Plenarprotokoll 14/233

Deutscher

Stenographischer Bericht

233. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Inhalt:

Erweiterung und Änderung der Ta- Gerhard Schröder, Bundeskanzler ...... 23113 B gesordnung 23111 A, 23112 B Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident (Bayern) 23117 B Absetzung der Tagesordnungspunkte 6, 20 Joseph Fischer, Bundesminister AA ...... 23121 B (ohne 20 c) und 26 ...... 23112 B Dr. FDP ...... 23124 B Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 23112 C Dr. Peter Struck SPD ...... 23125 A Begrüßung des Präsidenten des Parlaments der Republik Estland, Herrn Dr. Toomas (Wiesloch) SPD ...... 23127 A Savi, und seiner Delegation ...... 23112 D Christa Nickels BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 23127 C Tagesordnungspunkt 3: Dr. BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 23128 A Abgabe einer Regierungserklärung zur Lage im Nahen Osten ...... 23113 A PDS ...... 23129 C Christoph Moosbauer SPD ...... 23130 C in Verbindung mit CDU/CSU ...... 23132 C Kerstin Müller (Köln) BÜNDNIS 90/ Zusatztagesordnungspunkt 2: DIE GRÜNEN ...... 23134 A Antrag der Abgeordneten Volker Rühe, Dr. Wolfgang Gerhardt FDP ...... 23135 D Karl Lamers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Eine deutli- Wolfgang Gehrcke PDS ...... 23136 D che gemeinsame europäische Position Hans-Ulrich Klose SPD ...... 23138 B für eine gerechte Friedenslösung im Na- hen Osten Joachim Hörster CDU/CSU ...... 23139 D (Drucksache 14/8862) ...... 23113 A Günter Gloser SPD ...... 23140 D Dr. Friedbert Pflüger CDU/CSU ...... in Verbindung mit 23142 B (Meschede) SPD ...... 23143 A

Zusatztagesordnungspunkt 3: Tagesordnungspunkt 17: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der a) Antrag der Abgeordneten Volker Rühe, Abgeordneten Petra Bläss, Dr. Heinrich Dr. Karl-Heinz Hornhues, weiterer Fink, weiterer Abgeordneter und der Frak- Abgeordneter und der Fraktion der tion der PDS: Die Gewaltspirale im Na- CDU/CSU sowie der Abgeordneten hen Osten beenden Dr. , Dr. Klaus (Drucksachen 14/8271, 14/8877) ...... 23113 A Kinkel, Dr. und der II Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. , Donnerstag, den 25. April 2002

Fraktion der FDP: Die zweite Runde c) Erste Beratung des von der Bundes- der NATO-Erweiterung auch als Bei- regierung eingebrachten Entwurfs eines trag zur Stabilisierung Südosteuro- Gesetzes zu dem Protokoll vom pas konzipieren 30. November 2000 zur Änderung des (Drucksache 14/8835) ...... 23143 D Europol-Übereinkommens b) Antrag der Fraktionen der SPD und des (Drucksache 14/8709) ...... 23158 B BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Die d) Erste Beratung des von der Bundes- NATO vor der Erweiterung regierung eingebrachten Entwurfs eines (Drucksache 14/8861) ...... 23144 A Gesetzes zu dem Europäischen Über- Christian Schmidt (Fürth) CDU/CSU ...... 23144 A einkommen vom 16. Januar 1992 Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten zum Schutz des archäologischen Er- CDU/CSU ...... 23144 C bes (Drucksache 14/8710) ...... 23158 B Dieter Schloten SPD ...... 23146 A Dr. Werner Hoyer FDP ...... 23148 A e) Erste Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines Rita Grießhaber BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 23149 C Zweiten Gesetzes zur Änderung des Wolfgang Gehrcke PDS ...... 23150 C Sprengstoffgesetzes und anderer Joseph Fischer, Bundesminister AA ...... 23151 D Vorschriften (2. SprengÄndG) (Drucksache 14/8771) ...... 23158 B Dr. Karl A. Lamers () CDU/CSU 23153 C Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten f) Erste Beratung des von der Bundes- CDU/CSU ...... 23154 A regierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung der SPD ...... 23155 B Gewerbeordnung und sonstiger ge- Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten werberechtlicher Vorschriften CDU/CSU ...... 23155 D (Drucksache 14/8796) ...... 23158 B Überweisung ...... 23161 C g) Antrag der Abgeordneten Petra Bläss, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der PDS: Kon- Tagesordnungspunkt 34: krete Schritte gegen die Bedrohung Überweisungen im vereinfachten Ver- durch biologische Waffen fahren (Drucksache 14/8698) ...... 23158 C a) Erste Beratung des von den Abgeordne- h) Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach, ten Harald Friese, Anni Brandt- , weiterer Abgeordneter Elsweier, weiteren Abgeordneten und und der Fraktion der FDP: Förderung der Fraktion der SPD, den Abgeordne- der Energiespeicherforschung ten , , (Drucksache 14/5576) ...... 23158 C weiteren Abgeordneten und der Frak- tion der CDU/CSU, den Abgeordneten i) Antrag des Bundesministeriums der Irmingard Schewe-Gerigk, Finanzen: Entlastung der Bundes- (Köln), weiteren Abgeordneten und der regierung für das Haushaltsjahr Fraktion des BÜNDNISSES 90/ 2001 – Vorlage der Haushaltsrech- DIE GRÜNEN sowie den Abgeordne- nung und Vermögensrechnung des ten Ina Lenke, Dr. , Bundes (Jahresrechnung 2001) Dr. Wolfgang Gerhardt und der Frak- (Drucksache 14/8729) ...... 23158 D tion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung anony- in Verbindung mit mer Geburten (Drucksache 14/8856) ...... 23157 D b) Erste Beratung des von den Abgeord- Tagesordnungspunkt 20: neten , Hermann Bachmaier, weiteren Abgeordneten und c) Antrag der Abgeordneten Hartmut der Fraktion der SPD sowie den Ab- Schauerte, Dagmar Wöhrl, weiterer Ab- geordneten Dr. Antje Vollmer, Kerstin geordneter und der Fraktion der Müller (Köln), Rezzo Schlauch und der CDU/CSU: Fairen Wettbewerb im Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE Strom- und Gasmarkt effektiv und GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines effizient sichern Gesetzes zur Regelung der Preisbin- (Drucksache 14/7614) ...... 23158 D dung bei Verlagserzeugnissen (Drucksache 14/8854) ...... 23158 A in Verbindung mit Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 III

Zusatztagesordnungspunkt 4: der Rechtsakte der Europäischen Ge- meinschaft über die Etikettierung Weitere Überweisungen im vereinfach- von Fischen und Fischereierzeugnissen ten Verfahren (Ergänzung zu TOP 34) (Fischetikettierungsgesetz) (Drucksachen 14/7726, 14/8196, 14/8810) 23160 A a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜND- d) Zweite und dritte Beratung des von der NISSES 90/DIE GRÜNEN und der Bundesregierung eingebrachten Ent- FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge- wurfs eines Ersten Gesetzes zur Än- setzes zur Änderung des Grundgeset- derung des Gesetzes über den Aus- zes (Staatsziel Tierschutz) wärtigen Dienst (GAD) (Drucksache 14/8860) ...... 23158 D (Drucksachen 14/8225, 14/8833) . . . . 23160 B b) Antrag der Fraktionen der SPD und e) Zweite und dritte Beratung des von der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Bundesregierung eingebrachten Ent- Fortentwicklung der sozialen Pflege- wurfs eines Siebten Gesetzes zur versicherung Änderung des Bundes-Immissions- (Drucksache 14/8864) ...... 23159 A schutzgesetzes (Drucksachen 14/8450, 14/8895) . . . . 23160 C c) Antrag der Abgeordneten Dr. Peter Paziorek, , weiterer f) – j) Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Kein Emissionszertifikate- Beschlussempfehlungen des Petitions- handel zum Nachteil des Wirtschafts- ausschusses: Sammelübersichten 378, standortes Deutschland 379, 380, 381, 382 zu Petitionen (Drucksache 14/8852) ...... 23159 A (Drucksachen14/8801,14/8802,14/8803, d) Antrag der Abgeordneten Dr. Michael 14/8804, 14/8805) ...... 23160 D Meister, Dirk Fischer (), wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der in Verbindung mit CDU/CSU: Verbraucherschutz im Bereich des öffentlichen Personen- verkehrs noch immer unzureichend Zusatztagesordnungspunkt 5: (Drucksache 14/8853) ...... 23159 B Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache (Ergänzung zu TOP 35) Tagesordnungspunkt 35: Abschließende Beratungen ohne Aus- a) Zweite und dritte Beratung des von sprache der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- a) Zweite Beratung und Schlussabstim- rung des Grundstoffüberwachungs- mung des von der Bundesregierung gesetzes eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes (Drucksachen 14/8387, 14/8882) . . . . 23161 A zu dem Vertrag vom 19. September 2000 zwischen der Bundesrepublik b) Zweite und dritte Beratung des vom Deutschland und der Tschechischen Bundesrat eingebrachten Entwurfs ei- Republik über die gegenseitige Hilfe- nes Gesetzes zur Änderung des Ge- leistung bei Katastrophen und sundheitsstrukturgesetzes schweren Unglücksfällen (Drucksachen 14/7462, 14/8883) . . . . 23161 B (Drucksachen 14/7096, 14/8868) . . . . 23159 B b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Zusatztagesordnungspunkt 6: Entwurfs eines Gesetzes zur Durch- Aktuelle Stunde betr. Haltung der Bun- führung der Rechtsakte der Europä- desregierung zu den Wachstumspro- ischen Gemeinschaft über gemeinschaft- gnosen der Wirtschaftsforschungsinsti- liche Informations- und Absatzför- tute in ihrem Frühjahrsgutachten 2002 23161 C derungsmaßnahmen für Agrarerzeug- nisse (Agrarabsatzförderungsdurch- Matthias Wissmann CDU/CSU ...... 23161 D führungsgesetz) Dr. SPD ...... 23162 C (Drucksachen 14/8526, 14/8811) . . . . 23159 C Rainer Brüderle FDP ...... 23163 C c) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- (Leipzig) BÜNDNIS 90/ wurfs eines Gesetzes zur Durchführung DIE GRÜNEN ...... 23164 D IV Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Dr. Barbara Höll PDS ...... 23165 D CDU/CSU ...... 23183 A , Bundesminister BMF ...... 23167 A Dr. Reinhard Loske BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 23185 C Dr. Hansjürgen Doss CDU/CSU ...... 23169 A Dr. Gerhard Friedrich (Erlangen) Jörg-Otto Spiller SPD ...... 23170 A CDU/CSU ...... 23186 B Steffen Kampeter CDU/CSU ...... 23171 B Maritta Böttcher PDS ...... 23189 D (Berlin) BÜNDNIS 90/ Dr. Peter Eckardt SPD ...... 23190 D DIE GRÜNEN ...... 23172 D Dr. Gerhard Friedrich (Erlangen) CDU/CSU 23192 A Dagmar Wöhrl CDU/CSU ...... 23174 A Jörg Tauss SPD ...... 23194 A Nina Hauer SPD ...... 23175 A Dr. Gerhard Friedrich (Erlangen) CDU/CSU ...... 23176 C CDU/CSU ...... 23195 B SPD ...... 23177 D

Tagesordnungspunkt 19: Tagesordnungspunkt 5: Schlussbericht der Enquete-Kommission a) – Zweite und dritte Beratung des „Demographischer Wandel – Heraus- von den Abgeordneten Dr. Peter forderungen unserer älter werdenden Eckardt, Jörg Tauss, weiteren Ab- Gesellschaft an den Einzelnen und die geordneten und der Fraktion der Politik“ SPD sowie den Abgeordneten (Drucksache 14/8800) ...... 23196 D Dr. Reinhard Loske, Hans-Josef Walter Link (Diepholz) CDU/CSU ...... 23197 A Fell, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ Gabriele Iwersen SPD ...... 23198 B DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- Klaus Haupt FDP ...... 23200 A wurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Hochschulrahmen- Irmingard Schewe-Gerigk BÜNDNIS 90/ gesetzes (6. HRGÄndG) DIE GRÜNEN ...... 23201 B (Drucksachen 14/8361, 14/8878) 23179 B Heidemarie Lüth PDS ...... 23203 A – Zweite und dritte Beratung des von Christa Lörcher fraktionslos ...... 23204 B der Bundesregierung eingebrachten Arne Fuhrmann SPD ...... 23204 D Entwurfs eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Hochschul- Andreas Storm CDU/CSU ...... 23206 C rahmengesetzes (6. HRGÄndG) SPD ...... 23208 C (Drucksachen 14/8732, 14/8878) 23179 B – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Maritta Tagesordnungspunkt 7: Böttcher, Dr. , weite- Zweite und dritte Beratung des von ren Abgeordneten und der Fraktion den Abgeordneten Dr. Maria Böhmer, der PDS eingebrachten Entwurfs Wolf-Michael Catenhusen und weiteren eines Sechsten Gesetzes zur Än- Abgeordneten eingebrachten Entwurfs ei- derung des Hochschulrahmen- nes Gesetzes zur Sicherstellung des Em- gesetzes (6. HRGÄndG) bryonenschutzes im Zusammenhang mit (Drucksachen 14/8295, 14/8878) 23179 C Einfuhr und Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen (Stammzell- b) Beschlussempfehlung und Bericht des gesetz) Ausschusses für Bildung, Forschung (Drucksachen 14/8394, 14/8846) ...... 23209 D und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach, Margot von Renesse SPD ...... 23210 A Cornelia Pieper, weiterer Abgeordneter Werner Lensing CDU/CSU ...... 23211 C und der Fraktion der FDP: Ein neues Hochschuldienstrecht für eine mo- Andrea Fischer (Berlin) BÜNDNIS 90/ derne, leistungsfähige und attraktive DIE GRÜNEN ...... 23212 C Bildung und Forschung in Deutsch- Ulrike Flach FDP ...... 23214 A land (Drucksachen 14/7077, 14/8878) . . . . . 23179 C Dr. Ilja Seifert PDS ...... 23215 B , Bundesministerin BMBF 23179 D Dr. SPD ...... 23216 B Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 V

Hubert Hüppe CDU/CSU ...... 23217 C eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes für eine Reform des Stiftungszivilrechts Monika Knoche BÜNDNIS 90/ (Stiftungsrechtsreformgesetz) DIE GRÜNEN ...... 23218 C (Drucksachen 14/5811, 14/8894) . . . . 23241 C Dr. Carola Reimann SPD ...... 23219 C

Peter Hintze CDU/CSU ...... 23220 C Tagesordnungspunkt 10: Wolf-Michael Catenhusen SPD ...... 23221 C Antrag der Abgeordneten Dr. Klaus Dr. Hermann Kues CDU/CSU ...... 23223 D Kinkel, Dr. Helmut Haussmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP so- Dr. Maria Böhmer CDU/CSU ...... 23224 D wie der Abgeordneten Hans-Dirk Bierling, Dr. Wolfgang Bötsch, weiterer Abgeordne- Namentliche Abstimmungen ...... 23226 D, 23230 A ter und der Fraktion der CDU/CSU: Land- Ergebnisse ...... 23227 C, 23231 D minen ohne integrierte Selbstneutra- lisierungs- oder Selbstzerstörungsmecha- nismen ächten – Minenräum- und Mi- Tagesordnungspunkt 8: nenopferhilfe deutlich erhöhen (Drucksache 14/8654) ...... 23242 B Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten , Ronald in Verbindung mit Pofalla, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Ent- wurfs eines ... Strafrechtsänderungsge- Zusatztagesordnungspunkt 7: setzes (Stärkung des Toleranzgebotes durch einen besseren Schutz religiöser und Antrag der Abgeordneten Petra weltanschaulicher Überzeugungen gemäß Ernstberger, , weiterer Abgeord- § 166 StGB) neter und der Fraktion der SPD sowie (Drucksache 14/4558, 14/8379) ...... 23230 B der Abgeordneten , Rita Grießhaber, weiterer Abgeordneter und der Joachim Stünker SPD ...... 23230 C Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN: Für eine Weiterentwicklung der Norbert Geis CDU/CSU ...... 23234 D humanitären Rüstungskontrolle bei Christa Nickels BÜNDNIS 90/ Landminen DIE GRÜNEN ...... 23236 B (Drucksache 14/8858) ...... 23242 C Helmut Wilhelm (Amberg) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 23237 A Tagesordnungspunkt 11: Jörg van Essen FDP ...... 23238 A a) Zweite und dritte Beratung des von der Dr. Heinrich Fink PDS ...... 23238 D Bundesregierung eingebrachten Ent- Alfred Hartenbach SPD ...... 23239 C wurfs eines Gesetzes zur Einführung des Völkerstrafgesetzbuches CDU/CSU ...... 23240 C (Drucksachen 14/8524, 14/8892) . . . . 23242 D b) Zweite und dritte Beratung des von der Tagesordnungspunkt 9: Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Ausführung – Zweite und dritte Beratung des von den des Römischen Statuts des Inter- Fraktionen der SPD und des BÜNDNIS- nationalen Strafgerichtshofes vom SES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten 17. Juli 1998 Entwurfs eines Gesetzes zur Moder- (Drucksachen 14/8527, 14/8888) . . . . 23242 D nisierung des Stiftungsrechts (Drucksachen 14/8277, 14/8894) . . . . 23241 C Tagesordnungspunkt 12: – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- a) Zweite und dritte Beratung des von den wurfs eines Gesetzes zur Modernisie- Abgeordneten Wolfgang Börnsen (Böns- rung des Stiftungsrechts trup), Dirk Fischer (Hamburg), weiteren (Drucksachen 14/8765, 14/8894) . . . . 23241 C Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs ei- – Zweite und dritte Beratung des von den nes Gesetzes zur Änderung des Gesetzes Abgeordneten Hans-Joachim Otto über die Untersuchung von Seeunfällen (Frankfurt), , weiteren Ab- (Seeunfalluntersuchungsänderungs- geordneten und der Fraktion der FDP gesetz) VI Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

(Drucksachen 14/8108, 14/8707) . . . . . 23243 C schaft mit großer Zukunft b) Beschlussempfehlung und Bericht des – zu dem Antrag der Fraktion der Ausschusses für Verkehr, Bau- und CDU/CSU: Reform der EU-Ent- Wohnungswesen zu dem Antrag der wicklungszusammenarbeit ist bis- Abgeordneten Wolfgang Börnsen lang Stückwerk und muss konse- (Bönstrup), Dirk Fischer (Hamburg), quent vorangetrieben werden weiterer Abgeordneter und der Fraktion (Drucksachen 14/3396, 14/3771, 14/8617) 23244 C der CDU/CSU: Bildung einer Leit- stelle für Seesicherheit d) Große Anfrage der Abgeordneten (Drucksachen 14/5450, 14/8611) . . . . . 23243 D Dr. Helmut Haussmann, Ulrich Irmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion c) Antrag der Abgeordneten Reinhold der FDP: Afrika-Politik der Bundes- Hiller (Lübeck), Reinhard Weis (Sten- dal), weiterer Abgeordneter und der regierung Fraktion der SPD, der Abgeordneten (Drucksachen 14/4181, 14/5582) . . . . . 23244 D , Wolfgang Börnsen (Böns- trup), weiterer Abgeordneter und der in Verbindung mit Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordne- ten Gila Altmann (Aurich), Franziska Eichstädt-Bohlig, weiterer Abgeordneter Zusatztagesordnungspunkt 8: und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- DIE GRÜNEN sowie der Abgeordne- wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der ten (Bayreuth), Hans- Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann, Michael Goldmann, weiterer Abge- Ulrich Irmer, weiterer Abgeordneter und ordneter und der Fraktion der FDP: der Fraktion der FDP: Für eine europä- Maritime Sicherheit auf der Ostsee ische Ausrichtung der deutschen Afrika- (Drucksache 14/8855) ...... 23243 D politik (Drucksachen 14/5090, 14/8849) ...... 23244 D Tagesordnungspunkt 13: Reinhold Hemker SPD ...... 23245 A Marlies Pretzlaff CDU/CSU ...... 23246 B a) Antrag der Abgeordneten Reinhold Hemker, Adelheid Tröscher, weiterer Dr. Uschi Eid, Parl. Staatssekretärin BMZ . . . 23247 D Abgeordneter und der Fraktion SPD so- Marlies Pretzlaff CDU/CSU ...... wie der Abgeordneten Monika Knoche, 23248 A Dr. Angelika Köster-Loßack, weiterer Joachim Günther (Plauen) FDP ...... 23248 D Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Ingrid Becker-Inglau SPD ...... 23249 D Afrikas neues Denken unterstützen Klaus-Jürgen Hedrich CDU/CSU ...... 23251 A (Drucksache 14/8859) ...... 23244 B Joachim Tappe SPD ...... 23252 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für wirtschaftliche Zu- sammenarbeit und Entwicklung zu dem Tagesordnungspunkt 14: Antrag der Fraktion der CDU/CSU: Afrika darf nicht zu einem vergesse- – Zweite und dritte Beratung des von den nen Kontinent werden Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, (Drucksachen 14/2571, 14/4970) . . . . . 23244 B des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP eingebrachten Entwurfs c) Beschlussempfehlung und Bericht des eines Gesetzes zur Zahlbarmachung Ausschusses für wirtschaftliche von Renten aus Beschäftigungen in Zusammenarbeit und Entwicklung einem Getto und zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch – zu dem Antrag der Abgeordneten (Drucksachen 14/8583, 14/8823) . . . . . 23253 B Dr. R. Werner Schuster, , weiterer Abgeordneter und – Zweite und dritte Beratung des von der der Fraktion der SPD sowie der Ab- Fraktion der PDS eingebrachten Ent- geordneten Dr. Angelika Köster- wurfs eines Gesetzes zur Zahlbarma- Loßack, Hans-Christian Ströbele, chung von Renten aus Beschäftigun- weiterer Abgeordneter und der gen in einem Getto und zur Fraktion des BÜNDNISSES 90/ Änderung des Sechsten Buches So- DIE GRÜNEN: EU-AKP-Zusam- zialgesetzbuch menarbeit – bewährte Partner- (Drucksachen 14/8602, 14/8823) . . . . . 23253 B Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 VII

Tagesordnungspunkt 15: Arne Fuhrmann, Dr. , Waltraud Wolff (Wolmirstedt) und Christel Riemann- Antrag der Abgeordneten Petra Bläss, Hanewinckel (alle SPD) zur namentlichen Ab- Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter stimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur und der Fraktion der PDS: Bündnisfall Sicherstellung des Embryonenschutzes im aufheben Zusammenhang mit Einfuhr und Verwendung (Drucksache 14/8664) ...... 23253 C menschlicher embryonaler Stammzellen Heidi Lippmann PDS ...... 23253 D (Stammzellgesetz – SZG) (Drucksache 14/8846) ...... 23258 A Nächste Sitzung ...... 23254 D

Anlage 5 Anlage 1 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 23255 A Dr. Hermann Kues, Kurt-Dieter Grill, , Sylvia Bonitz und Hermann Gröhe (alle CDU/CSU) zur namentlichen Abstim- Anlage 2 mung über den Entwurf eines Gesetzes zur Si- cherstellung des Embryonenschutzes im Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen Zusammenhang mit Einfuhr und Verwendung Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes menschlicher embryonaler Stammzellen zur Sicherstellung des Embryonenschutzes im (Stammzellgesetz – SZG) Zusammenhang mit Einfuhr und Verwendung (Drucksache 14/8846) ...... 23258 D menschlicher embryonaler Stammzellen (Stammzellgesetz – SZG) (Drucksache 14/8846) ...... 23255 D Anlage 6 Dr. Hans Georg Faust CDU/CSU ...... 23255 D Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Ulrike Höfken BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 23256 A – des Entwurfs eines Gesetzes zur Moder- Dr. CDU/CSU ...... 23256 B nisierung des Stiftungsrechts Dr. SPD ...... 23256 C – des Entwurfs eines Gesetzes für eine Re- form des Stiftungszivilrechts (Stiftungs- Heinz Schemken CDU/CSU ...... 23256 D rechtsreformgesetz) Dr. CDU/CSU ...... 23257 B (Tagesordnungspunkt 9) ...... 23259 A Reinhard Freiherr von Schorlemer CDU/CSU 23257 C Dr. Antje Vollmer BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 23259 A Anlage 3 Rainer Funke FDP ...... 23260 A Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Christina Schenk, Dr. , Dr. Dietmar Anlage 7 Bartsch und Dr. Uwe-Jens Rössel (alle PDS) zur namentlichen Abstimmung über den Ent- Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der wurf eines Gesetzes zur Sicherstellung des Anträge: Embryonenschutzes im Zusammenhang mit – Landminen ohne integrierte Selbstneutra- Einfuhr und Verwendung menschlicher em- lisierungs- oder Selbstzerstörungsmecha- bryonaler Stammzellen (Stammzellgesetz – nismen ächten – Minenräum- und Minen- SZG) opferhilfe deutlich erhöhen (Drucksache 14/8846) ...... 23257 D – Für eine Weiterentwicklung der huma- nitären Rüstungskontrolle bei Landminen Anlage 4 (Tagesordnungspunkt 10 und Zusatztagesord- Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten nungspunkt 7) ...... 23260 C René Röspel, , Hans-Werner Uta Zapf SPD ...... 23260 D Bertl, , Christel Deichmann, Marga Elser, Gabriele Iwersen, Klaus Kirschner, Verena Wohlleben SPD ...... 23261 D Horst Kubatschka, Helga Kühn-Mengel, Dirk Hans-Dirk Bierling CDU/CSU ...... 23262 D Manzewski, Andrea Nahles, Günter Oesinghaus, Dagmar Schmidt (Meschede), Angelika Beer BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 23264 A Regina Schmidt-Zadel, Walter Schöler, Dr. FDP ...... 23265 B Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk, Adelheid Tröscher, Rüdiger Veit, Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker, Heidi Lippmann PDS ...... 23266 B VIII Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Anlage 8 – der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Afrika darf nicht zu einem Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung vergessenen Kontinent werden – des Entwurfs eines Gesetzes zur Ein- – der Beschlussempfehlung und des Berichts führung des Völkerstrafgesetzbuches zu den Anträgen: – des Entwurfs eines Gesetzes zur Ausführung des Römischen Statuts des Internationalen – EU-AKP-Zusammenarbeit – bewährte Strafgerichtshofes vom 17. Juli 1998 Partnerschaft mit großer Zukunft – Reform der EU-Entwicklungszusam- (Tagesordnungspunkt 11) ...... 23267 A menarbeit ist bislang Stückwerk und Dr. Jürgen Meyer (Ulm) SPD ...... 23267 A muss konsesquent vorangetrieben wer- den Dr. Norbert Röttgen CDU/CSU ...... 23268 A – der Großen Anfrage: Afrikapolitik der Bun- Gerald Häfner BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 23268 D desregierung Dr. Edzard Schmidt-Jortzig FDP ...... 23270 A – der Beschlussempfehlung und des Berichts Dr. Evelyn Kenzler PDS ...... 23270 C zu dem Antrag: Für eine europäische Aus- richtung der deutschen Afrikapolitik Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin BMJ ...... 23270 D (Tagesordnungspunkt 13 a bis d und Zusatzta- gesordnungspunkt 8) ...... 23277 A Joachim Günther (Plauen) FDP ...... 23277 B Anlage 9 Carsten Hübner PDS ...... 23278 B Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung – des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Untersuchung von Anlage 11 Seeunfällen (Seeunfalluntersuchungsände- Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der rungsgesetz – SeeUÄndG) Entwürfe eines Gesetzes zur Zahlbarmachung – der Beschlussempfehlung und des Berichts von Renten aus Beschäftigungen in einem zu dem Antrag: Bildung einer Leitstelle für Getto und zur Änderung des Sechsten Buches Seesicherheit Sozialgesetzbuch (Tagesordnungspunkt 14) 23279 A – des Antrags: Maritime Sicherheit auf der CDU/CSU ...... 23279 A Ostsee Ekin Deligöz BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 23280 B (Tagesordnungspunkt 12 a bis c) ...... 23272 A Dr. Irmgard Schwaetzer FDP ...... 23280 D Annette Faße SPD ...... 23272 A Dr. Ilja Seifert PDS ...... 23281 B Reinhold Hiller (Lübeck) SPD ...... 23273 A Ulrike Mascher, Parl. Staatssekretärin BMA 23282 A Wolfgang Börnsen (Bönstrup) CDU/CSU . . . . 23273 C Helmut Wilhelm (Amberg) BÜNDNIS 90/ Anlage 12 DIE GRÜNEN ...... 23275 D Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Hans-Michael Goldmann FDP ...... 23276 C Antrags: Bündnisfall aufheben (Tagesord- nungspunkt 15) ...... 23283 C

Anlage 10 Markus Meckel SPD ...... 23283 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung CDU/CSU ...... 23285 A Hildebrecht Braun (Augsburg) FDP ...... 23286 C – des Antrags: Afrikas neues Denken unter- stützen Dr. Ludger Volmer, Staatsminister AA ...... 23287 B Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23111

(A) (C)

233. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Wolfgang Thierse: Guten Morgen, liebe Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- abschätzung Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Ausschuss für Kultur und Medien Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt: BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Fortentwicklung der sozialen Pflegeversicherung – Drucksache 14/8864 – 1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/Die GRÜNEN: Haltung der Bundes- Überweisungsvorschlag: regierung zu aktuellen Vorschlägen, in der GKV die Lohn- Ausschuss für Gesundheit (f) fortzahlung zu kürzen und die Vorleistungspflicht der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Krankenversicherten einzuführen (siehe 232. Sitzung) c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Peter Paziorek, 2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Rühe, Karl Matthias Wissmann, Kurt-Dieter Grill, weiterer Abgeordne- Lamers, Christian Schmidt (Fürth), weiterer Abgeordnerter und ter und der Fraktion der CDU/CSU: Kein Emissionszertifi- der Fraktion der CDU/CSU): Eine deutliche gemeinsame katehandel zum Nachteil des Wirtschaftsstandortes (B) europäische Position für eine gerechte Friedenslösung im Deutschland – Drucksache 14/8852 – (D) Nahen Osten – Drucksache 14/8862 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Auswärtiger Ausschuss (f) Finanzausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 3. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Aus- d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Michael wärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge- Meister, Dirk Fischer (Hamburg), , weiterer ordneten Petra Bläss, Dr. Heinrich Fink, Wolfgang Gehrcke, Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Verbrau- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS: Die Gewalt- cherschutz im Bereich des öffentlichen Personenver- spirale im Nahen Osten beenden – Drucksachen 14/8271, kehrs noch immer unzureichend – Drucksache 14/8853 – 14/8877 – Überweisungsvorschlag: Berichterstattung: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Abgeordnete Christoph Moosbauer Rechtsausschuss Karl Lamers Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- Christian Sterzing wirtschaft Dr. Helmut Haussmann 5. Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache Wolfgang Gehrcke (Ergänzung zu TOP 35) 4. Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung (Ergänzung zu TOP 34) eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD, der Grundstoffüberwachungsgesetzes – Drucksache 14/8387 – CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der (Erste Beratung 224. Sitzung) FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ge- des Grundgesetzes (Staatsziel Tierschutz) – Drucksache sundheit (14. Ausschuss) – Drucksache 14/8882 – 14/8860 – Berichterstattung: Überweisungsvorschlag: Abgeordnete Dr. Ruth Fuchs Rechtsausschuss (f) Innenausschuss b) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrach- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesund- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und heitsstrukturgesetzes – Drucksache 14/7462 – (Erste Bera- Landwirtschaft tung 227. Sitzung) 23112 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Präsident Wolfgang Thierse (A) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ge- gesetzt, dafür Tagesordnungspunkt 19 – Demographi- (C) sundheit (14. Ausschuss) – Drucksache 14/8883 – scher Wandel – an diese Stelle vorgezogen werden. Die Berichterstattung: Vorlagen unter Tagesordnungspunkt 20 werden bis auf Abgeordneter Dr. Hans Georg Faust den Antrag unter Buchstabe c, der ohne Debatte überwie- 6. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU: sen werden soll, abgesetzt. Dafür soll an dieser Stelle Ta- Haltung der Bundesregierung zu den Wachstumsprogno- gesordnungspunkt 29 – Waffenrecht – beraten werden. sen der Wirtschaftsforschungsinstitute in ihrem Frühjahrs- Die Vorlagen unter Tagesordnungspunkt 26 – Gentech- gutachten 2002 nikgesetz – sollen abgesetzt werden. 7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra Ernstberger, Uta Außerdem mache ich auf nachträgliche Ausschussüber- Zapf, , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Angelika Beer, Rita weisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Grießhaber, Dr. Helmut Lippelt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDISSES 90/DIE GRÜNEN: Für eine Wei- Der in der 230. Sitzung des Deutschen Bundestages terentwicklung der humanitären Rüstungskontrolle bei überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll dem Haus- Landminen – Drucksache 14/8858 – haltsausschuss nicht mitberatend, sondern nur gemäß Überweisungsvorschlag: § 96 GO überwiesen werden. Auswärtiger Ausschuss (f) Von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNIS- Verteidigungsausschuss SES 90/DIE GRÜNEN eingebrachter Entwurf Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Regio- Entwicklung nalisierungsgesetzes – Drucksache 14/8781 – 8. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Aus- überwiesen: wärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) ordneten Dr. Helmut Haussmann, Ulrich Irmer, Joachim Finanzausschuss Günther (Plauen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit FDP: Für eine europäische Ausrichtung der deutschen Afri- Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO kapolitik – Drucksachen 14/5090, 14/8849 – Der in der 230. Sitzung des Deutschen Bundestages Berichterstattung: überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Abgeordnete Joachim Tappe Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zur Carl-Dieter Spranger Rita Grießhaber Mitberatung überwiesen werden. Dr. Helmut Haussmann Antrag der Abgeordneten Klaus Haupt, Jürgen Wolfgang Gehrcke Türk, Dr. Irmgard Schwaetzer, weiterer Abgeord- 9. Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache am neter und der Fraktion der FDP: Für ein faires Freitag Rentenrecht für das ehemalige mittlere medizi- (B) (D) a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung nische Personal – Drucksache 14/7612 – eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durchführung überwiesen: der Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft auf dem Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f) Gebiet des ökologischen Landbaus (Öko-Landbaugesetz – Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ÖLG) – Drucksache 14/8768 – (Erste Beratung 230. Sit- Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder zung) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ver- Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? – braucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (10. Aus- Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. schuss) – Drucksache 14/8906 – Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Ehrentribüne Berichterstattung: hat der Präsident des Parlaments der Republik Est- Abgeordnete Marita Sehn land, Herr Dr. Toomas Savi, mit einer Abgeordneten- b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschus- delegation Platz genommen. Ich darf Sie von hier aus im ses (2. Ausschuss): Sammelübersicht 383 zu Petitionen Namen des ganzen Hauses herzlich willkommen heißen. – Drucksache 14/8871 – c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschus- (Beifall) ses (2. Ausschuss): Sammelübersicht 384 zu Petitionen Die Wiederherstellung der Unabhängigkeit Estlands – Drucksache 14/8872 – und die Wiedervereinigung Deutschlands haben ihre ge- d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschus- meinsame Wurzel in der Überwindung der Teilung - ses (2. Ausschuss): Sammelübersicht 385 zu Petitionen pas im Jahre 1989. Uns verbindet seither in besonderem – Drucksache 14/8873 – Maß der Wunsch nach einer gesicherten Existenz in ei- e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschus- nem freien und geeinten Europa. Bei meinem Besuch in ses (2. Ausschuss): Sammelübersicht 386 zu Petitionen – Drucksache 14/8874 – Estland konnte ich feststellen, mit welch bewundernswer- ter Konsequenz Ihr Land seine volle Integration in die Eu- Von der Frist für den Beginn der Beratung soll – soweit ropäische Union und die Atlantische Allianz anstrebt. Ich erforderlich – abgewichen werden. hoffe, dass Sie bei Ihren Begegnungen hier in Berlin und Darüber hinaus wurden folgende Änderungen verein- morgen in Thüringen spüren können, mit wie viel Sym- bart: Tagesordnungspunkt 17 – NATO-Erweiterung – soll pathie wir Sie auf diesem Weg begleiten. bereits heute nach der Nahostdebatte aufgerufen werden, Ich danke Ihnen für Ihren Besuch und wünsche Ihnen Tagesordnungspunkt 4 – Beschäftigungspolitik – soll an noch einen angenehmen Aufenthalt in unserem Land. zweiter Stelle am Freitag beraten werden, Tagesord- nungspunkt 6 – Situation in der Landwirtschaft – soll ab- (Beifall) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23113

Präsident Wolfgang Thierse (A) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 sowie die Zusatz- denke, unser aller Wünsche für eine baldige und vollstän- (C) punkte 2 und 3 auf: dige Genesung übermitteln. (Beifall im ganzen Hause) 3. Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundeskanzler Die Bundesregierung wird alles in ihren Kräften Ste- zur Lage im Nahen Osten hende tun, um dieses schreckliche Verbrechen rückhaltlos aufzuklären, die Täter, aber auch ihre Hintermänner auf- ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker zuspüren und, wo immer uns möglich, auch zu bestrafen. Rühe, Karl Lamers, Christian Schmidt (Fürth), Gewalt und Terror gegen unschuldige Zivilisten, all dies weiterer Abgeordneter und der Fraktion der werden wir auch weiterhin mit aller Entschiedenheit CDU/CSU bekämpfen. Eine deutliche gemeinsame europäische Posi- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tion für eine gerechte Friedenslösung im Nahen DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Osten CDU/CSU, der FDP und der PDS) – Drucksache 14/8862 – Die jüngsten Fahndungserfolge haben gezeigt, dass wir Überweisungsvorschlag: in dieser Hinsicht auf die Kenntnisse, auf die Entschlos- Auswärtiger Ausschuss (f) senheit und auf die Effizienz unserer Sicherheitsorgane Verteidigungsausschuss bauen können. Ich bin ihnen und all den dort Beschäftig- Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ten für ihre schwierige, aber eben auch erfolgreiche Arbeit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und sehr dankbar. Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der ZP 3 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- CDU/CSU, der FDP und der PDS) richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Petra Terror und Gewalt schon im Ansatz zu bekämpfen, das Bläss, Dr. Heinrich Fink, Wolfgang Gehrcke, wei- gilt für New York, das gilt für Washington, das gilt ebenso terer Abgeordneter und der Fraktion der PDS für Djerba und für den gesamten Nahen Osten, eine Re- gion, der wir uns als europäische Nachbarn auf so vielfäl- Die Gewaltspirale im Nahen Osten beenden tige Weise besonders verbunden fühlen. Die Terroran- – Drucksachen 14/8271, 14/8877 – schläge in Israel schockieren uns ebenso wie die Bilder Berichterstattung: von zivilen Opfern auf palästinensischer Seite. Wir alle (B) (D) Abgeordnete Christoph Moosbauer haben ein eminentes Interesse daran, dass das Leiden so Karl Lamers vieler unschuldiger Menschen im Nahen Osten endlich Christian Sterzing ein Ende findet. Dr. Helmut Haussmann (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Wolfgang Gehrcke GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeordne- Zur Regierungserklärung liegt je ein Entschließungs- ten der CDU/CSU und der FDP) antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Genau das hat der amerikanische Präsident, George W. Grünen sowie der Fraktion der FDP vor. Bush, gemeint, als er gesagt hat: „Genug ist genug.“ Das Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die ist in der Tat so. Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung Bevor ich auf die Einzelheiten des Nahostkonfliktes zu zwei Stunden vorgesehen, wobei die PDS 15 Minuten er- sprechen komme, gestatten Sie mir noch einen kurzen halten soll. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so be- Rückblick. Erinnern wir uns: Noch unter dem Schock der schlossen. Ereignisse vom Vortag haben wir uns am 12. September Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat vergangenen Jahres hier, im Deutschen Bundestag, ver- sammelt, um unsere Solidarität mit den Vereinigten Staa- Bundeskanzler Gerhard Schröder. ten von Amerika zum Ausdruck zu bringen und um wirk- same Maßnahmen zu ergreifen, terroristische Strukturen Gerhard Schröder, Bundeskanzler (von der SPD und zu zerschlagen und nicht zuletzt auf diese Weise dem Ter- dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit Beifall begrüßt): rorismus weltweit den Nährboden zu entziehen. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der 11. September – das ist gewiss wahr – hat die Welt Der furchtbare Terroranschlag auf der tunesischen Insel verändert. Auch für Deutschland ging nicht zuletzt an die- Djerba, aber auch die Aufdeckung eines terroristischen sem Tag eine Etappe deutscher Nachkriegszeit vorbei. In Netzwerks, das offenbar auch Attentate in Deutschland bislang nicht gekannter Weise mussten wir uns unserer in- vorbereitet hatte, haben uns allen erneut die fortdauernde ternationalen Verantwortung neu stellen und haben es Gefahr durch einen brutalen und sinnlosen Terrorismus auch getan. Wir haben mit Unterstützung dieses Hauses vor Augen geführt. einen wichtigen Beitrag zur globalen und umfassenden Ich will auch von dieser Stelle aus noch einmal den Terrorismusbekämpfung geleistet: durch Verstärkung Hinterbliebenen der Opfer von Djerba mein tief empfun- der politischen, der wirtschaftlichen und der kulturellen denes Beileid aussprechen und den Verletzten, wie ich Zusammenarbeit, aber auch durch unser militärisches 23114 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) Engagement im Rahmen der internationalen Allianz ge- Auf der Konferenz der Außenminister der Europä- (C) gen den Terror und nicht zuletzt in der Sicherheitsunter- ischen Union und der Mittelmeeranrainer am vergangenen stützungstruppe in , in Kabul. Montag haben auch die Vertreter der beiden Konfliktpar- teien deutlich erklärt, dass sie ein gemeinsames Engage- In Afghanistan hat die internationale Gemeinschaft ei- ment Europas und der Vereinigten Staaten wünschen. nen wichtigen Etappensieg im Kampf gegen den Terro- rismus errungen. Diesen wichtigen Etappensieg gilt es Niemand hat eine Zauberformel für die Lösung des auszubauen, damit denen, die für die Untaten des Terro- schon so lange andauernden Konfliktes, der mit histori- rismus vielleicht noch anfällig sind, den Massen, die als schen Ängsten, aber eben auch mit historischen An- politischer Hintergrund benutzt werden, klar wird, dass sprüchen mehr als überlastet ist. Lassen Sie mich vor die- die zivilisierte Staatengemeinschaft gleichsam eine Auf- sem Hintergrund noch einmal sehr deutlich sagen: Das baudividende für die Rückkehr in ebendiese zivilisierte Eintreten für das Existenzrecht und die Sicherheit Staatengemeinschaft zahlt. Israels in anerkannten Grenzen war und bleibt unver- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ äußerliche Grundlage deutscher Außenpolitik. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Nicht unwichtig ist, dass die Konferenz auf dem GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordne- Petersberg bewiesen hat, dass die internationale Ge- ten der CDU/CSU) meinschaft und mitten in ihr Deutschland unter Führung Das war immer Konsens aller Parteien in diesem Haus. der Vereinten Nationen durchaus in der Lage ist, auch Ungeachtet der Auseinandersetzungen über Details unse- schwierigste Konflikte politisch zu lösen. Das ist – das ist rer Nahostpolitik habe ich die Hoffnung, dass dieser zu unterstreichen – eine ermutigende Botschaft für die Grundkonsens der demokratischen Parteien in Deutsch- Menschen in unserem Land und darüber hinaus, eine Bot- land bestehen bleibt. schaft, die uns auch Ansporn für die Lösung der Krise im Nahen Osten sein sollte. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Ebenso wie auf dem Balkan kommt es jetzt darauf an, FDP und der PDS und des Abg. Dr. Friedbert nach dem Krieg den Frieden zu gewinnen. Das gilt nicht Pflüger [CDU/CSU]) zuletzt für Afghanistan. Lassen Sie mich eines hinzufügen: Üblicherweise – das (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ist ja nicht falsch – wird dieser Grundkonsens nicht zuletzt DIE GRÜNEN) dadurch begründet, dass wir auf die schreckliche Ge- Das ist der Grund, warum sich Deutschland in besonderer schichte hinweisen, auf den Holocaust, verursacht von Deutschen, der uns unauflöslich mit Israel verbindet und (B) Weise beim Wiederaufbau des Landes engagiert – huma- (D) nitär, im Hinblick auf die Ausstattung mit Bildungsein- der unsere besondere Verantwortung deutlich macht. Das richtungen, aber eben auch wirtschaftlich. Deshalb habe ist gewiss richtig – und das bleibt für alle Zeiten richtig. ich eine Einladung der Übergangsregierung akzeptiert, Aber mir geht es darum, dass deutlich wird, dass noch Afghanistan zusammen mit einer Wirtschaftsdelegation etwas anderes ebenfalls richtig ist: Uns verbindet mit in den nächsten zwei Wochen zu besuchen. Israel eine intakte und funktionierende Demokratie, eben (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ auch ein Grundkonsens über die Werte, die Demokratie DIE GRÜNEN) ausmachen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe in (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE vielen Gesprächen auch mit denjenigen, mit denen wir uns GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeord- ansonsten politisch hart auseinander setzen, gemerkt, dass neten der CDU/CSU) es keinen Zweifel daran geben kann: Die aktuelle Ent- Es gibt – das ist mir wichtig zu betonen – in dieser Region wicklung im Nahen Osten erfüllt uns mit tiefer Sorge. Ich nicht so schrecklich viele funktionierende Demokratien. denke, das gilt für alle in diesem Hohen Hause. Eine wei- Hier liegt, ganz jenseits der historischen Verantwortung, tere Zuspitzung des Konflikts gefährdet nicht nur unsere ein höchst aktueller Grund für unsere enge und unauflös- wirtschaftlichen Interessen, sondern eben auch unsere po- liche politische Beziehung. litischen; mehr noch, sie gefährdet unser aller Sicherheit. Den Konfliktparteien muss endlich klar werden, dass es (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE keine militärische Lösung des Konfliktes geben kann. GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeord- neten der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der FDP und der PDS) Natürlich muss das, was ich gesagt habe, Konsequenzen haben, und genau diese Konsequenzen hat es in unserer Das vorrangige Ziel aller internationalen Bemühungen Politik. Es bedeutet nämlich, dass wir aufgrund unserer ist es gegenwärtig, einen tragfähigen Waffenstillstand, historischen Verantwortung, aber auch aufgrund der den Rückzug der israelischen Truppen gemäß den Reso- Verteidigung gemeinsamer Werte keine Embargo- oder lutionen 1402 und 1403 des Weltsicherheitsrates sowie Boykottmaßnahmen gegen Israel beschließen oder mit- die Rückkehr zu einer politischen Perspektive zu errei- tragen und schon gar nicht selbst welche verhängen werden. chen. Die Bundesregierung unterstützt gemeinsam mit ihren europäischen Partnern nachdrücklich alle interna- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tionalen Friedensbemühungen. Ich begrüße daher, dass DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Javier Solana jetzt erneut in die Region gereist ist. FDP und der PDS) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23115

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) Ich will ganz unmissverständlich sagen: Israel bekommt Die Konfliktparteien sind nicht mehr imstande – das hat (C) das, was es für die Aufrechterhaltung seiner Sicherheit sich erwiesen –, allein zu einer politischen Lösung zu ge- braucht, und es bekommt es dann, wenn es gebraucht langen. Deshalb ist es entscheidend, dass die Vereinigten wird. Staaten, die Europäische Union, die Vereinten Nationen, aber nicht zuletzt auch Russland bei den weiteren Frie- ( [CDU/CSU]: Ach so!) densbemühungen eng zusammenarbeiten, so wie das in Als Freunde Israels haben wir aber auch das Recht und Madrid auf der Konferenz der Vier deutlich geworden ist. die Pflicht, unsere Stimme offen und gelegentlich auch öf- Dieses erste Treffen des so genannten Quartetts in fentlich zu erheben. Ohne eine umfassende politische Lö- Madrid fand vor der Reise des amerikanischen Außenmi- sung, welche die Schaffung eines lebensfähigen palästi- nisters Powell statt, die ich übrigens nicht für einen Miss- nensischen Staates einschließen muss, wird es für Israel erfolg, sondern für einen wichtigen Schritt auf dem Weg und für die Region keine dauerhafte Sicherheit geben. hin zu einer politischen Lösung halte. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ GRÜNEN, der FDP und der PDS) DIE GRÜNEN) Schon der ermordete Premierminister und Friedensnobel- Dass diese Vier zusammengekommen sind, zusammen- preisträger Yitzhak Rabin hatte erkannt: Israel wird sich, bleiben wollen und – wie ich hoffe – auch zusammen- schon um seiner eigenen Sicherheit willen, auf Dauer dem bleiben werden, um zu einer politischen Lösung zu kom- Gedanken nicht verschließen können, widerrechtlich er- men, ist, denke ich, für die friedliche Entwicklung im richtete Siedlungen in den Palästinensergebieten zu räu- Nahen Osten ein wichtiger Schritt, ein Schritt nur, keine men, wie das im Übrigen von vielen gewichtigen Stim- Frage, aber ein eminent wichtiger Schritt. men in Israel selbst und in der dortigen Öffentlichkeit immer wieder gefordert wird. Die Bundesregierung begrüßt den Vorschlag, eine in- ternationale Konferenz einzuberufen, bei der neben den Zu einer Lösung gehört auch, dass die Palästinenser als Vereinigten Staaten, der Europäischen Union, Russland gleichberechtigte Nachbarn und Verhandlungspartner mit und den Vereinten Nationen naturgemäß auch die wich- Würde und mit Respekt behandelt werden. tigsten Akteure im Nahen Osten selbst eingebunden wer- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE den müssen. GRÜNEN, der FDP und der PDS) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten In der so genannten Berliner Erklärung haben die Staats- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) und Regierungschefs der Europäischen Union im März Die Bundesregierung sieht darüber hinaus – das wi- 1999 hier in Berlin ihre Überzeugung geäußert, dass derspricht dem Plan von Bundesaußenminister Fischer (B) (D) die Schaffung eines demokratischen, existenzfähigen nicht – in der Initiative des saudi-arabischen Kronprinzen, und friedlichen souveränen palästinensischen Staates die auf dem Gipfel der Arabischen Liga von allen arabi- auf der Grundlage bestehender Vereinbarungen und schen Staaten verabschiedet wurde, ein ganz bedeutendes auf dem Verhandlungsweg die beste Garantie für die Signal. Im Kern geht es dabei um eine Friedensperspek- Sicherheit Israels und seine Anerkennung als gleich- tive für die gesamte Region. Im Kern geht es dabei auch berechtigter Partner in der Region ist. darum, dass nicht nur von der internationalen Staaten- gemeinschaft, sondern auch von den arabischen Staaten Dies ist die ganze Zeit über und auch schon vorher die selbst die Integrität des Staates Israel ein für alle Mal an- Leitlinie deutscher Außenpolitik gewesen, die mit Ent- erkannt wird. schiedenheit und mit einem hohen Maß an Sensibilität innerhalb und außerhalb der Region von Bundesaußen- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ minister Fischer immer wieder vertreten worden ist. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Aus eigener Erfahrung wissen gerade wir Europäer, DIE GRÜNEN) dass die dauerhafte Sicherung von Frieden und Wohlstand nur über regionale Zusammenarbeit und durch Integration Diese Überzeugung kommt inzwischen auch in der Be- erreicht werden kann. Die Konflikte auf dem Balkan und schlusslage des Weltsicherheitsrates zum Ausdruck. in Afghanistan haben uns gelehrt, dass wir nicht den Feh- Genau auf dieser Basis und parallel dazu hat der Bun- ler machen dürfen, den Sicherheitsbegriff, nach dem wir desaußenminister ein Ideenpapier entwickelt, das den politisch handeln, nach dem wir übrigens auch Ressour- Weg zu einem Waffenstillstand mit einer politischen Lö- cen verteilen, nur auf das Militärische zu verengen. sungsperspektive aufzeigt. Seine international anerkann- (Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr wahr!) ten Bemühungen verdienen, so denke ich, die Unterstüt- zung des gesamten Hohen Hauses. Das ist wichtig und in manchen historischen Phasen leider sehr wichtig geworden, um Frieden zu erringen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Aber die jüngere Geschichte lehrt uns auch, dass jede DIE GRÜNEN) Verengung dessen, was wir unter Sicherheit verstehen, auf das Militärische allein uns eben nicht dauerhaft Diese Wegskizze versucht, verschiedene Lösungs- Sicherheit garantiert. ansätze zusammenzufügen und, indem sie das tut, sie auch weiterzuentwickeln. Sie enthält einen verbindlichen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Zeitplan sowie internationale Garantien und – auch das ist DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der wichtig – eine Sicherheitskomponente. PDS) 23116 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) Vor diesem Hintergrund gilt aber auch das Umge- denklichen Anstrengungen unternehmen, um das Leben (C) kehrte. Wir haben bitter lernen müssen – auch in diesem und die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger unseres Hohen Hause –, dass es historische Situationen gibt, in Landes zu schützen. Wir haben bereits unmittelbar nach denen Frieden eben doch nur unter Zuhilfenahme mi- dem 11. September unsere Entschlossenheit zum Han- litärischer Mittel erreicht werden kann. Deshalb müssen deln unter Beweis gestellt, die innere Sicherheit unseres wir uns davor hüten, in alte Vorstellungen zurückzufallen Landes zu gewährleisten, ohne dabei die Prinzipien der und alte Tabus wieder zu errichten. Rechtssicherheit und der Rechtsstaatlichkeit zu beein- Im Nahen Osten – das ist klar – steht die Frage einer trächtigen. deutschen Beteiligung an einer internationalen Sicher- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten heitskomponente heute nicht auf der Tagesordnung. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Aber wir stehen zu unserer Verantwortung gegenüber dieser Region. Wir werden auch in Zukunft unsere Die jüngsten Fahndungserfolge bestätigen uns in un- internationalen Verpflichtungen der Staatengemein- serem Kurs. Mit § 129 b haben wir nun auch eine rechts- schaft gegenüber erfüllen. Dabei werden wir von Fall zu staatliche Handhabe geschaffen, um die Aktivitäten ter- Fall über den Umfang unserer Beteiligung nach dem Ge- roristischer – ich betone: terroristischer – Gruppen und sichtspunkt entscheiden, was wir leisten können und was Netzwerke auf deutschem Boden strafrechtlich nachhal- wir sinnvoll und effizient leisten sollten. Dass dabei tiger als in der Vergangenheit zu verfolgen. auch besondere historische Sensibilitäten beachtet wer- Die innere Sicherheit in Deutschland gewährleisten den müssen, habe ich immer wieder betont und dabei wir aber auch durch verstärkte Anstrengungen zur Inte- bleibt es auch. gration der bei uns lebenden Minderheiten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Aktuell geht es darum, mithilfe der internationalen Ge- Wir dürfen und wir werden nicht zulassen, dass sich in der meinschaft schnellstmöglich den Einstieg in einen erneu- Bundesrepublik Parallelgesellschaften bilden, die mei- ten Verhandlungsprozess mit dem Ziel einer umfassen- nen, sich den Gesetzen und der Verantwortung des Zu- den politischen Lösung zu finden. Die Gewalt im Nahen sammenlebens in unserer demokratischen Gesellschaft Osten hat ein für niemanden mehr erträgliches Ausmaß entziehen zu können. Das werden wir nicht dulden und erreicht. Der Terror muss ein Ende finden. Die Menschen dagegen werden wir mit aller Entschiedenheit vorgehen. in Israel und Palästina müssen endlich wieder ein Leben (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ohne Angst, aber auch ohne wirtschaftliche Not führen DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der können. Auch das verlangt unsere Unterstützung. (B) FDP und der PDS) (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Aber genauso klar muss sein, dass wir dieses so DIE GRÜNEN) schwierige, so sensible Feld nicht irgendwelchen Popu- Glasklar muss sein, dass die Bundesregierung von der listen von rechts überlassen, die in unverantwortlicher palästinensischen Autonomiebehörde, insbesondere von Weise Ängste und Hass schüren. Präsident Arafat, aber auch den anderen arabischen Füh- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE rern, klare Worte und Taten gegen den Terror und eine GRÜNEN, der FDP und der PDS – Zuruf von Rückkehr zu dem in Oslo vereinbarten Prinzip, dass keine der CDU/CSU: Und von links!) Seite Terror und Gewalt als Mittel zur Erreichung politi- scher Ziele einsetzen darf, braucht. Wohin ein solcher oberflächlicher und populistischer Um- gang mit speziell diesem Thema führen kann, haben wir (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gerade gemeinsam mit unseren Freunden in Frankreich DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der erleben müssen. FDP und der PDS) (Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr wahr!) Man muss hinzufügen, dass es aufseiten von Präsident Arafat an dieser Entschiedenheit in der Vergangenheit lei- Ich habe nicht den geringsten Zweifel an der demokrati- der häufig genug gefehlt hat. schen Reife des französischen Volkes. Ich sage aus eige- ner Kenntnis sehr deutlich: Ich bin froh darüber, dass es Auf der anderen Seite appellieren wir an die israelische einen solch untadligen Demokraten und überzeugten Regierung, alle Resolutionen des Weltsicherheitsrates zu Europäer wie Jacques Chirac gibt – er wird sicher mit erfüllen und jetzt insbesondere den Hausarrest von Präsi- überwältigender Mehrheit als Präsident wiedergewählt –, dent Arafat aufzuheben. Nur so kann er seiner Verant- wortung und seinen Verpflichtungen nachkommen. (Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD] – Lachen bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der FDP und der PDS) der dafür sorgen wird, dass Rechtspopulisten wie Le Pen in Frankreich und anderswo keine Chance haben. Die Lösung des Nahostkonflikts stellt eine der größten Herausforderungen für die internationale Politik dar. Wir (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Deutschen können, selbst wenn wir wollten, dabei nicht DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der abseits stehen, schon deshalb nicht, weil wir selbst PDS – Michael Glos [CDU/CSU]: Auslaufen- betroffen sind. Wir werden auch weiterhin alle nur er- des Modell Jospin!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23117

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) Meine Damen und Herren, die Verantwortung, von der ich Opfern des Terrors und von den schrecklichen Leiden der (C) eben gesprochen habe, ist auch Ihre Verantwortung. Wir Palästinenser sind für jeden schmerzlich, ja unerträglich. werden sehen, ob und wie Sie sie wahrnehmen. Die große Tragik dieser Region ist, dass dort seit über (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ einem Jahrhundert zwei Ansprüche aufeinander prallen, DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der die in einem schier unlösbaren Konflikt miteinander ste- PDS) hen. Terror, Unterdrückung und Gewalt verschärfen die Lage für die schwer getroffenen Menschen in der Region. Zu unserer Verantwortung für die innere Sicherheit Ich glaube, dass wir alle darin einer Meinung sind, dass gehört aber auch, dass wir dem Terrorismus den Nährbo- dies keine Mittel zur Lösung des Konflikts sind. Sie ver- den und seine falsche Berufungsgrundlage entziehen. Wir schärfen den Konflikt ins bisher unvorstellbar Grausame. wollen und müssen Israel, den Palästinensern und unseren anderen arabischen Partnern daher aktiv dabei helfen, (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. eine dauerhafte Friedens- und Wohlstandsperspektive Ulrich Heinrich [FDP]) zu erhalten. Wir alle verurteilen sie auf das Schärfste. Niemand kann (Beifall bei Abgeordneten der SPD) angesichts solch schrecklicher Bilder einfach wieder zur Tagesordnung übergehen. Wir müssen alles tun, was in Nach der Überwindung des Ost-West-Gegensatzes darf unseren Kräften und in unseren Möglichkeiten steht, um im Süden der Europäischen Union keine neue Sicher- einen Beitrag zur Herstellung des Friedens im Nahen heits- und Wohlstandsgrenze entstehen. Das können wir Osten zu leisten. nur erreichen, wenn wir gemeinsam mit unseren Freunden und Verbündeten und im Rahmen der Vereinten Nationen Der Konflikt im Nahen Osten ist das beherrschende als zuverlässiger – ich betone: zuverlässiger – Partner un- Thema in der Außenpolitik. Ich habe heute gelesen und serer gewachsenen internationalen Verantwortung weiter- bin auch immer wieder darauf angesprochen worden, dass hin gerecht werden. die heutige Debatte ein Duell zwischen dem Kanzler und seinem Herausforderer sein wird. Angesichts neuer internationaler Bedrohungen, aber auch angesichts unserer Position nach der Erlangung der (Hans Georg Wagner [SPD]: Oje!) vollen Souveränität haben wir uns heute internationalen Das halte ich angesichts der Tragik der Situation und vor Verpflichtungen zu stellen, die für unsere Partner in Eu- allen Dingen der vielen Opfer dieses Konflikts für völlig ropa und in der Welt längst selbstverständlich geworden abwegig. sind. Wir tun dies; wir tun dies in Solidarität und in Ver- folgung klarer Prinzipien: für Frieden, für nachhaltige (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNIS- (B) Entwicklung, für Rechtssicherheit und Interessenaus- (D) gleich. Unserer Verantwortung kommen wir im Rahmen SES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Rolf unserer Möglichkeiten nach, aber auch nach Maßgabe Kutzmutz [PDS]) dessen, was die internationale Staatengemeinschaft billi- Ich spreche für die Union in diesem Hause. Uns ist gerweise von uns erwarten kann. natürlich an einer verantwortungsvollen deutschen Unsere Lage in Europa, aber auch unsere historische Außenpolitik gelegen. Nach dem Ende des Kalten Krie- Verantwortung gebieten uns, dass wir mit Nachdruck für ges sind Deutschland neue Aufgaben in der Außen- und eine Konfliktregelung, für friedlichen Interessenaus- Sicherheitspolitik zugewachsen. Von uns Deutschen wird gleich, für Entwicklungs- und Wohlstandsperspektiven erwartet, dass wir sehr viel stärker als bisher Verantwor- insbesondere im Nahen Osten – aber nicht nur dort – ein- tung für Frieden und Freiheit auf unserem Kontinent und treten. Das war und das ist die Politik der Bundesregie- in der Welt übernehmen, wie das auch andere europäische rung, die wir gemeinsam mit unseren Partnern in Europa Nationen tun. verfolgen und umsetzen. Wir tun dies, damit statt Terror Dass Deutschland in schwieriger Situation dazu bereit und Trümmern endlich wieder Hoffnung und Sicherheit und fähig ist, hat die Bundesregierung unter den Alltag der Menschen im Nahen Osten und möglichst schon Anfang der 90er-Jahre auf dem Balkan unter Be- überall in der Welt bestimmen. weis gestellt. Damals gab es leider keinen so großen Kon- Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. sens, wie es ihn heute gibt. (Anhaltender Beifall bei der SPD und dem (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist sehr vor- sichtig ausgedrückt!)

Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Bei allen Überlegungen, deutsche Soldaten einzuset- dem Ministerpräsidenten des Freistaates Bayern, Edmund zen, ist auf fortwirkende historische Belastungen Rück- Stoiber. sicht zu nehmen. Das gilt in besonderem Maße bei der Frage eines deutschen Engagements in Israel und im Na- hen Osten. Bei aller Gemeinsamkeit in diesen Fragen Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident (Bayern) müssen wir gerade angesichts des Ernstes dieses Themas (von der CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Herr Präsident! in diesem Hohen Hause deutlich ansprechen, wo die Un- Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die Lage im terschiede zwischen der Bundesregierung und der Oppo- Nahen Osten ist inzwischen für alle Beteiligten verzwei- sition liegen, wenn es um einen deutschen Friedensbeitrag felt. Die Bilder von grausam zugerichteten israelischen im Nahen Osten geht. 23118 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern) (A) Herr Bundeskanzler, meines Erachtens haben Sie Konflikt ohne jede Bereitschaft zur Versöhnung. Aber nur (C) durch Ihre Äußerungen auf der Kommandeurstagung der Offenheit und Toleranz gegenüber dem anderen Stand- Bundeswehr in Hannover am 8. April gezeigt, dass Sie punkt führen zu einer politischen Lösung dieses Konflikts. den geschichtlichen Hintergrund eines deutschen Enga- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gements in Israel völlig verkennen. Sie haben laut darüber neten der FDP – Zuruf von der SPD: Das musst nachgedacht, dass deutsche Soldaten daran beteiligt sein du gerade sagen!) könnten – ich zitiere –, Obwohl dieser Konflikt nicht in erster Linie ökono- die Konfliktparteien, wenn es eine Chance gibt, eine misch oder sozial begründet ist, wird er durch die enorme friedliche Entwicklung durch Druck von außen ein- Spreizung des Pro-Kopf-Einkommens zwischen Israelis zuleiten, auch zu trennen und dafür eben auch – legi- und Palästinensern erheblich verschärft. Konzepte, die timiert durch die Vereinten Nationen – militärische diese religiösen, ökonomischen und sozialen Gegensätze Mittel einzusetzen. außer Acht lassen, werden keinen Erfolg haben. Palästi- Auf die besorgte Frage eines Kommandeurs nach einer nenser beklagen, dass sich die Israelis überheblich benäh- Beteiligung der Bundeswehr an einer internationalen men. Sie fühlen sich innerhalb Israels als Bürger zweiter Friedenstruppe haben Sie unwidersprochen gesagt – ich Klasse, erst recht in den 1967 eroberten Gebieten. Neben zitiere noch einmal –: den wirtschaftlichen und rechtlichen Benachteiligungen empfinden sie vor allem eine tiefe Verletzung ihres per- Das wäre sicherlich eine zu theoretische Debatte sönlichen und des nationalen Stolzes. Palästinenser be- über Eier, die noch nicht gelegt sind. harren auf dem Recht der Rückkehr in ihre angestammte (Dr. Peter Struck [SPD]: Das ist auch richtig!) Heimat. Sie empfinden die israelischen Siedlungen als Dorn im eigenen Fleisch. Aber ich will wenigstens so weit gehen, Ihnen fair auf Ihre Frage zu antworten, dass ich das, was in der Die Israelis befürchten von der Rückkehr der Flücht- Frage intendiert war, nicht ausschließen kann und linge eine massive Veränderung der Bevölkerungsstruk- will. tur, mit Auswirkungen auf den Charakter ihres jüdischen Staates. Bis heute hat die große Mehrheit der arabischen (Zuruf von der SPD: Haben Sie auch eine ei- Staaten Israel nicht anerkannt und ist dem Land feindlich gene Meinung, Herr Stoiber?) gesinnt. Auch wenn Sie in der Zwischenzeit Ihre Aussagen re- Was die Menschen in dieser Region zurzeit durchma- lativieren, sage ich Ihnen: In dieser Frage unterscheiden chen, das ist eine der schlimmsten Heimsuchungen, die wir uns grundsätzlich. eine zivilisierte Gesellschaft erleben kann. Wäre Deutsch- (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) land in gleicher Weise wie Israel von Terroranschlägen betroffen, dann würde das gewaltige Ausmaß von Furcht, Wir sind zu jeder möglichen politischen und humanitären Angst und Schrecken weite Teile des öffentlichen Lebens Hilfeleistung bereit. lähmen. Es ist eine schreckliche Vorstellung, dass sich in (Hans Georg Wagner [SPD]: Aha!) deutschen Städten kein Mensch mehr in ein Restaurant wagen könnte. Die Marktplätze und Einkaufszentren Aber vor dem Hintergrund unserer Geschichte wird es wären leer, weil man fürchten müsste, jederzeit Opfer ei- im Nahostkonflikt einen Einsatz deutscher Soldaten nes Terroranschlags zu werden. Das ist doch die Lage, in – selbst unter UNO-Mandat – mit unserer Zustimmung der sich Israel zurzeit befindet. nicht geben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der neten der FDP) PDS) Die Menschen haben Angst, weil sie wissen, dass vor Auch wenn heute das Verhältnis Deutschlands zu Israel kurzem in ihrer Nachbarschaft ein Selbstmordattentäter gut und freundschaftlich ist, wird es angesichts der Opfer für Tod und Verwüstung gesorgt hat und dass dies jeder- des Holocausts immer ein besonderes Verhältnis sein. zeit wieder geschehen kann. Dieses besondere Verhältnis besteht auch in der schreck- lichen Konfliktsituation, in der sich der ganze Nahe Osten Trotz einer Vielzahl von Treffen, von Vereinbarungen zurzeit befindet. und Plänen dreht sich die Spirale von Hass und Gewalt weiter. Ihr können die Konfliktparteien nur entkommen, In dem Land, in dem viele heilige Stätten, zum Beispiel wenn beide Seiten die gewaltsamen Auseinandersetzun- die Geburtskirche in Bethlehem, liegen, mit denen gläu- gen umgehend beenden. Dabei muss allen klar sein, dass bige Menschen Symbole für Hoffnung und Frieden ver- sie zu schmerzhaften Kompromissen bereit sein müssen. binden, herrschen Terror und Krieg. Zwei Völker erheben Denn Tatsache ist: Heute lebt Israel mit weniger Sicher- Anspruch auf dasselbe Stück Erde. Dabei geht es nicht nur heit und mit weniger Frieden. Daran hat die Politik von um gegensätzliche territoriale Ansprüche. Hinter diesen Ministerpräsident Scharon, der mit dem Versprechen an- Ansprüchen steht ein tiefer, religiös begründeter Konflikt, getreten ist, mehr Sicherheit für Israel zu schaffen, nichts der sich im Streit um Jerusalem zuspitzt. Diese Stadt ist geändert, leider ganz im Gegenteil. Die Palästinenser ha- beiden Seiten heilig. Wenn sich aber beide Seiten darauf ben durch den Rückfall zum Terror und ihren Griff zum berufen und unnachgiebig auf ihrer Position beharren, Mittel des menschenverachtenden Selbstmordattentats dann mündet das geradezu zwangsläufig in einen blutigen viel Vertrauen in der Welt verloren. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23119

Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern) (A) In der jetzigen Situation ist es mehr denn je Aufgabe haben, liegen Knoten des Terrornetzes in Europa, mitten in (C) der politischen Führung beider Seiten, beiden Völkern die Deutschland. Kein Konflikt rechtfertigt Terror. Aber es ist dringende Notwendigkeit von Kompromissen unge- die bittere Realität, dass wir mit dieser Bedrohung leben. schminkt zu vermitteln. Wir appellieren an die israelische Niemand weiß, wo der Terror morgen oder übermorgen Regierung, die UNO-Kommission zur Untersuchung der zuschlägt und wie viele Opfer er noch fordert. Vorgänge in Dschenin zu unterstützen, damit die schwe- Der Schlüssel für die Lösung des Konflikts liegt ganz ren Anschuldigungen entkräftet werden können. entscheidend in den USA. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Dr. Peter Struck [SPD]: Das ist mal was Das darf nicht die Quelle für eine neue furchtbare Runde Neues!) von Terror und Gewalt werden. Genauso appellieren wir Zusammen mit der Europäischen Union, mit Russland an Arafat und die palästinensische Führung, für ein Ende und der UNO und gemeinsam mit den arabischen Nach- des Terrors zu sorgen, damit es zu einem Waffenstillstand barn Israels können sie einen Beitrag zu einer dauerhaften kommt. Lösung des Konflikts zwischen Israelis und Palästinen- Wir stehen – hier sind wir in der Tat aufgrund unserer sern und zum Frieden in der Region leisten. gesamten geschichtlichen Erfahrungen einer Meinung – Ich bin ein überzeugter Verfechter einer Gemeinsamen ohne Einschränkungen zum Existenzrecht Israels in Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union. Frieden und in gesicherten Grenzen. Dazu gehört auch, ohne Terrorangst leben zu können. (Unruhe bei der SPD – Hans Georg Wagner [SPD]: Aha! Das ist was Neues!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich bin auch der Meinung, dass in Europa in Zukunft ein Ich habe heute mit Befriedigung zur Kenntnis genom- höheres Maß an Zuständigkeit vorhanden sein muss. men, dass Sie, Herr Bundeskanzler, kein Embargo oder Boykottmaßnahmen gegen Israel beschließen oder mit- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. tragen werden. Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP] – Joachim Poß [SPD]: Das musste mal gesagt werden!) (Unruhe bei der SPD) Bei aller Wertschätzung der nationalen Souveränitäten, Aber angesichts der vorangegangenen Fragen und Irrita- die gerade in der Außenpolitik zum Ausdruck kommen – tionen haben wir natürlich schon ein Anrecht zu wissen: hier brauchen wir mit Sicherheit eine Weiterentwicklung Was haben Sie zurückgehalten und was liefern Sie jetzt? gerade auch aus der Säule drei in die Säule eins der euro- Auch hierzu hatte ich heute eine klare Antwort erwartet. päischen Verträge. Sie würde eine europäischere Außen- (B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- und Sicherheitspolitik ermöglichen, sie würde das trans- (D) neten der FDP – Hans Georg Wagner [SPD]: Sie atlantische Bündnis festigen. Das gilt gerade auch im Ver- haben selbst doch nichts gesagt!) hältnis zum Nahen Osten. Meine Damen und meine Herren, wir unterstützen aber Leider hat der Fischer-Friedensplan, der jetzt vom auch die Ansprüche des palästinensischen Volkes auf ei- Bundeskanzler sozusagen zu einer Wegskizze herabge- nen eigenen Staat. CDU und CSU treten ein für eine Re- stuft wird, dazu keinen glücklichen Beitrag geleistet. gion, in der zwei Staaten, Israel und Palästina, Seite an (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der Seite innerhalb sicherer und von allen Nachbarn aner- SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – kannter Grenzen leben. Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU) NEN]: Oh, Stoiber!) Ich halte es auch deswegen für notwendig, diese De- Besser wäre es gewesen, wenn er ihn in die Beratungen batte zu führen, sie vielleicht öfter zu führen, weil ich der Europäischen Union eingebracht und mit den USAab- glaube, dass unsere Bevölkerung über die Ursachen und gestimmt hätte. die Schwierigkeit dieses Konflikts Informationen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) braucht, die gerade auch in der politischen Debatte ent- stehen, damit es gar nicht erst zu Einseitigkeiten in der Die Europäer werden nur dann eine wirksame Rolle spielen können, wenn sie handlungsfähig sind. Gewiss: Wir Bewusstseinslage kommt. haben im Sommer 2000 die europäische Politik für den (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Mittelmeerraum ein Stück weit harmonisiert. Doch seiner- neten der FDP) zeit wurde der arabisch-israelische Friedensprozess bis zum Abschluss eines umfassenden Friedens aus der gemein- Solange dieser Konflikt nicht gelöst ist, bleibt er ein samen Strategie herausgenommen. Ausgerechnet dort, wo Nährboden für weltweiten Terror. Er war der Hintergrund die Stabilität einer ganzen Region auf dem Spiel steht, ha- für das Olympia-Attentat 1972 in München. Er war nicht ben sich die europäischen Regierungen einschließlich der allein, aber auch der Hintergrund für den Terrorkrieg, der Bundesregierung der Vielstimmigkeit verschrieben. So am 11. September Amerika direkt und damit letztlich mit- können wir die europäische Außen- und Sicherheitspolitik telbar der gesamten freien Welt erklärt wurde. Er ist auch mit Sicherheit nicht erfolgreich betreiben. eine Ursache für das Attentat von Djerba, dessen Opfern und deren Angehörigen unser tiefstes Mitgefühl gilt. Wie (Beifall bei der CDU/CSU – Susanne Kastner die jüngsten Ermittlungen deutscher Behörden aufgedeckt [SPD]: So was!) 23120 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern) (A) Die Europäer können aufgrund ihrer guten Beziehun- entschieden all denen entgegen, die unter dem Deckman- (C) gen zu den meisten arabischen Staaten die Fähigkeit an- tel des Protestes gegen die israelische Politik bieten, Brücken über die tiefen Gräben zu schlagen. Das ist angesichts der historischen Mitverantwortung Europas (Zuruf von der SPD: Möllemann!) im Nahen Osten eine angemessene Rolle, aber auch der uralte antisemitische Klischees aufpolieren, um so aus spezielle Beitrag, den die Europäer leisten können. Ich bin dem Leiden des Nahen Osten schäbiges politisches Kapi- der festen Überzeugung, dass nur alle miteinander, die tal zu schlagen. Vereinigten Staaten von Amerika und die Europäer zu- sammen mit Russland und der UNO, die Entscheidungen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie vorantreiben können. Hier werden die Europäer gerade bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNIS- auch wegen ihrer Glaubwürdigkeit gegenüber den arabi- SES 90/DIE GRÜNEN) schen Staaten gebraucht. Für viele Zwischenrufe habe ich Verständnis, aber den (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Zwischenruf, den ich gerade gehört habe, Wenn Sie schon zitieren, dann (Susanne Kastner [SPD]: Welchen Zwi- müssen Sie das richtig machen!) schenruf haben Sie denn gehört?) Ein militärischer Beitrag Deutschlands wäre vor verstehe ich nicht, besonders in Anbetracht unserer Ver- dem Hintergrund unserer eigenen Geschichte ein Irrweg. antwortung für Israel insgesamt und für die Situation der Er ist deshalb für die Union völlig ausgeschlossen. Juden in unserem Lande. Hier sind Ängste vorhanden. (Beifall bei der CDU/CSU) Mit denen kann man nicht so umgehen. Herr Bundeskanzler, Sie haben zwar heute gesagt, die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Frage einer deutschen Beteiligung an einer internationalen Herr Bundeskanzler, Sie haben das Thema Frankreich Sicherheitskomponente stehe derzeit nicht auf der Tages- und die französischen Wahlen angesprochen. Ich möchte ordnung; Sie haben aber hinzugefügt, Sie würden von Fall darauf kurz eingehen. Ich glaube, wir sind beide zutiefst zu Fall über den Umfang einer deutschen Beteiligung nach bedrückt darüber, zu welcher Stichwahlentscheidung es dem Gesichtspunkt entscheiden, was Deutschland leisten gegenwärtig in Frankreich gekommen ist. Dies entspricht kann und was es sinnvoll und effizient leisten sollte. mit Sicherheit nicht der politischen Kultur in diesem Land. (Hans Georg Wagner [SPD]: Was denn sonst? – Aber es zeigt natürlich auch, zu welchen Schwierigkeiten Weiterer Zuruf von der SPD: So ist das nun ein- es kommt, wenn die großen Volksparteien Themen aus der mal!) politischen Auseinandersetzung herauszunehmen versu- chen, obwohl sie Themen der Gesellschaft sind. (B) Ein militärischer Beitrag ist für uns keine Frage der Ta- (D) gesordnung. Wir lehnen ihn im Nahostkonflikt aus (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi- grundsätzlichen Erwägungen ab. derspruch bei der SPD – Hans Georg Wagner (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hans [SPD]: Le Pen pur! – Weiterer Zuruf von der Georg Wagner [SPD]: Ich bin gespannt, wie SPD: Wahlkampf!) lange!) Ich habe mit Sicherheit nicht weniger für Populisten Im Übrigen – das wäre an anderer Stelle zu debattie- übrig als Sie, Herr Bundeskanzler. ren – drängt sich der Verdacht auf, dass Ihre Bereitschaft, (Lachen bei Abgeordneten der SPD und des deutsche Truppen im Ausland einzusetzen, in diametra- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Peter lem Gegensatz zu Ihrer Bereitschaft steht, für die Bun- Zumkley [SPD]: Wer spricht denn da?) deswehr mehr zu tun. Auch dies muss man deutlich sagen. Aber Sie müssen auch dafür sorgen, dass nicht rechts- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) extremistische und rechtsradikale Parteien weit über Meine Damen, meine Herren, lassen Sie mich noch ein ihren Anhang hinaus verärgerte, unsichere Bürger hinter Wort an die in Deutschland lebenden Juden richten. sich scharen können (Zuruf von der SPD: Jetzt kommt nur blau- (Hans Georg Wagner [SPD]: Sie schüren das weiße Luft!) doch!) Sie sind loyale Bürger unseres Staates, aber es ist nur allzu und damit politisches Gewicht bekommen, das ihnen in verständlich, wenn sie sich mit Israel in besonderer Weise unserem Lande überhaupt nicht zusteht. Dafür werden wir verbunden fühlen. In Israel leben viele ihrer Freunde, viele wieder sorgen. ihrer Bekannten, vieler ihrer engsten Verwandten. Ich kann (Beifall bei der CDU/CSU) die Verbitterung verstehen, wenn bei antiisraelischen De- monstrationen in Europa und ganz besonders in Deutsch- Ich möchte in diesem Zusammenhang – weil Sie es an- land antisemische Untertöne zu vernehmen sind oder wenn gesprochen haben – deutlich den Unterschied zu Frank- es gar wie in Frankreich, aber leider auch schon vereinzelt reich herausstellen: in Deutschland, zu offenen antisemischen Feindseligkeiten (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kommt. Dies stößt auf unseren erbitterten Widerstand. NEN]: Der Freund von Berlusconi! – Kerstin Kritik an der israelischen Politik ist in einer Demokra- Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: tie ein selbstverständliches Recht. Wir treten aber ganz Koalition mit Schill in Hamburg!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23121

Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (Bayern) (A) Wir haben eine andere politische Kultur. Das ist richtig. Drittens. Wir wissen, dass die dauerhafte Sicherung der (C) Aber es ist vor allen Dingen auch CDU und CSU in den Existenz Israels und seiner Menschen eine Umsetzung der 50 Jahren der Geschichte der Bundesrepublik Deutsch- legitimen Interessen der Palästinenser in einem eigenen land gelungen, rechtsextremistische und rechtsradikale Staat als wesentliches Element bedingt, einen Staat Parteien aus den Parlamenten herauszuhalten. Ich wäre Palästina, der in gemeinsamer Sicherheit als Nachbar froh gewesen, wenn dies auch Ihnen gelungen wäre. mit Israel in Frieden verbunden ist. (Beifall bei der CDU/CSU – Rezzo Schlauch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagt der und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der politische Freund von Berlusconi! – Dr. Peter PDS) Struck [SPD]: Sagen Sie doch etwas zu Schill in Hamburg! – Weitere Zurufe von der SPD und Viertens – auch das finde ich wichtig –. Die Rolle der dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) internationalen Gemeinschaft, vor allen Dingen des so genannten Quartetts – die USA, die Europäische Union, Die westlichen Staaten unter Führung der USA, die Euro- Russland und der Generalsekretär der Vereinten Natio- päische Union, Russland und auch wir in Deutschland müs- nen –, wird ebenfalls als zentraler Punkt angesehen. An- sen einen Beitrag zur Beendigung dieses schrecklichen Kon- geführt wird die internationale Gemeinschaft ohne je- flikts leisten. Aber ohne den Mut der verantwortlichen den Zweifel von den USA, die die entscheidende Rolle Politiker im Nahen Osten, aufeinander zuzugehen, kann es spielen. Aber völlig klar ist auch – das hat leider der keinen Frieden geben. Wir können mit unseren diplomati- Camp-David-Prozess gezeigt –, dass selbst die mächtigen schen, politischen und ökonomischen Möglichkeiten solche und großen Vereinigten Staaten von Amerika allein nicht Bereitschaft ermutigen und fördern. Wir wünschen den ausreichen, um als dritte Partei einen Frieden durchsetzen Menschen im Nahen Osten, dass die führenden Persönlich- zu können. keiten ihrer Länder wieder den Mut und die Kraft finden, wie sieAnwar el Sadat, Menachem Begin undYitzhak Rabin hat- Eines allerdings, Kollege Stoiber, wird Ihnen der Bun- ten, die gegen alle Tabus und Widerstände in ihren Ländern deskanzler nicht beantworten können, nämlich die Frage offen und vertrauensvoll die Hände zueinander ausstreckten. nach den Erörterungen des Bundessicherheitsrates; Herzlichen Dank. (Dr. Peter Struck [SPD]: Das ist geheim!) (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Bei- denn diese unterliegen der Geheimhaltung. fall bei Abgeordneten der FDP) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile nun Bun- (B) desminister Joseph Fischer das Wort. Es wurde zu Recht darauf hingewiesen, dass es sich um (D) einen tragischen Konflikt handelt. Es ist ein sehr gefähr- licher Konflikt in unserer direkten und unmittelbaren Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen Nachbarschaft. Wir sind mit Israel historisch verbunden, (vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie von Abgeord- aber wir als Deutschland, wir Europäer sind auch unmit- neten der SPD mit Beifall begrüßt): Herr Präsident! telbare Nachbarn dieser Konfliktregion. Wenn dieser tra- Meine Damen und Herren! Nachdem wir die beiden Vor- gische Konflikt eskaliert oder gar explodiert, würde das redner, den Bundeskanzler und Ministerpräsident Stoiber Konsequenzen für die Menschen bei uns haben. Wir ha- für die CDU/CSU, gehört haben, ist es für die deutsche ben es auf furchtbare Art und Weise in Djerba erleben Außenpolitik und insbesondere die deutsche Nahostpoli- müssen, dass es sich hierbei nicht nur um Vorhersagen, tik in diesem tragischen Konflikt wichtig, die Gemein- sondern um ganz aktuelle Gefahren handelt. Deswegen ist samkeiten, die in beiden Reden zum Ausdruck gekommen es so wichtig, dass die deutsche Außenpolitik, eingebettet sind und die, wie ich denke, in diesem Hause breit getra- in die europäische Politik, hier als Friedenspolitik mit ini- gen werden, zu Beginn meines Beitrags herauszuarbeiten. tiativ ist und zur Beendigung dieses tragischen Konflikts Ich habe beiden Beiträgen Folgendes entnommen: beiträgt. Erstens. Es besteht in der deutschen Nahostpolitik ein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN breiter Konsens darüber, dass das Sonderverhältnis und bei der SPD) Deutschlands zu Israel, das historisch begründet und von Ich weiß um die Kraft der Bilder. Aber ich warne davor, David Ben-Gurion und entwickelt allein auf die Bilder zu vertrauen. Man wird diesen Kon- wurde, unverändert fortbesteht. flikt nicht verstehen, wenn man einseitig Schuld- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zuweisungen vornimmt; denn man wird dann mindestens sowie bei Abgeordneten der SPD) zur Hälfte falsch liegen. Das ist jedenfalls meine Erfah- rung. Es wird stattdessen ganz entscheidend drauf ankom- Zweitens. Wir alle bejahen uneingeschränkt das Exis- men, die Gesprächsfähigkeit beider Seiten wieder herzu- tenzrecht Israels, und zwar ein Existenzrecht in sicheren stellen und sich in die Ängste der jeweils anderen Seite Grenzen und in Frieden ohne Angst vor Terror für den hineinzudenken; denn nur auf dieser Grundlage wird es Staat und die Bürgerinnen und Bürger. möglich sein, den Friedensprozess erneut zu beginnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das Fatale am Zusammenbruch des Camp-David-Prozes- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der ses war und ist, dass er zu einem völligen Zusammenbruch PDS) des Vertrauens und auch der politischen Friedensvision 23122 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Bundesminister Joseph Fischer (A) geführt hat. Dies wieder herzustellen wird den beiden Dinge unverzichtbar, wenn es funktionieren soll: Erstens. (C) Konfliktparteien allein nicht gelingen. Es wird hier viel- Wir brauchen einen Wegeplan, das heißt, die einzelnen mehr einer starken dritten Kraft, des Quartetts, bedürfen. Schritte des Friedensprozesses müssen vereinbart sein. Das allein führt aber zu gar nichts. Dann steht man noch immer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – diese Erfahrungen haben wir mit den hervorragenden und bei der SPD) Vorschlägen des ehemaligen Senators Mitchell und seiner In diesem Zusammenhang ist die deutsche Position Kommission gemacht – vor verschlossenen Türen und zu sehen. Wer die ganze Komplexität in kurzer, zusam- kommt nicht voran, obwohl alle behaupten, sie seien dafür. mengefasster Form verstehen will, dem kann ich nur Denn es würde dann – zweitens – noch immer ein ver- empfehlen, das Interview mit Sari Nusseibeh, dem beein- bindlicher Zeitplan für beide Konfliktparteien fehlen. druckenden palästinensischen Intellektuellen und Direk- Aber selbst ein solcher Zeitplan – ich verweise nur auf tor der Al-Quds-Universität in Jerusalem, in der heutigen Oslo, wo ein verbindlicher Zeitplan vereinbart wurde – Ausgabe der „Zeit“ zu lesen. Er bringt in diesem Inter- führt allein zu nichts. Ich will Ihnen auch sagen, warum. Ich view die ganze Komplexität des Konflikts zwischen den verdeutliche das an einem praktischen Beispiel, damit die beiden Seiten in wenigen Sätzen zum Ausdruck und Zuhörerinnen und Zuhörer es verstehen: macht klar, dass Schuldzuweisungen den Konflikt immer weiter eskalieren lassen und dass stattdessen nur das Auf- ( [CDU/CSU]: Fischers Volks- einanderzugehen, ein historischer Kompromiss, eine Per- hochschule!) spektive für die beiden Völker eröffnet. Wenn Sie im Nahen Osten eine Vereinbarung treffen, die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN „Guten Tag“ heißt, dann interpretiert die eine Seite das als und bei der SPD) „Guten Morgen“ und die andere Seite als „Gute Nacht“. Das ist die Realität. Das bedeutet: Wenn Sie den Kon- Weder die Realität des palästinensischen Volkes noch die fliktparteien die Umsetzung überlassen, dann werden Ih- des israelischen Volkes wird ungeschehen gemacht wer- nen Wegeplan und Zeitmechanismus allein nichts nützen. den können, denn das wäre ein furchtbares Verbrechen. Es Deswegen brauchen Sie die Einbeziehung einer starken wird also nur einen Kompromiss geben können. Wir müs- dritten Partei. Sie ist sozusagen die Umsetzungsgarantie. sen dazu beitragen, dass ein Kompromiss Realität wird. Diese Konsequenz müssen wir ziehen, wenn wir das Ziel Das ist gegenwärtig schwerer denn je. zweier Staaten, die in Frieden nebeneinander leben, errei- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- chen wollen. SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir haben ein Ideenpapier entwickelt. „Ideenpapier“ und bei der SPD) (B) deswegen, weil wir unsere Ideen in die Europäische Diese Elemente liegen unserer Ideenskizze zugrunde, (D) Union einbringen wollten. Das haben wir auch getan. Wir weil es meines Erachtens diese Punkte sind, die umgesetzt haben vorher darüber mit der amerikanischen Seite intern werden müssen. Ob eine Konferenz am Ende oder am Be- diskutiert. Ihren Versuch, Herr Ministerpräsident Stoiber, ginn dieses Prozesses steht, halte ich für eine zwar wich- hier Differenzen aufzubauen, verstehe ich nur als innen- tige, aber taktisch operative Frage. Entscheidend ist, dass politisches Bemühen, in dieser Debatte zwischen Ihrer wir jetzt auf der Grundlage der Realität im Nahen Osten und unserer Position Abstand zu schaffen. Ich dagegen handeln. Wir müssen uns der Frage der Trennung stellen. bin sehr froh, dass es hier einen breiten Konsens gibt. Ich Diese Debatte beginnt in Israel. Diese Trennung nicht zu entnehme Ihren Worten auch keine Sachkritik an der Po- nutzen, sondern politisch folgenlos zu lassen, sie nicht als litik, die wir betreiben. Das freut mich. Denn ich kann auf- Beginn eines Friedensprozesses zu begreifen, hieße, eine grund meiner Erfahrungen nur sagen: Wir brauchen hier- riesengroße Chance zu verspielen. bei in der Tat eine breite Unterstützung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Allerdings darf diese Trennung, die kommen wird, nicht dazu führen, dass man versucht, die Palästinenser Warum? Es sind im Wesentlichen vier Elemente, die abzuriegeln. Das würde auf Dauer nicht funktionieren, ich für unverzichtbar halte, wenn wir wieder einen Frie- sondern nur zu einer weiteren Eskalation mit enormen Si- densprozess in Gang setzen wollen: Das erste Element ist cherheitsrisiken für Israel führen. Vielmehr muss – und die Schaffung zweier Staaten. Das hat auch Bush, Präsi- das sieht unser Ideenpapier vor – dieser Trennungsprozess dent des mächtigsten Staates des gegenwärtigen politi- den Beginn eines politischen Prozesses einleiten, in des- schen Staatensystems, in seiner Rede vom 11. April – ich finde, an dieser strategischen Orientierung sollten wir sen Zuge nicht völkerrechtliche Annexionen betrieben unbedingt festhalten – zum Ziel erklärt. Selbst die USA werden und nicht ein dauerhafter Status festgeschrieben – die Europäer haben dies schon lange getan – erklären die wird, wohl aber Sicherheit und Entzerrung der Konflikt- Schaffung zweier Staaten jetzt als Ziel, das es zu erreichen parteien entstehen. gilt. Es bleibt für uns die Aufgabe, darüber nachzudenken, (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- wie wir eine Brücke bauen können, um aus der gegen- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) wärtig furchtbar zugespitzten Situation heraus dieses Endziel zu erreichen. Der zweite Schritt in diesem Zusammenhang ist mit der palästinensisch-arabischen Seite zu diskutieren. Es geht Meine Damen und Herren, aufgrund der Erfahrungen, um die Idee unserer französischen Freunde, die auch vom die ich vor allem im letzten Jahr gesammelt habe, sind drei israelischen Außenminister Peres und vom palästinen- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23123

Bundesminister Joseph Fischer (A) sischen Verhandlungsführer, dem Parlamentspräsidenten festgenommen wurde, wo er und unter welchen Bedin- (C) Abu Alaa, formuliert wurde, die Ausrufung eines palästi- gungen er im Gefängnis sitzt, zu beantworten – was in der nensischen Staates auf vorläufiger Grundlage, das heißt Region alles andere als einfach ist. ohne eine abschließende Entscheidung über den End- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN status, schnell vorzunehmen. Ich will zunächst darauf zu sprechen kommen, warum das für die Palästinenser und bei der SPD) schwierig ist, bevor ich die Vorteile nenne. Die Paläs- Diese Monitore wurden zwar von Israel offiziell ab- tinenser fürchten, dass dieser Zwischenstatus quasi zu gelehnt, weil die Internationalisierung abgelehnt wurde, einem Endstatus wird. Das wollen sie nicht. Sie sagen: Wir aber ihre Arbeit, die deshalb von mir ironisch als „non- begnügen uns heute schon mit 22 Prozent des ursprüng- existing monitoring“ bezeichnet wurde, wird dort sehr ge- lichen Territoriums – was wiederum von Israel aufgrund schätzt; sie haben bei den oben beschriebenen Aufgaben des Teilungsbeschlusses der Vereinten Nationen von 1958 eine sehr wichtige Funktion wahrgenommen. Darum geht infrage gestellt wird – und wollen uns nicht mit weniger es doch bei einem Sicherheitsmechanismus. Dass das zu begnügen. Diese Position ist durchaus ernst zu nehmen. mehr führen muss, kann doch heute beim besten Willen Dennoch meine ich, dass die französische Idee und der niemand behaupten. Peres-Abu-Alaa-Plan an diesem Punkt einen großen Vor- (Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Sagen Sie es teil bieten. Denn ein Mangel der Osloer Verhandlungen ihm! – Michael Glos [CDU/CSU]: Er hat doch war doch, wie wir festgestellt haben, dass der demokra- gar nicht von Monitoring geredet!) tische Staatsaufbau, das heißt das Schaffen demokrati- scher Institutionen, in den palästinensischen Gebieten Schon gar nicht, Herr Glos, wird eine Ausweitung des nicht in dem Maße Priorität hatte, wie das der Fall sein Mandats gegen den Willen der Konfliktparteien möglich muss. Diese beiden Staaten werden immer aufs Engste sein. Das zu glauben ist doch völlig abstrus. miteinander verbunden sein. Ich kann mir nicht vorstel- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN len, dass Frieden funktionieren kann, wenn in Israel – der und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Bundeskanzler hat das völlig zu Recht unterstrichen – PDS – Michael Glos [CDU/CSU]: Macht den eine Demokratie besteht und zehn bis 15 Kilometer außer- Kanzler lächerlich, und Sie klatschen!) halb von Jerusalem ein autoritäres Regime herrscht. Das wird nicht zusammenpassen. – Ich weiß, dass Sie hauptsächlich die innenpolitische Kontroverse interessiert, mich interessiert aber der Frie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN densprozess. und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Deswegen ist die Frage des Aufbaus eines demokra- (B) PDS) (D) tischen Staates von zentraler Bedeutung. Beide Konfliktparteien müssen einen Gewaltverzicht Da ist ein solcher Mechanismus von zentraler Bedeutung. leisten und Terrorismus aktiv und entschlossen, ohne All das kann nur erreicht werden, wenn die dritte Partei Wenn und Aber, bekämpfen. Beide Seiten müssen sich zusammenhält. verpflichten, Verhandlungen über den Endstatus zu füh- Gestatten Sie mir, meine Damen und Herren, noch ei- ren und – das ist noch wichtiger – sie auch zum Abschluss nen Aspekt in diesem Zusammenhang anzusprechen. Ich zu bringen. Wir schlagen dafür einen Zeitraum von zwei halte auch deswegen nichts von Sanktionen, weil diese Jahren vor. In diesem Zusammenhang muss es eine inter- nicht wirken werden. nationale Garantie zur Umsetzung dieses Beschlusses ge- ben. Dieser Punkt ist zentral. (Dr. [CDU/CSU]: Sag das dem Scharping!) Herr Ministerpräsident, ich verstehe Sie ja: Es ist Wahl- kampf und man muss darum auch Dissense herausstellen. In der Europäischen Union und im Europaparlament gab Ich kann Ihnen aber nur Folgendes sagen: Die Beteiligung es diesbezügliche Forderungen. Die einzige Wirkung, die der Europäer und der Deutschen hat sich im Bereich des Sanktionen der EU hätten, wäre, dass das Verhältnis zwi- Monitoring schon als sehr wichtig erwiesen. Nach dem schen der Europäischen Union und Israel endgültig furchtbaren Attentat vor dem Dolphinarium am 1. Juni zerrüttet würde. Selbst wenn ich zu 100 Prozent der Mei- letzten Jahres hat dieser Ansatz beim Versuch, einen Waf- nung derer wäre, die für diese sehr israelkritische Position fenstillstand hinzubekommen, ganz besonders im Süden eintreten – ich teile diese Meinung überhaupt nicht –, von Jerusalem Wirkung gezeigt. Er hat ganz besonders gut würde ich sagen: Frieden stiftet man nicht mit sich selbst, in Beit Jala, im Süden von Jerusalem, zwischen Bethlehem sondern man muss Gespräche mit beiden Seiten führen. und Jerusalem, einem ganz besonders heißen Punkt, wo Deshalb kommt es zentral darauf an, dass die Europäische nahezu nächtlich auf Gebäude israelischer Siedler ge- Union gesprächsfähig bleibt. schossen wurde, funktioniert, weil dort sechs Monitore der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Europäischen Union, darunter auch ein Deutscher, tätig und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der waren. Die Arbeit dieser Geheimdienstmitarbeiter unter PDS) Führung eines Briten, Alister Crooke, wurde von Minis- terpräsident Sharon mir gegenüber mehrmals nachdrück- Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen nochmals lich gelobt. Dieses Modell des Monitoring ist meines Er- an diesem Punkt versichern: Wir als Bundesrepublik achtens von entscheidender Bedeutung allein deshalb, um Deutschland stehen historisch in einem Sonderverhältnis die zentrale Frage der Terrorismusbekämpfung, ob jemand zu Israel. Daran gibt es nichts zu deuten und daran darf 23124 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Bundesminister Joseph Fischer (A) von niemandem gerüttelt werden. Ich fände es gut, wenn nensischen Volkes gerichtet. Genauso wie Deutschland (C) das hier von allen Fraktionen eindeutig klargestellt würde aus geschichtlicher Verantwortung und demokratischer und wir im jetzt beginnenden Wahlkampf keine Kontro- Überzeugung an der Seite Israels stand, hat es auch nie- versen über diesen Punkt hätten. mals die legitimen Rechte des palästinensischen Volkes Zum einen ist besonders wichtig, dass wir den jüdi- zurückdrängen wollen. schen Deutschen, unseren jüdischen Bürgern – man muss Jedem ist klar – der Außenminister hat es zum Aus- nicht die Frage der Loyalität betonen, wir betonen auch druck gebracht –: Natürlich haben die Palästinenser ein nicht die Loyalität von nicht jüdischen Deutschen –, Recht auf ihren eigenen Staat. Er wäre im Übrigen – das (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- dürfen wir auch unseren Freunden und der israelischen SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der Gesellschaft, die das in ihrer überwiegenden Mehrheit PDS) weiß, offen sagen – zugleich die beste Garantie für die Sicherheit Israels, viel besser als die Panzer, die dort jetzt das Gefühl geben, dass wir an ihrer Seite stehen, dass An- in bestimmten Gebieten stehen. tisemitismus in Deutschland keine Chance mehr hat und dort, wo er auftaucht, mit aller Macht des Staates, der (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Justiz und der Politik bekämpft wird. Rolf Kutzmutz [PDS]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Neben unseren zahlreichen Bemühungen um Konflikt- bei der SPD und der PDS) lösungen ist es auch richtig, den beiden Gesellschaften ei- Zum anderen müssen wir in Europa und in der Welt mit niges mit kluger Wortwahl zu sagen. Es ist ein tragischer unserer ganzen Kraft dafür eintreten, den Frieden, der so Irrtum der dort Verantwortlichen, sowohl des Vorsitzen- unwahrscheinlich geworden, aber zugleich so alternativlos den der Palästinensischen Autonomiebehörde als auch ist, zu erreichen. Wie hat ein Außenminister aus der Region des israelischen Ministerpräsidenten, zu glauben, auf der bei meinem letzten Besuch gesagt: Es ist absurd, dass wir einen Seite mit Gewalt mehr zu bekommen und auf der wissen, wie das Ergebnis sein wird und sein muss – zwei anderen Seite mit Gewalt und Druck weniger geben zu Staaten –, aber nicht wissen, wie wir dort hinkommen; jetzt müssen. Darin wird keine Lösung liegen. sterben deswegen viele unschuldige Menschen. Wir müs- (Beifall bei der FDP) sen unsere ganze Kraft darauf richten zu erfahren, wie wir diesen Frieden erreichen, nämlich das Ziel von zwei Staa- Mit Bezug auf eine Passage der Rede des bayerischen ten, verbunden in Frieden und gemeinsamer Sicherheit. Ministerpräsidenten stelle ich ganz eindeutig fest – im Grunde genommen ist es auch die Konsequenz dessen, (Anhaltender Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) was der Bundesaußenminister vorgetragen hat –: Natür- (B) lich wissen die meisten dort, dass am Ende zwei Staaten (D) friedlich nebeneinander leben müssen. Die Kernfrage ist, Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort ob die Führungen dort die Courage haben, ihren jeweili- dem Kollegen Wolfgang Gerhardt, FDP-Fraktion. gen Gesellschaften die Tabuschwellen zu nehmen und ih- nen etwas zuzumuten. Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP) (von der FDP mit Bei- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten fall begrüßt): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! der CDU/CSU) Es gibt Debatten, in denen man nicht mit dem Mikroskop nach Unterschieden suchen sollte. Man sollte vielmehr Daran, dass dies bisher nicht der Fall war, sind die Lö- einmal sagen, dass die Zielrichtung deutscher Politik ge- sungen gescheitert. genüber Israel in Bezug auf die Lösung dieses Konflikts Bei uns besteht das Tabu, der palästinensischen Seite im Großen und Ganzen stimmt. Es gibt dazu keine ernst- ganz offen zu sagen: Wenn wir in Deutschland auf hafte Alternative. Straßen, auf Plätzen, in Restaurants, in Kinos Ähnliches (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten wie das erleben müssten, was palästinensische Selbst- der SPD) mordattentäter in Israel tun, dann könnte auch bei uns nie- Diese Politik wurzelt zutiefst in den Grundbausteinen mand mit Sicherheit behaupten, ob er die Fähigkeit ent- unseres Landes. Sie ist ein Stück weit wie die deutsch- wickeln würde, jeden Tag wieder in einen Dialog französische Freundschaft; sie ist ein Stück weit wie die einzutreten, jeden Tag wieder zu akzeptieren, dass der europäische Einbettung deutscher Politik. Man kann sie Dialog der richtige Weg zu einem Staatswesen ist. als ein Stück Staatsräson aus der Gründungsgeschichte (Beifall bei der FDP) unserer Bundesrepublik heraus beschreiben. Die FDP hat diese Politik immer mitgetragen und dabei bleibt es Deshalb muss man der palästinensischen Seite, auch dem auch. palästinensischen Volk sagen: Kein Widerstandsrecht der Welt legitimiert jemanden, Selbstmordattentäter auf die (Beifall bei der FDP) Straße zu schicken, im Übrigen auch nicht, Kindern At- Wir suchen keine falsche Kontroverse. trappen um den Bauch zu binden, um auf diese Weise für sein Recht zu kämpfen. Das ist nicht akzeptabel. Es ist wichtig, zu sagen: Diese Politik hat sich niemals, unter keinem Außenminister der Bundesrepublik Deutsch- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten land, gegen legitime, verständliche Interessen des palästi- der SPD und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23125

(A) Präsident Wolfgang Thierse: Kollege Gerhardt, ge- nicht so löchrig ist wie ein Schweizer Käse. Deshalb muss (C) statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Struck? die israelische Regierung zusammen mit dem israelischen Volk die Tabuschwelle im Hinblick auf die Siedlungs- politik durchbrechen, die Siedlungen zurücknehmen und Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Ja, natürlich. die Panzer aus diesen Gebieten zurückziehen. (Dr. [FDP]: Jetzt kommt (Beifall bei der FDP) der Wahlkampf!) Daran führt kein Weg vorbei. Das weiß auch die Mehrheit in der israelischen Gesellschaft. Deshalb ist es nicht miss- Dr. Peter Struck (SPD): Jetzt kommt kein Wahl- zuverstehen und nicht falsch zu interpretieren, wenn ein kampf. Seien Sie einmal ganz friedlich! deutscher Demokrat oder eine deutsche liberale und demo- Herr Kollege Gerhardt, darf ich Sie fragen, wie Ihre so- kratische Partei dies auch den israelischen Freunden und eben vorgetragenen Bemerkungen über die „Legitimität“ der dortigen Gesellschaft sagt. Nichts daran ist unge- von palästinensischen Terrorakten – ich unterstreiche Ihre wöhnlich, sondern es stärkt sogar das Gefühl richtig ver- Worte absolut – mit Äußerungen Ihres Kollegen standener Zusammenarbeit, wenn man sich unter Freun- Möllemann zu vereinbaren sind? Darf ich Sie bitten, sich den etwas öffentlich sagen kann. von den Äußerungen des Kollegen Möllemann zu distan- (Beifall bei der FDP) zieren? Das wollte ich hier einmal klar ausdrücken: Wir sollten (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des auf eine innenpolitische Diskussion der Schuldzuwei- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sung verzichten, wenn jemand in einer öffentlichen De- batte stilsicher und präzise ein solches Wort ergreift. Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Wenn Sie wie ich die Wir wissen – der Bundesaußenminister hat das auch Meldung über die Äußerungen des Kollegen Möllemann ausgedrückt –, dass diese beiden Gesellschaften, die beiden gelesen hätten, die über den Ticker gegeben worden sind Völker wahrscheinlich aus eigener Kraft, auch wenn sie das – zehn Minuten, nachdem diese Missverständnisse aufge- Ziel kennen, die nächste Wegstrecke nicht so verabreden treten sind –, hätten Sie die Zwischenfrage als entbehrlich können, dass eine entsprechende Vereinbarung hält und empfunden. trägt. Deshalb muss internationaler Druck aufgebaut wer- (Beifall bei der FDP) den und muss am Ende eines solchen Prozesses und einer solchen Lösung eine internationale Sicherheitsgarantie ste- Ich sage Ihnen ganz klar: Das ist die Haltung der gesam- hen. Daran führt überhaupt kein Weg vorbei, weil wir wis- ten FDP, jedes einzelnen Mitgliedes; nichts anderes gilt. (B) sen, dass Misstrauen zwischen den beiden Parteien noch (D) (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der auf längere Zeit bestehen wird und dies nur – mindestens in CDU/CSU) seinen extremen Auswirkungen – abgebaut werden kann, wenn beide eine Sicherheitsgarantie bekommen. Ich schlage Ihnen vor, dass wir beide uns bei einer Tasse Kaffee über die beiden Meldungen unterhalten. Dann Im Übrigen werden Pläne für vertrauensbildende können wir das hier völlig herauslassen. Bitte bauen Sie Maßnahmen, wie sie aus dem Osloer Prozess hergeleitet keinen Popanz auf! wurden, nicht mehr hilfreich sein. Wir müssen sehr schnell zu einer endgültigen Lösung kommen. Ich glaube, dass der Dieser Bemerkung mit Blick auf die palästinensische Prozess, dessen dramatische Auswirkungen wir heute be- Seite füge ich hinzu, dass es die israelische Regierung sprechen, im Kern ein Prozess der gescheiterten Vertrau- ihren Freunden auch verdammt schwer macht. ensbildung gewesen ist. Mir erscheint es nicht sehr Erfolg (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der versprechend, erneut einen solchen Prozess zu initiieren SPD) und die palästinensische Seite wieder auf ein Staatswesen zu vertrösten, das dereinst nach einem Jahrzehnt kommen Da vorhin gesagt worden ist, dass wir auch deshalb so soll. Ich glaube, dass das palästinensische Volk diese an der Seite Israels stehen, weil das die weithin einzige Chance in absehbarer Zeit wahrnehmen können sollte. Demokratie in dieser Region ist, möchte ich den israe- lischen Freunden und ihrer Gesellschaft sagen: Unter Noch eine Bemerkung zur arabischen Welt: Das sind Demokraten muss man sich auch öffentlich etwas sagen Länder, die sich in Deutschland oft argumentativ beteili- können. Das, was wir von deutscher Seite unseren isra- gen, deren Bürgerinnen und Bürger ich auch oft bei De- elischen Freunden und der israelischen Gesellschaft monstrationen sehe und die uns Vorschläge unterbreiten, – aber eher noch der israelischen Regierung – öffentlich wie wir mit der arabischen Welt umgehen sollten. Zur Of- kritisch sagen, ist nicht antisemitisch, trifft nicht das fenheit gehört auch, der arabischen Welt zu sagen: Wir ha- israelische Volk, sondern gehört zur normalen Ausspra- ben kein Verständnis dafür, dass Länder aus dieser Region che zwischen Gesellschaften und Regierungen über mit ihren nationalen Eliten so wenig zu konstruktiven Lö- wichtige weltpolitische Themen. Dies muss so sein. sungen dieser Katastrophe beigetragen haben (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deshalb sagen wir das klar an die Adresse der israeli- schen Regierung: Es wird dort am Ende nur Frieden ge- und, obwohl sie nicht arm sind, nicht die Kraft aufgebracht ben, wenn die Palästinenser einen Staat bekommen, der haben, den Palästinensern in den Lagern menschlich ein 23126 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Dr. Wolfgang Gerhardt (A) Stück weit Perspektive zu bieten: im Hinblick auf den Ar- Konfliktlösungen beizutragen? Es gibt keine Alternative. (C) beitsmarkt, auf soziale Sicherheit, auf Bildung und Qua- Wir müssen auch die arabische Welt dazu bewegen, end- lifizierung. Nur in Europa kraftvoll als Arabische Liga zu lich die kommunikativen Fähigkeiten zu entwickeln, mit sprechen und uns Vorschläge zu machen, reicht nicht aus. anderen Staaten zusammenzuarbeiten, und nicht in ihrem Die nationalen Eliten müssen sich auch selbst fragen, was nationalen und gesellschaftlichen Gehäuse zu bleiben. sie denn in ihren Ländern zustande bringen, um einen Bei- Sonst wird das nichts werden. trag zu diesem Prozess zu leisten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) der CDU/CSU) Es muss über die Wasserrechte gesprochen und über die Die deutsche Politik hat einen breiten politischen Kon- ökonomischen Zukunftschancen verhandelt werden. Es sens. Sie hat auch Substanz. Sie kann mit unseren euro- muss Transparenz in die militärischen Kapazitäten in die- päischen Nachbarn zusammen auf ein Vertrauenskapital ser Region kommen. Vertrauensbildung nur zwischen Is- bauen, das sie in langen Jahrzehnten mit Solidarität zu Is- rael und Palästina reicht nicht aus. Diese Region muss jetzt rael auch in der arabischen Welt aufgebaut hat. Deutsche wissen, wo ihr Platz in der Zukunft ist. Den wird sie nicht Politik hat man niemals als einseitig verstanden, obwohl behalten, wenn sie den Konflikt aus ihren gesellschaftli- alle genau wussten, dass wir an der Seite Israels stehen. chen Schichten schürt, wenn die Staatsmänner dieser Das ist ein Stück außenpolitischer Kunst und Fähigkeit, Ebene nicht die Kraft haben, ihren Völkern zu sagen, dass die von allen Außenministern in der Kette – auch von Ih- die extremen Gruppen jetzt zurückgedrängt werden müs- nen, Herr Bundesaußenminister – entwickelt und beibe- sen. Um es auf den Kern zurückzuführen: Wenn der israe- halten worden ist. Das ist ganz enorm wichtig. lische Ministerpräsident nicht die Kraft hat, der rechten (Beifall bei der FDP) Seite Einhalt zu gebieten, wird der Friedensprozess in einer Gesellschaft schwieriger. Wenn Arafat nicht die Chance Deshalb wollen wir dieses Kapital nutzen. Sie haben und nicht die Kraft hat, seinen Extremen Einhalt zu gebie- einige Vorschläge gemacht. Ich will Sie ermuntern, auf ei- ten und es ihnen auch zu sagen, und zwar in der palästi- nem Weg zu bleiben, der ein stärkeres europäisches En- nensischen Sprache und nicht in Englisch, dann wird das gagement beinhaltet. Natürlich wird der Schlüssel zur Lö- nichts werden. Auch der beste Vorschlag des saudi-arabi- sung in den Vereinigten Staaten bleiben. Aber auch die schen Kronprinzen nützt nichts, wenn die nationalen einzige übrig gebliebene Supermacht spürt in diesen Ta- Führungseliten der arabischen Staaten ihre Gesellschaften gen – die Colin-Powell-Reise mag von Ihnen, Herr Bun- nicht endlich hinter solche Vorschläge bringen. deskanzler, anders interpretiert worden sein –, dass es eine Erkenntnis gibt: Pendeldiplomatie reicht nicht mehr aus. (Beifall bei der FDP) (B) Wenn die Europäische Union, ohne dass die Staaten Die Gipfelkonferenzen vieler arabischer Staaten sind (D) auseinander getrieben werden können, jetzt nicht mit den doch beredtes Zeugnis dafür, dass dort die Kultur der Zu- Vereinigten Staaten an einem Strang zieht, wirklich Druck sammenarbeit noch nicht das Maß erreicht hat, das für aufbaut und sich dabei – dazu diente die Madrider Kon- eine wirkliche Friedensregelung im Nahen Osten ziel- ferenz – Bundesgenossen an die Seite zieht, die in die je- führend wäre. weiligen Gesellschaften und in die politischen Führungs- Wir sind der Überzeugung, da die beiden Gesellschaf- ebenen hinein wirken können, dann wird das nichts ten in ihrer großen Mehrheit eigentlich genau wissen, werden. Nachdem der Prozess in Madrid begonnen worauf es hinauslaufen muss, dass mit Sicherheit in jeder wurde, darf er keinen Millimeter zurückgedreht werden. Familie in Israel – in Jerusalem, in Tel Aviv, wo immer sie Es geht nicht nur um einen israelisch-palästinensischen sind – genauso über die Zukunft gesprochen wird, wie wir Konflikt, es geht doch um die gesamte Region. Auch mit das hier meistens getan haben. Sie wissen, dass es nur einer Regelung über die Grenze zwischen den beiden Ge- dann Frieden gibt, wenn die beiden Völker in gesicherten sellschaften und Staaten wäre doch die Arbeit noch nicht Grenzen nebeneinander leben können. geleistet. Die ganze Region wartet darauf, sich so zwi- Deshalb weiß das palästinensische Volk auch, dass es schen Regierungen und zwischen Gesellschaften zu ver- seine Zukunft nicht durch Selbstmordattentäter herbei- ständigen, wie das mit dem Helsinki-Prozess in Europa bomben kann, und die israelische Gesellschaft weiß, dass eingeleitet worden ist. Ich erinnere mich daran, dass wir Sicherheit für das israelische Volk nicht durch Hineinfah- eher belächelt wurden, als wir hier den Antrag stellten ren von Panzern in palästinensische Gebiete erreicht wer- – wir haben uns nie etwas vorgemacht –, recht frühzeitig den kann. Das bei jedem Treffen mit den Freunden dort so etwas wie eine Konferenz zur Sicherheit und Zusam- öffentlich auszusprechen ist unverzichtbar. menarbeit im Nahen Osten einzurichten. Sie haben von der Regierungsbank genauso gelächelt, wie das die (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten frühere Oppositionspartei CDU/CSU gemacht hat, als der CDU/CSU) Hans-Dietrich Genscher das für Europa vorgeschlagen Deshalb wollen wir uns nichts vormachen. In der heu- hat. In Europa hat man geglaubt, Helsinki könne nichts tigen Debatte bleibt uns einstweilen nur ein Stück Hoff- werden. Das war die alte bipolare Welt, in der sich die bei- nung, dass es so gehen wird. Am Ende aber, glaube ich, den Seiten in unterschiedlichen Systemen waffenstarrend werden wir alle davon überzeugt sein, dass es das sein gegenüber standen. wird. Je eher es geschieht, desto besser. Deshalb ist es Was ist denn die Alternative für eine freiheitliche De- aber auch unsere Pflicht als deutsche Demokraten, mit un- mokratie wie die Bundesrepublik Deutschland dazu, zu seren israelischen Freunden und mit denjenigen, die in Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23127

Dr. Wolfgang Gerhardt (A) Palästina – das wäre vom Osloer Prozess her schon jetzt und ein Teil der Rechten schreibt, dass die Juden niemals (C) geboten gewesen – Demokratie aufbauen wollen, die wieder hilflose Opfer sein dürfen und zu einem Volk ge- Arafat in diesem Maße nicht konstruktiv aufgebaut hat, worden sind, das „stark genug ist, über sein eigenes hierüber ohne Vorbehalte zu reden. Deshalb wäre es auch Schicksal zu bestimmen“. für die beiden, die ein Interesse nicht nur an einer friedli- Über die beiden Bilder von Israels Rolle im Nahen chen, sondern auch an einer freiheitlich-demokratischen Osten gibt es seit dem Oslo-Prozess einen erbitterten Zukunft haben, wichtig, die offene Aussprache zu suchen, innergesellschaftlichen Streit. Es ist aber doch gerade die mit guten Stilmitteln, mit guten Worten, aber ohne die Stärke der israelischen Demokratie, dass es diese De- Lage zu beschönigen. batte in Israel gibt. Ich finde, das ist ein Beweis dafür, dass Dies sagen wir am Ende einer solchen Aussprache als die Chancen in Israel groß sind, dass dieser Kampf so aus- überzeugte solidarische Freunde Israels, aber auch als getragen werden kann, dass die Demokratie dabei wächst. Brückenbauer in eine arabische Welt. Wir wollen, dass Das ist ein deutlicher Unterschied zu den Bildern, die dort Frieden herrscht, weil auch unsere Sicherheit und un- die Palästinenser in die Region projizieren. Sie haben sere Existenz vom Frieden in dieser Region abhängt. noch nicht die innere demokratische Kraft gefunden, auch Herzlichen Dank. selbstkritisch mit der eigenen Zukunft umzugehen und eine gemeinsame, kooperative Lösung in der Region zu (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) schaffen. Ich bitte darum, dass unsere Kritik, wenn sie denn an Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile dem Kolle- Israel gewendet werden darf, mit vollem Verständnis für gen Gert Weisskirchen, SPD-Fraktion, das Wort. die, die innerhalb Israels um das Selbstbild des eigenen Landes kämpfen, einhergeht. Unsere Kritik kann nur in Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Herr Präsi- Sympathie für die Kolleginnen und Kollegen in Israel er- dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gerade zehn folgen. Jahre her, da hat es so etwas wie eine Hoffnung, wie einen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Aufschwung im Nahen Osten gegeben. Der Frieden war greifbar nahe. Palästinenser und Israelis machten sich auf einen gemeinsamen Weg. Es schien so, als hätten sich Präsident Wolfgang Thierse: Gestatten Sie eine Partner gefunden, Partner, die bereit waren, Berge von Zwischenfrage der Kollegin Nickels? – Bitte. Misstrauen abzubauen, Steine aus dem Weg zu räumen. So hieß dann auch ein Buch, das Schimon Peres zu jenem Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (B) Zeitpunkt geschrieben hat: „Die Versöhnung: der neue Herr Kollege Weisskirchen, ich stimme mit allem überein, (D) Nahe Osten“. Diese historische Chance hat er so be- was Sie sagen; aber ich habe eine Frage, die mich wirk- schrieben, dass in der Region versucht werden muss, mit- lich schier zur Verzweiflung treibt: Wie soll man praktisch einander so zu kooperieren, dass sie zu einer Region des ein Stück weiterkommen, wenn, bei allem, was Sie an Friedens werden kann. Das ist ein alter Gedanke. Abba richtiger Kritik bezogen auf beide Seiten gesagt haben, in Eban hatte ihn schon 1964 beschrieben: Das Schicksal dem Prozess, in dem auch international alle Kräfte mobi- dieser Region liege in der pluralistischen Zusammen- lisiert werden, um auf den Weg des Friedens zu kommen, arbeit Asiens, Europas und Afrikas, des Judentums, des der israelische Ministerpräsident Scharon ankündigt – das Christentums und des Islam. hat er vorgestern getan –, dass er bei Hebron, also im Kernland, wieder eine neue Siedlung errichten will? Die Sorgen hat Schimon Peres in seinem 1993 erschie- nenen Buch allerdings auch schon beschrieben. Die he- (Wolfgang Gehrcke [PDS]: Gute Frage!) raufziehenden Gefahren hat er genau erkannt. Er warnte da- vor, dass „Fanatismus, Fundamentalismus und falscher Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Liebe Kolle- Messianismus“ aus dem Hass geboren werden könnten und gin Nickels, offensichtlich haben Sie nicht wirklich das die Spur zum Krieg legen könnten. Er hat aber auch deut- innere Verständnis dafür gefunden, unter welch ungeheu- lich gesagt, – dabei hat er sich auf die innerisraelische De- rem Druck die israelische Gesellschaft jetzt einen Weg batte bezogen –, dass die Frage, welches Israel, nicht auf sucht, um selbst zum Frieden zu gelangen. Dies ist und territoriale Fragen verkürzt werden dürfe. Er hat ausdrück- bleibt unbezweifelbar das Ziel Israels. Aber angesichts lich Yehezkel Kaufmann zugestimmt, der geschrieben hat: der terroristischen Anschläge im eigenen Land müssen Es gibt keinen Zusammenhang zwischen sicheren Sie bitte Verständnis dafür haben – Sie müssen nicht je- Grenzen und dem wahren Israel, auch nicht zwischen den einzelnen Schritt der Regierung Scharon billigen –, sicheren Grenzen und dem idealen Land und dem dass sich der Binnendruck, unter dem die Regierung idealen Staat, den die Nation historisch anstrebte. Scharon jetzt arbeitet, einen eigenen Weg sucht. Dass er sich auf die militärische Karte verengt, ist unsere Kritik. Das ist der tiefe Unterschied zu dem im gleichen Jahr Wir möchten gerne, dass eine politische Strategie erkenn- erschienenen Buch von Netanjahu „A place among the bar wird, durch die ein gemeinsamer Ausweg aus dieser Nations: Israel and the World“. schweren Krise gefunden wird. Dabei wollen wir alle Is- raelis unterstützen. Da ist der Widerspruch zwischen zwei Hälften der is- raelischen Gesellschaft erkennbar. Netanjahu schreibt: (Wolfgang Gehrcke [PDS]: Das ist doch keine Ohne Kampf um das Überleben endet das Leben selbst. Er Antwort!) 23128 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

(A) Präsident Wolfgang Thierse: Es gibt noch eine „FAZ“ zu lesen –, dass er jenen Selbstmordanschlag bil- (C) Zwischenfrage, und zwar der Kollegin Vollmer. – Bitte. ligt; denn Palästinenser hätten nun keine andere Wahl, als sich in lebende Bomben zu verwandeln. Demjenigen, der so etwas denkt, und das auch noch als Generalsekretär ei- Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ner verantwortungsbewussten Organisation, muss man Herr Kollege, ich finde es schwer nachzuvollziehen, wenn Sie sagen, wir sollten Verständnis für den Binnen- einfach Einhalt gebieten. druck in Israel entwickeln, und meinen, dass wir damit (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des auch Verständnis für eine neue Entscheidung in der Sied- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) lungsfrage in dieser Situation aufbringen sollen. Können Sie sich vorstellen, welchen Binnendruck die Fortsetzung Ginge die Bereitschaft, sich zu verstehen, verloren, der Siedlungspolitik auf palästinensischer Seite erzeugt? dann würde schließlich nackte Angst um die persönliche und kollektive Existenz jenen Platz besetzen. Ist es nicht fast schon so, dass jeder Terroranschlag gegen Zivilper- Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Jeder von uns sonen den Einsatz militärischer Gewalt geradezu provo- weiß, liebe Kollegin Vollmer, dass – das hat der Außen- ziert? Dies wäre eine Spirale ohne Ende. minister hier sehr klar und sehr deutlich beschrieben – der Weg aus diesem Konflikt nur dann möglich ist, wenn Warum nur erweckt Yassir Arafat den Eindruck, als beide Seiten, Palästinenser und Israelis, zu jenem Ver- wolle er dem furchtbaren Treiben nicht überzeugend ge- handlungsprozess zurückfinden, der in der Zwischenzeit nug Einhalt gebieten? Vielleicht deshalb, weil der Terror durch Gewalttaten, durch terroristische Anschläge, die ja gegen die Zivilbevölkerung zum einzigen Kampfmittel von einer Seite begonnen worden sind, unterbrochen wor- geworden ist. Was aber wäre der Charakter Palästinas, den ist. Das ist unser Ziel. Jeden, der diesen Verhand- wenn am Ende dieses Palästina auf den Gräbern von je- lungsprozess stört, durch welche Taten auch immer, müs- nen Märtyrern aufgebaut würde, die ihr Leben als Fanal sen wir kritisieren. Das geschieht auch. hingeben? Ein furchtbarer Gedanke! Das wäre ein schrecklicher Charakter jenes Landes, für dessen Existenz (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des wir uns gemeinsam einsetzen. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Bundesrepublik Deutschland – der Außenminister, Diese Chance wurde in Oslo vielleicht deswegen ver- der Bundeskanzler und auch der Ministerpräsident haben spielt – vergessen Sie das bitte nicht; das hat der Außen- es deutlich gesagt – verbindet mit Israel – das gibt es sonst minister schon deutlich gemacht –, weil es ein unter- nicht in der Staatengemeinschaft – ein Bündnis, das nicht schiedliches Verständnis jenes Prozesses gegeben hat. zerbrechen darf. Adenauer und Ben Gurion haben es ge- Arafat hat aus diesem Prozess etwas anderes abgeleitet als (B) schlossen. Dieses Bündnis gilt; wir haben eine besondere (D) die israelische Seite. Bedenken Sie doch bitte: Am Ende Verantwortung gegenüber Israel. Wenn die staatliche der Verhandlungsrunde in Oslo wurde von palästinen- Existenz Israels infrage gestellt wird, dann wird Deutsch- sischer Seite plötzlich die Forderung erhoben, es müsse land Partei und dann wird Deutschland Partei bleiben. am Schluss des Verhandlungsprozesses das Rückkehr- recht der 1948 Geflohenen eingebaut werden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Herr Ministerpräsident, Sie haben das Thema Vertrie- FDP) bene ebenfalls erwähnt. Warum sollte es nicht denkbar sein, mit der arabischen Seite darüber zu reden, wie man Alle Bürgerinnen und Bürger in Israel müssen ihr Le- eine gemeinsame Konzeption finden kann – dieser Pro- ben ohne Terrorangriffe in sicheren und anerkannten zess braucht die Unterstützung der Europäer und damit Grenzen führen können. Deshalb hat Israel auch ein Recht auch der Deutschen –, damit nicht immer und immer wie- auf Selbstverteidigung. Auch dieses Recht auf Selbstver- der die Vertriebenen als ein Instrument genutzt werden, teidigung unterliegt internationalen Regeln. Kürzlich um den Friedensprozess zu gefährden? Müssen wir nicht schrieb die „Washington Post“ über den israelischen Re- vielmehr zu diesem Prozess beitragen und unsere Erfah- gierungschef: rungen, die wir in Europa und in Deutschland gemacht ha- Wenn Scharons Armee Frauen und Kinder tötet, un- ben, anbieten, die zeigen, dass dieses Thema in der poli- bewaffnete Männer foltert und terrorisiert und das tischen Auseinandersetzung nicht verwendet werden darf ? Eigentum und die Würde der Menschen im West- Die Tatsache, dass es Vertriebene gibt, sollte dazu führen, jordanland zerstört, bewirkt sie das Gegenteil von dass es in dieser Region endlich zur Befriedung und zur dem, was sie erreichen will. Pazifizierung kommt. Mich bedrückt es sehr, den Eindruck kaum noch ab- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wehren zu können, dass eine überzeugende politische DIE GRÜNEN) Strategie von Ariel Scharon kaum zu erkennen ist. Beide Liebe Frau Vollmer und liebe Frau Nickels, Verständ- Seiten können den Konflikt gegenwärtig wohl nicht al- nis kann doch nur da beginnen, wo Gewalt aufhört. Wo leine bewältigen. Zu sehr sind sie Gefangene ihrer jeweils Gewalt aber zum Selbstzweck wird, beginnt Terror. Mich gegeneinander gerichteten Ängste geworden. Irritierend erschreckt es einfach, wenn ich lesen muss, dass Ahmed und tragisch ist, wie sich beide mehr und mehr ineinander Abdelrahman, der Generalsekretär der palästinensischen verstricken. Der Schlüssel, der die Tür zu einer anderen Autonomiebehörde, kürzlich nach dem Selbstmord- Zukunft öffnen würde, wäre vermutlich, auf Gewalt zu anschlag bei Haifa öffentlich gesagt hat – so war es in der verzichten. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23129

Gert Weisskirchen (Wiesloch) (A) Beide wissen doch, dass sie in der Region nur gemein- kann. Wir wünschen uns sehr, dass der Außenminister mit (C) sam überleben können und dass sie sich ihre jeweiligen seinen Gesprächen in den USA dazu beitragen kann und Nachbarn und Partner sowie deren Regierungen nicht dass sein Plan von der internationalen Staatengemein- aussuchen können. Sie sind aufeinander angewiesen. Der schaft positiv aufgenommen werden wird. Sinn des Prozesses, den der Außenminister vorantreibt, Vielen Dank. den die Bundesregierung unterstützt und auf den sich die internationale Staatengemeinschaft verpflichtet hat, ist es, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dieses Denken wiederzubeleben. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile dem Kolle- gen Roland Claus, PDS-Fraktion, das Wort. Noch ein Wort zur politischen und religiösen Repräsen- tanz vieler arabischer Länder: Auch sie sollten aufhören, Terror als Widerstandskampf zu heroisieren. Durch die Roland Claus (PDS): Herr Präsident! Meine sehr ver- Rede, die am letzten Freitag in Mekka gehalten wurde, ehrten Damen und Herren! Ich will an ein Ereignis erin- wurde erneut Öl ins Feuer des Konfliktes geschüttet und es nern, das mir ein wenig in Vergessenheit geraten zu sein wurde versucht, ein Fanal zu erzeugen. Dies sind in der Tat scheint. Warum sind wir – auch alle im Bundestag vertre- Aufgaben, die wir gemeinsam bewältigen müssen. Lieber tenen Parteien – am 9. November des Jahres 2000, dem Kollege Gerhardt, ich frage mich allerdings, ob „drücken“ Jahrestag der Pogromnacht, in Berlin auf die Straße ge- bzw. „schieben“ – wie auch immer Sie es bezeichnet ha- gangen? – Weil wir alle Anlass hatten, gegen rechtsradi- ben – wirklich einen Sinn macht. Das wissen wir nicht. kale Gewalt und gegen Antisemitismus zu demonstrieren. Alle Mitbürgerinnen und Mitbürger jüdischen Glaubens Der Herr Ministerpräsident hat offensichtlich den An- sollen in dieser Situation wissen, dass wir ihre aktuellen trag der Union nicht gelesen, da er Kritik an der Regie- Sorgen ernst nehmen, dass uns das etwas angeht und dass rung geäußert hat. Lesen Sie bitte einmal Punkt 5 Ihres Antisemitismus und Rassismus bekämpft gehören. Antrags, lieber Herr Stoiber. (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten (Horst Kubatschka [SPD]: Er hört nicht zu!) der FDP) In diesem wird gefordert – zugegebenermaßen kommt das Antisemitismus und Rassismus wollen wir in Deutsch- Wort „Sanktionen“ nicht vor –, dass durch die Bundesre- land nicht. Wir alle sind uns einig: Das Existenzrecht gierung Maßnahmen auf der europäischen Ebene einge- Israels darf nicht infrage gestellt werden und wird nicht leitet werden sollen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, infrage gestellt. (B) was würde geschehen – denken wir eine Sekunde darüber (D) nach –, wenn solche Überlegungen Realität würden? Warum ist es uns nach dem 11. September des vergan- Glauben Sie denn wirklich, dass dann die Europäische genen Jahres gelungen, einen Aufruf aller im Bundestag Union in der Region und besonders in Israel als ein vertretenen Parteien unter dem Motto „Solidarisch gegen freundlicher Partner aufgenommen werden könnte? Glau- den Terror“ zu verfassen? – Weil wir Terror und Gewalt ben Sie denn, dass dann ein Friedensprozess vorankom- nicht wollen. Deshalb nehmen wir bedrückt zur Kenntnis, men könnte? Entschuldigung, aber wer das glaubt, hat of- dass Terror und Gewalt heute den Nahen Osten beherr- fensichtlich nicht begriffen, dass Sanktionspolitik genau schen. Das geht uns etwas an. Wir sind keine Zuschauer. das Gegenteil dessen auslöst, was in diesem Falle von de- (Beifall bei der PDS) nen, die es aufgeschrieben haben, gewünscht wird. Der Weg, der hier eingeschlagen werden soll, ist falsch. Terror ist durch nichts zu rechtfertigen: nicht der Terror von Selbstmordattentätern, aber auch nicht der Terror (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Israels in den Palästinensergebieten wegen der Terroran- DIE GRÜNEN) schläge auf Zivilisten. Nein, die Intifada begann als Volksaufstand. Die Ant- Herr Bundeskanzler, Sie haben hier heute viele zustim- wort des israelischen Militärs hat die Intifada zusammen- mungsfähige Aussagen getroffen. Sie haben auch von un- brechen lassen. Die Terroranschläge von Palästinensern serer Fraktion Zustimmung bekommen. Ich halte diese Zu- und die darauf folgende militärische Härte rufen Gefühle stimmung auch für wichtig. Die Differenz, die in diesem der Verwirrung, Verzweiflung und Angst hervor. Dennoch Zusammenhang besteht, liegt mehr in dem, was Sie nicht gibt es für beide keine andere Möglichkeit, als auf den gesagt haben. Denn Sie konnten hier keinen hinreichenden Weg zurückzugehen, der in Oslo begonnen hat. Diesen Beitrag zur aktuellen Konfliktlösung bieten. Sie sind in müssen sie von neuem begehen, damit diese Region die vielem unverbindlich geblieben. Hier wird – ich finde, zu Chance hat, Partner der Europäischen Union sowie der in- Recht – oftmals eine starke dritte Kraft eingefordert. Das ternationalen Staatengemeinschaft zu werden und im In- sind Sie uns in Ihrer Erklärung schuldig geblieben. nern eine gute Nachbarschaft zu erreichen. Es muss dafür gesorgt werden, dass Palästina international anerkannt Terror und Gewalt im Nahen Osten haben nicht eine wird und dass Israel endlich das volle und eindeutige Ursache oder eine Lösung. Aber das Entscheidende für Recht erhält, in seinen Grenzen zu existieren. uns ist – darin besteht offenbar die Differenz –, dass der Schlüssel für den Weg zum Frieden im Moment bei Isra- Das ist das Ziel der deutschen Außenpolitik. Für dieses els Regierung liegt. Ziel werden sich die Sozialdemokraten einsetzen, damit die Bundesregierung in gleicher Weise weiterarbeiten (Beifall bei der PDS) 23130 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Roland Claus (A) Herr Bundeskanzler, es genügt nicht, die Kritik an der Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch in diesem Jahr (C) israelischen Politik in mahnend milde Botschaften zu hül- werden wir der Ereignisse des 9. November gedenken. len. Herr Bundeskanzler, eine Politik des Unentschiedens Ich wünschte mir in dieser schwierigen Situation, die jü- genügt nicht. Es genügt keine Politik der stillen Diploma- dische und die palästinensische Gemeinde hier in tie und keine Politik der Kritiklosigkeit. Deutschland, in Berlin würde mit uns allen gemeinsam Premier Scharon sieht sein Handeln durch die Verei- ausrufen: Schluss mit Terror und Gewalt! Lasst endlich im nigten Staaten von Amerika bestätigt, indem er den Nahen Osten Frieden sein! Kampf gegen den Terror als Rechtfertigung für sein Ich danke Ihnen. Vorgehen verwenden kann. Deshalb sagen wir Ihnen hier: Krieg ist das falsche Mittel im Kampf gegen den Terror. (Beifall bei der PDS) (Beifall bei der PDS) Vizepräsident Dr. h. c. : Ich erteile Außenminister Powell verhandelt vergeblich, um Frie- das Wort für die SPD-Fraktion dem Kollegen Christoph denslösungen zu erzielen, weil die Kriegslösung zuvor in Moosbauer. Afghanistan legitimiert wurde. Die Vorsitzende meiner Partei war in dieser Woche in Christoph Moosbauer (SPD): Herr Präsident! Meine Israel und im Flüchtlingslager Dschenin. Sie hat die Zu- sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen stände dort gesehen und darüber gesprochen. Sie haben hier Israel mehrfach als eine intakte und funktionierende und Kollegen! Wie alle, die heute in dieser Debatte das Demokratie bezeichnet. Das, was in Dschenin zu sehen Wort ergreifen oder ergriffen haben, habe ich lange da- ist, ist nicht das Ergebnis einer intakten und funktionie- rüber nachgedacht, was heute zu sagen ist und vor allem renden Demokratie; das muss in dieser Klarheit ausge- auch wie es zu sagen ist. Ich meine, wir alle haben ein ge- sprochen werden. meinsames Ziel und das sollten wir uns gegenseitig auch nicht absprechen: Wir wollen tun, was wir können, um (Beifall bei der PDS) einen Beitrag dazu zu leisten, dass die jetzige Situation im Das ist keine Terrorbekämpfung durch Demokraten, son- Nahen Osten deeskaliert, dass das Blutvergießen aufhört dern staatlich sanktionierte Gewalt gegen Menschen, die und dass der kleine Faden gefunden wird, der es ermög- in ihrer großen Mehrzahl den Terror verabscheuen. licht, wieder ins Gespräch zu kommen, in der Hoffnung, dass am Ende dieser Gespräche ein Miteinander in der Re- Die PDS-Fraktion hat zwölf Vorschläge für Friedens- gion möglich ist. lösungen im Nahen Osten eingebracht. Diese Vorschläge werden Sie heute mit der Mehrheit des Hauses bei, wenn (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (B) ich richtig informiert bin, Enthaltung der Freien Demo- DIE GRÜNEN) (D) kraten ablehnen. Aber diese Vorschläge bleiben natürlich aktuell. Amos Oz hat schon 1991 geschrieben, dass es dabei nicht um eine Hochzeit, sondern vielmehr um eine Schei- Der Nahe Osten braucht die Rückkehr zu dem Schritt dung geht, dass eine Scheidung beiden Seiten wehtut, der UNO-Resolution 242. Man muss wieder auf den Weg dass beide Seiten verletzt sein werden und dass man des Friedensprozesses von Oslo kommen. Wir sehen doch lange Zeit nicht miteinander sprechen kann. Aber viel- einen Fortschritt in der saudi-arabischen Initiative, end- leicht wird es eines Tages wieder möglich sein, sich zu- lich das Existenzrecht Israels nicht infrage zu stellen, aber sammenzusetzen und eine Tasse Kaffee zu trinken und auch die Gründung eines palästinensischen Staates zu be- vielleicht spricht man auch irgendwann über die gemein- fürworten. Wir brauchen weiter die Forderung nach Be- same Vergangenheit. Vielleicht, so schreibt er, kommt wegungsfreiheit für die Autonomiebehörde und Präsident einmal der Tag, an dem man sogar gemeinsam darüber la- Arafat. Wie soll er denn zwischen Kanonenrohren für ein chen kann. Ende der Gewalt eintreten? Wir brauchen die Anerken- nung der Zweistaatlichkeit. Und das geht nicht, wenn Ver- Dieser Tag erscheint uns heute ferner denn je. Nicht, sorgungssysteme, das Gesundheitswesen und die Wasser- dass es nicht schon Momente gegeben hätte, in denen ein versorgung zerstört werden. friedliches Auskommen zwischen Israel und seinen ara- (Beifall bei der PDS) bischen Nachbarn noch viel ferner lag als heute. Aber nach den hoffnungsvollen Jahren der Annäherung, nach ( V o r s i t z: Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf den hoffnungsvollen letzten zehn Jahren erscheint der Seiters) Rückfall in die Gewalt noch brutaler und noch schockie- Wir brauchen den Rückzug der israelischen Armee und render. wir brauchen den Rückbau von israelischen Siedlungen. Meine Damen und Herren, das Groteske an der Situa- Erst dann ist es möglich, eine Nahost-Friedenskonferenz tion ist in der Tat – darauf wurde schon hingewiesen –, einzuberufen, die von der UNO, der EU, den Vereinigten dass eigentlich jeder weiß, wie eine Lösung am Ende aus- Staaten und Russland begleitet und mitgetragen werden zusehen hat. Natürlich gibt es dabei Differenzen im De- sollte, wenn nötig auch in Begleitung einer UN-Mission tail, aber die groben Züge sind, meine ich, jedem klar. zur Überwachung der Friedenspflicht beider Seiten. Aber Dennoch erlaubt die tragische Dynamik des Konflikts an die deutsche Adresse sei hier deutlich gesagt: Deutsche nicht, die jetzt notwendigen Schritte zu gehen, die zurück Soldaten gehören dort nicht hin. auf den Weg zu Verhandlungen und zu einem Frieden (Beifall bei der PDS) führen. Sie sind vielfach skizziert worden. Ich bin dem Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23131

