Das literarische Helgoland. Eine Insel zwischen Utopie und Apologie Von Günter Häntzschel Dass Helgoland, als dort im Jahre 1826 ein Seebad eröffnet wurde, bald ein beliebtes und frequentiertes Touristenziel werden sollte - zunächst für die Hamburger Gesellschaft, dann auch fur die Berliner und, seitdem der Eisenbahnbau die Zugänge an die deutsche Küste erschlossen hatte, für Besucher aus ganz Deutschland -, verdankt es nicht zuletzt dem Erscheinen mehrerer Reiseführer. Sie unterrichten über die Dampferrouten, beschreiben die Insel und die Bademöglichkeiten und preisen die heilende Kraft, die von dem Wellenbad und der frischen Seeluft ausgeht. Einer von ihnen, Der unentbehrliche Begleiter nach und auf Helgoland, geht auch auf die geistige Erquickung als Folge eines Helgoland - Aufenthalts ein:

Wasser, Bewegung und geistige Unterhaltung, unter der wir hier namentlich die gesellige verstehen, sind die drei Elemente, aus denen eine Badecur zusammengesetzt seyn muss, wenn sie den Körper stärken und das Gemüth erfrischen soll. Geist und Körper stehen in einer so engen Verbindung, wirken wechselseitig so auf einander, dass das Wohlbefinden des einen von dem des anderen abhängt. [ ... ] Die eigenthümliche Lage der Insel, eines Felsenblockes, von den Meeresfluthen beständig angeleckt und angetobt, fern von allen andern Menschenwohnungen, nur von Himmel und Meer umgehen, wo die Winde nimmer schweigen; alles dieses zusammen genommen reißt uns aus unserer Alltagsstimmung heraus, und macht uns empfänglicher für eine geistige Elastizität, die wir früher nicht erkannt hatten. [ ... ] Einen ähnlichen Eindruck bringt das Ungewöhnliche der Umgebung von Menschen, wie wir sie in Helgoland finden, hervor. Fast alle Nationen Europas finden sich dort. Alle Stände vermischen sich dort und das gesellige Leben empfängt namentlich Abwechslung, Reiz und Interesse durch die vielen Künstler und Künstlerinnen, Schriftsteller und Gelehrten denen man auf der Insel begegnet [ ... ].

Diese durch später veröffentlichte Gäste- und Fremdenlisten bestätigte Tatsache, beschränkt sich aber nicht nur darauf, dass solche Persönlichkeiten alljährlich dahin kommen, um für ihre, durch ihren Beruf abgespannten Nerven, neue Spannkraft aus den Wellen der Nordsee zu schöpfen; der konstatierte Aufschwung des Geistes wirkt auch selbst schöpferisch und bringt eine eigene, von Helgoland inspirierte Literatur belletristischen Charakters hervor. Wir können von einer zweifachen Helgoland - Literatur sprechen. Einerseits existiert eine umfangreiche geologische, meereskundliche, klimatologische, biologische, wirtschafts- und rechtsgeschichtliche, volkskundliche, sprachgeschichtliche Literatur, der sich balneologische Schriften und Reiseführer anschließen; zum anderen hebt sich von diesen wissenschaftlichen und sachorientierten Veröffentlichungen die Metaebene einer fiktionalen Literatur ab: das literarische Helgoland. Authentizität und Fiktionalität also, Helgoland als Objekt der Wissenschaft und als Gegenstand einer ästhetischen Anschauung, Sachlichkeit und Poesie. Ein Beispiel kann demonstrieren, worin der Unter- schied zwischen expositorischem Reiseführer und fiktionalisiertem Reisebericht oder Reisebild besteht. Der schon zitierte unentbehrliche Begleiter schildert die Überfahrt nach der Düne, der Helgoland vorgelagerten Badeinsel informierend und sachlich: Sie geschieht in offenen Fischerböten, mit Segeln für günstigen Wind ersehen. Sie sind geräumig genug, um 20 Personen, wenn die See ruhig, und 14 im entgegengesetzten Falle einzunehmen; sie pflegen um 6 Uhr des Morgens ihre Fahrten zu beginnen und bis etwa gegen 2 Uhr fort-zusetzen. Gegen 2 1/2 kommt das letzte Boot zurück. Wenn Wind und Strömung günstig sind und der erstere die Segel zu hissen, sowie die Brandung am nächsten Punkte zu landen erlaubt, so erfordert die Ueberfahrt 10 bis 12 Minuten. Muss gerudert, und in Folge der hohen Brandung an der Nordostspitze der Düne gelandet werden, dann dehnt sie sich allerdings oft zu einer halben und wol auch zu dreiviertel Stunden im ungünstigsten Falle aus, namentlich wenn die Strömung der Fahrt entgegen ist. Gefahr oder Nachtheil für die Gesundheit ist durchaus nicht damit verknüpft, vielmehr üben diese kurzen, täglich sich wiederholenden Seereisen einen vortheilbringenden Einfluss auf die Gesundheit aus, selbst wenn sie mit Anfallen von Seekrankheit begleitet seyn sollten. Der jungdeutsche Schriftsteller Ludolf Wienbarg gibt in seinem 1838 erschienenen Tagebuch von Helgoland seine eigene Version: ,,Bei der Ueberfahrt nach der Sandinsel saß ein junges Mädchen an meiner Seite, die noch niemals in ihrem Leben gebadet, weder in Seewasser noch in Flußwasser. Eine schöne Enkelin von Herrmann und Thusnelde mit wellig gekräuselten hellblonden Locken und lebhaften dunkelblauen Augen, die bald dem langsamen und gewichtigen Schlage der