragt es sich leicht, ob der Preis, der entrichtet werden mußte, wollte man der DDR entkommen, nicht zu hoch war. Der einzelne, der bezahlt hat, fragt sich, ob der hilfreiche Professor Vogel nicht ein Politkrimineller, ein Erpresser, ge- wesen ist. Die Neue Zürcher Zeitung bemerkte mit der bedächtigen Gelassenheit, die die Distanz dem Nachbarn schafft: „Weil im Kalten Krieg humanitäre Erleichterun- gen meist nur gegen handfeste wirtschaft- liche und politische Gegenleistungen zu haben waren, bildeten sich in diesem schmutzigen Spiel Regeln heraus, die heute unmenschlich scheinen. Unver- ständlich waren sie nach Meinung derje- nigen Politiker und Diplomaten nicht, die Vogel generell ein faires Spiel be- scheinigen.“ Doch auch ein generell faires Spiel kann unfaire, schmutzige, sogar straf- rechtlich bedeutsame Spielzüge enthal- ten. Und so verhandelt seit dem 2. No- vember 1994 in Berlin die 6. Große Straf-

KLOSTERMEIER / VISION-PHOTOS kammer des Landgerichts wegen Mein- eids und Untreue, vor allem aber wegen

FOTOS: R. Erpressung gegen Vogel und eine ehema- Anwältin Schulenburg, Angeklagter Vogel: „Ohne das Haus wird das nix“ lige Mitarbeiterin. Gemeinsam mit den Offizieren des Ministeriums für Staatssi- fragt sein könnten – so rechnete auch cherheit (MfS), Heinz Volpert (1986 ge- der Rechtsanwalt und Notar Professor Überlange Prozesse storben) und Gerhard Niebling, soll er Wolfgang Vogel, 69, nicht mit dem Ver- Ausreisewillige mit einem „empfindli- schwinden der DDR. werden in aller Regel der Verteidi- chen Übel“ zum Verkauf ihrer Häuser Am wenigsten hielten jene Menschen gung angelastet. In Berlin hat das und Grundstücke an vorbestimmte Emp- in der DDR, die den ideologisch durch- Kammergericht gezeigt, daß auch fänger, MfS-Angehörige, Funktionäre organisierten und überwachten Alltag Richter dazu beitragen können. von Partei und Staat, genötigt haben. nicht mehr ertrugen, die am Einge- Nach 24 Sitzungstagen erfuhren die Die Strafkammer mit dem Vorsitzen- sperrtsein und an der Trennung von Na- Verfahrensbeteiligten im Prozeß ge- den Heinz Holzinger, 53, ist in ihrem Er- hestehenden litten, die schikaniert und gen Wolfgang Vogel, daß einer Be- öffnungsbeschluß vom 6. September niedergedrückt wurden, ein wiederver- schwerde der Staatsanwaltschaft 1994 nicht der Auffassung der Staatsan- eintes Deutschland in absehbarer Zu- vom September 1994 nun doch waltschaft gefolgt, daß Vogel aufgrund kunft für möglich. Sie wollten nur eines: weitgehend entsprochen werden seiner Position im Machtapparat der raus, raus, raus – um jeden Preis. muß. Das Urteil schien bereits im DDR für das Eingesperrtsein der Men- Mit einem Handstreich der Geschich- Sommer möglich – nun wird der Pro- schen mitverantwortlich sei und die men- te hat niemand gerechnet. Nur so ist zu zeß wohl ein bis zwei Jahre länger schenrechtswidrige Beschränkung der erklären, daß Vogel, der legendäre Ver- dauern. Freizügigkeit „gezielt zur Erlangung mittler zwischen West und Ost, auch wirtschaftlicher Vorteile für sich oder

36 DER SPIEGEL 8/1995 Dritte ausgenutzt“ habe. Jahres mit einem Urteil Das Gericht sah in Vogel enden würde. nur ein „hochrangi- Das Kammergericht ges Werkzeug“ von MfS ließ die Anklage der und DDR-Staatsführung, Staatsanwaltschaft – bis nicht einen Entschei- auf eine Ausnahme – dungsträger; es ließ nur auch in jenen Fällen zu, 21 der 53 angeklagten Er- in denen das Landgericht pressungsfälle zur Ver- das Hauptverfahren nicht handlung zu. eröffnet hatte. Allerdings Das Gericht vertrat die erachtete auch der 5. Auffassung, in allen Fäl- Strafsenat die Auffas- len, in denen die Ausrei- sung der Staatsanwalt- sewilligen bereits vor schaft „für zu weitge- dem Kontakt mit Vogel hend, aus dem Bau der wußten, daß sie ihre Mauer am 13. August Grundstücke oder auch 1961 und der Errichtung Geld anbieten mußten, der sonstigen Grenz- um eine Ausreisegeneh- sicherungsanlagen der migung zu erhalten, fehle DDR die Anwendung es an einer Nötigungs- von Gewalt im strafrecht- handlung. lichen Sinne abzuleiten“. Die Staatsanwaltschaft Vorsitzender Holzinger: Fünf Monate brauchte das Kammergericht Entgegen dem Eröff- legte dagegen beim Kam- nungsbeschluß des Land- mergericht, dem Berliner Oberlandes- Doch am Freitag, 10. Februar 1995, gerichts wurde auch die Anklage gegen gericht, sofortige Beschwerde ein. Bis fünf Monate später, regte sich das Kam- den ehemaligen Generalmajor Niebling zum Prozeßbeginn kam keine Antwort, mergericht dann doch: Seine Entschei- zur Hauptverhandlung zugelassen, der und mit jedem Sitzungstag, der ins dung vom 1. Februar platzte mitten in gemeinschaftlich mit Vogel gehandelt Land ging, wurde es unwahrscheinli- eine Hauptverhandlung hinein, die be- haben soll. Das Landgericht hatte argu- cher, daß der 5. Strafsenat des Kam- reits den 24. Sitzungstag erreicht hatte mentiert, es bestehe kein hinreichender mergerichts der Beschwerde stattgeben und von der bis dahin zu erwarten stand, Tatverdacht, weil nicht zu erwarten sei, würde. daß sie spätestens im Sommer dieses daß die Beweisaufnahme eine Verabre-

DER SPIEGEL 8/1995 37 .

DEUTSCHLAND

hatte bereits mehrere Ausreiseanträge erfolglos gestellt. Dann ging sie in Vo- gels Kanzlei. Der erklärte ihr gleich: „Sie kommen vielleicht raus – aber Ihr Sohn niemals.“ Sie erinnert sich an den Zusatz: „Ohne das Haus wird das nix.“ Erpressung? Oder Aufklärung über die gängige, schmutzige Praxis? Als die Familie mit dem Sohn glücklich im We- sten war, schrieb man Vogel („Wir bit- ten Sie nochmals um Ihre Hilfe . . .Viele liebe Grüße“) wegen der Verlobten des Sohnes. Kein Wort von Erpressung. Als die Kanzlei Vogel 1985 mitteilte, daß der Kaufpreis des Hauses eingegan- gen sei, war die Familie bereits über alle Berge und hatte angeblich vergessen, die neue Adresse zu hinterlassen. Das Gericht fragt: „Haben Sie sich gedacht, als Sie die Kanzlei Vogel ver- ließen, das ist eine Riesenschweinerei –

C. EBERTH oder waren Sie froh, daß Sie Ihren Sohn Freigekaufte DDR-Häftlinge*: 33 755 Erfolge des Vermittlers Vogel rauskriegten?“ Die Zeugin druckst her- um. „Das weiß ich nicht mehr.“ Auch sie, wie zahlreiche andere Zeu- gen, kam erst nach der Wende durch ei- nen Anwalt auf die Idee, ihre Immobilie zurückzufordern. Auch sie sagt heute, wie viele andere, daß man eigentlich Häuschen und Garten lieber der Schwe- ster, dem Bruder anstatt dem von Vogel beigebrachten Käufer hätte übereignen wollen, daß Blanko-Unterschriften zu leisten waren, daß Rechtsanwalt Vogel bei der Beurkundung nicht anwesend gewesen sei und ähnliches. Die Rentnerin verstrickt sich immer mehr. Sie ist nervös und aggressiv, und was sie sagt, wird immer widersprüchli- cher. Schließlich bricht sie in Tränen aus: „Bin ich hier denn die Angeklagte? Ich geh’ damit zu RTL!“ Wolfgang Vo- gel fragt sie, ob sie nicht das Gefühl ge-

K. MEHNER habt habe, daß er ihr helfen wollte. „Ja Praxis Vogel: „Waren Sie froh, daß Sie Ihren Sohn rauskriegten?“ schon“, schluchzt sie, „aber sagen Sie doch, daß Sie bei der Stasi waren . . .“ dung zwischen Vogel und Niebling zum Strafverteidigern wird gern vorge- Sie ist offensichtlich in die Rolle des gemeinschaftlichen Erpressen ergeben worfen, ihr Taktieren und Fintieren Opfers hineingeraten oder hineingezo- werde. führe zu unerträglich langen Prozessen. gen worden und hat sich heillos darin Was nun? In dieser Woche will das Wer zählt die Fälle, in denen sich ver- verheddert. Betrogen vom damaligen Gericht über das weitere Prozedieren schlafene Obergerichte oder schlampig DDR-Anwalt, so fühlt sie sich, und be- entscheiden, und das wird so oder so ei- ermittelnde Staatsanwaltschaften an die trogen von der heutigen Justiz. ne heikle, schwierige Entscheidung Brust schlagen müßten? Die zwei Dut- Die Kunst, einen Anwaltskollegen zu sein. zend Sitzungstage im Vogel-Prozeß verteidigen, wird im Vogel-Prozeß um Man mag sagen, daß Papiere, die das könnten für die Katz gewesen sein. ein Kapitel erweitert. Nicht nur, daß Kammergericht erreichen, der Reihe An diesen 24 Tagen ist einiges ge- sich ehemalige Mandanten des Mandan- nach bearbeitet werden müssen. Doch schehen. Das Kammergericht, kritisie- ten zum Teil von ihrer verführbarsten seit der sofortigen Beschwerde ist ge- ren die Verteidiger Vogels (Friedrike Seite zeigen, auch die Verwendbarkeit raume Zeit vergangen. So schwierig wa- Schulenburg, Wolfgang Ziegler, Hans- des Juristen und seine Verführbarkeit ren die Rechtsfragen nicht, als daß sie Peter Mildebrath), stütze seine Ent- tritt immer wieder zutage. nicht bis zum Beginn der Hauptver- scheidung allein auf ihrer Auffassung Die Neigung nicht weniger Anwälte, handlung hätten geklärt werden kön- nach in der Hauptverhandlung zum das letzte Wort zu behalten, führt Vogel nen. Die Gründe für die Aufhebung des Teil bereits widerlegte oder nicht bewie- vor, ihre Eitelkeit, Rechthaberei und einschränkenden Landgerichtsbeschlus- sene Behauptungen aus der Anklage- Selbstgefälligkeit. Hartnäckig hält er an ses sind vertretbar. Nicht vertretbar ist, schrift. seinem Bild fest, der geniale Fährmann daß man sich so spät zu ihnen entschloß. Nicht immer konnte die Staatsan- gewesen zu sein. Freilich: Hätte er die- waltschaft mit ihren Zeugen zufrieden ses Bild nicht schon immer von sich ge- * Ankunft der ersten beiden Omnibusse mit frei- sein. Die Rentnerin Christel G. etwa, habt, wäre er auch nicht zum Nothelfer gekauften Häftlingen am Grenzkontrollpunkt Her- leshausen, Verpflegung durch das Deutsche Rote 1985 ausgereist, ihr Sohn war damals 22 geworden – in einem schmutzigen Ge- Kreuz. und bei der Nationalen Volksarmee, schäft. Y

38 DER SPIEGEL 8/1995 .

DEUTSCHLAND FORUM

Rechtsextremisten näherung“. Inzwischen hat das DVU-Organ Deutsche Recycling Zwist mit National-Zeitung den Ab- druck einer Serie von Inter- Teure Technik Schirinowski views und Beiträgen Schiri- Die rechtsextreme Deutsche nowskis abgebrochen. Bei der geplan- Volksunion (DVU) des ten Verwertung von Münchner Verlegers Ger- Schulen Plastik-Verpackun- hard Frey, 62, rückt von dem gen mit dem Grünen Demagogen und Chef der Li- Weltweit Punkt in chemischen beraldemokratischen Partei Großanlagen, ge- Rußlands (LDPR), Wladimir vernetzt plant als Hauptstütze Schirinowski, 48, ab. Die Als erste deutsche Schule ist beim Recycling, ent- DVU, kündigte ein Spitzen- die Realschule im schwäbi- steht eine „hohe funktionär intern an, werde schen Renningen mit einem Rentabilitätslücke“. „das Verhältnis zu Schiri- umfangreichen Angebot im Zu diesem Ergebnis nowski überprüfen“. Anlaß weltumspannenden Informa- kommt eine Studie für den Zwist der DVU mit tionssystem World Wide der Martin-Luther- dem Moskauer Rechtsextre- Web (WWW) vertreten, das Universität Halle- misten ist ein SPIEGEL-Ge- zum Datennetz Internet ge- Wittenberg, die im Kunststoff-Recycling spräch, in dem Schirinowski hört. Was in den USA be- Auftrag des Umwelt- reits Hunderte von Schulen ministeriums von Sachsen-Anhalt und mit Unterstützung praktizieren, ist in der Bun- der chemischen Industrie die „Wirtschaftlichkeit“ und desrepublik noch Ausnah- den „ökologisch-stofflichen Nutzwert“ des Kunststoff- me: Seit Anfang Februar Recyclings ermittelte. Nach dieser bislang unveröffent- präsentieren die Renninger lichten Untersuchung rangiert die Rückwandlung des Pla- Schüler im Netz deutsch- ste-Schrotts zu Ölprodukten, die jetzt großtechnisch auf- und englischsprachige Infos gezogen werden und einmal rund vier Fünftel des Recy- über ihre Schule sowie über clings umfassen soll, in der „Wirtschaftlichkeits-Rangfol- die Stadt Renningen. Nutzer ge“ ganz unten. Nur dank hoher Zuschüsse aus den Ein- des WWW, weltweit rund nahmen des Grünen Punkts, zu denen jeder Verbraucher 13,5 Millionen, können Fo- beim Einkauf beiträgt, sei die teure Technik durchsetz- tos der Schule bewundern bar. Würden diese Subventionen gestrichen, wäre das oder sich mit der US-Part- Duale Müllsystem insgesamt gefährdet. nerschule der Renninger Kids verbinden lassen. Leh-

SIPA rer und Organisator Wolf- So ermittelt die Staatsanwalt- Wahlen Schirinowski, Frey gang Mackamul, 41, will in schaft etwa gegen die Gun- Zukunft besondere Arbeiten delfinger Fassadenbaufirma Sonntagsfrage erklärt hatte, die Welt solle aus dem Unterricht im Gartner und deren Ge- „Angst vor Rußland haben“ WWW vorstellen; eine Foto- schäftsführer, der inzwischen verboten und Deutschland müsse „so ausstellung zur Berliner in Untersuchungshaft sitzt. Regierung und Parlaments- klein wie Österreich“ sein. Mauer ist bereits geplant. Das Unternehmen steht im fraktionen in Bremen, wo Die DVU hatte seit 1992 Verdacht, einen Auftrag für nach dem Scheitern der enge Beziehungen zur Affären die Fassadengestaltung des Ampelkoalition wahrschein- LDPR unterhalten. Mehr- Airports über 250 Millionen lich am 14. Mai vorgezogene fach war Parteichef Frey zu Auftrag Mark mit Schmiergeld ergau- Neuwahlen stattfinden, dür- Treffen mit Schirinowski nert zu haben. Bestochen fen Meinungsforschungsin- nach Moskau gereist. Auf ergaunert? worden sei, so der Vorwurf, stitute nicht mehr mit der DVU-Veranstaltungen in In der seit vier Jahren andau- ein leitender Angestellter der sogenannten Sonntagsfrage Thüringen und im bayeri- ernden Münchner Schmier- Flughafen-Gesellschaft. Er („Welche Partei würden Sie schen Passau im Oktober geldaffäre um Korruption bei soll durch Auftragsmanipula- wählen, wenn am nächsten 1993 propagierte Schiri- öffentlichen Bauten gerät tionen insgesamt rund eine Sonntag Wahl wäre?“) be- nowski noch einen „Kurs nun auch Münchens neuer Million Mark von Baufirmen auftragen. Der bremische der deutsch-russischen An- Großflughafen in den Blick. kassiert haben. Rechnungshof sieht darin ei- ne „verdeckte Parteienfinan- zierung“: Die Umfragen würden aus öffentlichen Geldern für Fraktions- und Senatsarbeit bezahlt, dien- ten aber den Parteien. Der Spruch der Bremer Rech- nungsprüfer, die erste Rüge dieser Art, hat bundespoliti- sche Bedeutung. Auch in anderen Ländern ist die Fi- nanzierung solcher Umfra-

ACTION PRESS gen aus Staatsgeldern durch- Flughafen München aus üblich.

DER SPIEGEL 8/1995 39 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite 7

4 6

8 1 4

3 5

i n u J . 7 1

e s e e 2 r d

p e S ß a r t S „VON NEW YORK LERNEN“ Im Herzen Europas beginnt ein einzigartiges Experiment: Berlin wird innerhalb weniger Jahre zur Superstadt umgebaut. Wenn das Milliardenprojekt gelingt, kann die alte und neue deutsche Hauptstadt zur Europa- Metropole aufsteigen. Doch interne Senatsgutachten warnen schon jetzt vor einer Jahrhundertpleite.

o häßlich kann Berlin sein. Abwei- unterhielt, da tüftelt und schuftet heute storen drängen sich bereits, auch der send stehen da zwei Dutzend Plat- eine Heerschar von Wissenschaftlern. Forschungsvorstand des Weltkonzerns Sten- und Backsteingebäude wie Ka- Planer und Politiker wollen, daß hier ein Siemens, der Chef der Daimler-Dienst- sernen in Reih und Glied am Südrand deutsches Silicon Valley entsteht. leistungstochter Debis und der Präsi- einer flugplatzgroßen Brache. Am Hori- Forschungsinstitute von internationa- dent des Deutschen Industrie- und Han- zont im Norden, gerade noch in Sicht- lem Rang aus dem Erbe der DDR-Aka- delstages, Hans Peter Stihl, arbeiten weite, die schmutzige Silhouette von al- demie sind für das Großprojekt mit mit. ten Industriezweckbauten. neuesten Labors ausgestattet worden. „Das Projekt macht Spaß“, freut sich Ein Teppich aus bräunlichem Gras Deutschlands leistungsstärkstes Elek- der Optoelektroniker und Sprecher der überzieht das Ödland über einige hun- tronensynchroton, ein Teilchenbe- Adlershofer Forscherelite, Professor In- dert Hektar und überwuchert scheinbar schleuniger für 150 Millionen Mark, ist golf Hertel, der im beschaulichen Frei- willkürlich aufgeworfene Erdhaufen. daneben bereits in Bau. Über 100 High- burg einen sicheren Posten aufgab, um Toten Mündern gleich weisen offene Ei- Tech-Unternehmer machen im ersten im wilden Osten dabeizusein. „Die Dy- sentüren in den künstlichen Hügeln den neugebauten Gründerzentrum ihre For- namik ist irre, hier wird Zukunft ge- Zugang zu dunklen Munitionsbunkern schung zu Geld und geben schon jetzt macht.“ und Schießständen einer längst aufgelö- 2000 Akademikern Arbeit. So aufregend kann Berlin sein. sten Armee. Das benachbarte frühere Studiozen- Nicht nur in Adlershof. An Hunder- Der Ort verbreitet Endzeitstimmung trum des DDR-Fernsehens wird zum ten von Orten im ganzen Stadtgebiet und signalisiert Verfall. Doch genau Medienzentrum entwickelt. Und aus wird so und ähnlich Berliner Zukunft hier, im heruntergekommenen Südosten dem vermüllten Flugfeld wird ein Land- gebaut, erdacht, verworfen und von der Stadt, wächst das kühnste Großvor- schaftspark, um den herum Wohnun- vorn begonnen. Im Jahr fünf der deut- haben des neuen Berlin heran: die Wis- gen, Schulen und Kindertagesstätten für schen Einheit breiten sich Pioniergeist senschaftsstadt Johannistal-Adlershof. eine Stadt in der Stadt entstehen. und Aufbruchstimmung in der deut- Wo einst die Deutsche Versuchsan- Zehn Jahre wird es dauern und min- schen Metropole aus wie seit Jahrzehn- stalt für Luftfahrt ihr Flugfeld, das Stasi- destens vier Milliarden Mark öffentli- ten nicht mehr. Wachregiment Felix Dserschinski sei- cher Investitionen kosten. Dann, so ver- Spürbar erholt sich der Osten von den nen Übungsplatz und die DDR-Regie- sichern die Planer, werden hier 35 000 Jahren des industriellen Niedergangs. rung ihre Akademie der Wissenschaften Menschen zu Hause sein. Private Inve- Vorbei ist auch das endlose Gezerre um

42 DER SPIEGEL 8/1995 .

9

8 10 13

11

12 14

Neubauplanungen im Zentrum (Simulation) 1 Zentralstation Lehrter Bahnhof 2 Kanzlergarten 3 Kanzleramt 4 Parlamentarierbüros 5 Bundesrat 6 Reichstag mit neuer Glaskuppel den Hauptstadtumzug, Helmut Kohl und zehntelang durch Mauer und Planwirt- 7 Alexanderplatz sein Berlin-Botschafter Klaus Töpfer ma- schaft gefesselt waren. Die Zahl der 8 Neubebauung Pariser Platz (u. a. ame- chen Ernst (siehe Kasten Seite 48). Sogar Einpendler stieg in den letzten fünf Jah- rikanische und französische Botschaft) der Protest der West-Berliner gegen den ren von praktisch null auf über 200 000 9 Friedrichstraße Entzug ihrer Lohnzuschläge geht im Menschen am Tag. Binnen eines Jahr- 10 Ländervertretungen Lärm des Neuen unter. zehnts wird ein neuer Stern von Schnell- (ehemalige Ministergärten) Im Herzen Europas hat einfaszinieren- bahnlinien diesen Strom in eine geord- des Experiment begonnen. Der Groß- nete kleine Völkerwanderung verwan- Potsdamer Platz/Leipziger Platz: raum Berlin, mit 4,2 Millionen Einwoh- deln, die täglich wiederkehrt. 11 Hertie nern vergleichbar dem ganzen Rhein- Soziologen und Ökonomen sagen ei- 12 Sony Main-Gebiet, wird zum einzigartigen La- ne dramatische Umwälzung der Stadt- 13 Asea Brown Boveri (ABB) boratorium für die europäische Groß- strukturen und ihrer Bevölkerung vor- 14 Daimler-Benz stadt des 21. Jahrhunderts. aus. Was sich in anderen Großstädten in Ein Sturm von Investitionen bricht Jahrzehnten langsam entwickelte, wird FOTO: S. DOBLINGER/PAPARAZZI COMPUTERSIMULATION: DALECKI & PARTNER über die Stadt herein. 300 Milliarden Berlin im Zeitraffer erleben: Einkom- Mark sind allein für Neubauten ver- mensstarke Schichten, die aufs Land plant. fliehen, und arbeitsuchende Zuwande- Unübersehbar ist die brodelnde Rie- Der Aufbruch setzt gewaltige soziale rer, die hereindrängen, wälzen ganze senstadt auch Magnet für Migranten und und wirtschaftliche Kräfte frei, die jahr- Stadtteile um. Flüchtlinge aus aller Welt. Tausende aus Ost, Fernost und Lateinamerika strömen nach Berlin, um ihr Glück zu suchen. Sie bringen sozialen und kulturellen Zünd- stoff mit, dessen Sprengkraft noch nie- mand abzuschätzen vermag. Nach 60 Jahren Pause gewinnt Berlin das legendäre „Tempo“ der goldenen, aber auch brutalen zwanziger Jahre zu- rück. Wird es noch einmal golden – oder noch brutaler? Wird es gelingen, wie etwa Daimler- Chef Edzard Reuter hofft, Berlin zum „europäischen Dialog- und Entschei- dungszentrum“ des nächsten Jahrhun- derts zu machen, zum vierten „Knoten- punkt Europas neben Paris, London und Moskau“, zu „einem der größten Dienst- leistungszentren des Kontinents“? Oder wird die Stadt von ihren Nachhol- und Aufbauproblemen erdrückt, bleibt L. GRUNWALD Grundsteinlegung am Potsdamer Platz*: Ein Sturm von Investitionen bricht herein * 1994 für den Bürokomplex von Daimler-Benz.

DER SPIEGEL 8/1995 43 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite .

TITEL

der große Aufbruch im Pleitesumpf von nun für Büros am Gendarmenmarkt im Handwerker wie der junge Familien- Fehlinvestitionen und leeren öffentli- einstigen Ostbezirk Mitte bezahlt. vater Tony Kempton, 32, aus Sheffield chen Kassen stecken? Nichts bleibt, wie es war, in der alten schwärmen von „der guten Arbeit für Droht gar, wie der Berliner Ökonom neuen deutschen Hauptstadt. Der Bal- viele Jahre“, die sich ihnen bietet. Für Eberhard von Einem schon mal speku- lungsraum 50 Kilometer vor der polni- 30 Mark in der Stunde verdingt sich lierte, „die Armutsmetropole“, die mit schen Grenze könnte, so glauben Wirt- Kempton als selbständiger Fliesenleger, „billigen Behelfssiedlungen am Stadt- schaftsforscher, das prosperierende in sechs Monaten verdient er Geld für rand“, kaputten Altbauquartieren und Zentrum eines neuen, vereinten Mittel- ein Jahr. Sein Fazit: „Berlin is great.“ einer Million armer Einwanderer zum europas werden. Janz schön great: Die vielen neuen größten sozialen Reparaturbetrieb der Zwar erwarten die Experten im Ge- Geschäftshäuser in der Mitte und ent- Republik verkommt? folge von Regierung und Parlament zu- lang der großen Ost-Magistralen Frank- „Das Ergebnis ist ungewiß, aber der nächst nur 16 000 neue Jobs. Aber da- furter und Landsberger Allee sind erst Transformationsprozeß wird ungeheu- mit einher geht „die größte Chance der der Anfang. Selbst der zur Zeit noch erlich“, ahnt, wie viele aus seiner Zunft, Stadt“, meint Peter Ring, Wirtschafts- größte Bau an der neuen alten Ein- der Ökonom Ulrich Pfeiffer, Chef des berater der Firma Regioconsult: Der kaufsmeile Friedrichstraße, wo über Sozialforschungsinstituts Empirica, das Umbau Berlins zum Regierungssitz drei ganze Blöcke hinweg eine abge- seit Jahren die Berliner Stadtentwick- bringt Menschen, Maschinen und Kapi- schottete Shopping-Welt im US-Stil er- lung erforscht. tal ohne Ende in die Hauptstadt. richtet wurde, ist bescheiden im Ver- Am schnellsten wandelt sich die Berli- Zehn Jahre lang wird die Stadt das gleich zu dem, was da noch kommen ner Wirtschaft. Nach 230 000 Arbeits- Zentrum der europäischen Baubranche soll. plätzen in Ost-Berlin sind 40 000 in den sein. Zeit genug, so Ring, „nicht alles zu Bauexperten von Bund, Senat und letzten zwei Jahren nun auch im West- importieren, sondern eine eigene, ex- der Deutschen Bahn werden schon im teil verschwunden: Das Ende der portstarke Bauindustrie zu entwickeln“. nächsten Jahr im Kern der Stadt die größte Baustelle des Kontinents ein- richten. In nur sechs Jahren wollen sie die kilometerlange klaffende Stadtwun- de um den früheren Mauerstreifen, vom Spreebogen im Norden bis zum Landwehrkanal im Süden, in einem Zuge schließen. Zur gleichen Zeit und auf engstem Raum nebeneinander ent- stehen von Nord nach Süd: i ein neuer Zentralbahnhof mit vier Ebenen; Wagemutige Ingenieure graben zeitgleich vier Tunnel durch die City

i das Kanzleramt und der Parlaments- bezirk mit über 1400 Büroräumen; i bis zu zehn Repräsentationsbauten im benachbarten Botschaftsviertel; i die amerikanische und die britische Botschaft, ein Hotel, eine Bank und

L. GRUNWALD die Akademie der Künste um den Pa- Wirtschaftsberater Ring*: Menschen, Maschinen und Kapital ohne Ende riser Platz vor dem Brandenburger Tor; Bonner Subventionen – zuletzt 5,4 Milli- Schon jetzt gibt es nur wenige Plätze i bis zu zwölf Ländervertretungen; arden im Jahr – ließ den Standort Berlin in der inneren Stadt, von denen aus kein i die gewaltige Wohn- und Geschäfts- für viele uninteressant werden. Hunder- Baukran zu sehen ist. Genau 911 Bau- burg der vier Konzerne Daimler- te von Betrieben wanderten ins billigere stellen zählte letzten Monat das Bauamt Benz, Sony, ABB und Hertie am oder besser subventionierte Umland ab. allein im kleinen Bezirk „Mitte“. Potsdamer und am Leipziger Platz Doch zugleich expandieren Dienstlei- Eine viertel Million Menschen arbei- mit einer dreiviertel Million Quadrat- stungsunternehmen aller Art, von der ten bereits am und für den Berliner Bau. meter Büro- und Ladenflächen; Auftragsforschung bis zur Medienindu- Zigtausende von ihnen kommen aus i das fünf Blöcke starke Business Cen- strie. Der radikale Wandel provoziert dem europäischen Ausland. Wanderar- ter am früheren alliierten Grenzüber- böses Blut: Im Westen der Stadt steigt beiter aus Portugal, Italien, Irland, Eng- gang Checkpoint Charlie. die Arbeitslosigkeit, im Osten sinkt sie land, Dänemark und sogar Norwegen Darunter graben wagemutige Inge- und liegt schon unter Westniveau. machen die Stadt europäischer denn je. nieure zeitgleich vier Tunnel durch die Für die West-Berliner, einst am Vor- Tagsüber schuften die Fremden in City, für Fern- und Regionalbahn, U- posten des Wohlstandes der westlichen Zwölf-Stunden-Schichten, nachts teilen und S-Bahn sowie für eine Schnellstra- Welt, ist das irritierend: Die besten sie sich enge Zimmer in billigen Läuse- ße, die Kanzler und Parlament vor Au- Adressen liegen nicht mehr am Kurfür- pensionen oder Barackenunterkünften toabgasen und Lärm bewahren soll. stendamm. Die höchsten Preise werden am Stadtrand. An ihren freien Tagen Zuviel? Mit leichter Hand haben die trifft man sie im Oscar Wilde Pub an der Bauherren des neuen Berlin außerdem * Vor der neugebauten Zentrale für High-Tech-Un- Friedrichstraße oder in der Jazz-Kneipe Großprojekte über die ganze Stadt ge- ternehmen am Spreeufer in Moabit. Eierschale am Ku’damm. streut.

46 DER SPIEGEL 8/1995 Werbeseite

Werbeseite .

TITEL

Im Südosten entwarfen die Planer nicht nur die Wissenschaftsstadt Ad- lershof. Sechs Kilometer nördlich star- teten die Senatoren für Stadtentwick- „Das wird richtig eng“ lung und Bau, Volker Hassemer (CDU) und Wolfgang Nagel (SPD), Klaus Töpfers Pläne für den Super-Umzug gleich ein Konkurrenzprojekt, das städ- tebauliche Entwicklungsgebiet Rum- melsburger Bucht. Auf 130 Hektar In- lles ist schön bunt hier. Schock- Liegenschaften verteilt. Nur Töpfer dustriebrache sind noch einmal Woh- farben schmücken die Wände sucht für seine Beamten noch Miet- nungen und Büroflächen am Wasser für Ades früheren DDR-Volksbil- räume. 15 000 Menschen vorgesehen. dungsministeriums Unter den Lin- Das Zentrum des Regierungsvier- Insgesamt sind mehr als 20 Sied- den. tels bekommt am Reißbrett allmäh- lungsprojekte geplant – für über Die komplett renovierten Büro- lich Konturen. Abgeschlossen sind 200 000 Menschen. Dazu gehört auch etagen für 170 Abgeordnete des die Wettbewerbe für den Neubau des das Vorzeigeprojekt einer Wasserstadt Bundestages sind seit Januar bezugs- Bundespräsidialamtes südlich des an der Oberhavel im Westen. Da sollen fertig. Doch gähnend leer ist der Schlosses Bellevue. Mit den Arbeiten dereinst Tausende mit Blick aufs Was- Unionsflur – eine Sekretärin be- soll Mitte 1996 begonnen werden. ser in modernsten Komforthäusern wacht die Stille. Im Trakt der Sozial- Helmut Kohl will in Kürze übers neue wohnen. Die Segelboote sind dann vor demokraten telefoniert ein einsamer Kanzleramt entscheiden. der Haustür vertäut, kühn geschwunge- Fraktionsmitarbeiter mit den Genos- Noch in diesem Jahr soll der erste ne Brücken erlauben den Besuch des sen in Bonn. Spatenstich gesetzt werden für die neuen Parks auf der Flußinsel Eiswer- Dorotheenblöcke unweit des Reichs- der. tages – vier Häuserblocks für Abge- Solche Vorhaben erscheinen mutig ordnetenbüros und Parlamentsdien- und der Berliner Größe angemessen. ste. Direkt am Spreeufer sollen von Doch sie stürzen die Stadt in unkalku- 1997 an 1300 Bundestagsbüros zu- sätzlich zu den Büros Unter den Lin- den entstehen. Die protzige Planung Der Umzug ist zwischen 1998 und führt geradewegs 2000 geplant. Ob der Termin zu hal- ten ist, hängt weitgehend vom Schick- in die öffentliche Pleite sal des technisch und finanziell hoch- riskanten Tiergarten-Tunnels für den lierbare Abenteuer. Die protzige Me- Verkehr unter dem Regierungsvier- tropolenplanung führt geradewegs in die tel ab. Töpfer: „Der Tunnel und die öffentliche Pleite. gesamte Verkehrsführung im Zen- Schon der offizielle Haushalt des Fi- trum könnten ein Problem werden.“ nanzsenators Elmar Pieroth (CDU) ent- Nicht gerührt hat der Umzugsmini- hält Schuldenzahlen, neben denen Theo ster bisher am Konzept der zwei Re- Waigels Einheit auf Pump harmlos er-

VISION PHOTOS gierungssitze. 8 von 18 Ministerien scheint. In nur sieben Jahren, von 1991 sollen laut Gesetz in Berlin nur durch bis 1998, wollen die Abenteurer von der

A. KULL / Kopfstellen vertreten sein – ein inef- Spree die Verschuldung des Landes von Herzog vor Berliner Amtssitz fektives und teures Modell. 21 Milliarden auf 61 Milliarden Mark Das Zentrum bekommt Konturen Für die rund 12 000Bundesbedien- verdreifachen, knapp 18 000 Mark steten müssen bis 1998 noch 8000 Schulden für jeden Berliner Bürger. Bundespräsident Roman Herzog Wohnungen gebaut werden. „Das Aus der überteuerten Wohnungsbau- ist der erste und einzige Bonner, der wird richtig eng“, weiß ein Umzugs- förderung – einem Berliner Unikum – einen funktionierenden Amtssitz in planer, denn für 6000 Domizile fehlt werden bis dahin noch einmal Verbind- Berlin unterhält – die anderen glän- jegliche konkrete Planung. Grund: lichkeiten von 56 Milliarden entstanden zen durch Abwesenheit. Berlins Schul- und Sportsenator Jür- sein. Fast jede dritte Mark, die Berlins Das neue Justizministerium, von gen Klemann (CDU) beansprucht Steuerzahler aufbringen, wird demnach der DDR alsRohbau im Bezirk Mitte sämtliche Sportanlagen der abgezo- 1998 nur noch für Zinsen und Bausub- übernommen, ist bald fertig. Und am genen Alliierten, darunter viele ventionen draufgehen. Reichstag, dessen Umbau zum Sitz Grundstücke, die Bonner Beamten „Hier wird rücksichtslos auf das Geld des Bundestages imFrühjahr 1999 ab- preiswert anzubieten wären. der westdeutschen Steuerzahler speku- geschlossenseinsoll,habenimmerhin Spätestens bis zum Sommer muß liert“, empört sich die Grünen-Abge- die Sanierungsarbeiten begonnen. Töpfer den Konflikt gelöst haben – ordnete Michaele Schreyer, „die etwai- Der neue Umzugsbeauftragte und Planungsrecht und Bau beanspru- ge Tilgung der Schuld kommt in Pie- Bundesbauminister Klaus Töpfer chen fast drei Jahre. Doch der Mini- roths Berichten gar nicht mehr vor.“ (CDU) hat allen Ministerkollegen ih- ster zögert den Krach hinaus. Der Hauptstadt drohe der Schuldturm. re teils aufwendigen Neubaupläne Dabei hatte er angekündigt: „Bis Wahrscheinlich ist sie schon drin. Ei- ausgeredet. Er hat das ursprüngliche Mitte des Jahres müssen wir allen ne Studie, vom Senat bei dem Politikbe- Standortkonzept total umschreiben Bonner Beamten sagen, wo sie in ratungsunternehmen Prognos in Auf- lassen. Berlin wohnen werden. Dann haben trag gegeben, offenbart, daß die Berli- Nach der neuen Liste sind nun wir das Wichtigste vom Umzug schon ner Kassen außer Kontrolle geraten alle Ministerien auf bundeseigene geschafft.“ sind. Die Gutachter kommen zu dem Er- gebnis, derzeit bestehe gar „kein Über-

48 DER SPIEGEL 8/1995 .

BVG stellten fest, daß eine Straßen- bahn, die nur einen Bruchteil der Sum- me kostet, für den Bedarf ausreichen würde. Die drohende „Finanzkatastrophe“ (Schreyer) ist jedoch nur Symptom der eigentlichen Berliner Krankheit: Dem Polit-Establishment der Stadt, zusam- mengeschweißt in einer großen Koaliti- on gegen die PDS, gelingt es nicht, aus dem Ende seines subventionierten Insel- daseins die nötigen Konsequenzen zu ziehen. Seit vier Jahren ist klar, daß von die- sem Jahr an mit den Milliardenspritzen aus Bonn Schluß ist. Doch die Berliner wirtschaften weiter aus dem vollen. Nach wie vor nähren die Senatoren beispielsweise mit 14 Milliarden Mark jährlich fast 300 000 Beamte und Ange- OSTKREUZ stellte aus der Steuerkasse. Bei knapp 90 öffentlichen Bediensteten pro 1000 Einwohner leistet sich das arme Berlin

H. ZIMMERMANN / so einen um ein Drittel größeren Perso- Kaufhausbau in der Friedrichstraße: „Berlin is great“ nalstamm als das reiche Hamburg. Während die Senatoren die Stadtkas- blick über die Finanzierungserfordernis- nanzbedarfs stoßen regelmäßig auf Vor- se für Prestigeprojekte und Beamten- se der Vorhaben“ für den Stadtumbau. behalte der betreffenden Senatsverwal- pensionen plündern, verfallen andern- Der Senat sei gegenüber privaten Bau- tungen, die keine Ausgabenbedarfe orts Schulen und Straßen. Im Ost-Berli- unternehmen und Investoren in vielen nennen können oder wollen“. ner Neubaubezirk Hohenschönhausen „Fällen erhebliche Mittelbindungen auf Tatsächlich erreiche aber „die Kumu- zum Beispiel, schätzt Hartmut Körner, lange Sicht eingegangen“, deren „tat- lation des Finanzbedarfs“ aller Bauplä- Chef der Bauinstandhaltung, betrage sächlicher Umfang aber gar nicht be- ne „Größenordnungen, die den Rah- der Sanierungsbedarf 250 Millionen kannt“ ist. men der Finanzplanung Berlins spren- Mark. Beinahe alle Toilettenanlagen in So sind für viele Großvorhaben Indu- gen“. Die „gewaltige Investitionsvorbe- den Schulen des Bezirks sind kaputt, strieflächen vorgesehen, die mit Giften lastung“ ab 1999 sei „nicht hinnehm- fünf Turnhallen mußten wegen Wasser- aller Art durchtränkt sind. Für die Be- bar“. „Ohne grundsätzliche Gegen- schäden gesperrt werden. seitigung der Altlasten kalkulieren die steuerung“ seien „massive Verdrän- Körners Jahresetat beträgt aber gera- Gutachter fast eine Milliarde Mark. Im gungseffekte“ zu erwarten, die Stadt de mal 5 Millionen Mark, zwei Prozent Landeshaushalt ist aber nur ein Bruch- könne dann ihren übrigen Verpflichtun- des Bedarfs. „Wir stopfen nur noch die teil dafür eingeplant. gen, etwa zum Erhalt von Universitäten Löcher“, warnt er, „die Gebäude kön- Bereits in den nächsten zwei Jahren und Krankenhäusern, nicht nachkom- nen wir so nicht halten.“ werde bei den Großprojekten „eine men. Finanzielle Entspannung könnte die Deckungslücke von 500 Millionen“ ein- Allen Warnungen zum Trotz verwei- geplante Fusion von Berlin mit Bran- treten, warnt die Prognos-Studie. „Von gern aber Bausenator Nagel und sein denburg bringen. Doch auch die droht einer bewußten Steuerung der Stadtent- Verkehrskollege Herwig Haase (CDU) an der Unbeweglichkeit der Berliner wicklung“ könne immer „weniger die jede Korrektur. So halten sie gegen viel- Politspitze zu scheitern, die allzu vielen Rede sein“. fache Kritik eisern am Bau der 1,3 Milli- Interessenten verpflichtet ist. Aber Finanzsenator Pieroth kann sich arden Mark teuren sogenannten Kanz- Zwei Millionen Mark zahlte Diepgens im Dschungelkampf der Berliner Büro- ler-U-Bahn vom Alexanderplatz durchs Senatskanzlei Anfang des Monats für ei- kratie wohl nicht durchsetzen. In einem Regierungsviertel zum neuen Zentral- ne Anzeigenkampagne, um die Bevöl- internen Vermerk klagten seine Beam- bahnhof fest. Die gleiche Verbindung kerung für das Unterfangen zu ten noch Ende Januar, die „Bemühun- deckt eine parallel laufende S-Bahn gewinnen. Argument Nummer eins: gen zur Klärung des langfristigen Fi- schon ab. Selbst die Verkehrsbetriebe „Eine ganze Regierung und ein ganzes

Konkurrenten Europäische Großstädte Paris London Berlin Wien Brüssel im Vergleich jeweils neueste Einwohner verfügbare Daten 10800000 6700000 3452000 1590000 951000 Fläche 1200 km2 1580 km2 889 km2 415 km2 161 km2 Durchschnittsjahreseinkommen pro Kopf 43700 Mark 50000 Mark 48600 Mark** 37300 Mark 15000 Mark Arbeitslosenquote 9,7% 10,1 % 13,2% 6,8% 8,4% Ausländer-Anteil 12,7% 20%* 12,1% 16,3% 29,1% Autos pro 1000 Einwohner 360 250 400 440 440 Hotelbetten *ethnische Minderheiten 115000 140000 43070 40000 19500 **nur West-Berlin

DER SPIEGEL 8/1995 49 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite .

Hand ein unübersehbares Zeichen ge- setzt, daß jede Spekulation an jeder Stelle der Stadt erlaubt ist“, empört sich der Stadtplaner Wulf Eichstädt. Schon in „x-beliebigen Lagen in Kreuz- berg“ seien Grundstücke nicht mehr unter 1500 Mark pro Quadratmeter zu haben. Das „aus dem Ruder geratene Bodenpreisgefüge“ treibe die Mieten in die Höhe, mache bezahlbaren Woh- nungsbau unmöglich, und Gewerbe mit vielen tausend Arbeitsplätzen könne sich nicht in der Stadt halten. Teile der Ost-Berliner Altbauquar- tiere Friedrichshain und Prenzlauer Berg drohen zu Slums zu verkommen. Weit über 100 000 Wohnungen aus der Kaiserzeit müssen im Ostteil vor dem Verfall bewahrt werden. Allein mit öf- fentlichen Mitteln ist das nicht zu schaf- fen.

W. KUNZ / BILDERBERG Wollen aber Privatleute die Stadtre- Verrotteter Altbau in Ost-Berlin: „Ganze Gebiete werden absacken“ paratur in die Hand nehmen, treibt der hohe Kaufpreis für das Grundstück die Parlament fallen weg. Ein Land hilft tige Neureiche aus Moskau und St. Pe- Mieten anschließend in unbezahlbare sparen!“ tersburg bedienen. Höhen. Also sperren sich viele gegen Soviel Vernunft war Diepgens Partei- Weltstadtträume. Schon jetzt wird jede Veränderung. freunden im Abgeordnetenhaus aber aber auch die häßliche Kehrseite des „Wir müssen uns von der Vorstellung zuviel. Aus Angst, im neuen Bundes- neuen Berliner Tempos sichtbar: Die verabschieden, das wäre noch in den land in die Minderheit zu geraten und Entwicklung ganzer Stadtviertel gerät Griff zu kriegen“, konstatiert daher der Pfründen zu verlieren, beschloß die außer Kontrolle. Sanierungsexperte und Stadtplaner CDU-Fraktion unter Führung ihres Weil beinahe jeder Antrag zum Bau Erich Konter. „Da werden ganze Ge- Vorsitzenden Klaus Landowsky, die Fu- von Büropalästen und Geschäften ge- biete absacken, das ist nicht aufzuhal- sion mit unerfüllbaren Bedingungen zu nehmigt wurde, habe „die öffentliche ten.“ torpedieren. Unter anderem erscheint den CDU-Politikern unerträglich, mit dem zukünftigen Landtag ins benach- barte Potsdam umziehen zu müssen. Außerdem dürfe „niemand wegen der Fusion seine Arbeit verlieren“. So verspielt die provinzielle Berliner Der Unsichtbare SPD/CDU-Koalition die Chancen, die reichlich vorhanden sind. Wie ein Ausländer illegal in Berlin lebt Die rund 250 verschiedenen For- schungsinstitute der Stadt, von Deutsch- lands berühmtestem Klinikum, der Cha- on seinem Freund Marco wird Joa- ner unter Pinochet verbotenen Gewerk- rite´, bis zum Wissenschaftszentrum Ber- quı´n „Mr. Niemand“genannt. Joa- schaft gearbeitet hatte. Nun schlägt er lin (WZB), einem „think-tank“ für Sozi- Vquı´n, 31, taucht in keiner Statistik sichillegal durch dieHauptstadt. Seinen alforschung mit Weltruf, könnten ein auf. Kein Eintrag beim Einwohnermel- Asylantrag hat er zurückgezogen, denn Motor des Wachstums sein. Sie sichern deamt und im Telefonbuch, kein Name nach dem Machtwechsel in Chile hat er den kurzen Weg zu Experten jeder nur an der Klingel, kein Konto bei der keine Hoffnung mehr, als politisch Ver- erdenklichen Disziplin. Gleich drei Uni- Bank. folgter anerkannt zu werden. versitäten mit 116 000 Studenten garan- Der junge Chilene ist einer von Zehn- Die Furcht vorder Entdeckung istdas tieren zudem ausreichend qualifizierten tausenden Illegalen, die im unüber- Lebensgefühl, das ihn beherrscht, täg- Nachwuchs. sichtlichen Wende-Berlin einen Unter- lich, stündlich, beim Brötchenholen Gleichzeitig könnte Berlin zum Mes- schlupf suchen. Er hat keine „Aufent- und bei Verabredungen mit Freunden sezentrum und Schaufenster der Euro- haltsbefugnis“–eines der wenigen deut- in einem der Berliner Latino-Treff- päischen Union für Mittel- und Osteuro- schen Wörter, die er aussprechen kann. punkte. Joaquı´n mit dem bunten West- pa aufsteigen. Keine andere deutsche Also ist er für deutsche Behörden nicht chen und den langen, zum Schwanz ge- Stadt zieht mehr Besucher aus den neu- existent. bundenen Haaren tanzt gern Salsa, aber en Wachstumsländern zwischen Ostsee So soll es auch bleiben. Er versucht, er geht nicht in die Disco. und Schwarzem Meer an. sich unsichtbar zu machen, keine Spu- Nachts traut er sich nicht auf die Stra- Mit jährlich Hunderttausenden be- ren zu hinterlassen. „Ich habe gelernt“, ße: Was soll er bei einem Überfall ma- tuchten Geschäftsreisenden kann sich sagt er, „mich totzustellen.“ chen, wenn die Polizei kommt und er eine blühende Tourismusbranche ent- Seit sechs Jahren lebt der Eisenwa- nur den Ausweis mit dem Stempel wickeln. Die Vorboten des Ostgeschäfts renverkäufer aus Valparaı´so in Berlin. „ausreisepflichtig“ vorzeigen kann? haben die Juweliere und Modegeschäfte Seine Heimat verließ er einst aus Angst Der drahtige, sportliche Schwarzhaa- der Ku’damm-City schon erreicht: Um- vor politischer Verfolgung, weil er in ei- rige will nicht zurück nach Chile. Wo satzzuwachs bringen vor allem russisch- sprachige Verkäuferinnen, die kaufkräf-

52 DER SPIEGEL 8/1995 .

TITEL

In den Innenstadtbezirken des We- stens dagegen geraten die ärmeren Bevölkerungsschichten unter Vertrei- bungsdruck. In Kreuzberg, Schöneberg und Charlottenburg sterben die Läden und Kleinbetriebe seit Jahren. Das Mi- lieu weicht austauschbaren schicken Kneipen, Architekturbüros oder Com- puterläden. „Die Betreiber des Wandels zerstö- ren, worauf sie spekulieren“, ärgert sich Berlins bekanntester Stadtchronist und Architekturkenner, Dieter Hoffman- Axthelm. Der „Kiez“, die enge Mi- schung von Arbeit und Wohnen, von Versorgungs- und Freizeitmöglichkeiten für verschiedene Bevölkerungsschich- ten, sei das, „was Berlin Paris oder Lon- don am nächsten bringt, das lassen sie nun kaputtgehen“. Die Stadtentwicklung gerät auf die

schiefe Bahn. „Yuppisierung“ und Ver- T. SANDBERG / OSTKREUZ armung stoßen sich jetzt in Kreuzberg Russischer Straßenmusikant an U-Bahn Alexanderplatz: Angst vor der Mafia auf engstem Raum. Der Verlust der ein- fachen Jobs hat die Arbeitslosenrate im Flucht der deutschen Mittelstandsfamili- Das wird schwer werden. Im Wedding Bezirk auf fast 20 Prozent hochgetrie- en rücken dort vor allem ausländische ist jetzt schon zu beobachten, was die ben, das Durchschnittseinkommen sank Flüchtlinge und die wachsende türkische ganze Hauptstadt vielleicht mehr verän- auf rund 1000 Mark. Gleichzeitig schlie- Gemeinde nach – ein idealer Nährboden dern wird als alle Bauprojekte: Einwan- ßen wegen zu hoher Mieten die freien für rechtsradikale Aufrührer. derung aus aller Welt. Sozialeinrichtungen. „In Kreuzberg „Die soziale Situation hier ist hoch ge- Die heimlichen Berliner kommen aus reißt das Sozialnetz“, warnt der Spre- fährlich“, warnt der Weddinger SPD-Bür- Vietnam, China, Peru oder Kuba, aus cher des Kiezvereins „SO 36“. germeister Hans Nisble´, die „sozialpoliti- Rußland, Polen, Bosnien, der Türkei Noch krasser trifft es die Arbeiterbe- sche Bombe“ müsse durch eine bessere oder Rumänien. Sie kommen als Touri- zirke Neukölln und Wedding. Nach der „Durchmischung“ entschärft werden. sten oder Kontingentflüchtlinge, als Fa-

soll er dort arbeiten? Wer garantiert bei Bekannten, mal im engen Studen- und gegessen haben. Nach Solingen, ihm, daß er in einem Land, in dem tenapartment seiner deutschen Freun- hat er beobachtet, gehörte es zum gu- der alte Repressionsapparat immer din. Ein eigenes Zimmer sucht er erst ten politischen Ton, besonders nett zu noch funktioniert, frei und unbehel- gar nicht. Dazu fehlt das Geld, und Ausländern zu sein. Und wer Gutes ligt bleibt? für einen Unsichtbaren ist das Risiko tut, der redet darüber. Dann schon lieber das unsichtbare eines Mietvertrags viel zu hoch. Einem chilenischen Freund wurde Leben in Berlin. „Jeden Moment In einem Schließfach im Bahnhof solche Offenheit zum Verhängnis. Ein kann etwas passieren“, glaubt Joa- Zoo hat er seinen Koffer verstaut; Polizist, der zum weitläufigen Bekann- quı´n und nestelt nervös an seinem drin sind Hosen, Hemden, Pullover. tenkreis zählte, schnappte das Gerede dünnen Goldkettchen. Er hält sich an Manchmal holen Freunde für ihn fri- auf – der Gastgeber wurde nach einer alle Gesetze, aber er ist rechtlos. sche Wäsche ab. Meist aber muß er Woche Haft abgeschoben. Nie fährt er schwarz mit der U- selbst hin. Dann schlägt er weite Bö- Beim Überleben ohne Papiere und Bahn, er kauft die Umweltkarte für gen um die Polizisten, die dort in der ohne Rechte hilft die Gemeinde der 89 Mark – für einen Gelegenheitsjob- Junkie- und Stricherszene kontrollie- fast 4000 Latinos in Berlin. Mal be- ber ist das viel Geld. Mit dem Spa- ren. kommt der Obdachlose etwas Geld zu- nisch-Unterricht, den er Freunden Wenn Freunde ihn erreichen wol- gesteckt, mal Essen, mal einen Schlaf- und Bekannten gibt, kommt er mo- len, lassen sie das Telefon dreimal platz. „Diese Solidarität“, sagt er, natlich gerade auf 500 Mark. klingeln, wählen dann erneut. Nur „habe ich so nicht erwartet. Aber auch Schwarzarbeiten wie früher, als Kü- nach diesem verabredeten Zeichen viele Deutsche helfen mir.“ chenhilfe in Berliner Restaurants, will greift er zum Hörer. Ein Sicherheits- Joaquı´n träumt davon, als Koch zu er nicht mehr. Für acht Mark in der risiko sind auch die Treppenhäuser. arbeiten und eine Familie zu gründen. Stunde mußte er die Drecksarbeit er- „Was machen Sie da, wer sind Sie, Es bleiben Träume, keine Ziele: Jeder ledigen, Klos putzen und sauberma- wohnen Sie dort?“ hat ihn kürzlich Versuch, seine Wünsche in die Tat um- chen. Beschwerte er sich, wiesen ihn eine mißtrauische ältere Frau gefragt, zusetzen, würde ihn aktenkundig, seine Arbeitgeber zurecht. Wenn er als er das Türschloß für seinen neuen sichtbar machen. nicht wolle, könne er ja gehen. Sie Unterschlupf nicht gleich aufbekam. Abwarten, Versteck spielen, nicht hätten genug Leute wie ihn auf der Nervös wird Joaquı´n, wenn seine durchdrehen heißt seine Strategie für Liste. Freunde Besuch einladen: Vielleicht die Gegenwart. Hat er für die Zukunft Alle zwei bis drei Wochen wechselt erzählen die Gäste hinterher, daß sie Hoffnung? „Schwierig“, sagt Joaquı´n, Joaquı´n die Wohnung. Mal schläft er mit ihm lateinamerikanisch gekocht „eigentlich nicht.“

DER SPIEGEL 8/1995 53 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite .

TITEL

miliennachzügler oder Leiharbeiter, le- schaft gerate in ein kriminelles Umfeld. behörde deckten Fahnder letzten Monat gal oder illegal. „Wer kein Geld hat, macht eben alles, den schwunghaften Handel mit Aufent- Offiziell sind erst zwölf Prozent, vom Drogenschmuggel bis zur Schutz- haltsgenehmigungen für Chinesen auf. rund 420 000 Berliner, ausländischer gelderpressung.“ In jedem Fall wird der Zuzug aus Ost- Herkunft, in der Mehrzahl Türken und Viele geraten in ausweglose Situatio- europa wachsen. Hartmut Häußer- Jugoslawen. In der Altersgruppe bis 30 nen. Ihre Armut und ihre Furcht vor der mann, Stadtsoziologe an der Humboldt- Jahre stellen Ausländer jedoch schon Polizei macht die Illegalen zu idealen Universität, weiß: „In Warschau warten fast ein Drittel der Bevölkerung West- Opfern von Kriminellen und Ausbeu- Hunderttausende nur im Transit.“ Berlins. Ihre Zahl wächst um 10 000 tern. Die Wohnraumvermittlung für Der Hauptstadt werde gar nichts an- bis 15 000 pro Jahr. Dagegen nimmt Untergetauchte, berichtet einer der we- deres als eine gezielte Einwanderungs- die deutschstämmige Bevölkerung we- nigen Sozialarbeiter, die den Kontakt in politik übrigbleiben. „Wir müssen“, for- gen des dramatischen Geburtenrück- die illegale Szene halten, „ist ein einzi- dert Häußermann, „das Fremde in der gangs und wegen der Stadtflucht stetig ger Sumpf“ (siehe Kasten Seite 52). Stadt sich entwickeln lassen.“ Vom So- ab. „20 Mark pro Nase und Nacht“ sei zialstaat seien die Ausländer nicht zu er- Wohlfahrtsverbände und Sozialfor- noch ein guter Preis, meint etwa ein pol- nähren. Da könne Berlin im Guten wie scher schätzen darüber hinaus, daß nischer Bauhandwerker, der sich eine im Schlechten „von der Einwanderer- sich längst weit über 100 000 Menschen Sozialwohnung mit sechs Kollegen teilt. stadt New York lernen“. illegal in Berlin durchschlagen. So Bei Kosten von höchstens 1000 Mark im Man solle das wachsende multinatio- wächst eine ethnisch bunt gemischte Monat kann der Vermittler 3000 Mark nale Untergrundheer wenigstens teil- Nebenwelt heran wie nirgendwo sonst Gewinn einstreichen. weise aus der Illegalität holen, meint in Deutschland – der Untergrund geht Tatjana Forner, Sprecherin einer auch die Ausländerbeauftragte Barbara in ausländische Hände über. Selbsthilfegruppe für russische Migran- John. „Wenn wir ihnen Gewerbefreiheit geben und ihre Ausbil- dungsabschlüsse anerken- nen, das würde einen gan- zen Schub von Unterneh- men in Gang setzen.“ Schuhe, Textilien und an- dere Konsumartikel wer- den kaum noch von Deut- schen produziert, „warum sollen wir diese Lücke nicht den Einwanderern überlassen?“ Die meisten seien „dynamische junge Leute, die wollen was er- reichen“. Unternehmerische Dy- namik statt Verarmung und Kriminalität: Berlins türkische Gemeinde be- weist seit langem, daß auch dies zu den Berliner Chan- cen zählt. Über 4000 selb- ständige Türken geben 32 000 ihrer Landsleute Arbeit, einem Drittel der ganzen türkischen Er-

M. YILMAZ / PAPARAZZI werbsbevölkerung. Türken in Berliner Schlachthof*: „Dynamische Leute, die wollen was erreichen“ So auch Medet Bozkurt, 32, der erst 1977 nach Aus dem Alltag, auch der deutschen ten, klagt stellvertretend für viele Ein- Deutschland kam und 1985 mit seinen Bevölkerung, sind sie nicht mehr wegzu- wanderer ihr Leid. „Die Deutschen ma- drei Brüdern ein Geschäft für Second- denken. Der Putzfrauenmarkt ist fest in chen einen Riesenfehler: Sie überlassen hand-Möbel mit 40 000 Mark Umsatz im der Hand polnischer Pendlerinnen, die die Illegalen sich selbst, so fällt die gan- Monat eröffnete. Zehn Jahre später, mit oft nur ein paar Monate bleiben. Auch ze russische Gemeinde in die Hände der einem riesigen Ostmarkt vor der Haustür Handwerks- und Malerarbeiten läßt der Mafia.“ beschenkt, dirigiert Bozkurt einen gan- Berliner immer häufiger von Schwarzar- Dieter Schenk, Präsident des Landes- zen Handelskonzern. Mit Möbelherstel- beitern aus Osteuropa erledigen. kriminalamts, hält das für übertrieben: lern in Polen, Tschechien und der Slowa- Die Brosamen vom Tisch der Reichen „Noch können wir die Gewalttaten un- kei sowie acht Filialen in Berlin, Bran- genügen aber für die stetig wachsende ter Ausländern fast immer aufklären.“ denburg und Prag macht er 100Millionen Zahl der Migranten nicht mehr. In den Die Warnzeichen sind gleichwohl Mark Jahresumsatz und beschäftigt 350 ethnischen Gruppen „wird es immer en- nicht zu übersehen. Monatelang mach- Angestellte. ger“, berichtet der Kubaner Ricardo ten letztes Jahr Einbrecherbanden aus Den Durchbruch, erinnert sich Fonseca, Sprecher des Verbands der dem Kosovo den Berliner Süden unsi- Bozkurt, brachte die Eröffnung einer ko- Ausländerinitiativen. „Auf einen lega- cher. Im Strichviertel südlicher Tiergar- stengünstigen Filiale in einem alten Pa- len Peruaner“, schätzt er, „kommen sie- ten wurden kürzlich drei Polizisten sus- pierlager in Ost-Berlin im Jahr 1990. Ver- ben Illegale“, und die ganze Gemein- pendiert, die mit einem bulgarischen mieter war damals noch die Firma Zen- Zuhälterring gemeinsame Sache ge- trag, Eigentümer die Staatspartei SED. * Im Bezirk Reinickendorf. macht haben sollen. In der Ausländer- So phantastisch kann Berlin sein.

56 DER SPIEGEL 8/1995 .

wie es in Berlin das Leben schreibt, täglich neu. Nicht nur halten die Mitarbeiter des Auf vergiftetem Boden neuernannten Bauministers Klaus Töp- fer, 56, inzwischen Menges Film eher SPIEGEL-Reporter Jürgen Leinemann über die Berliner Republik für eine Verniedlichung. Sie behaupten auch, der Trend sei überholt. Tatsächlich tritt Töpfer auf, als be- Nun haben wir diese Hauptstadt. Ihre zugschef Klaus Töpfer gleich bei der er- ginne der Umzug nächste Woche. Der Interessen sind die unsrigen geworden. Aus sten Begehung klargemacht, muß diese Minister hat nicht nur den grauen Ge- ihrer Vergangenheit, für die wir nur zum Teil verantwortlich sind, müßten wir lernen, wie muffige Zwischendecke weg, mit der die bäudekomplex im künftigen Regie- ihre Zukunft sein soll, für die ganz Genossen Arbeiter und Bauern das Ni- rungszentrum beguckt, der spätestens Deutschland die ganze Verantwortung veau gesenkt haben. Auch fehlt hier 1998 gut 500 Bonner Mitarbeiter des übernimmt. noch eine weitere Abschottung, „wegen Presseamtes aufnehmen soll. Ihn ent- Joseph Roth, 1930 dem Brandschutz“, und dort eine zu- zücken auch anderswo zwischen Spree- uf den Reichsadler aus buntem sätzliche Schutztür. Und daß Bonner bogen und Schloßbrücke, Landwehrka- Glas, der seit 1917 die Decke krön- Beamte in Berlin hundert Meter bis zum nal und Invalidenstraße alte Terrakot- Ate, könnte man vielleicht verzich- Klo oder bis zur Teeküche laufen müs- tawände. Die neuen Plattenfassaden ten. Denn es soll jetzt natürlich ganz sen, das findet mancher, ganz im Ton- redet er sich schön. schnell gehen. Und kosten darf es auch fall seines Kanzlers, unerträglich. Wo ist Wichtig ist Klaus Töpfer nur eins: nicht mehr viel, das ist klar. Sonst hätte er denn hier? „Ich will keine Wagenburg von Mini- der Bund ja auch neu bauen können in Berlin-Mitte, Clara-Zetkin-Straße, sterien im Zentrum Berlins.“ Bloß kei- Berlin. zwei Blöcke hinter dem Reichstag. Mit ne Selbstisolierung, nur nicht abkap- Andererseits, Herr Minister, spannte hochgezogenen Brauen über aufgerisse- seln. „Wenn du hier nicht ein Stück sich da oben, 12 Meter hoch über der nen braunen Augen hat der Minister zu- Psychologie veränderst“, hat er sich früheren Schalterhalle, eine wunder- gehört. Das ist seine Lieblingsmaske. klargemacht, „kannst du’s nicht schul- schöne hellfarbig verglaste Eisenkuppel, „Schwachsinn“, hat er gedacht, wie so tern.“ Also mutet er lieber der Politik 18 Meter Durchmesser. Das war da- oft. Aber gesagt hat er nur traurig: „Es die Auseinandersetzung mit brisanten mals, zu Kaisers Zeiten, der ganze Stolz gibt eben insgesamt einen gewissen räumlichen Kontinuitäten zu. des Berliner Postscheckamtes an der Hang zum Perfektionismus.“ Dem Kollegen Klaus Kinkel etwa Spree. Und, mal ehrlich, die tät’ natür- Was klingt wie eine Szene aus Wolf- hat er das Gebäude des früheren Zen- lich auch das Bundespresseamt mächtig gang Menges Film „Spreebogen“, der tralkomitees der SED als Außenmini- schmücken, das nun dort einziehen soll. angeblich den Regierungsumzug vom sterium schmackhaft gemacht, das in Auf jeden Fall aber, das haben die Rhein in den Osten satirisch übertrieben Nazi-Zeiten Hjalmar Schacht als künftigen Hausherren dem neuen Um- darstellt, ist in Wahrheit ein Gespräch, Reichsbank diente. Theo Waigel diri- H. HAUSWALD / OSTKREUZ Fußballspieler vor dem Reichstag: „Machen die das zur verbotenen Zone?“

DER SPIEGEL 8/1995 57 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite .

TITEL „Die Ideale sind ruiniert“ Berliner Künstler haben die Allzweck-Ruine „Tacheles“ vor der Planierraupe gerettet – vielleicht T. SANDBERG / OSTKREUZ Skulpturenpark des „Tacheles“: Am Rande des Regierungsviertels wird das Kaputte kultiviert

usdemDachderschwarzenRui- te Männer, Biedermänner imTrench, Bezeichnung für ausgedehnte Sand- ne wächst eine Birke, an der Punk-Frauen und japanische Touri- haufen und wilde Spielplätze. Dort Averrußten Fassade blinken sten herum. recken sich rostende Metallobjekte Leuchtreklamen, Graffiti übertün- Besetzer aus Ost und West haben und ein eingegrabener buntbemalter chen großflächig das Mauerwerk. die ehemalige Friedrichstadtpassage Linienbus in die Höhe. Das schrille Gebäude zwischen vor der Sprengung gerettet und sie Die Betreiber der dreckigen Oranienburger und Friedrichstraße zum „unverkäuflichen Gesamtkunst- Kunstmaschine bauen auf den neuen hat die bewegte Geschichte der deut- werk Tacheles“ erklärt. Seitdem räu- Investor Fundus, der das eigenwilli- schen Hauptstadt knapp aber immer- men Künstler und Menschen, die sich ge Gebäude retten will, auf ein Stif- hin überstanden. dafür halten, Schutt weg. tungsmodell, auf Gelder des Senats 1909, in Berlin gab es noch einen Sie reparieren Leitungen, laden zur Sanierung des rotten Baus. Kaiser, wurde hier das Berliner Off-Theater ein und stellen Bilder in Ein bißchen was dazuverdienen „Passage“-Kaufhaus eingerichtet, in zugigen heruntergekommenen Flu- wollen sie auch: mit Werkkursen, den zwanziger Jahren residierte in ren aus, Devise: „Die Ideale sind rui- Einnahmen aus einem neuen Ge- dem Bau der Konzern AEG. niert. Rettet die Ruine!“ werbebau und dem besucherstarken Dann kamen die Nazis. Die Deut- Am Rande des künftigen Regie- Cafe´ Zapata, dessen Theke so aus- sche Arbeitsfront hatte dort ihre Bü- rungsviertels wird das Kaputte kulti- sieht, als sei sie nach der Kern- ros, bis die Bomben des Zweiten viert. In den Ateliers des „verrückten schmelze von Tschernobyl übrigge- Weltkriegs einen Teil in Trümmer Hauses“ (der Berliner Maler Marko blieben. legten. Berg) arbeiten Künstler aus 42 Län- „Wir müssen surfen zwischen Die Geschichte ging weiter. Im dern. Marktwirtschaft und Autonomie“, Restflügel nistete sich der Einheitsso- „Do you get the blues“, fragt der sagt der Österreicher Martin Reiter, zialismus ein: die Artistenschule der US-Music-Clown Jango Edwards sei- der sich als „Künstler und Politiker“ DDR oben, eine Einheit der Nationa- ne Zuhörer, die spätabends zu Hun- vorstellt. Ob es etwas nützt, ist of- len Volksarmee unten. derten in den Tacheles-Theatersaal fen. Zwar hat der Berliner Senat Nach der Wende drohte das Aus. drängen. Ein paar Etagen höher ar- den Erhalt des Kulturzentrums zuge- Die schweizerische Finanzholding beitet der junge Dresdner David an sagt, aber noch immer ist es, so Assca wollte die teure Friedrichstra- Kunstwerken, die nur schwer vom Reiter, „eigentlich ein besetztes ßenlage aufkaufen und „den ganzen reichlich vorhandenen Müll seines Haus“. Dreckhaufen“ abräumen. Ateliers zu unterscheiden sind. Zwischen Filetgrundstücken und Doch die Ruine lebt. Jetzt treiben Draußen laufen Touristen in den Regierungsbauten in Berlins neuer sich auf dem Grundstückrastagelock- Skulpturenpark, einer geschönten Mitte wird es immer enger.

60 DER SPIEGEL 8/1995 .

gierte er in Hermann Görings Reichs- amt Kohl-Rouladen serviert, kann mit Daß „drüben“, auf der Wiese vor dem luftfahrtministerium, in dem dann 1949 vollmundigen Formeln nichts anfangen. wilhelminischen Klotz, damals buntes jene volkseigene DDR gegründet wur- Berlin, das Pluriversum des 21. Jahr- Volk Fußbällen nachjagte, sich um de, die nun wiederum an gleicher Stelle hunderts? Metropole? Hauptstadt einer Grillfeuer lagerte und Drachen in den die Treuhand verscherbelt hat. Töpfer Berliner Republik? Werkstatt der Ein- Himmel steigen ließ, war aus der Haupt- selbst guckt sich nach Mietraum um. Es heit? Labor der Moderne? Suse wüßte stadt der DDR an erhöhter Stelle gut zu steht ja genügend leer in Berlin der- lieber konkret, ob und wann der Laden beobachten. Der Ost-Berlinerin Sieglin- zeit. hier abgerissen wird: „Oder machen die de Schellig, 39, die vom Dach ihres Daß dem früheren Umweltminister, das hier nur zur verbotenen Zone? Las- Hauses am Schiffbauerdamm oft hin- der einen Ruf zu verlieren hat als Mei- überblickte, erschien dieses quirlige Le- ster der verbalen Weltverbesserung, ben immer als ein lockendes Symbol. sein neuer Job gefällt, ist unübersehbar. Nach Christos Verhüllung Kaum aber war die Mauer gefallen, Aber sein Geschäft ist mühsam. Bei- wird im Reichstag erzählt die Frau, die heute mit ihren de Seiten sind inzwischen einander Kindern und dem Hund nach fünf Minu- fremder und unheimlicher geworden. wieder Staat gemacht ten Fußmarsch im Tiergarten ist, war Die „Kameraden mit den Sand- das alles vorbei: verboten wegen der eimern“ (Töpfer), die jahrelang Rei- sen die keinen mehr rein? Sperren alles plötzlich ausgebrochenen Würde des bung ins Umzugsgetriebe schaufelten, ab? Oder wat?“ Parlaments und der dieser Würde ange- haben ganze Arbeit geleistet. Heute Das Cafe´ hinter dem Reichstag, dort, messenen Hecken davor. trauen die Bonner den Berlinern und wo in den Träumen der Stadtromantiker Und wenn auch inzwischen wieder ge- die Berliner den Bonnern alles zu. Und bald die urbane Begegnung zwischen bolzt wird auf dem Platz der Republik – gar nichts mehr. der aus Bonn angereisten politischen lange kann es nicht dauern. Denn so- Weil das Geplärre aber weitergeht – Klasse und dem wirklichen Leben statt- bald im Sommer die letzte Plane der in Bonn fand vergangene Woche die finden wird, hat sich seit 1990 zu einem Christo-Verhüllung vom Reichstag ge- CSU die geplante Reichstagskuppel heimlichen Szene-Hit gemausert. Von fallen ist, wird „Dem Deutschen Volke“ plötzlich nicht mehr rund genug –, ist den Wänden quellen künstlerische hier Staat gemacht. Und das nicht zim- nun, da es wirklich spannend wird, das Frauenkörper einer Akt-Ausstellung; perlich. Klima für einen Neuanfang in Berlin ge- Schriftsteller aus Ost und West treffen Noch hat Bauherr Helmut Kohl nicht reizt und abwehrend. sich zu Lesungen. entschieden, welche Regierungszentrale Vier Jahre nach der Vereinigung bietet sich den Deutschen erneut die Chance zu einer Art Nachgründung der Republik. Noch einmal öffnen sich den vereinigten Bürgern aus Ost und West die Türen zur inneren Einwanderung in eine neue politische Realität. Aber nicht mal die Fragen scheinen ins offizielle Bewußtsein zu dringen, von Antworten ganz zu schweigen. Soll der Bonner Staatsapparat nun einfach hineintransplantiert werden in den Stadtkörper Berlin und dort weiter vor sich hin ticken wie bisher? Bleibt Berlin ewig doch Berlin? Wie vertraut die Vokabeln klingen: „Schaufenster Deutschland“ (Senator Hassemer), „Visitenkarte“ des Landes (Kanzler Kohl). Ist das nur das Echo von gestern? Kündigen sich hilflose Wiederholungen an? Oder entsteht am Ende hier doch etwas ganz Neues, wächst eine andere,

eine Berliner Republik heran, was im- H. HAUSWALD / OSTKREUZ mer das auch sein mag? Serviererin Küllmer im Berliner „Cafe´ Clara“: Heimlicher Szene-Hit Daß die Sprache zur Beschreibung des Neuen unstet wechselt zwischen Ba- Im Alltag kommt „Das simple Le- er seinen Nachfolgern in Berlin hinstel- nalität und pathetischem Schwulst, si- ben“, aus dem in der vergangenen Wo- len will. Aber klar ist, daß „das Gro- gnalisiert die allgemeine Ratlosigkeit. che der Boheme-Poet Adolf Endler er- ße“, wie Preisträger Axel Schultes sich Die einen übertreiben so maßlos, wie zählte, an dieser Stelle weniger vor. Die ausdrückt, wieder erlaubt erscheint. die anderen die Veränderung unter- blonde Suse spricht von der Bundesver- Die Entwürfe für das Kanzleramt und schätzen. mögensverwaltung, dem Vermieter, das strenge Ensemble von Regierungs- Doch die Berliner im Osten wie im überhaupt vom „Bund“ oder der „Re- blöcken drum herum scheuen die Westen – in diesem Kontext zumindest gierung“, mit der verzweifelten Ohn- machtvolle Geste sowenig wie patheti- ungeteilt – hören kaum noch hin, wenn macht einer Ausgelieferten. Sie hat so sche Formen. Intellektuelle unken oder Propagan- ihre Erfahrungen und hält alles für mög- Dabei könnten die Sieger des Kanz- disten prahlen. Sie sind erschöpft und lich. Schließlich residierte früher das leramt-Wettbewerbs von Herkunft längst nicht mehr neugierig. DDR-Kulturministerium in diesem und Selbstverständnis unterschiedlicher „Suse“ jedenfalls, die Ost-Berlinerin Haus. 300 Meter westlich verlief – direkt kaum sein: hier das in Weimar ausge- Susanne Küllmer, 29, die im „Cafe´ Cla- unter den Fenstern des Reichstages – bildete junge und unbekümmerte ra“ neben dem künftigen Bundespresse- die Mauer. Team Torsten Krüger, 31, Christiane

DER SPIEGEL 8/1995 61 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite .

