Gerhard Raab

Matrikelnummer: 61800392

Elemente des Stylus Phantasticus im Orgelwerk Juan Cabanilles‘

Masterarbeit

Schriftlicher Teil der Lecture Performance KMA-Studiengänge Musik

zur Erlangung des akademischen Grades Master of Arts

des Studiums KMA Orgel

Studienkennzahl: RA 066 712

an der

Anton Bruckner Privatuniversität

Betreut durch: Ao. Univ. Prof. Mag. Brett Leighton

Zweitleser: Prof. Mag. Dr. Wolfgang Kreuzhuber

Linz, im April 2021 Abstract

Die Orgelmusik Juan Cabanilles‘ (1644–1712) stellt für die Musikwissenschaft nicht zuletzt ob des Fehlens von Autographen und der unübersichtlichen Quellenlage nach wie vor ein umfangreiches Forschungsfeld dar. Noch immer verbleiben einige Werke des valencianischen Komponisten unveröffentlicht. Aufschluss über mögliche stilistische Einflüsse von außerhalb der iberischen Halbinsel geben daher morphologische Untersuchungen seiner Werke sowie seines näheren musikalischen Umfelds. Die vorliegende Arbeit geht der Frage nach, ob Elemente des Stylus Phantasticus in den Kompositionen Cabanilles‘ nachweisbar sind. Im Besonderen werden die Verbindungen zum süddeutschen und italienischen Raum sowie aufführungspraktische Aspekte der Musik um 1700 erörtert. Danksagung

Die Idee zur vorliegenden Arbeit entstand in der Folge eines Kurses an den historischen Orgeln von Julian de la Orden in der Kathedrale von Cuenca im Jahr 2017. Für die inspirierenden Ideen und Ausführungen zur iberischen Orgelmusik sowie für die weiterführenden musikalischen und wissenschaftlichen Anregungen in privater Korrespondenz bin ich Andrés Cea Galán zu großem Dank verpflichtet. An dieser Stelle möchte ich meinen Dank auch an ao. Univ. Prof. Mag. Brett Leighton sowie Prof. Mag. Dr. Wolfgang Kreuzhuber aussprechen. Ihre außerordentlich wertvollen Impulse im Unterricht wie auch der konstruktive fachliche und persönliche Austausch über die Betreuungstätigkeit hinaus haben maßgeblich zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen. Ein besonderer Dank gilt zudem Marianne und Michaela Bäck sowie Gabriele Käferböck für das Korrektorat. 1 Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung ...... 1

2 Biografische Daten ...... 3

3 Werke und Quellen...... 3

4 Die Vernetzung der europäischen Musikwelt im 17. Jahrhundert ...... 7

5 Stylus Phantasticus ...... 12

6 Ausgewählte Beispiele ...... 19

7 Conclusio ...... 24

8 Literaturverzeichnis ...... 26

9 Noteneditionen ...... 29

10 Quellenverzeichnis ...... 30

11 Anhang ...... 31 1 Einleitung

Das Schaffen des valencianischen Komponisten Juan Cabanilles bildet nach Agustí Bruach neben den Werken von Antonio de Cabezón und Francisco Correa de Arauxo „eine dritte Blüte der Orgelmusik auf der iberischen Halbinsel.“1 In Bezug auf die wissenschaftliche Aufarbeitung dieses Repertoires konstatiert Jürgen Trinkewitz:

„Insgesamt besteht bezüglich Geschichte, Analyse und Aufführungspraxis der iberischen Tastenmusik noch großer Forschungsbedarf, damit das vielschichtige Repertoire erschlossen werden kann und in Zukunft nicht nur wenigen Spezialisten vertraut ist.“2

Stellvertretend für die aktuellen Forschungsergebnisse sind an dieser Stelle die Dissertationen und die davon abgeleiteten Artikel von Miguel Bernal Ripoll3, die Erkenntnisse Andrés Cea Galáns4 sowie die Arbeiten von Águeda Pedrero Encabo5 genannt. In der deutschsprachigen Sekundärliteratur finden sich nur wenige Beiträge zu diesem umfangreichen Thema. Ein wesentlicher Punkt für die Erschließung der Orgelwerke Cabanilles‘ ist die Kenntnis über das Instrumentarium im valencianischen Raum im 17. Jahrhundert. Diesbezüglich sei auf die Forschung zu den Orgeln der Kathedrale von durch Pablo Márquez Caraballo6 verwiesen.

Die vorliegende Arbeit geht der Frage nach, ob sich im Schaffen Cabanilles‘ Elemente des Stylus Phantasticus – ein sich im 17. Jahrhundert über nahezu ganz Europa ausbreitendes musikalisches Phänomen – nachweisen lassen. Daraus gewonnene Erkenntnisse können einen Beitrag zum Wissen über die Interpretation iberischer Tastenmusik im ausgehenden 17. Jahrhundert liefern.

Nach einer Darstellung des aktuellen Forschungsstands zur biografischen und kompositorischen Quellenlage soll eine historiografische Analyse die europaweite Vernetzung von Musikschaffenden im besprochenen Zeitraum mit Blick auf die iberische Halbinsel erörtern. David J. Smith hebt hierzu die Relevanz von Wissen um

1 Bruach 2000, Art. „Würdigung“ 2 Trinkewitz 2009, S.252 3 Ripoll 2004, 2012 und 2018 4 Cea Galán 2007, 2011 sowie zwei Editionen von zweimanualigen Tientos bzw. Trios aus dem Œuvre Cabanilles‘ 2016 und 2018 5 Pedrero Encabo 1995 6 Márquez Caraballo, Pablo: Los órganos de la catedral de Valencia durante los siglos XVI-XXI. Historia y evolución. Tesis doctoral, Universidad de València 2017

1 das soziale, gesellschaftliche und politische Umfeld für das Verständnis musikalischer Werke hervor:

„Composers and musicians did not live in a cultural vacuum; a better appreciation of their work is achieved in a broader context. This comprises a complex web of interrelated networks involving patronage and employment, religion and politics, […].”7

Der Bezug auf die Verbindungen zum italienischen und süddeutschen Raum erfordert einen Exkurs in die Entwicklung und Ausbreitung des Stylus Phantasticus. Anhand ausgewählter Beispiele aus dem Orgelwerk Cabanilles‘ sollen schließlich Gemeinsamkeiten mit der Musik außerhalb der iberischen Halbinsel dargestellt werden. Das Ziel der Arbeit besteht darin, ein über größere Teile nur fragmentarisches Bild des valencianischen Komponisten und dessen musikalischen Bezugsfelds zu erweitern und dieses in den Kontext der Entwicklungen in der (Tasten-)Musik zu setzen.

Aufgrund eines fehlenden Werkverzeichnisses werden die Werke Cabanilles‘, dem musikwissenschaftlichen Usus der Sekundärliteratur folgend, mit ihrer Verortung in der Gesamtausgabe von Higinio Anglés angegeben, z.B. OO-II-26 (Opera Omnia, Band zwei, Tiento Nr. 26). Da das Berufsbild des Musikers im 17. und 18. Jahrhundert fast ausschließlich männlichen Personen vorbehalten war, wird in der vorliegenden Arbeit bei Verweisen auf Quellen aus jener Zeit die männliche Sprachform bei personenbezogenen Substantiven und Pronomen verwendet. Dies impliziert jedoch keine Benachteiligung des weiblichen Geschlechts.

