Der Provinzroman der Gegenwart Formen – Themen – Schreibweisen

Diplomarbeit

zur Erlangung des akademischen Grades einer Magistra der Philosophie

an der Karl-Franzens-Universität Graz

vorgelegt von Carina STIEGLER

am Institut für Germanistik Begutachter: Ao. Univ.-Prof. Dr. phil. Günter Höfler

Graz, 2016

Für meine Familie und für Alex Ehrenwörtliche Erklärung

Ich erkläre ehrenwörtlich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen nicht benutzt und die den Quellen wörtlich oder inhaltlich entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe. Die Arbeit wurde bisher in gleicher oder ähnlicher Form keiner anderen inländischen oder ausländischen Prüfungsbehörde vorgelegt und auch noch nicht veröffentlicht. Die vorliegende Fassung entspricht der eingereichten elektronischen Version.

Graz, Juni 2016 Unterschrift:

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung ...... 3

2 Die Geschichte der erzählten Provinz ...... 5

2.1 Die Dorfgeschichte als erster Höhepunkt regionalen Erzählens ...... 5

2.2 Von der Heimatkunstbewegung bis zur Blut-und-Boden-Literatur ...... 9

2.3 Der kritische Provinzroman ...... 10

2.4 Tendenzen der Nachkriegszeit...... 11

3 Heimatroman oder Provinzroman? ...... 12

3.1 Ein neuer Heimatbegriff? ...... 16

4 Erzählte Provinz in der Gegenwart ...... 20

4.1 Der Mauerfall als Apriori des gegenwärtigen deutschen Provinzromans ...... 25

4.2 Der österreichische Anti-Heimatroman ...... 27

5 Das Dorf als Gegenstand der erzählten Provinz ...... 30

5.1 Verlust des Stadt-Land-Gegensatzes? ...... 33

6 Juli Zeh: Unterleuten ...... 36

6.1 Juli Zehs Poetik ...... 36

6.1.1 Juli Zeh als politische Schriftstellerin im weitesten Sinn...... 36

6.1.2 Juli Zeh und der Heimatbegriff ...... 38

6.2 Inhaltsskizze ...... 40

6.3 Figurenkonstellationen ...... 41

6.4 Funktion der Provinz ...... 44

6.5 Gattungszuordnung ...... 52

6.6 Fazit ...... 53 1 7 Andreas Maier: Der Ort ...... 55

7.1 Andreas Maiers Poetik ...... 55

7.1.1 Ich oder „Das Leiden an der Differenz“ ...... 55

7.1.2 Andreas Maiers Heimatbegriff: „Heimat, eine Ausblendung“ ...... 59

7.2 Rückblick: Das Zimmer, Das Haus und Die Straße ...... 62

7.3 Grundelemente der Romanstruktur ...... 65

7.4 Funktion der Provinz ...... 69

7.5 Pubertät und Wahrheit ...... 71

7.6 Fazit ...... 73

8 Reinhard Kaiser-Mühlecker: Roter Flieder ...... 75

8.1 Reinhard Kaiser-Mühlecker: Ein Heimatdichter? ...... 75

8.2 Inhaltsskizze ...... 78

8.3 Grundelemente der Romanstruktur ...... 80

8.4 Funktion der Provinz ...... 82

8.5 Vater-Sohn-Beziehungen ...... 86

8.6 Zeit und Schicksal ...... 88

8.7 Fazit ...... 91

9 Zusammenfassung ...... 93

10 Literaturverzeichnis ...... 95

10.1 Untersuchte Romane ...... 95

10.2 Forschungsliteratur ...... 95

2 1 Einleitung

Das gegenwärtige Verschwinden des Lebensraum Dorfes1 wirkt sich keineswegs in einem Ver- schwinden der provinziellen Lebenswelt aus den Romanen der Gegenwart aus. Davon zeugt die Fülle an Regionalkrimis, die derzeit auf den Markt gebracht wird, aber auch die in den letzten Jahren ansteigende Anzahl an Provinzromanen mit Überschneidungen zu Gattungen wie dem Gesellschaftsroman, dem Generationenroman sowie mit starken autobiographischen Zügen im Allgemeinen2. In der folgenden Arbeit soll untersucht werden, welche Ausprägungen das Erzählen von Provinz gegenwärtig annimmt und wie in diesem Rahmen aktuelle gesellschaftliche Frage- stellungen thematisiert werden. Damit steht die Frage nach dem Verhältnis im Zentrum, in dem die zunehmende Thematisierung der Provinz in Romanen der Gegenwart und die Tatsache, dass der dörfliche Lebensraum „aktuell mehr denn je der Erfahrung des Verschwindens ausgesetzt ist“3, zueinander stehen.

Dazu wird im ersten Teil dieser Arbeit eine theoretische Grundlage geschaffen, die sich zunächst mit der Geschichte der erzählten Provinz auseinandersetzt. Anschließend scheint eine Erörterung der in diesem Zusammenhang essentiellen Begriffe ‚Heimat‘, ‚Provinz‘ sowie ‚Region‘ notwendig, die eng mit der Frage verknüpft ist, ob die hier behandelte Gattung als ‚Heimatroman‘ oder ‚Provinzroman‘ tituliert werden soll. Wie bereits aus dem Titel dieser Arbeit hervorgeht, fiel die Entscheidung zugunsten der Bezeichnung ‚Provinzroman‘, eine Begründung dafür erfolgt in Kapitel 3. Daran schließt eine Beschäftigung mit erzählter Provinz in ihrer gegenwärtigen Ausprägung an, in deren Rahmen der Versuch einer Bestimmung der Gattung stattfindet und der in diesem Zusammenhang bedeutende Topos der Provinz als Weltmodell begegnet.4 Für diesen Schwerpunkt sowie für den gesamten ersten Teil dieser Arbeit maßgeblich sind die Monographien Erzählte Provinz5 (1982) sowie Die grünen Inseln6 (1986) von Norbert Mecklenburg, die mangels einer vergleichbar umfassenden Auseinandersetzung mit dem Provinzroman seither bis in die

1 Vgl. Werner Nell, Marc Weiland: Imaginationsraum Dorf. In: Imaginäre Dörfer. Zur Wiederkehr des Dörflichen in Literatur, Film und Lebenswelt. Hrsg. v. Werner Nell und Marc Weiland. Bielefeld: transcript 2014. (= Edition Kulturwissenschaft. 41.) S. 18. Im Folgenden zitiert als: Nell/Weiland, Imaginationsraum. 2 Michael Rölcke: Konstruierte Enge. Die Provinz als Weltmodell im deutschsprachigen Gegenwartsroman. In: Die Unendlichkeit des Erzählens. Der Roman in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1989. Hrsg. v. Carsten Rohde und Hansgeorg Schmidt-Bergmann. Bielefeld: Aisthesis 2013. S. 119. Im Folgenden zitiert als: Rölcke, Konstruierte Enge. 3 Nell/Weiland, Imaginationsraum, S. 18. 4 Vgl. Rölcke, Konstruierte Enge, S. 121. 5 Norbert Mecklenburg: Erzählte Provinz. Regionalismus und Moderne im Roman. Königstein i. T.: Athenäum 1982. Im Folgenden zitiert als: Mecklenburg, Provinz. 6 Norbert Mecklenburg: Die grünen Inseln. Zur Kritik des literarischen Heimatkomplexes. München: iudicium 1986. S. 41. Im Folgenden zitiert als: Mecklenburg, Inseln. 3 Gegenwart von Bedeutung sind. Daneben lieferten die beiden aktuellen Aufsätze Imaginationsraum Dorf von Werner Nell und Marc Weiland sowie Konstruierte Enge. Die Provinz als Weltmodell im deutschsprachigen Gegenwartsroman von Michael Rölcke wichtige Impulse für diese Arbeit. Der theoretische Teil wird von einem Kapitel über das Dorf als Gegenstand der erzählten Provinz abgeschlossen, wobei hierbei die Veränderungen der dörflichen Lebenswelt und deren Annäherung an städtische Lebensformen den Schwerpunkt bilden.

Im zweiten Teil der vorliegenden Diplomarbeit folgt die Analyse der Romane Unterleuten7 von Juli Zeh, Roter Flieder8 von Reinhard Kaiser-Mühlecker und Der Ort9 – unter Einbeziehung aller bisher erschienenen Teile der Ortsumgehung – von Andreas Maier. Damit soll anhand von drei sehr unterschiedlichen Schreibweisen exemplarisch verdeutlicht werden, in welchen Formen gegen- wärtiges Erzählen von Provinz begegnet. Die Schwerpunkte der Analyse ergeben sich dabei aus den Ausführungen des ersten Teils dieser Arbeit. Primär ist dabei auf die Funktion der Provinz im jeweiligen Roman einzugehen, daneben sind Überschneidungen in der Gattungszuordnung sowie die Thematisierung von Ortsgebundenheit – mit anderen Worten Heimatgefühlen – in allen drei Fällen von besonderer Bedeutung. Besonders ausführlich beschäftigt sich Andreas Maier sowohl in seinen Romanen als auch abseits davon – etwa in seinen Kolumnen – damit, was Heimat bedeutet. Weitere Schwerpunkte ergeben sich aus der jeweiligen Schreibweise der Autorin sowie der beiden Autoren. Abschließend sollen die im Rahmen der Analyse ermittelten Ergebnisse im Zusammen- hang mit der Theoriebasis aus dem ersten Teil zeigen, wie die Provinz als Laboratorium zur Aushandlung von gesellschaftlich relevanten Fragestellungen dargestellt wird.

7 Juli Zeh: Unterleuten. München: Luchterhand 2016. Im Folgenden im Text zitiert mit einfacher Seitenzahl als: U. 8 Reinhard Kaiser-Mühlecker: Roter Flieder. Frankfurt a.M.: Fischer 2014. Im Folgenden im Text zitiert mit einfacher Seitenzahl als: F. 9 Andreas Maier: Der Ort. Berlin: Suhrkamp 2015. Im Folgenden im Text zitiert mit einfacher Seitenzahl als: O. 4 2 Die Geschichte der erzählten Provinz

2.1 Die Dorfgeschichte als erster Höhepunkt regionalen Erzählens

Im 19. Jahrhundert vollzog sich der Aufstieg des Regionalismus gleichzeitig mit dem Aufstieg des literarischen Realismus. Dabei wurde der Tendenz des Regionalismus von Seiten des Realismus eine deutliche Prägung aufgedrückt.10 Die Hinwendung zu regionalen Thematiken ist allerdings keineswegs als deutsches Phänomen zu verorten, wie Uwe Baur mit Verweis auf Texte aus Ungarn, Schweden, Frankreich, Holland, Russland, Italien, Dänemark, Schweden und England darlegt:

Wie weit hier tatsächlich gegenseitige Einflüsse zur Entwicklung dieser Prosa in den einzelnen Nationalliteraturen beigetragen haben, hätten komparatistische Untersuchungen zu klären; die genannten Beispiele legen die Annahme nahe, daß es in den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in den bedeutenden Literaturen Europas zur Ausbildung einer regionalen und sozialen Epik kam, die sich an der Darstellung dörflicher Lebensformen entfaltete.11 Um einen möglichst vollständiges Bild der gegenwärtigen Ausprägung des Provinzomanes zu zeichnen, scheint neben dem Fokus auf eine synchrone Vorgehensweise auch eine diachrone Betrachtung sinnvoll. Daher wird im Folgenden ein kurzer Abriss der Geschichte des Erzählens von Provinz gegeben. Dabei ergibt sich mit der Gattung der Dorfgeschichte ein erster Schwerpunkt, für den Jürgen Hein in seiner Monographie folgende Periodisierung vorschlägt: „Erste Dorfgeschichten-Phase (1830-1860) und zweite Dorfgeschichten-Phase von 1860 bis zum Beginn der ›Heimatkunst‹-Bewegung.“12 Für das 20. Jahrhundert finden sich ihm zufolge dorfge- schichtliche Elemente in den folgenden Zusammenhängen: „Dorfgeschichte und Heimatkunst, die Dorfgeschichte im ›Dritten Reich‹, Kritische und sozialistische Landliteratur und Entwicklung in der Nachkriegsliteratur.“13 Diese Einteilung wird in diesem Kapitel übernommen und damit eine Kontinuität bis zu heutigen Formen des Erzählens von Provinz angenommen, wofür einige, später einzubringende Argumente zu finden sind.

Die Entstehung des Genres der Dorfgeschichte basiert auf deutlich weiter zurückreichenden Vorgängern. Den Zusammenhang von Realismus und Regionalität sieht Mecklenburg etwa bereits vorher durch „realistische Elemente speziell des deutschen Schäferromans, die aufklärerische Darstellung des Landlebens, die realistisch-regionalistische Umformung der Idylle, die […]

10 Vgl. Mecklenburg, Provinz, S. 71. 11 Uwe Baur: Dorfgeschichte. Zur Entstehung und gesellschaftlichen Funktion einer literarischen Gattung im Vormärz. München: Fink 1978. S. 19. Im Folgenden zitiert als: Baur, Dorfgeschichte. 12 Jürgen Hein: Dorfgeschichte. Stuttgart: Metzler 1976. (=Sammlung Metzler. Realien zur Literatur. Abt. E: Poetik. 145.) S. 57-110. Im Folgenden zitiert als: Hein, Dorfgeschichte. 13 Ebda. S. 111-132. 5 spezifische Polarität von Weltbürgertum und Provinzialität Goethescher Klassik, de[n] Natur- und Volksbegriff der Romantik“14 verwirklicht. Hein nennt in seiner chronologischen Liste bäuerlicher Epik als erstes Werk Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausens Der stolze Melcher aus dem Jahr 1672.15 Als Voraussetzung für die vermehrte Entstehung bäuerlicher Epik ab 1830 sieht er den vom 17. Jahrhundert ausgehenden Wandel im Verhältnis zwischen Stadt und Land an, der mit einiger Verzögerung in die Literatur Eingang fand.16

Als bedeutenden Vorläufer der Dorfgeschichte gilt ihm Heinrich von Kleists Michael Kohlhaas, wobei er auf Altvaters Einschätzung verweist, es handle sich hierbei um die erste historische Dorfgeschichte, obwohl die Schauplätze wechseln.17 Die Gattung der Dorfgeschichte ist eng verknüpft mit dem Namen Berthold Auerbach, dessen Schwarzwälder Dorfgeschichten ab April 1842 erschienen. Der Erfolg dieses Schriftstellers war bis dahin mäßig gewesen, mit seinen Dorfgeschichten traf er das Bedürfnis von breiten Leserschichten nach Neuerungen hinsichtlich des Stoffes sowie der formalen Darbietung offensichtlich am genauesten.18 Baur zufolge hat der enorme Erfolg von Auerbachs Texten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dazu geführt, dass die Beurteilung der gesamten Gattung hauptsächlich von dessen Texten abhing. Somit wurde „die kritische Funktion der Gattung im Vormärz übersehen“19, da Auerbachs Dorfgeschichten eine vermehrte Sentimentalität aufwiesen. Dieser Befund trifft für Baur bis hin zu einschlägigen Arbeiten der 1970er Jahre zu. Die Einschätzung der Gattung der Dorfgeschichte hing neben Auerbach stark vom Schaffen Jeremias Gotthelfs ab.20 Bei Gotthelf erscheint einerseits eine detailrealistische Abbildung des ländlichen Milieus, andererseits sieht er darüber hinaus dem Dorf eine Vorbildfunktion für die gesamte Gesellschaft innewohnen. Als Pfarrer war er naturgemäß von religiösem Sendungsbewusstsein beeinflusst, zusammen mit seiner konservativen politischen Ausrichtung ergab sich daraus eine Ablehnung von moderner Zivilisation im Allgemeinen und der einsetzenden Verstädterung andererseits.21 Diese stadt- und fortschrittsfeindliche Einstellung ist bei Auerbach nicht zu finden, dennoch betreibt er bis zu einem gewissen Grad eine Idyllisierung des Ländlichen. Sein Schreiben erfolgte nicht aus der Perspektive der Dorfbevölkerung und wandte sich

14 Mecklenburg, Provinz, S. 71. 15 Vgl. Hein, Dorfgeschichte, S. 8. 16 Vgl. ebda S. 57. 17 Vgl. ebda S. 59f. 18 Vgl. Baur, Dorfgeschichte, S. 29. 19 Ebda S. 23. 20 Vgl. ebda. 21 Vgl. Wilfried von Bredow: Zwiespältige Zufluchten. Zur Renaissance des Heimatgefühls. Hrsg. v. Wilfried von Bredow und Hans-Friedrich Foltin. Berlin, Bonn: Dietz 1981. S. 51f. Im Folgenden zitiert als: von Bredow, Zufluchten. 6 in erster Linie an ein städtisches Publikum.22 Für Hein wird die Doppelgleisigkeit in der Darstellung des Lebens auf dem Land, die besonders seit der Romantik deutlich wurde, unzulässigerweise auf Auerbach und Gotthelf übertragen. Dabei würde Auerbach die Idealisierung von bäuerlichem Leben abseits der gesellschaftlichen Realität zugeschrieben, während Gotthelfs Schaffen für die realitäts- bezogene Darstellungsweise stünde. Hein zufolge gibt es allerdings Mischformen zwischen diesen Polen, die diese Zuordnung problematisch machen würden.23

Werden nun Texte beider Positionen sowie deren Mischformen als Dorfgeschichten bezeichnet, stellt sich die Frage, wie die Gattung zu definieren ist. Friedrich Altvater, der 1930 die erste systematische Monographie zur Dorfgeschichte veröffentlichte, definiert sie folgendermaßen: „Die Dorfgeschichte spielt im Dorf und handelt von Bauern. Dies ist die einzige Feststellung, die wir für die gesamte Dorfepik machen können.“24 Somit wird eine über die Ebene des Stoffes hinaus- gehende Klassifizierung der Gattung nicht vorgenommen. Auch rund ein halbes Jahrhundert später bleibt Hein mit seiner Beschreibung des Genres auf dieser rein stofflichen Ebene und definiert die Dorfgeschichte hinsichtlich der inhaltlich-stofflichen Aspekte durch „die Bindung an ein regional begrenztes, lokales, soziales, ökonomisches und kulturelles Milieu, das Handlungsträger und Handlungsgeschehen bestimmt.“25 Weiters ordnet er als Dorfbild, Bauernspiegel und Bauernnovelle bezeichnete Texte dem Überbegriff der Dorfgeschichte unter, der ihm zufolge ebenso lehrhaft- unterhaltende Texte umschließt.26

Baur bezieht in seine Ausführungen neben Altvater und Hein auch Kritikermeinungen aus dem 19. Jahrhundert ein und stützt sich unter anderem auf Aussagen von Friedrich Sengle und Peter Mettenleitner, um zu dem Schluss zu kommen, dass der Gattungsbegriff in all diesen Ausführungen entweder nicht ausreichend genau definiert, zu widersprüchlich oder zu sehr der rein stofflichen Ebene verhaftet bleibt. Dies führt hin zur These seiner Arbeit, der zufolge „die Gattung verschiedene Spielarten ausgebildet hat, die gleichzeitig nebeneinander gepflegt und in bestimmten Phasen ihrer Geschichte schwerpunktmäßig betont oder vernachlässigt wurden.“27 Bei einer synchron angelegten Analyse der Texte einer festgelegten Zeit werden daher kaum Konstanten und distinktive Merkmale destilliert werden können, die sich in allen Texten finden und die als

22 Vgl. ebda S. 52. 23 Vgl. Hein, Dorfgeschichte, S. 65. 24 Friedrich Altvater: Wesen und Form der deutschen Dorfgeschichte im neunzehnten Jahrhundert. Nendeln: Kraus Reprint 1967. (=Germanistische Studien. 88.) S. 13. 25 Hein, Dorfgeschichte, S. 25. 26 Vgl. ebda. 27 Baur, Dorfgeschichte, S. 17. 7 Unterscheidungskriterien im Hinblick auf andere Gattungen gelten können.28 Wie im weiteren Verlauf dieser Arbeit und speziell in Kapitel 4 noch deutlich werden wird, liegt dieser Befund auch für das gegenwärtige Erzählen von Provinz nahe und wird daher für die Analyse der Romane im zweiten Teil dieser Arbeit eine Rolle spielen.

Auf die Erfolge von Auerbachs Dorfgeschichten folgte eine Vielzahl an literarischen Produktionen, die sich stark an seinem Schreiben orientierten. Die begrenzte Zahl an Motiven erfuhr zahlreiche Wiederholungen, die die Dorfgeschichte in die Bedeutungslosigkeit führten. Diese nunmehrige Unterhaltungsliteratur ließ die hohen Erwartungen, die Kritiker zu Beginn in diese Gattung gesetzt hatten, in Geringschätzung umschlagen.29 Während Hein, wie bereits erwähnt, die erste Dorfgeschichten-Phase bis 1860 andauern lässt, endet sie für Baur mit dem Scheitern der Revolution 1848, das gleichzeitig das Ende der politischen Literatur bedeutete. Somit fällt die erste Phase für ihn mit der literaturhistorischen Bezeichnung des ‚Vormärz‘ zusammen.30

Für Österreich sind für den Zeitraum vor dem Einsetzen der Heimatkunstbewegung vor allem die Namen Ludwig Anzengruber und Peter Rosegger zu nennen. Für ersteren steht der Mensch und dessen Charakter im Mittelpunkt, seine Umgebung und damit Details des bäuerlichen Umfeldes kommen bei ihm nicht zur Darstellung. Anzengrubers Texte stehen in starkem Kontrast zu sentimentalen Dorfgeschichten und wirkten Hein zufolge auf das zeitgenössische Publikum wie herber Realismus.31 Für Roseggers frühe Schaffensjahre war Auerbach ein starker Einfluss. Hein zufolge „romantisiert [er] die kleinbäuerliche Existenzweise, indem er der Schönheit der Bergwelt ein Übergewicht verleiht oder eine von Selbstzufriedenheit begleitete Anspruchslosigkeit der Bewohner betont.“32 Jene Einflüsse der Moderne, die dieser Existenzweise schaden könnten, lehnte er ab.33 Als bedeutender deutscher Vorläufer der Heimatkunstbewegung ist Ludwig Ganghofer zu nennen. Er konnte einerseits durch Theateraufführungen, andererseits durch seine Veröffent- lichungen in der Gartenlaube, der verbreitetsten Wochenschrift in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, große Beliebtheit erreichen. In ideologischer Hinsicht findet sich bei Ganghofer bereits eine Vorwegnahme der Ideen der Heimatkunstbewegung.34 In seiner Autobiographie gibt er seine Sozialutopie wieder, die deutlich faschistische Züge aufweist, die durch das Prinzip der christlichen Nächstenliebe letztlich aber noch abgemildert werden. Damit liegt er schon nahe an der

28 Vgl. ebda. 29 Vgl. Hein, Dorfgeschichte, S. 91. 30 Vgl. Baur, Dorfgeschichte, S. 37f. 31 Vgl. Hein, Dorfgeschichte, S. 100f. 32 Ebda S. 103. 33 Vgl. ebda. 34 Vgl. von Bredow, Zufluchten, S. 57. 8 späteren Blut-und-Boden-Ideologie, von der er allerdings nicht in dem Maße vereinnahmt wurde, wie es bei anderen Autoren der Fall war. Aufgrund dieser Tatsache kam ihm auch nach 1945 noch größere Bedeutung zu.35 In den 1970er Jahren etwa erfolgte durch den Droemer-Knaur-Verlag eine Verkaufsoffensive seiner Werke. Wilfried von Bredow und Hans-Friedrich Foltin schätzen in Zwiespältige Zufluchten, dass bis zu den 1980er Jahren mindestens 35 Millionen seiner Bücher verkauft wurden, er dürfte damit ihnen zufolge der erfolgreichste Autor des Genres des deutschen Heimatromans sein.36

2.2 Von der Heimatkunstbewegung bis zur Blut-und-Boden-Literatur

Für das 20. Jahrhundert unterscheidet Mecklenburg folgende Tendenzen des regionalen Romans: Die Strömung von der Heimatkunstbewegung bis zur Blut-und-Boden-Dichtung, die Gegen- strömung des kritischen Provinzromans sowie eine primitivistische Linie im regionalen Roman. Die Grenzen dazwischen verlaufen fließend und Mecklenburg kommt laut eigenen Angaben nicht mit einer streng deduktiven Vorgehensweise zu dieser Einteilung, sondern indem er eine pragmatische Orientierung anhand der vorhandenen Texte vornimmt.37

Für die Heimatkunst trifft er folgende Feststellung: „Die Heimatkunstbewegung gehört [...] in den Rahmen der ‚konservativen‘ Revolution, die Kulturpessimismus, Großstadtfeindschaft, Agrar- romantik, ‚völkischen‘ und rassistischen Nationalismus, Antisemitismus in sich vereinigte.“38 Damit reagiert sie auf die wirtschaftlichen und industriellen Veränderungen ab dem Ende des 19. Jahrhunderts, die für kleine und mittlere Bauern die Problematik einer steigenden Verelendung mit sich brachten.39 Ein besonders bedeutendes Element der Heimatkunst stellt die Opposition zur Stadt und damit zu Industrie und Arbeiterbewegung dar, die implizit oder explizit vorhanden sein kann. Dieser Zug war bereits der Dorfgeschichte immanent, hier allerdings nur als ein Teil eines größeren Feldes, das mit ‚Fremde‘ umrissen werden kann. Erst die bereits angesprochenen wirtschaftlichen und sozialen Veränderungsprozesse hätten, so Hein, den aus der Dorfgeschichte entliehenen Motiven mehr Schärfe gegeben.40 Als bedeutendster Theoretiker der Heimatkunstbewegung kann der Antisemit Adolf Bartels gelten, der auch als Herausgeber der Zeitschrift Die Heimat fungierte.41