Ruder, bald dem leichten Fluge einer vorüberkreischenden Möve folgten. Sie zeigte keine Spur von Furchtsamkeit und ängstlicher Erwartung. Ich hatte mir gedacht, unsere Mädchen müßten alle einen kultivierten Abscheu vor dem Wasser empfinden, und nur der Schlangenstab des Hippokrates triebe die Zittern- den unbarmherzig hinein. Aber dieses anmuthige und kräftige Wesen badete sich nur, wie sie äußerte, aus Neugier und einer Tante zu Gefallen, die eingehüllt im Mantel neben ihr saß. Die frische Seeluft ist in der That schon ein halbes Bad, und wer sie mit Wollust einathmet, fürchtet sich so wenig vor dem Bade, wie der Kuß vor der Umarmung. Doch tippte sie mit ihrem Goldfinger in die Fluth, um den Grad der Wärme zu prüfen. Bitte, sagte ich unbescheiden, leihen Sie mir einen kleinen Augenblick Ihren schönen Thermometer en miniature. Ich führe keinen, war ihre unbefangene Antwort. Erlauben Sie, flüsterte ich, es ist die zierlichste Arbeit in Elfenbein, die ich je gesehen, eine Glasröhre wie eine silberne Ader und wunderbares rothes Quecksilber darin. Ihrem flüchtigen Erröthen folgte eine unbändige Heiterkeit von meiner und eine Stille von ihrer Seite. Dann, 'hier ist der meinige! rief ein höflicher Mensch und überreichte mir ein Taschenthermometer in optima forma. Ich hielt es ziemlich lang ins Wasser hinaus. Wie viel Grad ist es denn, fragte sie endlich als ich es aufzog. Ich blickte ihr in die Augen, welch ein heller keuscher Strahl, und wie kindlich die nachglänzende Freude über eine Schmeichelei, welche nur der Uebermuth zwischen Himmel und Wasser entschuldigen konnte. Es sind gerade so viel Grade, mein Fräulein, antwortete ich, als Sie Frühlinge zählen. Aus der neutralen Beschreibung entsteht durch den subjektiven Zugriff des Literaten eine fiktionale Episode. Diese bietet Anlass zu allerlei Reflexionen, geistreich-witzigen Anspielungen, erotischen Konnotationen, überraschen-den Vergleichen, metaphorischen Überhöhungen und strebt einer unerwarteten Pointe zu. Die Szene ist durch Ich-Form und Dialog, durch Andeutung von Mimik und Gestik sowie durch Körpersprache verlebendigt. Sie könnte der Anfang eines Romans sein. So weit kommt es jedoch nicht. Nach einigen Seiten bricht die inszenierte Begegnung ab: Auf der Rückfahrt war Thusnelde nicht von der Gesellschaft. Es that mir leid. Wie reizend muß sie gewesen sein mit den klarkühlen befriedigten Augen, der blassen Wange und dem aufgelösten langen Haar, die junge Meerfrau. Danach ist nicht mehr von ihr die Rede. Wie dieser Episode Inselbeschreibungen, Schilderungen ihrer Bewohner, ihrer Geschichte und der gegenwärtigen Situation vorangingen, so folgen ihr solche auch, jeweils durchsetzt mit subjektiven Bemerkungen über Kultur und Geschichte, Literatur und Politik, über private und öffentliche Angelegenheiten, die mit Helgoland nicht unbedingt direkt zu tun haben, dem Autor aber beim Reisen nach der Insel und beim Wandern und Spazierengehen auf ihr einfallen: Betrachtungen, Erinnerungen, Träume, von augenblicklichen Ideen bis zu größeren Essays reichend. Damit erweist sich Ludolf Wienbargs Tagebuch von Helgoland als typisches Beispiel der in der Restaurationsepoche zwischen Wiener Kongress und bürgerlicher Revolution 1815 bis 1848, weit verbreiteten und beliebten Reiseliteratur. Diese Gattung des literarischen Lebens, charakterisiert durch die intime Verbindung von Reisen und Erzählen, breitet sich im Zusammenhang und als Folge der beginnenden industriellen Revolution in Deutschland aus, ist eine Form der neuen literarischen Weltaneignung im Zuge der zu dieser Zeit einsetzenden kulturellen und sozialen Mobilität und damit zugleich Symptom der Ausweitung und Veränderung der überlieferten literarischen Formen am Ende der sogenannten .Kunstperiode. Literatur und Leben, Fiktionalität und empirische Wirklichkeit geben eine enge Verbindung ein. Besonders bei den Autoren des Jungen Deutschland, zu denen auch Wienbarg gehört, und den ihnen Nahestehenden, bei Ludwig Böme, , , Theodor Mundt, August Lewald, Georg Weerth, Friedrich Engel, Arnold Ruge und vielen anderen bildet Reiseliteratur über Ausland wie Inland eine Form der politischen Publizistik. Der Reisebericht dieses Typs soll zumindest ahnen lassen, jenseits der Zensur- und Zollschranken beginne das weite Reich der Freiheit, der Emanzipation. Das Vorbild für die Literatur dieser Autoren bilden die zwischen 1826 und 1831 in vier Bänden erschienenen Reisebilder von , jene lockere, dynamische, feuilletonistische Prosa, der tatsächliche Reisen des Autors zugrunde liegen, die aber in ihren satirisch-sarkastischen, bald bissigen, bald witzigen Angriffen auf den Metternichschen Staat und seine bedrücken-den Auswirkungen über ihre pragmatische Substanz hinausgeht und sich zu einem kritischen Zeit- und Gesellschaftsbild ausweitet. Reisebilder, Reiseskizzen, Reisetagebücher, Reisememoiren, Reisenovellen