7 Smith 2013, S.3

2 2 Biografische Daten

Juan Bautiste José Cabanilles Barberà8 wurde am 6. September 1644 als Sohn des Bauern Barthomeu Cabanilles und dessen Frau Catherina Barberá geboren. Das Fehlen von Berichten oder Dokumenten zur Kindheit und Jugend lässt nur Vermutungen über die musikalische Ausbildung Cabanilles‘ zu.9 Belegt ist, dass er im Jahr 1665 als Nachfolger von Jerónimo de la Torre zum zweiten Organisten des Doms zu Valencia ernannt wurde, sowie nach dem Tod von Andrés Pérez im Jahr 1666 die Aufgaben und Verpflichtungen des Hauptorganisten ausführte. Erst im Jahr 1703 wurde wieder ein zweiter Organist am Dom ernannt – wohl zur Unterstützung des alternden Domorganisten. Die überlieferten Aussagen des Cabanilles-Schülers Josep Elías über Reisen des Komponisten nach Südfrankreich und Vertretungen durch französische Organisten lassen sich nicht bestätigen.10 Einerseits müssten diese nach 1703 erfolgt sein, da erst in dieser Zeit Abwesenheiten in den Kapitelakten vermerkt wurden, andererseits hätten die Reisen mit fortgeschrittenem Alter zusätzliche Strapazen bedeutet.11 Juan Cabanilles starb am 29. April 1712 in Valencia.12

3 Werke und Quellen

Neben wenigen Vokalwerken sind ausschließlich Orgelwerke des valencianischen Komponisten in Abschriften überliefert. Nach Bruach zählen zu den letztgenannten 231 Tientos, 6 Gallardas, 4 Paseos, 1 Corrente italiana13, 1 Gaitilla, 1 Diferencias de folías, 1 Xàcara, 1 Pedazo de música, 5 Pasacalles, 6 Tocatas, 2 Batallas, 56 Himnos, sowie rund 990 Versos.14 Die Vielzahl der Werke mit liturgischem Kontext, wie Himnos und Versos, ist auf die umfangreichen kirchenmusikalischen Verpflichtungen als

8 Die unterschiedlichen Schreibweisen des Vor- und Nachnamens gehen auf die unterschiedlichen Überlieferungen in kastillischer bzw. valencianischer Sprache zurück. (Vgl. Bernal Ripoll 2004, S.19 und Garcia-Ferreras 1973, S.9). 9 Vgl. Garcia-Ferreras 1973, S.8f. 10 Vgl. Bernal Ripoll 2004, S.18f. 11 Vgl. Garcia-Ferreras 1973, S.30 Garcia-Ferreras und Bernal Ripoll merken zu diesem Punkt an, dass mit dem valencianischen Wort estrangers in den Akten fremde Vertretungsorganisten von außerhalb der Stadt gemeint waren und in der Sekundärliteratur mit dem kastillischen Wort extranjero (= Ausländer) verwechselt wurden (Vgl. Bernal Ripoll 2004, S.18). 12 Vgl. ebd. S.17f. 13 Bernal Ripoll zählt dieses Werk nicht zum Œuvre Cabanilles‘. Er sieht die Zuschreibung an den valencianischen Komponisten als Fehler an (vgl. Bernal Ripoll 2012, S.28). 14 Vgl. Bruach 2000, Art. „Werke“

3 Domorganist zurückzuführen.15 Rund zehn Prozent der Werke aus dem Schaffen des valencianischen Komponisten sind Lee zufolge noch unveröffentlicht.16

Tiento bezeichnet eine Gattung iberischer Tastenmusik, welche aufgrund der Vielzahl an unterschiedlichen Erscheinungsformen als Sammelbegriff17 gesehen werden kann. Eine Gleichsetzung mit dem italienischen Ricercar nach Pietro Cerone18 (1566–1625) oder die Entsprechung des spanischen Verbs tentar (berühren, befühlen) mit dem italienischen toccare ist laut Garcia-Ferreras nur bedingt möglich.19 Im Lauf der Zeit sind innerhalb der Tientos Werke von streng imitatorisch und kontrapunktisch geprägten Formen bis hin zu präludien- oder toccatenhaften Stücken zu beobachten.20 An dieser Stelle sei auch auf die Verwandtschaft der spanischen Tientos de falsas mit den italienischen Toccate di durezze e ligature hingewiesen.21

In diesem Zusammenhang hat Bernal Ripoll in seiner Dissertation eine Einteilung der Tientos Cabanilles‘ in Subgruppen vorgenommen, wobei er gleichzeitig anmerkt, dass aufgrund verschiedener stilistischer Merkmale einige Tientos mehreren Gruppen zugeordnet werden können.22 Unter Einbeziehung der für die Aufführungspraxis wichtigen Erkenntnisse Cea Galáns23 könnte diese Klassifizierung noch erweitert werden, da die zweimanualigen Tientos partidos sowie die Tríos a dos teclados y pedal bei Bernal Ripoll nicht berücksichtigt wurden. Die sechs mit Tocata bezeichneten Werke stellen im Vergleich zu den Tientos eine relativ kleine Anzahl dar, dennoch weisen auch diese sehr unterschiedliche Formen auf. Eine diesbezügliche Analyse nahm Murray Bradshaw 1973 vor.24

15 Vgl. Carcia-Ferreras, S.17 16 Vgl. Lee 2018, S.XIII 17 Trinkewitz 2014, S.239 18 Cerone 1613, fol.691f. 19 Vgl. Garcia-Ferreras 1973, S.78f. Garcia-Ferreras weist hier auch auf den Umstand hin, dass bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts die Bezeichnungen Fantasia (nach Tomás de Santa María 1565) und Tiento gleichgesetzt werden konnten. Einige Jahre später (z.B. bei der Veröffentlichung der Orgelwerke Antonio de Cabezóns 1578) ist der Begriff Fantasia in Spanien nicht mehr anzutreffen (Vgl. ebd., S.81f.). 20 Vgl. Trinkewitz 2014, S.239 21 Vgl. ebd. Eine ausführliche Abhandlung über den durch dissonanzreiche Vorhaltsharmonik gekennzeichneten durezze e ligature- Stil bietet Markus Märkl (Märkl, Markus: Die Elevationstoccaten Girolamo Frescobaldis unter dem Einfluss der durezze e ligature des frühen 17. Jahrhunderts. Schola Cantorum Basiliensis 22007). 22 Vgl. Bernal Ripoll 2004, S.57f. 23 Vgl. Cea Galán 2016 sowie Cea Galán 2018 24 Bradshaw 1973

4 Die Problematik in der Aufarbeitung der Musik Cabanilles‘ beschreibt Garcia-Ferreras folgendermaßen:

„Eine der größten Schwierigkeiten, vor der die Musikwissenschaft heute steht, um ein sachliches und gerechtes Urteil über Cabanilles‘ musikalische Persönlichkeit abgeben zu können, ist das gänzliche Fehlen von Werken, herausgegeben vom Autor selbst – wenigstens zu seinen Lebzeiten – und der vielleicht endgültige Verlust seiner eigenhändigen Niederschriften.“25

Die vergleichsweise geringe Anzahl an gedruckten Orgelwerken in Spanien zwischen 1626 und 177326 unterstreicht die Bedeutung von Handschriften für den damaligen musikalischen Gebrauch. Hinsichtlich der vielen Fehler und Ungenauigkeiten betreffend Rhythmus und Versetzungszeichen in den Quellen vermutet Lee, dass die Werke Cabanilles‘ lediglich aus Skizzen abgeschrieben wurden.27 Auf eine mögliche Abschrift der Werke aus dem Gedächtnis im Anschluss an den Unterricht weist Bernal Ripoll hin und beruft sich diesbezüglich auf eine Aussage Juan Bermudos.28

Aufgrund des Fehlens von Autographen merkt Bernal Ripoll an, dass man bei Werken von Cabanilles immer von den ,ihm zugeschriebenen‘ Werken spricht.29 Ein Großteil der Quellen für die Orgelwerke ist in Manuskripten der Biblioteca de Catalunya in überliefert. Für die vollständige Beschreibung der ausschließlich handschriftlichen Quellen sei auf die Arbeit von Bernal Ripoll30 sowie auf das Vorwort von Higinio Anglés31 zur Gesamtausgabe der Werke Cabanilles‘ verwiesen. Zur wissenschaftlichen Aufarbeitung – auch im Hinblick auf die Verbreitung der Handschriften – wäre die Anfertigung von Stemmata hilfreich.32

Für die vorliegende Arbeit sind vor allem drei Quellen von Bedeutung. Das Manuskript E: Bc M. 387 der Biblioteca de Catalunya zählt laut Bernal Ripoll zu den ältesten Quellen im engeren Kreis um Cabanilles. Dies betrifft einerseits den Entstehungszeitraum in den Jahren 1694–1697 und andererseits die vermuteten

25 Garcia-Ferreras 1973, S.62 26 Vgl. Lee 2018, S.XXII 27 Vgl. ebd. 28 Vgl. Bernal Ripoll 2012, S.12 29 Vgl. Bernal Ripoll 2004, S.56 30 Bernal Ripoll 2004 31 Anglés 1927 32 Vgl. Cea Galán 2016, S.12