TITEL

Schuberth, 32, und Bertram Vandreike, „in denen bei uns alle Fragen und Pro- 33, aus Ost-Berlin; dort die erfahrenen bleme mit der Platte erschlagen wur- und spätestens seit dem Bau der Bonner den“. Zukunft heißt für ihn: weiterfra- Kunsthalle erfolgsgewohnten Charlotte gen, diskutieren, riskieren. Frank, 33, und Axel Schultes, 51, aus Dieser Geist – postmodern mögen sie dem Westen der Stadt. ihn nicht nennen – scheint fast körper- In ihrer Abneigung gegen die Wur- lich spürbar in der lichtdurchfluteten Fa- stigkeit aber, mit der in Bonn die Regie- brikhalle im zweiten Stock eines dritten rungsgebäude beziehungslos in die Hinterhofes im verrotteten Ostteil der Rheinaue gebaut wurden, sind sie sich Stadt, wo – unter der Anleitung der drei einig. So, „lässig hingelagert wie Kühe jungen Thüringer – gleichaltrige Bulga- auf der Weide“, spottet Schultes, wollen ren, Spanier, Kanadier, Italiener und sie das Ensemble in Berlin nicht wieder Westdeutsche an Computern Berlin ent- erstellen. Und so unfeierlich auch nicht. werfen. „Jeder bringt ein Stück seiner Begriffe wie Wucht, Würde, Monumen- Kultur ein“, erläutert Krüger. Er jeden- talität, Repräsentation drängen sich auf falls denkt nicht daran, einen preußi- zur Beschreibung der Modelle beider schen Klassizismus wiederauferstehen Bewerber. zu lassen. Da scheint es nicht weit bis zu Preu- Aber warum die vielen Säulen an ih-

ßens Gloria. Doch so versteht sich kei- rem Bau, die Kritiker an Schinkel ge- DPA ner der neuen Berliner Staatsarchitek- mahnen, wenn nicht gar an Albert Minister Töpfer, Architekt Schultes ten, die alle nationalistischer oder auto- Speer? „Stützen“ seien das, nicht Säu- In Schützengräben gebuddelt ritärer Großmannssucht unverdächtig len, sagt Krüger. „Pfeiler“ nennt sie erscheinen. Vandreike. Und sie sollen dem Amt rung, nicht meine“, sagt sein Schüler Offenbar reagieren sie aber, jeweils „eine zweite Haut“ geben, die Ausstrah- entschieden, „wir haben eine andere auf ihre Weise, auf eine Situation, die lung schafft. Biographie.“ der Philosoph Peter Sloterdijk zum Neu- Bleibt nicht vom Bonner Kanzleramt, Helmut Kohl dürfte dieses selbstbe- anfang in Berlin beschrieben hat: „Wir fügt Bertram Vandreike hinzu, vor al- wußte Pochen auf die Gnade der späten müssen uns darauf einrichten, daß es lem Henry Moores Bronzeplastik „Two Geburt gefallen. Aber daß die Baustelle keine Psychiatrie gibt, in der die Deut- large forms“ in Erinnerung, die im Son- im Spreebogen nicht irgendein Ort ist, schen lernen könnten, etwas anderes zu nenschein wunderbar leuchtet? Das Ge- sondern ein von der Geschichte gezeich- sein als das, was sie sind.“ Mit der bäude selbst verblaßt dagegen zum neu- neter Platz – das würde der Kanzler „Selbstbestrafung“ in Form des Wieder- tralen Hintergrund, „Kreissparkasse“ auch sagen können. Denn Albert Speer aufbaus sei es nun allmählich genug. eben, wie Helmut Schmidt höhnte. hatte für seinen Adolf Hitler genau hier einen Führerpalast entworfen, der ähn- lich dekorativ Säulen bündelt, um eine imposante Fassade zu gliedern. Darf biographische Unschuld solche architek- tonische Vorgaben der Altvorderen ignorieren? Axel Schultes, der Preisträger aus dem Westen, älter und weniger unbe- fangen, glaubt das keinen Augenblick. Daß er, wenn er hier Staat baut, von der „Geschichtlichkeit des Ortes“ absehen könnte, erscheint ihm schon deshalb un- denkbar, weil er hier bereits als Fünfjäh- riger in alten Schützengräben gebuddelt hat. Er weiß, daß die Nazi-Altlasten nicht Metaphern sind, sondern Realität. Tatsächlich zerbröseln derzeit mit wum- mernder Gewalt Preßluftbohrer und -hämmer an dieser Stelle die letzten „Germania“-Fundamente. Schultes nimmt die historische Vorga- be direkt auf. Sein städtebauliches Kon- zept, der rigide Riegel von Amtsbauten,

H. HAUSWALD / OSTKREUZ der sich – „berlinerisch hart“ – neben Ost-Berlinerin Schellig: Quirliges Leben als lockendes Symbol dem Reichstag wie eine Spange über den Spreebogen legt, soll ausdrücklich Den jungen Baumeistern aus dem Und ist es nicht, fragt Krüger, ein biß- auch ein symbolischer „Schlußstrich“ Osten fällt als „Eigenheit“ der deut- chen sehr bequem, sich Demokratie im- durch die gigantischen Pläne des „Füh- schen Geschichte deren „Wechselhaf- mer nur in Glas gebaut vorzustellen? rers“ sein. Er durchkreuzt Speers Nord- tigkeit“ auf. Der hätten sie ein Gebäu- Krüger kennt natürlich die Traumata Süd-Achse, baut bewußt Dissens. de mit „unverwechselbarer Bildhaftig- der Älteren. Sie hätten einen Professor Ein redefreudiger Mann ist dieser keit“ entgegenstellen wollen. Das ist als Lehrer gehabt in Weimar, erzählt er, Axel Schultes, der sich romantisch zu alles. der hörte schon den Marschtritt der stilisieren versteht, mit aufgestelltem Staat? Demokratie? Preußen? Dem braunen Kolonnen, sobald er nur drei Hemdkragen und wehendem Schal. Nur experimentierfreudigen Torsten Krüger Säulen in einer Reihe hintereinander baut er eben auch, was er so flott formu- reicht es, daß die Zeiten vorbei sind, sah. „Aber das ist seine Lebenserfah- liert.

64 DER SPIEGEL 8/1995 .

Er möchte, sagt der Berliner Archi- deutschen Geschicks die Hauptstadt der Schuttbergen der gigantischen Daimler- tekt, Stadt und Regierungsviertel mit- Nation geworden“, hat Joseph Roth Baustelle am Potsdamer Platz aufragt, einander versöhnen. Tatsächlich wird schon 1930 geschrieben. Immer scheint räumen Bagger die letzten Pflasterreste sein Kanzler nie aus den Augen verlie- in Berlin alles schon einmal gesagt wor- der früheren Reichsstraße eins von ren können, daß „Stadt Erinnerung ist“. den zu sein. Aachen nach Königsberg ab, die hier Denn Schultes’ Amt öffnet ihm diago- Roths Text klingt, als ob er einem Potsdamer Straße hieß. nal einen weiten Ausblick: Vom Reichs- Kanzler soufflieren wollte, der irgend- Zu der Zeit, als Joseph Roth seine fast tag schweift der Blick über das Branden- wann in den kommenden Jahren den unheimlichen Prophetien zum Thema burger Tor und den derzeit – als habe er vollzogenen Umzug nach Berlin zu re- Berlin formulierte, pflegte hier der Köl- Stützung nötig – eingerüsteten russi- flektieren haben wird: „Als wollten wir ner Oberbürgermeister Konrad Adenau- schen Soldaten am Ehrenmal der sieg- vor der Welt demonstrieren, um wieviel er zu speisen, der wußte, was er tat, als er reichen Roten Armee bis zur Siegessäu- nur 15 Jahre – doch ein Zeitalter – später le mit den gülden blitzenden Kanonen- den Regierungssitz der Nachkriegsrepu- rohren in Erinnerung an Preußens krie- Alles ist noch da, blik West nach Bonn verlegte. gerische Triumphe. Und dazwischen, selbst wenn es gesprengt Als Präsident des Preußischen Staats- soweit das Auge reicht, „vergifteter Bo- rates hatte der Rheinländer nur zu gut je- den“ (Schultes). oder geschleift ist ne Geschichtskräfte kennengelernt, aus Erinnerung und Wahrnehmung ver- deren Schatten er den neuen Staat end- schmelzen an dieser Stelle zu einer un- schwieriger wir es haben als andere!“, lich lösen wollte. trennbaren Einheit. Das ist Fluch und hat er geschrieben. „Als hätte es uns ge- Preis und Gewinn dieser Entscheidung Chance des Zentrums von Berlin. Alles reizt, der unseligen Planlosigkeit unse- sind geläufig. Jetzt brüstet sich im Schau- ist noch da, selbst wenn es zerbombt, res nationalen Daseins ein planlos stei- fenster des früheren Weinrestaurants ein gesprengt oder geschleift ist. Und alles nernes repräsentatives Symbol voranzu- Modell des neuen urbanen Zentrums am ist zerstört, entkernt, verfälscht, selbst stellen!“ Potsdamer Platz, das geplant ist vom Ita- wenn es noch dasteht. Nun bebt Berlin von den Mischma- liener Renzo Piano und ausgestattet mit Leere tut sich auf zwischen Tiergarten schinen der Betonbauer, die in einem Entwürfen der internationalen Architek- und den ersten normalen Wohnvierteln. neuen Gründungsfieber wieder einmal ten-Elite. „Einzubetten“ ist da nichts. Was hier die „unselige Planlosigkeit unseres na- Die Diskussion um die städtische Qua- einmal sein soll, muß sich neu entwik- tionalen Daseins“ in gebauten Symbo- lität dieses Viertels, das Gewicht hat im keln. Kann das gelingen? Was für eine len verewigen wollen. Planquadrat, aus dem Deutschland künf- Stadt, was für eine Republik kann auf Vor dem inzwischen legendären tig regiert werden wird, geht hoch. diesem vergifteten Boden gedeihen? Weinhaus Huth, das – 1912 errichtet – Denn allzu Unvereinbares scheint da „Wenn Schicksal Willkür haben kann, als einsamer Beweis für den Berliner hart nebeneinander zu geraten. Nur we- so ist diese Stadt durch eine Willkür Willen zur Geschichte zwischen den nige hundert Meter entfernt von der OSTKREUZ H. ZIMMERMANN / Weinhaus Huth am Potsdamer Platz: Speiselokal des Kölner Oberbürgermeisters Konrad Adenauer

DER SPIEGEL 8/1995 65 Werbeseite

Werbeseite TITEL

„Kunststadt Klein-Brasilia“, wie der Tschingderassabum ist nicht gemeint. Stadthistoriker Wolf Jobst Siedler spot- Daß sich in Berlin nicht wieder ein tet, stellen Berliner Traditionalisten hin- machtklirrender Zentralismus etablie- ter dem Brandenburger Tor dieser mo- ren darf, der bereits in manchen politi- dernen Stadt-Inszenierung einen „preu- schen Äußerungen mitzuscheppern be- ßisch durchsäuerten Neoklassizismus“ ginnt, versteht sich. Unmißverständlich (Schultes) entgegen: Berlin als Paul- hat Bundespräsident Roman Herzog Lincke-Kulisse. schon seinen Widerstand angekündigt, Dazwischen haben – auf die ge- falls mit dem Schlagwort „Berliner Re- schichtsträchtigen Grundstücke der Wil- publik“ gemeint sein könnte, „daß es helmstraße – noch Erich Honeckers wieder in die wilhelminischen Katego- Volksbaumeister siebenstöckige Plat- rien zurückgeht“. Oder „daß wir uns aus ten-Wohnblocks von öder Banalität ge- unserer bisherigen Westbindung entfer- setzt. Nachträglich eingefügte Läden nen“. und Kneipen verfremden die sterile Bisher hat sich aber niemand gemel- Straße am ehemaligen Führerbunker det, der ernsthaft rütteln möchte am und am Rande des früheren Todesstrei- Bundesstaat, dem Bonner Erfolgsmo- fens zu einem bizarren Konsum-Strip. dell des Föderalismus. Im Gegenteil, Das soll Hauptstadt sein? Regierungs- Klaus Töpfer wirbt dafür als Person. viertel? Der gebürtige Schlesier, der sich als Von Anbeginn griff die Diskussion Westfale fühlt, im Saarland als CDU- darüber, wie und ob sich diese schrillen Parteivorsitzender eine politische und urbanen Bruchstücke zu einem städti- im Rheinischen seine berufliche Heimat schen Gesamtbild zusammenzufügen ausübt, tritt als beschwörender Verfech- ließen, über Berlin hinaus. Und immer ter des föderativen Systems auf: „Das ist klang sie seltsam unwirklich. Dem auf- doch geradezu ein deutscher Exportarti- trumpfenden Metropolen-Gerede hafte- kel.“ te eine Kino-Qualität an, ein nostalgi- Unermüdlich variiert er am Rhein sches Geseufze, das keinen Augenblick und an der Spree dieses Thema und ver- die Ratlosigkeit darüber verdeckte, wie sucht – aus der Not des Mangels an heutzutage Stadt sein soll. Geld, Zeit, Ideen und Entschlußkraft eine Tugend machend – Bonnern und Berlinern die Angst voreinander zu neh- Nichts ist fertig in men. Sein Schlager ist eine ökologische dieser Stadt, weniges glatt Formel, die er in seinem gerade geräum- ten Umweltressort gelernt hat und die er oder gemütlich nun gewinnbringend in die Berlin-Dis- kussion einbringt: „Wer Stabilität will, In Wahrheit redete, wer Berlin sagte, muß Vielfalt erhalten.“ stets über die künftige Republik. Späte- Das klingt so nett wie der Werbefilm stens seit dem Umzugsbeschluß ist es „Wohnen in Berlin“, mit dem Töpfers bei der Planung zugleich um Stil und In- Ministerium bei den Bonner Bundesbe- halt der Politik gegangen, die künftig im diensteten für die neue Heimat wirbt – vereinten Deutschland gemacht werden blauer Himmel, glitzernde Seen, blitz- soll. blanke Gymnasien. Gewiß, es gibt keine So skeptisch einer, der die Bonner Eigenheime in Hanglagen an der Spree, kennt und ihre Beharrlichkeit, das eige- dafür aber freundliche Menschen in ne Milieu gegen unerwünschte Wirklich- pünktlichen Bussen, zwischen Büschen keitseinbrüche abzuschotten, den Effekt und Blümchen und in geputzten Mu- schnell prägender Aha-Erlebnisse für seen. die politische Klasse auch einschätzen Berlin, so lernt der rheinische Beamte mag – daß es in Berlin einfach weiterge- aus dem Film, ist das größte und sauber- hen könnte wie hinter den Sieben Ber- ste Bonn, das es je gab. Null Baulärm, gen, erscheint noch unwahrscheinlicher. Dreck und Hektik. Keine Staus, keine So weiß Olaf Schwenke, Präsident der Hundescheiße, keine Obdachlosen, kei- Berliner Hochschule der Künste, ziem- ne Punks. Und nie sagt irgendwo ir- lich gut, daß man „in Bonn Politik ma- gendwer: Haste mal ’ne Mark? chen kann, ohne die Stadt zur Kenntnis Es wäre aber genau das von den zu nehmen“. Acht Jahre lang saß er als Bonnern in Berlin zu ertragen: daß SPD-Abgeordneter im Bundestag am nichts fertig ist in dieser Stadt, nichts Rhein. Er glaubt nicht, daß er viel Le- „stinknormal“, weniges glatt, bequem ben verpaßt hat. oder gar gemütlich. Brüche und Wider- „Aber hier“, sinniert er heute, „in ei- sprüche reiben sich hart aneinander. ner Stadt, die mitten im Prozeß des Ex- Alltag ist Chaos. perimentierens steckt, wo Ost und West Die „echten Berliner“ sind nicht eine, aufeinanderprallen, wo man merkt, wie sondern zwei von vielen Gruppen in die- es in den Köpfen der Jungen losgeht, die ser wirren Stadt. Denn nur von Bonn ahnen, wieviel Neues hier drin ist, hier aus gesehen ist Berlin schon vereinigt. würde Politik Entscheidendes versäu- Statt dessen ist überall Osten. Menschen men, wenn sie sich abkapselte.“ aus Tschechien, Polen, Serbien, aus der

DER SPIEGEL 8/1995 67 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite .

TITEL

Ukraine und Lettland prägen nun das Bild. Architektur Rund 140 000 Russen seien derzeit in der Stadt, behauptet Yury Zarubin, der Chefredakteur der russischsprachi- gen Wochenzeitung Jewropazentr.Es kann aber auch sein, daß es 100 000 Türme, Trutzburgen weniger sind. Und in Zehlendorf leben andere als in Treptow, in Neukölln oder „Charlottengrad“: Juden, Wolga- und Steinbuletten Deutsche, Deserteure der Armee, Künstler, Mafiosi. Der Osten ist bunt. SPIEGEL-Redakteur Michael Mönninger über die neue Berliner Architektur Wenn diese „Vielfalt“ gemeint ist als Garant von Stabilität, der zivile und tolerante Umgang mit Fremdheit, auch ie Kommission zur Planung des hen. Er hieß Hanno Klein – ein übermü- wenn sie angst macht – dann könnte größten Stadtumbaus der Neuzeit tiger, autokratischer Referatsleiter aus sich tatsächlich aus der neuen Haupt- Dhatte zum erstenmal getagt, da bat der Bauverwaltung, der die innerstädti- stadt heraus eine politische Kultur ent- der Chefplaner seinen Dienstherrn, den schen Privatinvestitionen lenkte. wickeln, die sich als Berliner Republik Beraterstab möglichst klein zu halten. Klein wollte auf eigene Faust vor al- unterscheidet von der risikofeindlichen „Verstehe ich Sie richtig“, fragte Napo- lem ausländische Bauherren in die City Behaglichkeit der Bonner und der von leon III., „daß Sie lieber allein arbeiten holen, um das in 40 Jahren Inseldasein zu vielen verachteten und von zu weni- wollen?“ Der Baron Haussmann nickte, gewachsene Berliner Baukartell zu bre- gen verteidigten Weimarer Republik. der Planerstab wurde aufgelöst, und die chen. 1991 wurde der 48jährige in seiner Zu Recht wird heftig gestöhnt dieser gesamte Pariser Stadterneuerung von Wilmersdorfer Wohnung durch eine Tage in Berlin über die allgemeine 1853 bis 1870 lag fortan in den Händen Briefbombe getötet. Die Polizei weiß Knappheit der Mittel, besonders aber des Kaisers und seines Barons. bis heute nicht, ob die Täter linke Spin- über die naive Kaltschnäuzigkeit, mit Paris wurde fast völlig umgebaut. Da- ner oder rechte Baulöwen waren. der Bonn heute seiner Hauptstadt von mit kann Berlin nicht konkurrieren. Bis Senatsbaudirektor Hans Stimmann, morgen den Geldhahn abdreht. zum Jahr 2010 werden gerade einmal 53, der nach der Ermordung Hanno Ungewollt fördern die Bonner frei- zehn Prozent der gesamten Stadt neu er- Kleins zum Oberaufpasser mit Staatsse- lich auf diese Weise gerade jene harte richtet. Und während der französische kretärsrang bestellt wurde, ist trotz aller Vielfalt Berlins, die viele fürchten: Zentralismus bis heute die Pariser Machtallüren nicht der Haussmann von Konflikthaftes, Befremdendes, Anstö- Großbaupolitik zur Präsidentensache heute. Er darf über alle Baufragen re- ßiges wird oft allein durch den Mangel macht, gibt es in Deutschland schon lan- den, nur nicht über das Wichtigste – gesichert. ge niemanden mehr, der für Planungs- über Grundstücksvergaben und Investi- Denn Stadt und Bund haben nicht fragen seinen Kopf riskieren möchte. tionsentscheidungen. Dafür lebt er auch nur zuwenig Geld, um all ihre idylli- Einen einzigen Möchtegern-Hauss- weniger gefährlich und braucht allen- schen und perfekten Hochglanz-Pla- mann hat Berlin allerdings doch gese- falls Rufmordkampagnen wegen seiner nungen auf der Stelle in Beton und Stahl zu fügen. Es fehlen ihnen sogar die Mittel, um alles abzureißen, was quer zur herrschenden Zeitstimmung steht. Mit der 165,7 Kilometer langen Mauer – 300 Beobachtungstürme, 43 Bunker, Panzersperren, Hundelaufan- lagen, Signalzäune, Kolonnenwege und Bogenlampen eingeschlossen – ist es ihnen noch ziemlich gut gelungen. Fünf Jahre nach der Wende müssen Berlin-Besucher nach spärlichen Re- sten der buntbemalten Betonwand lan- ge suchen. Jetzt ist es anders. Im zugigen Zen- trum ihrer neuen Hauptstadt bleibt den Deutschen vorerst jener klotzige Palast der Republik erhalten, der viele Menschen im Westen ärgert, viele im Osten trotzig in ihrer Eigenart be- stärkt. Alle Hoffnungen und Befürchtun- gen, daß auf dieser zentralen Bühne der Stadt und damit des Landes nostal- gische Rührstücke sogenannter großer deutscher Vergangenheit inszeniert OSTKREUZ werden könnten, haben sich erst ein- mal erledigt: kein Schloß, kein Deut- sches Museum, kein Außenministeri-

um. H. ZIMMERMANN / Berlin bleibt Collage, unfertig. Senatsbaudirektor Stimmann: „Architektur der röhrenden Hirsche“

70 DER SPIEGEL 8/1995 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite .

TITEL

konservativen Stadtbildpflege zu fürch- Zudem liegen diese geplanten Zen- Wunder, denn viele Ausländer haben ten. tren unverbunden nebeneinander, so sich nach Hanno Kleins Ermordung aus Die wahren Haussmänner von heute daß nach Fertigstellung erst die eigentli- dem Berlingeschäft zurückgezogen. sind eher in den Chefetagen der priva- che Arbeit beginnt. Dann muß echtes Klare Vereinigungsgewinner sind ten Investoren zu suchen. Dort werden Stadtleben in Zwischenräumen und we- westdeutsche sowie alteingesessene derzeit 270 Berlin-Projekte mit einem niger spektakulären Nebenstraßen ge- Berliner Bauträger. Diese ökonomische Investitionsvolumen von insgesamt 50 schaffen werden, um die Solitäre zu ver- Repatriierung paßt merkwürdig gut Milliarden Mark geplant. Das ist vier- knüpfen. Aber für den Bau von schlich- zum Berliner Architekturstreit um die mal soviel Geld, wie der Marshallplan teren B-Lagen wurde auf den Reißbret- Wiederentdeckung der preußisch-nüch- nach Deutschland pumpte. tern der Star-Architekten noch keine ternen, regionaltypischen Architektur. Den Löwenanteil machen die Büro- passende Entwurfsidee erblickt. Ihr Verkünder ist Senatsbaudirektor flächen mit sieben Millionen Quadrat- Am traditionell proletarischen Alex- Stimmann. Er forderte gleich zu sei- metern aus. Das Auge dieses Investiti- anderplatz plant der Berliner Architekt nem Amtsantritt 1991, daß sich das onsorkans liegt auf der Kreuzung Fried- Hans Kollhoff die fünfte Stadtinsel: neue Berlin am Straßengrundriß, den richstraße/Unter den Linden im Osten. zwölf Art-De´co-Hochhäuser als Ost- Bauhöhen und den Grundstücksauftei- Hier werden in einem Umkreis von 1,5 Berliner Antwort auf das New Yorker lungen der Vorkriegszeit orientieren Kilometern zwischen Tiergarten und Rockefeller Center. Kollhoffs hervorra- soll.

Friedrichstadtpassagen von Jean Nouvel STIEBING / ZENIT H.-P. BPK FOTOS: Mosse-Haus von Erich Mendelsohn (1923) Baublock von Oswald Mathias Ungers Hauptstadt-Architektur: „Hinter jeder Fassade eine Skulptur, die sich freisprengen möchte“ Alexanderplatz über drei Millionen gende Entwurfsidee ist, den Stadtgrund- Stimmanns Konzept der „kritischen Quadratmeter Büro-, Wohn- und Ein- riß mit herkömmlichen Baublöcken zu Rekonstruktion“ stammte aus den ruhi- zelhandelsfläche hochgestemmt. Allein respektieren, aber mit aufgesetzten gen Zeiten der Internationalen Bauaus- die Friedrichstraße zählt 20 neue Groß- Turmkronen vertikal zu durchbrechen. stellung Mitte der achtziger Jahre. Da- bauten mit 560 000 Quadratmeter Miet- Doch der Modernisierungsschock der mals konnte sich Berlin noch sorgfälti- raum, was neun Frankfurter Messetür- Anwohner ist so groß, daß sie ihre öden ge Stadtreparatur mit postmoderner men entspricht. DDR-Plattenbauten mit einer Bürgerin- Baukunst für Sozialwohnungen leisten. Reichlich unklar ist bislang nur, wer itiative verteidigen. Unter dem Druck der neuen Investi- die exklusiven Stadtinseln in der Berli- Zum Investorenkampf um die Berli- tionen allerdings, bei denen Stimmann ner Mitte später bevölkern soll. Allein ner Mitte kommen noch die Besitzan- die Mitsprache entzogen wurde, ist sein rund um das Brandenburger Tor entste- sprüche der Bonner Regierungsbeamten Programm aus dem Ruder gelaufen. hen vier luxuriöse Subzentren: die neue hinzu. Ihre Neigung, die Innenstadt – Weil er seine altstädtischen Struktur- Berliner Zentralstation am Lehrter vor allem wegen der Sicherheit – allzu prinzipien nicht durchsetzen konnte, Bahnhof, das Gebiet Potsdamer/Leipzi- energisch abzuriegeln, könnte die neuen macht sich sein Einfluß ersatzweise in ger Platz, die Friedrichstraße und der Bau-Inseln restlos ruinieren und die Pri- ästhetischen Gestaltungszwängen be- Boulevard Unter den Linden. „Keine vatinvestoren auf die Palme bringen. merkbar. Das ist Berlins Dilemma: Stadt der Welt hat vier konkurrierende Aber die größte Angst der Berliner Aus Angst vor städtebaulichem Wild- Eins-a-Lagen“, wundert sich der vor den Rollkommandos der internatio- wuchs wird die Architektur konfektio- Bonner Stadtökonom Ulrich Pfeiffer. nalen Investoren hat sich gelegt. Kein niert.

DER SPIEGEL 8/1995 73 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite .

TITEL

Stimmann will die Traufhöhen der hi- durchlaufende Tiefgeschosse – mit ver- storischen Friedrichstadt einhalten. Die schiedenen Haustypen und Fassadenfor- Investoren antworten darauf mit Tief- men nachträglich wieder aufgelockert: bau und verbuddeln in der gesamten In- der Kompromiß als Gestaltungsprinzip. nenstadt ihre verbotenen Hochvolumina Der Stadthistoriker Dieter Hoffmann- vier Stockwerke tief in den Boden. Das Axthelm spricht schon vom Berliner Wichtigste an der erwünschten Block- „Bekleidungsfetischismus“. randbebauung nach Berliner Art aber Dessen Höhepunkt wird der Mailän- fehlt: die Hinterhöfe. Wo es früher der Aldo Rossi erreichen: An der Zim- Mischgewerbe und Billigwohnungen merstraße entwirft er einen kompletten gab, entstehen heute glasgedeckte Ein- Block mit zwei Dutzend funktional kaufspassagen oder Büroatrien. gleichartigen Vorder- und Hinterhäu- In den Genuß dieser gedeckelten und sern, aber jedes nach außen hin in ande- vollgepfropften City kommen beispiels- rem Gewand: von der Berliner Mietska- weise die künftigen Kunden der Fried- serne bis zum hanseatischen Kontor- richstadtpassagen am Gendarmen- haus. Einen derart krassen Widerspruch markt. Dort werden Ende des Jahres zwischen Erscheinungsbild und Investi- drei gewaltige Blöcke mit Läden und tionslogik, zwischen Gefühl und Ver- Büros eröffnet, deren Shopping-Mall bis stand, nennen Psychologen Schizophre- in den Keller reicht. Auch am Potsda- nie. mer Platz mußte der italienische Bau- Selbstkritisch räumt Stimmann ange- meister Renzo Piano auf Investoren- sichts solcher gespaltenen Architektu-

wunsch anstelle europäischer Stadtstra- AKG ren ein: „Wir haben es versäumt, unser ßen die längste überdachte Shopping- Preußen-Baumeister Schinkel Bauprinzip in Hauseinheiten mit einem Mall Berlins entwerfen. „Architekten üben die Rolle rückwärts“ politisch-ökonomischen Programm zur Stimmanns Wunsch nach der klein- Förderung mittelständischer Bauherren maßstäblichen Parzellierung der Grund- richstadtpassagen „eine Skulptur, die zu flankieren.“ Ohne Streuung der Be- stücke scheiterte an der Treuhand. Die sich freisprengen möchte“. sitzverhältnisse, so predigt Stimmanns wollte den DDR-Einheitsbesitz mög- Der Kampf zwischen den immensen Cheftheoretiker Hoffmann-Axthelm lichst schnell verkaufen und beglückte Investitionen und Stimmanns Vorgaben seit Jahren, nützt die größte architekto- die Investoren mit Riesenbrocken. An- wird immer mehr zum Krampf. nische Vielfalt nichts. stelle architektonischer Differenzierung Seit der Kritik an den Friedrichstadt- Aber allmählich bemerken auch die und städtischer Nutzungsvielfalt be- passagen werden die Baubrocken neuer- Investoren, daß sie eine Stadt bauen, kommt die Mitte jetzt gedrungene Bau- dings künstlich kleingeschlagen. So ent- die glatt am gewandelten Markt vorbei- buletten mit 110 Meter Seitenlänge. stehen die sogenannten Omnibus-Pro- gehen könnte – zu große und zu teure Aber zumindest die Friedrichstadt- jekte: Investoren von Komplexen wie Einheiten, zu geringe ökonomische und passagen, damals noch vom Investiti- dem „Kontorhaus“ oder dem „Hofgar- funktionale Mischung. onslenker Klein angeschoben, geben ei- ten“ in der Friedrichstadt bebauen ihre Auf dem größten zusammenhängen- ne erstaunlich differenzierte Architek- aus vielen Parzellen zusammengelegten den Entwicklungsgebiet der Berliner tur ab. Der Schneewittchensarg des Großgrundstücke mit mehreren Archi- Mitte am Potsdamer Platz wurde die Franzosen Jean Nouvel übertrifft mit tekten. So werden funktional homogene Grundstücksaufteilung überraschend runden Ecken und zeitgenössischer Blöcke – gemeinsame Erschließung, korrigiert. Nach dem umstrittenen Ver- Transparenz sogar das Vorbild – Erich Mendel- sohns stromlinienförmiges Mosse-Haus an der Jerusa- lemer Straße. Die Amerikaner Pei, Cobb, Freed geben mit ih- rem expressionistisch ge- zackten Bienenwabenbau eine moderne Antwort auf den deprimierenden deutschen Kaufhaus-Stan- dard der sogenannten Eier- mann-Rasterfassaden. Und der Kölner Oswald Mathi- as Ungers schuf eine seiner üblichen quadratischen Or- densburgen, aber mit sorg- fältigen Proportionen und feinsten Steindetails – kein stummes Monument, son- dern kraftvolle Großstadt- architektur. Trotz dieser Architek- turparade hatte die New York Times kürzlich den

Eindruck, als stecke hinter A. ROSSI jeder Fassade der Fried- Berliner Block von Rossi (Modell): Vielfalt durch Bekleidungsfetischismus

76 DER SPIEGEL 8/1995 kauf des mit 62 000 Quadratmeter größ- ten Grundstückes an den Daimler-Benz- Konzern 1989 gab es heftige Kritik, daß ein ganzer Stadtteil in den Einheitsbesitz eines Investors übergehe. Daimler-Benz reagierte darauf mit ei- nem aufwendigen Architektenwettbe- werb. Dabei wurden sechs Baumeister von Tokio bisMadrid ausgewählt, um das Kolossalvolumen in Einzelbauten aufzu- lösen. Das Ergebnis, gerade als Modell fertiggestellt, wird schon jetzt wie kostba- res Museumsgut herumgereicht. Die ge- planten Häuser sehen aus wie eine Welt- ausstellung internationaler Spitzenpro- dukte: ein Forum Romanum der Gegen- wartsarchitektur. Doch neben der ästhetischen Aufwer- tung hat Daimler-Benz die Stadtinsel nun auch grundbuchlich wieder in selbständi- ge Liegenschaften zerlegt. Diese „Real- teilung“ abgeschlossener Baueinheiten ist Voraussetzung dafür, daß der Investor seine Liegenschaften leichter verkaufen kann und das Besitzmonopol nicht auf ewig festgeschrieben ist. Ortwin Ratei, alsSenatsreferent für in- nerstädtische Investitionen, heute auf dem Platz des ermordeten Hanno Klein, beobachtet bei vielen neuen Projekten: „Die Käufer wollen Einzeleigentum an Parzellen; nach den Großeinheiten ent- stehen kleinere Bebauungsformen.“ Völlig unerwartet kommt auch die Zu- nahme des Wohnanteils in den Bürobur- gen. Beim Grundstückscoup der Fried- richstadtpassagen hatte der Berliner Se- nat einen Wohnanteil von gerade mal 4 Prozent heraushandeln können. Seit dem Potsdamer Platz sind 20 Prozent Woh- nungen vorgeschrieben. Neuerdings übererfüllen die Bauherren ihr Soll: „Die sehen Wohnungen nicht mehr als Abfall- produkt, sondern als krisensichere Anla- ge“, sagt Investitionslenker Ratei. So rüttelt sich unter den Sparzwängen der Rezession vieles von selbst zurecht, was bei anhaltendem Bauboom monströs mißraten wäre. In Architektenkreisen wird unterdessen weiterhin über den „preußischen Stil“ gestritten. Den Begriff prägte 1916 der konserva- tive Kulturphilosoph und Nazi-Vorden- ker Moeller van den Bruck. Er meinte die Adaption des spröden Klassizismus von Baumeistern wie Friedrich Gilly und sei- nem Schüler Karl Friedrich Schinkel: steinerne antikisierende Volumina, klare Symmetrien, sparsamer Schmuck. Lei- der machten die Nazis aus dem feinsinni- gen Preußenstil eine hohltönende Kolos- salbaukunst. Bösartig meinte kürzlich der britische Independent, Berlin werde wieder zu ei- ner „Knobelbecher-Stadt, an der Hitler seine Freude gehabt hätte“.Auch der Ar- chitekturkritiker Nikolaus Kuhnert sieht ein ideologisches Rollback: „Weil sich Politik und Kultur in Deutschland mit re- aktionären Positionen noch nicht hervor-

DER SPIEGEL 8/1995 77 .

TITEL

aufbau des Hotels Adlon, ein Stück Vul- gär-Klassizismus wie aus dem Lego- land. Und Stadthistoriker Hoffmann- Axthelm verspürt bei den leblosen Pa- villon-Entwürfen des Berliner Architek- ten Josef Paul Kleihues am Brandenbur- ger Tor einen „fatalen NS-Geschmack“. Mit der Faschismus-Keule ist der neu- en Berliner Einfalt allerdings nicht bei- zukommen. Bedenklicher ist die geringe Internationalität im Baugeschehen. So arbeiten in der gesamten Hauptstadt derzeit 150 Architekten, davon 32 Aus- länder. Der architektonische Auslän- deranteil von 20 Prozent dürfte bei der künftigen Ost-West-Drehscheibe ruhig etwas höher sein. Aber das geht wohl nicht bei einer ästhetischen Debatte, die sich ausge- rechnet um die Suche nach einer regio- naltypischen Berliner Architekturspra- che dreht. Solche Identitätstümelei und geistiger Provinzialismus passen schwer

ULLSTEIN zum Berliner Metropolenanspruch. Klassizismus-Vorbild Brandenburger Tor (um 1929): Vom Preußenstil zur Kolossalbaukunst Wirkliche Großstädte besitzen für ge- wöhnlich kein architektonisches Lokal- wagen, üben die Architekten schon mal nicht in die darunterliegenden U-Bahn- kolorit; regionalistisches Bauen ist ein die Rolle rückwärts ein.“ tunnel einbricht, soll er jetzt doch mit ei- ländliches Phänomen. Nazi-Vorwürfe machen Baudirektor ner Glashaut verkleidet werden. Die vielbeschworenen Halb-Moderni- Hans Stimmann rasend. Seine Vorbilder Die Angst vor einer uniformierten sten der zwanziger Jahre hatten seiner- entstammen, so beteuert er immer wie- Zeitgeist-Architektur wächst. Mittler- zeit ihre Entwürfe erfolgreich bis nach der, der Halbzeit der Moderne. Er meint weile gilt schon eine gläserne Allerwelts- Rußland und Amerika exportiert. Ein damit jene Zeit nach der Jahrhundert- fassade, wie sie der Stuttgarter Günter heutiger Berliner Neubau im Stil des wende vor dem Bauhaus und dem Kon- Behnisch, Architekt des neuen Bonner „preußisch durchsäuerten Neoklassizis- struktivismus, als in Berlin Peter Beh- Plenarsaals, für die Akademie der Kün- mus“, wie der West-Berliner Architekt rens, Alfred Messel, Ludwig Hoffmann, ste am Pariser Platz entwarf, als Befrei- Axel Schultes das derzeitige Malheur Erich Mendelsohn oder Max Taut ihre ungsschlag. nennt, würde in anderen Metropolen neusachlich-monumentalisierenden Ge- Der Platz am Brandenburger Tor ist nur Kopfschütteln hervorrufen. schäftshäuser entwarfen. das jüngste Schlachtfeld des Architekten- Vorläufiger Höhepunkt des Berliner Trotz dieser schönen Vorbilder macht streits. Dort hatte Stimmann kürzlich ei- Baustreits war im Dezember der Wett- sich in der Friedrichstadt die seelentöten- ne Gestaltungssatzung vorgelegt, um den bewerb um das Kanzleramt im Spreebo- de Monotonie steinerner Lochfassaden Wiederaufbau der zerbombten Platzkan- gen. Dabei wurden gleich zwei Sieger wie im neuen Hamburg breit. Mit der ten in historische Bahnen zu lenken. prämiert, die exakt die Extrempole der vielbeschworenen Berliner Bautradition Doch die Akademie tobt, daß die Sat- laufenden Debatte markieren. Das jun- hat das nichts zu tun. Die war gerade für zung ihren Behnisch-Bau verhindere und ge ostdeutsche Team Krüger, Schuberth ihre Vielfalt aus Historismus, Jugendstil, nur eine „Architektur der röhrenden Hir- und Vandreike will mit einem monoli- Archaik und frühem Expressionismus sche“ hervorbringe. Erster Beweis: der thischen Schloßentwurf hinter tanten- berühmt. historisierend-geschmäcklerische Neu- haften Säulenfassaden die Berliner Bau- Heute handelt es sich geschichte um Jahrhun- eher um eine Ästhetik derte zurückdrehen. der Rezession: Bei un- Axel Schultes dagegen günstiger Wirtschaftsla- schlägt ein zeitgemäßes, ge bevorzugen Investo- selbstbewußtes Kanzler- ren eben kommerzielle labyrinth mit vielschich- Trutzburgen. Diese ge- tigen Raumdurchdrin- bauten Stabilitätsver- gungen vor. sprechen sehen zuweilen „Berlin wird eng und wie Zuchthäuser aus. So reduziert sich aus läßt der Konzern ABB Angst, sich zu verlie- den Italiener Giorgio ren“, meint Schultes Grassi am Potsdamer und blickt hoffnungsvoll Platz einen Büroriegel in nach Bonn. Dort muß Form einer Riesenmauer jetzt der Kanzler ein mit winzigen Schieß- wenig Haussmann spie- len. Und dafür sorgen, scharten entwerfen. OSTKREUZ Doch die gewünschte daß der prominenteste Steinästhetik stößt hier Neubau der Berliner auf unerwartete Wider- Republik nicht morgen

stände. Damit der zwölf- H. ZIMMERMANN / schon von vorgestern geschossige Kopfbau Kanzleramt von Vandreike, Schuberth, Krüger: Tantenhafte Säulen ist. Y

78 DER SPIEGEL 8/1995 Werbeseite

Werbeseite .

DEUTSCHLAND

Spione „Ich bin eine Symbolfigur“ SPIEGEL-Reporter Walter Mayr über den haftverschonten Ex-DDR-Agentenchef Markus Wolf

rhobenen Hauptes geht paar, das ihn mit Tüten voller der Mann, der unser Land Kartoffeln auf dem Nachhau- Ean seine Leute verraten seweg traf, murmelte nur: „Sie haben soll, durch die Straßen trauen sich was.“ von Berlin-Mitte. In makello- „Ausnahmen“, sagt der ein- sem Rentnerzivil, Kammgarn- stige Topagent des Arbeiter- sakko unter hellem Mantel, und-Bauern-Staats. Dutzend- biegt er beim Roten Rathaus weise sprächen ihm die Leute um die Ecke und mustert am Mut zu: „Ich bin eine Symbol- Marktstand Gläser mit Spree- figur für große Teile der wälder Gurken. Passanten DDR.“ stutzen, schauen ungläubig Wolf, 72, ist zu sechs Jahren und hasten vorbei. Haft verurteilt und gegen Markus Wolf zeigt sich dem Kaution auf freiem Fuß. Jeden Volk, in dessen Namen er ver- Dienstag tritt er an zum Rap- urteilt ist. Auf Anonymität port im Polizeirevier Jäger- kann er nicht mehr rechnen. straße, Zimmer 209. „Guten Als Generaloberst der Staats- Tag, Herr Wolf“, sagen die sicherheit und Herr über 5000 Beamtinnen höflich und prä- Kundschafter war er noch die sentieren die Meldekladde. gesichtslose Sagengestalt aus „Ich komme möglicherweise dem Reich der Aktengebirge. nicht mehr oft, also genießen Seit er sich unter die Reformer Sie es“, erwidert Herr Wolf. schummelte und in Talk- Dann signiert er, grüßt und Shows das Wort führt, ist er geht. eine öffentliche Person. Wolf darf Berlin laut Be- Vor diesem Wolf, den Bür- schluß des 4. Strafsenats des gerrechtler aus dem zweiten Oberlandesgerichts Düssel- Glied im Fernsehen beschimp- dorf nicht verlassen. Es sei fen dürfen, muß auch die Lei- denn, die Richter stimmen zu. erkastenfrau vor dem Rathaus Wolf aber hat gute Anwälte. keine Angst mehr haben. Er fährt zur Kur nach Bad „Mauerschütze“, hat sie ihm Wiessee, läuft Ski im Allgäu neulich zugerufen. Bei Aldi, und signiert Bücher am Rand

sagt er, sei er von „Asozialen“ D. KONNERTH / LICHTBLICK des Filmfestivals von Saar- angepöbelt worden. Ein Ehe- Rentner Wolf: „Wir haben den Krieg ja nun verloren“ brücken. Er trifft bei einer

Die Entscheidung über Markus Wolf fällt in den nächsten Wo- chen: Das Bundesverfassungsgericht wird sein Urteil zur Strafbarkeit der DDR-Spione verkünden. Für Wolf, bis 1986 Chef der DDR-Auslandsspionage, geht es um eine Haftstrafe von sechs Jahren, zu der ihn der 4. Strafsenat des Düsseldorfer Oberlandes- gerichts wegen Landesverrats und Beste- chung verurteilt hat. Die Streitfrage: Dürfen ehemalige DDR-Bürger vor bundesdeut- schen Gerichten überhaupt wegen Spiona- ge für ihren damaligen Staat angeklagt wer- den? Karlsruhe, so glauben Insider zu wis- sen, wird die Frage verneinen. Der DDR- Oberspion Wolf war jahrzehntelang ein „Mann ohne Gesicht“. Von ihm gab es seit

D. HOPPE / NETZHAUT 1959 kein aktuelles Foto – bis ihn der SPIE- Angeklagter Wolf GEL, trotz Sonnenbrille, 1979 enttarnte. SPIEGEL-Titel 10/1979

80 DER SPIEGEL 8/1995 Party in Hamburg die einstige RAF- steht, spricht der Bürger Wolf lieber von Terroristin Susanne Albrecht auf Frei- den kleinen Sorgen des gesamtdeutschen gang. Und genehmigt sich eine Spritz- Lebens. Von der hohen Miete für seine tour zu den Ruinen von Görings Karin- Maisonette-Wohnung am Spreeufer hall – einem alten CIA-Mann zuliebe, (samt Sauna und Solarium aus KoKo-Be- der nach Nazi-Reliquien forscht. ständen möbliert), von der aberkannten Über bürokratische Schikanen zu kla- Verfolgtenrente und der sinkenden Le- gen wäre unter Wolfs Würde. Sein benserwartung seines Volvos aus dem „Verhältnis zur Siegermacht“ läßt er Fundus der DDR-Regierung. sich nicht von kleinlicher Ranküne dik- „Ich wußte, in welche Gesellschaft ich tieren. Die Spielregeln im neuen gehe“, sagt Wolf, der als „Kommunist im Deutschland kommentiert einer wie er guten Sinne“ im neuen Deutschland le- mit dem bizarren Sportsgeist der Agen- ben will. Er sagt das ernst und mit Pathos, tenzunft: „Wir haben den Krieg ja nun tapfer soll es klingen. Vielleicht ginge er verloren“, sagt Wolf. „Da kann man es sogar als aufrechter Überzeugungstäter diesen Leuten nicht übelnehmen, wenn durch, als Sprecher derer, die sich den sie ihres Amtes walten.“ Traum ihrer Jugend nicht vom Kapital Doch diese Leute, allen voran die klauen lassen wollen, käme seine Fließ- Bundesanwälte aus Karlsruhe, haben bandprosa nicht so saftlos daher. wenig Freude am zähen General, der von 1953 bis 1986 mit langem Arm das „Schwert der Partei“ führte, die Stasi-Haupt- verwaltung Aufklärung (HVA). Sie war nicht nur, wie Wolf suggeriert, eine beinharte, nach den gewerbeüblichen Geset- zen operierende Agen- tentruppe; sie war auch Teil des Apparates, der die DDR-Bürger syste- matisch unterdrückte und bespitzelte. Das Vorhaben der Ju- stiz, Wolf wegen Mordes anzuklagen, war von Be- ginn an aussichtslos. Die Männer von der Ost-Fir- ma hatten rechtzeitig ih- re Aktenschredder ge- mästet. „Nasse Sachen“ – operative Einsätze, bei denen Blut floß – wären Wolf, dem Schreibtisch- spion, ohnehin nicht an- zuhängen gewesen. Kei- ne Killerkommandos Stasi-General Wolf (r.), Genossen* und auch kein Giftbulet- „Keine Bedenken“ tenmord. Es reichte mit Mühe zu einer Verur- Der Mann, der zeitlebens ein Bevor- teilung wegen Landesverrats und Beste- zugter war im Land der Plasteprodukte chung, die dem Strategen Wolf gelegen und Zwei-Raum-Wohnungen, verliert kam. Seither behauptet er mit gewissem wenig Worte über das Volk, zu dessen Recht und im Chor mit einer respekta- Wohl der Kommunismus gedacht war. blen Zahl von Leidensgefährten, die Anders als der Vater, der wie ein Irr- „Siegerjustiz“ verurteile rückwirkend, wisch durchs Leben tanzte und dabei als was nach DDR-Gesetz Rechtens gewe- Arzt noch Dramen von Rang schuf, an- sen sei. ders auch als Bruder Konrad, der Front- Ganze elf Tage saß der ehemalige soldat und Filmemacher, hat Markus HVA-Chef seit der Wende in Haft. An- Wolf die herrschende Lehre nicht mit fang Oktober 1991 war er frei. Seither Emotionen befrachtet. An der Vergan- liegt sein Reisepaß bei der Bundesan- genheit, sagt er jetzt, „interessiert mich waltschaft, sein Ausweis bei der Polizei vor allem meine eigene Geschichte“. und sein Schicksal in den Händen des Das Interesse, immerhin, teilt er mit Bundesverfassungsgerichts. vielen. Wolf ist im Auf und Ab der Dik- Solange die Karlsruher Entscheidung über die Urteile auf dem Feld der * Stasi-Generale Rudi Mittig und Harry Schütt deutsch-deutschen Spionage noch aus- 1985.

DER SPIEGEL 8/1995 81 .

DEUTSCHLAND

Ganz der alte Tsche- unangetastet geblieben. Wolfs Zweitsitz kist. Hört viel, weiß liegt verborgen auf einem großzügigen viel, kolportiert nur Seegrundstück mit altem Baumbestand. das Nützliche. Die Gut Pilzesammeln sei hier, sagt Wolf, Quellen bleiben trübe. im toten Eck bis zum nächsten Draht- Das sowjetische Agen- zaun. Dort liegt zugemauert der zentra- tenlatein, erworben le Führungsbunker der DDR, in dem auf der Komintern- das Politbüro den Nuklearkrieg hätte Schule im baschkiri- überleben sollen. schen Kuschnarenko- Meist ist es ruhig. Dann hat Wolf wo, verfeinert in über Zeit, über Vergangenes nachzudenken. 30jähriger DDR-Pra- Über 40 Jahre DDR unter seiner maß- xis, beherrscht Wolf geblichen Mitwirkung beispielsweise. wie kaum ein anderer: Doch der Untergang des ersten anti- Informationen sam- faschistischen Staats auf deutschem meln, prüfen, syntheti- Boden schrumpft im Mund des sonst sieren und im passen- so Wortgewandten zum mißlungenen den Moment streuen. Lausbubenstreich: „Die Erkenntnis

D. KONNERTH / LICHTBLICK Wolf lernt Englisch ist“, sagt er: „Wir haben was gewollt, Meldepflichtiger Wolf*: „Genießen Sie es“ für die Zeit nach dem es ist nicht geglückt. Also macht’s beim Richterspruch. Ehe- nächsten Mal besser.“ taturen durchs 20. Jahrhundert fla- malige CIA-Agenten – „Nette Gauner, Als vor 48 Jahren der Nürnber- niert, als Augen- wie Ohrenzeuge ein lernt man bei mir zu Hause kennen“ – ger Hauptkriegsverbrecher-Prozeß mit Mann erster Wahl. Er kam aus dem haben Logis auf ihren Ranches offe- zwölfmal Strang für Göring und Kon- Sowjet-Exil ins zertrümmerte Deutsch- riert. Ein Buchprojekt steht vor dem sorten zu Ende ging, forderte ein jun- land, er war dabei, als der Massenmör- Abschluß. Die mythensüchtigen Ame- ger Reporter im Abendkommentar des der Stalin in Moskau mit dem Noch- rikaner wollen mit Wolfs Hilfe Erinne- Berliner Rundfunks, wenn nun ein an- nicht-Massenmörder Mao zu Tisch saß. rungen an Schlapphuttreffen hinterm deres Deutschland entstehen solle, Er hat geholfen, Honeckers Greisen- Checkpoint Charlie, an dunkle Ge- „dann dürfen wir noch nicht ruhen“. Clique im Sattel zu halten, und die schäfte und verführte Sekretärinnen Dann müßten Lehren gezogen werden, Drähte gezogen, über die Willy Brandt über das Ende des Kalten Krieges ret- um „die Ursachen und Wurzeln des gestürzt ist. ten. Auch in Holland und Schweden Unheils zu erkennen und unschädlich Wenn Wolfs Verfahren beendet und warten Projekte, sagt Wolf. Und Häu- zu machen“. sein Aussageverweigerungsrecht erlo- ser am Meer. Der Korrespondent war 23 Jahre alt. schen ist, droht für so manchen Polit- Noch aber tourt der Legendenum- Auf seinem sowjetischen Presseausweis veteranen in Bonn Verdrängtes leben- wobene im kleinen Kreis. Schreibt ein stand der Name Mark Wolf. Y dig zu werden: „Dann“, sagt Wolf, Kapitel über das Ge- „geht’s richtig los.“ Auf dem Höhe- heimnis der russischen punkt des Kalten Krieges hatten seine Teigtasche, korrespon- Agenten die Zentralen westdeutscher diert mit Knastbruder Macht so gründlich unterwandert, daß Erich Mielke oder trifft alte Genossen bei der PDS-Basisgruppe Der Untergang der DDR Nikolaiviertel. In sei- schrumpft zu ner Wohnung erkundi- gen sich Freunde aus einem Lausbubenstreich Moskauer Zeit, haft- entlassene Kundschaf- ihr Chef das Innenleben der Bonner Re- ter und haftbedrohte publik besser gekannt haben muß als Stasi-Generäle nach das seiner eigenen. dem Stand der Dinge. So zumindest klingt das, wenn der Seiner Frau hat oberste Aufklärer sagt, von den einge- Wolf zu Weihnachten sickerten RAF-Terroristen, die mit Bie- versprochen, bald wer- dermann-Masken getarnt im Osten ab- de der Spuk vorbei tauchen durften, habe er nichts geahnt. sein. „Ich könnte „Moralisch“, stellt er aber klar, „hätte längst weg sein“, sagt ich da keine Bedenken gehabt.“ er auf der Fahrt zu sei- Auch das böse Wort vom „Unrechts- ner Datsche in Pren- staat“ DDR läßt er nicht gelten: „Das den bei Berlin. Aber mit der Verfolgung ist ja alles schönund- er vertraue dem gutundschlimm, aber da wird auch ver- Rechtsstaat. „Für mich allgemeinert. Man hat mir gesagt, ob’s war die parlamentari- stimmt, weiß ich nicht, daß alle Bürger- sche Demokratie der rechtler zusammen in den achtziger Jah- BRD ja keine unbe- ren nicht soviel Gefängnis bekamen wie kannte Größe.“ Mielke jetzt.“ Die Eckwerte für ei- nen bürgerlichen Le-

* Oben: auf dem Berliner Polizeirevier Jägerstra- bensabend jedenfalls P. RONDHOLZ ße; unten: vor seiner Datsche bei Berlin. sind von der Wende Ehepaar Wolf*: „Ich könnte längst weg sein“

82 DER SPIEGEL 8/1995 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite DEUTSCHLAND

und nicht für die Öffentlichkeit be- bums“. Da merkt er dann, wie er Erotik stimmt ist – unverhoffte Einblicke ins „zum Triebtier werden kann“, und das Private, bisweilen recht drastisch formu- gefällt ihm ausnehmend gut. liert; eine Nahaufnahme über Sorgen Ganz anders der „kompetente Lieb- und Nöte in einer Zeit, in der Männer haber“. Kolle und Masters und John- Animalisches nach wie vor darum ringen, Männer zu son im Kopf, strebt er nach geschlecht- sein. licher Verwirklichung – und die Pflicht Nur leider weiß keiner mehr so genau, des Mannes, das hat er gelernt, ist der Wesen was den echten Mann eigentlich aus- Orgasmus der Frau. macht: ein Geldverdiener zu sein etwa? Vorsprung durch Technik: Das ist Männer haben’s schwer – zumal, Ein Patriarch? Oder ein Muskelprotz? sein Ideal. Er kenne sich aus, behaup- so ermittelte ein Bamberger Sozio- So sucht der Mann denn Sex, um sich tet der sanfte Norbert. Er wisse genau selbst zu finden, um eine „Wahrheit über über die Feinheiten Bescheid, etwa loge, wenn sie über Sex reden. sich selbst“ zu ergründen, sagt Früchtel, „wo der G-Punkt ist“. Er hat seiner „die in unserer rationalen, verstandes- Frau „gezeigt, was für Gefühle der ei- ex ist Arbeit, und ein echter orientierten Welt sonst nicht mehr exi- gene Körper aufbringt“. Und das hat Mann strengt sich an. Schreckli- stiert“. Wenn er gut sei im Bett, glaubt sie dann „sehr überrascht“. S cher Gedanke, „so einen Sex zu Torsten, „damit beweis’ ich ja meine Der Freund der „Erlebnissexualität“ machen, wo du einschläfst dabei“. Un- Persönlichkeit, damit beweis’ ich mich ja schließlich ist der modernste, der stän- bedingt „wild sein“ will der Psycholo- als Mann“. dig suchende Typ. Mal „Instant-Fick“, giestudent Torsten, die Frauen „rum- Ein bißchen Macho? Ein bißchen Ma- mal gar keiner, mal Romantik, mal lo- schmeißen oder so“ – erst dann fühlt so? Schwul oder bi? Keusch, roman- dernde Leidenschaft – weitgesteckt er sich richtig „gut im Bett“. und ausgefeilt ist bei diesem Sex ist schwierig, weiß Rainer, Typus das Repertoire. Gut ist, von Beruf Pädagoge; man muß was Genuß verspricht, das viel reden miteinander, „sonst Abenteuer ist Selbstzweck, hätte ich immer so ein Gefühl, „und der Standard“, sagt hopperla, das haut nicht so Früchtel, „ist der unbedingte hin“. Rainer ist alleinstehend Selbstbezug“. und debattiert gern und viel Ein disparates Bild? Die und legt großen Wert darauf, Bausteine sind frei kombinier- „daß die Frau auch sagt, was bar; wer will, ist mal Techni- ihr gefällt“. Sonst zweifelt er ker, mal Eroberer, mal Erleb- an sich: „Das ist zum Kotzen, nismensch. Doch bei aller wenn man nie weiß, wie man postmodernen Beliebigkeit: dran ist.“ Gemeinsamkeiten existieren Sex wird gründlich über- und ein paar uralte Klischees. schätzt, findet Norbert, der Früher, seit biblischer Zeit, Maurer, der seit einem Jahr gab es zwei Arten von Frauen: verheiratet ist: „Man kriegt ei- Heilige und Huren. Heute nen Ständer, man steckt ihn heißt das anders, aber dieser rein, und dann ist die Ge- Glaube beherrscht offenbar schichte vergessen. Und da ist auch den postmodernen jungen eigentlich nicht die Welt dabei, Mann. Da gebe es „so totale wo man sagen kann, für das Schnecken“, formuliert Bernd, opfere ich jetzt zum Beispiel „wo ich denke, daß du mit de- mein Auto.“ nen eh’ nur ins Bett gehen Neue Männer? Moderne kannst und sonst nichts und Männer? Torsten, der Werfer, die auch nicht mehr in der Me- Rainer, der Schwätzer, Nor- lone haben wie ins Bett zu ge- bert, der Ernüchterte – drei hen“. Und andererseits welche exemplarische Fälle jedenfalls, wie seine Freundin, die sind glaubt der Soziologe Frank „durchaus Mensch und auch Früchtel, 32; drei Schicksale, durchaus Frau“. deren profunde Betrachtung die For- tisch, gefühlsbetont? Alles scheint Ein Mann ist einer, der Erfolg bei schung weiterbringe. „Modernisierung möglich. Da steht er nun, der „post- Frauen hat; soviel steht für sie fest. männlicher Sexualität“ heißt das Pro- moderne Liebhaber“, unter permanen- Und den, das behaupten sie jeden- jekt, mit dem sich Früchtel in seiner tem Entscheidungsdruck – vor einem falls fast alle, haben sie reichlich Dissertation befaßt hat – 17 Tiefenin- „Flickwerk“ sexueller Möglichkeiten, und Potenzprobleme nie. Oder etwa terviews über Sex mit jungen Männern „die der einzelne Mann zu einem indi- doch? zwischen 26 und 29 Jahren*. viduellen Programm zusammenzuba- Nicht daß Torsten, der Eroberer, Früchtels Untersuchung ist zwar na- steln hat“, wie Früchtel berichtet. von körperlicher Mattigkeit berichten turgemäß nicht repräsentativ, immer- Ein Wirrwarr, doch ein Wissen- würde – er redet von seelischer Ermü- hin aber fördert die Fallstudie Erstaun- schaftler muß Ordnung schaffen. Drei dung in jenem Fall, bei dem alles liches zutage: Der Forscher bekam er- Grundmuster hat er bei seinen Proban- schiefging, bei „der letzten, mit der ich zählt, was sonst nur für Männertratsch den vorgefunden. Der „Eroberer“ jagt, gebumst hab’“. Da hat er „mittendrin stellt das Wild, bringt es zur Strecke, aufgehört, weil ich keine Lust mehr sieht sich als animalisches Wesen. Wie hatte – bin dann einfach rausgegangen, * Frank Früchtel: „Modernisierung männlicher Sexualität“. Neuling Verlag, Schwäbisch Gmünd; Torsten, der es genießt, „wenn ich mit hab’ aufgehört“. 350 Seiten; 29 Mark. einer was hab’, die ich halt nur mal so Er wird schon wissen, warum. Y

86 DER SPIEGEL 8/1995 .

Adel Dallas im Rheingau Um Schloß Vollrads, das älteste europäische Weingut, tobt ein Fa- milienkrieg der Grafen Matuschka- Greiffenclau.

m Rheingau kennt jeder den Mann mit der markanten Nase. Dort heißt Ier schlicht „der Graf“. Erwein Graf von Matuschka Frei- herr von Greiffenclau, 56, Herr auf Schloß Vollrads südlich von Rüdes- heim, ist überall – ein Multifunktionär

in Sachen Rebsaft, stets auf Werbetour B. BOSTELMANN / ARGUM für den Riesling und die dazu passende Streitobjekt Schloß Vollrads: Peinliche Sonderangebote Küche. So macht Herr von Matuschka von Mit Onkel Erwein hat Neffe Markus, jährlich drei Fudern Wein zu entrichten Greiffenclau gerade Reklame für ein 29, schon zum Jahresende Klartext gere- war. Produkt namens „Vollrads Sommer“, det, über „Mißwirtschaft“ und die In jüngerer Zeit erschien Schloß Voll- einen leichten Riesling. Das Getränk „Verschleuderung des Familienbesit- rads nach außen als gesundes Unterneh- gilt dem zungenfertigen Adeligen nicht zes“. Der Weinbauer und Unterneh- men. Unter zehn Mark ging keine Fla- einfach als Wein, sondern als „von Na- mensberater eroberte sich so einen Sitz sche des renommierten Rieslings, Jah- tur und Schönheit inspiriertes Lebens- in der Geschäftsführung des Guts. resproduktion 600 000 Flaschen, über gefühl“. Was immer seit Ausbruch des Streits den Ladentisch. Trotzdem schaffte es Dem Schloßherrn selber, in der 27. im Schloß oder in der Hausbank bespro- der Graf, rund 17 Millionen Mark Generation Weinbauer auf dem Greif- chen wird, dringt alsbald nach draußen. Schulden aufzuhäufen. Das Schloß ver- fenclauschen Familiengut, ist dieses Sogar Schaden für das Familiengut wird schlinge das Geld geradezu, sagt der Lebensgefühl inzwischen abhanden ge- bei der Fehde in Kauf genommen. Hausherr: „Wir haben allein 14 000 kommen. Das älteste Weingut Europas So kamen jüngst auf wundersame Quadratmeter Dachfläche.“ Außerdem, ist überschuldet, die Hausbank verhan- Weise Vollrads-Weine zum Schleuder- so klagt er, sei Weinbau „noch nie ein delt bereits mit potentiellen Käufern. preis von 1,99 Mark in deutsche Regale – gutes Geschäft gewesen“. Während im Rheingau spekuliert eine herbe Rufschädigung. Den 1988er Doch das allein kann es nicht sein. Er- wird, wem die Hausbank der Matusch- Riesling, leicht überlagert, hatte Junior- schrocken registrierte die Bank, daß et- kas, die „Nassauische Sparkasse“, das Chef Graf Markus nur für den klamm- wa der Anbau für die Gutsschänke, ein „Denkmal deutscher Weinkultur“(Die heimlichen Verkauf im ehemaligen Ost- Glashaus, statt der veranschlagten 1,5 Welt) zuschlagen könnte, tobt hinter block bestimmt. Millionen Mark mit dem dreifachen Be- der Fassade ein Erbfolgekrieg um Doch ein Eingeweihter, bislang unent- trag in den Büchern steht. Und der hi- Schloß und 50 Hektar Weinberge – tarnt, sorgte dafür, daß die peinlichen storische Turm des Schlosses, dessen Dallas im Rheingau. Sonderangebote zurück nach Deutsch- „beispielhafter Sanierung“ sich der Graf Zwar hatte Karl Ma- land kamen. Nun ist rühmt, ist nur äußerlich geschönt, innen tuschka, der ältere Bru- Graf Markus blamiert. bröckeln die Wände. der des Grafen Erwein, Die wenig charmanten Als ein Wiesbadener Unternehmens- „wegen bürgerlicher Tricks sind verständlich, berater kürzlich in einem Bericht fest- Heirat“ einst auf sein ist das Gut doch eine hielt, Graf Erwein beabsichtige, „Teile Erbe verzichtet, doch Perle im Weinbau, nicht seines Besitzes zu veräußern“, mochten nur für sich – seine nur wegen des Renom- die Verwandten seinem Treiben nicht Nachkommen sind wie- mees seiner Produkte, mehr tatenlos zusehen. der mit im Spiel. Und sondern auch wegen sei- Der junge Graf Markus betreibt als die wollen nicht zulas- ner Geschichte. Notbremse erst mal mit Hilfe von An- sen, daß der Zweitgebo- Vor fast 800 Jahren, wälten den Eintrag seines Erbanspru- rene Erwein den Famili- im Jahre 1211, wurde ches ins Grundbuch. Ein ungewöhnli- enbesitz in fremde, wo- der Greiffenclausche cher Zug: Bei Bürgerlichen wäre ein sol- möglich gar bürgerliche Weinbau erstmals ur- cher Passus praktisch folgenlos. Bei Ad- Hände geraten läßt. kundlich erwähnt. Da- ligen aber kann er den Verkauf von Tei- Graf Karl: „Die Wein- mals einigte sich die Fa- len des Besitzes verhindern. bau treibende Ver- milie mit den Mainzer Schon stöhnt der Chef der Hausbank, wandtschaft hat sich um Domherren, denen fort- Anton Mauerer: „Jetzt muß ich auf mei- Erweins Neffen ge- an der pflichtgemäße ne alten Tage auch noch adeliges Erb- schart.“ Schloßherr Matuschka Zehnte in Form von recht lernen.“ Y

DER SPIEGEL 8/1995 87 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite .

DEUTSCHLAND

esse daran, den Handel zu Rauschgifthandel stoppen, der reichlich Devi- sen ins Land bringt. „Die Türkei zieht nicht mit“, klagt der Münchner Ober- Reichlich staatsanwalt Christian Schmidt-Sommerfeld. Die deutschen Ermittler Devisen bitten ihre Kollegen in Istanbul und Ankara meist Mit Hilfe von Drogengeldern aus vergebens um Unterstüt- zung. Anfragen nach Ver- Deutschland floriert eine ostanato- dächtigen, sagt der Ham- lische Stadt. Türkische Behörden burger Chefermittler Rai- ner Zajonz, würden oft schauen zu. „störrisch und mit großem Zeitverzug“ beantwortet, elam Yüksel hat es zu etwas ge- manche gar nicht. bracht. Im Zentrum von Elaˆzig˘in Auch grenzübergreifen- Sder Osttürkei hat er sich einen de Fahndungsaktionen, wie Schneiderladen eingerichtet, für feine sie etwa mit italienischen Damenoberbekleidung und Brautklei- Behörden reibungslos lau- der. Besonders stolz ist Yüksel, 25, fen, kommen mit der Tür- wenn er Besucher aus Deutschland kei nicht zustande. durch sein Geschäft führen kann. Heroindealer Yüksel: Ohnmächtige Fahnder „Wenn wir einem geplan- Dann kramt er die alten Bilder her- ten Herointransport auflau- vor, auf denen er beim Kirschenpflük- Dabei erzählt Yüksel selbst bereitwillig, ern wollen und die Daten zur Überprü- ken im Alten Land nahe Hamburg in die wie er in Hamburg ins Drogengeschäft fung in die Türkei durchgeben“, so der Kamera grinst. Bis zu 120 Mark am Tag „gedrängt“ wurde und an manchen Ta- Frankfurter Rauschgiftfahnder Helmut verdiente er damals in den Obstplanta- gen 3000 bis 4000 Mark verdiente: „Heu- Rösner, „können wir die Sache schon gen norddeutscher Bauern. „Wir waren te verabscheue ich das alles.“ vergessen.“ Solche Transporte kommen glücklich“, erinnert er sich, „wir konn- Seine Heimatstadt Elaˆzig˘ ist eine selten an, sei es, weil türkische Behörden ten sogar Geld nach Hause schicken.“ Hauptdrehscheibe im europäischen Dro- sie stoppen oder die Drogenkuriere ge- Die Foto-Idylle trügt – reich gewor- genhandel. Der Ort blüht auf, offenbar warnt wurden. den ist Yüksel nicht mit Äpfeln und Bir- vor allem mit Drogengeldern aus Da nützt es der deutschen Polizei we- nen: Die Hamburger Staatsanwaltschaft Deutschland. nig, daß sie die Namen der mutmaßli- sucht den mutmaßlichen Heroingroß- In deutschen Drogenzentren wieHam- chen Hintermänner in der Türkei kennt. dealer per Haftbefehl. burg, Frankfurt und dem Ruhrgebiet ist „Wir haben sogar ihre Telefonnummern Dennoch lebt Yüksel unbehelligt in der Heroinhandel fest in türkischer, vor und Adressen“, sagt der Hamburger Fi- seiner Heimat. Die örtliche Polizei er- allem kurdischer Hand. Doch die türki- nanzermittler Udo Schöning. klärt, sie könne ihm nichts nachweisen. schen Behörden haben kein großes Inter- Nicht nur die Dealer und Kuriere, auch viele Drahtzieher des Heroinge- schäfts, fanden Beamte heraus, stam- men aus der Provinz Elaˆzig˘. Dort wird das Rohopium aus dem Iran, aus Paki- stan und Afghanistan in unterirdischen Labors zu Heroin verarbeitet und umge- schlagen. Einer der mutmaßlichen Drogenpaten sitzt seit zwei Jahren in Hamburg wegen Rauschgifthandels hinter Gittern: Die Polizei schnappte den Kurden, weil er ei- nen Deal mit 35 Kilogramm Heroin ab- wickeln wollte. Im Garten seiner heimi- schen Luxusvilla in Elaˆzig˘ fand die türki- sche Polizei später ein unterirdisches He- roinlabor. Nach den Recherchen der Fahnder ha- ben Mittelsmänner über Jahre hinweg mindestens eine Million Mark Drogen- geld für den Kurden von Deutschland nach Elaˆzig˘ überwiesen. Selbst die Haft konnte den Händler nicht bremsen: Er- mittler warfen ihm vor, er habe von ei- nem nicht überwachten Kartentelefon der Hamburger Strafanstalt aus monate- lang Heroin durch Europa gelenkt. Die Provinzhauptstadt Elaˆzig˘ mit rund

FOTOS: E. PRIDZUHN / SPIEGEL TV 200 000 Einwohnern liegt im armen Schmuckläden in Elaˆzig˘: „Mit Drogengeldern alimentiert“ Osten der Türkei. Gleichwohl schießen

92 DER SPIEGEL 8/1995 Werbeseite

Werbeseite .

DEUTSCHLAND

dort schicke Einkaufszentren, Hochhäu- ser und Villen aus dem Boden. Das Juristen Geld dafür, meinen Ermittler, wurde mit Rauschgift verdient: „Eine ganze Region“, klagt ein norddeutscher Fahn- der, „wird da mit Drogengeldern ali- Zersetzende mentiert.“ In Elaˆzig˘, spotten seine Kol- legen, „fahren inzwischen mehr Merce- des 500 als in Hamburg“. Elemente Auch der türkischen Polizei ist der neue Reichtum nicht entgangen. „Leu- Das Deutsche Rote Kreuz in Berlin te, die zuvor keine Arbeit und keinen steht zu seinem Präsidenten, einem Pfennig Geld in der Tasche hatten“, sagt der Rauschgiftfahnder Hasan Dalda in ehemaligen Richter der Nazizeit. Elaˆzig˘, „bauen plötzlich Hochhäuser, machen einen Juwelierladen auf oder berschwenglich gratulierte Bundes- kaufen sich Grundstücke.“ kanzler Helmut Kohl dem Präsi- Jährlich überweisen Dealer in Üdenten des Berliner Roten Kreu- Deutschland nach Erkenntnissen von zes, Hartwig Schlegelberger, zum 80.