und Reisebriefe - die Gattungen vermischen sich zu neuen fiktiv-expositorischen Symbiosen - erweisen sich als probates Mittel, die engen Barrieren der literarischen Zensur zu überwinden, blieb doch den Zensurbehörden unter dem Eindruck der geschilderten wirklichen Reise das subversive Potential leicht verborgen, zumal sich dieses nicht in direkten Auslassungen zu erkennen gibt, sondern meist in Form von indirekten Hinweisen, Anspielungen, verschlüsselten Bemerkungen, Metaphern und Träumen, Ahnungen, Einfällen und Anekdoten den Text durchsetzt. Heine formuliert zwei wichtige Merkmale seiner politisierten Reiseliteratur: Einmal enthalte sie keine Systematie, sondern die .Assoziazion der Ideen; und zum andern eigne ihr neben dem exoterischen Sinn, der Darstellung von Äußerem und Sichtbarem, ein esoterischer Sinn, der nur dem eingeweihten Leser erkennbar sei. Dem Appellcharakter der Texte entsprechend, wenden sich die Verfasser von Reiseberichten also besonders an solche Leser, die unter die Oberfläche zu blicken, zwischen den Zeilen zu lesen und die den politischer Kern der Aussage zu erkennen vermögen. Es liegt in der Natur dieser flexiblen, locker strukturierten Gattung, dass in ihr das Verhältnis zwischen Reiseelement und Ideenelement variabel ist, bald das eine, bald das andere mehr in den Vordergrund tritt. Heinrich Heine ist auch der erste bekannte Autor, der für das Thema 'das literarische Helgoland eine Rolle spielt. Seine ,,Helgoländer Briefe aus dem Jahr 1830, die der Autor zunächst vermutlich im Oktober desselben Jahres separat veröffentlichen wollte, dann aber erst 1840 seiner Polemik gegen Ludwig Börne. Eine Denkschrift einfügte, sind - zumindest in ihrer ersten Version in Form von Notizen, Vorstufen und Entwürfen - auf Helgoland entstanden, wo Heine sich im Sommer 1829 und dann noch einmal von Ende Juni bis Mitte August 1830 aufhielt. Im Mittelpunkt dieser sieben fiktiven Briefe steht Heines begeisterter, in autobiographischer Form gehaltener Bericht über die französische Juli-Revolution, von deren Ausbruch er auf Helgoland hörte. Sie zeigen seine intensive Anteilnahme an den revolutionären Bewegungen in Paris und wenden sich in-direkt an das in politischem Schlaf ruhende Deutschland. Heines Bericht bildet - in Hinblick auf weitere Literarisierungen der Insel anderer Autoren - die programmatische Verbindung Helgolands mit politisch-utopischer Zielsetzung. Heinrich Laube bezeichnet diese Briefe als .Freiheitshymnen aus Helgoland. Ludolf Wienbarg berichtet: Der Ausbruch der Julirevolution warf Heine aus seiner mißmüthigen, unproductiven Stimmung in eine fieberhafte Aufregung; er fühlte, daß sie auch in seinem Leben einen bedeutsamen Ab- schnitt bilden würde. Das eben geschah auf Helgoland. In Thematik, politischer Einstellung, Stil und Komposition - der Mischung aus Briefen, Tagebuchnotizen, subjektiven Beobachtungen und objektiver Historiographie- zeigen die ,,Helgoländer Briefe enge Parallelen mit Heines Reisebildern, ins- besondere mit dem Prosatext der Nordsee, der ursprünglich ebenfalls in Form von Briefen geschrieben werden sollte. Für alle seine die Nordsee thematisierenden Texte, die beiden lyrischen Zyklen Die Nordsee, Die Nordsee. Dritte Abteilung in Prosa und die ,,Helgoländer Briefe, gilt Heines Bekenntnis: Ich liebe das Meer, wie meine Seele. Einige Passagen der ,,Helgoländer Briefe sind eine fast wörtliche Umsetzung jener Stimmung, die Heine schon in der Prosa-Nordsee formuliert hatte. Dort heißt es: Gar besonders wunderbar wird mir zu Muthe, wenn ich allein in der Dämmerung am Strande wandle, - hinter mir flache Dühnen, vor mir das wogende, unermeßliche Meer, über mir der Himmel wie eine riesige Kristallkuppel - ich erscheine mir dann selbst sehr ameisenklein, und dennoch dehnt sich meine Seele so weltenweit. Die hohe Einfachheit der Natur, wie sie mich hier umgiebt, zähmt und erhebt mich zu gleicher Zeit, und zwar in stärkerem Grade als jemals eine andere erhabene Umgebung. Nie war mir ein Dom groß genug; meine Seele mit ihrem alten Titanengebet strebte immer höher als die gothischen Pfeiler und wollte immer hinausbrechen durch das Dach. Hier, in den ,,Helgoländer Briefen: Ich wandelte einsam am Strand in der Abenddämmerung. Ringsum herrschte feyerliche Stille. Der hochgewölbte Himmel glich der Kuppel einer gothischen Kirche. Wie unzählige Lampen hingen darin die Sterne; aber sie brannten düster und zitternd. Wie eine Wasserorgel rauschten die Meereswellen; stürmische Choräle, schmerzlich, verzweiflungsvoll, jedoch mitunter auch triumphirend. Ueber mir ein luftiger Zug von weißen Wolkenbildern, die wie Mönche aussahen, alle gebeugten Hauptes und kummervollen Blickes dahinziehend, eine traurige Prozession [ ... ). Es sah fast aus als ob sie einer Leiche folgten. [ ... ).Wer wird begraben? Wer ist gestorben? sprach ich zu mir selber. Ist