5 Lehrer-Schüler Beziehungen der unterschiedlichen Schreiber zum Komponisten.33 Erwähnenswert in Bezug auf die Verbindung zur süddeutschen bzw. italienischen Tastenmusik ist die Überlieferung zweier Werke Johann Jacob Frobergers34 sowie der Battaglia von in dieser Quelle. Neben ebendiesen Stücken findet sich auch ein Tiento Italiano Intitulado copien sobre el cuú [sic], welches Ähnlichkeiten mit dem Capriccio sopra il cucu von Kerll aufweist.35 Sowohl Frobergers Capriccio in e FbWV 51336 als auch Kerlls Battaglia finden sich ebenfalls in den mallorquinischen Handschriften E: Felanitx, Ms. 173 und 173bis der Fundació Cosme Bauçà, welche auf ca. 1700 datiert werden.37 Dem Capriccio FbWV 513 ist in der Quelle Ms. 173bis zudem ein ternärer Abschnitt des Capriccios FbWV 509 angehängt. Das Vorhandensein von Werken des Komponisten Esteve38 sowie der erst spät dokumentierte mallorquinische Erstbesitz weisen zudem auf eine valencianische Herkunft dieser Manuskripte hin.39 Die späteren Madrider Sammlungen E: Mn M. 1357 und E: Mn M. 1360 des Franziskanermönchs Antonio Martín y Coll aus den Jahren 1706 bzw. 1709 beinhalten neben der Musik von Cabanilles ebenfalls ein Fragment der Kerll-Battaglia sowie Tastenmusik von .40 Auffallend ist, dass die Werke von Frescobaldi und Froberger anonym bzw. mit dem Zusatz ytaliana überliefert sind und dass die fälschliche Zuschreibung der Kerllschen Battaglia an Cabanilles schon durch die Kopisten in den Manuskripten geschah. Laut Bernal Ripoll könnte dies ein Indiz dafür sein, dass es sich hierbei um Repertoire handelt, welches im Raum Valencia gut bekannt war.41

33 Vgl. Bernal Ripoll 2004, S.77f. 34 FbWV 201 und FbWV 513 35 Vgl. Bernal Ripoll 2004, S.529 sowie Cea Galán 2007, S.118 36 Laut Rampe ist dieses Werk ausschließlich abschriftlich überliefert – einmal in einer Handschrift Gottlieb Muffats sowie in vier weiteren Abschriften (Kirnberger, Forkel und zwei Berliner Handschriften), welche auf eine gemeinsame verschollene Stammquelle zurückgehen (Vgl. Rampe 2014, S.IIIf.). Rampe erwähnt die spanischen Quellen nicht, vielleicht hatten sie aufgrund ihrer enthaltenen Fehler keine Relevanz für die Edition. Dass die Vorlage für die Abschrift in M. 387 schon korrumpiert war, zeigt die Anmerkung des Kopisten am Ende des Stücks: „Dieses Werk ist so fehlerhaft, dass es ,beschissener‘ nicht sein könnte.“ (eigene Übersetzung) „Esta obra esta tan errada que no puede estar mas cagada.“ (E: Bc M. 387, f.212v.). 37 Vgl. Bernal Ripoll 2004, S.99f.; Lee gibt als frühestes Entstehungsjahr 1695 an (Vgl. Lee 2018, S.XXVI). 38 Lee zufolge dürfte es sich hier um Josep Esteve handeln, welcher im Jahr 1705 gemeinsam mit Cabanilles und dem Orgelbauer Berthomeu Artigues an der Abnahme eines neuen Instruments für die Kirche San Joan del Mercat in Valencia (an der Esteve eine Anstellung als Organist hatte) beteiligt war (Vgl. Lee 2018, S.XIVf.). 39 Vgl. Bernal Ripoll 2004, S.100 und Lee 2018, S.XXV 40 Vgl. Bernal Ripoll 2004, S.106f. 41 Vgl. ebd., S.101

6 4 Die Vernetzung der europäischen Musikwelt im 17. Jahrhundert

Um die Werke Cabanilles‘ in einen (gesamt-)europäischen Kontext zu stellen42, ist es sinnvoll, diesen in groben Zügen zu erörtern. Die Vernetzung des Musiklebens im 17. Jahrhundert von Italien bis in die nordeuropäischen Länder ist gut dokumentiert. Zu den bekanntesten Beispielen zählt wohl die Ausbildung ausländischer Organisten in Venedig, Rom und Amsterdam. Der Einfluss der Gebrüder Gabrieli, Frescobaldis oder Sweelincks auf die nachfolgenden Komponistengeneration(en) in Europa steht außer Zweifel. Neben den Lehrer-Schüler Beziehungen trugen auch Anstellungen ausländischer Musiker an Höfen und Reisen zu einer Verbreitung bzw. Verschmelzung der Stile bei. Stellvertretend für die Reisetätigkeit vieler Musiker und Komponisten sei an dieser Stelle auf die Aufenthalte Frobergers in zahlreichen europäischen Städten hingewiesen, welche Rampe im biografischen Artikel über den Komponisten in der Enzyklopädie MGG ausführlich beschreibt.43 In Bezug auf Spanien muss hier auch Frobergers vermutete Reise nach Madrid44 genannt werden, auf welche die Bemerkung faict à Madrid zur Meditation FbWV 658 (für den zukünftigen Tod der Herzogin Sibylla von Württemberg) in einem 2006 bekannt gewordenen Autograph45 schließen lässt. Über den persönlichen Kontakt hinaus zeigen Abschriften von Werken auch einen indirekten Weg für gegenseitige musikalische Einflüsse, wie Smith mit Blick auf das ausgehende 16. sowie das frühe 17. Jahrhundert festhält:

„At the other end of the continuum there are links between composers who may have known one another’s work not from any direct contact, but through exposure to music contained in music manuscripts and printed sources copied or distributed by third parties.”46

Diese innereuropäischen Verbindungen scheinen die iberische Halbinsel in Bezug auf die Tastenmusik zunächst weitgehend auszuklammern, obwohl die Orgelmusik als

42 Vgl. Bernall Ripoll 2012 43 Vgl. Rampe 2015, Art. „Biographie“ 44 Vgl. Charlston 2016, S.10 45 Der Eigentümer dieses Froberger-Autographs ist leider nicht bekannt. Eine Beschreibung der Quelle anhand der Kataloginformationen zur Auktion aus dem Jahr 2006 findet sich bei Rampe 2010, darunter auch ein Faksimile jener Seite, welche den Hinweis zu Frobergers Madrid-Aufenthalt liefert. 46 Smith 2013, S.3

7 besonders durchlässig für gegenseitige Einflüsse gilt.47 Für den musikalischen Austausch Spaniens mit anderen Ländern waren die politischen Voraussetzungen im 17. Jahrhundert jedoch gegeben. Einerseits unterstand das Königreich Neapel der Krone von Aragón und war somit Teil des spanischen Reichs, andererseits war Spanien bis zum Erbfolgekrieg (1701–1714) mit dem Haus Habsburg politisch verbunden. Wenngleich die Vormachtstellung Spaniens im 17. Jahrhundert schon im Niedergang begriffen war48, spielte dieses Königreich dennoch eine wichtige Rolle im europäischen Machtgefüge. Neben den politischen Verbindungen waren für die Verbreitung von Kulturgütern auch Handelswege von großer Bedeutung. Garcia- Ferreras merkt hier an, dass der wirtschaftliche und kulturelle Austausch von Valencia aus nicht auf die nahegelegenen Mittelmeerhäfen beschränkt war, sondern darüber hinaus auch mit den Hafenstädten Nordeuropas erfolgte.49 Der Austausch zwischen Spanien und Italien zeigt sich im Musikleben gegen Ende des 16. Jahrhunderts etwa durch die Anstellung des Neapolitaners Pietro Cerone als Sänger der Capilla Real am Hof Philipps II. und Philipps III. in Madrid50 oder durch den Gebrauch der Zifferntabulatur bei Antonio Valente.51 Willi Apel vermutet auch einen musikalischen Einfluss von Cabezón über die neapolitanischen Komponisten Giovanni Maria Trabaci und Ascanio Mayone bis hin zu Frescobaldi52 und führt (als etwas gewagte These, Anm.) den Ursprung von Variationsformen für Tasteninstrumente auf die musikalische Praxis innerhalb der iberischen Halbinsel zurück.53

Nach Trinkewitz wurden die „relativ geschlossene[n]“54 stilistischen und formalen Ausprägungen iberischer Tastenmusik bis etwa 1700 im 18. Jahrhundert „vergleichsweise unvermittelt“55 vom galanten Stil abgelöst. Garcia-Ferreras hingegen sieht in den stilistischen Ähnlichkeiten nord- und südeuropäischer Orgelmusik eine

47 Vgl. Bonastre 2008, S.242 48 Vgl. Bernecker 1999, S.35 49 Vgl. Garcia-Ferreras 1973, S.57f. 50 Vgl. Zywietz 2000, Art. „Biographie“ 51 Intavolatura de Cimbalo, Neapel 1576 52 Vgl. Apel 1938, S.437 53 Vgl. ebd., S.433 Apel klammert in seiner These zur Verbreitung der Variationsformen die Improvisationskunst – ein wesentlicher Bestandteil der damaligen musikalischen Praxis – vollständig aus. 54 Trinkewitz 2009, S.235 55 Ebd.