Christoph Moosbauer (A) Bundesaußenminister dankbar dafür, dass er mit seinem man sich hier hinstellt und den Terror ablehnt, aber auf der (C) Ideenpapier nicht einen weiteren Masterplan für die Re- anderen Seite diese Kollegen in Schutz nimmt. gion hinzugefügt hat; davon gibt es schon viele. Aber er (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ hat die bestehenden Vorschläge in eine umsetzbare Ord- DIE GRÜNEN – Dr. Wolfgang Gerhardt nung gebracht, die eine klare Perspektive bietet, und zwar [FDP]: Was? Das ist doch absurd!) für beide Seiten. – Das ist nicht absurd. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren, eines muss bei aller Verur- teilung des Terrorismus klar sein: Der Kampf eines Auch wenn ein solcher Plan nur mit einer europäischen Rechtsstaates gegen den Terrorismus darf nicht das Prin- Initiative insgesamt politisches Gewicht entfalten kann, zip der Verhältnismäßigkeit aus den Augen verlieren. Da- bin ich froh, dass es gerade die deutsche Regierung ist, die her bestehen die zentralen Forderungen des vorliegenden sich hier in der Verantwortung fühlt. Entschließungsantrages von Bündnis 90/Die Grünen und Die Beziehungen zwischen Israel und Deutschland SPD in zwei Appellen: Erstens ist dies der Appell an die sind besondere Beziehungen, vor allem aufgrund unserer palästinensische Autonomiebehörde und ihren Vorsit- Geschichte. Aber wir haben auch besondere Beziehungen, zenden Arafat, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um weil in den letzten Jahrzehnten zwischen Deutschland und den Terrorismus gegen Israel zu stoppen. Wir wissen, dass Israel etwas gewachsen ist, nämlich eine Freundschaft das nicht zu hundert Prozent möglich sein kann. Aber was zwischen zwei Völkern und zwischen zwei Staaten. Es getan werden kann, muss getan werden, auch von Arafat gibt wenig andere Länder, mit denen der Austausch in Kul- und auch von der Autonomiebehörde. tur, in Wirtschaft und vor allen Dingen auch in der Zivil- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gesellschaft so intensiv ist, als das aus deutscher Sicht mit DIE GRÜNEN) Israel der Fall ist. Auch das ist eine Wurzel der besonderen Beziehungen, die wir zu Israel haben. Daher – der Bun- Und unser Appell an die israelische Regierung und an deskanzler hat in seiner Regierungserklärung darauf hin- Premierminister Scharon: Stoppen Sie die Zerstörung der gewiesen – ist und wird die sichere Existenz des Staates Is- palästinensischen Autonomie und der palästinensischen rael immer oberste Priorität deutscher Nahostpolitik sein. Infrastruktur. Sorgen Sie dafür, dass das Leiden der palästinensischen Zivilbevölkerung beendet wird. Aber gerade weil die Sicherheit des Staates Israel nichts mehr gefährdet als die Perspektivlosigkeit des Ich kann noch Verständnis dafür aufbringen, wenn auf palästinensischen Volkes, muss eines klar sein: Die Si- Terrorismus, der sich militärischer Mittel bedient, auch cherheit des Staates Israel ist unmittelbar verknüpft mit mit militärischen Maßnahmen reagiert wird. Aber ich ver- (B) dem Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser. Es muss stehe nicht, was die Zerstörung des palästinensischen (D) einen unabhängigen Staat Palästina geben. Statistikamtes, was das Entwurzeln von Olivenbäumen oder was das Demolieren von Wasserversorgungseinrich- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tungen mit dem Kampf gegen den Terrorismus zu tun hat. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Meine Damen und Herren, die Welt ist sich einig, dass DIE GRÜNEN sowie des Abg. Rolf Kutzmutz Terror kein Mittel der Politik sein darf. Der Terror gegen [PDS]) die israelische Zivilbevölkerung ist widerwärtig und fin- det unseren schärfsten Widerspruch. Wer Terror billigend Eine Demokratie wie Israel muss sich auch an den Mit- in Kauf nimmt oder zu entschuldigen versucht, macht sich teln messen lassen, mit denen sie gegen den Terrorismus schuldig, auch und gerade hier in Deutschland. Im Übri- und gegen die Feinde der Demokratie vorgeht. gen bringt er die berechtigten politischen Anliegen des (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ palästinensischen Volkes in Misskredit. DIE GRÜNEN sowie des Abg. Rolf Kutzmutz Kollege Gerhardt, ich bin schon etwas enttäuscht, dass [PDS]) Sie in diesem Zusammenhang die Äußerungen von Meine Damen und Herren, in den letzten Wochen ist Möllemann nicht deutlicher kritisiert und sich nicht deut- oft vorgebracht worden, die Kritiker am israelischen Vor- licher von ihnen distanziert haben, gehen seien auf einem Auge blind und griffen Israel ein- seitig und unausgewogen an. – Das ist im Übrigen noch (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Erzählen Sie einer der harmloseren Vorwürfe in diesem Zusammen- sie mir doch einmal!) hang. – Wer sich heute mit Nahostpolitik beschäftigt und die nicht damit erledigt sind, dass man zehn Minuten spä- versucht, eine halbwegs differenzierte Meinung zu ver- ter eine Presseerklärung hinterherschickt, wenn er am sel- treten, findet sich schnell zwischen allen Stühlen wieder. ben Abend den Sinn seiner Äußerungen abermals wieder- Das ist zwar eine unbequeme Position, aber vielleicht ge- holt und wenn man dann im nordrhein-westfälischen rade deshalb keine falsche. Landtag aus innenpolitischen Gründen, um nämlich die Erlauben Sie mir an dieser Stelle, ausdrücklich den Mehrheit von Rot-Grün zu schwächen, einen Kollegen, Kollegen Lamers in Schutz zu nehmen. Wer ihm eine an- der ehedem bei den Grünen war und dem, wie er selber tiisraelische Haltung vorwirft, zeigt auf den Falschen. sagt, eine gewisse Nähe zu Saddam Hussein nicht fremd ist, mit offenen Armen in der eignen Fraktion aufnimmt. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Man muss sich schon fragen, ob es konsistent ist, wenn GRÜNEN und der CDU/CSU) 23132 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Christoph Moosbauer (A) Man findet sich schnell in eine Ecke gestellt. Berechtigt Zukunft Israels nur dann glauben, wenn die Palästinenser (C) ist das nicht immer, aber es zeigt, wie schnell man hier wie endlich ihr Recht auf Selbstbestimmung bekommen, weil dort in Misskredit kommt. sie ihr Land lieben. Wenn ich wie sie heute Kritik an der israelischen Regierung übe, dann nur aus einem Beweg- Ich will zwei Dinge klarmachen: Ich stehe zur deutsch- grund: aus tiefer Sorge um ein geliebtes Land. arabischen Freundschaft. Ich halte es sogar – auch im In- teresse Israels – für wichtig, dass wir unsere Beziehungen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zu den arabischen Ländern weiter verbessern. Das steht DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der nicht in Widerspruch zu einem besonderen Verhältnis zu CDU/CSU und der PDS) Israel. Es kann im Gegenteil deeskalierend wirken und dem regionalen Frieden zuträglich sein. Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Für die Lassen Sie mich aber auch eines in aller Deutlichkeit CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Karl Lamers. festhalten: Meine Solidarität mit Israel steht nicht infrage und ist auch durch nichts zur Disposition zu stellen. Karl Lamers (CDU/CSU): Herr Präsident! Verehrte (Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wies- Kolleginnen und Kollegen! Nachdem Edmund Stoiber die loch] [SPD]) Haltung meiner Fraktion eindrucksvoll dargelegt hat, nachdem der Außenminister bestätigt hat, dass wir in den Nur, Solidarität und Freundschaft heißt nicht, sich unkri- wesentlichen Fragen einer Meinung sind, auch in der, was tisch hinter die jeweilige Regierung zu stellen. Um eines jetzt Not tut, nachdem hier von allen Rednern festgestellt klar zu sagen: Wer für die Politik von Yitzhak Rabin war, worden ist, dass wir eine besondere Verantwortung für die kann nicht für die Politik von Ariel Scharon sein. Existenz, die Zukunft und die Sicherheit Israels haben, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten will ich versuchen, darzustellen, wie diese Verantwortung des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der aus meiner Sicht heute wahrgenommen werden muss. PDS) Ich bin Ihnen, Kollege Moosbauer, dankbar, dass Sie Es ist doch nicht so, dass es nicht auch in Israel darauf hingewiesen haben, dass ich nicht in eine antiisra- Widerstand gegen die Regierungspolitik gibt, und nicht elische oder gar antisemitische Ecke gehöre. Wenn mich nur von den üblichen Verdächtigen. Wenn Hunderte Re- etwas verletzt hat, dann das. serveoffiziere den Dienst in den besetzten Gebieten ver- Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir sind doch zer- weigern und eher bereit sind, ins Gefängnis zu gehen, und rissen angesichts des Umstandes, dass die Existenz Isra- wenn sie dies in einer Erklärung eben genau damit be- els durch den Terror einerseits, andererseits aber auch gründen, dass dies dem Geist des Zionismus entspricht, – wie ich befürchte – durch die Art und Weise infrage ge- (B) den sie gelernt haben, dann kann dies nicht als Rand- (D) stellt wird, wie die scharonsche Regierung darauf rea- erscheinung abgetan werden. giert. Infrage gestellt wird Israels Existenz unmittelbar Ich bin solidarisch mit Israel, solidarisch mit der Frie- und moralisch durch den Terror, denn dessen Zweck ist densbewegung „Frieden jetzt“, mit der „Koalition für die Demoralisierung, sind Angst, Zweifel an der Zukunft, Frieden“, mit dem Teil der Arbeitspartei, der eine politi- Kapitulation. Legitime Ziele der Palästinenser werden sche Alternative zur aktuellen Politik vertritt. Ich werde durch illegitime Mittel diskreditiert. Der Zweck heiligt alles dafür geben, dass der ursprüngliche zionistische eben nicht die Mittel. Das muss am Anfang einer jeden Traum verwirklicht werden kann: eine Heimstätte für die Beurteilung der Lage in der Region stehen. Juden in sicheren und anerkannten Grenzen, im Frieden (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- mit seinen Nachbarn und mit der Welt. ordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten GRÜNEN und der FDP) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Terror lässt sich zumindest teilweise erklären, aber Als ich 1993 mit meinen israelischen Freunden über nicht entschuldigen. die Pessachfeiertage in Eilat am Roten Meer war, war ge- (Beifall der Abg. Christa Nickels [BÜND- rade ein Lied mit dem Titel „Happy Nation“ Nummer eins NIS 90/ DIE GRÜNEN]) in der israelischen Hitparade. Da ein Großteil der israeli- schen Jugendlichen über die Feiertage nach Eilat fährt, Erklärungen sind allerdings notwendig, um die rechten gibt es zu dieser Zeit dort zu wenige Unterkünfte und wir Mittel zur Bekämpfung des Terrors zu wählen und dabei schliefen wie die meisten anderen auch im Sand direkt am das rechte Maß einzuhalten, mag das noch so schwer fal- Meer. Die ganze Nacht dröhnte alle zehn Minuten das len. Nur so lässt sich vermeiden, dass die falschen Mittel Lied „Happy Nation“ über den Strand. Dies machte mich die eigene moralische Substanz ebenso zermürben, wie es damals fast wahnsinnig. Heute würde ich sonst etwas da- die Angst tut. rum geben, wieder am Strand zu sitzen und eine ganze Ge- Terrorismus stellt dem Angegriffenen eine Falle, in- neration tanzen und singen zu hören: „We are living in a dem er ihn vor die teuflische Alternative stellt: Kapitula- happy nation.“ tion und totale Niederlage oder totale Feindschaft. Wer Das ist mein Israel, das ist das Israel meiner Freunde, vom „totalen Krieg“ redet, wie das Scharon leider getan die heute Demonstrationen gegen die Politik Ariel hat, der ist schon in diese Falle hineingelaufen. Die Wei- Scharons organisieren, weil sie glauben, dass die aktuelle gerung Hunderter von Soldaten und Offizieren der Re- Politik ihrer Regierung dem Land schadet, weil sie an eine serve, in den besetzten Gebieten Dienst zu tun – ein uner- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23133

Karl Lamers (A) hörter Vorgang –, ist ernster, aber nicht einziger Ausdruck und vor allen Dingen durch den provokativen Siedlungs- (C) einer dadurch hervorgerufenen Krise. Der Name für den bau genährt, der durch die vorgestrige Entscheidung der is- militärischen Sieg ist derselbe wie für die moralische Nie- raelischen Regierung eine für mich bislang unvorstellbare derlage: Dschenin, wie einst Sabra und Schatila, selbst Steigerung erfahren hat; denn er bedeutet auch eine Pro- wenn die Verwüstungen in Dschenin die Bezeichnung vokation des amerikanischen Präsidenten. Nochmals: Die „Massaker“ nicht verdienen sollten. Palästinenser haben zwar das Recht, sich gegen das alles zu wehren, aber kein Recht auf Terror. Militärische Erfolge wandeln sich auch dann in politi- sche Niederlagen, wenn sie einem falschen, nicht legiti- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie men und nicht realisierbaren politischen Ziel dienen. Die bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNIS- Zerschlagung der Struktur – Kollege Moosbauer, Sie ha- SES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) ben schon darauf hingewiesen – in allen Teilen der Auto- Trotz der dramatischen Lage oder vielleicht sogar we- nomiebehörde und auch eines großen Teils der Wirt- gen ihr gibt es eine Friedensperspektive. Es gibt sie, ob- schaftsstruktur ist ein solches nicht legitimes Ziel. Es wohl 80 Prozent der israelischen Bürger die scharonsche heißt nämlich, das Recht der Palästinenser zu verneinen, Politik unterstützen; denn sie tun das in dem dunklen, überhaupt in Existenz treten zu können, also einen Staat dumpfen und doch ganz klaren Gefühl, dass diese Politik bilden zu können, der diesen Namen verdient, nicht ein keine Lösung bietet. Deswegen müssen wir den Israelis demütigendes und lebensunfähiges Bantustan zu sein. sagen: Rennt nicht weiter in diese falsche Richtung und in (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der euer Unglück! Ergreift die Chance, die etwa die saudische SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Friedensinitiative bietet! Sie ist zwar kein Ausdruck von sowie des Abg. Wolfgang Gehrcke [PDS]) Liebe und Zuneigung zu den Palästinensern und schon gar nicht zu den Israelis. Aber sie ist der Ausdruck einer exis- Es muss immer wieder gesagt werden: Natürlich hat tenziellen Angst, die nur allzu berechtigt ist. Wir müssen Israel das Recht, sich gegen den Terror zu verteidigen. Ich deutlich sehen, dass die breite Mehrheit der Menschen in füge vorsichtig, aber, wie ich hoffe, richtig hinzu: Selbst den arabischen Ländern immer mehr zu Feinden Israels die falschen, weil überzogenen Mittel wären durch die wird. Sie projizieren ihre Frustrationen und ihre Wut auf vom Terror erzeugte Angst erklärlich und vielleicht ein die USA. Sie tun es übrigens auch aus Frustration und Un- Stück verzeihbar. Aber das Ziel, die Entstehung eines zufriedenheit über die Leistungen der eigenen Regime. Palästinenserstaates unmöglich zu machen, ist das eigent- liche Skandalon des scharonschen Feldzuges. Es ist das (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Sehr richtig! Fehlen irgendeiner Vorstellung einer politischen Lösung, Das ist es!) die auch für die andere Seite akzeptabel ist. All das schafft eine Situation, die uns alle, den ganzen (B) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Westen, in Feindschaft mit diesem Teil der Menschheit (D) SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN bringt. Deswegen müssen wir den Israelis zurufen: Kehrt und der PDS) auf eurem bisherigen Weg um! Befolgt die Resolution des Weltsicherheitsrates! Seht, dass eure Existenz und die der Dieser Kampf – das ist meine Sorge – ist nicht zu ge- Palästinenser nicht voneinander zu trennen sind! Entwe- winnen. Es ist ein Kampf gegen die äußeren Feinde und der haben beide eine Zukunft oder beide haben keine. zugleich gegen die eigene Moral, gegen die Ideale des Zionismus. Manchmal, verehrte Kolleginnen und Kolle- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der gen, habe ich die Angst, dass die düsteren Prophezeiun- SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, gen von Nahum Goldmann und Hannah Arendt in diesen der FDP und der PDS) Wochen in Erfüllung zu gehen drohen. Beide Völker haben ein Existenzrecht. Das ist mittler- (Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Gott weile auch Kern der amerikanischen Politik. Wir müssen bewahre!) den Israelis weiter zurufen: Gefährdet durch eure kurz- fristigen militärischen Erfolge nicht eure moralische Sub- Ich empfehle Ihnen allen: Lesen Sie sie noch einmal nach. stanz und langfristig auch eure politische Zukunft! Nutzt Die äußeren Feinde, das ist ein Teil der Palästinenser, vielmehr die Chancen, die sich aus eurer heutigen weit keineswegs alle, aber ihre Zahl wächst natürlich von Tag überlegenen Stärke ergeben, die euch die größere Verant- zu Tag. Zu den äußeren Feinden gehört, so fürchte ich, die wortung zuweist! Mehrheit der arabischen Staaten, die die Existenz Israels Den Palästinensern müssen wir zurufen: Ihr könnt mit bis heute in ihrer Mehrheit innerlich nicht wirklich ak- Gewalt und Terror noch weniger gewinnen als Israel mit zeptiert hat. Natürlich haben auch sie das Recht und seiner Armee! Ihr seid schon kurzfristig als politische Ge- gewissermaßen die Pflicht, die Palästinenser zu unterstüt- meinschaft gefährdet! Die Anerkennung des Existenz- zen. Aber auch sie haben kein Recht, den Terror zu unter- rechts Israels heißt heute Verzicht auf Terror. stützen. Auch sie müssen sich davon klar distanzieren. Nochmals: Israel und Palästina sind nicht voneinander Dass die Enttäuschung der Palästinenser zunimmt – zu trennen. Israel und Europa und vor allem Israel und wer könnte das nicht verstehen? Ihre Wut und ihr Hass sind Deutschland sind in Vergangenheit und Zukunft nicht durch Jahrzehnte schikanöser und demütigender Behand- voneinander zu trennen. Die europäische und die deutsche lung, durch wachsende Enttäuschung, Frustration und Per- Verantwortung für die Sicherheit, die Existenz und die spektivlosigkeit infolge der immer wieder verzögerten und Zukunft Israels hat sich zwar in ihrem Ausdruck mit der nur bruchstückhaften Umsetzung des Osloer Abkommens Zeit verändert und muss sich entsprechend der konkreten 23134 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Karl Lamers (A) Lage verändern. Aber sie wird nicht enden, bis die Zu- trag können wir leisten, damit die Gewalt beendet wird? (C) kunft Israels endgültig gesichert ist. Sie ist für die Deut- Das sind die Fragen, die uns und viele Bürgerinnen und schen ein Teil ihrer selbst und schließt unvermeidlicher- Bürger im Land beschäftigen. Eines steht jedenfalls für und notwendigerweise aber auch die Verantwortung für mich fest: In einer Situation, in der beide Gesellschaften die Folgen der Gründung des Staates Israel, das Leid der durch den jahrzehntelangen Konflikt zutiefst traumatisiert Palästinenser und das Unrecht an ihnen ein. sind, in der sie – natürlich mit ganz subjektiven Sichtwei- sen auf ihre jeweilige Situation – um ihr Überleben und Wer könnte uns Deutschen nicht die Sehnsucht nach- um ihre Existenz kämpfen, verbietet sich gerade für uns empfinden, dass sich Schillers Wort vom Fluch der bösen Deutsche eine vorschnelle und einseitige Parteinahme. Tat, nämlich der des Holocaust, die fortwährend Böses gebärt, nicht immer wieder bestätigt. Das einmalige (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN historische Projekt Israel darf nicht scheitern. Sonst wür- sowie des Abg. Detlef Dzembritzki [SPD]) den auch wir scheitern. Deswegen muss auch Palästina Gerade wir haben aufgrund unserer Geschichte ein be- werden, wie Israel bleiben muss. sonderes Verhältnis zu Israel. Wer meint, dieses Verhält- Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. nis im Zuge dieses furchtbaren und tragischen Konflikts kurzerhand normalisieren zu können, handelt geschichts- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der vergessen und verantwortungslos. Das geht nicht. Gerade FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- für uns steht die Anerkennung des Existenzrechts Israels SES 90/ DIE GRÜNEN und der PDS) in anerkannten Grenzen außerhalb jeder Debatte. Daran darf es keinen Zweifel geben. Daraus folgt eben auch die Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Das Wort bleibende Verpflichtung, für die Sicherheit Israels und hat die Kollegin Kerstin Müller für die Fraktion des seiner Menschen einzutreten. Das bedeutet natürlich kei- Bündnisses 90/Die Grünen. nen generellen Verzicht auf Kritik an der jeweiligen isra- elischen Regierung. Herr Lamers, ich stimme Ihnen dies- bezüglich zu. Jede Kritik muss sich aber an der Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- besonderen Verantwortung Deutschlands messen lassen. NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bilder, die uns aus dem Nahen Osten erreichen – viele (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN meiner Kolleginnen und Kollegen haben sie bereits be- sowie bei Abgeordneten der SPD) schrieben –, sind schrecklich: Wir sehen Bulldozer und Es war richtig, dass der Sicherheitsrat der Vereinten Panzer der israelischen Armee, die in den Straßen von Ra- Nationen mit den Resolutionen 1402 und 1403 den Rück- mallah, Tulkarem und Nablus die Straßen aufreißen und zug der israelischen Truppen aus den palästinensischen Häuser dem Erdboden gleichmachen. Sie haben im (B) Städten gefordert hat, wie er auch die terroristische Ge- (D) Flüchtlingslager Dschenin eine fürchterliche Verwüstung walt der Selbstmordattentäter, die von Teilen der Palästi- mit einer bisher unbekannten Zahl von Toten hinterlassen. nenser ausgeht, verurteilt hat. Es ist klar, dass die Wir sehen weinende Kinder, die mit ihren Schulheften in Vorgänge in Dschenin von einer internationalen Untersu- der Hand im Straßengraben kauern und von Soldaten chungskommission aufgeklärt werden müssen und huma- durchsucht werden. nitären Organisationen Zugang zu den Verletzten gewährt Gleichzeitig gibt es in Israel immer wieder – fast täg- werden muss. lich – fürchterliche Selbstmordattentate: Beim Warten an Ich habe die große Sorge, dass die militärische Gewalt der Bushaltestelle, im Café im Zentrum von Jerusalem, als Antwort auf Terror und Selbstmordattentate Israel auf bei der Feier der Bar-Mizwa und beim Tanzen in der Dauer nicht mehr, sondern weniger Frieden und Sicher- Disco werden Israelis durch menschliche Bomben ermor- heit geben wird. Terror wird mit militärischer Gewalt und det. Allein im letzten Monat zählte man 112 Todesopfer. die wiederum mit Terror beantwortet. Dieser heillose Teu- Jeder in Israel kennt diese Zahl. Die Menschen haben das felskreis kann nur durch die Wiederaufnahme von politi- öffentliche Leben auf den Straßen auf das Notwendigste schen Verhandlungen durchbrochen werden. Es gibt beschränkt; so erzählen es mir meine Freunde. Die nackte keine militärische Option, um Frieden im Nahen Osten zu Todesangst dominiert den Alltag. erreichen, für keine Seite. Ein unabhängiger palästinensi- Und dann dieses Attentat am Vorabend des Pessachfes- scher Staat wird nicht durch Terror, sondern nur durch tes, das ein Blutbad unter den 200 Hochzeitsgästen anrich- Verhandlungen zu erreichen sein. Frieden und Sicherheit tete. Man muss sich das einmal vorstellen: Das wäre so, als für Israel wird es vermutlich erst geben, wenn Siedlungen wenn am Weihnachtsabend im voll besetzten Kölner Dom geräumt werden und Israel sich aus den besetzten Gebie- eine Bombe hochginge. So wurde das in Israel aufgenom- ten zurückzieht, wenn also die palästinensische Gesell- men. Was wäre in einer solchen Situation in Deutschland schaft endlich wieder eine politische Perspektive erhält. los? Das muss man sich einmal fragen. – In Israel hat die- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ses Attentat – eines von vielen – zur Folge, dass eine große sowie bei Abgeordneten der SPD) Mehrheit der Gesellschaft subjektiv das Gefühl hat, es geht um die Existenz Israels. Die Regierung Scharon reagierte Genau das ist der Kerngedanke des Ideenpapiers des darauf mit einem massiven militärischen Einmarsch in die Außenministers, das zu Recht international und auf euro- Städte der Westbank, zuletzt heute Morgen in Hebron. päischer Ebene hohe Anerkennung gefunden hat. Der Teufelskreis der Gewalt im Nahen Osten scheint Ohne gemeinsame Anstrengungen der USA, der UNO, zurzeit unauflösbar. Was können wir tun? Welchen Bei- Russlands und der EU werden die Beteiligten nicht an den Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23135

Kerstin Müller (Köln) (A) Verhandlungstisch zurückkehren. Auch das ist ein wichti- Israel; er würde sich daran auch beteiligen. Das hat (C) ger Vorschlag in dem Ideenpapier. „Wir brauchen eine Möllemann gesagt. dritte, gemeinsame Partei von außen“ – so haben es Yossi (Walter Hirche [FDP]: Nein!) Beilin, der ehemalige Justizminister Israels, und Jassir Abed Rabbo, der palästinensische Minister für Informa- Das hat Herr Westerwelle als so genannte legitime Kritik tion und Kultur, schon im März formuliert. Beide sind in einer Situation verteidigt, in der sich in Israel viele auch Mitbegründer der israelisch-palästinensischen Frie- Menschen aus Todesangst nicht mehr auf die Straße denskoalition, die ganz intensiv daran arbeitet, dass wie- trauen, in der es für Israel subjektiv um das Existenzrecht der ein gemeinsamer Dialog möglich wird. Sie haben ge- geht. Ich finde das beschämend. sagt: Ohne Hilfen von außen und ohne internationale Garantien werden wir, die Konfliktparteien, es nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schaffen, Frieden herzustellen. sowie bei Abgeordneten der SPD) Im Rahmen der EU wird sicher das eine oder andere Ich bin der Meinung, Herr Gerhardt – Ihr Vorsitzender, am Ideenpapier verändert werden. Für mich steht aber ei- Herr Westerwelle, hat sich schon verzogen –, dass Sie das nes fest: Es ist ein wichtiger Beitrag zur Bildung einer ge- hier und heute in dieser Debatte ganz deutlich zurückneh- meinsamen EU-Position. men müssen. Mit solchen Äußerungen machen Sie, ob Sie das wollen oder nicht – ich will Ihnen das nicht unterstel- Ich bin auch der Überzeugung, Debatten über Sanktio- len –, Antisemitismus in Deutschland wieder salonfähig. nen oder Boykottmaßnahmen vonseiten der EU – Sie ha- Das ist hochgefährlich, liebe Kolleginnen und Kollegen. ben das ja, Herr Lamers, heute nicht erwähnt; ich habe es an anderer Stelle von Ihnen gelesen – bringen die EU bei (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Lösung des Nahostkonflikts nicht weiter, sondern ver- und bei der SPD – Walter Hirche [FDP]: Das ist härten die Fronten. Wir als Deutscher Bundestag sollten eine ungeheure Behauptung!) daher gemeinsam diese konstruktive Initiative mit allen Kräften unterstützen. Das könnte eine Chance sein, um Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Frau Kolle- den politischen Prozess und politische Gespräche wieder gin Müller, der Kollege Gerhardt hat sich zu einer Zwi- in Gang zu bringen. schenfrage gemeldet. Wenn Sie ihm die gestatten, gebe (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ich ihm jetzt das Wort. und bei der SPD) Das ist das Gebot der Stunde. Es geht darum, wie dieser Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Prozess wieder in Gang kommt, und nicht – das will ich NEN): Ja, sicher. (B) sehr deutlich sagen – um eine innenpolitische Instrumen- (D) talisierung zu durchsichtigen Zwecken. Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Frau Kollegin, ers- Herr Gerhardt, natürlich darf und muss man die kon- tens: Ist Ihnen, nachdem die erste Kritik an dieser Äuße- krete Politik der israelischen Regierung kritisieren. Ich rung in einem Interview vorgetragen wurde, bekannt, dass habe das eben sehr deutlich gesagt. Ich bin völlig einver- Herr Möllemann auf mögliche Missverständnisse klar standen damit, dass Sie sagen: Kein Widerstandsrecht der und eindeutig hingewiesen hat? Er hat ausgeführt – ich Welt legitimiert Terror. Da bestehen zwischen uns keine gebe es im übertragenen Sinne wieder –, dass es keine Ak- Differenzen; das ist Konsens unter uns. Aber – das will ich zeptanz von Selbstmordattentätern gibt, selbst dann nicht, hier noch einmal sehr deutlich sagen – das verträgt sich wenn sie für die Ziele des eigenen Volkes kämpfen. Ich nicht mit dem, was Herr Möllemann in einem „taz“-Inter- bin gerne bereit, Ihnen die entsprechende Äußerung view im April gesagt hat, schriftlich nachzureichen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zweitens. Sind Sie auch bereit, endlich davon Abstand sowie bei Abgeordneten der SPD) zu nehmen, dass jedes Argument, das in dieser Debatte geäußert wird, mit dem Vorwurf des Antisemitismus be- von dem er sich nicht distanziert hat. Der Herr Parteivor- legt wird? sitzende Westerwelle hat dieses sogar im Nachhinein noch beschönigt, indem er gesagt hat, Kritik muss doch Drittens. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass ich keine möglich sein. Ich will hier noch einmal vortragen, was Sekunde gezögert hätte, mich hier von Herrn Möllemanns Herr Möllemann gesagt hat. Ich habe nämlich den Ein- Äußerungen zu distanzieren, wenn er sie in einer zusätz- druck, dass das in der Debatte hier heruntergespielt wird, lichen Erklärung nicht klargestellt hätte. – Damit kann während es in Israel eine große Rolle gespielt hat. diese Debatte nun wirklich beendet werden. Er hat gesagt: (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜND- Was würde man denn selber tun, wenn Deutschland NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist ja unglaublich!) besetzt würde? Ich würde mich auch wehren, und zwar mit Gewalt. Ich bin Fallschirmjägeroffizier der Reserve. Es wäre dann meine Aufgabe, mich zu weh- Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ren. Und ich würde das nicht nur im eigenen Land NEN): Herr Gerhardt, ich kenne diese Distanzierung tun, sondern auch im Land des Aggressors. nicht. Herr Gerhardt, der Terror der Selbstmordattentäter, der Da Sie diese Zwischenfrage gestellt haben, möchte ich unschuldige Zivilisten trifft, sei legitim im Kampf gegen noch etwas, was ich eben nicht erwähnt habe, hinzufügen. 23136 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Kerstin Müller (Köln) (A) Ich habe auf der Internetseite der Deutsch-Arabischen Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) Gesellschaft, deren Präsident Herr Möllemann ist, die NEN): Das war keine Frage. Wir haben es zur Kenntnis Pressemitteilung eines ehemaligen Kollegen von mir aus genommen. NRW gefunden. Die Überschrift dieser Presseerklärung Man darf das nicht unterschätzen. Wer die öffentliche lautet: „Israelische Armee wendet Nazi-Methoden an.“ Debatte in den Medien in Israel verfolgt hat, der hat mit- Ich habe mich mit dem Kollegen, der für diese Äußerung bekommen, dass diese Angelegenheit dort eine große verantwortlich ist, einmal auseinander gesetzt. Er ist jetzt Rolle gespielt hat. Sie hat auch hier eine große Rolle ge- Mitglied der FDP. spielt. Ich habe nur ganz ruhig gesagt: Davon muss man (Walter Hirche [FDP]: Ist er nicht! Er ist in der sich distanzieren. Fraktion, aber nicht in der FDP! – Weiterer Zu- (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Haben wir!) ruf des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]) Wenn wir in diesem Haus in dieser Frage einen Konsens – Herr Gerhardt, hören Sie zu! haben, wenn Unklarheiten beseitigt wurden, dann bin ich Auf dieser Internetseite – ich bin jetzt bei der darüber sehr froh. Aber das muss sein. Deutsch-Arabischen Gesellschaft, deren Präsident Herr (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Möllemann ist – steht: SES 90/DIE GRÜNEN) Diese Erklärung von Herrn Karsli, die wir uneinge- schränkt unterstützen ... Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Frau Kolle- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gin Müller, ich muss Sie fragen, ob Sie eine Zwi- NEN]: Unglaublich! Den müssen Sie raus- schenfrage des Kollegen Niebel beantworten möchten. schmeißen! – Walter Hirche [FDP]: Fragen Sie (Peter Dreßen [SPD]: Nein, das wird doch den Vizepräsidenten Moosbauer!) peinlich!) Wir müssen uns da nicht verzetteln. Diese Äußerung muss zurückgenommen werden; davon muss man sich distan- Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zieren. NEN): Nein, ich möchte jetzt zum Ende kommen. Ich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) denke, wir haben das klargestellt. Ich habe Ihnen nicht Antisemitismus vorgeworfen. Ich Wenn wir wollen, dass unsere berechtigte Kritik am habe gesagt – ob Sie es wollen oder nicht –: Damit macht Vorgehen Israels gehört wird, wenn wir wollen, dass die (B) man Antisemitismus in Deutschland salonfähig. Das ist Konfliktparteien an den Verhandlungstisch zurückfinden, (D) das Gefährliche an dieser Diskussion. wenn wir wollen, dass die palästinensische Gesellschaft wieder eine politische Perspektive erhält, dann ist es wichtig, dass wir konstruktiv daran mitwirken, den Frie- Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Gestatten densprozess und den Dialog wieder in Gang zu bringen. Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Gerhardt? Lassen Sie uns vor allem die verhandlungsbereiten Frie- (Hans-Ulrich Klose [SPD]: Muss das sein? denskräfte auf beiden Seiten stärken und unterstützen! Das ist nicht gut!) Das ist unsere Aufgabe. Damit, so meine ich, werden wir unserer besonderen Verantwortung gerecht.

Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vielen Dank. NEN): Bitte. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Dr. Wolfgang Gerhardt (FDP): Ich möchte nicht, dass wir diese Debatte beenden, ohne dass Klarheit über Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Nun gebe meine Haltung herrscht. ich das Wort dem Kollegen Wolfgang Gehrcke für die Meine erste Zwischenfrage haben Sie nicht beantwor- Fraktion der PDS. tet, weil Sie den von mir genannten Sachverhalt überhaupt (Hans-Ulrich Klose [SPD]: Denken Sie da- nicht zur Kenntnis genommen haben. Das können Sie ran, Herr Gehrcke, dass Sie aus Hamburg kom- nachträglich noch tun. men!) Zum Zweiten möchte ich ganz einfach feststellen: Nehmen Sie bitte – wenn Sie diese Aussage erwarten – zur Wolfgang Gehrcke (PDS): Herr Präsident! Liebe Kenntnis, dass niemand glauben sollte, er könnte in der Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, dass es bei dem FDP eine Heimat für antiisraelische Politik finden. jetzigen Stand der Debatte sinnvoll ist, nachzuprüfen, welche Gemeinsamkeiten oder, um es etwas vorsichtiger (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zu sagen, Nähen es in der deutschen Nahostpolitik gibt NEN]: Hat er doch gemacht!) oder geben kann. Wer das glaubt, der irrt sich gewaltig. Die PDS-Fraktion geht in ihren Überlegungen von fol- (Beifall bei der FDP) gendem Grundsatz aus: Wer Frieden will, darf Gerechtig- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23137

Wolfgang Gehrcke (A) keit nicht verweigern. Frieden wird aus Gerechtigkeit Ich habe gestern Nacht noch einmal mit den internationa- (C) wachsen. Diesen Gedanken wollen wir politisch veran- len Beobachtern telefoniert, die zusammen mit Arafat ein- kern. geschlossen sind. Sie haben seit sechs Tagen kein Essen mehr erhalten. Solana wollte Nahrung mit hineinbringen; (Beifall bei der PDS) ihm ist von der israelischen Seite gesagt worden, Zugang Dies führt uns zu vier Überlegungen, die Ziele und zu- zu Arafat gebe es nur ohne Transport von Essen. Sie ha- gleich auch Wege einer deutschen Nahostpolitik skizzie- ben keine Medikamente mehr. Müssen solche Demüti- ren könnten. Ich will diese Überlegungen vorstellen. gungen sein? Erstens. Als Ergebnis auch der deutschen Bemühungen Auch hier müsste die deutsche Politik deutlicher und wollen wir erreichen, dass ein eigener, anerkannter, le- eindeutiger beweisen, dass Menschenrechtsverletzungen bensfähiger Staat der Palästinenser entsteht, und zwar nicht selektiv gesehen werden und dass nicht unter- nicht irgendwann, sondern in klar definierten Zeiträumen. schiedlich mit ihnen umgegangen wird. Dies erfordert zwingend – das ist das Problem der gestrigen (Beifall bei der PDS) Erklärung von Scharon, neue Siedlungen zu gründen – die Rücknahme der israelischen Siedlungspolitik, weil sonst Viertens. Aus meiner Sicht ist ein Gewaltverzicht aller kein Weg eröffnet wird. Seiten, ein Ende der Besatzung und ein Ende von An- schlägen notwendig. Das bedeutet aber in der jetzigen Si- (Beifall bei der PDS) tuation einen sofortigen Abzug des israelischen Militärs Zweitens. Zugleich wollen wir sicherstellen, dass Is- aus den besetzten Gebieten sowie ungehinderte Bewe- rael in gesicherten Grenzen, ohne Bedrohung und in Frie- gungsfreiheit für Arafat. Wenn man verhandeln will, kann den mit seinen Nachbarn leben kann. Dies erfordert zwin- man den Verhandlungspartner nicht einsperren. Das gend die Anerkennung Israels durch die arabischen macht doch keinen Sinn; das schafft doch kein Vertrauen. Nachbarstaaten, das Ende von Anschlägen und des Infra- (Beifall bei der PDS) gestellens des Existenzrechtes Israels. Ich will auch meine Sorge darüber nicht verhehlen, (Beifall bei der PDS) dass neue Militärschläge Israels gegen den Libanon und Für diese Ziele werben wir auf beiden Seiten, damit ein gegen Syrien nicht auszuschließen sind. Auch das muss Friedensprozess wieder in Gang kommt. Es fehlt Ver- man hier aussprechen. Man muss auf Israel einwirken, trauen; es herrscht Angst. keine weitere Eskalation der militärischen Auseinander- setzung vorzunehmen. Eine gemeinsame Initiative von EU, USA, Russland und den Vereinten Nationen ist sinnvoll. Internationale (Beifall bei der PDS) (B) Beobachter und Blauhelme können in einer bestimmen (D) Ich will, dass endlich damit Schluss gemacht wird, dass Etappe für die Konfliktparteien hilfreich sein. Ich möchte junge Palästinenser ihr Leben beenden, indem sie sich als sie nicht als Instrument gegen die Konfliktparteien, son- Waffe gegen andere einsetzen. Ich will aber auch, dass da- dern als Hilfe für diese verstanden wissen. Ein Einsatz mit Schluss gemacht wird, dass junge Bürger Israels ihr deutscher Soldaten in Israel scheidet jedoch aus histori- Leben mit den Gräueln des Krieges belasten. Gewaltver- schen und aktuellen Gründen vollständig aus zicht in der Region – dieser Gewaltverzicht trifft dann (Beifall bei der PDS) auch Hisbollah und andere – ist ohne Alternative. Auch das sollten wir hier deutlich machen. und muss von diesem Hause auch vollständig und ohne Grautöne ausgeschlossen werden. Ich weiß nicht, was den (Beifall bei der PDS) Bundeskanzler geritten hat, ausgerechnet auf einer Kom- Ich habe eine Frage an die Regierung, die ja wieder ge- mandeurstagung der Bundeswehr die Frage anzuspre- gangen ist. Es ist inzwischen üblich geworden: Wenn die chen, ob sich deutsche Soldaten auch an einem solchen PDS spricht, verschwinden der Kanzler und der Außen- Einsatz beteiligen sollten. Ich halte das nicht für ernst- minister. hafte Politik, sondern für Schwafelei. (Michael Glos [CDU/CSU]: Das wird auch in (Hans-Ulrich Klose [SPD]: Na, na!) Zukunft so bleiben!) Drittens. Wenn wir weiterkommen wollen, darf es auch Das kann man durchhalten, aber es macht keinen Sinn, hinsichtlich der Menschenrechte keine Zweideutigkeit weil man immer mit den konkreten Kontrahenten reden geben. Ich glaube, die Bundesregierung sollte sich muss. bemühen, in dieser Frage nicht zweideutig zu sein. Die Menschenrechtsverletzungen durch Israel müssen ge- (Michael Glos [CDU/CSU]: Die koalieren nauso verurteilt werden wie Gewalt- und Selbstmordan- doch miteinander!) schläge. Deswegen ist das Verhalten der Bundesregierung Meine Frage bezieht sich auf die Grundlagen der Nah- bei der VN-Menschenrechtskommission, wo sie eine ent- ostpolitik. Beim Antrag von SPD und Grünen fällt schon sprechende kritische Auseinandersetzung mit Israel auf, dass der Grundlagenbeschluss 242 der Vereinten Na- blockiert hat, eben nicht logisch und stringent, sondern tionen überhaupt nicht erwähnt worden ist, anders als bei gibt Anlass, nachzufragen. dem Antrag der CDU/CSU, den ich in vielen Teilen, wenn Wir müssen rasche humanitäre Hilfe leisten. Das be- ich das sagen darf, überhaupt besser finde. Erste Grundlage trifft das Flüchtlingslager Dschenin, aber auch Ramallah. also: zwei Staaten. Zweite Grundlage: alle Resolutionen 23138 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Wolfgang Gehrcke (A) der Vereinten Nationen ohne Doppeldeutigkeiten. Dritte Ich wünschte mir, dass Arafat in deutlicher – Sie haben es (C) Grundlage: Einsatz für Menschenrechte. Vierte Grund- gesagt – arabischer Sprache lage: Gewaltverzicht auf allen Ebenen. Könnten das die (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Das ist Grundlagen einer gemeinsamen Nahostpolitik sein? richtig!) Diese Frage wird die Bundesregierung zu beantworten haben, wenn sie ein Interesse daran hat, dass neben ihr zu einem Ende der Gewalt aufrufen würde. Ich wünschte auch die anderen Fraktionen im Haus über diese Politik mir, dass Israel die Entschließungen des UN-Sicherheits- mitdiskutieren. rates beachten und sich aus den palästinensischen Gebie- ten zurückziehen würde. Ich wünschte mir, dass beide Ich will auch deutlich sagen, dass es aus meiner Sicht Streitparteien endlich darangingen, gemeinsam nach einer bedrückend ist, wenn jüdische Bürgerinnen und Bürger, politischen Lösung zu suchen, statt wie bisher aus- aber auch palästinensische Bürgerinnen und Bürger in un- schließlich auf Gewalt zu setzen. Es gibt – da sind wir si- serem Land sagen, dass sie Angst haben. Ich bitte alle, cher alle einig – keine militärische Lösung des Nahost- nicht leichtfertig mit dem Vorwurf von Antisemitismus problems. gegenüber Kritikern Scharons umzugehen. Ich bitte aber gleichfalls darum, die Sorgen vor Antisemitismus in un- (Beifall im ganzen Hause) serem Land sehr ernst zu nehmen. Ich glaube, in diesem Punkt jedenfalls sind wir Europäer (Beifall bei der PDS) untereinander, aber auch mit den USA und mit Russland sowie der UNO einig. Die Geschichte unseres Landes, der bedauerliche Auf- schwung rechtsextremer Gruppen und Auffassungen, aber In Wahrheit wissen wir alle, die wir uns mit dem auch solche Vorkommnisse und Entwicklungen wie Le Thema beschäftigen, wie in etwa eine politische Lösung Pen in Frankreich geben Anlass zur Sorge. Wir sollten aber aussehen müsste. Erstens. Es gibt keine politische Lösung auch deutlich aussprechen: Wer Kritik an Scharon mit An- ohne die Gründung eines unabhängigen Palästinenser- tisemitismus gleichsetzt, verharmlost Antisemitismus. staates. Den gibt es nicht, wenn alle Siedlungen im Gaza- streifen und in der Westbank aufrechterhalten und neue (Beifall bei der PDS) gegründet werden. Deutsche Schuld kann nicht auf dem Rücken von Paläs- Zweitens. Es gibt keine politische Lösung ohne eine tinensern ausgetragen werden. Der deutsche Stammtisch vernünftige Regelung des Flüchtlingsproblems. Unver- formuliert, dass sich Juden und Araber eben nicht vertra- nünftig ist es, das volle Rückkehrrecht für alle aus gen können. Ich finde, das ist ein dummes Argument. Palästina vertriebenen Menschen sowie ihre Kinder und Noch vor einigen Jahrzehnten wurde gesagt, Deutsche Kindeskinder zu fordern. Das wäre – das weiß jeder, auch (B) und Franzosen seien Erbfeinde. Ich bin überzeugt: Juden (D) die arabische Seite – das Ende des jüdischen Staates. und Araber, Bürger Israels und Bürger Palästinas können miteinander leben. Sie werden auf der Grundlage von (Michael Glos [CDU/CSU]: So ist es!) zwei Staaten auch beweisen können, ob sie sogar einmal Drittens. Es gibt keine politische Lösung ohne eine Kern von Demokratien in der Region werden. Das ist faire Entscheidung über Ostjerusalem und ohne eine fair heute nicht vorstellbar, aber dennoch denkbar. geteilte, am besten gemeinsame Souveränität über den Danke schön. Tempelberg. (Beifall bei der PDS) (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Richtig!) So in etwa müsste eine politische Lösung aussehen. Das Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Für die wissen wir alle, viele Israelis und viele Palästinenser ein- SPD-Fraktion spricht der Kollege Hans-Ulrich Klose. geschlossen. Warum kommt es nicht zu dieser politischen Lösung? Dafür sind zwei Gründe maßgeblich: erstens weil die Palästinenser glauben, dass sich Kooperation und Zu- Hans-Ulrich Klose (SPD): Herr Präsident! Meine sehr warten nicht auszahlen – richtig ist, dass sie in den zehn geehrten Damen und Herren! Mit meinem ersten Satz Jahren nach Oslo mehr Land verloren haben als in den möchte ich gern eine kritische Zwischenfrage von Christa zehn Jahren vor Oslo –, und weil sie aus dem Rückzug der Nickels aufgreifen. Ich wünschte mir, liebe Christa Israelis aus Südlibanon den falschen Schluss gezogen ha- Nickels, die israelische Regierung hätte nicht vor zwei ben, nämlich dass sich Gewalt auszahlt. Weil das so ist, Tagen beschlossen, eine neue große Siedlung im West- haben die Israelis ihrerseits beschlossen, gegen diesen Irr- jordanland zu bauen. Ich glaube nicht, dass das hilfreich ist. tum mit aller Gewalt anzukämpfen und deutlich zu ma- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE chen, dass sie unter Gewalt niemals nachgeben werden. In GRÜNEN, der CDU/CSU und der PDS) diesem Punkt stimmen 80 Prozent der israelischen Bevöl- kerung mit Scharon überein, nicht mit seiner Politik. Ich wünschte mir, dass arabische Politiker aufhören wür- den, von dem „so genannten Staat Israel“ oder von die- (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Richtig!) sem „zionistischen Gebilde“ zu sprechen. Die Sprache ist, Zweitens. Der gesamte Friedensprozess hat von An- fürchte ich, Programm. fang an darunter gelitten, dass er auf der Basis totalen (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP Misstrauens eingeleitet wurde, und alle Versuche, eine und der PDS) tragfähige Vertrauensbasis zu schaffen, sind durch die Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23139

Hans-Ulrich Klose (A) Eskalation der Gewalt zunichte gemacht worden. Der ge- über Israel auferlegt und dass eine einseitige Stellung- (C) meinsame Nenner dieses Konfliktes ist Angst, Hass und nahme zugunsten der Palästinenser schon deshalb ausge- Misstrauen. Alle Akteure haben Angst – Angst vor den ei- schlossen ist, weil auch die Palästinenser oder wesentli- genen Leuten, Angst vor dem Gegner, Angst vor militä- che Teile von ihnen das Existenzrecht Israels bis zum rischer und terroristischer Gewalt und traumatische Angst heutigen Tage nicht anerkannt haben. vor massenhafter Vertreibung zurück ins Meer oder über Für die Sympathiegruppe Israel füge ich hinzu: Die be- den . sondere Verantwortung gegenüber Israel verbietet uns In einer solchen Situation eindeutige Erklärungen, Ak- nicht, die israelische Regierung für Dinge, die sie tut oder tionen und Sanktionen zu fordern, zu fordern, dass Druck nicht tut, zu kritisieren. Solche Kritik, wenn sie in ange- ausgeübt werden müsse – Kollege Gerhardt, Sie haben messener Form vorgetragen wird, ist nicht immer gleich das Verbum zwingen benutzt –, hilft nichts. als antisemitisch zu brandmarken. Das zu tun ist falsch und kontraproduktiv. Es ist ungerecht, wenn Kollegen, die (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE solche Kritik äußern, in diese Ecke geschoben werden; GRÜNEN und der PDS) dort gehören sie nicht hin. Wer solche Forderungen erfüllt, wird schnell zu einer Ich sage dies auch mit einem besorgten Blick auf man- Partei in einer Auseinandersetzung, in der es unmöglich che Kommentare aus Amerika. Am liebsten würde ich ist, eindeutig und widerspruchslos zwischen Gerechten mich an die Kommentatoren selber wenden und sagen: und Ungerechten zu unterscheiden. Die Tragik des Kon- Liebe Freunde, wir sind nicht die verräterischen Europäer. fliktes besteht doch darin, dass beide Seiten Opfer und Tä- Wir sind Menschen, die voll Trauer und Entsetzen erle- ter sind, beide aber immer nur sich selbst als Opfer und ben, dass die Gewalt in Nahost eskaliert. Wir sehen, wie die andere Seite als Angreifer sehen. Menschen leiden, Palästinenser und Israelis. Einen wenn In einer solchen Situation ist es für uns vor allem wich- auch bescheidenen Beitrag zur Lösung dieses Problems tig, für beide Seiten als Ansprechpartner zur Verfügung zu zu leisten, damit das Leiden der Menschen aufhört, das stehen, Moderator zu sein, so bescheiden diese Rolle im treibt uns an und um. Konkreten auch ausfallen mag. Statt über Sanktionen ge- Nur dies, der Wunsch, außenpolitisch hilfreich zu sein, gen die eine oder andere Seite zu sprechen, muss über sollte uns bei innenpolitischen Debatten beflügeln und Hilfe für die leidenden Menschen, über vertrauensbil- leiten. dende Maßnahmen und über Wege gesprochen werden, beide Seiten an den Verhandlungstisch zurückzuführen. Vielen Dank. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Beifall im ganzen Hause) (B) SES 90/DIE GRÜNEN) (D) Deshalb und mit diesem Ziel unterstützen wir die Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Ich erteile Bemühungen des amerikanischen Außenministers Powell das Wort für die CDU/CSU-Fraktion dem Kollegen – von denen wir nicht sagen sollten, dass sie gescheitert Joachim Hörster. sind – begrüßen wir auch die Initiative unseres Außen- ministers. Deshalb verzichten wir ausdrücklich darauf, Joachim Hörster (CDU/CSU): Herr Präsident! mit vollmundigen Erklärungen die emotionalen Erwar- Meine Damen und Herren! Ich habe, auch im Hinblick auf tungen des eigenen Publikums befriedigen zu wollen. die Zeit, nicht die Absicht, Dinge zu wiederholen, die an (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ diesem Vormittag schon gesagt worden sind. Ich möchte DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der mich insbesondere auf Ministerpräsident Stoiber, den CDU/CSU und der FDP) Kollegen Lamers, den Kollegen Moosbauer und auch den Kollegen Klose beziehen, aus deren Worten deutlich ge- Dies ist keine innenpolitische, sondern eine außenpoli- worden ist, dass wir zumindest innerhalb des Parlamentes tische Debatte. Unsere Aufgabe, die Aufgabe der Deut- eine sehr breite gemeinsame Grundlage bei der Beurtei- schen, kann es nicht sein, eine Lösung in Nahost zu er- lung dieses Konfliktes haben. zwingen. Wer den Eindruck erweckt, das könnte man, indem man Druck ausübt, schafft bestenfalls Illusionen. Was nach meinem Dafürhalten in dieser Betrachtung ein bisschen zu kurz kommt, ist die Situation auf der Das sage ich deshalb, weil es, wie wir alle wissen, in arabischen Seite; denn ich glaube, dass wir den Kon- unserem Land Sympathisanten für die eine und für die an- flikt nicht nur als Konflikt zwischen Palästinensern und dere Seite gibt. Beide erwarten von uns Erklärungen zu- Israelis sehen können, sondern nicht übersehen dürfen, gunsten ihres jeweiligen Standpunktes. Vorsicht, kann ich dass er weiter geht, über Israel und Palästina hinaus. Des- nur sagen. Wir alle bekommen viele Briefe, auch ich; halb heißt die Debatte Nahostdebatte. manche sind gut, es sind aber auch viele dabei, von denen ich wünschte, sie wären nicht geschrieben worden. Bei der Überlegung, welche Lösungsmöglichkeiten bestehen, stellt sich die Frage: Wie sieht der Rahmen für Ich möchte noch zwei Bemerkungen anfügen, die ich solche Lösungsmöglichkeiten aus? Gibt es einen Rah- an die Sympathiegruppen für die eine und die andere men, gibt es Bewegungen auch außerhalb von Palästina Seite richte. Zunächst ein Wort an die Sympathiegruppe und Israel? Palästina. Auch Sie können und dürfen nicht übersehen, dass, wie wiederholt gesagt worden ist, uns unsere deut- Wir täten gut daran, uns einmal den Friedensplan sche Geschichte eine besondere Verantwortung gegen- genauer anzuschauen, den der saudische Kronprinz 23140 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Joachim Hörster (A) Abdallah vorgelegt hat. Der saudische Kronprinz ist ja über den Barcelona-Prozess verloren. Im Zusammen- (C) nicht irgendwer. Es kommt nämlich nicht darauf an, dass hang mit dem Abkommen von Oslo und mit dem Gaza- es einen Friedensplan gibt, sondern darauf, von wem er Jericho-Abkommen hat die Europäische Union auf dem vorgelegt wird. Selbstverständlich ist dieser Friedensplan Gipfel in Essen – ich darf daran erinnern: unter der Rats- nicht der Weisheit letzter Schluss. Aber in ihm werden ei- präsidentschaft von Helmut Kohl – die Weichen für die nige sehr bemerkenswerte Punkte angesprochen. Außenministerkonferenz in Barcelona gestellt. Zunächst einmal ist festzustellen, dass er sich auf die Die Außenministerkonferenz in Barcelona hatte zum Resolution der Vereinten Nationen bezieht und den Rück- Ergebnis, dass die Europäische Union und die zwölf süd- zug der Israelis aus allen besetzten Gebieten – einschließ- lichen und östlichen Mittelmeeranrainer in ein besonderes lich der Golanhöhen – in die Grenzen von 1967 verlangt. Verhältnis eintreten. Dieses besondere Verhältnis betrifft Dann fordert er die Rückführung der Flüchtlinge nach als Mittelmeeranrainer sowohl Palästina und Israel als UN-Resolution 194, wobei wir alle wissen – das wissen auch Syrien und Ägypten. Wir haben also einen Rahmen auch alle arabischen Regierungen –, dass dies eine Ver- geschaffen, in dem wir mit den Mittelmeeranrainern und handlungsposition ist, deren Erfüllung gänzlich unrealis- damit auch mit den Staaten des Konfliktgebietes umgehen tisch ist. wollen. Herr Kollege Gerhardt, in diesem Zusammenhang eine Die Europäische Union hat mit diesem Schritt deutlich Bemerkung: Die Kritik an den arabischen Staaten hin- gemacht, wo der Unterschied zwischen ihrer und der Po- sichtlich der Behandlung der Flüchtlinge, die Sie geübt sition der Vereinigten Staaten liegt. Für uns ist dieses Ge- haben, ist nur teilweise berechtigt. Die UN-Flüchtlings- biet der Nahe Osten und nicht der Mittlere Osten. Es sind kommission für Palästina hat mittlerweile festgestellt, unsere Nachbarn, mit denen wir gemeinsam leben und mit dass sowohl in Jordanien als auch in Syrien mehr als denen wir gemeinsam eine Reihe von Problemen bewäl- 80 Prozent der palästinensischen Flüchtlinge in die Be- tigen müssen. Das Migrationsproblem ist nur eines von völkerung integriert sind, also nicht mehr in Lagern leben, diesen Problemen. sondern als Staatsbürger voll akzeptiert werden. Ein Son- Mit diesem Rahmen sind die Voraussetzungen für die derproblem stellt zweifelsohne der Libanon dar. Wir wis- notwendigen Leistungen für den Aufbau der Infrastruktur sen, dass in diesem Land von allen Seiten die härtesten eines palästinensischen Staates geschaffen worden. Seit Fronten aufgebaut werden. Ich will diesen Punkt jetzt aber 1994 hat die Europäische Union 2,5 Milliarden Euro für nicht vertiefen; ich wollte ihn nur kurz erwähnen. diese Region ausgegeben, von denen nach den jetzigen Der Friedensplan von Abdallah verlangt die Anerken- Ereignissen so gut wie nichts mehr übrig geblieben ist. nung eines souveränen und selbstständigen palästinen- Wer sich das Ganze auch noch inhaltlich vor Augen hält, (B) sischen Staates auf der Westbank und im Gazastreifen. wird feststellen, dass dieser Barcelona-Prozess drei Körbe (D) Dabei handelt es sich im Übrigen um eine Forderung, die enthält, die für die ganze Region und auch für die Ent- von allen Seiten dieses Hauses geteilt wird. Das ist auch wicklung der Zivilgesellschaft von einer unschätzbaren die Position der Vereinten Nationen und der Europäischen Bedeutung sind. Union; sie wird ebenfalls von den Vereinigten Staaten von Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist not- Amerika akzeptiert. wendig, keine Politik der lauten Worte zu betreiben. Wir Im Gegenzug bietet der Friedensplan an – in diesem müssen in dem von uns vorgefundenen Rahmen eine stille Punkt kommt es auf die genaue Beachtung der Sprache Diplomatie betreiben, um damit die Ängste abzubauen, an –, dass der israelisch-arabische Konflikt für beendet er- von denen der Kollege Klose gesprochen hat, und um den klärt wird. Abdallah will dies durch ein Friedensabkom- sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Rahmen zu men mit Israel erreichen, in dem die Sicherheit für alle schaffen, der einen Aufbau und ein vernünftiges Zusam- Staaten in der Region gewährleistet werden soll. Der Frie- menleben im Nahen Osten ermöglicht. densplan bietet weiterhin die Herstellung normaler Be- Vielen Dank. ziehungen zu Israel in Übereinstimmung mit dem umfas- send vereinbarten und zuvor geschlossenen Frieden an. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Das ist vor dem Hintergrund dessen, was sich in den SES 90/DIE GRÜNEN) letzten Jahrzehnten entwickelt hat, ein gewaltiger Schritt. Denn alle Verhandlungsprozeduren, die wir seit 1978 bis zum heutigen Tag erlebt haben – ich erinnere an die Tref- Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Ich gebe fen von Jimmy Carter, Anwar al-Sadat und Menachem Be- dem Kollegen Günter Gloser das Wort. Er spricht für die gin in Camp David –, haben zu keinem Zeitpunkt eine ver- Fraktion der SPD. gleichbare arabische Position hervorgebracht. Diese Position ist auf dem Gipfel der Arabischen Liga – es haben Günter Gloser (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! zwar einige wichtige Staatschefs gefehlt; aber ihre Vertre- Meine sehr verehrten Damen und Herren! ter waren anwesend – in Beirut beschlossen worden. Was kann ein gewöhnlicher Mensch tun, der vor ei- Das heißt, wir haben jetzt eine vom gesamten ara- nem gewaltigen Feuer steht? Er kann versuchen, dem bischen Umfeld gebilligte Perspektive für eine Friedens- Brand zu entkommen und all die ihrem Schicksal lösung für Palästina. Was können die Europäer dazu bei- überlassen, die nicht schnell genug laufen können tragen? Wir haben in der heutigen Debatte noch kein Wort oder nicht wissen, wohin. Er kann herumstehen und Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23141

Günter Gloser (A) jammern. Er kann die Schuld auf andere schieben. Er ist Politik; man darf sie nämlich nicht nur in einem engen (C) kann aber auch den Teelöffel, den er in der Hand hält, Blickwinkel sehen. immer wieder mit Wasser füllen und es in die Flam- Ich denke, es ist wichtig, auch weiterhin finanzielle men spritzen. Unterstützung für diese Region zu leisten. Gerade in den So beginnt ein Beitrag von Amos Oz in der „Süddeut- palästinensischen Gebieten muss der Aufbau einer zivilen schen Zeitung“ von vor wenigen Tagen. Er fährt fort: Infrastruktur unterstützt werden. Diese finanzielle Unter- stützung muss natürlich einer Kontrolle unterliegen. Hier- Jeder von uns hat so einen Teelöffel. In diesen Tagen für gibt es Institutionen. muss jeder, der für Frieden ist, Wasser besorgen – wenigstens einen Teelöffel voll – und es in das Es ist mehrfach erwähnt worden, dass in diesen Tagen Feuer gießen: Er muss seine Stimme erheben gegen Forderungen nach Sanktionen gegen Israel laut gewor- die Kriegsverbrechen der einen wie der anderen Seite den sind. Unabhängig davon, ob sie mehr schaden oder und den Opfern dieser Verbrechen seine Hilfe anbie- nutzen: Wir können doch angesichts dessen, dass wir vor ten; er muss demonstrieren, überreden, diskutieren, wenigen Monaten in einer anderen benachbarten Region Unterstützung für vernünftige Kompromisse einho- gesagt haben, dass Sanktionen letztendlich unwirksam, len und argumentieren gegen die Fortsetzung der maßlos oder sogar verwerflich sind, keine Sanktionen for- israelischen Besatzung wie auch gegen die isla- dern. Solche doppelten Standards würden uns zurückwer- misch-antisemitische Kampagne zur Auslöschung fen. Dafür sollten wir uns nicht hergeben. Israels. Der Löffel in der Hand eines gewöhnlichen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Menschen ist wohl sehr klein und das Feuer sehr DIE GRÜNEN) groß – aber trotzdem muss er ihn benutzen. Genauso wenig halte ich natürlich von Forderungen, wo- Amos Oz fährt mit einem schönen Beispiel fort. Er sagt: nach die finanziellen Hilfen für die Palästinenser einge- Wir brauchen in Israel wie auch in Palästina eine stellt werden sollen. Ich glaube, dass es wichtig ist – das „Teelöffel-Kampagne“, bei der jeder mitmacht und ist hier an verschiedensten Punkten deutlich geworden –, sein Äußerstes gibt, um dieses ewige Rad von Unter- über eine zivile Infrastruktur zu verfügen. drückung, Mord, Vergeltung und Vergeltung der Ver- Leider stellen Zeitungsberichte, aber auch das Fernse- geltung endlich anzuhalten. hen – das können sie manchmal auch nicht – nicht all die Dinge dar, die wichtig sind und die zu Hoffnungen in die- Um das Bild von ihm aufzugreifen: Ich meine, dass ser Region geführt haben. Ich möchte ein Beispiel erwäh- auch die Europäische Union einen solchen Teelöffel in die nen, das zurzeit leider auf Eis liegt, für das sich aber mein Hand nehmen muss. Ich glaube, sie hat nicht nur einen (B) Kollege Christoph Moosbauer sehr stark engagiert hat. (D) Teelöffel in die Hand genommen, sondern mehrere. Das Ich meine das von der Friedrich-Ebert-Stiftung ange- heißt wiederum, dass auch wir Deutsche uns daran betei- stoßene und von der Europäischen Union finanzierte Pro- ligen müssen. Dies ist im Verlaufe dieser Debatte bereits jekt in der Nähe von Dschenin, das jetzt in der Tat zum Er- in vielfältigster Weise angesprochen worden. liegen gekommen ist. Dies ist ein Projekt, das den Willen (Beifall bei der SPD) zum Frieden und zur Zusammenarbeit gezeigt und das eine grenzüberschreitende kommunale Zusammenarbeit Europa muss – nicht nur, weil wir vielleicht ein ureige- gefördert hat. Wer die Initiatoren auf beiden Seiten be- nes Interesse daran haben – für die Menschen in dieser Re- obachtet hat, fühlte sich gelegentlich an europäische gion, die auf beiden Seiten, in Palästina und in Israel, be- Grenzsituationen erinnert, da über Grenzen hinweg eine troffen sind, aktiv werden. Jeder, der in dieser Region eindrucksvolle kooperative Zusammenarbeit geleistet engagiert ist, weiß, dass das aber auch für die Nachbarn worden ist. Welch eine Hoffnung, welch ein Signal! Lei- gilt. Als Beispiel spreche ich Jordanien an, das unter die- der ist es momentan zum Stillstand gekommen. sem Konflikt ebenfalls sehr leidet. Ich glaube, dass wir ge- lernt haben, dass Europa nur in Abstimmung mit den Ver- Ich greife gern das Stichwort Mittelmeerprozess einten Nationen, den Vereinigten Staaten und mit Russland – Kollege Hörster hat es angesprochen – auf. In der Tat, einen abgestimmten politischen Beitrag leisten kann. das alles hängt zusammen. Ich fand es gut, dass auf der Konferenz in Valencia der Dialog letztendlich fortgesetzt Ich halte daher die Überschrift und Kommentierung in worden ist. Er ist nicht unterbrochen worden, auch wenn einer deutschen überregionalen Zeitung für falsch. Sie manche Länder gelegentlich gefehlt haben. Es war ein Fo- schreibt: „Das Scheitern der EU als Friedensstifter“. Dies rum, am Rande auch über diesen Prozess zu diskutieren. hilft der Politik wenig weiter. Wir alle – auch mehrfach in diesem Haus – haben nach (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dem 11. September 2001 vieles gefordert und uns einiges DIE GRÜNEN) gewünscht. Daher ist es äußerst wichtig – es gibt hier Es wird nämlich der Eindruck erweckt, als ob Scheitern überhaupt keinen Unterschied zu den Ausführungen des das Ende jeglichen politischen Handelns bedeuten würde. Kollegen Hörster –, dass wir den Dialog gerade in dieser Region fördern, und zwar nicht nur den wirtschaftlichen, Im Gegenteil: Die Europäische Union beteiligt sich sehr sondern auch den Dialog mit den Inhalten, wie er in aktiv an den Verhandlungen. Das ist sicherlich ein Unter- Korb III der KSZE-Schlussakte formuliert worden ist. schied zu früheren Jahren. Damals wurde gelegentlich kritisiert, dass die Amerikaner verhandeln und die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Europäer finanzielle Unterstützung leisten. Aber auch das DIE GRÜNEN) 23142 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Günter Gloser (A) Denn es gilt doch für beide Seiten, für Israel und für die den. Aber ein Grund für diesen Terror, diesen Hass liegt (C) palästinensischen Gebiete: Auf beiden Seiten leben Men- darin, dass in Palästina in den Schulbüchern nach wie schen in Angst, Menschen, die keine Perspektive haben. vor Hass gepredigt wird. In den Schulbüchern in Palästina Auf beiden Seiten leben Menschen, die schon seit einigen gibt es den Staat Israel nicht – eine Geografie, in der isra- Monaten nur Gewalt erleben. Aus unserer Sicht fragt man elische Städte nicht vorkommen. In Schulbüchern für die sich natürlich: Warum finden sie nicht zusammen? fünfte Klasse heißt es zum Beispiel: Ich möchte am Schluss meiner Rede auf einen weite- Schreibe fünf Zeilen über die Tugenden der Märty- ren Punkt zu sprechen kommen. Denn ich finde, dass es rer und ihre herausragende Stellung. auch andere Stimmen gibt. Wir sprechen immer von den Oder: Israelis und den Palästinensern. In seinem jüngsten Buch zitiert der britische Historiker Bernhard Wasserstein den Bestimme in folgenden Sätzen, was Subjekt, was schon vorhin von Herrn Fischer zitierten Sari Nusseibeh, Prädikat ist: Der Heilige Krieg ist eine religiöse den Präsidenten der Al-Quds-Universität. Er sagte in ei- Pflicht jedes muslimischen Mannes und jeder musli- nem Gespräch mit israelischen Politikern, das in den Me- mischen Frau. dien veröffentlicht wurde: Wir unterstützen die palästinensische Autonomie- Ich wäre ja blind, wenn ich die jüdische Beziehung behörde. Es ist richtig, dass wir diesen Beitrag leisten und zu Jerusalem bestritte. Die existenzielle Beziehung, dass wir in Palästina helfen, vor allem auch humanitär. Aber die die Juden zu Jerusalem haben, muss anerkannt vielleicht müssen wir doch in Zukunft die wenigen Hebel, und respektiert werden, genauso wie die islamische die wir haben, stärker nutzen und zum Beispiel dafür sor- und arabische Beziehung zu Jerusalem. gen, dass es solche Schulbücher, solche Aufrufe zu Hass und Gewalt gegen die Existenz Israels nicht mehr gibt. Wir sollten Personen wie ihn und Personen wie bei- spielsweise Jossi Beilin, der auch einer Minderheit an- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem gehört, auch von europäischer Seite unterstützen. Denn BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der ich glaube, dass sie den Teelöffel, den ich gemäß Amos Oz FDP) zitierte habe, in der Hand haben. Ich denke, das könnte ein Ich bin 1999 in Israel gewesen – ich war inzwischen Weg zu einem friedlichen Prozess in dieser Region sein. wieder da –; damals gab es eine Hoffnung und eine Auf- bruchstimmung. Damals sagten die Israelis: Wir glauben, Vielen Dank. dass die Araber jetzt endlich verstanden haben, dass sie (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mit Israel rechnen müssen und dass wir zu einem Aus- DIE GRÜNEN) gleich kommen müssen. Diese Hoffnung ist heute in (B) Israel zerstört. Natürlich haben die Israelis zum Beispiel (D) durch ihre Siedlungspolitik dazu beigetragen; aber sie Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Der Kollege würden – davon bin ich nach meinen vielen Erfahrungen Friedbert Pflüger spricht für die Fraktion der CDU/CSU. in Israel felsenfest überzeugt – einem palästinensischen Staat zustimmen. Sie haben im Jahr 2000 mit Clinton, Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Herr Präsident! Barak, Arafat solche Regelungen ausgehandelt. Es gab Meine sehr verehrten Damen und Herren! Rachel Lewi Wege, den Terrorismus und die Gewalt frühzeitig zu ver- war 17 Jahre alt und Israelin. Ajat al-Achras war 18 Jahre hindern. Sie sind nicht gegangen worden. Ich finde, wir alt und Palästinenserin. Sie sahen sich ähnlich. Sie haben sind manchmal in der Gefahr, in diesen Tagen etwas zu ein paar Kilometer voneinander entfernt gelebt. Wenn sie einseitig die Fehler bei denjenigen zu sehen, die die sich unter anderen Umständen, in anderen Zeiten, begeg- schlimmeren Fernsehbilder produzieren, den Israelis. net wären, wären sie vielleicht Freundinnen geworden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Sie haben sich einmal kurz gesehen, zufällig, vor einem der FDP) Supermarkt in Jerusalem. Dann zündete Ajat den Spreng- stoffgürtel. Beide sind dabei umgekommen. Wir wissen – Kollege Hintze hat es gestern im Europa- ausschuss gesagt –, dass Arafat seit langem in einem Man muss die Frage stellen, inwieweit wir in einem Dreieck zwischen Duldung, Billigung und Steuerung des solchen Klima des Terrors und der Selbstmordattentate Terrorismus gefangen ist. Es gibt Dokumente, die jetzt überhaupt Friedensverhandlungen fordern können. Man von unserer Bundesregierung als echt bestätigt worden muss doch wenigstens, bei aller Kritik, die auch legitim sind, die vielleicht nicht beweisen, aber nahelegen, dass ist, verstehen, dass irgendwann die Frage gestellt wird: Arafat und die Al-Aksa-Brigaden zusammenarbeiten. Wie lange wollen wir zusehen, dass in Hotels oder bei re- Wenn wir jetzt angebliche Massaker in Dschenin überprü- ligiösen Festen dieser furchtbare Terrorismus immer wie- fen – ich finde es richtig, dass wir sie überprüfen und dass der zuschlägt? Hundert zivile Tote, Frauen und Kinder, in die Vereinten Nationen eine Untersuchung einleiten –, Israel in einem Monat, im Monat März – umgerechnet auf müssen wir auch über solche Dokumente reden, auch die Größe der Bundesrepublik Deutschland würde das wenn sie uns vielleicht nicht in den Kram passen. Dann 1 250 Tote bedeuten. In welchem Land der Welt könnte müssen wir uns auch die Frage stellen, ob von unserer man unter solchen Umständen Friedensverhandlungen Seite nicht viel zu lange zugeschaut wurde, wenn Terro- führen? Terror und Frieden passen nicht zusammen. rismus gebilligt, geduldet oder vielleicht sogar gesteuert worden ist. Es gibt viele Gründe dafür und wahrlich nicht nur auf einer Seite; dazu ist heute bereits viel Gutes gesagt wor- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23143

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Herr Kol- Gemeinsame Schulbuchkommissionen können hier, wie (C) lege Pflüger, ich kann Ihnen leider jetzt keine weitere Re- die europäische Erfahrung zeigt, einen wichtigen Bei- dezeit geben. trag leisten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Ich möchte noch DIE GRÜNEN) einen letzten Satz sagen, Herr Präsident. Meine Damen und Herren, die Hoffnung muss wieder Worauf es ankommt, ist, das Existenzrecht Israels mit der Raum finden. Außenpolitik und Entwicklungspolitik Würde der Araber und der Palästinenser zu verbinden. Das beteiligen sich gemeinsam an den UN-Notprogrammen ist eine große Aufgabe und an dieser Aufgabe müssen wir und an den Programmen der Caritas, um die Besorgnis er- alle zusammen über alle Parteigrenzen hinweg arbeiten. regende Versorgungslage zu entschärfen. Wir halten Be- schäftigungsprogramme gerade für Jugendliche für beson- Ich danke Ihnen. ders wichtig. Junge Menschen brauchen eine Perspektive (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, jenseits von Hass und Gewalt. dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Wir sind darauf vorbereitet, unsere bewährten ent- FDP) wicklungspolitischen Erfahrungen schwerpunktmäßig in die Bereiche Wasser, Förderung der Zivilgesellschaft so- Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Als letzter wie Aufbau und Sicherung der Demokratie einzubringen, Rednerin in dieser Aussprache gebe ich nun das Wort der sobald die aktuelle Sicherheitslage dies erlaubt. Kollegin Dagmar Schmidt für die Fraktion der SPD. Gerade im Gespräch mit den Vertretern zahlreicher Nichtregierungsorganisationen auf beiden Seiten bekom- Dagmar Schmidt (Meschede) (SPD): Herr Präsident! men wir oftmals die auch in dieser Region existierende Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer wie wir in der Ent- Erkenntnis vermittelt, die auf politischer Ebene so schwer wicklungspolitik ein Instrument der Krisenprävention zu verwirklichen ist: Nur im Dialog, im gegenseitigen und der Armutsbekämpfung sieht, muss über die aktuelle Respekt und in vertrauensbildenden Maßnahmen liegt Situation im Nahen Osten besonders enttäuscht sein. eine Zukunft für den Nahen Osten. Auf diese Vernunft Wenn man nicht differenzierte, wenn man sich nur von setzen wir unsere Hoffnung. den Bildern der Gewalt leiten ließe, müsste totale Hoff- nungslosigkeit die Folge sein. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Der Bundeskanzler und unsere Außenpolitiker haben (B) in dieser Debatte die Leitlinien der deutschen Nahost- (D) Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Ich schließe politik dargestellt. Alle haben deutlich gemacht: Die Ge- die Aussprache. walt muss ein Ende haben. Gewalt darf keine Sympathie finden. – Sympathie für die Menschen im Nahen Osten Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf der konnte wachsen, solange dort politische Entscheidungs- Drucksache 14/8862 an die in der Tagesordnung aufge- träger das Prinzip Hoffnung verkörperten. Entwicklungs- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Entschließungs- politische Maßnahmen in den palästinensischen Gebieten anträge zur Regierungserklärung auf den Drucksachen wurden als wichtig für die wirtschaftliche Entwicklung 14/8879 und 14/8904 sollen an dieselben Ausschüsse und damit für die Krisenbewältigung angesehen. Glaub- überwiesen werden. – Ich sehe, dass das Haus damit ein- würdigkeit für unsere Instrumente haben wir nur gefun- verstanden ist. Dann sind die Überweisungen so be- den, weil wir den oft gehörten Vorwurf der Doppelstan- schlossen. dards entkräften konnten, weil wir unsere Haltung, Terror, Zum Zusatzpunkt 3 gibt es die Beschlussempfehlung Gewalt und Hass grundsätzlich zu verurteilen, nicht op- des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 14/8877 zu portunistisch relativieren. Wir müssen weiterhin für die- dem Antrag der Fraktion der PDS mit dem Titel „Die Ge- sen gewaltfreien Weg werben und extremistische Kräfte waltspirale im Nahen Osten beenden“. Der Ausschuss verurteilen. empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/8271 abzuleh- Unsere Politik hat immer in der Stärkung der Zivil- nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge- gesellschaft und somit in der Förderung von Demo- genprobe! – Enthaltungen? – Dann stelle ich fest, dass kratisierungsprozessen und der Sicherung von Men- die Beschlussempfehlung mit den Stimmen von SPD, schenrechten ihr Ziel gesehen. Wir betonen das Recht Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU bei Enthaltung der Palästinenser, in einem eigenständigen, demokrati- der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der PDS angenom- schen Staat zu leben, der die Existenz und die men ist. Sicherheitsinteressen Israels akzeptiert. Deshalb müssen wir unsere Anstrengungen zur Stärkung demokratischer Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 17 a und Strukturen in den Autonomiegebieten intensivieren. 17 b auf: Hier können wir auf der international anerkannten Ar- beit der politischen Stiftungen aufbauen. Es muss gelin- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker gen, die Feindbilder in den Köpfen der Menschen abzu- Rühe, Dr. Karl-Heinz Hornhues, Hans-Peter bauen. Erziehung zum Frieden setzt eine große Repnik, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Verantwortung von Lehrern und Journalisten voraus. der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Helmut 23144 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters (A) Haussmann, Dr. Klaus Kinkel, Dr. Werner Hoyer Prager Gipfel auch nach der Bundestagswahl gut werden (C) und der Fraktion der FDP einbringen können. Die zweite Runde der NATO-Erweiterung auch Zunächst steht die Erweiterung der NATO um zwi- als Beitrag zur Stabilisierung Südosteuropas schenzeitlich sieben Länder – die drei baltischen Staaten, konzipieren die Slowakei, Slowenien, Bulgarien und Rumänien – un- – Drucksache 14/8835 – ter der Überschrift der Stabilitätsgewinnung und Erweite- rung für ganz Europa. Nach wie vor ist die Rolle der Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) NATO als Anker der Stabilität in Europa wichtig. Dies be- Verteidigungsausschuss trifft nicht nur Fragen der Binnenstabilisierung in den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit Beitrittsländern – hierzu wäre die NATO wohl ein nur und Entwicklung sehr begrenzt adäquates Instrument –, sondern auch re- gionale und geostrategische Überlegungen. b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Durch diese werden Bulgarien und Rumänien näher an die NATO herangeführt – wir haben uns in unserem Die NATO vor der Erweiterung Antrag dazu sehr deutlich positioniert – als durch rein mi- – Drucksache 14/8861 – litärische Kriterien. Der Zustand ihrer militärischen Fä- Überweisungsvorschlag: higkeiten lässt dies gegenwärtig möglich erscheinen. Auswärtiger Ausschuss (f) Diese Länder bei der nächsten Runde zu berücksichtigen Verteidigungsausschuss ist ein perspektivischer Antrag. Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Herr Kol- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die lege Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage Ihres Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Fraktionskollegen Freiherr von Stetten? Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und gebe als erstem Redner Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Gerne. dem Kollegen Christian Schmidt für die Fraktion der CDU/CSU das Wort. (Dr. Uwe Küster [SPD]: War das bestellt?)

Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Herr Präsi- Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten (CDU/CSU): Herr Kollege, wir wollen, wie es im Antrag steht, sieben (B) dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn (D) sich die Staats- und Regierungschefs der NATO im No- Staaten aufnehmen. Stimmen Sie mit mir überein, dass vember dieses Jahres zu ihrem nächsten Gipfeltreffen in wir für die Länder Litauen, Lettland und Estland eine Prag zusammenfinden, steht auch die Aufnahme weiterer besondere Verantwortung haben, nachdem sie 1939 durch Mitglieder in die Allianz auf der Tagesordnung. Man er- den Hitler-Stalin-Pakt von uns zum Spielball zweier innere sich: Die erste Erweiterungsrunde der NATO mit Großmächte wurden, und auch die Westmächte 1940, Polen, Ungarn und der Tschechischen Republik wurde 1941 und 1945 nichts gegen die Unterdrückung dieser maßgeblich von Deutschland mitgestaltet. Die damalige Länder getan haben? Regierung Kohl hat die historische und strategische Di- mension dieses Prozesses rechtzeitig erkannt, sich ent- Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Herr Präsi- sprechend verhalten und schon damals darauf hingewie- dent, ich darf zuerst den Zwischenruf kommentieren. Wer sen, dass es eine zweite Erweiterungsrunde geben wird. den Kollegen von Stetten kennt, der weiß, dass er keine Ganz anders stellt sich das Bild anlässlich der zweiten Aufforderung braucht, um sich für die baltischen Staaten Öffnungsrunde der Allianz dar: Es gibt keine deutsche Ini- einzusetzen, und dass seine Frage nicht bestellt war. tiative und keine öffentliche Debatte. Es ist, im Gegenteil, Ich nehme nun die Zwischenfrage gerne auf. Sehr ver- fast eine Tabuisierung des Themas festzustellen. Erst die ehrter Herr Kollege von Stetten, ich stimme der in Ihrer Rede des amerikanischen Präsidenten in Warschau vor ei- Frage enthaltenen Tendenz zu. Wir haben sowohl von un- nem Jahr hat unserer Regierung das Thema quasi aufge- serer Seite als auch – ich darf das einmal so sagen – von zwungen. Dennoch ist die Zurückhaltung nicht zu über- jener der Russischen Föderation her eine gewisse histori- sehen. Wir wollen heute mit unserem Antrag einen sche Verantwortung und Verpflichtung, die Unabhängig- Beitrag dazu leisten, dass diese Zurückhaltung aufgege- keit, aber auch die Entscheidungsfreiheit der baltischen ben wird; denn sie ist misslich. Durch das Fehlen dieser Staaten sicherzustellen. Zur Entscheidungsfreiheit gehört Debatte werden auch die strategischen Fragen, die mit der auch die Freiheit der Bündniswahl. Von dieser Wahlfrei- Erweiterung zusammenhängen, nicht diskutiert. heit wollen die Länder Gebrauch machen. Wir haben heute im Gespräch mit dem estnischen Parlamentspräsidenten Ich hoffe, dass wir die Bundesregierung trotz des vor und seiner Delegation davon gehört. Ich bin deswegen der uns liegenden Wahlkampfes dazu bringen werden, diesem Ansicht, dass wir dieses Anliegen unterstützen sollten. Thema genügend Aufmerksamkeit zu widmen. An uns soll und wird es auf jeden Fall nicht liegen. Unsere Über- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Wolfgang legungen zu dieser Frage sind umfangreich und politisch Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Danke klar gegliedert, sodass wir die deutsche Position beim schön!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23145

Christian Schmidt (Fürth) (A) In diesen Ländern ist übrigens die binnenstabilisie- durch die Erweiterung um sieben Staaten stellen wird, (C) rende Wirkung sehr groß, möglicherweise größer, als das nämlich wie das Konsensprinzip effektiv aufrechterhalten in Slowenien und der Slowakei der Fall ist. Ich will die werden kann, beantworten müssen. Es wird innerhalb der Länder nicht im Einzelnen bewerten. Dazu werden wir NATO eine Strukturdebatte geben. Ich fordere, dass be- noch kommen. reits im Mai in Reykjavik anhand der Frage der Zusam- menarbeit mit Russland über diese interne NATO-Frage Allerdings muss ich beim Stichwort Slowakei etwas diskutiert wird und entsprechende Vorschläge entwickelt einflechten. Hier zeigt sich: Eine Stabilisierung ist auch werden. innerhalb der Länder notwendig. Die Botschaft, die wir aussenden, ist auch: Diejenigen, die mit der NATO nichts (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf anfangen können und die früher in diesem Land Verant- des Bundesministers Joseph Fischer) wortung getragen haben, sollten sich nicht einbilden, dass – Das ist zum Beispiel die Frage, ob die Europäer insge- es nun einfach „Schwamm drüber“ heißt. Damit meine ich samt in der NATO stärker auftreten sollten oder nicht. Herrn Meciar und seine Vorstellungen, die er vor Jahren Momentan geht man ja von der Formel 19 plus 1 gleich entwickelt hat und mit denen er uns konfrontiert hat. Ich 20 aus. Vielleicht wäre 1 plus 1 plus 1 die bessere Per- vermag bisher nicht festzustellen, dass sich die Haltung spektive. seiner Partei in dieser Frage sehr geändert hat. Diese klare Botschaft wird, wenn ich das richtig sehe, nicht nur von (Karl Lamers [CDU/CSU]: Sehr gute Idee! Das den Amerikanern, sondern, Herr Bundesminister, auch ist Stoiber! – Zuruf des Bundesministers Joseph von den Europäern in die Slowakei transportiert. Fischer) Ich will zum Thema der Stabilisierung nach außen ei- – Herr Minister, in diesen Fragen ist in den letzten Jahren nen Aspekt ansprechen, über den wir leider zu wenig re- nur wenig gelaufen. Wir möchten Butter bei die Fische. den. Es geht nicht nur um das Treffen der Staats- und Re- Es geht jedenfalls nicht, neue Staaten nacheinander an gierungschefs im November in Prag, sondern auch um das das bisherige System anzuflanschen, ohne sich zu überle- bevorstehende NATO-Außenministertreffen in Reykjavik gen, wie man mit 26 NATO-Mitgliedern oder mehr eine im Mai. Gerade im Hinblick auf die Bündniswahlfreiheit vernünftige, entscheidungsfähige und den Amerikanern der baltischen Staaten werden entscheidende Weichen- vermittelbare Politik machen kann. Das ist doch das Pro- stellungen vorgenommen werden. Es wird darauf ankom- blem, das wir gegenwärtig in der NATO haben. Wieso ist men, das Verhältnis der NATO zur Russischen Föderation denn der Bündnisfall im Zusammenhang mit dem 11. Sep- neu zu justieren. Wir halten eine Kooperation, besonders tember zwar ausgerufen, aber nie eingefordert worden? im Bereich der Terrorbekämpfung und der Antiterrorko- Wieso hat er denn nicht zu Konsequenzen geführt? alition, mit Russland für notwendig. Das ist bisher unbe- (B) friedigend behandelt worden. Kollege Pflüger hat vor einiger Zeit einen sehr interes- (D) santen Vorschlag gemacht. Er hat gesagt, wir bräuchten ei- Ich möchte jetzt nicht untersuchen, wieso der NATO- gentlich so etwas wie einen neuen Harmel-Bericht. Die- Russland-Rat nicht funktioniert hat. Aber ich habe den ser Bericht führte 1967 zur Neujustierung des Eindruck, dass das nicht allein die NATO-Strukturen be- Zusammenspiels von politischen und militärischen Fähig- trifft. Ich möchte auch an die russische Seite appellieren, keiten. In der Tat hat sich die Welt so verändert, dass die noch einmal genau zu überlegen, mit welchem Impetus NATO wohl einen neuen Harmel-Bericht herausgeben und man an solche Veranstaltungen herangeht. Nur von 19 sich über die Frage Gedanken machen muss – diese hat sie plus 1 auf 20 umzustellen, wird das Problem nicht lösen. ansatzweise bereits auf ihren Gipfeln von Madrid bis Man muss sich von der Haltung verabschieden, man Washington in ihrer neuen Strategie berücksichtigt –, wie könne alles allein entscheiden, die anderen hätten zu fol- man die Notwendigkeit der Binnenstabilisierung Europas, gen. Nein, so wird es nicht sein und nicht sein können. also eine stark politische Komponente, mit einer mög- Trotzdem bejahen wir eine neue Struktur, die Russland lichen Befriedung an der Peripherie, mit der Erhaltung der näher an uns heranführt und eine Leitlinie für unser Han- militärischen Schlagkraft und auch der militärischen Inter- deln darstellt. ventionsfähigkeit der NATO verknüpfen kann. Gegenwär- Ich glaube, dass die amerikanische Sicherheitsberate- tig sind die Amerikaner – wer mag es ihnen verdenken – rin Condi Rice Recht hat, als sie sagte, dass ein Beitritt der Meinung, mit den Europäern sei nicht viel anzufangen, Russlands zur NATO gegenwärtig nicht auf der Tages- wenn sie den Vertrag über die Defense Capability Initia- ordnung stehen kann. tive – auf Deutsch: Verteidigungsfähigkeitsinitiative –, den sie unterschrieben hätten – die militärischen Fähigkeiten (Wolfgang Gehrcke [PDS]: Wer hätte das ge- sollten in 58 Punkten verbessert werden –, nicht erfüllten. dacht!) (Karl Lamers [CDU/CSU]: Das muss man im- – Es gibt aus verschiedenen Richtungen, unter anderem mer wieder sagen!) aus Ihrer, ab und zu Vorstellungen, die etwas anderes wol- len. Ich meine, dass wir uns sehr genau überlegen sollten, – Ich möchte ja Abstand davon nehmen, den Rücktritt von wie wir mit Russland umgehen. Aber das Thema des Bei- Herrn Scharping zu fordern. Den fordert die Koalition tritts sollten wir im Augenblick nicht diskutieren. Wenn zwischenzeitlich schon selber. Die Situation ist misslich, ich „im Augenblick“ sage, dann meine ich damit die weil mit dem Mann – so ist jedenfalls mein Eindruck – nächsten Jahre und möglicherweise auch Jahrzehnte. Es überhaupt nicht mehr zu reden ist. Vielleicht sagt ihm ja geht darum, dass wir verhindern, dass aus der NATO eine der eine oder andere in Washington wieder einmal, um OSZE wird. Es geht darum, dass wir die Frage, die sich was es wirklich geht. 23146 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Christian Schmidt (Fürth) (A) Es geht darum, dass die NATO nach der bevorstehen- scheidung über das Ausmaß der nächsten Erweiterungs- (C) den Erweiterungsrunde und aus der Diskussion, die in runde. Auf das Treffen der Außenminister in Reykjavik Reykjavik geführt werden wird, als ein Bündnis hervor- wird am 28. Mai der NATO-Russland-Gipfel in Rom fol- geht, das militärisch und politisch handlungsfähig ist. Das gen, der eine neue Form unserer Zusammenarbeit mit der Bündnis ist gegenwärtig militärisch nur beschränkt hand- Russischen Föderation festschreiben wird. Ende Novem- lungsfähig. Das wiederum beschränkt die außenpoliti- ber wird der Gipfel in Prag dann Gewissheit über die schen Fähigkeiten unseres eigenen Landes und unseres zukünftigen Umrisse des Bündnisses bringen. Kontinents. Das kann uns nicht gleichgültig sein. Deswe- Herr Kollege Schmidt, ich teile nicht Ihre Meinung von gen muss sich hier etwas verändern. Dies steht neben dem einer Tabuisierung. Im politischen Raum ist es schon fast Beitritt der genannten Länder auf der Tagesordnung. zu einer Selbstverständlichkeit geworden, dass die Erwei- Ich bin überzeugt davon, dass es viel Unterstützung für terung der NATO fortschreitet. Ich glaube nicht, dass ir- die baltischen Staaten, für Slowenien, für die Slowakei gendjemand Probleme hat, darüber zu sprechen. Ich mit den genannten Kautelen, für Bulgarien und Rumänien werde das gleich an einem anderen Beispiel belegen. Die- geben wird. Diese Länder werden unseren Kontinent mit ses Jahr ist jedenfalls für die NATO ein wichtiges Jahr, ein stabilisieren und in der Lage sein, einen militärischen Bei- Jahr der Reformen und ein Jahr der Anpassung an die trag zu leisten, wenn sie den Membership Action Plan der weltpolitischen Veränderungen. NATO entsprechend erfüllen. Nur, man tut sich gegen- Die NATO ist nicht nur eine Militär-, sondern in erster wärtig etwas schwer, diesen Ländern zu sagen: Ihr müsst Linie eine Wertegemeinschaft. Im grundlegenden Doku- dieses und jenes machen. Denn es könnte ja sein, dass ment des Bündnisses, dem Nordatlantikvertrag von 1949, diese zurückfragen: Wie haltet ihr es denn selber mit eu- heißt es: Das Bündnis beruht auf „den Grundsätzen der ren Zusagen und Fähigkeiten? Demokratie, der Freiheit der Person und der Herrschaft In diesem Sinne schließe ich meine Rede und bitte um des Rechts“. Es hat sich erwiesen, dass die Aussicht auf Unterstützung für unseren Antrag. eine NATO-Mitgliedschaft und die Einbindung in die Heranführungsprogramme „Partnerschaft für den Frie- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) den“ sowie den Mitgliedschaftsaktionsplan, MAP, Instru- mente demokratischer Reformen für die Kandidatenlän- Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Der Kollege der Mittel- und Osteuropas waren und sind. Dieter Schloten spricht jetzt für die Fraktion der SPD. Die Beratung und die praktische Unterstützung bei der Ausbildung haben Früchte getragen. Besonders möchte Dieter Schloten (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolle- ich in diesem Zusammenhang das NATO Defence Col- (B) ginnen und Kollegen! Eingangs möchte ich an eine Epi- lege in Rom erwähnen, in dem seit 1991 Parlamentariern, (D) sode erinnern, die vielen von Ihnen nicht mehr gegenwär- Diplomaten, Offizieren und Beamten aus Mittel- und Ost- tig sein dürfte: Auf Initiative der Parlamentarischen europa gemeinsam mit Kollegen aus NATO-Ländern die Versammlung der NATO kam es im Frühjahr 1988 auf der Grundwerte und demokratisches Engagement vermittelt schönen Insel Madeira zu einer wichtigen und richtung- wurden. weisenden, allerdings höchst umstrittenen Entscheidung. Die NATO hat bewusst keine starren, quasi einklagba- Sie bestand darin, den damaligen Staatssekretär im unga- ren Kriterien für die Mitgliedschaft festgeschrieben. Es rischen Außenministerium namens Gyula Horn einzula- den, auf der Herbsttagung des selben Jahres im Hambur- gibt aber eine Messlatte für die so genannte Beitrittsreife. ger Rathaus zu den Mitgliedern des Politischen und des Wenn die Beitrittskandidaten die Voraussetzungen erfül- Verteidungsausschusses zu sprechen. Das war 1988. Ein len, sollte die Erweiterungsrunde so großzügig wie mög- Jahr später war es ebenfalls Gyula Horn, der den Eisernen lich ausfallen. Die Anstrengungen der Kandidaten sowie Vorhang durchschnitt. ihre erfolgreichen Reformbemühungen sollten honoriert werden. Ich möchte auch erwähnen, dass die erfolgrei- Mit der Einladung eines Politikers, der dem War- chen Anstrengungen Rumäniens und Bulgariens, die schauer Pakt angehörte, leiteten die Parlamentarier des während der gesamten Balkankrise zur Stabilisierung bei- Bündnisses eine bahnbrechende Entwicklung ein. Bereits getragen haben, in diesen Zusammenhang gehören. Den- ein Jahr später, am 9. Oktober 1989, also einen Monat vor noch halte ich eine Spekulation über eine ganz bestimmte dem Fall der Mauer, sprachen der Oberbefehlshaber der Anzahl von Kandidatenländern und die Nennung der Na- NATO und der des Warschauer Paktes, die Herren Ge- men an dieser Stelle und in diesem Kontext für fehl am neräle Galwin und Lobow, vor demselben Gremium der Platze, zumal nicht alle Kandidaten – der Kollege Nordatlantischen Versammlung in Rom. Der damit einge- Schmidt hat das erwähnt – die militärischen Vorausset- schlagene Weg gipfelte in der Römischen Erklärung für zungen erfüllen. Frieden und Zusammenarbeit beim Treffen der Staats- und Regierungschefs am 7. und 8. November 1991. Hier Klar ist, dass diese Erweiterungsrunde umfangreicher sein wird, als vor einem Jahr vermutet wurde. Klar ist wurde das neue strategische Konzept verabschiedet. Die- auch, dass das Entgegenkommen Russlands und die ver- ser Gipfel sandte an die Länder Mittel- und Osteuropas änderte Weltlage nach dem 11. September 2001 die Ent- ein deutliches Signal zur Möglichkeit einer späteren en- scheidungsbildung beeinflusst haben. Wir begrüßen eine geren Zusammenarbeit und sogar einer Mitgliedschaft. große Erweiterung, die über die relativ sicheren Kandida- Drei Jahre nach dem Beitritt Polens, Ungarns und der ten Slowenien und wahrscheinlich auch Slowakei hinaus- Tschechischen Republik steht die NATO nun vor der Ent- geht. Darin stimmen wir mit den Forderungen Ihres An- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23147

Dieter Schloten (A) trags überein. Wir halten es aber für wenig sinnvoll, in tragen und Pflichten erfüllen muss und sicherlich keine (C) diesem Stadium bereits abschließend eine Gruppe von uneingeschränkte Vetomacht in der NATO werden kann. sieben Staaten zu benennen und Rumänien, wo die Re- Durch eine engere Anbindung erreichen wir eine dau- formen noch nicht so weit sind wie bei anderen, quasi als erhafte Stabilisierung und – wie abzusehen ist – wohl Anhängsel zu bezeichnen. Das gehört, wie ich glaube, in auch eine größere russische Akzeptanz beim Überschrei- einen solchen Antrag nicht hinein. ten der so genannten roten Linie, also der Erweiterung der Ich muss Sie von der CDU/CSU noch auf etwas ande- NATO hin auf ehemaliges Territorium der Sowjetunion. res hinweisen: Ihr bayrischer Ministerpräsident hat ja Der Direktor des Russischen Rates für Außen- und Si- heute Morgen fälschlicherweise beklagt, es sei in der cherheitspolitik, Andrej Fjodorow, erklärte am Montag Nahost-Frage keine ausreichende Abstimmung mit den dieser Woche, die Aufnahme der baltischen Staaten in die USA in Bezug auf die Ideen des Fischer-Planes erfolgt. NATO sei unausweichlich und bedeute Moskau – ich zi- tiere – „nicht mehr allzu viel“. (Karl Lamers [CDU/CSU]: Das war nichts als die nackte Wahrheit!) (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Das ist sehr gut!) Nun vermisse ich das: Ich glaube nicht, dass Sie die Na- men der Länder, für deren Aufnahme in der nächsten Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Runde zu sorgen Sie der Regierung in Ihrem Antrag auf- Wort zur Erweiterung von EU und NATO: Da gibt es eine geben, bereits mit den USA abgestimmt haben. weit gehende inhaltliche Parallelität, nicht aber eine zeit- liche. EU-Mitglieder und Beitrittskandidaten, die dies (Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wies- wollen, sollten NATO-Mitglieder werden dürfen. Auf- loch] [SPD]) grund der erweiterten Kriterien und Inhalte der EU-Mit- Wir sind zufrieden, dass der Vorschlag, Herr von gliedschaft kann dies natürlich nicht automatisch umge- Stetten, nicht weiter verfolgt wird, zunächst nur einen der kehrt gelten. Die Verwirklichung der ESVP schreitet baltischen Staaten, nämlich den NATO-Anrainer Litauen, voran, und je intensiver der europäische Einigungspro- gewissermaßen als Testfall für eine mögliche Belastung zess auf politischer Ebene wird, desto mehr drängt sich der Beziehungen zu Russland aufzunehmen. Die balti- die Diskussion auf, wie die politische und militärische Zu- schen Staaten als europäische Kernländer sollen in ihrer kunft der EU letztlich aussehen wird. Es liegt doch ge- Gesamtheit gleichzeitig Mitglieder der NATO werden. wissermaßen in der Folgelogik der Einigung, ein Bei- standsbündnis – analog zu Art. 5 des WEU-Vertrages – zu (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten werden, dem alle Mitgliedsländer angehören sollten. [CDU/CSU]: Und das gleich!) Nun ein letzter Aspekt, auf den auch der Kollege Dies ist eines der vorrangigen Ziele unserer Außenpolitik. (B) Schmidt eingegangen ist. Es gibt das Argument, die Er- (D) Es entspricht ihren Fortschritten in den letzten Jahren. weiterung gerade um kleinere, militärisch wenig zur Ein- Dieses Ziel sollte von uns auch nicht zuletzt aufgrund un- satzkraft der NATO beitragende Staaten bedeute eine serer historischen Verantwortung ihnen gegenüber unter- Schwächung, eine Verwässerung des Bündnisses. Gewiss stützt werden. muss die NATO handlungsfähig bleiben und Entschei- (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten dungsfindungen dürfen nicht noch komplizierter werden. [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Politisch ist die Erweiterung ein Gewinn. Sie läuft auf eine Aufwertung des politischen Charakters der NATO gegen- Es ist auch die logische Fortschreibung der militärischen über dem rein Militärischen hinaus. Damit ergibt sich aber Kooperation untereinander, die die baltischen Länder mit zugleich die Pflicht zum Nachdenken über eine bessere Unterstützung der NATO in den letzten Jahren erfolgreich Verteilung der Aufgaben. Mit Blick vor allem auf die betrieben haben. OSZE stehen wir vor der Notwendigkeit einer klaren Auf- Die jüngsten Entwicklungen im Verhältnis der NATO gabenabgrenzung. Eine unnütze Doppelung im großen eu- zu ihrem russischen Partner stimmen durchaus optimis- ropäischen Sicherheitssystem muss vermieden, eine ver- tisch. Die Absicht, so eng wie möglich in einer Weise zu- nünftige Aufgabenteilung vorgenommen werden. Wir als sammenzuarbeiten, die über das aktuelle Forum des erfahrene Europäer im Deutschen Bundestag sollten für NATO-Russland-Rates weit hinausgeht, unterstützen die Neujustierung unserer europäischen Organisationen so wir. Eine NATO-Mitgliedschaft im eigentlichen Sinne bald wie möglich konkrete Vorschläge machen. wird auch von Russland zurzeit nicht gewollt. Die Europäer wollen keine Aufweichung des Bündnis- (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ ses. Die NATO bleibt die transatlantische Sicherheitsga- CSU]: Dafür gibt es ja auch keinen Grund!) rantie. Sie darf nicht zum Bestandteil oder zur Alternative beliebig neuer Koalitionen werden. Über den Anspruch auf ein begrenztes russisches Vetorecht bei Militäreinsätzen oder Manövern der NATO gibt es in Die Kriterien, die sich die NATO setzt, müssen aller- Moskau offenbar unterschiedliche Ansichten. Wenn jedoch dings von allen Mitgliedern eingehalten werden. Das be- im Rahmen einer Gruppe, bisher noch der 19 plus 1, deutet, dass wir neue Anstrengungen unternehmen müs- Russland in wichtigen Fragen ein Mitspracherecht erhält, sen, um den europäischen Pfeiler des Bündnisses zu etwa bei den Themen Abrüstung, Rüstungskontrolle, An- stärken. Dies geht nur, indem die einzelnen nationalen Be- titerrorkampf, Nichtverbreitungspolitik und Konflikt- schaffungs-, Rüstungs- und Verteidigungspolitiken stär- prävention, ist das ein Gewinn. Dabei muss klar sein, dass ker koordiniert werden, mit dem Ziel, eine gemeinsame Russland in diesem Zusammenhang auch Verantwortung europäische Verteidigungspolitik aufzubauen. 23148 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Dieter Schloten (A) Die Erfahrungen unserer Vergangenheit lehren uns: Die des Generalsekretärs Robertson festgestellt hat, ohne (C) Erweiterung der NATO, die Schaffung eines gesamt- dass im Rahmen der NATO anschließend noch etwas Ent- europäischen Sicherheitsraumes sowie die Stärkung der scheidendes passiert ist. Das mag aus amerikanischer transatlantischen Beziehungen sind für eine friedliche und Sicht auf den ersten Blick verständlich erscheinen. Wir demokratische Zukunft unseres Kontinents unverzichtbar. alle kennen die Argumente. In der Tat erwarten die Eu- ropäer Einbindung und Abstimmung, auch wenn das Ich danke Ihnen für Ihre – teils geteilte – Aufmerk- mühsam ist. samkeit. Dieser Umgang mit den einzigartigen, erprobten, leis- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tungsfähigen Strukturen der militärischen Integration der DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Werner NATO könnte sich nach meiner Auffassung eines Tages Hoyer [FDP]) noch als kurzsichtig erweisen. Eine noch so pragmatisch erscheinende grundsätzliche Abstützung auf so genannte Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Für die „coalitions of the willing“ birgt nämlich die Gefahr einer FDP-Fraktion spricht der Kollege Dr. Werner Hoyer. Renationalisierung der Sicherheits- und Verteidigungspo- litik in sich. Das wäre ein historischer Rückschritt. Dr. Werner Hoyer (FDP): Herr Präsident! Liebe Kol- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. leginnen und Kollegen! So viel Richtiges ist gesagt wor- Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]) den. Es gibt Gott sei Dank einen so weit gehenden Grund- Wir müssen uns immer wieder klar machen: Einer der konsens, dass man jetzt, um Abweichungen festzustellen, größten Fortschritte, der mit der nicht nur politischen, Nuancierungen herausarbeiten müsste. Das könnte man sondern auch militärischen NATO-Integration einher- natürlich im Hinblick auf Mazedonien und Albanien. ging, ist das Abrücken von einem Nationaldenken in der Man könnte es aber auch im Hinblick auf die Frage: Bei- Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Eine Renationali- tritt der sieben Kandidaten mit einer zeitlichen Perspek- sierung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik wäre tive oder sofort? Wir sind uns darüber einig: Die Grund- ein historischer Rückschritt und könnte in die Katastrophe richtung stimmt. Deswegen möchte ich mich gerne auf führen. einen anderen Aspekt konzentrieren. Die beispiellos tiefe militärische Integration in die Es wird im Herbst höchstwahrscheinlich bei sehr viel NATO war und ist Friedensgarant für Europa; denn durch mehr Staaten in Mittelost- und Südosteuropa, als es vor ei- sie gewährleistet das Bündnis zum einen als System kol- niger Zeit noch erwartet worden ist, viel Freude geben. lektiver Verteidigung den Schutz nach außen. Zum ande- Für sie geht ein Traum in Erfüllung. Es ist angesichts des ren aber führt diese Tiefe der militärischen Integration zur (B) unglaublich attraktiven Angebots, das die Europäische garantierten strukturellen Nichtangriffsfähigkeit der (D) Union macht, ein bisschen ungerecht, wenn diese Staaten Partner untereinander. Angesichts der Geschichte Euro- sagen: Die NATO-Mitgliedschaft ist das Allerwichtigste; pas in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts ist das ein sie brauchen wir zuerst. Wenn man sich vergegenwärtigt, großartiger Fortschritt. welch risikoreichen, welch mutigen Weg diese Länder in den letzten zwei Jahrzehnten gegangen sind, dann muss (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei man das aber verstehen. Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP) Die NATO hat einen einzigartigen „Friedensraum“ ge- schaffen. Das ist natürlich auch für die neuen Mitglieder Die NATO war und ist dabei die ersehnte Rückversiche- von großer Bedeutung und macht das Bündnis für sie rungspolice. noch attraktiver. Bald werden diese Staaten also Mitglieder der NATO Einen Denkfehler, der vorhin schon einmal indirekt an- sein. Es stellt sich nur die Frage: In welcher NATO eigent- gesprochen wurde, sollte man allerdings nicht begehen, lich? Die NATO ist nicht nur das erfolgreichste sicher- wenn man jetzt an die Weiterentwicklung der NATO geht. heitspolitische Bündnis der Weltgeschichte. Sie ist neben Durch diese Eigenschaft, auch nach innen friedenserhal- den Vereinigten Staaten und, mit Einschränkungen, Russ- tend und stabilisierend zu wirken, wird die NATO selbst land der einzige handlungsfähige Akteur mit logistischer nicht zu einem System kooperativer Sicherheit wie die Fähigkeit, Kommandostruktur und operativen Kapazitäten, OSZE oder die UNO; vielmehr bleibt sie im Kern ein Sys- der sich möglichen neuen Herausforderungen stellen kann. tem kollektiver Verteidigung. Ihre Aufgabe ist es im Nach der längsten Friedensperiode, die die NATO zumin- Zweifel, Angriffe von außen abzuwehren, während die dest dem größten Teil Europas beschert hat, müssten wir Systeme kooperativer Sicherheit zunächst einmal die von allen guten Geistern verlassen sein, wenn wir dieses In- Aufgabe haben, Konflikte im Inneren auf zivilisierte Art strument leichtfertig aus der Hand gäben. Ein schlichtes und Weise zu beherrschen und zu entschärfen. Deswegen „Weiter so!“ kann es aber eben auch nicht geben; deswegen muss die NATO im Kern ein System kollektiver Verteidi- muss der Gipfel in Prag nicht nur ein Erweiterungsgipfel, gung bleiben. Das heißt natürlich nicht, dass sie ihre ein- sondern auch ein Transformationsgipfel werden. zigartigen Fähigkeiten nicht in den Dienst von Systemen kooperativer Sicherheit wie der UNO oder der OSZE stel- Die NATO hat sich bereits nachhaltig verändert und len könnte, was sie auch schon sehr erfolgreich getan hat. wird dies auch weiterhin tun. Am krassesten ist das da- durch zum Ausdruck gekommen, dass der NATO-Rat den (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Bündnisfall nicht auf Initiative der Amerikaner, sondern der SPD) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23149

Dr. Werner Hoyer (A) Wir stehen also erst am Anfang einer Debatte über die dieser Hinsicht haben wir in der letzten Zeit ein ziemlich (C) Weiterentwicklung der NATO. Diese Debatte findet zu ei- schlechtes Bild abgegeben. nem Zeitpunkt statt, zu dem wir auch die große und his- (Beifall bei der FDP) torisch bedeutsame Debatte über die Weiterentwicklung der Europäischen Union und die Hinzufügung einer wirk- Die Debatte, die wir gestern im Haushaltsausschuss lichen sicherheits- und verteidigungspolitischen Dimen- geführt haben, und das, was sich gestern Abend und heute sion des europäischen Integrationsprozesses führen. Des- angeschlossen hat, macht uns deutlich, wie ernst die Lage wegen sollte man das im Zusammenhang sehen. Das im Hinblick auf das Ernstgenommenwerden Deutsch- Problem bei den großen Krisen der letzten Zeit bestand lands als sicherheitspolitischer Akteur in EU und NATO doch nicht darin, dass es zu viel Amerika gegeben hätte, ist. Wenn der Sprecher des französischen Verteidigungs- sondern darin, dass zu wenig Europa da war. ministeriums uns heute über die Nachrichtenagenturen mitteilt, dass Deutschland nur noch 20 oder 25 A400M (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) bekommt, sofern es bei der gegenwärtigen Beschlusslage In Bosnien war zunächst deutlich geworden, wie bleibt, dann zeigt das, dass wir an der Grenze der Bünd- Europa politisch gefordert war. Aber im Kosovo wurde nisfähigkeit angelangt sind. schon klar, dass wir auch auf militärischem Gebiet un- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dirk seren Beitrag leisten müssen. Deswegen gehören die Niebel [FDP]: Es zeigt vor allem, dass der Ver- Debatten über die Entwicklung der NATO und die der teidigungsminister gelogen hat!) EU zusammen, und zwar nicht nur unter dem Gesichts- punkt der Schonung finanzieller und personeller Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat die Ressourcen – dies gilt ohnehin; Herr Kollege Scholten, Abgeordnete Rita Grießhaber. Sie haben es angesprochen –, sondern auch ganz grundsätzlich. Rita Grießhaber (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist auch von großem Interesse für unsere neuen Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Partner in der NATO und mit gewisser Verzögerung in der CDU/CSU hat ihre Irrungen und Wirrungen des letzten Europäischen Union. Wir müssen jetzt eben nicht nur ent- Jahres überwunden und zu einer einheitlichen Linie bei schlossene Reformschritte in den EU-Altländern machen, der Frage der NATO-Erweiterung gefunden. um die Herausforderungen anpacken und allein schon wirtschaftlich bestehen zu können, sondern wir müssen (Karl Lamers [CDU/CSU]: Dafür die Regie- auch in der europäischen Integration entschlossene und rung nicht!) beherzte Sprünge nach vorn machen, vor allem im Hin- Während sich Volker Rühe im Januar explizit gegen und (B) blick auf die Sicherheitspolitik. Friedbert Pflüger zwei Monate später für die Aufnahme (D) Kollege Meckel hat als Berichterstatter für die Nordat- der baltischen Staaten ausgesprochen hat, haben Sie jetzt lantische Versammlung hier einen Bericht abgegeben, in den Maßstab gefunden – ich zitiere –: „Soweit es die je- dem diese Herausforderungen sehr genau aufgelistet sind. weilige innenpolitische Lage und die Aufrechterhaltung der uneingeschränkten Handlungsfähigkeit des Bündnis- Ich frage mich manchmal, ob das hinreichend gelesen ses erlauben“, sollen nun möglichst sieben Staaten in der wird, Herr Kollege Meckel; denn darin finden sich alle nächsten Erweiterungsrunde dabei sein. – Herzlichen diese Themen, denen wir uns in der sicherheitspolitischen Glückwunsch! Wären Sie unserer Politik schon früher ge- Diskussion in Deutschland nach meiner Auffassung nicht folgt, hätten Sie sich nicht so verzetteln müssen. in der angemessenen Tiefe zuwenden. In den Partnerlän- dern wird diese überaus heikle Debatte über Begriffe wie (Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wies- „prevention“ und „preemption“ längst geführt. Wer führt loch] [SPD]) diese Debatte eigentlich bei uns? Wollen wir in diese Inhaltlich sind wir uns weitgehend einig. Die erste Er- Richtung gehen? Können wir das eigentlich? Welche Vo- weiterungsrunde war positiv. Polen, Ungarn und die raussetzungen müssen wir in verfassungsrechtlicher und Tschechische Republik sind jetzt im Bündnis fest veran- europarechtlicher Hinsicht schaffen? kert. Für die Stabilität in Europa ist das ein Gewinn. ( V o r s i t z : Vizepräsidentin Dr. Antje Bereits im Vorfeld der zweiten Runde sind bedeutende Vollmer) Stabilitätstransfers nach Mittel- und Südosteuropa festzu- stellen. Dabei hat sich der „Membership Action Plan“ als Welche Kompetenzen und gegebenenfalls auch Souverä- besonders wertvoll und nützlich erwiesen; denn mit die- nitäten sind wir bereit zur Disposition zu stellen, wenn wir sem Plan wurden nicht nur militärische Voraussetzungen solche Schritte machen? Ich denke, wir brauchen eine für die Mitgliedschaft im Bündnis, sondern auch ökono- ernsthaftere Diskussion über dieses Thema. mische und politische Erwartungen an die potenziellen Mitglieder festgelegt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich komme zum letzten Aspekt. Alles, was wir im Bereich der Wei- Die NATO ist bekanntlich eine Wertegemeinschaft terentwicklung der NATO wie im Bereich der Weiterent- gleich gesinnter Staaten, die sich nicht nur zum Zweck der wicklung der Europäischen Union tun, setzt Bündnis- Verteidigung, sondern zum Erhalt von Sicherheit und fähigkeit voraus – Bündnisfähigkeit der Europäischen Stabilität zusammengetan haben. Kollege Schloten hat es Union gegenüber ihren Partnern draußen, wenn sie glo- schon erwähnt: Zu den Grundprinzipien des Washing- baler Sicherheitsakteur sein will, aber eben auch Bünd- toner Vertrages zählen Demokratie, Freiheit und Rechts- nisfähigkeit der Mitgliedsländer von NATO und EU. In staatlichkeit. Im „Membership Action Plan“ werden die 23150 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Rita Grießhaber (A) Beitrittskandidaten genau auf diese Grundprinzipien ver- cherechte der Verbündeten, freundlich ausgedrückt, eher (C) pflichtet, ebenso wie auf die Einhaltung der OSZE-Nor- zeitraubend. men und -Prinzipien. Für uns sind das keine Leerformeln. Ganz besonders wichtig sind die friedliche Beilegung eth- Mit diesen veränderten Rahmenbedingungen gilt es, nischer Konflikte und die Unterstellung der Streitkräfte produktiv umzugehen. Aber unabhängig davon, wann unter zivile Kontrolle durch die Aspiranten. alle Beitrittskandidaten aufgenommen werden, haben wir auf lange Sicht nur eine gemeinsame Chance, näm- Die Ergebnisse zeigen: Bereits jetzt sind die Aspiran- lich die einer gesamteuropäisch-transatlantischen Sicher- ten besser vorbereitet als die Kandidaten der ersten heitsstruktur. Runde. Wir können die Reduzierung der Streitkräfte ge- rade in südosteuropäischen Beitrittsländern wie Rumä- Vielen Dank. nien und Bulgarien feststellen, vor allem aber die positive (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Entwicklung bei der demokratischen Kontrolle der Streit- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der kräfte. Die Botschaft ist klar: Es gab enorme Anstren- CDU/CSU) gungen; das Bündnis hat sie gezielt unterstützt. Aber die Beitrittskandidaten haben es selbst in der Hand. Es liegt in ihrer Verantwortung, ob sie beitrittsfähig sind. Wir Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat wünschen uns und ihnen, dass sie weiterhin Fortschritte jetzt der Abgeordnete Wolfgang Gehrcke. erzielen. (Joseph Fischer, Bundesminister: Großer (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten Freund der NATO!) [CDU/CSU]: Bei wem denn?) Eine Debatte zur NATO auf die anstehende Erweite- Wolfgang Gehrcke (PDS): Frau Präsidentin! Liebe rung zu reduzieren wäre sehr kurz gedacht. Die weltpoli- Kolleginnen und Kollegen! In der vorangegangenen De- tischen Ereignisse des letzten Jahres haben uns neue Er- batte ist parteiübergreifend so viel Falsches gesagt wor- kenntnisse, vor allem aber viele neue Fragen beschert. den, dass selbst ich das nicht in 5 Minuten korrigieren Zum ersten Mal in seiner 50-jährigen Geschichte hat der kann. Deswegen beschränke ich mich auf einige Punkte. NATO-Rat am 12. September letzten Jahres den Bündnis- (Zuruf von der SPD: Ein Glück, dass Sie nur fall ausgerufen. Wir befinden uns mitten in der Debatte so eine kurze Redezeit haben!) über Ziele und Funktionen des Bündnisses, und die Ana- lysen reichen von „Militärisch ist die NATO weitestge- Ich will für mich festhalten: Mehr NATO heißt weni- hend bedeutungslos geworden“ bis hin zu „Wir brauchen ger Sicherheit, weniger Stabilität und mehr Dominanz der eine neue NATO“. USA in Europa. Deswegen bleiben wir als PDS bei unse- (B) rem Nein zur NATO und sagen auch Nein zu ihrer Erwei- (D) Art. 2 des Nordatlantikvertrages legt fest, dass die terung. NATO nicht nur Militärorganisation ist. Sie ist gleichzei- tig ein politisches Bündnis – übrigens ein Aspekt, den die (Johannes Kahrs [SPD]: SDAJ 1968!) Franzosen schon immer so gesehen haben. Interessant Die NATO hat ihre Aufgaben nach dem Kalten Krieg wird es, in welche Richtung sie ihn weiter verfolgen. Je- 1999 inmitten des Kosovo-Krieges grundlegend verän- denfalls wird dieser politische Aspekt eine immer größere dert. Aus einem Verteidigungsbündnis wurde ein Bünd- Bedeutung erlangen, vielleicht sogar zu sehr in der Form, nis, das weltweite Interventionen für Naturressourcen, wie die Grünen ihn sich früher als „OSZEtisierung“ der Handelswege, geostrategische Interessen auf seine Tages- NATO gewünscht haben. ordnung geschrieben hat. Spätestens seit dem Balkankrieg bewertet der amerika- ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nische Partner die Rolle der NATO neu. Der Nutzen der NEN]: Das ist eine Projektion!) Allianz liegt für ihn und für uns nicht zuletzt in der poli- tischen Stabilisierung Europas. Dafür sind die Einbin- In der NATO ist die Dominanz der USA derart ge- dung der mittel- und osteuropäischen Staaten und die wachsen, dass die USA die NATO ein- und ausschalten Neugestaltung der Beziehungen zu Russland und anderen können, wie sie es wollen. GUS-Staaten geeignete Instrumente. (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Das bewirkt eine Politisierung der NATO – die Zu- NEN]: Eben nicht einschalten, wie sie will! – sammenarbeit, auch innerhalb der roten Linie – mit frühe- Johannes Kahrs [SPD]: Sie sollten die Realität ren Gegnern, die natürlich nicht nur eine militärische sein einschalten!) kann. Zum strategischen Ziel einer gesamteuropäischen Der Umgang mit dem Bündnisfall – „NATO einschal- Sicherheitsarchitektur, deren Bestandteil eine erwei- ten“ – und die anschließende Kooperation ausschließlich terte NATO ist, gehört aber vor allem die Stärkung des mit ausgewählten Staaten – „NATO ausschalten” – spre- EU-Pfeilers in der NATO. Deshalb brauchen wir dringend chen hier Bände. Fortschritte in der europäischen Sicherheits- und Vertei- digungspolitik; denn mit der Bekämpfung des Terroris- Es ist auch notwendig, darauf hinzuweisen, dass die mus wurde klar, dass sich der Charakter der militärischen USA ihre Militärstrategie grundlegend geändert haben, Auseinandersetzung verändert hat. Der rein militärische und sie ändern sie weiter. Das so genannte Raketenab- Nutzen der NATO für die USA ist begrenzt. Für unseren wehrsystem spaltet die Welt und Europa in Zonen unter- Partner mit Hang zum Unilateralismus sind die Mitspra- schiedlicher Sicherheit. Die USA wollen Waffen im Welt- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23151

Wolfgang Gehrcke (A) raum stationieren, kündigen Rüstungskontrollverträge Den sozialdemokratischen Kolleginnen und Kollegen (C) und debattieren eine neue Atomstrategie, welche die will ich sagen: Passen Sie auf, dass die Wählerinnen und Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen herabsetzen Wähler das Original und nicht die Kopie wählen. In die- will. ser Falle sitzen Sie. Wir brauchen eine Änderung der Sicherheitspolitik. Ich glaube, daraus ist die Schlussfolgerung zu ziehen, dass sich Europa auf keinen Fall in ein neues Wettrüsten Zum Schluss. Wenn ich Zyniker wäre mit den USA hineinziehen lassen darf. (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE CSU]: Das sind Sie überhaupt nicht!) GRÜNEN]: Richtig!) und die Linke mehr Humor hätte, dann würde ich Ihnen Dass die USA auf dieses Wettrüsten drängen, wissen wir sagen, wir folgen Ihren Anträgen. Den Brocken, den Sie alle. Ich glaube, das wäre schlimm für die europäische Si- in die NATO aufnehmen werden, werden Sie schwer ver- cherheit und tödlich für die Sozialstaaten in Europa. dauen können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die PDS-Bundestags- (Beifall bei der PDS – Johannes Kahrs [SPD]: fraktion folgt der Sicherheitsanalyse des sozialdemokrati- Das haben Sie am Warschauer Pakt schon er- schen Sicherheitsvordenkers . Ich darf aus sei- lebt!) ner Dresdner Rede zu diesem Thema zitieren – hören Sie Weil ich aber kein Zyniker bin und die Linke in NATO- gut zu, sozialdemokratische Kolleginnen und Kollegen –: Fragen keinen Humor hat, sage ich ernsthaft: Wir werden Wo die NATO bestimmt, kann Europa nicht bestim- Ihren Antrag auf Erweiterung der NATO ablehnen. men. Wenn die große Abschreckung die NATO in (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ Europa zu ihrem Instrument gewinnt, werden ge- CSU]: Welche Überraschung!) samteuropäische Überlegungen, europäische Selbst- bestimmung, NATO-Russland-Akte und OSZE zu Das richtet sich nicht gegen die Länder, sondern auf mehr Fragen nachgeordneter Spielfelder, und zwar umso Sicherheit und mehr Stabilität in Europa. mehr, je mehr die NATO erweitert wird. (Beifall bei der PDS) Wir, die PDS, nehmen es ernst, wenn Altbundeskanz- Hören Sie auf , auf Egon Bahr, auf ler Helmut Schmidt die NATO-Erweiterung für die Euro- . päische Union als eher schädlich bezeichnet – ich zitiere auch ihn; auch hier bitte ich Sie, zuzuhören –, „weil sie (Dieter Schloten [SPD]: Oskar auch?) den Amerikanern nicht ein Mitspracherecht, sondern ein Oder haben Sie diese Namen und deren Verdienste (B) Übersprachrecht über europäische Dinge beschert.“ (D) schon längst vergessen? (Joseph Fischer, Bundesminister: Das müssen (Beifall bei der PDS) Sie ganz zitieren!) Ich finde es schon interessant: Die PDS macht sich die Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Analyse des sozialdemokratischen Sicherheitsexperten jetzt der Herr Bundesaußenminister, Joschka Fischer. Egon Bahr zu Eigen, greift in vielem auf das Denken des Ex-SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine zurück – auch in der Außen- und Globalisierungspolitik –, Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe (Johannes Kahrs [SPD]: Sie müssen doch nicht hier gewiss nicht die sozialdemokratische Fraktion in jedem Irrtum auf den Leim gehen!) Schutz zu nehmen, wohl aber auf einige Widersprüche der bittet den Bundestag, auf die Warnungen des Altbundes- PDS hinzuweisen. Ich finde es gut, dass Sie sich zu Egon kanzlers Helmut Schmidt zu hören, während die sozial- Bahr bekennen, aber ich weiß nicht, ob Sie wissen, was demokratische Fraktion diese Warnungen in den Wind Sie gerade getan haben. Denn Egon Bahr ist mit allem schlägt und sich auf einer Linie bewegt, die in Wider- Nachdruck dafür, dass es eine starke europäische militäri- spruch zu ihrem eigenen Programm steht. sche Komponente gibt. Wenn das neuerdings die Position der PDS ist, eine starke militärische Europäische Union (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ statt einer NATO-Erweiterung, dann hätten Sie Egon Bahr CSU]: Herr Schmidt würde es sich verbitten, in der Tat gerade zu Recht zitiert. Ich will Ihnen aber nicht dass Sie ihn zitieren! – Johannes Kahrs [SPD]: unterstellen, dass das die Position der PDS ist. Dasselbe Sie sollten unser Programm mal lesen!) gilt selbstverständlich für Helmut Schmidt. Das möchte ich gerne festgehalten wissen. Die Debatte darüber, wie weit sich eine NATO-Erwei- (Beifall bei der PDS) terung mit einer Stärkung des europäischen Pfeilers und der europäischen Integration, auch und gerade in der Ich finde, der CDU/CSU-Antrag ist insofern logisch, Außen- und Sicherheitspolitik, verträgt, ist eine, wie ich als das Ihre Politik war und geblieben ist. finde, sehr wichtige und zentrale Debatte. Der Beitrag der (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ PDS besteht allerdings darin, dass sie zu allem Nein sagt. CSU]: Und das war immer die richtige Politik, Es ist auch nichts Neues, wenn Sie, Herr Kollege Herr Gehrcke!) Gehrcke, behaupten, dass die NATO jetzt, nach dem Ende 23152 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Bundesminister Joseph Fischer (A) des Kalten Krieges, nicht mehr in erster Linie für Sicher- Dieser Transformationsprozess ist durch die histori- (C) heit stehen würde. Sie waren ja auch schon vorher, sche Zäsur, die sich aus dem Ende des Kalten Krieges, aus während des Kalten Krieges, dieser Meinung, weil Sie ja dem Verschwinden der Sowjetunion und damit aus dem damals eher den Warschauer Pakt vertreten haben, wenn Zusammenwachsen Europas ergab, in Gang gesetzt wor- Sie ehrlich sind; das dürfen wir nicht vergessen. Ich den. Ich sage in Ihre Richtung – ich möchte jetzt keine in- möchte da nicht nachkarten; darum geht es hier nicht. nenpolitische Debatte darüber führen, wer für die Kür- Aber Sie sollten sich hier nicht mit dem Gestus des Ehrli- zung des Verteidigungshaushaltes und für den jetzigen chen hinstellen. Sie machen hier Innenpolitik und Wahl- Zustand der Bundeswehr verantwortlich ist –: Wir müssen kampf; das ist Ihr gutes Recht. Aber das hat mit der De- feststellen, dass der Transformationsprozess von der auf batte nichts zu tun. den Kalten Krieg ausgerichteten Bundeswehr hin zu einer Bundeswehr, die den neuen – auch den europäischen – Er- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fordernissen und den strategischen Herausforderungen und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der gerecht wird, eben nicht in dem Maße in der Vergangen- CDU/CSU und der FDP) heit vorangebracht wurde, wie es notwendig gewesen Wir stehen vor einer wichtigen Entscheidung, der Ent- wäre. Die Weizsäcker-Kommission hat in der Regie- scheidung über die NATO-Erweiterung. Die NATO-Er- rungszeit von Bundeskanzler Gerhard Schröder und unter weiterung wird kommen. Das ist etwas, was im deutschen Verteidigungsminister die Grundlagen und europäischen Interesse liegt. Ein sich vereinigendes für diese Transformation herausgearbeitet. Europa wird, gerade aus deutscher Sicht, immer ein Inte- Mir geht es um etwas anderes. Wenn Sie sagen, die resse an einer starken transatlantischen Bindung, einer NATO sei nur eingeschränkt handlungsfähig, dann muss starken transatlantischen Rückversicherung haben müs- ich fragen: Auf was beziehen Sie diese Aussage? Bezie- sen. Denn die Präsenz der Vereinigten Staaten von Ame- hen Sie sie auf die Handlungsfähigkeit der einzigen glo- rika – wir dürfen das nicht vergessen – ist in den Zeiten balen Macht, nämlich der USA? In diesem Sinne war die des Kalten Krieges nicht nur unter dem Sicherheitsge- NATO in der Vergangenheit immer nur eingeschränkt sichtspunkt der Abwehr expansiver Vorstellungen seitens handlungsfähig, es war immer asymmetrisch und wird es der damaligen Sowjetunion zu sehen gewesen, sondern auch in der Zukunft sein. Oder beziehen Sie Ihre Aussage war vor allen Dingen auch für die innere Stabilität des sich auf etwas anderes, nämlich auf die Tatsache, dass wir be- vereinigenden Europas von zentraler Bedeutung. stimmte Kapazitäten wie zum Beispiel im Bereich der Deutschland wäre, wenn die USA auf diesem Konti- Langstreckentransporter – während des Kalten Krieges nent nicht mehr präsent wären, sofort in einer anderen Si- brauchten wir sie nicht, weil die Frontlinie in Deutschland tuation. Nie wird das klarer, als wenn Sie mit polnischen sozusagen in Fußmarschweite lag; Gott sei Dank gibt es (B) Freunden über diese Situation in Europa sprechen. Inso- diese Situation nicht mehr – noch nicht haben? Wenn das (D) fern haben wir ein Interesse daran – unbeschadet dessen, der Fall ist, dann müssen wir darüber sprechen. Aber die wie wir die Politik der jeweiligen Regierungen bewer- Frage, die Sie aufwerfen, weckt zugleich die Illusion, dass ten – dass die Sicherheit in Europa und einem sich ver- die NATO nur dann voll einsatzfähig wäre, wenn das einigenden Europa durch die transatlantischen Beziehun- Niveau der wichtigsten europäischen Mitgliedstaaten gen dauerhaft, auch in Zukunft, gewährleistet wird. innerhalb der NATO mit dem Niveau der global handeln- den USA mithalten könnte. Ich halte diese Auffassung Ich kann nur nochmals unterstreichen: Wenn weitere für schlichtweg illusionär und für politisch nicht erstre- Kandidaten in die NATO aufgenommen werden wollen, benswert. dann müssen wir das ernst nehmen und die notwendigen Bedingungen prüfen. Die Kandidaten müssen die not- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wendigen Bedingungen schaffen. Es zeichnet sich ab und bei der SPD) – viele Kollegen haben das erwähnt, ohne dass ich mir das Für uns ist ganz entscheidend, dass diese Erweiterung heute schon abschließend als Standpunkt der Bundesre- solide gemacht wird. Weitere wesentliche Punkte, um die gierung zu Eigen machen kann –, dass es eine große Er- es dabei geht, sind, dass es eine Integration geben muss, weiterungsrunde geben wird, in der Größenordnung, wie dass die Kohäsion der NATO in ihren wesentlichen Ele- das verschiedene Kollegen hier schon dargestellt haben. menten erhalten bleibt und dass das Sicherheitssystem Ich betone nochmals: Dies liegt im europäischen, im deut- nicht gelockert wird. schen und im transatlantischen Interesse; Aber selbstverständlich gibt es, meine Damen und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Herren von der Opposition, noch ein zweites Problem, das bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP) hier schon angeklungen ist. Das ist das Verhältnis von denn wir werden damit mehr Stabilität und Sicherheit be- NATO und Europäischer Union. Ich habe das grund- kommen. sätzliche Spannungsverhältnis schon erwähnt. Ich bin der Meinung, dass die USA für die Sicherheit und Stabilität Ich behaupte, dass die Diskussion dann erst beginnt. auch in einem sich vereinigenden oder sogar in einem Sie findet in einem doppelten Spannungsverhältnis statt; schon vereinigten Europa unverzichtbar sind. denn die Erweiterung wird die NATO selbstverständlich transformieren. Diese Transformation wird nicht in Rich- Klar ist aber auch: Wir werden die europäische Sicher- tung OSZE erfolgen. Aber es wird sich eine Reihe von re- heits- und Verteidigungspolitik, die ja nicht Aufgaben levanten Fragen ergeben, die nicht kurzfristig zu beant- nach Art. 5 des NATO-Vertrages umfasst, nicht vernach- worten sein werden. lässigen. Wir werden die Entwicklung einer europäischen Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23153

