Das Literarische Helgoland. Eine Insel Zwischen Utopie Und Apologie Von Günter Häntzschel Dass Helgoland, Als Dort Im Jahre
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Das literarische Helgoland. Eine Insel zwischen Utopie und Apologie Von Günter Häntzschel Dass Helgoland, als dort im Jahre 1826 ein Seebad eröffnet wurde, bald ein beliebtes und frequentiertes Touristenziel werden sollte - zunächst für die Hamburger Gesellschaft, dann auch fur die Berliner und, seitdem der Eisenbahnbau die Zugänge an die deutsche Küste erschlossen hatte, für Besucher aus ganz Deutschland -, verdankt es nicht zuletzt dem Erscheinen mehrerer Reiseführer. Sie unterrichten über die Dampferrouten, beschreiben die Insel und die Bademöglichkeiten und preisen die heilende Kraft, die von dem Wellenbad und der frischen Seeluft ausgeht. Einer von ihnen, Der unentbehrliche Begleiter nach und auf Helgoland, geht auch auf die geistige Erquickung als Folge eines Helgoland - Aufenthalts ein: Wasser, Bewegung und geistige Unterhaltung, unter der wir hier namentlich die gesellige verstehen, sind die drei Elemente, aus denen eine Badecur zusammengesetzt seyn muss, wenn sie den Körper stärken und das Gemüth erfrischen soll. Geist und Körper stehen in einer so engen Verbindung, wirken wechselseitig so auf einander, dass das Wohlbefinden des einen von dem des anderen abhängt. [ ... ] Die eigenthümliche Lage der Insel, eines Felsenblockes, von den Meeresfluthen beständig angeleckt und angetobt, fern von allen andern Menschenwohnungen, nur von Himmel und Meer umgehen, wo die Winde nimmer schweigen; alles dieses zusammen genommen reißt uns aus unserer Alltagsstimmung heraus, und macht uns empfänglicher für eine geistige Elastizität, die wir früher nicht erkannt hatten. [ ... ] Einen ähnlichen Eindruck bringt das Ungewöhnliche der Umgebung von Menschen, wie wir sie in Helgoland finden, hervor. Fast alle Nationen Europas finden sich dort. Alle Stände vermischen sich dort und das gesellige Leben empfängt namentlich Abwechslung, Reiz und Interesse durch die vielen Künstler und Künstlerinnen, Schriftsteller und Gelehrten denen man auf der Insel begegnet [ ... ]. Diese durch später veröffentlichte Gäste- und Fremdenlisten bestätigte Tatsache, beschränkt sich aber nicht nur darauf, dass solche Persönlichkeiten alljährlich dahin kommen, um für ihre, durch ihren Beruf abgespannten Nerven, neue Spannkraft aus den Wellen der Nordsee zu schöpfen; der konstatierte Aufschwung des Geistes wirkt auch selbst schöpferisch und bringt eine eigene, von Helgoland inspirierte Literatur belletristischen Charakters hervor. Wir können von einer zweifachen Helgoland - Literatur sprechen. Einerseits existiert eine umfangreiche geologische, meereskundliche, klimatologische, biologische, wirtschafts- und rechtsgeschichtliche, volkskundliche, sprachgeschichtliche Literatur, der sich balneologische Schriften und Reiseführer anschließen; zum anderen hebt sich von diesen wissenschaftlichen und sachorientierten Veröffentlichungen die Metaebene einer fiktionalen Literatur ab: das literarische Helgoland. Authentizität und Fiktionalität also, Helgoland als Objekt der Wissenschaft und als Gegenstand einer ästhetischen Anschauung, Sachlichkeit und Poesie. Ein Beispiel kann demonstrieren, worin der Unter- schied zwischen expositorischem Reiseführer und fiktionalisiertem Reisebericht oder Reisebild besteht. Der schon zitierte unentbehrliche Begleiter schildert die Überfahrt nach der Düne, der Helgoland vorgelagerten Badeinsel informierend und sachlich: Sie geschieht in offenen Fischerböten, mit Segeln für günstigen Wind ersehen. Sie sind geräumig genug, um 20 Personen, wenn die See ruhig, und 14 im entgegengesetzten Falle einzunehmen; sie pflegen um 6 Uhr des Morgens ihre Fahrten zu beginnen und bis etwa gegen 2 Uhr fort-zusetzen. Gegen 2 1/2 kommt das letzte Boot zurück. Wenn Wind und Strömung günstig sind und der erstere die Segel zu hissen, sowie die Brandung am nächsten Punkte zu landen erlaubt, so erfordert die Ueberfahrt 10 bis 12 Minuten. Muss gerudert, und in Folge der hohen Brandung an der Nordostspitze der Düne gelandet werden, dann dehnt sie sich allerdings oft zu einer halben und wol auch zu dreiviertel Stunden im ungünstigsten Falle aus, namentlich wenn die Strömung der Fahrt entgegen ist. Gefahr oder Nachtheil für die Gesundheit ist durchaus nicht damit verknüpft, vielmehr üben diese kurzen, täglich sich wiederholenden Seereisen einen vortheilbringenden Einfluss auf die Gesundheit aus, selbst wenn sie mit Anfallen von Seekrankheit begleitet seyn sollten. Der jungdeutsche Schriftsteller Ludolf Wienbarg gibt in seinem 1838 erschienenen Tagebuch von Helgoland seine eigene Version: ,,Bei der Ueberfahrt nach der Sandinsel saß ein junges Mädchen an meiner Seite, die noch niemals in ihrem Leben gebadet, weder in Seewasser noch in Flußwasser. Eine schöne Enkelin von