Ermittlern weit mehr als hundert Millio- Geburtstag: „Unsere Jugend braucht D. E. EISERMANN nen Mark in die Türkei. Allein der Vorbilder wie Sie.“ DRK-Mann Schlegelberger Schneider Yüksel soll mehr als eine Mil- Da mochte Berlins Regierender Bür- „Einer wurde geköpft“ lion Mark per Banküberweisung be- germeister nicht zurückstehen. „Ihr gan- kommen haben. Als Absender für einen zes Leben war dem Dienen am Gemein- stellten: „So etwas nennt die Welt Ur- Teil der Summe firmierte ein Imbiß in wohl gewidmet“, rühmte Christdemo- laub! In der Heimat muß ich Kohldampf der Nähe der Hamburger Reeperbahn. krat den Träger des schieben, während ich bei meiner Ein- Die Fahnder sind machtlos. Das neue Großen Verdienstkreuzes mit Stern und heit satt zu essen bekomme.“ Geldwäschegesetz, vor 15 Monaten in Schulterband. Um „zersetzende Elemente“ wie Schlegelbergers Lebensweg sei „ge- Domke „auszumerzen“, verurteilte ihn kennzeichnet vom Einsatz für ein fried- das Gericht (Ankläger: Schlegelberger) Ungestört operieren liches, tolerantes Miteinander der Men- zu fünf Jahren Zuchthaus: Den Lungen- Drogenbosse schen“, echote die Berliner Morgenpost. kranken treffe „die Strafe ohnehin här- Für Frieden sorgte Schlegelberger, ter als einen Gesunden“. von der Türkei aus 81, auf eigene Art: Als Marinestabsrich- Im Juni 1944 wurde der Obdachlose ter in Berlin hat er im Dritten Reich an Otto Schulze, von Schlegelberger ange- Kraft getreten, ist als Waffe gegen die Todesurteilen gegen Soldaten wegen klagt, zu zwei Jahren Zuchthaus verur- Drogenmafia untauglich. Fahnenflucht und „Wehrkraftzerset- teilt. Der offenbar Verwirrte und hoch- Selbst wenn eine Bank eine verdächti- zung“ mitgewirkt. Mindestens zwei Hin- gradig Schwerhörige war dem Einberu- ge Finanztransaktion meldet, gibt es richtungen hat er auch selbst geleitet. fungsbefehl zur Kriegsmarine nicht ge- kaum eine Chance, sie zu stoppen. Die Die Vorwürfe sind folgt. Der „durch Erb- Strafverfolger müßten dazu binnen zwei seit Jahren bekannt. anlagen mißartete Tagen nachweisen, aus welchem Dro- Doch Politiker sowie Schwächling“ mußte gendeal genau das Geld stammt – inner- die Spitzen des Deut- nach Ansicht des Ge- halb der kurzen Frist nahezu unmöglich. schen Roten Kreuzes richts „dorthin ge- Allein in Hamburgs kleinstem Post- (DRK) weigerten sich bracht werden, wo amt im Kiez-Stadtteil St. Georg, so er- bislang, die Vergan- asoziale Elemente im rechneten Fahnder, wurden innerhalb genheit des Berliner Kriege hingehören: in eines Vierteljahres schon mal 30 Millio- DRK-Präsidenten ge- das Zuchthaus“. nen Mark Drogengelder, meist in Pla- nauer zu prüfen. Jetzt Wie viele solcher stiktüten verpackt, eingereicht. aber zeigen bisher un- Fälle über Schlegelber- Kripo-Beamte fordern deshalb seit bekannte Akten, wie gers Schreibtisch gin- längerem, das Geldwäschegesetz zu ver- tief Schlegelberger in gen, ist unbekannt. Er schärfen: Die sogenannte Beweislast die Terrorjustiz ver- selbst („Das war doch solle umgekehrt werden. Dann müßte strickt war. Mal An- ein laufendes Ge- der Einzahler belegen, daß er das Geld kläger, mal Richter an schäft“) behauptet, die ehrlich verdient hat. Das Problem: Da- Hitlers Berliner Mari- „nachweisbar politi- bei würde die Unschuldsvermutung au- nekriegsgericht, war er schen Fälle so gut wie ßer Kraft gesetzt. beteiligt an drakoni- möglich herunterge- So können die Drogenbosse weiter schen Strafen. spielt“ zu haben. ungestört von der Türkei aus operieren. Der Matrose Heinz An sechs Todesstra- Die Münchner Kripo etwa bekam beim Domke hatte während fen aber hat er auf je- Schlag gegen ein Rauschgiftkartell im seines Urlaubs 1943 im den Fall als Ankläger vergangenen Juni ausgerechnet den tür- Heimatort Velten bei mitgewirkt. Der Soldat kischen Paten nicht zu fassen. Er resi- Berlin Lebensmittel- Fritz Keller etwa wur- diert nach wie vor in Istanbul. marken holen wollen. de laut Richterspruch Den Haftbefehl beschieden die türki- In der Kartenstelle zum „üblen Drücke- schen Behörden mit der Auskunft, sagte er zu der Ange- berger“ und „Schäd- Rauschgifthandel lasse sich dem Mann ling innerhalb der

nicht nachweisen, und Geldwäsche sei * Kurz vor Kriegsende ge- SÜDWEST-VERLAG Wehrmacht“ erklärt in der Türkei nicht strafbar. Y henkter Wehrmachtssoldat. Hingerichteter Deutscher* und zum Tode verur-

94 DER SPIEGEL 8/1995 Werbeseite

Werbeseite .

DEUTSCHLAND

teilt. Der Malariakranke mit einem meen der USA, Großbritanniens und Lungenriß sei nur „von Lazarett zu La- Frankreichs zusammen nur 300 Solda- Verkehr zarett gewandert“, um sich „so lange ten. Keiner der deutschen Militärrichter wie möglich von seinem Truppenteil wurde wegen seiner NS-Taten in der fernzuhalten“. Bundesrepublik rechtskräftig bestraft. „Ich hatte Befehl und Auftrag zu er- Zumindest die verurteilten Fahnenflüch- Lärm füllen“, verteidigt sich Schlegelberger. tigen will die FDP, so kündigte sie ver- Noch heute sagt der Rotkreuzmann zu gangene Woche an, nun endlich mit einer seiner Rechtfertigung: „Wer sich feige fraktionsübergreifenden Initiative reha- im Land zurückzieht und drückt, verdient keine bilitieren lassen, 50 Jahre nach Kriegsen- Gnade.“ de. Die drei SPD-Länderchefs im Norden Zwei Exekutionen, das gibt der Ex- Auch die strafrechtliche Entlastung streiten sich um den Trassenverlauf Richter zu, hat er persönlich geleitet: Schlegelbergers stößt jetzt auf Kritik. „In einem Fall wurde gehenkt. Und ei- „Wenn der Mann nach gleichem Recht einer Autobahn über die Elbe. ner wurde geköpft.“ Einer von beiden wie frühere DDR-Richter beurteilt wür- war den Akten zufolge der Matrose de“, empört sich der Berliner Justizfor- eide Simonis ließ sich nicht mehr Horst Henze. scher Klaus Bästlein, 38, „dann säße er bremsen: „Herr Voscherau macht Am 19. Juni 1944 um 13 Uhr wurde längst auf der Anklagebank.“ Hden Norden kaputt“, zürnte die Henze, so die Akten, im Zuchthaus Im Roten Kreuz hingegen, dem Schle- schleswig-holsteinische Ministerpräsi- Brandenburg-Görden in den Raum vor gelberger von 1979 bis 1991 sogar als dentin. „Frau Simonis’ Vorstellungen der verhängten „Richtstätte“ geführt, Bundesvize vorstand, ist nicht einmal ei- sind illusionär“, konterte Henning Vo- „die Hände auf dem Rücken gefesselt“. ne Debatte über die Vergangenheit des scherau, Bürgermeister in Hamburg. Der Scharfrichter hatte zuvor gemeldet, Berliner Präsidenten erwünscht. Wer es „Mit uns nicht“, pflichtete ihm Nieder- das Fallbeil sei „in Ordnung“. Schlegel- wie der Ex-Kreisvorsitzende Siegfried sachsens Regierungschef Gerhard berger prüfte die Identität Henzes, ver- Zimmer wagt, Fragen zu stellen, den Schröder bei. drängen die Funktionäre aus der Organi- Die drei sozialdemokratischen Län- sation. „Innerverbandlich Unruhe und derchefs im Norden sind sich zwar darin Rasche Karriere nach Unfrieden stiften zu wollen“, giftete eine einig, daß sie das Umweltprogramm der dem Krieg als Runde von DRK-Hauptabteilungslei- SPD erst mal ignorieren wollen, denn tern gegen Zimmer, sei „infam“. das fordert „Verkehrsvermeidung“ und CDU-Mann und Minister Als der Betriebsrat eine „argumentati- eine „ökologisch sinnvolle“ Überarbei- ve Auseinandersetzung“ forderte, be- tung der Bonner Straßenbaupläne. las das Urteil und ließ den Vorhang öff- schloß der Berliner DRK-Vorstand, sich Andererseits glaubt das Trio, daß Au- nen. Gehilfen ergriffen den Matrosen mit den Fragen „nicht zu befassen“. Ent- tobahnen der heimischen Wirtschaft und entblößten seine Schultern. nervt verließ Kritiker Zimmer das Rote nutzen. Aber wo die nächste Autobahn „Die Haltung des Verurteilten war ge- Kreuz. über die Elbe gebaut werden soll, dar- faßt“, so Schlegelberger. Henze „wurde Sein Gegenspieler, Landesgeschäfts- um rangeln die Genossen nun. ohne Widerstreben auf die Richtbank ge- führer Eberhard Bauer, steht trotz der Die Kieler Ministerpräsidentin hat in legt und der Kopf durch das Fallbeil vom neuen Erkenntnisse zu Schlegelberger einer Kabinettsklausur in der vorver- Rumpfe getrennt“. Schlegelberger ließ und verweigert jegliche Beschäftigung gangenen Woche wieder besonders ve- dieDauer der Exekution –15Sekunden – mit den Akten. Bauers Motiv: Es sei „ein hement für ihre Trasse gestritten, A 20 notieren und unterzeichnete das Proto- humanes und moralisches Gebot, nicht soll sie heißen: Unterstützt von der örtli- koll. immer wieder die alten Sachen herauszu- chen Industrie- und Handelskammer Nach dem Krieg machte der Jurist ziehen“. Y (IHK) will Simonis möglichst viele Last- rasch Karriere alsCDU-Politiker und Mi- nister in der schleswig-holsteinischen Landesregierung. 1963 bescheinigte der damalige Kieler CDU-Ministerpräsident Helmut Lemke dem Parteifreund, er ha- be früher „in keinem Falle gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und der Menschlichkeit“ verstoßen. Als 1989 vereinzelte Aktenstücke in der Öffentlichkeit auftauchten, will der Kieler Oberstaatsanwalt Horst Richter, 60, im Fundus des Bundesarchivs nur noch viel Verjährtes und nichts juristisch Bedenkliches entdeckt haben: „Rechts- beugung ist Herrn Schlegelberger nicht vorzuwerfen.“ Dabei berief sich die Staatsanwaltschaft auf die bis heute nicht revidierte milde Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes gegenüber NS-Juri- sten. Schlegelberger gehörte zu jenen schrecklichen Juristen der NS-Militärju- stiz, die während des Zweiten Weltkriegs für mindestens 40 000 Todesurteile ver-

antwortlich waren. Zum Vergleich: Im DPA selben Zeitraum exekutierten die Ar- Länderchefs Voscherau, Simonis, Schröder: Umweltprogramm ignoriert

96 DER SPIEGEL 8/1995 .

wagen und Autos aus Skandinavien durch ihr Land leiten. Regionale Un- Schleswig- 23 ternehmen, so das Kalkül, könnten da- Holstein von profitieren. Brunsbüttel Nach einer Berechnung der Unter- Cuxhaven e nehmerverbände würden dann „minde- Elb Lübeck 20 7 stens elf Millionen“ Lkw jährlich durch Glück- 1 Mecklenburg- die Landstriche an der Unterelbe rol- stadt westquerung Vorpommern len. „Mit der Unterstützung der Mini- Insel Pagen- sterpräsidentin“, sagt Jörn Biel von der Stade Ham- sand burg IHK in Kiel, „sind wir sehr zufrieden.“ 27 ostquerung Nach dem Abkassieren einer Maut Elbtunnel 26 von 20 bis 60 Mark pro Fahrzeug soll 20 Geesthacht der Verkehr die Elbe in Richtung Sü- Nieder- den queren. Das „größte Verkehrsauf- sachsen 263 Ring-Kampf kommen“ und die „geringsten Finan- 1 Umstrittene Elbquerungen zierungskosten“ errechnet die IHK da- bei für eine Trasse, die mit einem Tun- bestehende Autobahn geplante Autobahn nel und einer Brücke über die Elbinsel Bremen Pagensand führt, 35 Kilometer westlich Trassen-Alternative von Hamburg. Um den Plan durchzusetzen, muß sich Simonis nicht nur mit Hamburgs Voscherau streiten, sondern auch mit eigenen Bürgern. Zur „Förderung der Region“ machen sich beispielsweise seit vergangenem Jahr Kommunalpolitiker bei Glückstadt und bei Brunsbüttel für noch weiter westlich gelegene Trassen durch ihre Gebiete stark. Widerstand meldet dagegen ein Bündnis von niedersächsischen und schleswig-holsteinischen A-20-Kritikern an, Motto: „Hier baut die Bundesrepu- blik Scheiße.“ Sie befürchten, es wür- den „die Schadstoffe und der Lärm im Land“ bleiben, die Gewinne aber auf der Piste an den Bürgern vorbeirau- schen. Um die wachsende Zahl der Auto- bahngegner an der Unterelbe zu beru- higen, kündigte der Kieler Verkehrsmi- nister Peer Steinbrück immerhin den Bau einer „parallelen Eisenbahnstrek- ke“ an. Dabei dürfte sich der Landes- politiker übernommen haben. Weder

Bonn noch Deutsche Bahn denken dar- A. JANKE / ARGUS an, ein solches Gleis zu bauen. Containerverkehr in Hamburg: Anschluß an die Ostmärkte Der Hamburger Voscherau setzt „nach dem Wegfall des Eisernen Vor- nichts gegen eine neue Autobahnspange Schon für eine vierte Röhre neben dem hangs“ auf eine andere Trassenfüh- über die Elbe, solange genug Geld für bereits existierenden Elbtunnel fehlt rung, um den wachsenden Verkehr seine eigenen Straßenpläne bleibt. dem Staat das Geld. „aus den östlichen Reformstaaten“ zu Schröder favorisiert dann ebenfalls die Ebenfalls gescheitert ist vorerst der bewältigen. Voscheraus Traumtrasse östliche Variante, die den VW-Konzern Bau einer Autobahn A 26 zwischen soll A 263 heißen und die Elbe auf ei- im niedersächsischen Wolfsburg besser Hamburg und Stade. Anfang des Mo- ner Brücke überqueren, östlich von „an die Ostmärkte“ anschließen soll. nats stoppte die Bezirksregierung im Hamburg. Diese Strecke würde auch Zusammen mit Voscherau hält der niedersächsischen Lüneburg das Plan- den Verkehr der sogenannten Ostsee- Niedersachse gegen den bestehenden feststellungsverfahren für einen ersten Autobahn A 20 in Mecklenburg-Vor- Plan des Bundesverkehrsministeriums, Bauabschnitt, da eine seriöse Kosten- pommern aufnehmen, an der bereits nach dem die Trasse im Westen über die deckung ebenso fehlte wie ein Anschluß gebaut wird. Elbe laufen soll. auf Hamburger Gebiet. Vor allem aber wäre die Trasse ideal Wegen des Streits wird nun erst mal Der Geldmangel wird wohl auch ver- für Hamburgs größten Geldbringer, bis zum Jahresende die Ostvariante neu hindern, daß ein Uraltplan verwirklicht den Hafen mit seinem Containerver- durchgerechnet. Denn ein Tunnel oder wird, der den Streit im Norden beilegen kehr. Dessen Terminals, fordert Vo- eine Hochbrücke an der breiten Unter- könnte. Schon Adolf Hitlers Straßen- scherau, „dürfen nicht abgeklemmt elbe im Westen wäre mit fast 2,5 Milliar- baumeister Fritz Todt hatte im Dritten werden“. Zudem könnte die Ostversion den Mark fünfmal so teuer wie ein Bau Reich einen Autobahnring um Ham- die Hamburger Innenstadt entlasten. weiter stromauf. burg entworfen. Seine Trasse hätte die Niedersachsens Ministerpräsident Und derzeit ist das Geld bei allen Au- Elbe sowohl im Osten als auch im We- Schröder („Ich bin ein Autofan“) hat tobahnprojekten bundesweit knapp. sten gequert. Y

DER SPIEGEL 8/1995 97 .

DEUTSCHLAND

würden den rigorosen Vorstellungen ih- seinen designierten Nachfolger Reinhard SPD res Chefs nicht folgen – damit wäre die Klimmt machen. Der SPD-Fraktionsvor- SPD-Mehrheit verloren. Aus Angst vor sitzende im Saar-Parlament ist bei der einem Eklat bei der fürAnfang April vor- Mehrheit der rund 40 000 Parteimitglie- gesehenen Etat-Abstimmung sollen des- der im Land beliebt. Doch Lafontaine Träge Riege halb die umstrittenen Sparpunkte vertagt bleibt, die Stimmung sinkt. Das Kabi- werden. nett, spottet Maas, wirke manchmal „wie Saarländische Sozialdemokraten re- Empört sind die Dissidenten, allen ein müdes Verwaltungskonsortium“. bellieren erstmals gegen Minister- voran der Juso-Landesvorsitzende und Landtagsabgeordnete Heiko Maas, weil präsident Oskar Lafontaine. Lafontaine die Lebensarbeitszeit der saarländischen Beamten um durch- ie Stimmung in der Sitzung des schnittlich drei Jahre verlängern will. Vor SPD-Unterbezirks Saarlouis war der Wahl hatte Lafontaine solche Vor- Dgereizt. Mit „aller Entschieden- schläge noch als „hirnrissig“ verworfen. heit“ lehnten die Delegierten Pläne zur 1000 Stellen will der Sozialdemokrat zu- Verlängerung der Lebensarbeitszeit von dem einsparen; Sonder-Urlaubstage für Beamten ab. Behinderte im Öffentlichen Dienst, ein Dieses Vorhaben, gifteten die Sozial- saarländisches Privileg, sollen gekappt, demokraten, stehe „im krassen Wider- Beförderungen erschwert werden. spruch zur Beschlußlage der SPD“. Rolf Linsler, Landesvorsitzender der Auch im Öffentlichen Dienst müsse die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Arbeitszeit weiter verkürzt werden. Transport und Verkehr, setzt Lafontaine Die Kritik richtet sich nicht an die und seine Politik deshalb schon mit Ar- Adresse der Bundesregierung. Der ge- beitgeberpräsident Klaus Murmann und ballte Zorn der Repräsentanten des mit dessen „Angriffen auf den Sozialstaat“ 7300 Mitgliedern stärksten saarländi- gleich. Der Regierungschef, erregt sich schen SPD-Unterbezirks gilt dem Kabi- SPD-Mitglied Linsler, sei „offenbar der nett des Genossen Oskar Lafontaine. Meinung, mit den Beamten seines Lan- Vier Monate nach dem Sieg der SPD des nach Gutdünken umspringen zu kön- Saar-Regierungschef Lafontaine bei der Landtagswahl rumort es heftig in nen“. „Selbstherrlicher Stil“ der Truppe des Ministerpräsidenten. Sauer sind Gewerkschafter und linke Erstmals in Lafontaines zehnjähriger Sozialdemokraten auch über den „selbst- Der Chef der trägen Riege, so sehen Regierungszeit muckt die Basis massiv herrlichen Stil“ (Linsler), mit dem Lafon- es inzwischen viele Genossen, wird zu- gegen den SPD-Vordenker auf, weil er taine sich über Beschlüsse der Partei hin- dem im autoritären Führungsstil dem mit harten Sparmaßnahmen den Haus- wegsetzt. Rebell Maas verlangt nun so- Bayern Franz Josef Strauß immer ähnli- halt des armen Saarlandes (14,2 Milliar- gar, der Ministerpräsident dürfe nicht zu- cher. Lafontaine, höhnte der Soziologe den Mark Schulden) entlasten will. gleich als SPD-Landesvorsitzender fun- Josef Reindl in der linksintellektuellen Schafft Lafontaine es nicht, die Wut gieren. Zeitschrift Saarbrücker Hefte, sei es zu dämpfen, gerät seine Regierung un- Etliche Parteigänger hatten gehofft, „gelungen, das historisch in langen Zeit- ter Druck. 3 der 27 SPD-Landtagsabge- Lafontaine werde nach der Bundestags- räumen gewachsene ,Modell Bayern‘ ordneten haben bereits angekündigt, sie wahl nach Bonn wechseln und Platz für binnen Kürze im Lande zu adaptieren“ – und damit auch das „Amigo-System“. Mit wachsendem Unmut registrieren einfache SPD-Mitglieder, wie ein klei- ner Führungskreis um den ehemaligen Saarbrücker Oberbürgermeister Lafon- taine die Richtung im Land bestimmt. Im Kabinett sitzen, außer Innenminister Friedel Läpple, der aus dem Kreis Neunkirchen stammt, nur Saarbrücker Spitzen-Sozis. Als es jüngst im Kabinett darum ging, finanzielle Hilfen für Hochwasser-Ge- schädigte zu beschließen, wollte die Hauptstadt-Fraktion erst nichts davon wissen: In Saarbrücken hatte die Flut kaum Schäden angerichtet. Die Inter- vention Läpples führte zum Umdenken – nun werden Extra-Mittel bereitge- stellt. Leo Petry, der Vorsitzende des auf- rührerischen SPD-Unterbezirks Saar- louis, erwartet nun, daß die Regierung Lafontaine auch beim Thema Arbeits- zeit klein beigibt: „Ich gehe davon aus, daß die Diskussion Konsequenzen ha- ben wird.“ Y FOTOS: S. MORGENSTERN Beamten-Protest gegen längere Lebensarbeitszeit*: Krasser Widerspruch * Am 24. Januar in Saarbrücken.

98 DER SPIEGEL 8/1995 Werbeseite

Werbeseite ..

WIRTSCHAFT

Aufschwung „WIR WOLLEN GELD SEHEN“ Mitten im noch jungen Aufschwung liefern sich die Tarifparteien eine Auseinandersetzung, die an den eigentlichen Problemen vorbeiführt. Zwar sind viele Unternehmen heute gesünder als vor der Krise, langfristig aber bleibt noch viel zu tun: Das Kappen von Kosten allein ist keine Strategie, neue Produkte müssen her.

wei Transparente hängen schlapp an der Toreinfahrt. Der einstmals Zweiße Stoff ist schwer vom Regen, die schwarzen Buchstaben zerlaufen. „Uns reicht’s“, steht da, und darunter verschwimmt das Signet der IG Metall. Kein Laster fährt, wie sonst, durch den Hof der Norderstedter Firma Ernst Winter & Sohn, Hersteller von Dia- mantwerkzeugen, kein Arbeiter ist zu sehen. Der Regen platscht, ansonsten ist es still. Wie ausgestorben liegen die Werkhallen da, nur die Belüftung rauscht leise. Von null Uhr bis Mitternacht legten die Beschäftigten am Mittwoch vergan- gener Woche die Arbeit nieder. Nach kurzer Versammlung im Morgengrauen gingen die Arbeiter wieder nach Hause und ließen die Maschinen stehen. So ein Tag der Stille tut weh, zumal in

diesen Zeiten, da auch bei Winter & W. STECHE / VISUM Sohn die Auftragsbücher wieder gefüllt sind. „Die Kunden legen Wert auf exak- Arbeiter bei Mercedes-Benz, in der Stahlindustrie: Viele Unternehmen produzieren te Terminerfüllung“, klagt Geschäfts- führer Ernst Michael Winter. Es ist schon merkwürdig, was da in den vergangenen Wochen stattfand: Warnstreiks von Nord- bis Süddeutsch- land, 34 Verhandlungen ohne Ergebnis – die Tarifparteien der Metallindustrie führten die ganzen alten Rituale auf, als sei nichts gewesen. Dabei hat die deutsche Industrie gera- de erst die schwerste Krise der Nach- kriegszeit überwunden, mit einer Roß- kur ohnegleichen. Hunderttausende von Arbeitsplätzen wurden gestrichen, die Kosten gewaltig gedrückt. Die Produk- tivität schnellte nach oben. Schneller als erwartet sind die deut- schen Unternehmen wieder wettbe- werbsfähig geworden, die Gewinne stei- gen. Viele Unternehmen haben Über- stunden angeordnet, um die Aufträge erledigen zu können. Warum also der Konflikt? Die Gewerkschaften stehen unter Druck. Die Mitgliederzahlen schrump- fen, junge Menschen bleiben ihnen fern. Die Macht der Arbeitnehmerorganisa- tionen bröselt von Jahr zu Jahr. Sie müs-

sen, nach Jahren der Reallohnverluste, DPA

100 DER SPIEGEL 8/1995 endlich wieder etwas für die Geldbeutel Die Creme der deutschen Industrie schen Kostensenkungen. „Die Nach- ihrer Klientel tun. aber präsentiert sich in neuem Glanz. schlagdiskussion kommt viel zu früh“, Im Januar dieses Jahres sind die Net- Nahezu täglich verkünden bekannte warnt deshalb Jürgen Pfister, Volkswirt toeinkommen durch Pflegeversicherung deutsche Firmen gewaltige Gewinnstei- bei der Commerzbank. Mehr als eine und Solidarbeitrag weiter gesunken. gerungen. Für die 133 börsennotierten Drei vordem Komma dürfebeiden Tarif- Nun wollen auch die Beschäftigten vom Unternehmen, deren Geschäftsentwick- verhandlungen aber nicht herauskom- Aufschwung profitieren. Bisher kam er lung die Deutsche Bank Research kon- men. Pfister: „Sonst ist der Traum vom nur den Eigentümern zugute – über hö- tinuierlich verfolgt, erwarten die Ex- langanhaltenden Aufschwung und von here Dividenden und gestiegene Ak- perten ein Ertragsplus von 55,3 Pro- einem Abbau der Arbeitslosigkeit tienkurse. zent. Vor allem in der metallverarbei- schnell wieder ausgeträumt.“ Die Unternehmer fürchten höhere tenden Industrie, sagt der Deutsche- Welche Lohnerhöhung aber kann die Löhne. In der Krise haben sie, mit Hil- Bank-Volkswirt Manfred Link, seien Wirtschaft verkraften? Diese Frage läßt fe, aber vor allem auch auf Kosten ihrer die Zahlen „auf den ersten Blick total sich schon deshalb nicht eindeutig beant- Mitarbeiter, die Betriebe so radikal um- knackig“. worten, weil die Lage von Unternehmen gebaut wie niemals zuvor. Viele Unter- zuUnternehmen verschieden ist. Fast die nehmen sind heute schlanker denn je. Hälfte ihrer Betriebe, behauptet Ge- Gerhard Cromme, der Chef des samtmetall, der Arbeitgeberverband der Krupp-Konzerns, sieht noch „keinen Geringe Gewinne Metallindustrie, arbeitet noch immer mit Anlaß zur Entwarnung“. Die wesentli- Umsatz und Ertrag in der Verlust. chen Standortnachteile seien nach wie westdeutschen Metallindustrie vor vorhanden: hohe Energie- und Um- Umsatz in Milliarden Mark weltschutzaufwendungen, aber vor al- Allgemeine Wirtschaftsdaten für lem die Arbeitskosten – höchste Lohn- 974,6 979,9 und Lohnnebenkosten, kürzeste Le- Westdeutschland; Veränderungen gegenüber dem Vorjahr in Prozent bensarbeitszeit, längste Ausbildung. 907,0 910,0 Manchem Unternehmer kommt der 883,3 Bruttoinlands- Nettoproduktion Aufschwung zu früh. „Viele lamentie- produkt im Investitions- ren“, sagt der Organisationsexperte real gütergewerbe 5,7 5,7 Horst Wildemann, Professor für Logi- 5,0 3,9* stik an der TU München: Die Reorgani- 1990 1991 1992 1993 1994 1,8 2,3* 2,5 sationsphase habe nicht lange genug ge- dauert, die Veränderungen seien nicht Nettogewinn in Prozent des Umsatzes --1,7 tiefgreifend genug. –3,3 1990 91 92 93 94 Nur ein Drittel der Unternehmen ha- 2,4 1,9 be die Reorganisation überhaupt einge- Nettorealverdienst –11,6 1,1 je beschäftigter leitet, meint Wildemann. Der Rest habe 0,8 Arbeitnehmer 1990 91 92 93 94 die Krise auf Pump überstanden: Der –0,7 4,8 Verschuldungsgrad der Unternehmen *vorläufig sei enorm gestiegen. 1990 1991 1992 1993 1994 0,1 **geschätzt Quelle:Gesamtmetall –0,6 –1,0 heute schlanker denn je –2,5** 1990 91 92 93 94 Auf den zweiten Blick allerdings neh- 8,2 men sich die Zahlen etwas bescheidener Arbeitslose in Prozent 7,3 aus. In der Automobil- und inder Stahlin- aller Erwerbspersonen dustrie sowie im Maschinenbau haben die 6,4 5,7 5,9 Unternehmen in der Rezession gewaltige Verluste gemacht, in anderen Branchen 1990 1991 1992 1993 1994 schmolzen die Gewinne stark dahin. Auf dieser Basis schlagen sich auch kleine Er- gebnisse statistisch in großen Sprüngen Auch die geringste Lohnerhöhung nieder. kann für einen Betrieb, der vor der Plei- Tatsächlich sind die Gewinne der gro- te steht, tödlich sein. Aber das war ßen Unternehmen zwischen 1989 und schon immer so: Betriebsbezogene Ab- 1993 um mehr alsdie Hälfte geschrumpft. schlüsse lehnen beide Seiten ab. Im Wendejahr 1994 haben die Firmen mit „Wenn auf beiden Seiten jeder für insgesamt rund 23,6 Milliarden Mark im- sich eine Zahl aufschriebe und dann alle mer noch ein Fünftel weniger verdient als ihre Zettel offenlegten, wären wir um fünf Jahre zuvor. Den Industrieunter- ein paar Zehntel auseinander“, sagt Ma- nehmen fehlten im ersten Jahr des Auf- ximilian Klumpp. Der Chef des Ham- schwungs sogar 36 Prozent der Gewinne burger Werkzeugmaschinenherstellers des Jahres 1989. Ixion, der auch im Vorstand des nord- Erst im laufenden Jahr werden die Un- deutschen Metallarbeitgeberverbandes ternehmen wieder sovielverdienen wiein sitzt, hält das, was in den vergangenen den besten Jahren. „Gemessen an den Wochen gelaufen ist, schlicht für idio- Umsätzen und dem Eigenkapital ist das tisch. aber immer noch wenig“, sagt Volkswirt Klumpp ärgert sich, und das ist kein Link (siehe Grafik). Wunder: Der Mittelständler will produ- Die gegenwärtige Gewinnentwicklung zieren, möglichst viel, möglichst schnell. ist nicht viel mehr als die Folge der drasti- Seine Firma erwartet nach zwei Verlust-

DER SPIEGEL 8/1995 101 .

WIRTSCHAFT

jahren endlich wieder Gewinne. Aufträ- In vielen Betrieben geht der Personal- ge sind da, der Preisdruck hat sich ge- abbau trotz guter Auftragslage unver- lockert. mindert weiter. Im Bosch-Werk in Für die Forderungen der Gewerk- Stuttgart-Feuerbach machen die Mitar- schaft hat Klumpp Verständnis. „Wir beiter Überstunden, 240 neue Leute wissen doch alle, daß wir unseren Leu- wurden eingestellt – befristet. „Wir wol- ten mehr Geld bezahlen müssen, weil len Geld sehen“, sagt Betriebsrat Ger- die Geld brauchen“, sagt er. Aber daß hard Santer. „mittelfristig die Kosten sinken müs- Dem Vorstand geht’s ebenfalls ums sen“, das sagt er auch. Die Tarifparteien Geld. Die Ertragslage sei nach wie vor müßten deshalb gleichzeitig über weite- nicht befriedigend, urteilt Bosch-Chef re Flexibilisierungen, die etwa die Ko- Hermann Scholl: „Die Kosten müssen sten der Mehrarbeit mindern, verhan- weiter sinken.“ Im Inland sollen weitere deln. 1500 Stellen gestrichen werden. Für viele Betriebe ist eine Lohnerhö- Die Industrie beschäftigt immer weni- hung derzeit zweitrangig. Sie haben in ger Arbeitnehmer, und die können dann der Krise so viele Stellen gestrichen, daß auch wieder mehr Geld verdienen. Was die übriggebliebene Mannschaft mitzie- aber wird aus dem Rest? hen muß, wenn die Unternehmen vom Rein defensiv, kritisiert Experte Wil- Aufschwung profitieren wollen. demann, seien die bisherigen Maßnah- Der Schweinfurter Kugellagerherstel- men der deutschen Industrie gewesen. ler FAG Kugelfischer stand vor zwei Drastische Kostensenkungen waren das Jahren kurz vor der Pleite. Das Unter- Konzept, radikal wurden die Beleg- nehmen machte 1992 439 Millionen schaften ausgedünnt. Mark Verlust, seither wurde fast die Nun kommt es darauf an, die Unter- Hälfte der damals 31 000 Beschäftigten nehmen permanent den veränderten nach Hause geschickt. Die Personalaus- Bedingungen des internationalen Wett- gaben sanken dadurch auf ein Drittel bewerbs anzupassen – ohne den Druck

der Kosten. der Rezession, aber auch ohne die damit F. HOLLANDER / DIAGONAL Heute haben die Bayern ganz andere verbundenen sozialen Kosten. Fokker-Flugzeugfertigung (in ): Probleme. Die Firma schiebt einen ge- Langfristig kann die deutsche Indu- waltigen Auftragsberg vor sich her. Seit strie ihre Position nur halten oder gar dem vergangenen Frühjahr mußten die ausbauen, wenn sie wieder in die Offen- Daimler-Benz Beschäftigten in der Schmiede oder in sive geht: mit neuen Produkten für neue Märkte. Dazu braucht sie, was der Wis- senschaftler Wildemann den „Rohstoff In vielen Betrieben Kreativität“ nennt. Zu teuer geht der Personalabbau Kostensenkungen allein reichen je- denfalls nicht aus, sie können die Strate- unvermindert weiter gie, die vielen Unternehmen fehlt, nicht bezahlt ersetzen. Zudem führen Produktivitäts- der Rollen- und Kugellagerherstellung schübe meist nur kurzfristig zu einem Massenentlassungen und steigende jede Menge Überstunden schieben und Vorsprung im weltweiten Wettbewerb – Verluste: Der Sanierungsfall Fokker fast jeden Samstag arbeiten. Inzwischen so lange, bis die internationalen Kon- wurden im gewerblichen Bereich sogar kurrenten ihre Betriebe ebenfalls umge- belastet die Daimler-Tochter Dasa. schon wieder 250 Arbeitnehmer neu baut haben. eingestellt und sämtliche 130 Azubis Die eigentlichen Probleme der deut- nfang der Woche kommen, wie übernommen. schen Wirtschaft wurden in der Krise schon so oft, die Deutschen nach Der Betriebsrat will die Zahl der gar nicht angegangen, geschweige denn AHolland. Im Aufsichtsrat des Flug- Überstunden nun auf 20 Stunden pro gelöst: Sie fertigt, wenn auch inzwischen zeugherstellers Fokker NV, der zu 51 Monat begrenzen. „Die Leute“, warnt kostengünstiger, nach wie vor konven- Prozent der Daimler-Firma Dasa ge- Betriebsratschef Winfried Kanzok, tionelle Produkte. In Zukunftsbranchen hört, stehen harte Entscheidungen an. „arbeiten sich sonst kaputt.“ dagegen spielt sie keine Rolle. Der Großaktionär ist mit seiner nie- Obwohl für die Zusatzschichten hohe Der Elektrokonzern Siemens zum derländischen Tochter nicht zufrieden. Überstundenzuschläge bezahlt wurden, Beispiel stellt so ziemlich alles her, was Die Dasa will 2000 der rund 8500 geht es dem Unternehmen inzwischen mit Strom betrieben wird – vom Kühl- Fokker-Bediensteten wegrationalisieren wieder besser. Der Umsatz liegt über schrank bis zum Computer. Wo aber und mindestens eine Fabrik, das Werk Plan. Allein 1994 stieg die Produktivi- sind die Münchner führend, wo setzen Ypenburg, dichtmachen. tät, bedingt durch den drastischen Per- sie international Maßstäbe? Das Ge- Es ist schon die zweite und wird nicht sonalabbau, um 16 Prozent. Seit dem schäft mit den kleinen tragbaren Tele- die letzte Schrumpfkur sein. Im Jahre vergangenen Frühjahr erwirtschaftet fongeräten, den Handys, haben sie ver- 1991 hatten bei Fokker 12 000 Leute ge- FAG schon wieder Gewinne. schlafen, das machen die skandinavi- arbeitet. Nach dem Dasa-Einstieg 1993 Die FAG-Beschäftigten müssen indi- schen Konzerne Nokia und Ericsson. waren es noch 10 000. Doch Insider rekt dafür büßen, weil durch den Ader- Neue Produkte made in rechnen schon jetzt damit, daß die Fir- laß in der Belegschaft die Beiträge zur sind Mangelware, mit Autos und Ma- ma auf höchstens 5000 Leute zusam- Betriebskrankenkasse stiegen. „Da ist schinen aber ist der Wohlstand auf Dau- menfallen wird und weitere Fertigungs- es nur verständlich“, meint Betriebsrats- er nicht zu halten. stätten geschlossen werden. chef Kanzok, „wenn sich die Kollegen Der Rohstoff Kreativität – und nicht Über Dasa-Chef Jürgen Schrempp, einen Teil davon nun wiederholen wol- eine Tarifrunde – entscheidet über die der im Mai Vorstandsvorsitzender der len.“ Zukunft der deutschen Industrie. Y Muttergesellschaft Daimler-Benz wird,

102 DER SPIEGEL 8/1995 .

Gesund wurde die Deshalb setzte Schrempp schließlich Firma trotz aller auf europäische Kooperationen. Doch Tricks und Infusionen vor 14 Tagen wurden seine Hoffnungen nicht. Wenn sich von jenen gedämpft, mit denen er koope- nichts ändere, vermu- rieren wollte: British Aerospace (BAe), ten Experten, müsse Hersteller kleiner Jets, verbündete sich die Dasa alle halbe mit dem italienisch-französischen Turbo- Jahre 500 Millionen prop-Fabrikanten ATR. Mark nachschieben. Die beiden Partner bedienen zusam- Genervt gab der künf- men nahezu den gleichen Markt wie die tige Dasa-Chef Man- Dasa. Mit der darf deshalb für die näch- fred Bischoff zu, 1993 sten vier Monate kein BAe- und kein habe dies alles noch ATR-Manager reden. Bis dahin nämlich sehr viel besser ausge- soll die neue Kooperative stehen, und da- sehen. nach werden sich die Gewichte verscho- Ähnlich trostlos wie ben haben. „Das ist eine Aktion: Wie mit den Finanzen dressiere ich die Deutschen“, erkannte steht es auf den ein Dasa-Manager. Märkten. Das welt- Die Dressur gilt vor allem Schrempp. weite Geschäft mit Der hatte gefordert, daß seine Dasa über Flugzeugen bis zu 100 die Produktion der kleinenVerkehrsflug- Sitzplätzen bringt im zeuge in Europa wache. Das möchten die Jahr gerade fünf Milli- verbündeten Konkurrenten nun verhin- arden Dollar Umsatz dern: Sie wollen, meint ein Industriebe- und ausschließlich rater, die Dasa zur Nummer zwei ma- Verluste. Außer Fok- chen. ker mit einem Markt- Das ist bitter für Schrempp. Zwar ließ anteil von etwas über er verbreiten, die Dasa besitze ein diskre- 30 Prozent sind noch tesKooperationsabkommen mitden Chi- Außer Schulden nichts zu bieten 16 andere Unterneh- nesen. Doch China-Kenner wissen, was so etwas bedeutet: Frust. braut sich in dem niederländischen Un- Bei Joint-ventures wollen ternehmen ähnliches zusammen, wie es die Chinesen am Ende selbst der bisherige Daimler-Chef Edzard die Richtung bestimmen. Reuter mit der AEG erlebte: Milliar- Schon der US-Luftfahrtkon- denbeträge aus dem Autogeschäft ge- zern McDonnell Douglas hatte hen verloren, weil ganz oben einer den sich bei einem ähnlichen Pro- großen Strategen spielt. jekt nach langer Quälerei aus Schrempp wollte, am französischen der China-Connection wieder Airbus-Partner vorbei, Herr auf dem gelöst. Weltmarkt der Verkehrsflugzeuge mit Teilnehmer der nun tägli- bis zu 100 Sitzplätzen werden. Für gut chen Strategiegespräche im Da- eine halbe Milliarde Mark hatte er des- sa-Quartier sehen für Fokker halb 1993 die Mehrheit an der Amster- ganz düstere Zeiten voraus. damer Traditionsfirma Fokker über- Wenn es keinen Deal darüber nommen. Sie war mit einem 100sitzi- gebe, daß Fokker in Europa die gen Jet und einem 50sitzigen Turbo- Kleinjets und alle anderen die prop am Markt. Turboprops bauen, könne das Was Schrempp nicht beachtete: Nie- Amsterdamer Unternehmen derländer verkaufen niemals eine na- nur noch eine verlängerte

tionale Institution ins Ausland, gar W. V. BRAUCHITSCH Werkbank für Airbus Industrie nach Deutschland, ehe sie nicht ganz Dasa-Chef Schrempp werden. Die wäre mit zwei Mil- und gar pleite ist. Außer Schulden, ho- Jeden Tag Krisenkonferenzen liarden Mark aber reichlich teu- hen Personalkosten, schlechter Markt- er bezahlt. lage und beträchtlicher Dickfelligkeit men daran beteiligt. Zur Marktführer- Damit könnte das Desaster den Stra- hatte Fokker denn auch nichts zu bie- schaft aus eigener Kraft aber reicht es bei tegen Schrempp selbst auf seinem neuen ten. Fokker nicht. Chefstuhl bei Daimler-Benz noch kalt Im Jahr der Übernahme verlor die Die Produkte der Niederländer genie- erwischen. Wall-Street-Analysten, die Firma gleich 400 Millionen Mark, 1994 ßen zwar einen guten Ruf, sind jedoch den Konzern bislang allein nach seinen noch einmal die gleiche Summe. Damit überaltert. Der 100sitzige F-100-Jet ist ei- Aussichten im Autogeschäft bewertet stand das Unternehmen dicht am ne Weiterentwicklung der schon 1969 in haben, lesen Nachrichten über Dasa- Ruin. Schrempps Dasa half mit 600 Dienst gestellten F-28 „Fellowship“. Der und Fokker-Verluste neuerdings auf- Millionen Mark Liquidität aus. Für 50sitzige Turboprop F-50 ging aus der merksamer. Schrempp muß fürchten, noch einmal 400 Millionen verkaufte F-27 „Friendship“ hervor, die den späten daß sein Fokker-Abenteuer den Kurs Fokker anschließend sein Know-how fünfziger Jahren entstammt. Beide Flug- der Daimler-Benz-Aktie beschädigt. an die staatliche Rabobank und leaste zeuge verkaufen sich schlecht. Von der Holländische Analysten wie Paul es anschließend zurück. Fokker glie- F-50 werden inzwischen drei Viertel ver- Schram vom Brokerhaus Bangert, Pon- derte zugleich seine für die Vermie- least. Das Geld für Neuentwicklungen tier & Partners halten selbst das tung eigener Flugzeuge aufgebaute hatteFokkerseit den sechzigerJahren ge- Schlimmste schon für möglich: daß es Leasing-Gesellschaft aus. fehlt. Fokker Ende 1996 nicht mehr gibt. Y

DER SPIEGEL 8/1995 103 ..

WIRTSCHAFT

Fusionen „Wettbewerb mit Marsmenschen“ Kartellamtspräsident Dieter Wolf über die Kompetenz seiner Behörde und europäisches Recht

SPIEGEL: Mercedes darf Kässbohrer Wolf: Wir grenzen durchaus auch klei- viel Zukunftsmusik drin – immer noch. übernehmen und beherrscht damit in Zu- nere Regionalmärkte ab. Nehmen Sie Von einigen Bereichen, etwa für Groß- kunft den deutschen Markt für Reisebus- den Handelssektor, wo sich der räum- flugzeuge, abgesehen. se. Wirtschaftsminister Günter Rexrodt lich relevante Markt danach bestimmt, SPIEGEL: Sie haben sich bei Rexrodt hat das über Ihren Kopf hinweg in Brüs- wie weit potentielle Kunden bereit sind über politische Vorgaben beschwert, sel . . . zu reisen. Da haben sie unter Umstän- und er hat sich von Ihnen „ordnungspo- Wolf: Moment, es ist nicht zu einer Stel- den sehr enge Märkte. Märkte lassen litische Belehrungen“ verbeten. Ist der lungnahme des Bundeskartellamtes ge- sich nicht verordnen, die werden durch Fall Mercedes-Kässbohrer der Anfang kommen. Weder für noch gegen die Fusi- Angebot und Nachfrage bestimmt. Und vom Ende einer von der Politik unab- on. die Tatsache, daß man europäische hängigen deutschen Wettbewerbsbehör- SPIEGEL: Ein Monopol entsteht, und Sie Märkte für wünschbar erklärt, heißt de? wehren sich nicht dagegen? noch keineswegs, daß sie auch schon Wolf: Natürlich stehen wir in einer Pha- Wolf: Der Brüsseler Wettbewerbskom- vorhanden sind. se des Übergangs nach Europa. Und missar Karel van Miert meint, das könne SPIEGEL: Es gibt Ökonomen, die schon über die Aufgabenstellung der nationa- vorübergehend hingenommen werden, bald nur noch den Weltmarkt als rele- len Wettbewerbsbehörden angesichts weil irgendwann ein europäischer Markt vant annehmen wollen. zusammenwachsender Märkte muß für Busse entstehen werde. Ich überlasse Wolf: Übertrieben formuliert: Irgend- nachgedacht werden. Aber noch sind es der Bewertung anderer, inwieweit die wann wird man vielleicht auch den po- nicht alle Märkte soweit. Im Handel et- Begründung der Kommission überzeugt. tentiellen Wettbewerb der Marsmen- wa haben wir leistungsfähige, auch von SPIEGEL: Warum soskeptisch? In der Tat schen mit einbeziehen können. Natür- ihrer Größe her durchaus vergleichbare hat Mercedes-Kässbohrer, bezogen auf lich ist keine Entwicklung ausgeschlos- Unternehmen in unseren Nachbarlän- dieEuropäische Union, nur einen Markt- sen. Sicher wachsen die Märkte zusam- dern. Gleichwohl überschreitet, um mal anteil von 30 Prozent. men auf dieser Welt. Nur, da ist sehr einen Namen zu nennen, das französi- Wolf: Wenn es einen europäi- sche Unternehmen Carrefour schen Markt für Busse gäbe. Was nicht den Rhein. Nehmen Sie es gibt, ist eine Mehrzahl von na- die Bauwirtschaft, den Fall, den tionalen Märkten. Die Franzo- wir gerade untersagt haben . . . sen kaufen ihren Renault, die SPIEGEL: . . . die Fusion Hoch- Italiener ihren Fiat, die Skandi- tief mit Philipp Holzmann. navier ihren Volvo und die Deut- Wolf: Zu unserer eigenen Über- schen ihren Daimler-Kässboh- raschung haben wir, deutlicher rer. Die Importquote liegt in als wir es vorher wußten, festge- Deutschland unter fünf Prozent. stellt, daß die großen Bauunter- SPIEGEL: Die Grenzen sind of- nehmen der Nachbarländer bei fen, sagen die Brüsseler. Und ei- Großaufträgen in Deutschland nes Tages könnte . . . praktisch nicht präsent sind. Wolf: Was heißt eines Tages? Diese Großen konkurrieren hef- Auch wir berücksichtigen bei un- tigst in Asien und sonstwo auf seren Entscheidungen potentiel- der Welt, aber nicht in Europa. len Wettbewerb. Er muß nur So doll und durchdringend ist es auch in seinen zeitlichen Dimen- noch nicht mit dem europäi- sionen konkret faßbar sein. Die schen Markt. bloße Hoffnung ist zu unsicher. SPIEGEL: Rexrodt fordert eine Was machen denn die Anbieter unabhängige Wettbewerbsbe- auf dem deutschen Omnibus- hörde für die EU, um politi- markt, die es von nun an mit ei- sche Einflüsse auszuschließen.

nem marktbeherrschenden Kon- R. BRAUN Scheint Ihnen das glaubwürdig, kurrenten zu tun haben? Warten nachdem er selbst heftig am Fall auf den Wettbewerb? Ich hoffe Dieter Wolf Kässbohrer gedreht hat? nur, daß es dann nicht für einige Wolf: Ich kann ja nachvollzie- der kleineren Produzenten zu leitet seit 1992 das Bundeskartellamt. Wolf, 60, warf hen, daß Sie Gegensätze zwi- spät ist. vergangene Woche seinem obersten Dienstherrn vor, schen mir und dem Minister auf- SPIEGEL: Der gemeinsame es mangele ihm an ordnungspolitischer Sensibilität. bauen wollen. Aber in diesem Markt in Europa muß doch auch Wirtschaftsminister Günter Rexrodt verbat sich solche Punkt gibt es keine Gegensätze, für die Beurteilung von Fusionen Belehrungen. Der Streitpunkt: Rexrodt hatte den Zu- sondern da unterstütze ich ihn. gelten. Sie kämen ja kaum auf sammenschluß der Bushersteller Kässbohrer und Die Kommission, die jetzt über die Idee, eine Marktbeherr- Mercedes in Brüssel befürwortet, ehe das Kartellamt Wettbewerb und Konzentration schung für Ostfriesland anzuneh- eine Stellungnahme abgeben konnte. zu entscheiden hat, ist ein politi- men. sches Gremium. 20 Kommissa-

104 DER SPIEGEL 8/1995 Werbeseite

Werbeseite .

WIRTSCHAFT

re, alle Politiker mit unterschiedlichen meint Timmer, „ein zufriedenstellendes Aufgaben und unterschiedlichem Her- Konzerne Ergebnis“. kommen, nur einer davon für Wettbe- Bei den Gewinnen zeigt sich noch werb zuständig: Ja, was soll denn dabei deutlicher, daß es vorangeht. Mit einem herauskommen? Nettoertrag von etwa zwei Milliarden SPIEGEL: Ja, was denn? Alles auf Gulden übertrifft der nach Siemens Wolf: So etwas wie die jüngste Entschei- zweitgrößte Elektrokonzern Europas dung eben. selbst die Erwartungen optimistischer SPIEGEL: Aber das deutsche Kartell- eine Karte Börsenprofis. recht kennt doch auch die Minister- Zwar hatte Philips auch in den Kri- erlaubnis. Der Wirtschaftsminister kann Der Orkan, der durch Philips fegte, senjahren 1991 und 1993 Gewinne aus- Ihre Entscheidung letztlich überstim- hat Überraschendes bewirkt – der gewiesen (siehe Grafik). Doch damals men, wenn nationale Interessen im handelte es sich zum großen Teil um au- Spiel sind. Elektromulti macht wieder gute ßerordentliche Erträge. So füllte 1991 Wolf: Das zweistufige Verfahren, das Gewinne. der Verkauf der Sparte Haushaltsgeräte wir 1973 bei uns eingeführt haben, hat an den US-Konzern Whirlpool die Kas- sich insgesamt bewährt. Wir haben in 20 se, und 1993 hellten Patent- und Aktien- Jahren über 100 Untersagungen ausge- ie Aufgabe schien unlösbar. Un- verkäufe die Bilanz auf. sprochen. In gerade mal 6 Fällen hat der ternehmensberater winkten ab, Im vergangenen Jahr wurde der Ge- Wirtschaftsminister nach unserer Ent- Dwenn sie gebeten wurden, die ver- winn jedoch erstmals seit langem wieder scheidung seine Erlaubnis erteilt. Damit krusteten Strukturen des Elektromultis fast allein im normalen Geschäft erwirt- kann ich prima leben. Philips neu zu ordnen. Das sei so, klagte schaftet. Selbst in der Unterhaltungs- SPIEGEL: Eine solche – beschränkte – einer, „als ob man aus einer Gruppe elektronik oder bei der Chipproduktion politische Einflußmöglichkeit würden Moslems gute Christen machen soll“. – beide lange Zeit Verlustbringer – weist Sie auch für ein ansonsten unabhängiges europäisches Kartellamt akzeptieren? Wolf: Das wäre allemal redlicher als das jetzige System. Die Römischen Verträ- ge sind strikt wettbewerblich orientiert, nur die Praxis ist eine andere. Über die Kommission schleichen sich Entschei- dungsmotive ein, die wettbewerbsrecht- lich keine Rolle spielen dürften. Das wird dann alles mit wettbewerblichen Begriffen umkleidet, was zwar eine be- achtliche advokatische Leistung, aber nicht redlich ist. SPIEGEL: Und deshalb fordern Sie eine unabhängige EU-Wettbewerbsbehörde, auch wenn Ihr Amt dabei Kompetenzen verliert? Wolf: Unsere Forderung nach einer EU- Behörde ist, wenn Sie so wollen, frei von Eigennutz. Wir sehen nur, daß die Glaubwürdigkeit der europäischen Fusi- onskontrolle bei Aufrechterhaltung die-

ser intransparenten Entscheidungsstruk- WERKSFOTO PHILIPS tur auf europäischer Ebene Schaden Philips-Chef Timmer (M.)*: „Wir müssen den Maßstab immer höher legen“ nimmt. SPIEGEL: Wo bleiben Sie denn mit Ih- Ganz so schwer war die Bekehrung Philips nun wieder schwarze Zahlen aus. rem Amt, wenn es eines Tages ein ein- denn wohl doch nicht. Vier Jahre nach Eine gerade verabredete Kooperation heitliches europäisches Wettbewerbs- der schwersten Krise in der gut hun- mit IBM in Böblingen wird für weiteren recht gibt, exekutiert von einer unab- dertjährigen Firmengeschichte hat Aufschwung sorgen. hängigen Kartellbehörde in Brüssel? Philips viel bürokratischen Ballast abge- „Unsere Bilanz ist jetzt wieder in Wolf: Einheitliches Recht, ja, aber der worfen und ist auf bestem Wege, Ordnung“, sagt der aus ange- Vollzug sollte von nationalen Behörden zu einem schlagkräftigen Weltkonzern heuerte Finanzchef Dudley Eustace. in eigener Verantwortung durchgeführt zu werden. Die größten Problemfälle im Konzern werden. Ich stelle mir das vor wie im Am Stammsitz im niederländischen sind inzwischen die deutschen Ableger deutschen Föderalismus: Das Bundes- Eindhoven kann Firmenchef Jan Grundig und PKI. recht wird von den Ländern in eigener Timmer, 62, in dieser Woche eine Bi- Vor allem die Telekommunikations- Verantwortung exekutiert. Dann kann lanz vorlegen, die seinen Ruf als „Orkan Firma PKI ist noch weit von einer Ge- man Kontrollmechanismen einbauen: Gilbert“ festigt. Der Umsatz ist 1994 um sundung entfernt. Zu lange hat sich die Widerspruchsrecht der Kommission, rund vier Prozent auf 61 Milliarden Gul- Nürnberger Philips-Dependance auf das wenn Fehlentwicklungen zu besorgen den (54 Milliarden Mark) gestiegen und sichere Geschäft mit der Bundespost sind: Klagerecht beim Europäischen liegt damit erstmals seit dem Rekord- verlassen. Nach der Umwandlung in ei- Gerichtshof, alles was unsere bundes- jahr 1985 wieder über der 60-Milliarden- ne Aktiengesellschaft schaut auch die staatliche Verfassung ja auch kennt. Das Marke. Angesichts des harten Preis- Telekom genau auf den Preis, und da ist Prinzip muß das der Subsidiarität sein. drucks in der Elektronikbranche sei das, PKI nur selten konkurrenzfähig. Nur das kann Europa den Bürgern nä- Der Fürther Nachbar Grundig, einst herbringen. Y * Im Haushaltsgerätewerk in Singapur. deutscher Marktführer in der Unter-

106 DER SPIEGEL 8/1995 .

haltungselektronik, muß sechs Millionen MPL-Scheinwerferlam- ebenfalls noch mächtig Plus mit Chips pen pro Jahr erhöht. Überall im Werk kämpfen. Allerdings soll ausgehängte Reklamationsstatistiken sich der Verlust, der 1993 Nettogewinne und -verluste sind ein Beleg für die hervorragende noch bei 350 Millionen Qualität.

Mark lag, im ablaufenden Als „Lohn der Angst“ (Tiemann) hat- + 2000

Geschäftsjahr mehr alshal- 746 1033 1182 ten sich die Auftragsbücher schnell ge- bieren. – füllt. Nachdem mit BMW ein erster Ab- Philips, sagt ein Amster- 588 nehmer gefunden worden war, folgen damer Börsenanalyst, ha- 19891990 19911992 1993 1994* nun auch Audi und Mercedes. Vor we- be sich am eigenen Schopf nigen Wochen kam ein besonders lukra- 4447 aus dem Sumpf gezogen. *vorläufig tiver Auftrag aus Amerika: Bis zum Jah- Die Anlageexperten der re 2000 will General Motors sämtliche Dresdner Bank halten die Umsatzanteile nach Sparten Modelle mit den superhellen Scheinwer- Philips-Aktie, die Ende von Januar bis September 1994 (in Klammern: fern aus Aachen ausrüsten. vergangener Woche für gut Veränderung des Umsatzes gegenüber dem Um die Nachfrage bestens befriedi- 56 Gulden gehandelt wur- Vorjahreszeitraum), Angaben in Prozent gen zu können, hatte Tiemann mit dem de, inzwischen wieder für Betriebsrat frühzeitig ein variables Ar- ein „attraktives Invest- Unterhaltungs- sonstige Konsumgüter beitszeit-Modell entwickelt, das eine ment“. elektronik (+4,9) Art Jahresarbeitszeit vorsieht. Daneben Die Wende istzum einen (+4,0) 19 wurden spezielle Wochenendschichten auf harte Sanierungs- eingerichtet. Die Mannschaften arbei- schnitte zurückzuführen. 35 Medizin- und ten nur am Wochenende 26 Stunden Kommunika- Lager und Fabriken wur- 13 tionstechnik zum Lohn von 35 Stunden. den geschlossen, Verwal- (–16,1) Der größte Schock traf die Verwal- tungen gestrafft und Stel- tung. Sie muß ihre Leistungen, von der len gestrichen. Fast 50 000 14 15 Gehaltsabrechnung bis zur Produktions- Jobs wurden seit 1990 weg- 4 Bauelemente statistik, genau aufschlüsseln – die ande- rationalisiert, und von den (+15,5) ren Abteilungen zahlen dann lediglich einst mehr als 300 Produk- Beleuchtung sonstiges für die angeforderten Dienste. „Jetzt tionsstätten blieben 265 (+2,3) (–7,5) bekommen wir nur noch Auswertungen, Fabriken, verstreut über 43 die wir auch wirklich brauchen“, kom- Länder, übrig. mentiert Tiemann die bislang im Kon- Andererseits aber reicht die Notope- Um das Werk zu retten, setzte er alles zern einzigartige Maßnahme. ration, die Timmer nach seinem Amts- auf eine Karte. Tiemanns Trumpf war Noch sind kreative Zellen wie in antritt im Juli 1990 unter dem Codewort das Micro Power-Light, eine in Aachen Aachen die Ausnahme im weltweiten Centurion eingeleitet hatte, wesentlich entwickelte Gasentladungslampe, die Philips-Reich. Doch das Centurion-Pro- tiefer. Anders als seine Vorgänger, bei doppelt soviel Licht liefert wie her- gramm hat viele Kräfte freigesetzt, die denen das Wort Krise auf dem Index kömmliche Halogenscheinwerfer. Mit früher undenkbar waren. stand, scheute sich Timmer nicht, im- nur zehn Overhead-Folien, erinnert sich „Unsere harte Arbeit hat sich bezahlt mer wieder die drastische Alternative Tiemann, konnte er die Konzernchefs in gemacht“, lobt Timmer seine Mann- aufzuzeigen: „Entweder wir lernen Eindhoven davon überzeugen, daß der schaft. Aber Entwarnung gibt der bulli- schwimmen, oder wir ertrinken.“ neue Lampentyp dem Unternehmen ei- ge Firmenchef noch nicht: „Wir müssen Die beschworene Gefahr hat das Be- nen großen Vorsprung auf dem Welt- den Maßstab immer höher legen, denn wußtsein der Philips-Leute verändert markt verschaffen würde. Centurion endet nie.“ Y und dazu beigetragen, daß die Herr- Früher hätte eine so radikale Produk- schaft der Tulpentreter, der Zentralbü- tionsumstellung während des laufenden Betriebs mindestens drei Jahre gedau- ert. Tiemann schaffte das Pensum in der „Zuerst haben wir halben Zeit, weil lähmende Entschei- sämtliche Handbücher dungswege und bürokratische Zwänge, die früher ein neues Projekt bis ins weggeschmissen“ kleinste Detail vorschrieben, einfach übergangen wurden. rokraten in Eindhoven, gestutzt werden „Als erstes“, erinnert sich Tiemann, konnte. Der einst überaus schwerfällige „haben wir sämtliche Projekt-Handbü- Konzern ist dadurch nicht nur flexibler cher weggeschmissen, alles in allem fast geworden, sondern auch kundenfreund- einen Meter Aktenordner.“ Anschlie- licher und qualitätsbewußter. ßend verschwand der Chef mit einem Ein gutes Beispiel für den neuen Team von 17 Leuten für zehn Tage in ei- Geist im Traditionskonzern liefert die nem Hotel in Belgien: „Als wir zurück- Lampenfabrik in Aachen. Das Werk, in kamen, stand das Projekt in unseren dem seit langem Halogenlampen, über- Köpfen.“ wiegend für Autoscheinwerfer, produ- Und obwohl während der Umbauzeit ziert werden, war immer unrentabler ge- ein wichtiger Zulieferer Pleite machte, worden, die Stillegung schien nur noch lief die Serienproduktion für das Micro eine Frage der Zeit. Aber der 1991 ein- Power-Light (MPL) termingerecht an.

gesetzte Werksleiter Jürgen Tiemann Inzwischen wurde die Kapazität auf M. DARCHINGER wollte sich nicht als Abwickler betäti- Philips-Manager Tiemann* gen. * Mit MPL-Lampe. „Lohn der Angst“

DER SPIEGEL 8/1995 107 .

WIRTSCHAFT TRENDS

worden. Doch letztlich un- Industriespionage habe Opel ihnen die Unterlagen in die Ki- terlag Frau Huy, die als be- sten geschmuggelt. Alvarez kommt zu dem sonders durchsetzungsstark Schluß: Die Lage sei „irgendwie beschis- gilt, einem anderen Kandi- Brief belastet Lo´ pez sen“. Versuche der VW-Anwälte, die pein- daten: Entwicklungsvorstand Der US-Konzern General Motors will liche Affäre mit GM still zu beerdigen, sind wird Helmut Petri, bislang Volkswagen und dessen Vorstandsmitglied bislang gescheitert. GM fordert für einen Leiter des Werks Sindelfin- Ignacio Lo´pez auf Schadensersatz in Höhe Verzicht auf die Einreichung der Schadens- gen. Für Petri spricht, so die von mehreren Milliarden Mark verklagen. ersatzklage von VW unter anderem, daß Begründung, daß er die Die GM-Anwälte haben bereits weltweit größte Mercedes- eine mehr als 30 Seiten lange Kla- Fabrik mit 40 000 Beschäf- geschrift fertiggestellt, die dem- tigten sehr erfolgreich ge- nächst bei einem US-Gericht ein- führt hat. gereicht werden soll. Die Beweis- kette ist nach Ansicht des obersten Zinsen GM-Managements so dicht, daß es keine Zweifel hat, einen Prozeß Flucht zu gewinnen. Die Staatsanwalt- schaft in Darmstadt ermittelt be- in die Mark reits seit eineinhalb Jahren gegen Entgegen den meisten Pro- Lo´pez wegen Industriespionage, gnosen der Banken sinken nun fand sie in den bei VW be- seit Jahresanfang die Zinsen schlagnahmten Unterlagen einen in Deutschland. Als Begrün- Brief, in dem sich Lo´pez-Helfer dung muß die mexikanische Jorge Alvarez selbst belastet. In Finanzkrise herhalten. Da in-

dem Schreiben vom 9. Juli 1993 SYGMA ternationale Anleger aus berichtet er seinem Kollegen Jose´ VW-Vorstand Lo´pez dem Dollar in die Mark Manuel Gutierrez, daß die Ermitt- flüchten, sei die Nachfrage ler in seiner Wiesbadener Wohnung Kisten der VW-Vorstand und der Aufsichtsrat nach deutschen Anleihen mit Dokumenten gefunden haben, von de- sich öffentlich für den Fall Lo´pez entschul- drastisch angestiegen, was nen „einige nicht in meinem Besitz“ hätten digen. Dazu ist die VW-Spitze nicht bereit. den Zins nach unten drückt. sein dürfen. Er schlägt Gutierrez dann vor, VW-Manager wollen wissen, daß der Vor- mit welchen Ausreden der brisante Fund stand deshalb die Entlassung von Lo´pez heruntergespielt werden könnte: Sie könn- vorbereitet, damit dieser bei einer Anklage Kurs des US-Dollar ten die Erklärung verbreiten, vermutlich nicht mehr in Volkswagen-Diensten steht. gegenüber der Mark 1,58

Benetton antworten haben: Aufmüpfi- Shirts abgestoßen. Die PR- 1,54 ge Benetton-Händler sollen Agentur, die Benetton in Starker Druck als Querulanten dargestellt, Deutschland vertritt, hat sich die Geschäftspolitik der Be- von dem Papier, das den 1,50 auf Händler netton-Gruppe soll dagegen Handel auf Linie bringen 17.2. Der italienische Benetton- gelobt werden. Der Konzern soll, inzwischen distanziert. 1,4844 Konzern greift zu fragwürdi- hat seit Monaten Ärger mit „Die deutsche Version“ des 1,46 gen Mitteln, um das ange- unzufriedenen Händlern, Textes, entschuldigte sie sich Umlaufrendite von fest- schlagene Image aufzupolie- weil er keinen Gebietsschutz bei den Händlern, sei leider verzinslichen Wertpapieren ren. In einem Brief an seine gewährt und feste Lieferver- etwas „kategorisch“ ausgefal- Generalvertreter versucht träge verweigert. Außerdem len. das Unternehmen den selb- fühlen sich viele Verbraucher 7,6 ständigen Einzelhändlern ge- von der Schock-Werbung mit Mercedes nau vorzuschreiben, was sie HIV-bestempelten Hintern 17.2. künftig auf Pressefragen zu und blutigen Soldaten-T- Frau im Vorstand 7,4 7,27 – fast

Bei Mercedes-Benz wäre es 7,2 fast zu einer für die Auto- 2. 9. 16. 23. 30. 6. 13. mobilindustrie revolutionä- ren Personalentscheidung Januar Februar 1994 gekommen: Rose Gerrit Huy, 40, bislang für die Pla- Auch innerhalb Europas gilt nung der Pkw-Entwicklung die deutsche Währung wie- zuständig, war eine aus- der als Hort der Stabilität. sichtsreiche Kandidatin für Ecu und italienische Lira fie- den Posten des Entwick- len auf historische Tiefststän- lungschefs. Die frühere As- de. Der Wert des französi- sistentin von Daimler-Chef schen Franc und des briti- Edzard Reuter wäre die er- schen Pfund sackte in der ste Frau im Vorstand eines vergangenen Woche gegen- Benetton-Werbung deutschen Autokonzerns ge- über der Mark ab.

108 DER SPIEGEL 8/1995 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite . J. TACK / DAS FOTOARCHIV Demonstration von Kohle-Kumpeln in Recklinghausen: „Die Ruhr brennt noch nicht, aber sie glüht“

Energie Fackeln für Klärchen SPIEGEL-Redakteur Michael Schmidt-Klingenberg über den Kampf der Bergleute um Subventionen

b es da unten, 1000 Meter unter Seine Familie hat die Kohle in den Sohn Martin Paluszkiewicz, 26, fährt als dem Autobahndreieck Marl-Nord, Adern. Der Großvater kam um die Elektriker in dieselbe Grube, die heute Onun finster aussieht oder nicht, ist Jahrhundertwende von der polnisch-be- Verbundbergwerk Blumenthal/Haard eine Sache des richtigen Blicks. „Wenn lorussischen Grenze auf die erste Zeche heißt. ich da rein schaue“, meint Peter Palusz- in Recklinghausen, die „Clerget“ – die Martin hängt wie sein Vater an der kiewicz, 49, „dann sage ich, das ist hell.“ Kumpel nannten sie einfach und zärtlich schönen, dreckigen Kohle und glaubt an Das Licht der wenigen Neonröhren in „Klärchen“. Sein Vater arbeitete bei die Zukunft des Bergbaus: „Ich sehe dem 280 Meter langen, 1,30 Meter nied- „General Blumenthal“, und auch sein überhaupt nicht schwarz.“ rigen Abbaustollen versackt Aber über Tage sieht alles in der Kohle ringsum. Wie ein anders aus. Die Feinde der Bob schießt der stählerne Ho- Deutsche Steinkohle deutschen Steinkohle haben bel an einer Antriebskette aus sich soeben ziemlich uner- dem Dunkel desStrebs heran, ist ohne Subventionen nicht konkurrenzfähig. Bisher wurde wartet zum Angriff aufs Re- rasiertsauberdreiZentimeter das Geld dafür überwiegend durch den „Kohlepfennig“ aufge- vier vereinigt. Industriever- vomFlözab und verschwindet bracht, einen Aufschlag von 7,5 Prozent auf die Stromrech- bände, Ministerpräsidenten donnernd wieder hinter einer nungen. Das Bundesverfassungsgericht entschied nun, dies aus Bayern und Baden- schwarzen Staubwolke. Nur sei eine unzulässige Sonderabgabe. Die Energiesicherheit Württemberg und voran die die Grubenlampe vorn am liege im Allgemein-Interesse und müsse daher aus Steuern fi- Freien Demokraten zerren Helm von Paluszkiewicz nanziert werden. Kurz darauf senkte der Bund seinen Beitrag am Lebensnerv der Kohle – leuchtet einen hellen Punkt zur Kokskohlehilfe für den Stahl zu Lasten der Kohleländer den Subventionen. Recht auf das Förderband, das die NRW und Saar, die aber ihren Anteil nicht erhöhen wollen. Die harmlos hatte es im Oktober abgehobelten Brocken auto- Bonner Koalition konnte sich bisher nicht über die künftige mit einem Urteil des Bundes- matisch weitertransportiert, Kohle-Finanzierung einigen. Wirtschaftsminister Günter Rex- verfassungsgerichts gegen 2000 Tonnen täglich. rodt will die jährlich 7bis7,5MilliardenMark fürdie Stromkoh- den Kohlepfennig begonnen, In der ewigen Nacht unter le durch Sparen im Etat aufbringen. Die CSU verlangt weniger nun geht es schon um über Marl-Nord ist Paluszkiewicz Subventionen, die CDU zögert wegen der Wahlen in NRW mit zehn Milliarden Mark jähr- so wohl wie den Oberirdi- einer klaren Aussage. Die SPD will den Bergbau mit einer Ener- lich für den Bergbau. schen im Schein der Früh- giesteuer sichern. Beim„Energie-Konsens-Gespräch“im März Dort unten in der Grube lingssonne. „Ich bin mit Herz will die Koalition ein Tauschgeschäft mit der SPD: Ein Ja zur von Blumenthal/Haard ist ei- und Seele Bergmann“, sagt Kernenergie gegen Geld für die Kumpel. niges von diesem Geld ge- der Fahrsteiger. blieben. Der Kohle-Hobel

112 DER SPIEGEL 8/1995 Werbeseite

Werbeseite .

WIRTSCHAFT TACK / DAS FOTOARCHIV FOTOS: J. Bergleute Peter und Martin Paluszkiewicz, Kumpel der Zeche Blumenthal/Haard: „Wir verdienen das Geld für unser Land“

der Firma Westfalia aus Lünen kostet Tiefer als irgendwo auf der Welt gra- chern, den Stahl- und Stromkonzernen, mit Zubehör schon mal 20 Millionen ben hier Kumpel nach Kohle, immer bisher weitgehend erstattet. Dafür neh- Mark. Der Schacht Haltern 1/2, der zu weiter in Richtung Norden den abwärts men sie den Gruben an Ruhr und Saar der Sohle hinunterführt, war 60 Millio- geneigten Karbon-Schichten hinterher. rund 50 Millionen Tonnen jährlich ab – nen Mark teuer. Allein eine Mark geht Das Flöz von Paluszkiewicz liegt schon auf Kosten der Stromkunden und Steu- bei jeder geförderten Tonne drauf für an einem „heißen Betriebspunkt“ mit 28 erzahler. ein aufwendiges Seilsystem mit zehn Grad Temperatur. Peter und Martin Paluszkiewicz ken- Rollen. Damit konnte der Förderturm Bis unter Lüdinghausen im Münster- nen die Rechnung. Über 100 000 Mark so niedrig wie die Bäume des umliegen- land, auf etwa 1300 Meter Abteufe, wol- pro Arbeitsplatz machen die jährlichen den Landschaftsschutzgebiets gehalten len die Bergleute aus Recklinghausen Subventionen für den Bergbau aus. Das werden. Die 1984 eingeweihte Schacht- noch vordringen, dann ist auch mit mo- ist weit mehr als das Doppelte der rund anlage, finden die Kumpel, sieht nun dernster Technik für Stollenbau und Be- 3000 Mark, die Martin netto im Monat aus „wie eine Molkerei“. lüftung Schluß. Jeder Meter Tiefe kostet verdient. Aber er ärgert sich, wenn die Bis zu 33 Kilometer fährt die Kohle extra, weil der Gebirgsdruck von oben Politiker den Bergmann nun als Almo- unter Tage in langen Elektro-Zügen mit immer stärker wird und die Temperatu- senempfänger hinstellen. „Wir verdie- 40-Tonnen-Waggons vom Abbaubetrieb ren im Gestein alle 100 Meter um drei nen das Geld für unser Land“, sagt der Haltern bis zum Schacht Herne. Erst Grad steigen. Bergbau-Elektriker, „damit wir auch in dort im alten Kohlerevier darf sie ans Die ungünstigen Lagerstätten, der 20 oder 30 Jahren noch einen warmen Licht, weil in dem Erholungsgebiet am Umweltschutz und die Sicherheitsaufla- Ofen haben oder das Licht einschalten Nordrand des Ruhrpotts der Lärm und gen machen Kohle aus deutschen Lan- können.“ Dreck gestört hätten. 191 Kilometer Ei- den zu einem teuren Stoff. 291 Mark pro Sein Vater kann die Geschichte mit senbahn laufen durch die Stollen, und Tonne bekommt die Ruhrkohle AG in der billigen Importkohle aus Südafrika, am unterirdischen Knotenpunkt Reck- Deutschland, 70 Mark kostet die Tonne Kolumbien oder Rußland schon gar linghausen Süd ist mehr Verkehr als am auf dem Weltmarkt. Die Differenz wird nicht mehr hören. „Wenn die unsere Si- Essener Hauptbahnhof. den großen deutschen Kohleverbrau- cherheitsbestimmungen hätten, würden da auch die Kosten enorm raufgehen“, Geförderte Kohle Entwicklung der Steinkohle in Deutschland sagt Peter Paluszkie- wicz, „die könnten kei- 180 300 12 ne Tonne mehr expor- tieren.“ 160 250 10 Als er 1959 mit 13 140 inlandpreise Jahren bei „General in Mark je Tonne Blumenthal“ anfing, 120 200 8 war das alles überhaupt 100 kein Thema. In der Ze- beschäftigte weltmarktpreise 150 subventionen 6 chensiedlung Grullbad in Tausend 80 in Mark je Tonne in Milliarden Mark in Recklinghausen ging eigentlich jeder in den 60 100 4 Bergbau, davon ver- 40 sprach sich auch der Pe- 50 2 ter einen sicheren Ar- 20 beitsplatz bis zur Rente 0 0 0 und „viel Schotter“. 1984 86 88 90 92 94 1984 86 88 90 92 94 1984 86 88 90 92 94 Mit 16 durfte der Berg- lehrling zum erstenmal unter Tage fahren.