35 Vgl. ebda S. 55-58. 36 Vgl. ebda S. 53. 37 Vgl. Mecklenburg, Provinz, S. 98. 38 Ebda S. 99. 39 Vgl. Hein, Dorfgeschichte, S. 112. 40 Vgl. ebda. 41 Vgl. von Bredow, Zufluchten, S. 59. 9 Die Heimatkunst ist neben der um 1900 einsetzenden Moderne die zweite bedeutende literarische Strömung jener Zeit, es handelt sich dabei um deutliche Gegenpositionen. Hein beurteilt die Herangehensweise der Heimatkunstbewegung an die gesellschaftlichen Problematiken des frühen 20. Jahrhunderts dabei folgendermaßen: „Die konservative Haltung reduziert komplexe zeit- geschichtliche Probleme auf Grundkonstellationen und übersieht die brennenden sozialen Fragen der Zeit.“42 Dabei spielten auch bereits antisemitische Tendenzen eine Rolle, die spätere Blut-und- Boden-Ideologie konnte auf die Heimatkunst und deren Forderungen aufbauen und diese radikalisieren.43 Ein Beispiel für das Austauschen des agrarkonservativen Weltbildes gegen ein völkisch-nationales sieht Mecklenburg in Hermann Burtes Wiltfeber der ewige Deutsche, das er als „unerträgliches Gemisch aus trivialen Handlungsklischees und pseudoreligiösen ‚völkischen‘ Offenbarungen“44 beschreibt und in dem er einen bruchlosen Übergang von der Heimatkunst- bewegung zur Blut-und-Boden-Dichtung sieht.45 Für Mecklenburg hat die breite Leserbasis des völkisch-nationalen Provinzromans vermutlich denselben Grund wie die breite Wählerbasis des Nationalsozialismus, indem es beiden gelang, die verunsicherten Mittelschichten in einer Zeit der industriegesellschaftlichen Krise mit einer agrarischen Ordnung zu faszinieren, die stabil und von der Weltwirtschaft unabhängig scheint. Dennoch war „[d]er Nationalsozialismus moderner als seine Literatur“46, da durch ihn die Provinz und mit ihr die jeweiligen regional vorherrschenden Be- sonderheiten auf nie zuvor dagewesene Weise gleichgeschaltet wurden.47

2.3 Der kritische Provinzroman

Die Vereinnahmung von vor 1933 entstandenen Dorfgeschichten und Bauernromanen durch die Nationalsozialisten betraf auch AutorInnen, die die Nationalsozialisten nicht unterstützten. Aktiv dagegen zur Wehr setzte sich etwa Oskar Maria Graf, der bereits einen anderen Blick auf das Landleben warf und unberechtigt dem Bereich der völkischen Bauernliteratur zugeordnet wurde.48 Mit Hans Falladas Bauern, Bonzen und Bomben wird schließlich nicht mehr der an seiner Scholle hängende Bauer, sondern der besitzlose Landarbeiter zum Helden. Hierbei handelt es sich um eine proletarische Landerzählung, die eine Hinführung zur Dorfliteratur auf sozialistischer Basis

42 Hein, Dorfgeschichte, S. 113. 43 Vgl. ebda. 44 Mecklenburg, Provinz, S. 100. 45 Vgl. ebda. 46 Ebda. 47 Vgl. ebda. 48 Vgl. Hein, Dorfgeschichte, S. 126. 10 darstellt, die wiederum in Die Bauern von Unterpreißenberg von Johannes R. Becher einen Höhepunkt findet.49

Für Mecklenburg lassen sich innerhalb des kritischen Provinzromanes fünf Strömungen unterscheiden, die tatsächlich jedoch oft in Mischformen vorkommen würden. Eine genauere Beschreibung muss an dieser Stelle unterbleiben, die Strömungen können hier lediglich wieder- gegeben werden: „Eine mehr oder weniger geradlinige Fortführung naturalistischer Ansätze, die kritische Darstellung bestimmter geographischer Regionen, eine exemplarisch-modellhafte Provinz- kritik, Anfänge eines sozialistischen Provinzromans, Sozialreportage in epischer Form.“50 Hinge- wiesen sei an dieser Stelle auch auf eine Gruppe von Romanen, die zwar wie die gesamte Heimatkunst- und Blut-und-Boden-Literatur primitivistische Züge trägt, sich aber dennoch nicht zu jenen beiden rechnen lässt. Deren „kritischer, ‚aufgeklärter‘ Primitivismus“ hält laut Mecklenburg „deutlich zu einem faschistischen Distanz“.51 Zu dieser Gruppe zählt Mecklenburg etwa Gerhard Hauptmanns Der Ketzer von Soana52 oder Hermann Brochs Bergroman, den er einer ausführlichen Analyse unterzieht.53

2.4 Tendenzen der Nachkriegszeit

Für Hein lassen sich in der Nachkriegszeit neben Relikten völkischer Bauernepik einige wenige kritische Dorfgeschichten bzw. Bauernromane sowie die Literatur der Heimatvertriebenen ausmachen. Die quantitativ größte Gruppe wird allerdings vom trivialen Heimatroman bzw. Bergroman gestellt, der in Form von regelmäßigen Romanheft-Serien veröffentlicht wurde. Deren Umfang sowie Motive lassen sich mit jenen der Dorfgeschichte des 19. Jahrhunderts vergleichen. Die starke Vereinfachung und Vereinheitlichung der bereits vorher bekannten Handlungsmuster sowie die konformistische Ideologie dieser Geschichten, bei denen es sich fast durchgängig um Liebeserzählungen handelt, ist Hein zufolge zu Recht die Basis für eine Zuordnung zur Trivialliteratur.54 Mecklenburg schlägt als lohnendes Forschungsfeld im Zusammenhang mit erzählter Provinz in der Nachkriegszeit weiters die Beschäftigung mit vor. Dabei

49 Vgl. ebda S. 126f. 50 Mecklenburg, Provinz, S. 102. 51 Ebda S. 105. 52 Vgl ebda. 53 Vgl. ebda S. 129-127. 54 Vgl. Hein, Dorfgeschichte, S. 131. 11 verweist er etwa auf Der Ausflug der toten Mädchen von Anna Seghers55 sowie auf Oskar Maria Grafs Unruhe um einen Friedfertigen, das er in Grüne Inseln einer Analyse unterzieht.56

In Heimat im Roman: Last oder Lust? widmet sich Andrea Kunne der Transformation der Gattung der erzählten Provinz in der österreichischen Nachkriegsliteratur. Darin wendet sie Alastair Fowlers Phasen der Genre-Evolution auf die Gattung an, die sich vornehmlich dem Leben am Land und in agrarischen Zusammenhängen widmet, und kommt zu dem Schluss, dass es sich bei der Dorf- geschichte um die erste Entwicklungsstufe handle, darauf folge mit der Heimatkunstbewegung die zweite Entwicklungsstufe und der Höhepunkt der Gattung. Die ideologische Vereinnahmung in der NS-Zeit sowie die Trivialisierung in der Form der Romanheft-Serien stellen für sie keine eigenen Entwicklungsphasen dar. Die dritte und tiefgreifende Neuerungen bringende Phase setzt für Kunne mit der innovativen Weiterverarbeitung des überlieferten Modells in Österreichs Nachkriegsliteratur ein.57 Diese Phaseneinteilung stützt die in diesem Kapitel vorgenommene, auf Hein basierende Abhandlung der Geschichte der erzählten Provinz, beginnend mit den Dorfgeschichten. Eine weiterreichende Beschäftigung mit dieser von Kunne thematisierten, auch als Anti-Heimatliteratur bezeichneten Strömung sowie mit den Entwicklungen des Erzählens von Provinz bis in die Gegenwart erfolgt im weiteren Verlauf dieser Arbeit, im Speziellen in Kapitel 4.

3 Heimatroman oder Provinzroman?

Wie bereits aus dem Titel dieser Arbeit hervorgeht, wird in Anlehnung an Mecklenburg der Begriff des ‚Provinzromans‘ verwendet, um die hier thematisierte Gattung zu erfassen. In Erzählte Provinz weist Mecklenburg den in der deutschen Germanistik vielbenutzten Begriff des ‚Heimatromans‘ zurück, da er ihn als „historisch zu eng und ideologisch zu belastet“ ansieht, „um das weite Feld des regionalen Romans angemessen zu bezeichnen“.58 Die von ihm angesprochene ideologische Belastung beginnt, wie oben erläutert, mit der Heimatkunstbewegung und kulminiert in der Blut- und-Boden-Literatur. So will Mecklenburg den Begriff auf ebendiese Heimatkunstbewegung inklusive ihren Nachfolgern und trivialen Varianten begrenzt wissen. Damit beschränkt sich diese Bezeichnung auf Romane, welche die dörfliche Lebensweise als überlegen oder zumindest vorbildlich darstellen und den agrarischen Kontext sich als schutzspendende Heimat präsentieren

55 Vgl. Mecklenburg, Inseln, S. 22. 56 Vgl. ebda S. 92-111. 57 Vgl. Andrea Kunne: Heimat im Roman: Last oder Lust? Transformationen eines Genres in der österreichischen Nachkriegsliteratur. Amsterdam: Rodopi 1991. (=Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur. 95.) S. 12. Im Folgenden zitiert als: Kunne, Transformationen. 58 Mecklenburg, Provinz, S. 12. 12 lassen.59 Die gegenwärtig dennoch vorkommende Verwendung des ‚Heimatroman‘-Begriffs schätzt er auf die folgende Weise ein:

Wenn sich aber in der deutschen Gegenwartsliteratur im Zuge eines neuen Regionalismus verschiedentlich Romane selbst ‚Heimatroman‘ nennen, so ist damit meist eine kritische, ironische, parodistische Distanzierung angezeigt, die es verbietet, den Ausdruck ‚Heimat- roman‘ deskriptiv auf diese Texte anzuwenden.60 Mehr als 30 Jahre nach dem Erscheinen von Mecklenburgs Monographie gelangt Michael Rölcke in seinem Aufsatz Konstruierte Enge zu einem ähnlichen Befund: „In den Provinzromanen der letzten beiden Jahrzehnte wurde das Wort ‚Heimat‘ allemal als zwiespältiger, von der Geschichte besetzter und als vereinfachender, verharmlosender, entpolitisierender Begriff diskutiert.“61 Der kritische Heimatroman der Gegenwart spielt demnach mit den zeit- und geschichtsabhängigen Bedeutungs- ebenen des Begriffs ‚Heimat‘, indem sie mitgedacht oder sogar zum Thema gemacht werden.62 Für Rölcke ergibt sich daraus Folgendes: „Die Heimat wird zum Korrektiv und ist der als ästhetisches Problem begriffene Sehnsuchtsort sinnlicher Unmittelbarkeit, Sicherheit und überschaubarer Verhältnisse.“63 Besonders ist an dieser Stelle auf Andreas Maier hinzuweisen, der sich mit seiner auf elf Teile angelegten Ortsumgehung ausführlich der kritischen Auseinandersetzung mit dem Heimatbegriff widmet und sich selbst als Heimatdichter bezeichnet.64 In einem Artikel für das Magazin Cicero beschäftigt er sich damit, was Heimat bedeuten kann: „Heimat gibt es nicht. Sie ist eine Fiktion. Heimat ist sowas wie unser erster Seelenzustand. Am Anfang ist alles um uns herum noch wie eine Ewigkeit. Eine Welt, als könne sie auf immer so bleiben wie sie ist.“65 Maier möchte den Begriff dabei keineswegs selbst mit Bedeutung füllen, er als Autor könne schließlich nicht „mit den Worten [arbeiten], als gehörten sie allein mir.“66 Vielmehr geht es ihm darum, damit zu arbeiten, dass die Menschen jeweils eigene Sinnhorizonte eines Wortes wie Heimat besitzen und es in unterschiedlicher Weise benutzen.67 Mögliche Auslegungen und Verwendungen des Wortes illustriert er wie folgt:

Die einen verbinden mit Heimat etwas ungemein Wichtiges, die anderen finden das völlig uncool und ziehen lieber nach Berlin und nennen dann das Heimat (Berlin, Prenzlauer Berg,

59 Vgl. ebda. 60 Ebda. 61 Rölcke, Konstruierte Enge, S. 122. 62 Vgl. ebda S. 124. 63 Ebda. 64 Vgl. Andreas Maier: Heimat ist wie nackt vor Gott zu stehen. Erstellt am 01.02.2012. In: Cicero Online. URL: http://www.cicero.de/salon/heimat-ist-wie-nackt-vor-gott-zu-stehen/48096 [20.04.2016]. S. 2. Im Folgenden zitiert als: Maier, Heimat. 65 Ebda S. 1. 66 Ebda S. 3. 67 Vgl. ebda. 13 Kreuzberg, Mitte), worüber die anderen, die zu Hause bleiben, lachen könnten, wenn sie nicht Angst hätten, sich dann noch umso mehr zu blamieren.68 Eine genauere Beschäftigung mit Maiers Auslegung des Heimatbegriffs wird im zweiten Teil dieser Arbeit im Rahmen der Analyse seines Romans Der Ort, der den vierten Teil der Ortsumgehung bildet, folgen. Versucht man eine historische Annäherung an den Heimatbegriff, so ist dieser zu Beginn verknüpft mit Haus und Hof und deren Besitz, was bereits früh in literarischen Texten thematisiert wurde, so etwa in Ich hân mîn lêhen von Walther von der Vogelweide, das um 1215/20 entstand. Im 19. Jahrhundert sorgte der Modernisierungsprozess mit der zunehmenden Mobilität dafür, dass Heimat vermehrt als Bereich der Zuflucht gesehen wurde und somit mit Dorf und Natur in Verbindung gebracht wurde.69 Gleichzeitig bildete sich eine zweite Bedeutungsdimension, in der Heimat mit Vaterland assoziiert wurde, das anders als Haus und Hof allen eigen sein konnte.70 Für die verschiedenen Definitionsversuche von Heimat bis zur Gegenwart stellt Gansel folgende Konstante fest: „Heimat ist erstens durch die Raum- und Zeitdimension gekennzeichnet. Und als subjektive Komponente ist zweitens ein Netz von sozialen Beziehungen gemeint.“71 Dieses Netz thematisiert Juli Zeh in ihrem 2016 erschienenen Roman Unterleuten, als der Protagonist Kron zu einer gut besuchten Gemeinderatssitzung in dem Unterleuten geht:

Kron kannte jedes einzelne Gesicht, aber vor allem kannte er das Gesamtwesen. Hätte man die Beziehungsfäden sichtbar machen können, welche zwischen den Anwesenden hin und her liefen, wäre für den Uneingeweihten ein undurchschaubares Knäuel zum Vorschein gekommen. Ein Experte wie Kron hingegen sah ein logisches System, klar strukturiert wie ein Spinnennetz. Verwandtschaft, Bekanntschaft, Nachbarschaft, Freundschaft, Feindschaft, Liebe, Hass, Schuld, Neid, Abhängigkeit. (U 104) Als Bewohner, der sein ganzes Leben im Dorf Unterleuten verbracht hat, erschließen sich ihm die Verbindungen zwischen den Dorfbewohnern problemlos, er selbst ist in dieses Netz durch die oben angeführten Verhältnisse wie Verwandtschaft, Bekanntschaft oder auch Hass eingebunden, damit wird die subjektive Bedeutungskomponente des Begriffes Heimat, die auf die Dimension der sozialen Beziehungen bezogen ist, thematisiert.

‚Provinz‘ ist demgegenüber ein Begriff, der in der Verwaltungssprache wurzelt. Zunächst bezog sich das lateinische ‚provincia‘ auf Herrschafts- und Verwaltungsbezirke und dann auf eroberte

68 Ebda. 69 Vgl. Carsten Gansel: Von romantischen Landschaften, sozialistischen Dörfern und neuen Dorfromanen. Zur Inszenierung des Dörflichen in der deutschsprachigen Literatur zwischen Vormoderne und Spätmoderne. In: Imaginäre Dörfer. Zur Wiederkehr des Dörflichen in Literatur, Film und Lebenswelt. Hrsg. v. Werner Nell und Marc Weiland. Bielefeld: transcript 2014. (= Edition Kulturwissenschaft. 41.) S. 204. Im Folgenden zitiert als: Gansel, Landschaften. 70 Vgl. ebda. 205. 71 Ebda. 14 Gebiete im Ausland, die dem römischen Imperium angefügt wurden. In der Entwicklung zum Zentralstaat erhielt der Provinz-Begriff schließlich seine Bedeutung als Gegensatz zur Hauptstadt, die noch im aktuellen Sprachgebrauch wesentlich ist. Somit wurde die verwaltungstechnische Bedeutungsebene von einer soziokulturellen abgelöst.72 Der zögerliche Gebrauch des Begriffes in der Germanistik liegt Mecklenburg zufolge an der negativ-wertenden Konnotation, die wiederum in der Literaturkritik nicht störend ist und den Provinzbegriff in diesem Kontext eine häufigere Verwendung einbringt.73 Grundsätzlich entscheidet sich Mecklenburg in Erzählte Provinz dafür, die Begriffe ‚regionaler Roman‘ und ‚Provinzroman‘ mit Einschränkung gleichbedeutend neben- einander zu verwenden: „Sofern in ‚Provinz‘ ein negativer Wertakzent mitklingen kann, ist der neutrale Ausdruck ‚regionaler Roman‘ vorzuziehen.“74

Den Begriff ‚Region‘ definiert Mecklenburg folgendermaßen: „Unter Regionen werden dabei solche Territorien, d. h. Teilgebiete von Staaten, verstanden, die sich unter geschichtlichen, sozialen und geographischen Gesichtspunkten als relative Einheiten, als historisch-politische Landschaften im Sinne Ratzels begreifen lassen.“75 Damit fällt die wertende Dimension des Begriffes ‚Provinz‘ hier weg. Die alleinige, isolierte Betrachtung der Begriffe Heimat, Provinz und Region hält Mecklenburg in Grüne Inseln, das als Fortsetzung von Erzählte Provinz gelten kann, als nicht zielführend:

Man muß diese drei Begriffe Region, Provinz, Heimat, oder, wie man heute sagen würde, die Diskurse, in denen sie gebraucht werden, in ihrer wechselseitigen Verflechtung sehen, um die Bedeutung abschätzen zu können, die das Konzept der Region nicht nur in der Literatur, sondern auch in der Gesellschaft heute hat.76 Andrea Kunne bezieht sich in ihrer Studie Heimat im Roman auf die Entscheidung Mecklenburgs, die Begriffe ‚Provinzroman‘ und ‚regionaler Roman‘ zu verwenden und ‚Heimatroman‘ zu vermeiden. Ihr stellt sie die Vorgehensweise von Hein gegenüber, der die Bezeichnung ‚Dorf- geschichte‘ auf sämtliche Ausprägungen bäuerlicher Literatur ausdehnt.77 Der Höhepunkt der Gattung der Dorfgeschichte findet sich in den Jahren 1830 bis 1880, die stoffliche Kontinuität steht bei Hein allerdings, wie in Kapitel 2.1 ausgeführt, im Fokus. In ihrer Studie arbeitet Kunne, wie schon im Titel deutlich wird, trotz der ideologischen Belastung des Begriffes mit der Gattungsbezeichnung des Heimatromans. Dabei beschäftigt sie sich mit dem Heimatroman der Nachkriegszeit, den sie Fowlers Phasen der Genre-Evolution folgend als dritte Phase annimmt

72 Vgl. Mecklenburg, Provinz, S. 16. 73 Vgl. ebda S. 15. 74 Vgl. ebda S. 12. 75 Ebda S. 10. 76 Mecklenburg, Inseln, S. 51. 77 Vgl. Kunne, Transformationen, S. 9. 15 (siehe auch Kapitel 2.4). Dabei schließt sie Texte der folgenden Ausprägungen aus ihrem Textkorpus aus: „Denn während die Elemente ‚Kulturkritik‘, ‚Herkunfts-‘ bzw. ‚Kindheitswelt‘ Thema verschiedener Gattungen sein können, geht es uns um die Beschreibung der formalen und inhaltlichen Transformationen der einen Gattung Heimatroman.“78

Der Ausschluss von Texten, die sich mit Heimat im Sinne von Kindheitswelt auseinandersetzen sowie auch solche, die vom Aspekt Kulturkritik geprägt sind, soll in der vorliegenden Arbeit dezidiert nicht vorgenommen werden. Der von Kunne verwendete Begriff des ‚Heimatromans‘ erweist sich daher als zu eng, um die im Rahmen der Analyse behandelten Romane zu umfassen. Mit einem weiter gefassten Verständnis von regionalem Erzählen, das in dieser Arbeit als ‚Provinz- roman‘ tituliert werden soll, ergibt sich naturgemäß das Problem der Abgrenzung zu anderen Gattungen. Rölcke weist darauf hin, „dass der Provinzroman als Genre nicht klar umrissen ist, allzu oft überschneidet er sich mit dem Familienroman, dem Geschichts- und Herkunftsroman oder eben mit dem Kriminalroman.“79 Diese Überschneidungen werden im zweiten Teil dieser Arbeit in der exemplarischen Analyse von Romanen thematisiert. Auch Mecklenburg entscheidet sich gemäß seiner Fokussierung auf Regionalismus und Moderne dafür, die Frage nach „poetologischen und historischen Bestimmungen dieses Genres“ nicht in den Mittelpunkt zu rücken, „als gerade solche Romane exemplarisch analysiert werden sollen, deren Struktur Provinz und Regionalität zwar bestimmen, die sich gleichwohl gegen eine Reduktion auf Provinzromane sperren, weil sie von einer Spannung von dargestellter Provinz und Modernitätsanspruch geprägt sind.“80 In dieser Arbeit soll unterdessen in Kapitel 4 der Versuch unternommen werden, festzuhalten, welche Ausprägungen die Gattung des Provinzromans in der Gegenwartsliteratur zu beobachten sind, um damit eine Basis für die anschließende Analyse zu schaffen.

3.1 Ein neuer Heimatbegriff?

In den 1970er Jahren begann mit Ina-Maria Greverus Veröffentlichungen Der territoriale Mensch81 und Auf der Suche nach Heimat82 etwas, das von Helge Drafz in seinem 1993 erschienenen Aufsatz Heimatkunde als Weltkunde als „Enttabuisierung des Heimatbegriffs“ bezeichnet wird und das ihm

78 Vgl. ebda S. 15. 79 Rölcke, Konstruierte Enge, S. 119. 80 Mecklenburg, Provinz, S. 8. 81 Ina-Maria Greverus: Der territoriale Mensch. Ein literaturanthropologischer Versuch zum Heimatphänomen. Frankfurt a. M.: Athenäum 1972. 82 Ina-Maria Greverus: Auf der Suche nach Heimat. München: C. H. Beck 1979. (=Beck'sche Schwarze Reihe. 189.) Im Folgenden zitiert als: Greverus, Heimat. 16 zufolge „durch die aus dem linken Milieu erwachsene Alternativbewegung stetig befördert“83 wird. Worum es in Der territoriale Mensch geht, sei an dieser Stelle kurz mit Greverus eigenen Worten umrissen:

Als ich 1972 ein Buch über das Heimatphänomen unter dem Titel „Der territoriale Mensch“ veröffentlichte und dabei von einer ethologischen Definition des Territoriums als Raum des „Besitz- und Verteidigungsverhaltens“ ausging, stand die Frage nach einem auch für den Menschen notwendigen Raum dahinter, in dem seine Bedürfnisse nach Identität, Sicherheit, Aktivität und Stimulation erfüllt werden.84 Damit steht klarerweise der Begriff ‚Heimat‘ im Raum, den Greverus als in der Öffentlichkeit vielfach verwendet, aber als ideologieanfällig bezeichnet. Dagegen würde der Begriff der menschlichen Territorialität von verschiedenen Wissenschaftszweigen diskutiert, wobei die Frage nach der Bedeutung von Raum für den Menschen der zentrale Aspekt sei.85 Menschliche Rauman- sprüche sind dabei ein die Identität des Menschen konstituierendes Moment, das im Laufe der Geschichte unterschiedlichen Entwicklungen ausgesetzt war:

Wenn ich den Begriff Heimat allerdings als eine auch mögliche Bezeichnung für menschliche Raumansprüche sehe, steht dahinter die Frage nach einem den Menschen konstituierenden Potential, das im Verlauf seiner historischen Entwicklung Verstärkung und Anwendung, aber auch Verkümmerung und Unterdrückung erfahren hat, aber immer als eine Forderung, ein Gebot, ein Imperativ des Menschseins bestehen bleibt.86 Für die aktuelle Ausprägung des Heimatbegriffs und die damit verbundenen Konsequenzen wird von Greverus weiters folgendes Fazit gezogen: In den Industriegesellschaften wird der Heimat- begriff einerseits auf ein historisches Relikt, andererseits auf „raumunabhängige, ichbestätigende soziale Interaktionen“ reduziert, wodurch eine „Enteignung des Menschen von Heimat als produktiver Umweltteilhabe“87 deutlich wird. Wie bereits eingangs erwähnt, schlägt mit Greverus die Beschäftigung mit dem Heimatbegriff eine neue Richtung ein, die auch mit einer Ent- tabuisierung einhergeht. Im Folgenden sollen nun auf Greverus aufbauend einige Ansätze eines gegenwärtig aktuellen Heimatbegriffs und die sich damit für die erzählte Provinz ergebenden Konsequenzen diskutiert werden.