der große Pan todt?. Weitere Bemerkungen über Helgoland, das Inselklima, den Meeresstrand, das Spiel der Wellen in Analogie zum gesellschaftlichem Leben - Auch die Menschheit bewegt sich nach den Gesetzen von Ebb und Fluth17-, über sei-ne Nachbarn, seinen Hauswirt, über den englischen Gouverneur und über die Rückfahrt nach Cuxhaven bilden Folie und Auslöser für Heines Reflexionen über seine Lektüre und fuhren ihn immer wieder zu dem Thema der Revolution. Obwohl es Heine ,,hinlänglich fatal ist, daß die Insel Helgoland unter brittischer Herrschaft steht, fühlt er sich hier freier als in seiner Heimat, auch wenn der Inselaufenthalt nicht von Dauer sein kann: Wenn ich nur wüßte, wo ich jetzt mein Haupt niederlegen kann. In Deutschland ist es unmöglich. Jeden Augenblick würde ein Polizeydiener herankommen und mich rütteln, um zu erproben, ob ich wirklich schlafe. Dass die Gedanken an Revolution und Freiheit mehr hervortreten als die Schilderungen der Insel, erklärt sich vermutlich aus der Tatsache, dass Heine mit dem Thema Nordsee schon in seinen drei gleichnamigen Reisebildern detailliert und nuancenreich experimentiert hatte, so dass er jetzt Wiederholungen zu vermeiden suchte. In Ludolf Wienbargs Tagebuch von Helgoland tritt das Lokalkolorit der Insel und ihrer Bewohner sowie ihrer Geschichte dagegen stärker in den Vordergrund. Die zitierte Episode über die Bootsfahrt zur Badedüne hat die Nähe zu den Reiseführern und doch zugleich den ganz anderen, eigenständigen literarischen Charakter von Wienbargs Text gezeigt. Die Reiseführer geben Zustandsberichte über die gegenwärtige Lage auf der Insel, sie sind auf den expandierenden Fremdenverkehr, die wichtigste Einnahmequelle des modernen Helgoland, abgestimmt, sie beschreiben das Ritual der Badekuren und unter- richten über deren medizinischen Nutzen. Im sich etablierenden Baederkerstil - Karl Baedekers Reisehandbücher erschienen seit 1839 - bringen sie Daten, Fakten und Statistiken. Wienbarg dagegen wandelt den statischen Stil in einen dynamischen. Unter dem Spannungsverhältnis des Früher mit dem Jetzt gerät der naiv-optimistische Ton der Reiseführer oft zu einem skeptischen und kulturkritischen, zu reflektierter Nachdenklichkeit. Wienbarg bietet eine Art Psychogramm von Helgoland und seinen Bewohnern. Die Verschönerungen Helgolands als Badeortes, von Reisehandbuchverfassern gepriesen, sind für ihn fast lauter Eingriffe in das Helgoland der Fischer und Lootsen. Wären die Helgolander nicht zum Theil aus ihrem natürlichen Element herausgerissen, dann würde es mich nur wenige markige Striche kosten, ihre Figur als natürliche Staffage des einsamen, meerumrauschten Felsens hinzuwerfen Mit der Suggestion dieses vermeintlich noch immer 'natürlichen Zustands der Insel verharmlosen so manche Poeten in Lyrik und Prosa den Zustand Helgolands zu einer konfliktfreien heilen Welt. Es existiert ein Gartenlaube- und Anthologien-Helgoland, das im Zuge der europäischen Entdeckung des Meeres und seiner Küsten seit dem 18. Jahrhundert21 mit der Wirklichkeit oft nur die Oberfläche gemeinsam hat, ein Pendant zu den pittoresken Illustrationen der im Alltagsleben nicht mehr getragenen Helgoländer Trachten und den eintönigen 'Seestücken in der Genremalerei. Wienbarg revidiert solches Schein-Bild: Aber diese Kontinentalsperre, diese Badeanstalt mit ihren verwirrenden demoralisirenden Einflüssen, sie äffen jeden reinen natürlichen Ansatz und umgaukeln des Zeichners Auge mit fratzenhaften Einzelheiten. Beide, die Kontinentalsperre und die Badeanstalt haben einen Riß in diese kleine Gesellschaft gebracht, der nach allen Seiten hin weiter klafft und die Grundfeste ihres Lebens mit noch früherer Zersplitterung und Auflösung heimzusuchen droht, als solche über ihre Felsen verhängt zu sein scheint. Hoffe und wünsche ich freilich, daß das Schicksal festere Klammern, wie für den Stein, so für die Herzen aufbewahrte, muss ich doch für letztere eine große Bedingung an die Regenerazion und Befestigung eines sittlich naturgemäßen Daseins knüpfen, nämlich die, daß die Badeanstalt entweder aufhört oder mindestens ein stärkeres Gegengewicht an der Schiffahrt und an dem Lootsenwesen erhält. Die Helgolander selbst, ich meine die ächten Helgolander, haben das tiefste Gefühl dieser Nothwendigkeit. Aechten Helgolandern mißfällt dieses fremde Treiben, dieser unseemännische Verdienst im Innersten ihrer Seele. Fragt den braven Lootsen, der euch zum Baden hinüberrudert nach der Sandinsel, welchen Verdienst er vorzieht, diesen gefahrlosen, sicheren, lustigen, horchenden, gesellschaftlich unterhaltenden, oder den Dienst im Sturm, wenn er mit der Barke an das Signal gebende Schiff fliegen muß. Jenes, sage ich euch, dünkt ihn Galeerensklavenarbeit, in Vergleich mit diesem, worin er einzig das Geschäft eines edlen stolzen Helgolanders sieht. Längere Auslassungen über das wechselhafte