114 DER SPIEGEL 8/1995 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite .

WIRTSCHAFT

Über die Techniker-Schule und einen jetzt nur noch auf die Nachtschicht, nen Mark auf den Beinen ist. Noch läßt Betriebsführerlehrgang schaffte er den von 24 Uhr bis halb acht. Dann trinkt die Solidarität mit der Kohle zu wün- Aufstieg. Seit 1987 ist er Fahrsteiger, er Kaffee mit seiner Frau, bringt die schen übrig, aus den Läden kommt kein oder, wie das jetzt heißt, Abteilungslei- vierjährige Nadine in den Kindergar- Zulauf zu dem Zug. ter, verantwortlich für 120 Kumpel. ten, schläft den Tag über und macht Die Stadt ist irgendwo in der Grauzo- Viel früher, als er je dachte, gibt Pa- drei- oder viermal die Woche von ne zwischen altem Pütt und neuen Pro- luszkiewicz nun seinen geliebten Beruf sechs bis neun Uhr abends seinen Mei- duktionen. Recklinghausen möchte „die auf. Nächstes Jahr, mit nur 50, geht er ster-Lehrgang. etwas andere Ruhrgebietsstadt“ wer- aus freien Stücken „in die Anpassung“, Am Montag vergangener Woche hat den, wünscht sich die Wirtschaftsförde- den vorgezogenen Ruhestand. Das ist Martin Paluszkiewicz einen anderen rung, mit Ruhr-Kultur nicht nur zur sein persönlicher Beitrag für die Zu- wichtigen Termin. Vater, Frau und Festspielzeit. Von den 45 000 Beschäf- kunft der deutschen Steinkohle. Der Kind kommen mit. Einige tausend tigten in der Stadt sind nur noch 3700 di- Pensionär in den besten Jahren will da- Kumpel von Blumenthal/Haard mar- rekt im Bergbau tätig. Doch neue Indu- mit einem Jüngeren helfen, den Arbeits- schieren mit Fackeln vom alten Ze- strie-Betriebe gibt es kaum, die Ersatz- platz zu behalten. Dabei hat er auch an chengebäude durch Recklinghausen arbeitsplätze für Kumpel bieten könn- seinen eigenen Sohn gedacht. vor das Rathaus. Die alte Zunft zeigt ten. Das produzierende Gewerbe hängt noch immer direkt und indirekt zur Hälfte am Bergbau. „Erst stirbt der Bergbau, dann stirbt die Stadt“, ruft Bürgermeister Jochen Welt von der Rathaustreppe den de- monstrierenden Kumpeln entgegen. Die Bergleute sehen unerschüttert im strö- menden Regen ihrem Untergang entge- gen. Disziplin gilt hier noch was, die ab- gebrannten Fackeln sind nach Anwei- sung der IG Bergbau und Energie an- ständig „rechts an der Bordsteinkante“ abgelegt. Der Sozialdemokrat Welt kennt seine Kumpel. „Die Ruhr brennt noch nicht“, sagt er, „aber sie glüht.“ Unten an der Rathaustreppe hört Fa- milie Paluszkiewicz den Kundgebungs- rednern zu, auch die kleine Nadine er- trägt die Reden ohne Quengeln. „Ein- mal vom Schacht zum Rathaus reicht nicht“, sagt Peter Paluszkiewicz, „wir müssen weiter nach Bonn.“ Der Marsch auf Bonn ist schon in Pla-

J. TACK / DAS FOTOARCHIV nung, der 27. April terminiert. Die Gewerkschafter Walther, Bürgermeister Welt: Kohle ist eine nationale Aufgabe Hundertschaften von Kumpeln aus allen Ecken des Reviers, sogar von Bielefeld Martin ist klein, aber nicht so stäm- noch einmal ihre Macht und Herrlich- und Münster, werden organisiert, der mig wie sein Vater, „man so’n Würm- keit. Weihbischof ist um seinen Segen gebe- chen“, sagt der über den Sohn. Obwohl Ein Oldtimer-Traktor Hanomag zieht ten worden. Doch noch hoffen die fried- er überhaupt nicht wie ein Bergmann eine Lore, wie sie längst nicht mehr in fertigen Gewerkschafter von der IG aussieht, hat es ihn irgendwie unter Ta- Betrieb ist. Holzfeuer lodert darin. Das Bergbau und Energie auf Bundeskanz- ge gezogen. Nach der Elektrikerlehre brennt demonstrativ besser als heimi- ler Helmut Kohl, den sie für einen war es zuerst „der große Schock“ für ihn sche Kohle. Freund der Kohle halten. Er soll die da unten, mit dem Dreck und der Hitze Dumpf tönt Trommelschlag wie beim „wildgewordene Meute“ der Liberalen und dem langweiligen Strippenziehen. Zug der Landsknechte, Kumpel schla- wieder einfangen, beschwört ihn der Inzwischen ist er für die Elektrik im gan- Recklinghäuser Bezirksleiter Hardy zen Abbaurevier zuständig und lobt wie Walther, 54, vom Rednerpult: „Herr alle guten Kumpel die Zuverlässigkeit „Die Steinkohle Kanzler, lassen Sie sich nicht in die Koh- und die Kameradschaft da unten. In sei- kämpft ums lenlüge drängen.“ nem Wohnzimmer hat er ein ganzes Re- Der erfahrene Bergmannsführer hat gal voller Bergmannsfiguren und Gru- nackte Überleben“ schon viele Kämpfe um die Kohle hinter benlampen gesammelt, an den Wänden sich. Immer wieder wurden Fördermen- hängen Zeichnungen von Kumpeln in gen scheppernd auf ihre Kohleschau- gen reduziert, Personal abgebaut. Aber Tracht mit Helm und Federbusch. feln. Knappen in schwarzer Uniform die Subventionen blieben, weil Kohle „Ich versuche, zuversichtlich zu sein“, tragen die Traditionsfahne. Eingestickt „eine nationale Aufgabe zur Energiesi- sagt Martin, „und hoffe, daß alles ist der alte Spruch „In der Erde Schoß cherung ist“. Nun zweifeln die Kohle- bleibt, wie es ist.“ Aber wenn alles an- erwartet uns ein herbes Los“. feinde in der Politik selbst diesen Glau- ders wird als bisher ? Der kilometerlange Zug macht extra benssatz an. Wenn der aber fällt, das Vor einem Jahr fing er eine Ausbil- einen Bogen durch die Fußgängerstra- wissen die Gewerkschafter, brechen alle dung zum Elektromeister an, „um ein ßen der Altstadt mit ihren Läden und Stützen des deutschen Bergbaus ein. anderes Standbein zu haben“. Vielleicht über den Marktplatz mit dem Kaufhaus „Die Steinkohle kämpft ums nackte hat er damit später eine Chance in einer Karstadt. Die Händler sollen wissen, Überleben“, diesen Satz hat Walther Elektrofirma in Unna, wo seine Schwie- daß hier ein Einkaufsvolumen aus dem schon oft vom Podium geschleudert. gereltern wohnen. Deswegen geht er Recklinghäuser Bergbau von 337 Millio- Diesmal könnte er wirklich stimmen. Y

118 DER SPIEGEL 8/1995 Werbeseite

Werbeseite .

GESELLSCHAFT

Verkehr SCHLACHTFELD STRASSE Gestreßt von Staus auf Autobahnen und in Innenstädten, genervt vom aggressiven Fahrstil anderer reagieren Autofahrer ihre Wut ab. Sie beleidigen, spucken und prügeln, und manchmal töten sie sogar. Experten beklagen die zunehmende Kampfstimmung und fordern eine neue Verkehrspolitik.

uf der Berliner Stadtauto- bahn ging Rentner Ludwig AK., 63, in seinem Opel die Galle über. Vor ihm fuhr der Lehrer Claus S. strikt Tempo 80. Heftige Gesten und Lichthupen- blitze konnten den Pädagogen nicht verscheuchen. Nachdem K. den Schleicher endlich überholt, geschnitten und mehrfach auf Tempo 20 heruntergebremst hat- te, stoppten beide an der Aus- fahrt Hohenzollerndamm. S. stieg aus und lief auf den Opel zu. Dort blickte er in die Mündung einer Pistole: „Verschwinde, sonst knall’ ich dich ab!“ Am Zebrastreifen vor dem Hamburger U-Bahnhof Billstedt gerieten ein Taxifahrer und ein Fußgänger aneinander. Weil er sich vom Taxi genötigt fühlte, trat der Passant gegen die Wagentür. Der Fahrer revanchierte sich mit einem zum Totschläger umgerü- steten Kabelende: Er drosch auf den Fußgänger ein, bis der zu- sammenbrach. Resultat: Gehirn- erschütterung, Nasenbeinbruch, Augenhöhlenfraktur und Verlust des rechten Auges. Bei Northeim auf der A 7 Han- nover–Kassel lieferten sich zwei Wagen eine ruppige Verfolgungs- jagd, dann steuerten die Fahrer die Standspur an. Die Insassen der Pkw, eine türkische Familie und eine deutsche, schlugen auf- einander ein, die Türken zogen Messer. Ein 14jähriger Deutscher verblutete neben der Leitplanke, Vater und Großvater wurden mit Stichen in die Leber schwer ver- letzt. Ob auf der Autobahn oder mit- ten in der Stadt: Gewalt zwischen Fußgängern und Motorradfah- rern, Rad- und Autofahrern ge- hört zum Alltag im Straßenver- kehr, wobei 98 Prozent der An- griffe von den Vierrad-Piloten

ausgehen. Die Krise der automo- R. JANKE / ARGUS-FOTOARCHIV bilen Gesellschaft offenbart sich Verkehrsstau (bei Unna): „Der deutsche Autofahrer gibt keinen Meter Boden preis“

120 DER SPIEGEL 8/1995 .

nicht länger allein durch Unfalltote und der los. „Aus nichtigem Anlaß“, resü- tiert der Kasseler Verkehrsprofessor kilometerlange Staus, Ozonalarm und miert Hartmut Rodloff, Erster Haupt- Helmut Holzapfel. Der Berliner Ver- Waldsterben, sondern auch durch die kommissar der Berliner Verkehrsunfall- kehrsrichter Peter Fahlenkamp sieht gar Aggression der Verkehrsteilnehmer. bereitschaft, „wird gepöbelt, gehauen, den „Todeskampf um die Parklücke“ Raser drängeln Langsamfahrer in die gestochen, gespuckt, mit Keulen ge- entbrannt. Die PS-Narren, so scheint es, Leitplanken, wild gewordene PS-Fanati- schlagen oder Säure ins Fahrzeug ge- proben den Bürgerkrieg. ker jagen Fußgänger, Brummis schub- sprüht und sogar mit Pistolen geschos- Die bundesweite Infratest-Umfrage sen Kleinwagen in den Graben, selbster- sen.“ Auf deutschen Straßen, so der „Auto Aktuell ’94“ belegt den Trend: nannte Verkehrspädagogen bremsen TÜV Rheinland in einer Studie, habe 60 Prozent der befragten Autofahrer sportive Fahrer aus. In den Akten der sich „eine ausgesprochene Kampfstim- empfinden sich als Opfer von Aggressio- Verkehrspolizei sind sie alle versam- mung“ breitgemacht. nen, 10 Prozent wurden massiv be- melt: Watschenmänner und Vogelzei- Und die wächst, wie Polizei und Ju- schimpft. Nach Erhebungen des TÜV ger, durchgedrehte Rallye-Helden und stiz, Automobilklubs und Autokritiker Bayern steigt die Zahl der Nötigungen prügelnde Parkplatzsucher. übereinstimmend feststellen, seit An- auf der Straße – Drängeln, Schneiden, Immer öfter gehen sie mit Äxten, Wa- fang der neunziger Jahre. „Die Lage Ausbremsen – jährlich um acht Prozent. genhebern und Warnkreuzen aufeinan- verschärft sich von Tag zu Tag“, konsta- Umfragen des TÜV Rheinland ergaben: ARGUS-FOTOARCHIV ACTION PRESS T. RAUPACH / Videoüberwachung auf der Autobahn, Unfallhilfe: „Da ist dann der Doktor Mabuse gefahren“ DPA Massenkarambolage (bei Aurach): „Am liebsten eine Kanone auf dem Dach, um Stauverursacher abzuschießen“

DER SPIEGEL 8/1995 121 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite GESELLSCHAFT

Drei von vier Fahrern, die sich an Tem- Schon widmen sich Länderkommis- 10 000 Mark Geldbuße bezahlte er ohne pobegrenzungen halten, fühlen sich sionen dem Thema, nehmen sich Sozio- zu murren. „ständig oder meistens“ bedroht. logen, Psychologen und Pädagogen der Im Schwarzwald rastete „Liebling Jeder dritte Unfall in Deutschland Täter an. Auf 106 Seiten haben vier Kreuzberg“ Manfred Krug aus. Der geht auf Rücksichtslosigkeit und Rase- Gutachter für die Berliner „Kommission Mercedes-Fahrer zog einen VW-Fahrer, rei zurück, jeder zehnte wird von zur Verhinderung und Bekämpfung von der ihn beim Überholen behindert hat- Dränglern verursacht. Zwar werden Gewalt“ eine opulente Expertise zur te, „sanft wie ein Junge“ an den Ohren bundesweit nur gut 3000 Fälle von Ver- Aggression im Straßenverkehr vorge- und beschimpfte ihn „Arschloch“ und kehrs-Rowdytum pro Jahr aktenkundig. legt*. Erschreckendster Detailbefund: „Schwein“. Die Strafe für Beleidigung Doch das Dunkelfeld ist riesig – nur ein Beim Kampf um Parkplatz und „Pole und Nötigung: 25 000 Mark. Bruchteil der Opfer erstattet Anzeige: Position“ an der Ampel häufen sich „die Der gemeine Verkehrsrowdy ist meist „Die meisten Aggressionen bleiben un- Auseinandersetzungen mit Waffen“. ein Bürger mit tadellosem Führungs- entdeckt“, sagt ADAC-Experte Peter In der Berliner Friedrichstraße griff zeugnis. Der typische Täter ist männlich Seemann. ein Autofahrer, der sich „behindert“ und 30 bis 50 Jahre alt, er ist beruflich Selbst das Automobilisten-Zentralor- fühlte, an der Ampel zur Notfallaxt im eher erfolgreich, aber nicht unbedingt gan Auto Motor Sport berichtet Grausi- Kofferraum. Mit dem Werkzeug spalte- der hellste. Die Frauen holen auf. ges von der Straßenfront: „In Lübeck te er die Fahrertür eines Kontrahenten Auf der Straße haben Ossis die Wes- schoß der Fahrer eines Rollstuhls auf und hackte den Seitenspiegel ab. In ei- sis inzwischen überholt. Das Allensba- den eines Golfs. In der Pfalz fielen zwei nem anderen Fall verpaßte ein Autofah- cher Zeitgeist-Lexikon attestiert ihnen

50 zunehmende Verkehrsdichte 27% Streß auf den Straßen 45 Umfrage zum Verhalten im Verkehr Welches sind die mehr Streß 21 % Ursachen für 14% 40 aggressives Fahren? schnellere Autos Prognose für weniger Zeit 12% Welches aggressive 2010: 48,8* 35 Fahrverhalten anderer Autofahrer Imponiergehabe 4% betrifft Sie am meisten? 30 Pkw-Bestand zunehmende 3% Rücksichtslosigkeit in Deutschland dichtes Auffahren 51,0% 25 in Millionen Werbung/TV 0,5% Reindrängeln 17,5% ab 1991 inklusive 20 neue Bundesländer rechts Überholen 12,1% Quelle: 15 Fahren auf der 9,8% falschen Spur Universität Würzburg 10 Ausscheren 3,1% Einsatz der 5 2,8% * Shell-Prognose Lichthupe 0 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010

Familien mit Harke und Säbel überein- rer einem feindlichen Gefährt per Base- einen Hang zu schnellerem Fahren. ander her. In Münsingen hackte ein ballschläger ein neues Design. Richter Fahlenkamp stellt zudem eine Oberstleutnant einem Fabrikdirektor Immer öfter landen durchgeknallte Überrepräsentanz bei Alkoholfahrten zwei Finger ab“ – und immer ging es um Täter im Gerichtssaal. Der Berliner und Verkehrsrandale fest. einen Parkplatz. Verkehrsrichter Peter Fahlenkamp Nach 14 Jahren an der Rüpelfront „High noon“ herrscht vor allem in der schiebt, wie die meisten seiner Kolle- kennt Fahlenkamp die Dramaturgie Metropole Berlin. Seit dem Mauerfall gen, regelmäßig Überstunden, auf sei- des Straßenkampfes. Erster Akt: Be- sind die Straßen verstopft. Dauerstau, nem Schreibtisch stapeln sich die Akten. leidigung. Stinkefinger und Vogelzei- die Gewalt eskaliert. Die Akteure kommen aus allen sozialen gen gehören seit Jahren zum Standard- In einer bundesweit einmaligen Spezi- Schichten. Brave Beamte und unbe- repertoire. Es folgt, meist lautstark, alstatistik haben die Ordnungshüter der scholtene Hausfrauen, ehrbare Akade- die verbale Attacke: „Armleuchter“, Hauptstadt jetzt die „Aggressionstaten miker und einfache Arbeiter – im Ver- „Arschloch“, „Wichser“, „Nutte“, im Straßenverkehr“ erfaßt. Anfang kehrsstreß verwandeln sich sonst lamm- „Fotze“, „Arschficker“ – in der Gosse März will der Berliner Verkehrssenator fromme Bürger in Streetfighter. fühlt sich der gestreßte Autofahrer hei- Herwig Haase die Rambo-Kartei der Prominente machen keine Ausnah- misch. Öffentlichkeit präsentieren. me: „Kaiser“ Franz Beckenbauer be- Zweiter Akt: Imponiergehabe. Die Die Bilanz fällt düster aus. Die Zahl kam die rote Karte gezeigt, als er einen Gegner verlassen den Fahrgastraum. der Körperverletzungen durch Prügelei- Verkehrsrivalen grob foulte. Das Fuß- Adern schwellen, die Puls-Frequenz en unter Verkehrsteilnehmern verdrei- ball-Vorbild fühlte sich auf der Haupt- steigt. „Der deutsche Autofahrer“, fachte sich 1994 gegenüber dem Vorjahr straße von Garmisch-Partenkirchen sagt Fahlenkamp, „gibt keinen Meter auf 220 Delikte; die angezeigten Nöti- beim Einfädeln behindert und verpaßte Boden preis. Wie der deutsche Sol- gungen auf Berlins Straßen erhöhten seinem österreichischen Widersacher ei- dat.“ sich um 20 Prozent auf 530 Fälle; die ne Watschn durchs offene Fenster. Die Dritter Akt: Fresse einschlagen. Die Zahl der massiven Sachbeschädigungen, Fäuste fliegen, körpernaher Verkehrs- etwa das Eintreten von Fahrzeugtüren * Peitsch, Dietmar u. a.: „Gewalt im Straßenver- unterricht. kehr“. Hrsg. Unabhängige Kommission zur Verhin- oder das Zertrümmern von Scheiben, derung und Bekämpfung von Gewalt in Berlin, Vierter Akt: Läuterung und Ge- stieg von 45 auf 120. Berlin 1994; 8 Mark. dächtnisverlust. Vor Gericht verwan-

DER SPIEGEL 8/1995 125 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite . M. STECHE / VISUM Internationale Automobilausstellung in Frankfurt (1993): „Phallische und anale Komponenten“ „Rollender Uterus“ Der Philosoph Peter Sloterdijk über Menschen und Autos

SPIEGEL: Warum ist der moderne Auto: das primitiv-aggressive Kon- Sloterdijk: Im Augenblick sehe ich Mensch so besessen vom Auto? kurrenzverhalten, das Aufprotzen dazu keine Chance. Seit 20 Jahren Sloterdijk: Das ist ein obsessives und das Überholen, bei dem der an- führen wir eine ökologische Debat- Verhältnis: Mensch und Fahrzeug dere, der langsamere, fast wie beim te, und das Automobil steht immer bilden eine Einheit, in der das Fahr- Stuhlgang, zum abgestoßenen Ex- noch strahlend da. Es hat sich zeug die Rolle des besseren Ichs krement gemacht wird. ästhetisch und technologisch explo- übernehmen kann. Es ist das schnel- SPIEGEL: Dann wäre der Katalysator siv entwickelt. Das spricht dafür, lere, das kinetisch mächtigere gleichsam die Windel der analen daß wir es beim Auto mit einer ar- Selbst, das sich im Automobil dar- Lust? chetypischen Gewalt zu tun haben, stellt. Ich sehe die Einheit von Sloterdijk: Der Katalysator bringt ei- die völlig immun gegen Aufklärung Mensch und Fahrzeug schon bei Pla- ne Form der Reinlichkeitserziehung ist. to vorgebildet. Überhaupt in allen am automobilen Selbst mit sich. SPIEGEL: Und wohin steuert das Kulturen, die das Rad, den Wagen, Lauter dunkle Motive, die beim zivi- aufklärungsresistente Auto? die Reiterei entdeckt und das ken- lisierten Menschen blitzschnell auf- Sloterdijk: Es ist auf der Fahrt ins taurische Motiv entwickelt haben: brechen, wenn er am Steuer sitzt. Im Nirgendwo, auf der Fahrt in die Der Mensch mit seiner kleinen Kraft Auto werden eben Stadien von der Fahrt. Autos sind in gewisser reitet auf einer größeren animali- allmählichen Rückführung des er- Hinsicht Zirkusfahrzeuge, Vehikel schen Energie, verwandelt zum Hy- wachsenen Ego bis zur der Aussichtslosigkeit. bridwesen mit menschlicher Front intrauterinen Molluske Aber einer begeisterten und Pferdeunterleib. durchlaufen. Und auf Aussichtslosigkeit. Man SPIEGEL: Verkehrsplaner, die dem jeder Ebene der psychi- genießt die Fahrt als Auto nur Transportaufgaben zu- schen Entwicklung bil- Fahrt und kann so die schreiben, haben demnach sein We- det das Automobil Frage nach den Zielen sen nicht begriffen? Spannungen und Ag- außer Kraft setzen. Au- Sloterdijk: Alle Theorien, die das gressionen in der Ich- tofahren ist eine Welt- Auto als Transportmittel charakteri- Werdung ab. religion. Die ganze

sieren, vergessen eine ganze Dimen- SPIEGEL: Wenn es viel- ACTION PRESS Moderne ist wie eine sion: Das Automobil ist ebensosehr leicht etwas schlichter Philosoph Sloterdijk Arena, eine in sich Rausch- wie Regressionsmittel. Es ginge: Weshalb sind geschlossene Strecke. ist ein rollender Uterus, der sich von denn so viele Menschen hinter dem Deshalb sind auch die Formel-1- seinem biologischen Vorbild da- Steuer so aggressiv? Rennen so wichtig. Sie sind der durch vorteilhaft unterscheidet, daß Sloterdijk: Im Verkehr geraten re- moderne Beleg für das, was der er mit Selbstbeweglichkeit und Au- gredierte Ichs aneinander, die sich Apostel Paulus schrieb: Im Kreise tonomiegefühlen verbunden ist. sehr oft angesprochen fühlen von laufen die Gottlosen. Die Kreis- Und es geht noch tiefer: Das Auto ,King-of-the-Road-Mythen‘ und fahrten der Neuzeit dementieren ist eine um den einzelnen Fahrer kindlichen Königsprojektionen am die elementare Hoffnung, das epo- herumgebaute platonische Höhle Steuer. Gerade ichschwache Men- chale Motiv der Neuzeit: den Vor- mit dem Vorzug, daß man in ihr schen neigen stark dazu, solche My- rang der Hinfahrt, den Aufbruch nicht angeschmiedet sitzt, sondern then aggressiv auszuleben und das ins Offene. Wenn Technik voll- daß die fahrende Privathöhle Aus- Automobil zu ihrem Ausdrucksmit- endete Beherrschung von Bewe- blicke auf eine vorbeigleitende Welt tel zu machen. gungsabläufen ist, so bleibt uns ei- gewährt. Daneben gibt es auch phal- SPIEGEL: Das Auto muß also entzau- gentlich nur noch eine progressive lische und anale Komponenten am bert werden. Wie kann das gelingen? Funktion: Bremsen.

130 DER SPIEGEL 8/1995 GESELLSCHAFT deln sich Straßenwölfe in Lämmer, die sich an nichts erinnern oder absurde Aus- flüchte vorbringen. Schuld sind immer die anderen: „Ich habe den Herrn nur mal geschubst.“ „Ich hatte mein Auto verliehen.“ Fahlen- kamp: „Da ist dann der Doktor Mabuse gefahren.“ In Fällen eklatanter Raserei war in der Regel die Gattin auf direktem Weg in den Kreißsaal. Für das Gros der Obszönitäten und Verbalinjurien stehen die Tarife fest. Das bei Frauen beliebte Herausstrecken der Zunge kostet 5 Tagessätze, Stinkefinger 10 bis 15, Vogelzeigen ebensoviel. „Arschloch“ und ähnliches sühnen die Richter mit mindestens 10 Tagessätzen, sexuell gefärbte Beleidigungen („Flach- wichser“, „Nutte“) sind mit 15 Einheiten Für fünf Meter Vorsprung riskieren Erwachsene ihr Leben etwas kostspieliger. Beim Spucken zählt das subjektive Ekelempfinden: Ohne Er- brechen des Opfers 10 bis 15 Tagessätze, mit Erbrechen 30 bis 40. Doch ausgeflippte Autofahrer sitzen nicht nur auf der Anklagebank. Ver- kehrspsychologen betten sie auf die Couch –und loten die Abgründe ihrer be- tonierten Seelen aus. Zentrale Frage: Woher rührt die Aggression am Lenk- rad? Psychofahnder stoßen auf immer die- selbe Ursache: Dichtestreß. Seit 1965 hat sich der Pkw-Bestand in Gesamtdeutsch- land auf 40 Millionen Fahrzeuge fast ver- vierfacht, Tendenz: weiter steigend. Im Osten explodierte die Zahl der Autos im selben Zeitraum von 640 000 auf 6,4 Millionen. Die Zäsur kam mit der Einheit. Je mehr Autos fahren, desto gründli- cher blockieren siesich gegenseitig, desto häufiger kommt es zu Konfliktsituatio- nen, desto größer wird die Bereitschaft, um den Verkehrsraum zu kämpfen. Für fünf Meter asphaltierten Vorsprungs „riskieren erwachsene Menschen ihr Le- ben“, gruselt sich der Aachener Psycho- analytiker Micha Hilgers*. „Am liebsten hätte icheine Kanone auf dem Dach, um die Lkw und Stauverursa- cher abzuschießen“, ließ ein Autofahrer im Tiefeninterview des TÜV Rheinland seinen Gewaltphantasien freien Lauf. Anonymität und Entpersonifizierung im Verkehr begünstigen, so meinen Ver- kehrswissenschaftler, solche James- Bond-Projektionen. Wer keinen Kon- taktzumGegenüber habe undAutosstatt Menschen sehe, begreife andere Ver-

* Micha Hilgers: „Total abgefahren – Psychoana- lyse des Autofahrens“. Herder Verlag, Freiburg, Basel, Wien; 140 Seiten; 14,80 Mark.

DER SPIEGEL 8/1995 131 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite .

GESELLSCHAFT

i Männer brauchen das Auto alsPotenz- Drängler werden unmittelbar mit ihrem beweis. Die Auto-Accessoires vom vi- Vergehen konfrontiert: Sie müssen die brierenden Schaltknüppel bis zum eigene Rabaukenfahrt auf dem Monitor Playboy-Hasen am Heck dienen der ansehen. Da gehen mitunter selbst hart- Darstellung von Manneskraft. gesottenen Kamikaze-Fahrern die Au- Der Aggressionsforscher Herbert Selg gen über – Verkehrserziehung der neun- sieht noch einen weiteren zentralen ziger Jahre. Grund für die Brutalisierung des Ver- Auch die deutschen Fahrlehrer sinnen kehrs: „Aggression führt zum Erfolg.“ auf Abhilfe. Der Aggressionsabbau auf Der Bamberger versteht Aggression vor- der Straße soll als neuer Schwerpunkt im wiegend als erlerntes Verhalten, das häu- Curriculum der Fahrschülerausbildung fig belohnt werde, streitbares Verhalten verankert werden. Schon bieten pfiffige dadurch verstärke. Psychologen Therapien für auffällig ge- „Tag für Tag“, moniert der Wissen- wordene Angreifer an. Christiane Jä- schaftler, „werden im Fernsehen falsche nisch, Berliner Geschäftsführerin der Vorbilder gezeigt, aggressive Modelle als „Gesellschaft für sicheres Fahren“, läßt vielversprechende Strategien vorge- Asphaltrowdys heikle Verkehrssituatio- führt.“ Highway-Cops rasen mit quiet- nen durchspielen und friedliche Verhal- schenden Reifen hinter Gangstern her tensmuster einüben. Behandlungsdauer: und katapultieren sie vom Asphalt. 10 bis 20 Wochen, Kosten: rund 2000 Crash-Kids finden Erfolg und Anerken- Mark. nung in mörderischen Straßenrennen. Ähnlich teuer könnten Rücksichtslo- „Wenn wir die Negativ-Modelle nicht sigkeit und Gewalt künftig manch be- entzaubern“, glaubt Selg, „werden wir tuchten Delinquenten kommen, wenn es nichts ausrichten.“ nach dem Kölner Regierungspräsidenten Wie lassen sich Aggression und Wut Franz-Josef Antwerpes geht. Für ihn ist hinter der Windschutzscheibe abbauen? Deutschland ein Bußgeld-„Billigland“.

PRESS Helfen Lockerungsübungen und Selbst- „Mit rein pädagogischen Maßnahmen“, kontroll-Training, wie sie Selg emp- glaubt der Autokritiker, „sind die Wahn- fiehlt? Sollen Autofahrer, wie der Berli- sinnigen im Verkehr nicht zu bändigen.“

FOTOS: ACTION Antwerpes will die Strafen drastisch er- Lkw-Fahrer Krug (r.), Filmpartner höhen und sie vom Vermögen des Täters „Sanft wie ein Junge“ abhängig machen. Doch Video-Observation, Verhaltens- kehrsteilnehmer nur als amorphe Masse therapie und Strafverschärfung sind und neige schnell zu Aggressionen. kaum geeignet, den Kampf um Verkehrs- „Wie im Krieg“, sagt Psychologe Hil- raum zu beenden. Notwendig wäre, da gers, „ist die Gewalthemmung nur aus- sind sich Verkehrsplaner mit Psycholo- zuschalten, wenn der Feind keine gen, Kommunalpolitikern und Grünen menschlichen Eigenschaften besitzt, einig, eine andere Politik, deren oberstes sondern ein Tier, ein Unmensch oder Ziel Verkehrsvermeidung ist. Man kön- eben ein Ding ist – ein Auto.“ ne die „schrankenlose Marktwirtschaft Seit elf Jahren durchleuchtet der Aa- im Verkehr auf Dauer nicht blindwütig chener Analytiker Auto und Fahrer. und mit hemmungsloser Liberalität wei- Seine Erkenntnisse: tertreiben“, argumentiert Antwerpes. i Mit dem Besteigen des Autos infanti- Zukunftsprognosen prophezeien schon lisieren sich Wahrnehmung, Affekt jetzt für das Jahr 2010 einen Anstieg des und Verhalten, der Fahrer kehrt zu Pkw-Bestandes auf fast 50 Millionen Ka- kindlich-aggressiven Größengefühlen rossen. und Allmachtsphantasien zurück. Neben der Verkehrspolitik müßte sich i Mit Rammstangen, Breitreifen und auch das Objekt der Begierde wandeln. Four-wheel-drive rüsten die Lenker Verkehrsteilnehmer Beckenbauer „Wir müssen das Auto entideologisie- ihre Vehikel zur Festung auf Rädern Watschn durchs offene Fenster ren“, sagt Burkhard Reinartz, Sprecher hoch, erfüllen sich den Traum von der des ökologisch orientierten Verkehrs- uneinnehmbaren Ritterburg. Gleich- ner Verkehrskommissar Hartmut Rod- club Deutschland, „der Glorienschein zeitig drohen sie mit ihrem martiali- loff spottet, „das gute, alte Beißholz“ zur muß weg.“ Sein Verein fordert die „Au- schen Design unbewußt anderen Ver- Frustrationsabfuhr mitführen? to-Diät“ FDH (fahr die Hälfte). kehrsteilnehmern: Komm mir bloß Rodloffs Kollegen versuchen, Rasern Da muß er wohl noch ein Weilchen nicht in die Quere! und Rowdys mit modernen, computerge- warten. Verkehrsminister Matthias i Das Verrücktspielen findet im Stra- stützten Video-Fahrzeugen beizukom- Wissmann (CDU) sieht keinen Hand- ßenverkehr seinen legitimierten Rah- men. In Stuttgart beispielsweise obser- lungsbedarf, von zunehmendem Dichte- men. Gesetzesverletzungen werden vieren vier Kameras in Zivilfahrzeugen streß, eskalierender Aggression und Ge- augenzwinkernd als Kavaliersdelikte die Innenstadt, weitere drei patrouillie- walt auf deutschen Straßen will er nichts angesehen, Parkverbote und Ge- ren auf 400 Kilometern Autobahn im wissen. schwindigkeitsbegrenzungen gelten Großraum der Schwabenmetropole. Zwar sei jeder Verkehrs-Rowdy, der als unverbindliche Empfehlungen. Bei den neuesten Video-Modellen sitzt Kinder und ältere Menschen gefährdet, i Ein einzelner Drängler wirkt anstek- das Miniobjektiv – kleiner als ein Pfennig einer zuviel. Aber, so Wissmanns Credo, kend wie ein Virus. Die von ihm Infi- – unsichtbar auf dem Armaturenbrett. „die deutschen Autofahrer haben gute zierten fahren schneller und versu- Geschwindigkeit und Abstandsverhalten Manieren, Kavaliere der Straße prägen chen gegenzuhalten. lassen sich so präzise ermitteln. Ertappte das Bild“. Y

134 DER SPIEGEL 8/1995 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite . MEDIEN

ARD ker Studio geschlossen, um Magazine geblich so betrübt sein, daß eine halbe Million Mark jähr- er seinen Job schon abgeben Schlechte Zeit lich für den strapazierten Checkliste wollte, berichten Mitarbeiter Etat loszueisen. Doch Au- der Redaktion. für Privilegien ßenminister Klaus Kinkel für Lebensgenuß Die Arbeitsgruppe Personal (FDP) kritisierte daraufhin, Mit Checklisten plagt der Fernsehen der ARD will diverse Ver- das ZDF berichte zuwenig Heinrich Bauer Verlag die günstigungen für Mitarbei- von den Sitzungen der Ver- Journalisten seines geplanten Elektronischer ter des öffentlich-rechtlichen einten Nationen – Korre- Wochenmagazins (Arbeitsti- Rundfunks opfern. In einem tel: „Feuer“), das im April Pornoshop internen Papier mit tarif- herauskommen soll. In einer Der Geschäftsmann Offer politischen „Eckpunkten“ schriftlichen Order wurden Assis hat in New York einen schlägt das Gremium zum sie zum Beispiel angewiesen, weltweit einmaligen Porno- Beispiel vor, Sonderregeln vor dem Schreiben gründlich sender hingestellt, der über zum Ausgleich für „er- zu prüfen, ob das Thema Satellit und innerhalb des schwerte Dienste“ zu strei- „jeden Menschen wirklich“ Pay-TV-Pakets eines ande- chen. Zudem sollen, so die interessiere („Betrifft ihn? ren Anbieters zu empfangen Arbeitsgruppe, Beschäftigte Bewegt ihn? Berührt ihn?“). ist: In seinem Cupid Network bei den öffentlich-rechtlichen Jeder Artikel soll zudem Television kann die Kund- Sendern nicht mehr, wie bis- nach zwei weiteren Schlüssel- schaft rund um die Uhr Sex- her, bereits nach 10, sondern fragen mit 14 Unterpunkten Zubehör per Teleshopping erst nach 15 Jahren unkünd- bewertet werden, zum Bei- ordern, dazwischen sind kur- bar werden – und zwar nur, spiel ob die gelieferte Infor- ze Softpornos zu sehen. Mit wenn sie älter als 40 Jahre mation „aktionsfä- sind. Anders als bislang soll- hig“ sei und Zielen

ten für „programmgestalten- BOSTELMANN / ARGUM wie „intakter Part- de MitarbeiterInnen“ auch Stolte nerschaft“, „Erho- zeitlich befristete Arbeitsver- lung und Entspan- träge möglich sein – „im In- spondenten aus Washington nung“, „intensivem teresse der Erhaltung der Be- mußten jedesmal einfliegen. Lebensgenuß“ oder wegungsfähigkeit der Rund- Auf Befragen habe Kinkel „beruflichem Auf- funkanstalten“. Das Papier dies auch ZDF-Verantwortli- stieg“ diene. Nach wird von ARD-Verantwortli- chen gesagt, bestätigt ein etlichen Tests von chen als Beispiel dafür ge- Sprecher des Auswärtigen Marktforschern soll

nannt, daß auch bei den Per- Amtes, zudem habe er auf das Blatt, das aus T. DALLAL sonalvertretungen schon seit die gestiegene Bedeutung der den großen Blöcken Cupid Network Television einiger Zeit über notwendige deutschen Außenpolitik hin- Politik, Wirtschaft Reformen nachgedacht wer- gewiesen. Die Schelte des Li- und Wissen besteht, mit Ru- dem elektronischen Sex-Ver- de. beralen, dessen Partei das briken wie „Fit für zu Hause“ sandhaus will Assis im zwei- Zweite in der Vergangenheit oder „Fit für den Job“ auf ten Jahr rund 60 Millionen Korrespondenten schon mal privatisieren woll- Service getrimmt werden. Dollar umsetzen und nach te, zeigte Wirkung. Von Ein Fernsehprogramm, das Europa sowie Japan und Kinkel Herbst dieses Jahres an be- zunächst als eigener Heftteil Zentralamerika expandieren. richten die Mainzelmänn- gedacht war, will Verlagslei- Die Idee zur Gründung des mischt mit chen wieder aus Manhattan. ter Will Blok nun als Supple- Senders sei ihm, berichtet Das ZDF hat am falschen Studioleiter Udo van Kam- ment beilegen lassen oder gar Assis, gekommen, als er ei- Platz gespart. Im Frühjahr pen, bisher Korrespondent in nicht bringen. Über die neu- nen TV-Beitrag über die 1993 erst hatte Intendant Brüssel, soll die Uno und en Entwicklungen soll Chef- deutsche Sexhelferin Beate Dieter Stolte das New Yor- Kinkel in Szene setzen. redakteur Hartmut Volz an- Uhse gesehen habe.

HINTERGRUND

TV-Umfrage Was die Deutschen über das Fernsehen denken Angaben in Prozent Zufriedenheit mit den Programmen Verschlüsselte Fernsehprogramme zufrieden oder sehr zufrieden „Wären Sie bereit, rund 50 Mark 88 monatlich für den Empfang ver- schlüsselt gesendeter Fernseh- 9 5656 5959 4747 4949 4343 programme auszugeben?” ja nein

PRO SIEBEN Weg mit der ARD? 1010 66 1111 77 66 10 6 11 7 6 „Was halten Sie von ei- ner Abschaffung der 67 unzufrieden oder sehr unzufrieden ARD als nationalem 19 Fernsehprogramm?“ 13

An 100 fehlende Prozent: keine oder andere Angaben; Emnid-Umfrage für den SPIEGEL, 1500 Befragte, 23. bis 25. Januar 1995 gut schlecht egal

DER SPIEGEL 8/1995 137 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite . STILLS / STUDIO X SYGMA STILLS / STUDIO X Moderne Körperkult-Ikonen Crawford, Schiffer, Campbell: Griechische Skulpturen besaufen sich nicht mit Axl Rose

Idole Gips in den Köpfen SPIEGEL-Autor Claudius Seidl über Macht und Größenwahn der Topmodels

urz nach dem Frühstück kam die Leinwand; sie spielen Schneider, Jour- holfen, aber in den stärkeren Passagen Götterdämmerung. Die Unsterbli- nalisten, Fotografen, und sie schauen spricht das Model offensichtlich selbst: Kchen hatten ihre Croissants noch auf zu den Superstars der Gegenwart: „Alle nehmen nur mein Äußeres wahr, nicht verdaut, da wurde es dunkel und Droben, auf den Laufstegen, stolzieren meine professionelle Hülle. Könnten sie still im Saal, bloß ein paar Blitzlichter Christy, Amber, Naomi und Tatjana doch nur sehen, wie es in mir aussieht!“ flackerten – und als, nach wenigen Mi- und gucken auf die Schauspieler herab. In Claudia Schiffer, so meint zumin- nuten, die Katastrophe vorüber war, da Und als, zum Höhepunkt des Films, dest Claudia Schiffer, steckt gar ein Uni- ahnten die alten Kinogötter, daß ihre die Mädchen nichts mehr als ihre nackte versalgenie: Man begegnet ihr zur Zeit Zeit zu Ende ging. Haut präsentieren, da ist der Macht- im Kino, wo sie, in dem Kinderfilm Kim Basinger wurde vom Irrsinn ge- wechsel endgültig vollzogen: Die Mo- „Richie Rich“, ihre erste, winzige Rolle packt. Lauren Bacall schwieg fassungs- dels haben die Filmstars entthront. Sie spielt. Man wird sie bald auch im Fern- los. Sophia Loren legte Trauerkleidung taugen nicht bloß als hochbezahlte Klei- sehen erleben, als Gastgeberin einer an. Marcello Mastroianni streckte sich derständer – sie sind längst Stars aus ei- Talk-Show, in welcher sie etwa mit Bill auf einer Parkbank aus, und wenn ihn genem Recht. Clinton übers amerikanische Versiche- keiner aufgeweckt hat, dann liegt er Lange genug hat man ihnen Roben rungswesen plaudern will. Und nicht dort noch immer. Die neuen Göttinnen und Kostüme umgehängt. Nun tragen einmal im Buchladen ist man vor ihr si- aber lächelten und zeigten sich nackt sie an ihrer eigenen Wichtigkeit, Bedeu- cher; auch Claudia Schiffer hat gedich- den Verehrern. tung, Prominenz – und mancher Skepti- tet. Ihr erstes Buch heißt „Claudia Im vergangenen Frühjahr, bei den ker hat den Verdacht: Das ist zu schwer Schiffer – ganz privat“*. Modeschauen von Paris, hat Robert für junge Frauen wie Naomi Campbell Es war die Amerikanerin Lauren Altman den Film „Preˆt-a`-porter“ ge- oder Claudia Schiffer, die nicht bloß Hutton, die als erste sich selbst zum dreht; demnächst kommt das Werk in physische Leichtgewichte sind. Markenartikel machte: 1973 erkämpfte die Kinos – und wenngleich es manchen Die Mädchen sehen das ganz anders, sie sich einen Exklusiv-Vertrag mit der Kritikern als mißlungen gilt, so berichtet und als Beleg für ihren Reichtum an Ta- Kosmetikfirma Revlon; sie wurde allein es doch deutlicher als jeder Film zuvor lent hat Naomi Campbell im vergange- schon dadurch bekannt, daß ihr Lächeln vom Umsturz im Reich der Idole. nen Herbst einen Roman vorgelegt, der aus allen Zeitschriften strahlte. Drunten im Parkett nämlich hocken, heißt „Swan“ und handelt von den letz- nur schwach beleuchtet und nicht beson- ten Dingen, von Liebe, Haß und Mode; * „Claudia Schiffer – ganz privat“. Heyne Verlag, ders gut in Form, die alten Stars der eine Lektorin hat beim Formulieren ge- München; 96 Seiten; 29,80 Mark.

140 DER SPIEGEL 8/1995 Werbeseite

Werbeseite GESELLSCHAFT

Es war der Modeschöpfer Karl Lager- ein Vorteil, die ganze Welt kennenzu- feld, der in den frühen Achtzigern be- lernen. Doch wenn man einmal um die fand, daß seine Kleider zwangsläufig ih- ganze Welt gekommen ist, fängt es an, re Trägerinnen in Stars verwandelten, langweilig zu werden.“ Und anderer- weshalb er seine Mannequins der An- seits verkündet sie: „Ich sehe mich als onymität entriß. So machte er erst Ine`s eine von den Botschafterinnen, die auf de la Fressange berühmt. Dann holte er der ganzen Welt Deutschland vertre- sich Claudia Schiffer. ten.“ Hat ihr keiner gesagt, daß es di- Als der Boom dann richtig losging, in plomatisches Korps heißt, nicht diplo- den späten Achtzigern; als Claudia matischer Körper? Es ist etwa ein Jahr Schiffer zum erstenmal die Heldin einer her, da küßte Heiko Engelkes, ARD- Titelstory war, da mußten die Redak- Korrespondent in Paris, vor laufenden teure trotzdem den Glamour des Kinos Kameras die Wange Claudia Schiffers. borgen, um die Entscheidung zu be- Die Diplomaten rätseln immer noch gründen: „Die deutsche Bardot“ hieß über die Botschaft dieser Geste. die Titelzeile von Tempo, doch im Text Seit Jahren schon bezweifeln die De- stand nichts von Filmen oder Affären signer, daß das Verhältnis von Preis und oder einem Leben, das nur entfernt an Leistung noch im Gleichgewicht sei – Brigitte Bardot erinnert hätte. Da stand und vor kurzem erst beschimpfte Paco bloß, wie schön dieses Mädchen sei, und Rabanne die Starmodels als Kälber; daß es dafür bald berühmt werden wür- Emanuel Ungaro nannte sie Vampire, de. und Gianni Versace hängt seine Krea- Es war die große Zeit von Jean tionen lieber um die Schultern unver- Baudrillard; es waren die Jahre, da viele brauchter Mädchen. Was aber das Sy- fürchteten, daß die Wirklichkeit sich stem nicht wirklich in Frage stellt, son- zwischen den Simulationen des Fernse- dern dazu führt, daß Kristen McMena- hens und der Computer verlieren wür- my und Shalom Harlow bald ebenso de, und der Körperkult war nur die kon- große Gagen verlangen können. sequente Reaktion: Mochte sonst auch das Authentische schwinden, die Schöp- fung verkümmern – die Beine von Clau- Leere Gefäße dia Schiffer, die Brüste von Cindy Craw- für die Sehnsucht ford, die Augen von Linda Evangelista, die waren echt und zeugten von der des Publikums Größe der Natur. Und zugleich waren diese Körper so Auch die Zeitschriften, die ihre Auf- perfekt und trafen so genau den Ge- lage mit Titelbildern von Claudia, schmack der Zeit, als wäre ein Bildhau- Nadja, Amber machen, spüren das Un- er am Werk gewesen – und genau so behagen und versuchen, ihm damit zu wurden sie auch wahrgenommen. begegnen, daß sie ständig neue Artikel So wie einst Hegel in den Statuen des drucken, in denen steht, wie hart und antiken Griechenlands den materiali- anspruchsvoll der Job eines Models sei. sierten Weltgeist fand und im schönen Wenn das nicht hilft, muß ein Reporter Körper das „sinnliche Scheinen der nacherzählen, wie die Mädchen wurden, Idee“, so fand das Publikum in Cindy was sie heute sind – was aber immer ein Crawford den materialisierten Zeitgeist. Gefühl von De´ja`-vu provoziert, weil es Und Schönheit, so erklärte Andy War- im Grunde nur zwei Geschichten zu re- hol, sei selbst schon eine Form von In- ferieren gibt. telligenz. Was im Kopf des Models vor Die eine Story, deren Heldinnen die sich ging, war nicht wichtiger als die Fra- eigenwilligeren Models wie Lauren Hut- ge, ob das Innere einer Skulptur aus ton oder Tatjana Patitz sind, handelt da- Marmor oder Gips bestand. von, wie ein Mädchen in die große Stadt Der Unterschied zwischen griechi- zieht, wie es von Agentur zu Agentur schen Skulpturen und modernen Models irrt und wegen gewisser Abweichungen liegt vor allem darin, daß Statuen keine von der gängigen Schönheitsnorm nir- Interviews gewähren, daß sie sich nicht gends aufgenommen wird; wie es dann mit Richard Gere verheiraten oder mit eine Weile die Boheme bewohnt, bis die Axl Rose besaufen – und seitdem die Agenturen eines Tages die Abweichung Mädchen sich berufen fühlen, ihre Mei- zur neuen Norm erklären. nungen zu allen Fragen der menschli- Die andere Story, die auf die meisten chen Existenz zu veröffentlichen, seit- Models paßt, ist noch einfacher: Mäd- dem haben sie ein seriöses Legitimati- chen wird entdeckt und muß fortan auf onsproblem. Hamburger, Schokolade und Kartoffel- Es ist nicht bloß der Neid auf ihre gi- chips verzichten und kriegt Einladungen gantischen Gagen (der Jahresverdienst zu schicken Partys, die es aber – wegen von Cindy Crawford wird auf 10 Millio- des Schönheitsschlafs – verlassen muß, nen Mark geschätzt). Es ist das blanke bevor die Leute in Stimmung kommen. und begründete Entsetzen, das auf- Das ist kaum eine Biographie und kommt, wenn Claudia Schiffer einer- reicht erst recht nicht für eine Legende, seits Sätze wie diese sagt: „Es ist sicher wie Stars sie früher hatten: Wer nichts

142 DER SPIEGEL 8/1995 Werbeseite

Werbeseite ..

GESELLSCHAFT

alsschönwar, bekam imalten Hollywood Das war anders bei den klassischen Publikums eine Form zu geben, einen allenfalls die Statistenrollen. Von Film- Kinostars, die mit ihrem ganzen Leben Rhythmus, eine Melodie und das dazu stars aber wurde mehr verlangt, und für ihre Rollen einstehen mußten: Es passende Leben, das zeigt schon ein Frauen wie Barbara Stanwyck oder Lau- mag schon sein, daß die junge Norma Blick ins Sterberegister des Pop: von El- ren Bacall hatten außer der Karriere auch Jean Baker als Person nicht interessan- vis Presley bis Kurt Cobain. ein Leben. ter war als etwa Amber Valetta. Aber Die größte Gefahr, die Claudia Schif- Neuerdings wird selbst in Modeblät- dann verwandelte sie sich vollständig in fer droht, besteht darin, daß sie sich an tern die These lanciert, daß es gerade die- Marilyn Monroe – und jener überle- ihrer Buttermilch verschluckt oder von se Leere sei, die Geschichtslosigkeit der bensgroße Star, der seinem Publikum den Paparazzi beim Baden geknipst Models, die sie zu perfekten Gefäßen für einen Lebensentwurf bot und zugleich wird. Und ein Mädchen wie Kate Moss die Sehnsucht ihres Publikums mache. die Projektionsfläche für dessen Träu- würde niemals behaupten, daß sich aus Und vermutlich ist es kein Widerspruch, me, Wünsche und Gelüste, dieser Film- ihrer Lebensführung der Entwurf für wenn immer mehr Frauen am Claudia- star war das Meisterwerk der besten Au- Millionen andere ableiten ließe. Nach Schiffer-Syndrom erkranken und ihren toren und Regisseure, Schauspiellehrer, herkömmlichen Maßstäben taugen die Therapeuten klagen, wie heftig sie dar- Kostümbildner und Kameraleute. Models nicht zu Stars – und wenn sie es unter litten, daß sie nicht die Figur eines Die Stars der Popmusik, die seit den trotzdem geworden sind, dann haben Models hätten: Die Damen möchten mit späten Fünfzigern mit den Kinogöttern sich die Fans gewandelt. Claudia Schiffer den Körper tauschen konkurrierten, mußten ihre Legenden Wahrscheinlich braucht das Publikum und vielleicht auch den Kontostand – schon selbst erfinden – und wie gefähr- keine Regisseure und Autoren mehr, aber gewiß nicht ihre Gedanken. lich die Arbeit ist, den Projektionen des die seine Träume entwerfen. Womög- lich kann es auch auf Popstars ver- zichten, weil es den Kampf, den einst Sid Vicious oder David Bo- wie führten, längst selbst bestehen will. Anscheinend haben sich die Bewohner der Postmoderne schon soweit emanzipiert, daß die von der Bewußtseinsindustrie nichts anderes verlangen als ein paar hübsche, leere Hüllen, die sie mit eigenen Illusionen füllen. Kate Moss jedenfalls konnte wenig dafür, daß ihre schlanke, kindliche Figur in den USA zum Gegenstand heftiger Kontrover- sen wurde: Die Anzeige von Cal- vin Klein, in welcher Kate Moss völlig nackt auf einem Sofa liegt, sei Anstachelung zum Kindersex und daher moralisch inkorrekt,

PRESS schrieb ein besorgter Kolumnist im U.S. News & World Report.In anderen Zeitschriften wurde sehr

FOTOS: ACTION ernsthaft die Frage erörtert, ob „Preˆt-a`-porter“-Darsteller Mastroianni, Loren Miss Moss’ Magerkeit bei jungen Mädchen zu Bulimie führen kön- ne. Was das Model selbst meinte, interessierte keinen, und im Grun- de sind den Illustrierten-Lesern auch die Ansichten und Haltungen von Claudia Schiffer oder Amber Valetta völlig egal: Die Models sind nicht die Heldinnen des öf- fentlichen Gesprächs und der kol- lektiven Träume, sie sind nur de- ren Schauplatz und Verstärker – in der fortgeschrittenen Medienge- sellschaft haben sich endlich auch die Stars in Medien verwandelt. Man nutzt sie zur Kommunikation und Unterhaltung, und insofern zeigen die Mädchen in „Preˆt-a`- porter“ keineswegs ihre nackte Haut: Sie führen die Benutzer- oberfläche vor. In einem Medium aber stört

STILLS / INTER-TOPICS nichts so sehr wie ein Nebenge- Kinostar Monroe, Topmodel Moss räusch. Auch wenn es aus dem Machtwechsel vollzogen Mund des Models kommt. Y Werbeseite

Werbeseite .

AUSLAND PANORAMA

Gabun Polen Jagd Krach im auf Fremde Küchenkabinett Taxis fahren nicht mehr, in Präsident Lech Walesa ver- den Geschäften bedient nie- liert immer mehr Berater. mand die Kunden, auf Bohr- Nun will auch einer seiner türmen fehlen die Arbeiter. treuesten Anhänger, der Das ölreiche afrikanische Ga- Staatsminister Lech Falan- bun spürt die Folgen fremden- dysz, 53, zurücktreten. Der feindlicher Politik: Weil sie Rechtsprofessor, ein alter angeblich rund einer Million Solidarnos´c´-Kämpe, hat sich Einheimischen die Arbeits- mit eigenwilligen Verfas- plätze wegnehmen, hatte Prä- sungsauslegungen einen Na- sident Omar Bongo die Über- men gemacht, die stets im

prüfung der etwa 150 000 ille- AFP / DPA Sinne seines Herren ausfie- galen Gastarbeiter aus den Israelisches Militär len. Zuletzt lieferte der grau- Nachbarstaaten angeordnet; haarige „Jahrmarkts-Winkel- 55 000 mußten Gabun bereits Israel ten Gebieten des Westjor- advokat“ (Oppositionschef verlassen. Doch das Land mit danlandes und des Gazastrei- Bronisław Geremek) die juri- dem höchsten Pro-Kopf-Ein- Soldaten begehen fens. Ein Militärsprecher ver- stischen Argumente für kommen in Schwarzafrika ist sicherte, daß die hohe Selbst- Walesas Drohung, das demo- auf die Fremden angewiesen. Selbstmord mordrate in keinem Zusam- kratisch gewählte Parlament So stammen nur 50 von 2800 Im vergangenen Jahr sind menhang mit den Zuständen aufzulösen. Falandysz ist Taxifahrern in der Hauptstadt mehr israelische Soldaten in der Armee oder mit ihrem auch der Anstifter des Streits Libreville aus Gabun. Da vie- durch Selbstmord als durch Kampfauftrag stehe. Ledig- zwischen Walesa und der Re- le Zugewanderte in ihrem gewalttätige Auseinanderset- lich fünf Selbstmörder waren gierungskoalition über die Gastland geheiratet haben, zungen gestorben. 43 Solda- Berufssoldaten, die anderen Ernennung von Außen-, In- zerreißt die Ausweisung diese ten, darunter zwei junge gehörten zu den Wehrpflich- nen- und Verteidigungsmini- Familien. Zwar will die Re- Frauen, nahmen sich 1994 tigen, darunter auffallend ster. Aus einem in der Ver- gierung ihre Abschiebepolitik das Leben. 37 Soldaten star- viele jüdische Einwanderer fassung zugesicherten „Mit- noch einmal überprüfen, ben bei militärischen Einsät- aus Äthiopien, die sich häu- spracherecht“, leitete der doch Gabuns Armee macht zen im Südlibanon oder bei fig nur schwer an ihr neues Walesa-Intimus die Forde- weiterhin Jagd auf Auslän- Auseinandersetzungen mit Heimatland gewöhnen kön- rung ab, der Präsident müsse der. Palästinensern in den besetz- nen. die Ressortchefs selbst be-

China rende Ausmaße angenommen“. Wenn die KP die Geldent- wertung nicht inden Griff bekomme, „bricht eine wesentliche Stütze unserer Wirtschaftsreform weg“ –versteckter Hinweis Parteichef gesteht Fehler auf die immer häufigeren Streiks und Bauernaufstände. Der KP-Generalsekretär Jiang Zemin, 68, der nach dem Obwohl der designierte Deng-Nachfolger den Großteil des Ableben von Parteipatriarch Deng Xiaoping dessen Nach- Schreibens den Mißständen der Wirtschaft widmet, nennt er folge antreten soll, hat schon Ende vorigen Jahres seinen kein einziges Mal den Namen des zuständigen Vizepremiers politischen Offenbarungseid abgelegt. In einem geheimen und Reformers Zhu Rongji. Statt dessen deutet er an, daß Re- Rundschreiben an die 319 Mitglieder des Zentralkomitees gierungschef Li Peng sich den ökonomischen Aufgaben wid- gesteht Jiang ein, daß Peking die Kontrolle über Chinas men werde. Daß der die Wirtschaftsprobleme lösen könne, Wirtschaft entglitten ist, und warnt vor dramatischen Kon- glaubt allerdings auch Jiang nicht: „Uns fehlt noch das Wis- sequenzen. „Die soziale Lage unseres Landes wirft mehr sen, um eine moderne Marktwirtschaft zu steuern.“ und mehr Probleme auf“, heißt es in dem Papier, das dem SPIEGEL vorliegt. „Die Sicherheit in einigen Landesteilen ist so schlecht, daß bei den Volksmassen große Unzufrie- denheit entstanden ist.“ In vielen Wirtschaftsbereichen gebe es nur noch „unkon- trollierten Wildwuchs“, stellt Jiang fest. Während die Pro- vinzen und Staatsbetriebe Ressourcen verschwendeten und Steuern hinterzögen, verfüge die Zentralregierung nicht mehr über genügend Einkünfte, um ihre Aufgaben zu erfül- len. „Es ist nicht hinnehmbar, daß unsere Anweisungen nicht befolgt werden“, schimpft Jiang und bettelt um Fi- nanzhilfe bei den wohlhabenden Südprovinzen, die es ver- säumt hätten, „ihren Verteilungsaufgaben nachzukom- men“. Als größtes Problem nennt der Parteichef die „wu- chernde Inflation“, die „für weite Kreise der Bevölkerung die Grenze des Erträglichen überschritten hat“. Auf dem

Land, wo noch immer über 70 Prozent der 1,2 Milliarden J. H. DARCHINGER Chinesen leben, hätte die ungesunde Entwicklung „alarmie- Lebensmittelgeschäft in Peking

146 DER SPIEGEL 8/1995 .

stimmen können. Grund für die beabsichtigte Kündigung von Falandysz ist dessen Dauerstreit mit Walesas eng- stem Vertrauten, dem ehe- maligen Chauffeur Mieczy- sław Wachowski.

USA Hauptstadt vor der Pleite Die US-Bundeshauptstadt Washington steht vor dem Verlust ihrer Eigenständig- keit. Ein Haushaltsloch von 722 Millionen Dollar und das Zusammenbrechen kommu- naler Versorgungseinrichtun- DPA Kapitol in Washington

gen drohen die vor 21 Jahren eingeräumte Selbstverwal- tung zu beenden. Washing- ton würde dann wieder direkt vom Kongreß verwaltet. Der kürzlich erneut gewählte Bürgermeister Marion Barry macht seine Vorgängerin Sharon Pratt Kelley für das Finanzdebakel verantwort- lich, tatsächlich trug er selbst während früherer Amtszei- ten als Stadtoberhaupt er- heblich zur Aufblähung von Verwaltung und Haushalt bei; jetzt hält Barry die Selbstverwaltung nicht länger für realisierbar. Jüngstes An- zeichen für die dramatisch verschärfte Lage der Stadt war Mitte voriger Woche die Rückstufung ihrer Schuldver- schreibungen zu Hochrisiko- anleihen. Binnen Wochen könnte es allerdings noch schlimmer kommen – dann wird Washington mangels Bargeld nicht einmal mehr die laufenden Ausgaben be- zahlen können. AUSLAND

Straßenkampf in Grosny: „Wir rücken nicht ab, ehe die Armee die Dudajew-Hochburgen gewonnen hat“ AFP / DPA

Rußland „FLAMMEN DER REBELLION“ Umfragen zufolge vertrauen nicht einmal mehr zehn Prozent der Russen ihrem Präsidenten Boris Jelzin. Der räumte zwar „Menschenrechtsverletzungen“ in Tschetschenien ein, aber der Krieg geht trotz „großer Opfer“ durch Organisationsfehler weiter. Jelzins Kontrahent Dudajew hält ein Nachgeben für „völlig ausgeschlossen“.

lle waren froh, daß der Mann mit ler. Das Parlament hatte er vor seinem Menschenopfer in Tschetschenien – die dem gepflegten Silberhaar sicheren Feldzug gar nicht erst befragt. Seine As- er zu verantworten hat. Danach dauer- ASchritts zum Pult ging und seine Re- sistenten bemühen sich derzeit, mit ma- te es eine Dreiviertelstunde, bis er auf de mit fester Stimme verlas, ohne jede teriellen Zuwendungen (Posten, Woh- die noch nicht gelöschten „Flammen Schwankungen und Schwänke: Wenn es nungen, Wahlkampfgeld) Abgeordnete der bewaffneten Rebellion“ zu spre- darauf ankommt, ist Boris Jelzin, 64, im- zu sammeln für eine ihm ergebene Par- chen kam. mer noch präsent. lamentsfraktion namens „Stabilität“. Die letzte Chance, sich von der Tat Regierenden im Westen gilt der Denn vorigen Donnerstag mußte er – zu distanzieren, gar das Verbrechen zu Kreml-Herrscher weiterhin als Garant was zweimal verschoben worden war – bereuen, ließ er vorübergehen: Er ver- wider neue Gefahr aus dem Osten, trotz Rechenschaft geben, warum denn nicht kündete nicht den Abzug seiner Trup- oder auch wegen seines blutigen Koloni- mehr galt, was er vor einem Jahr gesagt pen, bot keine Verhandlungen mit dem alkriegs im Kaukasus: eben eine Ord- hatte: Bei inneren Konflikten sei ein Feind an, hielt fest an seinen Exekuto- nungsmacht. Einsatz der Armee „unzulässig“. ren, dem Geheimpolizeichef Sergej Ste- Daheim vertrauen ihm laut Umfragen Jelzin ließ erst einmal die Abgeordne- paschin, Polizeiminister Jerin und dem nur noch drei bissieben Prozent der Wäh- ten aufstehen, zum Gedenken an die Militärminister Pawel Gratschow, der

148 DER SPIEGEL 8/1995 .

die Rekruten „mit einem Lächeln auf Am Tag zuvor hatte sein den Lippen“ sterben läßt. Außenminister Andrej Ko- Jelzins Bericht zur Lage der Nation, syrew die russische Unter- im Marmorsaal des Kreml – ohne De- schrift unter ein Kooperati- batte –, war auch gar nicht so sehr an die onsabkommen mit der Nato 628 Deputierten von Staatsduma und angekündigt, die er im De- Föderationsrat gerichtet. Der Rapport zember überraschend ver- sollte, so ein Präsidentengehilfe, „die weigert hatte. Jelzin machte durch die Tschetschenien-Aktion ent- jetzt klar, daß der Westen standene Aufregung im In- und Ausland seine Kaukasus-Kampagne abkühlen“. nicht nur finanzieren, son- Der Krieg, der bisher umgerechnet dern auch noch Moskaus 1,8 Milliarden Mark gekostet hat, treibt Verständnis von europäi- die Inflation wieder an, auf monatlich scher Sicherheit gutheißen 17,8 Prozent im Januar; bei Lebensmit- soll: Gegen das „diktatori- teln beträgt die Preissteigerung gar über sche Regime“ des Tsche- 20 Prozent. tschenen-Präsidenten Der Internationale Währungsfonds Dschockar Dudajew, „ein hat Verhandlungen über einen Kredit Krebsgeschwür“, sei er zur von sechs Milliarden Dollar gestoppt, Gewaltanwendung ver- woraufhin Rußlands Wirtschaftsmini- pflichtet gewesen, damit ster mit Selbstverstümmelung drohte: der Bazillus „krimineller dem Abbruch jeglicher Sparpolitik. Die Macht“ nicht in andere Re- Europäische Union hat ein fast fertiges gionen Rußlands getragen Wirtschaftsabkommen eingefroren. Ei- werde. Organisationsfehler ner Delegation des Europaparlaments hätten allerdings „große verweigerte Moskau die Einreise-Visa. Opfer“ gefordert. Der Europarat beschloß, das Aufnah- Auch habe der militäri- meverfahren für den Kandidaten Ruß- sche Mißerfolg den patrioti- land auszusetzen. „Die Errichtung des schen Empfindungen der gemeinsamen Hauses Europa findet Russen einen „schmerzhaf- heutzutage ohne uns statt“, bemerkte ten Schlag“ versetzt – war sogar das Jelzin ergebene Moskauer das vielleicht der wahre Staatsfernsehen, „es hängt offenbar von Grund für Jelzins Krieg, unserer Politik ab, ob dies ein für alle hatte der Präsident zwecks komfortables Haus sein wird oder eine Popularitätsgewinn auf va- militärische Festung.“ terländische Aufwallungen Die osteuropäischen Staaten, beunru- gesetzt? higt von der Interventionslust ihres Immerhin schließt er – übermächtigen Nachbarn, drängen auf wenn er bei seinem Urteil raschen Beitritt zur Nato. Jelzin be- bleibt – eine künftige Koali- schwerte sich in seiner Rede über eine tion mit dem Rechtsradika- „voreilige Expansion des Blocks“ und len Wladimir Schirinowski empfahl etwas, was alle seine kommuni- aus: Die hergebrachte

stischen Amtsvorgänger schon vorge- „feste Immunität gegen- AP schlagen hatten: einen vagen „Sicher- über dem Faschismus“ sei Parlamentsredner Jelzin heitsmechanismus“ in Europa. bei den Russen schwächer „Schmerzhafter Schlag für patriotische Gefühle“ geworden, wo denn der Staatsanwalt bleibe? Der erste frei gewählte Präsident Rußlands hat beantragt, an der Juni- Runde der sieben führenden Staats- und Regierungschefs der Welt (G-7) in Halifax gleichberechtigt teilzunehmen. So versprach er nun, an Reformen, De- mokratie und Wahlterminen festzuhal- ten; auch wenn die Zügel angezogen werden müßten, werde die Grenze zu einem „Polizeiregime“ nicht überschrit- ten. Immerhin: Jelzins Geheimpolizei soll demnächst als „Bundessicherheits- dienst“ noch mehr Machtbefugnisse er- halten. Während die Staatsschützer in einer internen Studie behaupten, das ganze BLACK STAR Land werde durch westliche Agenten unterwandert, bot Rußlands Präsident

M. LINTON / weiteren Balsam für seine Förderer in Feuerpause in Grosny: „Der Bau Europas findet ohne uns statt“ Washington und Bonn. Öffentlich be-

DER SPIEGEL 8/1995 149 .

AUSLAND

stätigte er nun, was der Bürgerrechtler Sergej Kowaljow, den Kanzler Helmut Kohl in Bonn nicht empfangen wollte, aus Tschetschenien berichtet hatte: „Im „Nimm ihn mit, Mutter“ Verlauf der Kampfhandlungen wurden Menschenrechte verletzt.“ Deswegen Russische Frauen über die Rettung ihrer Angehörigen aus dem Krieg hatte Kriegsminister Gratschow den Dis- sidenten als „miese Ratte“ und „Verrä- ter“ beschimpft. Jelzin mußte seinem US-Kollegen Bill Clinton entgegenkommen, der ihn – un- ter dem Druck des republikanisch be- herrschten Kongresses – kurz vorher an- gerufen hatte, zum erstenmal seit Beginn des Krieges: Clinton äußerte „Beunruhi- gung über das Blutvergießen“ und riet zu einer politischen Konfliktlösung „gemäß internationalen Standards“. Selbst Jelzins getreuer Klaus Kinkel, Außenminister in Bonn, hatte gewarnt, Moskau könne „nicht darauf vertrauen“, daß der Westen das Verhalten Rußlands weiter tolerieren werde. Kinkel hatte so- gar Kowaljow die Hand gedrückt. Dessen Beobachter haben Listen mit den Namen von 25 000 Zivilisten, die in Jelzins schmutzigem Krieg umkamen. Damit nicht Kanonendonner den Kreml-Auftritt störte, flauten elf Stun- den vorher die Kämpfe ab, für ein paar

Tage: Die russischen Generäle durften AFP / DPA mit den Tschetschenen eine bis dahin von Russische Soldaten in Tschetschenien: „Wie Vieh behandelt“ Moskau stets verweigerte Waffenruhe vereinbaren. Danach würden die Kämp- nna Koroljowa, 52: Mein Sohn Igor schreiben, daß sie freiwillig zum Einsatz fe ausgeweitet, so ein hoher Offizier des Adiente als Infanterist im Truppenteil nach Grosny gehen. Mein Sohn und russischen Verteidigungsministeriums: Nr. 52 360 der Taman-Division. Ende sechs seiner Kameraden weigerten sich. „Wir rücken nicht ab, ehe die Armee Dezember erfuhr ich, daß er „auf Sie forderten, man solle sie zu ihrem nicht die Dudajew-Hochburgen Argun, Dienstreise“ sei. Truppenteil nach Twer zurückschicken. Gudermes und Schali eingenommen Wohin, ahnte ich schon. Zweimal Vergebens, die Kommandeure behan- hat.“ fragte ich per Telegramm in der Kaserne delten sie wie Vieh. Friedensverhandlungen hält Sicher- an – keine Antwort. Am 14. Januar fuhr heitschef Stepaschin ebenso wie der ich selbst in die Garnison nach Twer. Truppenkommandeur Lew Rochlin für Dort erfuhr ich die bittere Wahrheit: Jelzins Krieg Zeitverschwendung; Vizepremier Niko- Igor war in den Krieg gezogen, nach lai Jegorow – bis vor kurzem Jelzins Ket- Tschetschenien. kostete bisher nach offiziellen An- tenhund am Kaukasus –nennt Gespräche Am 18. Dezember, einem Sonntag, gaben über 1000 russische Solda- mit dem Feind eine „Gotteslästerung“: hatten sie ihn und seine Kameraden um ten das Leben. Um dem Frontdienst Mit dem „Massenmörder“ Dudajew dür- drei Uhr früh geweckt. Drei Stunden zu entfliehen, setzen sich viele Re- fe Rußland nicht reden. später saß seine Einheit im Flugzeug kruten aus den Einheiten ab – oft Der hatte die Kreml-Rede im Bunker nach Mosdok, dem Hauptquartier der mit Hilfe ihrer Mütter, die ihre erst am Fernsehen verfolgt. Seine Antwort russischen Armee am Kaukasus. Ich 17- oder 18jährigen Söhne auf eige- kam prompt: Nach dem russischen kaufte mir eine Eisenbahnfahrkarte und ne Faust im Kriegsgebiet suchen. „Genozid“ sei eine Rückkehr der Tsche- fuhr mit meiner Tochter Natascha hin- Das Komitee der Soldatenmütter tschenen-Republik in die Arme Ruß- terher. Doch von Mosdok aus hatten sie hat mehr als 3000 Deserteure regi- lands „völlig ausgeschlossen“. den Truppenteil bereits 100 Kilometer striert und bietet Rechtsschutz: Die Dudajew setzt auf Kriegsgegner in weiter nach Süden verlegt, nach Wladi- Militärstaatsanwaltschaft hat ge- Rußland. Vorigen Freitag machte sich im kawkas. gen 200 Soldaten Verfahren wegen sibirischen Nowosibirsk ein Sonderzug Der Weg dorthin war abenteuerlich. „unerlaubter Entfernung vom Trup- mit Soldatenmüttern auf den weiten Weg Es war ein Wunder, daß wir es doch ir- penteil“ eröffnet. Den Fahnenflüch- an die Front. Sie wollen ihre Söhne heim- gendwie schafften: Zuerst mit dem Bus, tigen drohen bis zu sieben Jahren holen und zum sofortigen Kriegsende dann nahmen uns Inguschen im Auto Haft. Weil es „keinerlei Rechts- aufrufen. mit. Mehrmals gerieten wir unter Be- grundlage für den Tschetschenien- Wird im Kaukasus weiter gekämpft, schuß, wir mußten uns in den Dreck krieg“ gebe, hat das Komitee von wenn sich im Mai das Ende des Krieges werfen, sahen, wie Flugzeuge ein Dorf Premier Tschernomyrdin die Einstel- zwischen Deutschland und der Sowjet- bombardierten. lung der Untersuchungen gefordert: union zum 50. Mal jährt? Egal – eine Ein- Igor war mit seiner Truppe in einem Dauere das Morden am Kaukasus ladung zu den Feiern in Moskau werde er Zeltlager in Wladikawkas unterge- weiter an, werde zur Frühjahrs-Ein- „mit Genugtuung“ annehmen, signali- bracht. Sie hatten den Jungs sämtliche berufung keine russische Mutter sierte Kanzler Kohl seinem Freund Jel- Papiere abgenommen und sie dann ge- mehr ihren Sohn herausrücken. zin, dem Friedensfürsten. zwungen, eine Erklärung zu unter-

150 DER SPIEGEL 8/1995 .

nach Wladimir geschickt. Dann hörten wir auch im Rundfunksender Majak von ihm. Andrej hatte bereits ein Jahr in der berühmten Kante- mir-Division gedient, als Pan- zerfahrer. Seinem Truppenteil hatten die Offiziere zuerst er- zählt, es gehe zur Arbeit aufs Land, in ein Gemüselager. Ei- ne vorsätzliche Täuschung: Der Einsatzort hieß Tsche- tschenien. In der Neujahrsnacht wurde die Einheit zum Sturm auf Grosny geschickt. Die Solda- ten kannten die Stadt über- haupt nicht, verschanzten sich im Straßenbahndepot. Dort wurden sie von Tschetschenen umzingelt und gefangenge- nommen. Ich absolvierte gerade meine Abschlußprüfungen an der Universität. Trotzdem fuhr ich

REUTER sofort los. Das Geld für die Soldatenmütter im Kaukasus*: „Unter Beschuß“ Fahrt hatten Nachbarn gesam- melt. Keine einfache Sache bei Ich hatte Glück: „Nimm ihn mit, Mut- uns in der Provinz, viele haben keine Ar- ter, nimm ihn mit“, sagte der dienstha- beit oder bekommen schon seit langem bende Fähnrich nur und hielt sich die keinen Lohn mehr. In Moskau besorgte Hände vors Gesicht, „rette wenigstens mir das Komitee der Soldatenmütter ein deinen, wenn du kannst.“ Der Rest des Flugticket in die dagestanische Haupt- Geldes reichte Gott sei Dank für die stadt Machatschkala. Rückreise nach Moskau. Wir gingen so- Von dort half mir Mohammed weiter, fort ins Komitee der Soldatenmütter ein einflußreicher Mann, wahrscheinlich und schrieben eine Erklärung an den ein Mafioso: Er sagte, daß er ganz Ma- Militärstaatsanwalt mit der Bitte, Igor chatschkala in die Tasche stecken könne. nicht als Deserteur zu verurteilen. Vor den Tschetschenen brauchte ich kei- Seitdem hält sich mein Sohn bei ne Angst zu haben, erklärte er mir, vor Freunden versteckt. Einmal war er un- den russischen Posten unterwegs aller- vorsichtig und ging auf die Straße. Un- dings schon. Doch alles ging glatt. Mo- sere Stadt ist klein. Ein Polizist erkannte hammed brachte mich in seinem Auto si- ihn. Er habe längst Befehl, ihn zu ver- cher bis nach Schali, der Basis der Tsche- haften, gab er Igor zu verstehen. Doch tschenen südlich von Grosny. bisher habe er das nicht getan – obwohl Meinen Bruder fand ich im Gefängnis er genau wisse, daß mein Sohn schon von Schali. Er hatte Glück mit den seit einer Woche zu Hause sei. „Die Tschetschenen gehabt. Sie hatten ihn Ampel steht auf gelb, sei nicht noch so nicht erschossen. Nur als eines Tages dreist, dich in der Öffentlichkeit zu zei- schwerverwundete und verstümmelte gen“, verwarnte er ihn. Tschetschenen aus russischer Gefangen- Seitdem wächst unsere Angst. Was schaft nach Schali gebracht wurden, ha- sollen wir machen? Koroljows gibt es in ben die Wachen Andrej und seine Kame- Rußland viele, aber in unserer Familie raden furchtbar geschlagen. Aus Rache. ist er der einzige. Er soll einen Beruf ler- Mein Bruder hat das weggesteckt. Er nen, heiraten, Kinder bekommen. Ich hat sich für die Seinen geschämt: So grau- bleibe dabei: Es ist richtig, daß wir ihn sam Verstümmelte wie diese Tschetsche- heimgeholt haben. Zwei seiner Kamera- nen hatte er noch nie gesehen, hat er mir den haben sie schon in Särgen nach später gestanden. Trotzdem haben sie Hause geschickt. mir Andrej herausgegeben. Die Tsche- tschenen sind ein stolzes, freiheitslieben- lga Jerofejewa, 20: Daß mein Bruder des Volk. Ich bin ihnen dankbar für die OAndrej in tschetschenische Gefan- Rettung meines Bruders. genschaft geraten ist, erfuhr unsere Fa- Nun ist Andrej bei Bekannten unter- milie nur durch Zufall. gekommen. Kommandantur und Polizei Ein Korrespondent der Obschtschaja wissen Bescheid, doch bislang haben sie gaseta hatte ihn in einem Bunker in ihn noch nicht gesucht. Mein Bruder hat- Grosny gesehen und einen Brief zu uns te nicht mehr lange zu dienen. Doch jetzt ist er psychisch krank, und eine seiner * In Nasran, Inguschien. Nieren ist kaputt. Y

DER SPIEGEL 8/1995 151 .