Im Rahmen des 12. internationalen Germanistenkongresses 2010 in Warschau wurde unter dem Titel Post/Nationale Vorstellungen von ‚Heimat‘ in deutschen, europäischen und globalen

83 Helge Drafz: Heimatkunde als Weltkunde. Provinz und Literatur in den achziger Jahren. In: Neue Generation – Neues Erzählen. Deutsche Prosa-Literatur der achtziger Jahre. Hrsg. v. Walter Delabar. Opladen: Westdeutscher Verlag 1993. S. 80. Im Folgenden zitiert als: Drafz, Heimatkunde. 84 Greverus, Heimat, S. 23. 85 Vgl. ebda S. 28. 86 Ebda S. 27. 87 Ebda S. 28. 17 Kontexten über den Heimatbegriff reflektiert. Im Folgenden sollen zwei Aufsätze daraus zum Thema gemacht werden, da sie aufgrund ihrer globalen Perspektive und ihrer Aktualität in besonderem Maße dafür geeignet scheinen, sich einem neuen Heimatbegriff anzunähern. So beschäftigt sich die indische Wissenschaftlerin Neeti Badwe in ihrem Aufsatz Spannungsfeld Heimat mitunter mit der Aktualität der Begriffe ‚Heimat‘ und ‚Heimatliteratur‘ in der virtuell vernetzten Welt.88 Dabei kommt sie zu dem Schluss, dass sich die geopolitische Vorstellung von Heimat immer mehr zu verwischen scheint. Dabei spielt die Digitalisierung der Kommunikations- medien eine gewichtige Rolle, was Badwe zufolge zusammen mit ökonomischen und demo- graphischen Entwicklungen dazu führt, dass der Heimatbegriff immer weiter deterritorialisiert wird.89 Im selben Rahmen stellte der in Kalamazoo tätige Peter Blickle unter dem Titel Der neue Heimatbegriff folgende Überlegungen an:

‚Heimat‘ ist beweglich geworden. ‚Heimat‘ ist individuell geworden. ‚Heimat‘ überrascht. Gleich geblieben sind einige der der Binäroppositionen, aus denen heraus sich ‚Heimat‘ konstituiert: Fremde und Nähe, Selbstentfremdung und Bei-sich-sein, gestern und heute. Nicht mehr konstitutiv im Vergleich zum traditionellen Heimatbegriff sind allerdings ein idealisiertes Weiblichkeitsbild, ein räumlich empfundenes Gruppenzugehörigkeitsgefühl und ein überhöhtes Ursprünglichkeits- und Authentizitätsverlangen.90 Damit wird unter anderem wieder darauf hingewiesen, dass die räumliche Dimension des Heimatbegriffs an Bedeutung verloren hat, worauf schon Greverus mit dem Verweis auf die Reduzierung des Begriffs auf „raumunabhängige, ichbestätigende soziale Interaktionen“91 hinge- wiesen hat. Auch in Badwes Ausführungen spielt dieses Moment, wie oben erläutert, eine Rolle. Interessant ist auch der Verweis auf ein idealisiertes Weiblichkeitsbild im Zusammenhang mit dem Heimatbegriff. In seinen weiteren Ausführungen konkretisiert Blickle diese Aussage, indem er auf die Gleichsetzung der Qualitäten einer als ideal angenommenen Heimat mit den Qualitäten eines idealisierten Bildes von Weiblichkeit oder Mutterschaft hinweist, die bis in die 1960er Jahre vorherrschte. Ein aktueller Heimatbegriff würde ihm zufolge allerdings auch männliche und/oder väterliche Qualitäten beinhalten.92 Der Gegenbegriff zu dieser ‚Mutter Heimat‘ war die Vorstellung

88 Vgl. Neeti Badwe: Spannungsfeld Heimat: Zwischen geopolitischer Vorstellung und virtueller Vernetzung. In:In: Vielheit und Einheit der Germanistik weltweit. Akten des XII. Internationalen Germanistenkongresses Warschau 2010. Hrsg. v. Franciszek Grucza. Frankfurt a. M. u.a.: Lang 2012. (=Publikationen der internationalen Vereinigung für Germanistik. 9.) S. 23-27. 89 Vgl. ebda S. 27. 90 Peter Blickle: Der neue Heimatbegriff. In: Vielheit und Einheit der Germanistik weltweit. Akten des XII. Internationalen Germanistenkongresses Warschau 2010. Hrsg. v. Franciszek Grucza. Frankfurt a. M. u.a.: Lang 2012. (=Publikationen der internationalen Vereinigung für Germanistik. 9.) S. 41. Im Folgenden zitiert als: Blickle, Heimatbegriff. 91 Greverus, Heimat, S. 28. 92 Vgl. Blickle, Heimatbegriff, S. 43.

18 vom ‚Vater Staat‘ oder ‚Vaterland‘. Auch er ist im Rahmen der Entnationalisierung des Heimat- gefühles vom Verschwinden betroffen.93

Die einfache, unkritische Übernahme eines Gefühls der Zugehörigkeit zu einem Staat spielt für einen aktuellen Heimatbegriff also keine so bedeutende Rolle wie zu anderen Zeiten, das gilt ebenso für die Zugehörigkeit zu einer Familie oder anderen sozialen Gruppe oder zu einem Raum in Form einer Stadt oder Region.94 Wenn all das nun nicht mehr konstitutiv für einen neuen Heimatbegriff ist, mit welchen Bedeutungen kann dieser dann gefüllt werden? Für Blickle geschieht dies durch die Annahme „einer innerlich empfundenen flexiblen, offenen Identität, in der sich Herausforderungen und Krisen der Gegenwart ebenso widerspiegeln wie ein jeweils gefühltes Zugehörigkeitsmoment zu einer oder verschiedenen Gruppen“.95 Damit geht eine Räumlichkeit einher, die mehr in der Imagination angesiedelt ist. Sie macht es allerdings schwierig, die eigene, individuelle Heimatvorstellung mit der eines anderen Menschen, die wiederum individuell ist, teilen zu können. Das Ich, das den Heimatvorstellungen zugrunde liegt, ist dabei ebenso als wandelbar und keineswegs statisch zu denken. Damit kann es sich selbst im Laufe der Zeit fremd werden. Diese innere Fremde ist für Blickle selbst Teil der neuen Vorstellung von Heimat.96 Eine innerliche Fremde verspürt auch der Protagonist Meiler in Juli Zehs Roman Unterleuten angesichts seiner ‚Heimat‘, einer Villa am Rande der Stadt, die er nunmehr allein bewohnt:

Meiler dachte an Ingolstadt, an seine geräumige Villa am Stadtrand. Ein Sohn nach dem anderen war ausgezogen und auch Mizzie lebte nicht mehr dort. Die Türen der vielen Zimmer hielt er geschlossen, weil er ohnehin nur Küche, Schlafzimmer und Bad benutzte. Wenn er die Augen schloss, konnte er ganz deutlich den Klang seiner Schritte im stillen Flur hören, und dann musste er die Augen aufreißen und an etwas anderes denken. (U 64f) Das Haus, obwohl er es seit Jahren bewohnt, ist ihm fremd geworden, nur schwer kann er die vielen menschenleeren, leblosen Zimmer ertragen. Als er nach Unterleuten fährt, um seinen bei einer Auktion erworbenen Grundbesitz in Augenschein zu nehmen, empfängt ihn wiederum ein für ihn fremder Ort mit einer Art Vertrautheit: „Während er stand und schaute, breitete sich ein Wort in ihm aus: Heimat. Unterleuten war nicht seine Heimat, er hatte nicht einmal Verwandte in der Region. Aber Unterleuten sah aus wie etwas, das man Heimat nennen konnte.“ (U 64) Es fällt an dieser Stelle leicht, sich Meiler als jemanden vorzustellen, der auf der Suche nach Heimat ist. Ina-Maria Greverus hält in ihrem Buch, das eben Auf der Suche nach Heimat als Titel trägt, Nachstehendes fest:

93 Vgl. ebda. 94 Vgl. ebda S. 44. 95 Ebda. 96 Vgl. ebda. 19 Die Identität des Menschen bedeutet nicht nur, daß er in Vergangenheit und Zukunft denken kann oder sich in einer sozialen Dimension verwirklicht, sondern auch, daß er sich aktiv einen Raum aneignet, ihn gestaltet und sich in ihm „einrichtet“ – das heißt zur Heimat macht.97 Meiler macht sich sein Haus nicht (mehr) zur Heimat, er eignet sich diesen Raum nicht (mehr) aktiv an. Seine Familie ist von Auflösungserscheinungen betroffen, damit steht das Zugehörigkeitsgefühl zu ihr in Frage. Das wiederum lässt an Greverus Worte von einer „Enteignung des Menschen von Heimat als produktiver Umweltteilhabe“98 denken. Hinsichtlich des in diesem Kapitel diskutierten, in vielerlei Hinsicht individuellen und wandelbaren, die Fremde mitdenkenden Heimatbegriffs scheint es möglich, dass die literarische Beschäftigung mit Heimat vielfach eine Reaktion auf und ein Experimentieren mit ebendiesem neuen Heimatbegriff darstellt.

4 Erzählte Provinz in der Gegenwart

Mecklenburgs Monographie Erzählte Provinz aus dem Jahr 1982 gilt bis in die Gegenwart als maßgeblich99 und definiert den ihr zu Grunde liegenden Gegenstand folgendermaßen: „Regionale Romane sollen solche heißen, für deren Konzeption und Struktur Regionalität maßgebende Bedeutung hat.“100 Die Provinz soll dabei eben kein bloßer Dekor, sondern für den Roman essentiell sein.101 Es scheint sinnvoll, sich mit dieser Definition im Hinterkopf näher an zwei fundamentale Fragen heranzuwagen: Einerseits die Frage, was den Provinzroman der Gegenwart ausmacht, andererseits, was ihm zu seiner Beliebtheit verhilft. Dazu soll zunächst Rölckes in Konstruierte Enge vorgeschlagener Bauplan für einen idealen Provinzroman thematisiert werden, der sich auf Mecklenburgs Raumpoetik von Provinzromanen und eine typologische Untersuchung von bisherigen Romanproduktionen aus diesem Bereich stützt. Der Ausgangspunkt eines ideal- typischen Provinzromans ist demnach ein kleiner Ort und eine überblickbare Anzahl an Figuren.102 Für dessen Lage trifft Rölcke folgende Differenzierung:

Je nach Anteil der zu verwertenden Regional- oder Weltgeschichte käme eine abgewickelte ostdeutsche Industrieregion oder ganz allgemein die ostdeutsche Provinz in Frage. Westdeutschland dagegen eignet sich besonders zur Fokussierung auf biographische Wandlungen. Der Ort muss als Raum der Ordnung statuiert werden, als Rahmen, in dem die Dinge auf ihrem Platz stehen, die sozialen Zuordnungen stimmen.103

97 Greverus, Heimat, S. 28. 98 Ebda. 99 Vgl. Rölcke, Konstruierte Enge, S. 118. 100 Mecklenburg, Provinz, S. 8. 101 Vgl. ebda S. 12. 102 Vgl. Rölcke, Konstruierte Enge, S. 120. 103 Ebda. 20 In diesen Raum, in dem die Zeit stillzustehen scheint, passiert nun eine Irritation, eine Kon- frontation mit einem Ereignis, das in diesem Kontext fremd erscheint. Dabei kann eine objektiv betrachtet harmlose Irritation umso drastischer wirken, je engstirniger, kleiner sowie behüteter der jeweilige Kontext sich präsentiert.104 Auf den Einbruch dieser bedrohlich wirkenden Irritation folgt nun die Reaktion: „der Zusammenbruch, das Auseinanderfallen des Bestehenden, die Auflösungser- scheinungen mit anschließender Neusortierung und -orientierung.“105

Für die Poetik des Provinzromans prägend ist seit jeher die Differenz zwischen Heimat und Fremde. Während sich diese Mecklenburg zufolge im traditionellen Heimatroman in einem Weggehen aus der Heimat in die Fremde und der anschließenden Rückkehr in die Heimat manifestiert,106 verläuft die Bewegung im modernen Provinzroman vielfach umgekehrt, indem ein episodischer Ausflug in die Heimat erfolgt: „Heimat erscheint als etwas, wohin man sich erst aufmachen muß und wo man nicht bleiben kann.“107 Damit verknüpfen lässt sich Rölckes Feststellung, dass sich in den regionalen Romanen der Gegenwart, „die Provinz als Ort der Kindheit, der bestimmenden sozialen Prägungen und ersten Urteile, Weltbewertung und Lebensorientierung“ präsentiert, die es „zu beschreiben und aufzuheben“108 gilt. Vielfach tragen solche Romane autobiographische Züge. Die Protagonisten sehen sich darin nach und nach mit der Erkenntnis von der Brüchigkeit der Welt konfrontiert.109

In der von Mecklenburg thematisierten Opposition von offener und geschlossener Provinz110 würden die oben geschilderten Ausprägungen des Reisemotivs zur Offenheit tendieren. Für Provinzromane mit geschlossenem Raum lassen sich mit der Idyllisierung bzw. der Dramatisierung zwei gegensätzliche Ausprägungen feststellen,111 die sich mit dem Gegensatz „Paradies oder Gefängnis“112 kurz umreißen lassen. Um der gegenwärtigen Beschaffenheit der Provinz Genüge zu tun, müssen realistische Romane der Gegenwart den Weg der Offenheit wählen, sofern sie nicht in Pseudorealismus abgleiten wollen, da einerseits ein ausschließliches Verharren am Herkunftsort heute biographisch schwer vorstellbar ist und andererseits der Gegensatz zwischen Stadt und Land immer mehr verblasst.113 Trifft diese Feststellung schon Mecklenburg 1986 in Grüne Inseln, so

104 Vgl. ebda. 105 Ebda S. 121. 106 Vgl. Mecklenburg, Inseln, S. 39. 107 Ebda. 108 Rölcke, Konstruierte Enge, S. 118. 109 Vgl. ebda. 110 Vgl. Mecklenburg, Provinz, S. 45-50. 111 Vgl. ebda S. 46. 112 Mecklenburg, Inseln, S. 41. 113 Vgl. ebda. 21 scheint sich dieses Verblassen in den seitdem vergangenen 30 Jahren noch deutlich beschleunigt zu haben. Darum wird dem Verschwinden des Stadt-Land-Gegensatzes und seinen Konsequenzen für den Provinzroman in dieser Arbeit ein eigenes Kapitel (4.1) gewidmet.

Der Bedeutungsverlust des Stadt-Land-Gegensatzes hat die Produktion von Provinzromanen keineswegs gebremst, vielmehr hält Rölcke für die Jahre nach der Jahrtausendwende folgendes fest: „Im Fortlauf der Jahre scheint das Verfassen von Provinzromanen exponentiell zugenommen zu haben.“114 Für Rölcke gilt es zwar abzuwarten, inwiefern die Provinzromane der vergangenen Jahre einen Platz in der Literaturgeschichtsschreibung beanspruchen können werden. Eine Zunahme der Beschäftigung mit Provinz steht für ihn aber außer Zweifel, wobei sich neben Romanen auch Sachbücher dieser Thematik angenommen haben.115 Weiters ist auch die enorme Zahl an Regionalkrimis zu beachten, die derzeit sowohl in der Literatur als auch im Film augenscheinlich wird. Für Rölcke gleicht die Bauweise von Kriminalromanen in bestimmten Aspekten der des Provinzromans, indem „in einem geschlossenen Raum mit einem überschaubaren Figurenensemble […] außerordentliche Dinge“116 passieren. Carsten Gansel hält dazu in seinem Aufsatz Zur Inszenierung des Dörflichen als Ursache für die Beliebtheit des Dorfes im deutschen Fernsehkrimi fest, dass sich „im Raum des Dorfes […] zwischen den Traditionen, Ritualen, überkommenen Werten, Familienbeziehungen eben gerade auch aus dem Gedächtnis verdrängte Traumata finden.“117 Grundsätzlich erweist sich die Abgrenzung von Provinzroman zu Provinzkrimi mitunter als schwierig. Weiters überschneidet sich das Genre des Provinzromans auch mit jenem des Familien-, Geschichts- und Herkunftsromans.118 Diese Genre-Überschneidungen sollen im Rahmen der Einzelanalysen weiterführend mit Beispielen illustriert werden.

Die meisten Provinzromane der letzten Jahre arbeiten Rölcke zufolge mit dem „Topos von der Provinz als Weltmodell.“119 Dies kann entweder durch direkte Thematisierung geschehen, oder auch ohne diese implizit wahrnehmbar werden. An dieser Stelle soll kurz darauf eingegangen werden, welche vier Möglichkeiten der Repräsentation von Welt durch die erzählte Provinz Mecklenburg erläutert: Erstens kann die Repräsentation erfolgen, indem die Provinz die Welt, die in diesem Fall unter bestimmten Aspekten als homogen aufgefasst wird, bezeichnet. Zweitens kann sie in Form einer Modell-Relation größere Systeme wie Staat oder Gesellschaft bezeichnen. Drittens kann sie als Gegen-Welt aufgefasst werden, hinzuweisen wäre hier auf den Stadt-Land-Gegensatz, und

114 Rölcke, Konstruierte Enge, S. 116. 115 Vgl. ebda S. 117. 116 Ebda S. 118. 117 Gansel, Landschaften, S. 219. 118 Vgl. Rölcke, Konstruierte Enge, S. 119. 119 Ebda S. 121. 22 viertens kann sie einen Welt-Ausschnitt darstellen, was dazu führt, dass die Darstellung der Provinz als offen erfolgen muss.120

In Hinsicht auf aktuelles Erzählen von Provinz geht Rölcke folgendermaßen ins Detail: „Die Provinz ist quasi die Essenz der Welt, hier werden die Erfahrungsräume maximal genutzt und mit Sinn versehen, in ihr kann man unmittelbar erleben, dass das Paradies zugleich die Hölle sein kann.“121 Diese Hölle im Paradies wird in Juli Zehs Roman Unterleuten gleich zu Beginn thematisiert, als die von Berlin nach Unterleuten gezogene Familie Fließ von ihrem Nachbarn drangsaliert wird, indem dieser an der Grundstücksgrenze Autoreifen verbrennt. Das Paradies, das Gerhard und Jule mit ihrem Baby Sophie in Unterleuten zu finden glaubten, wandelt sich zum Albtraum. In der Figurenrede lassen Worte wie ‚Hitze‘, ‚Gestank‘ oder die Degradierung des Nachbarn zum ‚Tier‘ deutliche Assoziationen mit ‚Hölle‘ aufkommen: „»Das Tier hat uns in der Hand. Das ist noch schlimmer als Hitze und Gestank.« Jule schaute auf. »Ich halte das nicht mehr aus.«“ (U 9)

In Imaginationsraum Dorf bezeichnen Werner Nell und Marc Weiland das erzählte Dorf im hier erläuterten Zusammenhang als Laboratorium: „Gerade die literarischen und filmischen Konstruk- tionen des Dörflichen erscheinen und fungieren dabei […] als Laboratorien, in und mit denen gesellschaftliche Aushandlungsprozesse unter erkenntnistheoretischen und lebenspraktischen Per- spektiven vollzogen werden.“122 Diese Labor-Funktion des Dörflichen kann auf verschiedenste Weise genutzt werden, etwa indem, wie weiter oben beschrieben, der Mauerfall aus der Perspektive der ostdeutschen Provinz verhandelt wird. Die Bedeutung der Wende für die gegenwärtige Produktion von Provinzromanen soll ausführlicher im anschließenden Unterkapitel thematisiert werden. Jedenfalls könnte die angesprochene Labor-Funktion mitunter für die derzeitige Beliebtheit von regionalen Sujets verantwortlich sein. Mecklenburg stellte für sie schon 1986 in Grüne Inseln eine „unverhältnismäßige und darum erklärungsbedürftige Häufigkeit“123 fest. Seine These dazu ist, „daß solche Sujets einer verbreiteten Verwertungsästhetik entgegenkommen, die eine moderne Abart jener Richtung idealistischer Ästhetik darstellt, welche die Beziehung zwischen Material und Formung nur als Herrschaftsverhältnis zu denken vermochte.“124 Demzufolge werde die darzu- stellende Wirklichkeit zu einem reinen Material gemacht, indem sie ihrer vorästhetischen Bedeutung entledigt werde und als solches Material einfach mit ästhetischen Bedeutungen

120 Vgl. Mecklenburg, Provinz, S. 38f. 121 Rölcke, Konstruierte Enge, S. 121. 122 Nell/Weiland, Imaginationsraum, S. 20. 123 Mecklenburg, Inseln, S. 9. 124 Ebda. 23 aufgeladen werden könne.125 Auch wenn diese Degradierung der Provinz zu reinem Material angezweifelt werden kann, so kommt auch Rölcke zu dem Fazit, dass für den Provinzroman nach 1989 vielfach gilt, dass er über eine mimetische Abbildung der Welt hinausgeht. In vielen Fällen werden in Provinzromanen ästhetische, politische und philosophische Fragestellungen ver- handelt.126 Am Ende gilt also im Hinblick auf viele Provinzromane nach 1989: „Die Antworten auf die für die Welt relevanten Fragen sind in der Provinz zu finden.“127

Damit alleine lässt sich die vielfache Hinwendung zur Provinzliteratur allerdings noch nicht erklären. In seinem Aufsatz Heimatkunde als Weltkunde über Provinz und Literatur in den 1980er Jahren hält Helge Drafz hinsichtlich der Voraussetzungen fest: „Die thematische Orientierung der neuen »Provinz«-Literatur der achtziger Jahre ist nur zu verstehen vor dem Hintergrund der gesellschaftspolitischen und kulturellen Entwicklungen in Folge der 68er-Bewegung.“128 Hier wurzeln die Bürgerinitiativen, deren Reformbestrebungen sich vor allem auf ihre eigene Lebenswelt bezogen. Das entstehende kulturelle Milieu definierte sich durch den Widerstand gegen die voranschreitende Anonymisierung im Zusammenhang mit der Herrschaft einer computergestützten Bürokratie sowie durch ein steigendes Bewusstsein für ökologische Probleme.129 In diesem Zusammenhang ist auf das Buch des Wirtschaftswissenschaftlers Ernst Friedrich Schumacher hinzuweisen, in dessen Titel Small is beautiful. Die Rückkehr zum menschlichen Maß130 Drafz den treffendsten Slogan zur entstehenden Alternativbewegung sieht. Das Streben nach Überschaubarkeit von Lebens- und Wirtschaftszusammenhängen, nach Naturschutz und einem auf Dauerhaftigkeit ausgerichteten Lebensstil musste Drafz zufolge damit einhergehen, die Provinz und/oder das Dorf als Lebensraum in den Blick zu fassen. Als Fazit hält er fest: „In dem Maße, wie in diese Prosaliteratur autobiographische Aspekte einflossen und die Schilderung authentischer (vergangener wie auch gegenwärtiger) Lebenswelten einen Bedeutungszuwachs erfuhr, konnte in Deutschland eine neue Form der »Provinz«-Literatur entstehen.“131

Sowohl autobiographische Aspekte als auch die Schilderung authentischer Lebenswelten, seien sie nun vergangen oder gegenwärtig, scheinen bis in die Gegenwart im Zusammenhang mit erzählter Provinz beliebt zu sein. Hinsichtlich des autobiographischen Moments drängt sich ein Hinweis auf Andreas Maiers Projekt einer literarischen Ortsumgehung förmlich auf und wird im zweiten Teil

125 Vgl. ebda S. 9. 126 Vgl. Rölcke, Konstruierte Enge, S. 138. 127 Ebda. 128 Drafz, Heimatkunde, S. 78f. 129 Vgl. ebda S. 79. 130 Ernst-Friedrich Schumacher: Small is beautiful. Die Rückkehr zum menschlichen Maß. 2. Aufl. Reinbek: Rowohlt 1982. 131 Ebda S. 80. 24 dieser Arbeit auch unter diesem Aspekt zu betrachten sein. Die Schilderung einer vergangenen Lebenswelt über mehrere Generationen hinweg und mit einer beeindruckenden Hinwendung zu Details nimmt der österreichische Autor Reinhard Kaiser-Mühlecker in Roter Flieder vor, das ebenso im zweiten Teil der Arbeit einer Analyse unterzogen wird.