8 Bestätigung seiner Auffassung, dass „die damalige Musikkultur viel einheitlicher war, als es manchmal angenommen wird.“56

„Was Cabanilles auf formalem und stilistischem Gebiet in seinen Tientos bietet, ist nicht mehr spezifisch spanisch allein, sondern europäisch, und steht schon im Zeichen neuer Formen und Strömungen, […]. Es fragt sich nun, ob die unverkennbaren Gemeinsamkeiten, die Cabanilles mit seinen europäischen Zeitgenossen aufweist, allgemeines Musikgut waren, dem Zufall zuzuschreiben oder dem einseitigen und gegenseitigen Einfluß zu verdanken sind.“57

Er deutet die Ähnlichkeiten in den Werken Cabanilles‘ mit der Musik Mayones, Trabacis oder auch Frescobaldis als Beweis dafür, „daß der musikalische Austausch zwischen Valencia und Italien seit Cabezón bis Cabanilles niemals unterbrochen wurde, und daß die neapolitanische und spanische Orgelschule zusammen gewachsen sind.“58 Mit dem Begriff der „spanischen Orgelschule“ verallgemeinert Garcia-Ferreras die unterschiedlichen musikalischen Traditionen innerhalb der iberischen Halbinsel. Dem aktuellen musikwissenschaftlichen Forschungsstand entsprechend, ist eine differenziertere Betrachtungsweise, beispielsweise im Hinblick auf die aragonische oder andalusische Orgeltradition, notwendig.

Die Wirren des Spanischen Erbfolgekrieges scheinen die musikalischen Verbindungen zwischen Valencia und Neapel zu Beginn des 18. Jahrhunderts nicht unterbrochen zu haben. Im Gegenteil: In der Folge des Machtanspruchs Erzherzog Karls und dessen Eroberung Barcelonas im Jahr 1705 kamen italienische sowie österreichische Musiker und Komponisten, darunter Antonio Caldara (1670–1736) und Franceso Scarlatti (1666–1741), nach Katalonien.59 Andrea Bombi schreibt zum italienischen Einfluss auf die spanische Musikwelt: „Tatsächlich war die valencianische Musik in den ersten Dekaden des 18. Jahrhunderts stark vom italienischen Kompositionsstil geprägt.“60 Wenngleich die in der Literatur gebrachten Beispiele nicht die Orgelmusik im

56 Garcia-Ferreras 1973, S.165 57 Ebd., S.165 58 Ebd., S.149 59 Vgl. Sommer-Mathis 1996, S.46 und S.67f. Unter den aus Wien kommenden Musikern befand sich auch der Organist (Johann) Franz Neubauer (vgl. ebd.). 60 Bombi 1996, S.166 (eigene Übersetzung) „En efecto, durante los primeros decenios del siglo XVIII, la producción musical valenciana se vio profundamente afectada por la influencia del estilo compositivo italiano.“

9 Besonderen behandeln, zeigen sie ein Bild des allgemeinen musikalischen Panoramas dieser Zeit.

Der Einfluss des italienischen Kompositionsstils auf die Musik anderer Länder lässt sich auch in der Ensemblemusik feststellen. Die Spieltechnik des Bogenvibratos – ausgehend von Italien zu Beginn des 17. Jahrhunderts – verbreitete sich über ganz Europa, wie Beispiele in den deutschsprachigen Ländern, Frankreich sowie England dokumentieren.61 Stewart Carter konnte feststellen, dass diese Technik auf die Imitation eines Orgeltremulanten zurückgeht.62 In der Orgelliteratur finden sich erste Beispiele in Samuel Scheidts Tabulatura Nova aus dem Jahr 1624 (Bicinium imitatione Tremula Organi […] in der Variationsreihe „Ach du feiner Reuter“ SSWV111). In den iberischen Quellen ist in der Sammlung Flores de Musica von Martín y Coll ein anonymes Werk unter dem Namen Temblante estilo ytaliano mit den gleichen stilistischen Merkmalen überliefert.63

Abb. 1: Temblante estilo ytaliano, Quelle: E: Mn M.1357, fol.161f.

Die an die Windstöße des Tremulanten erinnernden gleichmäßig repetierenden Achtelnoten verwendet auch Cabanilles in seinen Versos:

NB 1 J: Cabanilles: Verso de segundo tono. Por Gesolreut, T.1–5 (E: Felanitx Ms 173 fol.58v, Lee 1999, S.133).

61 Vgl. Carter 1991, S.43f. 62 Vgl. ebd. 63 Manuskript E: Mn M.1357, fol.161f. Der Hinweis „con el eco llevandole, y traiendole â discrecion [sic]” deutet auf die Ausführung auf einem Instrument mit Echokasten hin. Die Verwendung des Gerundiums (llevandole y traiendole) zeigt eine progressive Änderung der Dynamik an. Louis Jambou erörtert diese Praxis aus organologischer Sicht und führt Beispiele aus der iberischen Orgelliteratur aus der Zeit um 1700 an (vgl. Jambou 2011, S.59f.). Da das genannte Werk nicht verlegt ist, wird es der Arbeit im Anhang vollständig beigefügt.

10 Das Vorhandensein der Werke Frobergers und Kerlls in Quellen, welche hauptsächlich Musik von Cabanilles beinhalten, ist ein Anzeichen dafür, dass Cabanilles (oder zumindest dessen Schülerkreis) die Werke der italienischen und süddeutschen Zeitgenossen bzw. jene der vorangegangenen Generation gekannt haben musste.64 Bernal Ripoll vermutet durch Frobergers Reise nach Brüssel im Jahr 165065, anlässlich der Nachfeiern zur Hochzeit Philipps IV. von Spanien mit Erzherzogin Maria Anna von Österreich, einen möglichen Kontakt zu spanischen Organisten.66 Das oben genannte Autograph mit dem Hinweis auf einen möglichen Aufenthalt Frobergers in Madrid stellt ein weiteres Anzeichen für eine solche Verbindung dar. Lee weist zudem auf die Beziehungen des Hauses Pfalz-Neuburg mit dem spanischen Adel hin.67

Nach einem Vergleich der Werke Cabanilles‘ mit jenen anderer europäischer Komponisten stellte Bernal Ripoll Gemeinsamkeiten mit Sweelinck, Froberger, Kerll und Muffat fest. Neben einer Zusammenstellung dieser Erkenntnisse im Zuge eines Vortrags im Jahr 201268 führt er daraus schlussfolgernd den großen stilistischen Sprung in der iberischen Tastenmusik bei Cabanilles nicht auf Zufälligkeiten zurück, sondern sieht sie unter anderem als Resultat einer Verbindung zur süddeutschen Orgeltradition von Froberger und Kerll. Die Verbreitung der Werke könnte durch die habsburgische Achse Wien-Madrid sowie den „Kommunikations-Solarplexus“ Rom begünstigt worden sein.69 Cea Galán weist zudem auf mögliche französische Einflüsse in der Musik Cabanilles‘ hin und begründet dies mit dem gleichzeitigen Vorhandensein französischer und italienischer Musik in spanischen Quellen für Instrumentalmusik, wie etwa in einem Manuskript des Archivo de la Catedral de Jaca, welches neben Werken Cabanilles‘ auch Musik von Arcangelo Corelli und Nicolas Lebègue beinhaltet.70

64 Vgl. Bernal Ripoll 2004, S.531f. 65 Dokumentiert in Rampe 1991, S.VI 66 Vgl. Bernal Ripoll 2004, S.508f. 67 Vgl. Lee 2018, S.XVI Laut Mary Jane Corry könnte die Kerll-Battaglia durch Maria Anna von Pfalz-Neuburg nach Spanien gelangt sein. Auf dem Weg zur Vermählung mit dem spanischen König Karl II. besuchte die designierte Königin im Jahr 1689 Kerll in München (Vgl. Corry, Mary Jane: The Keyboard Music of Juan Cabanilles, Stanford University 1966, zit. nach Lee 2018, S.XXVI). 68 Vgl. Bernal Ripoll 2012 69 Vgl. Bernal Ripoll 2018, S.277f. 70 Privatkorrespondenz mit Andrés Cea Galán vom 18.03.2021.