AUSLAND

Quetta und Peschawar neben Afghanistan den Worten Allahs offensicht- USBE- 0 200 KISTAN TADSCHIKISTAN lich auch die Handhabung von Kilometer Panzern, Raketenwerfern und TURKMENISTAN Schnellfeuerwaffen studiert Mullahs haben. Die mysteriösen Krieger sind Afghanen, die vor dem AFGHANISTAN PAKISTAN für Kabul zermürbenden Bruderkrieg der Mudschahidin ins Nach- Kabul Peschawar Herat Eine gut ausgebildete Kämpfer- barland Pakistan geflohen wa- Tscharasjab von den Taliban truppe frommer Koranstudenten ren. Getrieben von ihrer Missi- kontrollierte on, „die afghanische Nation Provinzen erzwingt die Wende im Bürgerkrieg. von allen korrupten Führern Kandahar zu befreien“, hatten sie im No- CHINA ine Woche lang hing der bärtige vember vergangenen Jahres IRAN Gotteskrieger am Geschützrohr ei- binnen 48 Stunden den paki- Quetta INDIEN Enes Panzers, aufgeknüpft von den stanischen Konvoi befreit und AFGHA- eigenen Glaubensbrüdern. Der Tote die Garnisonstadt Kandahar geplante transafghanische NISTAN war kein bedeutender Befehlshaber un- im Südosten des Landes einge- Handelsroute ter den Feudal- und Kriegsherren, die nommen. das Land am Hindukusch seit dem Ab- Es war das erstemal, daß die Taliban Regierungssitz mit Raketen beschießen zug der sowjetischen Besatzungstruppen als Krieger in Erscheinung traten. Seit- lassen; von seinem Hauptquartier in 1989 unter sich aufgeteilt haben. Er her haben sie in geradezu atemberau- Tscharasjab aus schnitt er der einstigen herrschte lediglich über einen Abschnitt bendem Tempo ein Drittel des Landes Millionenstadt Kabul die Versorgungs- jener Straße, die aus dem benachbarten unter ihre Kontrolle gebracht. Nach ei- wege ab. Pakistan in das zentralasiatische Turk- nem beispiellosen Siegeszug standen ih- Kampflos ergaben sich selbst jene menistan führt. re Kampfverbände Ende voriger Woche Mudschahidin den Taliban, die einst die Zum Verhängnis wurde dem kampf- vor den Toren der Hauptstadt Kabul. Rote Armee bezwangen; junge, ausge- erprobten Moslem eine liebgewonnene Den Taliban gelang, was die Truppen hungerte Gotteskrieger laufen in Scha- Gewohnheit: Er hatte mit seinen Ge- des dort belagerten Präsidenten Burha- ren über, seit die Koranschüler einen fährten einen pakistanischen Lkw-Kon- nuddin Rabbani in drei Jahren nicht ge- Kriegsherrn nach dem andern entwaff- voi an der Durchfahrt gehindert und ge- schafft hatten: Sie zwangen den mächti- nen. Seit dem Abzug der zermürbten plündert. gen Mudschahidinführer und ehemali- Sowjettruppen hat keine zentrale Macht Die Henker, die den Straßenräubern gen Premier Gulbuddin Hekmatjar zum mehr so weite Teile Afghanistans be- ein gnadenloses Ende bereiteten, waren Rückzug. Fast täglich hatte der einst herrscht. „Taliban“, fromme Koranschüler, die von den Geheimdiensten Pakistans und Die anfangs rund 800 Mann starke im pakistanischen Grenzgebiet zwischen der USA aufgerüstete Kriegsherr den Taliban-Truppe zählt inzwischen mehr als 25 000 Kämpfer. Wo immer ihre Verbände ein- marschieren, hören die Beutezüge auf, brennen die Opiumfelder, ver- schwinden die Frauen von den Straßen. „Afgha- nistan muß ein rein isla- mischer Staat werden“, sagt einer ihrer Anführer, „ein Staat, wo man Die- ben die Hände abschnei- det und ein nicht verhei- ratetes Paar auf der Stelle töten kann.“ Als Frauen in Kanda- har gegen eine Verord- nung protestierten, die selbst Verschleierten den Einkauf im Basar verbat, ließen sich die Korange- lehrten zu einer Kompro- mißlösung bewegen: Die Frauen dürfen die von Männern betriebenen Lä- den zwar nicht betreten, sich die Waren aber vor die Tür bringen lassen. Der rasche Vormarsch der frommen Krieger läßt

REUTER vermuten, daß ihr Feld- Bewaffnete Taliban beim Vormarsch auf die Hauptstadt: Schlagkraft bewiesen zug sorgfältig geplant und

152 DER SPIEGEL 8/1995 vorbereitet wurde. Wahrscheinlich ist, daß Pakistans Geheimdienst Isi mit Hilfe der Taliban einen neuen Vorstoß zur Befriedung des Nachbarlandes ver- sucht, nachdem der einstige Verbünde- te Hekmatjar sämtliche Vermittlungs- versuche der letzten Jahre hintertrie- ben hatte. Seit einigen Wochen hält sich der ehemalige Isi-Chef und Drahtzieher des heiligen Krieges gegen die ungläu- bigen Sowjets, General Hamid Gul, in Afghanistan auf. Von Gul ist überlie- fert, daß er eine besondere Schwäche für „islamische Soldaten mit Visionen“ hat. Die Ausschaltung der afghanischen Kriegsherren käme Islamabad mehr als gelegen: Erst im September vergange- nen Jahres erklärte die Regierung Be- nazir Bhuttos die Erschließung einer Handelsroute durch Afghanistan in Richtung Zentralasien zur außenpoliti- schen Priorität. Der Konvoi, bei dessen Befreiung die Taliban erstmals ihre Schlagkraft bewiesen, sollte auf Bhuttos ausdrück- lichen Wunsch den Handel mit der zentralasiatischen Republik Turkmeni- stan eröffnen. Seit Monaten liegen in deren Hauptstadt Aschkabad 180 000 Ballen Baumwolle abholbereit. Sollte der Deal nicht zustande kommen, wür- de Pakistan ein Geschäft in Millionen- höhe entgehen. Der Erfolg der Taliban hat den Be- wohnern Kabuls die erste Feuerpause seit mehr als einem Jahr gebracht; die Preise für Chili sanken binnen zwei Tagen um rund ein Drittel; die Stadt ist nicht länger von der Außenwelt ab- geschnitten. Verweigern die Taliban jedoch wei- terhin jede Zusammenarbeit mit der „korrupten Führung“ und den „unisla- mischen Mudschahidin“, werden auch die jüngsten Vermittlungsbemühungen der Uno wirkungslos bleiben: Danach soll Präsident Rabbani noch in dieser Woche zurücktreten und einem provi- sorischen Rat, bestehend aus Vertre- tern der Bürgerkriegsparteien und an- gesehenen Politikern, weichen. Die ra- schen Gebietsgewinne der strenggläu- bigen Rebellen hatten die Einigung zwischen den rivalisierenden Komman- danten beschleunigt. Mit der Vertreibung Hekmatjars aus dessen strategischer Schlüsselposition könnten strenge Mullahs im Kampf um Kabul erstmals die Oberhand über schießwütige Mudschahidin gewinnen. Weite Teile der Bevölkerung setzen ihre Hoffnungen auf den Vormarsch der Taliban. Nach über 15 Jahren Krieg wollen die Menschen Frieden, egal um welchen Preis. „Über theolo- gische Fragen“, sagt ein Student in Ka- bul, „können wir uns später noch Ge- danken machen.“ Y

DER SPIEGEL 8/1995 153 .

AUSLAND

Mexiko „Liebe Indios, kehrt zurück“ SPIEGEL-Reporter Carlos Widmann über Präsident Zedillos Feldzug gegen die Zapatisten

er altjüngferliche Zug, der die elegante Erscheinung Dvon Cuauhte´moc Ca´rdenas seit jeher beeinträchtigt, wird durch moralische Erregung nur noch vertieft. Die Leitfigur der mexikani- schen Linken hat ja auch einen zündenden Empörungsanlaß ge- funden: Der 61jährige Ca´rdenas glaubt zu wissen, wer vorletzte Woche die mexikanischen Mili- tärs in den Urwald von Chiapas kommandiert hat, damit die Truppen dort Jagd auf rebelli- sche Indios machen. „Dieser Be- fehl“, klagt der hagere Politiker mit belehrendem Zeigefinger, „kam direkt aus dem Weißen Haus.“ Cuauhte´moc Ca´rdenas, Füh- rer der Partei der Demokrati- schen Revolution, hat einen gro- ßen Namen und einen noch grö- ßeren Vornamen. Er ist der Sohn des populärsten Präsidenten, den

die seit 1929 regierende Partei AFP / DPA der Institutionalisierten Revolu- Verbündete Ca´rdenas (3. v. r.), Subcomandante Marcos: Schrille Anklage tion den Mexikanern je bescher- te: La´zaro Ca´rdenas (1934 bis 1940) hat Im August letzten Jahres indessen Von einer Auslöschung der Zapati- die Agrarreform vorangetrieben, die hatte der Sohn des Nationalhelden fast sten in Chiapas kann freilich keine Re- ausländischen Ölgesellschaften verstaat- alle Anziehungskraft verloren: In erst- de sein. Die mexikanischen Streitkräfte licht und sich wenigstens nicht schamlos mals relativ korrekt verlaufenen Wahlen haben gegen Ende vorletzter Woche bereichert. errang der damals 42jährige Salinas- nur eine Reihe von Dörfern und Bezir- Der Nationalist Ca´rdenas nannte sei- Zögling Ernesto Zedillo Ponce de Leo´n ken am Rande des Lakandonischen Ur- nen Sohn programmatisch Cuauhte´moc einen klaren Sieg, wogegen der farblose walds kampflos wieder eingenommen, – nach jenem Aztekenkaiser, der vor ei- Ca´rdenas mit seiner Linkspartei erst an die von den Guerrilleros seit über ei- nem halben Jahrtausend dem spani- dritter Stelle landete. In ihm war La´zaro nem Jahr als eigenes Territorium aus- schen Imperialisten Herna´n Corte´s he- nicht auferstanden. gegeben wurden – darunter auch ihr roisch Widerstand leistete. Cuauhte´mocs Vorwurf gegen Bill bisheriges Hauptquartier Guadalupe Schwer ist es nicht, unter den 20 Mil- Clinton nun, er habe – nach 13 Monaten Tepeyac. lionen Einwohnern im Großraum Mexi- eines prekären Waffenstillstands in Daß dieser Schlag auf Anordnung ko-Stadt mit schriller Anklage gegen Chiapas – dem unerfahrenen Präsiden- der Gringos geführt wurde, geht für Bill Clinton eine eingestimmte Men- ten Zedillo den Schlag gegen die Zapati- Cuauhte´moc und andere Antiimperiali- schenmenge zu begeistern. Nur sind die sten-Guerrilla aufgetragen, ist auf nichts sten schon aus einer Analyse der Chase Massen, die Ca´rdenas heute auf die Bei- als einer abenteuerlichen Spekulation Manhattan Bank hervor, die vor einem ne bringt, mit jenen seiner einstigen Tri- gegründet. Monat veröffentlicht wurde. Darin umphe nicht zu vergleichen: Ihr zufolge ist Mexikos Staatschef heißt es: „Obwohl Chiapas für Mexikos Nachdem er Mexikos ewige Staats- vom Weißen Haus geradezu erpreßt Stabilität keine fundamentale Bedro- partei zu Recht beschuldigt hatte, die worden. Clinton habe das von Washing- hung darstellt, sehen die Investoren das Ideale seines Vaters La´zaro verraten zu ton geschnürte Hilfspaket internationa- anders. Die Regierung wird die Zapati- haben, war es ihm vor sieben Jahren fast ler Kreditgarantien über 50 Milliarden sten ausschalten müssen, wenn sie zei- gelungen, deren Präsidentschaftskandi- Dollar an eine geheime Bedingung ge- gen will, daß sie die Kontrolle im Lan- daten Carlos Salinas de Gortari in offe- knüpft: Zedillo müsse umgehend die In- de ausübt.“ Diese Erkenntnis stammt ner Wahlschlacht zu besiegen. Nur ein dioguerrilla in Chiapas aus dem Weg zwar von einem Professor der Johns- peinlich massiver Wahlschwindel in letz- räumen, die Mexiko mit ihrem Aufstand Hopkins-Universität, doch auf dem ter Minute ermöglichte damals trotzdem vom Januar letzten Jahres bei Investo- Wege des Nachdenkens hätte das auch die Machtübernahme des wirtschaftsli- ren und Geldgebern in Verruf gebracht ein Erstsemester ermitteln können. Die beralen Reformers Salinas. hatte. Erregung darüber wirkt künstlich.

154 DER SPIEGEL 8/1995 .

Nichts spricht dafür, daß Bill Clinton die schmächtigen, äußerst nervösen sich in diesem Sinne geäußert hätte. Als Soldaten der mexikanischen Armee zu Ernesto Zedillo am Donnerstag vorletz- beobachten – halbe Kinder, meist ter Woche seine Militäraktion bekannt- selbst Indios, ausgerüstet mit Waffen gab, war das Echo in Washington alles von höchster Feuerkraft –, um zu ah- andere als enthusiastisch. Eher undiplo- nen, wie schnell eine Konfrontation matisch wies das State Department auf zwischen ihnen und den überwiegend den „ethnischen“ Charakter der Indio- minderjährigen Guerrilleros zu einem revolte von Chiapas hin – der von der Massaker führen kann. mexikanischen Regierung ja grundsätz- Das mexikanische Heer gilt in La- lich bestritten wird – und warnte Zedillo teinamerika als besonders schlecht aus- vor möglichen Menschenrechtsverlet- gebildet; an diesem Ruf gemessen, hat zungen seiner Militärs. es bisher keine so üble Figur gemacht. Schlagzeilen kündeten denn auch so- Um die Gemüter zu beruhigen, lassen gleich von schweren Übergriffen: Ein Offiziere in den Dörfern die Häuser Dutzend Todesopfer beim Vormarsch weißeln und Bäumchen pflanzen, es auf Guadalupe Tepeyac, Indiodörfer wird ein Sanitätsdienst geboten, alte unter Bombenhagel und Raketenbe- Männer werden gratis rasiert. schuß, ein „Genozid unter Frauen und „Zedillo kann die Guerrilla nicht Kindern“, wie es in einem Kommunique´ schlagen, denn sie verschwindet so- der Zapatisten hieß. Menschenrechts- gleich in der Tiefe des Urwalds, selbst gruppen leiteten diese Versionen mit von Hubschraubern nicht erreichbar“, Verstärkung weiter. Dramatisch be- erläutert ein europäischer Anthropolo- leuchtet von der eigenen Taschenlampe, ge in San Cristo´bal de Las Casas. gab eine maskierte „Majorin Ana Ma- „Doch die Regierung könnte die Zapa- rı´a“ in der Umgebung von San Cristo´bal tisten immerhin entzaubern. Bei ihrer vor herbeizitierten Reportern zusätzli- Vertreibung aus den Dörfern hat sich che Greuelberichte zu Protokoll. gezeigt, daß die Guerrilleros dort nicht nur Anhänger hat- ten.“ Auch die Enttar- nung des „Subcoman- dante Marcos“ dient (wenn die Angaben Zedillos denn zutref- fen) durchaus der Ent- zauberung. Daß der wortmächtige Mestize, der sich zum Sprecher der Indios aufschwang, der 37 Jahre alte Sohn eines reichen Möbel- händlers ist und vor mehr als einem Jahr-

F. HUNEZ / SIPA zehnt bei den Sandini- Präsident Zedillo: Guerrilleros entzaubert sten Nicaraguas seine Berufung zum Revolu- So gut wie nichts davon stimmte. tionär erkannte, nimmt Marcos etwas Ein Oberst der Streitkräfte wurde von von seiner romantischen Aura. Die einem Heckenschützen der Guerrille- Sandinistenführer sind heute als eher ros erschossen, doch Opfer unter den korrupte Figuren diskreditiert, ihre frü- Indios sind bislang nicht gesichtet wor- heren Solidaritätsgäste aus aller Welt den. In einem der angeblich zer- (spöttisch „Sandalisten“ genannt) ha- bombten Dörfer, Morelia, fand ein ben nie hohes Ansehen genossen. Reporter der New York Times „keine Aber die Entzauberung bietet den Anzeichen dafür, daß irgendwelche Zapatisten keinen Ansporn, sich so Bomben oder Raketen gegen die Be- bald wieder an den Verhandlungstisch völkerung“ eingesetzt worden seien. zu setzen, denn ihre Position ist nun Von den 200 Familien Morelias wa- geschwächt. „Für Zedillo ist das ange- ren 150 mit den flüchtenden Zapatistas sichts der Wirtschaftslage ein Riesen- mitgezogen. Der Rest war geblieben dilemma“, meint ein Diplomat in und bestritt, daß irgendwelche Kämpfe Mexiko-Stadt. „Eigentlich kann er stattgefunden hätten. In dem Dorf La jetzt nur noch flehen: ,Liebe Indios, Garrucha, das laut Guerrilla-Kommu- kehrt zurück an den Verhandlungs- nique´ auch vom „Völkermord“ heim- tisch, sonst versinkt der Peso im Kel- gesucht worden war, fanden Reporter ler.‘“ ebenfalls keine Spur von Kämpfen, ge- Nicht nur der Peso: Wegen der enor- schweige denn von Massakern vor. men wirtschaftlichen Bedeutung Mexi- Nicht, daß ein Blutbad in Chiapas kos für die Amerikaner sinkt der Dol- nun ausgeschlossen wäre. Es genügt, lar gleich mit. Y

DER SPIEGEL 8/1995 155 .

Spanien Schwarzer Koffer Die Ermittlungen eines Richters bringen einen Ex-Staatssekretär hin- ter Gitter und Gonza´lez in Gefahr.

inisterpräsident Felipe Gonza´- lez, 52, ist ein ausdauernder

MKämpfer. In über zwölf Jahren R. SAMANO / COVER Amtszeit hat der Sozialistenchef Kor- Partner Garzo´n, Gonza´lez (1993): „Man soll nie lügen“ ruptionsaffären, Wirtschaftskrise und alle Anfechtungen der Opposition über- „persönlicher Feindschaft“, behauptete terte nun der Präsident der Region Ma- standen. der ehemalige Innenminister Jose´ Bar- drid. Eine Zeitung versuchte gar, dem Doch nun hat er es mit einem zu tun, rionuevo. Und sein Staatssicherheits- unbequemen Garzo´n anzuhängen, er der ist noch ausdauernder als er: Balta- chef, Julia´n Sancristo´bal, bezichtigte habe sich einen Urlaub in der Domini- sar Garzo´n, 39, ein Madrider Untersu- Garzo´n aus der Zelle, er beteilige sich an kanischen Republik vom Innenministe- chungsrichter, den Kollegen nicht um- einer Verschwörung, um „Felipe Gonza´- rium bezahlen lassen. sonst „El Tenaz“ (den Zähen) nennen. lez zu demontieren und zu stürzen“. Auch die Verdächtigen unterstellen Unbeirrt verfolgt der Jurist einen Die Attacken weiteten sich zu einer ge- dem Richter unsaubere Motive. Des- Fall, der zur größten Staatsaffäre seit fährlichen Konfrontation zwischen Re- halb beantragten Vera und sein Ver- dem Putschversuch ultrarechter Militärs gierungspartei und Justiz aus. Staatsan- trauter Juan de Justo, Garzo´n das Ver- 1981 herangewachsen ist. Garzo´n glaubt wälte, Richter und Justizbeamte gingen fahren wegen Befangenheit zu entzie- beweisen zu können, daß hohe Beamte für Garzo´n auf die Straße. „Wir setzen hen. Doch bislang wurde stets entschie- des Innenministeriums eine Terrorban- den Rechtsstaat aufs Spiel“, warnte der den: El Tenaz darf weiter wühlen. de gegen die baskische Untergrundorga- Vizepräsident des Obersten Richterrats. Der Auslöser der Krise ist in Spanien nisation Eta befehligt und bezahlt ha- Führende Sozialisten wüteten daraufhin mittlerweile so bekannt wie Staatsan- ben. gegen die „Gewerkschaft der Richter“. walt Antonio Di Pietro in Italien, mit Seit Ende Dezember ließ der Richter Es sei ein „unerträgliches Paradoxon“, dem er häufig verglichen wird. Garzo´n, zwei frühere Polizeiobere aus dem Bas- daß Vera, der „elf Jahre den Terrorismus Aufsteiger aus einem kleinen Dorf nahe kenland, den Zivilgouverneur und spä- bekämpft hat“, ins Gefängnis müsse, dem andalusischen Jaen, sieht sich gern teren Chef der Staatssicherheit sowie während Eta-Leute frei herumliefen, ze- als Kreuzritter „für eine bessere Demo- den Privatsekretär von Rafael Vera, der kratie“. Der Ermittler als Moralist: ehemaligen Nummer zwei im Madrider „Man soll nie lügen.“ Innenministerium, in Haft nehmen. Vor knapp zwei Jahren hatte Gonza´- Vorigen Donnerstag war der einstige lez den Richter noch überreden können, Staatssekretär selbst dran. Garzo´n ver- bei den Parlamentswahlen neben ihm hörte Vera viereinhalb Stunden lang auf Platz zwei der Liste für Madrid zu und schickte ihn anschließend in die kandidieren. Mit dem Unbestechlichen U-Haft-Zelle. Er verdächtigt ihn, als Aushängeschild – er hatte sich einen Staatsgelder veruntreut sowie illegale Namen gemacht im Verfahren gegen Verhaftungen, Morde und Fälschungen Drogenmafia, Eta-Terroristen und gedeckt zu haben. Rechtsradikale – gewann die damals Nun haben die Ermittlungen des schon von Skandalen angekratzte Sozia- Richters den Mann erreicht, der bis vor listenpartei noch einmal knapp. Garzo´n einem Jahr Hauptverantwortlicher der wurde Staatssekretär im Innenministeri- Regierung für den Kampf gegen die Eta um und leitete ein Sonderkommando war. Sie bringen damit Gonza´lez selbst gegen Drogenkriminalität. in Bedrängnis. Noch vor zehn Tagen „Ich kann mit meinen Erfahrungen ei- hatte der Ministerpräsident beteuert: nen Beitrag leisten, damit die Gesell- „Die Regierung war nie und ist nicht in schaft nicht von Korruption zerfressen illegale Operationen verwickelt.“ wird“, begründete er seinen Wechsel in Doch wie gefährlich die Recherchen die Politik. Im vergangenen Frühjahr je- für Gonza´lez geworden sind, zeigen die doch kehrte Garzo´n enttäuscht auf sei- schrillen Reaktionen seiner Parteifreun- nen Posten am Gericht zurück. de. Sozialistische Spitzenpolitiker ent- Nun könnten seine Nachforschungen fesselten eine beispiellose Kampagne – Gonza´lez zum Rücktritt zwingen. Gar- mit dem Ziel, dem unbequemen Richter zo´n hat gerade einen Fall wieder aufge- den Fall abzunehmen. nommen, der seit September 1991 als

„Garzo´n ist ethisch und moralisch un- AP abgeschlossen galt. Damals wurden die geeignet“, tönte zuerst der Landesvater Ex-Staatssekretär Vera* von Andalusien. Der Richter handle aus Suche nach Sen˜or X * Vor der Verhaftung am vorigen Donnerstag.

156 DER SPIEGEL 8/1995 AUSLAND

Polizisten Jose´ Amedo und Michel Eta-Anschläge gegen Führer der Unter- tionalen Konferenzzentrum hätten sie Domı´nguez zu je 108 Jahren Gefängnis grundorganisation in Südfrankreich vor- das Bargeld in einem schwarzen Akten- verurteilt. Die beiden waren angeklagt, zugehen. Die für Terrorbekämpfung zu- koffer in Empfang genommen – bei der geheime Einsatzleiter jener rätselhaften ständigen Polizisten aus Bilbao hätten letzten Reise von Veras Sekretär Juan Terrorkommandos gewesen zu sein, die ausländische Söldner mit Kidnapping de Justo persönlich. in Südfrankreich Mitte der achtziger und Mord beauftragt. Der Madrider In- Die Anschuldigungen treiben die Re- Jahre 24 Menschen ermordet hatten. Sie nenminister Barrionuevo habe von dem gierung in die Enge. Garzo´ n will Vera nannten sich Gal, spanische Abkürzung Treiben der Gal gewußt. über die Verwendung des Reptilien- für Antiterroristische Befreiungsgrup- Die Söldner seien aus einem Repti- fonds befragen; der jedoch beruft sich pen. lienfonds seines Ministeriums entlohnt bislang darauf, Staatsgeheimnisse schüt- Dem Untersuchungsrichter gelang es worden. Aus gleicher Quelle, so sagten zen zu müssen. Sollte seinem Vorgesetz- damals jedoch nicht, zu belegen, daß die ten, Ex-Innenminister Barrionuevo, ei- Angeklagten Mitglieder einer terroristi- ne Beteiligung an den illegalen Aktio- schen Vereinigung waren und daß diese Umschläge mit Scheinen nen der Polizei nachgewiesen werden, aus dem Geheimfonds des Innenmini- aus dem Vorzimmer müßte Gonza´lez wohl zurücktreten. steriums zur Bekämpfung der Eta be- Zwar wird sein katalanischer Verbün- zahlt wurde. In einer Skizze hatte Gar- des Staatssekretärs deter, Jordi Pujol, nicht müde zu beteu- zo´n als Befehlsgeber von Amedo und ern, er wolle Gonza´lez „bis mindestens Domı´nguez lediglich ein „X“ eingetra- Amedo und Domı´nguez dem Richter, Anfang 1996“ mit den Stimmen seiner gen. hätten sie beide seit ihrer Verhaftung bis 17 Abgeordneten zu einer sicheren Die Suche nach dem mysteriösen Se- zum vergangenen Frühjahr monatlich Mehrheit im Parlament verhelfen. Doch n˜or X bekam einen neuen Impuls, als mindestens 450 000 Peseten (rund 7000 die Opposition fordert nun lautstark die beiden Häftlinge, die bis dahin ei- Mark) erhalten. vorgezogene Wahlen, was auch die mei- sern geschwiegen hatten, plötzlich ge- Ihre Frauen hätten die Umschläge mit sten Spanier wollen. sprächig wurden. Sie gaben Garzo´n und den Scheinen jeden Monat im Innenmi- Jetzt kommt der Wunsch nach Ablö- „zur Sicherheit“, wie sie sagten, auch ei- nisterium, meist im Vorzimmer des sung des Regierungschefs auch aus den nem Journalisten der regierungskriti- Staatssekretärs Vera, abgeholt. Zur Si- eigenen Reihen: Der Richter Ventura schen Tageszeitung El Mundo Unge- cherung ihrer Zukunft nach der Haft- Pe´rez Marin˜o, für die Sozialisten als Un- heuerliches zu Protokoll: entlassung wollen beide noch einmal je abhängiger im Parlament, schlug ein 1983 habe der damalige baskische So- 1,6 Millionen Mark kassiert haben: Auf Übergangskabinett und Neuwahlen in zialistenführer Ricardo Garcı´a Dambo- Anraten von Vera seien die Ehefrauen einem Jahr vor. Dann gab er sein Man- renea vorgeschlagen, zur Vergeltung für viermal nach Genf gereist. Im Interna- dat zurück. Y Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite .

AUSLAND

Anerkennung „Grenzkorrekturen im Serbien gegenseitigen Einverständnis“ möglich. Auf jeden Fall bekäme das Belgrader Regime die Rechtsnachfolge Jugosla- wiens übertragen. Zudem könne Milo- Die Beute sˇevic´ mit großzügiger Wirtschaftshilfe durch die G-7-Gruppe rechnen. Statt mit starker Truppenpräsenz den sichern gegenwärtigen Friedensplan durchzuset- zen, resigniert die internationale Staa- Um den Bosnienkonflikt zu ent- tengemeinschaft. Sie ist eher bereit, ihre schärfen, umwerben die internatio- 24 000 Blauhelme im Frühjahr abzuzie- hen und den Kriegsparteien das Feld zu nalen Vermittler den Belgrader überlassen (siehe Seite 162). Kriegstreiber Milosˇevic´. Auf diesen Tag wartet Milosˇevic´–um auf seine Weise die Kriegsbeute zu si- chern. Den Geist des Nationalismus, uf nach Zagreb“, freut sich Marko den er selbst heraufbeschworen hat, will Milosˇevic´, 27, „und dann über die er wieder ein Stück in die Flasche zu- ABerge nach Sarajevo.“ Das Endziel rückzwängen. Nach dreieinhalb Kriegs- des jungen Rennfahrers heißt zwar jahren und riesigen Geländeeroberun- Monte Carlo, aber warum sollte er auf gen – 70 Prozent in Bosnien und ein dem Weg zum Erfolg nicht „kleine Drittel in Kroatien – will Milosˇevic´ die Etappen“ einlegen. In der heutigen Zeit Ausformung seines Großserbischen eine „Jugo-Rallye“ zu veranstalten, sagt er, wäre schon eine tolle Sache. So unbekümmert wie sein Sprößling Marko blickt Vater Slobodan Milosˇevic´, 53, noch nicht in die Zukunft. Dem serbischen Präsi- denten mißfällt die Idee einiger Belgrader Sportfunktionäre, zur Versöhnung der Völker möglichst bald länder-

übergreifende Sport- SIPA und Kulturveranstal- Präsident Milosˇevic´: Vorläufig genug erobert tungen in den Nachfol- gerepubliken des untergegangenen Ju- Reiches nicht überstürzen und die inter- goslawien abzuhalten. Darin sieht der nationale Staatengemeinschaft nicht selbstherrliche Landesvater bereits ei- länger gegen sich aufbringen. nen Versuch, den Traum vom serbi- Deshalb scheint er bereit, dem neuen schen Großreich auf dem Balkan zu un- Vorschlag der Kontaktgruppe zuzustim- tergraben. men – mit Einschränkungen und Verzö- Milosˇevic´ hat vorerst keinen Grund, gerungen. Seine Statthalter in Kroatien seinem Hegemoniestreben abzuschwö- und Bosnien könnte er leicht anweisen, ren. Mit den internationalen Friedens- keine militärischen Offensiven zu star- vermittlern verhandelt er aus einer Posi- ten, wohl aber den Gegner zu zermür- tion der Stärke. ben: Seine Serben haben vorläufig ge- Denn seit vergangener Woche hält nug erobert, während Moslems und der Serbenzar ein weiteres Zugeständnis Kroaten neue Kriegspläne schmieden, der Großmächte in seinen Händen. Die um verlorene Gebiete zurückzugewin- sogenannte Bosnien-Kontaktgruppe – nen. neben den USA und Rußland noch So erscheint Kriegstreiber Milosˇevic´, Deutschland, Frankreich und Großbri- der Hauptverantwortliche der Balkan- tannien – machte ihm eine fragwürdige Tragödie, plötzlich im neuen Licht. Wie Offerte: Sollte Belgrad die ehemaligen ein großzügiger Fürst kann er die Regio- jugoslawischen Teilrepubliken Kroa- nen Ex-Jugoslawiens, dank seiner mili- tien, Bosnien, Slowenien und Mazedo- tärischen Überlegenheit, neu ordnen. nien diplomatisch anerkennen und die Wenn Europa ihm tatsächlich „Grenz- aufständischen Serben in Kroatien und korrekturen“ zugesteht, braucht er am Bosnien nicht länger unterstützen, wer- Ende nur noch Rumpf-Kroatien und den die Wirtschaftssanktionen gegen Rumpf-Bosnien als souveräne Staaten Serbien fast vollständig aufgehoben. anzuerkennen. Dann käme auch Sohn Um das Angebot zu versüßen, sicker- Marko mit einer neuen Jugoslawien- te inoffiziell durch, seien auch nach der Rallye zu seinem Spaß. Y

160 DER SPIEGEL 8/1995 Werbeseite

Werbeseite .

AUSLAND

Bosnien „Go there, make peace“ SPIEGEL-Reporter Erich Wiedemann über den Frust der Uno-Friedenssoldaten im Balkankonflikt

Gott, jetzt nur nicht weinen. Bloß schen Scharfschützen beschossen wur- Häuser reparieren, Kranke versorgen nicht hier vor all den Leuten. Das den. Oberstleutnant Lars Möller vom und Lebensmittel transportieren, die Okann sich ein Offizier der britischen Nordic Battalion hat den Serben vergan- immer nur verhandeln und fast nie Armee nun wirklich nicht leisten. Major genes Jahr bei Tuzla sogar mit Leopard- schießen. Robert Adams sagt, er habe sich auf die Panzern tüchtig Saures gegeben – und Die Autos im Unprofor-Hauptquar- Lippen gebissen, um nicht loszuheulen. daheim in Dänemark dafür viel Beifall tier an der Selska-Straße in Zagreb hat- Aber als das kleine blonde Mädchen aus erhalten. ten in der ersten Phase der Operation der Reihe der Waisenkinder ausscherte, Aber die Blauhelmsoldaten machen kleine blaue Aufkleber an der Wind- mitdenArmenseineKnie umschlang und sich nichts vor. Letzten Endes sind sie schutzscheibe. Darauf stand: „Go there, sich schutzsuchend an ihn kuschelte, da doch Gefangene ihres eingeschränkten make peace“. Es war der Tagesbefehl, seien ihm die Tränen gekommen. Mandats, wie es im Uno-Jargon heißt. mit dem 1956 Uno-Generalsekretär Dag Das Mädchen sah nicht so aus, als litte Sie dürfen prinzipiell nur in Notwehr Hammarskjöld nach dem zweiten israe- es Not. Es war gut genährt und gekleidet. und nach vorheriger Ankündigung von lisch-arabischen Krieg die ersten Blau- „Das einzige, was ihm offensichtlich fehl- der Waffe Gebrauch machen. Und helme in den Sinai schickte. te, war ein Vater“, sagt Major Adams. wenn die Nato – nach langem diplomati- Man weiß, wie es damals ausging. Da- „Ich stand in der Ecke und konnte mein schem Ringen – wirklich mal ein serbi- nach gab es noch zwei weitere israelisch- Gesicht zur Wand drehen, so daß es nie- sches Flugfeld bombardiert, dann sind arabische Kriege. Und auch dann war mand sah.“ Es gibt in Bosnien viele tau- die Piloten gehalten, ihre Bomben so noch lange nicht Friede im Nahen send solcher Kinder ohne Väter. rücksichtsvoll zu plazieren, daß die Piste Osten. Aber was hätten die Truppen da- Der Major sagt, er sei sich in diesem in wenigen Stunden wiederhergestellt mals auch tun sollen? Moment über die Aufgabe der britischen werden kann. Und was sollen sie heute tun? Daß ei- Streitkräfte in Bosnien klargeworden. General Michael Rose, der zum Jah- ne Militärmacht, die gerade auf der Sie- „Jedesmal wenn ich mich frage, was wir resanfang abgelöste Oberkommandie- gerstraße ist, sich von einer schwäche- hier tun, denke ich an die Szene mit dem rende, hat die Kritik an der zauderli- ren und neutralen Militärmacht einen kleinen Mädchen. Wir wollen mithelfen, chen Haltung der Unprofor in einer bit- unerwünschten Frieden aufzwingen lie- daß es nicht noch mehr solche Waisen teren Abschiedsrede zurückgewiesen. ße, das hat es noch nie gegeben. gibt.“ Aber er weiß natürlich auch, daß Ständig werde daran herumgenörgelt, Peace-keeping, Peace-making, Peace- die Möglichkeiten der Uno-Schutztruppe daß er nie richtig durchgegriffen habe. enforcing – Wortgeklingel. Für die Sol- (Unprofor), das bosnische Elend zu be- „Aber ich habe mehr Gewalt angewen- daten vor Ort sind das leere Floskeln für kämpfen, sehr begrenzt sind. det als jeder andere zuvor bei einer ein und dieselbe fade Sache. Das Publi- Ja, sie dürfen zurückschießen, wenn sie Uno-Friedensmission.“ kum in Europa mag die Worte auch meinen, daß es die Situation erfordert. Das war seinen Kritikern nicht genug. nicht mehr hören. Alle fordern eine Und das haben sie auch schon ein paar- Sie wollen Soldaten, die um der gerech- friedliche und gerechte Lösung für Bos- mal getan. Sie haben mehrfach Flüchtlin- ten Sache willen auch mal draufhauen, nien – ohne sich allerdings darüber klar gen Feuerschutz gegeben, die von serbi- und keine Soldaten, die ständig nur zu sein, daß Friede und Gerechtigkeit Uno-Soldat, bosnische Kriegsopfer in Bihac´: Verwundeten geholfen, Leichen beerdigt, Lebensmittel verteilt NICKELSBERG / GAMMA / STUDIO X einander im vorliegenden Fall ausschlie- ßen. Franc¸oise Bouchet-Saulnier von den „Ärzten ohne Grenzen“ hat in einem weltweit nachgedruckten J’accuse gegen die Uno ein „Ende des wahnsinnigen Kriegs“ gefordert. Man solle endlich Gerechtigkeit herstellen. Doch dieser Krieg ist eine komplizierte Veranstal- tung. Die Wiederherstellung gerechter Zustände in Bosnien würde die gewalt- same Vertreibung der serbischen Besat- zer aus den eroberten Gebieten, das heißt die Fortsetzung des Wahnsinns auf höherem Niveau voraussetzen. Major Adams tut Dienst bei den Gre- nadier Guards in Gornji Vakuf, einem ziemlich demolierten, schäbigen Flek- ken in den zentralbosnischen Bergen, Die Schutzmacht ist Milchkuh und Prügelknabe zugleich der in einen kroatischen und einen moslemischen Sektor aufgeteilt ist. Von hier aus kontrollieren die Briten fast das ganze Gebiet von Tomislav- grad bis zum sogenannten Maglayj-Fin- ger, der weit ins serbisch besetzte Ge- biet hineinragt. Das Soldatendasein in Gornji Vakuf ist dumpf und eintönig: zwei Stunden Dienst, vier Stunden frei, zwei Stun- den Dienst, vier Stunden frei. Und so weiter, vier Wochen lang. Dann haben die Soldaten in der Regel ein Wochen- ende in Split oder Dubrovnik zum Ent- spannen. Die britische Einheit in Gornji Va- kuf logiert nicht mehr in Zelten, son- dern in leidlich komfortablen Wohn- containern. Es gibt alles Wesentliche, was Briten zum guten Befinden brau- chen: Porridge und Kidney Pie zum Frühstück, abends Darts und Snooker live per Satellit, dazu pro Mann zwei Dosen Bier, hin und wieder auch das Page-Three-Girl der Sun zu Besuch. Sogar das Wetter ist hier im Winter ziemlich britisch. Die 24 000 Uno-Soldaten schaffen unermüdlich Überlebensmittel in bela- gerte Städte und helfen Verwundeten, sie beerdigen Leichen, für die sich kei- ner zuständig fühlt, sie reparieren zer- schossene Brücken, Strommasten und Wasserleitungen. Über eine halbe Mil- lion hungernde, frierende, hoffnungslo- se Menschen in den sogenannten siche- ren Gebieten leben fast ausschließlich von Uno-Liebesgaben. Erst am vergan- genen Mittwoch schlug sich ein Uno- Konvoi durch serbisches Sperrfeuer in die hungernde Moslem-Enklave Bihac´ durch. Die Unprofor hat militärisch fast nichts geleistet in Bosnien. Aber sie

DER SPIEGEL 8/1995 163 .

AUSLAND

Bosnier haben hier keinen Zu- tritt. Die Neretva-Brücke wird scharf bewacht. Der ganze Nachschub für Ostbosnien rollt über diese Brücke. Eine gut gezielte Luftmine könnte zwei Millionen Menschen für Tage, wenn nicht für Wochen von der Außenwelt abschnei- den. Der Verkehr ist hier sehr dünn, denn die Straße von Metkovic´ nach Sarajevo gilt als die gefährlichste im Kriegsge- biet. Am Südende der Brücke hat sich eine 500 Meter lange Schlange aus weißen Uno- Lastwagen gebildet. Dazwi- schen stehen ein paar verbeul- te Personenwagen. Es geht nicht weiter, weil gleich an der Zufahrt zur Brücke ein Lkw schlappgemacht hat. Plötzlich schert ein Wagen

A. BOULAT / SIPA aus der Reihe und prescht mit General Rose (r.), britische Uno-Soldaten:„Mehr Gewalt angewendet als jeder andere zuvor“ Vollgas auf den verbarrika- dierten Wachturm zu. Der Ser- hat eine flächendeckende Hungersnot Welches Verhältnis er zur bosnischen geant auf dem Turm entsichert er- verhindert. Das, immerhin, ist ein re- Bevölkerung habe und ob er glaube, schrocken sein automatisches Gewehr. spektabler Erfolg. daß sie für seinen Einsatz dankbar sei? Der Wagen kommt kurz vor der Sand- Und die Bosnier nehmen die Wohl- „I don’t know.“ Er sei ja erst vier Mona- sackbarrikade, die den Wachturm um- taten auch gern an. Trotzdem beziehen te hier. Und bislang hat er mit keinem gibt, mit fauchenden Bremsen zum Ste- die Wohltäter ständig Prügel. Sie kön- Bosnier gesprochen. Seine Kameraden hen. nen machen, was sie wollen, es wird und er sind zwar Moslems wie die Ein- Der Sergeant brüllt etwas Unver- ihnen immer von mindestens einer heimischen. Aber die kleine Zeltstadt ständliches auf englisch. Der Autofah- der drei verfeindeten Parteien als der malaysischen Unprofor-Einheit, die rer reißt die Tür auf und stürzt mit feindseliger Akt ausgelegt. Die Schutz- hinter einem Riesengebirge aus Stachel- schwingenden Fäusten auf die Barrika- macht ist Milchkuh und Prügelknabe draht und Sandsäcken mitten in Jablani- de zu. Er schreit: „Ihr seid Fremde, geht zugleich. ca liegt, ist ein Fort im Indianerland. nach Hause, wir haben euch nicht geru- Dabei stehen die 3400 Briten in der Gunst der Moslems noch vergleichs- weise gut da – ungefähr gleichauf mit Operationsgebiet Bosnien und Kroatien den Skandinaviern in Tuzla und den Stationierung und Nationalität von Uno-Blauhelmen Holländern in Srebrenica. Die Franzo- sen gelten dagegen als korrupt und ar- rogant, die GUS-Truppen als korrupt TOPUSKO OKUCˇANI ZENICA ZˇEPCˇE LUKAVAC und serbenfreundlich. Jordanien Nepal Türkei Großbritannien Niederlande Wobei das Vorurteil gegen Russen, Ukrainer und Franzosen noch einiger- CAZIN TUZLA Bangladesch Skandinavien maßen zu erhärten ist. Die Osteuropä- kroatien er klauen Benzin und schmuggeln He- TITOVA KORENICA DJURDJEVIK roin. Französische Panzerfahrer am Tschechien Pakistan Flughafen von Sarajevo chauffieren bei bosnien- ˇ KLISA VARES Beschuß Zivilisten für ein Honorar von Rußland herzegowina Pakistan 25 Pfund Sterling übers Rollfeld auf ˇ SREBRENICA die andere Seite der Stadt. GRACAC Niederlande Die meisten Exoten aus der Dritten Jordanien ZEPA Welt, die hier Dienst tun, sind von den VITEZ Sarajevo Ukraine bosnischen Ereignissen innerlich ziem- Großbritannien kroatien Jablanica lich abgekoppelt. Frage an den Ser- GORAZˇDE GORNJI VAKUF Großbritannien geanten Mo Riss aus Malaysia, der an Großbritannien der Notbrücke über die Neretva an der Ukraine Straße bei Jablanica Posten steht: Wie Serben Metkovi´c beurteilen Sie die Chancen der Unpro- Adriatisches SARAJEVO Moslems Meer for, diesen Krieg zu beenden? Frankreich und Kroaten Großbritannien Sergeant Mo Riss lächelt durch den von Serben MEDJUGORJE BUSOVACˇA KONJIC VISOKO Rußland ovalen Sehschlitz seiner wollenen Ge- besetzte Spanien Niederlande Malaysia Kanada Ukraine sichtsmaske, die ihn vor dem Schnee- Krajina Belgien Ägypten regen schützt. Kein Kommentar.

164 DER SPIEGEL 8/1995 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite .

AUSLAND

fen, wir haben genug fremde Teufel in dem Hoˆtel Matignon, in die Niederun- unserem Land!“ Frankreich gen seines allerersten Wahlkampfs hin- Die linke Hintertür des Wagens fliegt abgestiegen ist, bringt ein steifer Gegen- auf. Eine Frau mit einem knöchellan- wind seinen Nadelstreifenanzug aus gen bunten Kattunrock und einem der Londoner Savile Row zum Flat- schwarzen Kopftuch springt heraus. Sie Verwüstete tern. dreht sich zum Wagen um, schreit et- Vorige Woche konstatierte der Stab was Unverständliches und zerrt laut des angeblich unschlagbaren Favoriten, schreiend ein in grüne Alufolie gewik- Landschaft daß Balladurs Popularitätsrate drama- keltes großes Paket aus dem Auto. tisch gesunken ist – um knapp 12 Pro- Das Paket fällt auf die Piste und Präsidentschaftsfavorit Balladur in zent seit Dezember. Gleichzeitig schoß platzt. Darin ist eine eingewickelte Kin- ungewohnten Schwierigkeiten: Affä- der Linkskandidat Lionel Jospin, weni- derleiche. Überall aus den Lkw-Kabi- ger als zwei Wochen nach der Nominie- nen klettern struppige Gestalten, um zu ren nagen an seinem guten Ruf, rung durch die Sozialisten, in der Mei- sehen, was hier los ist. Einer will der Linkskandidat Jospin schließt auf. nungsgunst empor. Im ersten Wahl- Frau helfen, das Paket zurück in den gang, so die Demoskopen, würde der Wagen zu schieben. Aber er läßt es Genosse mit 23 Prozent fast gleichauf bleiben, weil die Frau mit der Faust er kunstvoll ausgeleuchtete, lachs- liegen mit den 24 Prozent des Premiers. nach ihm schlägt. farbene Hintergrund verlieh dem Den anderen gaullistischen Elyse´e- Der Pkw-Fahrer wendet sich plötz- DSilberhaar des französischen Pre- Aspiranten, den Pariser Bürgermeister lich von dem Wachturm ab, läuft zu- mierministers Edouard Balladur einen Jacques Chirac, hat Jospin bereits abge- rück zum Wagen und haut seiner Bei- edlen Schimmer. Monoton und ohne je- hängt. „Die Linke ist wieder da“, jubel- fahrerin mit der flachen Hand auf den des Mienenspiel verlas der gaullistische te das Linksblatt Libe´ration. Kopf. Er schubst die Frau auf den Bei- Nachdem der frühere fahrersitz, schiebt das Paket mit dem Chefeuropäer Jacques De- toten Kind auf den Rücksitz und nimmt lors auf seine guten Chan- selbst wieder am Steuer Platz. Er um- cen für die Nachfolge des klammert das Steuerrad und läßt den Sozialisten Franc¸ois Mitter- Kopf nach unten sinken. „Krisenkol- rand verzichtet hatte, schie- ler“, sagt ein Brummi-Fahrer aus Graz, nen die „camarades“ be- der eine Ladung Bauholz nach Mostar stenfalls in der Lage, einen bringt. Zählkandidaten insRennen Von hier bis zur kroatischen Grenze zu schicken. Schon stellte liegen beiderseits der Straße nur noch sich die Rechte – wie die zerschossene, verlassene Ortschaften. Mehrheit der Franzosen – Die Bevölkerung hat sich fast komplett auf einen Zweikampf der abgesetzt. Ein paar Kilometer hinter gaullistischen Parteirivalen Mostar, auf der Straße nach Sarajevo, und Intimfeinde Balladur macht eine französische Einheit auf ei- und Chirac ein. nem Parkplatz Vesper. Es gibt Einsatz- Mit Jospin rechnete nie- verpflegung mit Coquilles en boıˆtes, mand mehr. Der frühere Kalbsgulasch auf feinem Dosengemüse, Sozialistenchef und Erzie- danach drei Sorten Käse. Dazu einen hungsminister hatte sich fruchtigen Saint-Emilion. Die Einheit nach der vernichtenden hat ihre Lastwagen zu einer Art Wa- Niederlage der Genossen genburg zusammengefahren, obwohl bei den Parlamentswahlen hier seit Wochen keine Schüsse mehr von 1993 totale politische gefallen sind. Abstinenz verordnet und Der Korporal, der das Wort führt, hielt sich fern vom Gezänk sagt, er sei ein Freund der Deutschen. der Verlierer. Als der ge- Das ist aber nicht als Kompliment ge- lernte Diplomat jetzt mit meint, sondern als einleitende Verbind- flotter neuer Ehefrau an der lichkeit zu dem Vorwurf, daß die Deut- Seite wieder auftauchte, schen Feiglinge und Drückeberger sei- strahlte er in seinen ersten en, die sich ihrer historischen Verant- Interviews genau jene Fri-

wortung entzögen. Der Platz der Bun- F. STEVENS / SIPA sche aus, die den Sozis ab- deswehr sei hier an der Seite der Ver- Gaullisten-Kandidat Balladur handen gekommen war. bündeten. „Ein Schrittchen vorwärts, ein Schrittchen zurück“ Der „neue Jospin“ gefiel Und die Last der Geschichte? den Franzosen. Der Korporal hält dies für eine wohl- Präsidentschaftskandidat vorige Woche Der Schwung, den der Kandidat in die feile Ausrede. Die Franzosen hätten in im Pariser Luxushotel Me´ridien Mont- bis vor kurzem völlig zerstrittene Präsi- Afrika auch schlimm gewütet, trotzdem parnasse ein schier endloses Manifest. Es dentenpartei gebracht hat, imponierte werde französisches Militär in Ruanda enthielt einen ganzen Katalog bester Ab- dem Euro-Ruheständler Delors: Nun zu humanitären Zwecken eingesetzt. sichten – einschließlich einer nicht näher will er die Leitung der im ganzen Land ge- „Deutsche Soldaten haben in diesem definierten „schnelleren Gangart“ für gründeten sozialistischen Wahlkampfko- Jahrhundert für so viele ungerechte Frankreich. „Balladur – die unvermeidli- mitees übernehmen. Ziele gekämpft. Zum erstenmal geht es che Langeweile“, ächzte tags darauf Le Umfragen zufolge ist Premier Balladur um eine gerechte Sache, und nun knei- Monde. zwar immer noch Favorit für den zweiten fen sie. Allemagne e´nigmatique.“ Rät- Doch jetzt wird’s spannender. Seit der Wahlgang am 7. Mai, den die beiden selhaftes Deutschland. Y Gaullist aus seinem feudalen Amtssitz, Bestplazierten des ersten Durchlaufsaus-

DER SPIEGEL 8/1995 167 .

AUSLAND

fechten. Doch seine Berater grübeln Konkurrent Chirac verspottete ihn als jetzt, wie ihrem Kandidaten die über- Tango-Politiker: „Ein Schrittchen vor- wältigende Popularität so rasch abhan- wärts, ein Schrittchen zurück.“ den kommen konnte, nachdem er mo- Nun droht dem Favoriten auch noch natelang immer neue Beliebtheitsrekor- die Kandidatur eines weiteren Bewer- de gefeiert hatte. Einige Parteistrategen bers aus der rechten Mitte: Ex-Staats- glauben, die Antwort zu kennen: Der präsident Vale´ry Giscard d’Estaing und Dunst der zahllosen Polit- und Finanz- eventuell gar dessen einstiger Premier- skandale, aus denen der Konservative minister Raymond Barre wollen sich in sich lange heraushalten konnte, habe den Wahlkampf stürzen. Der eine wie nun auch ihn erreicht. „Seine Suffi- der andere würde fast ausschließlich zienz“, so ein beliebter Spitzname, re- Balladurs Stimmenreservoir anzapfen. präsentiert nun einmal das angeschlage- Chancen, den Elyse´e-Palast wirklich zu ne Regierungsestablishment. erobern, haben Giscard und Barre Überdies wurde jetzt enthüllt, daß der kaum. Aber sie können im zweiten ehemalige Wirtschaftsminister Balladur Wahlgang Zünglein an der Waage spie- als Abgeordneter noch jahrelang mit len, indem sie ihren Anhängern empfeh- rund 30 000 Mark Monatssalär auf der len, den einen oder den anderen der bei- Gehaltsliste des Industrieunternehmens den Finalisten zu wählen. Schwer zu schaffen macht dem Regie- rungschef zudem eine Intrige, die sich Alles wie gehabt: zur Staatsaffäre ausgewachsen hat und Bei Konflikten nun sein Kabinett spaltet. Um den hart- näckigen Untersuchungsrichter Eric kneift der Premier Halphen auszuschalten, der wegen eines Parteispendenskandals gegen Gaullisten Ge´ne´rale de Services informatiques ge- ermittelt, stellten die Ertappten ihrem führt wurde, das er zuvor geleitet hatte. Peiniger eine Falle. Der Schwiegervater Den Wahlslogan des Premiers – „An des Richters, für eine Million Francs an- Frankreich glauben“ – empfänden die geworben, sollte seinen moralisch Ver- Franzosen angesichts solcher Praktiken wandten in Verruf bringen. Sogar der „als blanken Hohn“, heißt es schaden- gaullistische Innenminister Charles Pas- froh in der Parteizentrale der Sozialisten. qua half bei dem Komplott: Seine Poli- Auch politisch muß der Regierungs- zisten ließen Telefone überwachen. chef derzeit Niederlagen einstecken. Um Nach der Aufdeckung des Skandals dem Zorn demonstrierender Schüler und zankt sich jeder mit jedem – Pasqua wet- Studenten in Paris, Dijon, Grenoble oder tert gegen die Ermittler, Minister Nantes zu entgehen, zog er eiligst einen schimpfen auf ihren Kollegen, Balladur Plan zurück, der den Universitätszugang schaut einstweilen hilflos zu. Die politi- erschweren sollte. Alles wie gehabt: sche Landschaft um den Premier, warn- Auch bei Konflikten mit bretonischen Fi- te Le Monde, sei „durch Korruptionsaf- schern und mit Air--Angestellten fären verwüstet“. hatte der Premier gekniffen: Mal zahlte Auch dem Regierungschef dämmerte er Subventionen, mal annullierte er Re- nun Böses: „Das Vertrauen in den Staat formen. schwindet.“ Y FACELLY-HALEY / SIPA Sozialisten-Kandidat Jospin, Ehefrau: Fern vom Gezänk der Verlierer

168 DER SPIEGEL 8/1995 Werbeseite

Werbeseite . AFP / DPA Peruanische Marinepatrouille auf dem Grenzfluß Cenepa: Ortskundige Indianer an die Front

tärstation mitten im Urwald. Sie ist der schrauber und drei peruanische Kampf- Peru letzte peruanische Außenposten. Auf flugzeuge wollen die Ecuadorianer ab- den Hügeln hinter den Hütten beginnen geschossen haben. jene 78 Kilometer unmarkiertes Grenz- Etwa 800 feindliche Soldaten hätten land, um die Peru und Ecuador seit Ende sich in der „Urwaldfestung“ Tiwinza Haushoch Januar miteinander Krieg führten. eingegraben, behaupten peruanische Zwar riefen sich die Präsidenten der Offiziere. „Sie sitzen auf den Hügeln beiden Kriegsgegner vorige Woche zum und beschießen uns von oben“, sagt Ge- überlegen Sieger aus und erklärten großmütig eine neral Cevallos Mora. Zudem hätten die Feuerpause. Doch auch nach diesen voll- Ecuadorianer Tunnel unter den perua- Im Urwaldkrieg gegen Ecuador ist die mundigen Worten wird noch vereinzelt nischen Belagerungsring gegraben und Natur der stärkste Gegner: Schlan- weitergeschossen. Die Gegner behar- die Zugangswege vermint: „Wir kämp- ren weiterhin auf ihren Gebietsansprü- fen Mann gegen Mann.“ gen und Spinnen setzen den Solda- chen. Beiden Armeen macht ein gemeinsa- ten zu. Der kleine peruanische Vorposten ist mer Gegner zu schaffen – der Urwald. nur 15 Kilometer vom Stützpunkt Tiwin- „Unser größter Feind ist das Terrain“, za entfernt, wo peruanische Soldaten bekennt General Cevallos. Über 320 Ki- er Hubschrauber bockt wieeinstör- Hunderte von Ecuadorianern mehr als lometer erstreckt sich die Kondor-Kor- rischer Esel. Der Pilot schwenkt eine Woche lang eingekesselt und bela- dillere entlang der Grenze, ein unzu- DvoneinerSeiteaufdieandere,steigt gert haben. Tagelang versicherte Perus gängliches ökologisches Paradies von auf und läßt die Maschine abrupt in die Präsident Alberto Fujimori, die Einnah- berückender Schönheit. Tiefe fallen, bis er sie knapp über den me von Tiwinza stehe unmittelbar bevor. In dem bergigen Regenwald am Ost- Wipfeln der Bäume abfängt und in eine Vergangene Woche behauptete er, die hang der Anden leben ausschließlich In- neue Kurve zwingt. letzte Bastion der Ecuadorianer sei gefal- dianer. Ewiger Nebel, Niederschläge Im Tiefflug jagt er über das bergige Re- len. Doch tatsächlich ist der Widerstand und extreme Hitze machen den einge- lief des peruanischen Urwalds, um mögli- der Ecuadorianer stärker, als die zahlen- flogenen Soldaten zu schaffen. Malaria chen Raketenangriffen auszuweichen. mäßig überlegenen Peruaner wahrhaben und Gelbfieber sind weit verbreitet. Die Kronen der Baumriesen scheinen das wollten. Riesige Moskitoschwärme fallen über Bodenblech des Hubschraubers zu be- Tiwinza werde weiter gehalten, versi- die Militärpatrouillen her. rühren. Zwischen dem Grün leuchtet chert Fujimoris ecuadorianischer Amts- Im Feldlazarett der Militärbasis El braun der Rı´o Cenepa hervor. Der Pilot kollege Sixto Dura´n Balle´n. Zwei Hub- Milagro am Rande des Konfliktgebiets läßt sich von dem Gewässerleiten wievon kommen auf einen den Gleisen einer Eisenbahn. Quito 300 km Angeschossenen fünf „Am Fluß verläuft die Grenze zuEcua- Verletzte, die durch

2 dor“, erläutert General Daniel Cevallos 4 Schlangen- oder Spin- 9 Mora vom peruanischen Oberkomman- ECUADOR 1 KOLUMBIEN nenbisse außer Ge- it do der Streitkräfte. „Wenn wir ihm nicht se fecht gesetzt wurden. nze folgen, verletzen wir ecuadorianischen umstrittener Gre Blutsaugende Fleder- Luftraum.“Der Helikopter zieht eine en- Grenzverlauf Wachtposten Nr. 1 Amazonas mäuse, die Tollwut ge Schleife, überfliegt einen Bergkamm Cenepa übertragen können, und schwebt über einer morastigen Wie- fallen nachts Soldaten Ciro Alegría se ein. Vor einigen strohgedeckten Holz- an, berichtet Truppen- hütten haben Soldaten die peruanische El Milagro arzt Luis Rubio. Flagge gehißt. Zwischen den Unterstän- Lima Immer wieder ver- PERU den klaffen die rotbraunen Krater von Marañón laufen sich die Pa- Artillerie-Einschlägen. trouillen im Urwald. „Wachtposten Nr. 1“ nennen die pe- Pazifik Militärstützpunkte 70 Soldaten, die in Li- ruanischen Streitkräfte die kleine Mili- ma schon als verloren

170 DER SPIEGEL 8/1995 Werbeseite

Werbeseite .

AUSLAND

galten, irrten tagelang orientierungslos Wer in Lima den Sinn der Militärak- umher. Mit Seilen hangelten sich die tion anzweifelt, gilt als Landesverräter. Kämpfer von Baum zu Baum, um nicht Perus größte Tageszeitung El Comer- im Sumpf zu versinken. „Manchmal ka- cio weigerte sich aus „patriotischen men wir nur fünf Kilometer am Tag vor- Gründen“, einen Artikel des peruani- an“, berichtet ein Offizier. „Das hier ist schen Schriftstellers und ehemaligen schlimmer als Vietnam.“ Präsidentschaftskandidaten Mario Var- Auf ecuadorianischer Seite ist die gas Llosa nachzudrucken, der Präsi- Grenzregion zugänglicher: Asphaltierte dent Fujimori eine Mitschuld am Straßen führen in die Nähe des Kampf- Kriegsausbruch gibt. gebiets. Hubschrauber und Flugzeuge Wirtschaftlich hat der Waffengang brauchen nur wenige Minuten von ihren beiden Staaten schwer geschadet. Der Stützpunkten zum Einsatzort. Die Konflikt kostet Ecuador täglich etwa Hauptstadt Quito ist eine Flugstunde 10 Millionen Dollar, die Inflation wird entfernt. sich in diesem Jahr nicht mehr auf die Lima kann seine Truppen dagegen erhofften 15 Prozent begrenzen lassen. nur in umständlichen Etappenflügen aus Peru gibt etwa 20 Millionen Dollar pro der Luft versorgen. Die Antonow- Tag aus, schätzen Militärexperten. Fi- Transportmaschinen der Luftwaffe müs- nanzpolitiker in Lima geben zu, daß sen auf der Basis El Milagro lan- den, fast drei Helikopterstunden vom Konfliktherd entfernt. Eine der drei Antonows kam bereits an einem der ersten Kampftage von der schmalen Landepiste ab und ist seitdem nicht mehr ein- satzbereit. Von El Milagro aus bringen al- te Hubschrauber russischer Bau- art und kleine chinesische Pro- pellerflugzeuge Truppen und Material in die Urwaldbasis Ciro Alegrı´a am Rı´o Maran˜o´n, einem Zufluß des Amazonas. Von Ciro Alegrı´a brauchen die Kampfhub- schrauber weitere 45 Minuten bis an die Front. Tagelang konnten die Maschi- nen nicht starten, weil es unun- terbrochen regnete. Für ihre Pa- trouillen im Urwald hat die Ar- mee indianische Führer angeheu- ert. „Wir sind zuerst Peruaner, dann Indianer“, versichert pa- triotisch Venancio Blas Carlos,

ein Häuptling der Indianersied- R. ARTACHO / GAMMA / STUDIO X lung Nueva Esperanza am Rande Peruanischer Präsident Fujimori der Militärbasis. Die meisten Vollmundige Siegeserklärung Hütten sind verlassen. Frauen und Kinder sind vor dem Krieg an die sich die wirtschaftliche Erholung verzö- Küste geflohen. gern wird. Der Konflikt hat die Indianerstämme Auch die nationalistisch gesinnte Pres- gespalten, die auf beiden Seiten der se stellt dem Präsidenten inzwischen er- Grenze leben. Ein Häuptling der ecua- ste unbequeme Fragen: Warum hat der dorianischen Shuar-Indianer, die in frü- Krieg so lange gedauert, wenn Peru doch heren Jahren die Schädel ihrer getöteten angeblich haushoch überlegen ist? Seit Gegner zu handlichen Siegestrophäen wann weiß die Regierung von der Anwe- schrumpfen ließen, schwenkte in Quito senheit ecuadorianischer Soldaten auf einen solchen Kopf und drohte: „So peruanischem Gebiet? wird Präsident Fujimori enden!“ In Peru „Die Ecuadorianer haben ihre Stütz- zogen Asha´ninka-Indianer, die bereits punkte schon länger ausgebaut“, vermu- gegen die maoistischen Terroristen des tet ein Offizier auf der Militärbasis Ciro Leuchtenden Pfads gekämpft hatten, Alegrı´a. Er sei bei Patrouillen im Urwald mit den peruanischen Truppen in den bereits häufiger auf Soldaten der Gegen- Krieg. seite gestoßen: „Wir haben uns verstän- In Kanus und Schlauchbooten wurden digt und sind dann friedlich weitergezo- Soldaten wie Indianer an die Front ge- gen.“ Vorsichtig blickt er um sich, dann bracht. In martialischen Liedern zogen fragt er halblaut: „Warum können wir sie über die ecuadorianischen „Affen“ den Streit nicht einfach mit einem Hand- her. schlag unter Kavalieren beenden?“ Y

172 DER SPIEGEL 8/1995 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite .

AUSLAND

dentin Auskunft über den Verbleib ei- Rand (9000 Mark) durch unangemesse- Südafrika nes Schecks in Höhe von 100 000 Dol- ne Industriehonorare auf. Und vorigen lar, den Pakistans Premierministerin Montag mußte der ehemalige Präsident Benazir Bhutto im vergangenen Mai des Weltbundes Reformierter Kirchen, überreicht hatte. Allan Boesak, auf den ihm versproche- Winnie im Die Affären der einstigen Anti- nen Posten als Botschafter bei der Uno Apartheid-Heldin mehren sich: Unver- in Genf verzichten. Zusammen mit Kol- froren nutzte Winnie Mandela Anfang legen hatte er Spenden seiner „Stiftung Wunderland Februar ihr Amt als Regierungsmit- für Frieden und Gerechtigkeit“ zu priva- glied, um die neu gegründete Künstler- ten Zwecken mißbraucht. Die Vor- Spitzenpolitiker der Regierungspar- Agentur ihrer Tochter Zindzi zu för- standsmitglieder des wohltätigen Ver- tei sind in Korruptionsskandale ver- dern. Die Rolling Stones schalt sie eins nutzten das Geld für Villen, Luxus- „Rassisten“, weil die britischen Musiker autos, pompöse Empfänge und Aus- wickelt. Präsident Mandela zögert, ihren Südafrika-Auftritt Ende dieses landsreisen. gegen sie vorzugehen. Monats einem weißen Konzertagenten Der Sturz des prominenten ANC-Po- anvertraut hatten. litikers aus der Kap-Provinz brachte nun „Afrikas Evita Pero´n“ (so das Mas- auch den Präsidenten in Verlegenheit: er alternde Filmstar mit dem grau- senblatt Sowetan) ist nicht allein in du- Zu lange hielt Mandela dem korrupten en Schnurrbart und die attraktive biose Geschäfte verwickelt: Den ANC Geistlichen die Treue. Er weiß, daß ge- DPolitikerin im pfirsichfarbenen Spitzenkleid erhoben die Gläser auf den Erfolg eines gemeinsamen Unterneh- mens: Schauspieler Omar Sharif, be- kannt für seine Wettleidenschaft, und Winnie Mandela, stellvertretende Mini- sterin für Kultur, Wissenschaft und Technologie, wollen künftig Touristen über die „Straße der Freiheit“ führen. So jedenfalls lautet der Name ihrer jüngst gegründeten Reiseagentur. Im Pauschalpaket sollen vor allem schwarze US-Bürger die Geschichte des neuen Südafrika vor Ort erfahren: Von Sharpeville, wo 1960 ein Trupp Polizi- sten 69 Demonstranten erschossen hat- te, bis zur Gefangeneninsel Robben Is- land, von Nelson Mandelas Geburtsort in der Transkei bis zum Kapstädter Par- lament wurden die wichtigsten Stätten des Befreiungskampfes ins Tourpro- gramm aufgenommen. „Südafrika ist ein Wunderland, und wir wollen an diesem Wunder teilha- ben“, erklärte Sharif, der am liebsten gleich noch ins Casinogeschäft eingestie-

gen wäre. Der Gewinn aus den Pilger- REUTER fahrten, versprachen die findigen Unter- Filmstar Sharif, Ministerin Mandela: Reise in die Vergangenheit nehmer, solle zur Hälfte der Frauenliga des Afrikanischen Nationalkongresses erschüttern zur Zeit eine ganze Reihe rade die jetzt Beschuldigten vom Heer (ANC) zukommen, deren Präsidentin von Skandalen. der armen Südafrikaner besonders ver- Winnie Mandela ist. Dabei sah die älteste Befreiungsbewe- ehrt werden: Denn es sind Winnie Doch die geplante Reise in die Ver- gung des Kontinents ihre „historische Mandela und ihre radikalen Mitstrei- gangenheit führte Winnie, die von ih- Mission“ nicht nur darin, das Land aus ter, die immer wieder offen ausspre- rem Mann, Präsident Mandela, getrennt dem Würgegriff der Apartheid zu be- chen, daß die Wende am Kap das lebt, in eine Sackgasse. Von dem Geld- freien. „Wir müssen eine Kampagne Massenelend noch längst nicht beho- regen, der über den Frauenverband nie- starten, um neue moralische Grundsätze ben hat. dergehen sollte, hatte die Chefin ihren zu entwickeln“, rief Nelson Mandela auf Auf der Beerdigungsfeier für einen Vorstandskolleginnen nichts erzählt. dem Parteitag im vorigen Dezember den Polizisten im Stadion von Soweto be- Unter Protest traten deshalb elf Aktivi- 3000 Delegierten zu. „Ich weiß sehr ge- zichtigte Winnie kürzlich die Regie- stinnen zurück, unter ihnen die Schatz- nau, daß im ANC eine neue parasitäre rung pauschal des „Versagens“. Sie tue meisterin Adelaide Tambo, Witwe des Klasse entsteht.“ „mehr gegen die Ängste der Weißen früheren ANC-Chefs Oliver Tambo. Die Delegierten applaudierten zwar als für die Nöte der Schwarzen“. Vergebens suchte Nelson Mandela eifrig. Das hielt sie jedoch nicht davon Diesen Angriff wollte der Präsident den Zorn der ANC-Frauen zu besänfti- ab, auch jene Populisten in die Partei- ihr nicht mehr durchgehen lassen. gen. „Das Maß ist voll“, protestierte führung zu wählen, die sich in merk- Winnie konnte vorige Woche ihren Po- Vorstandsmitglied Baleka Kgositsile. würdigen Machenschaften verstrickt sten nur retten, weil sie zwei Entschul- Winnie Mandelas undurchsichtiges hatten. digungsbriefe schrieb: Den ersten wies Finanzgebaren hatten die Liga-Frauen So besserte etwa der einstige Jugend- Nelson Mandela als unzureichend zu- intern schon seit langem kritisiert. Wü- führer im ANC, Peter Mokaba, sein rück. Den zweiten akzeptierte er – tend verlangten sie nun von ihrer Präsi- Abgeordnetengehalt von über 20 000 grollend und widerwillig. Y

DER SPIEGEL 8/1995 175 ..