4.1 Der Mauerfall als Apriori des gegenwärtigen deutschen Provinzromans

Weiter oben wurde bereits darauf hingewiesen, dass sich im gegenwärtigen deutschen Provinz- roman die Tendenz dazu findet, die „zu verwertende[n] Regional- oder Weltgeschichte“132 in Dörfern der ostdeutschen Provinz abzuhandeln. In Juli Zehs Roman geschieht dies vor dem Schauplatz des ostdeutschen Dorfes Unterleuten vor allem durch die Kontrahenten Gombrowsik und Kron. Die gegensätzlichen Positionen der beiden seien hier durch zwei Zitate illustriert. Für den Großgrundbesitzer Gombrowski steht Jahre nach dem Mauerfall Folgendes fest:

Jeder Landbewohner wusste von Anfang an, dass die DDR ein schwachsinniges System darstellte. Die Partei, nach deren Pfeife man plötzlich zu tanzen hatte, war aus den Städten hervorgegangen. Ihr Führungspersonal, in Moskau geschult, verstand wenig vom Landleben und noch weniger von der Landwirtschaft. Mangelnde Kenntnisse versuchten Ulbricht und Konsorten durch die Anwendung marxistisch-leninistischer Theorien zu kompensieren. Aber die Natur zeigte sich wenig empfänglich für kommunistische Weltbilder. (U 95) Der aus einer Familie von Kleinbauern stammende Kron positioniert sich demgegenüber voll- kommen gegensätzlich und gerät darüber immer wieder in Konflikt mit seiner Tochter Kathrin:

Wenn sie Streit hatten, schimpfte Kathrin ihn einen unbelehrbaren Kommunisten. Sie glaubte tatsächlich, wer E-Mails schreiben konnte, im Urlaub nach Thailand fuhr und den entfesselten Kapitalismus als alternativlos betrachtete, habe das 21. Jahrhundert verstanden. Seit Beginn der Finanzkrise, die vollumfänglich Krons jahrelangen Ankündigungen entsprach, gab sich Kathrin ein wenig kleinlauter, ging aber noch lange nicht so weit, ihrem alten Vater recht zu geben. Stattdessen warf sie ihm vor, dass er zwanzig Jahre nach der Wende noch immer nicht begriffen habe, was Freiheit sei. (U 106f) Entlang der sich aus diesen gegensätzlichen Positionen ergebenden Opposition entwickelt sich im Laufe des Romans ein das ganze Dorf einbeziehender Konflikt. Immer wieder wird aus dem Blickwinkel dieser beiden sowie weiterer Figuren auf die DDR, deren Ende und die aktuelle Situation des Dorfes geblickt.

Die von Friedrich Kittler stammende These, dass es sich bei der geschichtlichen Vorbedingung für die im 19. Jahrhundert entstandenen deutschen Heimatromane um die Befreiungskriege handelt

132 Rölcke, Konstruierte Enge, S. 120. 25 sowie für die modernen Heimatromane der Zweite Weltkrieg die Vorbedingung stellte,133 wurde von Rölcke für die Provinzromane der Gegenwart erweitert: „In Fortsetzung dazu ließe sich der Fall der Mauer als Apriori zumindest des aus ostdeutscher Feder stammenden gegenwärtigen Heimat- und Provinzromans verstehen.“134 Auch wenn es sich beim Mauerfall nicht um eine Auseinandersetzung kriegerischer Art handelt, liegt dennoch mit der Auflösung von Grenzen und eines ganzen Staatenblocks eine massive Veränderung vor, die gesellschaftliche Schocks, seien es bewusste oder unbewusste, auszulösen vermochte.135 Diese wiederum finden nun ihren Niederschlag in der Gegenwartsliteratur, wie das obige Beispiel eines sehr aktuellen Romans illustriert. Die DDR präsentierte sich Rölcke zufolge in vielerlei Hinsicht als idealtypische Provinz:

Das Abschotten der DDR gegenüber der restlichen, der kapitalistischen Welt, die aus Sicht des Sozialismus an allen Krankheiten der Moderne litt, die vom System proklamierte, sich aber als Suggestion erweisende Wahrheit, in der DDR sei alles in Ordnung und die sozialistische Welt sei die einzig richtige, die Ausblendung aller fremden, der Ordnung zur Bedrohung werdenden ‚Elemente‘, die Überwachung durch den Nachbarn, die Angst vor Veränderung, die brutale Aufrechterhaltung eines scheinbaren Idylls – all das sind Elemente einer Definition von Provinz.136 Mit dem Mauerfall trafen nun zwei Provinzen aufeinander, dabei ging für die Bewohner der DDR ihre Provinz verloren. Für junge AutorInnen aus der DDR bedeutete der Verlust von ihrer Provinz und allem Prägenden einen Bruch in ihren Biographien. Auf westdeutscher Seite scheint dies vordergründig nicht zuzutreffen, dennoch mussten die Positionen auch hier eine neue Definition erfahren, verloren doch Oppositionen wie gut/böse oder Täter/Opfer ihre Eindeutigkeit.137

Die Produktion von regionalen Romanen setzte, von einigen Ausnahmen abgesehen, erst gegen Ende der 90er Jahre ein, was für Rölcke an einem Nachwendeschock liegt.138 Auch vor der Wende nahm die Inszenierung des Dörflichen in der sozialistischen Literatur einen nicht unwesentlichen Stellenwert ein. Einige Tendenzen seien hier in aller Kürze wiedergegeben. So sollte in den 50ern etwa „das Dorf als positives Zukunftsmodell“139 dargestellt werden. In den 60ern lässt sich eine Tendenz feststellen, die sich in Erwin Strittmatters Ole Bienkopp manifestiert: Im Dorf versucht der Held, seine auf gesellschaftliche Entwicklung gerichteten Ansprüche gegen die Partei durchzusetzen.140 In den 70er Jahren fanden dann wiederum die neuen Vorstellungen von

133 Friedrich A. Kittler: De Nostalgia. In: Literatur und Provinz. Das Konzept Heimat in der neueren Literatur. Hrsg. v. Hans-Georg Pott. Paderborn u.a.: Schöningh 1986. S. 161. 134 Rölcke, Konstruierte Enge, S. 114. 135 Vgl. Rölcke, S. 114. 136 Ebda. 137 Vgl. ebda S. 115. 138 Vgl. ebda. 139 Gansel, Landschaften, S. 211. 140 Vgl. ebda S. 212. 26 Sozialismus am Lande ihren Niederschlag in der Literatur, bevor schließlich in den 80ern die Zerstörung der Umwelt und des Gemeinwesens des Dorfes ein zentrales Thema in der Literatur wird.141

4.2 Der österreichische Anti-Heimatroman

Wie bereits in Kapitel 2.4 erläutert, wendet Andrea Kunne die von Alastair Fowler vorgeschlagenen Phasen der Genre-Evolution auf den Heimatroman an.142 Dabei nimmt sie als dritte Phase die von ihr als solche bezeichneten Nachkriegstransformationen des Heimatromans an. In diesem Zu- sammenhang erläutert sie drei Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit der vorangegangenen, entweder ideologisch belasteten oder trivialen Heimatliteratur.143 Es handelt sich dabei um „Totschweigen, explizite Kritik und kritisch-kreative Um-Schreibung“.144 Die österreichische Nach- kriegsliteratur reagierte vor allem auf letztere Art. Als ersten Roman, der sich kritisch mit dem Thema Heimat auseinandersetzt, nennt Kunne Hans Leberts Die Wolfshaut.145

Indem die Geschlossenheit der Provinz sie als ausweglos und damit mitunter alptraumhaft erscheinen lässt, wird sie zum Gefängnis.146 Für diese Strömung, vor allem im Zusammenhang mit einer Thematisierung des Nationalsozialismus, wie im beim bereits erwähnten Die Wolfshaut oder in Deutschstunde von , fällt bei Mecklenburg die Bezeichnung 'Anti-Heimat- roman'.147 Damit wird deutlich, dass er den Terminus nicht ausschließlich auf österreichische AutorInnen bezieht. Der Begriff ‚Anti-Heimatroman‘ wurde geprägt von Jürgen Koppensteiner,148 der folgende Definition dafür vorschlägt:

Als Anti-Heimatliteratur ist jene Heimatliteratur zu verstehen, in der man zwar wohl die Gestalten und Requisiten der traditionellen, oft sentimental-kitschigen Heimatliteratur findet, also Bauern, Knechte und Mägde, den Bauernhof, das abgelegene Tal, Berge, Bäche, den Wald usw., die aber keine Heimatbezüge im traditionellen Sinn aufweist. Es geht also nicht um Liebe zur Heimat, um die Harmonie des ländlichen Lebens, um Brauchtum oder Abwehr einer feindlichen, meist städtischen Gegenwelt. Anti Heimatliteratur will vielmehr negative Zustände in der Heimat, im ländlich-bäuerlichen Milieu, aufdecken.149

141 Vgl. ebda S. 214f. 142 Vgl. Kunne, Transformationen, S. 11f. 143 Vgl. ebda S. 103-105. 144 Ebda. 145 Vgl. ebda. 146 Vgl. Mecklenburg, Provinz, S. 48. 147 Vgl. ebda. 148 Vgl. Kunne, Transformationen, S. 16f. 149 Jürgen Koppensteiner: Anti-Heimatliteratur: Ein Unterrichtsversuch mit Franz Innerhofers Roman Schöne Tage. In: Die Unterrichtspraxis/Teaching German 14 (1981) H. 1, S. 10. URL: http://www.jstor.org/stable/3529918 [18.04.2016]. Im Folgenden zitiert als: Koppensteiner, Anti-Heimatliteratur. 27 Koppensteiner betont in diesem Zusammenhang auch, dass sich die Anti-Heimatliteratur nicht, obwohl der Begriff zu dieser Auffassung verleiten könnte, gegen Heimat an sich wendet. Vielmehr wird von einem anderen Heimatbegriff ausgegangen.150 Heimat wird hier als „Dimension der komplexen gesellschaftlichen Wirklichkeit“151 angenommen. Weiters betont Koppensteiner das didaktische Moment der Anti-Heimatliteratur. Das Bewusstsein der Bewohner der Heimat soll gehoben werden, ihre Sprachlosigkeit soll thematisiert werden und somit Denkanstöße bieten.152

Die hier erläuterte Terminologie, die, wie oben bereits deutlich wurde, von Mecklenburg übernommen wurde, wird auch von Renate Lachinger in ihrer Dissertation Der österreichische Anti-Heimatroman verwendet, sie thematisiert allerdings auch seine Problematik.153 Für die Auswahl der Romane Die Liebhaberinnen von , Der Sohn eines Landarbeiters von Michael Scharang, Herrenjahre sowie Niemandsland von Gernot Wolfgruber und Schöne Tage sowie Schattseite von Franz Innerhofer entscheidend erwies sich die „Beschreibung des provin- ziellen Herkunftsraums der Romanhelden und seiner sozialen Bedingungen“154. Die Entscheidung, sich trotz seiner Problematik für den Begriff des Anti-Heimatromans zu entscheiden, rechtfertigt Lachinger unter anderem damit, dass die von ihr untersuchten Romane alle in einem antithetischen Verhältnis zum traditionellen Heimatroman stehen würden.155

Die von Kunne als „im allgemeinen undifferenziert“156 bezeichnete Einstufung als Anti- Heimatliteratur will diese nuancieren, indem sie eine Differenzierung in gesellschaftskritische Transformationen und experimentell-postmodernistische Transformationen vornimmt.157 Unter ersterer Bezeichnung analysiert sie Hans Leberts Wolfshaut und Franz Innerhofers Schöne Tage,158 unter dem Titel der 'Postmodernistischen Mehrstimmigkeit' beschäftigt sie sich mit Max Maetz Bauernroman, Reinhard P. Grubers Aus dem Leben des Hödlmosers und mit Geometrischer Heimatroman von Gert Jonke.159

150 Vgl. ebda S. 10 sowie Jürgen Koppensteiner: Das Leben auf dem Lande. Zu den Anti-Heimatromanen österreichischer Gegenwartsautoren. In: Akten des VI. Internationalen Germanisten-Kongresses Basel 1980. Bd. 4. Hrsg. v. Heinz Rupp und Hans-Gert Roloff. Bern u.a.: Lang 1980. (=Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A, Kongressberichte. 8.) S. 546. Im Folgenden zitiert als: Koppensteiner, Leben auf dem Lande. 151 Ebda. 152 Vgl. ebda, S. 547. 153 Vgl. Renate Lachinger: Der österreichische Anti-Heimatroman. Eine Untersuchung am Beispiel von Franz Innerhofer, Gernot Wolfgruber, Michael Scharang und Elfriede Jelinek. Salzburg, Univ., Diss. 1985. S. 8. 154 Ebda S. 4. 155 Vgl. ebda S. 26. 156 Kunne, Transformationen, S. 16. 157 Vgl. ebda. 158 Vgl. ebda S. 105-158. 159 Vgl. ebda S. 159-231. 28 Mecklenburg spricht in Grüne Inseln von der auffälligsten Häufung von literarischer Thematisierung der Provinz in Österreich in den 1970er Jahren.160Als Rahmenbedingungen dafür gibt er „die Stärke des ländlich-agrarischen Sektors, eine Provinzialisierungsängste kompensierende ‚Österreich-Ideologie‘, fortgesetzte Rezeption konservativer Heimaterzähler wie Rosegger und Waggerl, Ausstrahlung des klassischen ‚Provinzepikers‘ Stifter wie auch solche der Wiener Moderne, die oft irritierenden Mischungen aus Sprachspiel und Sozialkritik, Kulturpessimismus und abgründiger Ironie“161 an.

Für Rölcke erschien Mitte der 1990er Jahre ein Roman, der „in gewisser Weise Programm und Summe aller Provinzromane der Gegenwart, ein Antiheimatroman und die Klimax des Provinz- romans“162 ist. Dabei handelt es sich um Robert Menasses Schubumkehr. Hier findet sich auch eine Verbindung zum vorangegangenen Kapitel mit der Thematik des Mauerfalls, denn es handelt sich Wendelin Schmidt-Denglers Befund zufolge bei Schubumkehr um den einzigen Beleg von Literatur aus Österreich, die sich mit dem Mauerfall und seinen Konsequenzen auseinandersetzt.163 Am Ende seiner Analyse hält Rölcke fest, dass es sich bei Schubumkehr um einen Post-Anti-Heimatroman handelt, der vor allem Anti-Erinnerungsroman ist.164 Indem Menasse die Vorstellung von der Provinz als Idylle entlarvt,165 steht er deutlich in der Tradition des österreichischen Anti- Heimatromans. Inwiefern sich die im Rahmen dieser Arbeit analysierten Romane, vor allem der österreichische, der literarischen Strömung des Anti-Heimatromans zuordnen lassen, wird im zweiten Teil dieser Arbeit zu thematisieren sein.

160 Vgl. Mecklenburg, Inseln, S. 23. 161 Ebda. 162 Rölcke, Konstruierte Enge, S. 124. 163 Vgl. Wendelin Schmidt-Dengler: Österreichische Gegenwartsliteratur ab 1990. In: In: eLib.at (Hrsg.) URL: http://www.univie.ac.at/elib/index.php?title=Oesterreich_-_Gegenwartsliteratur_ab_1990_-_Wendelin_Schmidt- Dengler [20.04.2016]. 164 Vgl. Rölcke, Konstruierte Enge, S. 127. 165 Vgl. ebda. 29 5 Das Dorf als Gegenstand der erzählten Provinz

Das Dorf stellt „wohl die älteste und global am weitesten verbreitete Form menschlichen Zusammenlebens dar“.166 Aktuell ist der Lebensraum des Dorfes in unseren Breiten einer Entwicklung ausgesetzt, die Nell und Weiland als „Verschwinden“167 bezeichnen. Dennoch stellt er für die Mehrzahl der Menschen einen Erfahrungsraum dar, der ihrer subjektiven Lebenswirklichkeit entspricht.168

Dabei bedeutet Dorf für Detlef Baum in seinem Aufsatz Dorf und Stadt als Lebensräume idealtypisch in erster Linie Vergemeinschaftung. Wesenszüge von Gemeinschaften sind in diesem Sinne „[i]nformelle Dichte, auch diffuse und ganzheitliche Beziehungen und Kommunikations- muster, die auf gegenseitigem Kennen und gegenseitiger Anerkennung beruhen“.169 Dabei wird in der Regel das gesamte Dorf als Sozialraum wahrgenommen und nicht nur spezielle Teile oder Straßen davon. Die BewohnerInnen des Dorfes kennen einander nicht nur als Individuen, sondern in ihrer jeweiligen Angehörigkeit zu Familien, zu Höfen oder zu anderen Lebensgemeinschaften. Dabei gibt es eine gemeinsame Basis von Werten, Normen sowie Überzeugungen, die zumindest mehr oder weniger von allen BewohnerInnen geteilt wird und die sich auch in Form von sozialer Kontrolle auswirkt.170 Für das Dorf als Gemeinschaft ist weiters das kollektive Gedächtnis von Bedeutung, das einerseits grundlegend für die kollektive Identität des Dorfes ist und andererseits als Abgrenzung gegenüber anderen Dörfern oder dem Fremden dient.171 Mit diesem sich auf Inklusion bzw. Exklusion auswirkenden Moment ergibt sich ein deutlicher Unterschied zur Stadt: „Während der Städter die Geschichte seiner Stadt nicht kennen muss und trotzdem integriert sein kann, ist es im Dorf Voraussetzung der Zugehörigkeit, dass man jenes kollektive Gedächtnis kennt, das sich auf Erzählungen, Geschichten und Erfahrungen stützt.“172

Das kollektive Gedächtnis und die damit verbundene Gemeinschaftszugehörigkeit wird in Reinhard Kaiser-Mühleckers Roter Flieder zum Thema. Indem der alte Goldberger mit seiner Tochter in ein bis dahin unbekanntes Dorf zieht, fehlt ihm einerseits jeglicher Zugang zu diesem kollektiven Gedächtnis, andererseits ist ihm bewusst, dass Geschichten und Gerüchte hinsichtlich seiner Person

166 Nell, Weiland: Imaginationsraum, S. 17. 167 Ebda S. 18. 168 Vgl. ebda. 169 Detlef Baum: Dorf und Stadt als idealtypische Konturen und Lebensräume in Ost und West. In: Imaginäre Dörfer. Zur Wiederkehr des Dörflichen in Literatur, Film und Lebenswelt. Hrsg. v. Werner Nell und Marc Weiland. Bielefeld: transcript 2014. (= Edition Kulturwissenschaft. 41.) S. 112. Im Folgenden zitiert als: Baum, Lebensräume. 170 Vgl. ebda S. 112. 171 Vgl. ebda S. 125. 172 Ebda. 30 schon bald in dieses kollektive Gedächtnis einsickern werden. Er versucht diesen Prozess bewusst zu steuern, indem er bei seiner Reise nach Rosental Fremden zu einem bestimmten Zeitpunkt vom Ziel seiner Reise erzählt:

Er hatte Recht mit seiner Annahme. Zehn Tage waren ungefähr der Takt, in dem sich solche Nachrichten wie die von seiner Reise nach Rosental fortbewegten, zumindest über etwas große Distanzen hinweg. Sie bewegten sich etwas langsamer als halb so schnell, wie ihr Inhalt sich in Wirklichkeit bewegte. Von einem Dorf ins nächste gelangten sie viel schneller. (F 36) Für Ernst Langthaler stellt das Dorf als Gemeinschaft nur eines der vier bedeutendsten Paradigmen der sozial- und kulturwissenschaftlichen Dorfforschung des 20. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum dar. Bei den drei weiteren Paradigmen handelt es sich um die Proletarisierung der Dörfer, deren Modernisierung sowie dem Dorf als Kräftefeld.173 Letzteres definiert er mit Verweis auf Bourdieu folgendermaßen:

Das Dorf scheint weder als sozialharmonische Ganzheit, noch als nach klar umrissenen Schichten oder Klassen differenziert, sondern als von Machtbeziehungen durchdrungenes Kräftefeld, in dem verschiedene Akteure gemäß angeeigneter Denk- und Handlungsmuster um ökonomische, soziale und kulturelle Kapitalien ringen.174 Je nach Paradigma wird das Dorf in verschiedenem Ausmaß in zeitlicher Hinsicht als dauerhaft, in räumlicher Hinsicht als geschlossen und in soziokultureller Hinsicht als prägend angesehen. In höchstem Maße vertritt das Gemeinschafts-Paradigma diese drei Haltungen. Im Rahmen der anderen drei Paradigmen werden diese Vorstellungen aufgeweicht, dennoch lassen sich alte, als problematisch erkannte Gemeinschaftsvorstellungen in der Dorfforschung weiterhin beobachten, was Langthaler zufolge mit Wunschvorstellungen nach Überschaubarkeit, Ruhe und Routine zusammenhängt, der sich auch Wissenschaftler nicht immer widersetzen können oder wollen.175 Der ‚spatial turn‘ kann gemäß Langthalers Ausführungen Fehlleitungen dieser Wunschvor- stellungen entgegenwirken. Er sieht den Raum des Dorfes als nicht vorgegeben, sondern durch Akteure und deren soziale, symbolische und materielle Praktiken erzeugt an. Weiters wird der Raum des Dorfes nicht lediglich als Behälterraum angesehen, sondern auch als Raum der Verflechtungen seiner Elemente.176

173 Vgl. Ernst Langthaler: Das Dorf (er-)finden. Wissensfabrikation zwischen Geschichte und Gedächtnis. In: Imaginäre Dörfer. Zur Wiederkehr des Dörflichen in Literatur, Film und Lebenswelt. Hrsg. v. Werner Nell und Marc Weiland. Bielefeld: transcript 2014. (= Edition Kulturwissenschaft. 41.) S. 62-64. Im Folgenden zitiert als: Langthaler, Dorf. 174 Ebda S. 62. 175 Vgl. ebda S. 64. 176 Ebda S. 64. 31 Indem der erlebte Raum des Dorfes nun literarisch gestaltet wird, entstehen wechselseitige Einwirkungen des erlebten Raum und erzählten Raumes aufeinander. Um dieses zirkuläre Verhältnis zu beschreiben, verknüpfen Nell und Weiland im Aufsatz Imaginationsraum Dorf die menschliche Raumerfahrung mit Paul Ricoeurs dreifacher Mimesis. Dafür gehen sie von der Hypothese aus, dass Raum auch durch narrative Aneignung zum menschlichen Raum gemacht wird.177 Durch ein zirkuläres Verhältnis von Mimesis I (Präfiguration), Mimesis II (Konfiguration) und Mimesis III (Refiguration)178 wird die Positionierung und Orientierung des Menschen im Raum durch imaginäre Räume beeinflusst.179 Im Folgenden soll dies kurz genauer erläutert werden. Mimesis I oder Präfiguration bezieht sich darauf, „dass immer schon ein gewisses Vorverständnis des Dörflichen besteht. Denn indem sich imaginäre Räume auf reale Räume beziehen, sind sie zugleich durch die dort vorherrschenden kulturell vermittelten Raumkonzepte und Raummodelle präformiert.“180 Die Wahrnehmung jedes Menschen ist also bereits durch Wissen und Erfahrungen, aber auch durch die Rezeption verschiedenartiger Quellen wie Literatur oder Film vorstrukturiert. Mimesis II oder Konfiguration kann mit der narrativen Ordnung des Dorfes umschrieben werden. Die Erzählung stellt dabei kein Abbild des realen Raumes dar, vielmehr wird ein Raummodell geschaffen, in dem ausgewählte Elemente, seien es Figuren, Schauplätze oder diverse Objekte, in verschiedenen Verhältnissen zueinander angeordnet werden.181 In diesem Zusammenhang sei auf die in Kapitel 4 ausführlicher erläuterte Funktion des erzählten Dorfes als Laboratorium, in dem gesellschaftliche Fragestellungen ausverhandelt werden, hingewiesen. Für Mimesis III oder Refiguration gilt folgendes: „Die narrative Ordnung des erzählten Raumes dient auch als ein kognitives Ordnungs- und Verstehensmodell des erlebten Raumes.“182 Der erzählte Raum prägt also die Wahrnehmung des erlebten Raumes und wirkt auch auf diesen und damit auf die gesell- schaftliche Wirklichkeit zurück. Die vom erzählten Raum beeinflussten Vorstellungen können konkrete Modelle und Impulse darstellen, die sich in Form von Architektur oder Landschafts- planung auf den erlebten Raum auswirken.183

177 Vgl. Nell, Weiland: Imaginationsraum, S. 21. 178 Vgl. Paul Ricoeur: Zeit und Erzählung. Bd. 1: Zeit und historische Erzählung. Aus dem Französischen v. Rainer Rochlitz. München: Fink 1988. S. 88. 179 Vgl. Nell, Weiland: Imaginationsraum, S. 22. 180 Ebda S. 24. 181 Vgl. ebda S. 24-33. 182 Ebda S. 42. 183 Vgl. ebda S. 44. 32 5.1 Verlust des Stadt-Land-Gegensatzes?