11 5 Stylus Phantasticus

Um den divergierenden Beschreibungen des Begriffs Stylus Phantasticus Rechnung zu tragen, ist es notwendig, dessen Entwicklung im 17. Jahrhundert zu skizzieren. Paolo Crivellaro stellt zu diesem Zweck die Definition Athanasius Kirchers (1602– 1680) in der Musurgia Universalis71 jener von Johann Mattheson (1681–1764) in dessen Vollkommene[m] Capellmeister72 gegenüber.73

„Die Definition des Phantasticus Stylus bei Kircher bezieht sich nur auf Instrumentalkompositionen und bezeichnet im engeren Sinne die Unabhängigkeit des Stücks von einem vorgegebenen Text bzw. einem musikalischen Subjekt. Insbesondere dient er als ästhetischer Begriff innerhalb einer Kompositionslehre und will Einfluss nehmen auf die Kreativität der Komponisten.“74

Crivellaro zieht daraus den Schluss, dass „der stylus phantasticus [bei Kircher] somit nichts mit einer freien Spielweise bzw. einer ,freien Behandlung‘ der Rhythmik beim Komponieren zu tun [hat]“75 und verdeutlicht dies mit der Fantasia sopra Vt, re, mi, fa, sol, la Frobergers (FbWV 201), welche Kircher als exemplarisches Werk für den fantastischen Stil angibt.76 Dabei handelt es sich um eines jener zwei Werke Frobergers, welche auch im Manuskript M.387 der Biblioteca de Catalunya – eine der Hauptquellen für die Orgelwerke Cabanilles‘ – enthalten sind.77

Die Beschreibung Matthesons fast hundert Jahre später beinhaltet im Vergleich dazu aufführungspraktische Hinweise, wie zum Beispiel Freiheiten im Umgang mit dem Tempo:78

„§ 93. Denn dieser [Stylus Phantasticus, Anm.] ist die allerfreieste und ungebundenste Setz-Sing- und Spiel-Art, die man nur erdencken kan [sic], da man bald auf diese bald auf jene Einfälle geräth, da man sich weder an Worte noch Melodie, obwohl Harmonie, bindet, […] da allerhand sonst ungewöhnliche Gänge, versteckte Zierrathen, sinnreiche Drehungen und Verbrämungen hervorgebracht

71 Kircher, Athanasius: Musurgia Universalis sive ars magna consoni et dissoni (Rom 1650) 72 Mattheson 1739 73 Vgl. Crivellaro 2014, S.94f. 74 Schneider 1998, S.105 75 Crivellaro 2014, S.94 76 Vgl. ebd., S.94 77 Manuskript E: Bc M.387, fol. 200-201 78 Vgl. Crivellaro 2014, S.94f.

12 werden, ohne eigentliche Beobachtung des Tacts und Tons; […] ohne förmlichen Haupt-Satz und Unterwurff, ohne Thema und Subject […] bald hurtig bald zögernd; bald ein- bald vielstimmig; bald auch auf eine kurze Zeit nach dem Tact; ohne Klang-Maasse [sic]; doch nicht ohne Absicht zu gefallen, zu übereilen und in Verwunderung zu setzen. […].“79

Crivellaro weist auf die Tatsache hin, dass sich die Beschreibung des Stylus Phantasticus bei Mattheson selbst gewandelt hat, schließlich übersetzte jener die Worte Kirchers in Das beschützte Orchestre (Hamburg 1717) ins Deutsche. Die später mit dem Stil assoziierten Tempofreiheiten finden sich allerdings schon in einer früheren Veröffentlichung (Das Neu=Eröffnete Orchestre, Hamburg 1713).80 Mattheson beschreibt dort die ungebundenen Gattungen folgendermaßen:

„Phantasia oder Fantasia hat fast eben die Bedeutung [wie Sonaten, Anm.] / wiewol [sic] man deren die meisten unter Clavier-Sachen antrifft/ desgleichen auch Toccaten, die sonst keinem Instrumento, als dem Clavier und der Orgel zukommen/ auch nach der Caprice des Autoris eingerichtet werden/ dahero sie denn/ wenn eine kleine Veränderung von Fugen oder anderen Sachen dazu kommt/ nicht unrecht den Nahmen Capriccio führen. […] Præambula und Præludia sind auch unter der Zahl solcher Clavier-Sachen/ richten sich aber bloß nach des Meisters Intention, und wollen gemeiniglich gerne ohne genaue Observierung des Tactes, gleich den Toccaten, tractiret seyn. Hierher gehören alle sonst auf diesem edlen Instrument uͤ bel-inventirte bizarre Stückgen/ als Guckguck/ Nachtigal/ Battaillen und dergleichen Bagatellen/ die aber bey Leute[n] von gutem Gout mehr vor ridicul als plaisant passiren.“81

Hinsichtlich der „differenzierten Tempomodifikationen“82 in süddeutschen Werken weist Crivellaro auf eine schriftliche Bemerkung der Herzogin Sibylla von Württemberg hin, welche die Schwierigkeit einer Aufführung der Werke Frobergers ohne einer vorherigen Vermittlung durch den Komponisten selbst beschreibt.83

Mit Blick auf das Thema der vorliegenden Arbeit scheint auch die Definition des Estilo Phantastico durch Francesc Valls (ca. 1671–1747) in seinem Traktat Mapa armónico

79 Mattheson 1739 (2012), S.160 80 Vgl. Crivellaro 2014, S.94f. 81 Mattheson 1713, S.176 82 Crivellaro 2014, S.98 83 Vgl. ebd., S.98

13 práctico84, welches in zeitlicher Nähe zu Matthesons Vollkommene[m] Capellmeister erschien, von Bedeutung:

„§ VII. Phantastischer Stil: Ist eine ungebundene Komposition, eine freie und lose Methode, in welcher der Komponist ‚machen kann, wonach ihm beliebt‘; [Der phantastische Stil, Anm.] findet Verwendung in der Musik für Orgel, Cembalo, Harfe, Gitarre, oder irgendein [anderes, Anm.] Instrument; […].“85

Neben dieser Beschreibung wird wörtlich die Definition des fantastischen Stils aus Kirchers Musurgia universalis von fast einem Jahrhundert früher zitiert.

Abb. 2: Francesc Valls: Mapa armónico práctico, f.229r, Digitalisat der Biblioteca Digital Hispánica.

Crivellaro deutet Matthesons Bezug auf ältere Komponistengenerationen im Vollkommenen Capellmeister als Beschreibung einer früheren Tradition.86 Demzufolge könnte auch die Beschreibung Valls‘ aus der Mitte des 18. Jahrhunderts zu den späten Berichten über ein „Stilelement der Vergangenheit“87 zählen. Zu den früheren

84 Valls 1742 85 Ebd. Kap. XXVII, §VII, f.229r (eigene Übersetzung) „Estilo Phantastico: es una composicion desatada, ÿ methodo libre, ÿ suelto, donde el compositor puede hechar por donde quiere; sirve su uso para música de Organo, Clavecimbalo, Arpa, Guitarra, ÿ qualquiera instrumento; [...].“ 86 Vgl. Crivellaro 2014, S.97 87 Ebd., S.97

14 Beispielen für die Bekanntheit von Kirchers Musurgia universalis auf der iberischen Halbinsel zählt deren Auflistung in den Vorbemerkungen zum zweiten Buch der Escuela Musica88 von Fray Pablo Nassarre (ca.1655–ca.1730). Trotz der späten Veröffentlichung im Jahr 1723 gibt dieses Traktat Aufschluss über die Musik zu Ende des 17. Jahrhunderts, da Nassarre mit der Erstellung dieses Werks „gemäß eigenen Angaben um 1674 begonnen hatte.“89

Trinkewitz merkt an, dass der Gebrauch des Begriffs Stylus Phantasticus immer mit dem Wissen um dessen unterschiedliche Deutungen geschehen soll. Aus aufführungspraktischer Sicht ist für ihn die Etablierung der Toccata in der Claviermusik des 17. Jahrhunderts von Relevanz.90 Ausgehend von Italien hatte diese Gattung in der Tastenmusik bis zum 18. Jahrhundert einen Entwicklungsprozess durchlaufen, welchen Dirksen im entsprechenden Artikel der Enzyklopädie MGG ausführlich erörtert.91 Die Vorworte Frescobaldis zu dessen erstem Toccatenbuch (1615, 21616) sowie zu den Fiori Musicali (1635) nennt Trinkewitz als „fruchtbarste Quelle“ für die Aufführungspraxis nicht nur für die Werke Frescobaldis, dessen Schüler und Zeitgenossen. Für ihn „stellen seine [Frescobaldis, Anm.] spielpraktischen Anweisungen eine sinnvolle Richtschnur für die Umsetzung toccatenhaft strukturierter Abschnitte in Toccaten und Praeludien des deutschen bzw. österreichischen Raums im 17. Jahrhundert dar, die einen inhaltlich strukturellen oder biographischen Bezug zu Frescobaldi und Froberger haben […].“92