Bundesminister Joseph Fischer (A) Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Rahmen der Eu- wohl die Erweiterung der NATO als auch die Erweiterung (C) ropäischen Union als die zentrale Herausforderung neben der EU erfolgreich angegangen und in integrative Schritte der Erweiterung anzugehen haben. umgesetzt werden. Da habe ich eine gewisse Sorge; denn wir stehen jetzt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor sehr wichtigen Fragen. Die NATO-Erweiterung ist und bei der SPD) relativ einfach, vergleicht man sie mit der EU-Erweite- rung, bei der es um das Zusammenführen ganzer Volks- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat wirtschaften und um die Überwindung großer Unter- jetzt der Abgeordnete Karl Lamers. schiede hinsichtlich der Mentalitäten geht. Im Rahmen dieser Erweiterung liegen noch schwierige Kompromisse vor uns. Wir werden gleichzeitig die NATO-Erweiterung Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (CDU/CSU): Frau haben. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird es eine große Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Runde geben. Wir werden dann in beiden Bereichen vor NATO, über deren weitere Öffnung wir heute sprechen, der Frage der Handlungsfähigkeit, der Integration und der hat eine beispiellose Erfolgsgeschichte hinter sich. Absorption stehen. Das heißt, die Frage hinsichtlich der Während des so genannten Kalten Krieges, also während institutionellen Handlungsfähigkeit – in Bezug auf die der Konfrontation der Militärblöcke, war sie 40 Jahre lang NATO wurde sie schon angesprochen – wird sich in Be- Garant für Stabilität und Frieden in Europa. zug auf die EU noch wesentlich zuspitzen. Die finanzielle Nach dem weltgeschichtlichen Umbruch von 1989/90 Dimension, die ab dem Jahr 2006 aktuell wird, verlangt sorgte sie bis heute – sie wird es auch weiterhin tun – für sehr schwierige Kompromisse. Partnerschaft und Kooperation mit den ehemaligen Geg- Wir haben heute morgen die Situation im Nahen Osten nern, vor allem mit Russland. Außerhalb des Bündnisge- diskutiert. Angesichts dieser aktuellen weltpolitischen bietes steht die NATO für Stabilität, für den Abbau von Lage muss man hinzufügen, dass wir nicht nur eine hoch Konflikten und für Wiederaufbau. Konfliktprävention gefährliche Zuspitzung im iraelisch-palästinensischen und Krisenmanagement sind Aufgaben, denen sich das und im iraelisch-arabischen Konflikt haben. Man muss Bündnis – legitimiert durch die UNO – mit Erfolg stellt. ehrlicherweise hinzufügen, dass die Gefahr des islamisti- Die Erfolgsgeschichte des Bündnisses setzt sich in der schen Terrorismus mitnichten vorüber ist. Afghanistan Aufnahme neuer Mitglieder fort. Polen, die Tschechische stellt noch große Herausforderungen an uns. Das heißt, Republik und Ungarn, drei ehemalige Mitglieder des War- wir bewegen uns in einem alles andere als stabilen und si- schauer Paktes, wurden am 50. Gründungstag der NATO cheren Umfeld. im Jahre 1999 aufgenommen. Mit dieser konsequenten Vorgehensweise hat die NATO maßgeblich zur Überwin- (B) Insofern nützt es überhaupt nichts, wenn wir die Augen dung der Spaltung unseres Kontinents beigetragen. (D) davor verschließen, dass wir vor sehr herausfordernden und historisch zu nennenden Schritten stehen. Bestimmte (Beifall bei der CDU/CSU) Wahlergebnisse in Europa kann ich nicht dahin gehend in- Die Aufnahme dieser Mitgliedstaaten vor nunmehr genau terpretieren, dass es einen Integrationsschub gibt. drei Jahren hat sich als großer Gewinn für die Stabilität Das ist die Lage, in der wir uns befinden. In dieser in- und Sicherheit Europas erwiesen. ternen Großwetterlage Europas und vor dem Hintergrund Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und der Herausforderungen müssen wir die Zuordnung der Herren, jetzt stehen wir vor der zweiten Öffnung. Ich vor uns liegenden Schritte vornehmen. spreche bewusst von Öffnung, um deutlich zu machen, Herr Kollege Gehrcke, ich kann Ihnen nur sagen: In ei- dass die NATO nicht von sich aus auf andere Staaten zu- ner solchen Lage eine Position wie Sie einzunehmen be- greift, sondern vielmehr den Wünschen beitrittswilliger deutet wirklich, aus innenpolitischen und wahltaktischen Staaten Rechnung trägt. Diese zweite Runde müssen und Gründen den Kopf in den großen Sandhaufen zu stecken werden wir ebenfalls zum Erfolg führen. Sie bietet die und in diesem beide Hände vor die fest zugekniffenen Au- Chance, Frieden und Stabilität in Europa weiter zu vertie- gen zu halten, damit man garantiert nichts wahrnimmt. fen. Auch nach dem nächsten Öffnungsschritt muss die Tür des Bündnisses für weitere Mitglieder offen bleiben. (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten des Gerade auf diese Feststellung lege ich besonderen Wert. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der SPD) Meine Fraktion bekennt sich voll und ganz zu dieser zweiten Beitrittsrunde, in der, soweit – das ist in der Tat Die Menschen in unserem Lande wissen, dass wir es richtig – es die jeweilige innenpolitische Lage erlaubt, sie- uns in unserer Zeit nicht leisten können, wegzuschauen. ben europäische Länder, nämlich Bulgarien, Estland, Die nächste Erweiterung der NATO und die Verbindung Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakische Republik und zu den USA werden einen großen Diskussionsbedarf mit Slowenien, aufgenommen werden. Das ist doch ein ganz sich bringen. Wir werden strategische Fragen zu diskutie- wichtiges, politisch bedeutsames Ereignis für die NATO. ren haben. Die Europäer müssen ihre Leistungen auf dem Deshalb habe ich, Herr Bundesaußenminister, überhaupt Balkan und an anderer Stelle mit einem entsprechenden kein Verständnis dafür, dass die Bundesregierung in den Selbstbewusstsein klar zum Ausdruck bringen. zurückliegenden Wochen und Monaten so wenig getan hat, um von sich aus eine Initiative zu ergreifen. Die nächste Erweiterungsrunde liegt im europäischen Interesse. Die Bundesregierung wird sich im europä- (Johannes Kahrs [SPD]: Woher wollen Sie ischen und im NATO-Rahmen dafür einsetzen, dass so- denn das wissen?) 23154 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (A) Sie hat auch nichts dazu getan, eine öffentliche Debatte schaft der freiheitlichen Demokratien, in die NATO und (C) über Sinn und Nutzen der Öffnung der NATO zu führen. in die Europäische Union, aufgenommen zu werden. Aber Aber genau das ist wichtig. auch für uns ist dies eine großartige Entwicklung. Hier vollzieht sich Stück um Stück die Wiedervereinigung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Europas in enger Partnerschaft und Freundschaft mit Welche Chancen sich hier auftun, genau dies müssen wir Amerika und allen übrigen Nachbarstaaten. den Menschen in unserem Land darlegen. Manche verengen diesen historischen Prozess aller- dings schon wieder auf das Thema Geld. Sie sprechen von Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, Lasten, die eine weitere Bündnisöffnung mit sich bringen gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen von wird. Diese Skeptiker sollten bedenken, dass sich alle Stetten? Horrormeldungen vor der ersten Beitrittsrunde, in denen von astronomischen Zahlen die Rede war, als falsch und völlig überzogen erwiesen haben. Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (CDU/CSU): Bitte schön. (Beifall bei der CDU/CSU) Es geht um Freiheit, es geht um Sicherheit und es geht um Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten (CDU/CSU): Es Stabilität. Das zahlt sich aus; das rechnet sich. geht mir um die baltischen Staaten, um die drei Staaten Li- Das Bündnis wird durch die zweite Beitrittsrunde auch tauen, Lettland und Estland. In der Vergangenheit gab es nicht geschwächt, wie einige Pessimisten prophezeien, im Irritationen – auch zum Teil seitens der CDU/CSU. Man Gegenteil: Das Bündnis wird gestärkt. Wir stolpern doch meinte, diese drei Staaten aus Rücksicht auf Russland nicht in diesen Prozess hinein. Wir, jedes einzelne Land bzw. Putin vielleicht nicht gleich in der ersten Runde mit für sich und das Bündnis selbst, sind gut vorbereitet. aufnehmen zu sollen. Sind Sie mit mir der Ansicht, dass diese Bedenken inzwischen ausgeräumt sind und dass die Es wird schließlich auch keine unlösbaren Probleme Aufnahme gerade für diese drei Staaten aus innenpoliti- mit Russland geben. Ich habe es gerade Herrn von Stetten scher Sicht wichtig ist, damit sie keine Angst mehr haben gesagt: Die Russen sind realistisch. Sie haben gespürt, müssen, Spielball in Europa zu werden? dass sich die NATO gegen niemanden – auch und gerade nicht gegen Russland – richtet. Wer schon bei der ersten Öffnung eine Konfrontation mit Russland als Gefahr be- Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (CDU/CSU): Vielen schworen hat, sieht sich heute eines Besseren belehrt. Das Dank, Herr Kollege von Stetten. Ich möchte Ihnen in partnerschaftliche Miteinander, die Zusammenarbeit mit Ihrem ersten Aspekt zustimmen. Ich würde es insbeson- Russland im NATO-Russland-Rat, hat an Intensität eher (B) dere unter sicherheitspolitischen Gesichtspunkten sehr (D) gewonnen. Auch die Kündigung des ABM-Vertrages begrüßen, wenn die baltischen Staaten, die den Wunsch durch die USA hat nicht zu der viel beschworenen Kata- haben, Mitglied der NATO zu werden, diesen Weg auch strophe geführt. gehen könnten. Wegen der bevorstehenden Aufnahme der baltischen Das Zweite ist – ich spreche hier als Mitglied der Par- Staaten werden jetzt erneut Konflikte beschworen. Dazu lamentarischen Versammlung der NATO –: Wir waren vor sage ich: Wer derartige Ängste schürt, hat die Chance ver- wenigen Wochen mit einem kleinen Kreis in Moskau und wirkt, zu vernünftigen Zukunftslösungen zu kommen. haben auch und gerade über diese Frage, wie Russland Die baltischen Staaten wollen in die NATO und – das sage reagiert, mit unseren Kollegen in der russischen Staats- ich klar – sie gehören in die NATO. duma gesprochen. Nach all diesen Gesprächen hatten wir den Eindruck, dass sich die russischen Gesprächspartner (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) bereits auf die mögliche Aufnahme der baltischen Staaten in die NATO eingestellt hatten. Herr Außenminister, die Auch dies wird Russland in keiner Weise negativ Russen sind in dieser Frage sehr realistisch. Größere berühren. Wir leben in einer veränderten Welt, die auf Ängste und Befürchtungen konnten wir in unseren Ge- Miteinander ausgerichtet ist. Das Gegeneinander gehört sprächen vor wenigen Wochen in Moskau eigentlich nicht der Vergangenheit an. Auch das weiß die heutige rus- feststellen. sische Führung. (Beifall bei der CDU/CSU) Der Stabilitätsraum Europa wird durch den Beitritt der sieben Länder insgesamt größer werden. Davon bin ich fest Meine Damen und Herren, ich habe deutlich gemacht, überzeugt. Mit der Aufnahme Rumäniens und Bulgariens dass wir, Herr Minister, über den Sinn und Nutzen der wird ein weiterer Markstein gesetzt, um die Krisenregio- Öffnung der NATO auch öffentlich miteinander sprechen nen des Balkans zu befrieden. Dies fügt sich sinnvoll müssen. Man muss den Menschen sagen, welche Chancen ein in die laufenden Bemühungen um die Stabilisierung sich hier für den Zuwachs an Stabilität und Sicherheit auf Südosteuropas. Rumänien und Bulgarien sind bereits dem Balkan, aber auch in ganz Europa auftun. Hier muss heute Stabilitätsanker in diesem labilen Umfeld. Ein Deutschland vorangehen. Sie haben das versäumt. NATO-Beitritt wird – davon sind wir überzeugt – erheb- Doch blicken wir nach vorne: Die von uns genannten lich zur Stabilisierung dieser Region insgesamt beitragen. Länder haben beachtliche Erfolge auf dem Weg zu Insbesondere nach dem 11. September 2001 erscheint Rechtsstaat, Demokratie und Marktwirtschaft erzielt. In es mir richtig, den strategischen Fokus des Bündnisses diesen Völkern lebt die große Hoffnung, in die Gemein- nach Südosten auszurichten. Für Europa hat sich das Ge- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23155

Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (A) fährdungspotenzial in Richtung Süden bzw. Südosten ver- den Grundfragen dessen, was wir heute hier behandeln, (C) lagert. Konflikte tun sich auf im Krisenbogen nördliches eine sehr große Einigkeit besteht. Afrika, im Nahen und Mittleren Osten und im Kaukasus. Ich meine, dass wir mit der nächsten Beitrittsrunde aus (Beifall bei der SPD sowie des Abg. dieser Entwicklung die richtigen Konsequenzen ziehen. Dr. Werner Hoyer [FDP]) Das Ganze hat auch strategisch eine große Bedeutung, Das ist ein ganz wesentlicher Punkt, wenn wir an das schließt sich doch mit der Aufnahme Bulgariens und denken, was der Bundesaußenminister hier sehr klar und Rumäniens die Landverbindung zwischen Westeuropa deutlich gesagt hat: Diese Erweiterung liegt in unserem In- und der Türkei bzw. Griechenland. Dies gilt auch mit teresse. Sie liegt im Interesse von Deutschland als einem Blick auf Slowenien und die Slowakei als Bindeglied zwi- Land im Zentrum Europas und sie liegt im Interesse der schen Bündnispartnern. Der Stabilitätsraum südöstliches Staaten, die beitreten und für die – das sollten wir nicht Europa wird so zur Wirklichkeit. Das ist es, was man den vergessen – sich hier ein Kreis schließt, der 1989/90 mit Menschen sagen muss, was sich mit der NATO-Öffnung dem Kampf um und dem Durchsetzen von Freiheit und verbindet, was Nutzen und Sinn und dessen Bedeutung Demokratie in diesen Ländern begonnen hat. Sie gehören ausmacht. dann zu dieser Wertegemeinschaft und ihren Institutionen. Meine Damen und Herren, der europäische Pfeiler Nach allem, was man heute weiß, wird Ende dieses der NATO erhält zusätzliches Gewicht. Meine Fraktion Jahres eine große Entscheidung zur Europäischen Union hält daran fest, dass die Europäische Union und die fallen, ebenso im November zur NATO. Ich denke, das ist GASP/ESVP mit dem Atlantischen Bündnis fest verzahnt ein ganz zentraler Punkt: Zwölf Jahre nach diesem Ereig- sein und bleiben muss. Alle Länder der Europäischen nis ist ein großer Teil dann wirklich auch in Strukturen Union müssen die Möglichkeit haben, der NATO beizu- und gemeinsame Institutionen umgesetzt. Dies macht treten. Die neuen Mitglieder werden den europäischen nicht nur mich allein, sondern, wie ich glaube, sehr viele Pfeiler im Bündnis stärken. Jedes neue Mitgliedsland in diesem Haus froh. Es liegt, wie gesagt, in deutschem wird sich die Frage stellen müssen, welchen spezifischen Interesse. verteidigungspolitischen Beitrag es zur Erfüllung der (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Bündnisaufgaben leisten kann. Da gibt es Erwartungen. Dr. Werner Hoyer [FDP]) Ich bin überzeugt, dass die neuen Mitglieder ihre Pflich- ten erfüllen werden. Wir legen die Verantwortung auf Die erste Runde der NATO-Erweiterung war ein Er- mehr Schultern und damit teilen wir zugleich die Lasten. folg. Darüber ist gesprochen worden. Die NATO ist rela- Das größere Gewicht Europas im Bündnis stärkt die tiv spät darauf gekommen, dass sie sich erweitern sollte. NATO insgesamt. Wir brauchen ein Mehr an europäischer Sie glaubte am Anfang, andere Strukturen der Koopera- tion und der Kommunikation würden reichen. Ich glaube, (B) Sicherheits- und Verteidigungspolitik, aber zugleich eine (D) stringente Verzahnung mit dem Atlantischen Bündnis. dass die Entscheidung, die 1997 endlich fiel, richtig war, Keinesfalls darf sich bei der Europäischen Union eine nämlich eine umfassende Erweiterung der NATO vorzu- neue Bürokratie und eine neue Struktur auf dem Gebiet bereiten. 1993 in Travemünde wurde noch überlegt, mit der Sicherheit und Verteidigung entwickeln, die mit der der „Partnerschaft für den Frieden“ eine Alternative zur NATO konkurriert oder gar auf deren Kosten durchgesetzt künftigen Mitgliedschaft zu schaffen. Das ist vom Tisch. wird. Ich sehe uns da in einem guten Miteinander, aber Wir sind künftig in einer größeren Runde. dies erfordert Augenmaß für die Zukunft. Wir haben heute leider über zwei Anträge zu entschei- Meine Damen und Herren, die NATO bleibt auch im den. Der einzige Unterschied in den Anträgen gründet 21. Jahrhundert Garant deutscher und europäischer sich darauf, dass wir uns nicht einigen konnten, ob es Sicherheit. Sie ist tragender Teil der Sicherheitsarchitek- sinnvoll ist, die Bundesregierung heute durch einen Be- tur in Europa. Sie hat wesentlich zur Überwindung der schluss des nationalen Parlamentes festzulegen. Wir sind Teilung Europas beigetragen. Die NATO bindet unsere der Meinung: Es ist gut, dass man, wie die NATO be- amerikanischen Partner an Europa und trägt so zur Kon- schlossen hat, keinen Wettlauf macht, sondern im Kreis solidierung der Vision des transatlantischen Sicherheits- der Mitgliedstaaten einen Konsens sucht. raumes bei. Die NATO schafft Stabilität. Diese Stabilität Sie wissen, dass ich zu denen gehöre, die von Anfang im Innern strahlt aus auf ganz Europa und ist so Voraus- an der Meinung waren: Wir brauchen die europäische und setzung für Frieden und Freiheit. die transatlantische parlamentarische Debatte. Wir haben Aus all diesen Gründen ist die zweite Öffnungsrunde sie auf verschiedenen Ebenen geführt. Herr von Stetten, der NATO für neue Mitglieder unverzichtbar. Wir setzen Sie kennen ja die verschiedenen Initiativen. uns aus Überzeugung voll und ganz dafür ein. Vielen Dank. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Er möchte eine Zwischenfrage stellen. Gestatten Sie die? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Markus Meckel (SPD): Ja. Das war Ihr Stichwort. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Markus Meckel. (Heiterkeit bei der CDU/CSU)

Markus Meckel (SPD): Verehrte Frau Präsidentin! Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten (CDU/CSU): Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass in Ich danke sehr, Herr Kollege Meckel. Sie waren einer 23156 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten (A) derjenigen, die schon sehr frühzeitig für die Aufnahme der sagen: Seid vorsichtig, das ist kein Weg in die Zukunft (C) drei Staaten Litauen, Lettland und Estland in die NATO und schon gar nicht in die europäische und transatlanti- waren; zumindest haben Sie das erklärt. sche Integration. Solche Botschaften sind wichtig. Wir Ich bedauere, dass wir zwei Anträge haben. Die Sache müssen erst abwarten, was dort passiert, und können erst ist ein wenig schwierig nach außen zu erklären. Wir ha- kurz vor dem NATO-Gipfel in Prag eine wirklich klare ben wenigstens einen parlamentarischen Weg gefunden: und verbindliche Aussage dazu machen, wer eingeladen Der eine wird überwiesen, über den anderen wird abge- wird. stimmt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Können Sie, wenn Sie die Rücksicht, die man als Re- DIE GRÜNEN) gierungspartei gegenüber der Regierung nehmen muss, Diese Frage der Einladung ist von zentraler Bedeu- außer Acht lassen, bestätigen, dass Ihre Meinung ist, dass tung. Allerdings steht außer Frage – wie dies auch der gerade die drei baltischen Staaten den NATO-Beitritt Kollege Lamers mit Recht gesagt hat –, dass die NATO nicht nur verdient, sondern auch nötig haben? auch danach offen bleiben muss. Natürlich ist es wich- tig, Kroatien, das hinsichtlich seiner demokratischen Markus Meckel (SPD): Sehr geehrter Herr Kollege Entwicklung nach den Wahlen große Fortschritte ge- von Stetten, ich möchte, weil diese Zeit mir nicht ange- macht hat, klarzumachen, dass es, wenn die Regierung rechnet wird, die Gelegenheit dieser Frage nutzen, um es möchte, auch in die NATO kann. Die Regierung hat festzustellen, dass Ihr Engagement für die baltischen aber den Antrag im Rahmen des „Membership Action Staaten – gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen Plan“ noch nicht gestellt. Dies muss noch kommen, in der Deutsch-Baltischen Parlamentariergruppe – ganz wenn die Regierung es möchte. Insofern ist noch einiges wesentlich war, und zwar zu einer Zeit, in der Ihr und un- zu tun. ser aller Kanzler dies noch gar nicht für so gut und wich- tig hielt. Für dieses Engagement für die baltischen Staa- Aber auch Mazedonien und Albanien, die in diesen ten, das wir und viele Kollegen hier im Raum teilen, Kreis gehören, möchte ich mich bei Ihnen bedanken. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE brauchen diese Perspektive für den Fall, dass sie die GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP) Voraussetzungen erfüllen. Dabei handelt es sich nicht nur Ich glaube, dies war eine ganz wichtige Tätigkeit. Da Sie um militärische Voraussetzungen, sondern zuallererst um aus dem Bundestag ausscheiden, möchte ich dies an die Demokratie, die Stabilität und die Orientierung in (B) dieser Stelle erwähnt haben. diesen Ländern betreffende Fragen. Alle Probleme, die (D) wir mit Mazedonien im Laufe des letzten Jahres hatten, Meine Position kennen Sie. Sie wissen, dass ich schon lange dafür eintrete. Ich muss aber gleichzeitig sagen: Ich machen deutlich, wie schwierig dieser Weg in diesen Län- halte eine parlamentarische Debatte darüber für notwen- dern oft ist. dig. Ich glaube auch, dass wir bei dem Zusammentreffen Für die NATO selber ist in den letzten Monaten immer der NATO-Parlamentarier in Sofia in der Resolution die wieder die Frage gestellt worden: Welche Rolle spielt die Namen aller sieben Beitrittskandidaten nennen sollten, NATO eigentlich noch? Unmittelbar nach dem 11. Sep- wie wir dies hier schon öfter getan haben. tember 2001 haben wir den Bündnisfall – darüber wird (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) heute noch diskutiert werden – beschlossen, weil die NATO gesagt hat: Dies ist ein ganz zentraler Punkt. Hier Übrigens sind im Augenblick noch die amerikanischen müssen die NATO-Staaten zusammenstehen. Zur großen Kongresssenatoren dagegen, dass wir dort Namen nen- Verwunderung Russlands, das glaubte, Art. 5 des NATO- nen. Es gibt also unterschiedliche Verständnisse von einer Vertrages für sich gepachtet zu haben, hat die NATO in ei- parlamentarischen Diskussion. Ich bin dafür, dass die Par- nem ganz anderen Kontext den Bündnisfall gemäß Art. 5 lamentarier ihre Positionen beschreiben und die Regie- des NATO-Vertrages beschlossen. Dies war wichtig. rungen sich erst kurz vorher festlegen. Viele sagen: Dass die USA dies nicht entsprechend wahr- Ich sage Ihnen auch, weshalb ich es für gut halte, diese genommen haben, werde den Beschluss nichtig machen. Frage offen zu halten. Ich denke dabei an die Slowakei. Ich halte das für falsch. Schon zu Beginn der Debatte habe ich gesagt, dass die Slowakei dazugehört. Mittlerweile ist dies für nieman- Es geht nicht nur darum, dass wir dort unsere AWACS den strittig. Am Anfang schien es sogar so, als ob nur die zur Entlastung der Amerikaner und für unsere eigene Slowakei und Slowenien die sicheren Kandidaten seien. Sicherheit stationiert haben. Vielmehr müssen wir auch Angesichts des in der Slowakei zu befürchtenden Wahl- deutlich machen, dass für die Amerikaner auch in der Ver- ergebnisses muss man jedoch deutlich sagen: Ich kann gangenheit die Perspektive immer schon eine andere war. mir überhaupt nicht vorstellen, dass ein NATO-Gipfel Für diese, die sich schon immer als globaler Akteur ver- mit Herrn Meciar stattfindet. Dies halte ich angesichts standen haben, war die NATO ein Instrument für die der Erfahrungen, die wir mit Herrn Meciar gemacht ha- transatlantische bzw. euroatlantische Sicherheit. Aber ben, für schlichtweg unmöglich. Da aber an die HZDS wenn sie es für notwendig hielten, haben sie auch schon ohne Herrn Meciar kaum zu denken ist, muss man allen vorher woanders ohne die NATO eingegriffen und sind möglichen Koalitionspartnern der HZDS in der Slowakei militärisch aktiv gewesen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23157

Markus Meckel (A) Für uns als Europäer war die Frage der transatlan- teresse. Zum einen nämlich sind nationale Sicherheitsor- (C) tischen und euroatlantischen Sicherheit immer auf diese ganisationen immer teurer, zum anderen schüren sie – be- Region, auf den euroatlantischen Raum, beschränkt. Uns sonders angesichts der Geschichte dieser Länder und ih- ist lange Zeit nicht wirklich klar gewesen, dass Bedro- res Verhältnisses zueinander – die Gefahr der Instabilität. hungen von ganz anderen Teilen der Welt auf uns zukom- Das haben wir wahrhaftig zuhauf erfahren. Was wir brau- men könnten, sodass die Frage der globalen Rolle der chen, sind integrierte Strukturen zur Stabilisierung des NATO eine für uns durchaus schwierige und zu diskutie- transatlantischen Verhältnisses. rende Frage ist. Nicht umsonst heißt es im strategischen Konzept der NATO: Ziel der NATO ist die Sicherheit für Die Frage für uns lautet, wie wir als Europäer unsere den transatlantischen, den euroatlantischen Raum. Dies Sicherheit organisieren wollen, um dann die notwendigen ist das Ziel, woher auch immer die Bedrohung kommt. In- Schritte auch im Haushalt einzuleiten. Das Wichtigste in sofern spielt für uns Europäer die NATO für unsere eigene dieser Frage ist aber der politische Wille. Hier muss ich Sicherheit eine viel zentralere Rolle, als dies etwa für die gestehen, dass wir mit den Kolleginnen und Kollegen der Amerikaner der Fall ist. anderen europäischen Parlamente und den anderen euro- päischen Regierungen noch viel zu tun haben, um zu ge- Das müssen wir in zweierlei Hinsicht deutlich machen. meinsamen Positionen zu kommen. Das soll nicht etwa Auch darüber ist heute schon gesprochen worden. Zum ei- ein Bündnis gegen die Amerikaner sein, sondern wir wol- nen geht es um die Handlungsfähigkeit und Stärkung len mit ihnen gemeinsam für Frieden und Sicherheit nicht der NATO. Auch im Rahmen der Erweiterung ergeben nur im transatlantischen Raum, sondern auch weltweit sich eine ganze Reihe von Fragen: Ich nenne neben der sorgen. Handlungsfähigkeit – der Bundesaußenminister hat da- von gesprochen – die Straffung der Strukturen und der Ich danke Ihnen. Entscheidungsabläufe, die Reduktion der Zahl von Koor- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dinierungsausschüssen und militärischen Kommandos, DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der aber eben auch die Frage, ob man dem Generalsekretär CDU/CSU) nicht mehr Kompetenzen geben sollte. All das wird zur- zeit diskutiert. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Damit schließe Interessanterweise geschieht dies relativ spät. Vor ei- ich die Aussprache. nem Jahr noch hieß es dazu in der NATO: Das funktioniert doch alles; das ist anders als bei der Europäischen Union. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Inzwischen ist man sich darüber klar geworden, dass die Fraktion der CDU/CSU sowie der FDP auf Druck- Frage der Strukturen innerhalb der NATO ein Thema ist. sache 14/8835 mit dem Titel „Die zweite Runde (B) Ich denke, bis zum Herbst wird man zu gemeinsamen Vor- der NATO-Erweiterung auch als Beitrag zur Stabilisie- (D) schlägen kommen, sodass für den November nicht allein rung Südosteuropas konzipieren“. Wer stimmt für diesen die Erweiterung, sondern eben auch die Straffung der Antrag? – Strukturen und die Handlungsfähigkeit innerhalb der (Unruhe – Dr. [CDU/CSU]: NATO im Zentrum steht. Der Antrag wird überwiesen! Sie haben eine Zum anderen geht es um die Frage, welche Rolle falsche Vorlage, Frau Präsidentin!) die NATO im Kampf gegen den Terrorismus spielen – Kommen Sie bitte zu mir nach vorne. kann und welches ihre globalen Aufgaben sind. Es ist für uns wichtig, deutlich zu machen, dass die NATO (Die Parlamentarischen Geschäftsführer bege- nicht klein geredet werden darf, weil sie im Rahmen der ben sich zum Präsidium) Terrorismusbekämpfung nur eine begrenzte Aufgabe – Da hierüber offensichtlich Unklarheit herrscht und es hat. Es ist klar: Mit militärischen Mitteln lassen sich unterschiedliche Informationen gibt, stelle ich diese Ab- viele Fragen zum Terrorismus gar nicht beantworten. stimmung zurück. Es gibt noch eine Reihe anderer Ab- Darüber ist in diesem Hause in den letzten Monaten viel stimmungen, mit denen wir jetzt fortfahren. gesprochen worden. Die Bundesregierung ist auf die- sem Feld sehr aktiv gewesen, auch im Rahmen der in- (Johannes Kahrs [SPD]: Wir sind doch mitten in ternationalen Institutionen und gemeinsam mit den der Abstimmung! – Gegenruf des Abg. Dr. Peter Amerikanern. Ramsauer [CDU/CSU]: Nein, so einfach ist das nicht!) Klar ist: Wenn die Rolle der NATO im Zusammenhang mit der Terrorismusbekämpfung nur begrenzt ist, dann – Ich werde am Ende der nun folgenden Abstimmungen kann das noch lange nicht heißen, dass sie für uns etwa an über die Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b abstimmen Bedeutung verloren hätte. lassen. Bis dahin kann die Verwaltung das in Ruhe klären. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir kommen jetzt zu Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Ich rufe die Tagesordnungs- Deshalb bin ich dem Kollegen Hoyer sehr dankbar, dass punkte 34 a bis 34 i und 20 c sowie die Zusatzpunkte 4 a er diese Fragen vorhin sehr deutlich angesprochen hat. bis 4 d auf: Schon 1989/90 war es für die mittel- und osteuropä- ischen Staaten eine zentrale Frage, ihre Sicherheit nicht 34 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Harald nur national zu organisieren. Auch wir hatten daran ein In- Friese, Anni Brandt-Elsweier, Christel Riemann- 23158 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Hanewinckel, weiteren Abgeordneten und der Änderung der Gewerbeordnung und sonstiger (C) Fraktion der SPD, den Abgeordneten Beatrix gewerberechtlicher Vorschriften Philipp, Renate Diemers, Maria Eichhorn, weite- – Drucksache 14/8796 – ren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU, den Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Überweisungsvorschlag: Volker Beck (Köln), Monika Knoche, weiteren Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN sowie den Abgeordneten g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra Ina Lenke, Dr. Irmgard Schwaetzer, Dr. Wolfgang Bläss, Wolfgang Gehrcke, Uwe Hiksch, weiterer Gerhardt und der Fraktion der FDP eingebrachten Abgeordneter und der Fraktion der PDS Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung anony- Konkrete Schritte gegen die Bedrohung durch mer Geburten biologische Waffen – Drucksache 14/8856 – – Drucksache 14/8698 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Auswärtiger Ausschuss (f) Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Monika Entwicklung Griefahn, Hermann Bachmaier, Eckhardt Barthel (Berlin), weiteren Abgeordneten und der Fraktion h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike der SPD sowie den Abgeordneten Dr. Antje Flach, Cornelia Pieper, Birgit Homburger, weiterer Vollmer, Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch Abgeordneter und der Fraktion der FDP und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE Förderung der Energiespeicherforschung GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung der Preisbindung bei Verlags- – Drucksache 14/5576 – erzeugnissen Überweisungsvorschlag: – Drucksache 14/8854 – Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik- folgenabschätzung (f) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Kultur und Medien (f) Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Rechtsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss (B) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (D) i) Beratung des Antrags des Bundesministeriums der c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Finanzen gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Pro- tokoll vom 30. November 2000 zur Änderung Entlastung der Bundesregierung für das Haus- des Europol-Übereinkommens haltsjahr 2001 – Drucksache 14/8709 – – Vorlage der Haushaltsrechnung und Ver- mögensrechnung des Bundes (Jahresrechnung Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) 2001) – Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union – Drucksache 14/8729 – Überweisungsvorschlag: d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Haushaltsausschuss gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Eu- ropäischen Übereinkommen vom 16. Januar 20 c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartmut 1992 zum Schutz des archäologischen Erbes Schauerte, Dagmar Wöhrl, Kurt-Dieter Grill, wei- – Drucksache 14/8710 – terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Überweisungsvorschlag: Fairen Wettbewerb im Strom- und Gasmarkt Auswärtiger Ausschuss (f) effektiv und effizient sichern Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Tourismus – Drucksache 14/7614 – Überweisungsvorschlag: e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Änderung des Sprengstoffgesetzes und anderer Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Vorschriften (2. SprengÄndG) – Drucksache 14/8771 – ZP 4 a)Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Überweisungsvorschlag: Innenausschuss NEN und der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- (Staatsziel Tierschutz) gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur – Drucksache 14/8860 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23159

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Überweisungsvorschlag: Deutschland und der Tschechischen Republik (C) Rechtsausschuss (f) über die gegenseitige Hilfeleistung bei Kata- Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie strophen und schweren Unglücksfällen Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und – Drucksache 14/7096 – Landwirtschaft Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (Erste Beratung 198. Sitzung) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- abschätzung Ausschuss für Kultur und Medien schusses (4. Ausschuss) – Drucksache 14/8868 – b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und Berichterstattung: des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Abgeordnete Günter Graf (Friesoythe) Fortentwicklung der sozialen Pflegeversicherung – Drucksache 14/8864 – Cem Özdemir Dr. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Der Innenausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/8868, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte dieje- c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Peter nigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Paziorek, Matthias Wissmann, Kurt-Dieter Grill, Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstim- CDU/CSU mig angenommen worden. Kein Emissionszertifikatehandel zum Nachteil Dritte Beratung des Wirtschaftsstandortes Deutschland und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem – Drucksache 14/8852 – Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer Überweisungsvorschlag: stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) ist damit in dritter Beratung einstimmig angenommen Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie worden. Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Tagesordnungspunkt 35 b: Entwicklung (B) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- (D) regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes d) Beratung des Antrags der Abgeordneten zur Durchführung der Rechtsakte der Europä- Dr. , Dirk Fischer (Hamburg), ischen Gemeinschaft über gemeinschaftliche Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Informations- und Absatzförderungsmaßnahmen Fraktion der CDU/CSU für Agrarerzeugnisse (Agrarabsatzförderungs- durchführungsgesetz – AgrarAbsFDG) Verbraucherschutz im Bereich des öffentlichen Personenverkehrs noch immer unzureichend – Drucksache 14/8526 – – Drucksache 14/8853 – (Erste Beratung 227. Sitzung) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) ses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- Rechtsausschuss wirtschaft (10. Ausschuss) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft – Drucksache 14/8811 – Berichterstattung: Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an Abgeordneter Ulrich Heinrich die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Landwirtschaft empfiehlt auf Drucksache 14/8811, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die Wir kommen nun zur Abstimmung über die Tages- dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Hand- ordnungspunkte 35 a bis 35 j sowie die Zusatzpunkte 5 a zeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Auch die- und 5 b. Auch hier handelt es sich um die Beschlussfas- ser Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstim- sung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgese- mig angenommen worden. hen ist. Dritte Beratung Tagesordnungspunkt 35 a: und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, aufzustehen, wenn Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von Sie dem Gesetzentwurf in der dritten Beratung zustimmen der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs wollen. – Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 19. Septem- Gesetzentwurf ist auch in der dritten Lesung einstimmig ber 2000 zwischen der Bundesrepublik angenommen worden. 23160 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Tagesordnungspunkt 35 c: Tagesordnungspunkt 35 e: (C) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes regierung eingebrachten Entwurfs eines Siebten zur Durchführung der Rechtsakte der Europä- Gesetzes zur Änderung des Bundes-Immis- ischen Gemeinschaft über die Etikettierung von sionsschutzgesetzes Fischen und Fischereierzeugnissen (Fischetiket- – Drucksache 14/8450 – tierungsgesetz – FischEtikettG) (Erste Beratung 224. Sitzung) – Drucksachen 14/7726, 14/8196 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- (Erste Beratung 208. Sitzung) ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- heit (16. Ausschuss) ses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- – Drucksache 14/8895 – wirtschaft (10. Ausschuss) Berichterstattung: – Drucksache 14/8810 – Abgeordnete Rainer Brinkmann (Detmold) Marie-Luise Dött Berichterstattung: Abgeordneter Ulrich Heinrich Birgit Homburger Der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Eva Bulling-Schröter Landwirtschaft empfiehlt, den Gesetzentwurf anzuneh- Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus- men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim- schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – men wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfrak- Beratung einstimmig angenommen worden. tionen und der PDS gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Dritte Beratung Enthaltung der FDP angenommen worden. und Schlussabstimmung: Ich bitte Sie erneut, aufzuste- Dritte Beratung hen, wenn Sie in der dritten Beratung bei Ihrem Votum und Schlussabstimmung: Ich bitte Sie, sich zu erheben, bleiben wollen. – Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltun- wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. – Ge- gen? – Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung ein- genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist stimmig angenommen worden. damit in dritter Beratung mit den Stimmen der Koaliti- onsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen der (B) Tagesordnungspunkt 35 d: CDU/CSU bei Enthaltung der FDP angenommen worden. (D) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Wir kommen zu den Sammelübersichten des Petitions- regierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten ausschusses. Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über den Auswärtigen Dienst (GAD) Tagesordnungspunkt 35 f: – Drucksache 14/8225 – Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) (Erste Beratung 224. Sitzung) Sammelübersicht 378 zu Petitionen Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärti- gen Ausschusses (3. Ausschuss) – Drucksache 14/8801 – – Drucksache 14/8833 – Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Sammelübersicht 378 ist mit den Stimmen des ganzen Berichterstattung: Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen worden. Abgeordnete Gert Weisskirchen (Wiesloch) Reinhard Freiherr von Schorlemer Tagesordnungspunkt 35 g: Rita Grießhaber Dr. Helmut Haussmann Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Wolfgang Gehrcke ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 379 zu Petitionen Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/8833, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte dieje- – Drucksache 14/8802 – nigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Auch Sammelübersicht 379 ist mit den Stimmen des ganzen dieser Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung ange- Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen worden. nommen worden. Dritte Beratung Tagesordnungspunkt 35 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- und Schlussabstimmung: Wer zustimmen möchte, möge ausschusses (2. Ausschuss) sich erheben. – Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltun- gen? – Das ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist ein- Sammelübersicht 380 zu Petitionen stimmig angenommen worden. – Drucksache 14/8803 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23161

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- (C) Sammelübersicht 380 ist einstimmig angenommen worden. ses für Gesundheit (14. Ausschuss) – Drucksache 14/8882 – Tagesordnungspunkt 35 i: Berichterstattung: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Abgeordneter Dr. Hans Georg Faust ausschusses (2. Ausschuss) Abstimmung über den Gesetzentwurf des Bundesrates Sammelübersicht 381 zu Petitionen zur Änderung des Gesundheitsstrukturgesetzes, Druck- – Drucksache 14/8804 – sache 14/7462. Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- auf Drucksache 14/8883, den Gesetzentwurf in der Aus- gen? – Sammelübersicht 381 ist mit den Stimmen des schussfassung anzunehmen. Ich bitte die, die dem Gesetz- ganzen Hauses bei Enthaltung der CDU/CSU angenom- entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um men worden. das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig Tagesordnungspunkt 35 j: angenommen worden. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Dritte Beratung ausschusses (2. Ausschuss) und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben, Sammelübersicht 382 zu Petitionen wenn Sie zustimmen wollen. – Gibt es Gegenstimmen? – – Drucksache 14/8805 – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung einstimmig angenommen worden. Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Sammelübersicht 382 ist mit den Stimmen des ganzen Wir haben uns geeinigt: Bei den Tagesordnungspunk- Hauses bei Gegenstimmen der PDS angenommen worden. ten 17 a und 17 b wird jetzt um Überweisung gebeten. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Wir ver- Wir kommen nun zu den weiteren abschließenden Be- fahren so und haben das damit für heute erledigt. ratungen ohne Aussprache. Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 6 auf: Zusatzpunkt 5 a: Aktuelle Stunde Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU zur Änderung des Grundstoffüberwachungsge- Haltung der Bundesregierung zu den Wachs- setzes tumsprognosen der Wirtschaftsforschungsin- (B) (D) – Drucksache 14/8387 – stitute in ihrem Frühjahrsgutachten 2002 (Erste Beratung 224. Sitzung) Ich eröffne die Aussprache und gebe als erstem Redner dem Abgeordneten Matthias Wissmann das Wort. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- ses für Gesundheit (14. Ausschuss) – Drucksache 14/8882 – Matthias Wissmann (CDU/CSU) (von der CDU/ CSU mit Beifall begrüßt): Frau Präsidentin! Meine Da- Berichterstattung: men und Herren! Es gibt in dieser Woche zwei Gutachten, Abgeordnete Dr. Ruth Fuchs die Anlass zum Nachdenken und zu einer tief greifenden Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt auf Drucksa- Kurskorrektur in der Wirtschafts- und Finanzpolitik ge- che 14/8882, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung ben, Herr Bundesfinanzminister Eichel. anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf Das eine ist das Frühjahrsgutachten der Wirtschafts- in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das forschungsinstitute in Deutschland, in dem diese davon Handzeichen. – Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltun- ausgehen, dass wir in diesem Jahr einen mäßigen Auf- gen? – Das ist nicht der Fall. Der Gesetzentwurf ist damit schwung mit 0,9 Prozent Wachstum des realen Brutto- in zweiter Beratung angenommen. sozialproduktes, keine Veränderung am Arbeitsmarkt, nur Dritte Beratung weitere Veränderungen zum Schlechten haben und in Sachen Staatsdefizit Schlusslicht in Europa bleiben. und Schlussabstimmung. Ich bitte Sie, sich zu erheben, wenn Sie dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. – Wer Noch aufrüttelnder ist die gestern veröffentlichte Früh- stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf jahrsprognose der EU-Kommission, die das „Handels- ist damit in dritter Lesung mit den Stimmen des ganzen blatt“ heute unter den Überschriften „EU liefert Stoiber Hauses angenommen worden. Wahlmunition“ und „Rote Laterne für Deutschland“ ver- öffentlicht hat Zusatzpunkt 5 b: (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- und in der deutlich wird, dass wir beim Wachstum, beim rung des Gesundheitsstrukturgesetzes Staatsdefizit und bei der Beschäftigung weiterhin die rote Laterne besitzen und sie auch bei Fortführung der gegen- – Drucksache 14/7462 – wärtigen Politik nicht abgeben werden. Das ist für uns (Erste Beratung 227. Sitzung) Anlass zu sagen: Wer in einer solchen Situation seine 23162 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Matthias Wissmann (A) Überlegungen für die Zukunft unter das Motto „Weiter So kann es nicht weitergehen. Deswegen brauchen wir (C) so!“ wie gestern Gerhard Schröder stellt, hat sich mit der einen kraftvollen Neubeginn in der Wirtschafts- und Fi- roten Laterne abgefunden. nanzpolitik. Dazu mahnt uns die EU-Kommission. Dazu mahnen uns die Wirtschaftsforschungsinstitute. Wer aus (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – diesen Gutachten Bestätigung herausliest, der hat sich mit Johannes Kahrs [SPD]: Billige Polemik!) der roten Laterne abgefunden. Wir finden uns damit nicht Das kann doch wohl keine Wirtschafts- und Finanzpolitik ab. Wir wollen Deutschland wieder in die Spitzengruppe für Deutschland und, da wir die größte Industrienation der führenden Industrienationen bringen. Europas sind, für Europa sein. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Meine Damen und Herren, nach Angaben des Bundes- finanzministeriums sind allein in den ersten beiden Mo- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat naten dieses Jahres die Konsumausgaben des Bundes um jetzt der Abgeordnete Rainer Wend. 5,5 Prozent gestiegen, die Investitionsausgaben, Herr Eichel, aber um 13,8 Prozent zurückgefahren worden. Was für ein Signal gerade im Hinblick auf die neuen Bun- Dr. Rainer Wend (SPD): Frau Präsidentin! Meine desländer! sehr geehrten Damen und Herren! Herr Wissmann, ich be- dauere es ein bisschen, dass auch Sie heute wieder der (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Unglaublich!) Versuchung erlegen sind, den Wirtschaftsstandort Was für ein Signal im Hinblick auf eine bessere Struktur Deutschland schlecht zu reden, dass Sie auch heute wie- des Bundeshaushalts! Wir stellen an allen entscheidenden der der Versuchung erlegen sind, eine Rote-Laterne-De- Weichenstellungen leider Fehlverhalten, Schwäche und batte zu führen. Warum ist Ihnen das Thema „rote La- falsche Anlage der Wirtschafts- und Finanzpolitik fest. terne“ eigentlich nicht bis 1998 eingefallen, als Sie fünf Wir müssen diesen Kurs ändern, wenn wir die Schluss- Jahre hintereinander in derselben Situation gewesen sind? lichtposition verlassen wollen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) DIE GRÜNEN) Die Folgen dieser verfehlten Wirtschaftspolitik lassen Sie sagen nach Auslegung der Berichte der Institute, sich an dem absehbaren neuen Rekord an Unterneh- wir müssten eine Kehrtwende unserer Politik machen. Es mensinsolvenzen festmachen. Nach Berechnungen der mag sein, dass wir unterschiedliche Berichte bekommen Gutachter von Creditreform werden in diesem Jahr rund haben. Ich zitiere einmal: 40 000 Unternehmen ihre Pforten schließen müssen. Für eine nachhaltige Aufwärtsentwicklung kommt es Hinzu kommen rund 20 000 Personeninsolvenzen. (B) nun darauf an, dass die einzelnen Bereiche der Wirt- (D) 60 000 Pleiten insgesamt, das ist ein absoluter Rekord und schaftspolitik ihre mittelfristige Orientierung beibe- es bedeutet vor allem, dass grosso modo 550 000 Men- halten. schen ihren Arbeitsplatz verlieren werden. Gerade im Mittelstand greift die Sorge um sich. Bei einem Drittel Das ist genau das, was uns die Wirtschaftsforschungs- aller kleinen und mittleren Betriebe liegt der Umsatz un- institute sagen. Wir haben noch einen Weg vor uns. Es ter der Ertragsschwelle. Bei einem weiteren Drittel liegt kann kein Zweifel darin bestehen, dass auch wir darüber der Umsatz gerade an der Grenze, sodass sie noch überle- nachdenken müssen, was im einen oder anderen Bereich ben können. Das letzte Drittel aller kleinen und mittleren zu tun ist; aber die grundlegenden politischen Verände- Unternehmen, bei denen Jobs entstehen könnten, befindet rungen, die wir in den letzten Jahren herbeigeführt haben, sich in positivem Fahrwasser. sind richtig. Die Gutachter der Wirtschaftsforschungsinstitute ha- Die deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute empfeh- ben also Recht, wenn sie uns mahnen, die grundlegenden len uns eine Wirtschafts- und Finanzpolitik, die uns allen Reformen anzugehen: Deregulierung des Arbeitsmarkts, – das sage ich hier ganz offen – sehr schwer fallen wird. Erneuerung und Strukturreform des Gesundheitswesens. Ich zitiere noch einmal aus dem Bericht der Institute: Sie haben Recht, wenn sie die kritische Frage stellen: Wie Vor einer besonderen Herausforderung steht die Fi- wollt ihr eigentlich die Schieflage im Haushalt – Investi- nanzpolitik in Deutschland. tionen herunter, konsumtive Anteile herauf – nachhaltig reparieren? Darauf gibt es keine Antworten. Weiter heißt es: Das gestern vorgestellte SPD-Wahlprogramm steht un- Gleichwohl sollten von dem Konsolidierungskurs ter der Überschrift: „Kanzler, Konzept und Kompetenz“ – keine Abstriche gemacht werden. drei K. Es wird in den nächsten Jahren nicht leicht sein, den (Susanne Kastner [SPD]: Nur kein Neid, Herr begonnenen Konsolidierungskurs, der schmerzhaft ist, Wissmann!) fortzuführen. Die Institute selbst sagen: Wir müssen auf- passen, dass wir die Konjunktur durch die weiteren fi- Ich kann gegenwärtig nur feststellen – ich sage das mit nanzpolitischen Konsolidierungsmaßnahmen nicht zu Bedauern –: Unsere Lage ist durch drei andere K gekenn- sehr dämpfen. Das bedeutet, zu versuchen, bei den Inves- zeichnet: Krise, Klüngel und Konkurse. titionen möglichst wenig zu sparen und bei der Konsoli- (Beifall bei der CDU/CSU – Johannes Kahrs dierung in die konsumtiven Ausgaben zu gehen. Jeder ist [SPD]: Hören Sie auf mit Ihrer Polemik!) geneigt, sofort zu sagen: Jawohl, das müssen wir machen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23163

Dr. Rainer Wend (A) Ich will das nicht bestreiten; es stimmt. Aber das ist un- alle nicht leicht, aber Ihr billiger Populismus wird entlarvt (C) glaublich schwer, denn konsumtive Ausgaben sind Aus- werden; dessen können Sie sicher sein. gaben für Bildung und Forschung und Ausgaben für die (Beifall bei der SPD – Hartmut Schauerte Sozialpolitik, um nur zwei Bereiche zu nennen. Das wird [CDU/CSU]: Bei 19 Prozent würde ich den ein verdammt schwieriger Weg, übrigens für uns alle, Mund nicht so voll nehmen!) nicht nur für uns Sozialdemokraten. Dennoch ist dieser Weg unausweichlich, auch wenn er schmerzhaft ist, weil konsolidierte öffentliche Haushalte die Voraussetzung für Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat eine weitere wirtschaftliche Gesundung sind. jetzt der Abgeordnete Rainer Brüderle. Ich habe freimütig eingeräumt: Dieser richtige Konso- (Detlev von Larcher [SPD]: Jetzt kommt der lidierungskurs wird uns nicht leicht fallen. Ich richte die Herr 18 Prozent!) Frage an die Opposition, insbesondere an die CDU/CSU: Was ist Ihre Alternative? Das Lippenbekenntnis Ihrer Po- Rainer Brüderle (FDP): Herr Baron, willkommen auf litik heißt Sparen. Ihre politischen Alltagsforderungen der Arbeitsebene. weisen genau in die entgegengesetzte Richtung. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Früh- (Beifall bei der SPD) jahrsgutachten, OECD-Prognose, EU-Wirtschaftsbericht Weitere Ausgaben für Verteidigung, weitere Ausgaben für zeigen es: Deutschland bleibt hinten. Da hilft es nicht, Familiengeld, weitere Ausgaben für Mittelstandspro- denjenigen, die die Fakten nennen, vorzuwerfen, sie re- gramme, weitere Ausgaben für die Senkung des Spitzen- deten das Land schlecht. Nein, diejenigen, die gesundbe- steuersatzes – das sind nur vier Forderungen aus den letz- ten und die Realität nicht zur Kenntnis nehmen, versündi- ten Tagen, die Milliarden und Abermilliarden kosten. Es gen sich am Land. Das ist die Tatsache. kennzeichnet die Unsolidität Ihrer Politik, Sparen zu for- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – dern und alltäglich mehr Ausgaben einzufordern. Diesen Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Da müs- Widerspruch müssen Sie aufklären. sen Sie erst einmal beichten gehen!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ – Der rote Baron ist immer eine Bereicherung. Ich finde DIE GRÜNEN) es schön, dass der Neofeudalismus durch Sie dokumen- Auch auf diesen Punkt wird sich die Diskussion im Wahl- tiert wird. kampf bis zum Herbst beziehen. Vor einem Jahr träumte Herr Eichel noch von 2,5 Pro- zent realem Wachstum. Es gibt auf der einen Seite einen klaren Konsolidie- (B) rungskurs der Bundesregierung, der von allen Wirt- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Wo sind sie (D) schaftsforschungsinstituten gestützt wird, die dazu Aus- geblieben?) sagen machen. Es gibt auf der anderen Seite einen Kurs Er musste seine Prognose Schritt für Schritt revidieren. der Union, der Sparen fordert und in der Alltagspolitik po- Lassen Sie doch die Finger davon, kurz vor der Bundes- pulistische Ausgaben auf die Tagesordnung setzt. tagswahl die Prognose wieder hochdrehen zu wollen. Wer (Beifall bei der SPD) so daneben lag, sollte nicht ständig an der Prognose fum- meln. Sie haben in diesem Punkt keine Glaubwürdigkeit. Diesen Widerspruch werden wir den Bürgerinnen und Bürgern erklären. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das hat in Die Konjunktur dümpelt. In England beträgt das Wachs- Sachsen-Anhalt kein Mensch geglaubt!) tum rund 2 Prozent, in Spanien ebenso, Frankreich hat ein Wachstum von 1,5 Prozent. Die Ausrede, die Probleme der Der Bundeskanzler hat Recht, wenn er sagt: Es kann Weltwirtschaft seien so schlimm, zieht nicht. Herr Eichel, nicht richtig sein, dass wir uns unter großen Schwierig- ich kann Ihnen versichern, England, Frankreich und Spa- keiten über Monate hinweg bemühen, den Schuldenstaat, nien operieren im gleichen weltwirtschaftlichen Rahmen den Sie uns hinterlassen haben, durch Haushaltskonsoli- wie wir, denn es gibt nur eine Weltwirtschaft. Deshalb kann dierung in den Griff zu bekommen, man sich damit nicht herausreden. Hier ist vielmehr die (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie haben Strategie falsch; wir sind falsch aufgestellt. doch gar keine Ahnung, Herr Wend!) Ich trage ein Zitat aus dem Gutachten vor: und uns von Ihnen hier vorwerfen lassen müssen, wir Höher als angekündigt ist die Belastung mit Steuern würden nicht genug sparen, und Sozialabgaben; sie sollte eigentlich spürbar ge- (Beifall bei der SPD) senkt werden. Insofern wurden die selbst gesetzten Ziele der Finanzpolitik verfehlt. während Sie zusätzliche Ausgaben in Milliardenhöhe for- dern. Die Bürger merken dies. Hören Sie auf damit! Tatsache ist: Sie haben nicht entlastet, sondern wir haben in den nächsten Jahren 9 Milliarden Euro Zusatzbelas- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ihnen steht tung. Per saldo haben Sie keine steuerliche Entlastung das Wasser doch bis zum Hals, Herr Wend!) vorgenommen, Machen Sie lieber gemeinsam mit uns eine sachorien- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten tierte, schwierige Konsolidierungspolitik. Wir haben es der CDU/CSU) 23164 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Rainer Brüderle (A) sondern durch Ökosteuer, Tabaksteuer und Versicherung- – Da hilft auch kein Schreien. Sie sollten sich lieber schä- (C) steuer die Leute mehr belastet. Das ist die Kernursache men. – Wir haben ein mieses Klima im Mittelstand. Der dafür, dass wir in der wirtschaftlichen Entwicklung nicht Mittelstand verzweifelt immer mehr. vorankommen. (Detlev von Larcher [SPD]: Ach du liebe (Detlev von Larcher [SPD]: Diese Unwahrheit Güte!) glaubt Ihnen keiner!) – Die Zahlen sprechen Bände. Ich sage noch einmal: Plei- Sie sollten aufhören mit Verdrängungsaussagen wie: tenrekord. Sie als Abgeordneter haben damit kein Pro- „Wenn wir die Bauwirtschaft herausrechnen, stehen wir blem. Sie kriegen Ihre Diäten oder haben vielleicht als besser da“. „Wenn wir Ostdeutschland herausrechnen, Feudalist noch Latifundien. stehen wir besser da“. Natürlich, Herr Baron: Wenn wir (Hubertus Heil [SPD]: Billiger Populist! – die Arbeitslosen aus der Statistik herausrechnen, haben Susanne Kastner [SPD]: Sie kriegen auch noch wir Vollbeschäftigung. Aufsichtsratsgelder!) (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Aber die Menschen, die auf ihr Arbeitseinkommen ange- Das wäre die Lösung des Problems. Das sind Ihre Trick- wiesen sind, sind nicht in Ihrer Position, sondern in dieser sereien. Damit konnte der Adel früher über die Runden miserablen Situation, die uns nicht weiterführt. kommen, Herr Baron, aber in der Republik kommen Sie Was wir brauchen, ist eine Steuerreform II. Wir müs- damit nicht weiter. sen weiter entlasten. Der Fehler war, dass man nicht (Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Ostdeutschland rechtzeitig gehandelt hat. Deshalb ist Herr Eichel in der kaputt gehen lassen! Das war doch Ihre Regie- Haushaltsmisere. Hätte er früher und umfassender steuer- rung!) lich entlastet, hätten wir mehr Wachstum, mehr Beschäf- tigung, weniger Arbeitslosigkeit und eine bessere Haus- Deshalb lieber die Stunde der Wahrheit und nicht haltssituation. Die Untätigkeit ist die Ursache der Rückfall in den alten Feudalismus, wo man die Leute an Haushaltsmisere. der Nase herumgeführt hat. Sie schieben und schieben. Sie machen keine Reformen, weil Sie Angst vor den Ge- (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Hubertus werkschaften haben. Sie machen keine Gesundheits- Heil [SPD]: Wie viel Jahre haben Sie als FDP reform, denn Sie haben Angst vor dem Gesundheitssektor. regiert? – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie Sie machen nichts. Bei Ihnen gilt das Prinzip Hoffnung: haben bei der Steuerreform doch zugestimmt, Die Amerikaner machen es besser, und wir werden über Herr Brüderle!) den Export mitgezogen. Sie selbst machen es nicht. Aber Ich kann den Menschen draußen nur zurufen: Halten mit dem Prinzip Hoffnung kommen Sie nicht weiter. (B) Sie einfach durch bis zum 22. September! Am 22. Sep- (D) Das Gutachten macht auch eine interessante Aussage tember ist in Deutschland Freiheitstag. zu der aktuellen Tarifauseinandersetzung. Es sagt: (Beifall bei der FDP – Lachen bei der SPD 2,5 Prozent Lohnerhöhung. Das ist die Basis aufgrund ei- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ner Prognose, die schon sehr bescheiden ist. Es dümpelt ja alles, von Aufschwung ist nichts zu spüren. Dann können Sie wählen. Dann können Sie eine bessere Politik wählen, Sie können sich für eine freiheitliche Lö- (Hubertus Heil [SPD]: Mit wem redet der sung entscheiden, Sie können steuerliche Entlastung eigentlich?) wählen, Sie können Arbeitsmarktchancen wählen. Schon der Abschluss in der Chemieindustrie liegt deutlich (Hubertus Heil [SPD]: Sie sind ja flacher als über diesen 2,5 Prozent. Was die Herren von der IG Me- Herr Möllemann!) tall installieren, ist wahrlich kein Beitrag zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit. Sie sind da gefangen, weil die meis- Tun Sie es, damit das Land an der Unfähigkeit von Grün- ten von Ihnen Gewerkschaftssekretäre sind. Rot nicht verzweifelt. (Detlev von Larcher [SPD]: Sie sind gefan- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – gen!) Detlev von Larcher [SPD]: Wir sprechen uns am 23. September wieder! – Hubertus Heil Die Arbeitslosen in Deutschland haben keine Gewerk- [SPD]: Tiefflieger!) schaft. Da verhandeln nur die, die drin sind, zulasten de- rer, die draußen sind, die aber auch ein Stück Hoffnung und Perspektive haben wollen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Werner Schulz. (Beifall bei der FDP – Susanne Kastner [SPD]: Die meisten von Ihnen sind Aufsichtsratsmit- glieder!) Werner Schulz (Leipzig) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Tatsache ist: Wir haben einen Pleitenrekord. Wir kommen NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich nicht voran beim Abbau der Arbeitslosigkeit. Sie haben habe mich gefragt, was die Opposition, was die Union be- steuerlich nicht entlastet. Per saldo haben Sie zusätzlich wogen hat, diese Aktuelle Stunde zu beantragen. Zunächst draufgeknallt. Wir haben einen Rekord bei der Schwarz- hatte ich die Vermutung, Sie würden diese Gelegenheit für arbeit. einen Strategiewechsel nutzen, weil Sie zu der Überzeu- gung gekommen sind, dass Sie allein mit Schlechtreden (Hubertus Heil [SPD]: Sie wiederholen sich!) des Standortes und mit Trübsalblasen eben nicht über den Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23165

Werner Schulz (Leipzig) (A) Sommer kommen. Das zumindest hat Ihnen das Früh- Nein, wir haben Kurs gehalten. Das Frühjahrsgutachten (C) jahrsgutachten vor Augen geführt. der Forschungsinstitute bestätigt, dass es richtig war, das zu tun. Selbst Forschungsinstitute haben sich jetzt dem (Beifall bei der SPD) Kurs der Regierung angeschlossen und gesagt, dass das so Aber Sie haben sich offenbar entschlossen, die Sonthofen- in Ordnung ist, dass es keinen Spielraum für weitere Strategie in der Wirtschaft fortzusetzen. Sie suchen das Steuersenkungen gibt. Haar in der Suppe, um es hier rhetorisch zu spalten. Wie Sie die Steuersenkungen nach dem 22. September (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Wir haben realisieren wollen, bleibt Ihr Geheimnis. Ich glaube, Sie keine Suppe mehr! Der Teller ist leer!) werden nach der Methode Pieper vorgehen, nach dem Motto: Höppner geht, die Arbeit kommt und Frau Pieper Herr Wissmann, wir haben nicht nur zwei Gutachten zu flüchtet. Es war eine „Piepshow“, die Sie in Sachsen- beachten. Sie sollten sich vielleicht zusätzlich einmal die Anhalt abgezogen haben. Das ist eine große Täuschung. Expertise von EU-Wirtschaftskommissar Pedro Solbes Wir werden darauf noch zurückkommen. vornehmen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das können und bei der SPD – Rainer Brüderle [FDP]: Sie wir gern machen!) sind unter 2 Prozent, Sie sollten den Mund hal- wenn Sie das Frühjahrsgutachten der EU und das Früh- ten!) jahrsgutachten der Forschungsinstitute auswerten. Es ist kein Spielraum für Steuersenkungen vorhanden. Die rote Laterne, die sie der Bundesregierung so gerne Im Gegenteil, die Forschungsinstitute fordern uns auf, überreichen wollen, hängt am Zug der deutschen Einheit. weiter zu sparen. Sie hängt dort, seitdem Sie die Einheit falsch finanziert (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Wie viel Prozent haben. haben Sie in die „Piepshow“ eingebracht?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Herr Hinsken, man könnte die drei K, die Herr und bei der SPD) Wissmann vorgetragen hat, auch anders übersetzen. Es Ein Drittel der Wachstumsschwäche geht auf die falsche fehlt an Kalkulation, es fehlt an Korrektheit und es liegt Finanzierung der deutschen Einheit zurück. Es sind etwa noch nicht einmal in dieser Richtung ein Konzept vor. 0,3 Prozent Wachstum, die uns auf diese Art und Weise (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verloren gehen. Das sind etwa 3 Prozent des Brutto- und bei der SPD) inlandsprodukts, das wir nach wie vor für den Osten be- reitstellen müssen, und zwar nicht nur in Form von Inves- Das, was Sie da so vollmundig verkünden, Sie wollten (B) titionen, sondern im Grunde auch durch Sozialtransfers. beispielsweise beim Familienlastenausgleich einmal so (D) 24 Milliarden herausstreuen, ist überhaupt nicht zu ver- Das andere Drittel ist die falsche Konjunkturlokomo- wirklichen. Das können Sie nicht finanzieren; auch nicht tive, die sie vor den Zug der deutschen Einheit gehängt Steuersenkungen und weitere Versprechungen von sozia- haben. Ich weise nur auf die überhitzte und überdimen- len Wohltaten. sionierte Bauindustrie hin, deren Überkapazitäten jetzt abgebaut werden müssen. Das macht ein weiteres Drittel (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Sagen Sie dieser Wachstumsschwäche aus. Das sind noch einmal einmal etwas zur Konjunktur!) 0,3 Prozent. – Zur Konjunktur? Die Konjunktur sieht relativ günstig Das übrige Drittel sind die nach wie vor ausstehenden aus. Reformen. Die Reformen stehen nach wie vor aus, weil (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP) Sie den Zug der deutschen Einheit in einen Verschiebe- bahnhof gefahren haben. Nicht umsonst war „Reform- Wir haben allen Grund, optimistisch zu sein. Wir rechnen stau“ einmal das Wort des Jahres. Diesen Reformstau ha- mit 0,9 Prozent Wachstum. Im nächsten Jahr werden wir ben wir übernommen. Natürlich ist das noch nicht alles etwa 2,3 Prozent Wachstum bekommen. Herr Schauerte, abgebaut. egal, ob Sie das jetzt zum Lachen bringt oder nicht, es ist einfach so. Das sind die Fakten. Zwei Drittel der Wachstumsschwäche gehen eindeutig (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Wo leben auf Ihr Regierungskonto zurück. Über ein Drittel können Sie?) wir uns streiten. Wir sind momentan dabei, das abzu- bauen. Es wird Ihnen nicht gelingen, das schlecht zu reden. Das reicht nicht für die Zeit bis zum 22. September. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie sind ja völlig unschuldig!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Da haben wir einiges zu bieten, etwa bei der Steuer- reform. Ich erinnere Sie nur daran: Wären wir dem Blitz- programm von Herrn Brüderle gefolgt, dann hätten wir im Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Herbst ein Aktionsprogramm auflegen und einen hek- jetzt die Abgeordnete Barbara Höll. tischen Aktionismus betreiben müssen. (Rainer Brüderle [FDP]: Das wäre vermeidbar Dr. Barbara Höll (PDS): Frau Präsidentin! Liebe Kol- gewesen! Das kennen Sie aus der DDR nicht!) leginnen und Kollegen! Herr Schulz, schauen wir mal. 23166 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Dr. Barbara Höll (A) Schauen wir mal, wer deutscher Fußballmeister wird. bekanntermaßen Sitz des Medienkonzerns Bertelsmann. (C) Jede Mannschaft, die es noch werden will, wird sich auch Bertelsmann hatte im vergangenen Jahr 20 Milliar- für die letzten Spiele noch anstrengen müssen. den Euro Umsatz und einen Gewinn erwirtschaftet. Die Stadt Gütersloh muss aber an den Konzern 15 Milliar- Wenn man das Gutachten liest, dann finde ich die Hal- den Euro für das Jahr 2001 an Steuern zurückzahlen. tung der Bundesregierung, die heute von der CDU/CSU thematisiert wird, schon erstaunlich; denn unabhängig (Zuruf von der CDU/CSU: Millionen!) davon, wie die Gutachten in den letzten Jahren auch aus- – Entschuldigung, das kann ja einmal passieren. Es ist gefallen sind, fühlt sich Rot-Grün in seiner Politik immer schön, dass Sie zuhören und mich korrigieren. bestätigt. Das ist schon ein besonderer Blick auf die Rea- lität. (Beifall bei der PDS – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ein bisschen durcheinander ist (Beifall bei der PDS) das ja schon, was Sie da vortragen!) Man muss wirklich sagen: Die Realität ist alles andere Die geschilderte Situation bedeutet für die Stadt als rosig. Die Bundesrepublik hat keine Chance, die rote Gütersloh und ihre Bürgerinnen und Bürger drastische Laterne in Europa in diesem Jahr abzugeben. Wie es dann Sparmaßnahmen und eine Haushaltssperre. im nächsten Jahr aussehen wird, bleibt abzuwarten. Das ist kein Einzelfall. In den neuen Bundesländern ist in Wenden wir uns den Realitäten zu. Erstens. Die Ar- ganz vielen Kommunen inzwischen auch die soziale beitslosigkeit steigt auch in diesem Jahr. Im Vergleich Infrastruktur bedroht. Das, was an notwendigen sozialen In- zum Vorjahr haben wir in den Monaten März und April frastruktureinrichtungen, ob das die Frauen- oder Jugend- 160 000 arbeitslose Menschen mehr. Das ist eine Steige- arbeit oder die Betreuung älterer Bürgerinnen und Bürger rung der Arbeitslosenquote von 9,8 auf 10 Prozent. Da- betrifft, noch vorhanden ist, ist massiv bedroht, weil die hinter stehen viele, viele Schicksale. Ein Ende der Tal- Kommunen nicht mehr ihren Anteil an der Gegenfinanzie- sohle ist auch laut Aussage der Bundesanstalt für Arbeit rung aufbringen können. Was das alles im Endeffekt kostet, nicht in Sicht. können wir uns heute noch gar nicht ausmalen. Zweitens. Die Zahl der Insolvenzen spricht eine deut- Die Binnennachfrage stagniert. Sicher wird Herr liche Sprache in Bezug auf die wirtschaftliche Eichel, der nach mir spricht, wieder sagen, wie toll die Entwicklung. Im vergangenen Jahr gab es 32 278 Insol- Steuerreform und die Steuerentlastung für jede Familie venzen, ein Nachkriegsrekord. Befürchtet wird, dass es in waren. diesem Jahr einen neuen Rekord geben wird, und zwar mit (Susanne Kastner [SPD]: Es ist nett von Ihnen, 37 200 Insolvenzen, so die Schätzung des Bundesverban- dass Sie das auch sagen!) (B) des Deutscher Inkassounternehmen. Damit sind wie- (D) derum 550 000 bis 600 000 Arbeitsplätze bedroht. Nur ein Dabei werden meistens die Ökosteuer und die Erhöhung Bruchteil dieser Insolvenzen entfällt auf spektakuläre anderer Steuern vergessen. Man muss leider feststellen, Pleiten wie bei Herlitz und Kirch. Betroffen sind vor al- dass sich die Kaufkraft der Arbeitnehmerinnen und Ar- lem kleine und mittlere Unternehmen. beitnehmer in den letzten 20 Jahren nicht erhöht hat, auch unter Ihrer Regierung nicht. Das ist die Realität. Diese zwei Beispiele sollten ausreichen, um zu zeigen, dass die rot-grüne Koalition und die rot-grüne Regierung (Beifall bei der PDS) sich nun endlich von ihrem gescheiterten Konzept – nur Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie das endlich än- massive Steuerentlastung der Konzerne, der Besserver- dern würden. Machen Sie Schluss mit dieser Steuer- dienenden und der Vermögenden – verabschieden müs- senkungspolitik für Besserverdienende, Vermögende und sen. Denn genau dieses Konzept hat nicht zu Wachstum Konzerne! Gehen Sie endlich zu einer nachhaltigen Fi- und mehr Beschäftigung geführt. Ihre Steuerreform war nanzpolitik über! und bleibt ein Flop. (Werner Schulz [Leipzig] [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der PDS) GRÜNEN]: Schaffen Sie demokratischen So- Diesen Bankrott rot-grüner Wirtschafts- und Finanzpolitik zialismus!) muss man sich erst einmal eingestehen. Die Realität spricht Da unterscheide ich mich wesentlich von der rechten Op- eine deutliche Sprache. Dann müssen – das ist notwendig – position in diesem Hause. Sie sollten sich endlich einmal daraus endlich die Konsequenzen gezogen werden. der Einnahmenseite zuwenden. Setzen Sie doch bitte Es ist doch nicht von der Hand zu weisen, dass die öf- Ihren Kopf ein; in der Politik ist Fantasie gefragt. Ich fentlichen Haushalte mit Ihrer Finanzpolitik in den Ruin glaube, es stünde uns sehr gut zu Gesicht, wenn wir uns getrieben werden. Geld für öffentliche Investitionen ist nicht nur von der Steuerfreiheit für Veräußerungsgewinne nicht vorhanden. Um das festzustellen, reicht ein Blick in bei Kapitalgesellschaften verabschieden würden, den Bundeshaushalt dieses Jahres. Der Anteil der inves- (Werner Schulz [Leipzig] [BÜNDNIS 90/DIE tiven Ausgaben beträgt im Jahr 2002 noch rund 10 Pro- GRÜNEN]: Steuerfreiheit für alle!) zent. Das ist Nachkriegstiefstand. sondern uns wieder auch anderen Finanzierungsquellen Insbesondere die Kommunen befinden sich durch Ihre zuwenden würden. Was ist denn mit einer Reform der Finanzpolitik in einer sehr schweren Situation. Nehmen Erbschaftsteuer? Sie verweigern sich hier. Was ist denn wir einmal ein drastisches Beispiel: die Stadt Gütersloh, mit einer Vermögensbesteuerung? Nichts! Große Kon- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23167

Dr. Barbara Höll (A) zerne wie Daimler-Benz zahlen de facto keine Steuern, mit beschäftigen wollen, müssen Sie sich die Zahlen ein- (C) aber jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer zahlt mal genauer ansehen. brav die Lohnsteuer. Das kann es nicht sein; das ist kon- Ich möchte klarstellen – Herr Schulz hat in diesem traproduktiv. Es muss vielmehr darum gehen, die Binnen- Punkt völlig Recht –, dass wir dieses Problem nicht hät- nachfrage zu stärken und aktiv Maßnahmen zu verwirkli- ten, wenn Sie wie Frankreich und Großbritannien ab 1996 chen, die dafür sorgen, dass Wachstum einsetzt und dass – dort unter konservativen Regierungen – eine anständige Arbeitsplätze geschaffen werden. Finanzpolitik gemacht hätten, also zu einer Zeit, als Sie Sie haben noch Zeit bis zur Wahl. Die Bevölkerung er- den anderen Staaten zu Recht den Stabilitäts- und Wachs- wartet Taten. tumspakt aufgedrängt haben. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der PDS – Werner Schulz [Leipzig] DIE GRÜNEN – Hartmut Schauerte [CDU/ [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da sind wir in CSU]: Sie kriegen den blauen Brief!) Berlin gespannt!) Der Unterschied zwischen den Konservativen in Deutsch- land und in anderen Ländern war, dass sich die anderen um Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat eine solide Finanzpolitik bemüht haben, Sie aber nicht. jetzt der Herr Bundesfinanzminister, Hans Eichel. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Aber Sie haben den Hans Eichel, Bundesminister der Finanzen: Frau Prä- blauen Brief bekommen!) sidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zwei- – Ach, der blaue Brief! Hätten wir jetzt Ihren Haushalt felsfrei steht fest – das ergibt sich aus dem Gutachten der von 1998, dann würde das gesamte Defizit, das für den Wirtschaftsforschungsinstitute; das sagen im Übrigen Gesamtetat erlaubt ist, schon allein im Bundeshaushalt auch alle internationalen Institutionen –, dass der Auf- liegen. Wir aber haben den Bundeshaushalt konsolidiert. schwung begonnen hat. Sie haben jetzt ein strategisches Problem: Wollen Sie bis zur Bundestagswahl immer noch (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das ist doch so tun, als säßen wir in der Malaise? Oder haben Sie die alles unwahr!) Chuzpe von Gerhard Schröder aus dem Jahr 1998 – die ha- Ihr Haushalt von 1998 hätte uns nämlich weit über die ben Sie nicht –, zu erklären, der Aufschwung sei Ihrer? Sie Grenze von 3 Prozent gebracht. Der Fortschritt, den wir haben sich entschieden, bis zum 22. September schwarz zu erreicht haben, liegt darin, dass dies nicht der Fall war. malen. Ich sage Ihnen: Diese Strategie geht nicht auf. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (B) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Werner DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/ (D) Schulz [Leipzig] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- CSU) NEN]) Im Übrigen müssen Sie sich einmal klar machen, was Herr Brüderle, natürlich ist ein Wachstum von 0,9 Pro- hinter der Wachstumsrate von drei viertel Prozent steckt. zent nicht besonders hoch. Aber wir haben in den letzten vier Weil wir erst jetzt aus dem Tief des vergangenen Jahres Jahren – der Kollege Müller hat es Ihnen vorgerechnet – herauskommen – dieses Tief hatten auch alle anderen –, mit durchschnittlich 1,6 Prozent Wachstum mehr erreicht bedeutet dies, dass wir im Jahresverlauf eine gewaltige (Rainer Brüderle [FDP]: Relativ wenig!) Beschleunigung beim Wirtschaftswachstum haben wer- den, was auch die Forschungsinstitute vorhersagen: Im als Sie während Ihrer Regierung seit 1992. Sie lagen im- dritten Quartal, spätestens aber im vierten Quartal liegen mer unter diesem Wert. die Wachstumsraten bei denen des Jahres 2000, die zwi- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schen 2,5 und 3 Prozent lagen. DIE GRÜNEN) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Es glaubt Weil Sie so ungeheuer gerne das Bild des Trainers im doch keiner mehr an Prognosen!) Fußball benutzen, sage ich Ihnen: Der Trainer, der die – Prognosen sind eben Prognosen. – In Ihren Reden wi- Mannschaft auf den letzten Platz geführt hat – das waren dersprechen Sie den Auffassungen der gesamten interna- Sie in den 90er-Jahren –, ist nicht derjenige, der den Auf- tionalen Fachwelt und der deutschen Institute. stieg schafft. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD) DIE GRÜNEN) Wir werden das schaffen. Im Jahr 2000 haben wir uns das Hinsichtlich der notwendigen Reformen sage ich Ihnen erste Mal verbessert. Auch die Europäische Kommission – Frau Fischer wird ja später noch sprechen –: Hätten Sie sagt, dass wir uns im Jahr 2003 wenigstens – auch das die Gesundheitsreform nicht gleich am Anfang dieser reicht mir noch nicht – auf Platz 11, gemeinsam mit zwei Wahlperiode im Bundesrat blockiert, dann wären wir an anderen Staaten, verbessern. dieser Stelle ein Stück weiter. (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Portugal (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Aber wer hat überholt! Das ist Ihre Erfolgsbilanz!) denn unsere kaputtgemacht? – Matthias – Nein, wir haben nicht nur Portugal überholt, sondern Wissmann [CDU/CSU]: Wer hat denn Frau auch Österreich und die Niederlande. Wenn Sie sich da- Fischer abgelöst?) 23168 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Bundesminister Hans Eichel (A) Die Rentenreform haben wir durchbekommen. Aber man statistik manipulieren? Das war doch Ihre Re- (C) muss festhalten, dass Sie die Gesundheitsreform kaputt- gierung!) gemacht haben. Zusätzlich ist die Arbeitslosigkeit weitaus niedriger als (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zur Zeit unserer Regierungsübernahme. Das haben wir DIE GRÜNEN) trotz des Konjunkturabschwungs erreicht. Bei uns war Sowohl die Institute wie auch der Sachverständigenrat der Anstieg der Arbeitslosigkeit übrigens sehr viel ge- sagen uns, dass wir uns auf dem richtigen Weg befinden. ringer als in dem von Ihnen so gepriesenen Amerika; Nicht hektischer Aktionismus à la Brüderle, sondern eine dort ist ein viel höherer Anstieg zu verzeichnen. Diesen stetige und solide Finanzpolitik führt uns konsequent aus neuen Aufschwung werden wir weiterführen. Ihre Pro- der Schuldenfalle. paganda wird Sie nicht bis zum 22. September tragen, da die Ausgangsposition weitaus besser sein wird als (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Stetig nach 1998. unten! – Rainer Brüderle [FDP]: Eingeschla- fene Füße!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Genau diesen Weg gehen wir. Ich bin dankbar dafür, dass Herr Brüderle, es ist in der Tat ein dolles Stück; denn die Länder diesen Weg mitgehen. Die entsprechenden Sie haben der Steuerreform zugestimmt. Man müsste die Maßnahmen muss aber jeder in seiner eigenen Verant- Rede nachlesen, die Sie damals, bevor Sie hier im Bun- wortung umsetzen. Wir werden das mit dem Bundeshaus- destag der Steuerreform zugestimmt haben, gehalten ha- halt 2003 und 2004 tun und eine stetige und konsequente ben. Sie müssen ja auch den zusätzlichen Belastungen zu- Finanzpolitik betreiben, die auch Steuersenkung bedeutet. gestimmt haben. Ich verstehe das alles gar nicht. Ich verstehe im Übrigen auch nicht, wie Sie gleichzeitig sa- Frau Höll, ich lasse es Ihnen nicht durchgehen, dass Sie gen können, dass die öffentlichen Kassen leer wären, jetzt das vergangene Jahr als Bezugspunkt wählen. Bei der wenn wir die Steuerlast erhöht hätten. Diskussion darüber, wie alternative Konzepte aussehen, müssen wir auch festhalten, dass wir – es ist das erste Mal (Rainer Brüderle [FDP]: Sie sollten nicht lü- nach dem Zweiten Weltkrieg – mit 500 000 Arbeitslosen gen, Herr Eichel!) weniger aus der Konjunkturkrise herauskommen. Bei der Das alles ist Unfug, Herr Brüderle. Sie wissen das auch; letzten Konjunkturkrise, die in der Zeit der vorherigen Re- denn Sie sind intelligenter, als es Ihre Rede, die Sie hier gierung stattgefunden hat, sah das noch ganz anders aus. abgeliefert haben, vermuten lässt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (B) DIE GRÜNEN) (D) Wir halten fest, dass wir im Sommer des vergangenen Deswegen wollen wir eines festhalten: Wir gehen mit Jahres den höchsten Beschäftigungsstand in Deutschland einer drastisch gesenkten Steuerlast in den Wahlkampf. nach der Wiedervereinigung hatten. Damals betrug der Eingangssteuersatz 25,9 Prozent, bis (Max Straubinger [CDU/CSU]: Statistik zum 31. Dezember 2001 beträgt er 19,9 Prozent. Ab dem gefälscht!) 1. Januar 2003 liegt er bei 17 Prozent. Der Spitzensteuer- Noch heute liegt der Beschäftigungsstand um 1 Million satz betrug damals 53 Prozent, während er heute bei höher als zu der Zeit, als Sie die Regierung verlassen 48,5 Prozent liegt. Die Körperschaftsteuer liegt nicht mussten. Das ist die Wahrheit. mehr bei 45 Prozent, sondern bei 25 Prozent. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Mit anderen Worten – das werden Sie nie kaputtreden DIE GRÜNEN – Matthias Wissmann [CDU/ können –: Die Beschäftigung ist höher als die, die Sie uns CSU]: Statistik!) hinterlassen haben, und die Arbeitslosigkeit sowie die Steuern sind niedriger als zur Zeit Ihrer Regierungs- – Das ist doch keine Statistik, das sind konkrete Men- verantwortung. Das ist unsere Bilanz, die Sie auch bis schen, sehr verehrter Herr Wissmann. zum 22. September nicht kaputtreden können. (Matthias Wissmann [CDU/CSU]: 630-Mark- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Gesetz!) DIE GRÜNEN – Matthias Wissmann [CDU/ Das ist typisch. In dem Augenblick, in dem man über kon- CSU]: Wir sind Schlusslicht in Euro- krete Menschen redet, weichen Sie in die Statistik aus. pa! – Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Alles Was für ein Unsinn! geschönte Statistiken! Gebt dem Herrn eine rote Laterne! Wer so brüllt, hat Unrecht! – Ge- (Matthias Wissmann [CDU/CSU]: Es ist Sta- genruf des Abg. Hubertus Heil [SPD]: Herr tistik!) Schauerte, damit müssten Sie sich aber aus- Wir können also auf einen weitaus höheren Beschäfti- kennen, denn Sie krakeelen hier immer gungsstand verweisen, als Sie ihn uns hinterlassen haben. herum!) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Künstlich aufgeblähte Statistik! – Steffen Kampeter Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat [CDU/CSU]: Wer wollte denn die Arbeitslosen- jetzt der Abgeordnete Hansjürgen Doss. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23169

(A) Dr. Hansjürgen Doss (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Menschen in unserem Land und verschleiert die Notwen- (C) Meine lieben Kollegen! Herr Finanzminister, wer so re- digkeit von Reformen. Sie sind beratungsresistent. det, dem schwimmen gerade die Felle davon. Deswegen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ist man so nervös. Keine Prognose ohne Risiko! Jeder vorsichtige Unter- (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der nehmer weiß: Die Institute erwarten, dass der Ölpreis wie- SPD) der deutlich sinkt. Vor welchem Hintergrund? Niemand Ich nehme an, dass Ihnen das sachsen-anhaltinische Wahl- weiß, wie sich die Situation im Nahen Osten entwickeln ergebnis noch immer in den Knochen steckt. Vor diesem wird. Niemand weiß, wie lange der Kampf gegen den Ter- Hintergrund hatte ich eigentlich mehr als eine solch auf- ror dauern wird. Seit wissen wir: Konjunk- geregte Rede, die Sie hier gehalten haben, von Ihnen tur besteht zu einem großen Teil auch aus Psychologie. erwartet. (Hubertus Heil [SPD]: Genau deshalb machen (Beifall bei der CDU/CSU – Susanne Kastner Sie Schwarzmalerei!) [SPD]: Was? Das war eine inhaltsreiche Rede! – Detlev von Larcher [SPD]: Hochmut kommt vor Deswegen verstehe ich den Optimismus der Institute. Nur dem Fall!) so ist er vor dem Hintergrund der Realität erklärbar. Die zentrale Botschaft des Frühjahrsgutachtens lautet, Schon der Lohnabschluss im Chemiebereich geht weit dass sich die weltwirtschaftliche Lage bessert. Die Insti- über das wirtschaftlich Vernünftige hinaus. tute erwarten eine leichte Besserung der wirtschaftlichen (Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Das sehen so- Situation in Deutschland. Wir freuen uns für die betroffe- gar die Arbeitgeber anders!) nen Menschen. Herr Bundesfinanzminister, wir malen überhaupt nicht schwarz. 3,6 Prozent wurden beschlossen. Die IG Metall bläst zum Arbeitskampf. (Hubertus Heil [SPD]: Überhaupt nicht!) (Dr. Barbara Höll [PDS]: Richtig!) Ich weiß nicht, wie Sie bei dieser wirtschaftlichen Lage mit einer solch unbekümmerten Fröhlichkeit herumtollen Das alles sind Rahmenbedingungen, die uns vorsichtig können, anstatt sich mit den Fakten zu beschäftigen. machen sollten. Wirtschaft und Mittelstand in Deutsch- land müssen derzeit mit vielfältigen Risiken leben: von A (Beifall bei der CDU/CSU – Hubertus Heil wie Arafat bis Z wie Zwickel [SPD]: Jetzt malen Sie doch schwarz!) (Hubertus Heil [SPD]: Ich sage ja auch nicht Das leichte Wachstum ist nicht der Erfolg dieser Bun- Doofkopf wie Doss! – Weitere Zurufe von der (B) desregierung, sondern die Folge eines stärkeren Wachs- SPD: Oh!) (D) tums in anderen Länder. Zum Beispiel wird im Jahre 2003 das Wachstum in den USA3,7 Prozent, in Kanada 3,5 Pro- – das ist ein schönes Bild und macht Spaß; wir sind darü- zent, in Irland 5 Prozent und in anderen Ländern noch ber hinaus eben auch kreativ –, mit Risiken von Grün über mehr betragen. Deutschland bleibt mit einem Wachstum Rot bis Rot-Rot. von 2,4 Prozent im kommenden Jahr zum dritten Mal hin- In Berlin dürfen die Postkommunisten ungestraft ihr tereinander Schlusslicht. Unwesen in der politischen Verantwortung treiben. Wirt- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Hört! Hört! – Hartmut schaftssenator Gysi – ich habe das gerade wieder gehört – Schauerte [CDU/CSU]: Leider wahr!) will für nicht ausbildende Betriebe eine Zwangsabgabe einführen. Als ob wir wirtschaftliche Probleme mit noch Deutschland profitiert nur von der Stärke anderer. mehr Steuern und Abgaben lösen könnten! Deutschland ist ohne eigenen Wachstumsbeitrag. Das ist die Realität. (Susanne Kastner [SPD]: Unter dem Buchsta- ben „D“ finden Sie „Demokratie“!) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Leider wahr!) Das Konzept der CDU/CSU lautet: Herunter mit der Steuerlast, insbesondere für mittelständische Betriebe! Der Grund: Die rot-grüne Bundesregierung hat die Herunter mit Abgaben und Lohnkosten durch mutige Re- Wachstumsgrundlagen in unserem Lande schwer beschä- formen der Sozialsysteme! Weg mit der erdrückenden digt. Wir werden sie wieder in Ordnung bringen. Bürokratie, mit der Gängelung von Betrieben und Bür- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gern! Weg mit dem Stillstand auf dem Arbeitsmarkt hin zu einer Politik des Förderns und Forderns! In Deutschland macht zurzeit jede Viertelstunde – das ist die Realität; wir reden nichts herbei – ein Unternehmen (Beifall bei der CDU/CSU) Pleite. Täglich gehen im Mittelstand 1 500 Arbeitsplätze Weg von der rot-grünen Politik der Gewerkschaftsfunk- verloren. 37 Prozent aller Unternehmen in Deutschland tionäre hin zu einer Politik der Stärkung der mittelständi- haben kein Eigenkapital mehr. Die Belastungsgrenze der schen Wirtschaft! Weg mit dieser Bundesregierung zum Wirtschaft – die Älteren werden sich erinnern – ist über- Wohle dieser Bürger! schritten. Die Lage im Einzelhandel und im Versandhan- del ist verheerend. Die Lage im Bauhandwerk ist kata- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Rainer Wend strophal. Eine Regierung, die eine solche Bilanz als [SPD]: So etwas Peinliches! – Weitere Zurufe Erfolg verkauft, Herr Bundesfinanzminister, betrügt die von der SPD) 23170 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Dr. Hansjürgen Doss (A) – Herr Rechtsanwalt, Sie vertreten alles und jedes gegen Das ist so, als wenn Sie einem Olympiasieger, der auf dem (C) jede Realität; das wird klar, wenn ich Ihre Reden höre. Treppchen steht, statt ihm zu gratulieren, vorwerfen, dass er sich bei den Kreismeisterschaften gedrückt hat. Das ist Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Ihr Kommentar! (Beifall bei der CDU/CSU – Werner Schulz (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Ihr be- [Leipzig] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da schimpft die amerikanische Politik und schaut sind Sie aber auch wirklich zu Dank verpflich- auf ihre Ergebnisse!) tet! – Dr. Ruth Fuchs [PDS]: Lesen Sie mal die Bücher von Herrn Geißler, den kennen Sie Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Sie können das natürlich doch! Aber dafür muss man lesen können!) weitermachen. Sie können auch weiter versuchen, mit Herrn Brüderle in eine Konkurrenz zu treten, wer das kür- zeste Gedächtnis hat. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jörg-Otto Spiller. (Dr. Rainer Wend [SPD]: Das ist aber schwierig!) Jörg-Otto Spiller (SPD): Frau Präsidentin! Meine Das wird Ihnen aber nichts nutzen, weil sich die Men- sehr verehrten Damen und Herren! Die sechs führenden schen in Deutschland von Ihrer Art, eine schwarze La- wirtschaftswissenschaftlichen Institute, die gestern ihr terne zu schwenken, nicht beeindrucken lassen werden. Gutachten veröffentlicht haben, beginnen das Kapitel (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das haben über die Entwicklung in Deutschland mit dem Satz: wir in Sachsen-Anhalt gesehen!) Die deutsche Wirtschaft befindet sich im Frühjahr Ihre schwarze Laterne entwickelt übrigens überhaupt 2002 am Beginn eines Aufschwungs. keine Leuchtkraft. Sie fahren fort, dass dieser Aufschwung im Laufe des Ich möchte, weil das leider in der bisherigen Debatte Jahres an Dynamik gewinnen wird und dass sich die – zumindest von den Kollegen Ihrer Fraktion – überhaupt Wachstumsrate nach einem anfänglich schwächeren nicht aufgegriffen wurde, noch etwas präziser darauf Wachstum verstärken wird. zurückkommen, was denn wirklich in dem Gutachten der (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Warum ha- Institute steht. Die Institute sagen, dass alle wichtigen ben Sie denn das Wachstum kaputtgemacht?) Komponenten der Nachfrage im Laufe dieses Jahres wie- der kräftig zulegen. Der Durchschnittssatz von 0,9 Prozent bezüglich des Wachstums bedeutet, dass wir im Herbst einen richtig (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: (B) kräftigen Aufschwung in der Größenordnung von 3 Pro- Von 0,6 auf 0,9!) (D) zent haben werden. Es ist erstens das klassische Muster eines Konjunkturauf- (Beifall bei der SPD – Hartmut Schauerte schwungs in Deutschland fast immer gewesen, dass die [CDU/CSU]: Warum sollen wir Ihnen das glau- Auslandsnachfrage steigt, weil wir erfolgreich sind, weil ben? Sie haben das doch kaputtgemacht!) wir ein wettbewerbsfähiges, auch preislich wettbewerbs- fähiges Angebot haben. Was sagt die CDU/CSU dazu? – Sie malt alles schwarz, weil gute Nachrichten für unser Land Sie, Herr Wissmann Zweitens – lesen Sie doch auch einmal das Gutachten – und Herr Doss, unglücklich machen. greifen wieder, gerade auch vor diesem Hintergrund, die Ausrüstungsinvestitionen der Unternehmen. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die dritte Komponente: Die private Verbrauchsnach- frage nimmt zu, nicht ausschließlich, aber auch dadurch, Ich nenne nur ein Beispiel. Institute wie die Deutsche dass im nächsten Jahr die nächste Stufe der Steuerreform Bundesbank haben herausgestrichen, dass es der deutschen den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zusätzliches Wirtschaft trotz Abschwächung der Weltkonjunktur im ver- Geld in der Tasche lassen wird. Das wird sich ebenso wie gangenen Jahr gelungen ist, ihre Exporte weiter zu steigern. die Zunahme der Beschäftigung in einer Zunahme von Dass unser Anteil am Welthandel sich weiter erhöht hat, Kaufkraft und von Verbrauch niederschlagen. kommt doch nicht von ungefähr, das ist ein Erfolg. Die Institute haben zum ersten Mal seit langem auf das (Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Das zeigt, wie deutliche Signal verwiesen, dass die Industrie in Ost- wettbewerbsfähig wir sind!) deutschland es geschafft hat, die Wachstumsraten zu stei- Was sagen Sie dazu? Noch gestern gibt Herr Wissmann gern. Nach wie vor gibt es in Ostdeutschland Probleme eine Presseerklärung. Er kommentiert das mit der Bemer- mit der Bauwirtschaft, aber die Industrie hat höhere kung, die deutsche Wirtschaft hänge am Tropf, Wachstumsraten als in Westdeutschland. Es gelingt ihr in zunehmendem Maße, auch international erfolgreich zu (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Ja!) sein. Was ist Ihr Kommentar? – Das Schwenken der am Tropf der anderen Länder. schwarzen Laterne. (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Ja, an der Meine letzte Bemerkung betrifft den Arbeitsmarkt, wie Konjunktur der anderen, weil ihr es selber nicht sich nämlich, was Sie so gern verschweigen, die Arbeits- könnt!) losenzahlen und die Beschäftigungszahlen unter Ihrer Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23171

Jörg-Otto Spiller (A) Verantwortung entwickelt haben. Es war ein allgemeiner Diskussion über den nächsten blauen Brief begonnen (C) Niedergang des deutschen Arbeitsmarktes. Seit 1998 ver- worden ist. zeichnen wir eine Zunahme der Beschäftigung in (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) Deutschland von gut 1 Million Menschen. Herr Bundesfinanzminister, Sie müssten sich wirklich (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das ist doch schämen, eine Fälschung der Statistik!) (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND- – Das ist überhaupt keine Fälschung. Wir haben genau die NIS 90/DIE GRÜNEN) gleichen Kriterien. wenn Sie hier vor dem Deutschen Bundestag einen (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Nein!) falschen Eindruck hinsichtlich der EU-Kommission er- – Das wissen Sie auch, Herr Schauerte. wecken. Die EU-Kommission ist nun wirklich nicht ver- dächtig, christdemokratisch geprägt zu sein. (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das sind die 630-Mark-Jobs! – Dr. Rainer Wend [SPD]: Das (Susanne Kastner [SPD]: Die EU-Kommission ist das Problem, wenn man der eigenen Propa- ist mir ja richtig sympathisch!) ganda unterliegt!) Das sind in großer Mehrheit sozialdemokratische und so- Dass Sie das wider besseres Wissen immer wieder falsch zialistische Parteigänger. Der Deutschlandbericht der EU- darlegen, hätte ich Ihnen eigentlich nicht zugetraut. Kommission, gestern veröffentlicht, stellt im ersten Satz fest: Die Wachstumsrate im Jahre 2001 beträgt 0,6 Pro- Wir haben nach den gleichen Kriterien wie vorher eine zent. Das ist die schlechteste Performance der deutschen Zunahme der Beschäftigung um gut 1 Million zu ver- Wirtschaft seit 1993. zeichnen, und wir haben zum ersten Mal seit langem die Situation, dass am Beginn eines neuen Aufschwungs (Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!) – man kann auch sagen, am Ende eines Abschwungs – die – Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist die Sockelarbeitslosigkeit niedriger ist als am Ende des vor- Wahrheit. Das ist der erste Satz im Deutschlandbericht der herigen Konjunkturzyklus. EU-Kommission. Das ist die Bilanz Ihres Scheiterns. Jetzt kommt es auf Stetigkeit, Verlässlichkeit und Kon- (Beifall bei der CDU/CSU) solidierung des Haushaltes an. Das soll meine Schlussbe- merkung sein: Sie reden hier immer vom Schlusslicht; Die EU-Kommission sagt nicht nur, dass Deutsch- aber unter Ihrer Verantwortung war das genauso wie land im Jahr 2001 ein mieses wirtschaftliches Ergebnis heute. – Schlusslicht in Europa – vorlegt. Sie sagt auch, dass es (B) im Jahre 2002 zu keiner wesentlichen Verbesserung kom- (D) (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Sie men wird. Sie teilen uns heute mit, dass man wenigstens wollten doch alles besser machen!) Portugal bei den Wachstumsraten überholen werde. Herz- lichen Glückwunsch, Deutschland! Wir sind gerade ein- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Moment, der mal stärker als Portugal. Ist das wirklich eine wirtschafts- Kollege muss jetzt wirklich zum Schluss kommen. politische Erfolgsbilanz? Der Ifo-Geschäftsklima-Index, der anzeigt, wie es in Jörg-Otto Spiller (SPD): Machen Sie einmal einen der deutschen Wirtschaft weitergeht, ist heute wieder ein- Wettlauf, wenn Sie eine Zentnerlast tragen: 80 Milliarden gebrochen. Über die Agenturen läuft die Meldung, dass DM Zinsen jedes Jahr! das Geschäftsklima unerwartet wieder pessimistisch ist. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Deutsche Ein- (Hubertus Heil [SPD]: Das stimmt doch heit! Die hätten Sie am besten gar nicht ge- nicht!) macht, oder was? Unglaublich!) Hier redet keiner schlecht. Wir sagen nur die Wahrheit. Wenn Sie uns diese Schulden nicht hinterlassen hätten, Wir täuschen nicht. Wir tricksen nicht, wir informieren wären wir Weltmeister – auch bei der Binnenkonjunktur. die deutsche Öffentlichkeit über die wirtschaftliche Lage. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – La- DIE GRÜNEN) chen des Abg. Werner Schulz [Leipzig] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Herr Bundesfinanzminister, was liefern Sie ab? Sie jetzt der Abgeordnete Steffen Kampeter. tricksen, Sie täuschen. Gestern, als die EU-Kommission diese Watsche für Ihre Wirtschafts- und Finanzpolitik aus- geteilt hat, saßen Sie im Haushaltsausschuss. Sie haben Steffen Kampeter (CDU/CSU): Frau Präsidentin! sich nicht getraut, uns darüber zu informieren. Sie haben Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die hektische über Gott und die Welt und über die Frage diskutiert, ob Rede des Bundesfinanzministers war kein besonders sou- 1,25 Prozent mehr oder weniger als 1 ¼ Prozent sind. veräner Auftritt eines Bundesministers der ehemaligen Aber Sie haben sich zu dem Zeitpunkt, als die EU-Kom- Führungsnation in Europa. Er wirkte eher wie ein Schüler, mission Sie abgewatscht hat, nicht getraut, sich vor der ertappt wurde, weil in Brüssel heute schon wieder die dem Haushaltsausschuss und vor der Öffentlichkeit dieser 23172 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Steffen Kampeter (A) vernichtenden wirtschaftspolitischen Bilanz Ihrer sozia- betriebliche Bündnisse für Arbeit schaffen. Wir brauchen (C) listischen Parteifreunde aus Brüssel zu stellen. eine Offensive für Entbürokratisierung. Es kann nicht sein, dass eine Industrieanlage zu bauen in diesem Land (Beifall bei der CDU/CSU) genauso schwierig ist, wie einen Schweinestall aufzu- Dass Sie auch zukünftig auf diese Art und Weise vor- bauen. Die Vorschriften müssen durchlüftet werden. gehen wollen, konnten wir kürzlich in der Wirtschafts- (Dr. Rainer Wend [SPD]: Besser die Schwei- presse lesen. Ich zitiere aus der „Frankfurter Allgemeinen neställe durchlüften!) Zeitung“ von vor zwei Wochen: Eichel bemüht sich um ein statistisch höheres Wachstum. – Meine sehr verehrten Wir müssen vor allen Dingen etwas für den Mittelstand Damen und Herren, wir brauchen keinen Finanzminister, tun. Der Chef der Handwerksorganisation, Philipp, hat zu der sich um die Statistik kümmert, der die Statistik fäl- Protokoll gegeben – schen und manipulieren möchte. (Susanne Kastner [SPD]: Jetzt, Herr Kampeter, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, ist es aber wirklich genug!) achten Sie ein bisschen auf Ihre Redezeit. Wir brauchen eine erfolgreiche Politik für mehr Wachs- tum und Beschäftigung in unserem Land. Steffen Kampeter (CDU/CSU): – ich komme sofort zum Schluss, Frau Präsidentin –, (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der (Beifall des Abg. Hubertus Heil [SPD] – SPD: Was schlagen Sie denn vor?) Hubertus Heil [SPD]: Gott sei Dank!) Auch das Frühjahrsgutachten, das Sie vorhin hier als Referenz herangezogen haben, sagt, die eichelsche Fi- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bitte. nanzpolitik wirke dämpfend auf die wirtschaftliche Ent- wicklung. Steffen Kampeter (CDU/CSU): – dass Bayern hin- (Hubertus Heil [SPD]: Ich finde, Sie sollten sich sichtlich Kapitalisierung, Wachstum und Überlebens- langsam etwas mäßigen, Herr Kollege!) fähigkeit über dem Bundesdurchschnitt liegt. Die selbst gesetzten Konsolidierungsziele Ihrer Politik Unsere Politik wird nach dem 22. September 2002 werden nicht erreicht. Lediglich der Geldpolitik schreibt dazu führen, dass es den Unternehmen in Gesamt- das Frühjahrsgutachten expansive Impulse zu. Diese wird deutschland so gut wie dem Handwerk in Bayern geht. ja von einer Gott sei Dank unabhängigen Europäischen Daran wirken wir gemeinsam aktiv mit. Zentralbank gemacht. (B) Ich danke Ihnen. (D) Sie greifen heute die Opposition an. Da ruft doch der Täter: Haltet den Dieb! – Das lassen wir Ihnen nicht (Beifall bei der CDU/CSU) durchgehen. Wir brauchen endlich eine Offensive für mehr Wachstum und Beschäftigung in Deutschland. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat (Beifall bei der CDU/CSU – jetzt die Abgeordnete Andrea Fischer. [Heidelberg] [SPD]: Die tragen Sie jetzt vor, gell?) Andrea Fischer (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Frau Präsidentin! Herr Kollege Kampeter, nach Das Ziel des gesamtwirtschaftlich ausgeglichenen Ihrem Auftritt brauchen Sie jetzt nicht mehr darüber zu re- Haushalts, das Sie vor einigen Wochen im Finanzpla- den, wer hier souverän und cool ist. Das ist offenkundig nungsrat angegeben haben, setzt voraus, dass der Bund in geklärt. den nächsten Jahren ein Konsolidierungsprogramm in ei- ner Größenordnung von 16 Milliarden Euro auflegen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN muss. Heute vor dem Deutschen Bundestag gab es kein sowie bei Abgeordneten der SPD) Wort über dieses gegebene Versprechen! Es gibt keine Die ganze Zeit haben Sie gesagt, Sie wollten auf gar Perspektive – und dies, obwohl Ihnen, sehr geehrter Herr keinen Fall tricksen und täuschen, wir aber täten dies. Wir Bundesfinanzminister, trotz hoher Steuereinnahmen bei- sollten uns die diversen Zahlen, die wir uns hier alle um spielsweise sämtliche Tilgungsleistungen im Fonds die Ohren hauen, ein bisschen genauer ansehen. Niemand „Deutsche Einheit“ gestreckt werden. Der dadurch ent- bestreitet, dass die Lage besser sein könnte. Wir hätten standene große finanzpolitische Spielraum müsste Ihnen alle gern ein höheres Wachstum. eigentlich für ein Feuerwerk reichen. Sie aber täuschen, tricksen und stellen die Wirklichkeit verzerrt dar. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Aha! Da sind Sie aber heute die Erste von Ihrer Fraktion hier (Beifall bei der CDU/CSU – Lothar Binding am Rednerpult! – Hartmut Schauerte [Heidelberg] [SPD]: Das ist falsch!) [CDU/CSU]: So ehrlich hat das noch niemand gesagt!) Wenn man eine Konsolidierung erreichen möchte, braucht man in erster Linie eine Wachstumsorientierung. – Nun seien Sie doch einmal ruhig. – Es stellt sich die in- Der Kollege Doss hat insbesondere den Arbeitsmarkt an- teressante Frage, ob die Lage wirklich so desaströs ist geführt. Wir müssen die Schranken für mehr Beschäfti- oder ob Ihnen die rote Laterne eines Tages krachend auf gung in Deutschland wegräumen und Möglichkeiten für die Füße fällt, wenn Sie noch lange mit ihr fuchteln. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23173

Andrea Fischer (Berlin) (A) Wenn man sich den Bericht der EU-Kommission ge- besten so etwas wie Sie wählen sollte. Dann müsste sie in (C) nauer anschaut, stellt man fest: Der zuständige Kommis- der Tat sehr verzweifelt sein. sar sagt, er sei optimistisch, dass es im nächsten halben Jahr besser gehe. Ich würde Sie gern bitten, noch weiter (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- zuzuhören. Ich habe zum Beispiel gelesen, dass der Kol- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) lege Brüderle den Ifo-Index bemüht hat, um zu beweisen, Wir wären gut beraten, nicht so verzweifelt zu sein, zu ei- dass die Lage schlecht ist. nem so falschen Mittel zu greifen. Ich habe eben gesagt: (Rainer Brüderle [FDP]: Das ist leider so!) Von mir aus kann die Lage besser sein. Natürlich ist nie- mand von uns damit zufrieden, dass wir beim Abbau der – Herr Brüderle, seien Sie ganz ruhig. Auch dies fällt Ih- Arbeitslosigkeit nicht so weiterkommen, wie wir das alle nen auf die Füße. – Der Chefvolkswirt des Ifo-Instituts wollen. sagt zu dem Einbruch bei den aktuellen Zahlen des Ifo-In- dex, dass dies ein kurzzeitiger Dämpfer sei. Tendenziell Aber was sind denn Ihre Rezepte? Sie wollen die gehe es weiter nach oben. Es wäre auch geradezu ein Wun- Staatsquote, die Sozialversicherungsbeiträge und den der, wenn dieser Index immer nur nach oben gehe. An dem Spitzensteuersatz senken. langfristigen Pfad sei aber nichts zu deuteln. Der Index ist (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig! zurzeit auch deutlich besser als im vergangenen Jahr. Dreimal 40!) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Da war er auch Das ist sicherlich ein richtig geniales Programm. Auf der endgültig am Boden! – Hartmut Schauerte einen Seite gibt es weniger Einnahmen, weil weniger Ein- [CDU/CSU]: Auf niedrigstem Niveau!) kommensteuer eingenommen und die Ökosteuer ausge- Das Statistische Bundesamt hat uns gerade Zahlen vor- setzt wird. Auf der anderen Seite haben wir mehr Ausga- gelegt, die zeigen, dass die Exporte wieder deutlich stei- ben, zum Beispiel beim Kindergeld, bei dem Sie völlig gen, dass sie inzwischen nur noch 0,5 Prozent unter den aberwitzige Dinge versprechen. Zahlen von Februar liegen und der Rückgang der Exporte nach wie vor im Wesentlichen auf den Einbruch der Nach- (V o r s i t z : Vizepräsidentin ) frage nach dem 11. September 2001 zurückzuführen ist. Ich erinnere mich an die Rentendebatten mit Ihnen, bei Man ist optimistisch – dies gilt nicht nur für das Statisti- denen Sie immer noch etwas draufsatteln wollten, wenn sche Bundesamt, sondern auch für andere volkswirt- Sie begründen mussten, warum Sie nicht mitmachen. Sie schaftliche Fachleute –, dass der Welthandel in diesem wollen in der Gesundheitspolitik zwar sparen, dies aber in Jahr deutlich zulegt. Davon wird vor allen Dingen einer Art und Weise tun, für die Sie 1998 abgewählt wur- Deutschland profitieren, weil es hauptsächlich um Ein- den. Dabei wünsche ich Ihnen viel Vergnügen. (B) käufe bei Vorleistungs- und Investitionsgütern geht und (D) weil Deutschland seit der 90er-Jahre seine Wettbe- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- werbsfähigkeit deutlich verbessert hat. SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Ich will Ihnen noch eine letzte Zahl nennen, damit Sie All das wird weniger Einnahmen auf der einen Seite wissen, warum ich glaube, dass Sie sich hinter der roten und mehr Ausgaben auf der anderen Seite mit sich brin- Laterne eher verstecken, als dass Sie uns damit heim- gen, und zwar in einer gewaltigen Größenordnung. Das leuchten könnten. Die ausländischen Direktinvestitionen soll dann – das entnehme ich einem Interview mit Herrn sind von 1998 bis heute von 5 Milliarden DM auf rund Schäuble – mit Wirtschaftswachstum finanziert werden. 45 Milliarden DM gestiegen. Das nenne ich das Prinzip Hoffnung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Hubertus Heil [SPD]: Eine Täuschung ist das! – sowie bei Abgeordneten der SPD) Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Und Sie verkör- Soviel dazu, dass dieses Land – – pern das Prinzip Enttäuschung!) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das mag alles Ich glaube nicht, dass wir gut beraten wären, uns dem stimmen, aber gehen Sie doch einmal in die anzuschließen. Der Wähler wird sich davon nicht täu- Realität und schauen Sie sich die Betriebe an, schen lassen. Es funktioniert nicht, immer weniger Geld Frau Fischer!) einzunehmen und immer höhere Ausgaben zu machen. Vielleicht haben Sie die Idee im Kopf, dass die Leute – Wir sagen nicht, dass es keine Probleme gibt. Das steht hinterher freiwillig Steuern spenden oder ähnliche nicht zur Debatte. Scherze machen sollen. Wenn Sie solche innovativen (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Nennen Sie Gedanken haben, dann würden wir sie gerne hören. Aber doch mal ein Problem! Ausgerechnet die Grü- mit dem Programm, das Sie uns vortragen, glaube ich nen sollen für Wachstum sorgen! – Steffen nicht, dass Sie das Wachstum in irgendeiner Form Kampeter [CDU/CSU]: Sagen Sie das mal stimulieren könnten. Sie werden damit nur einen Ein- Ihrem Herrn Eichel! Sie sind das Problem! Ihre bruch erreichen. Koalition ist das schlimmste Wachstumshinder- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nis für Deutschland!) und bei der SPD) – Meine Herren, nun seien Sie doch einmal ganz gelassen. Ich kann hier nur noch einmal feststellen: Sie stellen Vizepräsidentin Anke Fuchs: Das Wort hat jetzt die die These auf, die Lage sei so verzweifelt, dass man am Kollegin Dagmar Wöhrl für die CDU/CSU-Fraktion. 23174 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

(A) Dagmar Wöhrl (CDU/CSU) (von Abgeordneten der Wenn Sie in einer Diskussionsrunde außerhalb dieses Par- (C) CDU/CSU mit Beifall begrüßt): lamentes fragen würden: Kann mir jemand eine Person (Hubertus Heil [SPD]: Hat Frau Wöhrl auch nennen, die in der jetzigen Regierung für den Mittelstand Geburtstag?) steht?, dann würde sich – darin bin ich mir sicher – keine Hand rühren; denn es gibt keine Person, die in dieser Re- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! gierung für den Mittelstand steht. Prognostiziert wurde ein Wachstum von 0,9 Prozent. Ver- kauft wird das als Aufschwung. In Ihrem Bericht ist im- (Susanne Kastner [SPD]: So ein Quatsch! Es mer noch von 0,75 Prozent die Rede. Warum revidieren gibt dafür eine eigene Staatssekretärin!) Sie diese Zahl nicht, wenn Sie so sehr an den Aufschwung Das einzig Neue, das Sie momentan in die Diskussion ein- glauben? Wir sind die größte Volkswirtschaft in Europa. gebracht haben, ist Ihr Vorschlag, eine Mittelstandsbank Sie haben einen großen Fehler gemacht: Sie haben Ihre einzurichten. Wahrscheinlich haben Sie das nur vorge- Reformen nicht in guten Zeiten angepackt, als sie noch schlagen, weil Sie das Wort „Mittelstand“ wieder in den möglich gewesen wären, nämlich im Jahr 2000. Mund nehmen wollten. Es wird immer vom Geschäftsklimaindex gesprochen. (Widerspruch bei der SPD) Wenn Sie sich wirklich intensiv mit dem Geschäftsklima- index auseinander gesetzt hätten, dann würden Sie sehen, Was haben Sie denn gemacht? Sie haben den Arbeits- dass er vom Export getragen wird. Schauen Sie sich den markt für den Mittelstand noch mehr zubetoniert und Handel an. In diesem Bereich gab es ein Minuswachstum noch unbeweglicher gemacht. Sie werden jetzt bestimmt von über 10 Prozent. Was zeigt uns das? – Das zeigt, dass sagen: Jetzt kommt sie schon wieder mit den 630-DM- unser Problem die Binnenkonjunktur ist. Sie haben in die- Jobs an. Aber das ist ein wichtiger Punkt. Deswegen spre- sem Bereich keine Reform angepackt, um hier Verbesse- che ich ihn wieder an. Eine der ersten Maßnahmen, die rungen auf den Weg zu bringen. wir auf den Weg bringen werden, wenn wir wieder an der Sie verweisen immer nur auf Dritte, zum Beispiel auf Regierung sind, ist, dass die Arbeitnehmer 400 Euro cash die Weltwirtschaft. Das ist ein reines Ablenkungsmanö- verdienen können, ohne Sozialversicherungsbeiträge zah- ver. Ihre wirtschaftlichen Negativzahlen sind keine Natur- len zu müssen. ereignisse, die plötzlich hereingebrochen sind. Vielmehr (Beifall bei der CDU/CSU) ist der Grund eine große Zahl von sozialpolitischen Fehl- entscheidungen, die Sie zu verantworten haben. Das wird nicht nur für die geringfügigen Beschäftigungs- verhältnisse, sondern auch für die Nebenbeschäftigungs- (Beifall bei der CDU/CSU) verhältnisse gelten. (B) Sie haben falsche Diagnosen gestellt. Wenn man falsche (Hubertus Heil [SPD]: Damit die Sozialversi- (D) Diagnosen stellt, dann kann man nicht zu einer richtigen cherungsbeiträge nach oben gehen, oder?) Therapie kommen. Denn es gibt auch andere Riesenprobleme: In Deutsch- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr!) land ist die Kaufkraft viel zu gering. Für die Steigerung Bei Ihnen zeigt sich immer wieder eine eklatante Un- der Kaufkraft sind auch die 325-Euro-Jobs wichtig. Wir kenntnis über wirtschaftspolitische Zusammenhänge. Das müssen nicht nur im Niedriglohnsektor neue Wege gehen. zieht sich wie ein roter Faden durch Ihre ganze Wirt- Auch im ehrenamtlichen Bereich und in vielen anderen schaftspolitik. Bereichen spielen die 325-Euro-Jobs eine wichtige Rolle. (Beifall bei der CDU/CSU – Hartmut Was haben Sie mit Ihrem Gesetz zur Regelung des Teil- Schauerte [CDU/CSU]: Von Wirtschaft ver- zeitanspruchs tatsächlich erreicht? Sie haben uns Frauen steht ihr nichts!) mit diesem Gesetz gelockt und argumentiert, dass es mehr Warum spricht die „Financial Times“ davon: Do some- Teilzeitarbeitsplätze für Frauen geben müsse. Das ist voll- thing, ! Ich kann Ihnen nur zurufen: Tun Sie end- kommen richtig. Teilzeitarbeitsplätze sind sehr wichtig. lich etwas! Aber die ersten Ergebnisse nach Einführung dieses Ge- setzes haben gezeigt, dass sich dies als ein Bumerang für (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Treten Sie die Frauen erwiesen hat. Wen werden die Unternehmer zurück! – Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Und heute denn als Vollzeitkraft einstellen, wenn sie sich zwi- wenn nicht, treten Sie zurück? Tun Sie wenigs- schen einem Mann und einer Frau entscheiden müssen? tens das?) Es ist doch klar, dass die Unternehmer den Mann einstel- Nehmen Sie endlich Ihre Hände aus dem Schoß! Werden len wollen, weil sie genau wissen, dass die Frau irgend- Sie aktiv! Harren Sie nicht der Dinge, die irgendwelche wann einmal ihren Teilzeitanspruch geltend machen wird. Dritte für Sie erledigen sollen, die Sie aber längst hätten Ich erwähne nur dieses Beispiel. Es ist nur eines von vie- machen müssen. len für Ihre verfehlte Politik. Die Achillesferse ist Ihre verfehlte Mittelstandspolitik (Susanne Kastner [SPD]: Weil die Männer während Ihrer ganzen Regierungszeit. Ich finde in dieser keinen Erziehungsurlaub nehmen!) Bundesregierung keinen einzigen Menschen, der sich für Der Minister hat vorhin angesichts der Arbeitslosen- den Mittelstand einsetzt. zahlen davon gesprochen, wie er den Arbeitsmarkt ent- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Frau Wolf lastet habe. Er hat darauf hingewiesen, dass es 500 000 ist jetzt weg!) weniger Arbeitslose gebe. Ich habe das Gefühl, von dem Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23175

Dagmar Wöhrl (A) Wort Demographie hat diese Regierung noch nichts Die Investitionen und auch die Exporte in die USA neh- (C) gehört. Sie sollten sich das Gutachten des IAB noch ein- men zu. Das bedeutet natürlich einen Aufschwung für un- mal zu Gemüte führen, das 1998 veröffentlicht worden ist. sere Wirtschaft. Das können Sie an den Gewinnerwartun- Dort heißt es, nur aufgrund des demographischen Faktors gen erkennen, die die großen Unternehmen heute bekannt werde es in den nächsten vier Jahren 1 Million Arbeitslose gegeben haben. Das sind gute Nachrichten für den Stand- weniger geben. ort Deutschland. Die Menschen haben wieder mehr Geld in der Tasche. Alleine im Jahr 2001 hatten sie durch un- sere Steuerreform 45 Milliarden DM mehr zur Verfügung. Vizepräsidentin Anke Fuchs: Frau Kollegin, Ihre Das macht sich auch beim privaten Konsum bemerkbar. Redezeit ist abgelaufen. Wir sind in der Aktuellen Stunde. Wenn Sie das Gutachten richtig lesen, dann werden Sie das auch erkennen. Dagmar Wöhrl (CDU/CSU): Das heißt, wenn Sie Wir stehen vor einem Konjunkturaufschwung. Dieser nichts getan hätten, hätten Sie allein 1 Million weniger Aufschwung wird im Laufe des Jahres an Geschwindig- Arbeitslose und nicht nur 500 000. keit zunehmen. Davon wird auch der Arbeitsmarkt profi- (Susanne Kastner [SPD]: Arbeitsplätze haben tieren. Das Gutachten bescheinigt uns eine Trendwende wir auch mehr! Das haben Sie nicht gesagt!) im Sommer dieses Jahres. Dass wir in den letzten drei Jah- ren 1 Million zusätzlicher Arbeitsplätze für Deutschland Ich kann nur eines sagen: Sie haben nicht mehr viel erreicht haben, Zeit. Aber nützen Sie wenigstens die verbleibende Zeit bis zur Wahl! Bringen Sie endlich etwas auf den Weg! (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: 630-Mark- Jobs sind das!) Vielen Dank. ist ein guter Anfang, an dem wir anknüpfen werden. (Beifall bei der CDU/CSU) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie wollten 3,5 Millionen Arbeitslose erreichen! Wo stehen Vizepräsidentin Anke Fuchs: Nun erteile ich für die Sie denn jetzt, Frau Hauer?) SPD-Fraktion das Wort der Kollegin Nina Hauer. – Wissen Sie, Ihr Geblöke stört mich überhaupt nicht. Nina Hauer (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen (Beifall bei der SPD – Steffen Kampeter und Herren! Liebe Frau Kollegin Wöhrl, Sie wissen nicht, [CDU/CSU]: Uns stört die Rednerin!) wer in der Bundesregierung oder in der SPD für den Mit- Ich habe früher kleine Jungs unterrichtet. Da ist man es telstand zuständig ist? (B) gewohnt, dass ab und zu einer dazwischenblökt. Deswe- (D) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Wer denn?) gen wird Ihre Strategie nicht aufgehen. Ich sage es Ihnen: Hans Eichel – er sitzt auf der Regie- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Frau Präsi- rungsbank –, dentin, „blöken“ ist etwas aus der Tiersprache! – Gegenruf des Abg. Hubertus Heil [SPD]: So (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das ist der benehmen Sie sich auch!) Freund der Bosse und der Konzerne! – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Er begünstigt die Kon- zerne, sonst macht er gar nichts!) Vizepräsidentin Anke Fuchs: Das Beste ist immer, wenn man einander zuhört. Ich gebe der Kollegin Hauer Werner Müller, Ditmar Staffelt, Joachim Poß. Soll ich Recht, dass die Art und Weise, in der Zurufe gemacht wer- diese Liste fortsetzen oder können Sie sich so viele Na- den, ein bisschen störend ist. Wir sollten uns darauf ver- men nicht merken? ständigen, dass wir etwas mehr zuhören. Sie wissen, dass (Lachen bei der CDU/CSU) ich eine ganz eifrige Zwischenruferin bin. Aber manch- mal ist es einfach zu laut, Herr Kampeter, wenn ich mir Es geht aufwärts mit der Konjunktur in Deutschland. diese Bemerkung erlauben darf. Das bescheinigen uns die Wirtschaftsforschungsinstitute. Das bedeutet für Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Blöken ist der CDU/CSU: Ihre Wahlkampfstrategie ist im Eimer. Die auch nicht gut!) Debatte über das wirtschaftliche Wachstum in Deutsch- Frau Kollegin Hauer, Sie haben das Wort. land werden Sie verlieren. (Beifall bei der SPD) Nina Hauer (SPD): Das Gutachten stärkt die Wirt- Das Geschäftsklima hat sich verbessert. Die Erwartun- schaftspolitik der SPD-Regierung unter Gerhard gen der Unternehmen verbessern sich. Schröder. Insoweit wäre es jetzt ein günstiger Zeitpunkt für Sie, mit uns einen Ideenwettbewerb für die Zukunft zu (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Würden Sie eröffnen. sich heute selbstständig machen? – Steffen (Beifall bei der SPD) Kampeter [CDU/CSU]: Nein, die ist Lehrerin! Sie weiß gar nicht, wovon sie redet! – Hartmut Aber Sie haben keine Ideen. Wenn ich mir das wenige an- Schauerte [CDU/CSU]: Sie reden doch wie eine schaue, das von Ihnen kommt – man weiß ja nie, ob es von Blinde von der Farbe!) der CDU oder von der CSU kommt; Sie sind sich nicht 23176 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Nina Hauer (A) einig und niemand weiß, was Ihr Kandidat am nächsten vermutlich daran, dass Sie immer noch nicht verstanden (C) Morgen sagen wird –, haben, warum wir sie eingeführt haben. Unser internatio- nal wettbewerbsfähiges Steuerrecht – die Wettbewerbs- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Gucken Sie fähigkeit wird auch durch das Halbeinkünfteverfahren sich mal die heutigen Kommentare zu Ihrem gestärkt – wird in diesem Gutachten gelobt. Dass Ver- Wahlprogramm an!) äußerungsgewinne steuerfrei sind, hat nicht nur etwas mit dann stellt man fest, dass Sie sich darauf verlegen, im Steuersystematik zu tun, sondern auch damit, dass man Deutschen Bundestag das schlecht zu reden, was unsere dann, wenn man sie besteuerte, auch die Verluste absetz- Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sowie die Unter- bar machen müsste. Überlegen Sie sich einmal, was dies nehmen leisten. für die deutsche Wirtschaft und vor allen Dingen für un- seren Haushalt bedeutete! (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Denunzie- ren Sie nicht unsere Wirklichkeitsbeschrei- Meine Damen und Herren, Sie haben wirtschaftspoli- bung!) tisch nichts in der Tasche. Daran kann man schon erkennen, dass Sie keine wahren (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie klop- Partner des Mittelstandes sind. fen hier nur große Sprüche mit wenig Sub- stanz!) (Beifall bei der SPD) Für uns ist die Botschaft klar: Ihre Wahlkampfstrategie ist Anderenfalls würden Sie die Leistungen, die in einer welt- im Eimer. Mit dem wirtschaftlichen Wachstum in politisch schwierigen Situation erbracht werden, besser Deutschland geht es bergauf. Unsere Politik wird be- honorieren, statt sie in Grund und Boden zu reden. stätigt. Wir sind auf dem richtigen Wege. Die Verwirklichung Ihrer Vorschläge würde Milliarden Euro kosten. In diesem Gutachten steht, der Haushalts- Vielen Dank. konsolidierungskurs von Hans Eichel sei der einzig gang- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ bare Weg – dies gelte auch für das Wirtschaftswachstum –, DIE GRÜNEN) während Sie mit der von Ihnen geplanten höheren Ver- schuldung eine Katastrophe anrichten würden. Das ist ei- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Jetzt hat der Kollege ner der wichtigen Gründe, die deutlich machen, dass Sie Max Straubinger für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. im Hinblick auf die nächsten vier Jahre kein konstrukti- ves Angebot machen können. Max Straubinger (CDU/CSU): Frau Präsidentin! (Beifall bei der SPD – Dr. Hansjürgen Doss Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Frühjahrsgut- (B) [CDU/CSU]: Ihr Programm heißt Gerhard statt (D) achten der Wirtschaftsforschungsinstitute zeigt sehr deut- Inhalt!) lich das Versagen der rot-grünen Politik in der Vergan- Ich komme zur Steuerpolitik. Das, was Ihr Kandidat genheit auf. dazu sagt, kann uns eigentlich nur freuen. Er sagt, er (Beifall bei der CDU/CSU) werde die Steuerreform nicht zurückdrehen und die von uns durchgesetzten Entlastungen bis 2005 beibehalten. Am besten wird das eben mit der roten Laterne zum Aus- Zusätzlich will er den Spitzensteuersatz senken. Das ken- druck gebracht, die von Ernst Hinsken zu Recht der Bun- nen wir noch aus der Debatte über die Steuerreform; auch desregierung überreicht wurde. seinerzeit haben Sie sich vor allen Dingen dem Spitzen- (Beifall bei der CDU/CSU) steuersatz gewidmet. Ich frage gerade diejenigen von Ih- nen, die sich noch dafür interessieren, welche Steuern der Ausdruck dieser Politik sind die verfehlten Schritte – Frau Mittelstand zahlt. Kollegin Wöhrl hat schon darauf hingewiesen – beim 325-Euro- bzw. 630-Mark-Gesetz, bei der Diskussion um (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie haben von Scheinselbstständigkeit, beim Betriebsverfassungsgesetz Steuerpolitik leider keine Ahnung!) und beim Teilzeitarbeitsgesetz. Hierbei handelt es sich um Welcher Handwerker kommt mehrere Jahre hintereinander eine politische Fehlentscheidung nach der anderen. auch nur in die Nähe des Spitzensteuersatzes? Was hat es Ihrer Klage, Herr Bundesfinanzminister, von vorhin, mit einem Programm für den Mittelstand zu tun, wenn Ihr wir hätten die Gesundheitspolitik der Koalition zu Beginn Kandidat erklärt, der Spitzensteuersatz müsse herunter? dieser Legislaturperiode blockiert (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Hubertus Heil [SPD]: Das stimmt!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) – Sie taten ganz überrascht –, müssen wir mittlerweile Meine Damen und Herren, Ihre Politik würde die wirt- die Erkenntnis entgegensetzen: Sie haben die richtige schaftliche Entwicklung in Deutschland bremsen. und sozial verantwortbare Gesundheitsreform von Herrn (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das glaubt Seehofer unter der Regierung von Helmut Kohl in einzel- außer Ihnen kaum einer!) nen Schritten zurückgeführt, was jetzt zu Mehrbelastun- gen für die Versicherten und darüber hinaus zu weiteren Ich sage noch etwas zu dem, was Herr Stoiber auch im- Defiziten bei den gesetzlichen Krankenkassen geführt hat. mer ins Feld führt: die Steuerfreiheit für Veräußerungsge- winne. Ich weiß, sie ist Ihnen ein Dorn im Auge. Das liegt (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23177