Schicksal Helgolands, das er als eine Geschichte der Ueberraschungen versteht - infolge der Christianisierung durch Missionare, die bald wieder verschwanden, infolge kurzfristigen Wohlstands durch Heringsschwärme im Mittelalter, länger anhaltendes Piratentum, Überraschungen infolge der Besetzung der Insel durch Dänemark zu Beginn des 18. und durch Großbritannien zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als Helgoland infolge der Kontinentalsperre ein wichtiger Umschlagplatz für den englischen Schleichhandel mit dem Festland bildete -, münden in die Behauptung, selbst der Umgang mit Piraten wäre den Helgolandern zusäglicher, als die Vermischung mit den Kurgästen. Haben ihre Vorfahren einst mit Klaus Startobecker, Wiben Peter und wie die langbärtigen wilden Gesellen alle hießen, Kameradschaft getrunken und feiernd lustige Nächte bei Würfelspiel und Becher verschweIgt, so behaupte ich, diese edle Kameradschaft war weniger im Stande, sie zu ruiniren und in ihren natürlichen Grundfesten zu erschüttern, als das rouge et noir der heutigen Bank und die Berührung mit er fashionablen Gesellschaft des Conti-nents [ ... ] Obwohl Wienbarg als betont 'moderner Schriftsteller im Sinne des Jungen Deutschland agierte und 1834 in einer hitzig diskutierten Schrift sich für die 'Ausrottung der plattdeutschen Sprache ausgesprochen hatte - das Plattdeutsche benachteilige ihre Sprecher im modernen Lebensprozess -, lässt er im Tagebuch von Helgoland keine Gelegenheit aus, die mythische Vorstellung von der einstigen Größe der Insel als Rest des versunkenen Atlantis zu verteidigen. Die Annahme solcher geschichtlichen Herkunft war gerade kurz vorher energisch bestritten worden. Wienbarg erwägt die Wahrscheinlichkeit des alten Sagenhelgolands und meint auch heute noch Nachwirkungen davon zu spüren. Der offenkundige Widerspruch zwischen der sonst modern - aufklärerischen, kritischen Einstellung Wienbargs und seinen fortschritts-skeptischen, am Alten hängenden Äußerungen im Tagebuch resultiert aus der persönlichen Situation des Autors, die allerdings zugleich eine allgemein-politische ist: Nach dem Verbot der Schriften des Jungen Deutschland und damit auch denjenigen von Wienbarg, der ja mit seinen Ästhetischen Feldzügen dieser Gruppe von oppositionellen Schriftstellern den Namen gab, durch den Deutschen Bundestag in im Dezember 1835, wurde Wienbarg aus Frankfurt ausgewiesen. Er suchte nach mehreren Stationen in anderen deutschen Städten Helgoland als Exil auf und lebte dort bis zum Herbst 1836 Im Vorwort seines zwei Jahre später veröffentlichten Tage-buchs von Helgoland spricht er von seiner Flucht dorthin, um sich dem Gefühle der Ohnmacht und eines ohnmächtigen Grolles, das den freien Flug meiner Seele zu vernichten droht, zu entreißen. Ich suche eine Handweit Erde außer dem festen und gefesteten Europa, eine Lagerstätte unter den Menschen der fluthenden Wildniß, den Sturm, der allmählig schrillend die trägen Wellen vor sich aufrollt, vor allen Dingen die stürzende Brandung, die mich von dem Athen der Verhaßten reinigen wird. Solchen Freiraum findet er auf Helgoland, das zu dieser Zeit außerhalb des Machtbereichs des Deutschen Bundes liegt und auch unter der gegenwärtigen englischer Verwaltung ein wenig kontrolliertes Territorium bildet. Nur da, wo Englands stolze Flagge weht, kannst du ruhig dein Haupt niederlegen. Helgoland bedeutet für den politisch ausgewiesenen Literaten Wienbarg also eine Idylle der Freiheit im ursprünglichen Verständnis der Idylle als eines positiven Gegenbildes zur negativ erfahrenen Wirklichkeit. Diese persönliche Situation notiert er in seinem Tagebuch; da er das Tagebuch aber veröffentlicht und sich mit ihm an eine breiteres Publikum wendet, wird die subjektiv erlebte Situation politischer Unterdrückung eine intersubjektive, öffentliche. Wer zwischen den Zeilen zu lesen versteht, kann von dem Verfasser Wienbarg abstrahieren, seine vorgetragenen Ansichten verallgemeinern und sie im Sinne eines zeitkritischen Dokuments verstehen. Oder - um mit Heine zu sprechen - neben und hinter der exoterischen Lesart, die der Oberfläche und der äußeren Lage der Insel gilt, lässt sich eine esoterische Lesart ausmachen, die zumindest einigen Schilderungen des Inselllebens einen tieferen, geheimen Sinn gibt, ihnen allegorischen Charakter verleiht. Man könnte sie mit Karl Gutzkow als Ideenschmuggel bezeichnen. Wienbarg gibt den Schlüssel zu solcher subversiven Lesart programmatisch im Vorwort: Der Felsen von Helgoland soll meine Schweizer Alpe sein, eine Fischerhütte meine Sennhütte, das Meer mit dem springenden Delfin mein Hirtenthal. In der Literatur seit dem 18. Jahrhundert gilt die Schweiz mit Albrecht von Hallers Lehrgedicht Die Alpen (1729), Salomon Gessners Idyllen (1756) und Friedrich Schillers Wilhelm Tell (1804) nicht nur als archaische Idylle von Frieden, Freiheit und