Der Gebrauch des Begriffs Toccata findet sich in den iberischen Quellen erst spät und nur spärlich. Cea Galán nennt die mit tocata ytaliana betitelten Werke des Manuskripts M. 387 der Biblioteca de Catalunya (datiert auf 1694–1697, siehe Kapitel 3) als erste „importierte“ Beispiele, von denen interessanterweise nur eines – das Froberger- Capriccio FbWV 513 – für Tasteninstrument gedacht ist. Bei den anderen handelt es sich um Werke für Violine(n) und Basso continuo93 (Stücke dieser Art bezeichnet Valls

88 Vgl. Nassarre 1723, Libro II, S.3 der Advertencias 89 Cea Galán 2007, S.113 90 Vgl. Trinkewitz 2009, S.395 91 Vgl. Dirksen 1998 An dieser Stelle sei auch der Beitrag Crivellaros genannt, welcher die Verbreitung der Toccata in den Norden Europas, sowie die Verwandtschaft bzw. die spätere Gleichsetzung mit den Begriffen Praeambulum und Praeludium erläutert (vgl. Crivellaro 2014, S.44f.). 92 Trinkewitz 2009, S.396f. 93 Cea Galán 2007, S.118

15 rund 40 Jahre später als „Tocatas, ó Sonatas“94). In einer Anmerkung zu weiteren Quellen schreibt Cea Galán von einem gewissen „Ausmaß an Verwirrung […], das in Spanien um 1700 in Bezug auf die Formen der Toccata, Sonate und Suite herrscht.“95

Bradshaw schreibt hierzu: „In brief, Spanish composers of the seventeenth century found little reason to take up the ,toccata‘ when they could so easily adapt many of its features and even shapes to their favorite national form, the tiento.“96

„Toccatenhafte“ Abschnitte innerhalb oder am Ende eines Stücks finden sich schon bei Correa de Arauxo. Eine Neuerung dahingehend stellt jedoch die Verwendung nicht imitativer, homophoner Strukturen zu Beginn eines Werks dar, welche in der iberischen Orgelmusik erstmals bei José Ximénez (1601–1672) dokumentiert ist.97 Nach Bernal Ripoll zählen diese Werke aus dem Schaffen Cabanilles‘ zur Gruppe der Tientos llenos, sin Paso.98 Bei der Analyse der Toccaten des valencianischen Komponisten sowie gleichartiger Abschnitte innerhalb dessen Tientos stellt Pedrero Encabo einen stilistischen Wandel zu Ende des 17. Jahrhunderts fest.99 Eine synonyme Verwendung der Bezeichnungen Tiento und Toccata findet sich (erstmals?) in der mallorquinischen Handschrift Ms. 173bis (Felanitx), in welcher das besagte Froberger-Capriccio unter dem Titel Tiento o tocata de tercer tono100 überliefert ist.

Der Versuch Bradshaws, die Toccaten im Œuvre Cabanilles‘ in ein Schema von drei Kategorien einzuteilen101, lässt einige Aspekte außer Acht. Eine solche Einteilung scheint einerseits ob der geringen Anzahl und andererseits wegen der Verschiedenheit der Faktur dieser sechs Werke schwierig. Die Diminutionen der ersten Toccata (OO-

94 Vgl. Valls 1742, f.229v 95 Cea Galán 2007, S.119 96 Bradshaw 1973, S.292f. 97 Vgl. Bernal Ripoll 2004, S.65 98 Vgl. Bernal Ripoll 2004, S.64f. Sin Paso (span. „ohne [Fort-]schritt“) bedeutet, dass (im besagten Abschnitt) keine kontrapunktische Entwicklung des thematischen Materials stattfindet. 99 Vgl. Pedrero Encabo 1995, S.98 Diesen Umbruch beschreibt Pedrero Encabo anhand der in den Manuskripten E: Bc M. 1011 und M. 1012 (aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts) enthaltenen Tocatas von Vicente Rodríguez, welcher im Jahr 1713 die durch den Tod Cabanilles‘ vakant gewordene Stelle als Domorganist in Valencia übernahm. Erwähnenswert ist seine Paraphrasierung von Arcangelo Corellis Concerto Grosso in D-Dur op. 6/1 als Tocata ala ytaliana con clarines (vgl. Pedrero-Encabo 1996, S.145f. sowie E: Bc M.1011 f.106v-108r). 100 Lee 2018, S.XVI 101 Vgl. Bradshaw 1973, S.287f. Wie Bradshaw feststellen konnte, unterscheiden sich die Tientos von den Tocatas jedenfalls durch ihre Länge. Mit durchschnittlich 87 Takten sind die Tocatas wesentlich kürzer als die oft über 200 Takte langen Tientos (vgl. ebd., S.299).

16 II-25) sind im Gegensatz zu den fanfarenartigen Figuren und Motiven der darauffolgenden „battagliaartigen“ Toccaten II-IV (OO-II-26 bis 28) nicht affektgeladen (Bradshaw unterscheidet diese nur aufgrund ihrer Ein- oder Mehrteiligkeit). Zudem weisen die mehrteiligen Tocatas V und VI (OO-II-29 und 30), in welchen die Abschnitte mit discurso bezeichnet werden, eher Gemeinsamkeiten mit geografisch nähergelegenen Werken anderer Komponisten auf als mit den von Bradshaw zitierten Veröffentlichungen Murschhausers102 oder Gottlieb Muffats103. In seiner Zusammen- fassung der bisher veröffentlichten Werkanalysen durch unterschiedliche Autoren schreibt Bernal Ripoll in Bezug auf die letztgenannten Toccaten: „In den Toccaten V und VI findet er [Cabanilles, Anm.] eine polyphone-imitative Schreibweise, welche der neapolitanischen Canzona (de Macque, Trabaci, Mayone) nahesteht.“104 Einen Vergleich dieser beiden Werke mit der Faktur eines Froberger-Capriccios ziehen die Autoren nicht in Betracht. Dieser läge nicht zuletzt wegen der oben erwähnten Verbindungen zu Froberger nahe und dürfte aufgrund der Überlieferung dessen Capriccios als Tocata [o tiento] auch zulässig sein. Es zeigt sich eine Ähnlichkeit in der polyphonen Verarbeitung des Themas in den binären und ternären Abschnitten der mehrteiligen Stücke, in der Länge der Abschnitte sowie in den Einschüben von kurzen freien Teilen zu Ende eines Abschnitts. Aus diesem Grund scheint auch die durch Bradshaw vermutete Funktion einer Alternatim-Aufführung dieser discursos105 wenig überzeugend.

Neben den Überlieferungen „ausländischer“ Werke und dem oben genannten Umbruch hinsichtlich Formen und Gattungen um 1700 stellt der durch Bernal Ripoll beobachtete Gebrauch rhetorischer Figuren bei Cabanilles106 dessen Musik in den Kontext einer gesamteuropäischen Entwicklung. Die Figuren anticipatio notae, superjectio, subsumtio, variatio, multiplicatio, prolongatio, transitus inversus, abruptio und heterolepsis nach Christoph Bernhard107 finden sich demnach auf der iberischen

102 Octi-Tonium Novum Organicum, Augsburg 1696 103 72 Versetl sammt 12 Toccaten, Wien 1726 104 Bernal Ripoll 2004, S.38 (nach Encabo 1995), eigene Übersetzung „En las Tocatas V y VI encuentra una escritura polifónico-imitativa cercana a la canzona napolitana (Macque, Trabaci, Mayone).“ 105 Vgl. Bradshaw 1973, S.300 106 Vgl. Bernal Ripoll 2004, S.225f. 107 Bernhard, Christoph: Tractatus Compositionis Augmentatus, ca. 1650

17 Halbinsel erstmals vermehrt im Schaffen Cabanilles‘.108 Zudem ist die Verwendung der von der Gesangskunst abgeleiteten Ornamente accento und cercar della nota sowie die Imitation klanglicher Effekte anderer Instrumente (bariolage, tambor)109 hervorzuheben. Die zahlreichen ausgeschriebenen Verzierungen weisen darüber hinaus eine Ähnlichkeit mit den Werken Kerlls auf.110 Für eine ausführliche Auflistung von Beispielen sei auf die Dissertation von Bernal Ripoll verwiesen.111

Wenngleich Elementen wie der figura corta (ijq) „keine außerordentliche Affektivität innewohnt“112, nutzt Cabanilles diese für sein motivisch-thematisches Material. Dieser Gebrauch stellt eine Neuerung zu den bis dahin vorwiegend vokal geprägten soggetti der kontrapunktischen Tientos dar.113 Bernal Ripoll wählt in seiner Einteilung der Werke Cabanilles‘ bezüglich der vokalen bzw. instrumentalen Beschaffenheit des musikalischen Materials die Kategorien Motético und Fantástico in Anlehnung an die entsprechenden Stilbeschreibungen bei Valls.114 Der Begriff Fantástico kann somit in direktem Zusammenhang mit der Beschreibung des Stylus Phantasticus bei Kircher gesehen werden.