Max Straubinger (A) Dies ist genau der Punkt; denn auch im Gutachten wird werden Reformen im Niedriglohnbereich und beim (C) angemahnt, dass gerade in diesem Bereich unbedingt Re- 325-Euro-Gesetz tätigen und sind auch bereit, steuerliche formen umgesetzt werden müssen, durch die man die Belastungen zurückzuführen, indem wir bei der unsozia- Ausgaben in den Griff bekommt und die Beitragszahler len Steuerreform, die Sie in Gang gesetzt haben und die nur nicht zu Unrecht weiter zusätzlich belastet. die Großkonzerne von der Körperschaftsteuer befreit, aber den breiten Mittelstand und die Arbeitnehmerinnen und Das Wirtschaftsgutachten zeigt auch sehr deutlich, Arbeitnehmer in unserem Land belastet hat, umsteuern. dass Rot-Grün noch in vielen anderen Politikbereichen versagt hat. So wurde hier beklagt, dass die Investitionen (Beifall bei der CDU/CSU – Lothar Binding zu gering ausfallen. Von staatlicher Seite her kennen wir [Heidelberg] [SPD]: Das machen Sie durch die es: Rot-Grün kann nicht sparen, Senkung des Spitzensteuersatzes?) (Susanne Kastner [SPD]: Bitte? Wovon reden Es geht nicht allein um die wirtschaftlichen Rahmen- Sie eigentlich?) daten, sondern es geht natürlich auch um die ideologisch verbrämte Politik von Rot-Grün. und wenn Sie sparen, sparen Sie bei den Investitionen. Das ist letztendlich eines der Übel. Auch die Investitionen in (Zuruf von der SPD: Aha!) der Bauwirtschaft sind rückläufig. Dies ist in einem engen Wenn Rot-Grün einen einseitigen Beschluss zum Aus- Zusammenhang mit einer Mietrechtsreform zu sehen, die stieg aus dem Bereich der friedlichen Nutzung der Kern- dem privaten Wohnungsbau keine zusätzlichen Impulse energie fasst, dann bedeutet das ein Minus von verleiht, sondern ihn im Gegenteil einschränken wird. 200 000 Arbeitsplätzen in unserem Land und ein Minus (Beifall bei der CDU/CSU) hinsichtlich der Wirtschaftskraft, das dadurch entsteht. Darüber hinaus ist sicherlich auch die schlechte Ren- Wenn die SPD in einzelnen Bundesländern bereit ist, tenreform zu beklagen. Was hat sie gebracht? – Steigende mit einer Partei wie der PDS zusammenzuarbeiten, dann Beitragszahlungen für die Versicherten und die Belastung ist auch das nicht dazu angetan, die wirtschaftlichen durch die Ökosteuer. Sie wollen – angebliche – Reformen Kräfte in unserem Land zu stärken. Im Gegenteil: Mit ei- in der Rentenpolitik nur über zusätzliche Einnahmen ner Partei, die letztendlich weiterhin einer Verstaatlichung durchführen, die zu steuerlichen Belastungen der Arbeit- der Betriebe frönt, kann man keinen Staat machen und nehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem Land führen. keine wirtschaftlichen Impulse setzen. Dies kann nicht gut gehen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Das zeigen sehr deutlich auch die jetzigen Ergebnisse Dr. Barbara Höll [PDS]: Lesen Sie doch einmal des Gutachtens: Zukünftig müssen große Anstrengungen das Wahlprogramm!) (B) unternommen werden, um 16 Milliarden Euro – der Kol- (D) lege Kampeter hat schon darauf hingewiesen – einzuspa- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Herr Kollege, Ihre ren. Zugleich sind auch mögliche Steuerausfälle in Höhe Redezeit ist weit überschritten. von 12 Milliarden DM in diesem Jahr aufgrund des Rück- gangs der wirtschaftlichen Tätigkeit in unserem Land zu bewältigen. Max Straubinger (CDU/CSU): Jawohl. – Deshalb ist es Zeit, dass die Regierung abgelöst wird – die Wähle- (Beifall bei der CDU/CSU) rinnen und Wähler haben am vergangenen Sonntag in Verehrte Damen und Herren, das zeigt, dass die Bun- Sachsen-Anhalt dementsprechend gehandelt –, desregierung ihre Hausaufgaben nicht gemacht hat. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Susanne Kastner [SPD]: Aufhören!) Sie ist auch nicht bereit, diese Hausaufgaben zu erledigen. damit die Wirtschaftsinstitute zukünftig wieder bessere Daten und bessere Zukunftsprognosen im Sinne der Men- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Arbeitsver- schen in unserem Land liefern können. weigerung!) Besten Dank für die Aufmerksamkeit. Die Kollegin Hauer hat ja eben einen Ideenwettbewerb unter den Parteien eingefordert. Da fragt man sich natür- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des lich: Wie kann ein Ideenwettbewerb angesichts eines Abg. Rainer Brüderle [FDP]) Bundestagswahlprogramms stattfinden, das im Prinzip nur die Überschrift trägt: Gerhard statt Inhalt? Vizepräsidentin Anke Fuchs: Als letztem Redner in (Beifall bei der CDU/CSU – Lothar Binding dieser Aktuellen Stunde erteile ich das Wort dem Kolle- [Heidelberg] [SPD]: Jetzt kommt Ihr Vor- gen Hubertus Heil für die SPD-Fraktion. schlag! – Hubertus Heil [SPD]: Lesen Sie es (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Schon wieder doch einmal!) so ein Altjuso!) Auf diese Weise können keine Ideen für die Zukunft ent- wickelt werden. Hubertus Heil (SPD): Frau Präsidentin! Meine Da- Wir wollen Sachaussagen einbringen. Die bringen wir men und Herren! Der Aufschwung in Deutschland ge- – die Kollegin Wöhrl hat bereits darauf hingewiesen –: Wir winnt kräftig an Fahrt. Das ist die wesentliche Botschaft 23178 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Hubertus Heil (A) des Gutachtens. Das können Sie nicht herunterreden. wir haben die Altersversorgung in Deutschland moder- (C) Dass das nicht in das Wahlkampfkonzept von Herrn nisiert und wir haben – im Gegensatz zu Ihnen – mit der Stoiber passt, ist das Problem der CDU/CSU, nicht der Konsolidierung des Haushalts begonnen. Menschen in Deutschland. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wer sollte (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ denn den blauen Brief bekommen?) DIE GRÜNEN) Warum haben Sie diesen Weg nicht 1996 beschritten, den Wir müssen uns sowohl über die im Gutachten aufge- Hans Eichel erst 1999 mit unserer Unterstützung einleiten führten Indikatoren, die den Aufschwung anzeigen, als konnte? Warum haben Sie das nicht getan? Da Sie das auch über die Ursachen des Aufschwungs unterhalten. nicht getan haben, sollten Sie dazu schweigen. Jenseits dessen, was hier zum Teil vorgetragen wurde, Ich will etwas zu der Kollegin Wöhrl sagen, die vorhin will ich Fakten nennen. Wir haben – das sagt auch das gefragt hat, was in dem Entwurf unseres Wahlprogramms Gutachten aus – eine verbesserte Geschäftserwartung. Sie zum Thema Mittelstand steht. Wir sind uns im Wirt- hat sich – das will ich deutlich sagen – im Frühjahr ver- schaftsausschuss doch unter denjenigen, die sich damit bessert, und zwar fünfmal hintereinander. Wir haben eine beschäftigen, einig, dass es in Deutschland aufgrund einer Situation, in der nicht nur der Export, sondern auch der Mittelstandskultur, die hier anders als in anderen Ländern private Konsum anzieht. Auch das steht im Gutachten. ist, im Bereich des Mittelstandes ein Problem hinsichtlich (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Vor allen der Eigenkapitalquote gibt. Dingen der Export, Herr Kollege!) (Dr. Hansjürgen Doss [CDU/CSU]: Der Mittel- – Auch der Konsum. Lesen Sie – wie auch immer Sie stand blutet vor lauter Steuern und Abgaben heißen – doch das Gutachten! aus!) Außerdem verzeichnen wir im April einen kräftigen Wir sind uns auch darin einig, dass es in diesem Bereich Rückgang der Arbeitslosigkeit. Auch das ist festzustellen. Probleme mit der Kreditversorgung gibt. Wir müssen ge- Bei allem, was wir uns noch wünschen würden – die Kol- meinsam – Stichwort Basel II – etwas tun, damit kleine legin Fischer hat darauf hingewiesen –, müssen wir fest- und mittelständische Unternehmen in Deutschland Kre- stellen, dass wir weitaus weniger Arbeitslose als 1998 ha- dite erhalten können, um die notwendigen Investitionen ben. Das sind die Tatsachen. zu tätigen. Das bestreitet niemand. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Die Frage ist: Was können wir tun? Der Bund hat zwei Förderbanken, die KfW und die DtA, die gute Arbeit leis- Ich will darauf eingehen, warum sich die Konjunktur ten. Wir diskutieren darüber, wie wir diese Arbeit, zum (B) im letzten Jahr eingetrübt hat. Beispiel durch die Gründung einer Mittelstandsbank aus (D) (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Wollen Sie über diesen Banken heraus, noch besser machen können. Gerhard Schröder reden?) (Dr. Hansjürgen Doss [CDU/CSU]: So ein Sie versuchen immer, uns das mit den altbekannte Paro- Unsinn!) len in die Schuhe zu schieben. Das Gutachten nennt die – Herr Kollege, ich habe mit Ihrem Kollegen Schauerte im Ursachen ganz deutlich – ich bitte Sie, dem wissenschaft- Wirtschaftsausschuss eigentlich Konsens in dieser Frage lichen Sachverstand zu vertrauen –: Der Abschwung in erzielt. Ich weiß nicht, wo er jetzt ist. den USA nach acht Jahren stetigen Wachstums hat Deutschland aufgrund der wirtschaftlichen Verflechtung (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Der ist mit den USA besonders getroffen, der hohe Rohölpreis unterwegs beim Mittelstand!) und nicht zuletzt die Terroranschläge am 11. September Ich finde, er ist ein drolliges Kerlchen. haben uns belastet. Ich will aber auch sagen – das gehört ebenfalls zur Ehrlichkeit –, dass die Ursachen für den Auf- Es geht tatsächlich darum, dass wir das Problem der schwung, der da ist, im Wesentlichen mit einer verbesser- Mittelstandsfinanzierung in Angriff nehmen. Da können ten weltwirtschaftlichen Lage zu tun haben. Sie zehnmal „Unsinn“ rufen. Das ist ein wichtiges Thema. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Aha!) (Beifall bei der SPD – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Eigenkapital brauchen die Be- Wer will denn das bestreiten? triebe!) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Der Ich komme zu den Standortvorteilen, die dieses Land Reformer!) ungeachtet aller Schlechtrederei hat, die Sie praktizieren. Dass sich der Aufschwung in Deutschland entfalten Dieses Land und seine Wirtschaft sind durch die soziale kann, Herr Kollege – ich weiß Ihren Namen immer noch Marktwirtschaft, durch die Qualifikation der Arbeitneh- nicht –, liegt auch daran, dass wir unsere wirtschaftspoli- merinnen und Arbeitnehmer sowie tischen Hausaufgaben gemacht haben. Wir haben eine (Zuruf von der CDU/CSU: Ohne Sie!) Steuerreform durchgesetzt, Wissenschaft und Forschung und nicht zuletzt durch den (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sozialen Frieden groß geworden. Ich gebe zu, alle diese des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Lachen drei Standortvorteile müssen modernisiert werden. Wir bei der CDU/CSU) haben damit angefangen und wollen das fortsetzen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23179

Hubertus Heil (A) Sie unterschätzen einfach den dritten Standortvorteil, Gesetzes zur Änderung des Hochschulrahmen- (C) den sozialen Frieden. gesetzes (6. HRGÄndG) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Jetzt erklärt – Drucksache 14/8732 – uns ein Jusofunktionär, wie es läuft!) (Erste Beratung 230. Sitzung) Er ist nicht nur gut für die demokratische Entwicklung dieses Landes, sondern auch für unsere Wirtschaft und die – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- Investitionssicherheit. neten Maritta Böttcher, Dr. Heinrich Fink, Pia Maier, weiteren Abgeordneten und der Fraktion (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Und der PDS eingebrachten Entwurfs eines Sechsten jetzt streikt die IG Metall!) Gesetzes zur Änderung des Hochschulrahmen- – Was haben Sie gegen die IG Metall? gesetzes (6. HRGÄndG) – Drucksache 14/8295 – (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Gar nichts, aber die streikt bei Ihnen!) (Erste Beratung 222. Sitzung) – Gucken Sie einmal in Ihren Wahlkreis. Da gibt es ein Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- großes Stahlwerk. In meinem Wahlkreis gibt es ebenfalls ses für Bildung, Forschung und Technikfolgen- einen Standort dieses Unternehmens. Unterhalten Sie sich abschätzung (19. Ausschuss) einmal mit den Kolleginnen und Kollegen, bevor Sie hier – Drucksache 14/8878 – weiter herumschreien. Berichterstattung: Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen zum Abgeordnete Dr. Peter Eckardt Schluss: Hören Sie auf, unser Land und die Leistungen Thomas Rachel der Menschen in diesem Land krankenhausreif zu reden! Dr. Reinhard Loske Ulrike Flach (Beifall bei der SPD) Maritta Böttcher Und sich dann noch als Notarzt anzubieten, das geht nicht. b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Sie versuchen den Menschen weiszumachen, man richts des Ausschusses für Bildung, Forschung könne mehr Geld ausgeben, gleichzeitig die Steuern sen- und Technikfolgenabschätzung (19. Ausschuss) ken und über all das hinaus noch mehr Geld ausgeben. Mit zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach, diesem Versprechen sind Sie 1998 gegen die Wand gefah- Cornelia Pieper, Birgit Homburger, weiterer Ab- ren. Das wird sich am 22. September wiederholen. Ich geordneter und der Fraktion der FDP freue mich auf den Kater, den Sie dann haben werden. (B) Ein neues Hochschuldienstrecht für eine mo- (D) Schönen Tag noch! derne, leistungsfähige und attraktive Bildung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und Forschung in Deutschland des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) – Drucksachen 14/7077, 14/8878 – Berichterstattung: Vizepräsidentin Anke Fuchs: Herr Kollege, Sie Abgeordnete Dr. Peter Eckardt suchten den Namen des Kollegen Kampeter. Thomas Rachel Dr. Reinhard Loske (Hubertus Heil [SPD]: Entschuldigung! – Ulrike Flach [CDU/CSU]: Das weiß er Maritta Böttcher nicht! Er ist noch neu!) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Die Aktuelle Stunde ist beendet. Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und b auf: Ich eröffne die Aussprache und gebe der Bundesminis- a) – Zweite und dritte Beratung des von den Abge- terin Edelgard Bulmahn das Wort. ordneten Dr. Peter Eckardt, Jörg Tauss, (Starnberg), weiteren Abgeordneten und Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten und Forschung: Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Dr. Reinhard Loske, Hans-Josef Fell, Christian sehr geehrten Herren und Damen! Die Bundesregierung Simmert, weiteren Abgeordneten und der Frak- ist mit dem Versprechen angetreten, das Studium an unse- tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN ein- ren Hochschulen attraktiver zu machen. Dieses Verspre- gebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes chen lösen wir ein. zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes (6. HRGÄndG) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) – Drucksache 14/8361 – Das Sechste Gesetz zur Änderung des Hochschulrahmen- (Erste Beratung 222. Sitzung) gesetzes leistet dazu einen wichtigen Beitrag. – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Erstens schaffen wir mit der vorliegenden Gesetzesno- regierung eingebrachten Entwurfs eines Sechsten velle in Deutschland Studiengebührenfreiheit für das 23180 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) Erststudium. Die Länder hatten und haben sich zwar in- Das ist wirklichkeitsfremd. Sie kennen ganz offensicht- (C) haltlich auf einen Kompromiss verständigt, aber keine lich nicht die reale Situation vieler Familien in diesem feste Regelung getroffen und damit leider nicht allen die Land. notwendige Sicherheit gegeben. Das Hin und Her vor al- lem aus den Reihen der CDU/CSU und der FDP hat Abi- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ turienten, Studierende und Eltern sehr stark verunsichert. DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Das ist das Problem! Partei der Besserverdienenden!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Verantwor- 33 600 Euro betragen die Kosten für das Studium eines tungslos!) Kindes. Ich möchte aber sicherstellen, dass es sich die Fa- milien auch in Zukunft leisten können, zum Beispiel zwei Deshalb ist es notwendig, dass wir diese Gesetzesnovelle Kinder studieren zu lassen vorlegen und hier im Deutschen Bundestag beschließen, damit Studierende, Familien und Abiturienten diese Si- (Beifall bei der SPD – Ulrike Flach [FDP]: Das cherheit haben. wollen wir alle! Wir wollen sogar noch ein paar mehr!) Meine sehr geehrten Damen und Herren von der CDU/CSU, wenn ich mir Ihre Stellungnahmen ansehe, oder auch drei. Deshalb hat die Bundesregierung jetzt ge- verstehe ich Ihr Problem sehr gut, vor allen Dingen, nach- handelt. Nachdem wir das BAföG erhöht hatten, das Sie dem ich den Entwurf für Ihr Wahlprogramm gelesen habe, in den 80er- und 90er-Jahren regelrecht in Grund und Bo- den gewirtschaftet haben, (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Den gibt es doch noch gar nicht! – Gegenruf des Abg. Jörg Tauss (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Na ja, jetzt [SPD]: Wir sind gut informiert! – Gegenruf des aber Vorsicht!) Abg. Thomas Rachel [CDU/CSU]: Sie haben schreiben wir nun den Grundsatz der Studien- keine Ahnung!) gebührenfreiheit in das Hochschulrahmengesetz. das Herr Stoiber am Montag der Öffentlichkeit vorstellen (Beifall bei der SPD) will. Es ist deshalb kein Wunder, dass Sie sich hinter Ne- bensächlichkeiten und Verfahrensfragen verschanzen, Das gilt für ein Studium bis zum ersten berufsqualifizie- statt in der Sache Stellung zu nehmen. renden Abschluss sowie für ein Studium mit einem kon- sekutiven Abschluss, der bis zu einem berufsqualifizie- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ renden Abschluss führt. Ausnahmen sind nur in eng DIE GRÜNEN) definierten Grenzen zulässig. Es ist die Nagelprobe für Jugendpolitik und Familien- (B) politik, wie man sich hinsichtlich der Studiengebühren (Auf der Tribüne wird ein Transparent entrollt – (D) positioniert. Man kann nicht auf der einen Seite Famili- Ulrike Flach [FDP]: Die da oben scheinen aber enförderung fordern – das setzen wir im Gegensatz zu Ih- anderer Meinung zu sein!) nen, die Sie dies jahrelang nicht gemacht haben, um – und gleichzeitig die Familien mit Studiengebühren belasten Vizepräsidentin Anke Fuchs: Frau Ministerin, ich und damit den Generationenvertrag aufkündigen. Das ist bitte Sie, einen Augenblick zu warten. nicht nur familienfeindlich, sondern zutiefst unsozial. Würden Sie bitte das Plakat einrollen und den Saal ver- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lassen? Ich bitte die Saaldiener, dies zu veranlassen. – DIE GRÜNEN) Danke schön. Man darf nämlich nicht vergessen, dass ein Studium die Fa- milien heute schon mindestens 33 600 Euro kostet. Das Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung kann man ganz schnell ausrechnen: Pro Monat braucht man und Forschung: Damit schaffen wir gleichzeitig die ungefähr 1 400 DM oder 700 Euro. Das sind 8 400 Euro im Grundlage für neue Modelle wie Studienkonten oder Bil- Jahr und dann eben rund 33 600 Euro für ein Studium, dungsgutscheine. Diese Modelle kommen den Studieren- (Jörg Tauss [SPD]: Bei einem Kind! – Klaus den und den Hochschulen gleichermaßen zugute. Barthel [Starnberg] [SPD]: Das reicht für die (Ulrike Flach [FDP]: Irgendwie haben die dort Kinder der Bessergestellten dort drüben nicht!) oben Sie nicht verstanden!) je nach Lebenshaltungskosten häufig auch noch etwas Sie schaffen nämlich Anreize für die Hochschulen, das mehr. Studium zu optimieren, sodass ein zügiges Studium mög- Wenn vor diesem Hintergrund Familien mit einem sehr lich ist. Sie schaffen aber auch Anreize für Studierende, geringen Einkommen von brutto 3 000, 2 000 oder das Studium zügig abzuschließen, um den Bonus noch für 1 500 Euro auch noch ein Darlehen aufnehmen sollen, ein Weiterbildungsstudium nutzen zu können. kann ich Ihnen liebe Frau Flach, nur sagen: Herzlichen Zum zweiten Punkt der HRG-Novelle: Bachelor- und Glückwunsch! Masterstudiengänge werden aus dem Erprobungs- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ stadium in das Regelstudienangebot der Hochschulen DIE GRÜNEN – Ulrike Flach [FDP]: Sie wis- überführt. Schon heute gibt es an deutschen Hochschulen sen doch, dass es um ganz andere Darlehen mehr als 1 000 Studiengänge, die mit einem Bachelor- geht!) oder Mastergrad abgeschlossen werden. Diese Entwick- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23181

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) lung ist so erfolgreich, dass wir sie nun langfristig recht- Da – teilweise durch Fehlinformationen und zum Teil (C) lich absichern wollen. auch durch sehr unsachliche Diskussionen – gerade hin- sichtlich der Dienstrechtsreform in den letzten Monaten (Beifall bei der SPD) Verunsicherung eingetreten ist, haben wir im Hochschul- Wir schaffen damit mehr Verlässlichkeit für die Studie- rahmengesetz selbst ausdrücklich klargestellt, dass junge renden und wir stärken die internationale Ausrichtung der Wissenschaftler, die ihre Tätigkeit bereits unter der Gel- Hochschulen. tung der alten Regelung aufgenommen haben, also wis- Drittens. Wie im Koalitionsvertrag beschlossen, wird senschaftliche Mitarbeiter, Promovenden, Habilitanden, es künftig an allen deutschen Hochschulen verfasste aber auch diejenigen, die gerade die Habilitation beendet Studierendenschaften geben. haben, bis zum 28. Februar 2005 Vertrauensschutz ge- nießen. Damit sind jegliche Interpretationsspielräume zu- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lasten der jungen Wissenschaftler ausgeschlossen. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Mitbestimmung und demokratische Vertretung studenti- DIE GRÜNEN) scher Belange müssen in allen Bundesländern gewähr- leistet sein. Auch das gehört zur Attraktivität unserer Planbarkeit und Verlässlichkeit sind das A und O für Hochschulen. Eine starke bundesweite Vertretung der die Nachwuchsförderung. Sie sind deshalb auch gerade Studierenden ist im Übrigen auch ein wichtiger Ge- dort erforderlich, wo es um Studienentscheidungen von sprächspartner für die Fortsetzung unserer Reformen an jungen Menschen geht. Das BAföG ist hier ein ganz ent- den Hochschulen. scheidender Punkt. Wir sehen die Erfolge. Wir haben es geschafft bzw. schaffen es, zusätzlich 81 000 junge Men- (Beifall bei der SPD – Thomas Rachel [CDU/ schen gerade aus Familien mit mittlerem und niedrigem CSU]: Das haben Sie ja gerade da oben gese- Einkommen in das BAföG hineinzubekommen und damit hen!) zum Studium zu bewegen. Das zeigen die uns vorliegen- Diese Reformen setzen an vielen Punkten gleichzeitig den Zahlen. an und verbinden Chancengleichheit und soziale Gerech- Studiengebührenfreiheit und Ausbildungsförde- tigkeit mit Effizienz und Leistungsorientierung. Das ist rung sind zwei Seiten einer Medaille. Wir haben mit der unsere Grundidee und unsere Grundstrategie. Die HRG- BAföG-Reform eine echte Chancengleichheit geschaffen. Novelle ist ein wichtiges Element dieser Strategie. Nunmehr nehmen wir die zweite Seite der Medaille in An- Wie wichtig gerade diese Verbindung ist, zeigt ein griff, nämlich die Absicherung der Studiengebührenfrei- Blick auf die Zahl der Studienanfänger in Deutschland. heit für das erste Studium. Wir dürfen nämlich nicht mit (B) Mit einem Anteil von 28 Prozent liegen wir deutlich un- der einen Hand geben und mit der anderen Hand das Glei- (D) ter dem internationalen Durchschnitt. In den USA begin- che wieder aus dem Portemonnaie herausziehen. nen 44 Prozent aller Jugendlichen nach der Schule ein (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei Studium. In Finnland sind es sogar 58 Prozent. Wenn es Abgeordneten der CDU/CSU) nicht gelingt, dass mehr junge Menschen bei uns ein Stu- dium beginnen und auch erfolgreich abschließen, dann Das wäre nicht nur widersinnig, sondern würde auch un- werden uns in Deutschland bis zum Jahre 2010 eine Vier- ser Ziel konterkarieren, mehr junge Menschen für ein Stu- telmillion Akademiker fehlen. Wir brauchen also mehr dium zu motivieren. gut ausgebildete Hochschulabsolventen. Allgemeine Stu- Es ist schon besonders dreist, meine Damen und Her- diengebühren würden zusätzliche soziale Barrieren gegen ren von der Opposition, den Familien auf der einen Seite die Aufnahme eines Studiums errichten. Deshalb ist es ge- finanzielle Versprechungen zu machen, nau das falsche Signal. (Jörg Tauss [SPD]: Das ist wahr!) Das Studium an unseren Hochschulen muss für junge Menschen aus dem Inland und aus dem Ausland attrakti- sie auf der anderen Seite in erheblichem Umfang für die ver werden. Deshalb hat diese Bundesregierung – im Ge- Ausbildung ihrer Kinder zur Kasse zu bitten. gensatz zu der CDU/CSU-FDP-Regierung – die Investi- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: tionen in Bildung und Forschung auf das Rekordvolumen Ökosteuer!) von 8,8 Milliarden Euro angehoben. Studierende und ihre Eltern brauchen verlässliche Rah- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ menbedingungen für ihre Zukunftsplanung. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS) (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das ist der einzig richtige Satz!) Wir sind mit einem ehrgeizigen Reformprogramm für die Hochschulen durchgestartet, und zwar durch eine stärkere Schon die öffentliche Debatte über die Einführung von internationale Ausrichtung der Hochschulen, durch das Studiengebühren schreckt diese Familien ab und verunsi- virtuelle Studium, mit dem die weltweite Vernetzung un- chert sie. serer Hochschulen vorangetrieben wird, durch die inten- (Beifall bei der SPD und der PDS) sive Förderung von Nachwuchswissenschaftlern und durch die Dienstrechtsreform, mit der wir die Juniorpro- Das zeigen im Übrigen auch internationale Verglei- fessur und eine leistungsbezogene Besoldung für unsere che; man muss nur über die Grenze schauen. Die Zahl der Hochschullehrer einrichten. Studierenden in Österreich ist seit der Einführung von 23182 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) Studiengebühren, die noch gar nicht lange zurückliegt, schaftsministerin das befürwortet. In Europa kämpfen wir (C) um 20 Prozent gesunken. für vergleichbare Studienbedingungen. Gleichzeitig wür- den wir dann in Deutschland neue Grenzen in Form von (Ulrike Flach [FDP]: Unsere ist auch nicht ge- Studiengebühren ziehen. Das kann doch wohl nicht an- stiegen!) gehen. – Unsere ist inzwischen gestiegen, Frau Flach. Die Zahl der Studierenden ist unter dieser Regierung gestiegen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dietrich Austermann [CDU/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ CSU]: Einen Pappkameraden bauen Sie hier DIE GRÜNEN) auf!) Unter Ihrer Regierung ist die Zahl allerdings gesunken; da Wenn ich mir allerdings Ihren Programmentwurf an- haben Sie Recht. schaue, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dann wundert mich vieles nicht mehr. Denn wie ich Ihrem DIE GRÜNEN) Programmentwurf entnehmen konnte, wollen Sie zusam- men mit der FDP das HRG abschaffen. Irland hat die Studiengebühren gerade wieder abge- schafft, weil sie zu solch verheerenden sozialen Wirkun- (Zurufe von der SPD: Oh! – Weiterer Zuruf gen führen. Die Länder, die in ihren Bildungsanstrengun- von der SPD: Weiß der Edi das schon?) gen besonders erfolgreich sind, wie zum Beispiel Hat Ihnen das eigentlich die bayerische Staatskanzlei auf- Finnland, kennen keine Studiengebühren. geschrieben? (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Wer hat denn ei- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Reden Sie doch nen Antrag auf Studiengebühren gestellt? Po- mal zum 6. HRG! Das wäre interessant!) panz!) Wissenschaft und Forschung müssen im internationalen Wir haben es in den letzten dreieinhalb Jahren endlich Kontext betrachtet werden, aber Sie wollen den Hoch- geschafft, das Studium wieder deutlich attraktiver zu ma- schulen jetzt ein solch provinzielles Konzept überstülpen. chen. Deshalb werden wir Ihren Anstrengungen, das Das darf wirklich nicht wahr sein. durch die Einführung von Studiengebühren wieder zu konterkarieren, einen Riegel vorschieben. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Thomas Rachel [CDU/CSU]: Es ist eine gute europäische Tradition, dass junge Men- (B) Das hat doch keiner beantragt!) schen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft und ihren (D) finanziellen Möglichkeiten studieren können. An dieser Schauen Sie in Ihren Entwurf für das Wahlprogramm, guten Tradition, an dieser Errungenschaft in unserem schauen Sie sich die Äußerungen der FDP an, die auf ein- Land wollen wir festhalten. mal für Studiengebühren offen ist und dafür plädiert! (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Sie sprechen über eine Luftnummer! Das ist ein Popanz!) Die 6. HRG-Novelle ist dafür ein wichtiger Schritt. – Nein, Herr Rachel. Bei uns in Niedersachsen sagt man Ich würde mich freuen, meine sehr geehrten Damen dazu: Raus aus den Kartoffeln, rein in die Kartoffeln. Bei und Herren von der Opposition, wenn Sie in dieser De- Ihnen war das: Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kar- batte endlich klar Stellung nehmen würden, toffeln. Familien und Studierende brauchen Verlässlich- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ keit. Genau die stellen wir damit her. DIE GRÜNEN – Thomas Rachel [CDU/CSU]: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Zu Ihren Luftschlössern!) DIE GRÜNEN) statt sich auf Verfahrensfragen zurückzuziehen. Sind Sie Es ist abzusehen, dass bei unterschiedlichen Regelun- für Studiengebühren oder sind Sie dagegen? Wollen Sie gen in den verschiedenen Ländern ein Run auf gebühren- eine funktionierende studentische Selbstverwaltung oder freie Hochschulen einsetzen würde. Kapazitätsengpässe nicht? Unterstützen Sie den Ausbau der internationalen und damit schlechtere Bedingungen für die Studierenden Bachelor- und Masterstudiengänge oder wollen Sie auch wären die Folge. Das wollen wir verhindern. hier zum Bremser werden? Es wäre schon ein Stück aus dem Tollhaus – lassen Sie (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Die haben mich das als Forschungs- und Bildungsministerin sagen –, wir doch selber eingeführt, Frau Bulmahn! wenn Studierende in Deutschland nicht mehr ohne Pro- Das ist doch peinlich! Die CDU/CSU hat die bleme von der Universität Greifswald zur Universität Bachelor- und Masterstudiengänge einge- München oder zum Beispiel von Hannover nach führt!) wechseln könnten. Es ist höchste Zeit, hier klare Position zu beziehen. We- (Ulrike Flach [FDP]: Warum nicht?) nigstens das sind Sie den Menschen schuldig. – Weil in einigen Städten Studiengebühren erhoben werden (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ würden, zum Beispiel in Stuttgart. Dort hat die Wissen- DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23183

(A) Vizepräsidentin Anke Fuchs: Für die CDU/CSU Zu Recht betont deshalb der Präsident der Hochschulrek- (C) spricht jetzt der Kollege Thomas Rachel. torenkonferenz, Landfried: (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Jetzt kom- Für ein solches Gesetz besteht erstens kein Bedarf men wieder die Saltos! – Jörg Tauss [SPD]: Der und zweitens hat der Bund dafür nicht die Zustän- Spezialist für Luftnummern!) digkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Klaus Thomas Rachel (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Prä- Barthel [Starnberg] [SPD]: Wollen Sie Hoch- sidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die 6. Hoch- schulgebühren oder nicht?) schulrahmengesetznovelle ist ein Armutszeugnis für die Sie führen hier eine Geisterdebatte, Frau Bulmahn; denn rot-grüne Bundesregierung. kein Bundesland hat bisher die Einführung von Studien- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gebühren beantragt. Die Unterschrift von Bundespräsident Rau unter Ihr Das sieht übrigens auch Ihr niedersächsischer Wissen- 5. Hochschulrahmengesetz ist erst seit wenigen Tagen schaftsminister Oppermann so. In der „Süddeutschen Zei- trocken, schon beantragen Sie wieder eine Änderung des tung“ vom 5. März dieses Jahres sagt er zu Ihrem Studien- gleichen Gesetzes. Das ist reine Flickschusterei. gebührenverbot: „Diese Regelung ist auf Bundesebene überflüssig.“ (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU) Ihre Änderungen hätten Sie bereits in der fünften Novelle einbringen können. Ihr Vorgehen zeigt: Die rot-grüne Re- Es sollte in Ihren Ohren klingeln, Frau Bulmahn. Ihr eige- gierung ist konfus und konzeptlos. ner Wissenschaftsminister sagt offen: (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der SPD Prinzipiell bin ich für moderate Studiengebühren, und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wenn wir ein Stipendiensystem ... haben. Bildungsministerin Bulmahn will ihr neues Hoch- Als SPD-Landesvorsitzende haben Sie sich, Frau schulgesetz als große bildungspolitische Errungenschaft Bulmahn, noch nicht einmal in Ihrem eigenen Landesver- verkaufen. In ihrer Pressemitteilung behauptet sie, dass band durchsetzen können. Das ist ein schwaches Bild! künftig „für das Erststudium in Deutschland keine Studien- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gebühren erhoben werden dürfen“. So kurz vor Ende Im Gegensatz zu Ihnen hat Herr Oppermann Recht; der Legislaturperiode ist das reines Wahlkampfmanöver. denn das rot-grüne Gesetz zeugt von obrigkeitsstaat- Mit dieser öffentlichen Ankündigung täuschen Sie die (B) lichem Denken, (D) Wähler; denn entgegen Ihrer Ankündigung dürfen laut Gesetzestext in Ausnahmebereichen sehr wohl Studien- (Jörg Tauss [SPD]: Oh!) gebühren erhoben werden. Damit verstoßen Sie, Frau anstatt Modernisierung und Wettbewerb für eine Hoch- Bulmahn, gegen den klaren Beschluss des SPD-Bundes- schullandschaft des 21. Jahrhunderts zu ermöglichen. Ein parteitages. Wo bleiben Wahrheit und Klarheit, Frau Mi- Verbot von Studiengebühren ist ein Akt staatlicher Gän- nisterin? gelung. (Beifall bei der CDU/CSU) (Zurufe von der SPD: Oh!) Was ist von Ihrem neuen Gesetz zu halten? Sie wollen Denk- und Handlungsverbote. Der General- (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Was wollen sekretär der Hochschulrektorenkonferenz, Jürgen Heß, Sie denn jetzt eigentlich?) bezeichnet dies als einen „Akt bildungspolitischer Selbst- verstümmelung“. Sie wollen per Bundesgesetz in allen Bundesländern Studiengebühren im Erststudium verbieten. Das ist eine (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Zitieren Sie unzulässige Einmischung in die Angelegenheiten der nicht immer andere! Sagen Sie doch einmal, Länder und zeigt altes Denken. Nach der Aufgabenver- was Sie wollen! Das ist eine Aneinanderreihung teilung des Grundgesetzes liegt die Kompetenz im von geistigem Diebstahl!) Bereich der Hochschulfinanzierung eindeutig bei den Daran sehen Sie, dass die Hochschulrektorenkonferenz Bundesländern. So ist übrigens auch die Realität: 89 Pro- von Ihrer Bildungspolitik nichts hält, Frau Bulmahn. zent aller Hochschulausgaben werden von den Ländern finanziert, nur 9 Prozent vom Bund und 2 Prozent von den (Beifall bei der CDU/CSU) Stiftern. Sie wollen mit Ihrem Gesetz verfasste Studierenden- Ich finde es schon relativ dreist, wenn die Bundes- schaften bundesweit vorschreiben. Das verstößt gegen regierung angesichts einer solchen Finanzverteilung den die im Grundgesetz garantierten Kompetenzen der Län- Bundesländern vorschreiben will, wie sie die Hochschu- der. Ohnehin verfügen die Studentenparlamente in den len finanzieren sollen bzw. sagt, wie sie sie nicht finan- Bundesländern, in denen Zwangskörperschaften existie- ren, bei einer Wahlbeteiligung von 5 bis höchstens 15 Pro- zieren dürfen. zent über eine äußerst dünne demokratische Legitimation. (Jörg Tauss [SPD]: Wollen Sie Studien- Interessant ist doch die Beobachtung, dass das Engage- gebühren oder nicht?) ment der Studierenden sehr unterschiedlich ist. In den 23184 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Thomas Rachel (A) verfassten Studierendenschaften ist es sehr gering, aber in riode verträgt sich nicht mit der Notwendigkeit einer so- (C) den Fachschaften sehr intensiv und engagiert. Das zeigt liden und langfristig ausgerichteten Hochschulpolitik. doch, dass der von Ihnen verfolgte Weg der falsche ist. (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss Auch wir unterstützen eine stärkere Mitwirkung der Stu- [SPD]: Ja, ja!) dierenden an den Hochschulen und in den politischen Hochschulorganisationen. Sehr geehrte Frau Bulmahn, mit Ihrer Regelung be- züglich der befristeten Stellen in der 5. HRG-Novelle ha- (Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Barthel ben Sie einen wahren Rohrkrepierer erzeugt. Die Wo- [Starnberg] [SPD]: Davon haben wir nichts chenzeitung „Die Zeit“ hat am 31. Januar Folgendes gehört!) geschrieben: Der von Ihnen vorgeschlagene Zwangsweg aber ist fanta- (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Jetzt zitiert sielos; er verfehlt die angestrebten Ziele und ist altmo- er schon wieder!) disch. Kahlschlag: Wie das Bundesbildungsministerium die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zukunft von jungen Wissenschaftlern aufs Spiel Ulrike Flach [FDP]: Altmodisch ist der richtige setzt. Begriff!) Nachwuchswissenschaftler haben in großen Anzeigen in Die Studierendenschaften haben heute ein hochschulpo- deutschen Tageszeitungen Ihren Rücktritt gefordert, weil litisches Mandat, sodass sie zu allen hochschulrelevanten sie sich durch Ihr Gesetz von der Arbeitslosigkeit bedroht Themen Stellung beziehen können. Wer aber Ihr Gesetz sehen. Als Reaktion sagten Sie, dies sei eine „verantwor- aufmerksam liest, der wird feststellen, dass es Ihnen um et- tungslose Panikmache“. was anderes geht, nämlich um ein allgemeinpolitisches Mandat. Dieses ist aber mit der Zwangsmitgliedschaft in ei- (Jörg Tauss [SPD]: Das war es auch!) ner Studierendenschaft unvereinbar. Asta-Kampagnen zum Ihren Stil gegenüber den Betroffenen beschreibt die Ausländerrecht, Kampagnen gegen die Bundeswehr und „FAZ“ so: Globalisierung, für die studentische Gelder zweckwidrig Den Betroffenen wird, wie jüngst auf einem Berliner ausgegeben werden, waren und sind rechtswidrig. Podium, von der Ministerin erklärt, dass die Pro- (Beifall bei der CDU/CSU) bleme, die sie sehen, gar nicht existieren. Deshalb nehme ich es dieser Regierung übel, dass sie im Frau Bulmahn, warum ändern Sie heute Ihr Gesetz, wenn Gesetz Formulierungen benutzt hat, die den Missbrauch die Probleme doch gar nicht existieren? Da stimmt doch des politischen Mandats begünstigen. irgendetwas nicht. (B) (D) (Lachen bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Ha- Die Art und Weise, wie Sie mit den Beschäftigten an ben Sie die Rede aus dem Jahr 1968 abge- den Hochschulen umgegangen sind, spottet jeder Be- schrieben?) schreibung. Äußerst bedauerlich ist, dass Sie, Herr Tauss, nicht nur (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) im Plenum nicht zuhören, sondern auch in der Anhörung Der „Tagesspiegel“ beschreibt Ihren Auftritt bei einer nicht zugehört haben. Denn die konstruktive Kritik in der Diskussion in der Berlin-Brandenburgischen Akademie Anhörung des Bundestages haben Sie nicht aufgenom- der Wissenschaften folgendermaßen: men. Die Sachverständigen waren sich in der Ablehnung der sofortigen Überführung der Bachelor- und Master- (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Nächstes Zi- studiengänge in das Regelangebot der Hochschulen ei- tat! – Jörg Tauss [SPD]: Sie lesen wohl den nig; denn sie ist verfrüht. ganzen Tag! Das ist unglaublich!) Wir sind die Anhänger der Bachelor- und Masterstudi- Doch für ihre Aufklärungsarbeit erntete Ministerin engänge. Es waren nämlich nicht Sie, Frau Bulmahn, son- Bulmahn bis zum Schluss der Veranstaltung immer dern es war die christlich-liberale Bundesregierung, die wieder abfälliges Stöhnen, hämisches Gelächter und 1998 die Rahmengesetzgebung geändert hat, um diese Zwischenrufe. Studiengänge überhaupt zu ermöglichen. 1 000 sind mitt- Das ist die Reaktion auf Ihre Politik. lerweile geschaffen worden, was wir sehr begrüßen. Die Unionsfraktion hat sich zu vielen Gesprächen mit (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der den Betroffenen zusammengesetzt. Uns ging es nicht um SPD: Das war eine europäische Vereinbarung, die öffentliche Schlagzeile. Wir wollen konstruktive Lö- Herr Rachel!) sungen Wir nehmen auch zur Kenntnis, dass die Qualitäts- (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Sagen Sie sicherung der neuen Studiengänge durch ein Akkreditie- doch mal eine Einzige!) rungssystem erst einen kleinen Teil dieser Studiengänge und die Beseitigung der von Ihnen in der 5. HRG-Novelle erfasst hat. Wir haben bisher nur eine geringe Zahl von verursachten Schäden erreichen. Dazu gehört dringend Bachelor-Absolventen. Deshalb sollten wir die Kirche im eine Übergangsregelung. Dorf lassen und über die Einstufung als Regelangebot in zwei oder drei Jahren in aller Gelassenheit entscheiden. (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Welche Ihre Nervosität und Hektik am Ende dieser Legislaturpe- denn?) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23185

Thomas Rachel (A) Deshalb beantragen wir, dass bis zum Dezember 2004 be- Die Hochschulen brauchen mehr Freiheit und Autono- (C) fristete Arbeitsverträge nach altem Recht abgeschlossen mie. Nicht Gleichmacherei darf bildungspolitisches Leit- werden können. Außerdem wollen wir den Juniorprofes- bild sein, sondern der Wille zur Leistungsorientierung, soren helfen, für die nach erfolgreichem Abschluss nicht zur Profilbildung und zur Wettbewerbsorientierung. unmittelbar eine Professur frei ist. Sie sollen für die Dauer (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) von drei Jahren als Hochschullehrer auf Zeit beschäftigt werden können, damit sie ihre Bewerbungsphase durch- In der nächsten Parlamentsperiode werden wir den laufen können. Hochschulen diese Freiheit und diese Luft zum Atmen geben. (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Das können sie sowieso!) Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Sehr geehrte Frau Ministerin, in Wirklichkeit be- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schließen wir heute ein Gesetz, mit dem wir Ihr 5. Hoch- schulrahmengesetz reparieren. Vizepräsidentin Anke Fuchs: Ich erteile dem Kolle- (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Machen Sie gen Dr. Reinhard Loske für das Bündnis 90/Die Grünen jetzt mit oder was?) das Wort. Durch Ihre verfehlte Hochschulrahmengesetzgebung hat (Jörg Tauss [SPD]: Jetzt wird es wieder sich das Klima an den deutschen Hochschulen ver- seriös!) schlechtert. Auch in der 6. HRG-Novelle greifen Sie Randthemen auf, anstatt die Hochschulen umfassend in Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Richtung Leistung und Wettbewerb zu modernisieren. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kol- (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Sie haben lege Rachel, als ich Ihnen zugehört habe, habe ich ge- doch gerade gesagt, dass das Ländersache ist! dacht: Wie gut, dass es Presseausschnittsdienste gibt! Was ist denn jetzt?) (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten des Die „FAZ“ hat am 13. Februar getitelt: BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Bulmahns Hochschulreform wiederholt die Fehler Ich will aber im Gegensatz zu Ihnen nicht wie bei ei- der 70er-Jahre. ner Perlenkette ein Zitat an das andere reihen, sondern die (Zuruf von der CDU/CSU: Ja, das stimmt! – Meinung meiner Fraktion zur 6. HRG-Novelle begrün- (B) Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Zitat Nr. 27!) den. Wir haben in dieser 6. HRG-Novelle vier Bereiche (D) geregelt: erstens die Überführung von BA- und MA-Stu- Treffender kann man das nicht formulieren. Der Histo- diengängen aus der Erprobungsphase in die Regelphase, riker Hans-Ulrich Wehler spricht in der „Zeit“ – das ist zweitens das Thema „verfasste Studierendenschaft“, drit- sicherlich kein Organ der CDU – tens die Gebührenfreiheit für das Erststudium und vier- (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Was Sie tens die Befristungsregelungen im Rahmen der Dienst- alles lesen!) rechtsreform. von der „Arroganz der Macht als neumodischer Variante Ich beginne mit dem Thema „verfasste Studieren- sozialdemokratischer Bildungspolitik“. Ich glaube, auch denschaft“. Wir wollen – das regeln wir mit dem zu ver- das sollte in Ihren Ohren klingeln. abschiedenden Gesetz –, dass in Zukunft demokratische Beteiligungsrechte für Studierende nicht an der bayeri- (Jörg Tauss [SPD]: Was schreibt denn die „Süd- schen und baden-württembergischen Grenze Halt ma- deutsche Zeitung“? Schauen Sie mal nach!) chen, sondern dass sie für alle gelten. Die „FAZ“ schreibt: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Anfangs das am wenigsten bekannte Mitglied im und bei der SPD) Kabinett Schröder, ist Edelgard Bulmahn nach wie Wenn es dort ein Einsehen gegeben hätte, hätten wir das vor das blasseste. nicht bundeseinheitlich regeln müssen. Aber es kann nicht Weiter heißt es: sein, dass man zwar an der Universität Düsseldorf seine Rechte ausschöpfen kann, dass man dies aber dann, wenn Jene programmatische Blässe ergibt sich aus einer man nach München wechselt, nicht mehr tun kann. Das Kombination administrativer Umtriebigkeit ihres wollen wir nicht. Hauses mit der Schwierigkeit, der Ministerin einen erklärten politischen Willen zuzuordnen. (Dr. Gerhard Friedrich [Erlangen] [CDU/ CSU]: Was für Rechte denn?) Ich denke, hier wird deutlich, wo die Schwierigkeit Ihrer Regierungstätigkeit liegt. Es ist ein unerträglicher Zustand, dass studentische Or- gane, wenn sie sich an Aktionen gegen Fremdenfeind- Schade, dass in den letzten vier Jahren keine klare bil- lichkeit oder Intoleranz beteiligen, vor den Kadi gezerrt dungspolitische Linie erkennbar war, die konzeptionelle werden und möglicherweise dafür zahlen müssen. Noch Kraft nicht reichte und ein schaler Geschmack von Kon- unerträglicher ist es, wenn extremistische Studentengrup- tur- und Farblosigkeit verbleibt. pen aufseiten der Rechten darüber frohlocken, es qua 23186 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Dr. Reinhard Loske (A) Gerichtsbeschluss erwirken zu können, dass die studenti- Sie aber vorsehen, dass Studenten zwangsweise Mitglied (C) schen Organe einen Maulkorb verpasst bekommen. Das werden? Geben Sie zu, dass auch Taxifahrer demokrati- wollen wir nicht mehr. sche Mitwirkungsrechte haben, obwohl wir keine Zwangskörperschaft für Taxifahrer eingeführt haben? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS) Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir hatten gestern im Ausschuss die vom Kollegen Meine Anmerkung bezog sich im Wesentlichen auf den Friedrich angestoßene Diskussion darüber, ob die Ein- Korporatismus an sich, auf das Problem, dass Organisa- führung der verfassten Studierendenschaft ein Rückfall in tionen bzw. Großgruppen in unserer Gesellschaft nicht das Mittelalter darstelle. Ich glaube, so war Ihre Formulie- mehr den sowohl im Wirtschafts- als auch im gesell- rung. schaftlichen Leben bestehenden Realitäten gerecht wer- (Dr. Gerhard Friedrich [Erlangen] den. Dagegen gibt es Skepsis. Ich habe die Gewerkschaf- [CDU/CSU]: Ständestaat!) ten als Aufhänger genommen, um Ihren Vorwurf, wir würden eine neue Zwangskorporation einführen, zurück- Sie würden bei mir offene Türen einrennen, wenn dies zuweisen. Denn das tun wir nicht. stimmen würde. Denn auch ich bin ein großer Skeptiker, was den westdeutschen Korporatismus betrifft, bei dem (Zurufe von der CDU/CSU: Doch!) der große Staat mit der großen Industrie und den großen Ich mache darunter einen Strich und stelle fest: Wir soll- Gewerkschaften oft zulasten Dritter und oft am Parlament ten froh sein, wenn sich heute junge Menschen in ihrem vorbei große Absprachen trifft. Das ist nicht besonders de- Gestaltungsbereich für demokratische Ziele einsetzen. mokratisch. Das heißt, wenn das zuträfe, würde ich Ihnen Das macht das vorliegende Gesetz möglich. beipflichten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Aber Ihr Argument ist in diesem Zusammenhang aus bei der SPD und der PDS) zweierlei Gründen überhaupt nicht stichhaltig: Ganz kurz zu BA und MA. Der springende Punkt ist Erstens. Wenn es so wäre, dann wünschte ich mir, dass der: CDU/CSU und FDP argumentieren, die Zeit, dies Sie auch an anderer Stelle gegen die Gilden und Zünfte einzuführen, sei noch nicht reif, weil man nicht genau ankämpfen würden. Ich habe aber noch nie vonseiten der wisse, wie der Markt das annehme; wenn ich Sie richtig CDU/CSU die Forderung gehört, die Industrie- und Han- verstanden habe. Aber wir wissen natürlich umgekehrt delskammern abzuschaffen. Im Gegenteil: Dazu fehlt Ih- ganz genau, dass die große Zurückhaltung gegenüber die- nen der Mut. Wahrscheinlich wäre es auch nicht vernünf- sen Abschlüssen gerade bei öffentlichen Arbeitgebern tig. (B) maßgeblich darauf zurückzuführen ist, dass das Ganze (D) Zweitens. Was wir hier einführen – dieses Argument ist noch im Erprobungsstadium ist und keinen Regelcharak- wichtiger –, ist keine Rückkehr zu den alten Kämpfen ter hat. Deswegen wird umgekehrt ein Schuh daraus. Da- zwischen MSB, SHB, RCDS und was es da so alles gibt. durch, dass wir diese Unsicherheit beseitigen, erhöhen Wir wollen vielmehr ein modernes hochschulpolitisches wir die Akzeptanz dieser Abschlussformen und werden Mandat. Wir wollen die Mitwirkung an hochschul- und auch international anschlussfähig. Insofern ist das sehr wissenschaftspolitischen Fragestellungen und das Eintre- vernünftig. ten für aktive Toleranz, für Grund- und Menschenrechte (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sowie für die Integration ausländischer Studierender er- DIE GRÜNEN) möglichen. Dazu sage ich: Wer das Eintreten für diese Ziele nicht zulassen will, der, meine Damen und Herren Ich akzeptiere und finde es auch richtig, dass wir Qua- von der CDU/CSU, ist in Wahrheit vormodern und steht litätssicherung betreiben müssen, dass wir bei der Ak- mit beiden Beinen im Mittelalter. kreditierung weiterkommen müssen – eine ganz wichtige Sache – und dass wir deshalb das gesamte Thema Siche- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rung von Qualitätsstandards und anderes mehr auch poli- und bei der SPD) tisch verstärkt pushen müssen, etwa durch die Einrichtung einer Stiftung für Bildung, die Sie ja ebenfalls wollen. Vizepräsidentin Anke Fuchs: Herr Kollege, gestat- Das dritte Thema, Studiengebühren, ist ein weites Feld; ten Sie eine Zwischenfrage? ich kann es lediglich antippen. Ich will nur so viel sagen: Wir stellen in diesem Gesetz – was auch durch anders lau- Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): tende Behauptungen nicht falsch wird – die Gebühren- Selbstverständlich. freiheit des Erststudiums sicher. Ich glaube, das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Vizepräsidentin Anke Fuchs: Bitte sehr, Herr Kol- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) lege. Wenn so getan wird, als gäbe es niemanden, der ver- suchte, in diese Richtung zu marschieren, möchte ich Dr. Gerhard Friedrich (Erlangen) (CDU/CSU): Herr doch noch einmal feststellen, dass in vielen Bundeslän- Kollege Loske, würden Sie mir zustimmen, dass der Ver- dern, wie in Baden-Württemberg, im Saarland und in gleich bezüglich der Gewerkschaften deshalb falsch ist, Hamburg, im Moment Langzeitstudiengebühren einge- weil man in einer Gewerkschaft freiwillig Mitglied wird, führt werden. Unsere Anhörungen und Diskussionen ha- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23187

Dr. Reinhard Loske (A) ben ganz klar gezeigt, dass dieser Weg der Langzeitstu- nicht. Das Gegenteil ist zutreffend. Sie schreiben in Ihrer (C) diengebühren vollends falsch ist. Pressemitteilung von heute: (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP) SPD und Grüne stellen die soziale Öffnung der Hochschule in Frage. – Ja, nun, das findet aber statt. Es wird hier behauptet, es gebe niemanden, der Studiengebühren einführen wolle. Ja, meine liebe Frau Böttcher, die Realität ist doch, dass Ich berichte jetzt darüber, dass es das sehr wohl gibt und in den frühen 70er-Jahren die Türen der Universitäten dass bei dem Modell der Langzeitstudiengebühren von weit aufgestoßen worden sind und dass sie in den dem Menschenbild des Studierenden als Bummelanten 80er- und 90er-Jahren von den Herrschaften auf der rech- ausgegangen wird, den es an die Kandare zu nehmen ten Seite zugestoßen wurden. Wir wollen die Türen doch gelte. Das ist aber ein falsches Denken. wieder aufmachen. Dazu trägt dieses Gesetz bei, genauso wie die BAföG-Novelle. (Dr. Gerhard Friedrich [Erlangen] [CDU/ CSU]: Dann verbietet es halt!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Es wurzelt einzig und allein im Bestrafungsgedanken und nicht im Qualitätsgedanken. Wir brauchen aber eine Qua- Ich würde mir manchmal wünschen, dass bei der PDS litätsdebatte und keine Bestrafungsdebatte. Ich glaube, Wort und Tat deckungsgleich wären. Es wird bei Ge- das ist sehr wichtig. sprächen von mehr Geld für die Wissenschaft geredet. Aber kaum ist man in Berlin an der Regierung, wird das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Institut für Ökologische Wirtschaftsforschung, das Unser Hauptproblem sind nicht die Langzeitstudenten; Institut für Zukunftstechnologien oder das Klinikum das sagt einem doch jeder Hochschulrektor. Natürlich gibt Benjamin Franklin angetastet. Bei Ihnen passen Wort und es auch Bummelanten. Das ist doch überall so im Leben. Tat nicht zusammen. Das ist ein großes Problem. Aber das Warum sollen wir das jetzt gesondert regeln? Unser ist ein Thema, über das wir jetzt nicht reden. Hauptproblem sind die hohen Abbrecherquoten. Deswe- Man kann über Studiengebühren sprechen. Noch einmal gen ist es einseitig, das Problem der langen Studienzeiten an die Adresse der Union: Wir wissen, dass viele bei Ihnen einzig und allein bei den Studierenden abzuladen. Es gibt dafür sind. Ich halte sie aber für einen gefährlichen Irrweg. auch schlecht strukturierte Studiengänge. Es gibt lange Solange wir keine Stipendienkultur haben und solange wir Wartezeiten bei Seminaren. Es gibt die Notwendigkeit nicht sicher sind, dass wir soziale Selektion ausschließen, oder auch den Wunsch, nebenbei zu arbeiten. Es gibt ist es vollkommen falsch, über dieses Thema zu reden. Des- bestimmte biografische Realitäten. Deswegen geht es wegen ist es auch richtig, dass wir an dieser Stelle ein um Verbesserungen auch auf der Angebotsseite. Wir kön- Stoppsignal setzen. Wir wollen mehr Studenten und nicht (B) nen dieses Problem nicht einseitig bei den Studierenden (D) weniger. Wir wollen die Leute nicht verschrecken. abladen. Letzter Punkt, Dienstrechtsreform: Die Dienstrechts- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ reformdebatte hatten wir bei der fünften Novelle HRG. Es DIE GRÜNEN) ist ein Gesetz, das einen echten Schritt nach vorn darstellt. Deswegen glaube ich, dass es das richtige Modell ist, Wir haben eine klare Strukturierung der Qualifizierungs- in Richtung Bildungsgutscheine zu gehen, auch wenn phase, wir haben eine frühere Eigenständigkeit des wis- hier Protest dagegen laut geworden ist. senschaftlichen Nachwuchses, wir haben eine Vielfalt von Zugangswegen, wir haben leistungsorientierte Besol- (Ulrike Flach [FDP]: Warum haben Sie dann dung. Dieses Gesetz verdient also ohne jeden Zweifel die unseren Antrag abgelehnt?) Attribute „modern“ und „zeitgemäß“. Es konkurriert im politischen Raum mit dem Modell der Es gibt allerdings zwei Problemgruppen. Das trifft zu Langzeitstudiengebühren. Etwa bei den Modellen in und ist auch richtig beschrieben worden, wenngleich man Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen und Schleswig- teilweise auch den Eindruck hatte, es würde, wenn ich das Holstein hat man eine großzügige Ausstattung mit staat- vorsichtig ausdrücken darf, maßlos übertrieben. lich finanzierten Bildungsgutscheinen. Das stärkt die Position der Studierenden und gibt ihnen ein Anspruchs- Es gibt also zwei Gruppen, die Probleme haben: Das recht. Das übt Qualitätsdruck auf die Hochschulen aus. sind zum einen diejenigen, die gerade im Begriff sind zu Das schafft bei den Studierenden – was durchaus wichtig promovieren bzw. sich zu habilitieren und die Sechsjah- ist – ein Ressourcenbewusstsein, ein Bewusstsein dafür, resgrenze überschritten haben oder denen erst später eine dass man mit der Ressource Bildung schonend umgeht. Professur winkt. Für diese Gruppen haben wir jetzt eine Wenn man diese Scheine auf Semesterwochenstunden- Übergangsregelung von drei Jahren, übrigens eine län- basis ausgibt, entspricht das auch den biografischen Rea- gere als Ihre von zwei Jahren, geschaffen. litäten und ermöglicht es den Studierenden, dies flexibel (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) zu handhaben. Ich glaube, das ist ein guter Ansatz und ein gutes Konzept. Ich glaube, diese Gruppe kann mit dieser Regelung gut leben. Das ist eine Sache, für die wir uns sehr eingesetzt An die PDS gerichtet, Frau Böttcher, weil ich leider vor haben. Ich bin froh, dass wir das erreicht haben. Ihnen spreche: Ich nehme Bezug auf Ihre Presseerklärung von heute. Es ist immer wieder die gleiche Leier: Bil- Zweitens geht es natürlich um die grundsätzliche Frage dungsgutscheine seien Studiengebühren. – Das sind sie des Wissenschaftsarbeitsmarktes, um Menschen, die 23188 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Dr. Reinhard Loske (A) sozusagen lang anhaltende Projektkarrieren immer wie- aber nicht, um den Universitäten mehr Autonomie zu ge- (C) der auf der Basis von Drittmitteln haben. Zu fragen ist, ob ben, sondern weil sie erneut Angst um ihre Länder haben, diese mit der neuen gesetzlichen Regelung Schwierigkei- lieber Herr Dr. Friedrich, und diese Fragen erneut über das ten haben oder ob es im Rahmen des Teilzeit- und Befris- Landesrecht regeln wollen. tungsgesetzes auch möglich ist, jenseits der Qualifizie- Die FDP stellt die Freiheit und die Autonomie der rungsphase, also jenseits der zwölf Jahre, weiterhin Hochschulen in den Mittelpunkt. befristet beschäftigt zu bleiben. Ich will an dieser Stelle ganz klar sagen: Wenn sich jemand für diesen Weg ent- (Beifall bei der FDP) scheidet, dann soll ihm dieser Weg offen stehen. Nicht das Hineinregieren in die Universitäten, sondern die (Dr. Gerhard Friedrich [Erlangen] Festsetzung von Rahmenbedingungen ist die Maxime [CDU/CSU]: Richtig!) liberaler Hochschulpolitik. Sie ist es immer gewesen und sie ist es auch zum heutigen Zeitpunkt. Deshalb begrüßen wir auch, dass das Ministerium jetzt angekündigt hat, dass man eine arbeitsrechtlich autori- Genau den gegenteiligen Weg beschreiten Sie, Frau sierte Fassung vorlegen und als Handreichung an die Bulmahn, heute mit Ihrer erneuten Reparaturnovelle Universitätsverwaltungen und an die Verwaltungen der zum wiederholten Male. Statt darüber nachzudenken, außeruniversitären Forschungseinrichtungen geben wird, ob das HRG noch zeitgemäß ist, regulieren Sie munter damit diese das auch wirklich handeln können. Perspekti- weiter. visch sollten wir uns dafür einsetzen, dass wir auf diesem (Ulrich Heinrich [FDP]: Das können sie: regu- Feld einen Wissenschaftstarifvertrag bekommen. Denn lieren!) ich glaube in der Tat, dass die Realitäten auf dem hoch dy- namischen und hoch flexiblen Wissenschaftsarbeitsmarkt Nehmen wir das Beispiel des Verbots von Studienge- etwas andere sind als auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. bühren. Lassen Sie doch die Hochschulen selbst entschei- Ein Wissenschaftstarifvertrag könnte insoweit mehr Klar- den, Frau Bulmahn, ob sie einen Teil der Ausbildungs- heit bringen. kosten von ihren Kunden, den Studenten, einfordern wollen. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Klaus (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Barthel [Starnberg] [SPD]: Die große Freiheit!) und bei der SPD) Es ist nicht unsere Aufgabe, hier in Berlin zu bestimmen, ob privates Geld in Form von Gebühren in die Univer- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Für die FDP-Fraktion sitäten fließt oder nicht. Das muss die Universität vor Ort (B) spricht jetzt die Kollegin Ulrike Flach. (D) entscheiden, (Jörg Tauss [SPD]: Frau Flach, merken Sie was? (Jörg Tauss [SPD]: Ach!) Mit denen können Sie nicht koalieren!) im Wettbewerb zu anderen Standorten und natürlich auch angesichts einer Kundschaft, die sehr genau prüfen wird, Ulrike Flach (FDP): Mit den Grünen? welche Qualität sie dort geboten bekommt. (Jörg Tauss [SPD]: Nein, mit denen!) (Zuruf von der SPD: Das ist so realitätsfremd, Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nur We- das gibt es überhaupt nicht! – Weitere Zurufe niges lässt so klar erkennen, welche politische Grundhal- von der SPD) tung zur Hochschule dieses Hauses umtreibt, wie das Wie genau sie das prüft, haben Sie, Frau Bulmahn, ja eben Hochschulrahmengesetz: auf der einen Seite Freiheit und dort oben gesehen. Sie haben gesehen, dass Sie zwischen Autonomie der Universitäten und auf der anderen Seite den Stühlen sitzen. der tiefe Glaube an Regulierung und die Weisheit des Staates. Das ist es, liebe Kollegen, was uns unterscheidet, Natürlich haben die Studenten ein feines Gespür dafür, und das prägt ganz offensichtlich auch die heutige Debatte dass das Ganze nur Wahlkampfpolemik ist und nicht und die vorliegenden Anträge. mehr. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) SPD und Grüne wollen den Hochschulen weitere Sie lassen die Studiengebühren durch Ländergesetze zu Fesseln anlegen. Frau Bulmahn hat das eben sehr deutlich und versuchen vor Ort so zu tun, als würden Sie ein Wahl- gemacht: die gesetzliche Einführung von verfassten Stu- kampfversprechen einhalten. dierendenschaften, die Studiengebühr und die Regelein- (Jörg Tauss [SPD]: Waren das Ihre Demons- führung von Bachelor- und Masterstudiengängen. Die tranten da oben?) PDS geht in der Person von Frau Böttcher sogar noch we- sentlich weiter in ihren Knebelungen und die Unionsfrak- – Ja, wir bestellen die immer, Herr Tauss. tionen sprechen sich gegen die vorgeschlagenen Regelun- Wir sehen auch keine Notwendigkeit, die verfassten gen des Bundes aus, Studierendenschaften gesetzlich vorzuschreiben. Wir sind (Dr. Gerhard Friedrich [Erlangen] sehr für die Mitwirkung der Studenten – wir kommen [CDU/CSU]: Nein, nein!) übrigens alle aus diesem Bereich; das wissen Sie –, aber Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23189

Ulrike Flach (A) wir alle kennen die Frustrationen über die real existieren- Liebe Kollegen von der SPD, eine Drittmittelkarriere (C) den StuPa- und AStA-Sitzungen. ist auch um vieles besser, als arbeitslos auf der Straße zu stehen. ( [FDP]: Zur Genüge!) (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Das ist pu- Herr Rachel hat zu Recht darauf hingewiesen, dass sich rer Zynismus!) nur 10 Prozent der Studenten an den Wahlen beteiligen. Dies ist ein wirklich demokratisches Dilemma. So geht es diesen jungen Leuten im Augenblick aber. Dies wird jeden Tag anhand der geschalteten Anzeigen deut- Die deutsche Regelung der Zwangsmitgliedschaft, lich. die Sie uns heute vorschlagen, ist wieder einmal ein Sonderweg. Die meisten Studentenschaften in Ländern (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) der westlichen Welt sind freiwillige Zusammen- Wir schlagen deshalb vor, in § 57 c HRG zwei sach- schlüsse, in deren Rahmen sich Studenten natürlich liche Gründe für eine weitere befristete Beschäftigung auch zu allgemeinen Themen äußern können. Wir haben nach Ausschöpfen der bislang höchstzulässigen Befris- also gar nicht diese Sorgen, die Sie umtreiben. Ich weiß tungsdauer festzuschreiben. Dies wäre erstens, wenn der überhaupt nicht, was Sie mit Ihrer Version der Zwangs- Mitarbeiter besondere Kenntnisse und Erfahrungen vo- kooperation wollen. Wollen Sie wirklich durch die rübergehend in Lehre oder Forschung einbringen soll, Hintertür das allgemeine politische Mandat wieder ein- oder zweitens, wenn der Mitarbeiter aus Drittmitteln ver- führen? Sie wissen, dass dies nicht geht. Das Bundes- gütet wird. verfassungsgericht hat sich deutlich dagegen ausge- (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Also auf gut sprochen. Deutsch: immer!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Jörg Ich glaube, diese Regelung ist sehr im Sinne der Be- Tauss [SPD]: So steht es auch im Gesetz!) troffenen. Sie ist europafest und besser als eine halbher- Wir halten auch die vorschnelle Festschreibung der Re- zige Gnadenfrist, die Sie heute mit Ihrem Vorschlag ein- geleinführung von Bachelor- und Masterstudiengän- gebracht haben. gen für falsch. Dabei muss deutlich gesagt werden – Herr Wir werden unsere Änderungsanträge hier zur Abstim- Rachel hat vorhin schon darauf hingewiesen –, dass es mung stellen. Wenn sie keine Mehrheit finden, werden natürlich eine CDU/FDP-Regierung war, die diese Studi- wir selbstverständlich Ihrem „Verregelungsgesetz“ nicht engänge möglich gemacht hat. Wir wollen diese Studi- zustimmen. engänge, selbstverständlich! Aber die Umsetzungsfrist in den Landeshochschulgesetzen ist erst vor einem Drei- Die FDP will keine Strangulierung der Hochschule. (B) vierteljahr abgelaufen. Das wissen Sie, Frau Bulmahn. Wir wollen die entfesselte, autonome, wettbewerbs- und (D) Der Akkreditierungsrat hat erst einen Bruchteil der neuen vor allen Dingen leistungsorientierte Uni. Studiengänge zertifiziert. Nun lassen Sie diese Studienab- (Beifall bei der FDP) gänger doch erst einmal auf den Arbeitsmarkt. Erst dann können wir sehen, ob hier etwas Vernünftiges geschaffen Die – das verspreche ich Ihnen – werden Sie nach dem 22. September bekommen. worden ist. Erst dann sind wir in der Lage, Regelstu- diengänge einzuführen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Anke Fuchs: Für die PDS-Fraktion Mit der unseligen Neuregelung des § 57 HRG haben spricht jetzt die Kollegin Maritta Böttcher. Sie, Frau Ministerin, eine ganze Generation von Wissen- schaftlern massiv verunsichert. Die nachgereichte Über- gangsregelung ist nicht ausreichend, auch wenn Sie Maritta Böttcher (PDS): Frau Präsidentin! Sehr ge- Tag für Tag scheibchenweise nachlegen. Eine schlechte ehrte Damen und Herren! Es ist Wahlkampf; das ist zu Regelung wird nun einmal nicht dadurch besser, Frau spüren. SPD und Grüne versuchen, sich als wackere Bulmahn, dass man sie später anwendet. Kämpfer gegen Studiengebühren in Szene zu setzen. Es ist für uns nicht einsichtig, warum der Staat es Wis- (Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE senschaftlern verbieten sollte, sich auch nach zwölf Jah- GRÜNEN]: Wacker!) ren noch auf eine befristete, aus Drittmitteln finanzierte – Herr Loske, Sie können erzählen, was Sie wollen. Zwi- Stelle zu bewerben. schen Anspruch und Wirklichkeit liegen Welten: Wahl- (Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE kampfwelten. GRÜNEN]: Das tut er auch nicht!) (Beifall bei der PDS) Sicher ist es nicht der Traum eines Forschers, immer wie- Die von der Koalition vorgelegte Novelle ist kein Ge- der ein befristetes Arbeitsverhältnis einzugehen. Dennoch setz gegen Studiengebühren; das wissen Sie. Es ist ein Ge- gibt es viele, die darin eine Möglichkeit für eine flexible setz, das vorhandene Gebühren nachträglich legitimiert Lebensplanung sehen. und sogar die Einführung neuer Gebühren absichert. (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Quatsch! – Was geschieht, wenn Sie, Frau Ministerin, Ihr Gesetz Jörg Tauss [SPD]: Sie wollen einen Normzu- durchkriegen? Werden CDU und FDP in Baden-Würt- stand daraus machen!) temberg die Strafgebühren für Langzeitstudierende 23190 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Maritta Böttcher (A) abschaffen? Werden die Sozialdemokraten in Niedersach- Damit setzen Sie nicht nur Ihre eigene Glaubwürdigkeit, (C) sen sowie SPD und Bündnisgrüne in Schleswig-Holstein sondern auch die der parlamentarischen Demokratie aufs ihre bereits beschlossenen Gebührenpläne zurückneh- Spiel. Wenn heute eine Tür aufgestoßen wird, Herr Loske, men? – Nichts wird passieren. dann ist es höchstens ein kleiner Spalt. Aber durch diesen Spalt werden die Studierenden nicht gehen. (Jörg Tauss [SPD]: Deswegen handeln wir jetzt!) Die Alternativen liegen auf dem Tisch. Die PDS hat ei- nen eigenen Entwurf für eine 6. HRG-Novelle vorgelegt. Im Gegenteil, Herr Tauss: Ihr Gesetzentwurf gibt aus- drücklich grünes Licht für die Entwicklung neuer Ge- Erstens. Wir bleiben bei der klaren Forderung nach ei- bührenmodelle, wie sie etwa in Nordrhein-Westfalen oder ner Sicherung der Gebührenfreiheit des Studiums. Rheinland-Pfalz geplant sind. Deutschland braucht in Zukunft nicht weniger – das ist richtig –, sondern mehr gut ausgebildete Akademikerin- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Aha!) nen und Akademiker. Neue Begriffe, wie Studienkonten oder Bildungsgut- (Beifall bei der PDS) scheine, sollen das verschleiern. Wer sein Studienkonto verbraucht hat, Herr Loske, wer seinen letzten Bildungs- Die schrittweise Einführung von Studiengebühren gutschein eingelöst hat, wird in Zukunft in Mainz, Düs- schreckt junge Leute, insbesondere aus Familien mit ge- seldorf, Trier oder Münster wie schon heute in Heidelberg ringem Einkommen von der Aufnahme eines Studiums oder Tübingen zur Kasse gebeten werden. Die von der nachweislich ab. Bundesregierung vorgelegte Novelle wird dies nicht ver- Zweitens. Wir fordern die Absicherung der verfassten hindern, weil sie es gar nicht verhindern will. Studierendenschaften in allen Bundesländern mit dem Aber es kommt noch schlimmer: Die in Ihrem Gesetz- Recht, zu gesellschaftlichen Fragen Stellung zu beziehen. entwurf enthaltene unbestimmte Ausnahmeregelung (Beifall bei der PDS) schließt sogar Gebühren ab dem ersten Semester nicht aus. Das wissen Sie auch. Drittens. Wir befürworten die Einführung neuer Ba- chelor- und Masterstudiengänge, soweit die Durchlässig- (Dr. Peter Eckardt [SPD]: Das ist sachlich keit zwischen den Studiengängen gewährleistet ist. falsch!) Viertens. Wir haben einen Vorschlag für eine Über- Studentinnen und Studenten spüren genau: 30 Jahre nach- gangsregelung zum neuen Fristvertragsrecht vorgelegt dem auch die alte Bundesrepublik Studiengebühren abge- und freuen uns, dass die Koalitionsfraktionen diesen Vor- schafft hat, stellen nun nach Union und FDP auch SPD schlag aufgegriffen haben. (B) und Grüne die soziale Öffnung der Hochschulen infrage. (D) Das steht auch in meiner Presseerklärung. Noch ein Wort zur FDP. Heuern und Feuern darf nicht zum Normalfall an Hochschulen werden. Die PDS wird (Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE daher den Änderungsantrag der FDP ablehnen. Liebe GRÜNEN]: Das ist trotzdem falsch!) Frau Flach, Das war lange ein Markenzeichen sozialdemokratischer (Dr. Gerhard Friedrich [Erlangen] [CDU/ Bildungspolitik, Herr Loske. CSU]: Sie ist wirklich lieb!) (Zuruf von der SPD: Das ist dummes Zeug, auf der einen Seite reden Sie von einer Entrümpelung des was Sie da erzählen!) Hochschulrahmengesetzes. Auf der anderen Seite wollen Bildungspolitiker wissen: Die studentischen Organisatio- Sie detaillierte Regelungen zur Befrisung von Arbeitsver- nen streiten sich über vieles, aber nicht über Studienge- trägen ins Gesetz schreiben. Das passt nun wirklich nicht bühren. Diese müssen verboten werden, und zwar ohne zusammen und verträgt sich schon gar nicht mit unserer Wenn und Aber. und Ihrer Zielsetzung, endlich wieder die Tarifpartner zum Zuge kommen zu lassen. (Beifall bei der PDS) Zwischen dem Entwurf der Regierungsfraktionen und Die Studierenden lehnen Ihr Gesetz klar ab. In dieser dem der PDS liegen bis auf die gravierende Ausnahme der Frage sprechen der Dachverband der Studierendenvertre- Studiengebühren keine Welten. Genau das aber ist der tungen, fzs, die Juso-Hochschulgruppen und die Grünen- Grund dafür, dass wir Ihrem Gesetzentwurf heute nicht Hochschulgruppen mit einer Stimme. Dass das die Regie- zustimmen werden. Wer Sicherheit für die Studierenden rung nicht hören will, kann ich verstehen. Selbst die klaren will, muss dem Alternativentwurf der PDS zustimmen. Beschlüsse Ihrer eigenen Partei ignorieren Sie souverän. (Beifall bei der PDS) Auch ich möchte Sie daran erinnern, dass es der Bun- desparteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutsch- lands war, der noch im November 2001 gegen das aus- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Für die SPD-Fraktion drückliche Votum von SPD-Bundespolitikern auf einer spricht jetzt der Kollege Dr. Peter Eckardt. uneingeschränkten Sicherung der Gebührenfreiheit be- standen hat. Dr. Peter Eckardt (SPD): Frau Präsidentin! Meine (Jörg Tauss [SPD]: Da bin ich überstimmt sehr verehrten Damen und Herren! Um das noch einmal worden!) klar zu machen: Die sozialdemokratische Bundestags- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23191

Dr. Peter Eckardt (A) fraktion ist für ein Verbot von Studiengebühren bis zum Regelung können ja einmal nachschauen, wie sich die (C) ersten berufsqualifizierenden Abschluss. Diese Position Zahlen der Studierenden an den hessischen Hochschulen steht auch in der 6. HRG-Novelle. Alle anderen Interpre- in den 60er-Jahren und nach Ende der Studiengebühren an tationen gehen fehl und dienen nur der Absicht, ein gene- den Hochschulen des ganzen Landes entwickelt haben. relles Studienverbot – das gilt für alle, auch für die aus- (Ulrike Flach [FDP]: Das war doch der ländischen Weiterbildungsstudien – zu diskreditieren. Babyboom!) Ich möchte vorweg auch noch auf etwas zu sprechen – Mit dem Babyboom lässt sich noch nicht erklären, dass kommen, was Herr Rachel und Frau Flach gesagt haben. der Prozentsatz an Abiturienten bei denjenigen höher war, Ich denke nicht, dass die Autonomie der Hochschulen die zur Babyboomgeneration gehören. – das sollten eigentlich alle beherzigen, die sich mit Hoch- schulpolitik beschäftigen – von dem Recht abhängt, von (Beifall bei Abgeordneten der SPD) denjenigen, die sich ein Studium selber nicht leisten kön- Herr Rachel, ich weiß gar nicht, ob Sie nun für oder ge- nen, auf deren Begabung wir aber angewiesen sind, Stu- gen Studiengebühren waren. Oder habe ich Sie einfach diengebühren zu verlangen. Die Autonomie der Hoch- nicht richtig verstanden? schulen auf diesen Bereich zu konzentrieren scheint mir eine Fehlinterpretation der Verpflichtung der Hochschu- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Sie hätten len in Deutschland gegenüber den nachfolgenden Gene- zuhören sollen!) rationen zu sein. – Ich glaube, dass Sie ein kräftiges Jein gesagt haben und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dass Sie sich erst noch rückversichern müssen. Ist das so DIE GRÜNEN) richtig? Ich möchte noch etwas anderes deutlich machen (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Sie haben das – darauf wird in der Diskussion immer wieder hingewie- noch immer nicht verstanden! – Jörg Tauss sen –: Es gibt natürlich auch sozialdemokratische Hoch- [SPD]: Stoiber hat nichts dazu gesagt!) schulpolitiker, die andere Vorstellungen von der Funktion – Gut, dann habe ich das nicht verstanden. der Universitäten, von deren Rechtssituation und deren Möglichkeiten haben, Geld zu bekommen. Aber jetzt rede Auch prominente Verfechter von Studiengebühren ha- ich und ich bin der Meinung, die ich Ihnen eben darge- ben in den 70er- und 80er-Jahren als Erste aus ihren stellt habe. Familien an einer Hochschule gebührenfrei studiert und fordern jetzt Studiengebühren, wenn auch sozial verträg- (Ulrike Flach [FDP]: Aber die anderen sind liche. Wie man hört, hat auch Baden-Württemberg zuständig, Herr Dr. Eckardt!) (B) Schwierigkeiten, für die Abgrenzung des Sozialverträg- (D) – Wir werben für unsere Position. Auch ich werde versu- lichen eine glaubhafte Definition zu finden. chen – Sie wissen ja, aus welchem Bundesland ich Eine wichtige Regelung der 5. HRG-Novelle für komme –, weiterhin dafür zu werben. Wir werden sehen, befristete Arbeitsverhältnisse wird in der 6. Novelle wie das ausgeht. noch einmal klargestellt. § 57 b des HRG enthält eine (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Übergangsregelung, die viele Fragen der unmittelbar Be- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) troffenen aus den Hochschulen beantwortet und bei In- teressenkonflikten zwischen Hochschulverwaltungen und Die 6. Novelle zum Hochschulrahmengesetz, über die Bediensteten einen klärenden Eingriff möglich macht. wir heute diskutieren, verwirklicht in einem wichtigen Diese Übergangsregelung beträgt für Wissenschaftlerin- Bereich die hochschulpolitischen Ziele der Koalition und nen und Wissenschaftler drei Jahre sowie für studentische rundet noch in dieser Legislaturperiode die Reformpolitik Hilfskräfte ein Jahr. Befristete Arbeitsverhältnisse spielen der Regierungsparteien sowie der Bildungsministerin in an den Hochschulen und Forschungseinrichtungen, wie Wissenschaft und Forschung ab. Die Festschreibung von alle wissen, eine wichtige, aber in vielen Bereichen eine bundesweiter und uneingeschränkter Gebührenfreiheit ist andere Rolle als in der privaten Wirtschaft. Die Stellenin- das Kernstück dieser Reform und ein notwendiges bil- haber haben in Forschung und Lehre wichtige Aufgaben: dungspolitisches Signal an Eltern, Studierende sowie an Sie werben Drittmittel ein und leisten einen großen Bei- Schülerinnen und Schüler, dass in Deutschland ein zügi- trag zum Ansehen unserer Hochschulen. Das Verhältnis ges Erststudium bis zum Prüfungsabschluss keine zu- befristeter zu unbefristeten Stellen im akademischen Mit- sätzlichen finanziellen Belastungen bringen wird. telbau sollte aber ausgewogen sein und sich nicht zuguns- Die Argumentation, Studiengebühren seien antiquiert ten der lebenslang befristet Beschäftigten verschieben. und sozial ungerecht, würden aber den Hochschulen die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten notwendigen Finanzmittel zuführen, die sie zur Verbesse- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) rung ihrer Infrastruktur dringend benötigten, geht fehl. Nachdem ich mit vielen gesprochen habe, appelliere (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ich auch hier an die Personalabteilungen der deutschen Antiquiert waren die Bedingungen zu meiner Studienzeit. Hochschulen, die möglicherweise falsch verstandene Noch zu Beginn der 70er-Jahre wurden in der damaligen Regelung der befristeten Arbeitsverhältnisse nicht dazu Bundesrepublik einheitlich 150 bis 160 DM Studienge- zu benutzen, in manchen Fachbereichen Personalabbau bühren pro Semester erhoben. Lediglich in Hessen galt für zu betreiben, indem sie keine befristeten Arbeitsverhält- Landeskinder Gebührenfreiheit. Die Kritiker der jetzigen nisse mehr unterschreiben, weil sie befürchten, vor 23192 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Dr. Peter Eckardt (A) Arbeitsgerichten Klagen von Betroffenen auf dauerhafte Wenn ich mich richtig entsinne, haben wir bei der so ge- (C) Anstellung zu verlieren. Die jetzigen Regelungen des HRG nannten Rüttgers-Reform, und ihre Klarstellungen im Teilzeit- und Befristungsgesetz (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Wer ist reichen völlig aus, um dieses Problem zu lösen. denn das?) Die 5. und die 6. HRG-Novelle ermöglichen es den der Sie ja zugestimmt haben, Frau Bulmahn, gesagt, wir Hochschulen, ihrer gesellschaftlichen Aufgabe unter wollten mehr Leistung durch mehr Wettbewerb. Das ist geänderten internationalen und nationalen Bedingungen die Zielsetzung. Mit der Kollegin Flach und der FDP bin gerecht zu werden und ihre Leistungsfähigkeit weiter ich der Auffassung, dass es Wettbewerb zwischen einzel- zu steigern. Daher bitte ich Sie, unserer Novelle zuzu- nen Hochschulen, aber auch zwischen den verschiedenen stimmen. Hochschulsystemen der Länder geben muss. Wettbewerb Danke schön. kann es aber ohne gewisse Spielregeln nicht geben. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Deshalb ist meine Arbeitsgruppe nicht der Auffassung, DIE GRÜNEN) dass man das Hochschulrahmengesetz ersatzlos abschaf- fen kann. Wir diskutieren ebenso wie die SPD über den richtigen Inhalt von Wahlprogrammen. Bei uns wird über Vizepräsidentin Anke Fuchs: Ich erteile das Wort dieses Thema in der nächsten Woche entschieden. Viel- dem Kollegen Dr. Gerhard Friedrich für die CDU/CSU- leicht werde ich zu den Verlierern gehören; das werde ich Fraktion. dann gelassen ertragen. Aber ich setze mich nicht für die ersatzlose Abschaffung des Hochschulrahmengesetzes Dr. Gerhard Friedrich (Erlangen) (CDU/CSU): Frau ein; denn Wettbewerb ohne Spielregeln kann nicht funk- Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kol- tionieren. legin Flach, Sie haben uns hier einen sehr langen Antrag (Beifall bei der CDU/CSU) vorgelegt, der in den Ausschuss gehört. Ich bin nicht in der Lage, in einer Stunde sieben Seiten zu beurteilen. Ich komme zum nächsten Thema, das Sie in Ihrer No- Aber ich sage Ihnen, warum ich den Antrag ablehne. velle ansprechen, Frau Bulmahn, nämlich zum Verbot von Studiengebühren. Herr Loske, obwohl Sie sonst ein (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Er ist auch nachdenklicher Mensch sind, haben Sie heute die Zuhö- nicht ernst gemeint!) rer verwirrt, indem Sie gesagt haben, Studiengebühren für Auf Seite 1 Ihres Antrags ist von umfassender Autonomie Langzeitstudenten seien schlecht, dies aber in Ihrem Ge- der Hochschulen die Rede. Ich empfehle Ihnen, einmal setzentwurf nicht verboten haben. Es geht um Studienge- (B) mit dem bayerischen Wissenschaftsminister Zehetmair bühren für das Erststudium. Hier bin ich mit Ihnen der (D) darüber zu reden, wohin das führt. In Bayern sind wir Meinung, dass es so wie gegenwärtig nicht gehen kann. stolz darauf, dass sich die Besten nach Bayern berufen las- Wir brauchen wegen der sozialen Abfederung – man sen – nicht alle, aber viele. kann es auch anders beschreiben – entweder ein völlig (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Die bewer- neues Stipendiensystem oder eine Regelung, wonach ben sich in München, aber nicht woanders in Studiengebühren so lange gestundet werden, bis derje- Bayern!) nige, der studiert hat, im Beruf, beispielsweise als Chef- oder Oberarzt, kräftig verdient. Würden wir in Bayern immer die Vorschläge der Fakultä- ten berücksichtigen, würden wir nicht immer die Besten (Ulrike Flach [FDP]: So ist es!) berufen. Da gibt es Seilschaften und von manchem wird In diesem Punkt sind wir uns noch nicht einig. So müss- die eigene Klientel bedient. ten wir uns zunächst intensiv mit dem so genannten aus- (Ulrike Flach [FDP]: Das gibt es aber in jedem tralischen Modell befassen. Wenn wir diese Dinge geprüft Beruf!) haben, dann kann ich sagen, ob ich für oder gegen Studi- engebühren bin. – Dabei muss man nicht immer mitmachen. Ich bin für mehr Autonomie, aber nicht für die totale Autonomie. (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Das zeigt Wegen dieses völlig falschen Satzes kann ich Ihrem An- ein Blick in die europäischen Länder!) trag, der im Übrigen sehr viel Richtiges enthält, nicht zu- Ich will nachdenken, Frau Ministerin, Sie aber wollen das stimmen. Denken verbieten. Das verstehe ich nicht. (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Meinen Sie (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch mit den Seilschaften den Fall Oberreuter? Sa- bei der SPD) gen Sie doch mal was zum Fall Oberreuter!) Auch der zuständige niedersächsische Minister will nach- 90 Prozent Ihres Antrages würde ich zustimmen. Aber da denken. Auch Herr Glotz, Ihr Vorgänger als bildungspoli- in ihm ein völlig falscher Satz enthalten ist, kann ich nicht tischer Sprecher der Fraktion, ist für Studiengebühren. mehr zustimmen. (Dr. Peter Eckardt [SPD]: Da muss er nicht (Beifall bei der CDU/CSU) Recht haben, Herr Friedrich!) Wenn wir über die Hochschulreform reden, sollten wir – Er muss nicht Recht haben, aber setzen wir doch einmal uns darüber verständigen, welche Ziele wir verfolgen. den Streit fort. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23193

Dr. Gerhard Friedrich (Erlangen) (A) Es ist wirklich seltsam: Kein Land hat, soweit ich weiß, sen muss. Es gibt zweierlei Arten von Bildungsgutschei- (C) ernsthaft die Absicht, in den nächsten Jahren Studienge- nen: zum einen das Modell aus Rheinland-Pfalz – darüber bühren für das Erststudium einzuführen. kann man diskutieren –, das Gebührenfreiheit während (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Dann des Erststudiums sichert, wenn man zügig studiert. schreiben wir es doch auf!) (Ulrike Flach [FDP]: So ist es!) – Nein. – Damit verbieten Sie etwas, was niemand zurzeit Ich bin dafür, auch über ein weiteres Modell zu diskutie- machen will. Das ist doch abwegig. ren. Nach diesem Modell werden die Beträge für die (Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Barthel Grundfinanzierung der Hochschulen gekürzt, dafür wird [Starnberg] [SPD]: Wir brauchen es doch nicht aber jedem Abiturienten ein Gutschein ausgehändigt, den zu verbieten, wenn es nicht eingeführt wird!) er dort, wo er studiert, abliefern muss. Hier geht es um et- was anderes als bei dem Modell aus Rheinland-Pfalz. Das – Regen Sie sich doch nicht so auf! Problem aber ist, dass nicht alle Länder mitmachen. Ber- Diese Debatte wird in ungefähr drei Jahren beendet lin wäre beispielsweise dafür, weil es mehr Studenten im- sein, dann werden der Kollege Rachel und ich wissen, ob portiert als exportiert und davon profitieren würde. Frau wir für Studiengebühren sind. Bulmahn, lassen Sie uns die Dinge doch in Ruhe disku- tieren und verbieten Sie die Dinge nicht. (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Wenn es eingeführt ist, verbieten wir es!) (Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben wir doch!) Ich könnte Ihnen jetzt eine Schlagzeile vorlesen, in der an Herrn Berninger, den ich sehr schätze, die Frage gestellt Jetzt noch eine letzte Anmerkung zu den Studieren- wird: „Herr Berninger, seit wann sind Sie denn für Studi- denschaften. Das Wort sollte man verbieten. Ich verstehe engebühren?“ Die Grünen haben das doch in der Fraktion nicht, wie man die deutsche Sprache so verhunzen kann. diskutiert; auch Herr Berninger, nicht gerade der unbe- deutendste Bildungspolitiker der Grünen, (Beifall bei der CDU/CSU) (Jörg Tauss [SPD]: Ist er da?) Außerdem bleibe ich, Herr Kollege Loske, bei meinem Standpunkt, dass dieses nicht progressiv, sondern reak- sondern einer der besten, tionär ist. Sie führen den Ständestaat in Deutschland wie- (Beifall der Abg. Ulrike Flach [FDP]) der ein. Das ist mittelalterlich. hat ernsthaft über Studiengebühren nachgedacht. Warum (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und sollte man ihm das denn verbieten, Frau Ministerin der FDP) (B) (D) Bulmahn? Ich verstehe das nicht. Darauf sind Sie noch stolz. Lesen Sie einmal in der Staats- (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Nachden- lehre – das ist keine Polemik – ken wird doch nicht verboten!) (Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE Damit es zu keiner Verleumdung kommt, möchte ich GRÜNEN]: Nein! Auf keinen Fall!) festhalten, dass ich zurzeit weder für noch gegen Studien- nach, woher die Zwangskörperschaften kommen. Sie gebühren bin, sondern dafür, dass wir die noch nicht ab- kommen – ich erinnere an Zünfte usw. – aus dem Mittel- geschlossene Diskussion fortsetzen. alter. Dennoch sind Sie stolz darauf, das in Deutschland (Beifall bei der CDU/CSU) vorzuschreiben. Irgendwann werden wir entscheiden müssen. Es gibt bei (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Jetzt fängt uns wie auch bei der SPD unterschiedliche Meinungen. der wieder mit den Handwerkskammern an! Zurzeit sitzt Frau Bulmahn zwischen allen Stühlen. Das ist vermintes Gelände für Sie!) (Ulrike Flach [FDP]: So ist es!) – Die haben doch vernünftige Aufgaben, Herr Kollege. Der Parteitag ist für das Verbot aller Studiengebühren; Ich war vier Jahre im Studentenparlament. Wir hatten Herr Glotz ist für Studiengebühren; doch keine vernünftigen Aufgaben. Was haben wir ge- (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Halten Sie macht? Wir haben das Geld, das man uns gegeben hat, für sich doch an das, was wir hier vorlegen! Halten jeden möglichen Unsinn ausgegeben. Sie sich doch an den Gesetzentwurf!) (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Ja, das ha- der Wissenschaftsminister von Niedersachsen ist eigent- ben Sie beim RCDS gemacht!) lich für Studiengebühren. Lassen Sie den Mann doch Wir haben damals, 1968/69, über Vietnam diskutiert. Ich nachdenken. weiß nicht, ob die Amerikaner jemals erfahren haben, was (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – wir im Erlanger Studentenparlament im Hinblick auf Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Wir diskutie- Vietnam beschlossen haben. ren hier über einen Gesetzentwurf und nicht (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Vielleicht über Zitate!) war es trotzdem nicht falsch! – Dr. Reinhard Nebenbei möchte ich noch auf das Problem der Bil- Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ganz dungsgutscheine eingehen, weil man auch dabei aufpas- falsche Einstellung!) 23194 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Dr. Gerhard Friedrich (Erlangen) (A) – Nein, Herr Kollege Loske. – Ich betone: Auch die Taxi- Herr Rachel, Sie gehören im Grunde genommen – ich (C) fahrer gehören keiner Zwangskörperschaft aller Taxifah- weiß, es wird in Ihren Reihen sehr differenziert gesehen – rer an; dennoch haben sie demokratische Beteiligungs- zur Lobby der Professoren. Dazu zählen nicht viele. Es gab rechte in diesem Staat. leider noch zu viele Professoren, die ihre Assistenten, die (Beifall bei der CDU/CSU) jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, bis ins hohe Alter in Abhängigkeit gehalten haben. Das war ihnen In den verfassten Studentenschaften passiert permanent recht und billig. Sie waren relativ preiswerte Arbeitskräfte. Missbrauch. Frau Ministerin Bulmahn, Sie lösen ein Pro- Wir haben die Juniorprofessur eingeführt und die Hoch- blem, das den meisten Studenten gar nicht bekannt ist. Ei- schuldienstrechtsreform durchgeführt, damit diejenigen, nem Aufruf zur Teilnahme an einer Demonstration für die die in jungen Jahren eine internationale wissenschaftliche verfasste Studierendenschaft würden in meinem Wahlkreis Karriere machen wollen, nicht mehr ins Ausland, in die 20 linke Hochschulstudenten und zehn altlinke 54-jährige USA, gehen müssen. Dies sind wichtige Erfolge der Bun- Lehrer, die sich an die 68er-Zeiten erinnern können, folgen. desregierung und der sie tragenden Koalition. Zwar sieht sonst kein Mensch irgendein Problem; aber Sie, Frau Bulmahn, lösen es. Dafür habe ich kein Verständnis. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Wir haben das BAföG erhöht. Auch darüber haben wir Abg. Ulrike Flach [FDP]) schon geredet. (Ulrike Flach [FDP]: Aber zu wenig!) Vizepräsidentin Anke Fuchs: Jetzt hat der Kollege Wir haben mit dem Bildungskredit ein völlig neues In- Jörg Tauss für die SPD-Fraktion das Wort. strumentarium geschaffen. Frau Kollegin Flach, Ihrerseits hat es damals an Fantasie gefehlt, solche neuen Instru- Jörg Tauss (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kollegin- mente zu schaffen. Gähnen Sie nicht! Hören Sie zu! Wir nen! Liebe Kollegen! Ich war 1968 15 Jahre alt. Damals haben all das getan, was Sie damals nicht getan haben. Ich war ich noch nicht in irgendeinem Studentenparlament. wiederhole: Wir haben den Bildungskredit auf den Weg Damals waren wir im Schülerparlament hochaktiv und gebracht. haben Schülerarbeit gemacht. Herr Kollege Friedrich, (Zuruf von der CDU/CSU) man sieht an uns allen, dass dabei etwas Ordentliches he- rausgekommen ist. Wenn junge Menschen diskutieren, – Man kann es nur immer wieder formulieren. dann kann das nicht schaden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben den Hoch- Was hier vorgetragen worden ist, ist zum Teil schon schulbau, der unter Ihrer Regierungsverantwortung jahre- (B) putzig. Lieber Kollege Rachel, zunächst möchte ich Ihnen lang stagniert hat, vorangebracht. Sie standen bei den Län- (D) eine kleine Geschichte erzählen. Ich habe kürzlich einen dern in der Kreide; Sie haben das Geld an die Länder nicht fehlgeleiteten Brief bekommen, den ich mir trotzdem mehr überwiesen, Sie haben den Hochschulbau an die – ich gebe es zu – angeschaut habe. Der Brief war vom Wand gefahren. Wir haben die Mittel für den Hochschul- Ring Christlich-Demokratischer Studenten. Der Brief bau in diesem Land um 20 Prozent erhöht. Das ist Fakt. enthielt die Bitte, dem RCDS Argumente zu liefern, mit denen er ein Plakat gegen die Bundesregierung gestalten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ könne. Dieser Brief ist versehentlich bei der SPD gelan- DIE GRÜNEN) det. Mittlerweile weiß ich: Der RCDS wäre von Ihnen Die Mittel flossen in Großgeräte. falsch informiert worden. Also habe ich den Ring Christ- lich-Demokratischer Studenten über unsere Hochschular- (Zuruf des Abg. Thomas Rachel [CDU/CSU]) beit aufgeklärt. Ich nehme an, man war von dieser Auf- – Ja, wo leben Sie denn? Ich habe eine Uni vor der Haus- klärung außerordentlich beeindruckt. Kollege Rachel, ich tür, fünf Minuten von meinem Büro entfernt; ich sehe, habe allerdings vergessen, Ihnen eine Kopie dieses was in Karlsruhe gebaut wird. Aus dem Bundesetat wer- Schreibens zukommen zu lassen; deswegen möchte ich an den gerade wieder 60 Millionen für die Nanotechnologie dieser Stelle eine kleine Nachhilfestunde geben. bereitgestellt. (Zuruf des Abg. Thomas Rachel [CDU/CSU]) Schauen Sie sich auch in den Hochschulen in Bayern – Sie müssen sich die Bilanz schon in Ruhe anhören. an, in welchem Umfang Mittel des Bundes nach Bayern fließen. Ich weiß, Sie machen damit Öffentlichkeitsarbeit, Nachdem Sie an unserer Bilanz herumgemäkelt haben aber wir geben das Geld, damit auch in Bayern die Besten – das stört mich generell –, möchte ich Ihnen nun mittei- nicht gehen, sondern bleiben. len, was wir hochschulpolitisch getan haben. Jetzt hören Sie einmal zu! Wir haben ein neues Dienstrecht auf den (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Das ist doch Weg gebracht. Herr Kollege Friedrich, nachdem in den Quatsch! – Ulrike Flach [FDP]: Sie wissen Jahren Ihrer Regierungszeit der Muff unter den Talaren doch, dass die Länder das finanzieren!) herrschte, haben wir uns gesagt: Wir müssen die verkrus- – Ein paar Leute gibt es, die Sie der Hochschule aufs Auge teten Strukturen aufbrechen. drücken wollen, CDU/CSU-Spezis, aber das ist eine spe- (Beifall bei der SPD) zielle Situation. Das geschah übrigens mit Zustimmung eines Teils der (Dr. Gerhard Friedrich [Erlangen] [CDU/ Professorenschaft. CSU]: Herr Glotz war besser!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23195

Jörg Tauss (A) – ist ein hervorragender Mann; das ist doch und Ausländern auch an den Hochschulen. Wenn Sie auf- (C) völlig klar. Ich bin doch nicht so vermessen zu sagen, ich hören, das Zuwanderungsgesetz in der Form zu blockie- wäre besser als Peter Glotz. ren, wie Sie es getan haben, dann ist die Chance, dass wir Ausländerinnen und Ausländer für ein Studium in (Dr. Gerhard Friedrich [Erlangen] [CDU/ CSU]: Deutschland gewinnen können, noch viel besser. Der hat nicht solchen Unsinn gesagt!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Aber auch Peter Glotz kann irren; hinsichtlich der Studi- engebühren ist das der Fall. Sonst irrt er nicht, aber in dem Australien ist ein gutes Beispiel. Es ist richtig, dort gibt es Punkt tut er es. in der Tat eine starke Zunahme von Studierenden aus asia- tischen Ländern. Parallel dazu ist – ähnlich wie in Öster- (Rolf Kutzmutz [PDS]: Wir sind noch nicht reich und in anderen Ländern – der Anteil australischer bei der Gotteslästerung!) Studierender aus sozial schwächeren Elternhäusern in den Wir haben das Hochschulmarketing gebündelt. Herr Universitäten dramatisch zurückgegangen. Auch das ist Kollege Friedrich, Sie waren dabei: Als wir in dieser fan- eine Folge des australischen Modells. Ich bitte Sie also, nicht nur die eine Seite zu betrachten, sondern auch die tastischen Sitzung über internationales Hochschulmarke- andere. ting sprachen, kam Herr Rüttgers auf die Idee – Sie ken- nen seine bedächtige Art; er ist beim Reden immer fast Zurück zu unserer Hochschulreform: Die erfolgreiche eingeschlafen –, wir könnten vielleicht eine CD-ROM Bilanz, die wir in diesem Zusammenhang nach vier Jah- machen, um deutsche Hochschulen im Ausland vorzu- ren vorzutragen haben, wird durch die heute zur Beratung stellen. Das war der Höhepunkt dessen, was Ihnen zum vorliegende weitere Novelle abgerundet. Ich weiß gar Thema Hochschulmarketing einfiel. nicht, was Sie daran herumkritteln. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir haben gesagt, wir machen eines nach dem anderen, DIE GRÜNEN) erst die vierte, dann die fünfte und anschließend die sechs- te Änderung des Hochschulrahmengesetzes; wir werden Wir haben Millionenbeträge in das Hochschulmarketing die Probleme der Reihe nach angehen, die Sie uns in Form gesteckt, damit die Hochschulen eine Chance haben, sich eines Reformstaus hinterlassen haben. auch im Ausland zu präsentieren. (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD], an die CDU/ CSU gewandt: Sonst könnten Sie uns doch geis- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Herr Kollege, gestat- tig überhaupt nicht mehr folgen!) ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Friedrich? Nach der Dienstrechtsreform wenden wir uns nun der Frage der Studiengebühren und der Frage der verfassten (B) Jörg Tauss (SPD): Aber selbstverständlich, lieber Studierendenschaft zu. (D) Kollege Friedrich. Ich bin immer noch bei der Bilanz; ich Meine Kolleginnen und Kollegen und insbesondere trage sie wirklich gern vor. Herr Kollege Friedrich, ich weiß nicht, wo Sie während der Anhörung gewesen sind. Dr. Gerhard Friedrich (Erlangen) (CDU/CSU): Ja, bei (Dr. Gerhard Friedrich [Erlangen] [CDU/ der Bilanz sind Sie tatsächlich, aber nicht bei der Sache. CSU]: Anwesend waren wir!) (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und In wirklich beeindruckenden Worten haben uns die Stu- der FDP) dierenden Fälle geschildert, dass Studierendenvertreter Herr Kollege Tauss, weil Sie gerade über Hochschul- im Rahmen ganz normaler gesellschaftspolitischer Tätig- marketing geredet haben, frage ich Sie: Wie erklären Sie keit, die sogar zu ihren Studiengängen gehört hat, von sich, dass die meisten Studenten zum Beispiel aus Asien rechtsradikalen Studierendenorganisationen mit Prozes- sen wegen Veruntreuung und anderer Delikte überzogen in Länder gehen, die Studiengebühren erheben, zum Bei- worden waren. Wir stoppen diesen Unfug und sagen: Es spiel in die USA? gibt auch an der Hochschule eine Demokratie und Arti- kulationsmöglichkeiten. Jörg Tauss (SPD): Um bei Karlsruhe zu bleiben: Wir (Beifall bei der SPD) haben dort im Bereich Informatik einen hervorragenden Anteil von ausländischen Studierenden, knapp 25 Pro- Aus diesem Grund werden wir bundesweit dafür sorgen, zent. Sehr viele davon kommen aus Asien. dass Studierende verantwortungsbewusst in demokrati- schen Gremien mitwirken. Sie tun es heute übrigens ver- Die Entscheidung, ob jemand ein Studium in einem an- antwortungsbewusster, als es zu Ihren Zeiten war. 1968 deren Land aufnimmt, hängt doch nicht davon ab, ob Stu- war ja nicht alles ganz in Ordnung, wie man gehört hat; diengebühren erhoben werden. Sie hängt von der Qualität ich habe es von weitem verfolgt. Dagegen sind die heuti- der jeweiligen Hochschule ab. Seit wir dafür gesorgt ha- gen Studierenden doch wirklich brav. Heute sind ein paar ben, dass die Hochschulen besser werden, kommen auch Flugblättchen geflogen; aber das ist alles, was da gele- wieder mehr ausländische Studierende. gentlich geschieht. Wir sollten den heutigen Studierenden (Beifall bei Abgeordneten der SPD) nicht vorwerfen, sie würden das politische Mandat in ir- gendeiner Form missbrauchen. Wir geben es ihnen auch Heute Morgen haben wir von Herrn Ministerpräsident nicht, sondern sie haben die Möglichkeit, sich hier ord- Stoiber wieder gehört: Er hat Angst vor Ausländerinnen nungsgemäß zu betätigen. 23196 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Jörg Tauss (A) Ob Sie die Studiengebühren wollen oder nicht wol- 14/8361 zur Änderung des Hochschulrahmengesetzes. (C) len, weiß ich nicht. Sie reden viel über Familiengeld, Sie Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfol- erzählen den Leuten, was sie alles kriegen. Ich glaube, genabschätzung empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschluss- heute wäre es notwendig gewesen, klar zu sagen, was Sie empfehlung auf Drucksache 14/8878, den Gesetzentwurf eigentlich wollen. in der Ausschussfassung anzunehmen. Es liegt ein Ände- rungsantrag der FDP vor, über den wir zuerst abstimmen. (Ulrike Flach [FDP]: Sie sollten mal sagen, was Sie wollen!) Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 14/8905? – Gegenprobe! – Wenn Sie ein Familiengeld wollen, was Sie angekündigt und propagiert haben – ganz abgesehen davon, dass es (Klaus Barthel [Starnberg] [SPD]: Das sind nicht finanzierbar ist –, und parallel dazu den Leuten sa- aber keine 18 Prozent! – Ulrike Flach [FDP]: gen, dass Sie es ihnen über Studiengebühren an den Hoch- Wir sind steigerungsfähig!) schulen wieder wegnehmen, wenn ihre Kinder studieren, Enthaltungen? – Gegen die Stimmen der FDP ist der Än- dann halte ich das für eine familienpolitische Rosstäu- derungsantrag abgelehnt. scherei. Das müssen Sie sich an der Stelle schon vorwer- fen lassen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus- schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Gegen die DIE GRÜNEN) Stimmen von CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der PDS ist der Gesetzentwurf damit in zweiter Beratung an- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Herr Kollege, Sie genommen. müssen bitte zum Schluss kommen. Wir kommen zur (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Sie sind dritten Beratung eine einzige Karikatur!) und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer Jörg Tauss (SPD): Schade, ich muss zum Schluss dagegen ist, möge sich jetzt erheben. – Wer enthält kommen. sich? – Bei gleicher Stimmenverteilung wie eben ist der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Gesetzentwurf angenommen. neten der FDP) Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- – Danke für Ihren Beifall. Sie haben jetzt begriffen, wie che 14/8878 empfiehlt der Ausschuss für Bildung, For- (B) erfolgreich unsere Bilanz ist. Die Fragen, die uns zu Be- schung und Technikfolgenabschätzung, den Gesetzent- (D) wurf der Bundesregierung auf Drucksache 14/8732 zur ginn der Legislaturperiode gestellt worden sind, haben Änderung des Hochschulrahmengesetzes für erledigt zu wir positiv beantwortet. Die Bilanz ist gut. Mit der heute erklären. – Sie sind alle für diese Beschlussempfehlung. vorliegenden Novelle – ich bitte um Zustimmung – Dann ist es so beschlossen. schließen wir das Thema ab. Frau Kollegin Böttcher, Sie haben immer kritisiert, wir würden unser Versprechen Nun kommt die Abstimmung über den Gesetzentwurf nicht halten. Wir haben es gehalten. der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/8295 zur Ände- rung des Hochschulrahmengesetzes. Der Ausschuss für (Ulrike Flach [FDP]: Nein, nein!) Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung emp- Was uns verfassungsrechtlich möglich ist, machen wir. fiehlt unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung auf Druck- Also loben Sie uns. Das muss nicht immer sein, aber sa- sache 14/8878, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte gen Sie nichts Falsches. diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- (Rolf Kutzmutz [PDS]: Kein falsches Zeugnis hält sich? – An so einem Nachmittag müssen wir klare ablegen!) Entscheidungen treffen. Der Gesetzentwurf ist in zweiter Du sollst nicht falsches Zeugnis reden wider deinen Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Ge- Nächsten: Das gilt auch für die PDS. schäftsordnung die weitere Beratung. (Rolf Kutzmutz [PDS]: Auch für Sie, Herr Unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- Tauss!) che 14/8878 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 14/7077 Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. mit dem Titel „Ein neues Hochschuldienstrecht für eine (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ moderne, leistungsfähige und attraktive Bildung und For- DIE GRÜNEN) schung in Deutschland“. Wer stimmt für diese Beschluss- empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der FDP Vizepräsidentin Anke Fuchs: Ich schließe die Aus- bei Enthaltung der CDU/CSU angenommen. sprache. Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zuerst über Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 19 auf: den von den Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Beratung des Schlussberichts der Enquete-Kom- Grünen eingebrachten Gesetzentwurf auf Drucksache mission „Demographischer Wandel – Heraus- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23197

Vizepräsidentin Anke Fuchs (A) forderungen unserer älter werdenden Gesell- Angesichts von acht Jahren Vorsitz hat man viel zu (C) schaft an den Einzelnen und die Politik“ danken. Insofern will ich meinen Dank auch an die Spre- – Drucksache 14/8800 – cherinnen und Sprecher richten, die in den Obleute-Ge- sprächen immer sehr konstruktiv zusammengearbeitet Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen der haben. SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP vor. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Alters- struktur in Deutschland wird sich in den nächsten Jahren Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die stark verändern. Immer weniger jungen Menschen stehen Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Das ist so be- immer mehr ältere Menschen gegenüber. Es ist schlimm, schlossen. wenn in diesem Zusammenhang von einer vergreisenden Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem oder vergrauten Gesellschaft oder gar von einem Rent- Kollegen Walter Link für die CDU/CSU-Fraktion. nerberg gesprochen wird. Wir haben weder eine alte, graue Gesellschaft noch einen Rentnerberg, sondern wir haben Probleme, die mit den von der Kommission erar- Walter Link (Diepholz) (CDU/CSU): Verehrte Frau beiteten Handlungsempfehlungen gelöst werden können. Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Schlussbericht Die rasanten Veränderungen wecken ebenfalls Be- der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“, fürchtungen im Hinblick auf die Beziehungen zwischen den wir hier heute diskutieren, findet eine parlamentari- den Generationen. Es wird vor einer Verschlechterung des sche Arbeit von fast zehn Jahren, die sich über drei Wahl- Verhältnisses zwischen Jüngeren und Älteren gewarnt. perioden erstreckt hat, ihren Abschluss. Frau Präsidentin, Der Blick auf die tatsächlichen Beziehungen zeigt jedoch, das gibt mir die Gelegenheit, da Sie genau vor zehn Jah- dass solche Befürchtungen wenig realistisch sind. In den ren als Vorsitzende den Startschuss gegeben haben, Ihnen Familien machen sich die Folgen des demographischen dafür heute herzlich zu danken. Wandels zwar bemerkbar. Dies hat sich jedoch nicht un- bedingt nachteilig auf die gelebte Solidarität in der Fami- (Beifall im ganzen Hause) lie ausgewirkt. Selbst wenn die Familienmitglieder nicht Im Jahre 1992 hat die erste Enquete-Kommission ihre mehr an einem Ort zusammenleben, bleiben die Kontakte Arbeit aufgenommen. Diese und die in der 13. Wahlperi- und die emotionalen Bindungen häufig eng. Das stimmt ode erneut eingesetzte Kommission haben im Juni 1994 mich hoffnungsfroh. und im September 1998 zwei umfangreiche Zwischenbe- Politik muss darauf ausgerichtet sein, diese Bindungen richte vorgelegt. Der jetzige Bericht ist mit seinen neuen und dieses Hilfepotenzial zu stärken. Der Schlussbericht (B) Schwerpunkten zugleich ein Abschluss der zehnjährigen der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“ (D) Arbeit. analysiert und bewertet die politischen und gesellschaft- Mein besonderer Dank gilt darum den sachverständi- lichen Herausforderungen anhand von fünf Themenberei- gen Mitgliedern unserer Kommission, die aus der gesam- chen. Diese sind: das Verhältnis der Generationen, Arbeit ten Wissenschaft kommen und maßgeblich dazu beigetra- und Wirtschaft, Zuwanderung und die Integration der Zu- gen haben, dass die Arbeit erfolgreich abgeschlossen gewanderten, die Alterssicherung sowie die Bereiche Ge- werden konnte. sundheit, Pflege und soziale Dienste. Schon auf den ers- ten Blick wird deutlich, dass es sich hierbei nicht nur um (Beifall im ganzen Hause) für die Gesellschaft und den Einzelnen grundlegende, Die Damen und Herren Wissenschaftler, die zum Teil sondern auch um hochaktuelle politische Tagesfragen zehn Jahre mitgearbeitet haben, sitzen bei der heutigen De- handelt. Umso mehr freut mich darum, dass von der Kom- batte auf der Tribüne. Ihnen rufe ich besonderen Dank zu. mission die fachliche Analyse zu allen Themenbereichen vorgenommen wurde. Sogar die politischen Hand- (Beifall im ganzen Hause) lungsempfehlungen wurden zu einem Großteil einver- Ich weiß, dass der eine oder andere jetzt gern hier vorne nehmlich beschlossen. stehen und seine Erfahrungen schildern würde. Leider Allerdings haben der nahende Wahlkampf und die ak- lässt das die Geschäftsordnung unseres Hauses nicht zu. tuellen politischen Kontroversen dazu beigetragen, dass Eine der wichtigsten Voraussetzungen für einen frucht- bei einigen Themen die unterschiedlichen Auffassungen baren Dialog ist, dass man sich gegenseitig zuhört. Politi- in Sondervoten zum Ausdruck kamen, so zum Beispiel bei ker und Wissenschaftler haben dies getan. So entstand der Gesundheit oder bei der Zuwanderung. Trotzdem sind eine konstruktive Arbeitsatmosphäre. In der Tat gehört die wesentlichen Unterschiede bei den Empfehlungen das fruchtbare Zusammenwirken von Wissenschaft und nicht so groß, wie die Anzahl der Sondervoten im Bericht Politik, wie ich es als Vorsitzender der Kommission über es vielleicht vermuten lässt. An dieser Stelle fordere ich zwei Wahlperioden erlebt habe, für mich zu den nach- schon jetzt den nächsten Deutschen Bundestag auf, unsere haltigsten positiven Erfahrungen in meiner politischen Handlungsempfehlungen zu realisieren. Arbeit. Die Ergebnisse der Kommission können dazu beitra- Mein besonderer Dank gilt auch jeder Mitarbeiterin gen, die Diskussion über die Folgen des demographi- und jedem Mitarbeiter aus unserem Sekretariat, die, ohne schen Wandels zu entdramatisieren. Eine optimale Be- nach Zeit und Stunden zu schauen, stets vollsten Einsatz völkerungsgröße und Altersstruktur gibt es nicht. Was es gezeigt haben. gibt, ist die Herausforderung an die Gesellschaft und an 23198 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Walter Link (Diepholz) (A) die Politik, veränderte demographische Rahmenbedin- Außerdem begleitet der Bundestag eine sich ständig wan- (C) gungen zur Kenntnis zu nehmen und sich ihnen zu stellen. delnde Gesellschaft, in der sich Werte und Normen ändern Handlungsbedarf für die Politik – das ist keine neue Er- und nicht nur der demographische Aufbau. Dieser aber kenntnis – besteht bei vielen politischen Themen im Be- wird vieles beschleunigen, wird zu Veränderungen über reich der Wirtschaft und der Arbeit ebenso wie in den ver- den aktuellen Handlungsbedarf hinaus zwingen. Das schiedenen Zweigen der sozialen Sicherung. Überall Grundprinzip unserer demographischen Entwicklung ist muss das Verhältnis der Generationen neu überdacht inzwischen weitgehend bekannt: Geburtenrückgang auf werden. ein Niveau von etwa einem Drittel unter dem Generationenersatz bei gleichzeitig steigender Lebens- Keine Frage: Der demographische Wandel in der Bun- erwartung führt zu einer zunehmenden Alterung der Be- desrepublik Deutschland wird zu gravierenden Änderun- völkerung. Ohne phasenweise erhebliche Zuwanderung gen in allen Bereichen führen müssen. Es wird aber keine seit Kriegsende wäre die Bevölkerung in Deutschland Katastrophe geben, wenn jetzt die richtigen Entschei- schon seit Anfang der 70er-Jahre zurückgegangen. dungen getroffen werden. Dies kann nur geschehen, wenn es den Politikern zusammen mit den Wissenschaftlern ge- Betrachtet man den Zeitraum bis 2050, so kann man lingt, in den von mir genannten Politikfeldern zu einem feststellen, dass die Einwohnerzahl von heute 82 Milli- vernetzten politischen Handeln zu kommen; denn alle onen auf wahrscheinlich unter 60 Millionen sinken wird. Bereiche bedingen einander. Die Enquete-Kommission Das bedeutet: immer weniger Kinder, nur noch 27 Milli- „Demographischer Wandel“ legt in ihrem Schlussbericht onen Personen im erwerbfähigen Alter zwischen 20 und dar, dass die Politik diese Aufgaben bewältigen kann. 60 Jahren im Vergleich zu heute, wo 46 Millionen er- werbsfähig sind. Nur heute bereits geborene Mädchen Zum Abschluss will ich noch einmal allen Mitgliedern können in 20 Jahren Mütter werden. Um die Bevölke- der Kommission ein herzliches Wort des Dankes sagen. rungszahlen stabil zu halten, müssten von 1 000 Frauen Wir haben, glaube ich, bewiesen – das sage ich mit einem 2 080 Kinder geboren werden; es sind aber nur 1 370. Ein gewissen Stolz –, dass man die schwierigsten politischen durchgreifender Sinneswandel erscheint mir mehr als Themen in einer guten Atmosphäre aufgreifen und disku- unwahrscheinlich. tieren kann, um die Ergebnisse zu erreichen, die Politik und Wissenschaft gemeinsam umsetzen können. Wie aber steht es mit den Zuwanderern? Auch hier fin- det ein Wandel statt. Sowohl das Verhältnis von Zuzü- Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. gen und Fortzügen wie auch das Geburtenverhalten der (Beifall im ganzen Hause) Neubürger ändert sich ständig. Während bei den deut- schen Staatsangehörigen die Anzahl der Zuzüge im Mit- tel von circa 200 000 im Jahr mit circa 116 000 Fortzügen Vizepräsidentin Anke Fuchs: Herr Kollege Link, (B) verrechnet werden muss – es entsteht also ein Saldo von (D) Sie haben mich freundlicherweise erwähnt. Das gibt mir 84 000 pro Jahr als Wanderungsüberschuss –, schwanken Gelegenheit, der ganzen Kommission sehr herzlich dafür die Zahlen bei ausländischen Staatsangehörigen erheb- zu danken, dass sie meine Arbeit fortgesetzt hat. Es ist lich. 1997 und 1998 zogen jeweils mehr Personen fort als eine wichtige Arbeit. Wir hoffen, dass alle Mitglieder des hinzukamen. 1997 zeigte der Wanderungssaldo ein Minus Deutschen Bundestages den ganzen Bericht lesen und von 22 000 und 1998 sogar von 33 000. Im Jahr 2000 da- sich zu Herzen nehmen. Dann würden wir partei- gegen war wieder ein Wanderungsüberschuss von 86 000 übergreifend eine gute Politik machen. Herzlichen Dank zu verzeichnen. für Ihr Engagement! Auch die Geburtenhäufigkeit bei den ausländischen (Beifall im ganzen Hause) Staatsangehörigen geht zurück. Wurden 1992 auf Nun erteile ich der Kollegin Gabriele Iwersen für die 1 000 deutsche Einwohner 9,5 Kinder lebend geboren, so SPD-Fraktion das Wort. brachten 1 000 ausländische Mitbürger bei uns damals 15,8 Kinder zur Welt. 1999 dagegen sind nur noch 13 Kin- der auf 1 000 ausländische Einwohner geboren worden. Gabriele Iwersen (SPD): Frau Präsidentin! Meine Hier findet also ein sehr schneller Anpassungsprozess statt. Damen! Meine Herren! In zeitaufwendigen Diskussionen ist nach gemeinsamen Denkansätzen gesucht worden. Auffällig ist die stetige Zunahme des Anteils von kin- Sondervoten waren nur bei wirklich unüberbrückbaren derlosen Frauen schon seit Jahrzehnten. Von dem Jahr- Meinungsverschiedenheiten akzeptiert worden. Die elf gang 1935 blieben 9,2 Prozent der Frauen kinderlos. Von Sachverständigen als ständige Mitglieder der Kommis- dem Jahrgang 1960 werden es 23 Prozent sein. Das sind sion haben dazu beigetragen, dass Handlungsoptionen auf also fast ein Viertel der Frauen. wissenschaftlicher Grundlage jenseits von parteipoliti- Das hat nicht nur statistische Auswirkungen. Erkenn- schen Rangeleien und Spekulationen entwickelt werden bar wird die Teilung der Gesellschaft in zwei Gruppen mit konnten. Von der Zusammenarbeit haben wohl alle profi- sehr unterschiedlichen Ansprüchen und Chancen. Das be- tiert; ich hoffe, auch Sie da oben. Ich möchte mich aus- ginnt im Arbeitsleben, wo die Kinderlosen im Vorteil sind, drücklich bei den Sachverständigen und bei den überaus erscheint in der Statistik der gesetzlichen Krankenversi- effizienten Mitarbeitern des Sekretariats bedanken. cherung, weil Singles häufiger den Arzt bemühen, und Der von uns bearbeitete Zeitraum von fünf Jahrzehn- setzt sich bei den Alten und Hochbetagten ohne familiale ten zwingt zu Objektivität, denn der Bericht stellt ein wis- Beziehungen fort, für die jede Hilfeleistung viel Geld er- senschaftliches Fundament für die Zukunftsplanung dar. fordert. Lesen Sie dazu das Kapitel „Gesundheit, Pflege Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23199

Gabriele Iwersen (A) und soziale Dienste“. Prävention, Rehabilitation, Verzah- sorgung selbst zu sichern. Das lässt sich mit dem Wunsch (C) nung, verbindliche Versorgungsziele und Personalent- nach eigenen Kindern nur dann gut verbinden, wenn eine wicklung – das sind die entsprechenden Stichworte. Da- zuverlässige Kinderbetreuung öffentlich verantwortet rüber sollten Sie sich genau informieren. und vor allem gesellschaftlich akzeptiert wird. Beispiele dafür finden wir in Skandinavien und Frankreich – alles Es stellt sich die Frage, wie sich die Veränderung der Länder, die höhere Geburtenraten und bessere PISA- Altersstruktur mit der damit einhergehenden Verminde- Bilanzen aufweisen. rung der Zahl der erwerbsfähigen Personen auswirken wird: als Vorteil, durch Abbau der Arbeitslosigkeit, oder (V o r s i t z: Vizepräsidentin Dr. Antje als Nachteil, weil diese Entwicklung zu einem Mangel an Vollmer) Arbeitskräften führt oder Auslöser für sterbende Städte und verödende Landstriche ist. Vielleicht liegt hierin auch Handelt es sich bei der Betreuung der Kleinen nur um die Chance für eine neu zu gestaltende Umwelt einer eine soziale Einrichtung, um die Eltern zu entlasten, oder selbstbewussten Gesellschaft, die viele Wurzeln und viele folgt die Erziehung einem Bildungsauftrag, der Chancen- Gemeinsamkeiten hat. gleichheit unabhängig von sozialer und ethnischer Her- kunft vor dem Eintritt in die Grundschule schaffen soll? Sie finden in unserem Bericht eine Betrachtung des Lesen Sie dazu bitte auch das Kapitel „Migration und In- Generationenverhältnisses, weil hier eine wesentliche tegration“; denn die Integration fängt bei den Kleinsten an. Grundlage unseres in Jahrhunderten gewachsenen Gesell- schaftssystems der gegenseitigen Verantwortung der Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ hat am 19. April Generationen füreinander zum Ausdruck kommt. Obwohl gezeigt, dass noch viel getan werden muss, bis Frauen in Probleme zwischen den familialen Generationen immer Deutschland Beruf und Familie mit gutem Gewissen mit- zu politischen und kulturellen Generationenkonflikten einander vereinbaren können. Stephan Dietrich schreibt führen können, bleibt doch offensichtlich die Arbeits- und – ich zitiere –: Funktionsteilung zwischen den Generationen erhalten. Katastrophal ist nicht das Fehlen von Krippenplät- Davon zu unterscheiden ist das Generationenverhältnis, zen, wie Schröder meint, katastrophal könnte sich das sich mit den Umverteilungszusammenhängen etwa ihre ausnahmslose Einführung auswirken. Niemand zwischen Erwerbstätigen und Rentnern auseinander setzt. kann übersehen, dass Jugendkriminalität, Gewaltbe- Das ist ein sich durchaus kritisch entwickelnder Bereich. reitschaft und politischer Extremismus gerade dort Zur Beschreibung der wechselseitigen, vor allem der am besten gediehen sind, wo die angeblich erstre- materiellen Abhängigkeiten und Leistungsverpflichtun- benswerte Säuglingsbetreuung schon seit Generatio- gen der verschiedenen Generationen hat sich der Begriff nen verwirklicht ist und sogar die DDR überdauert hat. (B) „Generationenvertrag“ eingebürgert, auch wenn es kein (D) Vertrag im Sinne des BGB ist. Der Generationenvertrag Lassen Sie sich von solchen Kommentaren nicht von bezeichnet eine auf gesellschaftlichen Normen und Wer- Ihrem Weg abbringen! ten basierende und nur zum Teil gesetzlich festgelegte Übereinkunft, derzufolge die mittlere Generation für den Während eine allgemeine Akzeptanz der Kindergärten Unterhalt sowohl der Kinder als auch der nicht mehr er- stattgefunden hat, wird der ganztägige Besuch von Kin- werbstätigen Älteren sorgt. Wurde dieses Vertragsverhält- dertagesstätten noch immer als Notlösung betrachtet. Die nis früher innerhalb der Familie erfüllt, handelt es sich seit Mutter, die dies verantwortet, gilt allzu schnell als kar- Einführung der Sozialversicherung um eine Umvertei- rieresüchtig oder wird als sozial schwach eingestuft und lung zwischen gesellschaftlichen Generationen im Laufe damit in gewisser Weise abgestempelt. eines vollständigen Lebenszyklus. Für die kommenden Jahre ist also nicht nur die Schaf- Das System bleibt nur lebensfähig, wenn das Prinzip fung von mehr Plätzen wünschenswert. Dies wird jetzt der intergenerationellen Solidarität aufrechterhalten glücklicherweise von allen Fraktionen in diesem Hause bleibt. Das heißt: Jedes Gesetzgebungsverfahren muss gefordert. Wünschenswert ist auch eine Ganztagsbetreu- unter dem Gesichtspunkt mittel- und langfristiger ung für Kinder, die noch nicht schulpflichtig sind, und sol- Politikfolgenabschätzung erarbeitet werden. Nur so kön- che bis zum 12. Lebensjahr. Noch viel wichtiger ist aber nen wir die Solidarität zwischen den Generationen erhal- die gesellschaftliche Anerkennung berufstätiger Frauen ten, ohne ständig aufzurechnen; denn wir müssen beden- und einer pädagogisch wertvollen Erziehung für die ken, dass im Jahre 2030 die geburtenstärksten Jahrgänge Jüngsten. im Rentenalter sind. Viele von ihnen haben dann noch (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ eine weitere Lebenserwartung von 20 bis 25 Jahren. DIE GRÜNEN sowie der Abg. Heidemarie Das kann also nur funktionieren, wenn sich diese Ge- Lüth [PDS]) neration darauf verlassen kann, dass sich die Jüngeren an Unsere Gesellschaft wird es sich nicht mehr leisten kön- diesen Generationenvertrag halten. In diesem Zusam- nen, 15 Prozent eines jeden Jahrgangs als nur bedingt för- menhang sollten wir sehr sorgfältig überlegen, ob der derfähig einzustufen. Umgang mit den Jüngsten und mit den Heranwachsenden den zukünftigen Anforderungen entspricht. Schönen Dank. Wir haben Grund zur Annahme, dass die Frauen heute (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ – und auch in Zukunft – ein immer stärkeres Interesse da- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der ran haben, ihre Existenz und damit auch ihre Altersver- CDU/CSU und der PDS) 23200 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat und Familienpolitik, die eine Querschnittspolitik ist, ge- (C) jetzt der Abgeordnete Klaus Haupt. fordert. Kollegin Iwersen hat in diesem Zusammenhang einige Punkte angerissen. Klaus Haupt (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr Wir greifen aber auch zu kurz, wenn wir Alter nur mit verehrten Kolleginnen und Kollegen! Zehn Jahre En- Problemen gleichsetzen. Das Gegenteil wird der Fall sein: quete-Kommission „Demographischer Wandel“ gehen Die Älteren bieten unserer Gesellschaft erhebliche Res- heute mit der Debatte über den Schlussbericht zu Ende. sourcen. Deshalb ist für uns die Erhöhung der Arbeits- Zwei Zwischenberichte und ein Schlussbericht zu einer marktchancen von älteren Menschen von ganz großer Be- zentralen Zukunftsfrage liegen nun vor. deutung. Ihr erhebliches Arbeitsmarktpotenzial für die Wirtschaft muss erschlossen werden. Eine betriebliche In- Auch ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich novationsfähigkeit ist weniger vom Alter, aber umso mehr bedanken: bei unseren elf Experten und meinen Kollegin- vom Qualifikationspotenzial der Belegschaft abhängig. nen und Kollegen aus den anderen Fraktionen, aber vor al- Den Vorsprung an Energie, Dynamik und Ehrgeiz der Jün- len Dingen auch beim Vorsitzenden, lieber Herr Kollege geren können die Älteren durch Wissen, Erfahrung und Link, zum einen für Ausdauer und Beharrlichkeit, zum Zuverlässigkeit, aber vor allem auch durch soziale Kom- anderen aber auch für engagiertes fachliches Streiten und petenz ausgleichen. vor allem für Fairness – nicht immer, aber immer öfter. Das erfordert eine neue Vorgehensweise der Wirtschaft (Beifall bei der CDU/CSU) bei der Personalentwicklung. Der Jugendwahn muss ein Im Jahre 2010 werden über 300 000, im Jahre 2030 über Ende haben. Es ist notwendig, von einer reaktiven Politik 500 000 Personen in Deutschland mehr sterben, als gebo- zu einer präventiven, lebenslauforientierten und alters- ren werden. Ohne weitere Zuwanderung werden die Be- neutralen Politik der Beschäftigungsförderung und völkerung in Deutschland bei gleich bleibender Geburten- -sicherung zu kommen. Daher sollten für ältere Arbeit- rate bis zum Jahre 2050 auf weniger als 60 Millionen und nehmer zum Beispiel Erleichterungen beim Abschluss be- die Anzahl der Personen im erwerbsfähigen Alter von fristeter Arbeitsverträge geschaffen werden. Auch die heute 46 auf 27 Millionen sinken. Gleichzeitig nimmt die Instrumente des Arbeitsförderungsrechtes für ältere Ar- Lebenserwartung der Menschen kontinuierlich zu: bis beitnehmerinnen und Arbeitnehmer sollten überdacht und zum Jahre 2050 um mindestens vier Jahre. Dann wird sich die sozialrechtlichen Anreize zur Frühverrentung abge- der Anteil der 80-Jährigen vervierfacht haben. Da weniger baut werden. Kinder geboren werden, wird im Jahre 2040 mehr als die Die Zuwanderung nimmt natürlich bei der Reaktion Hälfte der Bevölkerung 50 Jahre und älter sein. der Politik auf die demographische Entwicklung einen (B) Anschaulich ausgedrückt: Das Bild der Altersschich- zentralen Platz ein. Hier konnte sich die Kommission (D) tung verändert sich von der bekannten Bevölkerungs- leider nicht auf ein fraktionsübergreifendes Konzept eini- pyramide zum Bevölkerungspilz. Dies ist eine dramati- gen, sodass die FDP-Bundestagsfraktion ihr Zuwande- sche Entwicklung mit viel Sprengkraft und hat Auswir- rungskonzept als Handlungsempfehlung in den Schluss- kungen auf alle Lebensbereiche, auch auf die Lebensum- bericht eingebracht hat. welt des Einzelnen und der Familie. Dies ist aber keine Unabdingbar für eine gesellschaftlich akzeptierte Zu- Katastrophe, wenn die Politik jetzt richtig reagiert und wanderung in der Bundesrepublik Deutschland ist ein den Wandel gestaltet. Dreiklang aus dem eigenen Interesse unseres Landes, der Im vorliegenden Schlussbericht wird die Entwicklung Wahrung der humanitären Verpflichtung Deutschlands des demographischen Wandels bis zum Jahre 2050 aufge- und vor allem der Verbesserung der Integrations- zeigt und versucht, für alle relevanten Politikfelder Ant- bemühungen. Hierbei sollte sich Zuwanderung möglichst worten und Empfehlungen zu geben. Alle im Bundestag flexibel und unbürokratisch am Arbeitsmarkt ausrichten. vertretenen Parteien haben sich bemüht – davon hat der Die FDP spricht sich für eine Integrationspolitik aus, die Vorsitzende berichtet –, die Handlungsempfehlungen der zu einer gleichberechtigten Teilnahme der Zugewander- Kommission gemeinsam, also möglichst über die Partei- ten am politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Le- grenzen hinweg, zu gestalten. Dies war in den meisten Po- ben in unserer Gesellschaft führt. litikfeldern möglich, in manchen etwas weniger. Im Bereich des Kapitels „Alterssicherung“ kommt es So haben wir uns zum Beispiel im Kapitel „Arbeit und uns darauf an, unsere grundsätzlichen Positionen deutlich Wirtschaft“ auf grundsätzliche Empfehlungen zur Ver- zu machen: Eine grundlegende Reform der Altersver- besserung von Bildung und Ausbildung, zu Reformper- sorgung in Deutschland ist weiterhin dringendst notwen- spektiven der beruflichen Ausbildung sowie zur Verein- dig. Auch nach der Rentenreform 2001 sind die unzurei- barkeit von Beruf und Kinderbetreuung verständigen chende Generationengerechtigkeit, eine mangelnde können. Das zeigt aber auch: Wir greifen zu kurz, wenn Beitragsstabilität, die fehlende Steuerbefreiung aller Ver- wir die demographische Entwicklung nur unter dem sorgungsbeiträge sowie die deutlich zu komplizierte Ge- Aspekt des Alters sehen. staltung zu bemängeln. Im Elften Kinder- und Jugendbericht wurde aus diesem Die FDP will eine moderne Altersvorsorge, die auf drei Grunde der demographische Wandel und dessen Heraus- Säulen fußt: erstens eine als Grundversorgung gestaltete forderung für die Gesellschaft als ein Schwerpunkt he- gesetzliche Rente, zweitens eine deutlich gesteigerte ka- rausgearbeitet und ein höherer Stellenwert sowie eine pitalgedeckte private Rente und drittens eine betriebliche größere öffentliche Verantwortung von Kinder-, Jugend- Altersvorsorge. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23201

Klaus Haupt (A) Renten- und Steuerpolitik sind aber so verflochten, dass Ein Blick in das Jahr 2050 zeigt: Die Bevölkerung wird (C) nur durch grundlegende Reformen in beiden Bereichen die aufgrund der Geburtenrate von durchschnittlich nur etwas Stabilität der Altersversicherung in Deutschland nachhal- mehr als 1,3 Kindern je Frau um mindestens 22 Millionen tig gewährleistet wird. Dieser Ansatz ist durch das Urteil abnehmen. Durch die gleichzeitig steigende Lebenser- des Bundesverfassungsgerichts zur unterschiedlichen Be- wartung – heute geborene Mädchen werden nach Profes- steuerung von Renten und Pensionen bestätigt worden. sor Bomsdorf durchschnittlich 87 Jahre alt werden – wird Notwendig ist aus unserer Sicht jetzt eine durchgreifende es eine gravierende Veränderung der Altersstruktur geben. Steuerreform mit einheitlichen Steuersätzen für sämtliche Deutschland schrumpft und ergraut. Oder – Herr Link, für Einkommensarten. Dies gibt den Bürgern mehr Spielraum Sie etwas freundlicher –: Ohne Kinder sieht unsere Ge- für ihre persönliche kapitalgedeckte Eigenvorsorge. sellschaft alt aus. Gestatten Sie noch ein Wort zum Kapitel „Gesundheit, Sind heute 23 Prozent der Menschen über 60 Jahre alt, Pflege und soziale Dienste“. Die FDP-Bundestagsfrak- wird deren Anteil im Jahre 2050 fast doppelt so hoch sein. tion hat hier ein eigenes Votum abgegeben, weil sich un- Auch wenn es einige immer noch nicht wahrhaben wol- ser Ansatz hier doch von allen anderen unterscheidet. Die len: Um den Alterungsprozess unserer Gesellschaft abzu- demographische Entwicklung stellt die gesetzliche mildern und um unseren Wohlstand zu erhalten, brauchen Krankenversicherung vor erhebliche Probleme, die wir Zuwanderung. – Kein Beifall? durch die kostenintensiven Auswirkungen des medizini- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, schen Fortschritts noch verschärft werden. Beide Ent- bei der SPD und der PDS) wicklungen lassen Beitragssätze von über 20 Prozent er- warten. Die Erfahrungen der vergangenen Jahre haben In einem Gutachten für die Enquete-Kommission wur- gezeigt, dass die Beitragssätze trotz einer sich immer den 300 000 Personen pro Jahr vorgeschlagen. Aber die schneller drehenden Spirale interventionistischer Maß- Frage ist: Woher kommen sie? In den Jahren 1997 und nahmen nicht stabilisiert werden können. Die FDP steht 1998 verließen mehr Migrantinnen und Migranten für eine Gesundheitspolitik, die den Wettbewerb zur Fin- Deutschland, als zu uns gekommen sind. Erst 1999 gab es dung effizienter, patientengerechter Lösungen in den Mit- einen positiven Saldo. Im Jahre 2000 waren es gerade ein- telpunkt stellt, ohne dass dabei die soziale Schutzfunktion mal 86 000 Personen. Selbst bei einer jährlichen Nettozu- infrage gestellt wird. wanderung von 100 000 Personen wird die Bevölkerung bis 2050 um 17 Millionen Menschen zurückgehen. Künf- Auch im Bereich der Pflege ist aus unserer Sicht der tig werden die Staaten um Migranten und Migrantinnen systematische Aufbau einer privaten kapitalgedeckten konkurrieren. Da bin ich sicher. Auch deshalb brauchen Säule in der gesetzlichen Pflegeversicherung notwendig. wir ein Zuwanderungsgesetz, das neben unseren huma- (B) nitären Verpflichtungen auch Zuwanderung aus wirt- (D) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, schaftlichen Gründen ermöglicht. ich muss Ihnen sagen, dass Sie Ihre Redezeit schon sehr (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN weit überschritten haben. und bei der SPD) Eine weitere Antwort auf den demographischen Wan- Klaus Haupt (FDP): Mein letzter Satz: Der Schluss- del wäre eine Erhöhung der Geburtenrate. Obwohl die bericht nach zehn Jahre Enquete-Kommission „Demo- letzte Shell-Jugendstudie belegt, dass sich die meisten graphischer Wandel“ zeigt eines ganz deutlich: Die Zeit jungen Paare Kinder wünschen, ist jede dritte 1965 gebo- zu analysieren und zu debattieren ist vorbei. Wir müssen rene Frau kinderlos geblieben. Die Frauen sind in einen jetzt handeln – konstruktiv, entschlossen und mit Kon- stillen Gebärstreik getreten; die Bevölkerung und die Po- zentration auf das Wesentliche. Wir machen mit. litik haben es nur noch nicht bemerkt. Die Frauen wollen Danke. sich nicht entscheiden müssen zwischen Beruf oder Fa- milie, sie wollen beides: Erwerbsarbeit und Kinder, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) manchmal auch Karriere – wie Männer eben auch. Geht das nicht, verzichten sie auf Kinder, wie wir sehen. Darum Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat ist Politik gefordert, Rahmenbedingungen zu schaffen, jetzt die Abgeordnete Irmingard Schewe-Gerigk. sodass diejenigen, die einen Kinderwunsch haben, diesen auch realisieren können.

Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und und bei der SPD) Kollegen! Wie werden sich die Bevölkerungszahlen in Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Schlussbericht den nächsten 50 Jahren entwickeln? Wie wird der Ar- bestätigt in eindrucksvoller Weise die grüne Gleichstel- beitsmarkt mit einem Rückgang des Erwerbspersonenpo- lungs- und Familienpolitik: Aufhebung der geschlechts- tenzials fertig? Oder: Wie können die sozialen Siche- spezifischen Arbeitsteilung, Kindererziehung als gesamt- rungssysteme bei abnehmender Erwerbspersonenzahl gesellschaftliche Aufgabe, an der sich Staat, Wirtschaft, und zunehmender Zahl von Leistungsempfängern zu- Gesellschaft und nicht zuletzt die Väter beteiligen. Fle- kunftstauglich gemacht werden? Welchen Beitrag kann xible Arbeitszeiten für Eltern, flächendeckende ganztä- dabei die Zuwanderung leisten? Das waren die Leitfragen gige Kinderbetreuung und Ganztagsschulen sind das Ge- der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“. bot der Stunde. Damit wird endlich auch eine gerechtere 23202 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Irmingard Schewe-Gerigk (A) Verteilung von bezahlter Erwerbsarbeit und unbezahlter steigen. Der damit verbundene enorme Rückgang der (C) Familienarbeit zwischen den Geschlechtern möglich. Zahl der Beitragszahler und Beitragszahlerinnen sowie Länder mit einer höheren Frauenerwerbsquote, wie zum die enorme Verlängerung der Zeiten, für die Leistungs- Beispiel Frankreich oder die skandinavischen Staaten, ansprüche bestehen, bedeuten aber für ein Umlagesystem machen es uns vor. Nebenbei: Dort ist die Geburtenrate den Kollaps. Es wird nicht mehr allein in der Lage sein, höher als bei uns. den Lebensstandard der Rentnerinnen und Rentner im Al- ter zu sichern. Darum brauchen wir verschiedene Maß- Liebe Kolleginnen und Kollegen, der immense Rück- nahmen der Alterssicherungspolitik wie beispielsweise gang an Erwerbspersonen spätestens ab dem Jahre 2020 ergänzende betriebliche oder private Formen und eine stellt die Arbeitswelt vor neue Herausforderungen. Eine Ausweitung des Versichertenkreises der gesetzlichen bessere Ausschöpfung des Arbeitskräftepotenzials, das Rentenversicherung. Erste Schritte wurden bereits mit der heißt eine höhere Frauenerwerbsquote, ist durch mehr Rentenreform 2001 gemacht. Chancengleichheit und bessere Rahmenbedingungen für ein Leben mit Kindern möglich. So könnte Deutschland Aber auch die Aufwendungen für Gesundheits- und endlich seine Schlusslichtposition in Europa verlassen. Pflegeleistungen werden, bedingt durch die demographi- sche Entwicklung und den medizinisch-technischen Fort- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schritt, rapide steigen: Krankenversicherungsbeiträge von und bei der SPD) 25 Prozent und Pflegeversicherungsbeiträge von 5 Pro- Aber auch bei der Beschäftigung älterer Arbeitnehmer zent sind für das Jahr 2050 keine Utopie. und Arbeitnehmerinnen tragen wir in Europa die rote La- Der Grund für die hohe Steigerung bei den Pflegever- terne. Nur 38 Prozent der über 55-Jährigen sind erwerbs- sicherungsleistungen ist die steigende Zahl der älteren pfle- tätig. Ursächlich dafür, so haben wir herausgefunden, ist gebedürftigen Menschen und die stärkere Inanspruchnahme die seit vielen Jahren gehandhabte Frühverrentungspra- professioneller Hilfe. Familienangehörige, die heute viel- xis, die den Staat horrende Summen an Steuergeldern ge- fach die Pflege ihrer Eltern und anderen Verwandten über- kostet und den demographischen Effekt verstärkt hat. nehmen – heute noch zu 80 Prozent weiblich, also Töchter Jetzt suchen wir Lösungen, wie die Beschäftigung von oder Schwiegertöchter –, werden, entweder wegen eigener Älteren gesteigert und deren Erfahrungen auf dem Ar- Erwerbstätigkeit oder weil sie selbst schon zu alt sind, dann beitsmarkt nutzbar gemacht werden können. Eine stän- nicht mehr in dem Maße wie heute zur Verfügung stehen. dige Aktualisierung des Wissens ist die Voraussetzung. Wenn eine 90-jährige Schwiegermutter von einer 68-Jähri- Lebenslanges Lernen darf nicht länger ein Schlagwort gen gepflegt werden muss, ist dies in vielen Fällen schon bleiben. Darum brauchen wir mittelfristig auch eine Wei- schwierig. Darum sind auch hier Reformen unumgänglich. terbildungsoffensive mit Anreizen für Ältere. Bei einer (B) steigenden Lebenserwartung und entsprechender Nach- Das Modell der Bündnisgrünen, eine steuerfinanzierte (D) frage auf dem Arbeitsmarkt müssen Ältere motiviert wer- Pflegeabsicherung einzuführen, wäre ein zukunftstaugli- den, länger im Erwerbsleben zu bleiben. cheres Mittel als das derzeitige Versicherungsmodell ge- wesen, da es bedarfsabhängig hätte gezahlt werden kön- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nen. Der Staat hätte nur Personen mit geringem und bei der SPD) Einkommen unterstützen müssen, was bei einem Versi- Heute gehen die Beschäftigten im Durchschnitt statt cherungsmodell nicht möglich ist. mit 65 Jahren schon mit knapp 60 Jahren in den Ruhe- Um den durch den demographischen Wandel hervor- stand. Diese Lücke gilt es zunächst zu schließen. Aber gerufenen Anforderungen in der Gesundheitspolitik langfristig wird eine stufenweise minimale Erhöhung des Rechnung zu tragen, müssen Prävention, Qualität und Renteneintrittsalters sowohl aus Arbeitsmarktgründen als Wirtschaftlichkeit ausgebaut werden. Wirtschaftlichkeits- auch zur Aufrechterhaltung der sozialen Sicherung nicht reserven sollten über eine flexiblere Gestaltung der Ver- mehr auszuschließen sein. Das wird nicht zulasten der tragsbeziehungen zwischen Krankenversicherungen und jungen Menschen gehen, wie uns die Sachverständigen Leistungserbringern sowie eine Verzahnung der ambulan- bestätigten. ten und stationären Behandlung erschlossen werden. In einer Anhörung haben wir von den Sachverständigen Vor 50 Jahren wurde ein soziales Alterssicherungssys- gehört, dass hier 25 Milliarden Euro einzusparen wären. tem geschaffen, das auf dem Generationenvertrag auf- Warum nutzen wir dieses nicht? baute. Voraussetzung dafür war ein zahlenmäßig ausgewo- genes Verhältnis zwischen der erwerbstätigen Generation, Ich muss aber auch sagen: Ohne eine Ausweitung der die ihre Beiträge entrichtet, und der Rentnergeneration, de- Versicherungspflicht und der Beitragsbemessungsbasis ren monatliche Rente daraus finanziert wird. Dieses Um- auf weitere Einkommen wird das solidarische Kranken- lagesystem funktioniert aber nur, wenn die Bevölkerungs- versicherungssystem langfristig nicht überleben. zahl und die Bevölkerungsstruktur relativ stabil bleiben. Dies waren einige Antworten auf die durch den demo- Davon kann schon jetzt keine Rede mehr sein. graphischen Wandel hervorgerufenen Fragen. Es bleibt Ein Blick in das Jahr 2050 zeigt den erheblichen Re- eine Vielzahl von Fragen übrig, zum Beispiel die: Wie formbedarf eines umlagefinanzierten Sozialversiche- werden sich unsere Städte verändern, wenn immer mehr rungssystems. Der Altersquotient, das ist die Altersgruppe Wohnungen leer stehen? Werden Spielplätze und Kinder- derjenigen, die 65 Jahre und älter sind, im Verhältnis zu gärten zu Alteneinrichtungen umgebaut? Wird die Politik den 20- bis 64-Jährigen, also den Erwerbstätigen, wird den Interessenausgleich zwischen Jung und Alt leisten von heute 26 Prozent auf 62 Prozent im Jahre 2050 an- oder wird sie nur auf die Mehrheit schielen? Werden die Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23203

Irmingard Schewe-Gerigk (A) Immobilien- und Kapitalmärkte zusammenbrechen, wenn mir ermöglichen, bei strotzender Gesundheit und, wenn (C) es ein Viertel weniger Konsumenten und Konsumentin- nötig, bei guter Pflege bis ins hohe Alter das Leben mei- nen gibt als heute? Hierauf hat die Politik bis heute noch ner Kinder und Enkel begleiten zu können, möglichst keine Antworten. Trotzdem muss sie sich darauf einstel- ohne Demenz. len. Denn eines wird sie nicht sagen können: sie habe es (Beifall bei der PDS, der SPD und dem nicht gewusst. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Lassen Sie mich zu guter Letzt noch einen Dank aus- Was wissen wir über den demographischen Wandel ei- sprechen. Ich bedanke mich bei allen, die am Gelingen gentlich genau? Wir kennen die Geburtenzahlen und dieses heutigen Berichts beteiligt waren, für die bündnis- können nahezu exakt berechnen, wie lange wir leben. Ein grüne Fraktion insbesondere bei Margherita Zander und Sachverständiger hat das für einige von uns ganz brillant Gudrun Honnef. und genau gemacht. Wir tappen aber im Dunkeln, wenn Recht herzlichen Dank. es um die konkrete Frage des Bedarfs an Arbeitskräften in den kommenden Jahren geht. Wir tappen im Halbdun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN keln, wenn wir erfahren wollen, wie sich der Gesund- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der heitszustand der Generationen in den kommenden Jahren PDS) entwickeln wird. Letztlich wissen wir nicht, wie sich die Menschen in den kommenden Jahren unter den neuen Ge- gebenheiten verhalten werden und verhalten können. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Heidemarie Lüth. Im Gegensatz dazu kennen wir die Probleme von heute und die der kommenden Wahlperiode. Nichts wäre fata- ler, als aus der Sicht von heute mit dem Handwerkszeug Heidemarie Lüth (PDS): Frau Präsidentin! Liebe von heute die Probleme der Jahre nach 2020 anpacken zu Kolleginnen und Kollegen! Seit vielen Jahren versuchen wollen. die Bundestagsabgeordneten aller Fraktionen einen Hilfe- ruf auszusenden: Schaut her, so wie hier im Bundestag (Beifall bei der PDS) wird die altersmäßige Zusammensetzung ab 2020 in der Noch fataler wäre es, den demographischen Wandel mit gesamten Bundesrepublik sein. Aber auf uns hört ja kei- einer Dramatik vor sich herzutragen, um heute den sozia- ner. len Sicherungssystemen den letzten Stoß ins Jenseits zu (Heiterkeit und Beifall bei der PDS, der SPD versetzen. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der PDS) (B) Ich danke daher den Abgeordneten aller Fraktionen, Wenn wir aber wissen, dass die Bevölkerung in den (D) dass sie es für richtig hielten, über drei Wahlperioden hin- nächsten Jahren aufgrund der rückläufigen Anzahl der weg diese Enquete-Kommission ins Leben zu rufen und Geburten, die pro Generation um ein Drittel sinkt, abneh- sie nicht nur mit Abgeordneten, sondern vor allem mit men wird und dies besonders in den neuen Ländern mit Wissenschaftlern aus allen Bereichen zu besetzen, die ge- der Abwanderung vieler junger Menschen und vor allem meinsam an einem Thema gearbeitet haben, das in einer selbstbewusster junger Frauen gekoppelt sein wird, dann Wahlperiode nicht zu bewältigen ist, nicht durch einen An- muss man schneller tätig werden und kann nicht sagen: In trag oder einen Aufruf und schon gar nicht über ein Wahl- 30 Jahren wird sich das alles erledigt haben, dann haben programm, egal, welcher Partei und welcher Fraktion. wir uns angeglichen. (Beifall bei der PDS) (Beifall bei der PDS und der SPD) In den gemeinsamen Beratungen in der Enquete-Kom- Mit dem Schlussbericht und den Handlungsempfeh- mission mit den Sachverständigen und Mitarbeitern habe lungen der Kommission an uns, den politischen Verant- ich in den vergangenen Jahren viel mehr als in mancher wortlichen, liegen auch die Minderheitenvoten meiner Debatte hier im Bundestag gelernt. Dafür meinen herz- Fraktion vor. Was wollten wir dabei bedacht wissen? Es lichen Dank. handelt sich nicht nur um Veränderungen in der Alterspy- ramide, sondern um einen Struktur- und vor allem auch (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten Bedeutungswandel des Alters. Es geht um mehr als nur der SPD) um einen qualitativen Zuwachs des Alters. Es geht nicht Demographischer Wandel hat für mich zunächst eine nur um den Lebensabschnitt ab 60, sondern alle Lebens- familiäre Perspektive. Im Februar dieses Jahres wurde abschnitte und Bereiche sind hiervon betroffen. Mit ei- mein zehntes Enkelkind, das dritte Kind meiner jüngsten nem Wort: Jede und jeder muss sich auf diesen Wandel einstellen und auf ihn einlassen. Tochter, geboren. Ich hatte als Mitglied dieser Kommis- sion über Rahmenbedingungen aller Lebensbereiche Politik gestalten für und durch ältere Menschen heißt nachzudenken, die meinen Enkel von der Geburt bis zum auch, die individuellen und gesellschaftlichen Ressourcen 50. Lebensjahr begleiten; Rahmenbedingungen, die sei- für ein unabhängiges und aktives Leben in einer differen- ner Mutter die Hoffnung erhalten, dass ihr Sohn sie im zierten Gestaltung zu beachten. Akteure müssen dabei alle Jahr 2052 mit 81 Jahren im Rollstuhl durch ein Altersheim Generationen sein. Demographische Entwicklung ist kein fährt oder er – noch besser – die Möglichkeit hat, ge- unbekanntes Phänomen, sondern dieses Phänomen ist in meinsam mit seinen Eltern in einem Wohnprojekt mehre- den nächsten Jahrzehnten durchaus planbar. So besteht rer Generationen zu leben; Rahmenbedingungen, die es auch die Möglichkeit, die Politik darauf einzustellen. 23204 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Heidemarie Lüth (A) Ziel muss es sein, Gerechtigkeit und Ausgleich inner- in ein Land und aus einem Land sind dagegen eine Vari- (C) halb und zwischen den Generationen zu fordern und zu able, die kurzfristig und sehr stark schwanken kann. Des- fördern. Die Schwierigkeit besteht darin, die individuel- wegen ist eine zukunftsweisende Regelung so dringend len wie gesellschaftlichen Ebenen zu erfassen und die nötig, damit für die Migrantinnen und Migranten wie auch Chancen und Risiken aller Generationen zu debattieren für die Aufnahmegesellschaft Perspektiven und Zusam- und zu bestimmen. Dies muss auch deshalb geschehen, menleben gestärkt werden. weil der Umgang mit dem demographischen Wandel Die Arbeitsgruppe Migration/Integration der Enquete- mehr und mehr zur Überlebensfrage des Sozialstaates Kommission hat in großer Einigkeit Daten und Analysen wird. In diesem Zusammenhang ist auch zu klären, wie erstellt. Ich danke allen, besonders Kai-Uwe Beger aus das Verhältnis von Staat, Wirtschaft und Familie zu regeln dem Sekretariat, der die meiste Arbeit damit hatte. Einig- ist. Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit zwischen keit bestand bei der Bedeutung von Integration, Sprache, Jung und Alt, Frauen und Männern sowie Einkommens- Bildung, Ausbildung und Gesundheit für die persönliche schwachen und Besserverdienenden haben wir unter dem Entwicklung und die beruflichen Chancen der zu uns Gesichtspunkt des demographischen Wandels genauer zu Kommenden. Einigkeit gab es auch über die Notwendig- betrachten. keit von mehr interkultureller Kompetenz in Bildungsein- Ein letztes Wort zu dem interfraktionellen Entschlie- richtungen und sozialen Diensten für Junge und Ältere. ßungsantrag: Meine Fraktion wird diesen Antrag unter- Keine Einigkeit gab es – das verwundert nach der stützen. Ich habe namens meiner Fraktion keinen Nach- Zuwanderungsdebatte in diesem Hause vor einigen Wo- antrag formuliert, da ich ein solches Spiel – keinen Antrag chen nicht – bei so konkreten Fragen wie dem Nachzugs- gemeinsam mit meiner Fraktion, der PDS-Fraktion – der- alter von Kindern, der Übernahme von Integrationskosten artig kleinkariert und politisch völlig sinnlos finde, dass oder zur Situation von Menschen ohne legalen Aufent- ich es nicht noch durch einen eigenen Antrag adeln haltsstatus. möchte. Im Europarat wird über Demographie in vielen Zu- Schönen Dank. sammenhängen diskutiert. Im letzten Jahr haben wir eine (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten Entschließung zu demographischem Wandel und nach- der SPD) haltiger Entwicklung verabschiedet. In dieser Woche ha- ben wir einen Bericht zum Stand der Weltbevölkerung in dem zuständigen Ausschuss beschlossen. Dabei wird im- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat mer wieder darauf hingewiesen, dass viele Länder den in jetzt die Abgeordnete Christa Lörcher. Kairo eingegangenen finanziellen Verpflichtungen bei der Entwicklungshilfe nicht annähernd nachkommen. Leider (B) (D) Christa Lörcher (fraktionslos): Frau Präsidentin! gehören auch wir dazu. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Demographie ist Vor wenigen Jahren wurde für alle Staaten ein Ak- spätestens seit der Bevölkerungskonferenz in Kairo 1994 tionsplan des Europarates mit der Zielrichtung: „diversity ein Thema in den Industrie- und den Entwicklungslän- and cohesion“ entwickelt, auf Deutsch: Vielfalt und Zu- dern – in Politik, Wissenschaft und Gesellschaft. Manche sammenhalt. Die Vielfalt wird größer werden, weil die Regierungen haben die Bedeutung des Themas noch nicht Mobilität zunimmt, bei uns und in anderen Teilen der wirklich erkannt oder sie kennen sie, es wird aber nicht of- Welt. Für den Zusammenhalt müssen jedoch wir sorgen; fen darüber diskutiert. Ein Beispiel: In Russland, wo die Verantwortung haben Politik und Gesellschaft. Wir haben Geburtenquote niedriger ist als bei uns und die Lebens- mit dieser Aufgabe begonnen. Es ist ein langer und müh- erwartung der Männer bei 59 Jahren und die der Frauen samer Weg. Aber er ist ohne Alternative. bei 72 Jahren liegt, leben 2,8 Millionen Kinder auf der Straße. Offen darüber zu reden ist nicht erwünscht. Ich danke Ihnen. Die Situation bei uns: Schon vor Kairo wurde die En- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ quete-Kommission „Demographischer Wandel“ einge- DIE GRÜNEN) setzt. Nach zwei Legislaturperioden waren wir fast am Ende der Arbeit. Es gab nur leider keine Einigung in Fra- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat gen der Alterssicherung und von Migration und Integra- jetzt der Abgeordnete Arne Fuhrmann. tion. Jetzt, nach einer weiteren Legislaturperiode Arbeit, ist tatsächlich ein Abschlussbericht entstanden. Dafür herzlichen Dank an alle, die dazu beigetragen haben. Das Arne Fuhrmann (SPD): Frau Präsidentin! Sehr ge- waren nicht wenige. ehrte Damen und Herren! Vorweg zwei Wahrheiten: Heidemarie Lüth, bei Einsetzung der Kommission war ich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zehn Jahre jünger. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der (Heiterkeit) CDU/CSU) Die zweite Wahrheit gilt Herrn Professor Dr. Naegele, der Geburtenquote, Lebenserwartung und Wanderungsbe- irgendwo da oben sitzt: Dieser Bericht ist kein dicker wegungen beeinflussen Größe und Altersstruktur der Be- Schinken, sondern eine wohl zu verdauende Kleinigkeit völkerung eines Landes. Geburtenquote und Lebenser- auf vorzüglich gefertigten Blättern, die leicht lesbar ist. wartung sind nur längerfristig beeinflussbar und bleiben oft über Jahre hinweg weitgehend konstant. Wanderungen (Klaus Haupt [FDP]: Ein Häppchen!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23205

Arne Fuhrmann (A) – Ja, Herr Haupt, man könnte sagen, es sind kleine, feine schaft eine optimale Bevölkerungszahl noch darf es eine (C) Schinkenhäppchen. irgendwie geartete Instrumentalisierung der Familie ge- ben. Die Entscheidung für Kinder ist und bleibt Zu Beginn meiner Ausführungen sage ich denjenigen, grundsätzlich eine private Angelegenheit. die aktiv mit uns gearbeitet haben, noch einmal meinen herzlichen Dank: den Experten, wie unser Vorsitzender zu (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sagen pflegt, und all denjenigen, die in den Fraktionen Kinder dürfen nicht zum Armutsrisiko werden; da- und im Sekretariat für uns tätig waren. Ich wünsche ihnen rüber sind wir uns im Klaren. In diesem Zusammenhang von Herzen viel Glück und eine schöne und für sie be- lohnt sich – das wurde bereits mehrfach gesagt – der Blick friedigende Anschlusstätigkeit; denn die Arbeit der En- auf unsere skandinavischen Nachbarn. Dort hat die Ge- quete-Kommission ist mit dem heutigen Tage mehr oder burtenzahl absolut nichts damit zu tun, dass mehr Frauen weniger beendet. berufstätig sind. Dies hat offensichtlich auch August (Beifall im ganzen Hause) Bebel schon geahnt, als er schrieb: Friedrich der Große hat einen Absatz seines politischen Intelligente und energische Frauen haben – von Aus- Testaments wie folgt abgefasst: nahmen abgesehen – in der Regel keine Neigung, ei- ner größeren Anzahl Kinder als einer „Schickung Diese Nation ist schwer und träge. Es sind zwei Feh- Gottes“ das Leben zu geben und die besten Lebens- ler, gegen die die Regierung unentwegt ankämpfen jahre im Schwangerschaftszustande oder mit dem muss. Es sind die Massen, die sich auf euren Anstoß Kinde an der Brust zu verbringen. hin in Bewegung setzen und die anhalten, wenn man einen Augenblick nachlässt, sie anzustoßen. Nie- Aus diesen Gründen ist eine unideologische, pragmati- mand kennt etwas anderes als die Gewohnheiten sei- sche und vernünftige Familienpolitik erforderlich. ner Väter, man liest wenig und ist kaum begierig da- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der nach, sich zu unterrichten, sodass alles Neue sie PDS) erschreckt, und von mir, der ihnen immer nur Gutes getan hat, denken sie, dass ich ihnen das Messer an Junge Familien wollen beides, nämlich Kinder und Beruf. die Kehle setzen will, sobald es sich darum handelt, Darauf hat die Enquete-Kommission bereits in ihrem ers- eine nützliche Reform oder eine notwendige Ände- ten und zweiten Zwischenbericht Rücksicht genommen. rung vorzunehmen. Im Schlussbericht haben wir uns sehr ausführlich damit beschäftigt. So weit mein persönliches Vorwort, das ich einer Schrift Friedrichs des Großen entnommen habe. Kofi Annan hat bereits vor der Konferenz von Madrid (B) das Wort einer „stillen Revolution“ in die Welt gesetzt. (D) 1992 wurde die Enquete–Kommission eingesetzt. Ulrich Klose sprach bereits vor zehn Jahren von einer Diese Kommission hat sorgfältig gearbeitet. Sie hat die schleichenden Revolution. Meinhard Miegel spricht in sei- Zukunft nicht ins Blaue hinein beschrieben und auch kei- nem Buch „Die deformierte Gesellschaft“ von einer „Zeit- nen futurologischen Exkurs zu Papier gebracht, sondern bombe“. Ihr und unser Kollege Friedrich Merz schreibt in sie hat sich an Schätzungen, Vorausberechnungen und seiner Festschrift für Rita Süssmuth vom „Altersbeben“. ganz vorsichtigen Prognosen orientiert und sich sachlich fundiert und zurückhaltend geäußert. Sie ist für mich ein Die Gesellschaft schrumpft insgesamt. Die Deutschen Beispiel für sachbezogene und über die Jahre hinweg kon- sterben deshalb aber noch lange nicht aus. Viele reden tinuierliche Politikberatung, die deutlich macht, welche schon von Vergreisung und Überalterung. Diese Be- dicken Bretter es zu bohren gilt. griffe sind politisch unkorrekt und unüberlegt. Die Wort- wahl ist bedenklich, weil in ihr der Kern einer negativen Ein gutes Beispiel für eine stärkere Akzeptanz dieses und menschenfeindlichen Wertung deutlich wird, die das Themas in der Gesellschaft ist die Zustimmung der Be- Alter zur Angriffsfläche macht. Jeder Mensch hat in je- völkerung zur Rentenreform; denn hier wurden bereits dem Alter seine eigene Würde. Jedes Alter und jede Ge- praktische Konsequenzen aus der demographischen Ent- neration haben ihre jeweiligen Stärken und Schwächen. wicklung gezogen. Es wurde darauf geachtet, dass die Das Wort von der „Gesellschaft zwischen Rentner- nachfolgende Generation nicht über Gebühr belastet wird. schwemme und Jugendwahn“ mag wohl griffig formuliert Bei näherer Betrachtung der intergenerativen Umvertei- sein; es sagt über die tatsächlichen Herausforderungen lung erweist sich sogar, dass die nachfolgenden Genera- wenig aus. tionen eher entlastet werden, wenn wir diesen Weg konti- nuierlich weiterbeschreiten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Auf welche Entwicklung werden wir uns eigentlich ein- DIE GRÜNEN) lassen müssen? Es wird ein anderes Wachstum geben, eine andere Nachfrage, eine andere Wohnstruktur, ein anderes Die Demographie wird zu unserem Schicksal. Es gibt Wohnumfeld, eine andere Stadtplanung, zum Teil Umbau aber kein allgemeines, für alle Zeit und für alle verschie- und Rückbau, weitere Hilfs- und Pflegenetze, Professio- denen Sozialsysteme gültiges Bevölkerungsgesetz. Da- nalisierung von Diensten aufgrund des Strukturwandels mit ist auch die Möglichkeit eingeschränkt, langfristige der Familie. Auch das Ehrenamt wird wieder zu mehr Eh- Aussagen über Fertilität und Bevölkerungsgröße bzw. ren kommen. Die abnehmende Bevölkerungsdichte be- -struktur abzugeben. Wir sollten allerdings keine Ängste wirkt weniger Zersiedelung. Wahrscheinlich werden auch schüren. Weder gibt es in einer freien, offenen Gesell- die Umweltbelastungen zurückgehen. Hinzu kommen 23206 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Arne Fuhrmann (A) natürlich die Fragen der Mobilität. Welche Anforderungen muss weitergeführt werden. Wir müssen – die gesell- (C) stellen ältere Menschen an die Mobilität, und überhaupt, schaftliche Dimension der demographischen Alterung wie kann man für Ältere ein selbstbestimmtes, eigenver- verlangt das auch – jetzt unsere Konsequenzen ziehen antwortliches Leben in Würde ermöglichen und gestalten? und politische Entscheidungen treffen oder zumindest in Welche Voraussetzungen sind dafür, insbesondere auf die Wege leiten. Dabei müssen wir uns auch grundsätzlich kommunaler Ebene, erforderlich? Welche Barrieren gilt es Fragen und strukturellen Problemen zuwenden und neue abzubauen und – im übertragenen Sinne – welche mögli- Antworten finden, die zukunftsfähig sind und die zugleich chen Diskriminierungen müssen aus der Welt? Rücksicht auf kommende Generationen nehmen. In der Zuwanderungsfrage – darauf ist mehrfach ein- Entscheidend wird sein, dass Politikerinnen und Poli- gegangen worden – konnte sich die Enquete-Kommission tiker aller Fraktionen, in allen Parlamenten und in jeder erwartungsgemäß nicht einigen. Dabei wissen wir, dass Position begreifen, dass demographischer Wandel nicht durch eine gesteuerte Zuwanderung die Probleme der de- nur ein Schlagwort ist, mit dessen Hilfe politische Zu- mographischen Alterung nicht gelöst werden können, stimmung, Ablehnung oder Verschiebung möglich, son- sondern allenfalls abgemildert werden. Allerdings sind dern real ist. Der demographische Wandel wird unsere Migrationshindernisse auf dem Arbeitsmarkt immer noch Gesellschaft weltweit beeinflussen und verändern. Je eher vorhanden. Egal, wo ausländische Mitbürger tätig sind: wir darauf reagieren, umso mehr können wir an seiner Ge- Sie leisten einen Beitrag zum Bruttosozialprodukt, zum staltung teilnehmen. Wachstum, zum Steueraufkommen und leisten Beiträge zur sozialen Sicherheit. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der PDS) Bei allem Bemühen, das Ganze auf eine vernünftige Schiene zu bringen, urteilt ein ausländischer Beobachter im Hinblick auf die Zuwanderungsregelung allerdings Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat folgendermaßen: jetzt der Abgeordnete Andreas Storm. Aus Sicht der Einwanderer, die Sie ins Land holen möchten, kommt auf jeden Paragraphen, der zur Ein- Andreas Storm (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe wanderung einlädt, ein Dutzend Paragraphen, die Kolleginnen und Kollegen! Über das Thema demographi- „Bleibt draußen!“ sagen. scher Wandel wurde drei Legislaturperioden lang disku- tiert. Auch ich möchte zunächst den Kollegen für die Arbeit (B) Der Artikel hat bezeichnenderweise die Überschrift „Ihr in dieser Kommission, vor allen Dingen den Sachverstän- (D) habt nichts zu bieten – Wer im Leben was will, will nicht digen und den Mitarbeitern im Sekretariat sehr herzlich nach Deutschland“; er ist in der „FAZ“ vom 13. April danken. 2002 zu lesen und stammt vom ehemaligen US-Offizier Der demographische Wandel kommt, so war schon zu und Autor Ralph Peters. hören, als Revolution auf leisen Sohlen. Droht gar ein Auch im Bereich der Perspektiven des Gesundheits- „Altersbeben“? Was macht die Dramatik der Situation wesens gehen die Meinungen zwischen Koalition und aus? Es sind zunächst einmal drei grundsätzliche Trends, Opposition auseinander. Das ist gut so; denn es gibt kei- mit denen sich unser Land in den nächsten Jahrzehnten nen Königsweg zur Lösung der Probleme. Es gibt unter- auseinander setzen muss: schiedliche Möglichkeiten. Sich mit diesen Möglichkei- Der erste Trend ist eine rückläufige Bevölkerungsent- ten auseinander setzen lohnt. wicklung. Derzeit hat Deutschland etwa 82,5 Millionen Ich hoffe, dass insgesamt deutlich geworden ist, dass Einwohner. Die mittleren Varianten der Prognoserech- der demographische Wandel, die demographische Alte- nungen, die der Kommission vorgelegen haben, besagen, rung nicht von vornherein von Übel sind. Der demogra- dass Deutschland in fünf Jahrzehnten etwa 65 bis 70 Mil- phische Wandel ist keine Katastrophe. Alter ist nicht lionen Einwohner haben wird. Sterben die Deutschen aus, gleichbedeutend mit Krankheit, Pflegebedürftigkeit und wie es in manchen dramatisch klingenden Buchtiteln be- Siechtum, einem unheilvollen Schicksal oder einer düste- hauptet wird? Im Jahr 1950, also vor fünf Jahrzehnten, ren Zukunft. hatte Deutschland ebenfalls 69 Millionen Einwohner auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der PDS) Ist das, was uns bevorsteht, also nur eine Umkehr der Entwicklung der letzten fünf Jahrzehnte? Ganz so einfach US-Werbestrategen verdeutlichen diesen Sachverhalt, in- ist es nicht, denn die Altersstruktur – das ist der zweite dem sie die Älteren als „Silverkids“ bezeichnen und somit Trend – ändert sich dramatisch; das ist heute schon mehr- wieder eine Verbindung zum Jugendkult schlagen. Aller- fach zum Ausdruck gekommen: Die Anzahl älterer Men- dings ist mir die Sinnfälligkeit einer solchen Werbestrate- schen nimmt deutlich zu. Das Durchschnittsalter der Be- gie nicht ganz klar geworden. Die Amerikaner wissen of- völkerung in Deutschland wird sich bis zum Jahr 2050 auf fensichtlich nicht so ganz, was sie damit sagen wollen. 48 Jahre – derzeit liegt es bei 41 Jahren – erhöhen. Wir „Silverkids“ hat aber einen tollen Klang. werden vor allen Dingen nicht nur viel mehr Menschen Die Arbeit der Enquete-Kommission ist zu Ende, aber haben, die dann im Ruhestand sind, sondern auch wesent- die politisch-parlamentarische Arbeit im engeren Sinne lich mehr Menschen, die hochbetagt sind. Die Anzahl der Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23207

Andreas Storm (A) über 80-Jährigen wird von 5,8 Millionen auf über 11 Mil- Ein Beispiel hierfür ist die geblockte Altersteilzeit. Als (C) lionen im Jahr 2050 steigen. man Altersteilzeitmodelle einführte, lag dem der Gedanke zugrunde, dass man langsam aus dem Erwerbsleben aus- Ein dritter Trend kennzeichnet diese Entwicklung. gleiten, die Arbeitszeit schrittweise bis zum 65. Lebensjahr Dieser Trend ist die Abkehr von der Dreigenerationen- abbauen soll, dabei aber die Erfahrung der Älteren auch familie, hin zu Singlehaushalten. In der Stadt Frankfurt den Jüngeren im Betrieb zur Verfügung stehen soll. Mo- am Main lebt die Mehrheit der Bevölkerung bereits in delle, nach denen man beispielsweise bis zum 60. Lebens- Singlehaushalten. Was bedeutet das für eine Gesellschaft, jahr Vollzeit arbeitet und danach überhaupt nicht mehr, je- die in dem Ausmaß wie die deutsche altert und in der im- mer mehr Menschen in Singlehaushalten leben? Das doch in der gesamten Zeit ein reduziertes Einkommen macht deutlich, dass in der Tat eine Umwälzung stattfin- erhält, waren als absolute Ausnahme gedacht. Dies ist aber det – wir befinden uns eigentlich schon mittendrin –, die zum Regelfall geworden. Modelle mit geblockter Alters- alle Bereiche des Lebens erfassen wird. Sie wird bei- teilzeit stellen eine Perversion des Gedankens des Aus- spielsweise auch die Wohnungsbaupolitik beeinflussen. gleitens aus dem Arbeitsleben dar. Deswegen sollte unter diese Praxis sehr rasch ein Schlussstrich gezogen werden. Wir müssen uns darauf einrichten, dass es in den nächs- ten Jahrzehnten insgesamt zwar weniger Menschen, aller- Es gibt einen weiteren Grund, warum die Älteren im dings wesentlich mehr ältere Menschen geben wird, die Moment keine Chance haben. Er besteht in dem weit ver- auf der einen Seite unmittelbar nach dem Eintritt in den breiteten Eindruck, ältere Arbeitnehmer seien den sich Ruhestand für lange Zeit sehr aktiv sein können, später je- rasch wandelnden Anforderungen im Arbeitsleben doch, als Hochbetagte, wesentlich mehr als in der Vergan- nicht mehr gewachsen. Dieser Eindruck ist oftmals falsch. genheit auf die Hilfe von anderen angewiesen sein werden. Manches Mal stellt allerdings der technologische Wandel Wohnformen wie betreutes Wohnen werden eine Rolle in der Tat Anforderungen, die permanente Weiterbildung spielen. Wir müssen uns mit der Frage beschäftigen, ob erfordern. wir, extrem ausgedrückt, „Altengettos“ oder eine Vermi- Deshalb ist es nicht nur für die Älteren wichtig, dass schung der älteren mit der jüngeren Generation wollen? wir dem Thema „Lebenslanges Lernen“ in der Politik eine (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – ganz andere Priorität einräumen, als das bislang der Fall Peter Dreßen [SPD]: Gettos gab es in gewesen ist. Von jemandem, der mit 28 Jahren zum letz- Polen!) ten Mal eine Weiterbildungsphase durchlebt hat, kann man kaum erwarten, dass er mit 58 Jahren noch einmal Dass diese Auswirkungen alle Lebensbereiche betref- mit Erfolg Weiterbildung absolviert. Deswegen müssen fen, können Sie sich etwas augenzwinkernd anhand eines regelmäßige Weiterbildungsphasen zum Standard wer- Beispiels verdeutlichen: In der Werbung dominieren heute (B) den. Die Art und Weise, wie wir das in Deutschland orga- (D) die Dreißigjährigen, die angeblich so Dynamischen, Agi- nisieren und finanzieren, muss nach der Bundestagswahl len, während 2035 wahrscheinlich die Fünfundsechzig- ein Topthema sein. jährigen auch in diesem Bereich dominieren werden, weil sie die größte Konsumentengruppe sein werden. Das In- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der teressante daran ist, dass es vermutlich die gleichen Mo- SPD und der FDP) dels wie heute sein werden, die dann mit gealtert sind. Employability, über die im angelsächsischen Raum im- (Heiterkeit bei der SPD – Detlev von Larcher mer wieder diskutiert wird – in Deutschland gibt es dafür [SPD]: Wenn Claudia Schiffer noch gut aus- kaum ein Wort; „Beschäftigungsfähigkeit“ trifft das Ge- sieht, wird sie nicht arbeitslos!) meinte eigentlich nur näherungsweise –, also Überlegun- gen dazu, wie man Arbeitnehmer beschäftigungsfähig Was bedeutet das für die Hauptbereiche der Politik? Wir halten kann, müssen ebenfalls zum Gegenstand unserer müssen uns in den nächsten Jahren auch im Deutschen Arbeitsmarktpolitik werden. Dabei dürfen wir nicht ver- Bundestag des Bereiches Arbeitsmarkt annehmen. Seine gessen, dass auch die Qualität der Ausbildung der jungen Entwicklung wird davon geprägt sein, dass – beginnend Menschen deutlich verbessert werden muss – die PISA- in etwa zehn bis 15 Jahren – wesentlich mehr Menschen Studie hat das angemahnt –, denn wenn junge Menschen aus dem Arbeitsleben ausscheiden, als Jüngere nach- heute schlecht ausgebildet werden, dann sind, drastisch rücken werden. Dann wird es entscheidend darauf an- gesprochen, die Langzeitarbeitslosen von morgen vorpro- kommen, dass ältere Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt grammiert. eine Chance haben. Ein ganz wichtiger Punkt, die Vereinbarkeit von Warum ist die Situation für ältere Arbeitnehmer heute Familie und Beruf, wurde bereits angesprochen. Die Ar- so dramatisch, dass Arbeitslose, die 55 Jahre oder älter beit der Kommission in den letzten Jahren hat eines deut- sind, faktisch keine Chance mehr haben? Das hat vor al- lich gemacht: Es gibt zwar in allen europäischen Län- len Dingen zwei Gründe. Zum einen gibt es massive so- dern einen Grundtrend, dass die Geburtenrate in den zialrechtliche und finanzielle Anreize für Unternehmen, 70er-, spätestens aber in den 80er-Jahren gegenüber der sich von älteren Arbeitnehmern zu trennen. Dieser Trend Ausgangssituation nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich muss gestoppt werden. zurückgegangen ist. Einige Länder haben es jedoch ge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) schafft, diesen Grundtrend wenn nicht umzukehren, so doch zumindest zu stoppen, beispielsweise in Skandina- In dieser Hinsicht gab es Gott sei Dank Einvernehmen in vien. Alle diese Länder haben es verstanden, die Verein- dieser Enquete-Kommission. barkeit von Familie und Beruf besser zu ermöglichen, als 23208 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Andreas Storm (A) es bei uns der Fall ist. Deswegen brauchen wir auch an Handlungsoptionen haben wir aufgezeigt. Es ist nicht zu (C) dieser Stelle ein Umdenken. spät. Wir können alles dafür tun, dass es nicht zu einem Altersbeben kommt, sondern dass das Verhältnis zwi- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜND- schen den Generationen partnerschaftlich sein wird, dass NIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) es durch Vertrauen zueinander geprägt sein wird. Aber Stichwort „Alterssicherung“. In den letzten Jahren dafür müssen wir gemeinsam handeln. Es liegt an uns. wurde sehr viel Vertrauen in die Verlässlichkeit der Packen wir es an! Rentenpolitik, aber auch der anderen Alterssicherungs- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie systeme zerstört. Aussetzen von Rentenanpassungsfor- bei Abgeordneten der SPD) meln, Absenken der Schwankungsreserven – all dies ganz kurzfristig. Ein wichtiges Ergebnis der Kommissions- arbeit war, dass wir über die Fraktionsgrenzen hinweg die Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Forderung erheben: Es soll ein unabhängiger Alterssiche- jetzt die Abgeordnete Andrea Nahles. rungsrat eingerichtet werden, der in wichtigen rentenpoli- tischen Fragen gehört werden muss, zum Beispiel immer Andrea Nahles (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! dann, wenn die Rentenformel, die Altersgrenzen, die Bei- Meine Kolleginnen und Kollegen! Das Generationenver- tragssätze oder die Regelungen zur Schwankungsreserve hältnis weiter zu verbessern, war im Bericht der Enquete- geändert werden sollen. Meine feste Überzeugung ist, Kommission ein Kapitel wert. Deswegen erlaube ich mir dass wir es nur dann, wenn wir ein solches unabhängiges heute, das Generationenverhältnis der Familie Nahles ein Expertengremium mit wichtigen Befugnissen einschal- bisschen aufzuwerten und meine Eltern zu begrüßen, die ten, schaffen werden, das Vertrauen in die Alterssiche- auf der Besuchertribüne Platz genommen haben. rungspolitik zurückzugewinnen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Stichwort „Gesundheitspolitik“. Hier hat die Anhö- DIE GRÜNEN) rung der Kommission gezeigt, dass wir vor wirklich dra- matischen Entwicklungen stehen, weil der demogra- Ich möchte mich auf das Kapitel Arbeit und Wirtschaft phische Wandel im Gesundheitswesen mit der expansiven konzentrieren. Es gibt einen Zielkonflikt, nämlich eine Tendenz des medizinisch-technischen Fortschritts zusam- sehr unterschiedliche Entwicklung, die sich in zwei Pha- mentrifft und sich beides wechselseitig verstärkt. Die sen darstellen lässt. Bis zum Jahre 2010 werden wir einen Konsequenz ist, dass ohne strukturelle Reformen die Bei- Arbeitskräfteüberhang haben. Damit wird das Problem tragssätze auf Größenordnungen von über 20, wenn nicht einer strukturellen Arbeitslosigkeit in Deutschland eine gar 30 Prozent des Bruttoeinkommens explodieren wür- der wesentlichen Herausforderungen unserer Politik sein. den, also eine Verdopplung gegenüber heute im Zeitraum Nach 2010 – in Schritten, spätestens aber 2020 – werden (B) bis 2040 nicht mehr unrealistisch ist. wir wahrscheinlich dem umgekehrten Problem, nämlich (D) einer Arbeitskräfteknappheit, einem Fachkräftemangel, Ähnlich dramatisch ist die Entwicklung auch in der ins Auge blicken müssen. Daher könnte es kurz- und lang- Pflege. Nach den Berechnungen des Deutschen Instituts fristig dazu kommen, dass politische Zielvorgaben in für Wirtschaftsforschung wird die Zahl der Pflegebedürf- Konflikt geraten. Ich will das an dem Beispiel der älteren tigen bis zum Jahr 2050 von heute 1,9 Millionen auf Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer deutlich machen. 4,7 Millionen ansteigen. Aber wir haben bereits heute massive Probleme. Beispielsweise sind die Leistungen Die Erwerbsbeteiligung von Älteren nimmt zurzeit ab. der Pflegeversicherung seit 1995 nicht mehr angehoben Vorruhestandsregelungen haben in den letzten Jahren worden. Das bedeutet eine schleichende Entwertung die- dazu beigetragen, dass junge Arbeitnehmer in die Be- ser Leistungen. Das macht sich mittlerweile auch darin triebe nachrücken konnten. Mittelfristig aber kann diese bemerkbar, dass der Anteil der Sozialhilfeempfänger un- Politik nicht fortgeführt werden. Wir haben einen Kon- ter Pflegebedürftigen in stationären Einrichtungen seit sens darüber erzielt, dass wir den Weg, der in NRW be- 1998 dramatisch gestiegen ist. Er lag 1998 bei 160 000 schritten wurde, nämlich den Strukturwandel über Vor- und liegt mittlerweile bei über 200 000. Deswegen ist eine ruhestandsregelungen zu bewältigen, in dieser Form auch wichtige Forderung der Kommission, dass die Leistungen aus Kostengründen nicht weitergehen können. Gleich- der Pflegeversicherung an die Kostenentwicklung seit wohl müssen wir darauf achten, dass wir den jungen Men- 1995 angepasst und in Zukunft regelgebunden dynami- schen nicht die Zugangschancen und Zukunftschancen siert werden müssen. auf dem Arbeitsmarkt verbauen. Außerdem ist es wichtig, dass die Überlegungen, Kran- Das bedeutet für mich aber nicht unbedingt, dass man kenversicherung und Pflegeversicherung besser mitei- jetzt damit beginnt, Herr Storm, Altersteilzeit einfach auf- nander zu verzahnen, als das bisher der Fall ist, vom zugeben. nächsten Bundestag aufgegriffen werden, sogar die Über- (Andreas Storm [CDU/CSU]: Blockteilzeit!) legung, ob man in einem späteren Schritt nicht beide So- zialversicherungssysteme zusammenfassen soll. Das Problem muss vielmehr intelligenter gelöst werden. Ich meine, die von uns vorgeschlagene Beschäftigungs- Stehen wir vor einem Altersbeben? Ob es so kommt brücke Ost, die vorsieht, dass sowohl junge Menschen oder nicht, hängt ganz wesentlich auch von uns und von als auch ältere Beschäftigte Teilzeit arbeiten, ist ein sehr den Abgeordneten des künftigen Bundestages nach dem intelligentes Modell, um genau diesen Konflikt zu lösen. 22. September ab. Die Aufgabe der Enquete-Kommission war es, das Themenfeld umfassend wissenschaftlich zu (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ analysieren und Handlungsoptionen aufzuzeigen. Diese DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23209

Andrea Nahles (A) Die Frauenerwerbsquote hat in Deutschland leider Außerdem brauchen wir einen Chancenausgleich zwi- (C) ein mediterranes Niveau, das heißt ein schlechtes. Die schen Jung und Alt, wie wir ihn mit der Beschäftigungs- Quote liegt im Osten immerhin noch bei 72 Prozent, im brücke Ost schaffen. Westen dafür aber nur bei 57 Prozent. Letzte Bemerkung. In Rheinland-Pfalz gibt es eine Ge- (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ sellschaft zur Förderung des Lesens, die auch Vorschläge DIE GRÜNEN]: Ein Trauerspiel ist das!) annimmt, was man lesen kann. Ich denke, im Sinne des Das ist etwas, was wirklich nicht so bleiben kann und was ganzen Hauses zu sprechen, wenn ich diesen Bericht zum auch den Lebensansprüchen von jungen Frauen über- Lesen vorschlage, und hoffe, dass das gute Früchte trägt. haupt nicht gerecht wird. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Interessant ist, dass unsere Untersuchungen ergeben PDS) haben – wie dem Bericht zu entnehmen ist –, dass allein die Verbesserung der finanziellen Situation von Frauen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich schließe da- und Familien nicht zu einer höheren Erwerbsbeteiligung mit die Aussprache. von Frauen führt, sondern dass nur dann mehr Frauen eine Erwerbstätigkeit aufnehmen, wenn auch die infrastruktu- Ich gehe davon aus, dass Sie den Schlussbericht auf rellen Voraussetzungen verbessert werden, wenn Kin- Drucksache 14/8800, wenn auch noch nicht gelesen, so derbetreuung, Horte, Kindertagesstätten und Ganztags- doch zur Kenntnis genommen haben. schulen zur Verfügung gestellt werden. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- (Beifall bei der SPD) ßungsantrag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP auf Drucksache Ich als Rheinland-Pfälzerin darf an dieser Stelle sagen: 14/8881. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Das ist eine Sache, die erwiesenermaßen von der Bevöl- Gibt es Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Ent- kerung positiv aufgenommen wird. Deswegen werden wir schließungsantrag ist damit einstimmig angenommen in der nächsten Legislaturperiode 4 Milliarden Euro zur worden. Schaffung von 10 000 zusätzlichen Ganztagsschulen in Deutschland bereitstellen. Das ist bereits ein positives (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ergebnis aus dem Bericht, das sich in Form von Hand- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der lungen zeigt. CDU/CSU und der PDS sowie der Abg. Christa (B) Lörcher [fraktionslos]) (D) (Beifall bei der SPD) Man könnte jetzt einwenden, wenn mehr Frauen arbei- Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf: ten, dann versperren sie in den nächsten zehn Jahren Zweite und dritte Beratung des von den Ab- womöglich den jungen Leuten die Chance, einen Arbeits- geordneten Dr. Maria Böhmer, Wolf-Michael platz zu finden. Ich sage einmal, was die Ergebnisse un- Catenhusen, Andrea Fischer (Berlin) und weiteren serer Untersuchungen sind. Abgeordneten eingebrachten Entwurfs eines Ge- In den Ländern, in denen es eine hohe Frauenerwerbs- setzes zur Sicherstellung des Embryonenschutzes quote gibt, gibt es geringe Arbeitslosenzahlen; dies zeigt im Zusammenhang mit Einfuhr und Verwendung ein Blick nach Skandinavien. Warum ist das so? Weil menschlicher embryonaler Stammzellen (Stamm- die Frauen, die arbeiten, die Eigenarbeit zu Hause stark zellgesetz – SZG) zurückfahren. Das heißt, personenbezogene und haus- – Drucksache 14/8394 – haltsbezogene Dienstleistungen werden stärker nachge- fragt. Bezahlte Frauenarbeit ist Triebfeder für den Dienst- (Erste Beratung 221. Sitzung) leistungssektor. Auch das ist eine positive Konsequenz, Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- die wir aus unserem Bericht ziehen können. ses für Bildung, Forschung und Technikfolgen- (Beifall bei der SPD) abschätzung (19. Ausschuss) – Drucksache 14/8846 – Ich möchte hervorheben, dass wir sehr viel Einigkeit er- reicht haben. Das stimmt mich für die Arbeit nach dem Berichterstattung: 22. September sehr hoffnungsfroh. Auch bei der Qualifi- Abgeordnete Jörg Tauss zierung sind wir uns einig. Sie nutzt denen, die heute ihre Werner Lensing Jobchancen verbessern wollen, aber sie ist auch das Hans-Josef Fell Zukunftskapital einer alternden Gesellschaft. Eine hohe Ulrike Flach Frauenerwerbsquote ist nicht nur der Wunsch der Frauen, Angela Marquardt sondern sie ist auch dringend geboten, wenn die Arbeits- Es liegen inzwischen vier Änderungsanträge vor. Ich kräfteknappheit ab 2020 voll zuschlägt. Die Zuwanderung weise darauf hin, dass wir voraussichtlich über einen der muss geregelt erfolgen, ja; aber sie muss erfolgen, und zwar Änderungsanträge sowie über den Gesetzentwurf na- jetzt, weil es Zeit braucht, bis wir sie erreicht haben. mentlich abstimmen werden. Das ist jedenfalls der letzte (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Stand. 23210 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Begriff familienrechtlich verstanden wird, nämlich als die (C) Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Wider- Zuerkennung eines Verfügungsrechts der Eltern über das spruch höre ich nicht. Damit ist es so beschlossen. Leben des eigenen Nachwuchses. Ich befinde mich in bes- ter Gesellschaft: Auch die Justizministerin und der Parla- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die mentarische Staatssekretär im Justizministerium, Profes- Abgeordnete Margot von Renesse. sor Pick, kamen nicht auf diese Idee. Gleichwohl mussten wir diesen Vorwurf ernst nehmen; Margot von Renesse (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kolle- denn auch Benda, eine gewichtige Stimme in der bioethi- gen! Nach einer wirklich großen Debatte, mit der er nach schen Debatte, teilte diese Bedenken hinsichtlich der allgemeinem Urteil Ehre eingelegt hat, hat der Deutsche Missverständlichkeit einer solchen Formulierung. Sei- Bundestag am 30. Januar 2002 die Frage des Imports von nem Rat sind wir gefolgt und haben den Begriff „elterli- embryonalen menschlichen Stammzellen entschieden – che Zustimmung“ – ich gebe gerne zu: entgegen dem so dachten jedenfalls alle. Wir hatten als Initiatoren des Bundestagsbeschluss – wegen des Verdachts der Verfas- Antrags, der die Mehrheit bekam, diese Entscheidung als sungswidrigkeit dieser Bestimmung nicht verwendet. Wir Auftrag begriffen und legen unsere Erledigung hiermit haben daher auf den Ordre public verwiesen, nämlich auf vor. die tragenden Grundlagen und Grundsätze der deutschen Rechtsordnung, zu denen als einer der klassischsten und Zunächst haben wir einen Auftrag erfüllt, nämlich den, feststehendsten Grundsätze im Medizinrecht das Prinzip das Gesetz unverzüglich vorzulegen. Wann hat es das gehört, dass ohne den Informed Consent keine Manipula- schon einmal gegeben, dass die Legislative, die Parla- tion an Körper und Körpersubstanzen eines Menschen mentarier selbst, das Gesetz machen, wie sich das nach möglich sind. Es handelt sich also um eine klare Angele- der Verfassung gehört? – Eine großartige Erfahrung. Sie genheit. In diesem Punkt gibt es keine Aufweichung, son- gehört zu den Highlights meines politischen Lebens. dern eher eine Verschärfung des Bundestagsbeschlusses, (Beifall bei Abgeordneten der SPD, des weil mit dem Ordre public auch noch andere Grundsätze BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/ gemeint sein können. CSU und der FDP) Zweiter Vorwurf. Es wird uns vorgeworfen, wir seien Dennoch wird uns vorgeworfen, wir seien von dem Be- vom Bundestagsbeschluss abgewichen. Der vorgesehene schluss abgewichen. Damit will ich mich auseinander set- § 13 Abs. 3 hätte im Zusammenhang mit § 9 Abs. 2 Satz 2 zen, wenn ich Ihnen hier Rechenschaft darüber ablege, in- des Strafgesetzbuches eine verquere Wirkung zur Folge wieweit wir den Parlamentsauftrag erfüllt haben – loyal, gehabt. Wir hätten dem Bundestagsbeschluss Genüge ge- (B) wie sich das für diejenigen gehört, die als Mitglieder tan, wenn wir nur den Import verboten hätten. Wir haben (D) dieses Hauses die Entscheidung umzusetzen haben und aber mehr getan. Wir haben darüber hinaus die Strafbar- hatten. keit auf die Verwendung ausgeweitet, weil uns bekannt ist, dass es in Deutschland schon Stammzelllinien gibt, Im Zentrum der Entscheidung steht der Satz, den, wie die nicht illegal importiert worden sind. Es war uns wich- wir wissen, nicht nur dieses Haus, sondern auch die Be- tig, dies auszuschließen. Damit und nicht mit dem Im- völkerung mehrheitlich teilt: Für deutsche Forschung hat portverbot, mit dem wir den Bundestagsbeschluss voll kein Embryo sein Leben zu lassen. Diesen Satz umzuset- umgesetzt hätten, entstand das Problem der Auslandstat. zen, und zwar so, dass er im In- und Ausland, soweit es uns möglich ist, gilt, jedenfalls durch Deutsche nicht ge- Ich spreche jetzt auch Herrn Naumann an, der heute brochen wird, war unser Auftrag. Ihn haben wir erfüllt. über dieses Thema in der „Zeit“ geschrieben hat: Machen Sie sich bitte klar, dass die verquere Rechtslage schon für Aber auch die embryonalen Stammzellen sind ethisch das Embryonenschutzgesetz gilt. Die verquere Rechts- nicht unproblematisch, auch in den Augen der Mehrheit lage, die Herr Naumann uns in die Schuhe schiebt, besteht nicht, die diesen Beschluss getragen hat, und zwar des- schon seit zehn Jahren. Ein deutscher Wissenschaftler, der wegen nicht, weil, wenn sie auch nach der Verfassung in Boston Stammzelllinien kreiert – das heißt, der Em- nicht, wie Embryonen für viele in diesem Hause, unan- bryonen dafür tötet – bleibt straflos und kann in Deutsch- tastbar sind, da sich aus den embryonalen Stammzellen land in Anwesenheit von Staatsanwälten darüber berich- kein ganzer Mensch mehr entwickeln kann, hinter ihnen ten, ohne rechtliche Folgen befürchten zu müssen. Das doch der Tod eines Embryos steht. Dieses bedeutete für wissen Sie alle. uns, dass wir sowohl den Stichtag halten mussten, um si- cherzustellen, dass der von mir vorhin zitierte Satz einge- (Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Das können wir halten wird, als auch Bedingungen und Regeln aufstellen aber ändern!) mussten, die die Verwendung von embryonalen Stamm- Ein Professor, der einen Mitarbeiter ins Ausland zellen, so weit sie schon existieren, an strenge Vorausset- schickt, ist wegen Anstiftung einer Straftat möglicher- zungen knüpft. weise strafbar, obwohl ich anmerken muss, dass es dies- Jetzt komme ich zu den Vorwürfen. bezüglich noch nie ein Ermittlungsverfahren gegeben hat, weil die Beweislage sehr schwierig sein dürfte. Der erste Vorwurf galt dem Beschluss des Bundesta- ges, was den Begriff der elterlichen Zustimmung angeht. Fährt dieser Professor mit seinem Assistenten nach In meinen kühnsten – ich muss schon sagen – Albträumen Boston und führt ihn an Ort und Stelle in seine Arbeit ein, hätte ich als Familienrechtlerin nicht gedacht, dass dieser bleiben beide straflos. Wenn der Professor seine Anwei- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23211

Margot von Renesse (A) sungen von einer Telefonzelle aus drei Schritte hinter der wenn wir die Entscheidung drei Monate später selber kon- (C) deutschen Grenze – beispielsweise in Dänemark oder in terkarieren. War es dann eine Gewissensentscheidung Frankreich – gibt, dann interessiert sich auch dafür kein oder war es eine Entscheidung, die sich nach der Stim- Staatsanwalt. mung richtete? Ich bitte Sie, meine Damen und Herren: Dieses macht Nehmen wir uns ernst. Wir haben unsere Aufgabe getan. junge Wissenschaftler nicht beständig in ihrem Wertbe- Zur Diskussion kamen Menschen mit verschiedenen An- wusstsein; es macht sie zynisch. Wir wollten dieses än- schauungen und Erfahrungen zusammen. Sie waren ver- dern, aber nicht in Bezug auf das Embryonenschutzge- schiedenen Alters und kamen aus unterschiedlichen Gene- setz; damit mögen sich andere beschäftigen. So haben wir rationen. Ich finde, wir haben unsere Arbeit – ich kann den gedacht. Aber für die erweiterte Strafbarkeit, die insbe- Prozess nur als unglaublich positiv bezeichnen – in einer sondere auch mit Kooperationen im Ausland zu tun hat, guten Weise geleistet. Wir waren offen für Kritik. Wir woll- wollten wir diesen offensichtlichen Blödsinn abschaffen. ten allen Menschen – also weit über die Grenzen dieses Die bestehende Rechtslage bedeutet nämlich, dass sich Hauses hinaus – die Möglichkeit geben, vor dem Hinter- ein Institut in Schweden in Deutschland von den verant- grund eines Wertdissenses miteinander zu existieren. wortlichen Behörden eine Genehmigung erteilen lassen Ich darf mit einem Satz aus der Bergpredigt, der mir muss, damit deutsche Wissenschaftler mit ihm zusam- sehr wichtig ist, schließen. In den Seligpreisungen steht menarbeiten können. An dieser Stelle wird es doch nicht: „Selig sind die Rechthaber“, sondern: „Selig sind, vollends absurd. die Frieden stiften.“ ( [CDU/CSU]: Das stimmt!) Danke sehr. Wir haben jetzt nicht die Zeit, diese Vorschrift allen zu (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE erläutern, obwohl dieser juristische Firlefanz vielen nicht GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP) klar ist. Hinzu kommt die Diskussion über das 6. Rah- menprogramm der EU. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Ich sage für mich, dass ich es trotz der Absurdität die- jetzt der Abgeordnete Werner Lensing. ser Rechtslage aufgegeben habe. Der nächste Bundestag mag an § 9 des Strafgesetzbuches gehen, der die Wurzel Werner Lensing (CDU/CSU): Frau Präsidentin! des Übels ist. Er mag dort Bereinigungen herbeiführen, Meine sehr verehrten Kolleginnen! Meine Kollegen! Der sodass es endlich zu einer konsistenten Rechtslage Ihnen vorliegende Gesetzentwurf ist natürlich auf der kommt. Dieser Paragraph stammt nämlich aus einer Zeit, Basis unseres Mehrheitsbeschlusses vom 30. Januar die- (B) als am deutschen Wesen noch die Welt genesen sollte. ses Jahres in einer interfraktionellen Arbeitsgruppe, deren (D) Schauen Sie es sich bitte an. Ich werde dem Bundestag Geist unglaublich – ich muss es so sagen dürfen – fair, nicht mehr angehören; andere sollten sich aber mit dem konstruktiv und sachkundig war, in der Tat aus der Mitte Problem befassen. des Parlaments entstanden. Das ist schon einmal etwas Es kann nicht so weiter gehen, dass wir so tun, als leb- sehr Gutes. ten wir auf einer Insel. Wir müssen es uns mit den Kon- Diese gesetzliche Regelung steht in völligem Einklang flikten in Recht und Ethik schwer machen, damit andere mit der rechtlichen und ethischen Wertentscheidung, wel- es leichter haben und damit das Wertbewusstsein erhalten che dem hohen Schutzniveau des Embryonenschutzgeset- wird. Dieses Wertbewusstsein darf nicht – quasi aufgrund zes zugrunde liegt. Zudem beachtet sie das Grundrecht der Pontius-Pilatus-Moral nach dem Motto, dass man sich der Freiheit von Wissenschaft und Forschung und trägt die Hände nicht schmutzig macht, weil man es ja nicht zugleich dem berechtigten und verständlichen Interesse gewesen ist – anderen überlassen bleiben. Ich finde, dass kranker Menschen an der Entwicklung neuer Hei- das nicht unser Auftrag ist. Dafür werden wir nicht be- lungschancen Rechnung. zahlt. Wegen der mir nur knapp bemessenen Zeit möchte ich (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ diese Aussage an sechs Punkten festmachen: DIE GRÜNEN und der FDP) Erstens. Bekanntlich stellt Art. 1 unseres Grundgeset- Ich möchte keine Neuauflage der Diskussion, die wir zes apodiktisch und zweifelsfrei fest: „Die Würde des am 30. Januar hervorragend geführt haben. Ich finde, das Menschen ist unantastbar.“ Diese Grundaussage findet in Parlament ist seiner Aufgabe gerecht geworden. Es hat je- dem vorliegenden Gesetzentwurf eine uneingeschränkte des Argument geprüft. Wir waren die Vertreter des ganzen Bestätigung. Sie verblasst nicht etwa zu einer reinen Ver- Volkes mit all seinen Bedenken, Ängsten, Hoffnungen fassungslyrik. und Sorgen. Wir erwarten, dass jede und jeder in der Be- Zweitens. Der vorgelegte Entwurf beinhaltet ein völkerung den Entscheidungen gegenüber, die wir in die- grundsätzliches, klar nachvollziehbares Einfuhr- und Ver- sem Hause treffen, Gehorsam leistet. Wir haben den Be- wendungsverbot von humanen embryonalen Stammzel- schluss am 30. Januar auf der Grundlage individueller len. Damit wird dem von vielen befürchteten Dammbruch Gewissensentscheidungen gefasst. eindeutig und wirksam begegnet. Ich habe sehr dafür gekämpft, dass das Parlament der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Ort der Entscheidung ist. Es war nicht immer einfach, das SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- durchzusetzen. Machen Sie sich bitte klar, was passiert, NEN) 23212 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Werner Lensing (A) Drittens. Durch die Begrenzung des Verbots auf das Ich fasse zusammen, indem ich eine führende Tages- (C) Maß, das durch den Embryonenschutz gerechtfertigt ist, zeitung zitiere: ist der Gesetzentwurf verfassungsrechtlich in keiner Trotz mancher Schwächen im Detail: Besser und Weise zu beanstanden. sachkundiger lässt sich der Konflikt um Embryonen- Viertens. Es wird sichergestellt, dass alle – auch die schutz, Forschungsfreiheit und neue Therapien nicht durch Klonen erzeugten – humanen totipotenten Zellen auflösen. als Embryonen anzusehen sind und somit in den Schutz- Gestatten Sie mir eine persönliche Bemerkung: Keiner bereich dieses Gesetzes gehören. der Beteiligten, wo immer er stehen mag – dessen Stand- Fünftens. Durch den heute vorgelegten Änderungsan- punkt respektiere ich selbstverständlich –, sollte meinen, trag zu § 13 Abs. 3 des Gesetzentwurfes – Frau Kollegin er allein habe die Moral gepachtet. Dies zu beachten ge- Renesse ist bereits ausführlich darauf eingegangen – soll bietet uns der Respekt vor der Gewissensentscheidung ei- die Strafbarkeit einer in Deutschland begangenen Anstif- nes jeden Einzelnen. tung und Beihilfe zu einer im Ausland erfolgten, dort je- Vielen Dank. doch nicht strafbaren Verwendung von embryonalen Stammzellen festgelegt werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Sechstens. Mit der Festlegung eines präzisen Stichta- und der FDP) ges wird allen jeglicher Anreiz genommen, Embryonen zu töten, um daraus Stammzellen für die Forschung in Deutschland zu gewinnen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Andrea Fischer. Kurzum: Unser Gesetzentwurf ist ausgewogen und praxistauglich, was ich für besonders wichtig erachte. Andrea Fischer (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dieser Entwurf hat natürlich seine Kritiker gefunden. NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In Aber wer hier von doppelter Moral spricht, sagt etwas den letzten Monaten, seit ich mich auf den Weg gemacht Falsches, weil dieser Entwurf konsequent, rechtlich sau- habe, mit den inzwischen von mir so sehr geschätzten ber formuliert und letztlich sogar unvermeidlich ist, und Kolleginnen und Kollegen den heute vorliegenden Ge- zwar deswegen, weil wir ein Einfuhr- und Verwendungs- setzentwurf zu erstellen, habe ich mich immer wieder verbot benötigen, um Embryonen vor Begehrlichkeiten in selbst geprüft. Ich habe mir immer wieder die Frage ge- Deutschland zu schützen, unvermeidlich aber auch des- stellt: Rücke ich hier in unvertretbarer Weise von meinen wegen, weil Stammzellen – ich beziehe diese Gedanken Positionen ab, ja verrate ich diese Positionen sogar, indem (B) ausdrücklich auf die bereits vor dem Stichtag gewonne- ich mich auf diesen Antrag einlasse? (D) nen Stammzellen – nun einmal keine Embryonen sind. In- sofern existiert im Hinblick auf diese Stammzellen kein Ich habe mir diese Frage natürlich auch anhand der kri- unmittelbarer Grundrechtschutz, der der Forschungsfrei- tischen Einwände gestellt, die uns gegenüber immer wie- heit entgegenzuhalten wäre. der gemacht wurden, auch nach der Abstimmung am 30. Januar. Deren gewichtigster lautet mit Sicherheit, dass Wir nehmen im Übrigen – ich will deutlich darauf hin- es bei Leben und Tod keinen Kompromiss gibt. Das ist weisen – Forscherinnen und Forscher in die Pflicht und richtig; diese Auffassung teile ich. Deswegen betone ich setzen ihren Forschungen klare Grenzen. Daher finde ich hier noch einmal: In diesem Sinne haben wir heute keinen es überhaupt nicht angemessen, wenn sich einige der ve- Kompromiss vorgelegt. Vielmehr haben wir das Embryo- hementesten Gegner des Konsenses vordergründig auf das nenschutzgesetz nicht nur bekräftigt, sondern wir haben formalistische Argument einer wortwörtlichen Umsetzung eine lange bestehende Lücke geschlossen. Aber den stren- berufen; sollten wir uns doch unabhängig von unserem gen Schutzstandard des Embryonenschutzgesetzes wol- Standpunkt allemal darauf verständigen können, dass kein len wir auf Dauer und in die Zukunft festschreiben. Das Parlamentarier daran gehindert wird, sich beispielsweise halte ich für die zentrale Botschaft, die oft zu gering ge- im Rahmen einer Anhörung über neue Probleme zu infor- schätzt worden ist. mieren und Bereitschaft zu zeigen, seinen gewonnenen Er- kenntniszuwachs verantwortungsvoll zu nutzen. Der zweite sehr gewichtige Einwand ist natürlich, dass eine Ausnahme doch irgendwie auch schon der Anfang (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der vom Ende dieses Embryonenschutzgesetzes sein könnte. SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Ich betone noch einmal: Dieser Einwand gilt deswegen NEN) nicht, weil wir diese grundlegende Position gehalten und Eines möchte ich im Hinblick auf frühere Änderungs- sogar bekräftigt haben und weil wir uns mit der Ausnahme vorschläge, die selbst die nur ausnahmsweise mögliche ausschließlich auf die Vergangenheit, die für uns unab- und restriktiv regulierte Einfuhr von Stammzellen noch änderlich ist, beziehen und dementsprechend, wenn wir dies so tun, nicht unserem Ziel zuwiderlaufen, für die Zu- hätten vereiteln können, deutlich sagen: Der Vorschlag kunft die verbrauchende Embryonenforschung aus- der Gruppe um die Kollegen Dr. Wolfgang Wodarg, schließen zu wollen. Monika Knoche und Hubert Hüppe zeigt nunmehr offen, was wirklich angestrebt wird: ein absolutes Importverbot, Deswegen, Kollegin Flach, ist Ihr Änderungsantrag das bereits am 30. Januar 2002 von diesem Hohen Haus mit dem Grundgedanken unseres Gesetzentwurfs völlig mehrheitlich abgelehnt wurde. unvereinbar. Er verkehrt unseren Grundgedanken in sein Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23213

Andrea Fischer (Berlin) (A) Gegenteil. Das ist der entscheidende Punkt, warum ich Ich will noch eine persönliche Bemerkung machen. In (C) meine, dass er überhaupt nicht kompatibel mit diesem Ge- der Debatte am 30. Januar ist mir etwas aufgefallen. Da setzentwurf ist und deshalb auch nicht zustimmungsfähig habe ich nicht wenige von denen, die für das absolute ist. Nein sprachen, das Argument gehört, dass man diese For- schung nicht brauche, weil man ja Alternativen habe. Die- Dann gibt es den eher praktischen Einwand: dass wir ses Argument ist in der Tat zunächst einmal ein eher den hohen Anspruch, den wir aufgestellt haben, deswegen schwaches. Denn im Umkehrschluss hieße das natürlich: in der Praxis nicht einhalten könnten, weil wir weder die Wenn sie denn erfolgreich wäre, müsste man alles zulas- Menge noch die Herkunft der Stammzellen und der sen. Ich glaube, die Frage des Erfolgs kann für die Beur- Stammzelllinien kontrollieren könnten. Ich verweise da- teilung dieses Sachverhalts bestenfalls eine notwendige, rauf, dass die Frage der Menge für die Grundentschei- aber keine hinreichende Bedingung sein, um eine Ent- dung, die wir getroffen haben, irrelevant ist. Wir haben scheidung zu treffen. gesagt, dass wir eine Unterscheidung zwischen Vergan- genheit und Zukunft machen. Wir als Parlament, als Politikerinnen und Politiker, ha- ben während der ganzen Debatte – schon lange vor den Ich verweise zum anderen darauf, dass wir einen Entscheidungen, die wir zu treffen hatten und haben – von Schwerpunkt unserer Beratungen auf das Problem der den Forschern verlangt, dass sie den Souverän und seine Kontrolle gelegt haben. Die entsprechende Regelung im Entscheidungen respektieren. Sie wissen alle, dass das Gesetzentwurf ist sehr eindeutig. Natürlich wird es im nicht immer unstrittig war. Aber wir können doch heute Einzelnen nicht immer einfach sein, dies zu machen. Aber feststellen, dass sich die Forschung an diese Forderung versuchen wir doch jetzt einmal, lebenspraktisch an die gehalten hat. Sie hat ihre Anträge so lange zurückgestellt, Sache heranzugehen. Ein Forscher, der sich die Mühe bis der Bundestag entschieden hat. Ich glaube, das ist eine macht, einen Antrag bei einer Behörde zu stellen, wird gute Ausgangsvoraussetzung für uns, ebenfalls zu überle- sehr wohl schon aus Eigeninteresse darauf achten, den gen, wie wir Brücken bauen – nicht nur zur Forschung; Import von einer Institution zu beantragen, die reputier- die macht es nicht nur aus Eigeninteresse –, sondern auch lich ist und die man überprüfen kann. Dass es andere in zu den Menschen, die andere Interessen damit verbinden, der Welt gibt, wissen wir. Das ist aber von diesem Gesetz die Hoffnungen darauf setzen und diesbezüglich Erwar- völlig unberührt. Das könnte man heute schon miss- tungen hegen. bräuchlich unterlaufen. Die Möglichkeit, dass sich je- mand nicht an ein Gesetz hält, ist meines Erachtens kein Ich bin absolut überzeugt davon – nach den letzten Mo- gutes Argument gegen ein Gesetz. naten der Selbstprüfung immer mehr –, dass es klug ist, wenn wir uns in einer pluralistischen Gesellschaft unserer Dann stellt sich immer noch die Frage: Wieso über- moralischen Gemeinsamkeiten in der Weise vergewis- (B) haupt eine Ausnahme? Warum nicht einfach sagen, das sern, dass wir von niemandem die vollständige Unterwer- (D) wollen wir nicht, niemals? fung unter die Mehrheitsmeinung verlangen. (Dr. Ilja Seifert [PDS]: Genauso ist es!) Unsere Debatte – ich habe dieses Argument selber oft Mein Ausgangspunkt für diese Überlegung war das Ver- genug bemüht – ist immer wieder bestimmt von der fassungsrecht. Gleiches ist von den Vorrednern bereits be- Sorge, mit einem Schritt, den wir tun, könnten wir den tont worden. Wäre es das Verfassungsrecht allein, könnte Dammbruch einleiten. Meine Damen und Herren, wir man noch sagen: Wir sind der Gesetzgeber, wir entschei- selber sind es, die diese Dämme errichten. Und wir ha- den und wollen wir doch einmal sehen, wer stärker ist; ben hier einen sehr festen Damm errichtet. Das ist schon außerdem haben Juristen immer verschiedene Meinungen. gesagt worden. Das heißt, wir selber sind es, die uns sel- ber und den von uns gemeinsam getroffenen Verabre- Bei mir ist der Prozess, eine Ausnahmeregelung zu er- dungen trauen müssen. Dies liegt ausschließlich an uns. arbeiten, immer stärker zu dem Versuch geworden, sich Ich glaube aber, dass es mit einer solch tragfähigen diesen Widersprüchen zu stellen, von denen ich glaube, Grundlage, die berücksichtigt, dass es unterschiedliche dass wir alle gut beraten sind, sich ihnen zu stellen. Wir Positionen gibt, ohne damit in die Beliebigkeit des wissen doch, dass viele Menschen eine hohe Erwartung „anything goes“ zu verfallen, möglich ist, gegenseitig an die Forschung haben, die hier zur Debatte steht. Wir Vertrauen zu haben. Wenn wir dieses Vertrauen nicht ha- wissen genauso, dass es völlig offen ist, ob diese Erwar- ben können und nicht daran arbeiten, es miteinander zu tungen erfüllt werden können. Nur werden wir das nie entwickeln, dann werden auch diese Gesetze nicht lange erfahren, wenn wir nicht wenigstens die Grundlagen- halten. forschung zulassen. Vor diesem Hintergrund werbe ich um Ihre Zustim- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) mung. Gerade diejenigen, die die ganze Zeit sagen, sie woll- Ich danke Ihnen. ten, dass wir an ethisch unbedenklichen Alternativen for- schen, haben es argumentativ nicht ganz leicht gegenüber (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der CDU/ dem Argument, dass diese Grundlagenforschung auch CSU und der FDP) benötigt wird, um besser zu verstehen, wie diese ethisch unbedenklichen Alternativen verwendet und genutzt wer- den können. Auch vor diesem Hintergrund sollte man ein Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat großes Interesse daran haben. jetzt die Abgeordnete Ulrike Flach. 23214 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

(A) Ulrike Flach (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen Mit unserem Antrag möchten wir verhindern, dass wir (C) und Herren! Der Bundestag hat am 30. Januar nach langer in kurzer Zeit wieder eine gesetzliche Regelung brauchen, und sehr umfangreicher Debatte – die ich genau wie Sie, wenn nämlich die Forschung so weit ist, dass man in die Frau von Renesse, für eine der besten Debatten halte, die Therapie einsteigen könnte, dazu aber Stammzelllinien in den letzten dreieinhalb Jahren stattgefunden haben – von einer Qualität braucht, die es vor diesem Stichtag eine Grundsatzentscheidung gefällt, die deutlich sagt, nicht gab. In die Therapie wollen wir aber einsteigen, Frau dass der Import embryonaler Stammzellen grundsätzlich von Renesse, wie dies auch in § 5 des Gesetzentwurfes zu verbieten ist. Aber es sollen Ausnahmen zugelassen klar formuliert wird. werden, wenn wissenschaftliche Gründe belegen, dass es sich um hochrangige Forschung für die Entwicklung von Wir schlagen deshalb eine Regelung vor, die sicher- Therapien gegen schwere Krankheiten handelt. stellt, dass der Forschung für die Therapie geeignete Stammzellen zur Verfügung stehen, ohne Gefahr zu lau- Gelegentlich, liebe Kollegen, muss man sich ins Ge- fen, Stammzellen auf Bestellung zu produzieren. Zwi- dächtnis rufen, was der Sinn dieser Ausnahmeregelung vom Verbot sein soll: nicht die Erfüllung ungeduldiger schen der Entstehung im Herkunftsland, zum Beispiel bei Forscherwünsche, sondern der klare Wille der Mehrheit der künstlichen Befruchtung, und einem Antrag auf Import dieses Hauses, kranken Menschen mithilfe der Stamm- nach Deutschland muss nach unserer Vorstellung ein Zeit- zellforschung Hoffnung und eventuell Heilung zu geben. raum von einem halben Jahr liegen. Dies ist ein Vorschlag – die Kundigen unter Ihnen wissen dies –, über den auch (Beifall bei der FDP) im Ethikrat diskutiert wurde. So weit zu unserem Antrag. Das Stammzellgesetz soll diese Grundsatzentschei- Es ist gut, Frau von Renesse, dass die Einbringer des dung des Parlamentes in Recht umsetzen. Es geht also Gesetzentwurfes nach der Anhörung im Ausschuss noch – auch insoweit schließe ich mich Ihnen, Frau von einige Ungereimtheiten ausgeräumt haben. Leider – das Renesse, vollkommen an – heute nicht mehr um den Im- muss ich auch deutlich sagen – gibt es aber auch eine ge- port an sich – Sie wissen, dass die FDP hier eine ehrlichere genteilige Entwicklung, und zwar den zweiten Ände- und klarere Lösung für eine Forschung in Deutschland für rungsantrag, den Sie jetzt eingebracht haben. die bessere gehalten hätte –, (Dr. Ilja Seifert [PDS]: Das ist ja nicht zu (Detlef Parr [FDP]: Völlig überflüssig!) fassen!) Bezeichnenderweise hat sich Herr Catenhusen ausge- sondern es geht nur noch darum, wie die gesetzliche klinkt. Dieser Antrag könnte, wenn er angenommen Regelung aussieht. Dabei steht für uns ganz klar im Vor- würde, das ganze Gesetz gefährden. dergrund, dass diese Regelung die größtmögliche Chance Sie wollen die Regelung des § 13 Abs. 3 Ihres eigenen (B) dafür bieten muss, schnelle Erfolge in der Grundlagen- Gesetzentwurfes streichen. Was bedeutet dies? Sie haben (D) forschung und dann auch der Therapieentwicklung zu er- die Frage anhand eines Beispiels eben selbst klar beant- zielen. wortet: Dann würde § 9 des Strafgesetzbuches gelten. Bei Leider, Frau Fischer, Frau von Renesse, hat der nun einer einfachen Forschungskooperation zwischen Deut- eingebrachte Gesetzentwurf genau in dieser Hinsicht ei- schen und Indern gerieten deutsche Forscher nur aufgrund nige Mängel. Er ist mit Bürokratie überladen dieser Kooperation sehr schnell in die Gefahr einer Be- (Peter Hintze [CDU/CSU]: Jawohl!) strafung. Auf diese Art und Weise würden wir diese Ko- operationen, die es auch heute schon gibt, sehr stark be- und er ist, weil er von so vielen unterschiedlichen An- hindern. Selbst die Vergabe von Lizenzen, Frau von tragstellern eingebracht wurde, nicht der Maxime gefolgt, Renesse, zur Nutzung patentierter Verfahren an ausländi- ein Verfahren zu wählen, welches funktioniert und nicht sche Wissenschaftler könnte nach Ihrem Vorschlag als ein Hemmnis für deutsche Forscher bedeutet. Beihilfe bewertet werden. Was Sie jetzt machen, bedeutet (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Peter eine erhebliche Erschwerung internationaler Forschungs- Hintze [CDU/CSU]) kooperationen unter deutscher Beteiligung. Und Sie wis- sen das, Frau von Renesse. Die Stichtagsregelung – 1. Januar 2002 – ist – das hat die Expertenanhörung unseres Ausschusses ganz deutlich Machen wir uns noch einmal klar, warum wir den Be- ergeben – alles andere als anwender-, als therapiefreund- schluss am 30. Januar diesen Jahres gefasst haben. Es geht lich. Sie ist auch – das hat zum Beispiel Professor Taupitz um hochrangige Forschungsvorhaben, die dazu dienen ausgeführt – zumindest hart an der Grenze zur Verfas- sollen, Grundlagen der Zellprogrammierung zu erkennen, sungswidrigkeit. Zudem begeben wir uns faktisch in die um Therapien gegen genetisch bedingte Krankheiten zu Abhängigkeit eines einzelnen kommerziellen Anbieters, entwickeln. Dass dies ethisch-moralisch vertretbar ist, hat denn die Zahl der zur Verfügung stehenden Stammzell- dieses Haus mit Mehrheit entschieden. linien ist nicht sehr groß. Die Menschen erwarten jetzt von uns, dass wir diesen Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat uns in der Beschluss umsetzen; natürlich in ethisch verantwortbarer Anhörung darauf hingewiesen, dass nur wenige der im Form – das leistet das vorliegende Gesetz; das ist so, Frau NIH-Register gelisteten Stammzelllinien dem For- von Renesse –, aber doch auch so, dass Erfolge nicht von schungsanspruch genügen und damit nur für die Grundla- vornherein behindert werden. genforschung, nicht aber für die für uns alle wichtigste Forschung, nämlich die therapieorientierte Forschung, Deshalb wird die FDP-Fraktion die Änderungsanträge reichen wird. von Herrn Dr. Wodarg bzw. Herrn Dr. Wodarg, Herrn Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23215

Ulrike Flach (A) Hüppe und anderen ablehnen, die die damals getroffene sentlich zielführender. Sie kommen aber zu einem ande- (C) Entscheidung aufheben wollen. ren Ergebnis als ich. Nachher wird noch begründet wer- den, warum wir einen gemeinsamen Antrag eingebracht (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten haben, um den Import vollkommen zu verbieten. Frau der SPD, der CDU/CSU und der PDS) Fischer, Ihre Fragestellungen werden von einem großen Wir werden auch den Änderungsantrag von Frau Teil der Bevölkerung geteilt. Ich finde jedoch die Beru- Böhmer, Frau Fischer, Frau von Renesse und Herrn fung auf die Mehrheiten immer etwas problematisch. Lensing ablehnen, weil er Deutschland von der interna- Ich will es ausdrücklich sagen: Wenn für uns das Ge- tionalen Forschungskooperation abkoppelt. bot der Würde des Menschen über allem steht, dann (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Peter glaube ich nicht, dass man solche Kompromisse machen Hintze [CDU/CSU]) kann. Ich benutze das Bild vom Dammbruch, Frau Fischer, nicht gern. Sie haben es benutzt und sich für das Ich werbe bei Ihnen für unseren Änderungsantrag ei- Bauen eines Dammes ausgesprochen. Das ist in Ordnung. nes praktikablen Stichtages. Wir wollen Forschung zu- Ich benutze in diesem Zusammenhang lieber das Bild von gunsten Kranker. Aber ich sage Ihnen auch ganz klar: der Tür, die entweder zu, einen Spalt offen oder ganz of- Selbst wenn diese für uns optimale Lösung nicht durch- fen ist. In diesem Zusammenhang könnte man sagen: Sie kommt, werden wir Ihrem Gesetzentwurf zustimmen. Wir versuchen, die Tür einen kleinen Spalt zu öffnen, gleich- als FDP werden nicht auf der Seite der Forschungsver- zeitig aber zu verhindern, dass alles durchgeht, was weigerer stehen. durchgehen kann. Das zu sagen kann ich Ihnen nicht er- Deshalb bekommen Sie unser Ja zu Ihrem Antrag mit sparen, Frau von Renesse und die übrigen Antragstel- großen Bauchschmerzen, Frau von Renesse, weil ich lerinnen und Antragsteller, die sicherlich nicht traurig weiß, dass wir der Forschung nur einen kleinen Dienst sind, wenn ich sie nicht alle aufzähle. und nicht den Dienst erweisen, den wir uns als In §5 des vorliegenden Gesetzentwurfes wird deutlich, Forschungspolitiker vorstellen. Aber wir wollen die Tür was seine Initiatoren wirklich wollen. Dort heißt es: zumindest leicht öffnen. Wir wollen den Menschen ein Signal senden, die darauf hoffen, dass ihnen diese For- Forschungsarbeiten an embryonalen Stammzellen schung irgendwann einmal Linderung bringt. dürfen nur durchgeführt werden, wenn … sie hoch- rangigen Forschungszielen für den wissenschaftli- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten chen Erkenntnisgewinn im Rahmen der Grundlagen- der CDU/CSU und der Abg. Christina Schenk forschung oder für die Erweiterung medizinischer [PDS]) Kenntnisse bei der Entwicklung diagnostischer, (B) präventiver oder therapeutischer Verfahren zur An- (D) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat wendung bei Menschen dienen … jetzt der Abgeordnete Ilja Seifert. Sagen Sie mir bitte einmal, warum in dem einleitenden Hauptsatz ein „nur“ steht? Sie haben in diesem Paragra- Dr. Ilja Seifert (PDS): Frau Präsidentin! Meine Damen phen doch fast alles aufgezählt. und Herren! Liebe Frau von Renesse, ich habe den Auf- (Margot von Renesse [SPD]: Das ist fast trag an uns anders als Sie verstanden. In Ihrem Gesetz- wörtlich der Bundestagsbeschluss!) entwurf steht es auch anders, als Sie es dargestellt haben. Die Vermeidung der Tötung von Embryonen zum Zwecke – Entschuldigen Sie bitte, in diesem Paragraphen wird der Stammzellforschung ist in Ihrem eigenen Gesetzent- doch alles aufgelistet, von der Grundlagenforschung über wurf erst der zweite Punkt, nicht der Hauptpunkt. die therapeutische Forschung bis hin zur Anwendungs- forschung. Der Hauptpunkt ist – ich darf das zur allgemeinen Kenntnisnahme wiederholen –, die Einfuhr und Verwen- Frau Flach hat auch noch gefordert, in diese Auflistung dung embryonaler Stammzellen zu verbieten. Sie haben nicht nur die therapeutische Forschung, sondern auch die ein „grundsätzlich“ hineingebracht. Dies ist dann die Ein- Therapie aufzunehmen. Das ist das Einzige, was Sie in § 5 leitung für den dritten Punkt, nämlich die Ausnahme. Den Ihres Gesetzentwurfes nicht aufgenommen haben. In der Auftrag, dies zu verbieten, haben wir deshalb, weil wir die Anhörung ist ja deutlich geworden: Die Begrenzung auf Menschenwürde als unantastbar ansehen. Das ist das die Grundlagenforschung ist etwas völlig anderes als die oberste Gebot der Verfassung. von Ihnen vorgeschlagene Erweiterung; denn eine solche Erweiterung heißt nicht, die Tür einen Spalt breit zu öff- Es stellt sich in Ihrem eigenen Gesetzentwurf jedoch nen, sondern Scheunentore aufzumachen. Dahinter befin- heraus, dass das eine mit dem anderen nicht zu vereinba- den sich schon die nächsten Türen. Frau Flach hat eine da- ren ist. Sie müssen eine Konstruktion finden, die so tut, als von angedeutet. ob die Tötung von Embryonen nicht stattfindet, um im Nachhinein zu sanktionieren: Wenn es denn schon ge- Wir wissen von den Forschern der Deutschen For- schehen ist, dann kann es nicht mehr geändert werden und schungsgemeinschaft und anderer wissenschaftlicher In- stitutionen, wohin sie eigentlich wollen. Insofern ist das ist hinzunehmen. Sich-Berufen auf Menschen, die krank sind und die Linde- Frau Fischer, ich finde Ihren Diskussionsbeitrag, der rung, Heilung oder zumindest Hoffnung von der Forschung nachdenklich stimmt und viele Bedenken in verständli- an embryonalen Stammzellen erwarten, vielleicht sehr po- cher und nachvollziehbarer Weise aufgegriffen hat, we- pulär.Aber, Frau Flach, Sie glauben mir sicherlich, dass ich 23216 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Dr. Ilja Seifert (A) mit sehr vielen Menschen zusammenkomme, die chronisch eben von der Kollegin von Renesse und auch von anderen (C) krank oder behindert sind und die mit ihren Beeinträchti- Kollegen und Kolleginnen gehört, welche Verrenkungen gungen gut oder schlecht leben. Diese antworten mir, wenn der Gesetzgeber machen muss, damit er diese wider- ich sie frage: Wollt ihr wirklich diese erste Tür aufmachen, sprüchlichen Dinge unter einen Hut bekommen kann. wisst ihr, welche Türen dann dahinter sein werden, glaubt (Margot von Renesse [SPD]: Also, entschuldi- ihr wirklich, dass dann, wenn die erste Tür geöffnet worden gen Sie mal!) ist, die nächsten Türen verschlossen bleiben? Man kann es einen bioethischen Eiertanz nennen, wenn (Detlef Parr [FDP]: Was ist das denn anderes als ich die Deutlichkeit von Frau von Renesse einmal für der Dammbruch, den Sie nicht ansprechen mich in Anspruch nehme. In einem stimme ich mit Frau wollten?) Flach überein: dass dieser Gesetzentwurf wirklich nicht – ich habe nur gesagt, dass ich dieses Bild nicht gerne be- das hält, was er verspricht. Nur, wir beide meinen das un- nutze; ich habe nicht gesagt, dass ich das nicht so sehe –, terschiedlich. ja, du hast Recht. Lass uns lieber Gesetze machen, die es Der Gesetzentwurf zeigt, dass der Import von embryo- uns ermöglichen nalen Stammzellen zwar grundsätzlich verboten wird, (Jörg Tauss [SPD]: Das ist ein bisschen wie dass aber Stammzellen importiert werden dürfen, die „in ein Alleinvertretungsanspruch!) Kultur gehalten werden“ – wie es dort heißt – „oder im Anschluss daran kryokonserviert gelagert werden“. Wir – Entschuldigung, Herr Tauss, ich darf hier meine Mei- haben hier am 30. Januar versucht, etwas näher abzu- nung genauso äußern wie Sie; dass Sie keine Redezeit von schätzen, wie viele Stammzellen und Linien das denn Ihrer Fraktion bekommen haben, ist nun wirklich nicht sein könnten. Es ist deutlich geworden, dass es sich nach mein Problem –, mit unseren Krankheiten, Behinderun- Herrn Hintze um zwei bis drei Linien handelt; das kann gen und Beeinträchtigungen besser zu leben. Wir wollen man im Protokoll nachlesen. René Röspel, seines Zei- nicht als Alibi für das Öffnen von Scheunentoren in eine chens Molekularbiologe, hat die Aufzählung von George bestimmte Richtung herhalten. Bush präsentiert: Das waren zwischen 60 und 70 Linien, von denen aber nur etwa über 20 für die Forschung über- (Jörg Tauss [SPD]: Aber Sie können nicht alle haupt brauchbar seien. In der Debatte ist gesagt worden, verhaften!) dass es etwa 7 Mäusezelllinien gibt, mit denen die For- – Entschuldigung, das haben wir alles schon einmal er- schung arbeitet. lebt. Ich habe heute – das ist reiner Zufall gewesen – mit Dann hat der Deutsche Bundestag dazu gesagt: Ja, den Vertreterinnen des Bundes der Euthanasiegeschä- okay, wir begrenzen – das war der Kompromiss – unsere digten und Zwangssterilisierten geredet. Sie warten noch Importerlaubnisse auf bestimmte Stammzelllinien, die zu (B) heute auf ihre Entschädigung. Ich finde das empörend. Sie einem bestimmten Zeitpunkt etabliert worden sind. Eta- (D) haben mir auch berichtet, dass es in der Nazizeit mit dem bliert ist ein Begriff, der nicht definiert ist. Gesetz zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses be- gann. Danach waren dann die unheilbar Kranken und die (Zurufe von der SPD: So ist es! – Eben!) chronisch Kranken dran. Später wurden soziale Kriterien Jetzt wird versucht, zu definieren, was Stammzelllinien eingeführt. Wohin das geführt hat, wissen wir alle. sind. Das wird in diesem Gesetz auch gemacht. Diese Definition gibt es bisher nicht. Wenn Sie mir so kommen – dieses Argument wollte ich eigentlich nicht bringen –, dann muss ich doch zumindest (Margot von Renesse [SPD]: Doch! – Ulrike sagen dürfen, wovor ich Angst habe. – Entschuldigung, Flach [FDP]: Doch!) dass ich mich jetzt so echauffiert habe. – Stammzelllinien sind gesetzlich nicht definiert und sie Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. werden von Wissenschaftlern und übrigens auch von George Bush unterschiedlich definiert, je nachdem, wie (Beifall bei der PDS) man es gerade haben möchte. Durch das, was jetzt im Gesetz definiert wird – alle Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Stammzellen, die in Kultur gehalten werden, und alle jetzt der Abgeordnete Dr. Wolfgang Wodarg. Stammzellen, die kryokonserviert werden, dürfen im portiert werden, wenn sie den weiteren Kriterien entspre- Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): Sehr verehrte Damen chen –, gibt es plötzlich Zigtausende von Stammzelllinien und Herren! Am 30. Januar 2002 hat dieses Haus mit auf dieser Welt. Denn alle Stammzellen, die Embryonen großer Mehrheit festgestellt, dass menschliche Embryo- entnommen werden, werden irgendwo in ein Medium ge- nen für die Forschung nicht getötet werden dürfen – nicht tan oder eingefroren, damit sie nicht zerstört werden. in Deutschland und nirgendwo auf dieser Welt. Da waren Wenn man sie untersuchen möchte, kann man das nur ma- wir uns alle einig. Außerdem sollten von Deutschland chen, wenn sie in ein Medium kommen. Das heißt, es han- delt sich immer um Kulturen, wenn sie gekennzeichnet keine Anreize ausgehen, dass es irgendwo auf der Welt oder irgendwie beschrieben werden müssen. verbrauchende Embryonenforschung gibt. (Margot von Renesse [SPD]: Darauf allein Im zweiten Anlauf der Debatte gab es einen Zusam- kommt es an!) menschluss derer, die behaupteten, man könne dies alles trotz einer Importerlaubnis gesetzlich regeln. Dann haben In den Vereinigten Staaten sind es über 100 000 Em- wir den Gesetzentwurf vorgelegt bekommen. Wir haben bryonen, die jedes Jahr für die Forschung zur Verfügung Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23217

Dr. Wolfgang Wodarg (A) gestellt werden. In England gibt es in den Kühlschränken Vizepräsident Dr. : Die Zei- (C) inzwischen über 50 000 Embryonen, die für die For- ten sind vereinbart. schung zur Verfügung stehen. In Australien sind es über 60 000 Embryonen. Diese liegen dort in Kühlschränken und sind in Laborbüchern dokumentiert. Aber wann die Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): Ein Satz noch. – Sie Stammzellen daraus gewonnen worden sind, könnte man bekommen die Chance, durch die Zustimmung zu diesem höchstens den Laborbüchern entnehmen. Das ist über- zweiten Antrag zu sagen, dass auch sie von dem Kom- haupt nicht nachvollziehbar. Die Engländer versuchen, promiss zurücktreten und ein Importverbot durchsetzen jetzt ein Gesetz zu verabschieden, um die vielen Stamm- wollen. zellen, die dort in Kultur vorhanden sind, zu registrieren. Es ist schade, dass für dieses Thema zu wenig Redezeit Das sind viele. Ich denke, dass unsere Forscher das natür- vorgesehen wurde. Ich bedauere das sehr. lich sehr genau wissen. Vielen Dank. Meine Meinung ist es, dass wir im Deutschen Bundes- tag am 30. Januar über etwas anderes debattiert haben. (Peter Hintze [CDU/CSU]: Sie hatten gerade Wir haben von den Stammzelllinien gesprochen, die für drei Redner hintereinander!) die Forschung schon als gut beschrieben zu Verfügung stehen. Ich darf hier die als Molekularbiologin – auch als Abgeordnete – bei uns mitarbeitende Carola Reimann zi- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort tieren. Sie hat hier gesagt – sie vertritt ebenfalls diesen hat jetzt der Kollege Hubert Hüppe von der CDU/CSU- Gesetzentwurf –: Fraktion. Einmal etablierte Stammzelllinien gelten als unbe- grenzt vermehrbar. Deshalb genügt es der For- Hubert Hüppe (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine schung, wenn der Import bereits etablierter, aber ver- Damen und Herren! Am 30. Januar hat die Mehrheit mei- mehrbarer Stammzelllinien ermöglicht und zugleich ner Fraktion gegen den Import embryonaler Stammzellen auf diese Linien begrenzt wird. gestimmt – zu Recht; denn wir können eine Forschung, die auf der Tötung von menschlichen Embryonen basiert, Ob Stammzellen, die in Kultur gehalten werden, über- nicht akzeptieren. Wir haben am 30. Januar auch deshalb haupt vermehrbar sind, wie lange sich eine solche Kultur dagegen gestimmt, weil wir die Befürchtung haben, dass, hält und ob sie wieder anwächst, wenn man sie einmal wenn wir den Import erst einmal zulassen, dieselben Ar- eingefroren hat – all das weiß man nicht. Das heißt, hier gumente, die dafür gebracht werden, bald für die Tötung sollen nur solche Stammzelllinien infrage kommen, von weiterer Embryonen – auch in Deutschland – benutzt wer- denen man weiß, dass sie reproduzierbare Forschungser- den. Nur einen Tag später haben zahlreiche Forderungen (B) gebnisse ermöglichen. Was im Gesetz steht, erlaubt aber (D) die Herstellung eigener Stammzelllinien in Deutschland. aus Forschung und Politik diese Befürchtung bestätigt. Das Material, das weltweit zur Verfügung steht und dieser (Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Richtig!) Definition entspricht, ermöglicht es, in Deutschland ei- gene Stammzelllinien herzustellen, sie zu definieren und Zeigt aber nicht schon der heute vorliegende Gesetz- zu stabilisieren. Das kann man wollen; Frau Flach hat dies entwurf, dass sich die ethische Wanderdüne in Bewegung damals mit ihrem Antrag ehrlich angesprochen. Der Deut- gesetzt hat? Ein Beispiel: Der Beschluss vom 30. Januar sche Bundestag aber hat es nicht gewollt. Er wird hier sah ausdrücklich die Einwilligung der Eltern vor; darauf durch eine Definition, die – das gebe ich zu – nicht ein- wurde schon eingegangen. fach zu verstehen ist, hinters Licht geführt. Das muss hier (Margot von Renesse [SPD]: Ja, eben!) deutlich zu Protokoll gegeben werden. Ich denke, dass wir die Chance haben müssen, hier darauf zu pochen, den Be- Im vorliegenden Entwurf ist dies gestrichen. Die Initiato- schluss vom 30. Januar umzusetzen. Deshalb gibt es ren – Frau Renesse vorneweg – begründen das damit, dass Änderungsanträge. nicht der Eindruck entstehen dürfe, Eltern könnten frei über das Leben ihres Nachwuchses verfügen. (V o r s i t z: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms) (Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Das wäre Der erste Änderungsantrag versucht nicht nur zu be- eine ganz gefährliche Entwicklung!) schreiben, was eine Stammzelllinie ist, sondern auch, was Ich habe Sie hoffentlich richtig wiedergegeben. Aber eine etablierte Stammzelllinie im Sinne unseres Kompro- – das darf man fragen – ist es denn wirklich ethischer, misses vom 30. Januar sein kann. Der zweite Änderungs- wenn allein der Reproduktionsmediziner über den Em- antrag bietet denjenigen eine Chance, die darauf reagieren bryo verfügt? wollen, dass die Gesetzesantragsteller den Kompromiss verlassen haben, die aber gleichzeitig nicht wollen, dass (Andrea Fischer [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE es einen gesetzlosen Zustand gibt. GRÜNEN]: Das ist doch gar nicht die Konse- quenz!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kol- – Wer verfügt denn letztendlich, dass daraus Stammzellen lege Wodarg, kommen Sie bitte zum Schluss. gewonnen werden? Einer muss es doch veranlassen. (Andrea Fischer [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): Ich muss leider zwei GRÜNEN]: Wenigstens zuhören sollten Sie! Anträge begründen. Auch jetzt müssen die Eltern noch zustimmen!) 23218 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Hubert Hüppe (A) – Liebe Kollegin, lassen Sie mich ausreden. Ich habe Sie Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort (C) auch ausreden lassen. Sie können sich zu einer Frage mel- hat jetzt die Kollegin Monika Knoche vom Bündnis 90/ den. Ich bin gern bereit, dann zu antworten. Die Grünen. Stellen Sie sich vor, ein ausländischer Embryo sei zu Stammzellen verarbeitet worden, mit denen in deutschen Monika Knoche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Labors legal experimentiert wird. Nun erfahren davon die Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Eltern, die nie gefragt worden sind und nie eine Einwilli- Lang hallte der gute Ruf nach, den die Debatte vom 30. Ja- gung zu dem, was passiert ist, erteilt haben. Ich frage auch nuar in der Bevölkerung hatte. Gut ist noch in Erinnerung, einmal: Was müssen eigentlich die Geschwister denken, mit welchen Argumenten hier, in diesem Haus, für das die nur durch Zufall im Reagenzglas ausgesucht worden prinzipielle Instrumentalisierungsverbot des Menschen sind, um geboren zu werden? Wie müssen sie sich fühlen, geworben wurde. Gerne denke ich selbst daran, dass es wenn sie davon hören? Nach dem vorliegenden Entwurf die überwältigende Mehrheit des Hauses war, die keinen wäre das möglich. Zweifel daran gelassen hat, dass der Embryo in vitro Menschenwürde hat und dass er nicht verfügbar ist. (Margot von Renesse [SPD]: Nein!) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Frau von Renesse, ich muss Ihnen widersprechen, DIE GRÜNEN, der SPD, der CDU/CSU und der wenn Sie sagen, Sie hätten Kritik gerne aufgenommen. PDS) Ich habe in den Ausschussberatungen mit mehreren Än- derungsanträgen versucht – das ist mir wirklich nicht Das ist das große Credo dieses Hauses gewesen. Deshalb leicht gefallen –, den Entwurf wenigstens auf die Grund- habe ich den Argumenten von Frau von Renesse und Frau lage des 30. Januar zurückzuführen. Fischer mit großer Aufmerksamkeit zugehört. Von dieser Linie ist schon jetzt in beträchtlichen Nuancen nicht mehr (Margot von Renesse [SPD]: Aber dann kriegen die Rede gewesen. Sie den Vorwurf der Verfassungswidrigkeit!) Ich beziehe mich ganz auf die Aussagen und die Be- Diese Anträge wurden noch nicht einmal einzeln beraten. gründungen, die am 30. Januar gegeben worden sind. Da Sie wurden entweder überhaupt nicht beraten ist Folgendes für mich sehr zentral: Von der Menschen- (Ulrike Flach [FDP]: Natürlich haben wir die würde und vom Lebensschutzkonzept ausgehend, wurde beraten!) von den Abgeordneten, die den so genannten Kompro- missantrag gestellt haben, gesagt: Wir würden den Import oder sie wurden in einem Paket samt und sonders abge- ganz und gar verbieten, wenn wir es denn könnten, lehnt. (Margot von Renesse [SPD]: Das geht auch (B) (Ulrike Flach [FDP]: Sie waren ja gar nicht (D) nicht!) da!) wenn nicht die Forschungsfreiheit als ein Grundrecht da- Noch nicht einmal derAntrag, dass der so genannten Ethik- gegenstünde und wenn nicht die Regelungen des Em- kommission ein Ethiker mehr angehören soll, wurde ange- bryonenschutzgesetzes eine Lücke aufwiesen, nommen. Jetzt sitzen in der Zentralen Ethikkommission, die die Wissenschaft kontrollieren soll, fünf Wissenschaftler, (Margot von Renesse [SPD]: Ach, Quatsch!) aber nur vier Ethiker. Damit ist klar, wo die Mehrheit ist. die es uns nicht ermöglicht, den Import strafrechtlich zu Was könnte deutlicher zeigen, dass ein Kompromiss nicht verbieten. Das war die zentrale Argumentation, nicht eine möglich und wohl auch nicht gewollt war. forschungspolitische, die von dem vermeintlichen Daher lege ich mit den Kolleginnen und Kollegen aus zukünftigen Nutzen der Forschung, die auf Embryonen- fast allen Fraktionen heute einen Änderungsantrag vor, vernutzung aufbaut, ausgeht. Diese Argumentation wurde der das Verbot des Imports embryonaler Stammzellen heute eingeführt. vorsieht. Die reine Ablehnung des Gesetzentwurfs der (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Kolleginnen von Renesse, Fischer und anderer würde in DIE GRÜNEN, der SPD, der CDU/CSU und der der Tat bedeuten, dass wir eine rechtliche Lücke lassen. PDS) Heute stellen sich folgende zentrale Fragen: Wollen Sie war damals nicht präsent. Damals wurde auf die Al- wir eine Forschung, die die Tötung menschlicher Em- ternativen in der und zu der embryonalen Stammzellfor- bryonen zur Voraussetzung hat? Wollen wir heute einer schung abgehoben und darauf, dass wir in Deutschland Entwicklung den Weg bereiten, die nach aller Voraussicht hierauf größten Wert legen. nicht bei der Nutzung ausländischer Embryonen Halt ma- chen wird? Kann eine Forschung so hochrangig sein, dass (Beifall bei Abgeordneten der PDS und des sie es wert ist, dafür die Grundsätze unserer Rechtsord- Abg. Hubert Hüppe [CDU/CSU]) nung auszuhebeln? Unsere heutige Entscheidung ist eine Noch etwas: Das Verbot der fremdnützigen Forschung Wegmarke. Stimmen Sie unserem Änderungsantrag zu! als Tabu ist das für mich wertvollste zivilisatorische Gut, Vielen Dank. das wir aufgrund der historischen Erfahrungen haben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN DIE GRÜNEN, der SPD, der CDU/CSU und der und der PDS) PDS) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23219

Monika Knoche (A) Von diesem Geist ist das Embryonenschutzgesetz als Es gibt einen ganz festen Wertekonsens in der deutschen (C) Strafgesetz geprägt. Bevölkerung. Lassen Sie uns dieses Vertrauen bestätigen! Lassen Sie mich nun noch etwas zu den zwei zentralen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Argumenten sagen. Die Menschenwürde als Verfas- und bei der PDS sowie bei Abgeordneten der sungsgut ist ein universelles Prinzip. Sie ist nicht territo- SPD, der CDU/CSU und der FDP) rial begrenzbar. Wie anders ließen sich unsere Regelun- gen zum Asylrecht und zur Nichtauslieferung bei Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort drohender Todesstrafe begründen? Selbst im Strafrecht hat jetzt die Kollegin Dr. Carola Reimann von der SPD- haben wir Regelungen, die die Bestrafung von im Ausland Fraktion. begangenen Straftaten vorsehen. Es gibt hierbei also keine völlig neuen Sachverhalte, die wir heute erstmalig diskutieren müssten. Dr. Carola Reimann (SPD): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Nun zum Embryonenschutzgesetz. Als der Gesetzgeber Kollegen! Ich möchte noch einmal nachdrücklich für den dieses Gesetz erließ, gab es die Stammzellforschung, die vorliegenden Gesetzentwurf der Kolleginnen Böhmer, Embryonenvernutzung nicht. Er hat aber eindeutig den Fischer und Renesse werben. Geist und den Bestimmungsgehalt festgelegt, indem er sagte: Embryonen dürfen für keinen anderen Zweck erzeugt Am 30. Januar hat der Deutsche Bundestag in einer werden als den, in die Gebärmutter einer Frau zu kommen. denkwürdigen Debatte einen tragfähigen Kompromiss er- zielt. Dieser Kompromiss war für uns in den letzten Wo- (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Richtig!) chen bei der Erarbeitung des jetzt vorliegenden Entwurfs Dieser Bestimmungszweck, der den Geist des Gesetzes immer festes Fundament und Basis. Ziel des Gesetzes ist wiedergibt, und die Tatsache, dass für den Import von und in erster Linie, einen Import und die Verwendung von hu- die Forschung mit embryonalen Stammzellen, die aus ei- manen embryonalen Stammzellen grundsätzlich zu ver- ner Verzweckung stammen, keine Strafnorm besteht, be- bieten. Es soll vor allem verhindert werden, dass Deutsch- deuten keinesfalls, dass der Import nach gültigem Em- land Grund und Anlass gibt für die Tötung von Embryonen bryonenschutzgesetz nicht rechtswidrig ist. Er ist zur Gewinnung neuer embryonaler Stammzellen. lediglich nicht strafbewehrt. Das ist ein entscheidender Wir haben uns aber auch der Aufgabe gestellt, deut- qualitativer Unterschied. schen Forschern die Arbeit mit embryonalen Stammzellen (Beifall des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS]) zu ermöglichen, die bereits existieren. Dafür haben wir restriktive Bedingungen formuliert, die der von vielen be- Sie haben dem Parlament heute ein Stammzellgesetz fürchteten Aufweichung des Lebensschutzes entgegen- als Importverbotsgesetz vorgelegt. Dies haben Sie mit (B) wirken. Unser Gesetzentwurf bietet meiner Meinung nach (D) eben diesen beiden hohen Normen, der Menschenwürde eine Lösung an, die der Politikauffassung von der Kunst und dem Embryonenschutz, begründet. Entgegen den Er- des Möglichen am ehesten entspricht. Vielleicht bewegen gebnissen der Anhörung im Bundestag haben Sie sich wir uns auf einem schmalen Grat, aber auch eine schwie- nicht auf eine ausnahmslose Verbotsregelung verständigt, rige Passage ist immer besser als völlige Bewegungslo- die Sie aber vom Begründungsgang Ihres Gesetzes und sigkeit und Stillstand. von der Gesetzesnotwendigkeit her hätten treffen können; denn die verfassungsrechtlichen Argumente sind eindeu- (Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Wir haben ja tig vollkommen unstrittig. die adulten Stammzellen!) Selbstverständlich ist die Forschungsfreiheit durch die Zu dem vorgeschlagenen Kompromiss gibt es für Menschenwürde begrenzt. mich keine Alternative. Die Mehrheit des Hauses ist mit uns der Auffassung, dass an dem hohen Schutzniveau des (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Embryonenschutzgesetzes nicht zu rütteln ist. Dazu hat DIE GRÜNEN, der SPD, der CDU/CSU, der FDP sich der Deutsche Bundestag am 30. Januar klar und deut- und der PDS – Jörg Tauss [SPD]: Das ist gar kein lich bekannt. Eine unbegrenzte Freigabe des Imports und Thema, Frau Kollegin! Das wissen Sie doch!) der Verwendung von embryonalen Stammzellen gerät zu – Lesen Sie bitte § 1 Ihres Antrages laut vor! Ich argu- diesem Votum in einen ethischen Widerspruch, ein gene- mentiere auf dem Boden Ihrer Gesetzesbegründung. relles Verbot des Umgangs mit und des Imports von vor- handenen Stammzellen jedoch ebenfalls. Eine letzte Bemerkung: Sie haben ein Stammzellim- portverbotsgesetz vorgelegt. Die Änderung, die wir dem In unserem Land ist die Freiheit der Wissenschaft als Hause vorschlagen, besagt, dieses Stammzellimportver- Wert in der Verfassung festgeschrieben. Der Gesetzgeber bot als ein ausnahmsloses Verbot zu gestalten. Niemand ist daher verpflichtet, diese Freiheit auch zu gewährleis- kann dann noch sagen, es gebe eine Rechtslücke im deut- ten. Wir sind also in der Pflicht, die Konsequenzen unse- schen Recht. Lassen Sie uns diese klare Botschaft geben! rer Gesetzgebung genau zu prüfen, damit sich die guten Die Bevölkerung – das weiß ich gewiss – ist zu über Absichten nicht am Ende in staatliche Bevormundung 80 Prozent mit der embryonalen Stammzellforschung, die von Wissenschaft und Forschung verkehren. auf Embryonenverbrauch basiert, nicht einverstanden. Meine sehr geehrten Damen und Herren, die gesell- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ schaftliche und auch die politische Debatte um die DIE GRÜNEN, der SPD, der CDU/CSU und der Stammzellforschung hat klar gezeigt, dass einfache Lö- PDS) sungen nicht zu erwarten waren. Stattdessen brauchen wir 23220 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Dr. Carola Reimann (A) eine Regelung, die zwischen dem Wert des Lebens- teren Embryonen für die Stammzellforschung verbraucht (C) schutzes einerseits und der Freiheit der Forschung ande- oder erzeugt werden. Das gehört zu den Bedingungen, die rerseits vermittelt. Ich denke, der Gesetzentwurf ent- wir als Voraussetzung für den Import formuliert haben. spricht diesen Anforderungen. Kolleginnen und Kollegen, Kontroversen wie in dieser Kolleginnen und Kollegen, es ist unsere Aufgabe als Diskussion sind Ausdruck der Vielfalt von Meinungen, Politikerinnen und Politiker, so lange zu verhandeln und Gestaltungsentwürfen und Interessen. Kompromisse sind zu streiten, bis ein von der Mehrheit getragener Kompro- Ausdruck einer Verständigung zwischen diesen verschie- miss vorliegt. Ich verstehe deshalb nicht ganz, warum in denen Meinungen und Interessen. Am 30. Januar haben diesem Fall Kompromiss immer sofort mit Aufweichen wir uns in diesem Haus verständigt. Ich bitte Sie, diesem gleichgesetzt wird. Gesetzentwurf als Ergebnis dieser Verständigung zuzu- (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) stimmen. Deshalb will ich auf einen Kritikpunkt eingehen. Natür- Vielen Dank. lich kann man aus naturwissenschaftlicher Sicht Unter- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schiede zwischen Stammzellen und Stammzelllinien defi- DIE GRÜNEN) nieren. In der ausführlichen Anhörung zu diesem Gesetz wurde aber deutlich, dass Begriffe wie Stammzellen und Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort Stammzelllinien in wissenschaftlichen Publikationen sy- hat jetzt der Kollege Peter Hintze von der CDU/CSU- nonym verwendet werden und nicht streng zwischen Fraktion. Stammzellen und Stammzelllinien differenziert wird. Wenn man jetzt beim Begriff Zelllinien die Kriterien an- legt, die zum Beispiel bei etablierten Zelllinien im Be- Peter Hintze (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr reich von Gewebekulturen erfüllt werden müssen, muss geehrten Damen und Herren! Mit dem Stammzellgesetz man wissen, dass die Stammzelllinien und Stammzellen, machen wir den Weg frei für die wichtigste Basisinnova- die am NIH, am amerikanischen National Institut of tion des 21. Jahrhunderts. Wir wollen den Wissenschaft- Health, registriert sind und die wir für die Forschung nutz- lern in Deutschland eine klare rechtliche Grundlage für bar machen wollen, nicht alle diese Kriterien erfüllen. ihre Grundlagenforschung geben. Sicher gibt es auch den Wunsch der Forscher, mit sta- (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Keine bilen reproduzierbaren Zelllinien zu arbeiten, Wolfgang Ahnung!) Wodarg. Sicher kann man aber heute auch nicht auf jah- Ihre Forschung zielt auf die Heilung von Krankheiten, de- relange Kultivierbarkeit zurückweisen. Wie kann man sie nen wir bislang ohnmächtig gegenüberstehen. Ich will (B) dann zur Voraussetzung für den Import machen? (D) hier klar sagen: Diese Forschung ist medizinisch notwen- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der dig und ethisch geboten. CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Ich muss auch daran erinnern – das habe ich bereits in der FDP) der letzten Debatte gesagt –, dass es sich hierbei um Ich freue mich, dass der Gesetzentwurf dieses Anlie- Grundlagenforschung handelt, die in den Anfängen gen gleich zu Beginn klar zum Ausdruck bringt. In § 1 be- steckt. Das ist die naturwissenschaftliche Seite. kennen wir uns ausdrücklich zur Freiheit der Forschung Schauen wir uns doch einmal die rechtliche Seite an. und zu unserer Verpflichtung, die Würde des Menschen Rechtlich ist der Begriff „etablierte Zelllinie“ nicht defi- zu achten und zu schützen. Menschenwürde kann durch niert. Das hat der Kollege Wodarg gerade noch einmal be- Tun, aber auch durch Unterlassen verletzt werden. So, wie tont. wir fragen: „Darf der Mensch alles tun, was er kann?“, müssen wir auch fragen: Darf der Mensch unterlassen, Schauen wir uns die ethische Seite an. Ethisch ist diese was er kann? Unterscheidung nicht von Belang. Ethisch entscheidend ist der Zeitpunkt, zu dem die Stammzellen aus dem Em- Sinn und Zweck dieses Gesetzes ist es, dem menschli- bryo gewonnen worden sind. chen Leben von seinem Beginn an Ehrfurcht entgegenzu- bringen und den Schwerkranken die gebotene Hilfe nicht (Beifall bei Abgeordneten der SPD) zu verweigern. Dieser Zeitpunkt wird durch den Stichtag definiert. Der In dieser Debatte haben einige Redner die seltsame Un- Stichtag ist kontrollierbar. Der Stichtag 1. Januar 2002 ist terscheidung zwischen Wissenschaftlern und Ethikern ge- genauso kontrollierbar wie der Stichtag 9. August 2001 in macht. Das ist die absurdeste Unterscheidung, die ich in den USA. der gesamten Debatte je gehört habe. Ethisch entscheidend ist der Stichtag; denn ungeachtet (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dessen, ob wir es Stammzellen oder Stammzelllinien nen- nen, das Leben der Embryonen, aus denen sie gewonnen Unsere Wissenschaftler haben bereits ein hohes Maß an wurden, ist bereits vor dem Stichtag beendet worden. ethischer Verantwortung bewiesen. Sie haben von der Kein noch so strenger Lebensschutz in unserem Land rechtlichen Möglichkeit des Imports und der Forschung kann daran etwas ändern. Durch die Einführung eines ausdrücklich keinen Gebrauch gemacht, sondern diesem Stichtags können wir aber gewährleisten, dass keine wei- Bundestag Raum und Zeit für eine ausführliche Debatte Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23221

Peter Hintze (A) und für die Gesetzgebung des heutigen Tages gegeben. wir heute diese Entscheidung treffen, und das hat auch die (C) Unsere Wissenschaftler verdienen keine Verdächtigun- Öffentlichkeit verdient, die diesen Diskurs verfolgt. gen. Sie verdienen die Anerkennung dafür, dass sie in ho- Wir werden die Gesetzesentscheidung heute in dem her ethischer Verantwortung handeln. Bewusstsein treffen, dass solche Entscheidungen, auch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie wenn sie von grundsätzlicher Bedeutung sind, immer Ent- bei Abgeordneten der SPD) scheidungen auf Zeit sind. In der ethischen Urteilsbildung gilt immer das Verhältnis von Norm und Situation, auch Deswegen dürfen wir das Vertrauen, das die Wissenschaft im Hinblick auf die jeweilige Erkenntnisfähigkeit. Es mag in uns setzt, auch heute nicht enttäuschen. Verlässlichkeit sein, dass sich in einigen Jahren neue wissenschaftliche ist das Gebot der Stunde. Deswegen geht es jetzt auch da- Wege zeigen und wir dann auch neu entscheiden müssen. rum, dass wir ihnen die klare rechtliche Grundlage für ihre Aber heute sollten wir unserer Selbstverpflichtung ge- wichtige Arbeit nicht vorenthalten. recht werden und dieses Gesetz verabschieden. Natürlich – Frau Kollegin Flach hat darauf hingewie- Ich danke Ihnen. sen – sind wir damit nicht am Ende aller Fragen. Die Pra- xis wird erweisen, ob unsere Stichtagsregelung den Zugang (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- zu qualitativ hochwertigen Stammzelllinien ermöglicht wie bei der FDP und bei Abgeordneten der oder versperrt und ob wir dieses Thema nach einer ange- SPD) messenen Zeit erneut aufgreifen müssen. Für mich ist es schwer verständlich, wie wir hier Wissenschaft verstehen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort und in welchem Maße der internationale Kontext doch hat jetzt der Kollege Wolf-Michael Catenhusen von der von einigen ignoriert wird. Die von uns angestrebte ver- SPD-Fraktion. gleichende Forschung mit adulten und embryonalen Stammzellen setzt gerade international vergleichbare Be- dingungen und eine vernünftige internationale Kooperation Wolf-Michael Catenhusen (SPD): Herr Präsident! voraus. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hans Jonas hat mit sei- nem „Prinzip Verantwortung“ vor gut 20 Jahren zutref- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU fend unsere Situation in einer immer stärker von Wissen- sowie bei der FDP) schaft und Technik geprägten Gesellschaft und Umwelt Deswegen ist es eine echte Verschlechterung des Gesetz- gekennzeichnet. entwurfes, wenn § 13 Abs. 3 wider besseres Wissen ge- (Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Jetzt dreht er strichen werden soll. sich im Grabe rum!) (B) (D) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- – Ich kannte ihn, im Unterschied zu dir, Wolfgang, per- wie bei der FDP und bei Abgeordneten der sönlich und er kannte mich. Spar dir diese dummen Be- SPD) merkungen! Viele Unterstützer unseres forschungsfreundlichen Wissenschaft und Technik sind, so Hans Jonas, das Ansatzes, den und ich zusammen mit Werk unserer Freiheit, unserer Freiheit zu denken, unse- der Kollegin Flach und anderen im Januar formuliert rer Freiheit zu fragen, unserer Freiheit, immer mehr wis- haben, tun sich heute sehr schwer, diesem Gesetz zuzu- sen zu wollen und wissen zu können. Wissenschaftsfrei- stimmen, heit ist eine Frucht der Aufklärung. Das sollten wir auch (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: So ist es!) in diesen Debatten nicht vergessen. weil wir es in vielen Punkten als zu kleinmütig empfin- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) den, weil wir die Forschung als zu sehr unter Verdacht ge- Es ist nicht unethisch, darauf hinzuweisen, dass leis- stellt empfinden und weil wir es als eine wissenschaft- tungsfähige und freie Forschung für Innovationskraft und liche Zumutung empfinden, wenn sich der Gesetzgeber an Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft unverzichtbar die Stelle der Wissenschaft setzen will, womit er sich im- sind und dass wir eine leistungsfähige biomedizinische mer überhebt. Forschung auch in Deutschland brauchen. Dabei ist die fragwürdige Stichtagsregelung der Damit wachsen uns immer neue Einsichten und Hand- größte Stein des Anstoßes. Auch der behauptete morali- lungsmöglichkeiten zu, die die Zukunft unserer Umwelt sche Mehrwert eines in der Vergangenheit liegenden insgesamt und natürlich auch die Zukunft unserer Gat- Stichtages verkehrt sich bei näherer Betrachtung in sein tung, der Gattung Mensch, berühren. Denn mit diesem Gegenteil. Zuwachs an Wissen und Können übernehmen wir immer umfassender selbst die Verantwortung für unsere Zukunft. Ich habe mich nach einer Güterabwägung doch für ein Wir haben dabei schmerzhaft lernen müssen, dass der Ja zu diesem heute vorliegenden Gesetzentwurf entschie- wissenschaftliche und technische Fortschritt nicht immer den, damit wir als Deutscher Bundestag uns selber treu automatisch gesellschaftlichen Fortschritt bringt, wenn bleiben, damit wir in der Logik unserer Grundsatzentschei- wir ihm nicht eine Richtung geben. dung vom Januar bleiben und damit wir das Signal aussen- den, dass der Deutsche Bundestag den Willen und die Kraft Die moderne biomedizinische Forschung konfron- hat, zu dem ethischen Urteil der eigenen Grundsatzent- tiert uns in besonderer Weise mit dem Prinzip Verant- scheidung zu stehen. Die Wissenschaft hat verdient, dass wortung. So kann durch die Retortenbefruchtung der 23222 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Wolf-Michael Catenhusen (A) menschliche Embryo von Beginn an für die Forschung Ich bin mir sicher: Heute schließen wir ein schwieriges, (C) verfügbar gemacht werden. Mit den Spätfolgen dieser bisweilen quälendes Ringen um den Umgang mit dem neuen Entwicklung setzen wir uns auch heute bei der Ent- möglichen Import embryonaler Stammzellen mit der Ver- scheidung über dieses Gesetz auseinander. abschiedung des Stammzellgesetzes ab. Wir müssen heute zu einem Ergebnis kommen; das können die Öffentlichkeit Ende der 80er-Jahre hatte der Bundestag entscheiden- und auch die Wissenschaft mit Recht von uns erwarten. den Anteil daran, dass ein Embryonenschutzgesetz ver- Wir haben dazu am 30. Januar die notwendigen Grundla- abschiedet wurde. Ich stimme der Kollegin Knoche gen geschaffen. Ich denke, sie werden vom Gesetzentwurf, durchaus zu: Das Gesetz geht von dem Verständnis aus, der uns heute in der Fassung des federführenden Aus- dass menschliches Leben mit der Verschmelzung von Ei schusses vorliegt, angemessen aufgegriffen. und Samenzelle beginnt. Es stellt die Nutzung technischer Hilfen zur Erfüllung eines Kinderwunsches in die freie Wir erhöhen mit dem Stammzellgesetz das Schutzni- Entscheidung der Eltern, schließt aber den Missbrauch veau des Embryonenschutzgesetzes, weil der bisher er- der Fortpflanzungsmedizin zu anderen Zielen als der Er- laubte Import und die Verwendung embryonaler Stamm- füllung eines Kinderwunsches aus. zellen so eingeschränkt werden, dass jeder Anreiz zur Zerstörung weiterer Embryonen im Ausland zu For- In dieser Diskussion ist – wie damals auch – eines klar schungszwecken in Deutschland unterbunden wird. geworden: Auf der einen Seite sind die Grundpositionen dieses Gesetzes bis heute in unserer Gesellschaft breit Frau Kollegin Knoche, Sie können ja davon überzeugt verankert. Aber auf der anderen Seite gibt es nach wie vor sein, dass nur Ihre Verfassungsinterpretation die einzig unterschiedliche Auffassungen, wie etwa bezüglich des mögliche ist. Aber ich muss Ihnen entgegenhalten, dass Umfanges des Schutzes des vorgeburtlichen menschli- unser Dilemma bei dem Umgang mit embryonalen chen Lebens in bestimmten Abwägungssituationen. Diese Stammzellen darin besteht, dass im Unterschied zum Em- Unterschiede treten auch in den Debatten innerhalb der bryo selbst die embryonale Stammzelle, die dem Embryo Kirchen zutage. entnommen wird, nur mittelbaren Grundrechtsschutz ge- nießt Es geht bei diesen Abwägungsentscheidungen, auch bei der heutigen, nicht um Unmoral oder Moral; (Monika Knoche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das ist mir nicht neu!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) und damit die Abwägung zwischen Forschungsfreiheit es geht auch nicht um mehr oder um weniger Moral. Es und Menschenwürde schwieriger ist als die Durchsetzung geht allein um die unterschiedlichen Ergebnisse, zu denen der Auffassung, dass der Schutz der Menschenwürde bei wir nach schwierigen Abwägungsentscheidungen gekom- einer möglichen Nutzung des Embryos immer Vorrang (B) men sind. Ich appelliere an diejenigen, die anderer Auffas- haben muss. Deshalb muss es auch nach wie vor Grund- (D) sung sind und Worte wie „tricksen“ und „Wanderdüne“ überzeugung in unserem Parlament sein, dass wir gegen benutzen: Nehmen Sie die ethische Überzeugung anderer die Erzeugung und den Verbrauch von Embryonen zu For- ernst! schungszwecken sind. (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Abg. Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Wir führen dazu eine Stichtagsregelung ein: Wir wol- len diese Importkontrolle in Anlehnung an die amerikani- Mit Ihren Worten stellen Sie nämlich den gegenseitigen sche Stichtagsregelung praktizieren. Die kritischen Hin- Respekt vor unterschiedlichen ethischen Auffassungen terfragungen der Kollegin Knoche und des Kollegen infrage. Diese Entwicklung sollten wir im Deutschen Wodarg sollen den Eindruck erwecken, dass die amerika- Bundestag nicht kommentarlos hinnehmen. nische Regelung bezüglich des Imports von Stammzellen (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des reiner Schwachsinn und reine Show sei. Dies können we- Abg. Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE der die Wissenschaftler noch die Kirchen in Amerika be- GRÜNEN]) stätigen. Wenn man von der Ernsthaftigkeit des amerika- nischen Vorgehens überzeugt ist, dann kann man sich mit Ich möchte vorsichtig darauf hinweisen, dass wir auch gutem Gewissen bezüglich der Praktikabilität an der in Grundfragen hinsichtlich Leben und Tod immer wieder amerikanischen Regelung orientieren. Das gilt im Übri- vor Abwägungsentscheidungen stehen. Das gilt für die gen auch für die entsprechende Definition. Abtreibungsfrage ebenso wie etwa für die Frage der Or- gantransplantation. Diese schmerzhaften Abwägungen, Ich möchte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, auf- die im Streit ausgetragen wurden, führten aber auch zu Er- grund meiner Erfahrung mit dem Gentechnikgesetz noch gebnissen. Die in diesem Zusammenhang gemachten auf eine schwierige Frage hinweisen. Zwei Jahre nach In- Kommentare wie „bioethischer Eiertanz“ und „Verren- Kraft-Treten des Gentechnikgesetzes im Jahr 1992 kam es zu einer schweren Akzeptanzkrise, weil sich die dort be- kung“ verdeutlichen, dass sich einige im Parlament nicht schriebenen Verfahren als zu bürokratisch und in man- ernsthaft mit anderen bioethischen Überzeugungen ausei- chen Fällen als nicht ausreichend kalkulierbar erwiesen. nander setzen wollen. Ich sage deshalb auch, dass ich – ausschließlich aufgrund (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des von Fragen bezüglich der Praktikabilität – Bedenken ge- Abg. Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE gen den Vorschlag habe, § 13 Abs. 3 des Gesetzentwurfes GRÜNEN]) zu streichen. Es geht mir nicht um die Intention, die ich Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23223