Demokratie, sondern trägt im Sinne eines Wunsch- und Vorbilds auch in die Zukunft weisende utopisch- gesellschaftskritische Dimension: Glück, Harmonie und Frieden des vergangenen 'Goldenen Zeitalters sollen in der kriegerisch-dynastischen Gegenwart und in einer besseren Zukunft mittels der Literatur wieder belebt werden. Wenn Wienbarg in dieser utopischen Bedeutung die Schweiz mit Helgoland gleichsetzt, muss auch dieser Insel eine utopische Konnotation innewohnen, denn lediglich in topographischer Hinsicht wäre solche Gleichsetzung sinn-los. Und tatsächlich enthält auch das oft realisierte Motiv der poetischen In-sel, etwa in Form von Robinsonaden, - man denke an Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg (1731), an Friedrich Leopold zu Stolbergs Die Insel (1788), an Wilhelm Heinses Ardinghello (1787) - ein starkes Maß an Gesellschaftskritik. Die Insel bietet dem dorthin sich Begehenden Zuflucht und ermöglicht ihm, in der Abgeschiedenheit eine vorbildliche Gesellschaftsordnung zu verwirklichen, die sich als Korrektur zu den Missständen auf dem Festland, denen er entflohen ist, erweist. Indem Wienbarg beide literarische Traditionen aufgreift, Idylle und Insel, diese kombiniert und mit der konkreten Insel Helgoland verbindet, erhält Helgoland in seinem öffentlichen Tagebuch neben der Darstellung des tatsächlichen Zustands eine utopisch-kritische Komponente. Sie symbolisiert die Idee der ersehnten Freiheit und macht gleichzeitig die Konflikte der gegenwärtigen politischen Wirklichkeit modellhaft in dem begrenzten, über- schaubaren und abgehobenen Gegen-Raum transparent. Es kennzeichnet die literarische Qualität Wienbargs, daß er nicht auf dem Niveau der Familienblatt-Autoren eine kitschige Inselbeschreibung liefert, sondern das Spannungsverhältnis von Utopie und Realität in seinen Konflikten skizziert und damit eben eine Idee von einem besseren Zustand entwirft, die auf dem gegenwärtigen basiert. Die Geschichte der Ueberraschungen, denen die Helgoländer ausgesetzt sind, erweckt gleichzeitig Assoziationen an die Verfahrensweisen der dynastischen Machtpolitik Europas und speziell der Metternichschen Ära, die die einzelnen Völkern und Individuen als sie überraschende Willkür erfahren. Der labile Charakter der gesamtgesellschaftlichen Umbruchsituation kommt auch darin zum Ausdruck, dass die alte Zeit mit Piratentum und Aberglauben nicht nur in ihren negativen Auswirkungen gesehen und dem-entsprechend die moderne mit Spielkasino und gesellschaftlicher Umschichtung nicht wie sonst oft üblich als Errungenschaft und Fortschritt gepriesen wird. Eine Patentlösung wird nicht angeboten. Unter dem Motto Die Poesie und die Freiheit suchen die Inseln und Küsten der Meere er-kennt Wienbarg in Gewerbe, Fischerei und Lotsentätigkeit, die die Helgoländer vereinigt in Compagnien betreiben, die nach festen Regeln Arbeit und Verdienst unter ihre Mitglieder theilten, eine vor- bildliche wahrhaft republikanische Einrichtung, welche den vereinzelten Egoismus unterdrückte, den kleinen Staat auf lebendig verschlungenen Pfeilern emporhielt [..]. Betrügen wir uns untereinander, so betrügen wir uns selbst, diese Wahrheit prägte das kleinste Nachdenken in die Köpfe. In solchem republikähnlichen Zustand möchte Wienbarg Helgoland gegenwärtig noch in den Händen Großbritanniens sehen, auch wenn er die aus der unklar definierten Kompetenzen des britischen Gouverneurs resultierende .Rechtsunsicherheit kritisiert, er rechnet sich aber Chancen zu einer deutschen Zukunft aus. Chancen für eine friedliche deutsche Zukunft, denn - so äußert er prophetisch – besäße Helgoland einen Hafen, wo Kriegsschiffe vor Anker gehen könnten, dann würde jede Flagge, die von Helgoland wehte, stolz und verächtlich auf ihre Gegnerin herabsehen dürfen: Helgoland wäre das Malta der Nordsee. Auch in den 1840 erschienenen Briefen über Helgoland von Theodor von Kobbe, einem damals nicht unbekannten Autor kritischer und satirischer Schriften, Dramen und Reisebeschreibungen, wird Helgoland zu einem poetischen Ort der Unschuld stilisiert - .Ich fühle mich in der That hier unschuldiger als auf dem festen Lande - und zugleich in die Nähe des revolutionären Paris gerückt. Politisch-oppositionellen Charakter trägt ebenso der Aufenthalt August Heinrich Hoffmanns von Fallersleben auf Helgoland wie sein bekanntes Lied der Deutschen, die spätere Nationalhymne. Hoffmann von Fallersleben, Professor der Germanistik, Volkskundler und lyrischer Dichter, war seit 1830 als heftiger Kritiker der deutschen Restauration in der Öffentlichkeit aufgetreten. Empört über die Amtsentsetzung der 'Göttinger Sieben', jener sieben Professoren, die 1837 gegen den Verfassungsbruch des hannoverschen Königs protestiert hatten, hatte er ein polemisches Gedicht veröffentlicht. Im Schweizer Parteienkampf er-griff er 1839 entschieden für die Liberalen Partei. 