Während vor den Fenstern das Niemandsland vorbeizog und Linda über Dorfpolitik sprach, dachte Frederik an die Glas-und-Steine-Welt Berlins. An Straßen, auf denen sich Unmengen von Menschen bewegten, und an den Lärm, den diese Bewegung verursachte. Er dachte an die Firmenräume von Weirdo mit ihren bunt gestrichenen Wänden, mit den vielen Sitzecken, Spielecken, Chill-Ecken und Yoga-Ecken, mit Monitoren, auf denen die Entwürfe für ein neues Traktoria-Level liefen, und mit Kühlschränken auf allen Fluren, die täglich mit Magnum-Eis und Bionade gefüllt wurden. Vermutlich würde sich Frederik an keinem anderen Ort auf dem Planeten jemals so zu Hause fühlen wie in der Weirdo-Welt. (U 243) Im obigen Zitat aus Unterleuten geht es um Frederik Wachs, der mit seiner Freundin in Unterleuten ein Haus gekauft hat, aber weiterhin als Entwickler bei Weirdo, einem Browserspiel-Hersteller in Berlin, arbeitet. Er kann entweder von zu Hause aus arbeiten oder dazu in die Firma nach Berlin fahren. Moderne Technologien, allen voran das Internet, unterstützen ihn dabei, einen Lebensstil zu kultivieren, der Elemente des Lebens in der Stadt und am Land kombiniert: „Frederik konnte sich in der Großstadt vom Land und auf dem Land von der Stadt erholen. Sein persönlicher Luxus bestand nicht darin, in einer Welt alles zu erreichen. Sondern darin, zwischen verschiedenen Welten hin- und herwechseln zu können.“ (U 244)

Der Stadt-Land-Gegensatz spielt für die Poetik des Provinzromans in dessen Geschichte laufend eine bedeutende Rolle.184 Bereits in Erzählte Provinz thematisiert Mecklenburg „einen ‚Zerfall des Horizonts‘, der heute durch soziale Mobilität, Tourismus, Medien usw. nahezu vollendet ist. Soziologisch gibt es keine geschlossene ländlich-provinzielle Lebensform mehr.“185 1986 diagnostiziert er in Grüne Inseln ein Verblassen des Gegensatzes von Stadt und Land sowie ein Ineinander-Übergehen der Regionen mit Verweis auf ein universelles Industriesystem.186 Inwiefern sich dieser Prozess seither fortgesetzt bzw. noch weiter verstärkt hat, soll in diesem Kapitel thematisiert werden. In den oben stehenden Zitaten aus Juli Zehs im Jahr 2010 spielenden Roman werden die Unterschiede des Lebens am Land und in der Stadt thematisiert. Es geht aber vor allem auch um die Überwindung dieser Differenz, Elemente von Stadt- und Landleben lassen sich hier problemlos zu einem funktionierenden Lebensentwurf zusammenfügen. Diese Annäherung von Stadt und Land hängt stark mit modernen Technologien zusammen:

Der Ausbau der Kommunikationsnetzte und der Mobilität ermöglichen auch auf dem Land, von der Kleinstadt bis zum Einzelhof, die Entfaltung typischer städtischer, urbaner Lebensstile. Das Internet, die digitalen sozialen Netzwerke, aber auch die Flexibilisierung

184 Vgl. Mecklenburg, Inseln, S. 39 sowie Mecklenburg, Provinz, S. 45-49. 185 Mecklenburg, Provinz, S. 48. 186 Vgl. Mecklenburg, Inseln, S. 41. 33 der Arbeitswelten und Erwerbsbiographien führen dazu, dass der Abstand zwischen ländlichen und städtischen Lebensformen sich verringert.187 Detlef Baum sieht in seinem Aufsatz Dorf und Stadt als Lebensräume vor allem für Dörfer im Einzugsgebiet von Städten eine Urbanisierung im Hinblick auf die Art des Zusammenlebens und die Siedlungsgestaltung. Für Dörfer, die sich hingegen als stadtabgewandt präsentieren, könnte es ihm zufolge schwierig werden, den Anschluss an die moderne Gesellschaft nicht zu verlieren.188 Indem der eine Kernstadt umgebende Bereich urbanisiert wird, entstehen Räume, die sich der klaren Trennung von Stadt und Land verweigern und als Zwischenstädte bezeichnet werden können. Sie sind einerseits von der Nähe zur Stadt abhängig, in ihnen praktizierte Wohn- und Lebensformen sind andererseits eher dem Dorf zuzurechnen.189 Bereits in den 1950ern konnte im Umland von Städten eine Verschmelzung von Lebensformen der Stadt und jenen des Landes im Prototyp des Nebenerwerbslandwirtes, der zum Arbeiten in die Stadt pendelt, festgestellt werden. Damit wurden im Umkreis der Stadt liegende Dörfer zu deren Einzugsgebiet.190

Das Zusammenleben der Menschen im Dorf ist weiters ebenso von Veränderungen betroffen, die für Baum die Konsequenz einer fortschreitenden Moderne darstellen. Die bereits im vorherge- gangenen Kapitel thematisierte soziale Kontrolle des dörflichen Zusammenlebens wird abge- schwächt, indem sich infolge einer nicht mehr vollständigen Integration des Einzelnen in das Dorf viele Aspekte des Lebens dieser Kontrolle entziehen. Damit wird auch im Dorf vermehrt zwischen Privatheit und Öffentlichkeit unterschieden.191 Weiters handelte es sich bei sozialräumlicher Segregation um einen hauptsächlich Städte betreffenden Prozess, mittlerweile kann dieser aller- dings in Dörfern ebenso festgestellt werden, wenn zwischen Neubaugebieten und den Bereichen eines Dorfes, in dem hauptsächlich Alteingesessene leben, unterschieden wird.192

Bei den hier angeführten Aspekten handelt es sich um Beispiele für die Annäherung von städtischen und dörflichen Lebenswelten. Dabei stellt sich die Frage, inwiefern sich das Erzählen von Provinz in der Gegenwart als Reaktion auf diese Veränderungen erkennen lässt. Rölcke stellt dazu folgende Fragen:

In welchem Maße handelt es sich bei Provinzromanen und der Schilderung regionaler Räume um kompensatorische Antworten auf Wandlungsprozesse, welcher Art sie auch immer sein mögen? Denn dass bei Provinzliteratur die Vorführung von abgegrenztem Raum

187 Sören Schöbel: Landschaftsbilder zwischen Bewahren und neuer Gestalt. In: Der Bürger im Staat (2011) H. 1/2, S. 50. 188 Vgl. Baum, Lebensräume, S. 112. 189 Vgl. ebda S. 120f. 190 Vgl. ebda S. 121. 191 Vgl. ebda S. 129. 192 Vgl. ebda. 34 und stillstehender Zeit als Folie zur Hervorhebung von Verwandlungen, Irritationen, Katastrophen dient, ist schon angeklungen. Inwiefern, so ließe sich weiter fragen, will der Provinzroman aufbewahren, im Gedächtnis halten, was zu verschwinden droht?193 Weiter oben wurde durch den diachronen Blickwinkel deutlich, dass das Erzählen von Provinz immer wieder stark mit gesellschaftlichen Wandlungsprozessen verknüpft war. Die Möglichkeit, die Provinz literarisch als eine Folie zu gestalten, die zur Verdeutlichung derartiger Veränderungen in der Gegenwart bzw. in der nahen Vergangenheit dient, soll im zweiten Teil dieser Arbeit berücksichtigt werden, wenn die Romane Unterleuten von Juli Zeh, Der Ort von Andreas Maier und Roter Flieder von Reinhard-Kaiser Mühlecker analysiert werden.

193 Rölcke, Konstruierte Enge, S. 119. 35 6 Juli Zeh: Unterleuten

Im März 2016 legt Juli Zeh einen mehr als 600 Seiten umfassenden Roman vor, der in einem fiktiven Dorf in Brandenburg angesiedelt ist, dessen sprechender Name Unterleuten gleichzeitig den Titel des Romans darstellt. Im ersten Teil dieser Arbeit wurde versucht, das Phänomen des gegenwärtigen Erzählens von Provinz von verschiedenen Seiten einzukreisen. Vor diesem Hintergrund soll nun Unterleuten als eine aktuelle Neuerscheinung aus der Gattung des Provinzromans untersucht werden. Vorab soll dazu ein kurzer Blick auf Juli Zehs poetologisches Programm geworfen werden. Der Umfang und die weit verzweigte Handlung von Unterleuten lassen es sinnvoll erscheinen, darauf eine Inhaltsskizze folgen zu lassen, bevor die Figuren- konstellationen und schließlich als Schwerpunkt die Funktion der Provinz untersucht wird. Einige Überlegungen zur Gattungszuordnung dieses Romans sollen sodann diesen Abschnitt abrunden.

6.1 Juli Zehs Poetik

Als ersten Schritt zu einer möglichst umfassenden Analyse des Romans Unterleuten wird in den anschließenden beiden Unterkapiteln versucht, die Poetik von Juli Zeh zu umreißen. Dabei geht es im ersten Teil um ihre allgemeine Positionierung als ‚public intellectual‘ und die sich für ihr Schreiben daraus ergebenden Schwerpunkte. In diesem Kapitel wird erörtert, dass sie sich zu einer Vielzahl von gesellschaftspolitischen Themen in Essays äußert, so auch zum Heimatbegriff. Damit werden Zehs Überlegungen zu dieser Thematik den im Hinblick auf die Themenstellung dieser Arbeit logischen Schwerpunkt des zweiten Unterkapitels bilden, bevor schließlich der Roman Unterleuten als solcher zur Sprache kommt.

6.1.1 Juli Zeh als politische Schriftstellerin im weitesten Sinn

In ihrem 2004 verfassten Essay Auf den Barrikaden oder hinterm Berg? thematisiert Juli Zeh das kulturelle Phänomen, wonach sich SchriftstellerInnen, besonders der jüngeren Generation, in der Öffentlichkeit nicht zu politischen Themen äußern.194 Ihr zufolge liegt das nicht an einem ästhetischen Programm des l'art pour l'art, sondern daran, dass „[d]ie öffentliche Meinung [...] die Schriftsteller aus ihrem Dienst entlassen [hat], und Letztere haben nicht einmal versucht, Kündigungsschutzklage zu erheben.“195 Dem läge zugrunde, dass zunehmend vergessen würde,

194 Vgl. Juli Zeh: Auf den Barrikaden oder hinterm Berg? In: Dies.: Alles auf dem Rasen. Kein Roman. Frankfurt a. M.: Schöffling & Co 2006. S. 214-219. 195 Ebda S. 217. 36 dass Politik letztlich keine Wissenschaft, sondern ja „von Menschen für Menschen“196 gemacht wird. Wenn also „gesunde[r] Menschenverstand und ein Herz im Leib“197 nicht mehr als aus- reichend angesehen werden, um sich politisch zu äußern, so ergibt sich für eine Staatsform, in der Staatsgewalt vom Volk ausgeht, ein Problem.198 Damit kommt der Literatur folgende Rolle zu:

Mehr als rechts und links, rot oder schwarz stützt mich der feste Glaube, dass Literatur per se eine soziale und im weitesten Sinne politische Rolle zukommt. Es ist ein natürliches Bedürfnis der Menschen zu erfahren, was andere Menschen – repräsentiert durch den Schriftsteller und seine Figuren – denken und fühlen. Allein deshalb darf die Literatur auf dem Gebiet der Politik nicht durch den Journalismus ersetzt oder verdrängt werden, und sie soll sich nicht hinter ihrem fehlenden Experten- und Spezialistentum verstecken.199 Mit der vom Journalismus angestrebten Objektivität geht für Juli Zeh immer auch eine Verfälschung des Bildes einher, das er von der Welt zeichnet. Die damit entstehende Lücke soll die Literatur schließen: „Damit hat die Literatur eine Aufgabe, an der sie wachsen kann, und hier liegt der Weg, den ich einzuschlagen versuche. Ich möchte den Lesern keine Meinungen, sondern Ideen vermitteln und den Zugang zu einem nichtjournalistischen und trotzdem politischen Blick auf die Welt eröffnen.“200 Patricia Herminghouse betont in ihrem Aufsatz The Young Author as Public Intellectual. The Case of Juli Zeh die Besonderheit von Juli Zehs Positionierung in der Öffentlich- keit, da junge SchriftstellerInnen im deutschen Literaturbetrieb, besonders weibliche, selten als „public intellectual“ in Erscheinung treten würden. Ihr zufolge sind es hier meistens ältere, männ- liche Autoren, die ihre Meinung zu politischen Themen öffentlich kundtun.201

Ihrer eigenen Forderung nach politischen Meinungsäußerungen kommt Juli Zeh mit einer Vielzahl von Essays nach, die in unterschiedlichsten Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht wurden, etwa unter anderem in der Zeit, in der Frauenzeitschrift Brigitte und im Spiegel. Dabei behandelt sie ein weites Spektrum an Themen, etwa Wahlen, die Einstellung ihrer Generation zu Politik und Konsum oder die neuen Medien. Zu nennen sind an dieser Stelle auch die beiden Sammelbände Alles auf dem Rasen und Nachts sind das Tiere, die eine Zusammenstellung von Essays mit verschiedensten Thematiken von der Auseinandersetzung mit Heimat202 bis hin zum Umgang mit terroristischen

196 Ebda. 197 Ebda S. 218. 198 Vgl. ebda. 199 Vgl. ebda S. 218f. 200 Ebda S. 218. 201 Vgl. Patricia Herminghouse: The Young Author as Public Intellectual. The Case of Juli Zeh. In: in a New Century. Trends, Traditions, Transitions, Transformations. Hrsg. v. Katharina Gerstenberger und Patricia Herminghouse. New York, Oxford: Berghahn Books 2008. S. 268. 202 Vgl. Juli Zeh: Reizklima. In: Dies.: Nachts sind das Tiere. Frankfurt a. M.: Schöffling & Co 2014. S. 280-286. Im Folgenden zitiert als Zeh, Reizklima sowie Juli Zeh: Fliegende Bauten. In: Dies.: Alles auf dem Rasen. Kein Roman. Frankfurt a. M.: Schöffling & Co 2006. S. 95-102. Im Folgenden zitiert als: Zeh, Fliegende Bauten. 37 Bedrohungen203 reichen. Die Autorin hält als Programm ihres Schreibens unter anderem fest: „Auch ich kreise in meinen Texten immer wieder um die Frage, was den Menschen moralisch ausmacht, was Verantwortung bedeutet, was in diesem Zusammenhang [Anm.: bezieht sich auf ihren Roman Schilf] ein Begriff wie Freiheit bedeutet.“204 In „Denk ich an Deutschland...“ - Juli Zehs ästhetisch- politische Position im Politik-, Mentalitäts- und Wertewandel trifft Detlef Haberland dazu in Hinblick auf Juli Zehs Roman Spieltrieb folgende Aussage:

„Gerade in Zeiten nachlassender Akzeptanz für die Normativität in Staat, Gesellschaft und Religion, gewollt flacher Hierarchien und diversifizierender Moral- und Ethikvorstellungen ist die Frage nach dem Individuum und seiner Position als verantwortliches zoon politikon eine der dringendsten Fragen, die gerade literarisch, wenn nicht Lösungen zugeführt werden, so doch zur Reflexion anregen können.“205 Damit erhebt Juli Zeh in ihrem literarischen Werk Haberland zufolge den kritischen Anspruch, die Bruchlinien unserer Kultur darzustellen. Für LeserInnen soll sich damit eine Anregung zur Reflexion ergeben, was den derzeitigen Status von Individuum sowie Gesellschaft und Staat angeht. Die Besonderheit dabei, die alle KünstlerInnen der Zeit seit der Wende betrifft, liege darin, „dass der verbindliche Boden, der in einem sozialen Gefüge durch eine gemeinsame Vergangenheit, durch verbindende Rituale und durch anerkannte Regeln vorhanden ist, langsam zu schwinden beginnt und sich damit ein Problemfeld ganz eigener Art auftut.“206 Inwiefern sowohl die Fragen nach Verantwortung und Moral als auch die Auflösung eines gemeinsamen Wertehorizonts in Unterleuten thematisiert werden und welche Rolle dabei die Provinz spielt, wird im Laufe der nächsten Unterkapitel noch ein wesentliches Thema darstellen.

6.1.2 Juli Zeh und der Heimatbegriff

In mehreren Essays nähert sich Juli Zeh von verschiedenen Richtungen dem Heimatbegriff. Dabei geht ihre Einschätzung hinsichtlich der Ortsgebundenheit in eine ähnliche Richtung, wie es in Kapitel 3.1. im Zusammenhang mit einem neuen Heimatbegriff erläutert wurde: „Im Zeitalter von Globalisierung, Wirtschaftskrise und Werteverfall kann man etwas Kompliziertes wie Heimat nicht

203 Vgl. Juli Zeh: Goldene Zeiten. In: Nachts sind das Tiere. Frankfurt a. M.: Schöffling & Co 2014. S. 93-103. 204 Jenny Hoch: Schriftstellerin Juli Zeh: "Ich verstehe, dass mein Stil viele nervt". Erstellt am 13.10.2007. In: Spiegel Online. URL: http://www.spiegel.de/kultur/literatur/schriftstellerin-juli-zeh-ich-verstehe-dass-mein-stil-viele-nervt- a-511197.html [29.04.2016]. 205 Detlef Haberland: „Denk' ich an Deutschland...“ - Juli Zehs ästhetisch-politische Position im Politik-, Mentalitäts- und Wertewandel. In: Literarische Koordinaten der Zeiterfahrung. Hrsg. v. Joanna Ławnikowska-Koper und Jacek Rzeszotnik.. Wrocław u.a.: ATUT u.a. 2008. S. 129. Im Folgenden zitiert als: Haberland, Deutschland. 206 Ebda S. 131. 38 einfach an banal-geographischen Koordinaten festmachen.“207 Die momentan herrschende Füllung des Begriffes mit unterschiedlichsten individuellen Assoziationen sieht sie dennoch kritisch:

Deshalb soll Heimat kein konkreter Platz, sondern vielmehr eine Sehnsucht oder Erinnerung sein. Sie ist Liebe, Vertrauen, Sprache, Religion, das Verbundenheitsgefühl zu Menschen und, wenn alle Stricke reißen, ein breitmäuliger Dialekt oder der sonntägliche Geruch nach Leberkäse und Sauerkraut. Das polyphone Gerede lässt vermuten, dass Heimat schlichtweg alles sein kann, was der Fall ist. Solange es beim Individuum X ein irgendwie angenehmes Bauchkribbeln auslöst.208 Juli Zeh wendet sich damit nicht gegen das Bedürfnis nach „einem Hauptwohnsitz für die Seele“209, sieht es dabei aber nicht als sinnvoll an, dafür einen Heimatbegriff zu verwenden, der Kitsch mit Fragen existenzieller Bedeutung vermengt.210 Ihrem eigenen Herkunftsort Bonn gegenüber äußert sich Juli Zeh in einer sicherlich nicht mit Kitsch im Zusammenhang stehenden Weise:

„Manche Menschen lieben ihre Heimat und sehnen sich ein Leben lang danach, weil das Schicksal sie an einen anderen Ort verschlagen hat. Andere stehen mit der eigenen Herkunft auf Kriegsfuß, sprechen abfällig über die »Provinznester« oder »Dreckskäffer«, aus denen sie stammen […] Ich gehöre zur zweiten Kategorie.211 Seit sie Bonn mit 18 Jahren verlassen hat, um in einer anderen Stadt zu studieren,212 verbrachte Zeh viel Zeit auf Reisen und beschreibt in diesem Zusammenhang, wie sie sich dadurch nicht entwurzelt, sondern vielmehr angekommen und beruhigt fühlt.213 Sie schätzt diesen Zustand als Privileg ein und möchte ihn nicht beklagt wissen: „Man sollte gewonnene Freiheit nicht als verlorene Heimat beklagen.“214 Auch hier drängt sich wieder ein Verweis auf den bereits diskutierten neuen Heimatbegriff auf, in dem Fremde immer mitgedacht wird.215 Juli Zeh misstraut dem Begriff ‚Heimat‘ dann aber doch so sehr, dass sie ihn auch vermeidet, wenn sie davon spricht, eines Tages mit ihren Haustieren sesshaft zu werden: „Auch das würde ich nicht die Wiederer- richtung einer verlorenen Heimat nennen. Sondern die Gründung eines Hauptquartiers.“216

Indem Zeh ihren aktuellen Roman im fiktiven Dorf Unterleuten ansiedelt, wendet sie sich dem Leben in einem der ‚Dreckskäffer‘ zu, wobei auch das Themenfeld ‚Heimat‘ auf verschiedene Arten aus den Blickwinkeln verschiedener Personen eine Rolle spielt. Auch ein unhinterfragtes

207 Zeh, Fliegende Bauten, S. 96. 208 Ebda. 209 Ebda S. 97. 210 Vgl. ebda S. 97f. 211 Zeh, Reizklima, S. 280. 212 Vgl. Zeh, Fliegende Bauten, S. 95. 213 Vgl. ebda S. 99. 214 Ebda S. 101. 215 Vgl. Blickle, Heimatbegriff, S. 44. 216 Zeh, Fliegende Bauten, S, 102. 39 Zugehörigkeitsgefühl zu einer ‚Heimat‘ ist Teil der gemeinsamen Grundlage von sozialen Gefügen, von deren Auflösung bereits im vorangegangenen Kapitel die Rede war. Juli Zeh drückt dies selbst folgendermaßen aus:

Ich habe das Gefühl, dass die geistesgeschichtliche Entwicklung, in der wir uns befinden, immer stärker zu einem ganz krassen Individualismus führt und zu einer Haltung, in der sich Menschen immer weniger mit dem Staat identifizieren. Nicht nur mit dem Staat als solchen, sondern auch wegen bröckelnder Identifikationen mit Begriffen wie Heimat oder mit religiös gestützten Institutionen.217 Auch auf die Thematisierung von Heimat als eine an Deutlichkeit verlierende Zuordnung soll der Roman Unterleuten im Folgenden untersucht werden.

6.2 Inhaltsskizze

Das fiktive Dorf Unterleuten in Brandenburg im Jahr 2010: Jahrzehnte alte Streitereien zwischen den alteingesessenen DorfbewohnerInnen werden durch das Vorhaben, einen Windpark zu errichten, neu befeuert. Eine wichtige Rolle spielen dabei auch die Zugezogenen: Der ehemalige Soziologieprofessor und nunmehrige Vogelschützer von berufswegen Gerhard Fließ, der mit seiner Frau Jule und ihrem Baby Sophie nach Unterleuten gezogen ist, möchte ebenso mitmischen wie das junge Paar Linda Franzen und Frederik Wachs. Eine weitere Rolle kommt dem Unternehmens- berater Konrad Meiler zu, der sich am „großen Schlussverkauf von Grundbesitz“ (U 52) beteiligt und bei einer Auktion 250 Hektar Land in Unterleuten von der Nachfolgeorganisation der Treuhand erworben hat.

Auf Seiten der alteingesessenen DorfbewohnerInnen verläuft die Konfrontationslinie entlang der Feindschaft von Gombrowski, einem Großgrundbesitzer, der nach der Wende die Umwandlung der LPG »Gute Hoffnung« in die Firma Ökologica GmbH gegen den Widerstand anderer Dorfbewohner durchgesetzt hat und damit den größten Arbeitgeber von Unterleuten darstellt und Kron, der seit jeher sein erbittertster Gegner war, von Kleinbauern abstammt und überzeugter Kommunist ist. Als bei einer Gemeinderatssitzung erstmals von den Plänen zum Bau eines Windparks die Rede ist, vermutet Kron Grombowski hinter diesen Vorgängen und will die Unternehmung verhindern. Als wenig später seine geliebte fünfjährige Enkeltochter verschwindet, vermutet er dahinter eine von Gombrowski organisierte Entführung.

Als Ort für den Bau der Windräder eignet sich in erster Linie ein Gebiet namens ‚Schiefe Kappe‘ in der Nähe des Dorfes. Ein Teil des Grundes dort gehört Gombrowski, ein anderer Teil Konrad

217 Haberland, Deutschland, S. 130f. 40 Meiler. Dazwischen liegt ein Stück, das Linda Franzen und Frederik Wachs besitzen. Um die benötigte Mindestgröße zu erreichen, müssten sowohl Gombrowski als auch Meiler diesen Zwischenteil erwerben. Linda Franzen erkennt hierin eine Möglichkeit zur Durchsetzung ihrer Interessen. So erwirkt Gombrowski für sie eine dringend benötigte Baugenehmigung, im Gegenzug verspricht sie ihm das Grundstück. Am Ende verkauft sie es dennoch an Konrad Meiler, der ihr dafür ein Grundstück überlässt, das sie für ihre geplante Pferdezucht unbedingt braucht. Als Frederik unmittelbar nach Unterzeichnung der Verträge bei einem Autounfall schwer verletzt wird, vermutet er einen Racheanschlag der DorfbewohnerInnen dahinter. Damit ist die höchste Eskalationsstufe erreicht, die zur Auflösung der bestehenden Dorfstrukturen führt: Gombrowski wird nach einer handgreiflichen Auseinandersetzung von seiner Frau verlassen und begeht daraufhin Selbstmord, Kron stirbt kurz darauf, der Bürgermeister Arne tritt zurück, das Ehepaar Fließ trennt sich und Jule zieht mit dem Baby zurück nach Berlin, Linda Franzen und Frederik Wachs verlassen das Dorf und gehen fortan getrennte Wege.

Juli Zeh beschreibt die Vorgänge im fiktiven Dorf Unterleuten über große Strecken mittels eines Er- Erzählers. Lediglich im Epilog fungiert die Journalistin Lucy Finkbeiner als Ich-Erzählerin. Die Perspektive ist dabei den gesamten Roman über beweglich, die Kapitel tragen als Überschrift den Namen jener Person, deren Innensicht sie wiedergeben. Insgesamt sind dies zwölf verschiedene Personen, den Großteil davon bilden BewohnerInnen des Dorfes Unterleuten. Lediglich der Unternehmensberater Konrad Meiler, der in Unterleuten Land erworben hat, und die Journalistin Lucy Finkbeiner, die im Epilog als Ich-Erzählerin über ihre Recherchen in Unterleuten berichtet, sind nicht Teil des dörflichen Mikrokosmos. Die insgesamt 62 Kapitel ordnen sich zu sechs Teilen an.