Wolf-Michael Catenhusen (A) voll teilen kann. Es geht mir vielmehr um die Frage, ob Ich denke, dass wir in diesem Fall gut beraten sind, an (C) die Regelung dieses Paragraphen anwendbar ist. der Erarbeitung von Grenzen für die Wissenschaft, die sich am Schutz von Mensch und Umwelt orientieren, mit- Ich will einige Sätze dazu sagen. Wir sollten nicht ohne zuwirken, die Wissenschaft zur Teilnahme an dieser Dis- Not eine Situation herbeiführen, in der das Risiko von Wis- kussion einzuladen und deren Kritik an unseren Forde- senschaftlern, sich strafbar zu machen, für die Forscher rungen auszuhalten. Wir brauchen diesen Diskurs, weil selbst nicht mehr kalkulierbar ist. Anders als beim Em- wir nur so mit bestem Wissen und Gewissen die Folgen bryonenschutzgesetz können sie sich hier bei ihrer Zu- unseres Tuns einschätzen und der Wissenschaft Grenzen sammenarbeit nicht an einem klar abgrenzbaren For- für einen verantwortlichen Umgang mit ihren Erkenntnis- schungsgegenstand orientieren. Ob man an einem Embryo sen vorgeben können. forscht oder nicht, ist ein ganz klarer Sachverhalt. Hier ist der Sachverhalt aber sehr viel komplizierter; denn es gibt Ich möchte mit einer persönlichen Bemerkung zum Beispiel kein unterschiedliches Know-how für die schließen. Kolleginnen und Kollegen, das Thema Forschung an adulten oder embryonalen Stammzellen. Bioethik hat immer wieder Sternstunden im Deutschen Bundestag heraufbeschworen. Es hat unser Parlament Bei der internationalen Zusammenarbeit wird es nämlich immer ausgezeichnet – das galt für das Gentech- schwer sein, zu ermitteln, ob die embryonale Stammzel- nikgesetz, für das Embryonenschutzgesetz und auch für lenforschung in Schweden vor oder nach unserem Stich- diese Debatte –, dass wir ohne Vorgaben aus unseren Par- tag stattgefunden hat. Wer soll das eigentlich nachweisen? teiprogrammen, die wie die Parteien diesen Diskussionen Soll ein Wissenschaftler aus Deutschland, der seinem hinterherlaufen, im persönlichen Gespräch und unabhän- Kollegen in Schweden Ratschläge erteilt, gleichzeitig gig von Parteigrenzen die Kraft zu einem angemessenen nachweisen, ob die Zelle vor oder nach dem Stichtag in Umgang der Demokratie mit der Wissenschaft in unserer Schweden gewonnen worden ist? Wissensgesellschaft gefunden haben. Das zeichnet unser (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Parlament aus. Dafür bin ich sehr dankbar. Macht sich ein Wissenschaftler strafbar, wenn er seinem Danke schön. Doktoranden die Möglichkeit verschafft, im Ausland an (Beifall bei Abgeordneten der SPD, des einem weltweit renommierten Institut für Stammzellen- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der forschung an einem Forschungsprojekt zu arbeiten, das CDU/CSU) die Arbeit an in Deutschland nicht zugelassenen Stamm- zellen einschließt? Darf ein deutscher Wissenschaftler im Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Liebe Rahmen seiner Kontakte zum Beispiel einem Kollegen in Kolleginnen und Kollegen, es gibt noch zwei Wortmel- Schweden telefonisch Erfahrungen vermitteln, die dieser (B) dungen. Ich bitte Sie, Ruhe zu bewahren, damit diese Kol- (D) in einem Forschungsprojekt, bei dem es um embryonale legen noch Gehör finden können. Stammzellen geht, die nach unserem Stichtag erzeugt worden sind, verarbeitet? Als nächster Redner hat der Kollege Hermann Kues von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. Ich teile die ethische Intention. Ich möchte aber alle Kolleginnen und Kollegen noch einmal herzlich bitten, die Frage der Praktikabilität in ihrem Abstimmungs- Dr. Hermann Kues (CDU/CSU): Herr Präsident! verhalten zu bedenken. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei der soeben erfolg- ten Stimmkartenausgabe habe ich gehört, dass diese Frak- Gestatten Sie mir eine Bemerkung zu dem Verhältnis tion blaue und jene rote Karten braucht. Ganz so einfach zwischen Politik und Wissenschaft. Sie wissen, dass ich ist es diesmal nicht; denn jeder muss sich selbst Gedanken mich hier seit über 20 Jahren bemühe, zu einem ange- darüber machen, wie er abstimmen möchte. messenen Umgang zwischen Wissenschaft und Politik beizutragen. Natürlich ist das Erkenntnisinteresse der (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Wodarg Wissenschaft strukturell grenzenlos. Natürlich gibt es [SPD]) auch in Deutschland Stimmen, die für das gezielte An- Ich meine, das ist eine gute und positive Entwicklung. passen von Ethik und Moral an den biomedizinischen Fortschritt plädieren und die die Embryonenforschung Ich selbst werde dem Gesetz nicht zustimmen, weil es durch die Entmoralisierung des Embryos legitimieren eine Richtungsentscheidung vom 30. Januar als Grund- wollen. Diese Stimmen prägen aber nicht das Selbstver- lage hat, mit der die Weichen für die Stammzellenfor- ständnis der Wissenschaft in Deutschland. schung in Deutschland falsch gestellt wurden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich stelle weiter fest: Das war an einer Weggabelung ein Schritt in die falsche Richtung. Ich werde zwar in- Ich messe die Qualität unserer politischen Elite auch haltlich diese Richtung nicht akzeptieren. Ich werde nicht nach irgendwelchen Stimmen von Außenseitern. Es allerdings die Mehrheitsentscheidung, die hier im Bun- darf selbstverständlich keine vom Forschungsinteresse destag fällt, respektieren. Dass ich diese respektiere, heißt gesteuerte Ethik geben. Natürlich hat es in der Geschichte auch, dass ich keine Abänderungsanträge unterstütze – da aber immer ein Wechselverhältnis zwischen den Ergeb- bin ich mir mit meinem Freund Jochen Borchert einig –, nissen der Wissenschaft und unserem Menschenbild ge- die erneut eine Grundsatzdiskussion hervorrufen. Ich geben. Darauf hat beispielsweise der Kollege Schäuble weiß, dass wir in den kommenden Monaten und Jahren bereits in der letzten Debatte hingewiesen. noch häufig ähnliche Fragestellungen erörtern werden 23224 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Dr. Hermann Kues (A) und müssen; das sollten wir auch tun. Aber wir müssen menschlichen Lebens einen sehr grundsätzlichen, ganz- (C) uns als Parlament auch verpflichtet fühlen, auf praktische heitlichen Ansatz wählt und in Teilbereichen, die einem Art und Weise Regelungen zu finden. gerade wichtig erscheinen, eine Ausnahme macht. Wenn Weshalb lehnen wir den Gesetzentwurf ab? Es wurde dieser grundsätzliche Ansatz gelten soll, dann muss unser schon darauf hingewiesen: Das menschliche Leben be- Vorgehen insgesamt in sich konsequent und schlüssig ginnt mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle. Ihm sein. Dazu gehört, dass wir diese Widersprüchlichkeiten schulden wir die volle Würde. Dieses Leben hat Anspruch gemeinsam, also seitens aller Fraktionen, anpacken. auf ungeteilten Schutz. Ich glaube, dass es ein Wider- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und spruch ist, den man nicht auflösen kann, wenn man die der PDS) Tötung von Embryonen in Deutschland ablehnt, aber den Import von Stammzellen, die im Ausland aus getöteten Ich bin der festen Überzeugung, dass wir in absehbarer Embryonen gewonnen worden sind, gestatten will. Das Zeit ein Fortpflanzungsmedizingesetz benötigen, in dem passt nicht zusammen. all diese Fragestellungen in sich schlüssig aufgegriffen werden. Denn diese Widersprüche werden uns zu schaf- Ich sage ein Weiteres: Ich bin nicht bereit, für eine ganz fen machen. Wir müssen uns Schritt für Schritt entschei- bestimmte Forschungsrichtung, um die es in diesem Fall den und uns an Lösungen herantasten, so wie es Ethik- geht, nämlich für die Nutzung menschlicher embryonaler kommissionen in Krankenhäusern auch bei anderen Stammzellen, unser Rechts- und Personenverständnis, Fragen tun. das wir über viele Jahrzehnte entwickelt haben, über Bord zu werfen. Ich will des Weiteren feststellen: Den Antrag Böhmer und Renesse zum Wegfall des § 13 Abs. 3 des Gesetzent- (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Wodarg [SPD] wurfes, über den wir gleich ebenfalls abstimmen, unter- sowie der Abg. Petra Bläss [PDS]) stütze ich ausdrücklich, weil er unsere Position stärkt. Da- Meiner Meinung nach muss man sagen: Auch die Medi- rauf hinzuweisen ist mir wichtig. zin mit ihren Zielsetzungen, die wissenschaftliche For- (Beifall der Abg. Dr. Maria Böhmer [CDU/ schung, unterliegt höheren ethischen Ansprüchen, höhe- CSU] sowie der Abg. Christa Nickels [BÜND- ren Kriterien. Das heißt, ganz obenan steht die NIS 90/DIE GRÜNEN]) Menschenwürde. Das muss der Maßstab für die Bewer- tung sein. Den Antrag von Frau Flach und anderen werde ich ab- lehnen, weil er nach meinem Verständnis noch stärker in Ich fühle mich durch die Diskussionen der letzten Wo- die falsche Richtung geht als das, was wir ansonsten hier chen insofern bestätigt, als ich glaube, dass ein Einbruch vorliegen haben. (B) im Hinblick auf die im Januar dieses Jahres getroffene (D) Regelung mit neuen Begehrlichkeiten verbunden sein Insofern bitte ich auch hier um Verständnis und be- wird. Das Wort „Türöffner“ ist in diesem Zusammenhang danke mich für die Aufmerksamkeit. gefallen. Es gibt sogar Wissenschaftler, die davon spre- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und chen, dass eine solche Entscheidung als eine Art Trojani- der PDS) sches Pferd genutzt werden könnte. Deswegen sage ich ganz klar: Dies war eine falsche Weichenstellung. Ich werde deswegen den Gesetzentwurf, der daraus resultiert, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich bitte nicht unterstützen. die Kolleginnen und Kollegen, noch einmal Platz zu neh- men. Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt Wir als deutsches Parlament müssen den Naturwissen- hat die Kollegin Dr. Maria Böhmer von der CDU/CSU- schaftlern, den Forschern, ganz klar sagen: Wir erkennen Fraktion das Wort. die Leistung der Forscher an. Wir wissen sie zu schätzen. Aber wir wollen klare ethische Maßstäbe. Die überwäl- tigende Mehrheit des deutschen Parlamentes wird nicht Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Herr Präsident! die Hand zu ethischer Beliebigkeit reichen. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir stehen am Ende nicht nur der heutigen Debatte, sondern auch einer De- Wir wissen und können feststellen, dass es bei uns auch batte, die wir über viele Monate hinweg mit großer Inten- bislang beim Schutz des ungeborenen Menschen Wider- sität und Nachdenklichkeit geführt haben. Denn es geht sprüchlichkeiten gibt. Bestehende Widersprüchlichkeiten um eine Grundfrage menschlichen Lebens, es geht um die rechtfertigen es aber nicht, neue zu schaffen. Sie müssen Grundfrage unserer Werteordnung, es geht um den Schutz uns vielmehr anspornen, diese alten Widersprüchlichkei- menschlichen Lebens und es geht um das Menschenbild, ten zu beseitigen. Dabei will ich etwas ganz Konkretes an- von dem wir uns leiten lassen. Es war für uns, die wir die- sprechen: Wir alle empfinden die so genannten Spätab- sen Antrag am 30. Januar eingebracht haben, der dann die treibungen vermutlich als Skandal. Ich bedauere es sehr, Mehrheit im Deutschen Bundestag gefunden hat, und dass wir es nicht schaffen, hier fraktionsübergreifend zu auch diesen Gesetzentwurf heute einbringen, der leitende Regelungen zu kommen. Gedanke, dass wir den Schutz der Menschenwürde und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der den Schutz des menschlichen Lebens über alles stellen SPD und der PDS) und von daher ganz klar sagen: Keine verbrauchende Em- bryonenforschung in unserem Land! Denn es ist nicht sonderlich überzeugend, wenn man bei der Frage des Lebensbeginns und beim Schutz des (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23225

Dr. Maria Böhmer (A) Es gibt immer wieder Kolleginnen und Kollegen, die nommen haben; dazu sage ich: Wir dürfen auch klüger (C) bezweifeln, dass wir diesen Antrag eins zu eins umgesetzt werden und wir sind klüger geworden durch entspre- haben. Ich möchte heute am Schluss dieser Debatte noch chende Anhörungen und Beratungen. Das betrifft den einmal festhalten: Es ist uns durch die Anhörungen, durch Punkt, dass wir die Zustimmung der Eltern, wenn es um viele Gespräche und Beratungen gelungen, eine sehr die Gewinnung von Stammzelllinien aus Embryonen präzise Umsetzung dieses Mehrheitsbeschlusses des geht, jetzt nicht mehr festschreiben. Das haben wir aus ei- Deutschen Bundestages zu erreichen. Das Gesetz wird nem guten Grund getan. Mich hat sehr die Sorge umge- tragfähig sein und sicherstellen, dass es zu keiner ver- trieben, dass es, würden wir dieses Kriterium beibehalten, brauchenden Embryonenforschung in unserem Land in unserer Gesellschaft zu dem fatalen Missverständnis kommt. Denn wir haben ein Kernelement eingeführt: käme, dass nämlich Menschen über andere Menschen Durch die Einführung eines Stichtages erreichen wir, dass verfügen dürften, was ihr Leben angeht. Kein Mensch hat es eben nicht zu einem Kompromiss kommt, sondern dass aber das Verfügungsrecht über einen anderen. Menschli- die klare Linie verfolgt wird, dass auch zukünftig kein ches Leben ist unverfügbar. Deshalb haben wir von dieser Embryo für die deutsche Forschung sterben muss. Damit Formulierung Abstand genommen und dafür eine neuen wird es möglich sein, den Embryonenschutz in Deutsch- Passus eingeführt, in dem wir – die Kollegin von Renesse land zu verstärken, zugleich aber auch die Grundlagen- hat dies sehr deutlich gemacht – den klaren und tragenden forschung in unserem Land zu betreiben. Grundsätzen unserer Rechtsordnung Rechnung tragen (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des und daran auch die Gewinnung embryonaler Stammzellen BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) orientieren. Das ist für uns ein wesentlicher Grundsatz. Das bedeutet für mich, dass wir all das, was an uns an Sor- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD gen und Bedenken herangetragen worden ist, sehr wohl und der BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) erwogen haben. Drittens. Wir werden heute in einem Punkt einen Än- Ich möchte noch einmal auf drei Punkte eingehen, die derungsantrag vorlegen. Ich weiß, dass dieser Änderungs- mir wesentlich erscheinen auch für manche Entscheidung antrag hier kontrovers erörtert worden ist. Für uns ist er bei Änderungsanträgen und bei der Schlussentscheidung. aber von ganz wesentlicher Bedeutung, um unsere Grund- linie deutlich zu machen: Das, was wir hier in Deutschland Vorher möchte ich den Herrn Präsidenten bitten, noch erreichen wollen, wollen wir über unser Land hinaus tra- einmal für etwas Ruhe zu sorgen; wir stehen ja nicht vor gen. Wir haben immer gesagt: Wir wollen keinen Anreiz irgendeiner Entscheidung. geben, dass Embryonen für die deutsche Forschung getö- tet werden. Deshalb sprechen wir, Frau von Renesse, Frau Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich werde Fischer, der Kollege Werner Lensing und ich, uns in einem (B) es probieren, Frau Kollegin. Änderungsantrag dafür aus, dass § 13 Abs. 3 gestrichen (D) wird. Diese Streichung führt dazu, dass die Strafbeweh- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte darum, die rung bei illegalem Import und bei illegaler Verwendung letzten fünf bis sechs Minuten doch noch aufmerksam zu- von menschlichen embryonalen Stammzellen ausnahms- zuhören. Dann kommen wir zu einem komplizierten Ab- los gilt. Ich stehe dazu, trotz aller Problematik, die soeben stimmungsverfahren, das Ihre Aufmerksamkeit ebenfalls von Herrn Catenhusen aufgezeigt worden ist. erfordern wird. Frau Fischer, Herr Schmidt, bitte nehmen Sie Platz und hören Sie Frau Böhmer noch einmal zu. Warum stehe ich dazu? Die Probleme sind schon seit langer Zeit vorhanden, auch noch nach Einführung des Embryonenschutzgesetzes. Denn auch heute stehen For- Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Herzlichen Dank, scher vor folgender Situation: Wer als deutscher Forscher Herr Präsident, für diese unterstützenden Worte. ins Ausland geht, in Baltimore forscht, ist straffrei, wenn Ich möchte an dieser Stelle den ersten Punkt noch ein- er dort der verbrauchenden Embryonenforschung nach- mal herausgreifen. Wir schließen die Lücke im Embryo- geht. Tut er es hier, ist dies strafbewehrt, gibt er von hier nenschutzgesetz; denn wenn dieses Stammzellgesetz aus einen Anstoß, dann ist dies ebenfalls strafbewehrt. heute nicht angenommen wird, bleibt es bei der Lücke. (Werner Lensing [CDU/CSU]: So ist es!) Das heißt, der Import menschlicher embryonaler Stamm- zellen könnte jederzeit durchgeführt werden. Deshalb haben wir erkennen müssen, dass dies keine Frage ist, die im Embryonenschutzgesetz, das ein hohes (Werner Lensing [CDU/CSU]: Ein unglaub- Schutzniveau hat, oder im Stammzellgesetz, mit dem wir lich wichtiger Aspekt!) ein ebenso hohes Schutzniveau erreichen wollen, zu regeln Wir gehen sogar noch über diesen Punkt hinaus. Wir re- ist. Wir müssen vielmehr in das Strafrecht gehen und uns geln nicht nur die Frage des Imports, sondern wir stellen des § 9 des Strafgesetzbuches annehmen; denn nur dort uns auch der Frage der Verwendung der menschlichen kann diese Frage befriedigend geklärt werden. Das wollen embryonalen Stammzellen. Das heißt, wir haben eine Li- wir über diesen Tag hinaus tun. Aber an dieser Stelle ist es nie gefunden, die Import und Verwendung unter klaren richtig, wenn § 13 Abs. 3 des Stammzellgesetzes fällt und ethischen Prinzipien gemäß dem Gesichtspunkt „Keine damit eine ausnahmslose Strafbewehrung eingeführt wird. verbrauchende Embryonenforschung in Deutschland“ in diesem Gesetz erfasst. Ich weiß, dass viele Kollegen von der Sorge umgetrie- ben werden, dass, da das grundsätzliche Importverbot mit Zweitens. Wir haben Kritik erfahren, weil wir an einem einer Ausnahmeregelung für die Stammzelllinien verbun- Punkt eine Klarstellung bzw. eine Präzisierung vorge- den ist, die vor dem Stichtag erzeugt worden sind, die Tür 23226 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Dr. Maria Böhmer (A) heute ein klein wenig geöffnet ist und morgen weit aufge- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich (C) stoßen wird. Die Schreckensvision einer nicht mehr zu er- schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung fassenden Stammzellforschung steht im Raum. Aber ich über den von den Abgeordneten Dr. Maria Böhmer, Wolf- glaube, wir müssen uns sehr bewusst sein, dass es doch in Michael Catenhusen, Andrea Fischer (Berlin) und weite- unserer Hand liegt, welchen Weg wir hier im Deutschen ren Abgeordneten eingebrachten Gesetzentwurf zur Bundestag gehen wollen. Sicherstellung des Embryonenschutzes im Zusammen- (Beifall der Abgeordneten Werner Lensing hang mit Einfuhr und Verwendung menschlicher embryo- [CDU/CSU], Margot von Renesse [SPD] und naler Stammzellen, Drucksachen 14/8394 und 14/8846. Andrea Fischer [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfol- GRÜNEN]) genabschätzung empfiehlt, den Gesetzentwurf in der Aus- Wir haben am 30. Januar dieses Jahres diesen Weg schussfassung anzunehmen. Hierzu liegen vier Ände- nicht nur markiert, sondern ihn mit großer Mehrheit im rungsanträge vor, über die wir zuerst abstimmen. Deutschen Bundestag favorisiert. Ich bin mir auch Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, sich zu setzen. bewusst, dass wir seit über zehn Jahren ein Embryonen- Da wir nicht nach Fraktionen abstimmen, wird es sonst schutzrecht, das Embryonenschutzgesetz haben, das sei- für das Präsidium schwierig, die Mehrheitsverhältnisse zu nesgleichen sucht. Wir bekräftigen diesen Embryonen- erkennen. schutz, wir verstärken ihn und wir führen ihn fort in die Zukunft. Es liegt in unserer Entscheidungsmacht, daran Wir kommen zunächst zum Änderungsantrag der Ab- festzuhalten. So, wie wir die Entscheidung getroffen ha- geordneten Dr. Maria Böhmer, Andrea Fischer, Margot ben, können wir wohl darauf vertrauen, dass dieser Bun- von Renesse und Werner Lensing. Wer stimmt für den Än- destag und dass auch die Bevölkerung, die hinter dieser derungsantrag auf Drucksache 14/8876? – Gegenstim- Entscheidung steht, in Zukunft dafür Sorge tragen wer- men? – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist nach den, dass kein Embryo für die deutsche Forschung sterben einhelliger Meinung im Präsidium angenommen. muss und dass wir an diesen Grundsätzen festhalten. Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ände- (Beifall bei der Abg. Margot von Renesse rungsantrag der Abgeordneten Dr. Wolfgang Wodarg, [SPD]) Hubert Hüppe, Monika Knoche, und weite- Bei der heutigen Entscheidung – lassen Sie mich dies rer Abgeordneter auf Drucksache 14/8922 mit der folgen- bitte zum Abschluss sagen – bin ich von drei Erwartungs- den Maßgabe: Soweit die Streichung des § 13 Abs. 3 des haltungen getragen. Gesetzentwurfes in der Ausschussfassung beantragt wird, Die erste ist, dass der Rahmen, den wir heute mit die- hat sich der Änderungsantrag in diesem Punkt erledigt, da (B) sem Gesetz geben, von Gesellschaft und Wissenschaft dies bereits Gegenstand des Änderungsantrags war, über (D) dauerhaft angenommen wird. den soeben abgestimmt worden ist. Meine zweite Erwartungshaltung ist, dass die Wissen- Zu diesem Änderungsantrag liegt ein Antrag der Kol- schaft das, was sie im Zuge der Stammzelldiskussion end- legin Monika Knoche vor, die Abstimmung namentlich lich praktiziert hat, nämlich aus ihren Labors herauszuge- durchzuführen. Nach § 52 Satz 1 unserer Geschäftsord- hen, ihre Forschung transparent zu machen, den Dialog zu nung kann eine namentliche Abstimmung von anwesen- suchen, fortsetzt, denn gerade in der Bio- und Gentech- den fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages nologie begeben wir uns auf einen Weg, wo dies in Zu- verlangt werden. Das sind 34 Abgeordnete. Ich bitte die- kunft noch notwendiger sein wird. jenigen, die das Verlangen auf namentliche Abstimmung Ich bin mir sicher – das ist meine dritte Erwartung, die unterstützen wollen, um das Handzeichen. – Das Verlan- ich hier äußere –, dass wir Dank dieses Rahmens weiter- gen hat die erforderliche Unterstützung erhalten. Wir kommen werden. Professor Ho von der Universität Hei- stimmen deshalb jetzt über den Änderungsantrag auf delberg hat heute noch einmal deutlich gemacht, dass die Drucksache 14/8922 namentlich ab. adulte Stammzellenforschung die vergleichende For- Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die schung im embryonalen Bereich braucht. Wir haben uns vorgesehenen Plätze einzunehmen. klar für den Vorrang der adulten Stammzellenforschung vor der embryonalen Stammzellenforschung ausgespro- Sind die Plätze an den Urnen besetzt? – Das ist der Fall. chen. Wir geben ihr heute einen Rahmen, von dem ich Ich eröffne die Abstimmung. sage: Mit dem Stammzellgesetz werden wir es schaffen, dass gerade die adulte Stammzellenforschung und die da- Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine raus erwachsenden Therapien den Menschen Möglichkei- Stimme noch nicht abgegeben hat? – Das ist offensicht- ten eröffnen, um schneller an greifbare und ethisch un- lich nicht der Fall. Dann schließe ich den Wahlgang und problematische Therapien heranzukommen. bitte um Auszählung. In diesem Sinne bitte ich alle sehr herzlich um Zustim- Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen mung zu unserem Stammzellgesetzentwurf. Abstimmung unterbreche ich die Sitzung. Ich danke Ihnen. (Unterbrechung von 20.03 bis 20.09 Uhr) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD sowie der Abg. Andrea Fischer [Ber- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Die un- lin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) terbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23227

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, wieder Dr. Wolfgang Wodarg, Hubert Hüppe, Monika Knoche, (C) Platz zu nehmen. – Axel E. Fischer und weiterer Abgeordneter auf Drucksa- Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schrift- che 14/8922 bekannt: Abgegebene Stimmen 563. Mit Ja führern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim- haben gestimmt 164, mit Nein haben gestimmt 374, Ent- mung über den Änderungsantrag der Abgeordneten haltungen 25. Der Änderungsantrag ist abgelehnt.

Endgültiges Ergebnis Dr. Wolfgang Bötsch Heinz Schemken Dr. Heinrich Fink Abgegebene Stimmen: 560; Klaus Brähmig Dr. Gerhard Scheu Dr. Klaus Grehn Christian Schmidt (Fürth) Dr. Bärbel Grygier davon Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Barbara Höll ja: 164 Cajus Caesar Dr. Christian Schwarz- nein: 372 (Emstek) Schilling Gerhard Jüttemann enthalten: 24 Wilhelm Josef Sebastian Dr. Evelyn Kenzler Albert Deß Johannes Singhammer Heidi Lippmann Renate Diemers Dr. Wolfgang Freiherr Ursula Lötzer Ja Thomas Dörflinger von Stetten Heidemarie Lüth Marie-Luise Dött Dorothea Störr-Ritter Kersten Naumann SPD Albrecht Feibel Matthäus Strebl Rosel Neuhäuser Dr. Susanne Tiemann Gustav-Adolf Schur Dr. Axel E. Fischer Dr. Hans-Peter Uhl Dr. Ilja Seifert Lothar Binding (Heidelberg) (Karlsruhe-Land) Dr. Hans-Peter Friedrich Peter Weiß (Emmendingen) Dr. Winfried Wolf Anni Brandt-Elsweier Gerald Weiß (Groß-Gerau) Hans Büttner (Ingolstadt) (Hof) Erich G. Fritz Klaus-Peter Willsch Fraktionslose Dieter Dzewas Werner Wittlich Hans Forster Hans-Joachim Fuchtel Christa Lörcher Norbert Geis Elke Wülfing Harald Friese Wolfgang Zöller Arne Fuhrmann Georg Girisch Monika Griefahn Dr. Wolfgang Götzer Nein Hansgeorg Hauser BÜNDNIS 90/ Wolfgang Grotthaus DIE GRÜNEN Reinhold Hemker (Rednitzhembach) SPD Ernst Hinsken Monika Heubaum Gila Altmann (Aurich) Brigitte Adler Ulrich Kasparick () Klaus Holetschek Konrad Kunick Angelika Beer Ingrid Arndt-Brauer Josef Hollerith Annelie Buntenbach (B) Hubert Hüppe Rainer Arnold (D) Waltraud Lehn Ekin Deligöz Hermann Bachmaier Götz-Peter Lohmann Georg Janovsky Amke Dietert-Scheuer Irmgard Karwatzki (Neubrandenburg) Katrin Göring-Eckardt Erika Lotz Gerald Häfner Ulrich Klinkert Dr. Hans-Peter Bartels Markus Meckel Winfried Hermann Klaus Barthel (Starnberg) Rudolf Kraus Antje Hermenau Manfred Opel Ingrid Becker-Inglau Monika Knoche Bernd Reuter Hans-Werner Bertl Dr. Karl A. Lamers Dr. Angelika Köster-Loßack Christel Riemann- Friedhelm Julius Beucher Hanewinckel (Heidelberg) Dr. Paul Laufs Kerstin Müller (Köln) Dr. Horst Schmidbauer Karl-Josef Laumann Winfried Nachtwei Ursula Lietz Christa Nickels Klaus Brandner (Nürnberg) Willi Brase Walter Schöler Wolfgang Lohmann Simone Probst (Lüdenscheid) Christine Scheel Rainer Brinkmann (Detmold) Reinhard Schultz Julius Louven Irmingard Schewe-Gerigk Dr. Michael Meister Albert Schmidt (Hitzhofen) (Hildesheim) (Everswinkel) Hans-Günter Bruckmann Wolfgang Spanier Friedrich Merz Christian Simmert Christian Sterzing Edelgard Bulmahn Dr. Konstanze Wegner Ursula Burchardt Dr. Ernst Ulrich Dr. Gerd Müller Hans-Christian Ströbele Claudia Nolte Dr. Michael Bürsch von Weizsäcker Dr. Antje Vollmer Franz Obermeier Hans Martin Bury Dr. Dr. Ludger Volmer Friedhelm Ost Marion Caspers-Merk Engelbert Wistuba Sylvia Voß Eduard Oswald Wolf-Michael Catenhusen Dr. Wolfgang Wodarg Helmut Wilhelm (Amberg) Dr. Hanna Wolf (München) Peter Rauen Uta Zapf FDP Christa Reichard (Dresden) Peter Dreßen Hans-Michael Goldmann Erika Reinhardt Detlef Dzembritzki CDU/CSU Dr. Peter Eckardt Dietrich Austermann Franz Romer PDS Dr. Klaus Rose Wolfgang Bierstedt Ludwig Eich Dr. Kurt J. Rossmanith Petra Bläss Marga Elser Meinrad Belle Adolf Roth (Gießen) Maritta Böttcher Annette Faße Dr. Dr. Christian Ruck Eva Bulling-Schröter Lothar Fischer (Homburg) Anita Schäfer Heidemarie Ehlert 23228 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Iris Follak Winfried Mante Jörg-Otto Spiller Dirk Fischer (Hamburg) (C) Norbert Formanski Dirk Manzewski Dr. Ditmar Staffelt Rainer Fornahl Tobias Marhold Antje-Marie Steen Lilo Friedrich (Mettmann) Lothar Mark Dr. Gerhard Friedrich Anke Fuchs (Köln) Ulrike Mascher Rolf Stöckel (Erlangen) Monika Ganseforth Rita Streb- Jochen-Konrad Fromme Konrad Gilges Heide Mattischeck Reinhold Strobl (Amberg) Dr. Jürgen Gehb Iris Gleicke Ulrike Mehl Dr. Peter Struck Peter Götz Günter Gloser Ulrike Merten Joachim Stünker Kurt-Dieter Grill Uwe Göllner Joachim Tappe Renate Gradistanac Dr. Jürgen Meyer (Ulm) Jörg Tauss (Großhennersdorf ) Günter Graf (Friesoythe) Ursula Mogg Jella Teuchner Angelika Graf (Rosenheim) Christoph Moosbauer Dr. Gerald Thalheim Dieter Grasedieck Siegmar Mosdorf Uta Titze-Stecher Ursula Heinen Michael Müller (Düsseldorf) Adelheid Tröscher Siegfried Helias Achim Großmann Jutta Müller (Völklingen) Hans-Eberhard Urbaniak Detlef Helling Hans-Joachim Hacker Christian Müller (Zittau) Rüdiger Veit Peter Hintze Klaus Hagemann Franz Müntefering Simone Violka Joachim Hörster Manfred Hampel Andrea Nahles (Pforzheim) Dr.-Ing. Rainer Jork Alfred Hartenbach Volker Neumann (Bramsche) Hans Georg Wagner Dr. Harald Kahl Anke Hartnagel Dr. Edith Niehuis Hedi Wegener Bartholomäus Kalb Klaus Hasenfratz Günter Oesinghaus Wolfgang Weiermann Steffen Kampeter Nina Hauer Eckhard Ohl Reinhard Weis (Stendal) Eckart von Klaeden Hubertus Heil Holger Ortel Matthias Weisheit Eva-Maria Kors Frank Hempel Adolf Ostertag Gunter Weißgerber Dr. Martina Krogmann Rolf Hempelmann Albrecht Papenroth Gert Weisskirchen Dr. Hermann Kues Dr. Barbara Hendricks Dr. Martin Pfaff (Wiesloch) Karl Lamers Georg Pfannenstein Jochen Welt Reinhold Hiller (Lübeck) Johannes Pflug Dr. Rainer Wend Stephan Hilsberg Dr. Eckhart Pick Hildegard Wester Werner Lensing Gerd Höfer Joachim Poß Lydia Westrich Peter Letzgus Walter Hoffmann Karin Rehbock-Zureich Inge Wettig-Danielmeier Walter Link (Diepholz) (Darmstadt) Dr. Carola Reimann Dr. Norbert Wieczorek Dr. Manfred Lischewski (Wismar) Margot von Renesse Helmut Wieczorek Dr. Michael Luther Frank Hofmann (Volkach) Renate Rennebach (Duisburg) Erich Maaß (Wilhelmshaven) Ingrid Holzhüter Reinhold Robbe Heidemarie Wieczorek-Zeul (B) Eike Hovermann René Röspel Dieter Wiefelspütz (Recklinghausen) (D) Christel Humme Michael Roth (Heringen) Heino Wiese (Hannover) Dr. Martin Mayer Lothar Ibrügger Birgit Roth (Speyer) Klaus Wiesehügel (Siegertsbrunn) Barbara Imhof Gerhard Rübenkönig Brigitte Wimmer (Karlsruhe) Dr. Gabriele Iwersen Thomas Sauer Barbara Wittig (Bremen) Jann-Peter Janssen Dr. Hansjörg Schäfer Verena Wohlleben Günter Nooke Ilse Janz Gudrun Schaich-Walch Waltraud Wolff (Wolmirstedt) Dr. Friedbert Pflüger Dr. Uwe Jens Bernd Scheelen Heidemarie Wright Volker Jung (Düsseldorf) Siegfried Scheffler Dr. Christoph Zöpel Johannes Kahrs Horst Schild Peter Zumkley Marlies Pretzlaff Sabine Kaspereit (Aachen) Dr. Bernd Protzner Susanne Kastner Wilhelm Schmidt (Salzgitter) CDU/CSU Thomas Rachel Hans-Peter Kemper Dr. Frank Schmidt Hans Raidel Klaus Kirschner (Weilburg) Dr. Peter Ramsauer Marianne Klappert Heinz Schmitt (Berg) Günter Baumann Helmut Rauber Hans-Ulrich Klose Katherina Reiche Dr. Emil Schnell Dr. Sabine Bergmann-Pohl Hans-Peter Repnik Fritz Rudolf Körper Karsten Schönfeld Dr. Fritz Schösser Hans-Dirk Bierling Hannelore Rönsch Nicolette Kressl Gerhard Schröder Renate Blank (Wiesbaden) Volker Kröning Gisela Schröter Dr. Norbert Röttgen Angelika Krüger-Leißner Dr. Mathias Schubert Dr. Maria Böhmer Dr. Wolfgang Schäuble Horst Kubatschka Richard Schuhmann Jochen Borchert Karl-Heinz Scherhag Ernst Küchler (Delitzsch) Wolfgang Börnsen (Bönstrup) Norbert Schindler Ute Kumpf Brigitte Schulte (Hameln) Dr.-Ing. Joachim Schmidt Dr. Uwe Küster Dr. (Halsbrücke) Werner Labsch Dr. Angelica Schwall-Düren Hartmut Büttner Andreas Schmidt (Mülheim) Brigitte Lange (Schönebeck) Dr. Rupert Scholz Christian Lange (Backnang) Bodo Seidenthal Peter H. Carstensen Reinhard Freiherr Detlev von Larcher Erika Simm (Nordstrand) von Schorlemer Christine Lehder Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Dr. Hansjürgen Doss Dr. Erika Schuchardt Dr. Elke Leonhard Dr. Cornelie Sonntag- Gerhard Schulz Eckhart Lewering Wolgast (Lübeck) Clemens Schwalbe Gabriele Lösekrug-Möller Wieland Sorge Dr. h. c. Rudolf Seiters Dieter Maaß (Herne) Dr. Margrit Spielmann Bärbel Sothmann Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23229

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Margarete Späte Jürgen Trittin Helga Kühn-Mengel (C) Günther Friedrich Nolting Dr. Edelbert Richter Andreas Storm FDP Hans-Joachim Otto Dr. Ernst Dieter Rossmann Max Straubinger (Frankfurt) Dagmar Schmidt (Heilbronn) Detlef Parr (Meschede) Dr. Rita Süssmuth Hildebrecht Braun Cornelia Pieper (Augsburg) Regina Schmidt-Zadel Edeltraut Töpfer Dr. Günter Rexrodt Wolfgang Thierse Rainer Brüderle Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Ernst Burgbacher Gerhard Schüßler CDU/CSU Annette Widmann-Mauz Jörg van Essen Dr. Irmgard Schwaetzer Heinz Wiese (Ehingen) Ulrike Flach Marita Sehn Hans-Otto Wilhelm (Mainz) Gisela Frick Dr. Hermann Otto Solms Sylvia Bonitz Bernd Wilz Paul K. Friedhoff Dr. Dieter Thomae Dagmar Wöhrl Horst Friedrich (Bayreuth) Jürgen Türk Maria Eichhorn Peter Kurt Würzbach Rainer Funke Dr. Guido Westerwelle Dr. Hans Georg Faust Wolfgang Zeitlmann Dr. Wolfgang Gerhardt Hermann Gröhe Joachim Günther (Plauen) PDS Dr. BÜNDNIS 90/ Manfred Heise Dr. Helmut Haussmann Dr. DIE GRÜNEN Susanne Jaffke Ulrich Heinrich Dr. Ruth Fuchs Dr. Norbert Lammert Walter Hirche Wolfgang Gehrcke Wolfgang Meckelburg Dr. Thea Dückert Birgit Homburger Dr. Uwe-Jens Rössel Norbert Otto (Erfurt) Dr. Uschi Eid Dr. Werner Hoyer Christina Schenk Dr. Peter Paziorek Hans-Josef Fell Dr. Klaus Kinkel Andrea Voßhoff Andrea Fischer (Berlin) Dr. Heinrich L. Kolb Enthalten Rita Grießhaber Gudrun Kopp BÜNDNIS 90/ Michaele Hustedt Jürgen Koppelin SPD DIE GRÜNEN Dr. Reinhard Loske Ina Lenke Cem Özdemir Sabine Leutheusser- Eckhardt Barthel (Berlin) Grietje Bettin Rezzo Schlauch Schnarrenberger Christel Deichmann Ulrike Höfken

Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungen des Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPU (B) (D) Abgeordnete(r)

Behrendt, Wolfgang Bindig, Rudolf Bühler (Bruchsal), Klaus Haack (Extertal), Karl-Hermann SPD SPD CDU/CSU SPD

Dr. Hornhues, Karl-Heinz Hornung, Siegfried Jäger, Renate Lintner, Eduard CDU/CSU CDU/CSU SPD CDU/CSU

Dr. Lippelt, Helmut Dr. Lucyga, Christine Michels, Meinolf Müller (Berlin), Manfred BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN SPD CDU/CSU PDS

Neumann (Gotha), Gerhard Onur, Leyla Palis, Kurt Rupprecht, Marlene SPD SPD SPD SPD

von Schmude, Michael Zierer, Benno CDU/CSU CDU/CSU

Wir kommen nun zum Änderungsantrag der Fraktion Wir stimmen jetzt über den Änderungsantrag des Ab- der FDP auf Drucksache 14/8869. Hierüber stimmen wir geordneten Dr. Wolfgang Wodarg auf Drucksa- im einfachen Verfahren ab. Wer stimmt für diesen Ände- che 14/8925 ab. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dage- rungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – gen? – Wer enthält sich? – Der Änderungsantrag ist Der Änderungsantrag ist damit abgelehnt. ebenfalls abgelehnt. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der SES 90/DIE GRÜNEN) Ausschussfassung mit der soeben beschlossenen Ände- 23230 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) rung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegen- Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem (C) stimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit Kollegen Joachim Stünker von der SPD-Fraktion. in zweiter Beratung angenommen. (Alfred Hartenbach [SPD]: Ist das üblich? Es ist angekündigt worden, dass der Wunsch besteht, Nicht zuerst der Antragsteller?) trotz Annahme einer Änderung sofort in die dritte Bera- – Die Geschäftsführer haben mir die Liste so vorgelegt. tung einzutreten. – Herr Kollege Schmidt signalisiert, wir Eigentlich hätte der Antragsteller zuerst das Wort. Aber möchten von der in der Geschäftsordnung vorgesehenen wenn Sie das entschuldigen – – Frist absehen und direkt in die dritte Beratung eintreten. (Norbert Geis [CDU/CSU]: Wir überstehen Ein solcher Antrag bedarf der Zweidrittelmehrheit. Ich das!) bitte diejenigen, die dem Antrag zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Bitte schön, Herr Stünker. Das war die erforderliche Mehrheit. Damit ist der Antrag angenommen. Joachim Stünker (SPD): Herr Präsident! Meine lie- Wir kommen zur ben Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung einen Gesetzentwurf der dritten Beratung Unionsfraktion, der davon ausgeht, dass der Schutz von über den Gesetzentwurf. Hier ist wiederum namentliche Religionsgemeinschaften und Weltanschauungsvereini- Abstimmung verlangt. Ich bitte die Schriftführerinnen gungen sowie ihrer religiösen und weltanschaulichen und Schriftführer, ihre Plätze einzunehmen. – Sind alle Überzeugungen nur unzureichend im Strafgesetzbuch Urnen besetzt? – Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Ab- – nicht in anderen gesetzlichen Bestimmungen; wir reden stimmung. hier über Strafrecht – geregelt sei. Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Wir wissen aus der Geschichte, dass sich Glaubens- Stimme noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. fragen sehr gut für eine Polarisierung eignen. Ich hoffe Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schrift- nicht, dass es Absicht der Antragsteller ist, dass wir die- führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu be- sen Gesetzentwurf, der aus dem November des Jah- ginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später res 2000 stammt, so kurz vor der Bundestagswahl in zwei- bekannt gegeben.1) ter und dritter Lesung beraten. Wir setzen die Beratungen fort. – Liebe Kolleginnen Ich will nicht bestreiten, dass es in der Tat geschmack- und Kollegen, darf ich Sie bitten, Platz zu nehmen oder lose Entgleisungen gegenüber Religionsgemeinschaften (B) den Saal zu verlassen? gibt, sehe allerdings keine rechtspolitische Notwendig- (D) keit, deshalb das Strafgesetzbuch in § 166 – um den geht es hier – hinsichtlich des Tatbestandsmerkmals des öf- Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf: fentlichen Friedens zu ändern. Ich habe das bereits in der Zweite und dritte Beratung des von den Abge- ersten Lesung gesagt; ich habe das in den Ausschussbera- ordneten Norbert Geis, Ronald Pofalla, Wolfgang tungen gesagt. Die Einschätzung der SPD-Fraktion dazu Bosbach, weiteren Abgeordneten und der Fraktion hat sich auch nicht geändert. der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes (Stärkung des To- Nach der geltenden Fassung des § 166 StGB dient das leranzgebotes durch einen besseren Schutz religiö- Strafrecht nicht der ethisch-moralischen Bevormundung. Das ist auch nicht die Aufgabe des Strafrechts. Die Straf- ser und weltanschaulicher Überzeugungen gemäß vorschriften, welche sich auf Religion und Weltanschau- § 166 StGB) ung beziehen, müssen allein den öffentlichen Frieden in – Drucksache 14/4558 – unserem Land gewährleisten. § 166 StGB stellt, rechts- (Erste Beratung 149. Sitzung) dogmatisch gesehen, ein so genanntes Eignungsdelikt dar. Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- Bei der Änderung der Strafvorschrift im Jahre 1969 hat schusses (6. Ausschuss) der Reformgesetzgeber bewusst auf den Tatbestand der – Drucksache 14/8379 – Gotteslästerung verzichtet, um dem Missverständnis vor- zubeugen, dass Gott als solcher Gegenstand eines weltli- Berichterstattung: chen Schutzgutes sein könnte. Das geschah vor allen Din- Abgeordnete Joachim Stünker gen, um Diskussionen über den Gottesbegriff im Norbert Geis Gerichtssaal zu vermeiden. Stattdessen sollte durch die Volker Beck (Köln) Ausgestaltung der Norm als Eignungsdelikt den Schwie- Jörg van Essen rigkeiten Rechnung getragen werden, die der Feststellung, Dr. Evelyn Kenzler ob eine Friedensstörung eingetreten ist, begegnen können. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Eine wirkliche Friedensstörung verlangt das Gesetz Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre also nicht. Es reichen vielmehr schon solche Zustände keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. aus, die konkret geeignet sind, eine Friedensstörung zu bewirken. Friedensstörende Beschimpfungen und Belei- digungen sind also auch heute durch das Strafrecht abge- 1) Seite 23231 D deckt. Deshalb kann keine Rede davon sein, wie es die Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23231

Joachim Stünker (A) Verfasser des Gesetzentwurfs behaupten, dass die An- eine Strafverfolgung nicht rechtfertigen. Hinzutreten (C) wendung der Norm von friedensstörenden Demonstratio- muss immer, dass die Meinungsfreiheit derjenigen ge- nen und damit vom Faustrecht der Beschimpften abhängt. fährdet wird, die von diesen Äußerungen betroffen sind. Eine solche Auffassung verkennt den Eignungscharakter Diese Bedingung wird in einer Gesellschaft, in der der öf- der Norm und wird von der Wissenschaft und der Praxis fentliche Diskurs funktioniert und in der blasphemische nicht geteilt. Äußerungen auf öffentliche Kritik und Ablehnung stoßen, Des Weiteren kann die These in der Begründung des wie es bei uns, in der Bundesrepublik, der Fall ist, nicht Gesetzentwurfs, die Klausel habe sich praktisch zum In- vorliegen. strument der Beseitigung des Tatbestands entwickelt, Bei aller Anerkennung, die Kirche und religiöses Le- nach der Rechtsprechung und der herrschenden Lehre ben in unserem Land genießen, leben wir dennoch in ei- nicht bestätigt werden. nem säkularisierten Staat, in dem Religion Privatsache ist. Auch die vom Rechtsausschuss in seiner 91. Sitzung am Der Einzelne als Träger seiner religiösen Überzeugung 27. Juni des letzten Jahres, also im Sommer des vorigen muss geschützt werden, nicht aber die Abstraktion, die Jahres, bereits durchgeführte öffentliche Anhörung hat Religion als solche. keine neuen rechtstatsächlichen Erkenntnisse ergeben, Wenn man den Gesetzentwurf, der uns vorliegt, zu warum die im Rahmen der Strafrechtsreform 1969 gefun- Ende denkt, kann man zu der Vorstellung gelangen, dene Fassung heute geändert werden sollte, im Gegenteil: dass in seiner Folge ein Salman Rushdie zukünftig in Die Sachverständigen sprachen sich in der Mehrzahl gegen Deutschland – möglicherweise wäre das regional unter- den vorliegenden Gesetzentwurf aus und plädierten für die schiedlich – strafrechtlich verfolgt werden könnte. Ich Beibehaltung der seit Jahrzehnten gültigen Strafvorschrift. muss Ihnen ehrlich sagen, dass diese Vorstellung für mich Der durchgehende Tenor besagt, dass es im modernen nur schwer zu ertragen wäre. Strafrecht kein Schutzgut „religiöses Empfinden“ geben (Norbert Geis [CDU/CSU]: Schlimm!) könne; noch weniger könne ein säkulares Strafrecht auf den Schutz religiöser Inhalte abstellen. Tragfähiges Lassen Sie mich abschließend noch einmal betonen: Rechtsgut für die Religionsdelikte könne deshalb al- Die Intention – darüber haben wir in den Beratungen aus- lein der öffentliche Friede sein. Das sehen wir ebenso. Die führlich diskutiert – ist fraglos vorhanden, Erscheinungen Sachverständigen haben weiter ausgeführt, der Gesetz- religiöser Schmähungen in unserer Gesellschaft, die ver- entwurf liefere keine neuen Gesichtspunkte, welche die abscheuungswürdig sind, gemeinsam zurückzuweisen. verfassungsrechtliche Tragfähigkeit eines anderen Rechts- gutes belegt hätten. (Beifall des Abg. Alfred Hartenbach [SPD]) (B) An dieser Stelle möchte ich noch einmal darauf hin- Aber hier geht es darum, was wir pönalisieren, was wir (D) weisen, dass bereits in den vorangegangenen Jahrzehnten unter Strafe stellen wollen. Strafrechtliche Verbote sind immer wieder versucht worden ist, teilweise aus Bayern, kein Mittel, um bei den Betroffenen eine innere Einstel- aber auch von der CDU/CSU-Fraktion, entsprechende lung der Toleranz zu fördern. Änderungen durchzubringen. Doch sogar in den 16 Jah- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der ren der Kohl-Regierung ist Ihnen das mit Ihrem Koali- PDS) tionspartner nicht gelungen. Toleranz können Sie nicht durch strafrechtliche Regelun- In Deutschland wird niemand daran gehindert, seinen gen bzw. Verbotsnormen in die Gesellschaft hineinerzie- Glauben auszuüben. Wenn eine Beschimpfung den Gläu- hen. Dafür bedarf es gelebter Vorbilder, dafür bedarf es bigen persönlich trifft, greift das Strafrecht ein, weil der Erziehung, dafür bedarf es auch angemessener For- eine Beleidigung oder Schmähung der persönlichen Reli- men des Umgangs miteinander, damit öffentlich Beispiele gionsausübung vorliegt. Die geltende Fassung des gegeben werden, aber dafür brauchen wir nicht das Straf- § 166 StGB verfolgt das Ziel der Stärkung des Toleranz- recht. gebotes in dem verfassungsrechtlich gebotenen Maße. Ich sehe keine Notwendigkeit, den den Kirchen gebührenden Vielen Dank. Respekt – es ist unstreitig, dass ihnen Respekt gebührt – (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der mit den Mitteln des Strafrechts durchzusetzen – wir reden PDS) über das Strafrecht –, im Gegenteil: Interreligiöse Aus- einandersetzungen könnten sich an staatlich vorgegebene Maßstäbe gebunden fühlen, die ihr Selbstbestimmungs- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bevor ich recht aus Art. 137 Abs. 3 der Weimarer Reichsverfassung dem nächsten Redner das Wort erteile, gebe ich Ihnen das in Verbindung mit Art. 140 GG berühren würden. Mit ver- von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte letzender Kritik sollte sich die Religion vielmehr selbst Ergebnis der namentlichen Schlussabstimmung über auseinander setzen. den Entwurf eines Gesetzes zur Sicherstellung des Em- bryonenschutzes im Zusammenhang mit Einfuhr und Das Strafrecht ist sicherlich kein geeignetes Mittel, um Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen be- für Toleranz zu werben. Toleranz kann man nicht her- kannt. Das sind die Drucksachen 14/8394 und 14/8846. beistrafen. Die Verfasser des Gesetzentwurfs verkennen meiner Meinung nach den Charakter des Strafrechts als Abgegebene Stimmen 559. Mit Ja haben gestimmt 360, Ultima Ratio im Instrumentarium staatlicher Konflikt- mit Nein haben gestimmt 190, Enthaltungen 9. Der Ge- bewältigung. Intolerante Äußerungen als solche können setzentwurf ist damit angenommen. 23232 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Endgültiges Ergebnis Alfred Hartenbach Christian Müller (Zittau) Reinhold Strobl (Amberg) (C) Abgegebene Stimmen: 559; Klaus Hasenfratz Franz Müntefering Dr. Peter Struck Nina Hauer Andrea Nahles Joachim Stünker davon Hubertus Heil Volker Neumann (Bramsche) Joachim Tappe ja: 360 Frank Hempel Dr. Edith Niehuis Jörg Tauss nein: 190 Rolf Hempelmann Dr. Rolf Niese Jella Teuchner enthalten: 9 Dr. Barbara Hendricks Günter Oesinghaus Dr. Gerald Thalheim Gustav Herzog Eckhard Ohl Wolfgang Thierse Reinhold Hiller (Lübeck) Manfred Opel Ja Uta Titze-Stecher Stephan Hilsberg Holger Ortel Adelheid Tröscher Gerd Höfer Adolf Ostertag Hans-Eberhard Urbaniak SPD Walter Hoffmann Albrecht Papenroth Rüdiger Veit Gerd Andres (Darmstadt) Dr. Martin Pfaff Simone Violka Ingrid Arndt-Brauer Iris Hoffmann (Wismar) Georg Pfannenstein Ute Vogt (Pforzheim) Rainer Arnold Frank Hofmann (Volkach) Johannes Pflug Hans Georg Wagner Hermann Bachmaier Ingrid Holzhüter Dr. Eckhart Pick Hedi Wegener Ernst Bahr Eike Hovermann Joachim Poß Wolfgang Weiermann Doris Barnett Christel Humme Karin Rehbock-Zureich Reinhard Weis (Stendal) Dr. Hans-Peter Bartels Lothar Ibrügger Dr. Carola Reimann Matthias Weisheit Klaus Barthel (Starnberg) Barbara Imhof Margot von Renesse Gunter Weißgerber Ingrid Becker-Inglau Gabriele Iwersen Renate Rennebach Gert Weisskirchen Hans-Werner Bertl Jann-Peter Janssen Christel Riemann- (Wiesloch) Friedhelm Julius Beucher Ilse Janz Hanewinckel Dr. Ernst Ulrich Petra Bierwirth Dr. Uwe Jens Reinhold Robbe von Weizsäcker Kurt Bodewig Volker Jung (Düsseldorf) René Röspel Jochen Welt Klaus Brandner Johannes Kahrs Michael Roth (Heringen) Dr. Rainer Wend Willi Brase Sabine Kaspereit Birgit Roth (Speyer) Hildegard Wester Rainer Brinkmann (Detmold) Susanne Kastner Gerhard Rübenkönig Lydia Westrich Bernhard Brinkmann (Hil- Hans-Peter Kemper Thomas Sauer Inge Wettig-Danielmeier desheim) Klaus Kirschner Dr. Hansjörg Schäfer Dr. Norbert Wieczorek Hans-Günter Bruckmann Marianne Klappert Gudrun Schaich-Walch Helmut Wieczorek Edelgard Bulmahn Hans-Ulrich Klose Bernd Scheelen (Duisburg) Ursula Burchardt Walter Kolbow Siegfried Scheffler Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Michael Bürsch Fritz Rudolf Körper Horst Schild Dieter Wiefelspütz Hans Martin Bury Anette Kramme Ulla Schmidt (Aachen) Heino Wiese (Hannover) (B) Marion Caspers-Merk Nicolette Kressl Silvia Schmidt (Eisleben) Klaus Wiesehügel (D) Wolf-Michael Catenhusen Volker Kröning Dagmar Schmidt (Meschede) Brigitte Wimmer (Karlsruhe) Dr. Peter Danckert Angelika Krüger-Leißner Wilhelm Schmidt (Salzgitter) Barbara Wittig Christel Deichmann Horst Kubatschka Dr. Frank Schmidt Verena Wohlleben Karl Diller Helga Kühn-Mengel (Weilburg) Waltraud Wolff Peter Dreßen Ute Kumpf Regina Schmidt-Zadel (Wolmirstedt) Detlef Dzembritzki Dr. Uwe Küster Heinz Schmitt (Berg) Heidemarie Wright Dr. Peter Eckardt Werner Labsch Carsten Schneider Dr. Christoph Zöpel Sebastian Edathy Christine Lambrecht Dr. Emil Schnell Peter Zumkley Ludwig Eich Brigitte Lange Walter Schöler Marga Elser Christian Lange (Backnang) Karsten Schönfeld CDU/CSU Annette Faße Detlev von Larcher Fritz Schösser Lothar Fischer (Homburg) Christine Lehder Ottmar Schreiner Ulrich Adam Gabriele Fograscher Dr. Elke Leonhard Gerhard Schröder Günter Baumann Iris Follak Eckhart Lewering Gisela Schröter Dr. Sabine Bergmann-Pohl Norbert Formanski Gabriele Lösekrug-Möller Dr. Mathias Schubert Otto Bernhardt Rainer Fornahl Erika Lotz Brigitte Schulte (Hameln) Hans-Dirk Bierling Lilo Friedrich (Mettmann) Dieter Maaß (Herne) Reinhard Schultz Renate Blank Anke Fuchs (Köln) Winfried Mante (Everswinkel) Antje Blumenthal Arne Fuhrmann Dirk Manzewski Dr. Angelica Schwall-Düren Dr. Maria Böhmer Monika Ganseforth Tobias Marhold Rolf Schwanitz Wolfgang Börnsen Konrad Gilges Lothar Mark Bodo Seidenthal (Bönstrup) Iris Gleicke Ulrike Mascher Erika Simm Dr. Ralf Brauksiepe Günter Gloser Christoph Matschie Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Hartmut Büttner (Schöne- Uwe Göllner Heide Mattischeck Dr. Cornelie Sonntag- beck) Renate Gradistanac Ulrike Mehl Wolgast Anke Eymer (Lübeck) Günter Graf (Friesoythe) Ulrike Merten Wieland Sorge Ulf Fink Angelika Graf (Rosenheim) Angelika Mertens Dr. Margrit Spielmann Herbert Frankenhauser Dieter Grasedieck Dr. Jürgen Meyer (Ulm) Jörg-Otto Spiller Dr. Gerhard Friedrich Kerstin Griese Ursula Mogg Dr. Ditmar Staffelt (Erlangen) Achim Großmann Christoph Moosbauer Antje-Marie Steen Jochen-Konrad Fromme Hans-Joachim Hacker Siegmar Mosdorf Ludwig Stiegler Hans-Joachim Fuchtel Klaus Hagemann Michael Müller (Düsseldorf) Rolf Stöckel Gottfried Haschke Manfred Hampel Jutta Müller (Völklingen) Rita Streb-Hesse (Großhennersdorf ) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23233

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Gerda Hasselfeldt Dr. Thea Dückert Anni Brandt-Elsweier Georg Girisch (C) Helmut Heiderich Dr. Uschi Eid Hans Büttner (Ingolstadt) Peter Götz Ursula Heinen Hans-Josef Fell Dieter Dzewas Dr. Wolfgang Götzer Siegfried Helias Andrea Fischer (Berlin) Hans Forster Kurt-Dieter Grill Detlef Helling Rita Grießhaber Harald Friese Hermann Gröhe Peter Hintze Uli Höfken Monika Griefahn Manfred Grund Dr.-Ing. Rainer Jork Michaele Hustedt Wolfgang Grotthaus Hansgeorg Hauser Dr. Harald Kahl Dr. Reinhard Loske Reinhold Hemker (Rednitzhembach) Bartholomäus Kalb Cem Özdemir Monika Heubaum Manfred Heise Eckart von Klaeden Rezzo Schlauch Ulrich Kasparick Ernst Hinsken Dr. Martina Krogmann Jürgen Trittin Konrad Kunick Martin Hohmann Karl Lamers Waltraud Lehn Klaus Holetschek Dr. Norbert Lammert FDP Götz-Peter Lohmann (Neu- Josef Hollerith Joachim Hörster Vera Lengsfeld Ina Albowitz ) Werner Lensing Markus Meckel Hubert Hüppe Hildebrecht Braun Susanne Jaffke Peter Letzgus (Augsburg) Bernd Reuter Walter Link (Diepholz) Dr. Hermann Scheer Georg Janovsky Rainer Brüderle Steffen Kampeter Erich Maaß (Wilhelmshaven) Ernst Burgbacher Horst Schmidbauer Erwin Marschewski (Nürnberg) Irmgard Karwatzki Jörg van Essen Volker Kauder (Recklinghausen) Ulrike Flach Ewald Schurer Dr. Martin Mayer Wolfgang Spanier Ulrich Klinkert Gisela Frick Eva-Maria Kors (Siegertsbrunn) Dr. Konstanze Wegner Paul K. Friedhoff Rudolf Kraus Dr. Angela Merkel Dr. Margrit Wetzel Horst Friedrich (Bayreuth) Dr. Hermann Kues Friedrich Merz Engelbert Wistuba Rainer Funke Werner Kuhn Bernd Neumann (Bremen) Dr. Wolfgang Wodarg Dr. Wolfgang Gerhardt Dr. Karl A. Lamers Günter Nooke Joachim Günther (Plauen) Hanna Wolf (München) (Heidelberg) Dr. Friedbert Pflüger Dr. Karlheinz Guttmacher Uta Zapf Helmut Lamp Ronald Pofalla Dr. Helmut Haussmann Dr. Paul Laufs Ruprecht Polenz Ulrich Heinrich CDU/CSU Karl-Josef Laumann Marlies Pretzlaff Walter Hirche Ilse Aigner Ursula Lietz Dr. Bernd Protzner Birgit Homburger Dietrich Austermann Dr. Manfred Lischewski Thomas Rachel Dr. Werner Hoyer Norbert Barthle Wolfgang Lohmann Hans Raidel Dr. Klaus Kinkel Dr. Wolf Bauer (Lüdenscheid) Dr. Peter Ramsauer Dr. Heinrich L. Kolb Brigitte Baumeister Julius Louven Helmut Rauber Gudrun Kopp Meinrad Belle Dr. Michael Luther (B) Katharina Reiche (D) Jürgen Koppelin Dr. Heribert Blens Wolfgang Meckelburg Dr. Heinz Riesenhuber Ina Lenke Peter Bleser Dr. Michael Meister Hannelore Rönsch Sabine Leutheusser- Sylvia Bonitz Hans Michelbach (Wiesbaden) Schnarrenberger Jochen Borchert Dr. Gerd Müller Dr. Wolfgang Schäuble Dirk Niebel Wolfgang Bosbach Claudia Nolte Karl-Heinz Scherhag Günther Friedrich Nolting Dr. Wolfgang Bötsch Franz Obermeier Dr.-Ing. Joachim Schmidt Hans-Joachim Otto Klaus Brähmig Eduard Oswald (Halsbrücke) (Frankfurt) Monika Brudlewsky Norbert Otto (Erfurt) Andreas Schmidt (Mülheim) Detlef Parr Georg Brunnhuber Dr. Peter Paziorek Dr. Erika Schuchardt Anton Pfeifer Cornelia Pieper Cajus Caesar Gerhard Schulz Peter Rauen Dr. Günter Rexrodt Manfred Carstens (Emstek) Clemens Schwalbe Christa Reichard (Dresden) Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Peter H. Carstensen Dr. Christian Schwarz- Erika Reinhardt Gerhard Schüßler (Nordstrand) Schilling Hans-Peter Repnik Dr. Irmgard Schwaetzer Wolfgang Dehnel Bärbel Sothmann Klaus Riegert Marita Sehn Hubert Deittert Margarete Späte Franz Romer Dr. Hermann Otto Solms Albert Deß Erika Steinbach Dr. Klaus Rose Dr. Dieter Thomae Renate Diemers Andreas Storm Kurt J. Rossmanith Jürgen Türk Thomas Dörflinger Max Straubinger Adolf Roth (Gießen) Dr. Guido Westerwelle Dr. Hansjürgen Doss Thomas Strobl (Heilbronn) Dr. Norbert Röttgen Marie-Luise Dött Dr. Rita Süssmuth Dr. Christian Ruck PDS Maria Eichhorn Edeltraut Töpfer Anita Schäfer Ilse Falk Arnold Vaatz Dr. Dietmar Bartsch Heinz Schemken Dr. Hans Georg Faust Angelika Volquartz Dr. Ruth Fuchs Dr. Gerhard Scheu Albrecht Feibel Heinz Wiese (Ehingen) Dr. Uwe-Jens Rössel Christian Schmidt (Fürth) Dirk Fischer (Hamburg) Hans-Otto Wilhelm (Mainz) Christina Schenk Dr. Andreas Schockenhoff Axel E. Fischer Dagmar Wöhrl Dr. Rupert Scholz (Karlsruhe-Land) Peter Kurt Würzbach Reinhard Freiherr von Nein Klaus Francke Wolfgang Zeitlmann Schorlemer Dr. Hans-Peter Friedrich SPD Wilhelm Josef Sebastian (Hof) BÜNDNIS 90/ Dr. h. c. Rudolf Seiters Brigitte Adler Erich G. Fritz DIE GRÜNEN Johannes Singhammer Dr. Axel Berg Dr. Jürgen Gehb Dr. Wolfgang Freiherr von Matthias Berninger Lothar Binding (Heidelberg) Norbert Geis Stetten 23234 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Dorothea Störr-Ritter Winfried Hermann PDS Fraktionslose (C) Matthäus Strebl Antje Hermenau Christa Lörcher Dr. Susanne Tiemann Monika Knoche Wolfgang Bierstedt Petra Bläss Dr. Hans-Peter Uhl Dr. Angelika Köster-Loßack Enthalten Andrea Voßhoff Steffi Lemke Maritta Böttcher Eva Bulling-Schröter Peter Weiß (Emmendingen) Kerstin Müller (Köln) SPD Gerald Weiß (Groß-Gerau) Winfried Nachtwei Heidemarie Ehlert Annette Widmann-Mauz Dr. Heinrich Fink Eckhardt Barthel (Berlin) Christa Nickels Ernst Küchler Klaus-Peter Willsch Dr. Klaus Grehn Simone Probst Dr. Edelbert Richter Werner Wittlich Christine Scheel Dr. Bärbel Grygier Elke Wülfing Dr. Ernst Dieter Rossmann Irmingard Schewe-Gerigk Dr. Barbara Höll Wolfgang Zöller Albert Schmidt (Hitzhofen) Ulla Jelpke CDU/CSU BÜNDNIS 90/ Christian Simmert Gerhard Jüttemann Rainer Eppelmann DIE GRÜNEN Christian Sterzing Dr. Evelyn Kenzler Norbert Schindler Hans-Christian Ströbele Heidi Lippmann Bernd Wilz Gila Altmann (Aurich) Dr. Antje Vollmer Ursula Lötzer Marieluise Beck (Bremen) Dr. Ludger Volmer Heidemarie Lüth BÜNDNIS 90/ Angelika Beer Sylvia Voß Kersten Naumann DIE GRÜNEN Annelie Buntenbach Helmut Wilhelm (Amberg) Ekin Deligöz Rosel Neuhäuser Grietje Bettin Gustav-Adolf Schur Amke Dietert-Scheuer FDP Katrin Göring-Eckardt Dr. Ilja Seifert PDS Gerald Häfner Hans-Michael Goldmann Dr. Winfried Wolf Wolfgang Gehrcke

Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungen des Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPU

Abgeordnete(r)

Behrendt, Wolfgang Bindig, Rudolf Bühler (Bruchsal), Klaus Haack (Extertal), Karl-Hermann SPD SPD CDU/CSU SPD (B) (D) Dr. Hornhues, Karl-Heinz Hornung, Siegfried Jäger, Renate Lintner, Eduard CDU/CSU CDU/CSU SPD CDU/CSU

Dr. Lippelt, Helmut Dr. Lucyga, Christine Michels, Meinolf Müller (Berlin), Manfred BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN SPD CDU/CSU PDS

Neumann (Gotha), Gerhard Onur, Leyla Palis, Kurt Rupprecht, Marlene SPD SPD SPD SPD

von Schmude, Michael Zierer, Benno CDU/CSU CDU/CSU

(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Nun fahren wir in der Aussprache fort. Das Wort hat jetzt Gleichzeitig teile ich Ihnen mit, dass wir 38 Erklärun- der Kollege Norbert Geis von der CDU/CSU-Fraktion. gen gemäß § 31 der Geschäftsordnung zu Protokoll ge- 1) nommen haben, Ihr Einverständnis vorausgesetzt. – Vie- Norbert Geis (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine len Dank. sehr verehrten Damen und Herren! Die im Parlament ge- führte Diskussion über die Frage eines besseren Schutzes 1) Anlagen 2 bis 5 des religiösen Bekenntnisses wird in der Öffentlichkeit Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23235

Norbert Geis (A) sehr genau verfolgt. Gestern hat der Deutsche Akademi- freigesprochen, die ein Bild ausgestellt hatten, auf dem (C) kerinnen-Verband Herrn Vizepräsidenten Seiters ein eine Nonne dem Gekreuzigten unter den Lendenschurz Paket mit über 100 000 Unterschriften übergeben und da- greift. Entsprechende Anzeigen des Erzbischofs von Köln mit zum Ausdruck gebracht, dass es um einen besseren bleiben erfolglos. Die Anzeigen gegen das Theaterstück Schutz des religiösen Bekenntnisses in unserer Gesell- „Corpus Christi“ verpuffen vor dem Argument der Staats- schaft gehen muss. anwaltschaft, der öffentliche Friede sei nicht gefährdet. Art. 4 Grundgesetz gewährleistet die freie Religions- Dies hat zu der Bemerkung eines Kirchenmannes aus ausübung. Das ist nicht nur ein Abwehrrecht gegenüber den neuen Bundesländern geführt, dass so hämisch und dem Staat, sondern beinhaltet zweifellos und unbestritten widerwärtig noch nicht einmal die SED-Medien mit den auch eine Verpflichtung des Staates zur Gewährleistung christlichen Symbolen und Inhalten umgegangen seien. dieser freien Religionsausübung. Sie ist aber dann nicht Die Anzeigen von betroffenen Christen werden von der möglich, wenn diejenigen, die die Religion ausüben, stän- Staatsanwaltschaft mit dem Hinweis zurückgewiesen, der dig damit rechnen müssen, dass sie mit Häme und Hass- öffentliche Friede sei nicht gestört. In der Tat haben gefühlen konfrontiert werden. 90 Prozent aller Anzeigen aus diesem Grund keinen Er- folg gehabt. Es gilt das Wort des Sachverständigen und Strafrecht- lers Lenckner, der gesagt hat: Jeder soll nach seiner Fas- Dies führt dazu, dass die Christen im Land und die Kir- son selig werden, ohne dafür ins Abseits gestellt zu wer- chen resignieren. Viele haben das Empfinden, dass sie in den. Das ist, wie ich meine, in Deutschland nicht mehr der Deutschland ihren Glauben nicht mehr frei bekennen dür- Fall. Jedenfalls ist dies das Empfinden vieler Christen. fen, ohne dafür lächerlich gemacht und ins Abseits gestellt zu werden. Die Meinungsfreiheit soll überhaupt nicht beeinträch- tigt werden. Aber es gibt keine Meinungsfreiheit zur Be- (Wolfgang Gehrcke [PDS]: Wo lebt der denn?) schimpfung. Dies ist in der Tat das Empfinden vieler Menschen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) draußen im Land. Beide großen Kirchen unterstützen aus diesem Grund den Gesetzentwurf. Meinungsfreiheit und Beschimpfung sind nicht das Glei- che. Es gibt keine Freiheit, die Ehre des anderen, seine (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Würde zu verletzen. Es gibt keine Freiheit zur Verletzung Hans-Michael Goldmann [FDP]) der Menschenwürde und der Menschenrechte. Aber in der Aber nicht nur die Christen nehmen an dieser Situation deutschen Gesellschaft wird eine Freiheit in Anspruch ge- Anstoß. Der Rechtsdezernent des Zentralrates der Juden nommen, die sehr wohl verletzend wirkt und die auch hat in der Anhörung seine Schockierung darüber zum (B) dazu beiträgt, dass sich viele nicht mehr frei fühlen, in der Ausdruck gebracht, in welcher Weise man in Deutschland (D) Öffentlichkeit das christliche Bekenntnis tatsächlich zu mit christlichen Symbolen umgeht. Der Generalsekretär leben. Das gilt nicht für den mosaischen Glauben und den der islamischen Gemeinden hat sich in dieser Anhörung Islam. In Deutschland wird jeder, der den mosaischen gleichermaßen geäußert. Glauben oder den Islam verächtlich zu machen versucht, von der Öffentlichkeit ganz entschieden zurückgewiesen Nach meiner Auffassung liegt, rechtlich gesehen – es gibt und er hat auch mit einer starken Reaktion des Staates zu viele andere Gründe, das will ich nicht verschweigen –, ein rechnen. Darüber empfinden wir Genugtuung. Grund darin, dass im Zuge der Strafrechtsreform von 1969 das Gebot der Toleranz gegenüber den Bekenntnissen von Aber es besteht eine seltsame Schizophrenie, wenn es Religion und Weltanschauung in § 166 StGB durch den um den christlichen Glauben geht. Hier haben wir nicht Schutz des öffentlichen Friedens ersetzt wurde. Es wurde die gleiche Situation. Wir erleben immer und immer wie- ein neues Schutzgut definiert. Jetzt kann eine Beschimpfung der, wie sehr das Christentum und Symbole von Christen nur noch bestraft werden – es geht nicht um eine Ge- – nicht nur in privaten Zirkeln, nicht nur in Zeitungen mit schmacklosigkeit, es geht auch nicht um Kritik; eine Be- völlig zu vernachlässigenden Auflagen, sondern in aller schimpfung ist etwas anderes –, wenn dadurch der öffentli- Öffentlichkeit – lächerlich gemacht werden. Ich will Ih- che Friede gefährdet wird. nen ein paar Beispiele nennen: Dies war 1969 noch ziemlich eindeutig; denn damals Ungestraft darf im Hessischen Rundfunk die katholi- waren weit über 90 Prozent der Menschen in Deutschland sche Kirche als „Verbrechersyndikat“ dargestellt werden. kirchlich gebunden. Damals durfte der Gesetzgeber zwei- Die Anzeige des Bischofs von Limburg dagegen wird ab- fellos annehmen, dass eine Gefährdung des Friedens gewiesen. Unbehelligt darf der gekreuzigte Jesus Christus gleichbedeutend ist mit der Beschimpfung der christli- als „Balkensepp“ und ein anderes Mal als „Lattengustl“ in chen Religion. Heute haben wir aber eine ganz andere Si- der Öffentlichkeit beleidigt werden. Die Anzeige gegen tuation. Die Mehrheit der Deutschen ist konfessionslos ein Bild auf dem Titelblatt eines Magazins, das den ge- oder sind erklärte Atheisten. Außerdem haben wir drei kreuzigten Christus als Toilettenpapierhalter darstellt, Millionen Muslims und eine Zunahme des mosaischen hatte keinen Erfolg. Das Theaterstück „Der Vater- Glaubens. schaftsprozess des Zimmermanns Joseph“, in welchem (Christa Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der Heilige Geist als Tattergreis, der Erzengel Michael als NEN]: Das stimmt überhaupt nicht!) Schwuler und der Apostel Johannes als Hippie auftreten, kann ungestört aufgeführt werden. Entsprechende Anzei- – Frau Nickels, Sie können das nachher aus Ihrer Sicht gen bleiben erfolglos. In Köln werden zwei Galeristen darstellen. 23236 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Norbert Geis (A) Auf jeden Fall haben wir eine entschieden andere Si- Das hindert uns allerdings nicht daran, dass wir uns Ge- (C) tuation – das wird niemand bestreiten – als 1969. Der Ge- danken darüber machen, ob eine Norm im Gesetz so ste- setzgeber ist damals also von anderen Voraussetzungen hen bleiben kann. Sie ist nämlich im Grunde genommen ausgegangen. Er hat gesagt, die Störung des öffentlichen das Papier nicht wert, auf dem sie steht. Diese Norm ver- Friedens ist im Grunde gleichbedeutend mit der Verun- pufft. Deswegen haben die Grünen ja auch den Antrag ge- glimpfung; denn wenn jemand den christlichen Glauben stellt, diese Norm völlig zu streichen. Also müssen wir, verunglimpft, verunglimpft er den Glauben von über wenn wir diese Norm beibehalten wollen, uns Gedanken 90 Prozent der Deutschen. Heute ist das nicht mehr der darüber machen, wie wir sie verbessern können. Ich ver- Fall. Man mag sich über die Zahlen streiten. Ich habe trete die Auffassung, Frau Nickels, dass wir die Norm nicht nachgeforscht, ob die Zahlen, die mir genannt wor- dann verbessern, wenn wir den Toleranzgedanken wieder den sind, richtig sind. Auf jeden Fall sinkt die Zahl der als Schutzziel dieser Norm herausstellen. Christen dramatisch. Wir haben längst nicht mehr so viele Christen im Land wie 1969. Ich meine, man muss sich sehr wohl Gedanken darüber machen, ob man das strafrechtlich lösen kann. Insoweit Wenn sich diese Situation geändert hat, dann muss sich hat Herr Stünker Recht. Aber wenn Toleranz eine der Vo- natürlich auch der Gesetzgeber Gedanken darüber ma- raussetzungen für das Funktionieren einer pluralistischen chen. Er kann diese Situation nicht einfach an sich vor- Gesellschaft ist, wenn sie Voraussetzung für eine freie Ge- beigehen lassen. sellschaft ist, dann muss die freie Gesellschaft um ihrer (Joachim Stünker [SPD]: Das ist ein gefährli- selbst willen diejenigen zur Räson bringen, die diese To- ches Argument!) leranz beschädigen. Wenn sie in einem solch schweren Maß beschädigt wird, wie dies im Augenblick in Deutsch- Ich bin deshalb der Meinung, Herr Stünker, dass das alte Gebot der Toleranz sehr wohl wieder in das Gesetz auf- land immer wieder der Fall ist, dann muss die Gesell- genommen werden kann. Ich bin der Meinung, dass in ei- schaft nach meiner Auffassung mit dem schärfsten Mittel ner freiheitlichen Gesellschaft Toleranz eine der Voraus- antworten, das sie hat. Das ist das Mittel des Strafrech- setzungen dafür ist, dass sie überhaupt funktionieren tes. Das haben wir in anderen Fällen auch getan. kann. Ich bin also sehr wohl der Meinung, dass mit dem Strafrecht durchaus erreicht werden kann, dass das Tole- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kol- ranzgebot beachtet wird. Dies ist nach meiner Auffassung lege Geis, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin auch in anderen Fällen so. Warum soll es in dieser wich- Nickels? tigen Frage nicht ebenfalls so sein? Es gibt noch einen zweiten Grund. Es geht nicht nur um (B) (D) Norbert Geis (CDU/CSU): Bitte sehr. die Toleranz gegenüber dem Glaubensverständnis des Einzelnen. Es geht nicht um eine individuelle Frage, son- dern es geht auch darum, dass die Kirchen selbst in ihrer Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte Stellung nicht beschädigt werden. Insofern ist es wie- schön, Frau Nickels. derum ein verfassungsrechtliches Gebot: Der Staat ist auf- grund unseres Staatskirchenrechts zweifellos verpflichtet, Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): alles zu tun, damit die Kirchen in ihrer Stellung nicht be- Herr Kollege Geis, stimmen Sie mir zu, dass durch die schädigt werden. Steuererklärungen und auch durch amtliche Statistiken Es gibt noch einen dritten Grund. Ich meine, der Satz, zweifelsfrei belegt ist, dass in Deutschland immer noch 80 Prozent der Bevölkerung konfessionell an den christ- dass der Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht lichen Gauben gebunden sind? Es gibt Unterschiede zwi- garantieren kann, hat eine große Bedeutung. Das ist ein schen den neuen und den alten Bundesländern. Aber wenn wirklich wichtiger Satz, den Böckenförde niedergeschrie- Sie es mitteln, sind es immer noch 70 bis 80 Prozent. Das ben hat. Wenn es aber um Voraussetzungen des Staates ist meine erste Frage. geht und der Staat diese selbst nicht garantieren kann, dann brauchen wir Institutionen, die diese Voraussetzun- Zweite Frage: Stimmen Sie mir darin zu, dass es, wenn gen immer wieder erneuern, die die Bevölkerung immer man wirklich wieder Ehrfurcht vor Glauben in der Ge- wieder darauf hinweisen. Das sind unter anderem ganz sellschaft verankern will – ich stimme Ihnen zu, dass das gewiss die Kirchen. Wenn wir aber zulassen, dass die Kir- nötig ist –, doch viel wichtiger wäre, dass die vielen Chris- chen lächerlich gemacht und von der Jugend nicht mehr tinnen und Christen in einen interkulturellen Dialog mit ernst genommen werden, dann sägen wir, auf Dauer ge- sich selbst eintreten, um das Bewusstsein dafür zu schaf- sehen, an dem Ast, auf dem wir sitzen. fen, dass die Ehrfurcht vor dem Heiligen etwas ist, was eine Gesellschaft zusammenhält? Danke schön. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Norbert Geis (CDU/CSU): In der ersten Frage Hans-Michael Goldmann [FDP]) stimme ich Ihnen nicht zu. Ich habe andere Zahlen. In der zweiten Frage stimme ich Ihnen zu. Ich halte Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort dies in der Tat für wesentlich. Ich bin der Meinung, dass hat jetzt der Kollege Helmut Wilhelm von Bündnis 90/Die dadurch gegenseitige Achtung gefördert werden kann. Grünen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23237

(A) Helmut Wilhelm (Amberg) (BÜNDNIS 90/DIE bestandliche Korrektiv des öffentlichen Friedens einzu- (C) GRÜNEN): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und führen. Lassen wir es doch dabei bewenden! Kollegen! Mit ihrem Gesetzentwurf will die CDU/CSU- Selbst das Kommissariat der deutschen Bischöfe Fraktion das tatbestandliche Korrektiv in § 166 StGB, scheint von Ihrem Gesetzentwurf nicht so ganz begeistert nämlich die Worte „in einer Weise ..., die geeignet ist, den zu sein; denn mit Schreiben vom 4. Februar 2002, das öffentlichen Frieden zu stören“, gestrichen wissen. Der auch Ihnen zugegangen ist, wird vorgeschlagen, keine vorliegende Entwurf geht auf eine CSU-Initiative zurück. Streichung vorzunehmen, sondern stattdessen § 166 StGB Er hat noch in der letzten Wahlperiode im Bundesrat die lediglich um eine Definition der Störung des öffentlichen nötige Mehrheit verfehlt. Ganz zu Recht: Die vorgeschla- Friedens zu ergänzen. gene Änderung ist überflüssig; kriminalpolitisch bedeutet sie ein Zurück ins 19. Jahrhundert. (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das war ein Kom- promiss!) Nur zur Erinnerung: 1871 wurde der so genannte Got- teslästerungsparagraph im Strafgesetzbuch festgeschrie- Genau dies aber hat die Rechtsprechung getan. An dieser ben. 1969 hat ihn der Gesetzgeber unter der großen Ko- Rechtsprechung orientiert sich der Vorschlag der alition mit den Stimmen der CDU/CSU reformiert und um Bischöfe. Einer Erinnerung unserer unabhängigen und das Tatbestandsmerkmal angereichert, das die Union jetzt fachlich hoch qualifizierten Justiz an ihre eigene Recht- wieder streichen will. Dabei war 1969 allen klar: Wer – im sprechung bedarf es wohl in keiner Weise. Sinne des heutigen Unionsentwurfes: uferlos – jede Form (Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD]) zum Beispiel gotteslästerlicher Äußerungen rückhaltlos unter Strafe stellen will, verletzt das Grundgesetz; denn Vor allem aber, meine Damen und Herren von der Meinungs- und Kunstfreiheit wären dann in bedenklicher Union, empfehle ich etwas mehr Gelassenheit. Sie tun Weise tangiert, religions- und kirchenkritische Äußerun- wirklich so, als ob heutzutage jede Beschimpfung reli- gen nahezu verboten. giöser Bekenntnisse oder jede Störung der Religionsaus- übung vom Gesetzgeber geduldet würde. Das ist doch Will man als Strafgesetzgeber in diesem Bereich über- nicht so. Wer in einer Kirche unerlaubte Nacktaufnahmen haupt reagieren, so braucht man deshalb tatbestandliche macht, macht sich nach § 167 StGB wegen Störung der Korrektive. Bei § 166 ist dies die Eignung zur Störung Religionsausübung strafbar. Wer zum Beispiel ein des öffentlichen Friedens. Würden wir an dieser notwen- Schwein ans Kreuz nagelt und dieses Bild im Internet ver- digen Strafbarkeitsschwelle nicht festhalten, könnten wir breitet, der ist nach § 166 Strafgesetzbuch strafbar. gleich ein Gesetz zur Bekämpfung sämtlicher Ge- (Norbert Geis [CDU/CSU]: Eben nicht! – Jörg schmacklosigkeiten auf den Weg bringen. van Essen [FDP]: Nein!) (B) Den Strafrichtern an den Gerichten täten wir damit So urteilt die Rechtsprechung. Der Vollständigkeit halber: (D) wohl kaum einen Gefallen, müssten sie doch künftig auch Manche Fälle erfüllen auch den Tatbestand der Volksver- Verfassungsrichter spielen. In jedem Einzelfall wäre zu hetzung oder den der Beleidigung. Die Vorschrift des gel- prüfen, ob Meinungs- oder Kunstfreiheit nicht höherwer- tenden § 166 StGB ist also keinesfalls zu eng gefasst. tig einzuschätzen ist. Dann könnte genau das passieren, was auch Sie von der Union nicht wollen können: So Wenn eine geschmacklose Aktion einmal nicht straf- manche geschmacklose Aktivität würde quasi per Rich- rechtlich geahndet werden kann, dann führt auch das noch terspruch überregional publiziert und damit hoffähig ge- lange nicht zum Untergang des Abendlandes. Das sage ich macht. Schlimmer noch: Jedes Sich-betroffen-Fühlen ul- nur zur Klarstellung. trareligiöser und religiös-fanatischer Gruppierungen (Beifall der Abg. Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/ – unter denen gibt es auch in christlichen Kreisen so ei- DIE GRÜNEN] – Norbert Geis [CDU/CSU]: nige; ich will hier keine Namen nennen – könnte dann zur Darum geht es ja nicht!) Veranlassung strafrechtlicher Verfolgung führen. Jetzt ist geschütztes Rechtsgut der öffentliche Frieden in seiner re- Auch ich will nicht, dass religiöse Gefühle anderer ver- ligiösen und weltanschaulichen Ausprägung durch den letzt werden. Aber für Toleranz ist das Strafrecht wohl Toleranzgedanken; aber würde man Ihrem Antrag folgen, kaum das geeignete Mittel. wäre geschütztes Rechtsgut nicht etwa das Toleranzgebot, Meine Damen und Herren von der Union, ich bin wirk- sondern, wie schon vor 1969, das wie auch immer gear- lich überzeugt, dass Sie diese Gesetzesänderung gar nicht tete religiöse oder weltanschauliche Bekenntnis anderer, ernsthaft wollen, sei es das einer Kirche, Religionsgemeinschaft oder Welt- anschauungsvereinigung sowie einer losen Gemein- (Ilse Falk [CDU/CSU]: Das ist aber eine Un- schaft, aber selbst das eines Einzelnen. So ist es nachzu- terstellung!) lesen bei Schwarz Dreher, Kommentar zum StGB, sondern recht glücklich sind, wenn Ihr Gesetzentwurf in 31. Auflage oder älter, also aus meiner lange zurücklie- einigen Minuten abgelehnt wird. Seien Sie doch ehrlich: genden Studienzeit. Manchmal lohnt es sich, alte Bücher Er dient letztendlich nur der Akquisition von Wähler- aufzubewahren. Sie können es auch in Creifelds’„Rechts- schichten mit extrem religiösem Sendungsbewusstsein. wörterbuch“ unter „Religionsvergehen“ nachlesen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, das kön- und bei der SPD – Widerspruch bei der nen Sie doch nicht ernsthaft wollen. Ihre Amtsvorgänger CDU/CSU – Johannes Singhammer [CDU/ waren im Jahre 1969 bestens beraten, dem damaligen CSU]: Das war ein besonders „sachliches“ Ar- Ersten Strafrechtsreformgesetz zuzustimmen und das tat- gument!) 23238 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort Presse zu lesen ist; man hat kein Interesse für Kunst und (C) hat jetzt der Kollege Jörg van Essen von der FDP-Frak- all die anderen Dinge. Das Ergebnis ist, dass es sich die tion. Kollegen im Regelfall leicht machen und mit der Mei- nungs- oder Kunstfreiheit arbeiten. Jörg van Essen (FDP): Herr Präsident! Meine Da- Von daher sehen wir als Liberale nach der Diskussion men und Herren! Ich stelle zunächst einmal grundsätzlich in unserer Fraktion durchaus Handlungsbedarf. fest, dass wir eine sehr viel ernsthaftere Debatte als in der ersten Lesung haben. Insbesondere ist mir aufgefallen, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Herr Stünker, dass Sie diesmal andere Worte gewählt ha- Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen von der ben, die dem Thema sehr viel angemessener sind. CDU/CSU um Nachsicht, dass wir trotzdem nicht zu- (Joachim Stünker [SPD]: Sie haben meine erste stimmen werden, weil wir in der Anhörung gehört haben, Rede dazu nicht nachgelesen, glaube ich!) dass das, was von Ihnen vorgeschlagen worden ist, und auch das, was als Kompromissvorschlag in die Diskus- – Ich habe sie nicht nur nachgelesen, sondern ich war so- sion eingebracht worden ist, nicht wirklich hilft. Um die gar anwesend, als Sie geredet haben. Abwägung, die ich gerade beschrieben habe, kommen wir (Joachim Stünker [SPD]: Dann haben Sie nämlich nicht herum, egal, wie der jeweilige Straftatbe- nicht zugehört!) stand ausgestaltet ist. Ich war über den Ton entsetzt, den Sie damals angeschla- (Dr. Edzard Schmidt-Jortzig [FDP]: Leider gen haben. wahr!) Wer eine wirkliche Lagebeschreibung vornehmen will, – Es ist leider wahr, Edzard Schmidt-Jortzig sagt es. der muss feststellen, dass manches, was der Kollege Geis Von daher wird das Übel, das ich gerade beschrieben hinsichtlich der Situation von Christen in unserem Lande habe, nicht beseitigt, egal, welche Änderung wir auch im- gesagt hat, so nicht zutrifft. Christen sind bei uns keine mer vornehmen. Deshalb haben wir – das muss, wie ich verfolgte Minderheit. finde, ehrlich festgestellt werden – bisher keinen wirklich (Christa Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- vernünftigen Weg gefunden, wie wir diesem Übel beikom- NEN]: Richtig!) men können. Ich bitte um Nachsicht, dass eine Rechts- staatspartei wie die FDP nur einer Lösung zustimmen kann, Das ist auch gut so. Ich selbst bin praktizierender Katho- die einem aufgezeigten Problem Abhilfe verschafft. lik und kann nicht feststellen, dass ich irgendwelche Nachteile dadurch zu erleiden oder zu befürchten habe. Es hilft nichts, dass wir suggerieren, wir hätten eine (B) Gesetzesänderung herbeigeführt, die zu einer neuen Si- (D) (Beifall des Abg. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig tuation und zu einem notwendigen, besseren Schutz der [FDP] sowie bei Abgeordneten der SPD und christlichen Kirchen und der religiös überzeugten Men- der Abg. Christa Nickels [BÜNDNIS 90/DIE schen in unserem Lande – das will ich noch einmal unter- GRÜNEN]) streichen – führen wird. Deshalb werden wir uns bei der Wir sollten als Christen auch selbstbewusst sein und uns Abstimmung enthalten. Wir wollen damit das Signal set- nicht in eine Situation hineinreden, in der wir in diesem zen, dass sich zwar etwas ändern muss, wir bisher aber Land Gott sei Dank nicht sind. Das scheint mir wichtig zu noch nicht den richtigen Weg gefunden haben. sein. Vielen Dank. Aber gerade als Liberaler – ich habe schon in meiner (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Rede zur ersten Lesung gesagt, wie wichtig mir das Tole- der CDU/CSU) ranzgebot des Grundgesetzes ist – nehme ich Anstoß an manchem, was wir in diesem Bereich gegen den christ- lichen Glauben und gegen die Kirchen erleben. Sie wis- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort sen, dass ich aus dem Justizbereich komme. Ich weiß da- hat jetzt der Kollege Dr. Heinrich Fink von der PDS-Frak- her, dass bei der notwendigen Abwägung zwischen tion. verschiedenen Verfassungspositionen – Freiheit der Re- ligion auf der einen Seite und Meinungs- und Kunstfrei- Dr. Heinrich Fink (PDS): Verehrter Herr Präsident! heit auf der anderen Seite – meine staatsanwaltschaft- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir befinden uns in ei- lichen Kollegen immer sehr schnell zur Meinungs- und ner ernsthaften Debatte, die nach einer gesellschaftlichen Kunstfreiheit neigten. Das ist auch einfacher. Wer es Veränderung fragt, nämlich nach der Veränderung im wagt, anzuklagen, sieht sich sehr schnell in vielen Zei- Umgang der Menschen miteinander. Wir machen im Au- tungen angegriffen. Wer einstellt, ruft Gegrummel bei de- genblick deutlich, dass wir diese Veränderung brauchen. nen, die eine Anzeige erstattet haben, hervor und findet Ärger bei den Kirchen. Das hat aber längst nicht die Wir- Ich bin mir nicht sicher, ob Christen wirklich mehr dis- kung wie der öffentliche Angriff, dem man sich ausgesetzt kriminiert werden als bisher. Ich bin mir aber auch nicht si- sieht, wenn man es wagt, in diesen Fällen anzuklagen und cher, ob das vorgeschlagene Strafrechtsänderungsgesetz es zu einem öffentlichen Prozess kommen zu lassen. wirklich einer Stärkung der Toleranz dienlich ist. Tole- Wenn man das tut, ist man ultrakonservativ, ein christ- ranz beginnt erst, wenn es uns gelingt, ertragen zu können, licher Radikaler – oder was auch immer als Vorwurf in der was uns persönlich schmerzt. Wir müssen uns damit ausei- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23239

Dr. Heinrich Fink (A) nander setzen. Kinder sollten dazu erzogen werden. Letzt- biger Mensch persönlich angegriffen und der öffentliche (C) endlich trägt die Erziehung der Kinder zu Toleranz zum Friede nicht gestört wird. Kennenlernen des anderen bei. Gegenrede und Streit müs- Wir leben in einem per Grundgesetz säkularisierten sen möglich sein. Die Auseinandersetzung sollte aber nicht Staat, in dem übrigens laut jüngster Shell-Studie nur noch mit dem Strafgesetzbuch in der Hand geführt werden. 17 Prozent der Jugend religiös orientiert sind. Wer immer Natürlich fragen wir, ob Tucholsky Recht hat, wenn er diesen Prozentsatz wieder steigern will, sollte es nicht mit fragt, wie weit Satire gehen darf, und er antwortet, dass Verboten tun. Toleranz kann immer nur durch Toleranz Satire alles darf. Ich meine, der Deutsche Bundestag sollte gefördert werden, niemals durch Strafe. nicht hinter Tucholsky zurückgehen. Aber auch die Kari- Die PDS-Fraktion wird dem vorliegenden Gesetzent- katur „Christus mit der Gasmaske“ von George Grosz war wurf nicht zustimmen. letztendlich eine Demonstration der Freiheit gegen den Krieg. Müssen wir am Ende dem Todesurteil gegen Dante (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten mit Verständnis begegnen? Schließlich konnten auch der SPD) seine Richter geltend machen, dass er in seiner „Gött- lichen Komödie“ die religiösen Gefühle der Menschen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort verunglimpft hat. hat jetzt der Kollege Alfred Hartenbach von der SPD- Um es noch weiter zuzuspitzen – der Kollege Stünker Fraktion. hat es schon gesagt –: Könnten wir, wenn wir unser Straf- recht wie vorgeschlagen ändern würden und es in Alfred Hartenbach (SPD): Herr Präsident! Verehrte Deutschland zu einem Fall Rushdie käme, ihm eigentlich Kolleginnen und Kollegen! Im Evangelium nach Markus, Asyl gewähren? Kap. 2 Vers 23 bis 28 findet sich folgende Stelle: (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist doch ganz An einem Sabbat ging er was anderes! – Zuruf von der FDP: Ja, klar doch!) – der Herr – Schließlich ist es unzweifelhaft, dass der Dichter durch die Kornfelder und unterwegs rissen seine religiöse Gefühle verletzt hat. Dies waren und sind aller- Jünger Ähren ab. Da sagten die Pharisäer zu ihm: dings Gefühle von Moslems. Wenn denjenigen, die Sieh dir an, was sie tun! Das ist doch am Sabbat ver- diesen Gesetzentwurf eingebracht haben, deren verletzte boten. Er antwortete: Habt ihr nie gelesen, was religiöse Gefühle ebenso viel wie die von Christen David getan hat, als er und seine Begleiter hungrig bedeuten, dann gehörten nicht nur das in Baden-Würt- waren und nichts zu essen hatten – wie er ... in das (B) temberg als Skandalstück wahrgenommene „Corpus Haus Gottes ging und die heiligen Brote aß, die außer (D) Christi“, sondern auch die „Satanischen Verse“ von den Priestern niemand essen darf, und auch seinen Rushdie inkriminiert. Begleitern davon gab? Und Jesus fügte hinzu: Der Sabbat ist für den Menschen da und nicht der Mensch (Joachim Stünker [SPD]: So ist es!) für den Sabbat. Allerdings ist der Tatbestand Gotteslästerung in der Ich sage: Kirche, Glauben und Weltanschauung sind Bundesrepublik 1969 glücklicherweise abgeschafft wor- für die Menschen da und nicht die Menschen für Kirche, den. Dies war vernünftig. Ich halte es hier mit , Glauben und Weltanschauung. der meinte: Ein Gotteslästerer kann eigentlich nur jemand sein, der an Gott glaubt. – Wir sind hier gehalten, eine Gü- (Monika Brudlewsky [CDU/CSU]: Der Ver- terabwägung zwischen dem Toleranzgebot und der Frei- gleich hinkt aber gewaltig!) heit der Kunst vorzunehmen. Ich bin überzeugt: Letzteres Diese harmlose Äußerung von Jesus damals – – wiegt schwerer. (Norbert Geis [CDU/CSU]: Die war nicht Das vor wenigen Monaten auch hierzulande stark an- harmlos!) gegriffene Plakat zu dem Film „Stellvertreter“ von Costa- Gavras, das eine symbolische Verschränkung von Kreuz – Herr Geis, ich habe bei diesem Thema, das Ihnen sehr und Hakenkreuz zeigte, zog in Frankreich eine Klage von ernst ist, ganz bewusst auf Zurufe verzichtet. Wenn Sie Katholiken nach sich, die bis vor das oberste Gericht ging. dokumentieren wollen, dass Sie das Thema ernst nehmen, Dort wurde sie aber mit der Begründung abgewiesen, dass wäre es vielleicht ein vornehmes Gebot, ebenfalls auf Zu- der Papst selbst ja bedauert habe, dass das damalige rufe zu verzichten. Schweigen der katholischen Kirche zum Judenmord (Norbert Geis [CDU/CSU]: Ich habe nur ge- während der Nazizeit ein nicht wieder gutzumachender sagt: Die Äußerungen von Jesus Christus waren Fehler gewesen sei. nicht harmlos!) Ich könnte jetzt auf einen neuen Skandal hinweisen: Diese harmlosen Äußerungen damals haben dazu ge- auf den von Haderer. Er wurde ja schon angesprochen. führt, dass Jesus vor den Hohen Rat gezerrt wurde, man Trotzdem kann meine Schlussfolgerung nur lauten: ihn dort der Gotteslästerung bezichtigte und er schließ- Wer immer es für geboten hält, sich mit einem Kunstwerk lich von Pilatus zum Tode verurteilt wurde. Ich führe dies oder mit dem, was sich dafür hält, auseinander zu setzen, an, um zu zeigen, wohin es gehen kann, wenn man die sollte dies im öffentlichen Diskurs tun, solange kein gläu- Religion zu sehr in den Vordergrund stellt. Ich denke, 23240 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Alfred Hartenbach (A) dass wir als Christen – ich zähle mich dazu – heute genau Menschen vorzugehen, die nichts Böses im Sinn gehabt (C) das bei dem von der CDU/CSU vorgelegten Gesetzent- haben. wurf betrachten und beachten müssen. § 166 StGB, so (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das wollen wir ja wie wir ihn jetzt haben, schützt das religiöse und weltan- auch nicht!) schauliche Bekenntnis in ausreichendem Maße. Es ist nicht erforderlich, dass jede öffentliche Äußerung, die Ich gehe davon aus, dass es in der Tat so ist, wie es Herr man als Verunglimpfung ansehen könnte, auch gleich Wilhelm gesagt hat: dass Sie hier eine bestimmte Klientel strafbar ist. ansprechen wollen. Wie ist das zum Beispiel mit den deftigen bayerischen (Norbert Geis [CDU/CSU]: Bagatellisieren Flüchen, Herr Singhammer, Herr Geis, wenn denn der Sie doch nicht, Herr Hartenbach! Es ist furcht- Schutz des öffentlichen Friedens entfällt? Muss man bar!) nicht auch dann den Staatsanwalt rufen? Oder wie ist es Ich darf Ihnen, verehrter Kollege Geis, und den Kolle- denn, wenn sich ein Kunstwerk ernsthaft mit Religion ginnen und Kollegen der CDU/CSU zum Schluss ganz auseinander setzt? Bisher war es doch so, dass nicht nur freundlich zurufen: Ich hoffe, ich muss hier nicht ein wei- das eigene Empfinden, sondern auch der öffentliche Frie- teres Zitat einer Aussage von Jesus Christus anwenden. den gestört sein musste. Das war das Korrektiv dafür, dass es eben nicht nur auf die Empfindung des Einzelnen (Norbert Geis [CDU/CSU]: Nehmen Sie Jesus ankam, sondern darauf, wie weit hier der öffentliche Christus nicht als Zeugen!) Frieden gestört ist. Von daher bekommt auch wieder das Ich sage es trotzdem: Herr, vergib Ihnen, denn sie wissen Wort vom Sabbat, das ich eben gesagt habe, diese Be- nicht, was sie tun. deutung: Der Sabbat ist für den Menschen da und nicht der Mensch für den Sabbat. Oder sagen wir es doch mit (Beifall bei der SPD – Norbert Geis [CDU/ einfachen Worten: Lassen wir die Kirche im Dorf! CSU]: So etwas Beleidigendes habe ich noch nicht gehört!) Lassen Sie mich noch etwas anführen. Geschützt von §166 StGB ist nicht nur die Religion, das religiöse Emp- finden, sondern auch die Weltanschauung. Vizepräsidentin Petra Bläss: Letzter Redner in die- ser Debatte ist der Kollege Johannes Singhammer für die (Norbert Geis [CDU/CSU]: Richtig!) Fraktion der CDU/CSU. Dazu gehört zum Beispiel ganz einfach auch das Empfin- den eines Atheisten. Wenn Sie hier die Schutzfunktion der Johannes Singhammer (CDU/CSU): Frau Präsi- (B) Störung des öffentlichen Friedens herausnehmen, müssen dentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Worum (D) Sie, so meine ich, mit manchen Worten sehr, sehr vor- geht es? Es geht um massivste Angriffe und Verhöhnun- sichtig umgehen. Zur Weltanschauung gehört auch, was gen von religiösen Symbolen und Glaubensinhalten in politische Parteien machen. Da möchte ich Sie, verehrter Wort, Schrift und Bild, die zugenommen haben und die Kollege Geis – ich mache das bewusst mit großer Ernst- jegliches Maß an Toleranz und Achtung vor den Über- haftigkeit –, daran erinnern, wie Sie mit uns umgesprun- zeugungen anderer vermissen lassen. Das ist der Punkt. gen sind, als wir das Lebenspartnerschaftsgesetz damals im Rechtsausschuss beraten haben. Damals hat uns der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Kollege Geis als „ehrlos“ bezeichnet, er hat das wieder- Davon betroffen sind insbesondere christliche Bekennt- holt und hat sogar Frau von Renesse als „ehrlos“ bezeich- nisse. Millionen von Mitgliedern fühlen sich verächtlich net. Hätte man damals Ihr Gesetz angewandt, hätten Sie gemacht, geschmäht und vom Staat nicht mehr ausrei- sich strafbar gemacht. Natürlich waren Sie durch die In- chend geschützt. demnität geschützt. Beispiele gibt es doch genug: Im Internet werden (Norbert Geis [CDU/CSU]: Wir haben doch T-Shirts angeboten, auf denen ein ans Kreuz genageltes alle selber Jura studiert!) Schwein mit der Aufschrift „Wieso“ zu sehen ist. Die Sie sehen daraus, dass wir uns auch weiterhin zurück- Staatsanwaltschaft Regensburg stellt ein Ermittlungsver- halten sollten, wenn wir den Religionsfrieden schützen fahren ein, weil die gesetzlichen Voraussetzungen für eine wollen. Straftat nicht erfüllt sind. Da wird ein Theaterstück mit dem Titel „Die Zwerge vom Berge“ aufgeführt, in dem Je- (V o r s i t z : Vizepräsidentin Petra Bläss) sus sturzbetrunken am Kreuze hängt, die Schar der Jünger Wir schützen das religiöse Empfinden ausreichend, aber als verrückt dargestellt wird und die Kirche als Irrenan- wir wollen es nicht übertreiben. Wir würden es übertrei- stalt erscheint. Das Oberlandesgericht hat ben und würden die Kirche und die Weltanschauung keine Schutzmöglichkeit gesehen. überhöhen, wenn wir heute Ihrem Gesetz zustimmen Um diese schwerwiegendsten Angriffe geht es, nicht würden. Ich meine, dass wir bisher, auch was die Recht- um die Beeinträchtigung der Kunst- und Meinungsfrei- sprechung zeigt – Herr Wilhelm hat es eben angeführt –, heit. immer wieder ausreichenden Schutz von Glaube, Reli- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gion und Weltanschauung gehabt haben. Wenn Sie die Störung des öffentlichen Friedens herausnehmen, veran- Es geht nicht um den guten Geschmack und es geht lassen Sie Amtsrichter und Staatsanwälte dazu, gegen auch nicht darum, die Äußerungen von Satire, Ironie oder Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23241

Johannes Singhammer (A) Meinungsfreiheit einzuschränken. Vielmehr geht es um Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – (C) massivste Angriffe und Attacken. Immer mehr Menschen Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- in Deutschland, denen ihre eigene religiöse Überzeugung entwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen wichtig ist, die aber genauso Respekt und Toleranz ge- von CDU/CSU bei Enthaltung der FDP-Fraktion abge- genüber den Überzeugungen anderer haben, fühlen sich lehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die vogelfrei. Empört und betroffen reagieren Bürgerinnen weitere Beratung. und Bürger, aber auch kirchliche Stellen oftmals mit Strafanzeigen, Eingaben und Beschwerden, die meist völ- Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf: lig wirkungslos bleiben. Jeder, der ein bisschen weiter denkt, weiß doch, dass nicht nur christliche Konfessionen, – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen sondern auch andere Religionen vor diesen massivsten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Attacken auf Dauer nicht geschützt sind. NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des Stiftungsrechts Der fortwährende Tabubruch verändert schwerwie- gend nicht nur das Gespür für die Grenzen des Zumutba- – Drucksache 14/8277 – ren, sondern provoziert seinerseits immer zügellosere, (Erste Beratung 221. Sitzung) schlimmere Übergriffe, weil immer nur noch der Gehör findet, der einem Tabubruch noch eins draufsetzt. – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zur Modernisierung des Stiftungsrechts Ich weiß – auch das hat die Debatte ergeben –, dass – Drucksache 14/8765 – nicht alle die Notwendigkeit einer Gesetzesänderung ein- (Erste Beratung 230. Sitzung) sehen. Ich bitte aber alle, doch Folgendes zu bedenken: Anders als vor 20, 30 oder 40 Jahren leben heute in – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- Deutschland mehr Religionsgemeinschaften, mehr Men- neten Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Rainer schen unterschiedlichster Bekenntnisse zusammen. Des- Funke, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, weiteren Ab- halb wachsen auch die Anforderungen an Respekt, an geordneten und der Fraktion der FDP eingebrach- wechselseitige Rücksichtnahme und vor allem an gegen- ten Entwurfs eines Gesetzes für eine Reform des seitige Toleranz. Wir brauchen in den kommenden Jahren Stiftungszivilrechts (Stiftungsrechtsreformgesetz) nicht weniger, sondern mehr Toleranz. Deshalb wirken blasphemische Angriffe zerstörerischer und gefährlicher – Drucksache 14/5811 – als früher. (Erste Beratung 173. Sitzung) (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- schusses (6. Ausschuss) Auch deshalb brauchen wir eine staatliche Stärkung des Toleranzgebotes. Zu Recht haben deshalb in der – Drucksache 14/8894 – Anhörung des Deutschen Bundestages, die schon zitiert Berichterstattung: worden ist, die Vertreter der katholischen Kirche, die Ver- Abgeordnete Alfred Hartenbach treter der evangelischen Kirche, die Vertreter des Zentral- Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten rates der Juden und auch die islamische Seite einmütig für Dr. Antje Vollmer einen wirksameren Schutz plädiert. Dahinter verbirgt sich Rainer Funke nicht engstirnige Kirchen- und Religionspolitik, sondern Dr. Evelyn Kenzler eben die große Sorge, dass das Zusammenleben vergiftet Zum Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und des wird, wenn Verhöhnung und Beschimpfung religiöser Bündnisses 90/Die Grünen zur Modernisierung des Stif- Überzeugungen als gesellschaftlich akzeptiert erscheinen. tungsrechts liegen ein Entschließungsantrag der Fraktio- (Beifall bei der CDU/CSU) nen der SPD, der CDU/CSU und des Bündnisses 90/Die Grünen sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion der Unser Gesetzentwurf beschneidet weder Meinungs- PDS vor. noch Kunstfreiheit. Unser Gesetzentwurf wirkt Bewusst- sein bildend für Toleranz und gegenseitigen Respekt. Un- Die Kolleginnen und Kollegen Alfred Hartenbach, ser Gesetzentwurf schützt den inneren Frieden in unserem Freiherr von Stetten, Antje Vollmer, Rainer Funke, Land, und das brauchen wir dringend. Heinrich Fink sowie der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Eckhart Pick haben ihre Reden zu Protokoll gege- (Beifall bei der CDU/CSU) ben.1) – Ich sehe keinen Widerspruch im Hause. Deshalb kommen wir sofort zur Abstimmung, und Vizepräsidentin Petra Bläss: Ich schließe die Aus- zwar zuerst über den von den Fraktionen der SPD und des sprache. Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf Wir kommen zur Abstimmung über den von der Frak- zur Modernisierung des Stiftungsrechts. Es handelt sich tion der CDU/CSU eingebrachten Entwurf eines Straf- um die Drucksache 14/8277. Der Rechtsausschuss rechtsänderungsgesetzes auf Drucksache 14/4558. Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/8379, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem 1) Anlage 6 23242 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Vizepräsidentin Petra Bläss (A) empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung ächten – Minenräum- und Minenopferhilfe (C) auf Drucksache 14/8894, den Gesetzentwurf in der Aus- deutlich erhöhen schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem – Drucksache 14/8654 – Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wol- len, um das Handzeichen. – Gegenprobe! – Enthaltun- Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) gen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung Verteidigungsausschuss gegen die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen. Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Wir kommen jetzt zur Entwicklung dritten Beratung ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ge- Ernstberger, Uta Zapf, Rainer Arnold, weiterer setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegen- Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie probe! – Enthaltungen? – Keine. Der Gesetzentwurf ist da- der Abgeordneten Angelika Beer, Rita mit gegen die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen. Grießhaber, Dr. Helmut Lippelt, weiterer Abge- Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschlie- ordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ ßungsantrag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU DIE GRÜNEN und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksa- Für eine Weiterentwicklung der humanitären che 14/8926. Wer stimmt für diesen Entschließungsan- Rüstungskontrolle bei Landminen trag? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Entschlie- – Drucksache 14/8858 – ßungsantrag ist mit den Stimmen des gesamten Hauses angenommen. Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent- Verteidigungsausschuss schließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksa- Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und che 14/8923. Wer stimmt für diesen Entschließungsan- Entwicklung trag? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Entschlie- ßungsantrag ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion ab- Die Kolleginnen und Kollegen Hans-Dirk Bierling, gelehnt. Uta Zapf, Dr. Klaus Kinkel, Angelika Beer, Heidi Lippmann sowie Vera Wohlleben haben ihre Reden zu Jetzt kommen wir zur Beschlussempfehlung des Protokoll gegeben.1) – Auch hierzu gibt es keinen Wider- Rechtsausschusses auf Drucksache 14/8894 zu dem von spruch im Hause. der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur (B) Modernisierung des Stiftungsrechts. Der Ausschuss emp- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf (D) fiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung, den den Drucksachen 14/8654 und 14/8858 an die in der Ta- Gesetzentwurf auf Drucksache 14/8765 für erledigt zu er- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. klären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge- Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann genprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung sind die Überweisungen so beschlossen. ist einstimmig angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b auf: Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den Gesetz- entwurf der Fraktion der FDP für eine Reform des a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Stiftungszivilrechts auf Drucksache 14/5811. Der Rechts- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschluss- zur Einführung des Völkerstrafgesetzbuches empfehlung auf Drucksache 14/8894, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf – Drucksache 14/8524 – zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt (Erste Beratung 228. Sitzung) dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- in zweiter Beratung gegen die Stimmen der FDP-Fraktion schusses (6. Ausschuss) bei Enthaltung der CDU/CSU abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. – Drucksache 14/8892 – Berichterstattung: Ich rufe Tagesordnungpunkt 10 sowie Zusatzpunkt 7 Abgeordnete Dr. Jürgen Meyer (Ulm) auf: Dr. Norbert Röttgen Volker Beck (Köln) 10. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Klaus Jörg van Essen Kinkel, Dr. Helmut Haussmann, Günther Friedrich Dr. Evelyn Kenzler Nolting, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP sowie der Abgeordneten Hans-Dirk b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Bierling, Dr. Wolfgang Bötsch, Monika Brudlewsky, regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ zur Ausführung des Römischen Statuts des CSU Landminen ohne integierte Selbstneutralisie- rungs- oder Selbstzerstörungsmechanismen 1) Anlage 7 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23243

Vizepräsidentin Petra Bläss (A) Internationalen Strafgerichtshofes vom 17. Juli führung des Römischen Statuts des Internationalen Straf- (C) 1998 gerichtshofes vom 17. Juli 1998, Drucksachen 14/8527 – Drucksache 14/8527 – und 14/8888. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das (Erste Beratung 228. Sitzung) Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung schusses (6. Ausschuss) einstimmig angenommen. – Drucksache 14/8888 – Wir kommen jetzt zur Berichterstattung: dritten Beratung Abgeordnete Dr. Jürgen Meyer (Ulm) Dr. Norbert Röttgen und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Volker Beck (Köln) Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge- Jörg van Essen genprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist ein- Dr. Evelyn Kenzler stimmig angenommen. Zum Gesetzentwurf zur Einführung des Völkerstrafge- Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 12 a bis c auf: setzbuches liegen ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU und ein Entschließungsantrag der Fraktion der a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- PDS vor. neten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Dirk Fischer Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (Hamburg), Dr.-Ing. Dietmar Kansy, weiteren Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei- Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU nen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- rung des Gesetzes über die Untersuchung von See- Da jedoch alle Kolleginnen und Kollegen ihre Reden unfällen (Seeunfalluntersuchungsänderungs- zu Protokoll gegeben haben – die Namen werden im Pro- gesetz – SeeUÄndG) tokoll nachzulesen sein1) –, kommen wir sofort zu den Ab- – Drucksache 14/8108 – stimmungen. (Erste Beratung 218. Sitzung) Ich lasse nun über den von der Bundesregierung ein- gebrachten Gesetzentwurf zur Einführung des Völker- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- strafgesetzbuches in der Ausschussfassung abstimmen, ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Drucksachen 14/8524 und 14/8892. Es liegt ein Ände- (15. Ausschuss) (B) rungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor, über den wir – Drucksache 14/8707 – (D) zuerst abstimmen werden. Wer stimmt für den Ände- Berichterstattung: rungsantrag auf Drucksache 14/8919? – Wer stimmt da- Abgeordnete Annette Faße gegen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist gegen Wolfgang Börnsen (Bönstrup) die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion bei Enthaltung der Helmut Wilhelm (Amberg) PDS abgelehnt. Hans-Michael Goldmann Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Dr. Winfried Wolf Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei- chen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh- angenommen. nungswesen (15. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Wir kommen jetzt zur Dirk Fischer (Hamburg), Dr.-Ing. Dietmar Kansy, dritten Beratung weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Bildung einer Leitstelle für See- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem sicherheit Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer – Drucksachen 14/5450, 14/8611 – stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des gesamten Hauses angenommen. Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Jetzt stimmen wir über den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/8924 ab. Wer stimmt c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Reinhold für diesen Entschließungsantrag? – Gegenprobe! – Gibt Hiller (Lübeck), Reinhard Weis (Stendal), Petra es Enthaltungen? – Das ist nicht der Fall. Der Ent- Bierwirth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion schließungsantrag ist gegen die Stimmen der PDS-Frak- der SPD, der Abgeordneten Renate Blank, Wolfgang tion abgelehnt. Börnsen (Bönstrup), Georg Brunnhuber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU, der Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den von der Abgeordneten Gila Altmann (Aurich), Franziska Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Aus- Eichstädt-Bohlig, Albert Schmidt (Hitzhofen), wei- terer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten 1) Anlage 8 Horst Friedrich (Bayreuth), Hans-Michael 23244 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Vizepräsidentin Petra Bläss (A) Goldmann, Dr. Karlheinz Guttmacher, Dr. Wolfgang Berichterstattung: (C) Gerhardt und der Fraktion der FDP Abgeordnete Dr. R. Werner Schuster Maritime Sicherheit auf der Ostsee Klaus-Jürgen Hedrich Hans-Christian Ströbele – Drucksache 14/8855 – Joachim Günther (Plauen) Auch hier bekomme ich das Signal, dass alle Redne- Carsten Hübner rinnen und Redner ihre Reden zu Protokoll gegeben ha- ben: Annette Faße, Reinhold Hiller (Lübeck), Wolfgang c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Börnsen (Bönstrup), Helmut Wilhelm (Amberg), richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam- Hans-Michael Goldmann sowie Dr. Winfried Wolf.1) menarbeit und Entwicklung (20. Ausschuss) Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entwurf – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. R. Werner eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Un- Schuster, Brigitte Adler, Ingrid Becker-Inglau, tersuchung von Seeunfällen der Fraktion der CDU/CSU weiterer Abgeordneter und der Fraktion der auf Drucksache 14/8108. Der Ausschuss für Verkehr, SPD sowie der Abgeordneten Dr. Angelika Bau- und Wohnungswesen empfiehlt auf Drucksache Köster-Loßack, Hans-Christian Ströbele, 14/8707, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte dieje- Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und der nigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält NEN sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung EU-AKP-Zusammenarbeit – bewährte gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP bei Enthal- Partnerschaft mit großer Zukunft tung der PDS abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Ge- – zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU schäftsordnung die weitere Beratung. Reform der EU-Entwicklungszusammen- Jetzt kommen wir zur Abstimmung über die Beschluss- arbeit ist bislang Stückwerk und muss kon- empfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh- sequent vorangetrieben werden nungswesen auf Drucksache 14/8611 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel: „Bildung einer Leit- – Drucksachen 14/3396, 14/3771, 14/8617 – stelle für Seesicherheit“. Der Ausschuss empfiehlt, den An- Berichterstattung: trag auf Drucksache 14/5450 abzulehnen. Wer stimmt für Abgeordnete Detlef Dzembritzki diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltun- Dr. Ralf Brauksiepe gen? – Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen Angelika Köster-Loßack von CDU/CSU bei Enthaltung der FDP angenommen. Joachim Günther (Plauen) (B) Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den Antrag der Carsten Hübner (D) Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/ Die Grünen und der FDP mit dem Titel: „Maritime d) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Sicherheit auf der Ostsee“. Wer stimmt für den Antrag auf Dr. Helmut Haussmann, Ulrich Irmer, Joachim Drucksache 14/8855? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Günther (Plauen), weiterer Abgeordneter und der Der Antrag ist einstimmig angenommen. Fraktion der FDP Afrikapolitik der Bundesregierung Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a bis 13 d sowie – Drucksachen 14/4181, 14/5582 – den Zusatzpunkt 8 auf: ZP 8 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Reinhold richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- Hemker, Adelheid Tröscher, Brigitte Adler, weite- schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Monika Knoche, Dr. Angelika Dr. Helmut Haussmann, Ulrich Irmer, Joachim Köster-Loßack, Hans-Christian Ströbele, weiterer Günther (Plauen), weiterer Abgeordneter und der Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- Fraktion der FDP SES 90/DIE GRÜNEN Für eine europäische Ausrichtung der deut- Afrikas neues Denken unterstützen schen Afrikapolitik – Drucksache 14/8859 – – Drucksachen 14/5090, 14/8849 – Berichterstattung: b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Abgeordnete Joachim Tappe richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam- Carl-Dieter Spranger menarbeit und Entwicklung (20. Ausschuss) zu Rita Grießhaber dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU Dr. Helmut Haussmann Afrika darf nicht zu einem vergessenen Konti- Wolfgang Gehrcke nent werden Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die – Drucksachen 14/2571, 14/4970 – Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die SPD- 1) Anlage 9 Fraktion hat der Kollege Reinhold Hemker. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23245

(A) Reinhold Hemker (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Verhältnisse gibt, beispielsweise in Botswana, schon ge- (C) Kolleginnen und Kollegen! Die Bedeutung des Themas, schehen. über das wir jetzt diskutieren, ist offensichtlich nicht nur In einem Informationsdienst des Evangelischen Ent- im Bewusstsein vieler Mitglieder dieses Hauses fest ver- wicklungsdienstes hat der Vorstandsvorsitzende Konrad ankert. Das scheint sich auch heute Abend zu bestätigen. von Bonin Folgendes geschrieben – das könnte eine Ein- Es hat einige gegeben, die im Vorfeld vorgeschlagen ha- leitung für all das sein, was wir in den nächsten Monaten ben, diesen Tagesordnungspunkt abzusetzen, da erwartet im Hinblick auf den G-8-Gipfel tun können –: wurde, dass wir zu mitternächtlicher Stunde über dieses Thema diskutieren werden. Auch ich habe erst vor fünf Dauerhafte Sicherheit ist nicht ohne Frieden und Minuten erfahren, dass nun doch über diesen Tagesord- dauerhafter Frieden nicht ohne ein Mindestmaß an nungspunkt diskutiert werden soll. Ich bin gebeten wor- Gerechtigkeit möglich. Gerechtigkeit setzt anderer- den, ein paar Anmerkungen darüber zu machen, was wir seits ein Mindestmaß an Sicherheit, an gesicherten – ich sage das mit allem Ernst und vor dem Hintergrund Lebensverhältnissen voraus. Zwischen beidem be- dessen, was mein verstorbener Freund Werner Schuster steht ein untrennbarer Zusammenhang. Die Situation immer zu dieser Thematik gesagt hat – für Afrika, diesen in Ländern wie Angola, Somalia oder Kongo, in de- vergessenen und geprügelten Kontinent, tun können. nen kaum eine die Bürger schützende Staatsgewalt vorhanden ist, illustriert dies mehr als deutlich. Ich bedanke mich beim Bundeskanzler, dass er eine er- fahrene Kollegin berufen hat, sich im Konzert der G-8- Unter anderem diese Überlegungen haben zu der Initia- Staaten dieser breiten Thematik anzunehmen. Ich wün- tive – es ist eine Art Vertrag – mit dem Titel „Neue Part- sche Ihnen, Kollegin Eid, insbesondere für die in den nerschaft für die Entwicklung Afrikas“ geführt, über die nächsten Wochen beginnenden Arbeiten zur Vorbereitung wir heute diskutieren. des nächsten G-8-Gipfels in Kanada alles Gute und – ich Ich spreche in aller Kürze drei Aspekte an, die wir in un- denke, das ist im Sinne Werner Schusters – Gottes Segen. serem Antrag als wichtig herausgestellt haben. Eine der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kernfragen für Frieden und Gerechtigkeit in Afrika wird sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) sein, dass in den einzelnen afrikanischen Ländern unter unterschiedlichen Voraussetzungen Landreformen Meine guten Wünsche sind notwendiger denn je; denn durchgeführt werden. Dafür aber müssen – Kollegin Eid, trotz der wichtigen Beantwortung einer Großen Anfrage das wird Thema auf dem G-8-Gipfel sein – ausreichend der CDU/CSU, der Einbringung eines durchaus in die Gelder bereitgestellt werden, damit gut ausgebildete Bäue- richtige Richtung weisenden Antrages der FDP und trotz rinnen und Bauern dieses Land bewirtschaften können. der Bemühungen der letzten Monate war es möglich, ei- (B) nen solchen Tagesordnungspunkt einvernehmlich, also (Klaus-Jürgen Hedrich [CDU/CSU]: Richtig!) (D) mit Zustimmung aller Fraktionen, an das Ende der Tages- Es gab in Ansätzen bereits Landreformen. Es ist dann aber ordnung zu setzen. Wir als Entwicklungspolitiker und auf dem Grund und Boden, der in neuen Besitz von Ge- Freunde Afrikas müssten – das sage ich auch an die nossenschaften, kleinen Gesellschaften und Familien ge- Adresse der Kolleginnen und Kollegen der anderen Frak- kommen ist, nicht anders als früher weitergearbeitet wor- tion – einmal deutlich machen, dass auch wir – ich sage den. Darum empfehle ich, dass dieses Thema in den das vor dem Hintergrund, dass es heute Morgen eine Re- Vordergrund aller Überlegungen gerückt wird. gierungserklärung zur Lage im Nahen Osten und eine Diskussion über die dortige Krise, den Krieg und die Zweitens ist es unbedingt notwendig, dass angesichts Grausamkeiten gegeben hat – sicherlich eine gebündelte der Tatsache, dass in den meisten afrikanischen Ländern Debatte zur Unterstützung unserer Forderungen im Hin- Raubbau an der Biomasse, insbesondere an Holz, getrie- blick auf den G-8-Gipfel brauchen. ben wird, der dezentrale Ausbau erneuerbarer Energien vorangebracht wird. Auch zu diesem Thema habe ich be- (Beifall des Abg. Winfried Nachtwei [BÜND- reits vor einiger Zeit gemeinsam mit dem leider verstor- NIS 90/DIE GRÜNEN]) benen Kollegen Werner Schuster ein Arbeitspapier vorge- Was ist geschehen? Einige führende Kräfte in Afrika legt, das vom Bundestag verabschiedet worden ist und in haben gesagt: Wir brauchen ein neues politisches Modell Ihrem Hause, Kollegin Eid, vorliegt. Das sind kleine Bau- der Partnerschaft für die Entwicklung unseres Kontinents. steine für das, was ich Entwicklungspartnerschaft nenne Das ist also nicht von uns, sondern von afrikanischen Füh- und was unsere Partnerinnen und Partner in den verschie- rern ausgegangen, die vielleicht in ihren Ländern schon denen NGOs in Afrika benötigen. gute Erfahrungen mit der politischen Entwicklung ge- Drittens. Wir werden in den nächsten Wochen und Mo- macht haben und die deshalb ein Rahmenkonzept vorle- naten und sicherlich noch über viele Jahre darüber spre- gen wollen. Ich freue mich, dass Sie, Kollegin Eid, darauf chen, dass Menschen aus anderen Ländern als Migranten so reagiert haben, wie Sie es getan haben, dass einige Kol- zu uns kommen: als qualifizierte Arbeitskräfte oder als leginnen und Kollegen Überlegungen dazu angestellt ha- Menschen, die bei uns ausgebildet und qualifiziert wer- ben, wie wir vonseiten der Entwicklungspolitik reagieren den. Wir müssen aber auch verstärkt darüber reden, wie können, und dass die Kolleginnen und Kollegen der FDP wir die Menschen unterstützen, die bereit sind, in ihre die Frage aufgeworfen haben, wie man die Menschen in Heimatländer zurückzukehren oder bereits zurückgekehrt Deutschland und Europa ansprechen kann, damit sie dazu sind. Ich empfehle deswegen – auch das ist Teil unseres beitragen, dass Firmen in Afrika unter dem neuen Aspekt Antrags –, sich dieser Zielgruppe anzunehmen. Es handelt investieren. Das ist in einigen Ländern, in denen es stabile sich um Menschen, die sich in ihren Heimatländern schon 23246 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Reinhold Hemker (A) organisiert haben, nachdem sie aus Deutschland, wo sie nur die afrikanischen Staatsoberhäupter angereist sind, (C) ausgebildet wurden, zurückgekommen sind. Von den Rei- und – was mich nun wirklich geärgert hat – mit einem tra- sen, die wir im Auftrag des Bundestages unternommen ditionellen Abendessen der afrikanischen Außenminister haben, wissen wir, dass viele von ihnen arbeitslos sind am Rande der UNO-Vollversammlung in New York. Prost und ihre Existenz nicht sichern können. Sie suchen Kon- Mahlzeit: Mindestens 200 Millionen Afrikaner sind chro- takt mit den deutschen Partnerorganisationen und deut- nisch unterernährt, darunter 23 Millionen Kinder, und der schen Freunden. Leider haben wir keine ausreichenden Bundesminister Joseph Fischer gibt ein Essen. Was, um Instrumentarien, um diese Menschen beim Aufbau ihrer Himmels willen, hat das Auswärtige Amt zu dieser exem- Länder zu unterstützen. Diese Menschen haben schon bei plarischen Aufzählung von Neuigkeiten bewogen? Selbst uns in kleineren oder größeren Nichtregierungsorganisa- Rechtfertigungen von Haushaltskürzungen in der EZ und tionen gearbeitet und uns Entwicklungspolitikern und Botschaftsschließungen in Afrika werden als Nachweis der -politikerinnen geholfen, das Bewusstsein für die Eine- neuen Schwerpunktsetzung angepriesen. Welt-Arbeit wach zu halten. Oft können sie in ihren Län- Auch die gesamte Auflistung deutsch-afrikanischer dern nicht entsprechend eingesetzt werden. Entwicklungszusammenarbeit, wie sie seit Jahrzehnten Ich habe von dem, was wir zum Thema Entwicklungs- praktiziert wird, ist nicht unbedingt ein neuer Schwer- zusammenarbeit aufgeschrieben haben, nur drei Punkte ge- punktansatz für Afrika. Zugegeben, in der Entwicklungs- nannt. Wir haben einen ganzen Katalog vorgelegt. Im Übri- politik hat sich seit 1998 einiges verändert. Es ist aber be- gen, lieber Herr Kollege Hedrich – ich sage das auch mit trüblich – zumindest aus meiner Sicht –, mit welcher Blick auf die anderen Fraktionen –: Das sind Ideen, die es Leichtfertigkeit das Auswärtige Amt im Namen der Bun- auch in anderen Anträgen in den letzten Jahren gegeben hat. desregierung auf berechtigte Fragen der Opposition ant- wortet. Das ist, meine ich, der Bedeutung Afrikas und sei- Entscheidend ist jetzt – da die Chance besteht, dass all ner 800 Millionen Menschen nicht angemessen. das eine andere Qualität bekommt –, dass Afrika auch Ge- genstand der Verhandlungen auf dem G-8-Gipfel wird. Deshalb möchte ich an unseren Appell, den wir in un- Afrika muss dort zum Thema gemacht werden, wie die serem Antrag an alle gerichtet haben, erinnern: Afrika darf Kollegin Eid es möchte, wie wir alle es möchten und wie nicht zum vergessenen Kontinent werden! Dieser Appell wir es in der Unterstützung der Bundesregierung voran- ist heute noch genauso aktuell wie vor zwei Jahren, als be- bringen wollen. rechtigterweise Osttimor und das Kosovo im Zentrum un- serer Debatten standen und unsere ungeplanten Handlun- Herzlichen Dank. gen rechtfertigten. Mit Recht nehmen zurzeit die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Terrorbekämpfung in Afghanistan und die schrecklichen DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Auseinandersetzungen im Nahen Osten unsere Aufmerk- CDU/CSU) samkeit und unser Engagement in Anspruch. Dennoch (B) muss Afrika auf der Tagesordnung bleiben und darf nicht (D) nur Schwerpunkt eines Jahres sein. Vizepräsidentin Petra Bläss: Für die CDU/CSU- Fraktion spricht jetzt die Kollegin Marlies Pretzlaff. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Marlies Pretzlaff (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Zahlreiche Krisenherde und Konflikte, Gewalt und Ter- Kolleginnen und Kollegen! Erfreulicherweise erscheint ror beuteln diesen Kontinent nach wie vor mit zum Teil nach langer Zeit Afrika heute einmal wieder für 45 Minu- ebenfalls weltweiten Auswirkungen. Ich erinnere nur an die ten auf der Tagesordnung. Herr Kollege Hemker hat es Blutdiamanten oder an die Flüchtlingsströme. Insgesamt schon gesagt: „Wir sind zu früh dran“, ich hatte mir vorhin hat Afrika mit Langzeitproblemen schwer zu kämpfen. nämlich aufgeschrieben, dass es für Afrika schon fünf vor Alle Anträge äußern sich in ihrem Feststellungsteil zwölf ist. Nun ist es hier nicht ganz so spät geworden. Für ohne große Unterschiede zur problematischen Lage in Afrika bleibt aber in der Tat nicht mehr sehr viel Zeit. Auch Afrika. Ich denke dabei an die Großen Seen und an die das ist ein Grund, warum wir unsere Reden zu dem Thema Aidsproblematik. Zur Sprache kommen in den Anträgen Afrika nicht einfach zu Protokoll geben können, wenn es aber durchaus auch positive Dinge. Ich werde auf diese denn schon einmal auf der Tagesordnung steht. Aspekte kurz eingehen. Die nächsten Redner können sich (Zuruf von der SPD: Genau!) dann darauf beziehen. „Die Afrikapolitik ist der politische Schwerpunkt der Die Lage im Bereich der Großen Seen hat sich trotz aller Schröder-Regierung im Jahr 2000“, so Staatsminister Bemühungen nicht wesentlich verbessert. Der innerkongo- Dr. Ludger Volmer zur so genannten neuen Schwerpunkt- lesische Dialog ist nach mehr als 50-tägigen Gesprächen vor setzung 2000; dieses Zitat stammt aus der Antwort auf die einigen Tagen beendet worden. Es gab leider nur eine bila- Große Anfrage der FDP-Fraktion. Ich fand es schade, dass terale Vereinbarung zwischen einem Teil der Rebellenorga- Rot-Grün diesen Kontinent nur für ein Jahr als Schwer- nisationen und der Regierung Kabila. Es ist zu befürchten, dass dort ein bewaffneter Konflikt ins Haus steht. punktthema ausgewählt hat. Ich fand es auch schade, wie diese neue Schwerpunktsetzung ausgestaltet wurde: unter Mugabe ist dabei, Simbabwe zugrunde zu richten. Wir anderem mit diversen Kurzzeittrips auf den afrikanischen sollten ernsthaft darüber nachdenken, welchen Hand- Kontinent, meist zu Konferenzen und zur Unterzeichnung lungsspielraum wir für uns dort möglicherweise in An- von Papieren, mit intensiven politischen Dialogen in spruch nehmen. Die Solidaritätsbezeugungen diverser Afrika, in Berlin, aber auch in Hannover bei den jeweiligen afrikanischer Staatsvertreter zugunsten von Präsident Ländertagen auf der EXPO 2000, zu denen übrigens nicht Mugabe sind für uns unverständlich; sie widersprechen Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23247