1840 und 1841 ließ er im Zuge der patriotisch-liberalen Hoffnungen nach der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. seine sogenannten Unpolitischen Lieder erscheinen, eine Sammlung politisch-kritischer Zeit- gedichte mit Angriffen gegen Aristokratie, Regierung und Polizei, gegen Zensur und Frömmlertum. Sie gehören zu den erbittertsten Texten der oppositionellen Vormärzlyrik. Ihres politischen Zündstoffs wegen wurde er seines Professorenamtes enthoben und unter polizeiliche Aufsicht gestellt. 1841 flieht Hoffmann von Fallersleben - und das verbindet ihn mit Wienbarg - vor der preußischen Obrigkeit nach Helgoland, wo er zu seinem bekannten Lied inspiriert wurde. In der Intention seines Verfassers und im zeitgenössischen Sinnhorizont ist das Lied ein systemkritischer Appell. Deutschland kann dann über alles in der Bedeutung von 'mehr als alles in der Welt geliebt werden, wenn seine einzelnen Territorien, die zur Entstehungszeit des Liedes ja nur als lockerer Staatenbund monarchischer Prägung existieren, brüderlich, das heißt im Sinne der revolutionären `Fratemite´, zusammenhalten. Der Blick ist al-so in die politische Zukunft gerichtet, in der die künftigen Teile eines vereinten Deutschlands und dessen Bewohner brüderlich, als Angehörige mit gleichen Rechten im Gegensatz zu der jetzt herrschenden ständischen Gliederung vor- gestellt werden. In diesen Zeilen spricht sich also der Wunsch nach Einigung und Demokratie aus. Die geographische Grenzziehung, die heute anmaßend wirken würde, entsprach um 1840 der des Deutschen Bundes. Die in der dritten Strophe aufgenommen Schlagwörter waren 1841 aktuell und konkret auslegbar, Sie entfalten in nuce das gesamte Programm des zeitgenössischen Liberalismus. Einigkeit meint das erwünschte ganze deutsche Reich, Recht zieht auf die ge-forderte Konstitution, auf die Garantie der Menschenrecht gegen Polizeiwillkür und auf Gleichheit vor dem Gesetz, denn noch galten verschiedene Rechtsnormen und Strafmaße für Adelige und Bürger. Auch die Forderung nach Geschworenengerichten statt der üblichen schriftlichen Geheimjustiz des Absolutismus ist mitgemeint. Und in Freiheit spricht sich der Wunsch aus, die bis da-hin geltenden ständischen Privilegien durch Volkssouveränität zu ersetzen, verbunden mit der Forderung nach Rede-, Presse- und Glaubensfreiheit. Diese Programmpunkte sind das Erbe der Französischen Revolution: .Liberte, Egalite, Fratemite. Auch Glück steht in der Tradition der 'felicite publique der Aufklärer; und das 'Blühen des Vaterlands wendet sich gegen die gewohnte Vorstellung, dass der Monarch das Glück verleihe. Somit ergibt sich: Das Lied der Deutschen [ ... ] kann wohl nur als republikanische Demonstration gegen die österreichische Kaiserhymne gedeutet werden, auf deren Melodie es von vornherein gedichtet und die dem Erstdruck vorangestellt war. Die Kontrafaktur korrigiert damit den Typ der Fürstenhymne überhaupt, verzichtet ostentativ auf ein gekröntes Haupt der Deutschen. Heine, Wienbarg, Kobbe und Hoffmann von Fallersleben rücken in ihren utopischen Zielen und Idealen, revolutionärer, republikanischer und demokratischer Provenienz zusammen. Helgoland inspiriert sie gemeinsam zu politischen Hoffnungen, und Helgoland erscheint in ihren Dichtungen als utopisch- idyllische Örtlichkeit alternativer Möglichkeiten, als Insel der Freiheit. Diese utopische Dimension Helgolands war möglich, weil die Insel vor der Küste des Deutschen Bundes leicht zugänglich und dennoch politisch nicht integriert war. In der späteren Zeit sind zwei parallele Prozesse zu verfolgen: Das Lied der Deutschland büßt nach der Reichsgründung von 1871 und verstärkt im Zuge der folgenden imperialistischen Expansionspolitik seine utopischen Züge ein und wird als Apologie des jetzt bestehenden Deutschen Reichs aufgefasst. Über alles liest man nicht mehr als Adverb zu 'lieben', sondern als Präposition zu 'herrschen': über alles herrschen. Und ebenso verliert der Herkunftsort des Liedes, Helgoland, mit seiner 1890 erfolgten Einverleibung in das Deutsche Reich im Tausch gegen die Anerkennung der englischen Kolonialherrschaft über Sansibar seine alternativen und freiheitlichen Züge utopischer Sinngebung, um nach seiner Besitzergreifung durch Kaiser Wilhelm II. zur Apologie des Wilhelminischen Kaiserreichs stilisiert zu werden. Auf Helgoland wird die Symbiose von Wilhelm II. und August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, den man vom Kritiker deutscher Verhältnisse zum Apologeten des Reichs erhebt, durch zwei Denkmäler verewigt. Die Reihenfolge ihrer Enthüllungen zeigt die Priorität an: zuerst wird ein Kaiserstein enthüllt, einige Tage danach das Dichterdenkmal. Helgoland, jetzt Markstein deutscher Ehre, wird als künftiges Bollwerk für die deutsche Flotte vorbereitet. Am 10. August 1890, dem Tag der Besitzergreifung, ziehen - wie es in der Hymne