6.3 Figurenkonstellationen

In der Feindschaft zwischen Gombrowski und Kron, die gewissermaßen eine Bruchlinie durch das gesamte Dorf verlaufen lässt, ist eine der wichtigsten Figurenkonstellationen angelegt, in deren Rahmen auch Zeitgeschichte verarbeitet wird, besonders hinsichtlich der DDR und deren Ende. So reichen Gombrowskis gedanklichen Rückblicke bis zurück zum 2. Weltkrieg. Im sozialistischen Frühling 1960 ist das Gut der Familie angezündet worden, daraufhin hat Gombrowskis Vater kapituliert, sein Besitz ist verstaatlicht und die in die LPG »Gute Hoffnung« eingebracht worden. Bereits hier hat die Feindschaft zwischen dem jungen Gombrowski und Kron ihren Ausgang genommen:

41 Bis heute erinnerte sich Gombrowski an das Geräusch der berstenden Fenster und an Krons irren Blick. Er konnte die gebrüllten Parolen hören, »Junkerland in Bauernhand«, während Kron auf die Fensterscheiben seines Elternhauses eindrosch, bis kein Splitter mehr im Rahmen steckte. Das Feuer im Kornspeicher wuchs zu einer turmhohen Flammensäule, deren Funken bis zu den Sternen flogen. Der Schreck fuhr dem Dreizehnjährigen in die Knochen und blieb dort. In Krons Augen hatte er blanken Hass gesehen, den er nicht verstand. Wohl aber ahnte er, dass er eines Tages in der Lage sein würde, ihn zu erwidern. (U 97) Nach seinem Studienabschluss hat Gombrowski bei der LPG zu arbeiten begonnen, Kron ist zu diesem Zeitpunkt schon seit zehn Jahren dort tätig gewesen. Die beiden haben zuerst als Kollegen zusammengearbeitet, schließlich hat Gombrowski die Leitung der LPG übernommen. Nach der Wende ist Gombrowski mit der LPG, die den gesamten früheren Besitz seines Vaters beinhaltet, vor neuen Herausforderungen gestanden: „Es war die Zeit, in der Gombrowski um die Rettung der LPG »Gute Hoffnung« kämpfte. Das neue Landwirtschaftsanpassungsgesetz sah vor, dass ehemalige DDR-Betriebe, die nicht bis Ende des Jahres zu einer neuen Rechtsform gefunden hatten, als aufgelöst galten.“ (U 88) Damit ist der Konflikt zwischen Kron und Gombrwoski aufgeflammt, weil Kron sich der von Gombrowski angestrebten Umwandlung der LPG in die Ökologica GmbH als überzeugter Kommunist entgegengestellt und verkündet hat, „dass Gombrowski nicht anderes im Sinn habe, als sich einen Betrieb unter den Nagel zu reißen, der ihnen allen gehöre“ (U 193). All diese Vorgänge werden durch Analepsen in Form von gedanklichen Rückblicken beschrieben. Zur Zeit der Haupthandlung bewirkt der geplante Bau des Windparkes eine Eskalation zwischen Kron und Gombrowski. Eine weitere Konfrontationslinie zwischen den alteingesessenen und den zugezogenen BewohnerInnen von Unterleuten könnte man sich als Kampf zwischen Tradition und Erneuerungswillen vorstellen, diese klischierte Vorstellung verwirklicht die Autorin, deren Hang zum Klischee weiter unten thematisiert wird, allerdings nicht. Auch wenn sich Linda Franzen und die Familie Fließ einander annähern, finden die Zugezogenen nicht zu einer einheitlichen Linie, wofür ihre divergierenden Eigeninteressen verantwortlich gemacht werden können. Damit ist in ihnen gewissermaßen auch das verwirklicht, was Juli Zeh einen „ganz krassen Individualismus“218 nennt.

Eine nicht unwesentliche Rolle spielen weiters die Paar-Konstellationen, von denen an dieser Stelle nur die wichtigsten umrissen werden können. Dabei sind Gerhard Fließ und Jule Fließ-Weiland zu nennen, die den Roman eröffnen. Das Paar mit dem großen Altersunterschied, einst Professor und Studentin, ist von Berlin nach Unterleuten gezogen und hat mit Sophie seit kurzem eine Tochter, um die sich nunmehr das gesamte Leben ihrer Mutter dreht, für die Beziehung zum Mann bleibt da nur

218 Juli Zeh, Thomas Geiger: Es geht immer um Sprache. Ein Gespräch über Jura und Literatur. In: Sprache im technischen Zeitalter 44 (2006), H. 12, S. 422. 42 noch wenig Platz. Beim zweiten zugezogenen Paar handelt es sich um die Pferdenärrin Linda Franzen und den Computerspiel-Nerd Frederik Wachs. Franzen ist eine hyperehrgeizige junge Frau, die sich selbst als „echten Mover“ (U 460) ansieht und ganz in der Renovierung des Hauses in Unterleuten aufgeht: „Transzendentale Obdachlosigkeit war keine Folge des Religionsverlustes, sondern der Inflation von Mietwohnungen. Sie war stolz darauf, mit ihrer großen, heruntergekommenen Villa ein Bollwerk gegen den Zeitgeist zu errichten.“ (U 460) Ihr Partner Frederik teilt weder ihren Ehrgeiz noch ihr im Laufe des Romans immer deutlicher hervortretendes Machtstreben. Linda sieht ihn deswegen als einen jener „turnschuhweiche[n] Männer“ (U 566) der Neunziger an. Damit zeichnet Juli Zeh eine sehr heterogene Gruppe von Zugezogenen, deren einzige Gemeinsamkeit ihr bereits erwähnter Individualismus ist. Auch die Paarbeziehungen sind unterschiedlich angelegt, selbst innerhalb eines Paares scheint man sich nur schwer auf gemeinsame Vorstellungen hinsichtlich der Beziehung einigen zu können.

Gombrowski lassen sich zwei weibliche Gegenparts zurechnen. Einerseits seine Frau Elena, mit der er eine Tochter hat. Um diese vor den Handgreiflichkeiten des Vaters zu schützen, hat sie alle Gewaltausbrüche stets auf sich gezogen und verbringt ihr Leben auch nach dem Auszug der Tochter stets in ängstlicher Erwartung den Launen ihres Mannes gegenüber. Andererseits verbindet ihn eine jahrzehntelange Zuneigung mit seiner ehemaligen Mitarbeiterin und nunmehrigen Nachbarin Hilde Kessler. Das ganze Dorf inklusive Elena Gombrowski hat stets an eine Affäre der beiden geglaubt. Gegen Ende des Romans, als die Strukturen im Dorf langsam von Auflösungserscheinungen bedroht sind, setzt Gombrowski den Spekulationen seiner Frau gegenüber mit den Worten „Hilde war niemals meine Geliebte.“ (U 520) definitiv ein Ende. Kurz sei auch noch die Beziehung der Pathologin Kathrin Kron umrissen. Ihr Mann, ein relativ erfolgloser Schriftsteller, kommt nie selbst zu Wort, so wird die Beziehung lediglich aus ihrer Sicht und derer verschiedener anderer Figuren beschrieben. In den Augen von Kathrins Vater und des Bürgermeisters Arne Seidel ist ihr Mann ein Taugenichts, da Kathrin den Großteil des Lebensunterhalts bestreitet. Hier wird also eine Beziehung abseits traditioneller Geschlechterrollen und deren negative Beurteilung vor allem der männlichen Angehörigen der vorigen Generation beschrieben.

Als besonders konfliktbehaftet erweisen sich in Unterleuten die beschriebenen Vater-Tochter- Beziehungen. Ohne an dieser Stelle näher darauf einzugehen, seien hier lediglich einige Grundzüge festgehalten. Zwischen Gombrowski und seiner seit Jahren weit weg lebenden Tochter Püppi herrscht komplette Funkstille, Kathrin Kron zog wegen ihres Vaters nach dem Studium wieder nach Unterleuten, gerät aber immer wieder in Konflikt mit ihm. Zwischen Bodo Schaller und seiner Tochter Miriam, von deren Mutter er nunmehr getrennt lebt, kommt es am Ende zu einem

43 folgenschweren Missverständnis. Eine besondere Rolle im Figurenensemble kommt Konrad Meiler zu, da er abseits des Netzes von Beziehungen in Unterleuten steht. Das Spinnennetz aus „Verwandtschaft, Bekanntschaft, Nachbarschaft, Freundschaft, Feindschaft, Liebe, Hass, Schuld, Neid, Abhängigkeit“ (U 104) bezieht ihn nicht mit ein. Sein einziger zwischenmenschlicher Kontakt zu Unterleuten verbindet ihn mit Linda Franzen, die ihm ein Stück Land abkaufen möchte und ihn erst dazu bringt, nach Unterleuten zu kommen. Damit stellt sein Blick auf den Ort die einzige Außensicht dar, nimmt man den Epilog und damit Lucy Finkbeiner aus. Wie auch alle weiteren Figuren trägt der Unternehmensberater Konrad Meiler Züge der Überzeichnung und wirkt mitunter typenhaft. Darauf kommen auch mehrere RezensentInnen zu sprechen, Lennart Laberenz bringt dahingehend folgende Kritik vor:

Allerdings ermüden die vielen Klischees zwischen den hübschen Beschreibungen; wenn man sich an die kunstlose Sprache gewöhnt hat, folgt man dem Treiben in Unterleuten bald mit ähnlichem Interesse, mit dem man vielleicht das Fernsehprogramm der Privatkanäle begleitet: mit der distanzierten Lust an der Katastrophe der anderen.219 Katharina Granzin hingegen betrachtet die klischeehaften Züge als „klug eingesetzt“, die Typen würden „ein glaubhaftes Eigenleben entwickeln“220, was ihr zufolge letztlich ausschlaggebend sei.

6.4 Funktion der Provinz

Im ersten Teil des Romans kommt der Unternehmensberater Konrad Meiler – wie weiter oben illustriert, verfügt er als einzige Figur über die einzige Außensicht auf das Dorf – das erste Mal in die Gegend und hegt dabei folgende Gedanken:

Ihm kam das alles wie ein Paralleluniversum vor. Ein No-man's-Disneyland. Ein Freilichtmuseum preußischen Versagens beim Versuch der Wiederaufsiedelung wüst gefallener Ländereien. Friedrich der Große würde sich im Grab umdrehen, wenn er wüsste, wie das Ergebnis seiner aufwändigen Siedlungspolitik aussah, samt Sumpftrockenlegung und Dorfneubau: drei zwölfjährige Mädchen auf Ponys in einer ansonsten völlig ausgestorbenen Landschaft. (U 55) Vorerst gibt diese fremde Gegend dem Außenstehenden Anlass zur Provinzkritik. Der am Stadtrand von Ingolstadt lebende Meiler sieht in dem Landstrich, in dem er 250 Hektar Land zu einem Spottpreis erworben hat, vor allem ein Symbol des Versagens. Die Idylle hat keine Wirkung auf ihn, vielmehr empfindet er sie als das misslungene Produkt der Wiederaufsiedelung. Damit spiegeln seine Gedanken Provinz- und Zeitkritik wider. Im Weiterfahren wird sich Meiler allerdings noch

219 Lennart Laberenz [Rez.]: Weltweisheiten vom Dorf. Erstellt am 28.03.2016 In: Der Freitag. URL: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/weltweisheiten-vom-dorf [30.05.2016]. Im Folgenden zitiert als: Laberenz [Rez.], Weltweisheiten. 220 Katharina Granzin [Rez.]: Neuer Roman von Juli Zeh: Da stinkt doch was in Unterleuten. Erstellt am 07.03.2016. In: taz.de. URL: http://www.taz.de/!5284060 [30.05.2016]. Im Folgenden zitiert als: Granzin (Rez.), Unterleuten. 44 mit anderen Gefühlen zu diesem Landstrich konfrontiert sehen, Unterleuten wird für ihn aussehen, „wie etwas, das man Heimat nennen konnte.“ (U 64) Wie bereits in Kapitel 3.1 erläutert, hat sich Meiler von seiner Villa entfremdet, er bewohnt sie alleine und empfindet sie kaum als Heimat. Dennoch scheint er nach etwas Derartigem zu suchen. Juli Zeh sieht so einen Ort allerdings als entkoppelt von Räumlichkeit an:

„Der Mensch will mehr als einen Geburtsort mit einer Postanschrift. Er sehnt sich nach einem metaphysischen Asyl für seine transzendentale Obdachlosigkeit, nach einem Hauptwohnsitz für die Seele, also nach jenem komplizierten Geflecht, das den inneren Menschen mit seiner äußeren Existenz verbindet.“221 Dass Unterleuten für Meiler tatsächlich zum Wohnsitz wird, steht nie zur Debatte. Doch indem er sein Investment als Chance dafür sieht, die Familie wieder zusammenzubringen, scheint ein „Hauptwohnsitz für die Seele“222 wieder greifbarer zu werden. Letztlich müssen seine Pläne allerdings scheitern. Neben diesem ambivalenten Blick auf die Provinz wird in kritischer Weise auf das Leben in der Stadt geblickt, etwa wenn sich Gombrowski in der folgenden Textstelle mit Linda Franzen auseinandersetzt:

Ihre verächtliche Mine kannte er zur Genüge. Die Blonde hielt ihn, genau wie Püppi, für einen dummen Bauern. Immer der gleiche Weiberdünkel: Wer nicht ins Theater ging und keine Romane las, war nichts wert. Als ob das Leben in der Stadt die Leute besser machte. Als ob eine Stadt mehr wäre als eine Ansammlung von haushoch gestapelten Heimatlosen. Frau Franzen wäre gewiss nicht nach Unterleuten gezogen, wenn sie die Stadt so toll gefunden hätte. (U 249) In dieser Passage wird der Stadt-Land-Gegensatz aus der Sicht Gombrowskis verhandelt. Dabei stellt er dem Leben auf dem Land, das er als Landwirt im Dialog mit der Natur führt, das Leben in der Stadt, das er mit Kultur in Zusammenhang bringt, gegenüber. Seine Skepsis der Stadt gegenüber gipfelt in dem Gedanken, dass die Stadt keine Heimat sein kann, sondern vielmehr lediglich ein Aufbewahrungsort für Menschen ist. Die Stadt als menschenfeindlicher Ort stellt ein Motiv dar, das sich in der Geschichte der erzählten Provinz mindestens bis zu Gotthelfs Dorfgeschichten zurückverfolgen lässt und das immer wieder wesentlich für Provinzromane war. Die Zumutung eines Lebens in der Stadt wird allerdings nicht nur vom alteingesessenen Dorfbewohner thema- tisiert, sondern auch vom ehemalig in Berlin lebenden Gerhard Fließ:

Er war nicht aufs Land gezogen, um zu erleben, wie der urbane Wahnsinn die Provinz erreichte. Er verzichtete nicht auf Theater, Kino, Kneipe, Bäcker, Zeitungskiosk und Arzt, um durchs Schlafzimmerfenster auf einen Maschinenpark zu schauen, dessen Rotoren die ländliche Idylle zu einer beliebigen, strukturschwachen Region verquirlten. Gerhard war ein

221 Zeh, Fliegende Bauten, S. 97. 222 Ebda. 45 Exilant, geflohen vor dem Gespinst aus Belästigungen, zu dem das moderne Leben geworden war. (U 200) Auch hier wird das Leben in der Stadt negativ dargestellt, auch wenn der Umzug aufs Land einen Verzicht auf gewisse Annehmlichkeiten bedeutet. Dennoch geht Gerhard Fließ mit dem modernen Leben hart ins Gericht, es ist ihm ein „Gespinst aus Belästigungen“ (U 200). Mit seinem Umzug nach Unterleuten glaubt er diesen Belästigungen entkommen zu sein. Damit übt er Zeitkritik, die sich einerseits auf die Zustände des modernen städtischen Lebens bezieht, andererseits aber auch gegen eine Verschandlung ‚seiner‘ Idylle durch den Bau eines Windparks in unmittelbarer Nähe zu seinem Haus und Grundstück. Immerhin hat er sich die Idylle in Form eines lebenslangen Kredites einiges kosten lassen. Obwohl für ihn als Naturschützer eine Affinität zu einer derartigen Energiegewinnungsmethode naheliegen würde, wendet er sich strikt gegen die Windräder, die für ihn eine Gefahr für das Vogelschutzreservat, für das er beruflich zuständig ist, darstellen und eine deutliche Wertminderung für sein Haus bedeuten würden. Auch wenn Gombrowski das Leben in der Stadt, wie oben illustriert, für einen Irrtum hält, so ist Unterleuten für ihn dennoch kein heimatlicher Rückzugsort, sondern ein „Drecknest“ und eine „Schlangengrube“. (U 463) Im Gespräch mit Linda Franzen drückt er sich dazu folgendermaßen aus:

»Das klingt, als würden Sie Unterleuten hassen.« »Tue ich auch. Und Unterleuten hasst mich. Kron sowieso samt Tochter, Schwiegersohn und Enkelin, dazu seine Veteranen-Truppe und deren gesamte Sippschaft. Weiterhin hasst mich, wer mir etwas schuldet, also praktisch jeder, allen voran Arne und Schaller.« (U 463) Gombrowskis Herkunftsort, in dem er sein gesamtes Leben verbracht hat, entbehrt für ihn jeglicher Idylle. Obwohl er sein ganzes Leben darauf verwendet hat, den Grundbesitz seines Vaters zu erhalten und als größter Arbeitgeber für das Auskommen zahlreicher BewohnerInnen zu sorgen, ist Unterleuten für ihn ein Ort der Kämpfe und Intrigen, an dem ihm vor allem Hass entgegenschlägt. Diese antiidyllische Provinz ist für ihn eine geschlossene, im Gegensatz zu seiner Frau, die Unterleuten verlässt, um nie wieder zurückzukehren, führt für ihn kein Weg aus diesem Ort. Sein letzter Weg führt ihn in die Trinkwasserversorgungsanlage des Ortes, um dort Selbstmord zu begehen und sich danach langsam in das Wasser zu mischen, um schließlich gewissermaßen aus den Leitungen aller DorfbewohnerInnen zu fließen:

Unterleuten würde Gombrowski trinken, essen und sich mit ihm waschen, während die Polizei nach seinem Verbleib fahndete. Bis man im Rahmen der nächsten Wartung eine Wasserprobe nehmen und einen aufgeschreckten Techniker die Leiter hinabschicken würde. Ein schöner Gedanke, an dem sich Gombrowski seit Tagen erfreute. (U 624) All jenen, die Gombrowski hassen und ihm sein Engagement für den Ort nicht danken, kommt er schließlich noch furchtbar nahe, niemand in Unterleuten bleibt so vor ihm verschont. Doch nicht 46 nur in Bezug auf Gombrowskis Leben erscheint die Provinz als geschlossen. Sie präsentiert sich auch insofern als geschlossen, als die UnterleutenerInnen Polizei und Justiz als ungeeignete Mittel zur Problembewältigung ansehen und zu anderen Mitteln greifen. Nachdem Hilde von Kron mit dessen Krücke am Kopf verletzt worden ist, fragt Gombrowski sie, ob sie ihn wegen Körper- verletzung anzeigen wird. Ihre Antwort darauf ist unmissverständlich: „»Seit wann«, fragte Hilde, »regeln wir unsere Angelegenheiten mithilfe der Polizei?«“ (U 101) Das Dorf kennt seine eigenen Gesetzmäßigkeiten, was den Umgang mit Konflikten angeht. Auch darüber hinaus scheint das Dorf dem zugezogenen ehemaligen Soziologen Gerhard Fließ vom Rest der Welt abgeschnitten:

Unbemerkt von Politik, Presse und Wissenschaft existierte hier eine halb-anarchische, fast komplett auf sich gestellte Lebensform, eine Art vorstaatlicher Tauschgesellschaft, unfreiwillig subversiv, fernab vom Zugriff des Staates, vergessen, missachtet und deshalb auf seltsame Weise frei. Ein gesellschaftstheoretisches, nein gesellschaftspraktisches Paralleluniversum. Geld spielte eine geringere Rolle als die Frage, wer wem einen Gefallen schuldet. Um in diesem System etwas zu bewegen, musste man Teil des Systems werden. (U 29) Dieser Befund muss sich allerdings als übertrieben erweisen. Die Figuren Kathrin Kron und Frederik Wachs etwa gehen einer Arbeit außerhalb des Dorfes nach, Linda Franzen bestellt ständig Waren bei Amazon (U 32). Gerhard Fließ glaubt dennoch, dass er dabei ist, die wahren Mechanismen des Dorflebens zu verinnerlichen: „In den vergangenen Wochen hatte sich Unter- leuten als strenger Lehrmeister erwiesen. Gerhard hatte erlebt, wie an diesem Ort Probleme erzeugt und gelöst wurden. Mit Reden, Analysieren, Abwägen kam man nicht weit. Es ging darum, Fakten zu schaffen.“ (U557) Als er schließlich seinen Nachbarn aufsucht, um derartige Fakten zu schaffen, zeigt sich, dass er die Situation entgegen seiner Sicherheit, nun eine geeignete Gangart gefunden zu haben, völlig falsch einschätzt. Als nach der brutalen Attacke auf seinen Nachbarn die Polizei kommt, um ihn festzunehmen, reagiert er mit Verwunderung: „Nur eine Dorfangelegenheit. So etwas regeln wir unter uns.“ (U 610) Seine Einschätzung einer geschlossenen Provinz wird damit deutlich falsifiziert. Unterdessen gibt sein Gewaltausbruch auch den Ausschlag dafür, dass seine Frau ihn mit dem Baby verlässt und wieder zurück nach Berlin geht. Damit ist Gerhard Fließ mit seinen Absichten in Unterleuten vorerst kolossal gescheitert.

Unter den von der Stadt nach Unterleuten gezogenen Figuren findet sich mit Linda Franzen noch eine weitere, die daran glaubt, sich in diesem Ort auf eine Art verwirklichen zu können, wie es ihnen in der Stadt nicht möglich war. Dabei spielen Machtfantasien eine essentielle Rolle, wie in der folgenden Textstelle deutlich wird:

47 Unterleuten hatte ein altes Herz. Seine Anführer wie Gombrowski, Kron oder Arne hatten die sechzig überschritten. Bald würden andere diese Plätze einnehmen, jungen Menschen mit eigenen Zielen. Es stand Linda frei, ihre Rolle zu wählen. Früher hatte sie sich manchmal gefragt, warum es Menschen gab, die ihr ganzes Leben darauf richteten, Partei- chef oder Vorstandsvorsitzender zu werden. Inzwischen kannte sie den Grund. Sie wusste jetzt, dass Macht süßlich roch. (U 460f.) Unter den alteingesessenen BewohnerInnen Unterleutens sind es hauptsächlich Männer, die die Geschicke des Dorfes lenken. Hilde Kessler und ihre Tochter Betty können hier als bedingte Ausnahme gelten, allerdings agieren sie beide vor allem im Windschatten Gombrowskis. Auf Seiten der Zugezogenen teilt sich das Machtstreben mit Gerhard Fließ und Linda Franzen gleichmäßig auf Männer und Frauen auf. Dabei misslingen die Aktionen von Gerhard Fließ, wie oben dargelegt, gründlich. Im Epilog wird jedoch deutlich, dass ihn das keineswegs zum Aufgeben gebracht hat:

Die Anstellung beim Vogelschutzbund ist er los, aber es heißt, dass er als Aushilfe bei der Ökologica eingesprungen ist und sich inzwischen in der Leitung des Betriebs unverzichtbar gemacht hat. Böse Zungen sagen, dass Fließ in Betty die einzige Frau in Unterleuten gefunden hat, die genauso jung ist wie Jule. Wobei Jule eher glaubt, dass Bettys Attraktivität in ihrem Erbe besteht. Wahrscheinlich will Gerhard bei der Ökologica einen Fuß in die Tür kriegen, bevor er vielleicht eine Weile ins Gefängnis muss. (U 631) Für Linda Franzen und Frederik Wachs endet das Abenteuer Unterleuten im Zuge der Auflösung-, Umbruchs- und Neuordnungsphase am Ende hingegen endgültig, genauso wie ihre Beziehung. Franzen kann der transzendentalen Obdachlosigkeit, die sie an den Mitgliedern ihrer Generation kritisierte, also keinen funktionierenden Gegenentwurf des Lebens in der Provinz entgegensetzen. Am Ende haben nicht die Windräder die Idylle in Unterleuten – falls es sie denn je gab – zerstört, sondern die divergierenden Eigeninteressen der BewohnerInnen, denen sie gefolgt sind, ohne über Moral nachzudenken oder übergeordnete Wertvorstellungen verwirklichen zu wollen, die abseits der Ich-Bezogenheit auf ein Zusammenleben in der Gruppe abzielen.