In Anlehnung an die oben genannten Freiheiten im Tempo bei Mattheson stellt sich die Frage, ob ähnliche aufführungspraktische Gegebenheiten auch auf der iberischen Halbinsel dokumentiert sind. Eine Antwort diesbezüglich fand Cea Galán in Nassarres Escuela Musica, angewandt bei Werken Pablo Brunas.115 Seinen Erkenntnissen zufolge waren Tempoänderungen in Spanien und Portugal zu Ende des 17. Jahrhunderts üblich.116 Sie „verleihen diesen Stücken eine ,barocke‘ Dimension, wie wir sie aus den Vorworten von Frescobaldi oder im norddeutschen stylus phantasticus kennen.“117 Bemerkenswert ist, dass „in Spanien um 1700 der Wechsel von langsamen und schnellen Abschnitten zwei sich unterscheidende, aber

108 Vgl. Bernal Ripoll 2012, S.5f. 109 Vgl. ebd., S.8f. 110 Vgl. Bernal Ripoll 2004, S.500f. 111 Vgl. ebd. 112 Trinkewitz 214, S.363 113 Vgl. Pedrero Encabo 1995, S.98 114 Vgl. Bernal Ripoll 2004, S.64 115 Vgl. Cea Galán 2007 und 2011 116 Vgl. Cea Galán 2011, S.96 117 Ebd.

18 nebeneinander bestehende Interpretationsarten hervorbrachte“.118 Nassarre unterscheidet zwischen der in Spanien tradierten progressiven Änderung des Tempos (accelerando und rallentando) und der modernen, vom Ausland (Italien) kommenden Art, nach welcher der Übergang in ein neues Tempo plötzlich erfolgt.119 Die erwähnten Modifikationen betreffen grundsätzlich Abschnitte ohne kontrapunktische Elemente und orientieren sich oft an schnell ausführbaren Spielfiguren.120 Laut Cea Galán bedurften diese Änderungen keiner Eintragungen im Notentext, da die Spielweise in der Praxis verankert war.121 Durch die Zugehörigkeit Valencias zur Krone von Aragón sowie die wechselweise Zuschreibung zweier Werke von Cabanilles und Bruna122 dürften die aufführungspraktischen Aspekte der Schule von Zaragoza auch für das valencianische Repertoire ihre Gültigkeit haben. Die Orgelmusik Cabanilles‘ kann aus interpretatorischer Sicht somit von beiden Seiten – von der traditionell spanischen wie auch von der modernen italienischen – beleuchtet werden. Welcher der beiden Zugänge gewählt wird, richtet sich unter anderem auch nach der Faktur der Werke und obliegt letztlich den ausführenden Musikerinnen und Musikern.

6 Ausgewählte Beispiele

Die durch Bernal Ripoll festgestellten Ähnlichkeiten mit süddeutscher Tastenmusik werfen die Frage auf, inwiefern auch aufführungspraktische Gegebenheiten jener Musik in die Interpretation der Werke Cabanilles‘ einfließen können. Nach Cea Galán kannte man – zumindest in der Region um Zaragoza – die „moderne“ italienische Spielweise. Ausgewählte Beispiele sollen diesen Sachverhalt verdeutlichen.

Bernal Ripoll identifizierte im Tiento lleno de 1o tono (OO-I-3) ein nahezu wörtliches Zitat aus Frescobaldis Toccata Prima des ersten Toccatenbuches.

NB 2 J. Cabanilles: Tiento lleno de primo tono, de todas manos, OO-I-3, T.73–75.

118 Cea Galán 2007, S.117 119 Vgl. ebd. 120 Vgl. Cea Galán 2011, S.95f. 121 Vgl. Cea Galán 2007, S.119 122 Vgl. Bernal Ripoll 2004, S.120

19 NB 3 G. Frescobaldi: Toccata Prima (aus Toccate e Partite d'intavolatura di cimbalo [...] libro primo), T.18f.

Das Zitat bildet bei Cabanilles eine Coda zu einem Abschnitt mit zahlreichen vorangehenden Sequenzen. Eine freie Ausführung im Sinne Frescobaldis123 scheint hier zielführend. Erwähnenswert ist auch die kommentarlose Verwendung der Zweistimmigkeit.124 Bezüglich der zweistimmigen Passagen (siehe auch NB 12) sei auf die Worte Frescobaldis zu den passi doppi hingewiesen:

„8. Bevor man passi doppi mit Sechzehnteln in beiden Händen spielt, sollte man bei der vorausgehenden Note verweilen, möge sie auch schwarz sein; dann spielt man den passaggio mit Entschiedenheit, damit die Wendigkeit der Hand umso mehr in Erscheinung tritt.“125

Dem Vorwort Frescobaldis entsprechend könnte auch der Beginn des oben genannten Tientos adagio und arpeggiert gespielt werden.126

NB 4 J. Cabanilles: Tiento lleno de primo tono, de todas manos, OO-I-3, T.1–6.

Lee berichtet in einer Anmerkung zu den in den Felanitx-Manuskripten enthaltenen Komponisten von einem weiteren Frescobaldi-Zitat im Tiento lleno por Bequadrado (OO-V-82).127 Der Beginn dieses Tientos zeigt auch ob der Verwendung von tremoli (T.1, Tenor) und tremoletti (T.1, Bass) italienische Einflüsse.128

123 Vgl. hierzu das Vorwort Al Lettore Frescobaldis zur zweiten Auflage seines ersten Toccatenbuchs 21616 (deutsche Übersetzung nach Stembridge 2018, S.63f.). 124 Bei längeren zweistimmigen Abschnitten sind diese Stellen mit a duo gekennzeichnet. 125 Frescobaldi 21616 „Al Lettore“ (deutsche Übersetzung nach Stembridge 2018, S.65) 126 Vgl. ebd., (nach Stembridge 2018, S.64) 127 Vgl. Lee 2018, S.XIV 128 Die genannten Verzierungen tremolo und tremoletto sind in Girolamo Dirutas Il Transilvano (Venedig 1593) beschrieben (vgl. Diruta 1593, fol.10f.).

20 NB 5 J. Cabanilles: Tiento lleno por Bequadrado [...] po. 5º tono, OO-V-82, T.1–6.

NB 6 J. Cabanilles: Tiento lleno por Bequadrado [...] po. 5º tono, OO-V-82, T.63–66.

NB 7 G. Frescobaldi: Toccata Prima (aus Il secondo Libro di Toccate […]), T.8f.

Luigi Ferdinando Tagliavini beschreibt ein durch einen vermeintlichen Verlängerungspunkt angezeigtes Innehalten bei Werken Frescobaldis – den punctum additionis. Die der Fermate nachfolgende Note wird nicht verkürzt (als Achtelnote anstatt der notierten Sechzehntel) gespielt.129 An den nachfolgend gekennzeichneten Stellen des Tiento lleno de primero tono (OO-III-6) sprechen zwei Gründe für die Ausführung als punctum additionis. Zum einen beginnen nach den punktierten Noten neue absteigende Diminutionen (getrennt durch einen Terz- bzw. Oktavsprung), zum anderen betrifft diese Notationsweise nur diese beiden Takte innerhalb des gesamten

129 Vgl. Tagliavini 1981, S.220

21 Stücks (dieses Alleinstellungsmerkmal schließt eine motivische Verwendung dieses Rhythmus aus).

NB 8 J. Cabanilles: Tiento lleno de primo tono, OO-III-6, T.10–13.

Eine weitere durch Frescobaldi beschriebene Praxis – wenngleich nicht vordergründig dem Stylus Phantasticus zuzurechnen – ist die Verkürzung oder die nur abschnittsweise Aufführung von Werken.130 Hinsichtlich des Gebrauchs im liturgischen Kontext131 ist dies auch für Cabanilles‘ Tientos de Contras denkbar. Der schematische Aufbau über den Orgelpunkten132 mit zahlreichen Sequenzen und Modulations- passagen ermöglicht das Spiel einzelner Abschnitte bzw. ein vorzeitiges Beenden des Werks. Die Orgelpunkt-Tientos Cabanilles‘ erinnern durch das (teilweise kanonisch geführte) Passagenwerk und durch kurze motivische Imitationen an die Orgelpunkt- Toccaten seines deutschen Zeitgenossen (1653–1706).