AUSLAND

Großbritannien „Zu lange geschwiegen“ Interview mit Ex-Premier Sir Edward Heath über den Europastreit innerhalb der konservativen Partei

SPIEGEL: Sir Edward, als Premiermini- Herz Europas zu führen. Als die Quere- gevertrags von Maastricht im nächsten ster haben Sie 1973 Ihr Land in die Eu- len in der Partei begannen, hofften wir Jahr ihre Vorstellung gegen den Willen ropäische Gemeinschaft geführt. Nun zunächst, nun werde die Regierung die- der anderen Mitgliedsländer durchset- sind die konservative Partei und die Re- sen Vorsatz verteidigen. Deshalb haben zen wollen, dann wird Major unweiger- gierung über die Europapolitik heillos wir die Europagegner nicht so be- lich zu hören bekommen: Entweder ihr zerstritten. Befürchten Sie, daß John kämpft, wie wir es hätten tun können. macht voll mit, oder ihr findet euch am Major Ihr Erbe aufs Spiel setzt? Wir müssen uns fragen, ob wir nicht zu Rande wieder. Und das ist das letzte, Heath: Alle Parteifreunde, die ihr Le- lange geschwiegen haben. was wir hören möchten. ben lang für Europa gekämpft haben, SPIEGEL: Um die Partei zusammenzu- SPIEGEL: Wie kann Major den wachsen- sind entschlossen, dies zu verhindern. halten, scheint Major den Euroskepti- den Einfluß der Eurogegner in der Par- Ich bin überzeugt, daß die Europäische kern nachzugeben. Riskiert er damit, tei zurückdrängen? Union, der größte politische Erfolg seit daß Großbritannien künftig bei wichti- Heath: Er sollte sie einfach ignorieren. dem Zweiten Weltkrieg, weiter wachsen gen EU-Entscheidungen nicht mehr ge- SPIEGEL: Das sagt sich leicht. Tatsäch- und noch erfolgreicher werden wird. hört wird? lich scheint der angeschlagene Regie- SPIEGEL: Genau diesen Anspruch be- Heath: Wenn die Briten bei der Regie- rungschef längst zur Geisel der Rebellen kämpfen die Brüssel-Feinde. Sie wollen rungskonferenz zum Abschluß des Fol- geworden zu sein. eine lose, nicht eine gestärk- Heath: Wenn er diese Min- te Union. derheit unterstützt, zieht er Heath: Lediglich eine Min- Parteiinteressen den Inter- derheit in meiner Partei, in essen der Nation vor. Da der Regierung und im Parla- werden wir nicht mitma- ment will unsere Europapo- chen. Wer durch Unterstüt- litik verändern. Die Mehr- zung der Europagegner die heit der Konservativen Partei einigen will, macht wünscht nach wie vor eine einen krassen Fehler. Major starke Union. Die Widersa- wird spüren, daß Europa- cher werden lernen müssen, anhänger, die bislang ruhig daß die Gemeinschaft nicht waren, um ihn nicht in noch ausschließlich unseren eige- größere Schwierigkeiten zu nen Interessen dienen kann. bringen, jetzt kämpfen wer- Im Vertrag von Maastricht den. haben wir uns verpflichtet, SPIEGEL: Einige Ihrer Par- die Union auszubauen. Ich teifreunde sehen in größerer kann mir nicht vorstellen, Distanz zu Europa ein wirk- daß die britische Regierung sames Rezept für die Kon- überhaupt in der Lage wäre, servativen, um die nächsten davon wieder abzurücken. Wahlen zu gewinnen. SPIEGEL: Das versucht sie Heath: Eine solche Strategie aber. Beim Weltwirtschafts- ist zum Scheitern verurteilt. forum in Davos verkündete Der Beweis: Bei den Euro- etwa Arbeitsminister Micha- pawahlen im vergangenen el Portillo, einer der radikal- Jahr haben wir eine bittere sten Europagegner der Kon- Schlappe erlitten, weil wir servativen, die Regierung B. ROBINSON all jene verprellt haben, die werde jede weitere Annähe- Edward Heath Fortschritte in Europa se- rung an Europa blockieren. hen wollen. Heath: Er war nicht autori- ist der engagierteste Europäer bei den britischen Konservati- SPIEGEL: Ist Premier Major siert, eine solche Erklärung ven.Derehemalige Regierungschef, 78, möchteseinen Nach- noch stark genug, um den abzugeben. folger John Major wieder auf einen europafreundlicheren Kurs Konflikt zwischen Europa- SPIEGEL: Major hat seine zwingen. Nach dem Rücktritt eines Staatssekretärs aus Pro- freunden und -gegnern zu Ausführungen aber nach- test gegen Brüsseler EU-Beschlüsse ist die Regierung in einen überwinden? träglich billigen lassen. erbitterten Richtungskampf über den weiteren Ausbau der Uni- Heath: Er ist nun mal der Heath: Als der Premiermini- on verfallen. Europagegner in der Partei haben bereits mehr- Regierungschef. Wenn er zu ster aus Maastricht zurück- fach gegen die Regierung gestimmt. Mit europakritischen Tö- seinem ursprünglichen Ver- kehrte, sagte er, dieses Ab- nen wollte Major seine Widersacher in Kabinett und Parlament sprechen steht, Großbritan- kommen sei gut für Großbri- besänftigen. Der Premier, durch Wahlniederlagen und Korrup- nien fester in Europa zu tannien, Europa und die tionsvorwürfe gegen hochrangige Tories geschwächt, muß verankern, wird er auch Er- ganze Welt. Er versprach nämlich um die Mehrheit im Unterhaus fürchten. folg haben – für unser Land sogar, Großbritannien ins und für Europa. Y

176 DER SPIEGEL 8/1995 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite .

AUSLAND

Holocaust war bisher unumstrittener Teil Die Wende zum Fundamentalen hat Israel der jüdischen Identität. auch die Armee ergriffen: Früher fand Die frommen Fanatiker streben indes die Vereidigung junger Soldaten häufig nicht nach Harmonie, sondern nach Vor- auf der am Toten Meer gelegenen Fe- herrschaft. Der Staat Israel hatte den Re- stung Massada statt, einem Symbol des Schrecklich ligiösen seit seiner Gründung die Hoheit jüdischen Unabhängigkeitswillens. Heu- über drei wichtige Bereiche zugestanden: te begehen die Militärs die Zeremonie Einhaltung des Sabbat, Befolgung der ri- gern an der Klagemauer, dem religiösen verzerrt tuellen Speisegesetze und Achtung der Monument. biblischen Reinheitsgebote für die Ehe. „Langsam, aber unerbittlich“, stellte Im Heiligen Land wächst der Einfluß Die althergebrachten Regeln werden das Magazin Jerusalem Report unlängst jüdischer Fundamentalisten: Ultra- nun immer enger ausgelegt. Jüngst ver- fest, verstärkten die Ultraorthodoxen weigerte ein Rabbiner in Tel Aviv einem ihren Griff auf die Hauptstadt. In späte- orthodoxe fordern ihre eigene Holo- jungen Paar die Eheschließung, weil die stens zehn Jahren werde Jerusalem ei- caust-Gedenkstätte. Feier in einem Lokal stattfinden sollte, in nen strenggläubigen Bürgermeister ha- dem nicht nur koscheres Essen auf der ben. Speisekarte stand. Mit einem Gesetz Schon besetzen religiöse Fanatiker iemand nahm bisher daran An- möchten die Religiösen sogar die Einfuhr Schaltstellen in der Verwaltung. In Neu- stoß, daß auf den Bildern des von nicht rituell geschlachtetem Fleisch bauvierteln siedeln sich gezielt orthodo- NGrauens entblößte Frauen zu se- strikt untersagen. xe Juden an, aus gemischten Vierteln, hen sind. Die rund 20 Millionen Besu- Auch die Rechtsprechung wollen die etwa im Vorort Ramot, werden säkulare cher von Jad Waschem, der Holocaust- Ultras auf ihren Kurs zwingen. Die Ge- Juden gelegentlich hinausgeekelt. Gedenkstätte in Jerusalem, betrachte- richte „müssenerkennen, daß Israel nicht „Wir werden den Swimming-pool zur ten die Fotos nackter Menschen auf dem irgendeine Demokratie, sondern eine jü- Mikwe machen“, sprühten Eiferer an Weg in die Gaskammer als hi- storische Dokumente. Doch nun ist einigen Israelis die Religion wichtiger als die geschichtliche Realität. „Das religiöse Gesetz verbietet Nacktheit“, erklärte der Rab- biner Chaim Miller, „die Bil- der müssen weg.“ Miller, zugleich stellvertre- tender Bürgermeister von Je- rusalem, kündigte die Weisung eines Rabbiner-Rats an, die strenggläubigen Juden den Be- such des Mahnmals verbieten soll. Der Politiker empfindet es als „Schande“, daß „Märty- rer in ihrer Nacktheit“ gezeigt werden. Die Opfer hätten es sicher nicht so gewollt. Vermittlungsversuche be- sorgter Historiker, die den Ho- locaust aus dem Parteienge- zänk heraushalten wollten, blieben ohne Erfolg. Man kön-

ne für Orthodoxe einen ge- AFP / DPA trennten Gang durch die Aus- Orthodoxe Juden an der Klagemauer in Jerusalem: Rückwärts gehen aus Respekt stellung einrichten, der die Nackten ausspare, lautete ein Vor- dische Demokratie ist“, verlangte Schlo- die Wand eines öffentlichen Schwimm- schlag zur Güte. Doch der Rabbiner, mo Benisri, der für die religiöse Schas- bads, das sie in ein rituelles Bad verwan- Mitglied der frommen Agudat-Israel- Partei im Parlament sitzt. deln wollen. Partei, ließ sich nicht besänftigen. Liberale Israelis wie der Historiker Vizebürgermeister Miller sieht den „Unsere Absicht ist eine strikte Tom Segev, 49, haben einen „deutlichen wachsenden Einfluß seiner Gesinnungs- Trennung zwischen Gläubigen und Un- Umschwung“ im politischen Klima aus- genossen „mit großer Freude“. Mittler- gläubigen in Sachen Holocaust“, be- gemacht. Das Land sei „immer weniger weile betreibt die Agudat-Israel-Partei kräftigte Miller. Und sein Parteichef israelisch und immer jüdischer gewor- einen Revisionismus eigener Art: Die Mosche Feldmann verlangte die Ein- den“. Oft sind es nur Kleinigkeiten, die Bücher über die Vernichtung der euro- richtung einer alternativen Gedenkstät- den Ruck nach rechts symbolisieren. päischen Juden, erklärte Parteichef Feld- te mit Bibliothek, Forschungseinrich- Der einflußreiche Gelehrte Raw Getz mann, seien von „weltlichen“ Autoren tungen und Seminarbetrieb „für Gläu- erließ die Anordnung, daß ein Jude auch verfaßt. Und die stellten die Geschichte bige“. dann eine christliche Kirche nicht betre- nur „schrecklich verzerrt“ dar. Der Konflikt, der an das Selbstver- ten dürfe, wenn er nur Schutz vor Regen Wortführer Miller will kommende Wo- ständnis der Juden rührt, bedroht in suche. Vieleorthodoxe Judengehen nach che in die USA reisen. Im Gepäck hat er der politisch ohnehin tief gespaltenen dem Gebet an der Klagemauer rückwärts eine Liste von Spendern für Jad Wa- israelischen Gesellschaft einen nationa- davon – weil sie dem Heiligtum nicht den schem. „Viele von ihnen“, drohte Miller, len Konsens: Die Erinnerung an den Rücken zukehren wollen. „sind orthodoxe Juden.“ Y

DER SPIEGEL 8/1995 179 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite .

WISSENSCHAFT PRISMA

HIT zu suchen“, betonte Ausstellungen Antarktis über die großen Ozeane bis hin Breithaupt. Bei einem nur zu Flüssen leben und wodurch ihre Exi- geringen Thromboserisiko stenz bedroht ist. Fast zeitgleich mit der hält der Gießener Mediziner Wale und Waljäger Hildesheimer Walschau eröffnet das Gu- eine prophylaktische Hepa- Die Welt „aus der Sicht der Wale“ be- stav-Lübcke-Museum im westfälischen rin-Gabe für nicht mehr ge- trachten sollen die Besucher einer Aus- Hamm (vom 19. Februar bis 21. Mai) sei- rechtfertigt. Die Devise für stellung, die von der Umweltorganisation ne Ausstellung „Weißes Gold aus Sibirien diese Patienten müsse künf- Greenpeace im Roemer- und Pelizaeus- – Kunst der arktischen Waljäger vor 3000 tig lauten: „Zurück zu den Museum der Stadt Hil- Jahren“. Gezeigt wer- Stützstrümpfen.“ desheim am Freitag den rund 370 Objekte letzter Woche eröffnet des Moskauer Staatli- Umwelt wurde und bis zum 6. chen Museums des Juni laufen soll. Com- Orients, die in den Radioaktive putergesteuerte Mo- Jahren 1987 bis 1993 delle verschiedener in dem größten prähi- Autoabgase Wal- und Delphinar- storischen Gräberfeld Wissenschaftler von der ten, Dokumentations- der Eskimos auf der University of Bristol haben filme über den Wal- Tschuktschen-Halbin- in Autoabgasen noch eine fang in den dreißiger sel in Sibirien entdeckt weitere möglicherweise Jahren, Videos über wurden. Die Schau Krebs auslösende Substanz das Leben von Fluß- vermittelt Einblicke in entdeckt: das radioaktive delphinen oder die ka- die Lebensumstände Polonium-210. Merklich er- tastrophalen Auswir- der frühen Waljäger höhte Konzentrationen die- kungen der Treibnetz- und in deren kunst- ses Alpha-Strahlen emittie- fischerei auf Wale und handwerkliches Kön- renden Stoffes fanden Denis Delphine sind in Hil- nen. Auch in Hamm Henshaw und seine Kolle- desheim zu sehen. Die bietet Greenpeace zu- gen noch bis zu zehn Kilo- Ausstellung zeigt, wie sätzlich eine Infor- meter abseits großer Auto- die Meeressäuger in mationsschau über die straßen. Auf den britischen

den unterschiedlichen B. NIMTSCH / GREENPEACE Problematik des Wal- Lebensräumen von der Wal-Exponat fangs.

Astronomie auf 14 Milliarden Lichtjahre Arzneimittel entfernte Galaxien ermögli- Baustopp für chen. Doch derzeit droht das Paradoxe auf 463 Millionen Mark ge- Riesenteleskop? schätzte Projekt der Europäi- Wirkung Einen nahezu ungetrübten schen Südsternwarte ins Das seit Jahrzehnten zur Auf- Blick in die Tiefen des Uni- Stocken zu geraten. Der lösung von Blutgerinnseln versums versprechen sich die Oberste Gerichtshof Chiles („Thromben“) verwendete europäischen Astronomen hat einen vorläufigen Bau- Medikament Heparin ist in von ihrem im Bau befind- stopp am Paranal verfügt, bis den Verdacht geraten, mit- lichen „Very Large Tele- geklärt ist, ob das Gelände unter gerade zur Bildung scope“ (VLT) auf dem für die Sternwarte den Euro- solcher Thromben beizutra- Mount Paranal in Nordchile. päern gehöre oder einer Fa- gen. Auf einem Ärztekon- Vier Spiegelteleskope mit ei- milie Latorre, die seit Jahren greß im schleswig-holsteini- nem Durchmesser von je 8,2 behauptet, rechtmäßiger Be- schen Geesthacht stellte Pro-

Metern sollen den Blick noch sitzer des Areals zu sein. fessor Henning Breithaupt PA / DPA von der Justus-Liebig-Uni- Wochenendverkehr auf der M 4 versität in Gießen eine Studie vor, in der von 20 einschlägi- Autobahnen M4 und M5 la- gen Fällen an der Gießener gen die Polonium-Konzentra- Klinik in den Jahren zwischen tionen 20mal höher als in der 1992 und 1994 berichtet wur- Innenstadt von Bristol. Als de. Nach Breithaupt trat die- Quelle des radioaktiven Stof- se sogenannte Heparin-in- fes komme, wie Henshaw im duzierte Thrombozytopenie Medizinjournal The Lancet (HIT) bei etwa jedem hun- schreibt, sowohl verbleites dertsten Patienten auf, der Benzin in Frage als auch Mo- zur Vorbeugung gegen Blut- torenöl, das die Zerfallspro- gerinnsel oder zur Behand- dukte von Uran-238-Spuren lung von großen Thromben enthalte. Alpha-Strahlen in im Herzen oder der Lunge hoher Dosierung gelten als mit Heparin behandelt wor- Auslöser für Leukämien, Ge- den war. Zehn der Patienten hirntumoren und Nieren-

ESO starben, jedoch seien „die krebs, besonders bei Kin- VLT-Baustelle in Nordchile Gründe dafür nicht allein im dern.

182 DER SPIEGEL 8/1995 Werbeseite

Werbeseite .

TECHNIK

Luftfahrt TEST ÜBER DEN ALPEN SPIEGEL-Redakteur Joachim Hoelzgen über ein neues Satelliten-Leitsystem für Flugzeuge K. WYSS Crossair-Piloten Lienhard und Di Marco beim Anflug auf Lugano: Steilster Sinkflug der Welt

ie Gipfel des Monte Rosa heben Monte Piambello, überflogen. Im Cock- bahn zu lotsen. Die Antennen der Sen- sich wie Schattenrisse vom stahl- pit wechseln die Farben auf dem Navi- der erzeugen einen Gleitstrahl, dem an- Dblauen Himmel ab, als die Passa- gationsbildschirm von weiß auf grün. fliegende Flugzeuge wie auf einer Per- giermaschine vom Typ Avro RJ 85 den Das bedeutet: Lienhard hat die Signale lenschnur zur Piste folgen. Gotthard passiert. Flugkapitän Hans- des Landekurs- und Gleitwegsenders Beim Anflug auf Lugano ist der un- jörg Lienhard hält auf die fjordähnliche Lugano erfaßt. sichtbare Landepfad 6,65 Grad geneigt. Landschaft des Lago Maggiore und des Dieses Leitstrahlverfahren, weltweit Vom Cockpit aus empfindet man das als Luganer Sees zu. Er wird nun eine Instrumentenlandesystem (ILS) ge- derart abschüssig, daß nicht nur das Schleife beginnen, die über italienisches nannt, ist auf fast allen Verkehrsflughä- Flugzeug, sondern auch die Berge links Gebiet und damit von Süden her zum fen installiert, um Maschinen auch bei und rechts des Sees an Höhe zu verlie- Zielflugplatz Lugano führt. Nacht und Nebel sicher auf die Lande- ren scheinen. Für die Insassen des Crossair-Flugs Der 43 Tonnen schwere Crossair-Jet LX 912 beginnt eine Nervenprobe. Das ist in dieser Phase 222 Stundenkilometer liegt daran, daß der Anflug auf Lugano Signale aus dem All schnell und braust mit einer Sinkge- als „kontrollierter Absturz“ gilt; die schwindigkeit von 7,2 Metern pro Se- Landepiste gleich hinter dem Seeufer sollen künftig Verkehrsmaschinen kunde in die Abenddämmerung hinab. wirkt wie ein Flugzeugträger im Gebir- auf die Landebahnen der Flughäfen Zum Vergleich: Auf dem Frankfurter ge: Piloten müssen hier zu einem unge- leiten. Die Angaben der US-Naviga- Rhein-Main-Flughafen, in dessen Um- wöhnlichen Manöver ansetzen – dem tionssatelliten werden jedoch vom feld nur die Schlote des Kohlekraft- steilsten Sinkflug der Welt. Militär verfälscht. Ein Trick deut- werks von Großkrotzenburg bedrohlich „Wir stechen jetzt da hinab“, kündigt scher Forscher – die Berichtigung emporragen, beträgt der Gleitwinkel Lienhard dem Ersten Offizier Fernando der Daten am Boden – hilft aus sanfte drei Grad. Eine Boeing 747 sinkt Di Marco an. Der vierstrahlige Jet hat dem Dilemma. hier nur mit 3,5 Metern je Sekunde der gerade eine Art Sprungschanze, den Erde entgegen.

184 DER SPIEGEL 8/1995 .

Das schwierig anzufliegende Lugano und die schroffe Welt der Westalpen wirken dagegen wie eine Herausforde- rung – auf Andre´ Dose´ jedenfalls, den Technischen Chefpiloten der Crossair. Dose´ dehnt seine Bergführerfigur, 1,89 Meter groß, am Schreibtisch des Cross- air-Hauptquartiers, eine Art Hangar am Flughafen Basel-Mülhausen. Er ver- steht sich als Pionier des Chip-Zeital- ters, dessen unerbittlicher Datenstrom nun auch zur Navigation von Flugzeu- gen gebündelt werden soll: mit Hilfe von Satelliten, die in knapp 20 000 Kilo- meter Höhe um die Erde kreisen. Die Signale aus dem All werden von 24 Satelliten des amerikanischen Navi- gationsnetzes Global Positioning System

(GPS) ausgestrahlt und stellen eine Art DIVISION Weltgeschwindigkeitslimit auf. Sie rasen mit Lichtgeschwindigkeit zur Erde und speisen dort kleine Empfangsgeräte, die aus dem Datenstrom kontinuierlich ih- ren Standort ablesen.

GPS-Empfänger weisen schon Segel- ROCKWELL’S SPACE SYSTEMS booten, Wüstenwanderern, der Feuer- Montage eines GPS-Satelliten: Folgen für 1,3 Milliarden Passagiere wehr im westfälischen Hamm und neu- erdings Luxusautos den Weg. Doch nir- Himmel, wird von den Mitbewerbern in In den GPS-Empfängern auf der Erde gendwo wird die genaue Positionsbe- Europa aber erst spärlich genutzt. Dem wiederum ermitteln Kleinstrechner die stimmung ähnlich große Wirkungen ha- Chefpiloten ist das unverständlich: „Seit Laufzeit der Signale und die Entfernung ben wie beim Massentransport durch die der Erfindung des Kompasses hat es so zu den Weltraumsendern. Mit einer Luft – mit Folgen für 1,3 Milliarden Pas- etwas nicht mehr gegeben. Die Zukunft geographischen Schnittpunktberech- sagiere, die jährlich in Verkehrsflugzeu- der Luftfahrt hängt von Satelliten ab, nung, wie sie jeder Mathematiklehrer gen unterwegs sind. hundertprozentig.“ beherrschen sollte, setzen sie daraus die Dabei geht es um die Ablösung von Vom Prinzip her klingt das einleuch- eigene Position samt Höhe und Ge- Navigationshilfen, die fünf Jahrzehnte tend. Die Satelliten des Global Positio- schwindigkeit zusammen. alt sind: das ILS, Funkfeuer auf Ukw so- ning System strahlen auf zwei Kanälen Als es erst eine Handvoll der Kunst- wie Entfernungsmeßgeräte und Peiler, Datenströme aus, die als Schlüsselgrö- monde im Weltraum gab, hatte US-Prä- die im wesentlichen noch aus der elek- ßen die Sendezeit und den Standort der sident Ronald Reagan 1983 deren zivile tromagnetischen Jurassic-Parc-Ära des Satelliten enthalten. Die Umlaufbahnen Nutzung freigegeben. Anlaß: Über der Telegrafenerfinders Marconi stammen. sind so angeordnet, daß sich zumindest Insel Sachalin hatte sich ein Jumbo-Jet Auf Dose´ und die Swissair-Tochter vier Satelliten zu jeder Zeit und über je- aus Südkorea verflogen und war von so- Crossair übt GPS den Reiz von Manna dem Ort der Welt am sichtbaren Firma- wjetischen Jägern abgeschossen wor- aus. Es fällt verschwenderisch vom ment befinden. den. Ein solch blutiges Mißverständnis, Lotsen am Himmel Navigations- Satellitengestützter Flughafen Lugano satellit

SCHWEIZ 1 Zumindest vier Satel- liten befinden sich am 3 Beim Flug über die Berge des Tessin orientiert Firmament. Die Boden- Poncione sich eine Saab 2000 mit Hilfe der Satellitennavi- station kann überdies Rosso (2505 m) gation. In Höhe des Monte Ceneri werden das die Signale von neu am Fahrwerk ausgefahren und die Klappen gesetzt. Horizont aufgehenden Locarno Satelliten empfangen. LagoMaggior , Herkömmliches In- e Cima dell strumentenlandesystem Uomo (2390 m) (ILS): Zwei Sender an der Landebahn markieren mit ihren Signalen den Gleitpfad der Maschine. 2 Monte Die Bodenstation am Ceneri Flughafen vergleicht die (554 m) Angaben der Satelliten Flughafen Gleitwegebene mit dem tatsächlichen Standort der Anlage und Lugano Sender sendet die Differenz zur anfliegenden Maschine. Landekursebene ITALIEN Landebahn

DER SPIEGEL 8/1995 185 .

TECHNIK

versprach Reagan, sollte sich dank GPS flug ist diese Streuung dank nicht wiederholen. der geräumigen Luftstraßen Nur: Mit der wirklich exakten Ortsbe- und genauer Höhenmesser stimmung hapert es, weil das Satelliten- beherrschbar. rudel ein zentrales strategisches System Weit entfernt vom Gott- der US-Streitkräfte ist und Reagan des- hard haben Crossair-Ma- halb nur ein „vergröbertes“ Signal anbot. schinen das Navigieren mit Computer an Bord der Satelliten prägen GPS unter heiklen Umstän- den Sendezeichen Fehler auf, mal durch den getestet –in der Flugver- ein kaum merkbares Beschleunigen, mal botszone des Nordirak. durch ein ebenso kurzes Verzögern des „Diese Gegend ist ein Datenflusses. Das Pentagon befürchtet, schwarzes Loch“, erläutert Diktatoren wieSaddam Hussein könnten Dose´, „nicht einmal ein altes sonst ihre Raketenrampen genauer ju- Mittelwellenfunkfeuer ist stieren oder einen Marschflugkörper mit dort vorhanden.“ Die GPS-Hilfe ins Ziel bringen. schweizerische Fluggesell- Das US-Militär hilft sich selbst. Gehei- schaft hat mehrmals Uno-In- me Mikroprozessoren in Truppenemp- spektoren nach Bagdad ge- fängern und Kampfflugzeugen berichti- schafft, wobei ein GPS- US-Satellitenstation: Augenhintergrund geprüft genden größten Teil der künstlichen Ver- Empfänger den Zentral- zerrung. Dank GPS fanden 1991 im Golf- rechner des Jets mit Navigationsangaben Flugzeuge müßten nicht länger in gro- krieg Pioniere Wasserstellen in der Wü- speiste. „Die Iraker staunten nicht ßem Abstand nebeneinander fliegen, ste – und rasten gefürchtete Abstands- schlecht, wir kamen nie vom Kurs ab und sondern könnten hintereinander, wie in waffen durch irakische Bunkerportale, trafen jedesmal auf die Minute genau einem Konvoi, den treibstoffsparenden damals ein beklemmendes Schauspiel in ein“, erinnert sich Dose´. Schub des Höhenwindes nutzen. den Fernsehnachrichten. Sein Kollege bei der Lufthansa ist El- Über Land ließen sich die Luftstraßen Die Manipulation der Daten ist Sache mar Boje. Der Flugkapitän leitet auf der endlich begradigen, die auf den Karten der 2nd Satellite Control Squadron der Frankfurter LH-Basis das Referat Tech- verwinkelt aussehen wie Schnittmuster- U. S. Air Force, die sich auf dem Stütz- nische Standards und macht mit einem bögen. Und dank eines Kahlschlags der punkt Falcon Station im Bundesstaat Co- Airbus A-340 ähnliche Erfahrungen. Antennenwälder auf dem Boden könn- lorado verschanzt hat – umgeben wie bei Auf Langstreckenflügen nach New ten die Flugsicherungsgebühren gesenkt Dr. No von einem Todeszaun und mit York, Madras und Osaka versorgt ein werden, für die etwa die Lufthansa so Magnetkartenschleusen in den ockerfar- GPS-Empfänger den Autopiloten der viel ausgibt wie für das Flugbenzin und bigen Gebäuden. Um Feindagenten zu Maschine –mit schönem Erfolg, wie Boje Kerosin ihrer gesamten Flotte. „Lei- der“, sagt Boje, „ist das Satellitenthema lange verschlafen worden.“ Jetzt drängt die Zeit, weil eine andere Äthermacht am Horizont aufsteigt: die Medien. Das irrwitzige Wuchern der privaten Radiostationen hat dazu ge- führt, daß die Frequenzen der ILS-Sy- steme auf den Flughäfen bedrängt wer- den. Sie arbeiten im oberen Ukw-Be- reich (108 bis 112 Megahertz) und wer- den von den mit Kilowattstärke wum- mernden Radiosendern „angespuckt“, wie es im Jargon der Fluglotsen heißt. Am schlimmsten ist die Situation an der US-Ostküste und in New York, wo die Sendekanäle eng zusammenliegen. Und auch in Deutschland wächst nach Ansicht mancher Fachleute das Risiko, daß ein Verkehrsflugzeug demnächst von einem Radiounterhalter in den Un- tergang geplaudert werden könnte.

B. BOSTELMANN „Insbesondere Überschneidungen der Lufthansa-Kapitän Boje: Erfolg auf der Strecke nach Madras ILS-Frequenzen mit den Frequenzen von Ukw-Sendern führen zu zunehmen- enttarnen, müssen sich Offiziere und Sol- meint. Die Abweichung nach einem den Problemen“, warnt das bayerische daten täglich einer Rasterprüfung des Flug über das Meer betrage nun allen- Staatsministerium für Wirtschaft und Augenhintergrundes unterziehen; das falls noch 100 Meter – und nicht mehr Verkehr. „Ungeklärte Störungen“, die Ergebnis wird mit gespeicherten Fotos gleich Meilen, wie das sonst der Fall sei. „sicher von Radiosendern stammten“, abgeglichen. Die Branche kann Auftrieb gebrau- verzeichnete die Flugsicherung in Ham- Nach Ansicht des Satelliten-Anwen- chen. Viele Fluggesellschaften stecken burg schon vor Jahren. ders Dose´ ist das Problem der verfälsch- in Turbulenzen und buchen seit Jahren Eine Uno-Organisation, die Interna- ten Daten nicht so prickelnd, wiees schei- rote Zahlen. Dank der Satelliten ließen tionale Fernmeldeunion in Genf, will nen mag. Zivile Nutzer müssen mit einer sich die Maschinen etwa auf den Nord- den Wellensalat mit einem radikalen Abweichung von 100 Metern seitwärts atlantikrouten enger staffeln, laut Ex- Schnitt beseitigen. Die Genfer Beamten und 170Metern in der Höhe rechnen, das pertenschätzung mit einem Spareffekt haben die private Nutzung der ILS-Ka- heißt: Für Flugzeuge auf einem Strecken- von 4,5 Milliarden Dollar jährlich. Die näle freigegeben – von 1998 an sollen sie

186 DER SPIEGEL 8/1995 nur noch den Radiosendern zur Verfü- gung stehen. Die Frequenzstrategen wa- ren davon ausgegangen, daß bis dahin schon ein Nachfolger für das bewährte ILS bereitstehe: das Mikrowellenlan- desystem (MLS). Dabei handelt es sich um Sender, die nicht etwa einen schmalen Gleitpfad, sondern eine Art Tortenstück am Him- mel erzeugen, garniert mit den Landein- formationen. Doch das System ist von der Satellitennavigation in den Start- blöcken gestoppt worden. „Es gibt für die Lufthansa keinen Grund, MLS wei- terzuverfolgen“, erklärt Elmar Boje für die Kranichlinie, „das wäre nur eine sehr teure Zwischenlösung.“ Die Internationale Zivilluftfahrtorga- nisation in Montreal ist nun gefordert. Sie will angesichts der Klemme, in der sich die Fluggesellschaften befinden, ei- nen Kompromiß vorschlagen – mit dem Ziel, ein sogenanntes Satelliten-Präzisi- onsanflugverfahren einzuführen. Ge- plant ist, das GPS-Netz mit europäi- schen, japanischen und womöglich kom- merziellen US-Satelliten zu ergänzen. Eine ausschließlich amerikanische Kontrolle der Luftfahrt mit dem GPS- System ist den Europäern unheimlich. Washington behält sich nämlich vor, das Netz einfach lahmzulegen, wenn es die nationale Sicherheit erfordert. Die Sa- telliten sind so programmiert, daß ganze Erdteile gewissermaßen abgeschaltet werden können; nur die USA würden weiterhin die Signale empfangen. An dieser Stelle prescht der Eidge- nosse Dose´ vor. Er will von Juni an, komme was wolle, mit GPS fliegen und landen – mit leibhaftigen Passagieren. Die Ernstfallstrecke führt zum ver- trackten Lugano. Dose´ möchte es ohne Umweg auch von Norden her ansteu- ern, wo die Täler mit ihren alten Saum- pfaden und Steinbrücken eng sind und ein Gipfel wie die Cima dell’Uomo (2390 Meter) vor der Piste aufragt. Weil die Funkleitstrahlen von den Bergen gleich wieder zurückgeworfen würden, gibt es hier keinen ILS-Gleitweg. Fliegerische Schwierigkeiten hat Do- se´, seine Laufbahn weist das aus, schon früh gemeistert. Mit 17 hat er die Flugli- zenz erworben und erst ein Jahr darauf den Führerschein; zu den Flugstunden fuhr er mit dem Fahrrad. Und weil gerade wieder eine Rezessi- on herrschte, landete er zunächst nicht bei der Crossair in Basel, sondern in Ba- ton Rouge im US-Staat Louisiana. Als Sprayflieger hüllte er Baumwollfelder mit Insektiziden ein. Nach Hurrikanen flog er die Leitungen von Starkstrom- masten ab, um Beschädigungen festzu- stellen. „Ich flog mit dem Hintern“, sagt das Flieger-As. Bei der Crossair gelang ihm mit GPS eine Weltpremiere. Anlaß war die Er- öffnung einer neuen Strecke in die Wal- .

TECHNIK

liser Kantonshauptstadt Sion, auf die Als Student an der Technischen Uni- vollautomatische Landungen mit D-GPS der längste ILS-Anflug der Welt hinab- versität in Braunschweig gehörte Jacob – auf dem kalifornischen Flugfeld Crows führt. Der schnurgerade Gleitpfad be- zu jenen Denkern – er widmete der Sa- Landing hin, allerdings ohne Passagiere. ginnt über dem Gletscherriesen che seine Dissertation –, die das Penta- Anders auf dem Flughafen München, wo Aletschhorn und ist 26 Kilometer lang. gon und die Satellitenkontrolleure über- im Juni der erste deutsche Großversuch Doch das Bundesamt für Zivilluft- listet haben: mit Hilfe eines sogenann- beginnen soll. Beteiligt sind die Lufthan- fahrt in Bern entdeckte noch ein ande- ten Differentials, D-GPS genannt. Es sa, British Airways, Eurowings, die res Hindernis: einen Bergrücken des korrigiert die Weltraumsignale auf ei- Swissair und Crossair; gelandet wird al- Massivs Haut de Cry (2969 Meter), der nen Meter genau. lerdings noch auf dem ILS-Gleitpfad. einen Keil ins Tal entsendet. Was tun, Am Institut für Flugführung der Tausende von Anflugkurven, die mit D- wenn beim Start nach Westen, von wo Hochschule hat Professor Gunther GPS geflogen werden, sollen aufgezeich- im Rhoˆnetal meistens der Wind weht, Schänzer die Doktorarbeit des findigen net und analysiert werden. ein Triebwerk ausfällt? Bei einer Saab Jacob abgenommen. „Es war wie bei Dose´ will unterdessen den Flugbetrieb 340, dem Arbeitspferd der Crossair, Computerhackern“, erzählt Schänzer, auf der Lugano-Direttissima aufnehmen. würde ein Motor allein nicht über den „wir sind in ein zehn Milliarden Dollar Das Berner Luftfahrtamt verlangt, daß Knick in der Landschaft hinweghel- teures militärisches System eingedrun- vorerst bei guten Wetterbedingungen ge- fen. gen, ohne dazu berechtigt zu sein.“ landet wird, doch später will Dose´ auch Dose´ versuchte es deshalb mit einem Im Tessin nutzt Dose´s Crossair die durch Wolken herabstoßen. GPS-Empfänger, wie ihn Bergsteiger deutsche Erfindung, allerdings mit der Die Braunschweiger passen auf. Sie benutzen – im Selbstversuch und mit D-GPS-Station eines US-Herstellers; sie haben Versuchsflüge gemacht und die nur einem Antrieb. Bei Martigny biegt hat zwölf Kanäle und könnte somit Strecke über den Pässen und Gipfeln ver- das Tal der Rhoˆne in einem Winkel zwölf Satelliten anzapfen. messen. Den Testpiloten Dirk Brunner hat die Cima dell’Uomo beein- druckt. „Hauptsache ist, dort gut drauf und gerade auf Kurs zu sein“, empfiehlt er den Schweizer Kollegen. Bernhard Meier, der Cross- air-Navigationschef, hat für die Lugano-Flüge mit einer Turbo- prop-Maschine vom Typ Saab 2000 alles berechnet. Der Ab- stand zum Gipfelgrat der Cima dell’Uomo soll idealerweise 333 Meter betragen, doch es dürfen auch 150 Meter weniger sein. Zur Sicherheit soll dann das Bodenwarnsystem Alarm schlagen. Meier: „Für den Pilo- ten heißt das, wenn du tiefer sinkst, gibt’s eine hinter die Ohren.“ Was aber, wenn ein Satellit ausfällt oder die D-GPS- Station am Boden versagt? Meier glaubt, auch das im Griff

CROSSAIR zu haben. In Lugano wird eine Saab-340-Maschine über dem Wallis: Selbstversuch mit nur einem Motor zweite Station errichtet, die alle Korrekturwerte vergleicht. Nur von 110 Grad nordwärts ab, mit wenig Das Berichtigen der eingebauten Un- dann, wenn die Zahlen übereinstim- Raum zwischen den umstehenden Ber- genauigkeit im Datenstrom ist gar nicht men, werden sie zum Flugzeug über- gen. Dose´ vertraute auch hier dem Sa- so schwer. Der Bodenempfänger befin- tragen. Wenn ein Fehler nicht gefun- tellitenempfänger und steuerte die Ma- det sich in einem Gehäuse; der Standort den und bereinigt worden ist, leuchtet schine mit der Kurvenlage eines Kampf- der Antenne ist millimetergenau ver- im Cockpit eine Lampe – „D-GPS flugzeuges durch die Talenge. messen worden. Chips berechnen mit gelb“ – auf. Der Pilot muß die Maschi- Die Berner Luftfahrtbeamten waren den Angaben der Satelliten die Quasi- ne durchstarten. beeindruckt und gestatteten den GPS- Position der Anlage. Den fehlerhaften Die wirklichen Gefahren lauern im Einsatz im Wallis. „Ich glaube nicht, Meßwert ziehen sie von den exakt be- Politischen. Meier hat Anfang Januar daß dies in einem anderen Land möglich kannten Koordinaten ab. ein regelrechtes Satellitenloch am gewesen wäre“, meint Dose´, „ausge- Diese Korrekturangaben werden zum Nordhimmel entdeckt. Einige GPS-Sa- nommen vielleicht in den USA.“ GPS-Empfänger an Bord des heranna- telliten haben die Umlaufbahn geän- Der direkte Anflug nach Lugano aber henden Flugzeugs übertragen, der sei- dert und sind über Südeuropa hinweg- ist so knapp, daß die ungenauen GPS- nerseits ständig die eigene, wenn auch geflogen, um amerikanische Kampf- Signale spätestens bei der Landung ein an der Wirklichkeit leicht vorbeischlin- flugzeuge über Bosnien zu unterstüt- Vabanquespiel wären. „Der glaubt, er gernde Position bestimmt. Diese wird zu zen. würde auf die Piste zuhalten und ist dem korrigierten Wert addiert (Slang: In Falcon Station hat man deshalb doch total daneben. Der würde in der „verheiratet“) und ergibt die richtige na- schon häufiger am Knopf gedreht – mit Walachei aufsetzen.“ Das sagt ein Ex- vigatorische Lösung. Phantasieziffern, die den Standort der perte: Thomas Jacob, GPS-Chef beim Vor kurzem legte eine Boeing 737 der tollkühnen Flieger im Gebirge um 500 Konzern Daimler-Benz Aerospace. United Airlines 110 „autolandings“ – Meter falsch angegeben hätten. Y

188 DER SPIEGEL 8/1995 Werbeseite

Werbeseite Medizin Dumpfe Hörwelt Alarmierende Studie der Gießener Uni: Die Zahl der – noch jungen – Lärmschwerhörigen wächst.

m Obergeschoß wummerte eine La- sershow. „Brutaler Schallpegel“, erin- Inert sich ein Aussteller. Im Erdge- schoß erzeugten die Elektronik-Orgel- bauer der Firma Wersi ohrenbetäuben- de Schallpegel bis zu 100 Dezibel. Dazu brach jede Stunde eine New-Wave- Show der Musik-Softwarefirma Emagic über die Besucher der Frankfurter Mu- sikmesse herein. Gesundheitsrisiko Diskothek (in Bonn): „Ausgefeilte Technik richtet den Lärm Rettung vor all dem Lärm – und Klar- heit über seine gesundheitlichen Folgen Einen Teil dieser im letzten Jahr er- Das „vorläufige Fazit“ ist laut Flei- – versprachen vier schalldichte Kabinen hobenen Daten haben die Wissenschaft- scher „erschreckend“. Es bestätigt die in einem Container, der auf der Ausstel- ler mittlerweile ausgewertet. Die Ergeb- schlimmsten Befürchtungen über nach- lungsfläche E 89 in Halle 9 plaziert war. nisse, ergänzt durch Resultate von Hör- lassende Hörfähigkeit und zunehmende Hier residierte die Arbeitsgruppe Hör- tests bei 1500 Soldaten der Bundeswehr, Gehörschäden bei Bundesbürgern aller forschung der Universität Gießen und will die Gießener Arbeitsgruppe, gelei- Altersschichten. Annähernd 15 Millio- offerierte den Messebesuchern medizi- tet von dem Anatomieprofessor Gerald nen Deutsche haben Probleme mit dem nische Hörtests. Jeder zehnte der 80 000 Fleischer, Anfang März auf der diesjäh- Hören. Davon Besucher der Musikmesse machte von rigen Frankfurter Musikmesse präsen- i sind 250 000 hochgradig schwerhörig dem Angebot Gebrauch. tieren. oder taub; i leiden 1,5 Millionen unter mittleren bis schweren Hörschäden; i klagen 6 Millionen über Klingeln, Plage gelten Lärm- und Streßsituatio- Pfeifen oder Rauschen im Ohr – den Ein Leben nen. In der etwa dreimonatigen Akut- sogenannten Tinnitus (siehe Kasten). phase des Tinnituskann der Quälgeist Überraschend weit verbreitet ist die im Rauschen bei etwa jedem dritten Patienten mit Lärmschwerhörigkeit, auf deren Erfor- Bettruhe und durchblutungsfördern- schung und Prävention die Gießener führen ständig eine Million Bundes- den Mitteln zum Verstummen ge- Arbeitsgruppe sich spezialisiert hat, be- bürger. Bei weiteren fünf Millionen bracht werden. Für chronische Tinni- reits im zweiten und dritten Lebensjahr- Deutschen knackt und klingelt, tus-Patienten gibt es bisher keine Hei- zehnt. pfeift, surrt oder hämmert der „klei- lung. So leidet nahezu jeder dritte aller ne Mann im Ohr“ gelegentlich: Die Erfolge bringen verhaltensmedizi- 20jährigen Bundesbürger unter einer Betroffenen leiden unter Tinnitus, nische Behandlungsmethoden, bei Verminderung der Hörfähigkeit um we- der ärgsten aller Ohrenplagen. Des- denen der Kranke lernt, seine als nigstens 25 Dezibel im Frequenzspek- sen Ursachen haben die Mediziner „nicht aushaltbar empfundene Bela- trum zwischen zwei und sechs Kilohertz. bislang zweifelsfrei nicht klären kön- stung in eine erträgliche Behinderung Eine Beeinträchtigung in diesem Be- nen. Ebenso vergebens verlief die umzuwandeln“, so der Tinnitus-Ex- reich ist besonders schwerwiegend, weil Suche nach einer Therapie, die perte Gerhard Goebel von der Me- sich Musik und Sprache hauptsächlich „Stimmen aus dem Nichts“, wie Tin- dizinisch-Psychosomatischen Klinik hier abspielen. nitus-Patienten die lästigen Geräu- Roseneck im bayerischen Prien. Relativ intakt war das Gehör der von sche nennen, zum Schweigen zu Qualminderung verschafft der Fleischer erfaßten Gruppe von Berufs- bringen. Düsseldorfer Ohrenarzt Günter Es- musikern und Tonmeistern im Alter bis Sicher ist nur der Ort des Übels: ser seinen Patienten mit einer musik- zu 40 Jahren. Vom fünften Lebensjahr- Es sitzt, jedenfalls meistens, im In- gesteuerten Entspannung – einer Mi- zehnt an nahmen aber auch bei ihnen nenohr. Seine Leistung kann durch schung aus Musik und Yoga (SPIE- die Hörschäden im Hörbereich um die viele verschiedene Faktoren gestört GEL 30/1994). Hersteller von Hörge- Vier-Kilohertz-Schwelle zu. Die Schä- werden, vor allem durch Sauerstoff- räten haben eine elektronische Hilfe, den waren dann sogar weit ausgeprägter mangel in den Hörsinnzellen, die einen „Masker“, entwickelt, der den als bei der Vergleichsgruppe von 470 darauf mit einer „Eigenaktivität“ Tinnitus austricksen soll: Aus dem „Musikfreunden“, die von den Gieße- reagieren und das Gehör mit Störsi- Ohrstöpsel pfeift ein Geräusch, das ner Hörforschern getestet wurden. gnalen überfluten. Als Auslöser der die Tinnitus-Frequenz überlagert. Ob Beethoven oder Beach Boys, hämmernder Technosound oder dröh- nender Dixieland-Jazz – „jede laute Mu-

190 DER SPIEGEL 8/1995 .

WISSENSCHAFT

wachsen. Mangels Ruhepausen zur Er- holung sterben sie ab und sind „um Gentechnik nichts in der Welt wiederzubeleben“, wie Fleischer warnt. Meist beginnt der Hörverlust im obe- ren Frequenzbereich. Ist das Innenohr Geröll einmal verletzt, beschleunigt die Behin- derung den weiteren Verfall: Um ge- wohnte Phonstärken zu vernehmen, im Gehirn dreht der Benutzer den Regler weiter auf. Die Folge: Immer mehr Haarzellen US-Forschern ist es gelungen, Alz- sterben ab. heimer-kranke Mäuse zu züchten – Viele Profimusiker suchen sich bei ih- ren Auftritten gegen den Super-Lärm zu erstmals kann das Leiden im Tier- schützen. Tontechniker verschanzen versuch studiert werden. sich in Glasbunkern, Boxentürme wer- den so angeordnet, daß die Bühne im toten Winkel liegt, Orchestermusiker ei der Nachricht von dem neuarti- drücken sich Stöpsel in die Ohren. Häu- gen Mäusetyp wurde es Konrad fig nützt alles nichts. „Ich verliere mein BBeyreuther leicht ums Herz: „Ich Gehör“, bekannte jüngst Popmusiker fühl’ mich gleich viel besser“, schwärm- Sting, 43. te der Heidelberger Alzheimer-Experte, Lärmschwerhörigkeit zählt zu den un- „diese Maus ist die beste, die ich je gese-

P. GINTER / BILDERBERG heilbaren Krankheiten, und die Fol- hen habe.“ punktgenau auf die Tanzfläche“ gen der Behinderung sind weit- reichend. Der Betroffene kann sik ist Lärm, und Lärm macht das Ohr bei starken Hintergrund- oder kaputt“, sagt Fleischer. Als Faustregel Begleitgeräuschen Gesprächen für Hörschäden gilt: „Je lauter und je kaum noch folgen. Er versteht länger, desto schneller.“ Anweisungen nicht oder verpaßt Unmittelbar betroffen von den Fol- die Pointe eines Witzes. Und da gen anhaltenden Lärms sind die rund „im Volksmund taub und dumm 20 000 Haarzellen, die sich auf einer nicht weit auseinanderliegen“, Membran innerhalb der erbsengroßen wird der Lärmschwerhörige, wie Schnecke im Innenohr befinden. Diese Audiologe Fleischer aus vie- Nervenzellen wandeln den Schalldruck len Patientengesprächen weiß, in elektrische Impulse um und leiten die „häufig als dumm verkauft“. Signale ans Gehirn weiter. Um den Messebummlern in Lärmbelastungen am Arbeitsplatz Frankfurt, die noch im Vollbesitz sind streng geregelt. Industriearbeiter, ihrer Hörkraft sind, den mögli- etwa Kesselschmiede oder Holzarbeiter, chen Schaden vor Ohren zu füh- die mit Kreissägen hantieren, müssen ab ren, werden die Gießener Lärm- 85 Dezibel Ohrenschützer tragen. forscher auch in diesem Jahr eine Kein Gesetz hingegen schützt Besu- Akustik-Workstation geöffnet cher von Discos und Rockkonzerten, wo halten, mit der sich Schwerhörig- der Schalldruck die 85-Dezibel-Marke keit simulieren läßt. schnell überschreiten kann. „Ausgefeil- Besucher empfangen über te Technik“, sagt Siggi Arden, Vorsit- schallgedämmte Kopfhörer zu- zender des Berufsverbandes Deutscher nächst die Geräusche ihrer Um- Diskjockeys, sorge dafür, daß der Wum- gebung so, wie sie ein ungeschä-

merlärm „punktgenau auf die Tanzflä- digtes Ohr aufnimmt. R. FALCO / DAS FOTOARCHIV che ausgerichtet bleibt“. Wenn der DJ Auf Knopfdruck wird dann die Alzheimer-Patientin ordentlich powert, steigt die Gefahr ei- Hörwelt umgeschaltet. Über ei- Verdämmern ohne Gedächtnis ner Vertaubung bei den Zuhörern nen mikrofonbestückten Kunst- sprunghaft an: Bereits 95 Dezibel be- kopf, der die Handikaps eines Lärm- „Sehr, sehr aufgeregt“ nahm auch der deuten (gegenüber 85 Dezibel) real eine schwerhörigen elektronisch nachbildet, US-Wissenschaftler John Hardy von der Verdoppelung der Lautstärke. Bei ei- bekommen die Testpersonen einen Vor- University of South Florida Berichte nem Schallpegel von 110 Dezibel (voll geschmack auf das Übel. über die gemeinsame Forschertat von 34 aufgedrehter Walkman) riskiert der Die Zuhörer trauen ihren Ohren nicht: US-Kollegen zur Kenntnis, denen die Lärmkonsument schon bei einer tägli- Musik und Gespräche klingen plötzlich Produktion der neuen Gentech-Mäuse chen Beschallung von nur 15 Minuten, breiig, dumpf und verzerrt. Die Klang- zu verdanken ist. Hardy: „Höchst be- daß sich im Laufe weniger Jahre ein quelle kann nicht mehr geortet werden, merkenswerte Tiere.“ Hörschaden einstellt. die räumliche Orientierung geht verlo- Anlaß für die Euphorie, von der die Bei den „heutigen Halbstarken“ ren. Zunft der Alzheimer-Forscher Mitte Fe- (Fleischer) geht das offensichtlich sehr Danach schlendern die Testwilligen bruar erfaßt wurde, sind hirnkranke Na- viel schneller. Durchschnittlich gehen wieder über die Frankfurter Messe, für ger aus den Genlabors des US-Unter- Rockfans pro Jahr 18 Stunden ins Kon- die indiesem Jahr diedezibelstarke Tech- nehmens Athena Neurosciences in San zert und sitzen 400 Stunden vor der Mu- noband „Der Weltempfänger“ und „Sax Francisco und des Pharmariesen Eli Lil- sikanlage. Solchen Klangorkanen sind & Co“ (mit 50 Saxophonen) gemeldet ly in Indianapolis. Die dort gentechnisch die Haarzellen im Innenohr nicht ge- sind. Y in die Welt gesetzten Mäusemutanten

DER SPIEGEL 8/1995 191 .

WISSENSCHAFT

leiden, wie Forscher der US-Firmen im Vergangenheit – überwiegend „schwa- San Diego die Hirnzellen ihrer Patien- Fachblatt Nature verkündeten, an che Forschung“ sei das bislang gewesen. ten gegen aggressive Sauerstoffverbin- krankhaften Hirnveränderungen, die Nach Jahren „vergeblicher Versuche, dungen schützen; in Oxidationsschäden den Befunden bei Alzheimer-Patienten falscher Versprechungen und trügeri- vermuten sie die Ursachen des Alzhei- außerordentlich ähnlich sehen. scher Hoffnungen“, konstatierte die mer-Leidens. In der Hirnrinde der Gentech-Mäuse New York Times, seien staatliche For- Hoffnungen setzten die Alzheimer- lassen sich jene Veränderungen nach- schungsgelder für die Entwicklung einer Experten auch auf neue Behandlungs- weisen, die bei Alzheimer-Kranken zum Alzheimer-Maus inzwischen weitgehend verfahren mit entzündungshemmenden geistigen Verfall und schließlich zum gestrichen worden. Vor allem die Aus- Substanzen, Steroidhormonen oder nie- Tod führen – ein unheilbares Leiden, sicht, mit Hilfe der Gen-Mäuse erstmals dermolekularen Schwefel-Kohlenwas- dessen Ursachen bislang unbekannt wirksame Medikamente zur Behand- serstoff-Verbindungen. Im Laborver- sind. Erstmals können die Wissenschaft- lung des Hirnleidens entwickeln zu kön- such hatte sich gezeigt, daß die Sub- ler nun hoffen, die Entstehung und den nen, hatte die Eli-Lilly-Manager gleich- stanzen womöglich das Auftreten jener Verlauf des weithin rätselhaften Ner- wohl bewogen, die finanzschwachen Amyloidplaques im Gehirn unterdrük- venleidens an einem Versuchstier zu Athena-Forscher mit stattlichen Dollar- ken können, die für das Leiden typisch studieren. Spritzen zu päppeln. Gelingt die Ent- sind – die lockenförmigen Ablagerun- Auch die Pharmaforscher berauschen wicklung solcher Arzneimittel, winkt gen breiten sich wie Geröll in der Hirn- sich an der Aussicht, mit den Mäusemu- den Pharmafirmen künftig ein Milliar- rinde aus und ruinieren unaufhaltsam tanten der Athena-Forscher endlich denmarkt. das Leitungsnetz der Nervenbahnen. über ein brauchbares Tiermodell für die Weltweit, so schätzen Fachleute, lei- Diese und andere Medikamente, so menschliche Alzheimer-Krankheit zu den 20 Millionen Menschen an der Alz- hoffen die Experten, könnten künftig an den Alzheimer-Mäusen der US-Un- ternehmen getestet werden: Die hirn- kranken Nager, konstatiert Fachmann Beyreuther, „erfüllen alle Anforderun- gen, die man als kritischer Wissen- schaftler stellen muß“. Den Erfolg bei der Herstellung der Alzheimer-Mäuse, der ihren Kollegen über Jahre versagt geblieben war, ver- danken die US-Forscher vor allem ei- ner „intelligenten Strategie“. Sie trans- ferierten ein schadhaftes APP-Gen – Ursache einer seltenen, erblichen Form der Alzheimer-Krankheit – ins Erbgut der Mäuse. Mit einem gentechnischen Kniff befähigten sie zudem die Mäuse- hirne, von dem eingeschleusten Alzhei- mer-Gen nunmehr drei der Amyloid- Eiweißprodukte abzulesen, die auch im Menschenhirn an der Entstehung der ruinösen Plaques beteiligt sind. Anschließend fanden sich im er- krankten Hirngewebe der Mäuse weit- aus weniger Nervenfortsätze und eine geringere Vernetzung der Hirnzellen, ebenfalls ein klassisches Symptom des

B. BOSTELMANN / ARGUM tückischen Demenzleidens. Alzheimer-Forscher Beyreuther: „Die beste Maus, die ich je gesehen habe“ Vor allem die Übereinstimmung der Krankheitsanzeichen im Hirngewebe verfügen: Die Alzheimer-Maus werde heimer-Demenz; allein in den Vereinig- von Alzheimer-Patienten und Mäuse- nicht nur den Grundlagenforschern ten Staaten sind es derzeit 4 Millionen. mutanten läßt die Forscher hoffen: neue Einblicke in den Krankheitsverlauf Die demographische Vergreisung, so Endlich könne es jetzt gelingen, so hof- gestatten, versichern Experten wie John prophezeien Experten, werde auch in fen die Experten, den jahrzehntelan- Hardy; vor allem könne nun erstmals Deutschland den Krankenstand von gen, zunächst „klinisch stummen“ Pro- auch die Wirksamkeit neuer Medika- derzeit nahezu 800 000 Alzheimer-Pa- zeß zu verstehen, der den Patienten mente im Tierversuch geprüft werden. tienten in den nächsten 15 Jahren um erst das Gedächtnis, dann den Verstand Künftig würden die Alzheimer-Mäuse, mindestens 30 Prozent hochschnellen raubt und sie zum Schluß als geistlose beteuert auch Hirnforscher Beyreuther, lassen. Schon jetzt ist das Alzheimer- Hülle verdämmern läßt. für die „Alzheimer-Therapieforschung Leiden nach Arteriosklerose, Krebs und Trotz der nun günstigeren Aussichten wahnsinnig wichtig“ werden. Schlaganfall die vierthäufigste Todesur- für die Grundlagenforschung ist Exper- Immer wieder waren die Wissen- sache in den Industriestaaten; die Ko- te Beyreuther von den Alzheimer-Mäu- schaftler in der Vergangenheit bei ihren sten für Pflege und Therapie der Betrof- sen aus Übersee noch nicht restlos Versuchen gescheitert, durch Einschleu- fenen belasten das US-Gesundheitssy- überzeugt. Erst einmal müsse nun die sen des menschlichen Gens APP (Amy- stem jährlich mit 100 Milliarden Dollar. Gedächtnisleistung der hirnmutierten loid protein precursor) ins Nagererbgut Erwartungsfroh beobachten die Ex- Tiere getestet werden, mahnt der For- eine Alzheimer-Maus herzustellen. „Es perten derzeit klinische Tests, in denen scher, denn noch sei eine entscheidende hat Betrug gegeben, es hat Fehlein- neue Medikamente am Menschen er- Frage unbeantwortet: „Sind die Mäu- schätzungen gegeben“, beklagt Fach- probt werden: Mit hochdosiertem Vit- se jetzt auch wirklich dumm oder mann Beyreuther die Fehlschläge der amin E wollen kalifornische Forscher in nicht?“ Y

192 DER SPIEGEL 8/1995 Werbeseite

Werbeseite .

TECHNIK

sachsen, sei „wasser- Automobile dicht“. Derart ermutigt, suchte Zöllner Auto- hersteller und Versiche- Saubere rer für die Idee zu ge- winnen. Doch frustriert mußte er feststellen: Karte Beide Interessengrup- pen mauern. Die erste Ein Besitzdokument nach dem Mu- Reaktion der Versiche- rungswirtschaft kam im ster der Euroscheckkarte könnte Au- April 1993. Max Dan- todiebe abschrecken. Versicherer ner, damals Vorsitzen- der des Schadenver- und Hersteller mauern. hütungsausschusses der

W. M. WEBER deutschen Autoversi- in Euroscheck hat den Wert von bis Karten-Entwickler Zöllner, CS-Karte (Muster) cherer, teilte Zöllner zu 400 Mark. Trotzdem macht es Wasserdichtes Konzept mit, sein Vorschlag sei Ekaum Sinn, ihn zu stehlen. In der „im Grundsatz absolut Regel wird niemand den Scheck als Die Informationen sollen zentral ge- interessant, jedoch in der Praxis über- Zahlungsmittel akzeptieren, wenn dem speichert werden und über die Außen- haupt nicht umsetzbar“. Das Karten-Sy- Dieb die dazugehörende Scheckkarte büros des Partnerunternehmens „Eu- stem könne nicht europaweit eingesetzt fehlt. rope Assistance“ weltweit rund um die werden. Einführungs- und Verwaltungs- Der Besitz eines Autos dagegen, des- Uhr abrufbar sein. Autokäufer und kosten stünden „in einem krassen Nut- sen Wert oft mehr als das Hundertfache Fahnder könnten sich in ihrer jeweili- zen/Kosten-Verhältnis“. beträgt, wird durch kein internationales gen Landessprache erkundigen, ob ei- Das Verdikt ist schwer zu begrün- Eigentumsdokument abgesichert. Das ne vorgelegte Karte und das dazu pas- den. Kreditkartensysteme funktionieren Fahrzeug fällt dem Dieb in die Hände sende Auto „sauber“ sind. längst europa- und weltweit. Die Kosten wie ein Koffer Bargeld. Auch gegen Fälschungen sei das Pla- für die CS-Karte hielten sich nach Zöll- Dem Bestohlenen bleibt in Deutsch- stikdokument weitgehend geschützt, ners Berechnungen in Grenzen. Knapp land nichts als der Fahrzeugbrief, im behauptet Zöllner. Vollgepackt mit 100 Mark müßte der Autofahrer für die Leitz-Ordner abgeheftet, leicht fälsch- technischen Finessen und Erkennungs- CS-Karte berappen. Die von den Ver- bar und ohne grenzüberschreitende Be- merkmalen, einem Hologramm, UV- sicherungen geforderte elektronische deutung. In Frankreich gibt es über- Schrift, Mikroschrift, Fahrgestell- und Wegfahrsperre hingegen kostet in der haupt kein vergleichbares Dokument. Kartennummer, Datenbank-Registrie- Nachrüstung bis zu 1000 Mark. Ein gestohlenes Auto mit manipulierter rung und einem Magnetstreifen, über- Eine Kopie des ablehnenden Danner- Fahrgestellnummer verschwindet im trifft die CS-Karte sogar das Sicher- Schreibens landete beim Verband der Nichts. Weder der ahnungslose Käufer heitsniveau der meisten etablierten Automobilindustrie (VDA) in Frank- des Diebesguts noch die Ermittlungsbe- Kreditkarten. furt. Unterdessen erhielt Zöllner den hörden haben eine verläßliche Kontroll- Zöllner präsentierte sein Konzept Anruf eines leitenden Allianz-Ange- möglichkeit. den Experten des Bundeskriminalamts stellten: Er dürfe sich nicht wundern, Dieses offenkundige Mißverhältnis und verschiedener Landeskriminaläm- wenn auch die Autoindustrie sich gegen zwischen dem Wert des Automobils und ter und erhielt durchweg positive Ein- sein Konzept stelle. Die Versicherungs- seiner urkundlichen Absicherung be- schätzungen. Das System, urteilte ein wirtschaft werde alles versuchen, die schäftigt seit langem den Münchner Diebstahlfachmann beim LKA Nieder- Durchsetzung der Karte zu vereiteln. Kaufmann Jürgen Zöllner, 45. Schon vor sechs Jahren 144 057 142 000 ersann er ein einleuchtend Begehrtes Blech simples Konzept zur interna- Gestohlen gemeldete Autos 131 000 tionalen Identifizierung von in Deutschland Kraftfahrzeugen – nach dem Vorbild des Euroscheck-Sy- Die am häufigsten Diebstahl stems. gestohlenen Autotypen pro 1000 Zusammen mit der Münz- Fahrzeuge 1993 behörde des italienischen 87 147 Staates (Poligrafico), einem Mercedes 600 V12 45 der weltweit führenden Kre- VW Golf G 60 45 ditkartenhersteller, entwik- VW Golf II GTI 16V 36 kelte Zöllner eine Autobe- 60 269 Opel Kadett GSi 33 50 073 sitzkarte unter der Bezeich- 49 460 48 541 Mercedes 500 V8 27 nung „Car security card“ Mercedes 300 D Turbo 25 (CS). Flächendeckend einge- Trabant 601 LX 25 führt, könnte die Karte als BMW 850i 24 verbindlicher, allgemein be- VW Golf I GTI 23 kannter Beweis für das recht- VW Polo Coupé G 40 19 mäßige Eigentum an einem Fahrzeug dienen. Ein Auto ohne Karte wäre demnach unverkäuflich. 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994

194 DER SPIEGEL 8/1995 Werbeseite

Werbeseite .

WISSENSCHAFT

Der Widerstand, argwöhnt Zoellner, Überreste von Amphoren, aufheben und könnte damit zusammenhängen, daß sich Archäologie über eine Schleuse ins Innere des Bootes der galoppierende Autoklau auf lange befördern. Sicht für die Versicherer eher bezahlt ma- Ballard folgt dabei einem Kurs, den er che als seine konsequente Eindämmung. für eine Schlüsselroute der antiken See- Bisher hatten die Konzerne die steigen- Schätze auf fahrt hält: Die unterseeische Trümmerle- den Diebstahlzahlen mit kräftigen Prä- se gilt der Direktverbindung zwischen mienerhöhungen abgefedert. Ostia, dem Seehafen der einstigen Welt- Die Wegfahrsperren allein können den dem Grund macht Rom, und Tunis, der Stadt in der Schwund offenbar nicht stoppen. Die Nähe des antiken Karthago. bordeigenen Boykott-Boxen legen ele- Wagten sich römische Kaufleute Der jedem Lateinschüler bekannte mentare Funktionen, etwa Benzin- und über die hohe See nach Karthago? Konflikt zwischen den waffenstarrenden Stromzufuhr, automatisch lahm, wenn Metropolen, der im Jahr 146vor Christus ein Dieb an den Zündkabeln hantiert. Tiefseeforscher suchen im Mittel- mit der totalen Zerstörung Karthagos en- Die ersten Modelle wurden vor knapp meer nach Beweisen. dete, interessiert den amerikanischen zwei Jahren vorgestellt – und prompt von Forscher jedoch nur am Rande. Die Stadt findigen Bastlern in zahlreichen Fernseh- an der nordafrikanischen Küste erlebte auftritten sekundenschnell überlistet. eräuschlos und unsichtbar wird das wenige Jahrhunderte nach ihrer Vernich- Mehr Sicherheit versprechen die seit stählerne Gefährt auf die Reise ge- tung während der römischen Kaiserzeit Januar meist serienmäßig eingebauten Ghen. Der tonnenförmige Körper, einen erneuten wirtschaftlichen Auf- elektronischen Wegfahrsperren, die bei 44,5 Meter lang, 3,8 Meter im Durch- stieg. Unter der Herrschaft der Severer unerlaubtem Zugriff für Chaos in den messer, soll im August zu einer unge- (193 bis 235 nach Christus) galt Kartha- verzweigten Schaltungen des Motorma- wöhnlichen Entdeckungsfahrt starten: go als bedeutendster nordafrikanischer nagements sorgen. Doch selbst für den Erstmals wird das reaktorgetriebene Handelssatellit des römischen Reichs. unwahrscheinlichen Fall, daß kein Auto- dieb den neuen Systemen gewachsen wä- re, bliebe ein Problem: Die beste Weg- fahrsperre ist wirkungslos, wenn der Be- sitzer beim Autoklau mithilft. „Zwischen 30 und 50 Prozent aller Au- todiebstähle“, teilte der VDA im Dezem- ber mit, „sind nach Erkenntnissen der Polizei und der Versicherungsgesell- schaften nur vorgetäuscht.“ Das Bundes- kriminalamt bestätigt diese Zahlen: „In jedem dritten Fall“ wechsle das Auto „mit Wissen, Billigung oder gar aktiver Beteiligung des Fahrzeughalters den Be- sitzer“. Der vermeintlich Beklaute wird in Wirklichkeit von den Autoschiebern entschädigt und kassiert gleichzeitig bei seiner Versicherung. Unter dem vorgetäuschten Diebstahl leiden vor allem die Autovermieter. Ob- wohl sie nur 0,5 Prozent des deutschen Fahrzeugbestandes besitzen, sind rund ein Zehntel aller gestohlen gemeldeten Autos unterschlagene Mietwagen. Dem- entsprechend ist die Kaskoversicherung für Mietwagen bei manchen Modellen

mittlerweile mehr als doppelt so hoch wie UPI / BETTMANN bei privat zugelassenen Autos. Tiefseeforscher Ballard*: Amphoren und Lampen aus 800 Meter Tiefe Bessere Eigentumsdokumente könn- ten genau diese Form des Betruges wirk- Unterseeboot NR-1, seit 1969 im Dien- Etwa 50 000 Schiffe sollen damals, an- sam bekämpfen. Der Vermieter würde ste der amerikanischen Kriegsmarine, tiken Quellen zufolge, ständig durchs grundsätzlich die Besitzkarte einbehal- für zivile Zwecke genutzt. Mittelmeer gekreuzt sein, um die Millio- ten. Ohne die Karte kann der Betrüger Der Tiefseeforscher Robert Ballard, nenstadt Rom mit Nahrungsmitteln und das gemietete Auto jedoch nicht verkau- bekannt durch die Entdeckung des Luxusgütern zu versorgen. Die unter fen, wenn das System einmal etabliert ist. „Titanic“-Wracks im Jahr 1985, wird mit Historikern verbreitete Meinung, daß Zöllner fand deshalb einen entschiede- dem Vehikel aus dem Kalten Krieg eine sich die antiken Kaufleute aus Sicher- nen Fürsprecher: den Bundesverband gut 500 Kilometer lange Strecke nach heitsgründen vorwiegend in Küstennähe der Autovermieter Deutschlands. Überresten gesunkener Schiffe absu- bewegt hätten (siehe Grafik), glaubt „Wegfahrsperren“, erklärte dessen chen. Das Boot scheint wie geschaffen Ballard widerlegen zu können. Geschäftsführer Klaus Langmann-Kel- für solche submarinen Gründeltouren. Auf einer Expedition während der ler, „helfen den Autovermietern über- Mit zwei Rädern an der Unterseite des späten achtziger Jahre entdeckte er ein haupt nichts.“ Die Einführung einer Be- Rumpfes kann es im Schrittempo auf römisches Schiffswrack auf dem Mee- sitzkarte sei dringend geboten. „Im ebenem Meeresgrund einherrollen. resgrund in 100 Kilometern Entfernung Kampf gegen den vorgetäuschten Dieb- Greifzangen können Gegenstände, etwa vor der nordafrikanischen Küste – 800 stahl“ sei dies „der erste wirklich sinnvol- Meter unter dem Meeresspiegel. Es le Lösungsansatz“. Y * Mit einem Modell der „Titanic“. handelt sich um das am tiefsten liegende

196 DER SPIEGEL 8/1995 .

Zwecke des Versicherungsbetrugs Rom Mit Atomkraft in die Antike stellten Unwetter auf hoher See Ostia Adria eine fatale Größe dar, der selbst Cumae ITALIEN Ein atomgetriebenes Bergungs-U-Boot (NR-1) die kundigsten Seeleute nichts ent- Sardinien Laus der US-Marine soll auf dem Meeresgrund zwi- gegenstellen konnten. Auch mit schen Rom und Karthago Überreste römischer mögliche Tyrrhenisches gerefftem oder fortgerissenem Se- direkte Meer Handelsschiffe aufspüren. gel konnte ein antikes Handels- Handels- schiff, das mit nackten Masten vor route bisher Messina angenommener dem Wind trieb, abrupt ken- Sizilien Küstenkurs Reaktor tern. Karthago Maschinen- Bisweilen wurden die kleinen raum Schiffe vom Wind rücklings in ho- Mannschafts- Periskop he Wellen hineingedrückt und raum prompt von den Wassermassen verschlungen. Plötzliche Winddre- vordere hintere hungen konnten das rechteckige Seitenstrahl- Seiten- Segel gegen den Mast zurückdrük- ruder Hinterrad strahlruder ken, worauf das Achterdeck unter Ballast Wasser getaucht wurde und das Schiff in kürzester Zeit sank. Vorderrad Doch über die Vermutung hin- Schleuse Scheinwerfer aus, „daß Schiffbruch im Altertum nichts Außergewöhnliches war“ Greifarm (Bascom), gibt es keine verläßli- chen Schätzungen, wie viele Schif- antike Wasserfahrzeug, das jemals ge- Seefahrt weiterhin zu den riskantesten fe tatsächlich gesunken sind. Hergestellt sichtet wurde. Beschäftigungen der Zeit. Die langsa- wurden sie in erstaunlichen Mengen – Das Handelsschiff, schloß Ballard men, bauchigen Handelsschiffe gelten was mit dazu führte, daß heute im nach der Untersuchung diverser geborge- nach heutigen Maßstäben nicht einmal Mittelmeerraum kaum noch Wälder ner Amphoren, einer Tonlampe und ei- als bedingt seetüchtig. stehen. ner Kupfermünze, muß in der zweiten Die hölzernen Wasserfahrzeuge wa- In der gesamten Epoche der antiken Hälfte des vierten Jahrhunderts auf der ren im Durchschnitt nur etwa 20 Meter Seefahrt, also vom vierten Jahrtausend direkten Verbindungslinie zwischen lang und 6 Meter breit, erreichten bei vor Christus bis etwa 500 nach Christus, Rom und Karthago gesegelt sein, ehe es günstigem Wind 4,5 Knoten (etwa 8 kann die Zahl aller im Mittelmeerraum auf hoher See zwischen Sizilien und der km/h), hatten wenig Tiefgang und kei- gebauten Schiffe „leicht eine halbe Mil- Südspitze Sardiniens sank. nen stabilisierenden Ballastkiel. lion betragen haben“, schätzt der Alter- Daß dieser havarierte Kaufmann kein Der Seefahrt-Archäologe Willard tumswissenschaftler Fred Yallouris. einzelner, verirrter Seefahrer war, schloß Bascom rekonstruierte in seinem Buch Demnach müßte der Grund des Mit- Ballard aus einer Untersuchung der nä- „Auch Rom liegt auf dem Meeres- telmeeres eine unermeßliche Schatz- heren Umgebung des Wracks. Der Mee- grund“ verschiedene Szenarien, die zum kammer antiker Schiffahrtstechnik dar- resgrund dort war übersät mit den Über- Untergang antiker Handelsschiffe füh- stellen. In einigen Jahrzehnten Suche resten gesunkener Handelsgüter aus an- ren konnten. Im Gegensatz zu vermeid- brachten Unterwasser-Archäologen – derthalb Jahrtausenden. Ballards Tau- baren Ursachen wie Bränden, Zusam- obwohl sie fast ausschließlich in seichten cher bargen 17 Amphoren. Die älteste menstößen, Konstruktionsfehlern oder Küstengewässern suchten – bisher etwa stammte ausdem viertenJahrhundert vor auch mutwilligen Zerstörungen zum 1000 Wracks zutage. Y Christus, die jüngste aus der Zeit zwi- schen dem neunten und zwölften Jahr- hundert nach Christus. Solch mannigfaltige Funde aus der Tie- fe legen die Vermutung nahe, daß die Seefahrer der Antike kühner waren, als viele Forscher bisher annahmen. Statt sich mühselig an der Küste entlangzuhan- geln und die wesentlich längere Weg- strecke inKauf zunehmen, wagten siedie ungleich gefährlichere „Abkürzung nach Afrika“ (Ballard). Schier unberechenbar waren damals die Risiken einer Seereise ohne Land- sicht. In der Frühzeit der antiken Schiff- fahrt drohte dem Seemann zusätzlich zur widrigen Witterung stets Gefahr von sei- nesgleichen. „Handel und Piratentum“, notierte der Philosoph und Schriftsteller Bertrand Russell, „unterschieden sich anfangs kaum voneinander.“ Im Römischen Reich galt die Seeräu- berei als ausgerottet. Dennoch zählte die AKG * Fußbodenmosaik bei Ostia. Römische Frachtschiffe*: Mit flachem Rumpf nicht seetüchtig

DER SPIEGEL 8/1995 197 .