Deutsche Besitzergreifung Helgolands und der Kaisertag heißt - Tausende von .Seesoldaten - ,,Präsentierend, Reih an Reih , Mit dem Blick auf ihren Kaiser Im Parademarsch vorbei. Wie sie stramm dahin marschieren Auf den Feldern Schritt für Schritt, Rings der Felsengrund erhebet Unter ihrer Füße Tritt. Welch ein Anblick für die Friesen, Die verwundert schauen hin! Ein Beweis von deutscher Ordnung, Deutscher Kraft und Disziplin. Die `verwunderten und sicher auch eingeschüchterten Friesen müssen erleben, wie ihre einstige Freiheit deutscher Disziplin untergeordnet und ihre Insel - im wörtlichen Sinne - zur Festung wird. Der Verfasser der genannten Hymne formuliert es so: Welch ein Eilen, welch ein Jagen Geht durch unsern stillen Ort? Welch ein Hasten, welch Gedränge Reißt die Menschen mit sich fort? Pulverfässer durch die Straßen Rollen schnell von Hand zu Hand Und Kanonen senkt man nieder An der steilen Felsenwand. Gemäß dem bei der Besitzergreifung gesprochenen Kaiserwort, dass Helgoland ein Schutz und Hort sein sollte, wenn Feinde in die Nordsee eindringen, wurde bald mit dem Ausbau eines Teiles des Oberlandes zur Festung begonnen. Man errichtete dort mächtige, mit Geschützen schweren Kalibers armierte Panzertürme und Mörserbatterien mit Kasematten, zu deren Bedienung eine Kompagnie der dritten Matrosenartillerieabteilung abkommandiert wurde. Ein Tunnel wurde zur militärischen Verbindung zwischen Unter- und Oberland in den Felsen gesprengt. In den Jahren 1907 bis 1918 entstand vor der Südspitze ein riesiger Kriegshafen. Vor dem Krieg fanden auf Helgoland jährlich Schießübungen der Marine statt. Am 1. August 1914 musste die Helgoländer Bevölkerung - etwa 2300 Personen - die Insel innerhalb 24 Stunden verlassen - erst vier Jahre später durfte sie zurückkehren. Auf der Insel war unterdessen eine 4000 Mann starke Besatzung stationiert, bestehend aus sechs Kompanien Matrosenartillerie, Infanterie, Pionieren, Seefliegern und anderen Spezialtruppen. Der Versailler Vertrag forderte die Zerstörung der Befestigungen, militärischen Anlagen und Häfen. Jedoch wurde Helgoland 1935 erneut militärisch ausgebaut und die Düne künstlich zur Anlage eines Flugplatzes vergrößert. 1945 vernichtete ein britischer Bombenangriff den Ort vollständig. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die britische Admiralität die Besatzungsgewalt ausübte, wurde die Bevölkerung erneut zwangsweise evakuiert. Die Insel diente der britischen Luftwaffe zunächst als Übungsziel und sollte 1947 völlig vernichtet werden. Jedoch wurden nur der U-Boot-Bunker und die Festungswerke zerstört, so dass die Bevölkerung 1952, als Helgoland wieder der deutschen Gebietshoheit unterstellt wurde, zurückkehren konnte und man mit dem Wiederaufbau begann. Bald schon florierte das Seebad wieder. Ein literarisches Helgoland aber entwickelte sich seit 1890 nicht mehr. Mit der Freiheit war auch die Dichtung dahin, zumal solche utopischen Charaktere in Form von literarischen Reiseberichten und politischer Lyrik. Sie wurde abgelöst durch eine lautstarke und dröhnende apologetische Literatur: Hymnische Beschreibungen und nationalpatriotische Lyrik im Stil der zitierten Beispiele wurden in Familienblättern, Anthologien, Festschriften und Heimatbüchern40 veröffentlicht. Der illustrierte Prachtband Das deutsche Helgoland erschien 1913 zum 25jährigen Regierungs-Jubiläum des Deutschen Kaisers Wilhelm II. und verzeichnet in seiner Chronik die fast jährlichen Besuche der Kaiserlichen Majestät und seiner Familie, die Bildung von patriotischen Vereinen, die ersten Freiwilligen, die sich zum Militär und zur Marine melden - denn die vor dem 10. August 1890 geborene Bevölkerung war von der deutschen Militärpflicht befreit -, die Geburt des ersten Rekruten, am 13. August dieses Jahres sowie später die Fertigstellung eines Polizeigefängnisses. Was Ludolf Wienbarg, den Hebbel als den Genius des Eilands bezeichnete, 1838 vorausgesagt hatte, daß Helgoland, besäße es einen Kriegshafen, das Malta der Nordsee wäre, war eingetreten. Und was Adolf Lipsius, Verfasser einer Inselbeschreibung kurz nach der deutschen Einverleibung prophezeite: Wenn die Helgoländer erst einmal in die Armee eintreten müssen, in die Welt ziehen und mit anderen Anschauungen, anderen Gewohnheiten zurückkehren, dann wird wohl auch der letzte Rest an Eigenartigkeit dahin gehen, hat sich vielleicht nicht für den Fremdenverkehr wohl aber für die Literatur bewahrheitet. Du besonderes Flair ist dahin. Helgoland wird wohl gelegentlich in literarischen Texten erwähnt oder bildet deren Schauplatz, aber eine utopische Helgoland - Literatur hat aufgehört zu existieren. So lange Helgoland das Fremde war, ging eine innovierende Kraft in kultureller und politischer Hinsicht von ihm aus; seit seiner politischen und kulturellen Integration in das Eigene ist diese produktive Differenz verschwunden.