NB 9 J. Pachelbel: Toccata in C, DTB IV/I -12, T.1–12.

130 Vgl. Tagliavini 1981, S.218 131 Vgl. Garcia-Ferreras 1973, S.17 132 Vgl. ebd., S.145

22 NB 10 J. Cabanilles: Tiento de Contras de 4o tono, OO-IV-63, T.35–50; möglicher Schlusspunkt an der gekennzeichneten Stelle (*).

Eine Parallele zu den Werken Kerlls stellt das Tiento lleno de 5o tono (OO-V-84) dar, welches mit den (Doppel-)Trillern am Beginn des Werks sowie mit dem zweistimmigen Abschnitt an die Toccaten des süddeutschen Komponisten erinnern.

NB 11 J.Cabanilles: Tiento lleno de 5o tono, (OO-V-84), T.1–14.

23 NB 12 J.Cabanilles: Tiento lleno de 5o tono, (OO-V-84), T.61f., T.70f. und T.81f.

7 Conclusio

Die Erkenntnisse der letzten Jahre hinsichtlich der Werke Cabanilles‘ zeigen ein Bild, welches im Zusammenhang mit den – wenn auch differenzierten – musikalischen Entwicklungen in Europa steht. Zum einen bezeugt die Vielzahl an strukturellen und formalen Elementen in der Gattung des Tientos zu Ende des 17. Jahrhunderts einen Stilwandel, zum anderen zeigt die zeitgleiche Vernetzung der Musiker über die Ländergrenzen hinweg ein großes Potential zur Verbreitung und stilistischen Verschmelzung der Musik in ganz Europa. Im Fall des valencianischen Komponisten sind hier vor allem die stilistischen Ähnlichkeiten mit dem süddeutschen bzw. italienischen Raum bedeutsam.

Auch wenn Cabanilles keinen seiner europäischen Zeitgenossen persönlich gekannt hat, lassen drei Aspekte auf eine Berührung mit Musik außerhalb der iberischen Halbinsel schließen: Die durch rhetorische Figuren geprägte Melodik sowie die Neuheit derselben in Spanien, morphologische Ähnlichkeiten mit Werken von

24 Komponisten anderer europäischer Länder und die Überlieferung solcher Werke im engeren Kreis um Cabanilles.133 Als Beispiel sei an dieser Stelle auf die in der Arbeit angeführten Werke Frobergers und Kerlls verwiesen. Es darf demnach angenommen werden, dass Cabanilles zumindest die über Italien verbreitete Musik der Generationen vor ihm gekannt hat. Dies lässt die Schlussfolgerung zu, Gemeinsamkeiten seiner Werke mit stilistischen Merkmalen anderer (europäischer) Komponisten auch anhand deren aufführungspraktischen Traditionen zu interpretieren.

Die in Kapitel 5 angeführten Darstellungen zum Terminus Stylus Phantasticus zeigen ein facettenreiches Bild dieses Phänomens ausgehend vom beginnenden 17. Jahrhundert bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts. Zur differenzierten Anwendung dieser Elemente ermutigt Trinkewitz die Musikerinnen und Musiker:

„Die verschiedenen Aspekte des stylus phantasticus in den zeitlich unterschiedlichen Quellen können dem Spieler dazu verhelfen, einen sinn-, geist- und einfallsreichen Umgang mit Strukturen der ,phantastischen Erscheinungsformen‘ des 17. und 18. Jahrhunderts zu finden.“134

Zweifelsohne erschweren fehlerhafte Abschriften und eine oft unübersichtliche Quellenlage neben den nur spärlich vorhandenen biografischen Daten sowie dem Fehlen von Autographen die Suche nach Anhaltspunkten für die Interpretation der Werke des valencianischen Komponisten.

Laut Cea Galán harrt noch „ein großer Teil des iberischen Repertoires aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts“135 seiner Aufarbeitung. Eine gleichermaßen wissenschaftliche wie auch künstlerisch-musikalische Auseinandersetzung mit diesen bis jetzt noch „ungehobenen Schätzen“ ist demnach auch in Zukunft wichtig, um das Verständnis um die (Tasten-)Musik der iberischen Halbinsel zu erweitern.

133 Vgl. Bernal Ripoll 2012, S.4 134 Trinkewitz 2014, S.403 135 Cea Galán 2011, S.96

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28 9 Noteneditionen

CABANILLES, JUAN

ANGLÉS, HIGINIO, CLIMENT JOSEP: Iohannis Cabanilles. Opera Omnia (OO). I-V, Barcelona: Bibiloteca de Catalunya 1927–1986.

CEA GALÁN, ANDRÉS: La mano derecha de Cabanilles. Notas sobre el repertorio partido en la antigua Corona de Aragón. Instituto del Órgano Hispano 2016.

CEA GALÁN, ANDRÉS: Tríos a dos teclados y pedal en el entorno de Cabanilles. Instituto del Órgano Hispano 2018.

LEE, NELSON: Juan Cabanilles and His Contemporaries. Keyboard music from the Felanitx Manuscripts, I und III. In: Corpus of Early Keyboard Music, Bd. 48/1 und 3, American Institute of Musicology 1999, 2018.

FRESCOBALDI, GIROLAMO

STEMBRIDGE, CHRISTOPHER, GILBERT, KENNETH: Toccate e Partite d'intavolatura di cimbalo...libro primo (Rom, Borboni, 1615, ²1616). Kassel: Bärenreiter 2018.

STEMBRIDGE, CHRISTOPHER, GILBERT, KENNETH: Il Secondo Libro di Toccate, Canzone, Versi d'Hinni, Magnificat, Gagliarde, Correnti et altre Partite (Rom, Borboni, 1627, ²1637). Kassel: Bärenreiter 2019.

FROBERGER, JOHANN JACOB

RAMPE, SIEGBERT: Froberger. Neue Ausgabe Sämtlicher Werke. Bd. VI.1 (2010) und Bd. V.2 (2014). Kassel: Bärenreiter.

PACHELBEL, JOHANN

SEIFFERT, MAX: Orgelkompositionen von Johann Pachelbel. In: Sandberger, Adolf (Hrsg.): Denkmäler der Tonkunst in Bayern (DTB), IV. Jahrgang, Band I, Leipzig: Breitkopf und Härtel 1903.

29 10 Quellenverzeichnis

CERONE, PIETRO: El melopeo y maestro: tractado de musica theorica y pratica […] Neapel: Giovanni Battista Gargano, Lucrecio Nucci 1613. Digitalisat der Biblioteca Digital Hispánica. URL: http://bdh.bne.es/bnesearch/detalle/3512912.

DIRUTA, GIROLAMO: Il Transilvano […] Venedig: Giacomo Vincenti 1593. Digitalisat der Library of Congress, Washington, D.C. URL: https://lccn.loc.gov/50047035.

MANUSKRIPT E: Bc M. 387. Digitalisat der Biblioteca de Catalunya. URL: https://cataleg.bnc.cat/record=b2561927~S13*cat.

MANUSKRIPT E: Bc M. 1011. Digitalisat der Biblioteca de Catalunya. URL: https://cataleg.bnc.cat/record=b2593765~S13*cat.

MATTHESON, JOHANN: Der vollkommene Capellmeister. Hamburg 1739, Christian Herold. Studienausgabe im Neusatz des Textes und der Noten. Ramm, Friederike (Hrsg.), Kassel: Bärenreiter 2012.

NASSARRE, FRAY PABLO: Escuela Musica. Band II. Zaragoza 1723. Digitalisat der Biblioteca Digital Hispánica. URL: http://bdh.bne.es/bnesearch/detalle/ bdh0000014534.

VALLS, FRANCESC: Mapa armónico práctico: breve resumen de las principales reglas de la música […]. Barcelona 1742. Josep Pavia i Simó. Digitalisat der Biblioteca Digital Hispánica. URL: http://bdh.bne.es/bnesearch/detalle/bdh0000013569.

30 11 Anhang

31 32 Hiermit erkläre ich eidesstattlich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe verfasst habe. Alle Stellen oder Passagen der vorliegendern Arbeit, die anderen Quellen im Wortlaut oder dem Sinn nach entnommen wurden, sind durch Angaben der Herkunft kenntlich gemacht. Dies gilt auch für die Reproduktion von Noten, grafischen Darstellungen und anderen analogen oder digitalen Materialien. Ich räume der Anton Bruckner Privatuniversität das Recht ein, ein von mir verfasstes

Abstract meiner Arbeit sowie den Volltext auf der Homepage der ABPU zur Einsichtnahme zur Verfügung zu stellen.

Linz, am 05. 04. 2021 Cotraro Aaab