Herrmann und Thusnelde mit wellig gekräuselten hellblonden Locken und lebhaften dunkelblauen Augen, die bald dem langsamen und gewichtigen Schlage der Ruder, bald dem leichten Fluge einer vorüberkreischenden Möve folgten. Sie zeigte keine Spur von Furchtsamkeit und ängstlicher Erwartung. Ich hatte mir gedacht, unsere Mädchen müßten alle einen kultivierten Abscheu vor dem Wasser empfinden, und nur der Schlangenstab des Hippokrates triebe die Zittern- den unbarmherzig hinein. Aber dieses anmuthige und kräftige Wesen badete sich nur, wie sie äußerte, aus Neugier und einer Tante zu Gefallen, die eingehüllt im Mantel neben ihr saß. Die frische Seeluft ist in der That schon ein halbes Bad, und wer sie mit Wollust einathmet, fürchtet sich so wenig vor dem Bade, wie der Kuß vor der Umarmung. Doch tippte sie mit ihrem Goldfinger in die Fluth, um den Grad der Wärme zu prüfen. Bitte, sagte ich unbescheiden, leihen Sie mir einen kleinen Augenblick Ihren schönen Thermometer en miniature. Ich führe keinen, war ihre unbefangene Antwort. Erlauben Sie, flüsterte ich, es ist die zierlichste Arbeit in Elfenbein, die ich je gesehen, eine Glasröhre wie eine silberne Ader und wunderbares rothes Quecksilber darin. Ihrem flüchtigen Erröthen folgte eine unbändige Heiterkeit von meiner und eine Stille von ihrer Seite. Dann, 'hier ist der meinige! rief ein höflicher Mensch und überreichte mir ein Taschenthermometer in optima forma. Ich hielt es ziemlich lang ins Wasser hinaus. Wie viel Grad ist es denn, fragte sie endlich als ich es aufzog. Ich blickte ihr in die Augen, welch ein heller keuscher Strahl, und wie kindlich die nachglänzende Freude über eine Schmeichelei, welche nur der Uebermuth zwischen Himmel und Wasser entschuldigen konnte. Es sind gerade so viel Grade, mein Fräulein, antwortete ich, als Sie Frühlinge zählen. Aus der neutralen Beschreibung entsteht durch den subjektiven Zugriff des Literaten eine fiktionale Episode. Diese bietet Anlass zu allerlei Reflexionen, geistreich-witzigen Anspielungen, erotischen Konnotationen, überraschen-den Vergleichen, metaphorischen Überhöhungen und strebt einer unerwarteten Pointe zu. Die Szene ist durch Ich-Form und Dialog, durch Andeutung von Mimik und Gestik sowie durch Körpersprache verlebendigt. Sie könnte der Anfang eines Romans sein. So weit kommt es jedoch nicht. Nach einigen Seiten bricht die inszenierte Begegnung ab: Auf der Rückfahrt war Thusnelde nicht von der Gesellschaft. Es that mir leid. Wie reizend muß sie gewesen sein mit den klarkühlen befriedigten Augen, der blassen Wange und dem aufgelösten langen Haar, die junge Meerfrau. Danach ist nicht mehr von ihr die Rede. Wie dieser Episode Inselbeschreibungen, Schilderungen ihrer Bewohner, ihrer Geschichte und der gegenwärtigen Situation vorangingen, so folgen ihr solche auch, jeweils durchsetzt mit subjektiven Bemerkungen über Kultur und Geschichte, Literatur und Politik, über private und öffentliche Angelegenheiten, die mit Helgoland nicht unbedingt direkt zu tun haben, dem Autor aber beim Reisen nach der Insel und beim Wandern und Spazierengehen auf ihr einfallen: Betrachtungen, Erinnerungen, Träume, von augenblicklichen Ideen bis zu größeren Essays reichend. Damit erweist sich Ludolf Wienbargs Tagebuch von Helgoland als typisches Beispiel der in der Restaurationsepoche zwischen Wiener Kongress und bürgerlicher Revolution 1815 bis 1848, weit verbreiteten und beliebten Reiseliteratur. Diese Gattung des literarischen Lebens, charakterisiert durch die intime Verbindung von Reisen und Erzählen, breitet sich im Zusammenhang und als Folge der beginnenden industriellen Revolution in Deutschland aus, ist eine Form der neuen literarischen Weltaneignung im Zuge der zu dieser Zeit einsetzenden kulturellen und sozialen Mobilität und damit zugleich Symptom der Ausweitung und Veränderung der überlieferten literarischen Formen am Ende der sogenannten .Kunstperiode. Literatur und Leben, Fiktionalität und empirische Wirklichkeit geben eine enge Verbindung ein. Besonders bei den Autoren des Jungen Deutschland, zu denen auch Wienbarg gehört, und den ihnen Nahestehenden, bei Ludwig Böme, Heinrich Laube, Karl Gutzkow, Theodor Mundt, August Lewald, Georg Weerth, Friedrich Engel, Arnold Ruge und vielen anderen bildet Reiseliteratur über Ausland wie Inland eine Form der politischen Publizistik. Der Reisebericht dieses Typs soll zumindest ahnen lassen, jenseits der Zensur- und Zollschranken beginne das weite Reich der Freiheit, der Emanzipation. Das Vorbild für die Literatur dieser Autoren bilden die zwischen 1826 und 1831 in vier Bänden erschienenen Reisebilder von Heinrich Heine, jene lockere, dynamische, feuilletonistische Prosa, der tatsächliche Reisen des Autors zugrunde liegen, die aber in ihren satirisch-sarkastischen, bald bissigen, bald witzigen Angriffen auf den Metternichschen Staat und seine bedrücken-den Auswirkungen über ihre