Marlies Pretzlaff (A) den innerafrikanischen Bemühungen um mehr Entwick- Marlies Pretzlaff (CDU/CSU): Okay, dann lese ich (C) lung und Wirtschaftswachstum. jetzt etwas schneller. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) In früheren Zeiten war es guter Brauch, zu Afrika- Madagaskar steht am Rande eines Bürgerkrieges. Die debatten interfraktionelle Anträge einzubringen und in Situation in Nigeria ist nicht sehr beruhigend und Angola diesem Hause mit einer Stimme zu sprechen. Seit einem ist auch nach dem Tod Savimbis noch lange nicht befrie- Zeitraum von zwei Jahren liegen uns Anträge aus verschie- det. Ich erinnere an 4 Millionen Binnenflüchtlinge, an denen Fraktionen mit eigentlich begrüßenswerten Vor- 11 Millionen Landminen, an 45 000 demobilisierte schlägen und mit Initiativen vor. Unsere Befürchtung ist UNITA-Soldaten und an ein völlig zerstörtes Land. nur, dass es bei Worthülsen bleibt. Vielmehr sollten wir uns bemühen, das, was wir wohl alle für Afrika anstreben, in die Die Hälfte der Bevölkerung Afrikas lebt in Armut. Tat umzusetzen. Wir befürchten, dass vollmundigen An- Nur rund 45 Prozent der Menschen haben einen Zugang kündigungen des Kanzlers, des Außenministers oder auch zu sauberem Trinkwasser. Dort sterben zehnmal so viel der Ministerin für Entwicklungszusammenarbeit keine Menschen wie durch Krieg. Die zunehmende Verschmut- konkreten Taten und keine sichtbaren Ergebnisse folgen. zung gefährdet die Wasservorräte, obwohl schon mit ein- fachen Mitteln – es müssen nicht immer große finanzielle Afrika eignet sich nicht zum Schlagabtausch zwischen Transaktionen gestartet werden – die Reinigung und so- Parteien in Deutschland. Jede Initiative vom Kleinstprojekt gar die Wasserversorgung in den ländlichen Regionen einer Schulpartnerschaft bis zur Förderung einer gemein- verbessert werden könnte. samen Afrikapolitik der EU ist begrüßenswert. Insofern ist Inzwischen sterben in Afrika mehr Menschen an Aids auch jeder Afrikatrip eines Ministers immer noch besser als als durch seine Bürgerkriege. Von den weltweit etwa gar kein Afrikabesuch. – Das als Ausgleich für vorhin. 40 Millionen Infizierten leben rund 70 Prozent in den Wir sollten gemeinsam dafür Sorge tragen, dass Afrika Ländern Afrikas südlich der Sahara. Die uns allen be- Schwerpunktregion unserer Entwicklungspolitik bleibt. kannten Defizite bei Seuchen, bei Dürren, beim Bil- Afrika ist die Wiege der Menschheit. Wir alle hoffen, dass dungsbedarf und bei der Gesundheitsversorgung brauche sich das bewahrheiten wird, was auf der letzten Berlin- ich jetzt nicht gesondert zu erwähnen. Konferenz anklang: Afrika ist im Kommen. Es häufen sich demokratische Präsidentenwechsel, wie Danke schön. in Senegal und Ghana. Das ist ein erfreuliches Zeichen. Erfreulich ist auch, dass die Staaten südlich der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Sahara ihre politischen und wirtschaftlichen Integrations- bei Abgeordneten der SPD) bemühungen auf zwischenstaatlicher Ebene intensivieren (B) und dass regionale Organisationen erfolgreich tätig sind. (D) Vizepräsidentin Petra Bläss: Ein bisschen Redezeit Dennoch ist nicht zu übersehen, dass die angestrebten ist für Herrn Hedrich auch noch übrig geblieben. Entwicklungsziele in den Ländern Afrikas südlich der Sa- hara bisher nicht in dem erhofften Umfang erreicht wur- Jetzt spricht die Parlamentarische Staatssekretärin den, ja, dass die Armut und die Instabilität vielerorts so- Dr. Uschi Eid. gar gestiegen sind. Ich komme auf den SPD-Antrag zu sprechen. Von der Dr. Uschi Eid, Parl. Staatssekretärin bei der Bundes- HIPC-Initiative, in die 28 Länder einbezogen sind, pro- ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- fitieren 21 afrikanische Länder. Bei aller Befürwortung wicklung: Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau dieser Initiative besagt diese Tatsache, dass die ärmsten Pretzlaff, Sie wissen, ich schätze Sie sehr, aber ich glaube, Länder der Welt in Afrika südlich der Sahara liegen. Die Sie haben nicht beobachtet, dass es seit Hans-Dietrich Schuldenerleichterungen für diese Staaten sind in erster Genscher gute deutsche Tradition ist, die afrikanischen Linie für die Budgets der Regierungen hilfreich. Die Ein- Außenminister am Rande der UNO-Generalversammlung beziehung der Zivilgesellschaft ebenso wie die Um- zum Abendessen einzuladen. Ich danke ganz herzlich, schichtung der Haushalte, die eigenständige Erarbeitung dass unser Außenminister Joschka Fischer diese Tradition von Armutsbekämpfungsprogrammen und vor allem die fortgesetzt hat; Umsetzung zum Wohle der Bevölkerung sind nachdrück- lich einzufordern; denn all das steht in den meisten Län- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dern bisher nur auf dem Papier. und bei der SPD) denn es wäre jenseits dessen, was sonst in der Welt pas- Vizepräsidentin Petra Bläss: Frau Kollegin siert, nicht zu vertreten, wenn er dies nicht getan hätte, Pretzlaff, ich muss Sie jetzt leider an die Redezeit erinnern. weil dieses traditionelle Abendessen Bestandteil unserer Afrikakontakte ist. Deswegen bitte ich Sie, zur Kenntnis (Klaus-Jürgen Hedrich [CDU/CSU]: Eine Mi- zu nehmen, dass wir in diesem Punkt in sehr guter Tradi- nute bekommt sie von mir!) tion der Vorgängerregierung stehen. – Hat sie schon. (Zuruf von der FDP: Das ist ein bisschen Vizepräsidentin Petra Bläss: Frau Staatssekretärin, knickerig! – Klaus-Jürgen Hedrich [CDU/ wie Sie bemerkt haben, gibt es genau dazu jetzt eine CSU]: Zwei Minuten!) Nachfrage von Frau Pretzlaff. 23248 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

(A) Dr. Uschi Eid, Parl. Staatssekretärin bei der Bundes- Dies zeigt sich zum Beispiel bei der aktuellen WTO- (C) ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- Doha-Runde. Auch die Staaten Afrikas positionieren sich wicklung: Bitte schön. in Genf. Sie wollen und werden politischen Einfluss auf die Verhandlungen nehmen. Bei den Agrarverhandlungen sind ihre Forderungen sehr konkret: weitere Öffnung der Marlies Pretzlaff (CDU/CSU): Ich möchte ein Miss- Märkte der Industrieländer für ihre Produkte, insbeson- verständnis ausräumen. Ich habe bemängelt, dass als Be- dere im Bereich der Weiterverarbeitung. Die EU stellt sich gründung für dieses traditionelle Abendessen die Präsenta- auf diese Forderungen ein und wir bemühen uns um kon- tion der Schwerpunktsetzung 2000 angegeben wurde. Ich krete Antworten. Die Bundesregierung kommt der afrika- finde, das ist angesichts der Probleme Afrikas einfach zu nischen Bitte um verstärkte Unterstützung im Handels- wenig. Würden Sie mir in dieser Einschätzung zustimmen? bereich nach. Wir haben für den entsprechenden Fonds bereits 2 Millionen Euro zugesagt. Dr. Uschi Eid, Parl. Staatssekretärin bei der Bundesmi- Auf Einladung der südafrikanischen Regierung wird in nisterin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- wenigen Monaten der Weltgipfel für nachhaltige Ent- lung: Nein, sehr geehrte Frau Pretzlaff, nicht nur der wicklung in Johannesburg stattfinden. Wir erwarten uns Außenminister führt einen Dialog. Vielmehr führen wir zehn Jahre nach der Rio-Konferenz für Umwelt und Ent- alle, seit wir an der Regierung sind, wo immer wir sind, den wicklung wichtige Impulse von diesem Gipfel. Die Bun- Dialog mit afrikanischen Kolleginnen und Kollegen, allen desregierung ist bereit, Afrika auch hier eine strategische voran die Entwicklungsministerin, der Außenminister, der Partnerschaft anzubieten. Bundeskanzler, wie die Justizministerin, die Bildungsmi- nisterin, der Wirtschaftsminister. Daher finde ich es falsch, Im Bereich des Ressourcenschutzes hat die OAU ein nur einen Minister und ein Ereignis herauszugreifen. afrikanisches Modellgesetz zum sicheren Umgang mit moderner Biotechnologie auf dem Kontinent vorgelegt, Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, es gibt sehr und Afrika trägt so zur Umsetzung der Vorgaben des gute Gründe, sich heute Abend mit Afrika zu beschäfti- Cartagena-Protokolls bei, in dem Anfang 2001 erstmals gen. Eine wachsende Zahl afrikanischer Staatsführer be- völkerrechtlich verbindliche Mindeststandards geschaf- kennt sich zur Verantwortung für die eigene Entwicklung, fen wurden. Die Bundesregierung wird die Umsetzung in zu den Prinzipien von Demokratie, Rechtsstaat und Men- nationales Recht fördern. schenrechten. Herr Hemker hat darauf hingewiesen, dass es NePAD gibt, die neue Partnerschaft für Afrikas Ent- wicklung, eine Initiative reformorientierter afrikanischer Vizepräsidentin Petra Bläss: Frau Staatssekretärin, Regierungschefs. Sie bietet die Chance, eine maßgebliche gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Günther? (B) und ausgewogene Plattform für die Lösung zentraler Ent- (D) wicklungsfragen des Kontinents zu sein. Dr. Uschi Eid, Parl. Staatssekretärin bei der Bundes- Zu Recht haben die Staats- und Regierungschefs der ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- G 8 daher beim letzten Gipfel in Genua entschieden, diese wicklung: Ja. Initiative zu unterstützen. Ich sage ganz klar „zu unter- stützen“ und nicht „etwas an ihre Stelle zu setzen“. Wir Joachim Günther (Plauen) (FDP): Frau Staatssekre- können nämlich nur das tun, was die Afrikaner selber wol- tärin, nachdem Sie hier die Vielfalt der Initiativen, die Sie len und was sie in diesem Konzept auch dargestellt haben. gestartet haben, aufgezählt und dargelegt haben, mit wel- Zu diesem Zweck erarbeiten die persönlichen G-8- chem Engagement Sie für Afrika kämpfen, habe ich die Afrika-Beauftragten derzeit einen solchen Aktionsplan. Frage, wie in diesem Verhältnis die Tatsache zu sehen ist, Wie Sie wissen, hat mich der Bundeskanzler im letzten dass wir in Afrika die größte Anzahl von Botschaften und Oktober mit dieser Arbeit betraut. Herr Hemker, ich darf die meisten Goethe-Institute geschlossen haben und Ihnen zusagen, dass ich die Anliegen, die uns hier im warum wir diese wichtige Debatte in den späten Abend- Deutschen Bundestag vereinen, auch dort zur Geltung stunden führen, obwohl wir im Ausschuss einstimmig bringen werde. dafür waren, sie zu einem ordentlichen Zeitpunkt zu führen. Ich gebe meine Rede zu Protokoll, weil ich es Der Bundeskanzler hat am Montag dieser Woche einen nicht angemessen finde, in dieser Abendstunde über die- hochrangig besetzten Afrika-Wirtschaftstag eröffnet. ses wichtige Thema zu diskutieren. Ich bin dem Bundeskanzler sehr dankbar für die Klarstel- lung, Afrika sei nicht nur als Krisenkontinent wahrzuneh- men, sondern sei zum Beispiel für die deutsche Wirtschaft Dr. Uschi Eid, Parl. Staatssekretärin bei der Bundes- auch ein interessanter und zukunftsträchtiger Industrie-, ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- Investitions- und Handelspartner. wicklung: Herr Kollege Günther, ich glaube, Sie haben überhört, dass ich nicht von unseren Initiativen gespro- Mit NePAD haben sich die Afrikaner mit einem ehr- chen habe. Ich habe versucht, anhand von Beispielen dar- geizigen Entwicklungskonzept zu Wort gemeldet, mit zulegen, wie die Afrikaner selber die globalen Strukturen dem sie dem Afropessimismus eine neue Perspektive ent- politisch mitgestalten. Ich habe nicht gesagt, dass wir dies gegensetzen. Die Länder Afrikas engagieren sich ver- tun, sondern dass es die Afrikaner sind und dass zunächst stärkt auf der weltpolitischen Bühne, gestalten die politi- einmal gar nicht die Rede davon sein kann, dass die schen Rahmenbedingungen mit und setzen internationale Afrikaner die Vergessenen sind, dass sie an den Rand ge- Regelwerke auf dem eigenen Kontinent um. drückt sind. Ich habe an ganz klaren Beispielen dargelegt, Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23249

Parl. Staatssekretärin Dr. Uschi Eid (A) was die Afrikaner im Rahmen dieser neuen Entwick- Zu den gravierenden Problemen des afrikanischen (C) lungsinitiative selber auf der internationalen Bühne ein- Kontinents gehört die fortschreitende Desertifikation. bringen. Sonst habe ich nichts gesagt. Die davon erfassten Länder Afrikas gehören zu den Schlusslichtern der von UNDP erstellten Rangliste zur (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN menschlichen Entwicklung. Von circa 250 Projekten zur und bei der SPD – Hans-Michael Goldmann Bekämpfung der Wüstenbildung, die wir gegenwärtig [FDP]: Dann dürfen Sie die Botschaften nicht weltweit in einer Größenordnung von 1,5 Milliarden Euro schließen!) fördern, werden rund 60 Prozent in Afrika durchgeführt. Ich habe also nicht unsere Initiativen dargestellt; denn wir Dies ist ein signifikanter Beitrag zur Umsetzung der Kon- selber initiieren nichts. Wir unterstützen die Reformmaß- vention zur Wüstenbekämpfung. nahmen und -schritte der Afrikaner. Sie müssen ihre Ini- Da Frauen der Motor von Entwicklung in Afrika sind, tiativen in Afrika ergreifen. unterstützen wir in vielfältiger Weise ihre Lobbyarbeit für (Walter Hirche [FDP]: Sie schließen also die Frauenrechte und mehr Beteiligung, zum Beispiel mittels Botschaften, weil die alles selber machen!) des afrikanischen Frauennetzwerks Femnet. Besonderen Stellenwert hat eine verbesserte Geschlechterorientierung Wir können nur politische Maßnahmen, die dort ge- nationaler Mittelverwendung im Rahmen öffentlicher wünscht werden, unterstützen. Haushalte, um Frauenbelange stärker zu berücksichtigen. Die Beispiele, die ich eben genannt habe zeigen: Afrika Dabei legen wir allergrößten Wert darauf, dass wir den entwickelt sich bereits heute im Rahmen von NePAD. Es Süd-Süd-Erfahrungsaustausch fördern, wie zum Beispiel gibt viele Aktivitäten auch im globalen Kontext. Diese den Austausch zwischen Südafrika und Marokko. Initiativen zeigen: Afrika will sich nicht spalten lassen, Frau Pretzlaff, Sie sehen – das zeigen diese Beispiele –, sondern Afrika vertritt auch gemeinsame Interessen. Dies dass die Entwicklungsministerin und der Außenminister ist eigentlich das Wichtige in der neuen Entwicklungs- nicht nur große Versprechungen machen, sondern dass sie vision von NePAD. diese Dinge in der Tat umsetzen. Von daher folgen auf un- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sere Ankündigungen auch Taten. und bei der SPD) Ich komme zum Schluss. Sie sehen, es gibt Anlass ge- Sie sehen, es bewegt sich etwas auf dem afrikanischen nug, dass wir den pauschalen Afrika-Pessimismus hinter uns lassen. Das heutige Afrika in seiner ganzen Vielfalt ist Kontinent. Ich glaube, wir tun den Afrikanern keinen Ge- eine Herausforderung an unser eigenes Afrika-Bild, das fallen, wenn wir immer so tun, als könnten sie nur etwas die Potenziale dieses Kontinents allzu oft ausblendet. Die durchführen, wenn wir sie dabei anstoßen. Das ist einfach beschriebenen Entwicklungen und vor allem NePAD nicht so. Wir müssen einen Perspektivenwechsel vor- (B) selbst bieten uns einen Rahmen für eine handlungs- und (D) nehmen. Wir müssen einfach hinschauen und würdigen, zukunftsorientierte Zusammenarbeit. Wir werden diese was die Afrikaner selbst tun. Chance nutzen. Deutschland und die G 8 werden deshalb im Juni in Herzlichen Dank. Kanada eine Partnerschaft mit Afrika beschließen. Ich be- grüße es sehr, dass NePAD ein sehr facettenreicher Ent- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wicklungsansatz zugrunde liegt, der vor allem die Eigen- und bei der SPD) verantwortung dieser Länder betont. (Klaus-Jürgen Hedrich [CDU/CSU]: Das ist Vizepräsidentin Petra Bläss: Die Kollegen Joachim wahr!) Günther, FDP, und Carsten Hübner, PDS, haben ihre Re- den zu Protokoll gegeben.1) Deshalb ist die nächste Red- In vielen Feldern dieser Initiative gibt es gute Anknüp- nerin die Kollegin Ingrid Becker-Inglau für die SPD. fungspunkte für unsere Entwicklungspolitik. Deshalb wird Afrika auch weiterhin ein besonderer Schwerpunkt unse- rer Entwicklungspolitik bleiben. Er ist mit 30 Prozent des Ingrid Becker-Inglau (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Entwicklungsetats der bilateralen Entwicklungshilfe be- Kolleginnen, liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen reits jetzt der größte Empfängerkontinent. und Herren! Auch zu dieser späten Stunde, denke ich, ist es wichtig, Reden zu Afrika nicht zu Protokoll zu geben, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sondern zu Afrika zu sprechen. und bei der SPD – Klaus-Jürgen Hedrich [CDU/CSU]: Weniger als früher!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Die von der Bundesregierung beim Kölner G-8-Gipfel mitinitiierte erweiterte HIPC-Entschuldungsinitiative Wirtschaftswachstum um 5 Prozent und mehr – da führt für 22 Länder Afrikas zu einer bereits beschlossenen muss doch jeder sagen, dass sich das gut anhört. Das finde Entlastung des nominalen Schuldendienstes von 32,5 Mil- ich auch. Das ist keine Zahl aus den USA, aus Japan oder Europa. Vielmehr belegt sie die Wachstumsraten der Wirt- liarden US-Dollar. Die Ausarbeitung der nationalen Ar- schaft von afrikanischen Ländern wie Guinea-Bissau, mutsbekämpfungsstrategien, die Voraussetzung für die Uganda oder Mosambik. In Mosambik waren es 1997 und endgültige Schuldenerleichterung sind, hat zudem in vie- len Ländern zu einer stärkeren Beteiligung von Bürger- organisationen am politischen Prozess geführt und somit indirekt die Demokratie gefördert. 1) Anlage 10 23250 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Ingrid Becker-Inglau (A) 1998 sogar 10 Prozent Wirtschaftswachstum. In 42 der Des Weiteren nenne ich das Cotonou-Abkommen, (C) 48 Staaten Subsahara-Afrikas haben in den 90er-Jahren durch das 48 Länder Afrikas beteiligt sind und in dessen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen unter Beteiligung Rahmen die Europäer bis 2005 13,8 Milliarden Euro be- mehrerer Parteien stattgefunden. Die Alphabetisierungsrate reitstellen werden. Ich denke, auch das ist eine Zahl, die hat sich fast verdreifacht, die Einschulungsrate fast ver- man nicht einfach übersehen kann. doppelt. Ich denke, das sind gute Meldungen über Afrika. Aber die besten Rahmenbedingungen von außen nüt- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zen gar nichts, wenn nicht die Bedingungen in Afrika und DIE GRÜNEN) von Afrika selbst so gestaltet werden, dass eine nachhal- Afrika verdient diese guten Meldungen. Ich möchte tige Entwicklung stattfinden kann. Afrika – das sage ich dabei keinesfalls in Schönfärberei verfallen. Afrika hat ganz deutlich – kann und muss selbst mehr Verantwor- weiterhin enorme wirtschaftliche, bildungspolitische und tung übernehmen. Dazu haben wir unsere Partner in bevölkerungspolitische Probleme, die – das wissen wir Afrika in den Regierungen und auch in der Zivilgesell- alle – nicht von heute auf morgen zu lösen sind. schaft immer wieder ermutigt. Ich glaube, die, die gemeinsam in Afrika waren, können das sicherlich be- Ich möchte hier aber entschieden dem ungerechtfertig- stätigen. ten Afrika-Pessimismus entgegentreten. Denn wir kennen es von uns selbst am besten: Wird etwas schlechtgeredet, Jetzt haben sich die Afrikaner selbst zu Wort gemeldet, geht keiner mehr hin und macht keiner mehr etwas. Ne- und zwar mit der „Neuen Partnerschaft für Afrikas Ent- ben allen konkreten Maßnahmen zur Verbesserung der wicklung“, kurz: NePAD. Damit wird ein neues Bild von Situation ist es also auch eine Frage der Einstellung, eine Afrika gezeichnet: Afrika als ein Kontinent, der seine Zu- Frage, wie wir an Afrika herangehen. kunftsgestaltung selbst in die Hand nimmt, um seine po- Anfang dieser Woche hat zu meiner ganz besonderen litischen, wirtschaftlichen und sozialen Chancen in einer nachträglichen Freude hier in Berlin der Afrika-Wirt- globalisierten Welt zu verbessern. NePAD zeigt, dass und schaftstag mit dem Motto „Afrika ist im Kommen“ statt- wie die Afrikanerinnen und Afrikaner diese Chancen für gefunden. Die Konferenz mit großer Beteiligung aus sich nutzen können und wollen. Das ist meines Erachtens Politik und Wirtschaft, aus Afrika genauso wie aus der die richtige Einstellung. Bundesrepublik, wurde von Bundeskanzler Schröder (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ eröffnet. Zum einen zeigt diese Konferenz den hohen DIE GRÜNEN) Stellenwert, den Afrika vor allem in der rot-grünen Poli- tik einnimmt. Verantwortliche Regierungsführung, klare Prioritä- tensetzung und Eigenverantwortung sind die Grundprin- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zipien dieser politischen Initiative. Sie benennt klar die (B) DIE GRÜNEN) Defizite und Versäumnisse, die Afrika selbst zu verant- (D) Zum anderen haben die Beiträge deutlich gemacht, dass worten hat. NePAD steht für den wachsenden Willen, es guten Grund für Optimismus hinsichtlich der Möglich- Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu keiten der wirtschaftlichen Entwicklung Afrikas gibt. sichern, Armut und soziale Ungerechtigkeit zu überwin- den und als gleichberechtigter Partner aktiv an der (Marlies Pretzlaff [CDU/CSU]: Möglich- Gestaltung der globalen Rahmenbedingungen für eine keiten!) nachhaltige Entwicklung mitzuwirken. Die NePAD ist Der Ruf Afrikas als Investitionsstandort ist besser – so ehrgeizig; aber sie braucht Zeit. Diese müssen wir ihr wurde es da jedenfalls formuliert – als allgemein ange- auch einräumen. nommen. Besonders Länder, die ihre Regierungsführung verbessert und nachhaltige marktwirtschaftliche Refor- Ich begrüße es ausdrücklich, dass die G-8-Staaten in men durchgeführt haben, zeigen seit Mitte der 90er-Jahre Genua entschieden haben, die Initiative durch einen kon- Erfolge auf. Sie konnten ihr Wirtschaftswachstum stei- kreten Aktionsplan zu unterstützen. Dieser soll, wie hier gern und gleichzeitig die Armut der Bevölkerung redu- schon häufig formuliert wurde, im Juni 2002 in Kanada zieren. beschlossen werden. Natürlich wollen und müssen wir weiter an einer An dieser Stelle möchte ich mich bei der Afrikabeauf- Verbesserung der Rahmenbedingungen arbeiten, um posi- tragten des Bundeskanzlers, unserer Parlamentarischen tive Entwicklungen zu unterstützen und die Armut zu Staatssekretärin Frau Dr. Eid, sehr herzlich bedanken. bekämpfen. Es gibt eine Reihe von Dingen, die wir dazu (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schon beigetragen haben. Ich nenne hier an erster Stelle die DIE GRÜNEN) in Köln beschlossene Entschuldungsinitiative, die auch Frau Eid schon genannt hat. Bereits heute stehen die ers- Denn sie hat maßgeblich an der Erarbeitung des Aktions- ten 20 oder 21 afrikanischen Staaten fest, die um insgesamt plans mitgewirkt. Mit unserem Antrag, liebe Frau Dr. Eid, 27,5 Milliarden US-Dollar entlastet werden. So kann nun wollen wir Sie unterstützen und unsere Regierung auffor- zum Beispiel, um nur ein Land zu nennen, Sambia dern, ihre Bemühungen für und um Afrika weiter zu in- 267 Millionen US-Dollar eigene Mittel in die Armuts- tensivieren. bekämpfung investieren. Ich denke, das ist ein Erfolg. Ich persönlich blicke heute auf zehn Jahre Politik und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Arbeit für Afrika zurück. Deshalb bin ich überzeugt: DIE GRÜNEN – Marlies Pretzlaff [CDU/ Wenn wir es gemeinsam schaffen, diesen Plan umzuset- CSU]: Kann!) zen, wird sich das Leben der Menschen in Afrika weiter Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23251

Ingrid Becker-Inglau (A) und grundlegend verbessern. Dann wäre Afrika wirklich Ich komme zum letzten Punkt, nämlich NePAD. Vo m (C) im Kommen. Dazu braucht Afrika weiterhin uns als Grundsatz her kann doch niemand ernsthaft bestreiten, Freunde und Partner. dass Eigeninitiativen von Entwicklungsländern zur Ver- Vielen Dank. besserung ihrer internen und äußeren Rahmenbedingun- gen vernünftig sind. Da sind wir völlig d‘accord. Das gilt (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ übrigens auch für andere Länder und Kontinente. DIE GRÜNEN) Die Kolleginnen und Kollegen, die insbesondere in Monterrey dabei waren – wir haben darüber auch in den Vizepräsidentin Petra Bläss: Das Wort hat der Kol- zuständigen Fachausschüssen diskutiert –, werden sich lege Klaus-Jürgen Hedrich für die CDU/CSU-Fraktion. daran erinnern, dass wir mit Genugtuung zur Kenntnis ge- (Joachim Tappe [SPD]: Klaus-Jürgen, halt nommen haben, dass eine der ersten Formulierungen des dich zurück!) Monterrey-Protokolls, also des Monterrey-Konsensus, die Eigenverantwortung der Entwicklungsländer be- schreibt. Dies ist positiv. Staatsführer in Afrika ziehen nur Klaus-Jürgen Hedrich (CDU/CSU): Frau Präsiden- aus Verpflichtungen, die sie selbst eingegangen sind, tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Leider hat Konsequenzen. Insofern ist NePAD also nichts Neues, Frau Eid wieder einmal Fragen, zum Beispiel die des Kol- sondern – ich wiederhole mich – die Konsequenz aus ge- legen Günther, nicht beantwortet. Was ist das für ein Be- troffenen Zusagen. kenntnis zu Afrika, wenn man falsch getroffene Entschei- dungen nicht korrigiert? Ich erinnere in diesem Schauen wir uns einmal die Pappenheimer an. Frau Zusammenhang an die Schließung deutscher Botschaften, Becker-Inglau hat dankenswerterweise – das darf man aus an die Schließung von Goethe-Instituten, an das Herun- Ausschusssitzungen gerade noch zitieren – bei der im terfahren von Zuschüssen für die deutschen Auslands- Fachausschuss geführten Debatte über Nigeria am ges- schulen in Afrika. Wenn man es mit Afrika wirklich ernst trigen Tage darauf hingewiesen, welche besonderen nehmen würde, dann würde man alles tun, wozu Deutsch- Schwierigkeiten wir mit Nigeria haben. Auch die Bun- land in der Lage ist. Aber Sie tun es nicht, erwecken hier desregierung hat darauf hingewiesen, dass der Internatio- aber einen anderen Eindruck. nale Währungsfonds seine Gespräche mit Nigeria gerade Was wir hinsichtlich NePAD diskutieren, ist ja nichts aus einem ganz simplen Grund abgebrochen hat. Der jet- Neues. Ich erinnere an die Global Coalition for Africa: Sie zige Staatspräsident bzw. die jetzige Führung in Nigeria ist im Sande verlaufen. Ich erinnere an die Entscheidung ist nicht gewillt, die Vereinbarungen mit dem Interna- von Cotonou. Diesbezüglich müssen wir uns mehr an die tionalen Währungsfonds zu erfüllen. Dazu gehören zum (B) eigene Brust schlagen als die Afrikaner. Milliarden und Beispiel eine gute Regierungsführung, eine konsequente (D) Abermilliarden Euro liegen auf den Konten der Europä- Haushaltspolitik, eine konsequente Armutsbekämpfungs- ischen Union und fließen nicht ab. Natürlich ist das auch politik und übrigens auch eine ausgewogene Politik zwi- der Fall, weil manche afrikanischen Staaten nicht in der schen den ethnischen und religiösen Gruppen in diesem Lage sind, die Mittel entsprechend aufzunehmen und zu Lande. Nigeria ist nicht irgendein Land. Nigeria ist, wie verwenden. Aber vorrangig ist es die Unfähigkeit der Eu- wir alle wissen, das größte Land in Afrika mit 110 bis ropäischen Kommission, diese Mittel einem der ärmsten 120 Millionen Einwohnern. Die Situation in Nigeria hat Kontinente der Welt zukommen zu lassen. Es handelt sich gewaltige Auswirkungen auf die Situation in Afrika. also um ein Fehlverhalten, das bei uns liegt. Ich komme zu meiner letzten Bemerkung: Die deut- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sche Bundesregierung hat – ich sage es bewusst – in einem nicht ausreichenden Maße dagegen protestiert, Ich nenne ferner die HIPC-Initative. Sie hat einige dass viele afrikanische Staatsführer – auch solche, die die Entlastungen mit sich gebracht; aber auch diese hängen indirekt mit Cotonou zusammen. Es gibt keine wirklich NePAD-Initiative mit ins Leben gerufen haben –, zum nachhaltigen Auflagen. Der größte Fehler bei dem Erlass Beispiel ein Mann wie Mugabe, eine Wahl mit undemo- von Schulden ist, dass keine Transparenz erkennbar ist. Es kratischen Repressionsmechanismen manipulieren und wird beschworen, dass Herr Museveni in Uganda zusätz- fälschen. Nein, sie haben ihm manchmal sogar Tele- liche Mittel für Armutsbekämpfung und Gesundheitspro- gramme geschickt, bevor das Ergebnis ausgezählt war. jekte in seinem offiziellen Haushalt einstellt. Die Europä- (Zuruf von der SPD: Wir doch nicht!) ische Gemeinschaft und die UNO machen sich aber überhaupt keine Gedanken darüber – nein, sie machen Über diese Punkte muss im Zusammenhang mit sich viele Gedanken, ziehen aber keine Konsequenzen da- NePAD diskutiert werden. Deshalb sprechen wir nicht raus. Was Herr Museveni mit den vielen Hunderten Mil- von einem Skeptizismus, sondern von einem afrikani- lionen Dollar macht, die er aus dem Kongo stiehlt und mit schen Realismus. Der ist auch notwendig. denen er seine Waffen bezahlt, wird in dem Gesamtkon- text hinsichtlich der Bewertung der Offenlegung öffentli- Herzlichen Dank. cher Finanzen überhaupt nicht berücksichtigt. 30 bis (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 40 Millionen, die im Rahmen der HIPC-Initiative in den öffentlichen Haushalt eingestellt werden, spielen dann eine untergeordnete Rolle. Das Kriegsmanöver und die Vizepräsidentin Petra Bläss: Der letzte Redner in militärischen Abenteuer eines Landes wie Uganda – diese dieser Debatte ist der Kollege Joachim Tappe für die SPD- sind ja kein Einzelfall – gehen weiter. Fraktion. 23252 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

(A) Joachim Tappe (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolle- Bei allen Problemen, die Afrika hat, überwiegt bei mir (C) ginnen und Kollegen! Wie oft hat jeder von uns, die wir uns der Optimismus. Ich habe die seltene Gelegenheit gehabt, für Afrika engagieren, schon die Frage gestellt bekommen, in den letzten zehn Jahren mehr als 35 afrikanische Län- wie man eigentlich noch an Afrika glauben kann? Mir er- der zu besuchen. Ich weiß, wovon ich spreche. Deshalb ging es erst am letzten Wochenende so. Als bekannt wurde, bin ich davon überzeugt, dass Afrika eine positive Ent- dass die Friedens- und Versöhnungsgespräche für den wicklung machen wird, selbst wenn es noch ein schwieri- Kongo im südafrikanischen Sun City gescheitert waren und ger und langwieriger Prozess sein wird, der nicht frei von damit die Gefahr – Frau Pretzlaff hat darauf hingewiesen – Rückschlägen sein wird. für eine weitere grausame und blutige Auseinandersetzung in der Mitte Afrikas heranwächst, wurde mir die Frage Ich gründe diesen Optimismus im Wesentlichen da- mehrfach gestellt. Diese Frage wird in der Zwischenzeit rauf, dass eine neue afrikanische Elite in die Verantwor- – ich finde das sehr schade – auch von Wohlmeinenden aus tung wächst, die weiß, dass die Probleme Afrikas nur da- Wissenschaft und Journalismus gestellt. durch gelöst werden können, dass man die Lösung in die eigenen Hände nimmt, so wie das Kennedy vor mehr als In der Tat ist das in den Medien immer noch transpor- 40 Jahren für seine Landsleute gesagt hat. Mit diesen tierte Afrikabild desaströs: gewaltsame Konflikte, eth- neuen Verantwortungsträgern in Afrika wächst ein neues nische Säuberungen, Millionen von Flüchtlingen, wirt- politisches Denken heran. Ich gehe so weit, zu sagen, dass schaftlicher Niedergang, Aushöhlung demokratischer Prozesse, Staatszerfall, Korruption und staatlich verord- für mich erst damit die eigentliche Unabhängigkeit der neter Terrorismus. Es ist leider wahr: Auch das ist Afrika. afrikanischen Länder begonnen hat. Das Ganze wird mit- Aber Afrika ist mehr als die Aufzählung dieser Befunde. telfristig in eine gleichberechtigte Partnerschaft für eine nachhaltige Entwicklung einmünden. Als ich vor acht Wochen, bewacht von 35 schwer be- waffneten Sicherheitskräften – es war ein komisches Ge- Wichtiger Ausdruck dieses neuen Denkens – das ist am fühl –, durch die Ruinen und Trümmer der Altstadt von heutigen Abend mehrfach betont worden – ist eine eigen- Mogadischu fuhr – Mogadischu war noch vor zehn Jah- afrikanische Initiative, die NePAD, die New Partnership ren eine der schönsten afrikanischen Hauptstädte –, da For Africa´s Development, die von der Einsicht geleitet habe ich mir die Frage selbst gestellt: Hat Afrika noch eine wird, dass zur Implementierung der Fülle von Ideen und humane Zukunft? Maßnahmen zur Verbesserung der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse ein friedliches Umfeld, Erst jüngst ist ein Buch von Peter Scholl-Latour mit Formen demokratischer Transparenz, Kontrolle und ein dem Titel „Afrikanische Totenklage“ und dem Untertitel rechtsstaatliches System notwendig sind. Deshalb will ich „Der Ausverkauf des Schwarzen Kontinents“ erschienen; anerkennend herausstellen, dass weder die Bundesregie- viele von uns haben es vielleicht gelesen. Ich will hier rung noch der Deutsche Bundestag in das Klagelied man- (B) deutlich sagen: Ich halte dieses Buch für kontraproduktiv, (D) ja für schädlich, cher – und leider zu vieler – einstimmen, sondern durch vielfältige Aktivitäten dieses neue Denken unterstützen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ich freue mich schon heute auf den Afrikatag im Paul-Löbe-Haus am 7. Juni, den die G-8-Beauftragte für weil es weder uns in unseren afrikapolitischen Bemühun- Afrika, unsere Kollegin Uschi Eid, im Auftrag des Bun- gen hilft noch diesem geschundenen Kontinent einen deskanzlers gerade vorbereitet. Ich bin sicher, dass von Schimmer an Hoffnungen lässt. Eine solch eingeengte diesem Tag ein neuer Schub ausgehen wird für unsere Betrachtungsweise verstellt den Blick für Entwicklungen, Einsicht, dass der Schwarze Kontinent unsere uneinge- die es in Afrika zuhauf gibt; Kollegin Becker-Inglau hat schränkte Unterstützung verdient. das dargestellt. Dies sind Entwicklungen, die Hoffnungen machen und meinen persönlichen Afrikaoptimismus eher (Beifall im ganzen Hause) wachsen als schrumpfen lassen. Lassen Sie mich schließen mit einem Wunsch. Ich Dem Untertitel des Buches von Scholl-Latour kann ich hoffe und wünsche, dass im 15. Deutschen Bundestag allerdings zustimmen. Denn das, was international agie- mehr „Afrikaner“ sitzen werden, die bereit sind, sich an- rende Konsortien an ausbeuterischen und Land und Leute stecken zu lassen von der Krankheit, die ich den Virus af- zerstörenden Aktivitäten im Zusammenspiel mit klepto- ricanus nenne; denn dieser Kontinent hat unsere Unter- kratischen und korrupten afrikanischen Politikern im roh- stützung voll verdient. stoffreichen Afrika entfalten, das kann einem schon die Sprache verschlagen. (Beifall im ganzen Hause) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Vizepräsidentin Petra Bläss: Ich schließe die Aus- CDU/CSU und der FDP) sprache. Ich behaupte, Afrika wäre in seiner Entwicklung sehr viel Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der weiter, wenn wir mit dafür Sorge trügen, dass in unseren Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit dem Ländern die Fluchtgelder afrikanischer Potentaten, aber Titel „Afrikas neues Denken unterstützen“. Wer stimmt auch afrikanischer Geschäftsleute keine Heimat fänden. für den Antrag auf Drucksache 14/8859? (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Marlies Pretzlaff [CDU/CSU]: Der muss über- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der wiesen werden! – Dr. Uschi Eid [BÜNDNIS 90/ CDU/CSU) DIE GRÜNEN]: Überweisung!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23253

Vizepräsidentin Petra Bläss (A) – Ich nehme zur Kenntnis, dass alle Parlamentarischen Ge- Berichterstattung: (C) schäftsführerinnen und Geschäftsführer für Überweisung Abgeordnete Erika Lotz dieses Antrages sind. Hier steht etwas anderes. Dann über- Die Kolleginnen und Kollegen Ulrike Mascher, weisen wir diesen Antrag mit Zustimmung aller Fraktionen. Claudia Nolte, Ekin Deligöz, Dr. Irmgard Schwaetzer so- Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- wie Dr. Ilja Seifert haben ihre Reden zu Protokoll gege- empfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam- ben.1) – Große Begeisterung bei allen Kolleginnen und menarbeit und Entwicklung auf Drucksache 14/4970 zu Kollegen. dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Afrika darf nicht zu einem vergessenen Kontinent wer- Wir kommen deshalb zur Abstimmung über die von den“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Druck- den Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnis- sache 14/2571 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- ses 90/Die Grünen und der FDP sowie von der Fraktion schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – der PDS eingebrachten Gesetzentwürfe zur Zahlbarma- Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der chung von Renten aus Beschäftigungen in einem Getto Fraktionen von CDU/CSU und FDP angenommen. und zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetz- buch. Der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung emp- Jetzt kommen wir zur Beschlussempfehlung des Aus- fiehlt auf Drucksache 14/8823, die zu einem Gesetzent- schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- wurf zusammengefassten Gesetzentwürfe anzunehmen. wicklung auf Drucksache 14/8617 zu dem Antrag der Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um das Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen Handzeichen. – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Ge- mit dem Titel „EU-AKP-Zusammenarbeit – bewährte setzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig an- Partnerschaft mit großer Zukunft“ sowie zu dem Antrag genommen. der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Reform der EU-Entwicklungszusammenarbeit ist bislang Stückwerk Wir kommen zur und muss konsequent vorangetrieben werden“. Der dritten Beratung Ausschuss empfiehlt, die Anträge auf den Drucksa- chen 14/3396 und 14/3771 in der Ausschussfassung an- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem zunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge- Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh- genprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit lung ist einstimmig angenommen. den Stimmen des gesamten Hauses angenommen.

Wir kommen jetzt zur Beschlussempfehlung des Aus- Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf: wärtigen Ausschusses auf Drucksache 14/8849 zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Für eine eu- Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra (B) ropäische Ausrichtung der deutschen Afrikapolitik“. Der Bläss, Wolfgang Gehrcke, Carsten Hübner, weite- (D) Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/5090 rer Abgeordneter und der Fraktion der PDS abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Bündnisfall aufheben Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh- – Drucksache 14/8664 – lung ist gegen die Stimmen der Fraktionen von CDU/ CSU und FDP angenommen. Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Rechtsausschuss Ich rufe auf Tagesordnungspunkt 14: Verteidigungsausschuss – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/ Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die PDS DIE GRÜNEN und der FDP eingebrachten Ent- fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wider- wurfs eines Gesetzes zur Zahlbarmachung von spruch. Dann ist das so beschlossen. Renten aus Beschäftigungen in einem Getto Ich erteile der Kollegin Heidi Lippmann das Wort. und zur Änderung des Sechsten Buches Sozial- gesetzbuch Heidi Lippmann (PDS): Frau Präsidentin! Liebe Kol- – Drucksache 14/8583 – leginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! In un- (Erste Beratung 227. Sitzung) serem vorliegenden Antrag geht es nicht darum, dass der so genannte Kampf gegen den Terrorismus eingestellt wird – Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion oder nicht, sondern darum, den am 4. Oktober letzten Jah- der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes res vom NATO-Rat beschlossenen Bündnisfall aufzuhe- zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäf- ben. Wir alle wissen, dass die NATO im Rahmen der Ope- tigungen in einem Getto und zur Änderung des ration „Enduring Freedom“, bei der sich auch mehrere Sechsten Buches Sozialgesetzbuch Tausend Soldaten der Bundeswehr im Einsatz befinden, – Drucksache 14/8602 – militärisch eine eher randständige und politisch nahezu un- (Erste Beratung 227. Sitzung) bedeutende Rolle spielt und dass nahezu alle Absprachen bilateral zwischen den USA und Einzelstaaten getroffen Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- ses für Arbeit und Sozialordnung (11. Ausschuss) – Drucksache 14/8823 – 1) Anlage 11 23254 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

Heidi Lippmann (A) werden. Meines Erachtens hatte der Beschluss, den Bünd- Terroranschlägen muss mit Maßnahmen der Verbre- (C) nisfall auszurufen, eine eher symbolische Bedeutung, chensbekämpfung und nicht mit mehr oder weniger be- quasi als nochmalige Verstärkung der uneingeschränkten liebigen Luftangriffen – heute auf Afghanistan, morgen Solidarität mit den USA. auf den Irak, übermorgen auf Nordkorea – begegnet wer- den. Auch die Ursachen für Gewaltbereitschaft kann man Heute stehen wir vor dem Problem, dass der NATO- Rat damals versäumt hat, ein klares Ziel, einen Ausweg, ebenso wenig wie soziale Missstände mit militärischen eine so genannte Exitstrategie zu definieren. Deswegen Angriffen wegbomben. fragen sich immer mehr Politiker quer durch alle Fraktio- Besonders der Blick in Richtung Nahost hat uns ge- nen und Militärs – auch weltweit –: Wie lässt sich ein sol- zeigt, wie unter dem Deckmantel der Behauptung, Terro- cher Beschluss wieder rückgängig machen? Es gibt dafür rismus bekämpfen zu wollen, Gewalteskalation betrieben keinen Präzedenzfall. Es gibt dafür auch keine verbind- werden kann und damit der Boden für neue Gewalttaten lichen Regelungen. Eigentlich ist der Bündnisfall dann bereitet wird. beendet, wenn der Krieg gewonnen ist. Zu dem Anschlag auf Djerba, deren Opfern und ihren Was heißt das aber bei einem Krieg gegen den Terro- Angehörigen unser tiefes Mitgefühl gehört, und zu den rismus? Vor allem in den USA gibt es einige Fraktionen, Inhaftierungen der letzten Tage lassen Sie mich eines sa- die gerne einen solchen Zustand permanenter gesell- gen: Kein Mensch denkt darüber nach, deswegen jetzt schaftlicher und militärischer Mobilisierung auf Dauer Tunesien zu bombardieren oder gegen mutmaßliche Ter- hätten. Das macht das Regieren einfach, sichert Mehrhei- roristen im Inland mit Panzern vorzugehen. Zur Verbre- ten und gestattet weit reichende Eingriffe in Grundrechte chensbekämpfung braucht es keinen NATO-Beschluss. und Freiheiten. Und auch hier in diesem Land ist innen- politisch so ziemlich alles möglich, da ja der Bündnisfall Wir warnen davor, weiterhin einen zeitlich und lokal ausgerufen ist. unbegrenzten Krieg gegen den Terror führen zu wollen. Statt einer fortgesetzten militärischen Angriffsbereit- Das wollen wir ganz und gar nicht. Wir wollen – auch schaft brauchen wir eine zivil und sozial orientierte Poli- im internationalen Maßstab – nicht diesen endlosen Zu- tik der Besonnenheit, in der das Primat der Politik und der stand zwischen Krieg und Frieden, der dafür herhalten Diplomatie im Vordergrund steht. Dies geht nur unter der soll, weit reichende Militäraktionen ohne große Abwä- Federführung der Vereinten Nationen. gungen zu ermöglichen. Im Fall eines Krieges gegen den Irak bedarf es keiner großen Debatte über eine mögliche Wir wollen, dass der weltweite Kampf gegen terroris- Beteiligung Deutschlands oder nicht, denn dieser ist vom tische Bedrohungen unter der Regie der Vereinten Na- NATO-Ratsbeschluss bereits gedeckt, ebenso wie über- tionen geführt wird. Nur dies gewährleistet, dass diese Auseinandersetzung auf einer wirklich umfassenden mul- (B) morgen auch der übernächste Krieg gedeckt sein wird. (D) tilateralen Grundlage geführt wird. Nur so kann eine Der Verteidigungsfall als Dauerzustand bildet bereits Schranke gegen machtpolitischen Missbrauch des Selbst- jetzt die Legitimation für weit reichende Auf- und Umrüs- verteidigungsrechts aufgerichtet werden. Nur dadurch tungsprogramme, für eine Neuauflage der Politik mili- kann der Weg hin zu einem kohärenten, zivil geprägten tärischer Abschreckung und auch für militärische Inter- Konzept der Gewalteindämmung beschritten werden. ventionen gegen Regime, die man schon lange loswerden wollte. (Beifall bei der PDS) Die PDS hat es von Anfang an für falsch gehalten, ge- gen terroristische Fundamentalisten einen militärischen Vizepräsidentin Petra Bläss: Ich schließe die Aus- Krieg zu führen und damit genau deren Kalkül zu ent- sprache, denn die Kollegen Markus Meckel, Eckart von sprechen. Klaeden, Ludger Volmer und Hildebrecht Braun haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) (Walter Hirche [FDP]: Unglaublich!) Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf – Herr Staatsminister, setzen Sie sich nach vorne, wenn Drucksache 14/8664 an die in der Tagesordnung aufge- Sie mich kritisieren möchten! führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe keinen Wi- (Dr. Ludger Volmer, Staatsminister: Ich möchte derspruch. Dann ist dies so beschlossen. Sie kritisieren, aber ich habe es gar nicht getan! – Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am Walter Hirche [FDP]: Das war ich!) Schluss unserer heutigen Tagesordnung. – Entschuldigung. Dann kam der Zuruf wohl von rechts Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- außen. Ich entschuldige mich bei Ihnen. tag auf morgen, Freitag, den 26. April 2002, 9 Uhr, ein. (Walter Hirche [FDP]: Es ist aber interessant, Die Sitzung ist geschlossen. dass Sie ihm diesen Zwischenruf auch zu- trauen! Das ist bemerkenswert!) (Schluss: 22.27 Uhr)

1) Anlage 12 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23255

(A) Anlagen zum Stenographischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Balt, Monika PDS 25.04.2002 Raidel, Hans CDU/CSU 25.04.2002 Behrendt, Wolfgang SPD 25.04.2002* Reiche, Katherina CDU/CSU 25.04.2002 Bindig, Rudolf SPD 25.04.2002* Roos, Gudrun SPD 25.04.2002 Breuer, Paul CDU/CSU 25.04.2002 Rühe, Volker CDU/CSU 25.04.2002 Bühler (Bruchsal), CDU/CSU 25.04.2002* Rupprecht, Marlene SPD 25.04.2002* Klaus Scharping, Rudolf SPD 25.04.2002 Erler, Gernot SPD 25.04.2002 Schily, Otto SPD 25.04.2002 Ernstberger, Petra SPD 25.04.2002 Schlee, Dietmar CDU/CSU 25.04.2002 Friedrich (Altenburg), SPD 25.04.2002 Peter Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 25.04.2002 Hans Peter Haack (Extertal), SPD 25.04.2002* Karl-Hermann von Schmude, Michael CDU/CSU 25.04.2002* Hofbauer, Klaus CDU/CSU 25.04.2002 Schultz (Köln), Volkmar SPD 25.04.2002 Hoffmann (Chemnitz), SPD 25.04.2002 Seehofer, Horst CDU/CSU 25.04.2002 Jelena Siemann, Werner CDU/CSU 25.04.2002 Dr. Hornhues, CDU/CSU 25.04.2002* (B) Spranger, Carl-Dieter CDU/CSU 25.04.2002 (D) Karl-Heinz Thönnes, Franz SPD 25.04.2002 Hornung, Siegfried CDU/CSU 25.04.2002* Zierer, Benno CDU/CSU 25.04.2002* Irmer, Ulrich FDP 25.04.2002

* * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung Jäger, Renate SPD 25.04.2002 des Europarates Jünger, Sabine PDS 25.04.2002 Koschyk, Hartmut CDU/CSU 25.04.2002 Anlage 2

Lintner, Eduard CDU/CSU 25.04.2002* Erklärung nach § 31 GO Dr. Lippelt, Helmut BÜNDNIS 90/ 25.04.2002* zur namentlichen Abstimmung über den Ent- DIE GRÜNEN wurf eines Gesetzes zur Sicherstellung des Em-

* bryonenschutzes im Zusammenhang mit Ein- Dr. Lucyga, Christine SPD 25.04.2002 fuhr und Verwendung menschlicher embryonaler Michels, Meinolf CDU/CSU 25.04.2002* Stammzellen (Stammzellgesetz – SZG) (Druck- sache 14/8846) Müller (Berlin), PDS 25.04.2002* Manfred Dr. Hans Georg Faust (CDU/CSU): Ich lehne den Neumann (Gotha), SPD 25.04.2002* Import von menschlichen embryonalen Stammzellen aus Gerhard grundsätzlichen Erwägungen heraus ab und stimme des- halb dem Gesetzentwurf nicht zu. Nietan, Dietmar SPD 25.04.2002 Erstens. Bei der Entscheidung des Deutschen Bun- Onur, Leyla SPD 25.04.2002* destages vom 30. Januar 2002 handelt es sich um eine grundlegende Weichenstellung. Damit wird ein Weg ein- Ostrowski, Christine PDS 25.04.2002 geschlagen, den ich ablehne. Er widerspricht meinem Palis, Kurt SPD 25.04.2002* grundlegenden Verständnis von der unteilbaren Würde des Menschen von Anfang an, beginnend mit der Ver- Philipp, Beatrix CDU/CSU 25.04.2002 schmelzung von Ei und Samenzelle. 23256 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

(A) Zweitens. Unabhängig davon respektiere ich die Mehr- mich keineswegs ausgeräumt, gleichwohl ist nicht zu be- (C) heitsentscheidung, da eine grundsätzliche Regelung des streiten, dass dieser Entwurf die Grundsatzentscheidung Imports von embryonalen Stammzellen dringend erfor- der Mehrheit des Bundestages vom 30. Januar so genau derlich ist. wie eben möglich umsetzt. Ich stimme dem Gesetzentwurf nur deshalb zu, weil Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich das geltende Embryonenschutzgesetz den Import embry- lehne den Import embryonaler Stammzellen ab. Für mich onaler Stammzellen nicht ausdrücklich ausschließt und beginnt das menschliche Leben mit der Verschmelzung daher eine Ergänzung und Präzisierung des Gesetzes- von Ei- und Samenzelle. Dieses Leben in seiner Individu- textes dringend geboten ist. Dies will ich nicht durch die alität muss den vollen Schutz des Grundgesetzes nach Ablehnung dieses überfraktionellen Gesetzentwurfes ge- Art. 1 und 2 – die Unantastbarkeit der Würde des Men- fährden, auch wenn er meinen persönlichen Überzeugun- schen sowie das Recht auf Leben – genießen. Diese ethi- gen im Grundsatz nicht entspricht. sche Bewertung trifft auch für im Ausland erzeugte Em- bryonen zu. Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Das deutsche Am 30. Januar 2002 hat nach kontroverser und Embryonenschutzgesetz verbietet den Verbrauch von grundsätzlicher Debatte die Mehrheit des Deutschen Bun- Embryonen zu Forschungszwecken. In diesem Sinne destages dafür gestimmt, eine gesetzliche Regelung zum lehne ich nach wie vor die Nutzung von Embryonen zu Stammzellenimport mit strikten Auflagen herbeizu- Forschungszwecken aus ethischen, moralischen und for- führen. Daraufhin habe ich mich dafür eingesetzt, eine schungspolitischen Gründen ab. Folgerichtig resultiert klare und strenge Reglementierung in das Gesetz einzu- daraus auch meine Ablehnung des Imports im Ausland bringen, die gewährleistet, dass für die Stammzellfor- hergestellter embryonaler Stammzellen. Eine Zulassung schung in Deutschland keine Embryonen getötet werden. des Imports bedeutet, dass im Ausland gemacht wird, was Dies ist gelungen. Im Endeffekt stellt der jetzt vorliegende in Deutschland verboten und nicht gewollt ist. Ethische Gesetzentwurf eine wesentliche Verbesserung und Ver- Grundsätze aber ändern sich nicht mit dem Überschreiten schärfung der geltenden Gesetzeslage dar, die bisher politischer Grenzen. keine Importeinschränkungen vorsieht. Deshalb kann ich Der Deutsche Bundestag hat nach einer intensiven De- dem jetzt vorliegenden Entwurf inklusive des Ände- batte am 30. Januar 2002 die grundsätzliche Entscheidung rungsantrages Renesse/Fischer, der eine Klärung in den in dieser Frage getroffen. Er hat sich mehrheitlich dafür Strafvorschriften beinhaltet, zustimmen. Dieses Ergebnis ausgesprochen, den Import embryonaler Stammzellen auf ist ein großer Erfolg der Arbeit der Enquete-Kommission bestehende Stammzelllinien, die zu einem bestimmten „Recht und Ethik der modernen Medizin“ sowie der öf- (B) Stichtag etabliert wurden, zu beschränken. Wenngleich (D) fentlichen Debatte, insbesondere der Beiträge von Kir- ich den Versuch der Befürworter und Befürworterinnen chen und NGOs. Noch vor einem Jahr wäre es so nicht zu- eines beschränkten Imports anerkenne und respektiere, stande gekommen. über einen solchen Weg den Verbrauch neuer Embryonen Eine Rückholung der demokratischen Entscheidung verhindern zu wollen, halte ich die getroffene Entschei- vom 30. Januar durch einen Änderungsantrag, der den Im- dung nach wie vor für falsch. port embryonaler Stammzellen gänzlich verbietet, halte Ich hätte es meiner Wertvorstellungen wegen gerne ich trotz meiner oben dargelegten Auffassung zu diesem verhindert, dass menschliches Leben für spekulative For- Thema für demokratisch und rechtlich problematisch. schung genutzt wird. Ich hätte es forschungspolitisch für Eine Zustimmung zu diesem Antrag entspräche meiner sinnvoller gehalten, die Kräfte zu bündeln und auf die the- Auffassung nach nicht dem Auftrag der Bundestagsmehr- rapeutisch erfolgreicheren adulten Stammzellen zu kon- heit zur Einbringung eines Gesetzesentwurfs mit strengen zentrieren. Richtlinien und würde den weiteren parlamentarischen Wenn ich mich heute beim Gesetzentwurf in der geän- Entscheidungen nicht standhalten. Im Gegenteil, eine sol- derten Fassung enthalte, so geschieht das vor dem Hinter- che Entscheidung wird zu rechtlich begründbaren Gegen- grund der Befürchtung, dass eine Ablehnung des vorlie- reaktionen führen und den Konsens gefährden. genden Entwurfs dazu führen könnte, dass am Ende keine Daher werde ich mich an diesem Punkt enthalten. Regelung zustande kommt und die gesellschaftliche und politische Akzeptanz für eine Beschränkung schwindet. Der nach dem Embryonenschutzgesetz mögliche unge- Dr. Norbert Lammert (CDU/CSU): Dem Gesetzent- hinderte Import embryonaler Stammzellen aber stellt für wurf zur Sicherstellung des Embryonenschutzes im Zu- mich das größere Übel dar, denn er würde einem Ver- sammenhang mit Einfuhr und Verwendung menschlicher brauch neu hergestellter Embryonen im Ausland Vor- embryonaler Stammzellen – Drucksache 14/8394 – stimme schub leisten. ich zu in Respekt vor der Mehrheitsentscheidung des Bundestages vom 30. Januar dieses Jahres. In der damali- gen Debatte habe ich meine prinzipiellen Einwände gegen Heinz Schemken (CDU/CSU): Ich stimme gegen die Forschung an menschlichen Embryonen vorgetragen den Gesetzentwurf auf Bundestagsdrucksache 14/8394 und meine Zweifel, ob die von der Mehrheit schließlich „Entwurf eines Gesetzes zur Sicherstellung des Embryo- entschiedene Zulassung unter genau und eng definierten nenschutzes im Zusammenhang mit Einfuhr und Verwen- Grenzen auf Dauer haltbar und praktikabel ist. Diese dung menschlicher embryonaler Stammzellen (Stamm- Zweifel sind durch den vorliegenden Gesetzentwurf für zellgesetz – SZG)“. Es zeigt sich jetzt immer deutlicher, Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23257

(A) dass der Beschluss des Deutschen Bundestages vom bedingter Art. Solche Forschungen auszuschließen ist nicht (C) 30. Januar 2002 mit der bedingten Öffnung der Einfuhr nur mit Art. 5 Abs. 3 GG, sondern auch mit dem Grundrecht von menschlichen embryonalen Stammzellen und die aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG unvereinbar. Forschung an diesen Zellen uns in eine zwangsläufige Richtig ist, dass es bei Fragen dieser Art immer eines Folge weiter gehender Entscheidungen führt. Damit geht verhältnismäßigen Ausgleichs bedarf. Dies bedeutet ins- auch dieser Gesetzentwurf immer mehr vom Geist des besondere, dass der Forschung an und mit adulten Stamm- Embryonenschutzgesetzes weg. Das geltende Embryo- zellen stets der Vorrang vor der Forschung mit embryona- nenschutzgesetz schließt eindeutig Forschungen an Em- len Stammzellen zu geben ist. Ein generelles Verbot der bryonen ebenso aus wie das so genannte „therapeutische“ Forschung mit und an embryonalen Stammzellen ist je- Klonen, bei dem ein lebensfähiger Embryo zerstört wird. doch unverhältnismäßig und meines Erachtens nicht ge- Statt der Forschung mit embryonalen Stammzellen sollte rechtfertigt. Aus diesem Grunde macht es auch keinen die Forschung mit adulten Stammzellen einschließlich der Sinn, ein entsprechendes Importverbot zu verhängen. Die Stammzellen aus Nabelschnurblut intensiviert werden. Forschung an und mit embryonalen Zellen wird weltweit Neue wissenschaftliche Erkenntnisse deuten darauf hin, betrieben, stößt in aller Regel nicht auf vergleichbare dass auf diesem Wege weit reichende Erkenntnisse zu ge- Schranken, wie sie durch das Stammzellgesetz vorgese- winnen sind. hen werden. Aus Gewissensgründen wie aus verfassungs- rechtlichen Gründen kann ich dieser Gesetzgebung dem- Leben ist mehr als Gesundheit und genetische Perfek- gemäß nicht zustimmen. tion. Zum menschlichen Leben gehören ebenso Inspira- tion und Ideenreichtum, Engagement und Wille, aber auch Begrenzung und Behinderung. Als Christen glauben Reinhard Freiherr von Schorlemer (CDU/CDU): wir, dass Gott den Menschen nach seinem Bild geschaf- Ich lehne den Import von menschlichen embryonalen fen hat. Daher ist das Leben der Verfügbarkeit des Men- Stammzellen aus grundsätzlichen Erwägungen heraus ab schen entzogen. Der Mensch darf nicht sein eigener und stimme deshalb dem Gesetzentwurf nicht zu. Bei der Schöpfer werden und selbst den Maßstab gelingenden Le- Entscheidung des Deutschen Bundestages vom 30. Januar bens festsetzen. Die Würde des Menschen ist unantastbar 2002 handelt es sich um eine grundlegende Weichen- – das ist Grundlage unserer demokratischen Verfassung. stellung. Damit wird ein Weg eingeschlagen, den ich ab- Die Fortschritte im Bereich der Lebenswissenschaften lehne. Er widerspricht meinem grundlegenden Verständ- wecken Erwartungen und Hoffnungen, aber auch Be- nis von der unteilbaren Würde des Menschen von Anfang an, beginnend mit der Verschmelzung von Ei und Samen- fürchtungen. Meine Auffassung ist die, dass technische zelle. Machbarkeit von Verfahren in der Biotechnologie und Me- dizin nicht zum Maßstab für eine ethische Rechtfertigung (B) (D) werden darf. Auch ökonomische Interessen sowie die Stan- Anlage 3 dortfrage können nicht gegen Lebensschutz und Menschen- würde aufgewogen werden. Wer daher jetzt dem Drängen Erklärung nach § 31 GO interessierter Kreise nachgibt, wird es zukünftig schwer ha- ben, entsprechende weiter gehende Forderungen abzu- der Abgeordneten Christina Schenk, Dr. Ruth wehren. Die Feststellung der EnqueteKommission, dass a Fuchs, Dr. Dietmar Bartsch und Dr. Uwe-Jens ngesichts der ethischen Konflikte die Gewinnung von Rössel (alle PDS) zur namentlichen Abstimmung Stammzellen aus Embryonen, bei denen menschliches über den Entwurf eines Gesetzes zur Sicherstel- Leben vernichtet wurde, weiterhin nicht verantwortbar lung des Embryonenschutzes im Zusammen- sei, muss deshalb wegweisend und bindend bleiben. hang mit Einfuhr und Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen (Stammzellgesetz – SZG) (Drucksache 14/8846) Dr. Rupert Scholz (CDU/CSU): Ich stimme dem Wir stimmen – im Unterschied zur Mehrheit unserer Stammzellgesetz, eingeschlossen die vorliegenden Ände- Fraktion – dem oben genannten Gesetzentwurf zu. Am rungsanträge, nicht zu. Nach meiner Auffassung bedarf es 30. Januar 2002 hat der Deutsche Bundestag beschlossen, eines solchen Gesetzes nicht, sind die von ihm für die Em- in Deutschland – unter strengen Auflagen – die Forschung bryonenforschung errichteten rechtlichen Schranken zu ri- an menschlichen embryonalen Stammzellen zu hochran- gide. Der Schutz menschlichen Lebens kann grundsätzlich gigen Zwecken zu ermöglichen. nur mit der Nidation beginnen. Vor der Nidation ist eine em- bryonale Stammzelle prinzipiell noch nicht als menschli- In der Abwägung zwischen den verschiedenen Beden- ches Leben im verfassungsrechtlich geschützten Sinne zu ken gegenüber der Verwendung von menschlichen em- qualifizieren. Es besteht demgemäß kein verfassungsrecht- bryonalen Stammzellen für Forschungszwecke, den Ge- liches Erfordernis für eine Gesetzgebung der hier vorgese- fahren der Kommerzialisierung der Stammzellgewinnung henen Art. Im Gegenteil, gerade die Prinzipien des Schutzes und den sich aus der Forschung an embryonalen Stamm- der Menschenwürde gemäß Art. 1 Abs. 1 GG und des zellen möglicherweise ergebenden Heilungschancen für Schutzes von Leben und Gesundheit für jeden Menschen schwere Erkrankungen haben wir diesen Beschluss be- grüßt. gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gebieten zumindest die prin- zipielle Zulassung auch der Stammzellenforschung. Denn Wir sind der Auffassung, dass neben der Schutzwür- Stammzellenforschung dieser Art eröffnet medizinisch emi- digkeit möglichen und werdenden Lebens auch die Inte- nente Möglichkeiten zur Heilung von Erbkrankheiten und ressen von Schwerkranken zu berücksichtigen sind. Dabei zur Bekämpfung von Gesundheitsschäden gerade genetisch gehen wir davon aus, dass menschliche Embryonen 23258 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

(A) keinesfalls beliebige Forschungsgegenstände sind, son- ausgesprochen, den Import embryonaler Stammzellen auf (C) dern nur unter strengen Regeln und ausschließlich zu bestehende Stammzelllinien, die zu einem bestimmten hochrangigen Forschungszwecken genutzt werden dür- Stichtag etabliert wurden, zu beschränken. Wenngleich fen. wir den Versuch der Befürworter und Befürworterinnen eines beschränkten Imports anerkennen und respektieren, Der vorliegende Gesetzentwurf setzt aus unserer Sicht über einen solchen Weg den Verbrauch neuer Embryonen den im Januar beschlossenen Kompromiss um, wenn auch verhindern zu wollen, halten wir die getroffene Entschei- mit zusätzlichen Restriktionen. Dennoch stimmen wir dung nach wie vor für falsch. ihm zu, damit für die medizinische Forschung die not- wendige Rechtssicherheit hergestellt wird – auch wenn Darüber hinaus kritisieren wir, dass der vorliegende in Details andere Festlegungen wünschenswert gewesen Gesetzentwurf nicht dem Bundestagsbeschluss vom wären. 30. Januar entspricht: Die in § 3 formulierte Definition von Stammzelllinien ist wirklichkeitsfremd und führt ge- genüber der Intention des Beschlusses vom 30. Januar zu Anlage 4 einer erheblichen Ausweitung der Zahl benutzbarer Zel- len. Grundsätzlich müssen aus einem Gewebe oder Em- Erklärung nach § 31 GO bryo isolierte Zellen immer zunächst in Kultur genommen und (zumindest für kurze Zeit) gehalten werden. Als Zell- derAbgeordneten René Röspel, Wolfgang Thierse, linien werden aber üblicherweise solche Zellen bezeich- Hans-Werner Bertl, Willi Brase, Christel net, die über längere Zeiträume stabil in Nährmedien kul- Deichmann, Marga Elser, Gabriele Iwersen, Klaus tiviert werden können, ohne wesentliche Eigenschaften Kirschner, Horst Kubatschka, Helga Kühn- zu verlieren. Die vorliegende Definition wird dazu führen, Mengel, Dirk Manzewski, Andrea Nahles, Günter dass nicht nur die etwa 80 zum Zeitpunkt des Beschlusses Oesinghaus, Dagmar Schmidt (Meschede), Regina am 30. Januar bekannten „Stammzelllinien“ importiert Schmidt-Zadel, Walter Schöler, Dr. Sigrid werden dürfen, sondern alle zum Stichtag vorhandenen Skarpelis-Sperk, Adelheid Tröscher, Rüdiger Veit, embryonalen Stammzellen (vermutlich mehrere Hundert Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker, Arne Fuhrmann, oder Tausend weltweit). Eine weitere Veränderung findet Dr. Martin Pfaff, Waltraud Wolff (Wolmirstedt) sich zum Beispiel in Bezug auf die so genannte Zustim- und Christel Riemann-Hanewinckel (alle SPD) mungsregelung. Im Bundestagsbeschluss vom 30. Januar zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf wurde die informierte Einwilligung der Eltern als Grund- eines Gesetzes zur Sicherstellung des Embryonen- lage für eine Genehmigung gefordert. Im zur Abstim- schutzes im Zusammenhang mit Einfuhr und Ver- mung stehenden Entwurf wird der Anspruch aufgegeben, (B) wendung menschlicher embryonaler Stammzellen Anforderungen an die informierte Zustimmung zu stel- (D) (Stammzellgesetz – SZG) (Drucksache 14/8846) len, wie sie für das deutsche Recht in anderen Fällen diskutiert werden. Stattdessen wird nur noch die Übe- Das deutsche Embryonenschutzgesetz verbietet den reinstimmung mit der Rechtslage im Herkunftsland ge- Verbrauch von Embryonen zu Forschungszwecken. fordert. In diesem Sinne lehnen wir nach wie vor die Nutzung Wir hätten unserer Wertvorstellungen wegen gerne von Embryonen zu Forschungszwecken aus ethischen, verhindert, dass menschliches Leben für spekulative For- moralischen und forschungspolitischen Gründen ab. Fol- schung genutzt wird. Wir hätten es forschungspolitisch gerichtig resultiert daraus auch unsere Ablehnung des für sinnvoller gehalten, die Kräfte zu bündeln und auf die Imports im Ausland hergestellter embryonaler Stamm- therapeutisch erfolgreicheren adulten Stammzellen zu zellen. Eine Zulassung des Imports bedeutet, dass im konzentrieren. Ausland gemacht wird, was in Deutschland verboten und Die Wahl zwischen der schwachen Begrenzung und nicht gewollt ist. Unsere ethischen Grundsätze aber än- der Alternative der Regellosigkeit lassen uns keine andere dern sich nicht mit dem Überschreiten politischer Gren- realistische Möglichkeit, als dem Gesetzentwurf zuzu- zen. stimmen. Wenn wir heute dem Gesetzentwurf in der geänderten Fassung trotzdem zustimmen, so geschieht das vor dem Hintergrund der Befürchtung, dass eine Ablehnung des Anlage 5 vorliegenden Entwurfs dazu führen könnte, dass am Ende keine Regelung zustande kommt und die gesellschaftliche Erklärung nach § 31 GO und politische Akzeptanz für eine Beschränkung schwin- det. Der nach dem Embryonenschutzgesetz mögliche un- der Abgeordneten Dr. Hermann Kues, Kurt- gehinderte Import embryonaler Stammzellen aber stellt Dieter Grill, Jochen Borchert, Sylvia Bonitz und für uns das größere Übel dar, denn er würde einem Ver- Hermann Gröhe (alle CDU/CSU) zur namentli- brauch neu hergestellter Embryonen im Ausland Vor- chen Abstimmung über den Entwurf eines Ge- schub leisten. setzes zur Sicherstellung des Embryonen- schutzes im Zusammenhang mit Einfuhr und Der Deutsche Bundestag hat nach einer intensiven De- Verwendung menschlicher embryonaler Stamm- batte am 30. Januar 2002 die grundsätzliche Entscheidung zellen (Stammzellgesetz – SZG) (Drucksache in dieser Frage getroffen. Er hat sich mehrheitlich dafür 14/8846) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23259

(A) Wir lehnen den Import von menschlichen embryona- Erstens. Ein formuliertes „Recht auf Stiftung“. Was in (C) len Stammzellen aus grundsätzlichen Erwägungen he- juristischen Fachkreisen schon längst anerkannt ist, wird raus ab und stimmen deshalb dem Gesetzentwurf nicht nun auch im Gesetz fest geschrieben. zu. Zweitens. Eine abgeschlossene Liste der materiellen Erstens. Bei der Entscheidung des Deutschen Bundes- Voraussetzungen zur Errichtung einer Stiftung wird in das tages vom 30. Januar 2002 handelt es sich um eine grund- Gesetz aufgenommen. So ist ein Mindeststandard für die legende Weichenstellung. Damit wird ein Weg einge- Errichtung einer Stiftung gewährleistet. Das bringt Über- schlagen, den wir ablehnen. Er widerspricht unserem sichtlichkeit, Einfachheit und Transparenz ins Stiftungs- grundlegenden Verständnis von der unteilbaren Würde wesen. Das ist stifterfreundlich. des Menschen von Anfang an, beginnend mit der Ver- Drittens. Stiftungszweck kann jedes Anliegen eines schmelzung von Ei und Samenzelle. Stifters sein, das nicht gegen die Gesetze verstößt. Nur so ist die Vielfalt der Stiftungen zu gewährleisten. Zweitens. Unabhängig davon respektieren wir diese Mehrheitsentscheidung. Das Parlament muss jetzt Rege- Viertens. In Zukunft werden Stiftungen von den Behör- lungen beschließen, die diesem Abstimmungsverhalten den nicht mehr länger genehmigt, sondern sie werden an- entsprechen. erkannt. Auch hier spiegelt sich die Auffassung wider, dass der Mensch ein Recht darauf hat, sich in Form einer Stiftung zu entfalten. Anlage 6 Gestern meldeten sich schon die Stimmen der Kritik. Peter Rawert aus Hamburg wies nicht zu Unrecht auf den Zu Protokoll gegebene Reden weitaus umfassenderen ersten Entwurf von 1997 hin. Und Zur Beratung auch der Kulturrat bemängelte, dass man sich vor allem um eine eindeutigere Definition der Institution Stiftung – des Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung hätte kümmern sollen. des Stiftungsrechts Mir persönlich ist es besonders bedauerlich, dass uns – des Entwurfs eines Gesetzes für eine Reform des vonseiten des Parlaments die Hände vor allem dahin ge- Stiftungszivilrechts (Stiftungsrechtsreformgesetz) hend gebunden waren, dass der Entwurf das Stiftungsre- (Tagesordnungspunkt 9) gister mit all seinen Konsequenzen nicht aufnehmen konnte. Denn die Länder hatten von vornherein signali- Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): siert, dass sie einem bundesweiten Register für Stiftungen (B) Heute ist ein glücklicher Tag für das bürgerschaftliche En- nicht zustimmen würden. (D) gagement, denn heute wird die Reform des Stiftungs- Mit einem solchen Register wäre dem legitimen Be- rechts abgeschlossen. Fünf Jahre nachdem die Grünen dürfnis der Öffentlichkeit Rechnung getragen worden, sich dieses Themas angenommen haben und nachdem über die privilegierte Rechtsform Stiftung mehr und ein- sich die Regierungskoalition vorgenommen hatte, das heitlicheres zu erfahren, als die Stiftungen selbst bereit Thema zu einem zufrieden stellenden Abschluss zu brin- sind, bekannt zu geben. Stiftungen werden – so sie denn gen, sind wir heute hier und beraten den Gesetzentwurf gemeinnützig sind – vom Staat vor allem steuerlich be- zum letzten Mal – jedenfalls in dieser Legislaturperiode. günstigt. Wir hätten uns also durchaus auch eine weiter gehende Reform vorstellen können, bei der gemeinnüt- Was haben wir geschafft? 1997 haben wir mit dem zige echte Stiftungen im bürgerlichen Gesetzbuch defi- bündnisgrünen Gesetzentwurf das damalige Stiftungs- niert, durch bestimmte Rechtsformzusätze – entsprechend recht auf seine Schwächen und Stärken abgeklopft und ei- etwa dem „e. V.“ bei eingetragenen Vereinen gekenn- nen umfassenden Vorschlag zu seiner Verbesserung vor- zeichnet und in einem öffentlich zugänglichen Re- gelegt. Das Hauptziel war, Anreize für Stifter und gister geführt werden müssten. Interesse für Stiftungen zu wecken. Denn wir hatten er- kannt, was heute jedermann verstanden hat: Stiftungen Mehr Transparenz in dieser Form hätte dem Stiftungs- wecken kreative Kräfte, sie sind Ideenschöpfer für eine wesen gut getan. Die Anhörung im Rechtsausschuss hat moderne, globale Gesellschaft. Im Sommer 2000 setzten uns in dieser Hinsicht bestärkt, denn die Mehrheit der Re- wir zusammen mit der SPD steuerrechtliche Reformen für ferenten sprach sich für ein Stiftungsregister aus. Wir ha- die Stiftungen und die Stifter durch. Das schaffte konkrete ben in dieser Hinsicht unsere parlamentarischen Möglich- Anreize vor allem auch für Stifter mit kleinen Vermögen, keiten ausgeschöpft, indem wir im Ausschuss für Kultur sich für eine gute Sache zu engagieren. Die Bürger und und Medien einen interfraktionellen Entschließungsantrag Bürgerinnen ergriffen die Gelegenheit beim Schopf. Vor einbrachten. Jetzt ist der Entschließungsantrag sogar ins allem die Bürgerstiftungen wuchsen allerorts aus dem Bo- Plenum eingebracht worden. Darin bitten wir die Länder, den. Die Stiftungspraxis beweist, dass wir mit unserer Re- zumindest die regionalen Verzeichnisse zu vervollständi- form unser Ziel erreichen: Allein im letzten Jahr sind an gen, zu vernetzen und der Öffentlichkeit zugänglich zu die 1 000 neue Stiftungen gegründet worden. machen. Das hat mit einem Register wenig zu tun, schafft aber immerhin mehr Öffentlichkeit für die Arbeit und die Jetzt wird der vorläufig letzte Schritt vollzogen: Wir Organisation der Stiftungen. Wir haben den Ländern wei- haben uns den zivilrechtlichen Regelungen im Stiftungs- terhin nahe gelegt, selbst die Register in ihre Landesge- wesen zugewandt und vier Regelungen vorgeschlagen: setze aufzunehmen. 23260 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

(A) Wir werden die Praxis beobachten. Das Thema lässt schen Kulturrates, der die Stiftungsreform halbherzig (C) uns noch nicht los. Sollte sich herausstellen, dass sich in nennt und mit der Auffassung Professor Rawerts in der Sachen Transparenz zu wenig bewegt, werden wir noch „FAZ“ vom 23. April 2002, der das neue Stiftungsgesetz einmal über eine diesbezügliche Verbesserung nachden- als Rückfall in das 19. Jahrhundert bezeichnet. Recht hat ken müssen. Wir haben in der vorliegenden Reform auch er; denn das Stiftungsrecht verbleibt bei den alten Rege- Abstand davon genommen, uns mit den vielfältigen Mög- lungen des Jahres 1896 und den Partikularinteressen und lichkeiten des Missbrauchs von Stiftungen auseinander zu Partikularrechten der Länder. Damit kann man keine An- setzen. Auch hier werden wir wachsam sein und beo- reize für Stifter geben. Hier ist eine gute Gelegenheit ver- bachten, ob weitere spektakuläre Fälle den Namen der tan worden, das Stiftungsrecht wirklich zu modernisieren. Stiftung in Misskredit bringen. Vielleicht müssen wir spä- Dies wäre auch möglich gewesen gegen den Widerstand ter auch hier noch einmal nachhaken. der Länder, in denen das Stiftungsgeschäft so gestaltet Jetzt wollen wir erst einmal diesen Teil der Reform an- worden wäre, dass das Normativsystem eingeführt und gemessen begrüßen. Genauso sehr wie ich mich über den damit das Gesetz vom Zustimmungsgesetz zum Ein- Abschluss insgesamt freue, ist es mir ein besonders spruchsgesetz verändert worden wäre. großes Vergnügen, festzustellen, dass die Arbeit an dieser Der Gesetzentwurf der FDP, der diesem Kriterium der Reform wieder etwas Schönes gezeigt hat: Manche The- Modernisierung entspricht, hat weitgehende Zustimmung men eignen sich so wenig zur Polemisierung, dass die Sa- bei den Sachverständigen gefunden. Frau Kollegin che wieder in den Vordergrund rückt. Das freut mich für Vollmer war zwar im Ausschuss der Auffassung, dass dem unser Parlament und heute ganz besonders für eine große Gesetzentwurf der FDP handwerkliche Mängel anhaften und wichtige Angelegenheit der Zivilgesellschaft; dem würde, aber sie war auch nicht bereit, diese angeblichen persönlichen Einsatz der Bürger und Bürgerinnen, die Mängel zu beseitigen. So verbleibt es heute dabei, dass Stiftung. das Stiftungsrecht nicht modernisiert wird und dieses Vorhaben zu Beginn der nächsten Legislaturperiode wie- Rainer Funke (FDP): Wir sind uns sicherlich in die- der aufgerufen und dann eine wirkliche Reform mithilfe sem Hause einig, dass das Stiftungsrecht modernisiert der FDP beschlossen werden wird. werden muss. Aus diesem Grund haben die Grünen einen umfangreichen Gesetzentwurf bereits am Ende der letzten Legislaturperiode eingebracht, der von dem angesehenen Anlage 7 Notar Professor Dr. Rawert ausgearbeitet war. Die FDP hat einen eigenen Gesetzentwurf zu Beginn dieser Legis- Zu Protokoll gegebene Reden laturperiode vorgelegt, der das materielle Stiftungsrecht, (B) zur Beratung der Anträge: (D) also die Bestimmungen des BGB und das Steuerrecht, umfasste. – Landminen ohne integrierte Selbstneutralisie- Das Stiftungssteuerrecht ist inzwischen durch Be- rungs- oder Selbstzerstörungsmechanismen äch- schlussfassung des Bundestages im Bundesgesetzblatt. ten – Minenräum- und Minenopferhilfe deutlich Auch wenn uns diese steuerlichen Entlastungen für Stif- erhöhen ter und Stiftungen nicht weit genug gehen, räume ich ein, – Für eine Weiterentwicklung der humanitären dass wir mit diesem Stiftungssteuerrecht auf dem richti- Rüstungskontrolle bei Landminen gen Weg sind. Erfreulich ist auch, dass die Bereitschaft, gemeinnützige Stiftungen zu gründen, zugenommen hat. (Tagesordnungspunkt 10 und Zusatztagesord- Aber gerade um diese Stiftungskultur in Deutschland auf nungspunkt 7) eine neue Stufe der Qualität und Quantität zu heben, muss das materielle Stiftungsrecht grundlegend vereinfacht Uta Zapf (SPD): Uns liegen heute zwei Anträge vor, werden und vom Konzessionssystem zum Normativsys- die in langen Passagen bemerkenswerte Übereinstim- tem verändert werden. Gerade diese Grundvoraussetzung mungen aufweisen. erfüllt der Regierungsentwurf bzw. der Entwurf der Ko- alitionsfraktionen nicht. Aus diesem Grunde werden sie Ich rätsele noch heute darüber, wie Teile des Textes des von uns auch abgelehnt. Die geringfügigen Änderungen SPD/Grünen-Antrages, der erst gestern in den Bundestag in § 80 und § 81 BGB führen nicht dazu, dass das Stif- eingebracht wurde, in den gemeinsamen Antrag von FDP tungsrecht, wie der Titel heißt, modernisiert wird; denn all und CDU/CSU vom 20. März 2002 gerieten. Der Ur- das ist lediglich ein Etikettenschwindel. Ich frage mich sprungstext des FDP-Antrages vom 20. Juni 2001 wurde wirklich, wie glaubwürdig gerade die Grünen sind, die jedenfalls dadurch wesentlich verbessert. Dies gibt Hoff- noch vor vier Jahren einen Entwurf von Professor Rawert nung, dass in den Ausschussberatungen noch ein gemein- vorgelegt haben, der, auch wenn man nicht in allen Punk- samer Antrag des ganzen Hauses entstehen kann. ten mit ihm einverstanden sein musste, grundlegende Ver- Wir sind uns alle darüber einig, dass Minen ein schwer änderungen gebracht hätte. wiegendes humanitäres Problem darstellen. Weltweit dürfte Auch die Sachverständigenanhörung hat deutlich ge- der Bestand an Antipersonenminen 230 bis 245 Millionen macht, dass der heute zur Debatte stehende Gesetzentwurf betragen, und täglich kommen mehr neue Minen hinzu, als abgelehnt und als nicht weitgehend genug bezeichnet geräumt werden können. Es sterben täglich viele Menschen wird. Das deckt sich im Übrigen mit dem Votum des Deut- oder werden verkrüppelt, weil sie auf zurückgelassene An- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23261

(A) tipersonenminen treten. Ganze Landstriche sind nach Kon- Wenn wir Fortschritte erzielen wollen, müssen wir auf (C) flikten unbetretbar, weil sie minenverseucht sind. allen Ebenen ansetzen. Wir müssen mit Nachdruck für die Universalisierung des Ottawa-Übereinkommens eintreten, Das Minenprotokoll von 1996, das bestimmte Minen- damit diese schreckliche Kategorie von Waffen wirklich arten ächtet, zum Beispiel booby-traps, und bei Verlegung vom Erdboden verschwindet. Wir müssen gleichzeitig ver- von Minen strenge Vorschriften vorsieht, wie Kartierung und Markierung des Verlegegebietes, und das Standards suchen, im Rahmen des VN-Waffenübereinkommens alle für Detektierbarkeit und Wirkzeitbegrenzungen setzte, Minen zu ächten, die nicht detektierbar sind und die keine war ein begrüßenswerter Fortschritt, aber unzureichend. Wirkzeitbegrenzung haben. Dies wird nur schrittweise zu Diese Kriterien sind weltweit auch heute noch nicht um- erreichen sein. gesetzt. Erster Schritt ist, wie in unserem Antrag gefordert, sol- Das Ottawa-Übereinkommen vom 4. Dezember 1997 che Antifahrzeugminen, die sensible Zündmechanismen ächtet die gesamte Kategorie von Antipersonenminen haben und somit von einzelnen Personen unbeabsichtigt völlig. Man muss an dieser Stelle das „7-Punkte-Aktions- ausgelöst werden können, zu verbieten. Sie müssen wie programm“ des damaligen Außenministers Kinkel lobend Antipersonenminen behandelt werden. Außerdem fordern erwähnen. Die Bundesrepublik war hier sicher ein maß- wir im Antrag das Verbot von nicht detektierbaren Anti- geblicher Unterstützer des Verbotsprozesses. 142 Staaten fahrzeugminen und solchen, die über keine Wirkzeitbe- sind diesem Übereinkommen beigetreten; 122 Staaten ha- grenzung verfügen. Alle diese Minen gefährden die Men- ben es mittlerweile ratifiziert. Aber wesentliche große schen noch viele Jahre nach Beendigung eines Konfliktes. Staaten, die produzieren und exportieren, fehlen. USA, Was heute leistbar ist und was wir unbedingt brauchen, China, Russland, Indien und Pakistan – insgesamt 14 Staa- ist ein Einstieg in das Verbot bei der VN-Waffenkonven- ten produzieren auch heute noch Antipersonenminen. tion. Deshalb beginnen wir mit der Forderung nach dem Auf der anderen Seite ist jedoch positiv zu vermerken, Verbot der Antifahrzeugminen, die wie Antipersonenmi- dass seit dem Beginn des Ottawa-Prozesses circa 27 Milli- nen wirken. Auch diese Forderung muss im Rahmen des onen gelagerte Antipersonenminen von mehr als 50 Staaten Ottawa-Übereinkommens bekräftigt werden. Es gibt ei- zerstört worden sind. 29 Staaten haben ihre Bestände be- nen Interpretationsstreit über die Reichweite des Verbotes reits vollständig zerstört, andere sind dabei. Nach dem Ot- für Minen im Ottawa-Übereinkommen: ob auch Antifahr- tawa-Übereinkommen muss ein Staat in den vier Jahren, zeugminen, die eine Aufhebesperre haben, aber unbeab- nachdem das Übereinkommen für ihn in Kraft getreten ist, sichtigt zur Explosion gebracht werden können, umfasst alle Vorräte an Antipersonenminen vernichtet haben. Für sind. Dieser Interpretationsstreit muss ausgeräumt wer- die Bundesrepublik läuft diese Frist am 1. März 2003 ab, den. (B) sie hat aber bereits vor In-Kraft-Treten des Übereinkom- Vergessen wir nicht, dass bei seriösen Staaten Anti- (D) mens 1999 alle Vorräte an Antipersonenminen vernichtet. fahrzeugminen als defensives Schutzsystem für Soldaten Der größte Teil – fast 90 Prozent – der weltweit existieren- eingesetzt werden. Ehe wir diesen Schutz nicht anders ge- den Antipersonenminen befindet sich jedoch im Besitz von währleisten können, wird eine Forderung nach schnellem Staaten, die dem Ottawa-Übereinkommen nicht beigetre- völligen Verbot illusorisch sein. ten sind. Ein vordringliches Ziel muss deshalb die Univer- salisierung des Ottawa-Übereinkommens sein. Darin sind Deutschland stellt für humanitäres Minenräumen er- sich die vorliegenden Anträge einig. hebliche Mittel zur Verfügung. Seit 1993 hat es Projekte in 31 Ländern mit circa 155 Millionen DM finanziert. Im Der Deutsche Initiativkreis zum Verbot von Landmi- Jahr 2002 stellte die Bundesrepublik allein circa 17 Mil- nen fordert ein umfassendes Verbot aller Minen, also auch lionen Euro für Minenräumaktivitäten zur Verfügung. der bisher erlaubten Kategorie der Antifahrzeugminen, Dazu kommen noch die Mittel, die auf EU-Ebene für Mi- während die International Campaign to Ban Landmines nenräumen aufgewandt werden. Im vergangenen Jahr diese radikale Forderung bislang nicht erhoben hat. Sie wurden hierfür circa 125 Millionen Euro ausgegeben. Wir verfolgt einen schrittweisen Ansatz. Der ursprüngliche fordern die Bundesregierung auf, ihr Engagement in die- Antrag der FDP forderte einen Verzicht auf alle Antifahr- sem Bereich fortzusetzen und ihre Beiträge hierfür zu ver- zeugminen, die sich „nicht ausschalten lassen oder selbst stärken. zerstören“. Diese Initiative hat die Bundesregierung be- reits längst in den internationalen Verhandlungsprozess eingebracht. Eine Ottawa-Folgekonferenz mit eben die- Verena Wohlleben (SPD): Eine Weiterentwicklung sem Ziel wäre wünschenswert, löst aber nicht das Di- der humanitären Rüstungskontrolle – und hier gerade bei lemma, dass bei Ottawa die großen Minenproduzenten Landminen – ist dringend geboten. Ich denke, soweit be- und -nutzer wie USA, Russland und China nicht dabei steht Einigkeit des Hauses. Uns allen sind die schreckli- sind. chen Bilder geläufig von Minenopfern aus der Zivilbe- völkerung. Die Bundesregierung hat diese Forderung deshalb bei der VN-Waffenkonvention thematisiert, weil Hoffnung Deshalb sind wir tätig geworden und bringen heute den besteht, dass diese großen Länder dieser Forderung folgen Antrag der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen ein. könnten. Aber auch dies löst das Dilemma keineswegs, Wir hätten uns gewünscht, einen gemeinsamen Antrag mit weil die VN-Waffenkonvention nur Restriktionen bei An- der Opposition einzubringen. Dies ist leider nicht gelun- tipersonenminen, jedoch nicht das völlige Verbot wie Ot- gen; aber vielleicht besteht nach abschließender Beratung tawa vorsieht. noch die Möglichkeit dazu. Unser Antrag geht über die 23262 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

(A) bestehenden Übereinkommen hinaus, nämlich das Ot- dann vorhandene Fähigkeitslücke müsste durch neue ko- (C) tawa-Übereinkommen zum Verbot von Antipersonenmi- stenintensive Waffensysteme geschlossen werden. nen und das Protokoll II der VN-Waffenkonvention zur Nahverlegte Minen benötigen vorgenannte Wirkzeit- Verbesserung der humanitären Standards von Landminen begrenzungen nicht notwendigerweise, wenn sie, wie allgemein. nach den strengen Kriterien der Bundeswehr praktiziert, Der entschiedene Kampf gegen das durch Minen ver- offen verlegt, gekennzeichnet, in einem Sperrplan sorg- ursachte menschliche Leiden ist unser besonderes Anlie- fältig dokumentiert, durch Soldaten überwacht und beim gen, aber natürlich auch die Forderung der Bundesregie- Verlassen des jeweiligen Gebietes vollständig wieder auf- rung. Sie ist dazu in den VN, der EU und den Gremien des genommen werden. Eine eventuelle Wirkung wie bei An- Ottawa-Übereinkommens aktiv. Auch verfolgt die Bun- tipersonenminen ist somit nicht gegeben. Daher wird eine desregierung derzeit einen schrittweisen Ansatz, der die Gefährdung der unbeteiligten Zivilbevölkerung nahezu Universalisierung der bestehenden Abkommen in den ausgeschlossen. Daher ist zu überdenken, diese Differen- Vordergrund stellt, aber parallel dazu Bemühungen um zierung, das heißt Beschränkung der Wirkzeitbegrenzung, die Anhebung der humanitären Standards und die Aus- auf fernverlegte Antifahrzeugminen, verknüpft mit den weitung der bestehenden Abkommen aktiv unterstützt. vorgenannten Kriterien, aufzunehmen. Die Forderung nach Universalisierung des Ottawa- Zusammenfassend möchte ich feststellen: Es ist gut, Übereinkommens, Anhebung der humanitären Standards dass heute der Antrag eingebracht wird. Es ist gut, dass im Protokoll II des VN-Waffenübereinkommens, insbeson- wir in dieser Frage endlich zu einem Ergebnis kommen dere auf Detektierbarkeit von Minen, die Wirkzeitbegren- und den nächsten Schritt machen. Es ist gut, dass diese zung für fernverlegte Minen, Unterstützung der Ini-tiative Anträge in verschiedenen Punkten in den Fachausschüs- in den geeigneten Foren und Erweiterung humanitärer sen noch beraten werden. Hilfe sind für uns äußerst wichtig. Zu bedenken gebe ich: Es geht heute nicht mehr nur da- Unser Ziel ist es, alle Minen zu ächten, die wie Anti- rum, dass wir es mit Staatsarmeen zu tun haben, die sich personenminen wirken. Die Ausrüstung von Antifahr- an die Regeln halten. Die terroristische Szene nutzt jede zeugminen mit sensiblen Zündmechanismen ist ein mög- Gelegenheit, um tätig zu werden. Aus diesem Grunde darf licher Ansatz, um Unfälle durch Nichtkombattanten zu man sich nicht alle Möglichkeiten des Schutzes selbst vermeiden. Diesbezügliche Ansätze waren bislang daran nehmen. Bei einer Gesamtächtung unterstellt man, dass gescheitert, dass eine technische Definition von Sensibi- alle Staaten sich an die Regeln halten. Aber im terroristi- lität nicht zu erzielen war. Es geht dabei nicht nur um ein- schen Lager wird sich nicht daran gehalten, sondern die fache Gewichtsbegrenzungen für Druckzünder, sondern arbeiten weiter mit Dingen, die nicht unter die Verbote fal- (B) um verschiedene Kriterien für unterschiedliche Zünder, len und deswegen muss man sich auch schützen können. (D) zum Beispiel Magnetimpulse und Ähnliches. Eine ent- Wenn dies aber nicht mehr möglich ist, hätte dies unüber- sprechende Initiative erscheint zwar derzeit international sehbare negative Folgen für die Operationsfähigkeit des wenig erfolgversprechend, doch sollte dies in einem er- Heeres und den Schutz sowie die Überlebensfähigkeit un- neuten Versuch ausgelotet werden. Der geeignete Rah- serer deutschen Soldaten. Demgegenüber würde sich aber men dazu ist die VN-Waffenkonvention. die Gefährdungslage der Zivilbevölkerung nicht positiv verändern. Deshalb gilt es, streng darauf zu achten, dass Nun zum Problem des unbeabsichtigten Auslösens von wir nicht mit gut gemeinten Vorschlägen Leib und Leben Minen. Bisher gibt es keine Minentechnologie, die ver- unserer Soldaten gefährden. lässlich zwischen beabsichtigter oder unbeabsichtigter, das heißt zufälliger Störung differenzieren könnte. Er- laubtheit oder Verbotensein einer Mine wäre damit von Hans-Dirk Bierling (CDU/CSU): Lassen Sie mich ei- der Zufälligkeit des Geschehens abhängig, also von Ge- nen prinzipiellen Satz vorausschicken: Es ist wieder ein- gebenheiten, die außerhalb des Einflussbereichs des mal spät am Abend, und deshalb wird diese Debatte nicht Herstellers und des Anwenders lägen. Wir müssen dabei mehr geführt, sondern zu Protokoll gegeben – ein abrüs- genau abwägen und überlegen, dass bei Einführung ei- tungspolitisches Thema von internationaler Brisanz! Ich nes derartigen Kriteriums praktisch alle Minen verboten weiß, wir hatten bereits spät nachts liegende Termine für werden würden. Dies wäre international nicht durchsetz- diese Thematik – aber trotzdem – vielleicht sollten wir bar. uns in Zukunft bemühen, derartige Themen zu einer Zeit in diesem Hause zu diskutieren, die der Wichtigkeit des Auch die Unterscheidung nach Fern- und Nahverle- Themas Abrüstung entspricht. – Aber das nur vornweg. gung ist zu beraten. Findet diese Unterscheidung nicht statt, würden auch nahverlegte Minen infrage gestellt, die Angesichts der Bilder, die uns beinahe täglich via Bild- aber im Spektrum an Sperr- und Wirkmitteln ein spezifi- schirm von Minenopfern erreichen, darf man eines nicht sches, unverzichtbares Fähigkeitsprofil abdecken und ins- vergessen, auch wenn es leider beinah alltäglich gewor- besondere dem unmittelbaren Selbstschutz unserer Solda- den scheint: Jedes der Opfer ist ein Einzelschicksal! Jedes ten im Einsatz dienen, PzAbwMi DM 21. Ein Verzicht auf der beinamputierten Kinder, jeder der einarmigen Män- diese Mine würde die Gefährdung vor allem bei leichter un- ner, jede verstümmelte Frau hat eine eigene Leidensge- gepanzerter eigener Truppen drastisch erhöhen. Die Vertei- schichte! Und keiner weiß genau, wie viele dieser Minen digungsmöglichkeiten gegenüber gegnerischen gepanzer- noch überall in der Welt versteckt in der Erde liegen und ten Kräften würden erheblich eingeschränkt werden. Die eine Gefahr für die jeweilige Zivilbevölkerung darstellen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23263

(A) Jeden Tag müssen wir damit rechnen, dass irgendwo in es aber auch hier an der Zeit umzudenken und einen neuen (C) Kambodscha, im Sudan, in Afghanistan oder anderswo Weg einzuschlagen, nach neuen Wegen und Formen zu Menschen durch Minen verstümmelt oder getötet werden. suchen, die eigenen Truppen zu schützen. Jeden Tag wird die Zukunft von Menschen zerstört, die ihr Gerade Sie, meine Damen und Herren von den Grünen, ganzes Leben noch vor sich haben oder ihre Familien aber auch nicht wenige Abgeordnete der SPD-Fraktion ernährt und versorgt haben. Da ist es auch wenig beruhi- hatten eben dieses in der letzten Legislaturperiode gefor- gend, dass die Zahl der Todesopfer im Jahr 2000 leicht dert. Ihren eigenen Forderungen in der Zeit der Opposi- rückläufig war. Weltweit starben etwa 8 000 Menschen tion haben Sie bislang auch hier keine Taten folgen lassen. – ich wiederhole: 8 000 Tote! –, davon die meisten Zivilis- Seine Vorreiterrolle bei der Ächtung von Minen sollte ten, durch Landminen. Deutschland dadurch untermauern, indem unser Land Man darf die Heimtücke und Unberechenbarkeit dieser einseitig und beispielgebend auf die Erprobung, Herstel- Waffe nicht vergessen. Sie kann jahrelang im Boden lie- lung und den Export nicht detektierbarer Landminen so- gen ohne unwirksam zu werden. Selbst wenn die eigent- wie Minen ohne Wirkzeitbegrenzung verzichtet. lichen Kampfhandlungen vielleicht schon lange Zeit Militärs weltweit betrachten Fahrzeugminen als legiti- zurückliegen und die Region sogar befriedet ist, sie blei- mes Defensivmittel zum Schutz des eigenen Territoriums ben eine unkalkulierbare Gefahr für die ansässige Bevöl- oder der eigenen Soldaten gegen mögliche Aggressoren. kerung. Genau da setzt der gemeinsame Antrag von Zudem werden Fahrzeugminen und ihre Verlegung von CDU/CSU-Fraktion und FDP-Fraktion an. Wir fordern regulären Armeen durch exakte Minenpläne dokumen- die Bundesregierung auf, sich für die Ächtung von Minen tiert. So ist es möglich, nach Beendigung der Konfliktsi- ohne Wirkzeitbegrenzung international stark zu machen. tuation die Minen zu entfernen und damit das Risiko für Deutschland hat sich in der Zeit der CDU/CSU-FDP-Re- die Zivilbevölkerung weitgehend zu minimieren. gierung international stark engagiert, um eine Ächtung von Allerdings, Sie bemerken meine Einschränkung, ist die Antipersonenminen weltweit zu erreichen. Wie Sie wissen, Herstellung und Beschaffung von Minen jeglicher Art war es vor allem die deutsche Seite, die sich bei den Ver- auch für nicht reguläre militärische Verbände, wie die bündeten in EU und NATO für eine Vernichtung von Anti- Ausrüstung verschiedener paramilitärischer Guerillaver- personenminen eingesetzt hat und selbst mit gutem Beispiel bände beweist, kein Problem, da ihre Herstellung relativ vorangegangen ist, indem sie bereits vor dem In-Kraft-Tre- simpel ist. Eine internationale Verifikation eines etwaigen ten des Ottawa-Übereinkommens sämtliche Bestände von Abkommens über das Verbot von Minen ohne Wirkzeit- Antipersonenminen der Bundeswehr beseitigt hat. begrenzung ist derzeit äußerst kompliziert. Doch wer re- Zudem hat die deutsche Regierung sich 1998 auch bei signiert, hat schon verloren! Und Deutschland und seine (B) den Vereinten Nationen als Miteinbringer mehrerer Reso- Partner dürfen in dieser Frage nicht resignieren! (D) lutionen für eine rasche Umsetzung des Ottawa-Überein- Daher unterstützt die CDU/CSU-Fraktion Initiativen, kommens und des revidierten Minenprotokolls von 1996 die der Ächtung von Minen auf lange Sicht hin dienen. In eingesetzt. den vergangenen Jahren gab es ja einige Erfolge, die Mut Bereits 1994 hat die unionsgeführte Bundesregierung ein machen sollten. Das Ottawa-Obereinkommen wurde von Exportmoratorium für Antipersonenminen erlassen, dieses mehr als 120 Staaten unterzeichnet. Um seine tatsächliche 1996 für unbefristete Zeit verlängert und sich seit 1993 ak- Wirksamkeit zu erreichen, fordern wir die Bundesregie- tiv an Maßnahmen zur Minenbeseitigung in 23 Ländern be- rung auf, sich auch weiterhin für den Beitritt wichtiger teiligt. Durch ihr Handeln hat Deutschland internationale Minenproduzenten wie China, Russland und auch des Reputation beim Kampf gegen Antipersonenminen und bei NATO-Partners USA einzusetzen. Denn nur so kann der der Betreuung von deren Opfern erworben. Und genau diese Druck auf Staaten wie Irak, Pakistan, Indien oder Nord- gilt es international zu nutzen und nun auf das Verbot wei- und Südkorea erhöht werden, ebenfalls ihre Produktion terer, nicht weniger unterschiedslos wirkender Landminen von Antipersonenminen einzustellen. Im Rahmen des auszuweiten. VN-Waffenübereinkommens fordern wir die Bundesre- gierung auf, nachdrücklich auf ein Verbot von Antifahr- Der Antrag von CDU/CSU und FDP verliert dabei die zeugminen mit sensiblen Zündern hinzuwirken. Denn Realität nicht aus den Augen. Wir wissen, dass es derzeit auch die können von Zivilisten ausgelöst werden. Sie ma- nicht möglich ist, alle Landminen ohne Wirkzeitbegren- chen eben meist keinen Unterschied zwischen einem Pan- zung ebenfalls zu verbieten. zer oder Militärtransporter und einem Traktor oder einem Die Armeen der NATO verwenden Panzerminen mit zivilen Autobus. Wirkzeitbegrenzung durch die Pioniertruppe in drei ver- Vergessen wir aber eines nicht: Mit dem Verbot der Mi- schiedenen Typen, die auf Stunden oder Tage program- nen ohne Wirkzeitbeschränkung ist das Problem der be- miert werden können. Diese Minen werden aber nicht reits verlegten Minen nicht gelöst. Vor allem in den Staa- durch die übrigen Truppen zur Sicherung eingesetzt. Für ten, wo paramilitärische Einheiten Minenfelder gelegt diese bedarf es der heute noch verwendeten Panzermine haben, existieren keine Pläne darüber. Die Suche und Zer- DM 21, die leicht zu handhaben ist und von jedem Infan- störung der Minen ist ein zeitaufwendiges und teures Un- teristen etc. als überwachte Minensicherung zum Schutz terfangen, von seiner Gefährlichkeit ganz zu schweigen. der eigenen Truppe verlegt werden kann. Von diesen Mi- nen hat selbst die Bundeswehr einen Vorrat von circa Wir wissen alle, dass die betroffenen Staaten nicht in 120 000 Stück. Die Herstellungskosten sind gering, aber der Lage sind, dies allein zu bewältigen, weder technisch eine Wirkzeitbegrenzung ist nicht einbaubar. Vielleicht ist noch logistisch und schon gar nicht finanziell. Auch die 23264 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

(A) medizinische und psychologische Betreuung der Opfer vorgebracht, die einen schnellen Erfolg erschweren. Da- (C) von Minen ist in den meisten Ländern schwierig. Hier darf her erscheint uns ein schrittweiser Ansatz am sinnvolls- Deutschland die betroffenen Ländern nicht allein lassen. ten. Wir können versuchen, analog zum Ottawa-Prozess, Bislang haben deutsche Spezialisten und Techniker in gleichgesonnene Partner zu gewinnen. Gleichzeitig müs- 23 Ländern bei der humanitären Minenräumung und der sen aber auch die Verhandlungen im Rahmen des Genfer medizinischen Betreuung der Opfer geholfen und sich da- Waffenprotokolls weitergehen. bei Ansehen und internationale Anerkennung erworben. Wir haben machbare und gleichzeitig wegweisende Um dies nicht zu gefährden, muss die Höhe der dafür Schritte formuliert, die neue Spielräume für die Bundes- bereitgestellten Mittel im Haushalt – die Summe stagniert regierung öffnen und sie in ihren bisherigen Aktivitäten seit einigen Jahren – deutlich erhöht werden. Unverständ- unterstützen. Erster Schritt ist die Universalisierung des lich sind mir im Übrigen die teilweise sehr versteckten Ti- Ottawa-Prozesses: Wichtige Staaten wie Russland, China, tel, unter denen die Summen vor allem im BMZ deklariert Indien, Pakistan, die Türkei und nicht zuletzt die USA ha- werden. Demokratisierungs- und Ausstattungshilfe als ben den Vertrag noch nicht unterzeichnet. Wir müssen auf Gelder für das Minenräumen zu erkennen ist nicht einfach diese Staaten einwirken, damit sie dem Ottawa-Abkom- und das Finanzministerium war auf Anfrage überhaupt men beitreten. Weiterhin gibt es einzelne Staaten, die das nicht bereit, Auskunft über die exakte Höhe der bereitge- Abkommen zwar unterzeichnet haben, es aber nicht ein- stellten Mittel zu erteilen – aber das nur am Rande. halten. Insbesondere hier versucht die Bundesregierung, die Staaten zur Umsetzung des Vertrages zu drängen. Ich bitte Sie, dem Antrag der CDU/CSU- und FDP- Antifahrzeugminen, die aufgrund sensibler Zündmecha- Fraktion zur Ächtung von Landminen ohne Selbstneutra- nismen auch von Personen ausgelöst werden können, sind lisierungs- oder Selbstzerstörungsmechanismen zuzu- als Antipersonenminen anzusehen und werden daher be- stimmen und sich für die Erhöhung der Haushaltstitel für reits vom Ottawa-Abkommen erfasst. Wir wollen diese das Minenräumen und die Opferhilfe einzusetzen. Position auch bei anderen Teilnehmern des Ottawa-Regi- mes durchsetzen, da es hier unterschiedliche Interpretati- Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das onsweisen gibt und eine Präzisierung im Rahmen des Ab- Landminenproblem – das ist Konsens hier im Hause – ist kommens möglich und politisch sinnvoll ist. längst nicht beseitigt; es besteht Handlungsbedarf. Immer Wir sprechen in unserem Antrag auch das schwierige noch sterben monatlich bis zu 2 000 Menschen. Allein in Thema der einseitigen Vorleistungen an. Wir sind dafür, Afghanistan gibt es schätzungsweise zwischen 300 und noch vorhandene Minen, die von Personen unbeabsichtigt 360 Opfer pro Monat. Zwar ist es gelungen – nicht zuletzt ausgelöst werden können, aus dem Bestand der Bundes- dank der Initiative der internationalen Landminenkam- wehr zu entfernen und Herstellung, Erprobung, Produk- (B) pagne – ein Verbot von Antipersonenminen zustande zu tion, Lagerung und Export zu unterbinden, um im Sinne (D) bringen. Interessierte Staaten haben sich hier gefunden der humanitären Rüstungskontrolle ein Signal auch für und eine Koalition mit den Nichtregierungsorganisatio- andere Staaten zu setzen. Dies ist notwendig, damit die nen gebildet. Der Ottawa-Vertrag war ein wichtiger Bundesrepublik Deutschland weiterhin ihre Vorreiterrolle Schritt im Kampf für die Ächtung aller Landminen. Die in diesem Bereich wahrnehmen kann. Jetzt schon zu ent- internationale Kampagne gegen Landminen wurde dafür scheiden, welche Vorleistungen wir erbringen, wäre ver- mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Allerdings früht. Wir wollen darüber sorgfältig diskutieren und dann haben wichtige Länder den Vertrag noch nicht unter- die geeigneten Schritte umsetzen. schrieben und seine Reichweite ist begrenzt. Der Prozess war beispielhaft für eine neue Art des Verhandelns in der Die Bundesregierung hat im Bereich der humanitären Rüstungskontrolle. Minenräumung bereits viel unternommen. 1998 wurden 16,6 Millionen DM ausgegeben. In diesem Jahr stehen Der Kampf gegen Minen geht weiter. Wir haben im 16,4 Millionen Euro zur Verfügung, also fast das Dop- Koalitionsvertrag vereinbart, dass wir dafür eintreten pelte. Dazu kommen noch Mittel im Rahmen der EU und wollen, „besonders grausame Waffen wie Landminen der Vereinten Nationen und die des BMZ. weltweit zu verbieten“. Unser Koalitionsantrag stellt ei- nen wichtigen Schritt in diese Richtung dar. Minenräumung wird von uns auch als Beitrag zur Ent- wicklungszusammenarbeit gesehen. Im Bad Honnefer Herr Kollege Kinkel, Sie haben am 11. Dezember 1997 Konzept der Nichtregierungsorganisationen wurde das gesagt: „Wenn es irgendwie geht, müssen wir ... uns natür- herausgearbeitet. Deswegen sind im BMZ auch Mittel für lich langfristig darauf konzentrieren, irgendwann ohne die Opferrehabilitierung eingesetzt. Panzerminen zu sein“. Dem kann ich voll zustimmen. Nur kann ich aus dem Oppositionsantrag nicht erkennen, dass Ich möchte betonen: Unsere Politik und die der Kam- sich dies bei Ihnen durchgesetzt hat. Er macht den Ein- pagne gegen Landminen ergänzen sich. Wir als Grüne un- druck, in erster Linie nach einem schnellen und öffentli- terstützen die Bemühungen der Kampagne auf mehreren chen Effekt zu suchen. Ebenen, sowohl als Partei wie auch als Koalitionsfrak- tion. An dieser Stelle möchte ich auch das Engagement Wir haben in unserem Antrag einen Step-by-step-An- von Personen wie Sabine Christiansen, Marius Müller- satz gewählt, mit dem Ziel, schrittweise die Ächtung aller Westernhagen oder Dr. Fritz Pleitgen hervorheben, die Landminen zu erreichen. Uns ist klar, dass Fortschritte im sich für ein Verbot aller Minen einsetzten. Rahmen internationaler Verhandlungen schwierig und lang- wierig sind. Von verschiedensten Seiten werden industrie- Es ist verständlich, dass es vielen engagierten Men- politische, sicherheitspolitische und andere Interessen schen aus den Nichtregierungsorganisationen nicht Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23265

(A) schnell genug geht. Aber die Prozesse der Einigung in in- Antipersonenminen seien aus dem Bestand der Bundes- (C) ternationalen Verhandlungen sind äußerst schwierig. Da- wehr entfernt. Heute höre ich, dass das nicht zutrifft. her benötigt es einen langen Atem. Dass er zum Erfolg Deutsche Tornado-Flugzeuge sind bis heute mit Antiper- führen kann, hat das Ottawa-Abkommen bewiesen. sonenminen ausgestattet. Über 80 000 Munitionskörper Die Lage für Rüstungskontrollverhandlungen ist nicht der Submunition MUSPA des MB1-Körpers für das leichter geworden. Gestern hat das Kabinett den Jahres- Kampfflugzeug Tornado befinden sich im Bestand der abrüstungsbericht 2001 verabschiedet. Aus ihm lassen deutschen Luftwaffe. sich die vielfältigen Bemühungen der Bundesregierung Alle anderen Tornado-Nutzerstaaten, die das Ottawa-Ab- für Abrüstung und Rüstungskontrolle ablesen. Dennoch kommen ratifiziert haben, sind der Meinung, dass es sich da- müssen wir ein Krise der Rüstungskontrolle im Allgemei- bei eindeutig um Antipersonenminen handelt, die seit nen feststellen. Unsere amerikanischen Partner haben Ottawa verboten sind. Großbritannien etwa hat deshalb durch den unilaterialistischen Kurs zur Krise der Rüs- schon vor längerer Zeit die Submunition MUSPA der briti- tungskontrolle beigetragen. Lassen Sie uns zusammen al- schen Royal Airforce vollständig vernichtet, Italien auch. les daransetzen, sie davon zu überzeugen, wieder auf den Weg multilateraler Politik zurückzukehren. Unser Antrag Ich frage den Bundesverteidigungsminister: Wussten zur Weiterentwicklung der humanitären Rüstungskon- Sie das, als Sie stolz die vollständige Umsetzung von Ot- trolle bei Landminen soll ein Beitrag in einem spezifi- tawa verkündet haben? Im BMVg weiß offensichtlich die schen Bereich sein, der hilft, diese Blockade zu beheben. linke Hand nicht, was die rechte tut. Diese Geschichte könnte die nächste Mine werden, auf die der Bundesver- Zum Abschluss möchte ich noch betonen: Die Kon- teidigungsminister tritt. flikte, bei denen Landminen eingesetzt werden, gibt es nicht wegen dieser grausamen Waffen. Daher ist es not- Das Abkommen von Ottawa war beschränkt auf Anti- wendig, unsere Politikansätze der Prävention weiterzu- personenminen; Antipanzerminen waren ausgenommen. entwickeln. Im Kampf gegen die Minenplage müssen wir Mehr war damals leider noch nicht drin. Trotzdem war auf mehreren Ebenen vorgehen: zum einen reagierend, Ottawa ein wichtiger erster Schritt im Kampf gegen die um die akute Not und das Leiden der Menschen zu lin- Minen-Geißel. Rot-Grün hat das damals aus der Opposi- dern, zweitens mittelfristig agierend, auf der völkerrecht- tion heraus als nicht weit gehend genug kritisiert. In der lichen Ebene, um diese Waffenkategorie endgültig abzu- Regierungsverantwortung hat Rot-Grün sich dann selbst schaffen, aber auch generell für eine effektive Export- und das Engagement für die Abrüstung groß auf die Fahnen Importkontrolle zur Verhinderung destabilisierender Waf- geschrieben. In der Koalitionsvereinbarung stand der Ein- fenlieferungen und drittens vorbeugend, indem wir die satz für die Umsetzung von Ottawa und für das weltweite Mittel der Prävention und der Konfliktursachenbekämp- Verbot aller Landminen als ein zentraler Punkt mit drin. (B) (D) fung im Rahmen einer Weltinnenpolitik fördern. Das er- Aber was ist seitdem passiert, was haben die selbster- fordert eine Verstärkung der Mittel für Prävention und nannten rot-grünen Abrüstungspäpste zur Umsetzung ih- Entwicklungszusammenarbeit. Wenn diese drei Politik- rer hehren Ziele unternommen? Leider nichts. Weil die ebenen zusammenwirken, kann es uns gelingen, die weltweite Bedrohung durch Landminen nicht ab-, sondern Landminenplage als ein zentrales humanitäres und sicher- zugenommen hat – denken Sie nur an Angola, Mosambik, heitspolitisches Problem zu lösen. Ich bitte dazu auch die Kosovo und nicht zuletzt Afghanistan – hat die FDP-Frak- Kollegen und Kolleginnen der Opposition um Unterstüt- tion bereits im vergangenen Jahr einen Antrag zu Landmi- zung. nen im Deutschen Bundestag eingebracht; mit der Forde- rung, den Einsatz für die Umsetzung von Ottawa zu Dr. Klaus Kinkel (FDP): Landminen sind eine verstärken und mehr Geld für die Erprobung und Entwick- schlimme Menschheits-Geißel. Sie behalten ihre tödliche lung von maschinellem Minenräumgerät aufzubringen. Wirkung noch Jahre über das Ende von Kriegshandlungen Denn Minen allein von Hand zu räumen, das ist wie hinaus. Denn Minen kennen keinen Waffenstillstand, kei- eine Sanddüne mit dem Fingerhut abzutragen. Wir brau- nen Frieden. Weltweit fallen Jahr für Jahr Tausende den chen deshalb zuverlässiges Großgerät zum Minenräumen. Minen zum Opfer, werden getötet oder auf schreckliche Damit könnten nach Expertenmeinung bis zu 60 Prozent Weise verstümmelt. Weltweit gibt es heute über 200 Mil- der Minen geräumt werden. Die deutsche Industrie hat in lionen davon, und immer noch werden jährlich circa der letzten Zeit große Fortschritte bei der Entwicklung von 10 Millionen neue Minen produziert. solchem Gerät gemacht. Sie verdienen eine Chance, diese Deshalb war es so wichtig, dass vor vier Jahren in Ottawa mit viel Aufwand entwickelte Technologie in der Praxis das Übereinkommen über das Verbot von Antipersonenmi- einzusetzen. Da ist die Bundesregierung in der Pflicht. nen beschlossen wurde: 122 Staaten sind dem Abkommen Vor allem aber zielte unser Antrag darauf, jetzt die Ini- bis heute beigetreten, Deutschland war mit einer der ersten tiative zu ergreifen und in einer zweiten Stufe nicht nur Unterzeichner. Wichtige Staaten wie die USA, Russland, Antipersonenminen, sondern auch solche Antipanzermi- China, Indien und Pakistan haben leider noch nicht unter- nen zu verbieten, die sich nicht selbst zerstören. Denn für zeichnet. Auch die Umsetzung durch die Unterzeichner lässt diese Minen gilt dasselbe wie für Antipersonenminen: Sie bis heute zu wünschen übrig; leider auch bei uns in Deutsch- gefährden das Leben von Zivilisten auch noch weit nach land. dem Ende der Kampfhandlungen. Antipanzerminen un- Die Bundesregierung hat am 31. August 1999 verkün- terscheiden nicht, ob es ein Panzer ist oder ein Schulbus, det, man habe das Ottawa-Abkommen umgesetzt, alle durch den sie ausgelöst werden. 23266 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

(A) Der Antrag wurde in den Ausschüssen des Deutschen rüber hinaus einen fragwürdigen Ansatz verfolgt: Die (C) Bundestages im Sommer letzten Jahres abgelehnt. Die High-Tech-Minen der großen Militärnationen sollen tabu Abgeordnete Beer hat das damals damit begründet, die bleiben, während die anderen abrüsten sollen. Das passt Forderungen der FDP gingen ihr nicht weit genug. nicht zusammen. Dem Antrag der Koalitionsfraktion wer- Rot-Grün würde lieber an der Zielvorgabe der Koaliti- den wir zustimmen, weil er über den Status quo hinaus- onsvereinbarung festhalten und alle Landminen verbieten weist, richtige Schritte enthält und auch Einschnitte im lassen – also auch die so genannten „intelligenten“ Pan- Minenarsenal der Bundeswehr verlangt. zerminen, die sich nach einer gewissen Zeit selbst aus- Wir unterstützen die Universalisierung des Ottawa- schalten. Darüber lässt sich streiten. Protokolls, aber wir sind uns darüber im Klaren, dass da- Aber was ist in den letzten neun Monaten passiert? mit nur ein kleiner Teil des Minenproblems gelöst wäre. Wieder nichts. Rot-Grün kriegt es einfach nicht auf die Daher ist es unabweisbar über Ottawa hinauszugehen. Reihe. Der Verteidigungsminister blockiert. Deshalb Dies betrifft alle Anti-Tank-Minen, die die Zivilbevölke- kommt die FDP jetzt erneut mit einem Antrag, in dem sie rung gefährden, und in letzter Konsequenz alle Landminen. von der Bundesregierung eine Initiative zur internationa- Hier werden wir weiterhin die Auffassungen der Interna- len Ächtung von Antipanzerminen, die sich nicht selbst tionalen Kampagne gegen die Landminen ohne Wenn und zerstören, fordert und in dem sie von der Bundesregierung Aber unterstützen. als Signal fordert, auf die Minen, die sich heute im Be- Dass auch die Bundeswehr Ernst machen soll mit der stand der Bundeswehr befinden, einseitig zu verzichten Entfernung einer ganzen Kategorie von Landminen, fin- und die Herstellung solcher Minen zu untersagen. Die den wir richtig. Es bleibt zu hoffen, dass die Formulierung Union hat sich unserem Antrag angeschlossen. Wir be- im Koalitionsantrag, dass diese Waffen „schrittweise zu grüßen das ausdrücklich. entfernen“ seien, nicht als Alibi benutzt wird, diesen Pro- Die rot-grüne Regierungskoalition hat zunächst lange zess endlos hinauszuzögern. Es muss unmittelbar damit herumgeeiert, vorsichtig Unterstützung signalisiert, und begonnen werden und diese todbringenden Waffen müs- sen zügig aus dem Bestand entfernt werden. Das muss da- jetzt, gestern, einen Tag vor der Debatte, einen eigenen mit beginnen, dass offen gelegt wird, über welche Waffen Antrag eingebracht, einen Antrag, der unsere Formulie- dieser Kategorie die Bundeswehr verfügt. Wir werden rungen in weiten Teilen übernimmt, aber an zwei ent- – sicherlich in Verbindung mit den zivilgesellschaftlichen scheidenden Stellen kneift: Die DM 21-Minen der Bun- Initiativen – darauf zu achten haben, dass der heutige Be- deswehr, die bei uns eindeutig genannt werden und die als schluss des Bundestages konsequent umgesetzt wird. Vorleistung sofort abgerüstet werden sollten, werden nicht beim Namen genannt, sondern verschwinden in ei- Der Antrag der Regierungsfraktionen berücksichtigt ner nebulösen Forderung nach einer „schrittweisen Ent- leider nicht das Problem der Mehrzweckbomben, die in (B) fernung“ einiger nicht genauer benannter Minen. Die For- gleicher Weise unterschiedslos Zivilbevölkerung wie Sol- (D) derung nach einseitigem Verzicht auf Erprobung, daten treffen und in ihrer Wirkung von den Minen nicht Herstellung, Lizenzvergabe, Lagerung und Export sol- zu unterscheiden sind: Ich denke hier an die auch von der cher Minen taucht überhaupt nicht auf. Wir sollen das NATO im Jugoslawien-Krieg eingesetzten Cluster-Bom- Teufelszeug also schrittweise abbauen, aber weiter expor- ben. Die darin enthaltenen „bomblets“ widersprechen tieren? Das kann doch wohl nicht ihr Ernst sein! ebenso wie die Minen dem humanitären Kriegsvölker- recht: Sie differenzieren nicht zwischen Zivilist und Sol- Frau Beer, ich wende mich jetzt ganz bewusst einmal dat. Auch dieser Bombentyp muss unseres Erachtens auf an Sie, die verteidigungspolitische Sprecherin der Grü- die Liste der zu ächtenden Waffen. nen: Sie haben mir im Sommer letzten Jahres öffentlich Die PDS hat im Mai 1995 erstmals den Antrag gestellt, vorgeworfen, unsere Initiative reiche nicht weit genug. Landminen weltweit zu ächten. Darin haben wir unter an- Jetzt bringen Sie hier im Deutschen Bundestag endlich derem gefordert, dass die Bundesrepublik auf Forschung, eine eigene Landminen-Initiative ein. Entwicklung, Produktion und Export aller Landminen so- Schön und gut – man muss diese rot-grüne Bundesre- fort verzichten sollte. Weiter wollten wir, dass die Mittel, gierung wie immer zum Jagen tragen, bis überhaupt etwas die bis zu diesem Zeitpunkt für die Erforschung und Be- passiert. Aber Ihre Initiative fällt in entscheidenden Punk- schaffung neuer Minen aufgewandt wurden, für die zivile ten ganz bewusst hinter das, was wir wollen, zurück. Was Minenräumung umgewidmet werden. Seitdem stellen wir ist eigentlich mit Ihnen los? Rot-Grün ist wirklich meilen- Jahr für Jahr bei den Haushaltsberatungen den Antrag, die weit davon entfernt, den eigenen Zielen und Ansprüchen Mittel für die Minenräumung, für die Rehabilitierung und zu genügen. Aber hier geht es um das Leben Tausender un- Entschädigung der Opfer kräftig aufzustocken, und zwar schuldiger Zivilisten in den ärmsten Ländern der Welt. aus den Finanzmitteln, die im Wehretat bisher für die Mi- Und da sollte auch Rot-Grün einmal über den eigenen nenrüstung aufgebracht werden. Diese Anträge wurden Schatten springen und unseren weiter gehenden Antrag von dem Rest des Hauses immer wieder abgelehnt. unterstützen – auch mit den Forderungen nach einseitigen Sie werden uns vorwerfen, uns ginge es nur um billige deutschen Vorleistungen, nach einem echten Signal für die Symbolik. Das ist nicht der Fall. Richtig ist, dass es um Abrüstung und gegen die Landminen. eine Grundsatzentscheidung geht: Geld, das für die Ent- wicklung neuer Waffen ausgegeben wird, ist besser für die zivile Krisenbewältigung und die Abrüstung ausgegeben. Heidi Lippmann (PDS): Um es vorwegzunehmen: Beim Antrag der FDP werden wir uns enthalten, weil er Es geht uns aber nicht zuletzt darum – das ist für uns nur einen klitzekleinen Schritt nach vorn weist und da- ein moralisches Prinzip –, dass wir das doppelbödige Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23267

(A) Spiel der Konzerne nicht mitmachen, die einerseits neue den eigenen Gerichten anklagt und zur Aburteilung (C) Waffen dieses Typs entwickeln, andererseits bei der Räu- bringt. In diesem Falle aber entsteht die Strafgewalt des mung der Minen noch einmal Kasse machen wollen. Internationalen Strafgerichtshofes nicht, die bekanntlich Es bleibt zu hoffen, dass mit der heutigen Debatte und dem Grundsatz der Komplementarität folgt. Sie ist also der Entschließung des Bundestages die Bekämpfung der davon abhängig, dass das an sich zuständige nationale Ge- Landminen wieder einen höheren Stellenwert erhält. Die- richt das Strafverfahren nicht durchführen kann oder will. ses Engagement muss über den 22. September hinausrei- Für die Bundesrepublik Deutschland haben wir in den chen. Die PDS wird ihren Teil dazu beitragen. vergangenen Wochen durch außerordentlich konstruktive und zügige Beratungen des Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung des Völkerstrafgesetzbuches die Vorausset- Anlage 8 zungen dafür geschaffen, dass auch bei uns in praktisch allen relevanten Fällen der Grundsatz der Komplementa- Zu Protokoll gegebene Reden rität greift. Dabei haben wir den an sich schon vorzügli- zur Beratung chen Entwurf an zwei Stellen noch einmal verbessert. Zum einen haben wir die Möglichkeit paralleler Ermitt- – des Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung des lungen durch die deutschen Staatsanwälte auch in Fällen, Völkerstrafgesetzbuches in denen ein Internationaler Strafgerichtshof oder ein vor- – des Entwurfs eines Gesetzes zur Ausführung des rangig zuständiger Gerichtshof eines anderen Staates die Römischen Statuts des Internationalen Strafge- Verfolgung übernommen hat, erweitert. Wir haben die ur- richtshofes vom 17. Juli 1998 sprünglich vorgesehene Soll-Einstellung des deutschen Verfahrens in eine Kann-Einstellung umgewandelt, wo- (Tagesordnungspunkt 11 a und b) mit wir die internationale Zusammenarbeit bei der Auf- klärung schwerster Verbrechen verbessern wollen. Zum Dr. Jürgen Meyer (Ulm) (SPD): Am 22. März hat die anderen haben wir aufgrund der Stellungnahme des Bun- erste Lesung des Gesetzes zur Einführung des Völker- desrates und entsprechender Änderungsanträge der strafgesetzbuches sowie des Ausführungsgesetzes zum CDU/CSU-Fraktion die neuen Tatbestände des Verbre- Römischen Statut stattgefunden. In den fünf Wochen da- chens gegen die Menschlichkeit sowie der Kriegsverbre- nach sind wir der von allen Fraktionen dieses Hauses ge- chen in mehrere Tatbestände unseres Strafgesetzbuches wollten Einrichtung des ersten weltweit zuständigen eingefügt, in denen bisher beispielsweise die Nichtan- Strafgerichtshofes und der Sicherung seiner Arbeitsfähig- zeige von Verbrechen lediglich bei geplanten Taten wie keit erneut mit großen Schritten näher gekommen. Die er- Mord, Totschlag oder Völkermord für strafbar erklärt (B) forderliche Mindestzahl von 60 Ratifikationen ist am worden war. Die gewünschte Einfügung der neuen (D) 11. April erreicht und sogar deutlich überschritten wor- Straftatbestände des Völkerstrafgesetzbuches in die Straf- den. Das Römische Statut wird damit am 1. Juli in Kraft prozessordnung haben wir allerdings zurückgestellt. Es treten. Von diesem Tag an können Verbrechen wie Völ- geht dabei insbesondere um die Möglichkeit der Telefon- kermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und und Wohnraumüberwachung. Wir sind der Auffassung, Kriegsverbrechen im Rahmen eines neuen internationalen dass es insoweit nicht nur um eine Überprüfung der De- Rechtssystems geahndet werden. Es wird wohl weniger liktskataloge gehen darf, sondern auch eine kritische als ein Jahr dauern, bis der Internationale Strafgerichtshof Überprüfung der bisher bestehenden und aus unsere Sicht in Den Haag seine Arbeit tatsächlich aufnehmen kann. noch nicht ausreichenden rechtsstaatlichen Kontrollen notwendig ist. Bei den dazu notwendigen Beratungen In der am 22. März verabschiedeten Entschließung ha- wollen wir uns auf das von der Bundesregierung in Auf- ben wir die Bundesregierung aufgefordert, auf die Regie- trag gegebene rechtsvergleichende und rechtstatsächliche rung der Vereinigten Staaten einzuwirken, damit sie keine Gutachten des Freiburger Max-Planck-Instituts für aus- direkten oder indirekten Maßnahmen gegenüber Staaten ländisches und internationales Strafrecht stützen. Die Er- ergreift, die den Römischen Vertrag zu ratifizieren beab- stellung dieses Gutachtens ist leider nicht zuletzt durch sichtigen. Dieser Appell hat nun zusätzliches Gewicht. die lange Zeit verweigerte Herausgabe von Akten seitens Bei dem Besuch einer Delegation des Rechtsausschusses der Landesregierungen von Bayern und Baden-Württem- in New York sechs Wochen nach den Terroranschlägen berg verzögert worden. Wir wollen bei unseren Beratun- vom 11. September haben uns hochrangige Vertreter der gen auch die Anregungen des neuen Gremiums nach amerikanischen Regierung zugesichert, dass die USAsich Art. 13 Grundgesetz berücksichtigen, in welchem die Mit- im Falle der Errichtung des Internationalen Strafgerichts- glieder aller Fraktionen mit den bisher durch die Landes- hofes und nach positiven Erfahrungen mit der Rechts- regierungen ermöglichten Kontrollen unzufrieden sind. staatlichkeit der Verfahren dazu entschließen könnten, sich dem Gerichtshof anzuschließen. Dieser Schritt ist in Das heute ebenfalls in dritter Lesung zu beratende hohem Maße wünschenswert, weil der Gerichtshof ganz und zu verabschiedende Gesetz zur Ausführung des besonders auf die Amts- und Rechtshilfe amerikanischer Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes Polizei- und Justizbehörden angewiesen sein wird. Die vom 17. Juli 1998 ist mit großer Einmütigkeit von allen gelegentlich befürchtete Anklageerhebung gegen ameri- Fraktionen dieses Hauses gutgeheißen worden. Das Aus- kanische Politiker und Militärs hat sich in unseren Ge- führungsgesetz dient der effektiven Zusammenarbeit sprächen als Scheinargument erwiesen. Denn selbstver- zwischen den deutschen Justizbehörden und dem künfti- ständlich sind die USA ein Rechtsstaat, der die von gen Internationalen Strafgerichtshof. Die von der Bun- eigenen Staatsangehörigen begangenen Verbrechen vor desregierung in Formulierungshilfen vorgeschlagenen 23268 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

(A) Verbesserungen des Entwurfes sind von allen Fraktionen Strafrecht leitet eine Entwicklung ein, die den Dualismus (C) begrüßt worden. zwischen dem zwar weltweit geltenden, aber durchset- zungsschwachen Völkerrecht einerseits und dem zwar Ich nehme das zum Anlass, insbesondere den Beamten durchsetzungsstarken, aber regional begrenzten staat- des Bundesministeriums der Justiz, aber auch der von die- lichen Recht andererseits partiell auflöst und an seiner sem Ministerium eingesetzten Expertengruppe den Dank Stelle gemeinsames Recht vieler Staaten schafft. Das sicherlich aller Fraktionen auszusprechen. Nach meiner Recht antwortet damit der Wirklichkeit, in der sich die Überzeugung wird das Völkerstrafgesetzbuch auch in an- deren Staaten, die sich dem Gerichtshof bereits ange- Unterscheidung zwischen innen und außen, zwischen in- schlossen haben, große Beachtung finden. Es ist sicher nerer Bedrohung und äußerer Bedrohung, innerem Frieden gut, wenn nicht nur deutsche Autobauer, sondern gele- und äußerem Frieden zunehmend auflöst. Die Entschei- gentlich auch der deutsche Gesetzgeber in anderen Län- dung für den Internationalen Strafgerichtshof und das Völ- dern geschätzte Exportartikel erarbeiten. Die Botschaft kerstrafgesetzbuch sind der ernste und verbindliche Aus- des Römischen Statuts, dass sich die Schreibtischtäter und druck der Geltung gemeinsamer universaler Werte. Sie Folterknechte dieser Welt nirgendwo und zu keiner Zeit sind die zivilisierte Antwort auf Terror und Krieg. mehr sicher fühlen dürfen, beginnt, ihre Wirkung zu ent- Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat diesen Prozess falten. Nach meiner Überzeugung wird allein die Tatsache immer positiv begleitet. Dies gilt auch für das jetzige Ge- der Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofes ein setzesvorhaben. Der von unserer Fraktion gestellte Ände- wesentlicher Beitrag dazu sein, die generalpräventive rungsantrag umfasste zum einen die Einbeziehung der Wirkung des Römischen Statuts und unseres Völkerstraf- Verbrechen nach dem Völkerstrafgesetzbuch in die gesetzbuches weiter zu verstärken, noch bevor auch nur Straftatenkataloge der §§ 126, 129 a und 138 des Strafge- ein einziger Prozess in Den Haag begonnen hat und abge- setzbuches. Wir begrüßen, dass die Koalition in der letz- schlossen worden ist. ten Sitzung des Rechtsausschusses diesem Teil unserer Änderungsanträge doch noch zugestimmt hat. Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Wir haben in die- Darüber hinaus zielt unser fortbestehender Änderungs- sem Hause in dieser Legislaturperiode viele rechtspoliti- antrag darauf ab, dass die Bundesrepublik zur Verfolgung sche Kontroversen geführt. Der Einsatz Deutschlands für der schwersten Verbrechen gegen die Menschlichkeit eine internationale Strafrechts- und Strafgerichtsordnung auch die strafprozessualen Mittel der §§ 100 a und 100 c war und ist aber kein Streitthema, sondern bildet einen der Strafprozessordnung einsetzt. Wir bedauern aus- Grundkonsens deutscher Rechts- und Außenpolitik. drücklich, dass die rot-grüne Koalition aus rein internen, Die Grenzen fallen, die Welt wächst zusammen. Dies koalitionstaktischen Gründen hierzu die Kraft nicht auf- gebracht hat. Dies ist Ausdruck der inhaltlichen Auszeh- (B) hat sehr viele positive Seiten, aber wir erleben gerade in (D) diesen Tagen auch den ambivalenten Charakter der Glo- rung und politischen Schwäche der rot-grünen Koalition balisierung. Neben Ängsten besteht die konkrete Besorg- auch auf dem Gebiet der Rechtspolitik. Es ist schade, dass nis, dass die Schwächung der Staaten nicht kompensiert das Gesetzesvorhaben hiermit belastet wird. Aber ent- wird durch internationale Institutionen, sondern ein Va- scheidend ist: Mit dem Völkerstrafgesetzbuch wird ein kuum zurücklässt. Es formieren sich die Globalisierungs- konkreter und zukunftsweisender Beitrag für eine gerech- gegner. Aber die Wirklichkeit, die uns nicht gefällt, ruft tere und friedlichere Weltordnung geleistet. Darum stim- nicht nach Verneinung, sondern nach Gestaltung, also men wir dem Gesetzentwurf zu. nach einer Ordnung. Dies ist nach unserer kulturellen Vor- stellung eine Ordnung des Rechts und durch das Recht. Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit Das Strafrecht ist elementarer Teil auch der internationa- Freude und Genugtuung stehe ich heute Abend hier und len Rechtsordnung und umfasst die unverzichtbaren rede zu und mit Ihnen über unsere beiden von der Bun- Werte und Regeln für ein friedliches Zusammenleben. desregierung vorgelegten Gesetzentwürfe zur Einführung Wir sind Zeugen, dass diese alte Erkenntnis Gestalt an- des Völkerstrafgesetzbuches sowie zur Ausführung des nimmt. Sie hat begonnen mit der Schaffung des Interna- Statutes von Rom. Als ich mich vor vielen Jahren nicht tionalen Strafgerichtshofes und setzt sich fort durch das nur, aber auch in diesem Hause intensiv mit der juristi- Völkerstrafgesetzbuch, das wir heute beschließen. Mit schen Aufarbeitung des immensen von den beiden deut- diesem Völkerstrafgesetzbuch werden schwerste Verlet- schen Diktaturen im letzten Jahrhundert unzähligen Men- zungen des humanitären Völkerrechts nun auch durch die schen beigebrachten Unrechtes beschäftigt habe, musste nationale Rechtsordnung und nationale Institutionen ich wieder einmal erkennen: Das schlimmste, wirkungs- geächtet und verfolgt. Dies hat einen unmittelbaren prak- vollste und monströseste Unrecht liegt gar nicht in indivi- tischen Nutzen, indem so die Anwendung der völker- duellen Rechtsverletzungen oder Straftaten. Diese nehmen sich – gerade im 20. Jahrhundert! – minimal aus gegen das- rechtlichen Bestimmungen, also die Verfolgung der jenige Unrecht, das in Befolgung der Gesetze geschehen Straftaten, sichergestellt wird. Es ist auch ein Signal der ist. Diktaturen, gerade auch in Deutschland, haben es an Ernsthaftigkeit; die Ächtung schwerster Verbrechen ge- sich, dass sie Gesetze erlassen, gegen die jedes menschli- gen die Menschlichkeit ist keine symbolische Geste, son- che Empfinden rebelliert, dass sie formal zu Recht erklären, dern Gegenstand effektiven staatlichen Handelns. was jeden Gedanken von Freiheit, Demokratie, Toleranz Die politische Dimension dieses Prozesses geht aber und Menschenwürde zutiefst widerspricht: Verbrechen ge- über diese praktischen Wirkungen hinaus: Die Über- gen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Verfolgung nahme völkerrechtlicher Bestimmungen in nationales und Unterdrückung bis hin zu Mord und Völkermord. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23269