KULTUR SZENE

Video „Lebensklippen“ sind dem Dahintreibenden nicht unbe- Hakenkreuz kannt. Was hilft gegen solch ein Leben? Lesen, sagt Sieg- in der Kulisse fried Unselds Frankfurter In- Neonazis, aufgepaßt: Der sel Verlag und wirft sich mit Führer ist in Ehren ergraut, einer „ungewöhnlich anmu- und die Deutschen leben un- tenden neuen Taschenbuch- term Hakenkreuz in ihrem reihe“ gegen die Dämonen gemütlichen Germanien. des Zeitgeistes. „Kurz und Horrorszene anno 1964: Hit- bündig“ sind die Bändchen ler feiert pompös seinen 75. (100 bis 150 Seiten), ihr Geburtstag. Doch auf myste- „schlankes Bild verführt zum riöse Weise sind kurz zuvor Mitnehmen“ (für Nicht-Steh- ein paar Partei-Bonzen ge- ler: sieben Mark), und sie storben. SS-Polizist März „bringen Literatur klipp und stößt auf ein Jahrhundert- klar auch ungeübten Lesern Komplott. In seinem Roman nahe“. Danke, Insel Verlag. „Insel-Clips“ heißt die Rei- he, und wer nun reif für die Copley-Werk „Straw Dog“ Insel ist, kann sich „Seneca für Gestreßte“, „Sprüche Maler und Leitsätze der Zen-Mei- ster“ oder Epiktet-Texte als „Wege zum glücklichen Han- „Hab Gier Sucht Lust“ deln“ in die Hosentasche tun, Auf seinen Bildern schwellen Schenkel und Brüste, auch einen Goethe- oder Schamhaar kräuselt sich dekorativ, auch ein Tapetenmu- Hesse-Clip. Nie war sie so ster leuchtet in satter Farbe: Offenbar ist da ein erotoma- wertvoll wie heute, die PR- ner Sonntagsmaler am Werk, und eins seiner Hauptstük- Poesie, so Clip und klar. ke, auf dem Hunderte von Nackten wimmeln, heißt sinn- fällig „Capella sextina“. Doch bei William N. Copley, 76, Resolutionen ist die naive Drastik eine Falle: Seine Kunst zitiert und par- odiert sehr formbewußt andere Kunst, spielt mit Kli- Rushdie-Freunde schees, liebt die malerische Pointe, die manchmal auch ein kontra Lufthansa Kalauer ist. Als Kunsthändler WARNER VIDEO hat Copley vor fast fünfzig Jah- Film-Führer in „Vaterland“ Warum Schriftsteller nicht ren Magritte in Los Angeles zum Schreiben kommen: durchzusetzen versucht, als „Vaterland“, einer gewagten Während im Pen-Club alle wohlhabender Bohemien hat Historien-Spekulation, hatte Aufmerksamkeit auf den ver- er dann lange in Paris gelebt, schon vor drei Jahren der Bri- balen Schlagabtausch zwi- geistesverwandte Freunde wie te Robert Harris schamlos das schen Präsident Gert Hei- Magritte und Duchamp, Max NS-Regime als Thriller-Kulis- denreich und Ex-Mitglied Ernst und Man Ray schätzten se mißbraucht. Doch der Reiner Kunze gerichtet ist seine Malerei. Unter dem Titel gleichnamige Warner-Film, und die Literatur-Spontis von „Heed Greed Trust Lust“ der jetzt in deutschen Video- der Edition Nautilus zu einer (Hab Gier Sucht Lust) präsen- theken vertrieben wird, über- Unterschriftensammlung für tiert die Kestner-Gesellschaft trifft die Vorlage an Naivität die indianisch-mexikanische in Hannover vom 25. Februar nochbeiweitem. Billig zusam- Freiheitsbewegung EZLN an ihre Copley-Werkschau aus mengeschustert – Hitler im aufrufen, haben die Wortfüh- vier Jahrzehnten: Salut für ei- Rolls Royce mit Mercedes- rer des deutschen Salman- nen stets lebensfrohen und Stern –, suggeriert der Krimi Rushdie-Komitees, angelei- schlitzohrigen Mal-Macho. Copley-Werk „Ohne Titel“ allen Ernstes, die Masse der tet von Günter Wallraff, in Germania-Deutschen könnte vom Holocaust gar nichts wis- der Lufthansa ein neues Lufthansa“, heißt darum der sen,weil die NS-Hierarchie al- Feindbild ausgemacht. Be- Boykottaufruf, zu dessen leZeugen beseitigt habe. Eine kanntlich weigert sich die Unterzeichnern Prominente geschichtsklitternde Mixtur Fluggesellschaft – angeblich von Ralph Giordano bis aus Fakten und Flachsinn. aus Furcht vor einem Terror- Henryk M. Broder sowie anschlag – seit Jahren, mehrere Verwandte von Literatur Rushdie als Passagier zu be- Heinrich Böll gehören. Ob- fördern. Bei Deutschland- wohl Wallraff errechnet hat, „Clips“ Besuchen benutzt er deshalb daß allein durch die rund 200 eine gepanzerte Limousine. Erst-Resolutionäre der Luft- für die Insel Die ebenso von Mord-Dro- hansa ein Verlust von zwei Jedermann kennt es, dieses hungen gejagte Taslima Nas- Millionen Mark drohe, bleibt „Grundrauschen schriller rin reist, um die Lufthansa zu die Fluglinie „absolut stur“

Ablenkungen“, das „lauter ACTION PRESS schonen, mit Privatflugzeu- (Wallraff) und nennt die Pro- und lauter“ wird; auch Rushdie gen. „Wir fliegen nicht mehr testaktion rechtswidrig.

198 DER SPIEGEL 8/1995 Werbeseite

Werbeseite .

KULTUR REUTER Degas-Gemälde „Graf Lepic und seine Töchter“ in St. Petersburg*: Applaus im Theatersaal des Zaren

Ausstellungen SIEGREICH AM TRESOR Fünf Jahrzehnte lagerten Kriegsbeute-Bilder aus deutschen Privatsammlungen in Geheimdepots der Petersburger Eremitage. Nun werden sie erstmals ausgestellt. Verschollene Meisterwerke kehren damit endlich zurück in die Kunstwelt – doch auch zu den Erben der legitimen Eigentümer?

ie Erinnerung war längst grau und Scharf, gab das Werk 1943 mit anderen andere als gesprächig – Auskünfte dazu blaß geworden, das Bild selbst Kunstschätzen in die Bunker-Obhut der finden sie derzeit „nicht sehr dienlich“. Dverschollen. Nur jahrzehntealte Nationalgalerie. Danach verlor sich die Soviel immerhin bestreiten sie nicht: Schwarzweißfotos überlieferten den An- Spur. Inzwischen haben beide das Degas-Bild blick der meisterlich gemalten Straßen- Zu den wenigen Menschen, die sich und andere Wertstücke ihrer Familien- szene. Kunsthistorische Bücher merkten noch an das Original mit seinen delika- sammlung an einem fernen Ort wieder- an: „Vermutlich während des Zweiten ten Grau- und Gelbtönen erinnern, ge- gesehen, im St. Petersburger Eremi- Weltkriegs zerstört“. hören zwei kunstsinnige ältere Herren, tage-Museum. Und Ende nächsten Mo- „Graf Lepic und seine Töchter“ – ein die Gerstenberg-Enkel Walter und Die- nats werden sie, auf Einladung, wohl scheinbar zufälliger, tatsächlich sou- ter Scharf. Als Teenager hatten sie den wieder dorthin reisen. Denn dann wird verän komponierter Wirklichkeitsaus- Degas in ihrem Elternhaus regelmäßig in der Eremitage so manches öffentlich, schnitt. Um 1875 hatte der Impressionist vor Augen. was lange streng geheim war. seinen adligen Freund und Wenn es allerdings um das Kunst-Er- Vorletzten Donnerstag brachen Hun- Kupferstecher so, als Flaneur auf der be geht, das ihnen doch von Rechts we- derte Journalisten und Fotografen, die Pariser Place de la Concorde, ins Bild gen zustände, dann sind die Brüder alles sich im Theater der Eremitage, des gesetzt. 1911 erwarb der Berliner Ver- einstigen Zarenschlosses, drängelten, sicherungsdirektor Otto Gerstenberg schon einmal in Beifall aus, als Haus- * Mit Eremitage-Direktor Piotrowski (r.) und Ku- (1848 bis 1935) den malerischen Genie- stos Kostenewitsch bei der Pressekonferenz am herr Michail Piotrowski ihnen vorab streich. Tochter Margarete, verheiratete 9. Februar. drei Gemälde als Kostproben zu sehen

200 DER SPIEGEL 8/1995 . THE STATE / ABRAMS Van-Gogh-Gemälde „Landschaft mit Haus und Pflüger“ (Sammlung Krebs): Ungewisse Aussicht für die Erben

gab. Der „Graf Lepic“ war dabei, außer- eine deutsche Ausgabe soll am 1. Juli abenteuerliches Schicksal in der Ver- dem je ein Werk Gauguins und van bei Kindler erscheinen (circa 78 Mark). gangenheit und um ihre ungewisse Zu- Goghs. Sie sollen vom 30. März bis zum Das russische Kulturministerium ver- kunft. 29. Oktober nebst weiteren 71 französi- marktet so, über den New Yorker Ver- Schon 1992 hat die Eremitage in schen Gemälden des späten 19. und frü- lag Abrams, die Kunst-Eroberungen der Deutschland erbeutete Kunstwerke, hen 20. Jahrhunderts ausgestellt werden. einstigen Roten Armee. Altmeisterzeichnungen der Bremer Schau-Titel: „Verborgene Schätze ent- Und dieser Hautgout würzt das Ereig- Kunsthalle, ausgestellt – wie es schien, hüllt“. Ans Licht kommt sowjetische nis zusätzlich. Nicht allein um große mit der Aussicht auf baldige Rückgabe. Kriegsbeute aus insgesamt sieben, mit Kunst geht es, sondern zugleich um ihr Doch daraus ist bis heute nichts gewor- einer Ausnahme privaten, deutschen Kunstsammlungen. Eine Sensation, ohne Frage. Außer ein paar Geheimnisträgern hatte mindestens ein halbes Jahrhundert lang kein Mensch die 74 Bilder zu Gesicht bekommen. Ja, großenteils waren sienochniemals ausge- stellt und vielfach auch nicht publiziert. Darunter sind Gemälde von Ce´zanne, Monet, Renoir und anderen Größen der frühen Moderne – das rechtfertigt Ent- deckerfreude und -aufregung im großen Stil. Überschwengliche Chronisten sehen gar gleich „eine der bemerkenswertesten Ausstellungen des 20. Jahrhunderts“ (Vanity Fair) voraus. Piotrowski glaubt, die in unrestaurierter Frische erhaltenen Impressionistenbilder vermittelten unge- wohnte Original-Eindrücke vom Kolorit dieser Malerei. Wer die Reise scheut, dem bietet ein üppiges Katalogbuch Ersatzanschauung; T. HÄRTRICH / TRANSIT * Heutiger Zustand. Zerstörte Safetür auf Gut Holzdorf*: Museumsmann an die Luft gesetzt

DER SPIEGEL 8/1995 201 Werbeseite

Werbeseite .

Claude Monet, „Der Garten“ (Kunsthalle Bremen) 1995 THE STATE HERMITAGE MUSEUM / ABRAMS / VG BILDKUNST, BONN , „Absinth“ (Sammlung Krebs) STATE HERMITAGE MUSEUM / ABRAMS FOTOS: THE Auguste Renoir, „Im Garten“ (Sammlung Gerstenberg) Georges Seurat, „Blick auf Fort Samson“ (Sammlung Koehler) Beute-Bilder aus Deutschland: „Ein frischer Blick auf die Farben des Impressionismus“ den. Ein Bremer Museumsbild, „Der Kriegsende in der Eremitage abgeladen Van-Gogh-Spätwerk „Das weiße Haus“ Garten“ von Monet, das nach einer wurde, bezeugt die Sammelleidenschaft wird aber, mit Grund, gezeigt. Ausstellung während des Krieges in deutscher Besitzbürger – sie blieben der Es entstammt der Hinterlassenschaft Berlin eingebunkert worden war, ist Kunst der Moderne und ihrer Entwick- des Dampfkesselfabrikanten Otto Krebs auch diesmal dabei. lung auf der Spur, wenngleich vielfach (1873 bis 1941), die mit nicht weniger als Werden die Gemälde nach dem 29. mit Zeitabstand. Auch die Kollektion 54 Katalognummern das Gros der Oktober wieder lange Zeit in den Maga- des Berliner Industriellen Bernhard „Verborgenen Schätze“ bildet – gegen- zinen verschwinden? Oder sollte die Koehler, der ein Mäzen des „Blauen über den ausgesuchten Degas-, Dau- Eremitage die besten unter ihnen gar ih- Reiters“ war, glänzt mit Werken, die – mier- und Renoir-Pretiosen der Samm- rer ständigen Schausammlung einverlei- wie ein nun frisch gereinigter Courbet- lung Gerstenberg-Scharf eine erstaunli- ben? Was haben Erben der einstigen Akt – zur Zeit des Ankaufs schon che, bislang kaum bekannte Fülle. Besitzer wie die Brüder Scharf zu hof- Kunstgeschichte waren. Krebs, mit seiner Firma in Mannheim fen? Sibyllinisch raunt Eremitage-Di- In der Ausstellung werden Bildforma- ansässig, hatte die Kollektion auf dem rektor Piotrowski von einer „ehrenvol- te ebenso wechseln wie künstlerische thüringischen Gut Holzdorf unterge- len Lösung, die unsere Nachfahren billi- Qualitäten, und manches Stück haben bracht, das er nur sporadisch bewohnte. gen können“. die Museumsleute auch unter Fäl- Zwischendurch kamen die Wertsachen Noch die zufällige Bilderauswahl, die schungsverdacht aussortiert. Das in vor- in einen Kellersafe, und da steckten sie von sowjetischen Beute-Verteilern nach eiligen Pressemeldungen angezweifelte noch, als, vier Jahre nach dem Tod des

DER SPIEGEL 8/1995 203 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite .

KULTUR STATE HERMITAGE MUSEUM / ABRAMS FOTOS: THE Paul Ce´zanne, „Badende“ (Sammlung Krebs) , „Später Nachmittag“ (Sammlung Krebs)

Sammlers und wenige Monate nach Kriegs- schluß, die Sowjets das Land von den Ameri- kanern übernahmen. Schon vorher war ein Album mit Fo- tos Krebsscher Samm- lungsobjekte ins nahe Weimarer Schloßmu- seum gelangt. Dessen Direktor Walter Schei- dig hätte dann auch gern die Kunstwerke si- chergestellt und bekam dafür sogar das Plazet der Militärverwaltung. Doch der Safe war nicht gleich zu öff- nen, und beim näch- sten Mal, als Scheidig mit Fachleuten und Schweißgeräten nahte, setzte ihn der auf Gut Holzdorf einquartierte sowjetische General- oberst Wassilij Tschui- kow vor die Tür. Gustave Courbet, „Liegende Frau“ (Sammlung Koehler) Für den Feldherrn Beute-Bilder aus Deutschland: Gänsehaut beim Depotbesuch war das Hindernis be- zwingbar. Bei seinem Auszug 1949 hin- Ihre Aussichten – wie die der ande- erst 1991, als frisch ernannter Direktor- terließ Tschuikow einen leeren Tresor, ren, durchweg öffentlichkeitsscheuen Stellvertreter, Zugang zu dem Depot in dessen Tür ein großes Loch geschnit- Sammlererben – sind trübe. Denn das bekommen haben, in dem die Beute- ten worden war. Zumindest der größte „Eigentum an den Gemälden“ soll, so Bilder ungerahmt und unter KGB-Auf- Teil des Safe-Inhalts kam, wie sich zeigt, Eremitage-Direktor Piotrowski, eine sicht lagerten. Nicht ohne Gänsehaut er- in die Eremitage. „politische Angelegenheit“ sein, zu ent- innert sich hingegen sein Mitarbeiter Al- Ansprüche darauf erheben nun eine scheiden durch ein Votum des russi- bert Kostenewitsch, er habe die „Ver- von dem Sammler begründete „Stiftung schen Parlaments oder ein Dekret des borgenen Schätze“ schon vor 30 Jahren, für Krebs- und Scharlachforschung“ in Präsidenten. Nicht aber, offenbar, als Student, einmal inspizieren können – Weinheim sowie eine 62jährige Enkelin, durch internationales Recht. damals ein ernstes Risiko für die Schlüs- die weder den Großvater gekannt hat Politisch korrekt ist in Rußland heute selbewahrerin. noch bis vor kurzem von seiner Kollekti- nur die Klage über den Zwang zur Das ist passe´. Vor einem Jahr durfte on etwas wußte. Heimlichtuerei. Sogar Piotrowski will erstmals auch eine Kommission deut-

206 DER SPIEGEL 8/1995 . AP , „Das weiße Haus bei Nacht“ (Sammlung Krebs)

scher Museumsleute das jetzige Aus- stellungsgut besichtigen. Und aus- kunftsbereit läßt Piotrowski wissen, ne- ben den Bremer Zeichnungen lagerten im Haus noch Grafikschätze der deut- schen Privatsammler, rund 700 Altmei- sterbilder minderen Werts, Ostasiatica aus Berliner Museumsbesitz und ande- res mehr. Doch selbst der Eremitage-Chef, in seinem Land gewiß kein Scharfmacher, betrachtet es „nicht als Sünde, daß Kunst aus Deutschland weggenommen wurde“, sondern nur, daß sie „so lange vor den Leuten verborgen wurde“. Da- bei folgte das Versteckspiel, als Reakti- on schlechten Gewissens, geradezu zwingend aus dem ersten Fehltritt. In den Augen vieler Russen soll die heiße Ware nun, nach einer Scham- und Ver- jährungsfrist von fünf Jahrzehnten, gleichsam gewaschen aus den Magazi- nen emportauchen. Mit guten Gründen hatte sich die So- wjetunion nie offen zu ihren Kunst-Tro- phäen bekannt. Zwar waren zeitweilige Pläne Stalins für ein riesiges Beute- kunst-Museum in Moskau, die der aus der Ukraine stammende Spezialist Kon- stantin Akinscha vorigen Monat bei ei- ner New Yorker Konferenz enthüllte, weit gediehen: Bauentwürfe lagen ebenso vor wie Wunschlisten für Werke aus vielen europäischen Ländern. Hit- lers Parallelprojekt für Linz hätte noch übertroffen werden können. Solche Ähnlichkeiten aber mochte dann selbst der ruchlose Kreml-Herr- scher so peinlich finden, daß er den Tri- umphplan absetzte. Allzusehr ähnelte die Raubpraxis seiner Armeen den Bräuchen deutscher Plünderer. Allzu Henri de Toulouse-Lautrec, „Frau mit Schirm“ (Sammlung Krebs) kraß stach sie von jenen international

DER SPIEGEL 8/1995 207 verbindlichen Grundsätzen ab, die auch seine Herolde im Munde führten. Schneidend zitierte 1946 der sowjeti- sche Chefankläger in Nürnberg die Haager Landkriegsordnung von 1907, nach der „Beschlagnahme“ und „ab- sichtliche Zerstörung“ von „Werken der Kunst und der Wissenschaft“ strikt verboten und strafbar sind. Als darum 1955 und 1958 die ge- treue DDR etliche Dresdner und Ost- Berliner Museumsschätze zurückbe- kam, deren Verbleib bis dahin gleich- falls geheim gewesen war, wurde eine beschönigende Sprachregelung ausge- geben: Rotarmisten hätten die – in Wahrheit zumeist wohlverwahrten – Gemälde, Skulpturen und archäologi- schen Fundstücke „oft unter Einsatz ihres Lebens gerettet und für uns in Verwahrung genommen“, so Minister- präsident Otto Grotewohl. Kulturfunk- tionäre rühmten pflichtschuldig, damit seien „alle in der Sowjetunion aufbe- wahrten Bestände deutscher Museen“ wieder da. Tatsächlich galt das bestenfalls für Museen auf dem Gebiet der DDR. Be- stände, die ihren Platz in Westdeutsch- land gehabt hätten (wie die Bremer Zeichnungen) oder im westlichen Teil Berlins (wie Heinrich Schliemanns Tro- ja-Funde), blieben unter Verschluß und top-secret. Ebenso verführen die Sowjets, dem Kapitalismus zum Tort, mit jeglichem privaten Kunstgut. Dabei hätte das durch die Haager Landkriegsordnung doppelt geschützt sein sollen – als Kunst und als Privatei- gentum, das der Text sowieso von Konfiszierung ausschließt. Verstöße ge- gen diese Regel galten sogar schon frü- heren Epochen als ehrlose Plünderung. Gäbe es noch juristische Unklarheit, so müßten seit 1990 getroffene deutsch-sowjetische und deutsch-russi- sche Vereinbarungen über die Rückga- be „verschollener oder unrechtmäßig verbrachter Kunstschätze“ sie ausräu- men. Doch unter nationalistischem Druck scheint das Moskauer Regime mittler- weile außerstande, geschlossene Ver- träge einzuhalten. Der stellvertretende Kulturminister Michail Schwydkoi ge- niert sich nicht, „offiziell angeordnete“ Kunst-„Mitnahme“ als rechtmäßig zu erklären – mit dem Hinweis, Deutsch- land habe 1945 ja bedingungslos kapi- tuliert. Ein Papier des Bonner Außenmini- steriums, das dazu „die Rechtslage aus deutscher Sicht“ darlegt, macht einen Vorschlag zur „partnerschaftlichen Lö- sung der Auslegungskontroverse“: Man könnte ja, heißt es dort, „die streitigen Rechtsfragen dem Internationalen Ge- richtshof oder einem Schiedsgericht zur Entscheidung unterbreiten“. Die Rus- sen werden sich hüten. Y

208 DER SPIEGEL 8/1995 .

KULTUR

SPIEGEL-Gespräch „Heulkrampf im Busch“ Regisseur Christoph Schlingensief über Busen-Stars, Gewalt und deutsche Gutmenschen

Etage bumste eine Nutte, neben mir hauste ein Penner, der mir nachts manchmal die Tür eintrat. Und der Hausmeister war ständig mit dem Beil hinter einem Kerl her, der seiner Toch- ter unter den Rock fassen wollte. SPIEGEL: Eine Brutstätte für Gemüts- krankheiten. Diese Hausgemeinschaft hat Ihnen bestimmt gefallen? Schlingensief: Ja, das war ein ideales Biotop für meine Sucht nach Desastern. Ich benutze in meinen Filmen am lieb- sten Grundsituationen, in denen sich Menschen sicher fühlen und dann ihr blaues Wunder erleben. In meinem „Deutschen Kettensägenmassaker“ war das zum Beispiel diese CDU-Begeiste- rung bei der Wende ’89. Da zeige ich, wohin die Wiedervereinigung führt – zum Massenmord an den Ostdeutschen. SPIEGEL: Jetzt haben Sie den Horror nach Afrika getragen. Die Dreharbeiten

J. H. DARCHINGER zu Ihrem Film „Die Spalte“ sollen chao- Schlingensief (M.) beim SPIEGEL-Gespräch*: „Sucht nach Desastern“ tisch gewesen sein. Was ist passiert? Schlingensief: Wir sind nach Simbabwe SPIEGEL: Herr Schlingensief, Sie sind darm für eine Fischvergiftung und an- gegangen, weil die Arbeitsbedingungen ein so adretter junger Mann . . . schließend lag ich mit diversen Darm- außerordentlich günstig sind für ein Schlingensief: Danke schön! verschlüssen auf der Intensivstation. Low-Budget-Projekt. Aber es gab leider SPIEGEL: . . . aber im Kino und auf dem SPIEGEL: So was prägt. Was folgte die- gewaltigen Stunk. Nach sechswöchiger Theater ein gefürchteter Wüstling. Wie sem Tal der Tränen? Dreharbeit konnten wir mit Mühe und kommt man so auf den Horror? Schlingensief: Ich ging nach München Not ausreisen. Schlingensief: Jedenfalls nicht durch ei- auf die Uni. Da hatte ich ein Zimmer im SPIEGEL: Was hat Sie in die Bredouille ne verkorkste Kindheit, wie es mir eini- Westend, in einem ziemlich verwahrlo- gebracht? ge Gegner andichten wollen. Ich hatte sten, aber fidelen Haus. In der dritten Schlingensief: Die Geheimpolizei hatte eine harmonische, kleinbürgerliche Ju- den Verdacht, wir würden einen verbo- gend, aber immer schon einen Riesen- tenen Porno drehen. spaß an alltäglichen Katastrophen. Hemmungslos SPIEGEL: Wollten Sie? SPIEGEL: Wie sah das aus? Schlingensief: Quatsch. Der Film ist ei- Schlingensief: Na, wenn der Dackel hy- wütet der Bilderstürmer Christoph ne Moritat über einen schwulen Uno- sterisch wurde oder der Fondue-Topf Schlingensief im deutschen Kino General, dessen Frau ein Verhältnis mit hochging. Eins meiner schönsten Büh- und Theater – blutrünstig, blasphe- einem Bischof hat und den Messias ge- nen-Erlebnisse hatte ich im Stadttheater misch, barbarisch. Der gutkatholi- bärt. Der steckt sich versehentlich eine Oberhausen, als in einer Seniorenvor- sche Apothekersohn aus Oberhau- Murmel in die Nase. Muttern versucht, stellung von „Madame Dubarry“ Vor- sen hat in chaotischen, sexbeses- die Kugel mit einer Stricknadel aus der hang und Drehbühne gleichzeitig ver- senen Polit-Revuen stets deutsche Nase zu holen, dabei kommt es zum Un- sagten und man 20 Minuten lang nur Tabuthemen aufgegriffen und glück: Die Nadel sticht in den Kopf des umherirrende Beine sah. Ich fand es im- schamlos trivialisiert, zum Beispiel Kindes, der Junge bleibt mißgestaltet, mer schon spannend, wenn das bürgerli- in seinem Stück „Kühnen ’94/ Bring mit einer Riesenspalte im Kopf, aus der che Ordnungssystem außer Kontrolle mir den Kopf von Adolf Hitler“ und es dampft und zischt. Das Loch sieht aus gerät. Es gibt in diesem Leben nichts dem gewaltgesättigten Film „Das wie eine große Vagina. Verläßliches, keine Sicherheit. deutsche Kettensägenmassaker“. SPIEGEL: Eine Geschichte wie aus dem SPIEGEL: Woher diese Einsicht? Umstritten ist Schlingensief, 34, vor Leben. Fragile Gemüter könnten das Schlingensief: Den Grundstein hat, im allem wegen seiner exzessiven Ge- für obszön halten. Abiturjahr 1979, die Medizin gelegt. Ich waltdarstellungen, die ihm den Vor- Schlingensief: Keineswegs. Ich hatte lag ständig im Krankenhaus. Erst hiel- wurf eintrugen, ein Faschist zu sein. mich mit den Behörden vorher genau ten die Ärzte meinen geplatzten Blind- Gegenwärtig arbeitet der Monoma- abgestimmt: Porno ist, wenn Penis auf ne an seiner neuen Kino-Groteske Scheide trifft. Sieben düstere Gesellen * Mit Redakteuren Joachim Kronsbein und Peter „Die Spalte“. von der Geheimpolizei haben sich alle Stolle in seiner Wohnung in Mühlheim/Ruhr. Filmrollen vorführen lassen. Als die

DER SPIEGEL 8/1995 209 .

KULTUR

satz nachempfinden. Man kann nicht nachstellen, was in einem KZ vorging. SPIEGEL: Spielberg hat mit „Schindlers Liste“ das Gegenteil bewiesen. Schlingensief: Nein, er hat die Opfer be- nutzt, um eine Show-Parade der Trauer zu inszenieren. Deshalb hat mich der Film auch nicht im geringsten berührt. Für mich liegt viel mehr Wahrheit in der Künstlichkeit, zum Beispiel im Melo- dram, bei Fassbinder oder Douglas Sirk. Wenn ich Sirks „Solange es Menschen gibt“ sehe, kann ich weinen. SPIEGEL: Vom Messerheld zur Heulsuse. Die Branche kennt und verflucht Sie aber meist als politischen Chaoten. Schlingensief: So sehen mich viele. Vor einiger Zeit lief ich im WDR einem TV- Redakteur über den Weg. „Ach“, bellte

SCHEIKOWSKI der gleich, „da kommt ja unser Kino-Fa- Schlingensief-Star Kitten Natividad: „Urgetüm von Exhibitionistin“ schist!“ Das ist so ein Typ mit ’nem Deutschlehrer-Problem. Der fragt im- dann aber den Kleinen mit der Dampf- SPIEGEL: Ist Ihnen der deutsche Kultur- mer beflissen: Was will der Autor uns sa- spalte sahen, war alles in Ordnung, und betrieb zu schlapp? gen. Und wehe, er sagt es nicht kultiviert, sie haben vor Vergnügen gegrunzt. Schlingensief: Er strotzt vor Selbstge- dann ist er entweder Faschist oder Autist SPIEGEL: Ihrer Hauptdarstellerin Barba- fälligkeit und ist todlangweilig. Bei uns und gehört nicht zu uns. ra Valentin ging das allerdings über die gilt doch schon ein TV-Regisseur wie SPIEGEL: Wer ist denn verantwortlich für Hutschnur. Edgar Reitz als kühner Ästhet. dieses Klima? Schlingensief: Es war ein Fiasko. Sie SPIEGEL: Hat Ihnen sein monumentales Schlingensief: Vor allem die 68er. entwickelte sich zu einer richtigen Diva „Heimat“-Epos etwa nicht gefallen? SPIEGEL: Die sind neuerdings an allem und schien sich vor den Schwarzen zu Schlingensief: Nein, „Heimat“ war schuld. ekeln. Das ganze Team hat gegen sie re- wohlkalkulierte, geschäftstüchtige Bau- Schlingensief: Ich leugne ja nicht, daß sie belliert. ernmalerei. Ein Bilderbuch, in das ich Gutes bewirkt haben – Umweltschutz, SPIEGEL: Wußte sie nicht, daß in Afrika reingucke, um zu sehen, wie meine Frischluft für die Mief-Gesellschaft. überwiegend Schwarze siedeln? Oma gelebt hat. Das hatte was von Aber ichglaube nicht, daß sie wirklich ei- Schlingensief: Sie hatte offenbar mit Worpswede, Kunstgewerbe auf hohem ne Revolution wollten. Sie waren letzt- Chinesen gerechnet. Das erstemal flipp- Niveau. lich kleinbürgerlich wie ihre Eltern, de- te sie total aus, als sie die Vaginal-Maske SPIEGEL: Haben Sie nichts übrig für so- nen sie ewig das wehleidige „Papa, du sah. „Das ist alles pervers“, schrie sie, lides Handwerk? warst Nazi!“ hinterhertrompetet haben. und in dem Drehbuch stünden Sätze wie Schlingensief: Es ist mir zu schlicht. Ich Sie wollten hochkommen, materiell was „Du hast schon wieder Scheiße am Kopf- verachte den billigen Realismus in Film erreichen. Aber geblieben sind eben Leu- kissen, Werner“. Am ersten Drehtag be- und Fernsehen – mag er auch noch so te wie Hans W. Geißendörfer . . . kam sie eine Gurke in die Hand und ver- poetisch daherkommen –, weil er der SPIEGEL: . . . Produzent der psycho-hy- stand wieder nicht: „Soll ich mir das Ding Wahrheit nicht näherkommt. Es ist ein gienischen „Lindenstraße“. jetzt einführen?“ Schließlich kriegte sie Irrtum aller Realisten, zu glauben, das Schlingensief: . . . und so viele dieser einen Heulkrampf und verschwand im Kino könne Gefühle auch nur im An- Gutmenschen und Zweck-Humanisten: Busch. Zwei Stunden später hat sie ein Schaut her, ich bin Crew-Fahrer mit einer Apfelsine in der ein Menschenfreund. Hand am Straßenrand aufgegriffen. Da- Das sind diese Leute, mit war unsere Zusammenarbeit endgül- die sich nach einem tig beendet. Brandanschlag einen SPIEGEL: Was haben Sie ohne Hauptdar- Türken ins Fernseh- stellerin gemacht? studio holen und die Schlingensief: Also, wir saßen da am Betroffenheits-Num- Arsch der Welt. Glücklicherweise krieg- mer hinlegen. Nach te ich den goldrichtigen Tip, Kitten Nati- der Sendung kom- vidad anzurufen . . . men dann die Kol- SPIEGEL: . . . den Ex-Star des amerika- legen und schwär- nischen Kino-Mammographen Russ men: „Super-Sen- Meyer. Wollten Sie denn partout einen dung, Knut!“ Und er Großraum-Busen? sagt: „Ja, ich bin so Schlingensief: Ich bin überhaupt kein fertig, du. Hat mich Busen-Fetischist, aber diese Frau ist alles furchtbar mitge- phantastisch! Sie hat sofort zugesagt und nommen.“ war drei Tage später in Simbabwe – ein SPIEGEL: Sie hinge- Urgetüm von einer Exhibitionistin. Sol- gen stehen notorisch che Schauspieler fehlen leider in unter dem Verdacht

Deutschland. Die zeigen ihren Körper MEGA FILM der Gewaltverherr- entweder gar nicht oder nur als Leucht- Schlingensief-Film „Kettensägenmassaker“ lichung. Trifft Sie turm ihrer intellektuellen Befreiung. „Da kommt der Faschist“ das?

210 DER SPIEGEL 8/1995 Werbeseite

Werbeseite .

KULTUR

Schlingensief: Nein,weiles nichtstimmt. sind doch absolut gewaltgeile Kreatu- Ich bin nicht sensationsgeil. Aber man ren, die nicht ohne ihre vampiristischen kann junge Menschen doch nicht mit dem Phantasien leben können. Die kämen Argument erziehen: Das darfst du nicht doch auf Entzug, wenn’s nicht Sendun- sehen, Fenster zu! gen wie „Explosiv“ oder „Notruf“ gä- SPIEGEL: Bei Ihnen fließt aber das Blut in be. Strömen. SPIEGEL: Aber Sie leiden doch offen- Schlingensief: Ich bitte Sie, meine Effek- sichtlich auch unter schweren Obsessio- te sind vollkommen harmlos. Kino muß nen? Beichten Sie die als guter Katholik ein Erlebnis sein, über das man sich auf- in Ihren Filmen? regt – positiv oder negativ. Und wenn in Schlingensief: Ja, natürlich. Ich versün- einem Erlebnis, sagen wir wie „Natural dige mich pausenlos gegen meine klein- Born Killers“, 80 Minuten nur geschrien bürgerliche Erziehung zu Ordnung, Sau- und gemordet wird, dann ist das legitim. berkeit und Anstand. Ich habe immer ein Ich höre doch auch nicht jeden Abend schlechtes Gewissen. Mozart oder Brahms, sondern auch mal SPIEGEL: Erleichtern Sie sich doch mal Penderecki oder Alban Berg. und inszenieren eine Komödie. SPIEGEL: Ein seltsamer Vergleich. Ge- Schlingensief: Tue ich doch dauernd. walt sehen die Leute doch schon hinrei- SPIEGEL: Da muß man aber sehr genau chend in der „Tagesschau“. Es gibt ja hinsehen. Filmkritiker, die ganz besoffen sind Schlingensief: Das verlange ich auch. von Gewalt-Begeiste- rung. Vielleicht ist es doch ein Unterschied, ob man als cinea- stischer Bubi oder aggressionsgeladener Rohling davorsitzt? Schlingensief: Ich bleibe dabei: Die Pro- bleme mit der Gewalt beginnen immer erst, wenn die Menschen über das Phänomen nicht aufgeklärt wer- den, wenn man ihnen verweigert, darüber nachzudenken, und sie tabuisiert. SPIEGEL: Wollen Sie nicht wenigstens die

Kinder verschonen? D. BALTZAR / SEQUENZ Schlingensief: Natür- Schlingensief-Stück „Kühnen ’94“*: „Angst vor Obsessionen“ lich, für Sechsjährige ist das nichts. Da ist es Aufgabe der El- SPIEGEL: Worüber können Sie lachen? tern, einen Riegel vorzuschieben. Schlingensief: Manchmal über Helge SPIEGEL: Akzeptieren Sie denn über- Schneider. Mir gefällt es, wenn jemand haupt irgendwelche Tabus? wie er gegen eingeschworene Sehge- Schlingensief: Kinderficken, das ist wohnheiten verstößt, wenn der Witz Mißbrauch. Sonst ignoriere ich Tabus, nicht immer logisch aufgelöst wird. die werden doch immer von der Gene- Schneider könnte ein Karl Valentin der ration verordnet, die gerade am Hebel neunziger Jahre werden – vorausgesetzt, ist. er läßt ein paar Talk-Shows aus und SPIEGEL: Nun mal langsam, einige Ta- denkt wieder mehr an seine Bühnen- bus haben ja ein biblisches Alter! Show. Schlingensief: Aber die jeweils herr- SPIEGEL: Viel Ehre für eine singende schende Schicht, so würden es jetzt die Herrentorte. Was wäre denn aus Ihnen 68er formulieren, wacht über ihre Be- geworden, wenn es mit Kunst und Mas- achtung. Sie bestimmt, was erst nach sakern nichts geworden wäre? Mitternacht auf den Bildschirm kommt, Schlingensief: Ein Chirurg. welche Drogen verboten werden. Das SPIEGEL: In Treue fest zur Säge. Jetzt sind doch alles Schutzmechanismen von haben wir echt Hemmungen, nach Ih- Leuten, die Angst vor ihren eigenen rem Lieblingsfilm zu fragen. Obsessionen haben. Schlingensief: „Leoparden küßt man SPIEGEL: Wen meinen Sie damit? nicht“ von Howard Hawks – Cary Grant Schlingensief: Schauen Sie sich doch und Katherine Hepburn im Kampf mit mal TV-Zombies wie Hans Meiser oder einem Dinosaurier-Skelett. Das ist die Margarethe Schreinemakers an! Das witzigste Katastrophe aller Zeiten. SPIEGEL: Herr Schlingensief, wir dan- * 1993 an der Berliner Volksbühne. ken Ihnen für dieses Gespräch. Y .

Pony und an den gro- Stars ßen, schokoladenbrau- nen Augen, die ein we- nig zu dicht zusam- menstehen. In seinem Unbewegter Blick liegen jede Men- ge Angst und schüch- terne Hoffnung. Mann Schüchtern, erzählt Kro´l, sei er früher Lieb und linkisch, ein bißchen trau- selbst gewesen. Doch das ist lange her. Im- rig und fast immer zum Lachen: merhin konnte auch Joachim Kro´l ist der neue Anti-Held die Schüchternheit sei- ne Begeisterung für des deutschen Films. den Schauspielerberuf nicht hemmen – was igentlich ist die Rolle gar nichts Be- seine kleinbürgerli- sonderes. Kaugummikauen, grin- chen Eltern schier zur Esen und ab und zu ein flotter Verzweiflung trieb. Spruch, viel mehr braucht es nicht. Und Als Schüler, so mit 16, überhaupt ist der Part des Sicherheitsbe- 17 Jahren, sei er oft amten am Flughafen für die Handlung von Herne nach Bo- des Films ganz unwichtig. chum ins Schauspiel- Wenn nicht Joachim Kro´l die Rolle haus gefahren. „Ich spielen würde. Er kaut wie ein Besesse- habe mich nach der ner auf dem Kaugummi herum, er grinst Vorstellung da auf die

herausfordernd, und er ärgert seine Kol- J. DIETRICH / NETZHAUT Treppe gesetzt und ge- legin mit gemeinen Witzen: „Wir täu- Schauspieler Kro´l: Der nette Junge von nebenan dacht: ,Das kann ich schen uns beim Onanieren einen Orgas- auch.‘“ mus vor“, sagt er – und scheint dabei len. Anthony Hopkins, sein Vorbild, ar- Das war allerdings reine Theorie, selbst nur für einen frechen Spruch zu beite mit der gleichen Technik: „Der tut denn er spielte noch nicht mal am Schü- halten, was tatsächlich die entlarvendste nichts, als ein Weinglas zu halten, aber lertheater mit. Statt dessen schwänzte er Aussage über das Elend der Singles im ich kann ihn denken sehen.“ Kro´l mag manchmal die Schule und versuchte, mit ganzen Kinofilm „Keiner liebt mich“ ist. das Understatement, und diese Reduk- den Bochumer Schauspielschülern ins Und schon ist klar, warum seine al- tion macht manchmal noch das abwegig- Gespräch zu kommen. Vielleicht, so leinstehende Kollegin ihre Arbeit am ste Verhalten plausibel. dachte er mit der Schlauheit des Naiven, Flughafen so haßt. Und zugleich ist of- Norbert Brommer und der schöne könnte das seiner Karriere nützen. fensichtlich, warum Kro´l ein Ausnah- Axel sehen Dias an. Doch nichts will Aber keiner redete mit ihm, denn metalent ist: Selbst flüchtig hinskizzierte Norbert lieber, als endlich mit Axel ins „die waren, wie alle Schauspielschüler, Nebenrollen spielt er mit einem Über- Bett zu gehen, statt nur darauf zu sitzen. total blasiert“. Kro´l studierte erst mal in druck an Komik und Ausdruckskraft. Und so verfällt er schließlich auf die Köln Theaterwissenschaft und betrieb Joachim Kro´l, 37, ist einer der witzig- blödsinnige Idee, sich – unter dem Vor- nebenher mit sechs Freunden eine Knei- sten und vielseitigsten neuen Schauspie- wand, es sei schrecklich heiß im Zimmer pe in Dortmund. Kneipen mag er, ne- ler des deutschen Films. – auszuziehen. ben Kameras und Bühnen, immer noch Bekannt gemacht hat ihn vor allem „In Wirklichkeit funktioniert das am liebsten. Nachmittags, bei herunter- seine Hauptrolle als trauriger Schwuler nicht so einfach“, sagt Kro´l, und sein gelassenen Rolläden, übte er den Heku- Norbert Brommer in Sönke Wortmanns leicht verzögertes Lächeln scheint ein ba-Monolog aus „Hamlet“ und zwei „Der bewegte Mann“, für die er jetzt „leider“ anzufügen. Ein wenig linkisch Szenen aus Hildesheimers „Nachtstück“ den Bayerischen Filmpreis bekommen sieht er dabei aus, wie der nette Junge und Dario Fos Stück „Zufälliger Tod ei- hat. „Hier wird der Mann zum Ereig- von nebenan, der mutlos schönen Frau- nes Anarchisten“. nis“, schrieb die Süddeutsche Zeitung, en hinterherblickt. Ein Niemand durfte ihm und sogar das amerikanische Fachblatt Anti-Held eben. Auch dabei zusehen, weil Variety lobte: „Sein trauriges Hundege- beim Drehen hatte er niemand ihm „reinpfu- sicht könnte noch das Herz des härte- damals zunächst Be- schen“ sollte, denn das sten Schwulenfeindes brechen.“ denken: „Das nimmt konnte er noch nie lei- Da kommt Kro´l als Norbert Brommer uns keiner ab“, ha- den. Kro´l wurde auf in die Wohnung zurück, wo der Vogel be er zum Regis- Anhieb in München seines Untermieters alle so sorgfältig ge- seur Wortmann ge- an der Falckenberg- pflegten Zimmerpflanzen zerrupft hat. sagt, aber der habe Schauspielschule ange- Er steht nur da, ungläubig und traurig, nur geantwortet: „Laß nommen und dort, so und sagt: „Meine Pflanzen.“ Und mich mal machen, da Kro´l, als „hoffnungs- schafft inmitten des lärmenden Slap- schneiden wir auf das volles Talent hoch ge- sticks ein paar tragische Momente. Dia um, und dann geht handelt“. Wenn er über seine Arbeit spricht, das schon.“ Doch dabei blieb bleibt er beim Einfachen: „Ich nehme Brommers Strip- es jahrelang. Er spiel- mich ganz zurück“ – wenig sagen, aber tease funktioniert, und te am Schloßtheater viel aussagen. Am liebsten spielt Kro´l vielleicht liegt das an in Moers, es folg-

den unbewegten Mann. „Underacting“ Kro´ls Kindergesicht, JAUCH UND SCHEIKOWSKI ten „Kleckerphasen“ nennt man das auf den Schauspielschu- an dem struppigen Kro´l-Vorbild Hopkins (Kro´l) mit kleineren

DER SPIEGEL 8/1995 213 .

KULTUR

Rollen an verschiedenen Theatern, dar- den Mann lächerlich gemacht – er weckt Woche gezeigt wird, die Hauptrolle des unter Bochum und Hannover, und Zei- Mitgefühl, nicht Schadenfreude. Für Privatdetektivs Georg Wilsberg. Die ten des „Eiertanzes“, in denen er sich diese Rolle bekam Kro´l den Bundes- Handlung ist konstruiert, die Regie mit zwei, drei Drehtagen hier oder da filmpreis. steif, aber Kro´l verleiht der schablonen- durchschlug. Immer wieder hat er diese sensiblen, haften Figur Leben: Er hofft, er leidet, „Egal, wie klein die Filmsachen wa- skurrilen Außenseiter gespielt. „Nie- er trauert, er liebt. „Man darf nicht auf ren, sie gaben mir Selbstbewußtsein“, mand kommt an seiner Physis vorbei“, seinen Impulsen sitzenbleiben“, be- sagt Kro´l heute, was vor allem seine Fä- sagt Kro´l, „ich bin kein Terminator.“ Er schreibt er seine Technik, „Denken und higkeit beweist, noch aus dem Schlech- joggt zwar vier- bis fünfmal pro Woche Handeln muß eins sein.“ ten etwas Besseres zu machen, wenig- am Rhein entlang; aber er reicht mit sei- Sorgen um Angebote muß Kro´l sich stens im nachhinein. „In Hildesheim nen gut 1,70 Metern und der lästigen spätestens seit „Der bewegte Mann“ kann man noch so lang einen epochema- Neigung zum Bauch nun mal nicht an nicht mehr machen. chenden Hamlet spie- Inzwischen kennt len, da geht ohnehin nicht nur er die anderen keiner hin“, sagt er – Prominenten der Köl- aber vielleicht würden ner Südstadt, die Musi- die Zuschauer jetzt ker und Sänger, die doch ganz gern einen Filmproduzenten, Au- Kro´lschen Grübler se- toren und Regisseure – hen. jetzt kennen sie auch Ziemlich gefrustet ihn. habe er damals oft bei Seine kleine Rolle in Clemens Böll geses- „Die tödliche Maria“ sen, dem Wirt seiner liebt Kro´l besonders. Stammkneipe in der Diesen seltsamen, klau- Kölner Südstadt, „ist ja strophobischen Kino- auch klar“. Dort hat er film des Nachwuchsre- Kölsch getrunken und gisseurs Tom Tykwer – über Fußball und seinen inzwischen auch mit Lieblingsverein Borus- dem Bayerischen Film- sia Dortmund geredet. preis prämiert – hatten Ganz schnell wischt er die Kritiker im vergan- die Erinnerung an die genen Jahr hoch gelobt; lausigen Zeiten beisei- das Publikum ignorierte te. Geblieben sind ein ihn. paar Narben und Erfah- Kro´l spielt darin ei-

rungen, die mal für eine NEUE CONSTANTIN nen introvertierten, in Rolle nützlich sein kön- Szene aus „Der bewegte Mann“: Tragische Momente im Slapstick seinen privaten Wahn- nen. sinn geflüchteten Ver- Und so steht er jetzt auf einem Turm das Männerideal aus der Kaufhauswer- lagsangestellten, der nachts zu Hause der Kölner Stadtmauer, schaut über die bung heran, das Schönlinge wie Til zwischen ungeheuerlichen Türmen aus Dächer und sagt: „Die Südstadt hat mir Schweiger und Sascha Hehn oder Ma- Zeitungen und Büchern einNachschlage- Glück gebracht.“ chos wie Heiner Lauterbach verkör- werk erarbeitet. Er sei eine Zeitbombe, Denn an seinem 35. Geburtstag habe pern. Aber gerade weil er der Prototyp erklärt Kro´l, „von denen viele unter uns er beim Feiern in einem Südstadtlokal des verpennten lieben Kerls ist, hat er leben. Wir sind nur zu gestreßt, um sie zu einen „magischen Moment“ erlebt. Er auch härter an sich gearbeitet – und bemerken“. glaubt an die lebensentscheidende Be- wirkt nun sehr viel ausgeschlafener als „Die tödliche Maria“ sei der geheim- deutung solcher plötzlichen Erkenntnis- die Kollegen. Das ist die Rache des klei- nisvollste Film, den er je gemacht habe, se, die für ihn aus einer vierten Dimensi- nen Mannes. sagt Kro´l. In dieser düsteren, in rostrotes on kommen. „Ich habe es bis hierher Dennoch würde er gern einmal von Licht getauchten Fünfziger-Jahre-Szene- mit Anstand geschafft, also werde ich es einem Regisseur gegen sein frisches Er- rie ist er es wieder, der als einziger zu le- auch in Zukunft schaffen“, habe er da- folgsimage besetzt werden und einen ben scheint, der als einziger die Toten- mals gedacht, und zwei Wochen später Fiesling spielen: Kro´l kann auch anders, starre überwunden hat, die alle anderen kam das Angebot, das ihm zum Durch- er muß nicht immer nur nett und ein we- Figuren in dem Film lähmt. Und dafür bruch verhalf: die Rolle des fröhlichen, nig tölpelhaft sein. Vielleicht hat er sich muß er nichts tun, als zu lächeln, zu stot- aber geistig stark beschränkten Rudi deshalb in Bert-Brecht-Pose fotografie- tern und sehnsüchtig und verloren zum Kipp in Detlev Bucks Erfolgsfilm „Wir ren und sich einen Grunge-Bart wach- Fenster seiner Nachbarin Maria zu blik- können auch anders“. sen lassen. ken. Kro´l erweist sich auch hier als großer Natürlich habe er das Zeug dazu, sol- Ausgerechnet dieser Trauerkloß erlöst Komiker. Furios spielt er den reinen che Rollen zu übernehmen, sagt Kro´l, Maria aus ihrer Ehehölle: Sie küssen und Tor, so naiv und unschuldig, wie er in und fügt mit unerschütterlichem Selbst- küssen und küssen sich, und die Kamera der klassischen Literatur konzipiert ist. vertrauen hinzu, Tom Hanks habe ja dreht sich um sie herum, immer wieder, Einmal steht er aufrecht und reichlich auch den debilen Forrest Gump und den und sie versinken in der Hoffnung, daß unpassend gekleidet im Beerdigungsan- hochintelligenten Rechtsanwalt in „Phil- dieser Taumel niemals endet. zug herum und hält zwei fremden Da- adelphia“ gespielt. Mit dieser Szene habe er, sagt Kro´l, ei- men eine groteske Tischrede über seine Kro´l hat das Recht auf diese Selbstsi- nen Rekord gesetzt: Er gebe Maria den Zukunftsträume: barfuß durch den Sand cherheit. Denn es gelingt ihm, sogar aus längsten Kuß der deutschen Filmge- laufen und mit dem Boot rausfahren, miserablen Filmen etwas zu machen. So schichte. Und das macht ihn, so scheint und die Wimpel knattern im Wind. spielt er im ZDF-Film „Und die Toten es, stolzer als alles andere. Doch nicht für eine Sekunde hat Kro´l läßt man ruhen“, der am Montag dieser Marianne Wellershoff

214 DER SPIEGEL 8/1995 Werbeseite

Werbeseite . T. ANZENBERGER Romancier Menasse: Verwackelt scharfe Bilder von 1989

Literatur Busen der Natur, geliftet Hellmuth Karasek über Robert Menasses Wenderoman „Schubumkehr“

ie kleine niederösterreichische Ge- jahr 89“, dem Jahr des großen Grenz- meinde Komprechts, unmittelbar und Mauerfalls in Europa. Dan der tschechischen Grenze gele- Und so endet das Buch auch mit den gen, ist wohl ein symbolischer Ort. im Fernsehen mit großer Emotion bis Komprechts SPÖ-Bürgermeister heißt zum Überdruß gezeigten Bildern: Vor Adolf König (früher, als man Namen den Kameras heben der tschechoslowa- noch nicht eindeutschte, um nur ja kein kische und der österreichische Außen- Slawe zu sein, hieß die Familie Kral), minister die Grenzbalken hoch, den Ka- die Leute nennen den tüchtigen wendi- meraleuten und Fotoreportern zuliebe gen Mann spöttisch anerkennend King, gleich mehrmals. nach seiner angeberischen Autonum- Auf der Videokassette des Helden, mer, hinter die seine anonymen Feinde der das Leben im Dorf mehr aus Lange- schon mal ein Kong kritzeln. Daß seine weile als aus Dokumentareifer festhält, Eltern ihm zur rechten Zeit den Namen ist auf diesem Film im Oktober 1989 Adolf verpaßten, bedarf keiner weite- nichts drauf. Die Kassette ist leer. Man ren Erklärung. weiß nicht, ob mit Absicht oder aus Ver- Man mag eine solche „Nomenklatur“ sehen – ein Symbol, ein Zeichen ist es als dick aufgetragen empfinden. Aber allemal. wer beobachtet hat, welche Verrenkun- Denn der Stacheldraht, der da zer- gen das fadenscheinige Selbstbewußt- schnitten wird, die Mauer, die da fällt, sein mit frei wählbaren Buchstabenkom- sie sind den Menschen im Dorf im binationen auf Autoschildern anstellt Grunde herzlich egal. Die haben andere und wer sich erinnert, welch tödliches Sorgen, sie bauen sich andere Grenzen, Schicksal ein falscher Name vor 1945 be- haben andere Todeszonen. deuten konnte, wird einem sonst hellhö- Bisher hat der in Wien geborene und rigen Autor auch vergröberte Signale lebende Literaturwissenschaftler Me- nicht übelnehmen wollen. nasse, der 1988 als Romancier mit Denn der österreichische Schriftstel- „Sinnliche Gewißheit“ debütierte, vor ler Robert Menasse, 40, bisher vor al- allem eigene Erfahrungen zu ironischen lem durch einen kühn komischen Litera- Künstlerporträts geformt und essayisti- tur-Roman „Selige Zeiten, brüchige sche Auseinandersetzungen mit polemi- Welt“ hervorgetreten, wagt sich in scher Schärfe geführt: Seine jüdische „Schubumkehr“* an eine empfindliche Herkunft, seine sieben Dozentenjahre Grenze in einer hochgeschichtlichen an der Universität Sa˜o Paulo, seine phi- Zeit: Er beschreibt den Grenzort Kom- losophische Neigung bilden deutlich den prechts ein Jahr lang – im „Schicksals- Background seines Schreibens. Menasses „Schubumkehr“ jetzt ist der * Robert Menasse: „Schubumkehr“. Residenz erste Roman, der die Freude und den Verlag, Salzburg und Wien; 196 Seiten; 38 Mark. Taumel über die riesigen Veränderun-

216 DER SPIEGEL 8/1995 Werbeseite

Werbeseite KULTUR

gen dorthin abschiebt, wo sie wirklich angelegt, auf Melancholie, betrübte stattgefunden haben: in die Öffentlich- Menschenkenntnis. Es ist ein Buch aus keit. Und der schlüssig zeigt, wie wenig Österreich, wo schon Nestroy in einem die Öffentlichkeit dazu taugt, mit dem wundervollen Kalauer gefunden hat, die Leben verwechselt zu werden. schönste Nation sei die Resignation. Denn der Grenzort, der auf steinigem Und es endet tödlich, melodramatisch Boden neben steinigen Äckern steht, leb- tödlich. Der eheliche Sohn des Bürger- te von einem Steinbruch und einer Glas- meisters, dem die Mutter den zweiten fabrik. Und beide sind tief in die Krise ge- Vornamen Maria verpaßt hat (was der raten. Da muß der Bürgermeister, wenn Vater mit verlegenen Hinweisen auf er King bleiben, also wiedergewählt wer- den will, sich schon was einfallen lassen. Und um die Strukturhilfegelder der Regierung für die regionale Förderung zu BESTSELLER bekommen, sucht er, erstens, die Glasfa- brik mit reduzierter Arbeitskräftezahl zu BELLETRISTIK retten und, zweitens, seinen Ort an der Grenze imNiemandsland zueinem „sanf- Gaarder: Sofies Welt (1) ten“, zu einem alternativen Kurort umzu- 1 Hanser; 39,80 Mark gestalten – zu einem Moorbad mit einem Steinbruchmuseum. Høeg: Fräulein Smillas (3) Das wird schrecklich komisch geschil- 2 Gespür für Schnee dert und endet ziemlich tragisch – mit Hanser; 45 Mark Mord und Totschlag. Menasse hat eine Riesenbegabung, die Anstrengungen zu Grisham: Der Klient (2) beschreiben, mit denen das Dorf die na- 3 Hoffmann und Campe; türliche Natur durch noch natürlichere 44 Mark künstliche Natur zu ersetzen trachtet. Schon Robert Musil beantwortete einst Pilcher: Das blaue Zimmer (4) die gern gesungene Frage „Wer hat dich, 4 Wunderlich; 42 Mark du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben?“ mit der entwaffnenden Ant- Follett: Die Pfeiler (5) wort: Der Oberförster war’s. Und 5 der Macht Menasse weiß, wieviel schöner der Lübbe; 46 Mark „Busen der Natur“ ist, wenn ihn der Mensch strafft und künstlich liftet. Eine Noll: Die Apothekerin (6) Gesellschaftssatire also, eine Sozialpos- 6 Diogenes; 36 Mark se, die Menasse, angefüllt mit genauer Bosheit, erzählt? Ja und nein. Begley: Lügen in (7) Denn zum einen hebt der Autor, den 7 Zeiten des Krieges auf Schritt und Tritt sein sensibles Ge- Suhrkamp; 36 Mark schichtsbewußtsein begleitet, die Schick- sale vieler fast wortloser Opfer in die Ge- Clancy: Gnadenlos (8) schichte: das der Steinmetzwitwe, der 8 Hoffmann und Campe; man das vom Mann gebaute Haus samt 49,80 Mark den Engeln, die er für ihr Grab bestellt hat, rauben will, zum Beispiel. Oder das de Moor: Der Virtuose (10) des Waldes, den die Naturkatastrophe ei- 9 Hanser; 34 Mark nes vereisenden Nebels buchstäblich zu Boden streckt. Forsyth: Die Faust Gottes (11) Zum andern hat er seine Gestalten 10 C. Bertelsmann; 48 Mark nicht zu Satire-Funktionären degradiert. Königzum Beispiel hat ein Verhältnis mit Ryman: Wer Dornen säht (14) der Serviererin im „Hirschen“ und ver- 11 W. Krüger; 49,80 Mark liert sie, als sie ein Kind will und er nicht, an einen Ehewilligen. Und das Kind? Ist Walters: Die Bildhauerin es von ihm? Er eilt in die Klinik, von Stolz 12 Goldmann; 39,80 Mark und Angst, von Glück und Zerstörungs- panik umgetrieben – nein, Abziehbilder Kishon: Ein Apfel sind Menasses Figuren nie und nimmer. (9) 13 ist an allem schuld Wenn der Leser die beiden, King und Langen Müller; 36 Mark Kellnerin, zum erstenmal neben dem Schankraum im Dunkeln erlebt, sagt sie: Garcı´a Ma´rquez: Von der „Nicht so, Dolfi, so kann ich ja dein Ge- (15) 14 Liebe und anderen Dämonen sicht nicht sehen“, und er antwortet: „Ah Kiepenheuer & Witsch; 38 Mark was, Gsicht!“ Das ist, fast wörtlich, Arthur Schnitz- Green: Die Geschworene ler, zitiert aus dem „Reigen“. Und auch 15 Droemer; 39,80 Mark Menasses Buch ist, wo es kopulative Freuden schildert, auf einen Totentanz

218 DER SPIEGEL 8/1995 Österreichs Nationalheiligtum Klaus Menasse waghalsig ausdenkt und durch Maria Brandauer entschuldigt), wird sein Schreiben durchaus legitimiert. Vor versehentlich umgebracht, weil er mit allem versteht er enorm viel vom Elend einem Ausländermädchen in kindlicher der Außenseiter: Bruno Maria, aus dem Liebe die Kleider vertauscht – Menasse die Bürgermeistereltern etwas Besseres kennt Kleists „Familie Schroffenstein“ machen wollen und aus dem die Natur et- und wagt deren Risiken. was Empfindlicheres gemacht hat, hilft Der Vater wird sogar mit Gift- beispielsweise übereifrig seinen Peini- schwammerln vergiftet. Ja, es sind gern beim Zerstören seiner Einsiedler- schon komische Schrecken, die sich hütte –ausAngst, dieHorde könnte sonst merken, sie gehöre ihm. Kann ein Autor wie Menasse, der bis- her wehleidig und spöttisch, selbstkri- tisch und selbstverliebt vor allem glän- zend von sich selbst schwadronieren SACHBÜCHER konnte, einen Dorfroman mit jenem wortkargen Holzschnitt schreiben, der da Wickert: Der Ehrliche (1) angebracht ist? 1 ist der Dumme Er kann, wenn er auch und in gleichem Hoffmann und Campe; 38 Mark Maße von sich erzählt. Denn in dem Bild Carnegie: Sorge dich (2) der von der regionalen Krise gebeutelten 2 nicht, lebe! Gemeinde und ihrer touristischen Auf- Scherz; 44 Mark bruchseuphorie hat der Autor in filmi- schen Schnitten die schreiend komische Carnegie & Assoc.: (4) und verzweifelte Geschichte seines Alter 3 Der Erfolg ist in dir! ego namens Roman (von der Mutter, wie Scherz; 39,80 Mark in Österreich üblich, zu seiner Wut Ogger: Das Kartell (3) „Romy“ genannt, was für ihn wie „Klaus 4 der Kassierer Maria“ klingt, mindestens) erzählt. Droemer; 38 Mark Es ist auch die Geschichte seiner Mut- N. E. Thing Enterprises: (5) ter, einer älteren Frau, die mit einem jun- 5 Das magische Auge III gen Mann, der kaum älter als ihr Sohn ist, Ars Edition; 29,80 Mark zum alternativen Leben aufs Land zieht. Das erweckt die ödipale Wut des aus Bra- N. E. Thing Enterprises: (6) 6 Das magische Auge II silien geflohenen und herbeigeeiltenSoh- Ars Edition; 29,80 Mark nes, der seine Bindung zur Mutter inEkel und Verachtung tarnt. 7 Friedrichs, mit Wieser: (9) Dabei vollzieht sich die unauflösbare Journalistenleben Mutter-Sohn-Liaison zuerst in kitschigen Droemer; 38 Mark Episteln ihrerseits und dann ineinem hin- N. E. Thing Enterprises: (7) reißend komisch-tragischen Wettkampf 8 Das magische Auge zweier siamesischer Zwillingsseelen, bei Ars Edition; 29,80 Mark dem sich erst die Mutter Pfunde abhun- Scholl-Latour: Im (8) gert, um dem Sohn das Rauchen abzuge- 9 Fadenkreuz der Mächte wöhnen, der Sohn sich zum in die Jahre C. Bertelsmann; 44 Mark gekommenen Monster dickfrißt, um dann über verlorene Pfunde in Todes- 10 Paungger/Poppe: Vom (13) krebsangst zu verfallen. Dabei verlieren richtigen Zeitpunkt die beiden den alternativen Ehemann der Hugendubel; 29,80 Mark Mutter erst aus den Augen, bis sie ihn Ogger: Nieten in (12) dann an eine „Schlampe“, also eine jün- 11 Nadelstreifen gere Nachbarin, ganz verliert – inklusive Droemer; 38 Mark grünem Hof und alternativem Bett. Mandela: Der lange (10) Wer Menasses grausam komischen Be- 12 Weg zur Freiheit obachtungen hier folgt, weiß, daß die S. Fischer; 58 Mark Zeitgenossen dieser Trends, dieser Hun- ger-, Liebes- und Yogaleiden die große 13 Johannes Paul II.: (11) Wende nur alsbuntesFlimmernund Rau- Die Schwelle der schen, wenn auch unter Tränen, zu erle- Hoffnung überschreiten ben imstande waren. Hoffmann und Campe; 36 Mark So ist es auch nur die Videokamera des Kelder: Die Fünf „Tibeter“ Helden, mit der er seine Bettgenossinnen 14 Integral; 19 Mark wie die Dorfbewohner von Komprechts Ehrhardt: Gute Mädchen (14) aufnimmt–und immerdann verpaßt, ver- 15 kommen in den Himmel fehlt, verflimmert, wenn es wichtig wird. W. Krüger; 29,80 Mark Aber ausgerechnet diese stummen, oft verwackelten Bilder enthalten eine un- Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom faßbare Wahrheit, die sich dem Roman Fachmagazin Buchreport mitteilt: gerade da, wo sie scheinbar ver- schwiegen wird. Y

DER SPIEGEL 8/1995 219 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite KULTUR

Festspiele Gequältes Gestein Der deutsche Film fiel auf der Berlina- le durch – mal wieder schwerblütig und gedankenreich.

a nahen sie wieder, die schwanken- den Gestalten, „aus Dunst und Ne- Dbel“ emporgestiegen. Mittlerweile wirken sie ebenso klassisch deutsch wie jene Schimären, die Goethe am Anfang des „Faust“ heraufbeschwor: die ergrau- ten Gestalten des Autorenfilms. Rund zwei Dutzend dieser Veteranen erwarten den Zuschauer in Edgar Reit- zens Rückblick auf 100 Jahre deutsches Filmschaffen, „Die Nacht der Regisseu- re“, der letzte Woche bei den Festspielen in Berlin uraufgeführt wurde. Das Werk, das den verdrucksten Charme eines Volkshochschulkurses ausstrahlt, faßt unfreiwillig all das zusam- men, was mit dem deutschen Film im ar- gen liegt. Einzelne Anzeichen der Malai- se fanden sich in den meisten anderen Fe- stival-Filmen „made in Germany“. Doch nur „Die Nacht der Regisseure“ schaffte es, die Krise gleichzeitig zu kommentie- ren und selbst zu bebildern. Dadurch ist der Film als Dokument von unschätzba- rem Wert. Aber auch nur als solches. Edgar Reitz hat per Computer ein Klassentreffen fingiert: In einem virtuel- len Saal einer virtuellen Münchner Kine- mathek hocken die Herren – und wenige Damen – in ihren Sesseln und teilen der Welt in braven Monologen ihre Gedan- ken und Erinnerungen mit. Volker Schlöndorff behauptet, er kön- ne ein deutsches Frauengesicht gleich auf der Leinwand erkennen. Wim Wenders räsoniert, das Filmemachen sei eigentlich etwas Männliches. Margarethe von Trot- ta, deren hochgeputschter Berlinale-Er- öffnungsfilm „Das Versprechen“ erwar- tungsgemäß von den Amerikanern nicht einmal in die engere Oscar-Wahl genom- men wurde (SPIEGEL 6/1995), erinnert sich daran, wie sie sich als Studentin im Ausland erstmals so richtig deutsch fühl- te. Und Alexander Kluge erklärt, daß ihn am Film die Bilder eigentlich eher stören. Dreh- und Angelpunkt der Betrach- tungen ist der deutsche Film der Nazi- Zeit. Im – natürlich berechtigten – Grü- beln über Schuld und Schande verliert Reitz alles andere aus dem Blick: keine Spur von Komödianten wie Rühmann oder Lingen, keine Spur vom Dokumen- tarfilm, nur wenige knappe Kommentare zur DDR-Filmgeschichte. Unter den we- . ERF Szene aus dem Reitz-Film „Die Nacht der Regisseure“: Eigentlich stören die Bilder im Kino

nigen Jungen, die auftreten, wagt nur Hang zum Flotten. Zwei junge Frauen, Während der Festspiele haben sich Detlev Buck vorlaute Töne gegen all die dazu zwei Typen: ein cooles Quartett, französische Medienfunktionäre wieder „Analytiker hoch fünf“. ziemlich egoistisch und gutaussehend einmal – ohne große Resonanz – dafür Wie akademisch, sterbenselend und und ausgesprochen gedankenarm, auch stark gemacht, europäischen Produktio- todessüchtig sich der deutsche Film bei wenn alle permanent reden. Sie wech- nen zumindest im Fernsehen eine Reitz geriert, fiel in Berlin um so mehr seln Partner hin und wieder her und ha- Schutzzone einzurichten. Doch würde auf, als das Festivalprogramm seine lan- ben nebenbei mit dem Ossi-Wessi-Pro- eine solche Zone einem Film wie ge „Nacht“ ausgerechnet an Agne`s Var- blem zu kämpfen. So sehen die häßli- „Hades“ wirklich nützen? Und ist alles das taghelle, lebensbejahende Hom- chen Deutschen der neunziger Jahre schützenswert, was die Filmlandschaft mage zum Kinojubiläum koppelte. aus. Europa hervorbringt? In „Les Cent et une Nuits“ wird die Einer der wenigen, die im deutschen Sicher nicht alles, ganz sicher nicht Filmgeschichte von einem fast 100 Jahre Film die schweren Schicksalsfragen mit „Transatlantis“, der zweite deutsche alten Herrn (Michel Piccoli) verkörpert, Witz, wenn auch verzweifeltem, zu ver- Wettbewerbsfilm. Mit ihm beweist der der partout nicht sterben will. Vardas in binden suchen, Herbert Achternbusch, Filmemacher Christian Wagner nichts Frankreich gedrehte Allegorie ist heiter, war mit seinem neuesten Werk „Hades“ anderes, als daß ausgerechnet die pene- verspielt, ins Kino verliebt: ein Traum, im Wettbewerb vertreten. (Der virtuel- trant neuromantische Innerlichkeit des kein Trauma. So anders können sich an- len Kinemathek hatte er sich verwei- Autorenfilms in einigen Nischen über- dere Filmländer zur Vergangenheit ver- gert.) Vieles, was den sturen bayeri- wintert hat. halten. schen Narren seit langem bewegt, taucht Mehrere Jahre lang hat der überfor- Wer dagegen Reitzens Riege von in „Hades“ auf: die alten und die neuen derte Wagner gewerkelt an seiner ver- Schwerblütern versammelt sieht, ver- Nazis, der Antisemitismus, das Ghetto, quasten Geschichte eines Wissenschaft- steht plötzlich besser, weshalb der das Sterben und der Tod. Ein schwieri- lers, der in eine Sinnkrise gerät und an- Nachwuchs des Regiefachs sich so ent- ger, langatmiger, häßlicher Film. Aber fängt, das untergegangene Atlantis zu schlossen in die Komödien-Heiterkeit kein dummer. suchen. Dabei hat er dem Stoff alles Le- geflüchtet hat. Das Pendel muß wohl Die Marktchancen für „Hades“: ben ausgetrieben und auch allen Sinn. erst in die Gegenrichtung ausschlagen, gleich Null. Die Berlinale-Konkurrenz Seinen Helden läßt er von „gequältem ehe der deutsche Film ein Gleichgewicht macht diese Chancenlosigkeit verständ- Gestein“ faseln und von den „ungleich- erreicht: von der Tränenkaiserin Trotta lich. Zahlreiche gut gemachte amerika- zeitigen Gefühlen des mich umgeben- zur Schaumschlägerin Katja von Gar- nische Filme waren im Programm zu se- den Zwists“. Die Zuschauer im Kino- nier, vom Welteneroberer Werner Her- hen: Robert Redfords Skandalchronik saal: fassungslos. zog zum Ulk-Provinzialisten Buck, vom „Quiz Show“, Frank Darabonts Gefäng- Was steht im „Faust“ über den alten Kunstturner Wenders zum Humorhand- nisdrama „Die Verurteilten“, Richard neuen deutschen Film? „Der Schmerz werker Sönke Wortmann. Linklaters Flirtintermezzo „Before Sun- wird neu, es wiederholt die Klage / des Auch der Hamburger Debütfilm „Die rise“, Robert Bentons Kleinstadtsaga Lebens labyrinthisch irren Lauf.“ Der Mediocren“ von Matthias Glasner, in „Nobody’s Fool“ und vor allem Wayne deutsche Film. Der deutsche Wald. Der der Panorama-Reihe zu sehen, müht Wangs als Bären-Anwärter gehandelter deutsche Humor. Ach. sich um Anschluß an den aktuellen Brooklyn-Reigen „Smoke“. Susanne Weingarten

DER SPIEGEL 8/1995 223 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite .

KULTUR

Autoren Das Grauen im ICE-Bord-Treff SPIEGEL-Redakteur Thomas Hüetlin über Christian Krachts „Faserland“

er Junge istein Schnösel. Einer, der drucksformen aufwarten, die vielleicht Roederer Christal am Strand von nicht gleich den Beifall der Literaturbü- DSylt trinkt, der entweder Taxi oder rokraten finden, aber die dafür ihre eige- Porsche fährt, der auf Millionärspartys nen sind. am Bodensee Highballs schlürft und auf Denn Krachts Debüt beweist einmal Hamburger Medientreffs Ecstasy-Pillen mehr, daß einer die große Krise schon einwirft, der in Salem war und davor ein lange vor der Midlife-crisis und dem Äl-

Kindermädchen hatte, das ihm die Toast- terwerden kriegen kann. Sein namenlo- E. NICKEL brotkanten abschnitt und Tee der Sorte ser Ich-Erzähler, der manchmal autobio- Autor Kracht Lapsang Souchong brühte. graphische Züge trägt, reist von Nord Haß gegen senffarbene Sakkos Ein Junge also, der den Reichtum und nach Süd quer durch Deutschland in die das Leben, von dem die Protzgesellschaft Schweiz, und wie jeder ordentliche Dan- Menschen nebeneinander herleben – träumt, samt seinen Feinheiten kennt, so dy muß er an der Welt leiden, und seine Deutschland Vaterland, Faserland. genau, daß er es sich leistet, ein Dandy zu Antwort ist Haß. Ziemlich viel Haß also. Dabei ist sein, den Geld nicht interessiert. Haß gegen einen Menschen, der aus- Kracht alles andere als ein zorniger jun- „Faserland“ heißt das Debüt des Ich- sieht wie ein Werbetexter, der auf Sylt ger Mann, der der Welt erklären könn- Erzählers Christian Kracht, 28, und als den eigenen türkisfarbenen Porsche voll- te, wo es langgeht. Das kann er nicht der Verlag seinen Vertretern im letzten kotzt; Haß gegen Menschen, die ausse- einmal sich selbst. Er reist nicht durch Herbst die Fahnen vorlegte, gab es sofort hen wie Betriebsratsvorsitzende, die Deutschland, er wird gereist. Betrun- das erste Mißverständnis*. Die meisten Businessclass fliegen und mit ihren bun- ken, auf Ecstasy, schlaflos, der Ohn- Außendienstler meinten, daß man dieses ten Krawatten und senffarbenen Sakkos macht nahe, zieht es ihn von Sylt nach Buch nicht ernsthaft vermarkten könne, von ihrem letzten Phuket-Aufenthalt er- Hamburg, nach Frankfurt, nach Heidel- manche fühlten sich gar verhöhnt; eine zählen. berg, nach München, nach Meersburg, nach Zürich. Und auch wenn er nüchtern ist, wirkt sein Erzählstil wie narkotisiert: Auf fast schläfrige, kühle und distanzierte Art nähert er sich Men- schen und Gegenstän- den, widerwillig, vol- ler Zweifel an der Genauigkeit seiner Wahrnehmungen. Ger- ne schreibt er „Ich weiß jetzt nicht, ob ich mich da jetzt richtig ausge-

KEYSTONE GLOBE PHOTOS / CAMERA PRESS GLOBE PHOTOS drückt habe“, noch lie- Kracht-Vorbilder Salinger, Ellis, Kerouac: Nicht gleich den Beifall der Literaturbürokraten finden ber „Ich verstehe das nicht“. Minderheit hielt dagegen, „Faserland“ Haß empfindet der Autor, Sohn des „Unwissenheit ist Stärke“, hat Orwell sei brillant. ehemaligen Axel-Springer-Generalbe- behauptet. Kracht arbeitet so, um den Ein Konflikt, der einiges über „Faser- vollmächtigten, gegen Menschen, die boshaft Ohnmächtigen zu spielen. Al- land“ und noch mehr über Deutschland aussehen wieNazis, „diese Welt am Sonn- lein der Oberfläche vertraut er: „Ich be- sagt, denn Romane wie der von Kracht tag-Leser in ihren Gabardine-Hosen mit zahle den Taxifahrer, der zum Glück werden hierzulande normalerweise nicht der immerwährenden Bügelfalte, den in während der Fahrt kein Wort gesagt geschrieben. Bücher wie Jerome D. Sa- matten Farben gehaltenen Blousons, die hat, weil er sauer war, daß wir beide lingers „Fänger imRoggen“, Jack Kerou- viel zu großen Brillen mit Goldrand“; gleich alt sind und ich eine Kiton-Jacke acs „On the Road“ oder Bret Easton El- Haß gegen Menschen, die aussehen trage und er auf Demos geht. Obgleich, lis’ „Unter Null“ – Bücher, deren Auto- wie Techno-Raver, mit orangefarbenen wenn ich es mir überlege, hätte ich ger- ren sich in den Mittelpunkt stellen und T-Shirts, Bundeswehrhosen, rasierten ne mit ihm geredet und ihm gesagt, daß mit Haltungen, Meinungen und Aus- Schädeln und Ringen inder Nase, die sich ich auch auf Demonstrationen gehe, tagelang über Sätze unterhalten, die sie nicht, weil ich glaube, damit würde man * Christian Kracht: „Faserland“. Kiepenheuer & auf einer Toilettenwand gelesen haben; auch nur einen Furz erreichen, sondern, Witsch; 166 Seiten; 29,80 Mark. Haß gegen das Land, in dem all diese weil ich die Atmosphäre liebe.“

226 DER SPIEGEL 8/1995 Werbeseite

Werbeseite KULTUR

Politik erscheint in „Faserland“ nur kein Luxus und keine Droge, und die noch als lächerliches Ritual, das nach den Liebe schon gar nicht. Wann immer es immer gleichen Regeln abläuft, nicht als zu einer vielversprechenden Begegnung Quelle der Veränderung. Das ist nicht kommt, bleibt der Held eingemauert in unbedingt neu, und doch hat kein ande- seiner Einsamkeit. Ergibt sich ein Flirt, rer deutscher Autor je auf solch lakoni- muß er unverzüglich flüchten, sieht er sche Art darüber geschrieben. ein Mädchen, mit dem er etwas anfan- Nicht aus Verdrossenheit bleiben die gen könnte, so verharrt er scheinbar Personen passiv – sie machen sich nur teilnahmslos – er hört nicht zu. „Ich will keine Illusionen mehr. Die Generation diesen wunderschönen, dummen Mund nach 1968 hat die Lehrer beim Marsch küssen, aus dem nur sinnloses Geplap- durch die Institutionen im eigenen Klas- per herauskommt, leeres, wirres Zeug.“ senzimmer erlebt und gesehen, wie die Der Abend endet, wie er enden muß – hehren Ziele eingetauscht wurden gegen der Junge flüchtet einmal mehr. Er die Reihenhaus-Ruhe, den Mittelklasse- klaut den Porsche des Gastgebers und wagen, den Urlaub auf Fuerteventura setzt sich in die Schweiz ab. und das verlogene Laß-uns-darüber-Re- Dabei ahnt er längst, daß es kein Ent- den. Gegen den Bankrott der Ethik setz- kommen gibt. Irgendwo verlorengehen, ten viele die Aufwertung der Ästhetik – so wie das die Reise-Dandys Paul die schnell in einer trostlosen Verlife- Bowles und Bruce Chatwin noch konn- stylung des Lebens, im wunschlosen Un- ten, ist im Zeitalter der Satellitenschüs- glück endete. seln nicht mehr möglich. Wo immer ei- Die Oberflächen und Äußerlichkeiten ner hinkommt, irgendeine Popgruppe sind Krachts Halt, und manchmal wirkt oder ein Hollywoodfilm war schon da. sein Roman wie eine Nachahmung von Das letzte Abenteuer ist, die Spuren Bret Easton Ellis’ „American Psycho“, und die Verformungen der Trashkultur dem vollständigsten Katalog des Life- bis in die entlegensten Orte zu verfol- style-Irrsinns – nur daß Kracht nicht wie gen. Begeistert schildert Kracht die Ellis das Erzählen den Markennamen Abenteuer seines Freundes Alexander. unterordnet, sondern versucht, sie zu be- Der spielte in einem kleinen Dorf in In- nutzen und hinter sich zu lassen. dien eine ganze Nacht „Brother Louie“ von der Gruppe „Modern Talking“. Da- zu stampften die Bewohner mit nackten Kracht bejammert Füßen auf den Lehmboden und tranken nicht die verstellte Welt, Schnaps. Alle kannten das Lied ganz ge- nau. Gegen Morgen lagen sie sich wei- er bilanziert sie nend vor Glück in den Armen. Kracht bejammert die verstellte Welt So ist es kein Wunder, daß die Verwal- nicht, er bilanziert sie. Wie viele seiner ter der Oberflächlichkeit, diejenigen, die Generation träumt er nicht mehr von das Deutschland der neunziger Jahre von großen Veränderungen oder verborge- der richtigen Krawatte bis zur richtigen nen Paradiesen. Trotzdem bleibt bei al- Mülltonne mit ihrem Geschmacksterror lem Sarkasmus, ganz in der Tradition durchdesignen wollen, von Kracht gna- der deutschen Romantiker, eine Sehn- denlos verspottet werden. sucht nach asozialer Einfachheit und Ein Schnittpunkt des Grauens, der ent- Geborgenheit. Kracht halluziniert sie steht, wenn sich Trendforscher, Designer herbei in der Person von Isabella Ros- und Werber etwas ausdenken, ist für sellini. Mit ihr möchte er leben. Auf den Kracht das Lufthansa-Bordheft oder der Äußeren Hebriden. In dicken Wollpull- Bord-Treff des ICE. overn. Und mit offener Schlafzimmer- „Ich überlege mir, wer sich wohl diesen tür, damit er nachts das Atmen der Kin- Namen ausgedacht haben mag. Ich mei- der hören kann. ne, saßen da irgendwelche Menschen mit Doch Todessehnsucht und Selbsthaß bunten Brillen in einem Designerbüro in erweisen sich als stärker, und so feiert er Kassel und haben sich tatsächlich darüber am Ende die liebste Kunst der Dandys: den Kopf zerbrochen, ob diese Monströ- die Auslöschung. Für die, die ihm nicht sität in der Mitte ihrer geschmacklosen ins Dunkel folgen wollen, bleibt Hoff- Züge nun Bord-Treff heißen soll oder nung auf die Erneuerung der satten nicht? Vielleichthat einerjagesagt:Nein, postmodernen Kultur. Nicht in Gestalt Gastrostubb müßte es heißen oder viel- von Stahlgewittern, sondern in Form leicht sogar Iß was . . . Schließlich haben von schwarzlilafarbenen Trainingsan- sie sich dann auf Bord-Treff geeinigt, die zug-Trägern aus dem Osten. Agentur hat dann drei Millionen Mark So jedenfalls wünscht es sich Kracht: eingestrichen, und alle sind mit ihren Ar- „Das wäre beruhigend, muß ich denken, mani-Sakkos und ihren bunten Brillen in wirklich sehr beruhigend, denn ein lila- die Toskana gefahren, Chianti trinken farbener Ost-Mensch ist mir noch ei- und Lebensgefühl tanken. Unfaßbar. ne Million Mal lieber als so ein Under- Aber so war das vermutlich.“ statement-West-Mensch, der irgend- Gegen die Leiden des jungen Kracht, wo in einer Einkaufspassage Austern das zeigt sich im Laufe des Romans, hilft schlürft.“ Y Werbeseite

Werbeseite .

SPORT

Fußball „DIE NIAGARAFÄLLE RUNTER“ SPIEGEL-Reporter Cordt Schnibben über Otto Rehhagels Sehnsucht nach Freiheit und Abenteuer

irder sieauchaufdemvornehmen Trainingsareal der Bayern erzäh- Wlen, die Geschichte von dem al- ten, gebeugten Mann, den er vor einigen Jahren am Rande des Übungsplatzes sei- ner Bremer Mannschaft entdeckte? „Meine Herren“,hatte er den verschwitz- ten Fußballern zugerufen, „stehen Sie ei- nen Moment still!“ Ob sie diesen Mann kennen würden, hatte er sie gefragt. Sie hatten ratlos den Kopf geschüttelt. Er hatte ihnen gesagt, das sei Ernst Kalwitz- ki, einer der größten deutschen Fußbal- ler, der Rechtsaußen der Wunderelf von Schalke 04, der habe 1939 im Endspiel fünf Tore gemacht. „Meine Herren, auch Ihre große Zeit endet mit 35 Jahren, nut- zen Sie sie. Weitermachen!“ In seinen Bremer Balltretern hat Otto Rehhagel so und ähnlich immer wieder Willen und Kraft freigesetzt, hat sie vom Pokaltriumph zum Meistertitel und zum Europapokalsieg getrieben. Und auch ihn, den Bergarbeitersohn, hat diese Angst des Fußballers vor einer Zukunft ohne Ruhm jeden Tag kämpfen lassen. Erst in201Bundesligaspielen als gefürch- teter Treter, dann alsarmwedelnder Aus- hilfstrainer („Notnagel“) überall da, wo es nur noch aufwärtsgehen konnte, schließlich als bestaunter Meistermacher in Bremen und demnächst als Dompteur der verwöhntesten deutschen Elf. Und dennoch hat man nicht das Ge- fühl, daß dem Mann im schwarzen Roll-

kragenpullover, der im stillen Bremer W. WITTERS Park-Hotel Käsetorte löffelt, all dies Ehepaar Rehhagel mit Meisterschale (1993): „Nicht lebenslänglich einsperren“ schon ausreichend scheint im Kampf ge- gen das Vergessen. Er habe nicht gewollt, Hansestadt ausgelöst hat. Sie rühren der buten noch binnen. Der Stadtstaat erzählter, „daß, wenn man am Ende alles ihn, diese Faxe und diese Gedichte, immer kurz vorm Bankrott, die Werften Revue passieren läßt, Bremen das letzte die bei Radio Bremen zu Tausenden kaputt, die Arbeitslosigkeit über 13 Pro- Kapitel seines Buches ist“, darum müsse eingegangen sind, aber sie sind ihm un- zent, die kleine Fernsehanstalt von er die Stadt verlassen. Aber daß Bayern heimlich: „Otto bleib in Deinem Re- schwarzen Geiern bedroht und eine Ko- das letzte Kapitel sein wird, stehe für ihn vier / die Lederhose paßt nicht zu alition im Rathaus, deren Platzen vor nicht fest, sagt er sibyllinisch lächelnd. Dir!“ – „Wie konntest Du Dich nur zwei Wochen weniger Aufsehen erregte Und schwärmt von Raymond Goethals, verkaufen / und zu den Bayern über- als Rehhagels Abgang. dem belgischen Trainer, der mit 72 Jah- laufen / in Bremen warst Du Dein ei- „Sie haben unsere Stadt in aller Mun- ren noch den Europapokal geholt habe, gener Herr / in München bist Du das de gebracht“, jubelte der Bürgermeister und von Sepp Herberger, der mit 67noch nicht mehr.“ schon 1983 vom Rathausbalkon, „es gibt die Nationalelf geformt habe. In den 14 Jahren der Herrschaft Ot- keine bessere Werbung für Bremen.“ „Ich bin kein Bremer, ich bin kein tos über Bremen war der Sportverein Und damals wurde nur die Ehre des Vi- Münchner, ich bin Fußballer“ – und der Werder zur Seele einer Stadt gewor- zemeisters gefeiert. Es folgten acht ech- kennt nur eins: die Treue zum Ball und den, die sich an den Siegen der erfolg- te Titel, aus denen Werders Manager den kürzesten Weg zum Tor. reichsten deutschen Mannschaft jener Willi Lemke, von der SPD ins Wesersta- Die Wucht der Enttäuschung hat ihn Jahre so gern berauschte, weil es an- dion delegiert, Millionen für den Verein erschreckt, die sein Abschiedswille in der sonsten wenig Berauschendes gab, we- und Image für die Stadt machte.

230 DER SPIEGEL 8/1995 . B. MÜLLER / BONGARTS Trainer Rehhagel: „Ich bin kein Bremer, ich bin kein Münchner, ich bin Fußballer“

Rivalen, beschied er: „Als Bremer geht man nicht nach München.“ Als die Bayern 1985 erstmals Bremens Trainer haben wollten, antwortete Rehhagel ihnen: „Ich kann nicht mit dem Gegner verhandeln, ich kann die Leute bei Werder nicht enttäuschen.“ „Ich bin nicht euer Eigentum“, erwi- dert Rehhagel nun den enttäuschten Kellnern, Taxifahrern, Hausfrauen, Polizisten und Nachbarn, die ihn in diesen Tagen bestürmen, ihre Stadt nicht zu verlassen. „Ihr könnt mich nicht lebenslänglich einsperren, ich kenn’ hier jeden Meter.“ Der gelernte Anstreicher aus Essen hat es genossen, wenn ihm die Bremer beim Theaterbesuch applaudierten, er ließ sich gern von Prinz Louis Ferdi- nand zum Tee bitten; er schätzt ihn, den Ruhm genannten Rausch, aber er mißtraut ihm und hat darauf bestan- den, daß Fußballsiege keine Triumphe

BONGARTS sind und Niederlagen keine Krisen – Ratlose Bayern-Profis: „Den Charakter angucken“ „Krisen gibt es nur auf der Intensivsta- tion“. Je öfter Otto Rehhagel auf dem losigkeit herrscht, wird es zur Tugend, Fußball ist ihm zu ernst, als daß er Marktplatz Schalen und Pokale in die auf dem Spielfeld zu arbeiten – Rehha- mehr darin sehen möchte als ein Spiel. Höhe reckte, desto mehr wurde er zwi- gel schuf in Bremen so etwas wie den so- Der Norden gegen den Süden, Arm schen Roland und Stadtmusikanten zum zialdemokratischen Fußball. Und sein gegen Reich, Bremen gegen München, Wahrzeichen eines kleinen, tapferen, Manager, „der schnelle Willi“ (Rehha- „das Haßspiel“ – das ist ihm alles nicht siegreichen Stadtstaates – bis schließlich gel), „der linke Agitator“ (Uli Hoeneß), geheuer. Der SV Werder spielt gegen sogar Großunternehmen in Anzeigen verkaufte Bremer Erfolge als Sieg der den FC Bayern, das ist alles. „Wir stel- von Rehhagels Erfolgen zu zehren hoff- armen Proleten aus dem Norden über len keine weltpolitischen Weichen, wir ten. „Wir sind stolz auf Euch, Werder „die Millionarios“ aus dem Süden. sind das Theater des kleinen Mannes.“ Bremen. Erfolg braucht Leistungsklima Im Klassenkampf zwischen Werder Und dieses Theater soll Frieden und und Standortqualität. Bremen hat bei- und Bayern wurde Bremens Rudi Völler Freude vermitteln, so möchte es der des“, warben Eduscho, Klöckner, Kaf- fast zum Sportinvaliden gefoult, mußte Romantiker des Leders, nach densel- fee Hag und Siemens. Münchens Klaus Augenthaler unter ben Regeln der Unterhaltung, nach de- Je erfolgreicher seine Fußballer spiel- Morddrohungen spielen, beschimpften nen schon Ernst Kalwitzki den Massen ten, desto entschiedener bleute ihnen die einen Präsiden die anderen als die Zeit vertrieb. Diese Regeln sind Rehhagel ein, daß der moderne Profi „Drecksäcke“. die Pfeiler von Otto Rehhagels Welt- dem Zuschauer „ehrliche, harte Arbeit“ Als Mittelstürmer Völler die Wahl anschauung, und wenn alle danach le- zu bieten habe. Wenn rundum Arbeits- hatte zwischen dem AS Rom und dem ben würden, wäre die Welt in Ord-

DER SPIEGEL 8/1995 231 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite .

SPORT

nung: „Ich bin überzeugt, daß 95 Prozent aller jungen Menschen, die in die Vereine gehen, anständige Menschen werden.“ Unordnung entsteht, wenn Menschen „Wie klein wir sind“ ihren Platz verlassen, wenn ein Spieler nicht mehr für die Mannschaft spielt, Werder Bremen fühlt sich von Rehhagel schlecht behandelt wenn ein Präsidiumsmitglied die Spieler- einkäufe des Trainers versiebt, wenn der Manager „sich in die sportlichen Belan- tto Rehhagel und Franz Böh- Hause auf dem Sofa saß, habe er die ge“ einmischt – in der wohlgeordneten mert pflegten trotzig das Ritual. Bremer nur noch für zweitklassig ge- und vielbeschworenen „Werder-Fami- OAm vergangenen Donnerstag halten. lie“stimmte zuletztdie von Rehhageldik- trafen sich der Trainer und sein Präsi- Fast im Wochentakt, munkeln die tierte Rollenverteilung nicht mehr (siehe dent, wie sie es jahrelang taten, zu Angestellten auf der Geschäftsstelle, Kasten). Kaffee und Kuchen. Doch Böhmert habe der Trainer den Manager („Der Deshalb traf Bayerns Manager Uli entdeckte einen „faden Beige- kuscht vor mir“)beleidigt. „Es ist“, so Hoeneß am Rande des Berliner Hallen- schmack“ und empfand „Wehmut“. Rehhagel, „doch wirklich ein Unter- turniers einen Otto Rehhagel, der ihn da- Andere bei Werder spüren gar Haß schied, ob Franz Beckenbauer und zu trieb, wieder die Routinefrage zu stel- undWut. SeitRehhagelseinen Wech- ich oder Willi Lemke und ich über len, ob er denn ewig in Bremen bleiben sel von Bremen nach München ver- Fußball reden.“ wolle – und diesmal verblüffenderweise künden ließ, gilt der erfolgreiche Schon vor fünf Jahren geriet die mit „Nein“ antwortete. Je eindringlicher Trainer als Unperson. Er sei, so heißt Bremer Balance mit ihrer strikten Rehhagel in den folgenden Wochen von es in der Geschäftsstelle, „schon seit Trennung der Aufgabengebiete ins Freunden vor München gewarnt wurde, langem ein Außenseiter“ gewesen. Wanken. „Wir haben Rehhagel im- desto stärker wurde der Wunsch, das Der Trainer habe „seine Prinzipien mer mehr Befugnisse übertragen“, Abenteuer zu suchen. „Bremen war eine verlassen“, so Vizepräsident Klaus- sagt Vizepräsident Fischer. Nach und Oase der Ruhe, jetzt stürzt du dich mal Dieter Fischer. Über Jahre hatte der nach, heißtes,habeRehhagel,deram die Niagarafälle hinunter.“ gesamte Verein auf Anweisung des Ende 1,5 Millionen Mark pro Jahr Trainers „Abwehrkämpfe gegen die verdiente, mit seiner Frau den Klub Bild-Zeitung“ (Böhmert) ausgetra- beherrschen wollen. gen, Reporter von der „Grün-Wei- Beate Rehhagel habe bestimmt, ob ßen Nacht“ ferngehalten und Inter- die Mannschaft per Bus oder Flug- views verweigert. Immer wieder, zeug zu Spielen reiste; sie habe be- schimpfen Werders Macher, habe schlossen, wann und wie Feste gefei- Rehhagel auch das Feindbild Bayern ert wurden. Im Verein, heißt es, wur- München gepflegt und den Manager de „geschmunzelt, gelästert und ge- Willi Lemke zu Tiraden und Klagen horcht“. An Sitzungen, von denen gegen den Rivalen aus dem Süden das Präsidium Lemke ausschloß, aufgefordert. nahm Frau Rehhagel teil. Kaum aber war sich Rehhagel mit Der Assistenztrainer fühlte sich Bayern-Präsident und Bild-Kolum- brüskiert, als Beate Rehhagel in Bie- nist Franz Beckenbauer einig, druck- lefeld einen möglichen Neuzugang te das Blatt exklusiv Bremer Interna, beobachtete – und Ehemann Otto machte Lemkes Rücktrittsangebot den Amateurspieler sofort verpflich- öffentlich. Rehhagel, so glaubt man tete. Nachwuchsspieler waren belei- in Bremen, habe bereits einen Ver- digt, als Rehhagel, der seit zwei Jah- trag mit dem Springer-Konzern ge- ren keines der Talente in seinen Ka- schlossen. der geholt hatte, plötzlich eine Aus- Ende des vergangenen Jahres, ver- nahme machte. Sein Sohn, „mein mutet Böhmert, muß Rehhagels Ent- Jens“, durfte, „weil er’s kann“, im- scheidung zu gehen schon festgestan- mer wieder mal bei den Profis den haben. Während Bild seit Wo- mitspielen, obwohl er im wirkli-

chen informiert war, kann das Wer- chen Leben nur Ersatzmann des AKTUELL

der-Präsidium jetzt nur noch schwer Reserveteams ist. Ihr Jens, soll FOTO einen neuen Coach finden, kam etwa Mama Beate geschimpft haben, Werder-Manager Lemke* beim Freiburger Volker Finke zu werde verkannt. Unordnung in der Werder-Familie spät. Die Bremer vermuten,daß Reh- Wenn Fischer den Trainer auf das hagel, aufgestiegen in die große Welt, Problem Nachwuchsarbeit ansprach, Daß zukünftig Wegelagerer von sie hingehalten habe, „um uns zu zei- reagierte Rehhagel schroff. Fischer: gleich fünf Münchner Tageszeitungen gen, wie klein wir sind“. Sein Präsi- „Er dachte, ich wollte ihm Spieler hinter Gerüchten aus seiner Truppe her dent sei leider im Urlaub gewesen, reindrücken.“ sein werden, daß jedes Blatt einen In- meint der Trainer. „Es gibt Telefon“, Vor 14 Jahren versprachen sich die formanten in seinem Präsidium sitzen sagt Böhmert. Bremer Vorstandsherren, sie wür- hat, reizt ihn. Der oft Wortkarge will Mit jedem Titel, sagt ein Profi, sei den, sollten sie sich von diesem Trai- sein Spiel mit den Medien perfektionie- der ehemalige Anstreicher selbstge- ner vorzeitig trennen müssen, ge- ren. Er weiß, um ganz nach oben kom- rechter geworden. Seit er Intendant schlossen zurücktreten. Nun bleiben men zu können, muß er mehr Entertai- Jürgen Flimm und Kanzler Helmut sieimAmt. „Herr Rehhagel“,sagt Fi- ner werden, muß er mehr Beckenbauer Kohl duzt und bei Willy Brandt zu scher, „hat uns entlassen.“ sein und weniger Vogts. Bei der Bild-

* Mit Europapokal in Lissabon 1992.

234 DER SPIEGEL 8/1995 .

gen seines zukünftigen Trai- ners. Wie oft er seine Eltern in Berlin besuche, wollte Rehhagel wissen, und ob er eine feste Freundin habe, die sei für jeden Fußballer eine wichtige seelische Stüt- ze. Seine Eltern würden ihn besuchen, nicht er sie, gab Ziege zurück, und als seeli- sche Stütze habe er nur ei- nen Hund zur Hand. In der Münchner Prin- zeßböhnchengesellschaft könne einer wie Rehhagel nie gedeihen, haben Freun- de prophezeit. Aber seine Frau Beate hat ihn darin be- stärkt, die Bremer Provinz zu verlassen. Sie will et- was mehr Weltstadt, und sie möchte nicht länger nur heimliche Co-Trainerin sein. Sie will in die Politik, sie will für die Schwarzen kandidieren, und auch das geht in Bayern besser als in Bremen.

J. LANDSBERG Aber all das hätte nicht Imageträger Rehhagel* gereicht, wenn nicht einer Wahrzeichen eines kleinen, tapferen Stadtstaates dem letztlich unsicheren und vorsichtigen König von Zeitung, die er jahrelang boykottierte, Bremen die Hand zum Geleit gereicht marschierte er zum Redaktionsfrüh- hätte: der Kaiser. Franz ist in Ottos stück ins Haus; und die Konkurrenz Weltordnung der Höchste, der Größte, schießt sich schon ein auf den „Klein- der Heilige, „Weltmeister als Spieler staat-König aus dem braven Bremen“ und Weltmeister als Trainer“. (A Z ). Aus aller Welt hat Rehhagel Angebo- Daß Otto, im Norden mal „Prima- te gehabt, aus Japan, auch von Lazio donna“, mal „Diktator“, in München Rom, noch im letzten Jahr vom spani- mit den drei ebenso prominenten wie schen Königs-Klub Real Madrid, aber unterbeschäftigten Ballpensionären immer hat er abgewinkt, weil er den Hoeneß, Rummenigge und Beckenbau- Weg ins Ausland als Sackgasse empfun- er um den Einfluß auf die Mannschaft den hat. Von da aus geht es nicht weiter ringen muß, will er, in Erinnerung an hinauf „auf den Mount Everest“. das Dortmunder Fossil Addi Preißler, Der Weg nach ganz oben führt nur auf seine Art lösen: „Maßgebend is’ über München, über den Golfspieler aus auf’n Platz.“ Kitzbühel, der sich als Präsident des Jeden Tag könne er seine neuen Jungs mächtigsten Vereins und Kommentator formen, mehrere Stunden lang, und da- bei RTL und Bild zum Berlusconi des bei „meine Wahrheiten verbreiten“: deutschen Fußballs hochgeputtet hat. Heiraten, kleine Autos fahren, dem Zu- Über seine Tageszeitung ließ er, be- schauer dienen, kontrollierte Offensive. vor Werder Bremen der Entlassung sei- Den Bayern attestiert er „keine sehr er- nes Trainers zustimmen konnte, der Na- folgreiche Personalpolitik“, aber Reh- tion mitteilen, daß Rehhagel nun sein hagel will sich „den Charakter der Spie- Mann sei. Auch das Fernziel des neuen ler genau angucken“. Im Bremer Routi- Duos schimmerte zwischen den Zeilen nier Mirko Votava sieht er die idea- durch. Sollte Rehhagel irgendwann vom le Berufsauffassung verkörpert, „der DFB das Angebot erhalten, Bundestrai- kämpft in jedem Training, als stehe er ner zu werden, heißt es da vage, wird im Pokalfinale“, und solche Kerle will Bayern ihn freigeben. Rehhagel auch bei Bayern großmachen. In den Verhandlungen waren die bei- Der erste Bayernspieler, den er ver- den genauer: Drei Jahre lang soll Otto nehmen konnte, war Jungstar Christian die Bayern auf europäisches Niveau hie- Ziege, und der reagierte in Gottschalks ven, dann wartet zur Belohnung der „Late Night Show“ verstört auf die Fra- Trainerstuhl ganz oben. Beckenbauer, von Bild bereits als neuer DFB-Präsi- dent ins Gespräch gebracht, will dann * Mit Intendant Klaus Pierwoß bei der Verkün- dung der Zusammenarbeit von Bremer Theater mit Rehhagel die Nationalelf wieder auf und Fußballklub. Weltniveau bringen. Y

DER SPIEGEL 8/1995 235 .

SPORT B. WENDE Schwergewichts-Profi Schulz in Frankfurt/Oder: Das Familiensilber des DDR-Sports auf den US-Markt getragen

Boxen Herz und Hirn des Ostens Foreman-Herausforderer Axel Schulz präsentiert sich in Las Vegas nach alten Gesetzen von Anstand und Stolz

er Schnauzbart am Steuer dreht Grand Hotels in Las Vegas betreten und sinkendem Münzspiegel starren auf ro- von Tony Roma’s Spareribs-Stube seine Zimmernummer erfragt. Er hat ei- tierende Scheiben. Axel Schulz bleibt Daus eine Runde durch Downtown nen grünen Reisepaß über den Marmor- ruhig. Las Vegas. Langsam gleitet der Wagen tresen geschoben und vom Computer Der stille, blonde Kämpfer von 26 durch die Schluchten der Wüstenstadt, erfahren, daß für Schulz, Axel, geboren Jahren will aufschließen zu dem Mann, die sich obszön zwischen kahlen Berg- am 9. November 1968 in Bad Saarow, den die Amerikaner McSmelling nen- rücken feiert. Bis zum Strip nichts als eines von rund 10 000 Betten, die Suite nen und anhaltend verehren. Der war funkelnde Fassaden entlang der Piste zu im 17. Stock, reserviert sei. Der Mann, auf dem Gipfel seiner Laufbahn so alt den Slot-machines. der nach fast 65 Jahren erster deutscher wie Schulz jetzt ist und hat wie dieser in Auf dem Beifahrersitz fährt ein blon- Schwergewichtsweltmeister werden will, Bad Saarow gelebt: Max Schmeling, der Riese im Pfeffer-und-Salz-Sakko mit ist geographisch gesehen am Ziel. Bannerträger deutschen Schwerge- durch die Nacht. Er schaut aufmerksam Er checkt mit kleinem Gepäck und wichtsboxens seit den frühen Dreißi- aus dem Fenster auf Caesar’s Pa- großer Hoffnung ein im größten Hotel gern. Voraussetzung für eine geglückte lace, Golden Nugget und müde Men- der Welt, zur letzten Station seiner Wer- Erbfolge ist, daß Schulz am 22. April im schen in Trainingsanzügen, die heim- betour. Spielt nicht den Coolman, MGM Garden von Las Vegas George wärts streben. Der Fahrer spricht von macht keine Faxen. Zwei, drei Leute Foreman schlägt. Foreman ist halb so alt Milliardenumsätzen, von Shows und sind bei ihm, als er zum Aufzug geht, wie Schmeling und hat schon vor Axels Boxkämpfen. George Foreman werde der große Junge aus der Eliteschule der Geburt olympisches Gold in der höch- hier seinen Titel verteidigen. Dem- DDR, mitten im ekelerregendsten Ab- sten Gewichtsklasse errungen. Jetzt ist nächst. Der Beifahrer schweigt. Er schnitt der neuen Welt. Es dröhnt und er 46 und amtierender Champion der kennt den Kampftermin genau. blinkt und sirrt, Vierteldollarmünzen Verbände IBF und WBA. Vor vier Stunden hat er die zwei Fuß- krachen in blecherne Auffangschalen, Vor allem aber ist „Big George“ ballfelder große Lobby des MGM leere Gesichter neben Pappbechern mit Foreman, der schon 1973 den damaligen

236 DER SPIEGEL 8/1995 .

Weltmeister Joe Frazier titelträchtig in gen den Sandsack drischt oder seine den Staub geschickt hat, ein Mann der breiten Schultern durch Johnny Tocco’s Medien. Er kennt die Spielregeln. Er Ringside Gym in Las Vegas schiebt, weiß, daß das Geld für seine Baptisten- dem kommen Zweifel, ob am 22. April gemeinde von Unterhaltungs-, Auto- alles so glattgehen wird, wie es sich die und Nahrungsmittel-Multis kommen amerikanischen Einschaltquoten-Regler muß, und er spielt seine Rolle als sym- wünschen. Titelverteidiger Foreman ge- pathisches Riesenbaby mit Hingabe. gen den freigelassenen Mike Tyson auf „Hey, son, drink your milk“, ruft er Pay-per-view, da verbietet sich markt- Schulz im Fernsehen zu. Und alle la- wirtschaftlich jeder Widerstand. Aber chen. „Es ist ein grausames Schicksal, so was kümmert das Schulz? berühmt zu sein“, sagt er beim Presse- Der trainiert nach mehrtägiger Pro- termin in Los Angeles. Und alle lieben motion zu träger Chicano-Musik im ihn. Wenn Schulz glaube, er müsse nur Flachbau von Johnny Tocco, 85, dem zwölf Runden Tempo machen, um zu Herrscher über die „Heimstatt der siegen, dann werde es ihm ergehen wie Weltmeister“ Ali, Foreman und Tyson. Michael Moorer im letzten Titelfight, Und keult dabei so hungrig nach den ge- sagt Foreman in New York an Schulz’ liehenen Schutzhandschuhen seines Adresse – k. o. in der zehnten Runde: Trainers, daß selbst bei Bewunderern „Watch the video.“ des Cheeseburger-Töters Foreman ein Da kann und will Schulz, der nach in- fader Geschmack zurückbleibt. Was nen Gekehrte aus Frankfurt/Oder, nicht kann Schulz wirklich, der Mann, dem mithalten. Natürlich wurmt es ihn, wenn sie nachsagen, er sähe aus wie Dolph er im Anflug auf Las Vegas Agentur- Lundgren in Rocky IV? meldungen liest, die seinen PR-Auftritt Seit Axel Schulz, der Mann ohne in New York „hölzern“ nennen und sei- Ranglistenplatz, Titelanwärter ist, zer- ne „Sprüchlein“ brav. Klar findet er fällt sein Profil in zwei Hälften. Die we- Einschätzungen ungerecht, in denen es niger schmeichelhafte zeigt den Boxer heißt, er sei „des Englischen nicht mäch- als Schmiermittel auf dem Rechenschie- tig“. Haben sich etwa westliche Ringer, ber der Marktstrategen. „Axel Schulz Gewichtheber oder Stabhochspringer kommt aus Deutschland, einer der füh- früher vorwerfen lassen, ihr Russisch renden Industrienationen der Welt“, oder Ukrainisch sei ungenügend? sagt Bob Arum, der den Kampf ver- Wer den Boxer Schulz sieht, wie er marktet, und keiner findet das peinlich. hinterm Frankfurter Güterbahnhof ge- „Axel“, sagt Arum weiter, „führt die große Tradition deutscher Schwergewichtler wie Max Schmeling und Karl Mil- denberger fort.“ Das ist auch lieb gemeint, aber ge- logen. Da gibt es keine Verbindung. Und wenn Wilfried Sau- erland, der Ehrlichste un- ter den Machern im deut- schen Profiboxen, in Los Angeles sagt, Axel stamme „aus einer kleinen Stadt in der ärmsten Gegend Deutschlands, und ich ver- sichere Ihnen, er ist hung- rig“, dann ist auch das Bal- lyhoo der krampfigen Sor- te. Durch den Zusatz, Schulz komme „durch ei- nen Zufall“ aus derselben Stadt wie Max Schmeling, wird es nicht besser. „Good aryan shape“, sagt ein Schönling in New York zu Bob Arum, und das ist zumindest ehrlich – „guter arischer Zuschnitt“. Die entscheidende Hälf- te von Schulzens Profil ist die sportliche. Die kennt der Manager Sauerland,

A. HASSENSTEIN / BONGARTS die kennt der Trainer Man- Schulz-Training in Las Vegas fred Wolke, die kennt vor „Bißchen behämmert sind die ooch alle“ allem Schulz selbst. Die

DER SPIEGEL 8/1995 237 SPORT

wird sorgsam gehütet vor modischem Entäußerungsbetrieb. Wolke, der Hen- ry Maske zum Weltmeister gemacht hat, wirft keinen in den Titelkampf, von dem er nicht überzeugt wäre. Der Weltergewichts-Olympiasieger von 1968 hat erst in der DDR und da- nach als Profi-Coach erreicht, was er- reichbar war. Auf der Grundfläche zweier Wohnzimmer betreut er in Frankfurt neben Schulz und Maske den Olympiasieger Torsten May und zwei Jungtalente. Wolke dosiert Eisen und Sparring, Waldlauf und Gerät, je nach Kampfplanung des einzelnen. Selbst der Jüngste darf den Weltmeister kritisie- ren. Wolke will intelligente Boxer, Per- sönlichkeiten. „Is’ ja nich’ so, daß der Trainer sagt, mach det, mach det“, sagt Schulz: „Wir diskutieren.“ Weil Schulz anders als Maske von eher sonnigem Wesen ist und dazu neigt, Gefahren zu verdrängen, braucht er ein höheres Maß an psychologischer Zuwendung. „Da fliegt ja was durch die Luft bei Foreman“, warnt Wolke, „der schmeißt ja nich’ mit Watte.“ Und Axel nickt. Fast wirkt es manchmal, als habe der kleine, zähe Mann den großen, blonden Jungen an Sohnes Statt angenommen. Wie er ihm beim Frühstück in New York, als das Omelett längst abgeräumt ist, über die Narbe an der Schlaghand streicht, wie er behutsam auf ihn einre- det und dann wieder stolz erzählt, er ha- be „bis zu 80 Tonnen täglich druffge- packt“ und beim Waldlauf habe Axel „gekotzt, aber durchgezogen“ – da schwingt mehr mit als das, was gewöhn- lich Trainer an erfolgversprechende Zöglinge bindet. Manchmal, so Schulz, wenn es richtig Keile setze und Wolke immer noch be- haupte, „du bist jut“, sage er sich: „Dann muß mich wohl der Ringrichter geschlagen haben.“ Schulz sagt „Trainer“ und „Sie“, Wol- ke duzt den Lieblingsschüler. „Er kann ja auch schlecht sagen: Haun’ Se bitte mal rin“, sagt Schulz und grinst über das ganze, jungenhafte Gesicht, in dem nur die unter dicken Augenwülsten begra- benen Lider auf harten Broterwerb deu- ten. Der Umgangston ist vertraut, ge- meinsame Geschichte verbindet. Wenn Wolke beim Steak erzählt, er kenne kei- nen Betroffenen, der über die Kinder- und Jugendsportschulen der DDR schlecht rede, weiß Schulz, der auf der KJS groß wurde, wovon die Rede ist. Herz und Hirn des Ostens – Freund- schaften, Träume, Verletzungen – span- nen sich wie ein Kokon über das Unter- nehmen „Meister aller Klassen“. Westelbische, die gern auf den fah- renden Zug aufspringen würden, haben es schwer. Viele halten fälschlicherweise die Tatsache, daß die einstigen Staats- amateure mit ihrem Können Geld ver-

238 DER SPIEGEL 8/1995 dienen wollen, für eine bedingungslose Kapitulation vor den Gesetzen von An- stand und Stolz. Natürlich plagt sich ei- ner wie Schulz, ganz zu schweigen von Wolke, nicht umsonst. Schließlich wird das Familiensilber der DDR auf den US-Markt getragen: Spitzensport auf wissenschaftlicher Grundlage. Genauso penibel beachtet das Duo aus Frankfurt/Oder auch die Show-Ge- setze von Las Vegas. Gemeinsam schreiten Wolke und Schulz jenen Weg von der Kabine zum Ring ab, den sie am 22. April zu gehen haben, zählen die „Foreman schmeißt ja nich’ mit Watte, da fliegt was durch die Luft“

Schritte – es gilt noch die richtige Ein- marschhymne zu finden. Aber noch ist der Kniefall vor dem guten Geschmack nicht durch den Kauf einer Ringkarte zu haben. Beim siegrei- chen WM-Kampf von Henry Maske am vorvergangenen Samstag, als Axel Schulz schon heftig gefeiert wurde, be- vor alle mit RTL-Taschenlampen eine Spur von Reichsparteitag in die dunkle Frankfurter Festhalle trugen, lief der Ansturm des Milieus auf den Foreman- Herausforderer ins Leere. Zwar schwatzte Schulz kurz mit den schwäbischen Sonnenstudio-Luden, die ihm feine Armbanduhren übers Hand- gelenk stülpen wollten. Letztendlich aber schaute er mit großen, fremden Augen auf diese Welt aus schulterlan- gen Haaren und künstlich braunen Ge- sichtern, Lackminis und Löwenmähnen, die sich um ihn, den Mann im schlichten Zweireiher, scharte. Der Mann, der auf dem Lufthansa- Flug 408 Düsseldorf–New York vom Business-Class-Sitz 20D aus noch „Fer- rero Küßchen“ verteilte, wirkt auch in der Retortenkulisse am Südrand Neva- das wieder angespannt. „Bißchen be- hämmert sind die ooch alle“, sagt Schulz nach einem langen Blick auf die Men- schen, die wie festgeleimt am Hebel der Slot-machines stehen. Spätestens zwei Wochen vor Kampf- beginn muß er laut Vertragsklausel hier wohnen. Was bleibt, ist die Angst, daß er unter all den pappbecherbewehrten Rentnern verrückt werden könnte. „Sieben-zu-eins-Underdog“ im Sprach- gebrauch des Gastlandes ist er ohnehin. Nur sein Credo wurzelt tief und äh- nelt dem von McSmelling 65 Jahre zu- vor, abzüglich einer Dosis Vaterland. Wenn der Titel dort hingehe, wo er hin- gehöre, verkündet der Mann aus Bad Saarow der gegnerischen Fangemeinde, sei das nur ein Transfer im Rahmen der geltenden Regeln: „Ich werde zurück- kommen und ihn hier verteidigen.“ Y

DER SPIEGEL 8/1995 239 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite . PERSONALIEN

neter, läßt sich komfortables Streifen am Ärmel – zum Reisen einiges kosten. Zur Fregattenkapitän der Reser- Plenarsitzung des EU-Parla- ve – drei breite und ein ments in Straßburg kam der schmaler Streifen. Bei der Volksvertreter der rechtsge- kleinen Zeremonie bekannte richteten Liste „L’Autre Eu- der Minister, er habe „immer rope“ per angemieteter Boe- noch Schwierigkeiten, die ing 757 aus Paris angeflogen. Dienstgrade bei der Marine Weiterer Fluggast in dem mit an den Ärmelstreifen zu un- luxuriösen Salons ausgestat- terscheiden“. Journalist Ell- teten Flieger, der in der Tou- gaard, der in über 30 Jahren ristenausführung bis zu 269 rund 200 Tage als wehrüben- Passagiere befördern kann, der Reservist beim „Bund“ war Goldsmith’ Fraktions- zugebracht hat, belehrte sei- kollegin Marie-France de nen gelegentlichen Dienst- Rose. Bekannt wurde der herrn: „Man muß halt bis Flug, weil die Düsenmaschi- drei zählen können.“ ne kurz vor der Landung am vergangenen Dienstag ein udolf Scharping, 47, 200 Kilogramm schweres RSPD-Chef und Fraktions- Rad verlor, das ein Fabrik- vorsitzender im Bundestag, dach durchschlug und hohen Sachschaden anrichtete. Goldsmith sei ein vielbeschäftig-

S. SPIEGL ter Mann, ließ sein As- Mohr mit Fischer-Köpfen sistent wissen, und le- ge „ab und an“ die urkhard Mohr, 36, Karikaturist und Bildhauer in Bonn, hat rund 400 Kilometer Bdieser Tage seine schmiedeeiserne Serie „Bonner Köpfe“ zwischen Paris und (SPIEGEL 48/1994) vorläufig abgeschlossen. Nach Kohl, Straßburg mit einem Genscher, Weizsäcker, Herzog und Scharping ist künftig auch Flugzeug zurück. Ei- der Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Grüne, Joschka Fi- nen Teil seiner Char- scher, als eiserne Büste mit karikaturhaften Zügen im Bonner terkosten erhält der Haus der Geschichte zu besichtigen. Mohr ging die Arbeit mit Parlamentarier erstat- dem Schmiedehammer nach eigenem Bekunden erst richtig tet. Neben seinem Scharping-Zeichnung auf Speisenkarte von der Hand, als er sich den rundlichen Fischer mal als „altrö- Sitzungsgeld von 206 mischen Senator“, mal als „Nero mit Toga, Harfe und Lor- Ecu (etwa 400 Mark) kas- hat seine eigenen Ansichten beerkranz“ vorstellte. siert der Milliardär pro Kilo- zu sozialdemokratischen Par- meter 0,76 Ecu (rund 1,50 teitagsbeschlüssen. Dies ver- Mark). deutlichte der Sozi vor Zuhö- erbert Schnoor, 67, nord- werden den blauäugigen Op- rern in einem Wiesbadener Hrhein-westfälischer Innen- fern Tausende von Dollar olker Rühe, 52, Bundes- Hotel mit einer handgefertig- minister, war für einen Mil- aus der Tasche gezogen. Vverteidigungsminister, er- ten Grafik. „Das ist die offi- lionen-Deal nicht zu erwär- Schnoor: „Wegen geringer hielt Nachhilfe in der Dienst- zielle Linie der SPD“, sagte men. Ausgerechnet dem Gewinnerwartung habe ich rangordnung der Bundesma- Scharping und malte eine Dienstherrn der NRW-Poli- trotz gespannter Kassenlage rine. Der ungediente CDU- nach links und rechts aus- zei bot, mit Poststempel aus des Landes von dem Ge- Politiker aus Hamburg beför- schlagende Schlangenlinie Lagos, ein angeblicher Ma- schäft Abstand genommen.“ derte den designierten Leiter auf die Rückseite einer Spei- nager der nationalen nigeria- des ZDF-Studios in Bonn, senkarte. „Und das ist die Li- nischen Ölgesellschaft NNPC immy Goldsmith, 61, fran- Peter Ellgaard, vergangene nie der Abweichler“, ergänz- an, zwölf Millionen Dollar Jko-britischer Geschäfts- Woche vom Korvettenkapi- te der SPD-Chef mit einem aus „absichtlich überfakto- mann und Europa-Abgeord- tän – drei breite goldene entschlossenen geraden Pfeil. rierten“ Rechnungen auf sein „Firmenkonto“ zu überwei- sen. In dem Brief an Schnoors Dienstadresse ver- sprach „Mr. A. K. Denis“ 25 Prozent der Summe als Dank für die Hilfe bei der Geldwä- sche. Nach dem gleichen Mu- ster zockt die berüchtigte Ni- geria-Connection seit gerau- mer Zeit deutsche Geschäfts- leute ab: Unter dem Vor- wand, zur Freigabe der Mil- lionen-Überweisung seien KESSLER / SIPA PRESS

vorher noch Schmiergelder FOTOS: und Provisionen zu zahlen, Abgefallenes Boeing-Rad, havariertes Goldsmith-Charterflugzeug

242 DER SPIEGEL 8/1995 .

chim Rohde, 58, FDP- AFraktionschef im Düssel- dorfer Landtag, erlaubte ver- Himmlischer gangene Woche auf einem Fraktionsfest einen Blick ins Flieger liberale Innenleben. Die Be- gründung des Bremer Innen- senators Friedrich van Nis- pen, er trete aus der Partei aus, weil führende FDP-Mit- glieder Absprachen hinter seinem Rücken getroffen hätten, konnte der nord- rhein-westfälische FDP-Spit-

LTD. zenkandidat nicht nachvoll- ziehen. Rohde: „Wenn das ein Grund ist, dann wäre nie-

NEWSPAPERS mand mehr in der FDP.“ Landesvorsitzender Joachim Schultz-Tornau meldete sich denn auch gar nicht erst zu

M. POWELL / TIMES, Wort, stand plötzlich auf und Gormley, Engel-Modell sang vor perplexem Publi- kum drei Strophen aus Lort- ntony Gormley, 44, britischer zings Gassenhauer „Auch ich AKünstler, verstört seine Lands- war ein Jüngling mit locki- leute mit einem Engel. Daß trotz so- gem Haar“. zialer Not und leerer Gemeindekas- sen 300 000 Pfund (rund 700 000 emi Moore, 32, und Mi- Mark) für ein Kunstwerk ausgege- Dchael Douglas, 50, ameri- ben werden sollen, hat, so die kon- kanische Schauspieler, pro- servative Londoner Tageszeitung vozierten im französischen The Times, die Bewohner von Nachbarland einen Skandal. Gateshead, Tyne and Wear in Nord- Die Plakate zu dem eben in england aufgebracht. Frankreich angelaufenen Doch noch mehr als der Kosten- Film „Disclosure“ (deutsch: voranschlag erregt die Bürger die „Enthüllung“, französisch: schiere Größe des von den Behör- „Harce`lement“), so verfüg- den bereits genehmigten künstleri- ten die Gemeindeväter von schen Vorhabens. Die fromme, aus Aix-en-Provence und Ver- Stahl gegossene Figur des promi- sailles, müßten wieder abge- nenten Künstlers soll sich rund 19 hängt werden. Grund: Demi Meter hoch in den Himmel über Moore ist auf dem Poster mit England recken. Noch beeindruk- Michael Douglas in aufrei- kender ist die Spannweite des zendem Clinch zu besichti- himmlischen Fliegers: 51 Meter. gen. Das Werbeplakat wurde Manche Briten fühlten sich an mehreren Orten alsbald an Monumentalstatuen totalitärer mit Reklame für Camembert Staaten erinnert; eine Lokalzeitung überklebt. verglich den irdischen Abkömmling der englischen Heerscharen mit dem angeblichen Plan des Hitler- Architekten Albert Speer, der eine riesige Ikarusstatue zu Ehren des Weltkrieg-II-Luftwaffengeschwa- ders „Manfred von Richthofen“ ha- be errichten wollen. Gormley bemüht derweil die Bio- logie, um seine Opponenten in die richtige Ecke zu stellen. Es gebe „einen genetisch bedingten Wider- stand der englischen Rasse gegen alles, was Kunst genannt wird“. Mit Speer fühlt sich der Künstler ver- bunden: „Wir sind beide an der Wie- dererfindung der Engel interes- siert.“ G. GOBET / AFP Abgelehntes „Harce`lement“-Plakat

DER SPIEGEL 8/1995 243 .. REGISTER

Gestorben Linksintellektuellen seines Landes noch die Fehler der korrupten sozialistischen Alberto Burri, 79. Eine „Metapher von Republik gern übersahen. Unter der ri- der Verwundung der Welt“ wollte Wer- giden Zensur der Einparteienherrschaft ner Haftmann, Apostel der abstrakten des FLN arbeitete er in seinen Romanen Nachkriegsmalerei, in den Bildern er- hauptsächlich mit Fa- blicken, die der italienische Künstler aus beln, Mythen und billigen und verschlissenen Werkstoffen Parabeln, mit An- zusammenflickte: Löchrige Sacklein- deutungen, Ironie wand, hier und da mit groben Stichen und Sarkasmus, um vernäht, spannte sich netzartig über die die politischen Ver- Fläche, Teerklumpen und Brandspuren hältnisse zu entlar- setzten düstere Akzente, und wenn ven. In dieser Kritik „rote Farbe wie Blut aus dem Bildleib“ stimmte er zwar mit sickerte, steigerte das nur die „tragische der Fundamentali-

Evokationskraft verrottender Abfälle“ stenpartei FIS über- D. AUBERT / SYGMA (Haftmann). Burri hielt Distanz zu der- ein, aber den Islam- lei Deuterpoesie und schützte nur for- gläubigen trennten von den Orthodoxen dennoch Welten. Daß er seine Romane („Der umgeleitete Fluß“, „Der Fluch“) auf französisch veröffentlichte, machte ihn auch arabischen Intellektuellen su- spekt; sie empfanden die Benutzung der Kolonialsprache als Verrat an ihrer Kul- tur. Rachid Mimouni, der vor zwei Jah- ren von islamischen Fundamentalisten zum Tode verurteilt worden war, starb am 12. Februar an den Folgen einer He- patitis in Paris.

U Nu, 87. Der alte Fuchs der burmesi- NERI schen Politik war einer der Anführer der burmesischen Unabhängigkeitsbewe-

D. JARAC / G. gung gegen die britischen Kolonialher- ren. Der gläubige Buddhist, Schriftstel- males Kunstinteresse vor. Aber das Pa- ler und Staatswissenschaftler wurde thos der Materialmalerei, die in den 1948 erster Premierminister Burmas, fünfziger Jahren Skandale auslöste, ist nachdem der Nationalheld des Landes, unbestreitbar. Sie machte ihn damals zu Aung San, Vater der heute unter Haus- einer wichtigen Figur der europäischen arrest stehenden Friedensnobelpreisträ- Avantgarde. Der Weinhändler-Sohn gerin Aung San Suu Kyi, ermordet aus dem umbrischen Citta` di Castello worden war. Mit zwei kurzen Unter- hatte, nachdem er 1943 während des brechungen regierte der Apologet Krieges in Nordafrika gefangengenom- der Blockfreienbe- men wurde, in einem amerikanischen wegung, der auch auf Lager zu malen begonnen; bald nach der Bandung-Konfe- der Heimkehr 1945 gab er seinen ur- renz 1955 eine sprünglichen Beruf als Arzt auf. Im Schlüsselrolle über- Lauf der Jahrzehnte variierte er seine nahm, das unabhän- Technik unter anderem mit geknüllter gige Burma 14 Jahre oder gefältelter Plastikfolie und mit ris- lang. Ein General- sig eintrocknenden Farbflächen. Als putsch beendete die größtes Werk hinterläßt er ein begehba- Herrschaft U Nus. res Stück Land-Art aus Betonplatten: Nach jahrelanger STILLS / STUDIO X ein Erinnerungsmal für die durch Erd- Haft ging der gelehr- beben zerstörte sizilianische Stadt Gi- te Herr nach Thailand und führte von bellina. Alberto Burri starb am Montag dort einen nicht sehr wirkungsvollen vergangener Woche in Nizza an einem Guerrillakrieg gegen die Militärdiktatur. Lungenleiden. Aufenthalte in den USA und in Indien folgten, bis ihm eine Amnestie 1980 wie- Rachid Mimouni, 49. Als unbequemer der die Rückkehr nach Burma erlaubte, Beobachter seines Heimatlandes Alge- wo er Vorträge über Buddhismus hielt. rien hatte der Wirtschaftsprofessor und Erst während des Studentenaufstandes, Literat Mimouni es schon frühzeitig ge- 1988, tat sich U Nu in der demokratischen schafft, sich Feinde zu machen. Der in Bewegung gegen die Generaldiktatur einer bäuerlichen Analphabetenfamilie wieder als politischer Kopf hervor und Aufgewachsene provozierte bereits En- wurde prompt unter Hausarrest gestellt. de der siebziger Jahre mit klarsichtigen U Nu, seit 1992 auf freiem Fuß, starb am Gesellschaftsanalysen, als die meisten vergangenen Dienstag in Rangun.

244 DER SPIEGEL 8/1995 Werbeseite

Werbeseite .

20. bis 26. Februar 1995 FERNSEHEN

MONTAG Los Angeles, wo man, die 16.00 – 17.00 Uhr RTL Stars vor Augen, von der steilen Karriere, der großen Hans Meiser Lebenschance träumt. Die Thema: „Kleine Männer“. große Liebe gibt es nicht in Zwergenaufstand im zweiten dieser Sperrmüll-Boheme, Glied. man hängt mehr oder weni- ger isoliert seinen eigenen Träumen nach. Viel persönli- 20.15 – 21.45 Uhr MDR che Erfahrung eingebracht Die göttliche Jette hat Regisseur Robert Dorn- Eine Coupletsängerin in ei- helm in diesen Film (1985), nem Vorstadt-Tingeltangel sein viertes Kinostück, das

um 1900 erobert die Herzen LA SEPT-ARTE vor allem dank des „Ama- der Berliner und gelangt auf Szenenfoto „Im Reich der Sinne“ deus“-Stars Tom Hulce einen Irrwegen zu Starruhm. Gre- rauhen Jungfilm-Charme the Weiser ist in diesem intel- ihn auf der Berlinale 1976 als Romans (Frankreich 1991, verströmt. ligenten Schwank (Deutsch- pornographisch. Die Rezen- Regie: Claude Chabrol) die land 1937, Regie: Erich senten kamen zu ganz ande- traurige Heldin Emma spielt. 20.15 – 23.00 Uhr RTL Waschneck) in ihrer besten ren, begeisterten Urteilen. Die Augen sind fast immer in Rolle zu sehen. Die Stuttgarter Zeitung: „Der irgendeine imaginäre Ferne Kölle Alaaf Film ist in der Tat weder ein gerichtet; unter dem Blick, Kein (Geister-)Funke, aber stimulierender Porno noch 20.40 – 22.10 Uhr Arte der die ganze Geschichte zu Marie: Kaum etwas bringt so ein schmuddeliges Nackt- erzählen scheint, erstarren verläßlich hohe Zuschauer- Der Garten der Lüste kunstwerk – die Liebenden Wiesen, Felder, die Klein- quoten (und damit Werbe- Einblicke in Spaniens Gesell- sind ästhetisch so wohlpro- stadt in Nordfrankreich mit einnahmen) wie der Karne- schaft während der Franco- portioniert, als hätte der ihren netten Häusern und ih- val im Fernsehen. Nicht Ära: Regisseur Carlos Saura Grieche Phidias an ihnen rem Marktplatz zu einer nur RTL, auch andere Sen- erzählt die Geschichte eines herumgemeißelt. Er zeigt uns Kunstlandschaft, einer Büh- der steigen diesmal kräftig reichen Fabrikbesitzers, der die Japaner vor allem durch ne, viel zu eng, viel zu über- beim Narrentreiben ein. an Amnesie leidet. Die Fami- das, was er nicht zeigt.“ laden. Chabrol aber bleibt „Botterblömche“ (Hans lie versucht sein Gedächtnis wieder aufzufrischen, indem 22.15 – 23.55 Uhr ZDF sie Szenen aus dem Leben des Industriellen nachspielt. Auf den Schwingen Jose´ Luis Lo´pez Va´zquez des Todes und Luchy Soto sind die In dem englisch-amerikani- Hauptdarsteller in diesem schen Thriller (1987, Regie: 1970 entstandenen Werk. Mike Hodges) spielt Mickey Rourke einen von der IRA 21.00 – 21.45 Uhr ARD abgefallenen Killer, der sein Waterloo erlebt, als eine Report Bombe versehentlich statt ei- Themen: Dreckschleuder nes Armeelastwagens einen Tiefgarage / Tierschmuggel Schulbus in die Luft jagt. Um blüht wie nie zuvor / Private die Lebensgewohnheiten der

Sicherheitsdienste / Geheime IRA zu studieren, trieb sich M. PELLETIER / SYGMA Planungen für Auslandsein- Rourke monatelang unter „Madame Bovary“-Darstellerin Huppert sätze der Bundeswehr. ehemaligen Mitgliedern der Organisation umher; den iri- seinem Flaubert in einem Bols), „Rumpelstilzje“ (Fritz Schops) und „dä Mann met 22.10 – 24.00 Uhr Arte schen Akzent lernte er bei ei- Punkt treu: Emma stirbt nem Sprachlehrer. nicht an gebrochenem Her- dem Höötche“ (Peter Rad- Im Reich der Sinne zen, sondern an ihren Schul- datz) heißen die Büttenboys Zum ersten Mal im Fernse- 23.00 – 23.30 Uhr RTL den. dieser Sendung. hen: die Liebesraserei zwi- 10 vor 11 schen dem Bordellbesitzer 20.15 – 22.10 Uhr Pro Sieben Kichizo (Eiko Matsuda) und Rendezvous mit dem Tod. DIENSTAG Alles außer Mord: der Geisha Sada (Tatsuya Gespräch mit dem Dramati- 20.10 – 21.45 Uhr Vox Fuji), die ihren Liebhaber am ker Heiner Müller nach sei- Das Kuckucksei Ende erwürgt und kastriert. ner schweren Operation. Echo Park Seit zwei Wochen probiert es Auf Nagisa Oshimas Film Der eine pumpt Eisen wie Pro Sieben mit seinem Krimi (Frankreich/Japan 1976), der 23.20 – 1.00 Uhr Hessen III Schwarzenegger, der andere nun am Dienstag. Die neuen seine Vorbilder in der mittel- fährt Pizza aus und dichtet im Folgen der zweiten Staffel alterlichen höfischen Liebes- Madame Bovary stillen, und die junge Frau meiden im Gegensatz zur er- kunst Japans und den Holz- Am meisten beeindruckten mit dem kleinen Sohn arbei- sten den Harakiri-Sendeplatz schnitten Utamaros hat, rea- die hellen, wasserklaren Au- tet als strippendes Glück- Sonntagabend: Das „Tat- gierte nach der Deutschland- gen der Isabelle Huppert, die wunschtelegramm. Zu viert ort“-Publikum läßt sich kein Premiere die Staatsanwalt- in dieser kongenialen filmi- bewohnen sie ein schäbiges Krimi-Kuckucksei ins Nest schaft und beschlagnahmte schen Adaption des Flaubert- Haus im Flippie-Viertel von legen.

246 DER SPIEGEL 8/1995 .

20.15 – 21.00 Uhr ZDF taxifolia. Wissenschaftler ha- 1.10 – 2.30 Uhr ARD ben herausgefunden, daß die KIOSK Der Deutsche Die Wendeltreppe Schallplattenpreis Alge eine tödliche Gefahr für die im Mittelmeer beheima- Ein Frauenmörder sucht sich Besondere Platt, platter, deutsche Plat- teten Lebensformen ist. Zu- in einer Jahrhundertwende- ten. Heck, Reiber, Reinhold erst war Caulerpa taxifolia villa vornehmlich behinderte Bedeutung Beckmann, der Moderator vor Monaco aufgetaucht. Opfer. In Robert Siodmaks dieser Galle-Veranstaltung Mit Verzögerungstaktik Binnen kurzem eroberte die Grusel-Klassiker (USA 1945) aus München. begegnen das Deutsche Sport-Fernsehen (DSF) und die zuständige bayeri- 22.15 – 22.45 Uhr ZDF sche Landesmedienzen- Hungerstreik in trale dem Berliner Me- der Kathedrale dienwächter Hans Hege, 48. Er will einen Sende- Der mexikanische Bischof stopp einklagen, Begrün- Samuel Ruiz Garcı´a ist für dung: Medienmulti Leo die konservative Kirche und Kirch steuere insgeheim die Polit-Prominenz im Lan- den Sportkanal und ver- de ein Ärgernis. Beide Grup- stoße gegen die Gesetze pen nehmen Anstoß am op- zur Konzentrationskontrol- positionellen Geist des Hir- le. Offiziell gehören Kirch ten von San Cristo´bal, der in nur 24,5 Prozent des DSF. seiner Kathedrale auch schon In erster Instanz hat Hege mal in den Hungerstreik tritt, gewonnen, jetzt muß der um auf das Elend der India- ner (Ruiz ist indianischer Ab- Bayerische Verwaltungs- U. RÖHNERT gerichtshof (VGH) urtei- stammung) im Süden Mexi- „Wendeltreppe“-Szene mit Dorothy McGuire (r.) len. Dort beantragte das kos aufmerksam zu machen. DSF eine Fristverlänge- Mit seinem letzten Protest an Alge dann die französische spricht der teuflische Held ei- rung. Und die Landeszen- Weihnachten ’94 hatte der Mittelmeerküste, und inzwi- ne gefährlich nach Euthana- trale argumentiert, erst Bischof Erfolg: Die Regie- schen hat sie ihren Angriff sie stinkende Botschaft: „Ich mal müsse ein Verfahren rung versprach den Indios auch gegen Elba, die liguri- habe die Aufgabe, die Welt beim Bundesverfassungs- 2600 Hektar Land. In seinem sche Küste, Sizilien und die von allem, was schwach ist, gericht abgewartet wer- Ruiz-Porträt zeigt Stephan Balearen fortgesetzt. Der zu befreien.“ den, das sich ebenfalls Hallmann, ZDF-Korrespon- drohende ökologische Super- mit Kirch befaßt. Der VGH dent in Caracas, die enge GAU veranlaßte die franzö- jedoch, unbeirrt, will we- Verbundenheit des 69jähri- sische und die spanische Re- DONNERSTAG gen Priesters mit dem Volk. gierung zum Handeln: Sie gen der „besonderen Be- 20.40 – 23.40 Uhr Arte deutung“ bald entschei- verhängten eine Kontakt- den. Jetzt möchte die Lan- 0.55 – 2.20 Uhr ARD sperre, die jeglichen Umgang Themenabend: Die deszentrale, mit Zustim- mit Caulerpa taxifolia verbie- Carlos-Ära mung der meisten an- Sieben Frauen tet; selbst der Transport von Im August des letzten Jahres deren Medienanstalten, Wo die Vorsteherin Agatha Algenstücken muß seither ging mit der Verhaftung des dem DSF wegen eines Ge- (Margaret Leighton) und die genehmigt werden. Das Al- Top-Terroristen Ilich Ra- sellschafterwechsels ei- forsche Ärztin (Anne Ban- genwachstum geht aber un- mı´rez Sa´nchez, bekannt als nen geänderten Lizenzbe- croft) die Missionarsstellung vermindert weiter. Hatte Carlos, ein Abschnitt des in- scheid ausstellen und so halten, an der chinesisch- Caulerpa taxifolia vor drei ternationalen Terrorismus zu das Gerichtsverfahren un- mongolischen Grenze, lauert Jahren erst 400 Hektar Mee- Ende. Dem Venezolaner wer- terlaufen. Diesen „Kuh- die Gefahr. Eines Tages er- resboden überwuchert, so den der Terrorüberfall auf die eignet sich ein blutiger Über- sind es jetzt schon 1500 Hekt- Wiener Opec-Konferenz 1975 fall, und die beiden Frauen, ar. und der Bombenanschlag auf die sich zuvor einen zermür- das französische Kulturzen- benden Kleinkrieg geliefert 21.15 – 23.30 Uhr ARD trum in Berlin 1983 angela- hatten, wachsen über sich stet. Die Daniel-Leconte-Do- hinaus. John Fords Abenteu- Fußball-Länderspiel kumentation „Myname isAn- erfilm (USA 1965) überzeugt Spanien – Deutschland. Aus gie“ zeigt einen ehemaligen durch zwingende Bilder. dem Chapin-Stadion in Jerez. deutschen RAF-Mann, der Carlos begleitet hat. Der zwei- 22.15 – 23.00 Uhr ZDF te Beitrag (Beginn: 22.35

A. PACZENSKY / ZENIT MITTWOCH Uhr) porträtiert den islami- Kennzeichen D Hege 19.30 – 20.15 Uhr Arte schen Terrorismus. Themen: Die Wehrmacht im Der grüne Tod handel“ mache er nicht Krieg – neue Dokumente 23.00 – 24.00 Uhr ARD mit, kritisierte Hege. Vori- im Mittelmeer über NS-Verbrechen / Vom ge Woche trat er als Chef Mit großer Geschwindigkeit Jäger 90 zum Jäger light – die Wlassow – Zweier Teufel der Direktorenkonferenz breitet sich eine Alge im Mit- große Geldverschwendung General der Landesmedienanstal- telmeer aus, die in Europa West / Streit um Führers Fah- Der Winter und der sowjeti- ten zurück. bislang nur aus dem Aquari- rer-Bunker – Geschichte sche Generalmajor Andrej um bekannt war: Caulerpa oder Banalität? Andrejewitsch Wlassow brin-

DER SPIEGEL 8/1995 247 . FERNSEHEN

gen Hitlers Wehrmacht die ließ das Erste in einer Film- (Kris Kristofferson). Sam erste Niederlage im Zweiten reihe „Wilde Herzen“ po- Peckinpahs Abgesang auf DIENSTAG Weltkrieg bei: im Dezember chen, nun verspritzt das ZDF den Western (USA 1973) ist 23.00 – 23.30 Uhr Sat 1 1941 wenige Kilometer vor „Herzblut“: Schicksalsfilme, ziemlich gewalttätig und SPIEGEL TV Moskau. Ein halbes Jahr spä- deren Titel schwer schwulstig ziemlich stark. REPORTAGE ter ist Wlassow der erste klingen: „Ein Herz für Lau- „Ich habe Sibirien über- hochrangige russische Gene- ra“, „Ich lass’ dich nicht al- lebt!“ – die Geschichte ral, der mit den Deutschen lein“. Das Sascha-Spiel SONNTAG der Gulag-Häftlinge, die gegen Stalin kämpfen will. (Buch: Gudrun Bouchard, 20.15 – 22.05 Uhr RTL aus dem Ausland kamen. Der Frontwechsel ist für ihn Regie: Marijan D. Vajda) Der heute 75jährige Fran- und die meisten seiner Offi- dreht sich um Leukämie, le- Thunder In Paradise – zose Bernhard Germe hat ziere am Ende des Krieges bensrettende Rückenmark- Heiße Fälle, coole Drinks die Hölle von Workuta tödlich. Sie müssen sterben. spenden und Kindesver- Jeder weiß: RTL ringt um überstanden. Er war einer Mehr als 100 000 Mann ver- wechslung. Qualität. Heute der Beweis: von Tausenden von Aus- schwinden im Gulag. Die Gezeigt wird der Pilotfilm zu ländern, die in den sowje- Dokumentation ist eine Ko- 20.15 – 22.00 Uhr Sat 1 einer Serie, deren Protago- tischen Lagern ausgebeu- produktion des Deutschen nist Hulk Hogan heißt, der tet worden sind. mit dem staatlichen russi- Im Weißen Rößl sich als der erfolgreichste schen Fernsehen. Samstag ist Seichtbadetag. Wrestler aller Zeiten ausgibt. Warum also nicht zu Peter Eine große Sendung: Hogan MITTWOCH 22.00 – 22.42 Uhr Vox 0.15 – 1.20 Uhr ZDF Alexander und Waltraut mißt 2,02 Meter. Da wrestelt Haas in den Wolfgangsee man vor Ehrfurcht. SPIEGEL TV THEMA Das Mädchen aus der steigen. Man holt sich in die- Streichholzfabrik An der Seite der Macht – ser österreichischen Musik- 20.40 – 1.00 Uhr Arte Der siebte Spielfilm des Fin- komödie (1960, Regie: Wer- eingeladen: die Ehe-Part- nen Aki Kaurismäki (1989) ner Jacobs) wohl kaum ein Themenabend: ner der prominenten Poli- gilt als sein bester. Er zeigt Wölfl. Unsterblicher Fernandel tiker Gerhard Schröder, die Geschichte der jungen Den Auftakt der Sendung Heide Simonis und Moni- ka Griefahn. Arbeiterin Iris (Kati Outi- 22.05 – 23.20 Uhr Sat 1 über den 1971 gestorbenen nen), ihren kargen Alltag, ih- Schauspieler bildet der Film re Versuche, der Einsamkeit Das Goldene Ei „Das Kalb mit den fünf Fü- FREITAG zu entfliehen. Jede Einstel- Michael Tasches neue Show ßen“ von 1954. Anschließend 21.55 – 22.30 Uhr Vox lung dieses Films drückt ei- ist nichts für Eierköpfe und (22.20 Uhr) gibt es eine Do- SPIEGEL TV nen einfachen Satz aus. Die Weicheier: Kandidaten müs- kumentation: „Die kleine INTERVIEW Zeit: „Kaurismäkis Filme sen durch Schmierseife schlit- Welt des Fernand Contandin rühren uns, weil sie uns an tern und in Rhönrädern rol- alias Fernandel“. Marion Gräfin Dönhoff ist ein Leben erinnern, dem wir len, um 65 000 Mark zu ge- die unumstrittene First Lady des deutschen Jour- entronnen sind. Sie erinnern winnen. Das Sat-1-Produkt 22.25 – 0.10 Uhr Bayern III uns an das wahre Unglück in scheint Ulla Kock am Brinks nalismus. SPIEGEL TV In- unserem falschen.“ „100 000 Mark Show“ zu glei- Eins, zwei, drei terview sprach mit ihr über chen wie ein faules Ei dem Der Abzählreim für eine Jugend in Ostpreußen, Wi- anderen. glänzende Billy-Wilder-Ko- derstand, die Flucht 1945 FREITAG mödie (USA 1961): Wie die und die deutsche Presse- szene. 20.15 – 23.30 Uhr ARD 23.20 – 1.15 Uhr ZDF Tochter (Pamela Tiffin) eines Coca-Cola-Bosses und ein Mainz bleibt Mainz, wie Pat Garrett & Billy the Kid strammer Jungkommunist SAMSTAG es singt und lacht Als Pat Garrett (James Co- (Horst Buchholz) zusammen- 21.50 – 23.40 Uhr Vox Besonders, wenn die Unions- burn) Sheriff wird, jagt er er- kommen, ist so entspannend, jecken die ARD auflösen. barmungslos seinen alten wie es die Entspannung nie SPIEGEL TV SPECIAL Freund, den Outlaw Billy war. Österreich zwischen Ötzi, Oberwart und Opernball. 20.40 – 22.15 Uhr Arte Beobachtungen aus dem Das schafft die nie! Alltag eines Nachbarn. Fernsehbiographie (Dreh- buch aufgrund eines authen- SONNTAG tischen Falls) über eine he- 22.05 – 22.45 Uhr RTL roinabhängige Berlinerin, die durch ihre Willensstärke den SPIEGEL TV MAGAZIN Weg aus der Sucht findet. „Löwenmütter“ gegen Von Lih Janowitz. „Rabenväter“ – Sorge- recht, sexueller Miß- brauch und der Streit um SAMSTAG einen Film / Aufstand der Aids-Kinder – Tribunal ge- 20.15 – 21.45 Uhr ZDF gen den rumänischen Herzblut: Sascha darf Staat / Am Rosenmontag nicht sterben ist alles vorbei – über die

Die Öffentlich-Rechtlichen NEF-DIFFUSION Mühen des Frohsinns. haben es mit der Pumpe. Erst „Eins, zwei, drei“-Szene mit James Cagney (M.), Lilo Pulver (r.)

248 DER SPIEGEL 8/1995 Werbeseite

Werbeseite HOHLSPIEGEL RÜCKSPIEGEL

Aus dem Regensburger Bistumsblatt: Zitate „Chruschtschow hatte die Halbinsel den Ukrainern zugeschlagen, die dieses Da- Die Augsburger Allgemeine zur SPIEGEL- naergeschenk damals nicht zurückwei- Titelgeschichte MILLIARDENGRAB „AUF- sen konnten und wahrscheinlich auch SCHWUNG OST“ (Nr. 7/1995): nicht zurückgewiesen hätten, zumal sie es heute nicht wieder hergeben wollen.“ Nein, Herr Ministerpräsident Stolpe: Wer die Verschwendung öffentlicher Y Mittel in den neuen Bundesländern an- prangert und den üppig wuchernden Aus einer Sendung des Westdeutschen Dschungel von Subventionen und Steu- Rundfunks 1: „Mit ihrem rätselhaften ervergünstigungen lichten will, betreibt Tod machte Marilyn Monroe die Lein- keine „West-Ost-Hetze“. wand frei für weniger aufdringliche Frauen.“ Die Hamburger Morgenpost zum selben Thema: Y So viel Manpower müßte doch auch die Bildunterschrift der Bild am Sonntag: gebündelte Macht von Wirtschafts- und „Hier endete sein erstes Leben. Das Finanzministerium zusammenbringen, Sandufer des Bad Zwischenahner Meers um wenigstens mal (wie die SPIEGEL- – an dieser Stelle ging Erich Aden ins Leute) den Rechnungshof-Präsidenten Wasser und tauchte erst in Spanien von Sachsen-Anhalt zu fragen, ob in sei- auf.“ nem Beritt alles in Ordnung ist. Oder wußten sie schon, was beispielsweise Y auch der Europäische Rechnungshof in Luxemburg weiß, und haben verschämt Aus der Braunschweiger Zeitung: geschwiegen? „Edmonton, obschon 650 000 Seelen stark, ist Provinzhauptstadt. Mehr Die Mitteldeutsche Zeitung (Halle): nicht. Ein wenig ähnelt es Braun- schweig: Charme verschenkt es nicht, Als hätten die Menschen hier nicht ge- und wer nicht dort lebt, der kennt es nug um die Ohren. nicht.“ Die Thüringer Allgemeine (Erfurt): Y Die Regierung will die Kontrollen über den Milliarden-Fluß verschärfen. Ein löblicher Vorsatz. Doch zugeschnitten auf Thüringen der blanke Hohn. Ver- schärfen? Hier liegen – einmalig in Deutschland – Ergebnisse der Kontrolle Aus der Welt durch den Landesrechnungshof (begin- nend mit 1992!) nicht vor. Das Parla- Y ment weiß nicht einmal andeutungswei- se, was und wo verschlampt oder ver- Aus der Elbe-Jeetzel-Zeitung: „Die Frau praßt wurde. habe gesagt, sie fühle sich von anderen Männern sexuell bedrängt. Der 40jähri- Der SPIEGEL berichtete . . . ge habe daraufhin seine Frau erwürgt, um Abhilfe zu schaffen.“ . . . in Nr. 6/1995 DEUTSCHLAND – DER MACHT SICH WICHTIG über die Bemü- Y hungen Karl Wienands um einen Milliar- denkredit für die DDR. Wienand habe Aus dem Hamburgischen Gesetz- und jetzt seinem früheren Verhandlungspart- Verordnungsblatt: „Die in den Absät- ner, dem ehemaligen DDR-Ökonomen zen 1 und 4 festgelegten Einkommens- Professor Jürgen Nitz, bei einem ge- beträge erhöhen sich jeweils um 100,- meinsamen Abendessen das Motiv für DM, sobald der vom Senat neu festge- sein Bemühen gestanden: Ihm sei es vor setzte Regelsatz für den Haushaltsvor- allem um die Wahrnehmung seiner Ge- stand nach § 22 Absatz 3 des Bundesso- schäftsinteressen gegangen. zialhilfegesetzes für sich allein oder durch mehrere nacheinander erfolgte Wienand stellte gegenüber dem SPIE- Neufestsetzungen zusammen den im GEL klar, daß er sich nicht so geäußert Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser habe. Nicht Geldgier sei sein Motiv ge- Rechtsverordnung geltenden Regelsatz wesen. Er habe vielmehr etwas für die für den Haushaltsvorstand (Basisregel- Menschen im geteilten Deutschland tun satz) und danach den zuletzt festgesetz- wollen. Auch Wienands Gesprächspart- ten Regelsatz für den Haushaltsvorstand ner bestätigt, daß der zitierte Satz nicht jeweils um mindestens 5 % übersteigt.“ gefallen ist.

250 DER SPIEGEL 8/1995