(A) Die juristische Aufarbeitung solchen Unrechts gestal- Grundsätzen und seiner Jurisdiktion bereits freiwillig und (C) tet sich schwierig. Dafür sorgt schon das verfassungs- auf Dauer unterworfen hat, sondern auch deshalb, weil rechtliche Rückwirkungsverbot. Der Grundsatz „nulla seine Richterinnen und Richter nicht nur aus einem Land poena sine lege“ zwingt uns, immer nur dasjenige Recht oder einem Teil der Erde, sondern auf Dauer aus allen der anzuwenden, das zur Tatzeit für den Täter galt. So sind der 139 Unterzeichnerstaaten kommen werden. Dies wird die justiziellen Aufarbeitung von Unrecht im nationalen Bereitschaft zur Anerkennung des Gerichtes als unpartei- Rechtsgefüge oft enge Grenzen gezogen. ischer Wahrer des auf Grundlage frei getroffener Verein- barungen international geltenden Weltrechtes wesentlich Diese Erkenntnis war ein Grund für mich – sicher nicht befördern. der einzige, allerdings aber ein sehr wichtiger – , mich sehr früh schon für die Einführung eines Völkerstrafge- Noch wichtiger ist ein zweiter Punkt: Anders als etwas setzbuches und die Schaffung eines ständigen Internatio- das Nürnberger Kriegsverbrechertribunal wird der Inter- nalen Strafgerichtshofes einzusetzen. Nach unzähligen nationale Strafgerichtshof die Rechtmäßigkeit seiner Gesprächen mit Vertreterinnen und Vertretern internatio- Strafverfolgung nicht mit hohem rechtsphilosophischen naler Juristenvereinigungen, von Amnesty International Aufwand lange nach den begangenen Taten erst begrün- und auch aus dem Außen- und dem Justizministerium un- den müssen. Denn die Taten, die vor seine Schranken serer Bundesregierung, nach Kongressen, öffentlichen kommen, werden vorher schon ausdrücklich und für je- Anhörungen usw. habe ich schließlich in der vergangenen dermann bekannt von jetzt an unter Strafe gestellt. Legislaturperiode einen Antrag zur Schaffung eines stän- Dies wird die wichtigste Funktion der Existenz dieses digen Internationalen Strafgerichtshofes im Deutschen Gerichtes fördern: die Abschreckung. Wer künftig Verbre- Bundestag eingebracht – Drucksache 13/19935 –. Es ver- chen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen oder das schafft mir große Befriedigung, nun heute mit Ihnen allen Verbrechen des Völkermordes begeht, muss und wird vom gemeinsam sowohl das rechtswirksame Zustandekom- ersten Moment an wissen, dass er, für den Fall, dass er über- men dieses Internationalen Strafgerichtshofes durch die lebt, der Folgen seiner Taten nicht froh werden kann. Er Ratifizierung von mehr als 60 Mitgliedstaaten feiern und muss und wird wissen, dass das Gericht auf ihn wartet und gleichzeitig auch die notwendige Umsetzung des Ergeb- dass er weltweit in allen Staaten, die mit diesem zusam- nisses der in Rom hierüber getroffenen Vereinbarungen in menarbeiten, verfolgt werden wird – und dies so lange, bis das deutsche Recht vornehmen zu können. er, vor Gericht gebracht, für seine Taten sühnen muss. Das Zustandekommen dieses Internationalen Strafge- Das heißt: Mit der Schaffung dieses Gerichtshofes richtshofes ist ein Meilenstein in der Geschichte des Völ- wird die Welt für Menschen, die guten Willens sind, ein kerrechtes. Die zügige Ratifikation so vieler Staaten belegt klein wenig sicherer und für Terroristen und Machthaber, eindrucksvoll den Willen der internationalen Gemeinschaft die ihre Macht zur Begehung schrecklicher Verbrechen (B) zur Ächtung von Kriegsverbrechen, Völkermord und Ver- missbrauchen, etwas unsicherer werden. (D) brechen gegen die Menschlichkeit. Derartige Handlungen haben keinen Platz mehr in unserer immer enger werden- Mit dem NS-Unrechtsstaat hat Deutschland in einem den, dichter vernetzten und immer stärker aufeinander an- Rechtssystem, das jedes Maß verlor, das Recht perver- tiert, hat Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle, Kommu- gewiesenen Welt. nisten, Pazifisten, Christen, anders Denkende pauschal Es gibt einen starken und eindrucksvollen Willen, ele- rechtlos gestellt und der Verfolgung und Vernichtung aus- mentaren Grundsätzen des Menschen- und Völkerrechtes gesetzt. Wir dürfen und wir werden das nicht vergessen. über die Grenzen von Staaten und Systemen hinweg welt- Umso mehr ehrt es unser Land, dass gerade Deutschland weit Geltung zu verschaffen. Dies ist ein elementarer zu den wichtigsten, engagiertesten und aktivsten Wegbe- Fortschritt in der Geschichte der Menschheit. Künftig reitern dieses Gerichtshofes gehört. wird es möglich sein, auf der Basis international vertrag- Mein besonderer Dank gilt daher denjenigen Vertretern lich vereinbarten Rechtes einzelne Personen, Gewalttäter, unseres Landes und unserer Regierung, die – über Partei- Terroristen oder auch rücksichtslose Diktatoren wegen grenzen und den Wechsel von Regierungsmehrheiten hin- Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit weg – dieses Projekt so tatkräftig vorangetrieben haben. oder Völkermord vor Gericht zu stellen. Und mein Dank gilt den vielen Juristen- und Menschen- Das so vereinbarte Recht schützt die Schwachen. Und rechtsinitiativen und Verbänden, die diese Idee mit ent- es macht, das ist wichtig, vor der Mächtigen, vor den wickelt, vorangetrieben und gefördert haben. Thronen dieser Welt nicht halt. Denn auch regierende Per- Meine dringende Bitte richtet sich an Russland, China sonen sind ausdrücklich vor Anklagen nicht geschützt. und die Vereinigten Staaten von Amerika, die bisher die Zu- Dabei haben betroffene Staaten die Chance, selbst mit sammenarbeit mit dem Gericht noch verweigern. Wer dem den Mitteln der Strafverfolgung und des Rechtes tätig zu Recht auf Dauer Geltung verschaffen will, wer möchte, werden. Nur dann, wenn und dort, wo sie das nicht können dass Freiheit, Menschenwürde und Menschenrechte welt- oder tun, wird der Internationale Strafgerichtshof tätig. weit Gültigkeit erlangen, darf sich der Zusammenarbeit mit dem Internationalen Völkerstrafgerichtshof nicht ver- Der oft, zum Beispiel auch im Falle der Nürnberger weigern, will er nicht seine Glaubwürdigkeit verlieren. Prozesse oder aktuell im Falle des Jugoslawien-Gerichts- hofes von interessierter Seite erhobene Vorwurf der „Sie- Die Stärkung des internationalen Rechtes ist die Alter- gerjustiz“ geht gegenüber diesem ständigen Strafgerichts- native zur Sprache der Waffen und der Gewalt. Der Aus- hof ins Leere. Dies nicht nur, weil ein großer und ständig bau des Internationalen Rechtes stärkt Frieden, Freiheit, wachsender Teil der Staatengemeinschaft sich seinen Menschenrecht und Menschenwürde. Geben wir diesem 23270 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

(A) Weg eine Chance! Stärken wir das Recht als Mittel gegen Dr. Evelyn Kenzler (PDS): Meine Fraktion wird bei- (C) Terror und Gewalt! den Gesetzentwürfen zustimmen. Das Völkerstrafgesetz- buch setzt das materielle Recht des Römischen Statuts im Deshalb darf ich Sie um Unterstützung für die vorlie- Großen und Ganzen adäquat in deutsches innerstaatliches genden Gesetzentwürfe bitten! Recht um. Es ist zweifellos ein gewichtiges Gesetzes- werk. Das Ausführungsgesetz regelt die Zusammenarbeit Dr. Edzard Schmidt-Jortzig (FDP): Die nur sehr deutscher Behörden mit dem Internationalen Strafge- kurze mir zur Verfügung stehende Redezeit will ich dem richtshof auf eine Weise, die rechtsstaatlichen Erforder- Völkerstrafgesetzbuch widmen; denn allein dieses ist das nissen und praktischen Notwendigkeiten entspricht. politisch Innovative. Der zweite Gegenstand unserer heuti- gen Befassung, das Ausführungs- bzw. Zusammenarbeits- Auch ich halte das In-Kraft-Treten des Statuts für ein gesetz, setzt lediglich – was ja auch gut und richtig ist – die außerordentlich bedeutsames politisches und völkerrecht- Vorgaben des Römischen Statuts vom 17. Juli 1998 um, liches Ereignis. Ich würdige ausdrücklich den Anteil der welches im Übrigen politisch maßgeblich von den Libera- deutschen Diplomatie an seinem Zustandekommen. Erst- len in der damaligen Bundesregierung mit zustande ge- malig in der Geschichte kann ein internationaler Ge- bracht wurde. richtshof mit universalem Anspruch schwerste internatio- nale Verbrechen verfolgen lassen und bestrafen. Deutschland ist nach dem Römischen Statut nicht ver- pflichtet, die dort thematisierten schweren Völkerrechts- Das gilt allerdings nur, wenn ein Vertragsstaat nicht verbrechen selber unter Strafe zu stellen. Es muss dann willens oder nicht in der Lage ist, die Strafverfolgung aber, wenn es eine innerstaatliche Pönalisierung nicht vor- selbst zu betreiben. Er ergänzt also nur die innerstaatliche sieht, Tatverdächtige zur Strafverfolgung an den Interna- Strafgerichtsbarkeit. Der Gerichtshof kann seinen univer- tionalen Strafgerichtshof überstellen, und zwar auch, salen Anspruch nur in dem Maße verwirklichen, wie im- wenn es sich um eigene Staatsangehörige handelt. Stellt mer mehr Staaten Vertragspartner des Statuts werden. Ge- Deutschland also mit einem Völkerstrafgesetzbuch wie genwärtig fehlen noch etwa 120 Ratifikationen, darunter dem vorliegenden die inländische Strafverfolgung sicher, die von China, Indien, Pakistan, Russland, der Türkei und verhindert es zugleich, dass deutsche Staatsangehörige an der USA. Die USA veranstalten geradezu ein Kesseltrei- den Internationalen Strafgerichtshof ausgeliefert werden ben gegen das Statut und den Gerichtshof. Ich bin mir müssen. Schon deshalb kann man die Gesetzesinitiative nicht sicher, ob die Regierung dagegen das oft beschwo- eigentlich nur unterstützen. rene gewachsene Gewicht Deutschlands mit aller Deut- lichkeit in die Waagschale wirft. Es geht zugleich aber auch um den Ausbau des deut- schen Strafrechts zu einer im Hinblick auf die internatio- Ich habe schon bei früherer Gelegenheit darauf auf- (B) nalen Verpflichtungen und Herausforderungen leistungs- merksam gemacht, dass das Römische Statut auch Defi- (D) fähigen, modernen und den eigenen Ansprüchen gerecht zite enthält. Es ist ja ein Kompromiss zwischen vielen werdenden Rechtsordnung. Wir wollen ja die Domesti- Staaten. Diese Defizite werden durch das vorliegende Ge- zierung des internationalen Geschehens, also auch die setz nun im innerstaatlichen Recht sozusagen fortgeschrie- Friedenssicherung, durch das Recht. Wir wollen die inter- ben. Man sagt, das geht nicht anders, weil die beanspruchte nationale rechtliche Verbindlichkeit der grundlegenden, Geltung des Weltrechtsprinzips es verbietet, dass das Völ- gemeinsamen Wertvorstellungen auf diesem Globus. Wir kerstrafgesetzbuch über die vertraglich oder gewohnheits- wollen die persönliche Verantwortlichkeit staatspoliti- rechtlich eindeutig abgesicherten Verbrechenstatbestände scher Täter vor der Völkergemeinschaft. Deshalb müssen hinausgeht. Ich meine, das Problem hätte sich juristisch wir in dieser Richtung auch alle Schritte unternehmen, die lösen lassen. uns unserem Ziel näher bringen. Und es erübrigt sich, zu In meinen Augen ist es mehr als ein Schönheitsfehler, sagen, dass dies dann natürlich auch die Bereitschaft vo- dass das deutsche Völkerstrafgesetzbuch keinen Tatbe- raussetzt, das bisherige System zu reformieren und über- kommene, enge Souveränitätsvorstellungen aufzugeben. stand des Aggressionsverbrechens enthält. Der Erstein- Auch dies wäre reizvoll näher auszuführen; ich kann das satz von Atomwaffen wird im Entwurf der Regierung aber wegen der Kürze der Zeit leider nicht tun. nicht unter Strafe gestellt, ebenso wenig wie die Anwen- dung besonders grausamer Waffen, wie Laserwaffen und Denn schließlich, drittens, soll das Völkerstrafrecht ja als Antipersonenminen, von Streu- und Splitterbomben. Ich solches noch vorangebracht und weiterentwickelt werden. nenne nur einige gravierende Defizite. Insofern haben wir die Chance, mit unserem Völkerstrafge- setzbuch jetzt einen Markstein zu setzen und gewisser- Unser Entschließungsantrag verfolgt das Ziel, die Defi- maßen eine kodifikatorische Vorbildfunktion zu überneh- zite sowohl im Römischen Statut als auch im Völkerstraf- men. Dies ist mit dem vorgelegten Corpus – das will ich gesetzbuch zu überwinden. Ich bitte um Ihre Zustimmung. freudig anerkennen – insgesamt gut gelungen. Ich möchte deshalb an dieser Stelle vor allem der vom Bundesjustizmi- Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin der nisterium eingesetzten Expertenarbeitsgruppe für ihre maß- Justiz: Ich freue mich sehr, dass wir bereits heute das Ge- stabsetzende Entwurfsfassung danken und – das sehen Sie setz zur Einführung des Völkerstrafgesetzbuches und das mir hoffentlich nach – meiner Genugtuung Ausdruck geben, zur Ausführung des Römischen Statuts des Internationa- dass die parlamentarische Beratung an diesem geschlos- len Strafgerichtshofs in zweiter und dritter Lesung bera- senen Konzept nicht sonderlich herumfrisiert hat. ten und beschließen können. Das zeigt nicht nur, dass die Die FDP jedenfalls wird den Gesetzesvorlagen gerne Bundesregierung auch hier sehr gut gearbeitet hat, son- zustimmen. dern macht die parteienübergreifende breite Unterstüt- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23271

(A) zung für die Errichtung und die Arbeit des Internationalen willens oder nicht in der Lage sind, eines der vom Statut (C) Strafgerichtshofs hier im Deutschen Bundestag deutlich. erfassten Kernverbrechen strafrechtlich zu verfolgen. Das heißt, die Vertragsstaaten behalten ihre Verantwortung für Deutschland nimmt seine Verantwortung wahr und die internationale Strafgerichtsbarkeit, soweit sie das kön- leistet seinen Beitrag zur Bekämpfung und Verfolgung der nen. Wir als Rechtsstaat können und wollen das. schwersten Verbrechen in unserer internationalen Gemein- schaft: Bei Völkermord, Verbrechen gegen die Mensch- Mit unserem Völkerstrafgesetzbuch schaffen wir eine lichkeit und Kriegsverbrechen darf es künftig nirgendwo verbesserte Rechtsgrundlage für die Verfolgung von Völ- auf dieser Welt mehr Straflosigkeit geben. kerrechtsverbrechen. Bei Völkermord, Verbrechen gegen Vor knapp vier Jahren, am 17. Juli 1998, ist in Rom das die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen gelten jetzt die Statut des künftigen Internationalen Strafgerichtshofs von besonderen Straftatbestände. Diese schrecklichen Verbre- 120 Staaten angenommen worden. Er soll seinen Sitz in chen sind heute durch das allgemeine Strafrecht zwar er- Den Haag bekommen und die ständige Gerichtsbarkeit fasst; ihr besonderer Unrechtsgehalt, etwa bei Massen- über die schwersten Völkerrechtsverbrechen ausüben. vergewaltigungen und ethnischer Säuberung im Rahmen Deutschland hat die Errichtung dieses Internationalen systematischer Angriffe gegen die Zivilbevölkerung oder Strafgerichtshofes immer breit gefördert und das Statut in einem Krieg, kommt jedoch in den Bestimmungen des bereits am 11. Dezember 2000 ratifiziert. Bei aller Unter- Völkerstrafgesetzbuchs besser zum Ausdruck. Das gilt stützung bleibt doch darauf hinzuweisen, dass selbst die auch für die anderen hier angesprochenen Verbrechen wie größten Optimisten die für das In-Kraft-Treten des Status etwa die Folter, die jetzt gesondert und nicht mehr allein nötigen Ratifikation durch 60 Vertragsstaaten erst in eini- über einen Tatbestand der Körperverletzung bestraft wird. gen Jahren erwartet hatten. Tatsache ist jedoch, dass der Das Völkerstrafgesetzbuch setzt das Römische Statut Gerichtshof schon sehr bald seine Arbeit aufnehmen um und nimmt zugleich gesichertes Völkergewohnheits- kann. Nachdem vor zwei Wochen in New York nicht nur recht auf. Damit erleichtert es die Arbeit der Praxis und die 60., sondern schon die 66. Ratifikationsurkunde hin- fördert darüber hinaus die Entwicklung und Verbreitung terlegt wurde, kann das Statut am 1. Juli 2002 in Kraft tre- des humanitären Völkerrechts. ten. Das ist ein großer Erfolg. Ein Wort noch zum Weltrechtsprinzip. Auch Täter, die Der IStGH wird ein echter „Weltstrafgerichtshof“ sein. weder selbst Deutsche sind, noch ihre Verbrechen gegen Zwar stehen heute noch große Staaten der Welt, auch sol- die Menschlichkeit in Deutschland oder an Deutschen be- che mit rechtsstaatlicher Tradition – wie etwa die USA – gehen, können hier zur Verantwortung gezogen werden. beiseite. Das ist bedauerlich, deshalb werben nicht nur wir Das ist vernünftig, einfach um die globale Bedeutung der hier in Deutschland, sondern alle Mitgliedstaaten der EU Ächtung und Verfolgung solcher schwerster Straftaten zu (B) darum, dass die Regierung der USA ihre derzeitige politi- unterstreichen. Allzu häufig werden freilich solche Fälle (D) sche Skepsis überwindet und mitarbeitet. Ich werde auch nicht sein. Die vorgesehene Einstellungsmöglichkeit stellt die G-8-Konferenz der Justizminister in Kanada in eini- zudem sicher, dass die deutsche Justiz mit Verfahren ohne gen Tagen dazu nutzen, dafür zu werben. Insgesamt bin Aussicht auf einen erfolgreichen Abschluss im Inland ich auch in diesem Punkt optimistisch – die Arbeit des oder bei bestehender Strafverfolgung durch vorrangig be- ständigen Internationalen Strafgerichtshofs wird dazu rufene andere Staaten oder durch die internationale Ge- beitragen, dass dieses globale Recht immer stärker auch richtsbarkeit nicht unnötig belastet wird. für diese großen Staaten gelten wird. Sie sollen nicht auf Dauer abseits stehen. Ich habe schon erwähnt, die vorliegenden Gesetze sind gut. Und ich danke allen, die bei ihrer Erarbeitung und Be- Für uns in Deutschland geht es jetzt nicht allein darum, ratung mitgewirkt haben: Das ist zum einen die Exper- die Aufbauarbeit des Internationalen Strafgerichtshofs zu tenkommission mit den Professoren Wehrle, Fischer, unterstützen. Wir – und das geschieht durch die heute be- Weigend, Zimmermann, Ambos; das sind zum anderen ratenen Gesetze – richten auch unser innerstaatliches die hervorragenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Recht auf die künftigen Anforderungen aus, soweit dies Strafrechtsabteilung des Bundesministeriums der Justiz nötig und sinnvoll ist. unter Ministerialdirektor Wilkitzki, die sich ja seit Jahren Das Ausführungsgesetz schafft die innerstaatlichen nicht nur bei der Erarbeitung des Römischen Statuts, son- Voraussetzungen für die Zusammenarbeit der deutschen dern gerade auch beim Aufbau des Internationalen Strafverfolgungsbehörden mit dem Internationalen Straf- Strafgerichtshofs engagieren, und die Experten aus dem gerichtshof, etwa bei der Überstellung beschuldigter Per- AA und dem BMV. Ich danke auch in besonderem Maße sonen und der Übersendung von Beweismaterial. Die Re- den Kolleginnen und Kollegen auf allen Seiten dieses gelungen folgen dem Statut und berücksichtigen die guten Hauses, die sich beteiligt haben. Erfahrungen der Zusammenarbeit insbesondere mit dem Unser Völkerstrafgesetzbuch stößt auf großes Interesse Jugoslawien-Gerichtshof, dem wir, ebenso wie dem auch im Ausland. Gerade auch bei den Staaten, die ebenfalls Ruanda-Gerichtshof für seine hervorragende Arbeit auch vor der Frage stehen, wie sie das Römische Statut umsetzen. an dieser Stelle ausdrücklich danken. Deshalb gibt es bereits eine englische und französische, eine Wir alle wissen auch, dass die Verfolgung von Völker- russische und spanische Fassung; eine chinesische wird in rechtsverbrechen vor den deutschen Gerichten wichtig Kürze folgen. Die deutsche Delegation hat es bei der jüngs- bleibt. Der Komplementaritäts-Grundsatz des Römischen ten Tagung der Vorbereitungskommission für den Interna- Status setzt ja fest, dass die Gerichtsbarkeit des Interna- tionalen Strafgerichtshof im April in New York vorgestellt – tionalen Strafgerichtshofs nur greift, wenn Staaten nicht mit außerordentlich positivem Echo. 23272 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

(A) Die Botschaft des Ständigen Internationalen Strafge- durchgeführten Übungen bewährt.“ Also möge sie uns (C) richtshofs ist: Die Folterknechte und Schreibtischtäter bitte nicht erzählen, das geplante Havariekommando sei dieser Welt können sich nirgendwo und zu keiner Zeit unzureichend. mehr vor einer gerechten Strafverfolgung sicher fühlen. Im Übrigen setzen wir mit dem Havariekommando in Diese Botschaft unterstreichen und stärken wir heute. Konsens mit den Küstenländern zentrale Empfehlungen der Grobecker-Kommission um. Anlage 9 Bereits seit Dezember 2001 werden in Cuxhaven die Voraussetzungen geschaffen, damit das Havariekom- Zu Protokoll gegebene Reden mando noch in diesem Jahr seine Arbeit aufnehmen kann. zur Beratung Die entsprechenden Vereinbarungen mit den Landesre- gierungen sind auf Arbeitsebene abgestimmt und den Län- – des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ge- dern zugeleitet worden. Es ist also davon auszugehen, dass setzes über die Untersuchung von Seeunfällen (See- die Länderkabinette bald ihre Zustimmung erteilen werden. unfalluntersuchungsänderungsgesetz SeeUÄndG) Die Einsatzzentrale des Havariekommandos wird ein in – der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem 24-Stunden-Bereitschaft gehaltenes maritimes Lagezen- Antrag: Bildung einer Leitstelle für Seesicherheit trum sein, das aus dem Bereich der Wasser- und Schiff- – des Antrags: Maritime Sicherheit auf der Ostsee fahrtsverwaltung des Bundes und den Wasserschutzpoli- zeien der Küstenländer derzeit aufgebaut wird. Dort laufen (Tagesordnungspunkte 12 a bis c) künftig alle notwendigen Informationen zusammen. Der Leiter des Havariekommandos übernimmt die Annette Faße (SPD): Wir – die rot-grüne Bundesre- Führung des Einsatzes, wobei er von Arbeitsstäben für gierung und die Koalitionsfraktionen – haben auf dem Schadstoff- und Brandbekämpfung, Verletztenversorgung, Gebiet der Schiffssicherheit eine Menge erreicht. Der Bergung und Öffentlichkeitsarbeit beraten wird. Bundesverkehrsminister hat mit der umfassenden Neu- Für den Einsatz kann er allen notwendigen Kräften des konzeption der maritimen Notfallvorsorge Maßnahmen Bundes und der Küstenländer, zum Beispiel der Wasser- eingeleitet, die wesentlich dazu beitragen werden, das und Schifffahrtsverwaltung, den Feuerwehren, den Schiffssicherheitskonzept zu optimieren. Ich möchte dem Schleppern und den Ölbekämpfungsschiffen, Einsätze er- Ministerium an dieser Stelle – insbesondere auch als Be- teilen und Einsatzabschnitte einrichten. troffene, als Küstenbewohnerin – meinen ausdrücklichen Die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (B) Dank für die effektive und erfolgreiche Arbeit in den ver- (D) gangenen vier Jahren aussprechen. Im Gegensatz zu den und die Bundesmarine werden vollständig in die Arbeit Damen und Herren von der Opposition haben wir unsere des Havariekommandos integriert. Hausaufgaben gemacht. Da der konkrete Einsatzfall hoffentlich künftig der ab- Im Falle eines schweren Seeunfalls ist ein zügiges, ef- solute Ausnahmefall bleibt, wird unter dem Dach des Ma- fektives und kompetentes Eingreifen unbedingt erforder- ritimen Lagezentrums ein Kompetenzzentrum für alle Fra- gen der maritimen Unfallbekämpfung eingerichtet. Darin lich. Hier zumindest scheinen wir einer Meinung zu sein. werden alle bisherigen Aufgaben, wie der Zentrale Melde- Mit der Errichtung eines Havariekommandos wird dies kopf oder die Sonderstellen zur Schadstoffbekämpfung, gewährleistet, und zwar auch ohne eine Änderung des aufgehen. Für die Schiffsbrandbekämpfung gibt es dann Grundgesetzes. Uns ist es in erster Linie wichtig, dass das erstmals eine zentrale Stelle. Havariekommando so schnell wie möglich seine Arbeit Neben dem Havariekommando ist die Vorhaltung aus- aufnehmen kann. Überflüssige Grundgesetzänderungen reichender Schleppkapazität ein elementarer Bestandteil würden den Prozess der Optimierung des Sicherheitskon- eines optimalen Sicherheitskonzepts. Ich habe es sehr be- zepts nur unnötig verlängern. grüßt, dass mit Beginn des letzten Winterhalbjahres erst- Ich bin schon etwas verwundert, wenn uns die CDU/ mals auch in der Ostsee zwei Notschlepper in CSU in ihrem Antrag mit der Errichtung des Havariekom- und Kiel stationiert sind. mandos eine „Alibi-Aktion“ unterstellt und plötzlich vehe- Ziel sind möglichst kurze Eingreifzeiten von maximal ment eine Zusammenfassung der bisher getrennten Aufga- zwei Stunden in Nord- und Ostsee. Für die Nordsee ist der benzuordnung von Bund und Ländern einfordert. Wenn ihr Chartervertrag für den Hochseeschlepper „Oceanic“ um das so wichtig ist, frage ich mich allerdings, warum sie das weitere sechs Monate verlängert worden. Darüber hinaus nicht angegangen ist, als sie die Gelegenheit dazu hatte. Zeit ist im Frühjahr dieses Jahres ein europaweites Interessen- genug dazu hatte sie. bekundungsverfahren eingeleitet worden. Dieses gibt den Dass sie es nicht tat, liegt wohl daran, dass sie die be- Schleppreedereien die Möglichkeit, ihre Vorstellungen stehende Struktur für vollkommen ausreichend hielt. Dies und Angebote zur Umsetzung des Notschleppkonzepts kann sie gerne in der Antwort der alten Bundesregierung darzulegen. Damit ist der teilweise geäußerten Kritik an auf die Kleine Anfrage „Sicherheit in der Deutschen den technischen Anforderungen des Notschleppers be- gegnet worden. Bucht V“, Drucksache 13/11453, nachlesen. Dort heißt es: „Die bestehende Einsatzleitungsstruktur hat sich bei Ich komme nun zu dem Bereich, der im Februar an die- der Bekämpfung von Unfallfolgen und den regelmäßig ser Stelle höchst umstritten war, die Reform der Seeun- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23273

(A) falluntersuchung. Sie war umstritten, weil die Opposition quenzen aus den verschiedenen nationalen Berichten wird (C) entweder von falschen Voraussetzungen ausgegangen ist dann der nächste Deutsche Bundestag nach der Ostsee- oder bewusst Unwahrheiten verbreitet hat, die sie auch parlamentarierkonferenz in St. Petersburg ziehen. noch weiter verbreitet. Aber lange werden die Leute ihr Die Ostseeparlamentarierkonferenz hat natürlich wenig nicht mehr auf den Leim gehen; denn es wird sich zeigen, von dem, was man Institution nennt. Deshalb hat sich be- dass die Seeämter auch mit der neuen Gesetzeslage erhal- sonders der Landtag Mecklenburg-Vorpommern große Ver- ten bleiben. dienste bei den Vorbereitungen der Aktivitäten erworben, Ich bleibe dabei: Die Reform der Seeunfallunter- insbesondere der Vorsitzende Dr. Henning Klostermann. suchung ist ein wichtiger und notwendiger Beitrag zur Ver- Das gilt auch für die im Mai stattfindende internatio- besserung der Schiffssicherheit und zur Unfallvermeidung. nale Anhörung in Kopenhagen. Dazu muss ich erneut eine Damit haben wir mit unserem Gesetz die Unfallunter- Bitte an die Bundesregierung richten: Es wäre gut, wenn suchung endlich an den internationalen Standard angepasst. sie Clauß Grobecker als Sachverständigen vorschlagen Ihr Gesetzentwurf ist damit gegenstandslos geworden. Er würde, gegebenenfalls auch einen Mitarbeiter aus dem wird im Übrigen den deutschen rechtlichen Anforderungen Verkehrsministerium. nicht gerecht. Fast alle anderen Ostseeanrainerstaaten sind vertreten. Ein wasserdichtes Notfallmanagement gibt es leider Außerdem könnte das Grobecker Gutachten offizielle Be- nicht. Aber wir haben mit den in den vergangenen vier ratungsgrundlage werden. Ich glaube nicht, dass wir uns Jahren eingeleiteten Maßnahmen die maritime Sicherheit verstecken müssen und eine internationale Parlamentarier- entscheidend verbessert. Eine Optimierung werden wir konferenz ist auf eine entsprechende Zuarbeit angewiesen. Schritt für Schritt weiterverfolgen. Vielleicht überlegt sich das Verkehrsministerium diese Bitte noch einmal. Alle weiteren inhaltlichen Aspekte sind Reinhold Hiller (Lübeck) (SPD): Mit dem vorliegen- nach der Vorlage des Berichtes der Bundesregierung nach den Antrag fordern alle Fraktionen des Deutschen Bun- der Konferenz in St. Petersburg zu beraten. destages die Bundesregierung auf, bis Ende Mai dem Bundestag einen Bericht zur maritimen Sicherheit im Ost- Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Schwer- seeraum zuzuleiten. In diesem Bericht sollen die Maßnah- punkt aller politischen Maßnahmen um zu mehr Seesi- men aufgeführt werden, die bereits realisiert oder geplant cherheit zu kommen, muss die Unfallvermeidung sein. sind. Derartige Berichte sollen in allen Ostseeanrainer- Deshalb halten wir von der Union an unserer Forderung staaten erarbeitet und veröffentlicht werden. Damit kann nach einer nationalen Küstenwache fest. Das im letzten zum ersten Mal eine vergleichende Analyse für den ge- Sommer von Bundesverkehrsminister Bodewig konzi- (B) samten Ostseebereich erstellt werden. pierte Havariekommando ist nur ein erster Schritt dazu, es (D) erfüllt nicht die notwendigen Anforderungen an ein nau- Die Berichte stellen dann zusammen mit den Ergeb- tisches Sicherheitskonzept aus einem Guss. Wir brauchen nissen einer im Mai stattfindenden Experten-Anhörung in eine nationale Küstenwache, wie sie in anderen Ländern Kopenhagen die Grundlage für Beschlussempfehlungen mit Erfolg praktiziert wird, weil wir im Falle einer Hava- der 11. Ostseeparlamentarierkonferenz im September in rie kurze Reaktionszeiten benötigen, weil wir eine straffe, St. Petersburg dar. Zur Erarbeitung von Vorschlägen zur alle Kompetenzen umfassende Organisation brauchen, Beschlussfassung für die Konferenz in St. Petersburg ist weil alle an der Rettung Beteiligten nach einheitlichen eigens und erstmals eine Arbeitsgruppe der Ostseeparla- Grundsätzen handeln müssen und weil die Handelnden mantarierkonferenz eingesetzt worden. Es ist sehr erfreu- als Team aufeinander eingespielt sein müssen und nicht lich, dass sich der Deutsche Bundestag bei diesem Antrag erst im Falle eine Havarie kurzfristig zusammengerufen einig ist, und ich bin mir sicher, dass die Bundesregierung werden können. einen Bericht erstellen wird, der sich sehen lassen kann. Das Havariekommando steht nur in einem konkreten Ist in Deutschland bisher vorrangig die maritime Si- Havariefall unter einheitlicher Führung, eine ständige cherheit auf der Ostsee aus nationaler Sicht diskutiert Einrichtung aller mit einem eingespielten Team ist es worden, zum Beispiel bezogen auf die nationalen Gewäs- nicht. Kontraproduktiv ist das Ausgrenzen von Zoll, BGS ser, so hat sich bei Havarien insbesondere bei der Kader- und Bundesmarine, so Kritiker von der Küste. Die nauti- rinne gezeigt, dass es sich hier um eine internationale Auf- schen Vereine sowie die Arbeitsgemeinschaft der Berufs- gabe handelt. feuerwehren, machten erst vor kurzem wieder darauf Diese internationale Aufgabenstellung wurde bisher be- aufmerksam, dass effektiver Küstenschutz nur unter Ein- sonders von der HELCOM wahrgenommen, meiner Mei- beziehung der SAR-Hubschrauber, Ölaufklärungsflug- nung nach mit sehr großem Erfolg, besonders auch unter zeuge und Ölauffangschiffe der Bundesmarine möglich umweltpolitischen Aspekten, wie Kollegin Deichmann ist, so sehen es auch andere Experten. und ich in Helsinki feststellen konnten. Aber auch die Ost- Von den Schleppern bis hin zu den Ölbekämpfungs- seeparlamentarierkonferenz hat sich dieser internationalen schiffen verfügt allein der Bund über 100 Boote. Noch im- Aufgabe gestellt: Die Einrichtung einer Arbeitsgruppe mer gelten für den Einsatzverbund Küste zwei Zentren: „Maritime Sicherheit“ ist der Anfang. Neustadt für die Ostsee, Cuxhaven für die Nordsee. Auf der Konferenz in Helsinki sind bereits diverse Der Bundesrechnungshof hat, wie auch der Haushalts- Maßnahmen gefordert worden. Hierauf wird der Bericht ausschuss des Deutschen Bundestages, die Bundesregie- der Bundesregierung besonders eingehen. Die Konse- rung mehrfach auf die Notwendigkeit der Konzentration 23274 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

(A) aller Seedienste hingewiesen; auch aus fiskalisch-ökono- Alle Initiativen der Opposition wurden von der Regie- (C) mischen Überlegungen. Das Management aller Boote aus rungsbank bisher abgeschmettert, stattdessen das umstrit- einer Hand im Krisenfall wurde als Zielmarke herausge- tene Havariekommando ins Leben gerufen. Selbst in des- stellt. Handlungsdruck kommt auch von der EU-Kom- sen Struktur eingebundene Einrichtungen wissen bis mission und durch das Europäische Parlament. Die EU heute nicht, was ihre Aufgaben und Kompetenzen inner- will eine europäische Küstenwache. Deutschland kann halb des Kommandos sind, wie ich erst diese Woche von aber diesem Erfordernis nur dann entsprechen, wenn es Petenten erfahren musste. zuerst einmal eine nationale See- und Küstenwache schafft. Die EU-Kommission hat deutlich gemacht, dass Jährlich nehmen 90 000 Schiffe Kurs auf die Deutsche man eine einheitliche Schiffssicherheitsbehörde, ein Amt Bucht. Täglich sind folgenschwere Unfälle auf See mög- für Seesicherheit, mit allen Kompetenzen im Katastro- lich. In den letzten zehn Jahren kam es zu über 100 schwe- phenfall benötigt. Das alles ist in dem Bericht der Kom- ren Schiffsunfällen in Nord- und Ostsee, über 20 alleine mission über die „Gesamtstrategie der Gemeinschaft für in dem nur 50 Quadratkilometer großen Bereich der Ka- die Sicherheit im Seeverkehr“ nachzulesen. detrinne. Sie ist eine der meistbefahrenen Schifffahrts- wege in der Ostsee. Täglich passieren drei bis vier Tanker, Es fehlt ein Unfallmanagement aus einem Guss mit dazu circa fünf Massengutfrachter, diese Strecke, jährlich klaren Zuständigkeiten, einheitlicher Führung und dem etwa 50 000 Schiffe. Die Kadetrinne hat teilweise nur eine Recht des direkten Zugriffs auf alle Einheiten. Tiefe von 18 Metern, was sie extrem risikoreich für tief Seit der „Pallas-Katastrophe“ vor dreieinhalb Jahren liegende 100 000-Tonnen-Tanker macht. sind nur unzulängliche Entscheidungen getroffen worden, weil sie in unserem föderalen Zuständigkeitswirrwarr of- Da es sich um ein internationales Gewässer handelt, fensichtlich auch gar nicht zu treffen sind. gibt es hier weder eine Lotsannahmepflicht noch eine Ra- darüberwachung, noch ist es ein Verkehrstrennungsge- Deshalb muss die Bundesregierung in diesem Punkt biet. endlich für eine Neuordnung der Zuständigkeiten sorgen. Notwendig dafür ist eine Grundgesetzänderung. Zu die- Die Gefahr einer Ölpest ist täglich gegeben, wie das sem Schluss kommt auch das fundierte Gutachten der Tankerunglück der „Baltic Carrier“ vom 29. März letzten Universität Rostock, das im Auftrag der Landesregierung Jahres zeigte. Hier ist vom Bundesverkehrsminister erst in Mecklenburg-Vorpommern erstellt wurde. Es liegt in nach öffentlichen Protesten, aber bisher nicht ausreichend unserer Verantwortung als Parlament, das aufzugreifen, gehandelt worden. Eine Risikolücke besteht weiterhin. was unter anderem der Schleswig-Holsteinische Landtag Sie soll offenbar sogar vergrößert werden: Es ist auf- unter Einbindung von Sozialdemokraten, Christdemokra- merksamen Gewerkschaftern zu verdanken, dass im Spät- ten, Bündnisgrünen und Freien Demokraten vor mehr als sommer des vergangenen Jahres die Geheimpläne des (B) zweieinhalb Jahren beschlossen hat. Dort wurde, wie Bundesministers über einen radikale Stellenabbau von (D) 2001 in Schwerin, eine Grundgesetzänderung gefordert, 6 200 Planstellen im Bereich der See- und Wasserbehör- um zu einer einheitlichen Lösung beim Seekatastrophen- den bekannt wurden. schutz zu kommen. Diese Anregungen aus Kiel und Durch Privatisierung von Diensten, Ausgabenverlage- Schwerin, fachlich und sachlich begründet, sind von der rung und Abbau von Arbeitsplätzen will Bodewig sein Bundesregierung nicht aufgegriffen worden. ehrgeiziges Ziel durchsetzen. Zwar hat ihn der Protest der Delegiert von den beteiligten Behörden wird im Kata- Personalräte derzeit einknicken lassen, doch die Gutach- strophenfall beim Havariekommando nur auf Zeit. Jeder ten haben ihre Aktualität nicht verloren. Die jetzt begin- bleibt in seiner Uniform. Die Abgabe von Kompetenzen nende personelle Entleerung der Seeämter wird von Ge- kann kurzfristig widerrufen werden. Auch wechseln viele werkschaftern als Anfang des größten Personalabbaus in der verantwortlichen Personen erst im Notfall ihre Posi- der Geschichte des Bundesverkehrsministeriums gesehen tion unter das Dach des Kommandos. Eine Kontinuität der und auch als einen Verlust von Sicherheit. Auch wenn die Zusammenarbeit ist trotz vorgesehener Trainingsperioden Bodewig-Pläne in die Schublade zurückgelegt wurden, schwer erkennbar. haben sie doch zu Unruhe, Besorgnis und Ängsten bei Wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion haben mit Tausenden von Familien und bei den Seesicherheitsver- der Zielrichtung einer konsequenten, unmittelbaren See- bänden an der Küste geführt. Katastrophen-Abwehr zahlreiche Initiativen ergriffen. Eine ganze Legislaturperiode ist nichts Grundlegendes Das gilt auch für die CDU/CSU-Landtagsfraktionen in geschehen, sieht man einmal davon ab, dass sich jetzt be- Kiel und Schwerin. Als Berliner Anträge sind die Große reits ein dritter SPD-Verkehrsminister einarbeiten musste. Anfrage der Union von 1999 mit dem Titel „Schaffung ei- Jetzt einen Bericht der Bundesregierung zur „Maritimen ner deutschen Küstenwache“, die Kleine Anfrage aus dem Sicherheit auf der Ostsee“ zu fordern, ist für vier Jahre Jahr 2000 „Sicherheits- und Notfallkonzept für Nord- und Regierungsbilanz mehr als mager, aber immer noch bes- Ostsee“, 2001 die erst heute auf der Tagesordnung ste- ser als gar nichts. Eine weitere Bestandsaufnahme wird hende Initiative „Bildung einer Leitstelle für Seesicher- keine zusätzliche Sicherheit bringen, wird aber auch kei- heit“, unser Antrag „Optimierung der Ostseesicherheit im nen weiteren Schaden anrichten, wie das vor wenigen Wo- Bereich der Kadetrinne“ sowie aktuell aus diesem Jahr chen radikal und undemokratisch geänderte Seeunfallun- der „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes tersuchungsverfahren. über die Untersuchung von Seeunfällen“ und die heute zu debattierende überfraktionelle Initiative „Maritime Si- Deshalb werden wir heute dem überfraktionellen An- cherheit auf der Ostsee“ zu erwähnen. trag zustimmen und auf interessante Anregungen für un- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23275

(A) sere Regierungszeit nach dem 22. September hoffen. Das sein, unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Die Aufsicht (C) vor wenigen Wochen von der Regierung geänderte See- über dieses Amt übt das Bundesverkehrsministerium aus. unfall-Untersuchungsgesetz schließt in Zukunft die Öf- Verwaltungstechnisch ist das Hamburger BSU beim fentlichkeit von Seeamtsverhandlungen aus. Es verlagert Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie angesie- die Fachaufsicht in die Bundesbehörde. Es ermöglicht die delt. Auch diese Behörde ist wiederum Berlin unterstellt. Weitergabe aller personengestützten Daten. Es schafft das „Reformziel erreicht“, kann Kurt Bodewig melden, „mehr Widerspruchsverfahren ab. Es verzichtet auf die Einbezie- Zentralisierung, weniger Personal und doppelte Abhän- hung von ehrenamtlichen Fachleuten. Ich greife bewusst gigkeit der neuen Behörde vom eigenen Ministerium.“ noch einmal unsere Hauptkritikpunkte aus der 1. Lesung auf: Einen weiteren Beweggrund dieser eiskalten Seeamts- reform sehen die Küstenkritiker in der Tatsache, dass sich Erstens. Damit verstößt das Gesetz gegen den Grund- nach der Havarie der „Pallas“ Seeämter – also Behörden- satz von Transparenz bei Seeunfalluntersuchungen, in de- vertreter – erdreistet haben, ebenso wie viele Fachleute nen der Staat oder seine Verwaltung eine Mitschuld trägt. Kritik an dem dilletantischen Krisenmanagement von Der Angeklagte ist in Zukunft sein eigener Richter. Rot-Grün in Kiel, aber auch am Berliner Ministerium zu Zweitens. Damit verstößt das Gesetz gegen die Presse- üben. Der schleswig-holsteinische Journalistenverband freiheit, weil aus den bisher öffentlichen Seeamtsver- spricht mit Recht von einer „Lex-Pallas“, die verabschie- handlungen jetzt behördeninterne Verfahren werden. Den det worden ist. Gleichzeitig baut man mit diesem Transpa- Journalisten und Angehörigen von Unfallopfern ist es in renz-Verhinderungsgesetz eine Mauer des Schweigens um Zukunft verboten, an 90 Prozent aller Seeamtsverhand- das zukünftige Havariekommando und verhindert so, dass lungen teilzunehmen. mögliche Behördenfehler aufgedeckt werden, wie Green- peace es öffentlich anprangert. Drittens. Damit verstößt das Gesetz gegen den Persön- lichkeitsschutz. Kommt es zu einem Seeunfall, wird ein Noch nie zuvor hat diese Bundesregierung eine so Matrose oder Offizier beschuldigt, können sie sich nicht klare Aussage zu ihrem politischen Grundverständnis ge- mehr öffentlich dagegen wehren. troffen, wie in ihrer Begründung für das neue Seeunfall- untersuchungsverfahren. Die Verhandlungen erfolgen hinter verschlossenen Türen. Und ist der Beschuldigte auch schuldlos, der Ma- Sie erklärt darin wörtlich, dass eine öffentliche Ver- kel bleibt, dem Rufmord sind Tor und Tür geöffnet. Recht handlung, Ausdruck, und jetzt kommt es, „einer von alters her überkommenen, ... Streitkultur“ ist. hat nur noch die Behörde. Das Gesetz verstößt gegen eine Reihe grundsätzlicher Prinzipien unserer Demokratie. Ich wiederhole noch einmal: Die Bundesregierung hält (B) Deshalb kämpften aufrechte Demokraten und nahezu alle ein transparentes öffentliches Verfahren für das Instru- (D) Fachleute von Nord- und Ostsee sowie Verbände gegen ment einer überkommenen Streitkultur. Das nenne ich das Kritik-Verhinderungsgesetz von Rot-Grün. antidemokratisch! Dieses Politikverständnis setzte sich am 22. März im Bundesrat fort. Die Küstenländer hatten Gewerkschafter und Greenpeace protestierten dagegen, sich in einer einheitlichen Empfehlung gegen das die Lotsenkammer, die Reeder, die nautischen Vereine, die Bodewig-Gesetz ausgesprochen und wollten den Vermitt- Schiffsingenieure, die Schutzgemeinschaft deutsche Nord- lungsausschuss anrufen. Der Auszug der Union aus dem seeküste, die Seglerverbände, die Wasserschutzpolizei, Be- Bundesrat hat eine klare Entscheidung verhindert. Doch triebs- und Personalräte aus der maritimen Wirtschaft, Um- die verbliebenen rot-grünen Regierungen haben das Vo- weltschützer, Fischer, auch der schleswig-holsteinische tum der betroffenen Küstenländer missachtet und die Journalistenverband. Lage genutzt, das heißt missbraucht, um Bodewigs Wil- Obwohl sich unter dieser geballten Front der Küsten- len durchzusetzen. kritiker Sympathisanten der Koalition befinden, ließ Bun- Die Abstimmung hätte zurückgestellt werden müssen, desminister Kurt Bodewig dieser Protest kalt. Diese Kalt- als nach der kontroversen Entscheidung über das Zuwan- schnäuzigkeit im Umgang mit kritischen Bürgern gilt derungsgesetz im Bundesrat nur noch eine Minderheit auch für Teile der SPD und der Bündnisgrünen. „Keine anwesend war; das wäre fair gewesen. Doch Rot-Grün Anregung, kein Ratschlag von uns“, so ein Sprecher der missachtete den Willen der Betroffenen und setzte ein un- Aktionskonferenz Nordsee, „wurde von Bodewigs Minis- demokratisches Gesetz auf undemokratische Weise durch. terium oder von SPD und Grünen akzeptiert. Zwei Mal standen wir als Bittsteller vor verschlossenen Türen.“ Diesen Kollisionskurs für die Seesicherheit werden wir nach dem 22. September korrigieren und dabei auf das be- Dieser außergewöhnliche Vorgang lässt nach den Be- währte, transparente und demokratische Verfahren unter weggründen von Bundesverkehrsminister Kurt Bodewig Einbindung der ehrenamtlichen Fachkräfte von der Küste fragen, warum hier ein im Ansatz undemokratisches Ge- setzen. setz mit der Brechstange durchgeboxt worden ist. Da geht es zuerst einmal um das Reform-Image des Ministers. Mit diesem Gesetz werden die Seeämter von Emden, Bremer- Helmut Wilhelm (Amberg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- haven, Hamburg und Rostock im Prinzip aufgelöst und NEN): Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, Ihr heute in zweiter und dritter Lesung zu be- das Seeamt Kiel verkleinert. ratender Antrag zum Thema „Seeunfalluntersuchung“ hat Es bleibt das Oberseeamt in Hamburg. Dieses wird in es natürlich schwer, unsere Zustimmung zu finden. Das Zukunft allein für die Seeamtsverhandlungen zuständig liegt nicht zuletzt daran, dass bereits vor über zwei 23276 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

(A) Monaten, am 21. Februar diesen Jahres, der Koalitions- derung des Grundgesetzes brauchen wir, im Gegensatz zu (C) antrag hierzu eine Mehrheit des Hauses erzielen konnte. Ihnen, dafür allerdings nicht. Seien Sie mir bitte nicht böse, aber das Gesetz, auf den Die Verabschiedung des interfraktionellen Antrages zur sich Ihr Antrag bezieht, gibt es schlichtweg in der von Ih- maritimen Sicherheit auf der Ostsee halte ich hingegen für nen dargestellten Form nicht mehr. Aber auch inhaltlich geboten. Die Offenlegung der grundsätzlichen politischen greift Ihr Antrag gegenüber den von uns eingebrachten und fachlichen Positionen durch die Bundesregierung zu Neuerungen nicht weit genug. Fragen der maritimen Sicherheit im Ostseeraum ist vor Unser Gesetzentwurf sieht daher unter anderem eine dem Hintergrund der bevorstehenden 11. Konferenz der Reform der Seeunfalluntersuchung nach internationalem Ostseeparlamentarier angezeigt. Nur durch noch stärkeres Standard vor. Er trennt erstmals die objektiven Ermittlun- und weiter gehendes gemeinsames Handeln der Ostseean- gen der Unfallursachen – zuständig ist hierfür zukünftig rainerstaaten kann der besonderen Gefährdung der Ostsee eine unabhängige und weisungsungebundene Bundes- und ihrer Küsten durch Schiffshavarien effektiv begegnet stelle – von der individuellen Verantwortlichkeit und dem werden. damit unter Umständen verbundenen Entzug der Patente; hierfür sind weiter wie bisher die Seeämter zuständig. Michael Goldmann (FDP): Noch einmal steht heute Sinn und Zweck dieses Gesetzes ist in erster Linie die Un- das Seeunfalluntersuchungsgesetz auf der Tagesordnung. fallverhütung. Die Bevölkerung und die Natur der Küsten Es ist schon wirklich dreist, mit welchen Halbwahrheiten soll zukünftig so effektiver geschützt werden können als die Regierungskoalition versucht, den Menschen an der bisher. Darum müssen die Fragen der persönlichen Vor- Küste Sand in die Augen zu streuen. In den letzten Wo- werfbarkeit für einen Unfallhergang von der systemati- chen wurde immer wieder von Ihrer Seite vorgebracht, schen Unfalluntersuchung und den Lehren, die daraus zu dass die Seeämter doch erhalten blieben und der Vorwurf, ziehen sind, strikt getrennt werden. es handele sich künftig nur noch um Briefkastenämter, Die weisungsunabhängige Behörde soll neben der um- aus der Luft gegriffen sei. fassenden Unfalluntersuchung auch Vorschläge – das ist Sie wissen aber ganz genau, dass die Seeämter künftig das Entscheidende – zur zukünftigen Unfallvermeidung nur noch in Fällen von Patententzugsverfahren tätig wer- unterbreiten. Der Bericht, den die Bundesstelle erstellt, den und dass dies nur circa 10 Prozent der bisherigen Ver- hat den Sinn und Zweck, die Öffentlichkeit über Unfall fahren sind. Das Seeamt Kiel soll das einzige Seeamt mit und entsprechende Präventionsmaßnahmen zu unterrich- Personal bleiben und dieses dann gegebenenfalls nach ten. Er soll Fakten liefern, die in erster Linie die Politik Bremerhaven oder Emden oder Rostock schicken. Ich unterstützen soll, unter Umständen geeignete Gegenmaß- frage Sie: Wie würden Sie ein Amt nennen, das nur noch nahmen zu beschließen. Der Gesetzentwurf entspricht (B) ein Schild an der Wand hat, damit das ab und an auftau- (D) dem 1998 einstimmig verabschiedeten Flugunfall-Unter- chende Personal das Amt auch findet? suchungsgesetz! Das Schöne ist, dass Sie, meine lieben Kolleginnen und Die IMO – International Maritim Organisation – hat Kollegen von Rot-Grün, sich mit nahezu jeder Äußerung das Verfahren des Luftverkehrs auf den Seeverkehr über- zu diesem Thema an der Küste lächerlich machen. Alle In- tragen. Dazu gibt es meines Erachtens keine stichhaltige teressierten kennen den wahren Sachverhalt und sie las- Alternative. sen sich von Ihnen kein X für ein U mehr vormachen. Am Auch der Antrag der CDU/CSU bezüglich der Bildung 22. September werden Sie dafür die verdiente Quittung einer Leitstelle für Seesicherheit kann nicht unsere Zu- bekommen. stimmung finden. Die Bundesregierung hat in den letzten Doch auch die CDU/CSU hat sich unter Führung ihres drei Jahren intensiv an der Verbesserung des Küsten- Kanzlerkandidaten Stoiber in der Bundesratssitzung am schutzes gearbeitet. Eine Reihe von Arbeitsgruppen prüft 22. März skandalös verhalten. Nachdem es vielen enga- die Vorschläge der Grobecker-Kommission und hat zu gierten Menschen durch unermüdlichen Einsatz gelungen vielen Punkten auch bereits konkrete Maßnahmen vorge- war, die Ablehnungsfront im Bundesrat entgegen allen legt. Dazu zählt auch der sehr konkrete Vorschlag zur Ein- Anfeindungen aus dem Bundesverkehrsministerium auf- richtung eines Havariekommandos, mit dem eines der rechtzuerhalten, und die Mehrheit zur Anrufung des Ver- großen strukturellen Probleme nach der Havarie der „Pal- mittlungsausschusses in Sachen Seeunfalluntersuchung las“, nämlich das Kompetenzgerangel, durch die Bünde- feststand, stellt sich die CDU/CSU ein Armutszeugnis lung der Entscheidungsstrukturen behoben werden soll. aus. Wie beleidigte Kinder hat sie den Saal zu verlassen. Bei schweren Seeunfällen wird das neu zu errichtende Das war ein Skandal, wegen dieses einstudierten Theaters Havariekommando unter der Leitung eines Bundesbeam- kann nun ein Gesetz in Kraft treten, das niemand an der ten eine einheitliche Einsatzleitung über alle infrage kom- Küste will. Damit hat die CDU/CSU der Sache einen menden Einsatzkräfte des Bundes und der Länder sichern. Bärendienst erwiesen und ich hoffe, dass Sie, liebe Kolle- Dessen Kern ist ein in 24-Stunden-Bereitschaft gehalte- ginnen und Kollegen der CDU/CSU, Ihren Ministerpräsi- nes maritimes Lagezentrum. Es wird aus dem Bereich der denten ordentlich die Meinung gesagt haben, denn auch Ihre Arbeit wurde damit zunichte gemacht. Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes und den Wasserschutzpolizeien der Küstenländer aufgebaut. Dort Am 22. November 2001 haben die fünf Küstenländer werden zukünftig alle relevanten Informationen zusam- eine gemeinsame Empfehlung verabschiedet, die eine so menlaufen. Bei einer Havarie übernimmt der Leiter des genannte kleine Lösung vorsieht. Die CDU hat diese Havariekommandos die Führung des Einsatzes. Eine Än- Empfehlung aufgegriffen und als eigenen Antrag einge- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23277

(A) bracht. Leider hat die Regierungskoalition keinerlei Ein- ische Afrika-Strategie im Rahmen der gemeinsamen (C) sehen gezeigt, sodass auch dieser Kompromissvorschlag Außen- und Sicherheitspolitik zu entwickeln. Der Hin- verpufft ist. weis der Bundesregierung darauf, dass regionale Kon- zepte nicht mehr zeitgemäß seien, darf nicht zur Untätig- Ein Gesetz, das wie das SUG der Regierung dazu dient, keit führen. In diesen Kontinent darf nicht weiter so „Mauscheleien“ von Behörden zu ermöglichen und die hineingestolpert werden, wie das bei den letzten Afrika- Verantwortung für Seeunfälle zu vernebeln, darf keinen Besuchen des Bundesaußenministers geschah. Bestand haben. Konzepte hin oder her: Das von der Bundesregierung Nach dem 22. September werden die Karten neu ge- wortreich angekündigte Afrika-Engagement muss finan- mischt und dann wird die FDP die notwendigen Korrek- ziert werden. Es ist da schon ein Trauerspiel, dass wir nun turen an der Seeunfalluntersuchung vornehmen. schon im vierten Jahr nach dem Amtsantritt von Rot-Grün Heute geht es aber nicht nur um die Seeunfalluntersu- zusehen müssen, wie die deutsche Entwicklungspolitik an chung, sondern auch um die künftige Sicherheit auf der Substanz und – was fast noch schlimmer ist – an Glaub- Ostsee. In dem gemeinsamen Antrag fordern wir zu Recht würdigkeit verliert. Allen Sonntagsreden zum Trotz ist die einen Bericht der Bundesregierung an. Die Ostsee ist Bundesregierung inzwischen zum entwicklungspoliti- schließlich der wichtigste Verkehrsweg zu den baltischen schen Schlusslicht in der Europäischen Union geworden. Staaten und mit einer weiteren Zunahme des Schiffsver- Auch bei der Außenpolitik ist Afrika im Streichkonzert kehrs ist in den nächsten Jahren zu rechnen. Ich freue der Botschaften besonders bedacht worden. Vier Bot- mich, dass wenigstens auf diesem Gebiet die Regierungs- schaften, drei Goethe-Institute und mehrere Außenstellen koalition auf den Weg zum gemeinsamen Handeln fielen dem Rotstift zum Opfer. Wir haben im mittleren zurückgefunden hat. Die FDP unterstützt den Antrag. Afrika praktisch eine botschaftsfreie Zone erreicht. Ist es nicht gerade die Perfektion der Abstimmung zwischen den Ministerien, wenn in einem Schwerpunktland der Anlage 10 Entwicklungshilfe, Burundi, die Botschaft geschlossen wird? Diese Unkoordiniertheit muss endlich beendet wer- Zu Protokoll gegebene Reden den. zur Beratung Lassen Sie mich noch einige Punkte anschneiden, bei – des Antrags: Afrikas neues Denken unter- denen Anspruch und Realität weiter auseinander klaffen stützen als das Maul eines Krokodils. In erster Linie wäre hier die – der Beschlussempfehlung und des Berichts zu vollmundige Ankündigung der Bundesregierung auf dem (B) dem Antrag: Afrika darf nicht zu einem ver- Millenniumgipfel in New York zu nennen, aktiv an der (D) gessenen Kontinent werden weltweiten Armutsbekämpfung mitwirken zu wollen. Tat- sache ist, dass die KfW ihre Finanzierungszusagen unter – der Beschlussempfehlung und des Berichts zu anderem für Armutsbekämpfungsprojekte wegen sinken- den Anträgen: der Bundeszuschüsse radikal zurückfahren muss. Da – EU-AKP-Zusammenarbeit – bewährte nutzt auch nicht der lautstark propagierte Rückgriff auf so Partnerschaft mit großer Zukunft genannte Marktmittel. Entwicklungsländer, die sich auf – Reform der EU-Entwicklungszusammen- den internationalen Finanzmärkten zu Marktkonditionen arbeit ist bislang Stückwerk und muss kon- finanzieren können, sind auf die KfW nicht angewiesen sequent vorangetrieben werden und gehören daher im Zweifel auch nicht zu der Ziel- – der Großen Anfrage: Afrikapolitik der Bun- gruppe der Ärmsten. desregierung Wenn die Bundesregierung, wie von Ministerin – der Beschlussempfehlung und des Berichts zu Wieczorek-Zeul öffentlich angekündigt, nicht einmal dem Antrag: Für eine europäische Ausrich- Mittel zur Kofinanzierung des Internationalen Fonds für tung der deutschen Afrikapolitik Aids-Hilfe zur Verfügung stellt, dann muss sie sich schon (Tagesordnungspunkt 13 a bis d und Zusatz- fragen lassen, wie sie überhaupt entwicklungspolitisch in tagesordnungspunkt 8) Afrika noch eine Rolle spielen will. Da hilft auch nicht die auf der Konferenz in Monterrey überstrapazierte Forde- rung nach einer Tobinsteuer als Wunderwaffe gegen Joachim Günther (Plauen) (FDP): Seit dem Ende knappe Kassen. Wir brauchen keine neuen Steuern, son- der Ost-West-Konfrontation haben sich neue Ansätze für dern intelligente Konzepte für eine Entwicklungspolitik, einen nachhaltigen Strukturwandel durch Reformen und deren Erfolg nicht nur an der Höhe der Transferleistungen für einen intensiven politischen Dialog mit den afrikani- messbar ist. schen Staaten ergeben. Mit unserem Antrag „Für eine eu- ropäische Ausrichtung der deutschen Afrikapolitik“ legen Jede noch so gute Entwicklungszusammenarbeit kann wir ein politisches Rahmenkonzept für Stabilität und Si- zur wirtschaftlichen Entwicklung nur einen begrenzten cherheit, nachhaltiges Wachstum, regionale Kooperation Beitrag leisten. Wir müssen uns von der Vorstellung lösen, die Armut in Afrika durch Finanztransfers oder großange- und Förderung der Innovationsfähigkeit vor. legte Entschuldungsaktionen allein beseitigen zu können. Wir fordern auch, endlich die Vorgaben des Amsterda- Deutsche Entwicklungspolitik darf nicht als Politik der mer Vertrages umzusetzen und eine gemeinsame europä- Grundbedürfnisbefriedigung systematisch missverstanden 23278 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

(A) werden. Die FDP-Bundestagsfraktion bekennt sich dazu, Bei genauerem Hinschauen aber sieht es weiterhin trüb (C) auch in Zukunft den Menschen in Afrika in Notsituatio- für Afrika aus, insbesondere trüb an Ideen, wie wir mit nen, zum Beispiel durch Lieferung von Nahrungsmitteln den Menschen in Afrika und ihren immensen Problemen und Medikamenten, zu helfen. Dies trifft gerade auch auf umgehen sollen. Genau das spiegelt auch ein Teil der An- die Krisenregionen am Horn von Afrika, im Gebiet um die träge wider. Dabei stimmt die Analyse der meisten An- Großen Seen und in Westafrika zu. Nachhaltige Entwick- träge durchaus: Afrikas Anteil an den „Segnungen“ der lungspolitik muss aber über diese notwendige Form karita- Globalisierung beschränkt sich weit gehend auf die Län- tiver Hilfe hinausgehen. Entwicklungshilfe muss dazu der Südafrika und vielleicht noch Nigeria, die mit mehr beitragen, politische, ökonomische und gesellschaftliche als 50 Prozent den größten Anteil an den minimalen Aus- Strukturen aufzubauen, die es den Menschen vor Ort er- landsdirektinvestitionen in Afrika haben. Deren Volumen möglichen, sich auf Dauer selbst zu helfen. beläuft sich allerdings gerade mal auf 1,6 Prozent der glo- Eliten in Afrika müssen ihre Märkte vom staatlichen balen Auslandsdirektinvestitionen. Hier gibt es 80 Pro- Dirigismus befreien, Landreformen zulassen und für klare zent der weltweit HIV/Aids-Infizierten. Hier gibt es in Eigentumsverhältnisse sorgen. Wenn es nicht gelingt, eine mehr als 16 Ländern gewaltsame Konflikte und Bürger- solche Entwicklungsstrategie für die ländlichen Räume kriege. Hier müssen fast 50 Prozent der Bevölkerung mit zu schaffen, wird der Drang zur Bildung von nicht mehr weniger als 1 Euro täglich auskommen, leben also in bit- lenkbaren großstädtischen Agglomerationen und damit terster Armut. Hier gibt es circa 6 Millionen Binnen- zur Landflucht und mit allen damit verbundenen Proble- flüchtlinge, die größten Wüstengebiete, die längsten Dür- men noch weiter verstärkt. rekatastrophen usw. Afrika ist Spitzenreiter auf der nach oben offenen Katastrophenskala. Dreh- und Angelpunkt der wirtschaftlichen Entwick- lung ist aus unserer Sicht ein verstärkter Einsatz markt- Trotz alledem scheint für die deutsche Wirtschaft aus wirtschaftlicher Instrumente. Dazu gehört in erster Linie Afrika aber noch einiges herauszuholen zu sein – so zu- die Förderung und Entwicklung des Finanzsektors. We- mindest der Tenor der vorliegenden Anträge, die selbst sentliche Elemente sind unter anderem der Zugang zu Mittel der Entwicklungszusammenarbeit nicht etwa für Kleinkrediten, der Aufbau von Dorfbankensystemen, die die Basisversorgung der Bevölkerung, sondern für Pro- Ausbildung von Bankfachleuten, eine stabile Geldpolitik jekte der privaten Wirtschaft in Afrika mobilisieren wol- der Entwicklungsländer und Rechtssicherheit im Finanz- len. Alles andere sollen die Afrikaner gefälligst selbst fi- wesen. Ganz entscheidend für die Entwicklungschancen nanzieren. unserer Partnerländer ist darüber hinaus ihre volle Teil- Das stellt die NePAD-Initiative, also die „Neue Part- nahme am freien Welthandel. Nach wie vor gilt: Handel nerschaft für Afrikas Entwicklung“ geradezu auf den ist besser als Hilfe. Kopf. Afrika braucht keine forcierte Implementierung der (B) Gerade angesichts rückläufiger Mittel für die Außen- Wirtschaftsinteressen des Nordens nun auch durch die (D) und Entwicklungspolitik wird eine zukünftige deutsche Entwicklungszusammenarbeit. Afrika braucht – und das Afrikapolitik nur im Rahmen einer europäischen Aus- sagt NePAD ganz deutlich – Hilfe zur Selbsthilfe, das richtung erfolgreich sein können. Deshalb muss die Bun- heißt, Hilfe bei der Grundversorgung mit Bildung, Nah- desregierung sich vorrangig dafür einsetzen, dass die rung und in der Gesundheitsfürsorge, für die Bekämpfung bilaterale Afrikapolitik der EU-Mitgliedstaaten und der von Seuchen und Krankheiten, für den Aufbau eigener Europäischen Union zu einer wirksamen gemeinsamen Kapazitäten und Potenziale in Verwaltung und Manage- Politik zusammengeführt wird. Die hierfür von dem ment. Das heißt, Afrika endlich die Chance auf eine ei- Kairoer Gipfel festgelegte Frist bis zum Jahre 2003 muss genständige Entwicklung eröffnen; nach Sklaverei, Kolo- die Bundesregierung dringend nutzen, um einen aktiven nialismus und postkolonialer Abhängigkeit. Beitrag zur Entwicklung einer europäischen Afrikapolitik zu leisten. Wir haben dafür ein Konzept ausgearbeitet und In keinem der vorliegenden entwicklungspolitischen dem Deutschen Bundestag als Antrag für eine europä- Anträge finden sich die Forderungen des Südens, insbe- ische Ausrichtung der deutschen Afrikapolitik vorgelegt. sondere der dortigen Zivilgesellschaft wieder, zum Bei- spiel die Forderung nach umfassenden Entschuldungs- initiativen, die über eine HIPC-Initiative hinausgehen und Carsten Hübner (PDS): Es ist an Symbolwirkung auch nach der Legitimität der Schulden fragen, zum Bei- kaum zu überbieten, wenn vom Bundestag kurz vor dem spiel im Fall Südafrikas. Ende der Legislaturperiode als Botschaft in die Welt geht: Wir nehmen uns ganze 45 Minuten Zeit für Afrika und das Dies gilt auch für Forderungen nach dem Fall der EU- zu nachtschlafender Zeit. Eigentlich sagt das schon so Zollbarriere und einem besseren Zugang zu den Märkten ziemlich alles, was zum deutschen Engagement für Afrika des Nordens, zum Beispiel für Zucker, Mais und verar- zu sagen wäre. beitete Produkte und Fertigerzeugnisse, oder die Forde- rung nach Streichung der EU-Agrarsubventionen und Dabei ist – oberflächlich betrachtet – das Interesse für nach einem wirksamen Schutz lokaler und regionaler Afrika auch hierzulande gestiegen: So hat der Bundes- Märkte des Südens gegen das freie Spiel ungleicher kanzler zum Beispiel persönlich den Afrika-Wirtschafts- Kräfte im so genannten Freihandel. tag vor wenigen Tagen eröffnet. Es gibt mit Frau Dr. Eid eine persönliche Afrikabeauftragte, es gibt neue konkur- All dies findet man in den vorliegenden Anträgen rierende Strategiepapiere zur Afrikapolitik aus dem BMZ nicht. Im Gegenteil, im Mittelpunkt steht bei Ihnen die und dem Auswärtigen Amt sowie zahlreiche Bekundun- Frage: Wie können wir über neue Instrumente der EZ, wie gen und eine erklärte Aufbruchstimmung. etwa die Public Private Partnership, die Marktzugänge für Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23279

(A) deutsche Unternehmen weiter ausbauen und verdeckt Wenn eine Lösung innerhalb des Systems der gesetzli- (C) staatlich subventionieren lassen? chen Rentenversicherung gewollt ist, wäre es aus meiner Sicht auch wichtig, für die gesetzliche Rentenversiche- Das ist genau die falsche Konsequenz aus den Fehlern rung eine entsprechende Erstattungsregelung vorzusehen. der Vergangenheit. Deshalb kann ich Sie nur dringend Denn warum sollen nur die Beitragszahler diese gesamt- auffordern, in der afrikanischen Zivilgesellschaft, in afri- gesellschaftliche Aufgabe bezahlen? Eine Erstattungs- kanischen Frauenvereinigungen und den Intellektuellen regelung zugunsten der Rentenversicherung, wie sie im endlich einen ernst zu nehmenden Partner zu sehen. Ihre Übrigen ursprünglich auch vom Bundesarbeitsministe- Erfahrungen und Ansätze müssen sich in der deutschen rium erwogen wurde, ist aber leider an den Widerständen und europäischen Afrikapolitik niederschlagen, nicht die des Bundesfinanzministeriums gescheitert. Interessen von Shell, de Beers und anderen Konzernen. Das bedaure ich sehr. Ich sage Ihnen jetzt schon vo- raus: In naher Zukunft, wenn im Zusammenhang mit der Anlage 11 angespannten finanziellen Situation der gesetzlichen Ren- tenversicherung wieder von den so genannten versiche- Zu Protokoll gegebene Reden rungsfremden Leistungen die Rede ist, wird man unwei- gerlich auch auf diese Aufwendungen zu sprechen zur Beratung der Entwürfe eines Gesetzes zur kommen. Und das wäre alles andere als angebracht. Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigun- gen in einem Getto und zur Änderung des Sechs- In diesem Zusammenhang noch eine weitere Anmer- ten Buches Sozialgesetzbuch (Tagesordnungs- kung: Bei den Betroffenen handelt es sich ausschließlich punkt 14) um ältere Personen. Deshalb ist es besonders wichtig, si- cherzustellen, dass auch alle zu ihrem Recht kommen. Ich weiß, dass bei den Rentenversicherungsträgern eine Viel- Claudia Nolte (CDU/CSU): Heute beraten wir über zahl von Anspruchsberechtigten unter Hinweis auf die den „Entwurf eines Gesetzes zur Zahlbarmachung von Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ihre Ansprüche Renten aus Beschäftigungen in einem Getto und zur Än- bereits geltend gemacht haben. Gleichwohl muss gewähr- derung des SGB VV“. Hinter diesem doch recht techno- leistet werden, dass auch wirklich alle anspruchsberech- kratischen Titel verbergen sich zwei Regelungsbereiche, tigten Personen die für die Rentenleistung erforderlichen die die Unterstützung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Anträge stellen. Weil sich die betroffenen Personen im finden. Bei allen Grabenkämpfen in dieser Wahlperiode Ausland aufhalten, muss über das Gesetz ausreichend in- zum Thema Rente begrüße ich ausdrücklich, dass wir uns formiert werden. Diese Forderung richtet sich an die Ren- in beiden Bereichen zu einem interfraktionellen Gesetz- tenversicherung und an die Politik gleichermaßen. (B) entwurf haben verständigen können. (D) Zum zweiten Regelungsbereich des Gesetzentwurfs: Kurz zum Inhalt des Gesetzentwurfs: Zunächst geht es Für ehemalige Bezieher von Invalidenrenten oder Blin- um Regelungen zur Zahlung von Renten an ehemalige den- und Sonderpflegegeld nach dem Recht der ehemali- Beschäftigte in einem Getto. Damit ist endlich eine bisher gen DDR werden nunmehr bei der Rentenberechnung bestehende Lücke bei der Wiedergutmachung nationalso- Beschäftigungszeiten vor Erreichen der Altersgrenze 65 zialistischen Unrechts geschlossen worden. Kritiker des als Beitragszeiten anerkannt. Bisher bestandene Nachteile Gesetzentwurfs mögen einwenden, mit dem Gesetz werde bei der Regelaltersrente, bei der sich diese Beschäftigungs- nur das umgesetzt, was das Bundessozialgericht dem Ge- zeiten nicht ausgewirkt haben, werden damit beseitigt. setzgeber ohnehin vorgeschrieben hat. In der Tat hat uns – wie im Übrigen auch viele andere – die Rechtsprechung Auch diese Änderung wird von der CDU/CSU-Bun- des Bundessozialgerichts aus dem Jahre 1997 sehr über- destagsfraktion begrüßt. Wichtig ist vor allem, dass von rascht. Denn in der Vergangenheit war man überwiegend dieser Neuregelung auch Personen profitieren, die bereits davon ausgegangen, dass innerhalb eines Gettos Zwangs- einen Rentenbescheid erhalten haben, in dem solche Zei- arbeit aufgrund eines öffentlich-rechtlichen Gewaltver- ten auf der Grundlage der bisher geltenden Rechtslage hältnisses geleistet wurde und deshalb wegen der er- noch nicht berücksichtigt sind, und die diesen Bescheid zwungenen Arbeitsleistung keinBeschäftigungsverhältnis haben bestandskräftig werden lassen. Auch wenn man und damit auch keine Rentenzahlung aus der gesetzlichen nach dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 30. Au- Rentenversicherung in Betracht kam. Eine Lösung für die gust 2001 in dieser Frage wohl keine andere Wahl hatte, Betroffenen innerhalb der gesetzlichen Rentenversiche- erscheint mir die gefundene – für alle Betroffenen und rung war deshalb nicht erwogen worden. rückwirkend ab 1. September 2001 geltende Lösung ver- nünftig. Zumal es auch für die Menschen einen Unter- Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts hat al- schied macht, ob sie einen Anspruch gemäß Richterrecht lerdings nunmehr den Weg vorgezeichnet, dass die Be- haben oder kraft Gesetzes. troffenen eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversiche- Aber auch in diesem Zusammenhang habe ich eine kri- rung erhalten müssen. Das ist sicher auch ein gangbarer tische Anmerkung. Zwar ist die Neuregelung für die be- Weg. troffenen Personen sicher äußerst positiv. Auf die Schul- Allerdings gerät dabei nach meiner Einschätzung ein tern sollten wir uns deshalb aber nicht klopfen. Denn wichtiger Aspekt aus dem Blickfeld, nämlich dass es sich viele Fragen im Zusammenhang mit dem Recht der bei der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Un- Rentenüberleitung bleiben nach wie vor ungelöst. Das rechts um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe handelt. führt zu einem Verdruss bei den Menschen in den neuen 23280 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

(A) Bundesländern. Diese gewinnen allmählich den Ein- gen der Zwangsarbeiter-Stiftung fällt, dem aber dennoch (C) druck, der Gesetzgeber wird nur dann aktiv, wenn ihm schweres Unrecht geschehen ist. Es betrifft Personen, die nach Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts von den Nazis in ein Getto gezwungen wurden und die oder – wie hier – des Bundessozialgerichts keine andere dort in dieser Zwangssituation, um überleben zu können, Wahl bleibt. Und wenn der Gesetzgeber dann etwas tut, einer entlohnten Beschäftigung nachgingen. Wir alle wis- dann immer nur die Minimallösung. sen, in welch schrecklichen Zuständen die Menschen le- ben mussten, die von den Nazis ins Getto gepfercht wur- Das war so beim Zweiten Gesetz zur Änderung und den, in Warschau, in Lodz und an vielen anderen Orten. Ergänzung des Anspruchs- und Anwartschaftsüber- führungsgesetzes von Mitte letzten Jahres, und auch bei Durch das neue Gesetz kann dieser Personenkreis nun dem heute zu beschließenden Gesetz ist es nicht anders. für die Arbeitszeit im Getto Rentenzahlungen erhalten. Es Ich möchte hier und heute nicht alte Schlachten aus dem ist dabei sichergestellt, dass die Zahlungen die Betroffenen letzten Jahr schlagen. Sie kennen meine Forderungen im rasch erreichen. Rentenrechtliche Hürden wurden beseitigt. Zusammenhang mit dem Gesetzgebungsverfahren zum So müssen die Betroffenen nicht nachträglich noch Zweiten Gesetz zur Änderung und Ergänzung des An- Beiträge zur Rentenversicherung entrichten. Der Anspruch spruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes und die gilt zudem rückwirkend ab dem Stichtag 18. Juni 1997. Es Anträge der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Allerdings ist sehr erfreulich, dass es – aufbauend auf den Urteilen des möchte ich ganz nachdrücklich auf die nach wie vor un- Bundessozialgerichts – gelungen ist, diese unbürokratische befriedigende rentenrechtliche Situation der Menschen in Lösung zu finden, damit die Betroffenen auch wirklich den neuen Bundesländern aufmerksam machen. Viele zeitnah Leistungen empfangen können. Personen sind nach wie vor unzufrieden, viele Fragen sind Das Getto-Renten-Gesetz zeigt auch: Einen bisweilen und bleiben regelungsbedürftig. Angesichts der zahlrei- geforderten Schlussstrich unter die Aufarbeitung der chen Briefe, die wir von den Bürgern aus den neuen Bun- NS-Vergangenheit kann und darf es nicht geben. Immer desländern erhalten, wissen wir dies alle. Deshalb richtet wieder werden wir auch heute noch mit Verfolgungs- sich an dieser Stelle meine Kritik an die Bundesregierung, schicksalen konfrontiert, für die das Entschädigungsrecht der es in dieser Wahlperiode nicht gelungen ist, den Bür- noch keine Regelung parat hat. Immer noch gibt es gern aus den neuen Bundesländern zu vermitteln, dass NS-Verfolgte, die keine oder keine ausreichende Entschä- ihre rentenrechtlichen Probleme ernst genommen werden. digung für das ihnen angetane Unrecht erhalten haben. Allerdings bin ich mir sicher, dass der Rechtsstreit wei- Wir setzen uns dafür ein, die Anliegen von NS-Verfolgten tergehen wird, zumal wir heute in meinen Augen einen sehr genau zu prüfen und wo immer möglich Abhilfe zu Präzidenzfall schaffen: Bei der Beratung zum 2. AAÜG- schaffen. Hier gibt es noch einiges zu tun. Das Getto-Ren- Änderungsgesetz wurde bei den Reichsbahnern und den ten-Gesetz ist dabei ein wichtiger Schritt. (B) Beschäftigten der Post der 1,5-prozentige Steigerungssatz (D) Noch ein Wort zur Änderung des SGB IV: Auch diese in der gesetzlichen Rentenversicherung nicht zuerkannt neue Regelung dient dazu, mehr Gerechtigkeit zu schaf- mit dem Argument, dass dafür keine individuellen Bei- fen. Bisher bestehende rentenrechtliche Nachteile für die träge gezahlt wurden. Allerdings wurde dafür damals sei- Bezieherinnen und Bezieher von Invalidenrente oder tens der Betriebe sehr wohl im Umlageverfahren Beiträge Blinden- und Sonderpflegegeld nach dem Recht der ehe- an die Sozialversicherung abgeführt – also eine analoge maligen DDR werden damit beseitigt. Hier wird ebenfalls Situation wie bei der Personengruppe, über die wir heute eine Lücke geschlossen. reden. Wenn nunmehr eine rentenwirksame Anerkennung erfolgt, dann werden wir uns sicher auch noch einmal über Lassen Sie mich noch abschließend zum Verlauf der die Reichsbahner und Postler verständigen müssen. Beratungen sagen: Über alle Fraktionsgrenzen hinweg ist es gelungen, mit diesem Gesetz sehr einmütig Verbesse- Aber genug der Kritik. Ich möchte so versöhnlich rungen zu erreichen. Dafür danke ich allen daran Betei- schließen wie ich begonnen habe. Der Gesetzentwurf ist ligten im Parlament und in der Bundesregierung. Das ist eine gute Sache und weist den Weg in die richtige Rich- ein schöner Erfolg. tung. Deshalb findet er die volle Unterstützung der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion. Dr. Irmgard Schwaetzer (FDP): Über ein halbes Jahrhundert nach dem Ende der Naziherrschaft in Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit Deutschland und dem Zweiten Weltkrieg wird heute einer dem Getto-Renten-Gesetz wird endlich eine weitere Personengruppe genüge getan, die immer im Schatten an- Lücke im Entschädigungsrecht geschlossen. Ich bin froh derer Opfergruppen gestanden hat, aber unendliches Leid darüber, dass wir diese Verbesserung hier einmütig mit zu tragen hatte: Menschen, die als Verfolgte in Gettos zur Zustimmung aller Fraktionen auf den Weg bringen kön- Arbeit gezwungen wurden, aber nach dem Krieg nie oder nen. In dieser Wahlperiode ist es gelungen, die Stiftung nur kurze Zeit in Deutschland gelebt haben. Zu keiner Zeit „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ zur Entschädi- haben sie für ihre Arbeit eine angemessene Entlohnung, gung von NS-Zwangsarbeit zu errichten. Damit wurde nie eine Rente erhalten. Nachdem nun durch erhebliche endlich dieses Unrecht offiziell anerkannt und eine hu- Anstrengungen der Bundesregierung, des gesamten Bun- manitäre Geste für die noch lebenden Zwangsarbeiterin- destags und der deutschen Industrie die Entschädigung nen und Zwangsarbeiter ermöglicht. der Zwangsarbeiter, nicht zuletzt durch das Verhand- Bei dem heute vorliegenden Getto-Renten-Gesetz geht lungsgeschick von Graf Lambsdorff ermöglicht wurde, es um einen Personenkreis, der nicht unter die Regelun- muss dieses Problem dringend gelöst werden. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23281

(A) Es handelt sich bei diesem Gesetzentwurf um eine an- mokratisch immer wieder ideologische Barrieren aufge- (C) gemessene Regelung, die für viele zu spät, aber hoffent- richtet oder ideologische Ressentiments bemüht. lich für viele noch eine Genugtuung für die erlittenen Lei- Wir werden trotz alledem weiterhin kritisch-konstruk- den darstellt. Hier wird eine Rechtslücke geschlossen, die tiv und sachbezogen Politik zum Nutzen und im Interesse durch ein Urteil des Bundessozialgerichts erst offensicht- der betroffenen Menschen betreiben. Die PDS hat sich im lich gemacht worden ist, denn bis 1997 wurde davon aus- Bundestag stets für Rentengerechtigkeit und gegen Über- gegangen, dass Arbeit in einem Getto Zwangsarbeit sei führungslücken eingesetzt. Wir sind die einzige Fraktion, und damit rentenrechtlich nicht in Betracht komme. 1997 die Anträge zum Abbau der Überführungslücken in der und dann in einem weiteren Urteil 2001 hat das Bundes- gesetzlichen Rentenversicherung gestellt hat. Das gilt sozialgericht die Grundlage für eine neue Bewertung die- auch für die Anerkennung rentenrechtlicher Zeiten von ser Arbeit geschaffen, die mit diesem Gesetz nun in DDR-Invalidenrentnern und Blinden- oder Sonderpflege- tatsächliche Rentenansprüche umgesetzt wird, die auch geldempfängern. ins Ausland zahlbar sind. Elf Jahre lang haben Betroffene und Behindertenver- Wir sind einen weiten Weg gegangen, um diesen Men- bände eine gesetzliche Regelung eingefordert. Elf Jahre schen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Es ist zutiefst lang haben diverse Bundesregierungen „geprüft“ und vor bedauerlich, dass mehrere Jahrzehnte ins Land gehen allem eine solche Regelung verzögert. Elf Jahre lang hat mussten, bis Politik und Rechtsprechung eine für die Be- die PDS diese Forderungen im Bundestag mit parlamen- troffenen nutzlose Grundsatzdebatte über die Bewertung tarischen Initiativen unterstützt. Noch 2001 lehnte die rot- der Arbeit im Getto in einer sehr pragmatischen Weise po- grüne Mehrheit im Bundestag mit Unterstützung von sitiv beendet haben. Dabei ist Arbeit auch außerhalb des CDU/CSU einen entsprechenden PDS-Antrag – Drucksa- Gettos von diesem Gesetz umfasst, wenn sie Ausfluss der che 14/4041 vom 6. September 2000 – ab. Beschäftigung im Getto war. Auch andere Unklarheiten, die sich im Wesentlichen auf Verfahrensfragen bezogen, Jetzt – nach unzähligen Klagen vor den Sozialgerich- konnten ausgeräumt werden. Natürlich können diese Ren- ten bis hin zum Bundessozialgericht, unter anderem auch ten auch ins Ausland gezahlt werden! Wartefristen entfal- von mir selbst – legt die rot-grüne Regierung kurz vor len. Auch Hinterbliebene erhalten diesen Rentenanspruch, Ende der Wahlperiode eine Änderung zum SGB VI vor, wenn der Verfolgte nach dem 18. Juni 1997, dem Datum mit der endlich die rentenrechtlichen Zeiten von DDR-In- des Gerichtsurteils, verstorben ist. Es ist gut, dass heute validenrentnern und Blinden- oder Sonderpflegegeld- dieses Gesetz mit großer Mehrheit verabschiedet wird. empfängern anerkannt werden. Die Verbesserungen kön- nen ab 1. September 2001 in Anspruch genommen Das Gesetz enthält aber auch eine Regelung, die Bezie- werden, denn seit dem 30. August 2001 liegt eine ent- (B) her von Invaliden- oder Blindenrenten aus der ehemaligen sprechende Entscheidung des Bundessozialgerichts vor. (D) DDR nun einen zusätzlichen Rentenanspruch zuspricht, Damit – das sei hier ausdrücklich angemerkt – wird aber wenn sie gleichzeitig eine Beschäftigung ausgeübt haben. verhindert, dass betroffene Menschen ihre berechtigten Auch damit wird eine Rechtslücke geschlossen, die für die Ansprüche rückwirkend seit 1992 geltend machen kön- Betroffenen schmerzlich war. nen. Ihnen gehen so auch entsprechende Dynamisierun- Rentenrecht ist nicht nur kompliziert, sondern auch gen verloren. häufig ungerecht. Es ist gut, dass wir einige der Unge- Trotzdem sind diese lange überfälligen Regelungen rechtigkeiten heute beseitigen können. eine Verbesserung. Viele der Betroffenen wurden mit der Nichtanerkennung ihrer rentenrechtlichen Ansprüche für Dr. Ilja Seifert (PDS): Mehr als 50 Jahre nach Ende des eine Regelung bestraft, die sie nicht beeinflussen konnten. Nationalsozialismus wird dem Anspruch der Beschäftig- In der DDR konnten sie eine Erwerbstätigkeit ausüben, ten des Gettos Lodz auf wohlverdiente Rente endlich waren aber von der Zahlung ihres Anteils zur Rentenver- nachgekommen. Nach dem Motto „besser spät als nie“ ist sicherung freigestellt. Dieser Nachteilsausgleich wurde eine neue, dringend gebrauchte Regelung der Rente von mit der Überführung in bundesdeutsches Rentenrecht Beschäftigten in einem Getto auf den Weg gebracht wor- ohne einen wirklich vernünftigen Grund zu ihrem Nach- den. Vielleicht kann diese Tatsache angesichts des hiermit teil ungemünzt. behobenen Unrechts Bürgerinnen und Bürger im Nach- Die Beseitigung dieser Ungerechtigkeit wäre bei ent- hinein wenigstens etwas versöhnen. Es kommt nicht so oft sprechendem politischen Willen von schwarz-gelb oder vor, dass es Einigkeit innerhalb dieses Hohen Hauses gibt, rosa-grün schon lange möglich gewesen. Stattdessen ha- und darüber können wir uns auch freuen. Endlich liegt ein ben viele der betroffenen Menschen Jahre lang Zeit, Geld langerwartetes Gesetz auf dem Tisch. Aber richten Sie ein- und Nerven aufwenden müssen, um ihr Recht zu erstrei- mal Ihre Blicke hinter die Kulissen! Was das Ansehen des ten. Wenn jetzt SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU gesamten Bundestages – ja, Deutschlands – nach innen und FDP unter Ausschluss der PDS einen „fraktionsüber- und außen – hätte aufwerten können, wird von kleingeisti- greifenden“ Gesetzentwurf vorlegen, so ist das offenbar gem, parteitaktischem Kalkül und durch Ausgrenzung ent- ein Ausdruck des schlechten Gewissens und der Hoff- würdigt. Die PDS wurde absichtlich – das nicht zum ers- nung, dass die Wähler im Osten vergesslich wären. Aber ten Mal – von einem überparteilichen Gesetzesantrag solche Spekulationen sind bekanntlich gefährlich. ausgeschlossen. Wenn sachliche Argumente fehlen, blüht Schließlich verlangten viele Betroffene schon seit ver- der Opportunismus und werden – im anachronistischen gangenem Herbst – nicht zuletzt mit Verweis auf die von Denken verhaftet – realitätsabgekehrt und höchst unde- mir vor dem Bundessozialgericht erstrittene Anerkenntnis 23282 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

(A) meiner rentenrechtlichen Zeiten durch die Bundesversi- geltenden Recht nachzuzahlen. Heute würde die Eröff- (C) cherungsanstalt für Angestellte – eine Neuberechnung ih- nung neuer Nachzahlungsmöglichkeiten mit dem Ziel, für rer Rente. Beschäftigungszeiten in einem Getto auch Leistungen ins Ausland zahlbar zu machen, insbesondere im Hinblick Vielleicht deutet diese positive Änderung des SGB VI auf das Alter der Betroffenen und dem seit 1992 gelten- auf ein neues Verhalten in Richtung zu mehr Rentenge- den Auslandsrentenrecht vergleichsweise hohe Vorleis- rechtigkeit hin. Das würde vielen Menschen Mut und tungen erfordern, die den Betroffenen angesichts ihres Al- Hoffnung geben, denn es gibt noch viel zu tun, so zum ters nicht zugemutet werden sollen. Beispiel: die Umsetzung der Forderungen zum AAÜG, das Schließen der immer noch existierenden Über- Wir wollen jetzt die Zahlbarkeit dieser Renten aus führungslücken bei der Rentenüberleitung von An- Getto-Beschäftigungszeiten dadurch erreichen, dass diese sprüchen ehemaliger DDR-Bürger in das bundesdeutsche Beschäftigungszeiten für die Erbringung der Leistung ins Recht oder die Angleichung der Renten im Osten an das Ausland als Beitragszeiten im Bundesgebiet gelten. Westniveau. Damit unabhängig von der jeweiligen geographischen Ob oder inwieweit die rot-grüne Regierung sowie die Lage des Gettos und den an diesen Orten jeweils gege- CDU/CSU- und FDP-Fraktion diese Punkte vernünftig benen sozialrechtlichen Verhältnissen einheitliche umsetzen werden, kann ich nicht sagen. Aber Folgendes Grundsätze für die Berechnung der Rente aus Getto-Be- kann ich mit Sicherheit versprechen: Die PDS wird sich schäftigungszeiten Anwendung finden, wird darüber hi- als Partei des Friedens und der sozialen Gerechtigkeit naus bestimmt, dass für die Berechnung der Rente Getto- auch weiterhin für die ureigensten Interessen ihrer Mit- Beschäftigungszeiten als Beitragszeiten nach den bürgerinnen und Mitbürger einsetzen. Reichsversicherungsgesetzen außerhalb des Bundesge- biets zu behandeln sind. Ulrike Mascher, Parl. Staatssekretärin beim Bundes- Abstellend auf die im Juni 1997 ergangene Rechtspre- minister für Arbeit und Sozialordnung: Mit den rege- chung des BSG ist eine rückwirkende Rentenzahlung ab lungsgleichen fraktionsübergreifenden Gesetzentwürfen dem 1. Juli 1997 vorgesehen. Außerdem wird bestimmt, soll einerseits der Rechtsprechung des Bundessozialge- dass bei Vorliegen der durch die Rechtsprechung des BSG richt BSG, zu so genannten Getto-Beitragszeiten von Ver- nunmehr anerkannten Versicherungszeiten für die Be- folgten des Nationalsozialismus Rechnung getragen wer- rechnung einer Rente davon auszugehen ist, dass die Vor- den und andererseits ein sich in den neuen Ländern aussetzungen für einen Rentenanspruch bereits mit Voll- stellendes rentenrechtliches Problem für die früheren endung des 65. Lebensjahres vorgelegen haben. Empfänger von Blinden- und Sonderpflegegeld gelöst Diejenigen Getto-Beschäftigten, die das 65. Lebensjahr (B) werden. bereits vor dem 1. Juli 1997 vollendet haben, erhalten da- (D) mit nach den allgemeinen Grundsätzen der Rentenbe- Für Menschen, die zwischen 1939 und 1945 in einem rechnung für jeden Monat des „Nichtbezugs“ der Rente Getto, zum Beispiel in Lodz, beschäftigt waren, war es in vom vollendeten 65. Lebensjahr bis zum 1. Juli 1997 ei- der Vergangenheit nicht möglich, eine Anerkennung die- nen Zuschlag in Höhe von 0,5 Prozent. Somit ergibt sich ser Zeiten als Beitragszeiten in der Rentenversicherung zu für jedes Jahr des „Nichtbezugs“ der Altersrente vor dem erreichen. Bisher waren die Rentenversicherungsträger 1. Juli 1997 ein Zuschlag zur Rente von 6 Prozent. Für den im Regelfall davon ausgegangen, dass innerhalb eines Fall, dass der Verfolgte bereits verstorben ist, wird für Gettos Zwangsarbeit aufgrund eines öffentlich-rechtli- Hinterbliebenenrenten auf den Todestag abgestellt, womit chen Gewaltverhältnisses geleistet wurde. Allein wegen Rentennachzahlungen an die Hinterbliebenen sicherge- dieser erzwungenen Arbeitsleistung kam eine Anerken- stellt sind. nung als Beitragszeit in der gesetzlichen Rentenversiche- rung nicht in Betracht. Mit den Vorschriften des Art. 2 des Gesetzentwurfs wird ein Problem gelöst, das nach der Überleitung des ein- 1997 hat das Bundessozialgericht eine entscheidende heitlichen Rentenrechts des Sechsten Buches Sozialge- Weichenstellung vorgenommen: Auch eine Tätigkeit in setzbuch auf die neuen Bundesländer bei der Berechnung einem Betrieb im Getto Lodz kann die Voraussetzung für von auf Invalidenrenten folgenden Alters- und Hin- eine rentenrechtlich relevante Beschäftigung erfüllen und terbliebenenrenten zu unbefriedigenden Ergebnissen ge- diese Tätigkeitszeiten sind dann als Beitragszeiten der ge- führt hat. setzlichen Rentenversicherung anzuerkennen. Wir wollen für Menschen, die alle bereits ein hohes Alter erreicht ha- Die Bewertung von Beschäftigungszeiten insbeson- ben und gewöhnlich im Ausland leben, eine Lücke im dere während des Bezuges von Blinden- und Sonderpfle- Recht der Wiedergutmachung schließen. Bisher kann eine gegeld in der ehemaligen DDR war in der Vergangenheit Rente, die sich aus einer Beschäftigung in einem Getto er- wiederholt Gegenstand von parlamentarischen Anträgen gibt, nicht ins Ausland gezahlt werden, weil keine Bei- und Anfragen. Parlamentarische Mehrheiten für eine po- sitive Lösung des Problems hat es in den vergangenen Le- tragszeiten aus Beschäftigung im Gebiet der Bundesrepu- gislaturperioden nicht gegeben. Die SPD hat jedoch im- blik im erforderlichen Umfang vorliegen. mer ein Bedürfnis für die Korrektur des geltenden In der Vergangenheit war Verfolgten des Nationalso- Rentenrechts für diesen Personenkreis gesehen. Es ist nun zialismus durch verschiedene Regelungen zur Wiedergut- besonders erfreulich, dass wir in einer fraktionsübergrei- machung nationalsozialistischen Unrechts die Möglich- fenden Initiative doch noch eine dem Sachverhalt gerecht keit eröffnet worden, Beiträge nach dem vor 1992 werdende Lösung gefunden haben. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23283

(A) Nach dem Sozialversicherungsrecht der ehemaligen Die Verbesserungen sollen rückwirkend für die Zeit ab (C) DDR waren Bezieher einer Rente der Sozialversicherung dem 1. September 2001 gezahlt werden. für neben der Rente erzielte Arbeitsentgelte grundsätzlich von der persönlichen Beitragszahlung zur Sozialpflicht- versicherung-Arbeitnehmeranteil – befreit. Invaliden- Anlage 12 rentner waren berechtigt, neben der Rente in einem Lohn- drittel Hinzuverdienst zu erzielen. Das Lohndrittel wurde Zu Protokoll gegebene Reden von dem vor dem Rentenbezug erzielten Arbeitsverdienst zur Beratung des Antrags: Bündnisfall aufheben abgeleitet. Bei monatlichen Arbeitsverdiensten bis zu (Tagesordnungspunkt 15) 1 200 DM lag die Hinzuverdienstgrenze einheitlich bei 400 DM. Für Bezieher von Blinden- und Sonderpflege- geld galten darüber hinaus Besonderheiten. Anders als in Markus Meckel (SPD): Bevor ich auf den Antrag der den alten Bundesländern galten sie ab 1. September 1972 PDS im Einzelnen eingehe, möchte ich die Vorgeschichte automatisch als Invalide und durften im Unterschied zu des hier zur Debatte stehenden NATO-Beschlusses in Er- anderen Beziehern einer Invalidenrente neben ihrer Inva- innerung rufen. Die schrecklichen Terroranschläge vom lidenrente und dem Blinden- oder Sonderpflegegeld un- 11. September 2001 haben nicht nur New York und Wa- eingeschränkt hinzuverdienen. Der von Rentnern – Al- shington getroffen, sondern sie haben die gesamte freie ters- und Invalidenrentner – erzielte Hinzuverdienst war Welt erschüttert. Der Schock sitzt noch immer tief. Skru- für die Arbeitgeber beitragspflichtig zur Sozialversiche- pellose Attentäter ermordeten über 3 000 unschuldige Zi- rung; die Arbeitnehmer waren jedoch – ebenfalls ab dem vilisten. Menschen aus über 80 Nationen starben in den 1. September 1972 – für einen Arbeitsverdienst bis zu Trümmern des World Trade Centers in New York. Zu- 600 DM monatlich von der persönlichen Beitragszahlung gleich richtete sich der Angriff gegen Symbole der Welt- befreit. Anders als „normale“ Invalidenrentner mit Hin- macht USA und der liberalen internationalen Wirtschafts- zuverdienst im so genannten Lohndrittel waren Bezieher und Gesellschaftsordnung. Das konnten wir nicht tatenlos von Blinden- und Sonderpflegegeld jedoch berechtigt, der hinnehmen! freiwilligen Zusatzrentenversicherung, FZR, beizutreten. Die Reaktion der internationalen Gemeinschaft war eindeutig und unmissverständlich. Der Sicherheitsrat der Bei der Berechnung von Renten nach dem geltenden Vereinten Nationen verurteilte schon am 12. September in Recht werden diese zwischen dem 1. September 1972 und der grundlegenden Resolution 1368 die Anschläge von dem 31. Dezember 1991 zurückgelegten Beschäftigungs- New York und Washington einmütig, also mit chinesi- zeiten wegen der fehlenden Zahlung des Arbeitnehmer- scher und russischer Zustimmung. Er stellte erstmals fest, anteils am Sozialversicherungsbeitrag nicht als Beitrags- dass terroristische Anschläge eine Bedrohung des Welt- (B) zeiten berücksichtigt. Zeiten, in denen Bezieher von (D) friedens und der internationalen Sicherheit darstellen. Der Blinden- und Sonderpflegegeld Beiträge zur FZR gezahlt Weltsicherheitsrat hat damit eine Weiterentwicklung des haben, werden zwar als Pflichtbeitragszeiten anerkannt; bisherigen Völkerrechts vorgenommen und die Voraus- es wird aber nur der tatsächlich versicherte Verdienst setzungen für ein entschiedenes, auch militärisches Vor- oberhalb von 600 DM monatlich bei der Rente berück- gehen gegen den Terrorismus geschaffen, das auf dem sichtigt. Dies hat zur Folge, dass sich aus der dem Grunde Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung nach versicherungspflichtigen Beschäftigung je nach beruht. Lage des Falles keine oder nur eine sehr geringfügige Er- höhung der ab dem 65. Lebensjahr zu zahlenden Alters- Der NATO-Rat signalisierte den Vereinigten Staaten rente ergibt. noch am gleichen Tag die Bereitschaft, erstmals den Bünd- nisfall nach Art. 5 des Washingtoner Vertrages zu erklären. Die Auswirkungen auf die Rentenhöhe sind je nach in- Am 4. Oktober 2001 stellte der NATO-Rat fest, dass die dividueller Versicherungsbiografie unterschiedlich. Be- Anschläge ihren Ursprung im Ausland hatten, und be- sonders nachteilig wirkt sich das geltende Recht bei schloss den Bündnisfall. Über 50 Jahre hatten die USA die Personen aus, die – vor Einführung des einheitlichen Bei- Sicherheit in Europa garantiert und alle waren davon aus- tragsrechts ab 1. Januar 1992 – eine Beschäftigung noch gegangen, dass im Zweifelsfall die USA den europäischen nach Vollendung des 55. Lebensjahres ausgeübt haben, oder kanadischen Verbündeten beistehen würden. Nun weil Zurechnungszeiten wegen des Bezuges einer Er- zeigte sich: Die transatlantische Solidarität gilt in beide werbsminderungsrente bislang nur bis zum vollendeten Richtungen. Dies war eine wichtige Erfahrung für unsere 55. Lebensjahr und die Zeit zwischen dem 55. und 60. Le- amerikanischen Verbündeten. Auf dieser Grundlage ge- bensjahr zu einem Drittel anrechenbar waren. lang es der US-Administration in den Wochen nach dem Mit der geplanten Rechtsänderung sollen die sich nach Anschlag, eine globale Koalition gegen den Terrorismus dem bisherigen gesamtdeutschen Rentenrecht ergeben- zu schmieden, der sich weit über 100 Staaten, neben Russ- den Nachteile bei der Berechnung von Folgerenten für In- land und China auch beinah alle muslimischen Staaten, an- validenrentner und Bezieher von Blinden- und Sonder- schlossen. pflegegeld aufgrund der besonderen beitragsrechtlichen Nachdem das Taliban-Regime mehrere Ultimaten hatte Vorschriften des DDR-Rechts beseitigt werden. Insbeson- verstreichen lassen, den Drahtzieher der Anschläge, dere die Anerkennung von Pflichtbeitragszeiten nach dem Osama Bin Laden, auszuliefern und die terroristische In- vollendeten 55. Lebensjahr wird zur Erhöhung dieser Fol- frastruktur im Lande zu zerstören, begannen die USA am gerenten führen. 7. Oktober mit der militärischen Operation „Enduring 23284 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

(A) Freedorm“. Zunächst handelten hauptsächlich US-Trup- dass Warnungen vor weiteren Anschlägen in den USAund (C) pen allein. Nur britische Verbände baten sie, sich zu be- andernorts ernst zu nehmen sind. Wir können nicht ein- teiligen. Die Beiträge anderer Verbündeter und Partner fach die Hände in den Schoß legen. beschränkten sich anfänglich auf logistische Unterstüt- Die Urheber der Anschläge vom 11. September sind zung, die Bereitstellung von Militärbasen und Überflug- noch nicht dingfest gemacht worden. Mit dem Sturz des rechte. Später wurden selektiv bestimmte Kapazitäten an- Taliban-Regimes wurde zwar die Operationsbasis al-Qai- derer Alliierter angefragt. Der Deutsche Bundestag hat am das in Afghanistan weitgehend zerstört, aber das interna- 16. November 2001 der Entsendung von bis zu 3 900 Sol- tionale terroristische Netzwerk besteht fort. Das zeigt die daten zugestimmt, die überwiegend logistische und de- Festnahme einer Reihe von Mitgliedern der Gruppe Al- fensive Aufgaben übernehmen. Die effektive Kombina- Tawhid in dieser Woche in Deutschland. In Afghanistan tion von US-Luftangriffen und Bodenoperationen der von ist selbst die militärische Phase in der Auseinanderset- Russland seit Jahren unterstützten oppositionellen Nord- zung mit dem Terrorismus noch nicht abgeschlossen. Af- allianz führte unerwartet schnell zum Zusammenbruch ghanistan ist ein Testfall für die Glaubwürdigkeit der Ko- des Taliban-Regimes. Damit wurde dem terroristischen alition gegen den Terror. Zu den vorrangigen Aufgaben Netzwerk Bin Ladens die wichtigste Operationsbasis ent- gehört eine Stabilisierung der Übergangsregierung und zogen. Der Freudentaumel der Bevölkerung in Afghanis- das Anlaufen des wirtschaftlichen Wiederaufbaus. Aber tan zeigte, dass die Mehrheit das Ende des tyrannischen noch immer leisten bis zu 5 000 Kämpfer al-Qaidas und Regimes als Befreiung empfindet. der Taliban im Land Widerstand beziehungsweise for- Die militärischen Operationen bahnten den Weg für ei- mieren sich in Pakistan neu. Sie sind auszuschalten. Nur nen politischen Neuanfang in Afghanistan nach 22 Jahren dann kann der Wiederaufbau des Landes dauerhaft erfolg- Bürgerkrieg. Einen ersten Schritt bildete das unter UN- reich verlaufen und können die Wurzeln des Terrorismus Vermittlung und mit maßgeblicher Unterstützung der Bun- gekappt werden. Der Einfluss der Übergangsregierung desregierung am 5. Dezember 2001 zustande gekommene beschränkt sich bislang weitgehend auf den Raum Kabul, „ Agreement“. Die wichtigsten politischen Kräfte ha- wo die Regierung von ISAF geschützt wird. In den ande- ben sich dabei auf eine zweijährige Übergangsphase zur ren Regionen häufen sich in den letzten Monaten die Aus- Normalisierung des politischen Lebens und die Bildung einandersetzungen zwischen verschiedenen ethnischen einer multiethischen, parteiübergreifenden Übergangsre- Gruppen und lokalen Führern, die um die Vormachtstel- gierung unter Hamid Karzai verständigt. Angesichts der lung ringen. Da eine Ausweitung des ISAF-Mandats über zahlreichen Kriegsherren und verbliebener Taliban-An- Kabul hinaus aufgrund der notwendigen Vergrößerung hänger wird die Übergangsregierung durch die Internatio- des Umfangs der Truppe keine Chance hat, ist es wichtig, nal Security Assistance Force in der Hauptstadt Kabul ge- die Übergangsregierung beim Aufbau einer nationalen (B) schützt. Die ISAF wurde auf der Basis eines UN-Mandates Armee zu unterstützen. In der Zwischenzeit werden Ver- (D) gebildet und steht bis Mai 2002 unter britischer Führung. bände der USA und ihrer Verbündeten im Rahmen der Danach leitet die Türkei die Operation. Deutschland hat im Operation „Enduring Freedom“ auch Aufgaben bei der März das taktische Kommando über die in Kabul operie- Gewährleistung der Sicherheit außerhalb Kabuls über- rende multinationale Brigade erhalten und zur Führung ei- nehmen. Auch hier ist also noch kein Zeichen zur Ent- nen integrierten multinationalen Stab gebildet. Die Frie- warnung in Sicht. Das Militär kann zwar nur einen be- denstruppe soll der Stabilisierung der Lage dienen und die grenzten Beitrag zur Bekämpfung des internationalen Voraussetzungen für den Beginn des Wiederaufbaus schaf- Terrorismus leisten; aber dieser Beitrag ist essenziell. fen. Eine internationale Geberkonferenz in Tokio hat zur Wie ich bereits zuvor ausgeführt habe, war die Er- Unterstützung Afghanistans in den nächsten fünf Jahren klärung des Bündnisfalls nach Art. 5 ein wichtiges Zei- bereits 5 Milliarden Dollar zugesagt. Deutschland allein chen transatlantischer Solidarität. Am Ende Ihres Antra- wird dazu in den nächsten vier Jahren Millionen von Euro ges räumt auch die PDS ein, der Antrag habe keine beitragen. Die Lage im Land ist aber weiterhin instabil und NATO-Operation nach sich gezogen. Mithin gibt es auch es zeigen sich starke Wiederstandsnester von al-Qaida- rechtlich keine Maßnahme, die außer Kraft zu setzen und Taliban-Kämpfern. wäre. Militärisch würde sich also gar nichts ändern. Kein Ist die Gefahr damit gut acht Monate nach den An- einziger deutscher Soldat müsste zurückgezogen werden. schlägen vom 11. September gebannt? Die Antwort lautet Der Antrag ist also eigentlich gegenstandslos. Aber ich leider: Nein. Die Bedrohung durch den internationalen möchte nicht nur formal argumentieren. Was wären die Terrorismus dauert an. Der schreckliche Selbstmordan- politischen Folgen, wenn wir uns derzeit im Bündnis für schlag auf die Synagoge von Ghirba auf der tunesischen eine Aufhebung einsetzen würden? Angesichts der fort- Insel Djerba vom 11. April sollte reichen, um jedem von dauernden Bedrohung durch den internationalen Terroris- uns in Erinnerung zu rufen, dass sich diese Bedrohung mus – selbst durch die konkrete Organisation aI-Qaida – auch gegen uns richtet. 16 Menschen kamen bei der Ex- würde der Vorstoß bei unseren Verbündeten auf absolutes plosion eines Tanklastzuges in den Flammen um. Über- Unverständnis stoßen. Wir wären isoliert. Man würde da- wiegend waren die Opfer deutsche Touristen. Die bisheri- ran zweifeln, dass wir wirklich eine gemeinsame Haltung gen Ermittlungen weisen darauf hin, dass es sich bei den im Kampf gegen den Terrorismus einnehmen. Unsere Tätern um Mitglieder einer islamistischen Organisation amerikanischen Verbündeten würden dies nicht nur als handelt, die über Verbindungen zu al-Qaida verfügt. Auch Zeichen von Unentschlossenheit, sondern als Misstrauen- wenn sich derzeit noch nichts Abschließendes über die serklärung gegenüber ihrer Führung, der internationalen Urheber und ihre Ziele sagen lässt, zeigt dieser Anschlag, Koalition gegen den Terrorismus und der Operation Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23285

(A) „Enduring Freedom“ werten. Dies würde die Beziehun- dete Verdacht, dass mindestens diese zwölf Männer terro- (C) gen zu unserem wichtigsten Partner auf lange Sicht be- ristische Anschläge in Deutschland geplant haben. Auch lasten. Daher müssen wir einen solchen Vorstoß mit ein Kontakt zur al-Qaida Osama bin Ladens wird nicht aus- Nachdruck ablehnen. Wir werden als SPD-Fraktion gegen geschlossen: Der Generalbundesanwalt hat mitgeteilt, dass den Antrag der PDS stimmen. die Gruppe durch die gemeinsame Ausbildung in Lagern in Afghanistan entstanden sei. Wörtlich sagte er: „Da diese Im Übrigen möchte ich Sie daran erinnern, dass die Er- klärung des Bündnisfalls keine Generalermächtigung dar- Lager überwiegend von al-Qaida finanziert werden, ist es stellt. Jedes Mitgliedsland entscheidet souverän, welchen nahe liegend, dass hier auch Verbindungen bestehen.“ Beitrag es zur Abwendung einer Bedrohung leistet und an Der Name der Organisation, der diese Männer an- welchen konkreten Operationen der NATO es sich betei- gehören, ist Al Tawhid. Er bedeutet Einheit Gottes und ist ligt. Diese Aussage gilt analog für die US-geführte Ope- für Fachleute Programm. Nicht die friedliche Missionie- ration „Enduring Freedom“. rung ist das Ziel, sondern die Missionierung mit Feuer Abschließend möchte ich auf Folgendes hinweisen: und Schwert. Die westliche Kultur und die angeblichen Wenn die Sicherheitslage dies zulässt, ist es jederzeit im Feinde des Islam sollen vernichtet werden. Und dafür ste- Konsens aller NATO-Mitglieder möglich, den Bündnis- hen die USA, Israel und deren Verbündete. Auch Deutsch- fall durch einen neuerlichen Beschluss des NATO-Rates land steht also auf der „Schwarzen Liste“. zu beenden. Wenn dieser Zeitpunkt gekommen ist, wird Die Ermittler decken jeden Tag neue, internationale dies sicherlich geschehen. Netzwerke von Terroristen auf. Und immer wieder stoßen sie auf die Begriffe Afghanistan, Taliban oder al-Qaida. Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Befreit man den Internationale Truppen, die Truppen, die Sie zurückrufen Antrag der PDS zur Aufhebung des Bündnisfalles von sei- wollen, sind bei der Suche nach al-Qaida- und Tali- nem juristischen Pulverdampf und schaut man auf die in- bankämpfern in Afghanistan auf weitere Waffenlager ge- haltliche Substanz, so wird eins deutlich: Es geht der PDS stoßen. Im Südosten des Landes haben die Soldaten Depots nicht um eine korrekte Anwendung völkerrechtlicher mit Handfeuerwaffen, Raketen und Munition gefunden. Normen, auch wenn es auf den ersten Blick so scheinen Auch die Befürchtung, dass Terroristen in der Lage sind, mag. Wie egal ihr völkerrechtliche Normen und Massenvernichtungswaffen herzustellen, besteht weiter. Grundsätze sind, hat sie ja eindrucksvoll bewiesen, als Was jetzt ans Licht kommt, ist nur die Spitze des Eis- Slobodan Milosevic hofierte. Die PDS will bergs. Viel zu lange hatten die Terroristen Zeit, Pläne zu nur eins: die Solidarität mit den USA aufkündigen und schmieden und ein weltweites Verbindungsnetz aufzu- Deutschland international isolieren. Dazu ist ihr offen- bauen, ungestört und in aller Ruhe. Und da wagen Sie zu (B) sichtlich jedes Mittel recht und kein Preis zu hoch. Ihren behaupten, eine Bedrohung bestehe nicht mehr. Wollen (D) antiamerikanischen Ressentiments freien Lauf lassend ist Sie das tatsächlich den Opfern des Terroranschlages auf die PDS auch bereit, den Kampf gegen den internationa- Djerba und deren Angehörigen erklären? Die Terroristen len Terrorismus aufzugeben und weitere Opfer dieses Ter- tragen Angst, Mord und Unglück bis vor unsere Haustür rorismus hinzunehmen. Von Anfang an war die PDS ge- und Sie wollen allen Ernstes behaupten, es bestehe keine gen den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr und das Gefahr mehr? Bündnis mit den USA. Und nun versucht sie, auf juristi- schen Schleichwegen ihr Ziel zu erreichen. Sie behaupten weiter, die UNO habe mit der Entsen- dung der ISAF nach Kabul alle notwendigen Maßnahmen Ich werde mich mit der in dem Antrag enthaltenen ju- im Sinne von Art. 51 der UNO-Charta ergriffen. Folge sei, ristischen Argumentation nicht weiter auseinander setzen, dass das kollektive Selbstverteidigungsrecht nach Art. 5 sondern mich auf die zentralen Aussagen Ihres Papiers be- des NATO-Vertrages verdrängt werde. Dies ist falsch. schränken. Art. 5 des NATO-Vertrages bestimmt, dass Maßnahmen Ihre Behauptung, eine reale Verteidigungssituation ge- der individuellen und kollektiven Selbstverteidigung ein- gen einen gegenwärtigen Angriff auf die USA oder ihre zustellen sind, wenn der UN-Sicherheitsrat seinerseits Verbündeten sei nicht mehr gegeben, ist falsch. Gerade Maßnahmen zur Wiederherstellung des internationalen die Ereignisse der letzten Tage und Wochen müssen doch Friedens und der internationalen Sicherheit eingeleitet auch Ihnen deutlich gemacht haben, wie konkret und ge- hat. Um solche Maßnahmen zur Wiederherstellung des in- genwärtig die von islamistischen Terroristen ausgehende ternationalen Friedens und der internationalen Sicherheit Bedrohung für uns alle ist. Ich will Ihnen noch einmal die handelt es sich bei der Entsendung der ISAF nach Kabul wichtigsten Ereignisse nennen und empfehle künftig den aber gerade nicht. Und das wissen Sie auch. Denn Sie sa- Blick in . gen selber, dass der Auftrag der ISAF darauf beschränkt ist, der afghanischen Interimsregierung bei der Herstel- In Frankfurt stehen mutmaßliche Terroristen vor Ge- lung und Aufrechterhaltung der Sicherheit in und um Ka- richt, die ein Attentat auf die jüdische Synagoge in Straß- bul beizustehen. Es handelt sich um nationale Friedenssi- burg geplant haben. Ein Angeklagter hat ausgesagt, er cherung. Der internationale Frieden und die internationale habe zuvor ein Jahr in afghanischen Lagern verbracht. Sicherheit werden hingegen ausschließlich durch den Drei Monate Glaubensschule der Taliban und neun Mo- Einsatz von „Enduring Freedom“ gesichert. Und wie sehr nate Militärlager waren seine Schulung. der internationale Frieden und die internationale Sicher- Vor wenigen Tagen wurden zwölf palästinensische Is- heit gefährdet sind, habe ich an anderer Stelle ja bereits er- lamisten in Deutschland verhaftet. Es besteht der begrün- wähnt. 23286 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

(A) Sie berufen sich auf Kofi Annan. Mir ist nicht bekannt, bekämpfen und eine Wiederholung von Angriffen wie am (C) dass Kofi Annan den von der NATO ausgerufenen Bünd- 11. September 2001 nach Möglichkeit auszuschließen. nisfall und den Einsatz von NATO-Truppen im Rahmen Natürlich handelte es sich bei der Ausrufung des Bünd- von „Enduring Freedom“ kritisiert und als völkerrechts- nisfalls auch um eine politische Solidaritätserklärung. Sie widrig abgelehnt hätte. Es ist vielmehr so, dass „Enduring versuchen, Deutschland als willigen und unkritischen Ge- Freedom“ in Übereinstimmung mit UN-Resolutionen statt- folgsmann der Vereinigten Staaten darzustellen. Das ist findet. falsch. Was die europäischen NATO-Partner gemacht ha- Da Sie ja schon mit der Erinnerung an Ereignisse der ben, war, die Solidarität zu leisten, die sie von den USA jüngsten Vergangenheit Schwierigkeiten zu haben schei- in den Dekaden des Kalten Krieges erwartet und um ein nen, können Sie sich sicherlich auch nicht so gut an die Vielfaches erhalten haben. Dies gilt auch und gerade für Geschehnisse aus dem September und Oktober des ver- Deutschland, dessen Freiheit und Wohlstand ohne das gangenen Jahres erinnern. Daher noch einmal eine kurze Engagement der Vereinigten Staaten undenkbar gewesen Darstellung der Ereignisse. Bereits am 12. September wäre. Folgerichtig waren es auch nicht die USA, die im 2001 verabschiedete der UN-Sicherheitsrat die Resolu- Nordatlantikrat die Bündnissolidarität einforderten. Die tion 1368 (2001), in der die Anschläge als Bedrohung für Initiative ging stattdessen von Generalsekretär George den internationalen Frieden und die internationale Sicher- Robertson aus. Diese Solidarität kann man von einer Par- heit qualifiziert werden. Die Resolution bestätigt die Not- tei, die ihre Herkunft aus der SED ableitet und damit für wendigkeit, alle erforderlichen Schritte gegen solche Be- die Teilung Deutschlands und Europas mitverantwortlich drohungen zu unternehmen, und unterstreicht das Recht ist, natürlich nicht erwarten. zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung. Ebenfalls am 12. September 2001 beschloss der NATO- Sie wollen nur eins: Sie wollen politisches Kapital Rat, dass die Terrorangriffe, sofern sie von außen gegen schlagen aus einer vorgezogenen Diskussion um die wei- die USA gerichtet gewesen seien, als Angriffe auf alle tere Entsendung deutscher Soldaten nach Afghanistan. Bündnispartner im Sinne der Beistandsverpflichtung des Nachdem Sie durch ihre Verweigerungshaltung in der ers- Art. 5 des NATO-Vertrages zu betrachten seien. ten Entsendedebatte bereits gehofft hatten, die Pazifisten abzugrasen, die sich bei den Grünen nicht mehr zu Hause Mit der Resolution 1368 vom 28. September 2001 hat fühlen, versuchen Sie nun, dieses Thema für den Wahl- der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zur Bekämp- kampf zu nutzen. Dies ist unredliches Spiel. fung des internationalen Terrorismus mit allen politi- schen, wirtschaftlichen, polizeilichen und gesetzgeberi- schen Maßnahmen aufgerufen. Sprecher der al-Qaida Hildebrecht Braun (Augsburg) (FDP): Normaler- haben öffentlich weitere Angriffe auf die USA angekün- weise wäre ich unglücklich, weil ich nur dreieinhalb Mi- (B) digt und andere dazu aufgerufen. Wie dieser Aufruf um- nuten habe, um die Stellungnahme für die FDP abzuge- (D) gesetzt wurde und, wenn wir nicht aufpassen, auch künf- ben. Heute reicht diese Zeit üppig aus. Die Stellungnahme tig umgesetzt werden wird, habe ich an anderer Stelle ja ist nämlich kurz und bündig. bereits ausgeführt. Wir werden dem Antrag der PDS nicht folgen. Am 2. Oktober 2001 legten die USAim NATO-Rat dar, dass die Angriffe nachweislich von außen gegen die USA Die Gründe in aller Kürze: Dass die NATO nach dem gerichtet waren. Daraufhin bekräftigte und präzisierte der 11. September des vergangenen Jahres erstmalig den NATO-Rat am 4. Oktober 2001 die Beistandsverpflich- Bündnisfall beschlossen hat, war nicht nur nachvollzieh- tung aus Art. 5. Damit ist auch die Bundesrepublik bar, sondern notwendig. Der Bundestag hat sich dieser Er- Deutschland aufgefordert, im Rahmen der kollektiven klärung der Regierungschefs nahezu einmütig ange- Selbstverteidigung zu Maßnahmen der Bündnispartner schlossen. gegen den Terrorismus beizutragen. Am 7. Oktober 2001 Die Gründe für die Erklärung des Bündnisfalls waren unterrichteten die USA und das Vereinigte Königreich primär die, dass alle NATO-Staaten die Bedrohung durch von Großbritannien und Nordirland den Sicherheitsrat der internationalen Terrorismus als nicht nur gegen die USA, Vereinten Nationen über ihre Maßnahmen zur Bekämp- sondern gegen den nicht moslemischen Teil der Welt ins- fung des Terrorismus gemäß Art. 51 der Satzung der Ver- gesamt gerichtet wahrgenommen haben. einten Nationen im Rahmen der Operation „Enduring Freedom“. In seiner Presseerklärung vom 8. Oktober In erster Linie ging es den NATO-Staaten darum, ihre 2001 würdigte der Präsident des Sicherheitsrats der Ver- Solidarität mit den USA auszudrücken, zugleich wurde einten Nationen die Unterrichtung durch diese beiden aber auch erklärt, dass die NATO-Staaten den Kampf ge- Staaten und bekräftigte die Entschlossenheit, die Resolu- gen al-Qaida und vergleichbare terroristische Strukturen tion 1368 (2001) und die ergänzende, am 28. September gemeinsam führen wollen. 2001 verabschiedete Resolution 1373 (2001) vollständig Es hat sich nun gezeigt, dass die USA die Unterstüt- umzusetzen. zung der NATO als Institution gar nicht in Anspruch ge- Deutschland beteiligt sich damit an einer Koalition aus nommen haben. Vielmehr schallt uns der Spruch noch im vielen Staaten der Welt, die dem Aufruf des Sicherheits- Ohr: „We will call you, when we need you.“ Die NATO, rates der Vereinten Nationen gefolgt sind. Zur Bekämp- die bis zum 11. September 2001 als das Machtzentrum der fung des Terrorismus bedarf es eines langfristigen, strate- Welt angesehen wurde, wurde von den Amerikanern gar gischen Ansatzes. Der Einsatz militärischer Mittel ist nicht gefordert, da die USA das Thema selbst zu lösen unverzichtbar, um die terroristische Bedrohung zu trachteten. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002 23287

(A) In der Zwischenzeit sind zwar Soldaten aus verschie- werden. Das Ziel einer nachhaltigen Zerschlagung der al- (C) denen NATO-Staaten im globalen Zusammenhang der Qaida Strukturen ist aber noch nicht erreicht. Die al-Qaida Terrorismusbekämpfung aktiv geworden. So sind deut- verfügt weiter über Stützpunkte in Afghanistan, Mitglie- sche Soldaten nicht nur in Afghanistan, sondern in Dschi- der des Netzwerks haben in anderen Regionen Basen so- buti, in Kenia und in Kuwait tätig. Das Mandat für diese wie Führungs- und Ausbildungseinrichtungen. Sprecher Auslandseinsätze beruht aber nicht auf dem NATO-Bünd- der al-Quaida haben sich nicht nur zu den Anschlägen nisfall, sondern auf entsprechenden Beschlüssen des Si- vom 11. September bekannt, sondern öffentlich weitere cherheitsrates der Vereinten Nationen, die den Deutschen Angriffe gegen die USA angekündigt und andere dazu Bundestag zu entsprechenden Ermächtigungsbeschlüssen aufgerufen. Dies nicht ernst nehmen zu wollen, wäre völ- veranlasst haben. lig verantwortungslos. Ich will es in aller Deutlichkeit ausdrücken: Die USA Ich erinnere daran: Schon der Anschlag auf den Nord- haben auch weiterhin unsere Solidarität. Wir sehen uns im turm des World Trade Centers in New York 1993 hatte das gemeinsamen Kampf gegen die neue Bedrohung der Frei- Ziel, den Nord- und den Südturm zum Einsturz zu brin- heit der Menschen in der Welt, die mit dem Stichwort gen. Auf diese versuchten Attentate haben die USA da- Terrorismus umschrieben wird. Gerade die NATO als eine mals lediglich politisch und strafrechtlich, nicht jedoch Wertegemeinschaft fühlt sich den USA hier nach wie vor militärisch reagiert. In den USAwird nun eine Debatte da- besonders verbunden. So wird es auch in der nahen Zu- rüber geführt, ob das nicht ein Fehler war. Nach den kunft bleiben. jüngsten Androhungen der al-Quaida werden weitere An- Es gibt keinen Grund, weder einen politischen noch ei- schläge folgen, wenn wir sie nicht verhindern können, nen rechtlichen, weswegen ausgerechnet der Deutsche wenn wir den Terroristen nicht das Handwerk legen. Bundestag darauf drängen sollte, den Solidaritätsbeschluss Unsere Gesellschaften bleiben verwundbar. Die kon- der NATO aufzuheben. Ein solcher Beschluss wäre ein Si- krete Bedrohung, so die gemeinsame Überzeugung der gnal, das nirgends in der Welt verstanden würde. Er ist von NATO-MS, ist nicht beendet. Das zeigen nicht nur aktu- der Sache her nicht geboten. Ganz im Gegenteil: Er würde elle Ermittlungen der Bundesanwaltschaft. Auch die To- nur Probleme schaffen, die wir nicht wollen. ten und Verletzten auf Djerba sind Opfer des Terrorismus. Es mag sein, dass die PDS noch immer nicht die Be- Die Ihrem Antrag zugrunde liegende Behauptung, die deutung der weltweiten Bedrohung durch Terrorismus er- Bedrohung bestehe nicht mehr, ist vor diesem Hinter- kannt hat. Der Bundestag hat oft zu diesem Thema disku- grund völlig realitätsfern. Sie suggerieren eine Illusion, tiert. Es ist zwar betrüblich, wenn Kollegen im Bundestag der wir uns nicht hingeben können, auch wenn die USA die Botschaft, hinter der immerhin vier von fünf Fraktio- mit ihren Bündnispartnern an der Seite ohne Zweifel nen stehen, nicht verstehen wollen oder können. Wir müs- wichtige Erfolge erzielt haben. Es besteht daher kein An- (B) sen wohl weiter mit der Wahrnehmung leben, dass die (D) lass, die Grundlagen für die Aufrechterhaltung des Art. 5 PDS in der Welt von heute noch nicht angekommen ist. infrage zu stellen. An diesem Umstand werden wir heute Nacht auch nichts ändern können. Deutschland ist sich seiner Verantwor- Das deutsche militärische Engagement ist legitimiert, tung für den Frieden bewusst. Dies wollen wir auch heute berechenbar und verhältnismäßig. Es hält sich in jeder nochmals klarstellen. Einzelheit an das Völkerrecht. Es kommt für uns nicht in Frage, uns in militärische Abenteuer hinein ziehen zu las- Dr. Ludger Volmer, Staatsminister im Auswärtigen sen. Unsere militärische Beteiligung an der Terrorismus- Amt: Am 11. September sind schlagartig Albträume zur bekämpfung hält sich strikt an die Aufgaben, die durch die Wirklichkeit geworden. Ein zu allem bereiter Terrorismus einschlägigen Resolutionen des VN-Sicherheitsrates im hat die Menschen und die Regierung der Vereinigten Staa- Zusammenhang mit den Terrorangriffen auf die USA, ten von Amerika angegriffen, aber es hätte auch jede an- durch die Anrufung des Art. 5 des NATO-Vertrages und dere offene Gesellschaft treffen können. Vom ersten Au- durch den Beschluss des Bundestages vom 16. November genblick an war klar, dass dieser Angriff auf unseren 2001 vorgegeben sind. wichtigsten Bündnispartner uns allen galt, unserer Vor- Auch die in Kuweit eingesetzten deutschen Streitkräfte stellung von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten, sind selbstverständlich an das vom Deutschen Bundestag und dass die USA unserer Solidarität bedurften, dass am 16. November 2001 erteilte Mandat gebunden. Die Deutsche und Europäer in der Pflicht waren, die Solida- Bundesregierung wird diese Kräfte auch weiterhin nur rität jetzt unsererseits zu leisten. Wir müssen uns gemein- nach Maßgabe dieses Mandats einsetzen. Schon deshalb sam der Gefahr stellen. steht die Präsenz deutscher ABC-Abwehrkräfte in Kuweit Allen Beteiligten war zum Zeitpunkt dieser Entschei- in keinem Zusammenhang mit der aktuellen Diskussion dungen klar, dass die Bekämpfung der terroristischen über die auch von der EU geteilten Aufforderung an die Strukturen der al-Qaida eine ungewohnte Herausforde- irakische Führung, ihre Verpflichtungen aus den einschlä- rung ist, die einen langen Atem erfordert: Der Gegner ist gigen Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Na- nicht ein Staat, sondern eine international organisierte und tionen – insbesondere die Wiederzulassung der Inspektio- weltweit agierende Gruppierung von Terroristen. Das nen gemäß SR-Resolution 1284 – zu erfüllen. Netzwerk dieser Terrorgruppe in Afghanistan konnte Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat festge- zwar weitgehend zerschlagen werden. stellt, dass das Recht auf individuelle und kollektive Insbesondere konnte das Taliban-Regime, das dieser Selbstverteidigung gegeben ist und in seiner Resolution Gruppierung Beherbergung und Schutz bot, abgelöst 1373 von 28. September die Mitgliedstaaten der VN zur 23288 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 233. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. April 2002

(A) Bekämpfung des internationalen Terrorismus mit politi- teln an der Bewältigung der Ursachen für Hass und damit (C) schen, wirtschaftlichen, polizeilichen und gesetzgebe- an den Ursachen des internationalen Terrorismus zu ar- rischen Maßnahmen aufgerufen. beiten. In Afghanistan hat die entschlossene Strategie der politischen Stabilisierung, die von Deutschland maßgeb- Das Atlantische Bündnis hat die Feststellung getroffen, lich mitgestaltet wurde, eine Umkehr der Entwicklungen dass die Beseitigung dieser Bedrohung gemeinsame An- bewirkt. Noch ist der Erfolg der Befriedung Afghanistans gelegenheit ist. Dabei beschränkt sich das Engagement des und seiner Befreiung vom Terrorismus nicht gesichert, Bündnisses nicht auf politische Rückendeckung. Die doch haben die Bildung einer Übergangsregierung in Ka- NATO ist zum Beispiel auf Bitten der USAzum Schutz des bul und der Beginn des Wiederaufbaus wichtige Voraus- amerikanischen Luftraumes seit Oktober 2001 engagiert. setzungen geschaffen, dass das Land seinen Weg zurück Der Deutsche Bundestag hat dies bei mehreren Gele- in die Staatengemeinschaft findet. genheiten, am 19. September 2001 und bei der Entschei- Unsere Außen- und Sicherheitspolitik ist von Verläss- dung über die Beteiligung der Bundeswehr an den Opera- lichkeit, Zielstrebigkeit und von Ausdauer gekennzeich- tionen von „Enduring freedom“ am 16. November 2001, net. Sie wollen Sprunghaftigkeit, Kurzatmigkeit und mit Nachdruck unterstützt. Selbsttäuschung einziehen lassen. Damit das nicht ge- Bei all dem bleibt klar: Deutschland wird weiterhin schieht, muss dieser Antrag abgelehnt werden. Darum keine Chance ungenutzt lassen, um mit politischen Mit- bitte ich das Haus.

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