Neben der Thematisierung der Bewohner Unterleutens und ihrer Haltungen und Handlungen soll auch die Darstellung des Ortes an sich einige Betrachtung erfahren. Die Beschreibung von Unterleuten ist mitunter heiter-idyllisch, wie folgender Ausschnitt – mit Linda Franzen als Focalizer – illustrieren soll:

Früh um sieben fiel das Sonnenlicht bereits mit voller Kraft in die Küche. Der Garten stand reglos, als wäre der Wind noch nicht erfunden. Hoch über den Kronen der alten Bäume flitzte eine Armee von Schwalben am blauen Himmel. Es regnete so selten in Unterleuten, dass Linda sich manchmal fragte, ob ihr das gute Wetter irgendwann auf die Nerven gehen würde. (U 31)

48 Auch als Konrad Meiler Unterleuten das erste Mal besucht und aus seinem Mercedes Roadster steigt, um das Dorf zu betrachten, trägt es idyllische Züge: „Es war unglaublich still. Irgendwo im Dorf erklangen in großem Abstand Hammerschläge, die die Stille eher vergrößerten als störten. Meiler sah Felder, vom leichten Wind in Wellen bewegt, er sah Wald und versuchte zu begreifen, dass er sein Eigentum betrachtete.“ (U 64) Hier trägt das Dorf in den Augen des Betrachtenden friedliche Züge, vor allem die Stille wird hervorgehoben. Sie spielt auch in folgender Passage eine bedeutende Rolle:

Die Atmosphäre des frühmorgendlichen Waldes schloss ihn in sich ein, jene besondere Stille, die keine war, sondern ein Konzert aus Geräuschen, die weder von noch für den Menschen gemacht waren. Insekten summten, ein Specht klopfte, ein Eichelhäher warnte, irgendwo schlug eine verwirrte Nachtigall. Kron spürte, wie er zum ersten Mal seit Tagen zur Ruhe kam. (U 482) Der nicht gerade als Menschenfreund bekannte Kron findet in dieser Textpassage inmitten der Natur seine Ruhe wieder. Der Wald ist nicht in erster Linie Lebensraum für den Menschen, trotzdem schließt er ihn in seine friedliche Atmosphäre ein. Ganz im Gegenteil dazu steht jene Szene, die einen Meilenstein in der Feindschaft zwischen Gombrowski und Kron darstellen und auf die sowohl Krons Humpeln als auch der Tod von Hilde Kesslers Mann zurückgeht. Über weite Strecken des Romans bleiben die tatsächlichen Vorgänge im Dunkeln, mit Schaller kann sich einer der Beteiligten aufgrund eines Gedächtnisverlustes in Folge eines Unfalls nicht mehr daran erinnern, einzelne Schreckensbilder holen ihn allerdings immer wieder ein. Diese Ereignisse bilden ein schwarzes Loch im kollektiven Gedächtnis von Unterleuten und die BewohnerInnen füllen sie auf ihre jeweils eigene Art mit Bedeutung. Von Schallers Anwesenheit ist dabei nichts bekannt, so tippt man zumeist auf Gombrowski als Mörder und will nicht an einen Unfall glauben. Kron indessen behauptet stets, sich nicht erinnern zu können. Damit ergibt sich auch ein Anknüpfungspunkt zur Gattung des Kriminalromans, auf den weiter unten noch genauer eingegangen wird.

Schließlich erzählt Kron seiner Tochter eine Version der Geschichte, die ihm geeigneter scheint, während er in Gedanken die wahren Ereignisse durchgeht. Im Rahmen der Streitigkeiten um die Umwandlung der LPG in die Ökologica GmbH hat Gombrowki mit Kron ein Treffen im Wald verabredet, dieser ist misstrauisch gewesen und hat daher Erik Kessler mitgenommen. Gombrowski hat allerdings mit Schaller einen seiner Schläger geschickt, um Kron einen Denkzettel zu verpassen. Währenddessen hat ein „infernalische[s] Gewitter“ (U 488) getobt. Damit bekommt der Wald, im Grunde die gesamte Umgebung, bedrohliche, feindliche und unwirtliche Züge. Im Gegensatz zum ansonsten so häufig guten Wetter in Unterleuten werden die dramatischen Ereignisse hier also von einem folgenschweren Unwetter begleitet. Während Kron und Schaller sich geprügelt haben, wobei

49 Kron das Bein mit einer Eisenstange zertrümmert worden ist, hat ein Blitz in den Baum eingeschlagen, unter dem Erik Kessler gestanden ist, der dabei tödlich von einem herunterbrechenden Ast getroffen worden ist. Als Kron den Ort des Geschehens 20 Jahre später mit seiner Tochter wieder aufsucht, ist er von der friedlichen Stimmung überrascht: „Alles war schmeichelndes Licht, Moosgeruch und Vogelgesang. Kron wusste nicht, worüber er sich wunderte. Vielleicht hatte er heimlich geglaubt, auf der Lichtung tobe bis zum heutigen Tag das infernalische Gewitter.“ (U 488) Der Ort des Geschehens verliert für Kron 20 Jahre lang seine Bedrohlichkeit nicht. Am Ende war es also kein nahezu allmächtiger Gombrowski, der über Leben und Tod entschied, sondern die Naturgewalt in Form eines Gewitters.

In den vorhergegangenen Ausführungen wurde die Provinz mehrmals als geschlossen beschrieben, dem liegt Norbert Mecklenburgs Einteilung von erzählter Provinz in geschlossen oder offen zugrunde. 223Allerdings scheint die Charakterisierung eines in der Gegenwart oder nahen Vergangenheit angesiedelten Provinzromans als in jeder Hinsicht geschlossen wenig Sinn zu machen. Auch Mecklenburg hält in Grüne Inseln fest, dass der Weg der Offenheit gewählt werden muss, sofern Romane nicht in Pseudorealismus abgleiten wollen. Darum wurde hier der Weg gewählt, einzelne Aspekte des dargestellten Lebens in der Provinz auf ihre Geschlossen- bzw. Offenheit zu untersuchen. Der anschließende Ausschnitt thematisiert einen Aspekt der dargestellten Provinz Unterleuten, der in Richtung Offenheit ausschlägt:

Seit die amerikanische Immobilienkrise die Staatshaushalte unter Druck setzte und sich die Erkenntnis ausbreitete, dass Überschuldung auch für Volkswirtschaften zum Problem werden konnte, machte das Finanzministerium, was jeder Privatmensch auch tun würde: Es verscheuerte zwar nicht das Tafelsilber, wohl aber den großflächigen Ramsch, der bei der Wiedervereinigung in Form von ehemaligen Volkseigentum in das Eigentum der Bundes- republik gelangt war. Bei der Auktion, die Wanka und Meiler besuchten, brachte die Nachfolgeorganisation der Treuhand 250 Hektar unter den Hammer. Weil der Ausgangspreis geradezu lächerlich war, bot Konrad Meiler mit […]. (U 52) An dieser Stelle des Romans werden die Vorgänge in Unterleuten in einen globalen Kontext eingehängt. Die Auswirkungen der Weltwirtschaft reichen bis in dieses brandenburgische Dorf, damit ist die Provinz nach Mecklenburgs Klassifizierung als offen dargestellt. Damit steht auch die Frage im Raum, inwiefern das Dorf für die Welt steht. Wie in Kapitel 4 erläutert, unterscheidet Mecklenburg vier Formen der Repräsentation der Welt durch Provinz.224 Im Fall von Unterleuten liegt es nahe, einerseits von einer Modell-Relation auszugehen, in der Unterleuten stellvertretend für die ehemalige DDR 20 Jahre nach der Wende steht. Konrad Meiler wird dabei aus Sicht der

223 Vgl. Mecklenburg, Provinz, S. 45-50. 224 Vgl. ebda S. 38f. 50 DorfbewohnerInnen, vor allem Krons, zur Heuschrecke, deren Investment für Unterleuten und seine BewohnerInnen negative Konsequenzen nach sich zieht. Kron äußert in dieser Passage seinen Unmut direkt nach der Versteigerung: „»Ist dir eigentlich klar«, sagte der Kerl, »dass Heuschrecken wie du die Bodenpreise ruinieren? Und dass es Leute gibt, die dafür bitter bezahlen?« Ohne auf eine Antwort zu warten, spuckte er Meiler vor die Füße und humpelte davon.“ (U 57) Im Gespräch mit dem ehemaligen Bürgermeister Arne Seidel stellt sich für die Journalistin Lucy Finkbeiner die Frage, ob die unglücklichen Ereignisse etwas mit dem Ort Unterleuten zu tun haben, oder ob Derartiges überall passieren könnte:

Arne sagt, dass er manchmal denkt, auf Unterleuten laste eine Art Fluch. Er fragt mich, ob ich glaube, dass Unglück etwas mit Orten zu tun hat. Ob mit Leuten wie Linda Franzen oder Gerhard Fließ alles genau so gelaufen wäre, wenn sie in ein anderes Dorf gezogen wären. Ganz ehrlich, ich weiß es nicht. (U 634f) Auch hier scheint es geboten, die Form der Repräsentation der Welt durch Provinz zu untersuchen. Der oben gefasste Befund, dass einerseits eine Modell-Relation vorliegt, in der die ehemalige DDR durch Unterleuten repräsentiert wird, lässt sich hier aufrechterhalten. Das oben stehende Zitat lässt aber auch die Frage aufkommen, ob Unterleuten als Repräsentation der Welt erscheint, ob das hier geschehene Unglück nicht im Grunde überall passieren hätte können. Nell und Weiland sprechen in diesem Zusammenhang vom Dorf als einem Laboratorium, in dem sich gesellschaftliche Aus- handlungsprozesse vollziehen.225 Hinsichtlich der Modellrelation ist auch ein Verweis auf den didaktischen Gestus angebracht, den Juli Zeh in Unterleuten deutlich werden lässt. Granzin bringt dies in ihrer Rezension auf den Punkt: „Eher ist es ein bisschen so, als hätte man unter Anleitung einer klugen Lehrerin eine komplizierte Gleichung mit vielen Unbekannten richtig gelöst.“226

Unterleuten präsentiert sich im gleichnamigen Roman – wie bereits angeklungen ist – als Ort, in dem die Figuren ihren Eigeninteressen folgend ins Feld ziehen und um Macht kämpfen. Am Ende muss in dieser Konstellation beinahe jeder ein Scheitern hinnehmen, sei es nun das Scheitern einer Ehe bzw. Beziehung, das Scheitern eines Geschäftes oder das Scheitern von Lebensplänen. Kron aber erringt insofern einen Sieg, als die Windräder nicht auf Gombrowskis Grund sondern auf seinem errichtet werden. Er muss allerdings feststellen, dass ihm dieser Sieg nichts bedeutet:

Wenn Unterleuten so verkommen war, dass es noch nicht mal zum Schauplatz für ausgleichende Gerechtigkeit taugte, dann zeichnete es sich nicht durch durch eine eigene, sondern durch die Abwesenheit jeglicher Moral aus. Dann war es den Boden nicht wert, auf dem es stand und verdiente die Auslöschung, die schon im Gange war. Dieses Mal nicht durch Bomben, sondern durch die Ankunft von Menschen ohne Erinnerung. Mit jedem

225 Vgl. Nell/Weiland, Imaginationsraum, S. 20. 226 Granzin [Rez.], Unterleuten. 51 neuen Vogelschützer und jeder neuen Pferdefrau starb ein Stück des alten Unterleutens. (U 613) Kron resigniert, er glaubt nicht mehr daran, in Unterleuten Gerechtigkeit erreichen zu können. Weil im Ort keine verbindlichen Moralvorstellungen herrschen, beginnt auch die Dorfgemeinschaft zu bröckeln, das „alte Unterleuten“ (U 613) ist von Auflösungserscheinungen betroffen. Die über Jahre und Jahrzehnte gewachsenen dörflichen Strukturen lösen sich auf, die klaren Positionen der DorfbewohnerInnen verschwimmen immer mehr. Da immer neue Leute zuziehen werden, die keinen Anteil am kollektiven Gedächtnis des Dorfes haben, was wie in Kapitel 5 erläutert für die Dorfgemeinschaft wesentlich ist,227 werden die alten Strukturen der Prophezeiung Krons nach mehr und mehr an Bedeutung verlieren. Damit wird auch ein Verblassen des Stadt-Land-Gegensatzes angesprochen, indem durch diese Entwicklung die typisch dörflichen Elemente auch in Unterleuten immer mehr an Bedeutung verlieren.

6.5 Gattungszuordnung

Weiter oben wurde bereits darauf hingewiesen, dass sich die Abgrenzung der Gattung des Provinzromans zu anderen Gattungen mitunter als schwierig erweisen kann. Die Grenzen zum Familien- oder Kriminalroman sind fließend. So ist es auch wenig verwunderlich, dass es sich beim Roman Unterleuten, der hier unter der Annahme, es handle sich dabei um einen Provinzroman, untersucht wird, laut Eigendefinition (siehe Klappentext) um einen Gesellschaftsroman handelt. In der Rezension in der Zeit wird diese Gattungszuordnung ebenso vorgenommen und folgendermaßen begründet:

Es war nur eine Frage der Zeit, bis aus ihrer Schreibwerkstatt ein Gesellschaftsroman im Breitwandformat hervorgeht, mit allem, was dazugehört: zeitgeschichtlich exemplarischer Konflikt, Kernensemble von nicht weniger als zwanzig Figuren, mikrokosmischer Schau- platz als Labor des Makrokosmos und ein Handlungssystem, dessen Organisationsgrad der Technik einer BMW R 1200 GS in nichts nachsteht.228 Unterleuten als Gesellschaftsroman einzuordnen wird also kaum als falsch gelten können, dennoch liegt hier auch eindeutig ein Provinzroman im Sinne Mecklenburgs vor, indem die Provinz nicht lediglich als Dekor erscheint, sondern für den Roman als essentielles Element zu charakterisieren ist.229 Lennart Laberenz weißt im Zusammenhang mit dem Roman Unterleuten und der Gattung des Gesellschaftsromans darauf hin, dass im 20. Jahrhundert immer mehr Romane dieser Zuordnung ihren Schauplatz mit der Absicht in der Stadt fanden, die gesamte gegenwärtige Gesellschaft in

227 Vgl. Baum, Lebensräume, S. 125. 228 Ursula März [Rez.]: "Unterleuten": Jedes Dorf ist eine Welt. Erstellt am 05.04.2016. In: Zeit online. URL: http://www.zeit.de/2016/13/unterleuten-juli-zeh-roman [13.05.2016]. 229 Vgl. Mecklenburg, Provinz, S. 8-12. 52 Form einer Modellrelation abzubilden. Nun würden sie allerdings in die Dörfer zurückkehren, sich dabei aber dennoch im Sichtfeld der Metropolen aufhalten.230

Zu einer weiteren Gattung, zu der Juli Zeh schon hinsichtlich früherer Romane eine Nähe nachgesagt wurde, ergeben sich auch in Unterleuten Parallelen, nämlich zu jener des Kriminal- romans. Diese Gattung wird im Handbuch der literarischen Gattungen wie folgt definiert: „»Kriminalromane« handeln vom Verbrechen, in der Regel von Morden, und von der Klärung der mit einer Tat verbundenen Fragen, unter denen die nach dem Täter, den Tatmotiven und dem Tathergang besonders wichtig sind.“231 Dem entsprechen im Falle von Unterleuten vor allem die bis zum Ende des Romans im Dunkeln liegenden Vorgänge in jener Nacht, in der Erik Kessler gestorben ist und Kron schwer verletzt wurde. Schließlich wird der Tathergang gegen Ende des Romans von Kron für die LeserInnen aufgeklärt. An dieser Stelle ist auf die weiter oben bereits thematisierte Feststellung von Rölcke zu verweisen, derzufolge die Bauweise von Kriminalromanen jener des Provinzromans dahingehend gleicht, als dass in beiden Fällen ein (mehr oder weniger) geschlossener Raum mit einer überschaubaren Anzahl von Figuren den Rahmen bildet, in dem sich dann außerordentliche Dinge ereignen.232 Dies trifft auf Unterleuten zweifelsfrei zu und somit illustriert dieser Roman einerseits die von Rölcke getroffene Feststellung und rechtfertigt andererseits eine Einordnung des Romans als Provinzroman mit dem ergänzenden Hinweis auf Züge des Kriminalromans.

6.6 Fazit

Aufbauend auf die vorangegangenen Ausführungen kann für diesen erst vor kurzem erschienen Provinzroman folgendes Fazit gezogen werden: Unterleuten folgt dem von Michael Rölcke vorgeschlagenen Bauplan eines idealen Provinzromans233 über weite Strecken. Der Roman ist in der ostdeutschen Provinz angesiedelt und handelt in gedanklichen Rückblicken Teile der Geschichte bis zurück zum 2. Weltkrieg ab. Die sozialen Zuordnungen stehen in Unterleuten weitgehend recht unverrückbar fest. Durch den geplanten Bau des Windparks kommt es nun zu der von Rölcke angeführten Irritation, die schließlich zum Auseinanderfallen dieser Ordnung führt und eine Neusortierung notwendig macht. Letztlich steht für Rölcke in seinem Aufsatz zum gegenwärtigen Provinzroman fest: „Die Antworten auf die für die Welt relevanten Fragen sind in der Provinz zu

230 Vgl. Laberenz [Rez.], Weltweisheiten. 231 Ulrich Suerbaum: Kriminalroman. In: Handbuch der literarischen Gattungen. Hrsg. v. Dieter Lamping. Stuttgart: Kröner 2009. S. 438. 232 Vgl. Rölcke, Konstruierte Enge, S. 118. 233 Vgl. ebda S. 121. 53 finden.“234 Für Unterleuten könnten diese Fragen folgendermaßen formuliert werden: Wo bleibt die Moral angesichts divergierender wirtschaftlicher Eigeninteressen und Selbstverwirklichungs- bestrebungen? Wo bleibt der Sinn hinter den unterschiedlichen Lebensentwürfen, von denen keiner so recht aufzugehen scheint? Damit gelangen wieder jene Fragen in den Blick, die bereits in Kapitel 6.1.1 als ausschlaggebend für die Poetik Juli Zehs dargestellt wurden. Weiters rückt der Roman die Idealisierung des Lebens am Land und die Frage nach dessen Authentizität ebenso ins Blickfeld wie den Umzug in die Provinz als Flucht vor verdrängten Konflikten.235

Die von Haberland angesprochene gemeinsame Basis von allgemein anerkannten Regeln und Ritualen236 löst sich für Unterleuten immer mehr auf. Die Bestrebungen der DorfbewohnerInnen sind größtenteils von selbstbezogenen Motiven geleitet, es gibt keine gruppenbezogenen, überge- ordneten Wertvorstellungen, die von mehr oder weniger allen geteilt werden. Damit stellt sich auch die Frage, wie weit Individualismus gehen kann und soll. In diesem Sinne liefert der Roman nicht die Antworten auf die Fragen, die für die Welt relevant sind, lässt aber dafür die Fragen selbst umso deutlicher und dringlicher hervortreten und regt zu deren Reflexion an.

234 Ebda. S. 138. 235 Vgl. Christoph Schröder [Rez.]: Juli Zehs "Unterleuten": Windkrafträder auf Misthaufen. Erstellt am 12.03.2016. In: Der Tagesspiegel. URL: http://www.tagesspiegel.de/kultur/juli-zehs-unterleuten-windkraftraeder-auf- misthaufen/13311834.html [30.05.2016]. 236 Vgl. Haberland, Deutschland, S. 131. 54 7 Andreas Maier: Der Ort

Für die Analyse von Andreas Maiers als vierter Teil der Ortsumgehung erschienenen Romans Der Ort wurde eine dem vorangegangenen Kapitel zu Juli Zehs Unterleuten gegenüber abgewandelte Herangehensweise gewählt. Um den vorliegenden Gegebenheiten gerecht zu werden, wurde etwa ein Kapitel eingefügt, das sich mit den drei vorhergegangenen Teilen der Ortsumgehung mit den Titeln Das Zimmer, Das Haus und Die Straße befasst. Auf eine Inhaltsskizze von Der Ort konnte hingegen verzichtet werden, da im Gegensatz zu Unterleuten keine komplexe Handlung mit verschiedenen Strängen vorliegt und diese daher ausreichend im Kapitel 7.3 zu den Grund- elementen der Romanstruktur abgehandelt werden kann. Wie bereits im vorangegangenen Kapitel wird auch hier wieder eine grundsätzliche Beschäftigung mit der Poetik des Autors der Arbeit am Roman selbst vorangestellt.

7.1 Andreas Maiers Poetik

In den folgenden Ausführungen zu Andreas Maiers Poetik werden zwei Schwerpunkte gesetzt, die sich aus der thematischen Grundierung dieser Arbeit und seinem Schreiben andererseits ergeben. Somit wird zuerst allgemein auf Kernthemen seines Schreibens eingegangen, die sich um die Begriffe ‚Ich‘, ‚Differenz‘ und ‚Wahrheit‘ anordnen. Dafür werden seine Frankfurter Poetik- dozentur mit dem Titel Ich, die Kolumnensammlung mit dem Titel Onkel J. Heimatkunde sowie literaturwissenschaftliche Einschätzungen zum Werk Andreas Maiers herangezogen. Anschließend soll es um den Heimatbegriff gehen, dem sich Andreas Maier als sogenannter Heimatdichter ausführlich widmet. Auch sein Verhältnis zu dieser Bezeichnung wird dabei untersucht. Der von Maier für das Magazin Cicero verfasste Artikel mit dem Titel Heimat ist wie nackt vor Gott zu stehen bildet hierfür eine wichtige Grundlage, daneben spielt wiederum seine Kolumnensammlung eine Rolle.

7.1.1 Ich oder „Das Leiden an der Differenz“237

Maiers erste Vorlesung, der Autor sagt, der Grund seines Schreibens sei das Leiden an der Differenz. Das ist doch handlich. Und wenn man sie fragt, was denn der Autor damit meint, dann sagen Sie einfach: Die Differenz ist etwas, das sich um sich selbst dreht, nämlich indem man die Differenz denkt. Ihr Gegenüber wird aha sagen und anschließend fragen, wie

237 Andreas Maier: Ich – Frankfurter Poetikvorlesungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006. (=Edition Suhrkamp. 2492.) S. 34. Im Folgenden zitiert als: Maier, Ich. 55 denn dieser eigenartige Autor seine Vorlesung überhaupt nennt. Ich, werden sie sagen. Er nennt seine Vorlesung Ich. Damit werden Sie mich meinen.238 Am Ende der ersten Vorlesung seiner Frankfurter Poetikdozentur fordert Andreas Maier die ZuhörerInnen dazu auf, das oben Wiedergegebene mitzuschreiben. Damit fasst er die vorher- gegangene Vorlesung nochmals in aller Kürze zusammen und gewährt einen knappen Einblick in das, was den Kern seiner Poetik bildet und im Folgenden näher ausgeführt werden soll. Die in obigem Zitat thematisierte Differenz beschreibt Maier im Zusammenhang mit seiner Verweigerung des Kindergartenbesuchs. Er setzte diese als Dreijähriger durch, indem er drohte vor ein Auto zu rennen, sollte er noch einmal in den Kindergarten gebracht werden.239 Dieser Punkt stellt für ihn eine deutliche Zäsur da: „Ich war durch jenen Konditionalsatz zu Bewußtsein gekommen und zu mir selbst geworden“.240 Ab dem Zeitpunkt seiner Kindergarten-Verweigerung kommt Maier seine Differenz zu den anderen deutlich zu Bewusstsein, indem er erkennt, dass die anderen Kinder nach Regeln handeln, die er nicht kennt und eine Gruppe bilden, zu der er nicht gehört.241 Viele Jahre später wird er angesichts seiner Tätigkeit als Lehrer Folgendes denken:

[…] im Ganzen: wie halten die Menschen das Leben, wie es ist, aus? Und zeitgleich dachte ich, was mir schon seit langer Zeit die größte Gewißheit war: sie müssen es nicht aushalten, sie haben nichts auszuhalten, es würde ihnen ohne das sogar etwas fehlen. Die Differenz ist etwas, das sich um sich selbst dreht, nämlich indem man die Differenz denkt.242 Die Differenz besteht also mitunter darin, dass die anderen an dem Leben, das für ihn falsch scheint, im Gegensatz zu ihm nicht leiden. In seiner Jugend beginnt Maier damit, viel zu lesen. Er findet dabei etwas, was ihm in seiner Umwelt und damit bei den ihn umgebenden Menschen nicht begegnet:

Das ständige Scheitern aller an der Wahrheit und an sich selbst, das Bewußtsein vom weitgehenden Mißbrauch ihrer eigenen Begriffe und ein furchtbares ständiges Scheitern und Leiden wie in meinem eigenen Leben, das fand ich in den Büchern. In meiner Umwelt fand ich das wohlgemerkt nicht.243 Damit verknüpft sich seine Hinwendung zur Literatur, die später dazu führt, dass er selbst zu schreiben beginnt. Dabei ergibt sich früh ein Leitmotiv, das nach seinen eigenen Angaben möglicherweise sogar das bedeutendste darstellt: die Auflösung der Bewusstseinskontinuität der Figur.244 Konkretisiert bedeutet das: „Keine Vernichtungen, keine irgendwie von außen begründeten

238 Ebda. 239 Vgl. ebda S. 14. 240 Ebda S. 19. 241 Vgl. ebda S. 15. 242 Ebda S. 9f. 243 Ebda S. 24. 244 Vgl. ebda S. 47. 56 Irritationen oder Verunsicherungen. Auch keine Epiphanien oder dergleichen. Es ging um die Auflösung eines Selbst.“245 Dieser Auflösungserscheinung, oder anders ausgedrückt, Selbst- Auflösung, soll noch ausführlicher nachgegangen werden, indem der Versuch unternommen wird, sie in Der Ort aufzuspüren und an konkreten Textstellen greifbar zu machen. Ein Begriff, der bereits gefallen ist, als vom „Scheitern aller an der Wahrheit“246 die Rede war, bedarf hier noch einer näheren Betrachtung. Die Wahrheit stellt Maier nun an anderer Stelle so dar:

Die Wahrheit ist, daß wir falsch sind und richtig sein könnten und falsch allein kraft unseres eigenen Entschlusses, oder nennen wir es meinetwegen auch Trägheit, sind. Die Wahrheit ist, daß wir uns alle als moralische Wesen darstellen, aber faul sind, roh, verschlagen und brutal noch in den unbeachtetsten Momenten.247 Die Schwierigkeit sei es Maier zufolge nun, dies in der Literatur auszudrücken. Dabei müsse man einen Trick anwenden, ein Herumführen an der Nase inszenieren, um diese Auseinandersetzung in den LeserInnen selbst stattfinden zu lassen. Er findet dafür das Bild eines Giftes bzw. Gegengiftes, das den LeserInnen eingeimpft werden müsse, um in ihnen wirken zu können.248 Wie der Autor in seiner Poetikvorlesung weiter ausführt, ist die Wahrheit Kern seines literarischen Schaffens und bedeutet Erlösung:

Die Wahrheit ist ein Zaubermittel, und weil sie innerhalb einer Sekunde erlöst, weiß auch jeder, daß es sie gibt und was sie ist und was sie beinhaltet, denn sie ist das Einfachste von der Welt, darum gehen meine Bücher, von da haben sie ihren Wesenskern. Aber die Menschen gehen zumeist den Umweg und verderben sich ihr Heil damit. Ich rätsele bis heute, warum der Teufel, also das Nichts, die Feigheit vor die Wahrheit gestellt hat, das war ein genialer Schachzug von ihm. Die Wahrheit ist das Einfachste, aber der Teufel hat sie verkompliziert, indem er die Feigheit davor gestellt hat. Und die Wahrheit heilt in einer Sekunde.249 Für Carsten Rohde ist diese Positionierung Maiers ungewöhnlich, wenn man sie vor dem Hintergrund des aktuellen Wahrheitsdiskurses betrachtet, in dem ein Verständnis von Wahrheit vorherrscht, das vor allem als dynamisch und kontingent-plural gelten kann. Indem Rohde sich der Poetikvorlesung und den Romanen Wäldchestag, Klausen, Kirillow und Sanssouci zuwendet,250 kommt er zu nachfolgendem Fazit: „Letztlich also geht es um die Wahrheit der Menschen und um die Wahrheit über den Menschen.“251

245 Ebda. 246 Ebda S. 24. 247 Ebda S. 92. 248 Vgl. ebda. 249 Ebda S. 141. 250 Vgl. Carsten Rohde: Der liebe Gott und das Nichts. Andreas Maier und der postpostmoderne Wahrheitsdiskurs. In: Euphorion 108 (2014) H. 1, S. 87-89. 251 Ebda S. 89. 57 Weiter oben war bereits die Rede davon, dass es eines Tricks bedarf, um die Wahrheit in der Literatur zum Ausdruck zu bringen. In folgendem Auszug aus einer von seinen Kolumnen, in der auch der Heimatbegriff ins Spiel gebracht wird, beschreibt Maier eine von ihm angewandte Art der Ausführung dieses Tricks:

Seitdem denke ich immer wieder: etwas ganz Teuflisches machen, ohne daß jemand merkt, daß man etwas Teuflisches macht, außer dem lieben Gott, und alle halten es für gemütlich und Heimatliteratur. Zurück in die Spinnstube, wie Kurzeck, wie Stadler, wie ich. Wir, die Heimatautoren. Wir, die Idioten.252 Damit geht etwas einher, das kurz als das Verwenden der Vergangenheit gegen die Gegenwart umrissen werden kann. Darin liegt für Maier auch das Hauptinteresse an der Vergangenheit, die ihm zufolge nie besser als die Gegenwart war, der weit verbreitete Glaube daran allerdings lasse den Trick erst funktionieren: „Man muß nur »damals« und »noch« sagen (zum Beispiel, daß es »damals noch« keine Ortsumgehung gegeben habe), und die meisten machen geistig sofort dicht und finden, ich hätte recht. Habe ich ja auch. Aber nicht so, wie sie es meinen.“253 Viele der in Maiers Poetik- vorlesungen immer wiederkehrenden Begriffe wie die bereits thematisierte Wahrheit, aber auch Gott und das Ich, setzt er in folgender Passage in ein Verhältnis, dass er in verschiedenen Kontexten wiederfindet:

Es ist egal, ob ich von meinen Büchern, vom lieben Gott, von den Menschen, dem Kindergarten oder dem Literaturbetrieb rede, denn in all dem entdecke ich immer wieder dieselbe Logik, das Ich, die Welt und Gott, die Wahrheit einerseits und die Menschen andererseits, das Ich in der Mitte, die Menschen drumherum und um alles Gott. Man könnte diese Grundstruktur vielleicht auch genausogut in nichtreligiöser Sprache ausdrücken, aber das wäre komplizierter, der liebe Gott macht es mir da einfacher, dafür danke ich ihm.254 Henk Harbers führt in »Reden könne jeder« Nihilistische Thematik im Werk von Andreas Maier aus, dass bei ihm die drei Begriffe ‚Gott‘, ‚Wahrheit‘ und ‚Gewissen‘ von ähnlicher Bedeutung sind.255 Damit ist auch der Berührungspunkt mit dem Nihilismus erreicht: „Als gesellschaftliches Wesen lebt man, so Maier, in der Unwahrheit, führt man eine nihilistische Existenz.“256 Damit schließt sich der Kreis zur anfangs erwähnten Kindergarten-Verweigerung: Die anderen Kinder lebten für Maier in der Unwahrheit und hiermit ergab sich die Distanz zu ihnen.

252 Andreas Maier: Onkel J. Heimatkunde. Berlin: Suhrkamp 2011. (=suhrkamp taschenbuch. 4261.) S. 125. Im Folgenden zitiert als: Maier, Onkel J. 253 Ebda. 254 Maier, Ich, S. 149. 255 Vgl. Henk Harbers: »Reden könne jeder« Nihilistische Thematik im Werk von Andreas Maier. In: Weimarer Beiträge 56 (2010) H. 2, S. 196. 256 Ebda. 58 7.1.2 Andreas Maiers Heimatbegriff: „Heimat, eine Ausblendung“257

Ich ließ die im Raum liegende Spannung einige Augenblicke im Raum liegen, und dann sagte ich, ja, selbstverständlich sei ich ein Heimatdichter, ich schriebe ja ständig Heimatromane. Aber es seien noch keine richtigen Heimatromane. Der letzte Roman habe ja sogar in Frankfurt gespielt, was gar nicht meine Heimat sei, sondern mein nächstes Ausland. […] Der Mann in Karlsruhe sagte, Sie nehmen uns gerade auf den Arm, ich glaube Ihnen kein Wort. Ja, so seltsam ist das alles geworden. Seitdem ich mich endlich als Heimatdichter bezeichne, glauben die Leute plötzlich, ich würde sie auf den Arm nehmen.258 In oben stehendem Zitat berichtet Andreas Maier in seiner Kolumnensammlung mit dem Titel Onkel J. Heimatkunde davon, bei einer Lesung danach gefragt worden zu sein, ob er denn ein Heimatdichter sei. Seine Antwort löst beim Fragenden Misstrauen aus. An anderer Stelle vermerkt er zu selber Situation Folgendes: „In Karlsruhe sagte ich auf die Frage, ob ich Heimatdichter sei, ja. Und war für einen Moment plötzlich sehr glücklich.“259 Grundsätzlich widmet sich Maier dem Heimatbegriff sehr ausführlich, vor allem in den bereits erwähnten Kolumnen und in einem Aufsatz für das Magazin Cicero, der den Titel Heimat ist wie nackt vor Gott zu stehen trägt. Darin äußert er sich zu der Eigenbezeichnung ‚Heimatdichter‘ wie folgt:

Ich sage, ich bin Heimatdichter, und alle sind gleich schockiert. Heimat ist eine gewaltige Schublade. Wer da hineingerät, hat verloren. Heimat, da wird es gleich ganz gemütlich. Wir Heimatdichter sitzen ja sozusagen in der Spinnstube, und es ist noch 1850 und die Welt noch in Ordnung. Arnold Stadler hat sich in seiner eigenen Bodensee-Heimat beerdigt, literarisch, Peter Kurzeck in Oberhessen, ich in der Wetterau. Da ist man einmal drin und kommt nie mehr heraus.260 Damit spielt Maier auf einen Heimatbegriff an, den sich wohl kaum jemand in Form des Kompositums ‚Heimatdichter‘ als Bezeichnung für sein schriftstellerisches Schaffen wünschen würde, eben weil es eine Schubladisierung ist, in der Bedeutungsdimensionen aus der wechsel- haften Geschichte des Begriffes ‚Heimat‘ von Ideologisierung bis hin zu Trivialisierung mit- schwingen (siehe dazu ausführlicher Kapitel 3). Für Maier geht damit die Gefahr einher, dass es „gleich ganz gemütlich“261 wird, man könnte wohl auch sagen harmlos bis wenig relevant. Dabei ist das Werk der zwei von ihm angeführten Heimatdichter, Peter Kurzeck und Arnold Stadler, wie er anschließend ausführt, mehr als relevant, da es darin um die ganze Welt geht.262 Damit rückt wieder die Frage nach der Provinz als Weltmodell ins Zentrum, wie sie im Laufe dieser Arbeit bereits

257 Maier, Heimat, S. 1. 258 Maier, Onkel J., S. 109. 259 Ebda S. 78. 260 Maier, Heimat, S. 2. 261 Ebda. 262 Vgl. ebda. 59 mehrmals begegnet ist.263 Inwiefern dieser Topos für Maiers Ortsumgehung und besonders für Der Ort eine Rolle spielt, wird in den folgenden Kapiteln noch zu thematisieren sein. Vorerst soll es allerdings noch darum gehen, was Heimat für Andeas Maier bedeutet. In Heimat ist wie nackt vor Gott zu stehen äußert er sich dazu wie folgt:

Heimat gibt es nicht. Sie ist eine Fiktion. Heimat ist so etwas wie unser erster Seelenzustand. Am Anfang ist alles um uns herum noch wie eine Ewigkeit. Eine Welt, als könne sie auf immer so bleiben wie sie ist. Heimat ist ein Sehnsuchtsraum. Wer konkret in einer Heimat lebt, erliegt einer Selbsttäuschung. Man kann an Vergangenem nur haften, wenn es verloren ist.264 Diese Definition ist des Weiteren vor allem dadurch geprägt, dass Maier sie eben nicht mit konkreten Inhalten in Verbindung bringt, sondern mit den Konnotationen, die bei LeserInnen bereits vorhanden sind, arbeiten möchte.265 Dabei geht es auch um die Zwiespältigkeit im Umgang mit Heimat:

Der Abstand zwischen dem Bild, das wir uns von unserem Sehnsuchtsort Heimat machen […] und der Heimat, wie wir sie selbst zurichten und verwandeln und stets ins Nichts hinabstoßen und dann sentimental werden und uns an ein Früher erinnern, als sei damals etwas besser gewesen – dieser Abstand ist nichts als das Bild unserer selbst.266 Die Annahme, dass früher alles besser gewesen sei, wird hier als trügerisch entlarvt, vor allem auch dahingehend, dass die Menschen selbst die Heimat verändern oder mit Maiers Worten „zurichten und verwandeln“.267 Damit bringt er auch das Schönen von Bildbänden der ‚Heimat‘ ins Spiel. Indem in einem Bildband über seine Heimatstadt Friedberg in der Wetterau kaum Autos und auch nicht die neue Ortsumgehungsstraße vorkommen, würde ausgedrückt werden, „dass wir a.) zwar für notwendig halten, was wir tun, aber dass wir b.) mit unserem Tun so wenig einverstanden sind, dass wir gleich wieder ausblenden müssen, was wir eben getan haben.“268 Damit wird Maier zufolge die Nichtübereinstimmung zwischen den eigenen Handlungen und sich selbst ausgedrückt, ein Uneinssein mit sich selbst.269 Dabei ist ihm vor allem der Bau besagter Ortsumgehungsstraße eine Zerstörung: „Meine Heimat wird jetzt zu einer Ortsumgehungsstraße, unser Kurpark wird durch die Landesgartenschau vernichtet, niemand trinkt mehr Apfelwein […]“270 Im Zusammenhang mit der Ortsumgehungsstraße steht auch sein Hinweis auf eine Malerin in der Wetterau, deren Schaffen er

263 Vgl. Rölcke, Konstruierte Enge, 121. 264 Maier, Heimat, S. 1. 265 Vgl.ebda S. 3. 266 Ebda. 267 Ebda. 268 Ebda S. 2. 269 Vgl. ebda. 270 Maier, Onkel J., S. 35. 60 als Heimatkunde bezeichnet.271 Ihre Technik verknüpft er auf folgende Weise mit der Ortsumgehung: „Auch mich hat sie schon in Wetterauer Technik gemalt. Es ist im Grunde dieselbe Technik, die sie draußen beim Bau der Ortsumgehung verwenden. (Tief hineinstechen in die Heimat und alles aufreißen, bis es nur so spritzt.)“272

Hier begegnet Heimat im Zusammenhang mit Vernichtung. Die Heimat präsentiert sich als etwas der Vernichtung Ausgesetztes. Damit lässt sich auch die von Maier vorgenommene Beschreibung der Heimat als ein erster, zwangsläufig bereits verlorener Seelenzustand in Verbindung bringen. In der Heimat kann man nicht tatsächlich leben, sie existiert nur in Verbindung mit dem Verlust: „Man kann an Vergangenem nur haften, wenn es verloren ist.“273 Die Heimat wird zugerichtet und geht verloren und damit wird die im Titel dieses Kapitels bereits erwähnte Ausblendung notwendig. So ist der Punkt erreicht, von dem aus sich die Intention der von Maier vorgenommenen literarischen Ortsumgehung, um die es hier primär gehen soll, bestens überblicken lässt:

Ja, ich schrieb neulich meinen Roman zu Ende und dachte, anschließend errichtest du der gesamten Wetterau einen Grabstein. Du trägst deine Heimat endgültig zu Grabe. Es ist nämlich so, daß wie ich hier schon öfter geschrieben habe, meine Heimat einem kompletten Vernichtungsprozeß unterliegt, den zu Hause bei uns aber gar niemand bemerkt. Man kann auch hier die Wetterau auf die gesamte Welt übertragen, denn die unterliegt ja auch einem kompletten Vernichtungsprozeß, den niemand bemerkt, weil ja wie immer alle alles (Weltgesetz Nummer eins) für normal halten.274 Damit umreißt der Autor im Rahmen seiner Kolumne recht präzise, was uns in den mittlerweile vier Bänden seiner Ortsumgehung begegnen wird und was weiter unten vor allem im Zusammenhang mit dem vierten Teil, Der Ort, betrachtet werden wird. Dazu nur ein kurzer Vorgriff: Die Wetterau begegnet in dieser Hinsicht als Modell für die Welt, diese Provinz-Welt-Relation wird im Verlauf der Analyse von Der Ort weiterführend untersucht. Den Ausgangspunkt für die geplante Umgehung der Heimat stellt das Haus von Maiers verstorbener Großmutter und darin das Zimmer seines Onkels J. dar, das ihm nunmehr als sein Arbeitszimmer dient. Das Haus bekommt auf diese Weise eine besondere Bedeutung:

Somit ist mein Haus auch eine Metapher für Verteidigung. Für sinnlose Verteidigung. Zehntausend Autos fahren am Tag um das Haus herum, kein Mensch kann mehr darin leben, aber dennoch hat es eine Geschichte, meine Geschichte, die Geschichte unserer Toten und der gesamten Wetterau, und deshalb bleibe ich und mache ich dieses Haus und überhaupt

271 Vgl. ebda S. 72. 272 Ebda. 273 Maier, Heimat, S. 1. 274 Maier, Onkel J., S. 101. 61 alles und vor allem die Toten zu meinem nächsten Buch, so in etwa gehe ich seit einem halben Jahr hausieren.275 In dieser Aussage wird das Mittel seiner Wahl zur Verteidigung dessen, was einst uneingeschränkt Heimat war, klar: Das Erinnern, wie es in seinem Projekt der Ortsumgehung durchgängig betrieben wird. Wie auch der Rezensent Gerrit Bartels festhält, bleibt Maier dabei allerdings nicht ausschließlich auf der Ebene des Erinnerns, sondern weist ein hohes Analyse- und Reflexions- potential auf.276

7.2 Rückblick: Das Zimmer, Das Haus und Die Straße

An dieser Stelle bedarf es eines Überblicks über die drei dem Roman Der Ort vorangegangenen Teile der Ortsumgehung, um eine Grundierung für die anschließende Beschäftigung mit dem vierten Teil zu schaffen. In allen Bänden erscheint durchgehend ein Ich-Erzähler, der es sich zur Aufgabe macht, sein eigenes Leben von Beginn an nachzuvollziehen. Die Nähe zum Leben des Autors wird dabei schon durch dessen Namen Andreas deutlich. In Das Zimmer aus dem Jahr 2010 wird der Ausgangspunkt vom Zimmer des Onkels gebildet.277 Stets nur als Onkel J. bezeichnet, bildet ein Tag in dessen Leben im Jahr 1969 das Grundgerüst der Erzählung, wobei der Ich-Erzähler zu diesem Zeitpunkt erst zwei Jahre alt ist. Es handelt sich dabei also weniger um Erinnerungen als vielmehr um den Versuch, das Leben des Onkels nachzuvollziehen, der folgendermaßen beschrieben wird: „An meinem Onkel nahm man seine Behinderung (er war eine Zangengeburt) nicht sofort wahr. Er konnte sprechen, er sprach nur einfache Sätze, aber das machte die gesamte Wetterau.“ (Z 17) Damit erscheint er unter anderem als „groteske Personifikation des Beschränkten und Provinzellen schlechthin.“278

Onkel J. hat für den Erzähler nicht teil an der Normalität der übrigen Menschen, die ihre normalen Leben leben und zu denen für den Erzähler immer die bereits erwähnte Distanz besteht. Darum wird der Onkel auch jenseits von Schuld eingeordnet: „Das machte ihn zeitlebens so schuldlos. Ein Mensch ohne Sündenzusammenhang.“ (Z 62) Immer wieder wird das Jahr 1969 verlassen, etwa um davon zu berichten, wie der Erzähler seinen Onkel in späteren Jahren zusammen mit seinem Bruder piesackte. Gegen Ende des Romans, als Onkel J. mit seiner Schwester, der Mutter des Erzählers, in

275 Ebda S. 103. 276 Vgl. Gerrit Bartels [Rez.]: Andreas Maier und sein Roman "Der Ort": Im Zeichen der Hickelkästchen. Erstellt am 07.06.2015. In: Der Tagesspiegel. URL: http://www.tagesspiegel.de/kultur/andreas-maier-und-sein-roman-der-ort- im-zeichen-der-hickelkaestchen/11878692.html [20.05.2016]. 277 Andreas Maier: Das Zimmer. Berlin: Suhrkamp 2010. Im Folgenden im Text zitiert mit einfacher Seitenzahl als: Z. 278 Wilhelm Amann: Die Provinz im Zeitalter der Globalität. Romane von Peter Kurzeck (Vorabend), Andreas Maier (Das Zimmer) und Stephan Thome (Grenzgang). In: Raum – Region – Kultur. Literaturgeschichtsschreibung im Kontext aktueller Diskurse. Hrsg. v. Marjan Cescutti, Johann Holzner und Roger Vorderegger. Innsbruck: Universitätsverlag Wagner 2013. (=Schlern-Schriften. 360.) S. 276. Im Folgenden zitiert als: Amann, Globalität. 62 der Friedberger Kaiserstraße im Stau steht, „erscheint erstmals gleichzeitig in allen Köpfen an diesem Tag das Wort Ortsumgehung.“ (Z 176) Die Idee dessen, was sich wie bereits erläutert als Zerstörung der Heimat ausnimmt, scheint für alle Anwesenden eine logisch-konsequente Forderung, abgeleitet aus dem lästigen Stau, darzustellen.

Das Haus, 2011 erschienen, erzählt von der frühen und frühsten Kindheit des Erzählers und ist in die beiden Teile DRINNEN und DRAUSSEN gegliedert.279 Eine bedeutende Rolle spielt darin der Umzug der Familie in ihr neues Haus:

Diese Welt, meine erste, war die Welt meiner Großeltern und Urgroßeltern. Noch mit fünf, mit sieben Jahren war ich immer lieber im Haus der Großmutter oder bei der Urgroßmutter. Vielleicht fällt mir deshalb immer zuerst, wenn ich an unser Haus denke, dieses Bild mit dem Foyer ein, weil es den Übergang markiert, den ich damals erlebte, den Übergang zwischen der alten Welt und der neuen. (H 14) Das sehr in sich zurückgezogene Kind, von dem der Erzähler als seinem jüngeren Ich spricht, verweigert nach dem ersten Tag den Kindergartenbesuch. Bereits in der Frankfurter Poetikvorlesung begegnete diese Verweigerung und wird dort als wichtige Zäsur dargestellt. In Das Haus wird das einschneidende Erlebnis des ersten und einzigen Tages im Kindergarten so beschrieben:

Sie waren schnell, und sie handelten nach Gesetzen, die mir völlig verschlossen blieben. Diese Kinder waren eine Gruppe, die erste meines Lebens. Diese Gruppe funktionierte nach Regeln, die ich nicht kannte und eigentlich bis heute nicht kenne. Vor meinen Augen verwandelten sich die Kinder in Handlungsautomaten. Sie schlugen sich, sie bissen sich, sie kommunizierten miteinander, sie taten irgend etwas miteinander, und vor allem: Sie konnten es. Sie konnten es, indem sie es einfach taten. (H 42) Da dies der einzige Kindergartenbesuch bleiben sollte, verbringt Andreas die folgenden Jahre vor allem im Haus und dort am liebsten im Keller, wo er stundenlang bastelt, was für ihn einen paradiesischen Zustand bedeutet: „Ich war aus der Familie ausgeklinkt und lebte so lautlos und zufrieden vor mich hin wie am Anfang bei meiner Urgroßmutter, als noch alles einfach und problemlos gewesen sein soll. Es war das wiedergefundene Paradies.“ (H 89) Schließlich beginnt mit DRAUSSEN die Schulzeit des „Problemandreas“ (H 126), auch hier stellt das Zusammensein mit anderen Kindern für ihn eine große Belastung dar und er schafft es aufgrund eines Kloßes in seinem Hals, den er regelmäßig auf raumfüllende Größe anschwellen fühlt, auf eine rekord- verdächtige Fehlstundenanzahl, ist aber dennoch ein sehr guter Schüler. Weil er all die Dinge, die seine MitschülerInnen tun – für die männlichen gilt das noch mehr als für die weiblichen – nicht nachvollziehen kann, bleibt er meist allein und sieht sich immer wieder den Attacken der anderen

279 Andreas Maier: Das Haus. Berlin: Suhrkamp 2011. Im Folgenden im Text zitiert mit einfacher Seitenzahl als: H. 63 ausgesetzt. Mit einem Mädchen namens Manuela geht er allerdings dennoch so etwas wie eine Freundschaft ein, die beiden verbringen gerne die Nachmittage zusammen:

Es war für mich wie ein Abenteuer. Ich saß neben Manuela und war zugleich aufgeregt und glücklich. […] Vielleicht war das erstaunlichste für mich die Selbstverständlichkeit, mit der wir dort saßen. Immer hatte ich vor anderen Kindern Angst gehabt, und nun saß ich hier mit einem anderen Schulkind, und ich mochte es, und es mochte mich. (H 158) 2013 folgt mit Die Straße der dritte Teil der Ortsumgehung.280 Darin geht es vor allem um die „andere Welt“ (S 32), deren Beschaffenheit sich dem jungen Andreas, wiederum nachvollzogen vom Ich-Erzähler, langsam und Stück für Stück offenbart: „Wenn ich mich an die allerersten Anfänge erinnere, so war diese andere Welt schon von Beginn an da und in meiner Umwelt enthalten, ich konnte sie nur noch nicht mit Vorstellungen füllen.“ (S 32) Damit ist die Welt der Sexualität gemeint, die hier in den verschiedensten Schattierungen begegnet: Durch die Doktor- spiele der Schwester und ihrer Freundinnen, bei denen immer irgendwas irgendwo hineingesteckt werden muss, durch die alten Männer in der Altstadt, die Buben in ihre Häuser locken, durch das im Bett Liegen mit der Mutter, durch die Erklärung des Wortes ‚ficken‘ von einem Mitschüler. Somit wird hier eine Zeit im Leben thematisiert, auf die viele später sehnsüchtig zurückblicken werden:

Ansonsten gab es: Die Mädchen schauten den Jungs auf die Jeans, und die Jungs schauten den Mädchen auf die Jeans, auch das war ihr Frühling, auch das war Sommer, und überall sonst schauten sie auch hin, zumindest so weit es ging oder sie es bereits wagten. Für viele wird es später ihre größte Zeit gewesen sein, als sei das Sein genau einmal gewesen, nämlich da. Einmal ganz und gar und wirklich. Und sie mittendrin. Und alles eigentlich für sie. (S 118) Daneben wird nach und nach die Geschichte eines amerikanischen Austauschschülers erzählt, der in Andreas Familie kommt, nachdem er von seinem vorherigen Gastvater missbraucht worden ist. Andreas findet eine Verbindung zu ihm, die sich vor allem aus der Traurigkeit speist, die ihn stets umgibt: „John Boardmann, dieser dicke Kerl in unserem Haus, der wie geschaffen war, eine Welt in sich hineinzufressen, um von ihr verschont zu bleiben, […] war stets von Melancholie umgeben.“ (S 168) Schließlich wird Andreas im Zusammenhang mit dem, was John zugestoßen ist, bewusst, wie Menschen – besonders auch er selbst – traumatische Erlebnisse „in die besagten schwarzen Löcher stecken“ (S 169), sprich verdrängen.

280 Andreas Maier: Die Straße. Berlin: Suhrkamp 2013. Im Folgenden im Text zitiert mit einfacher Seitenzahl als: S. 64 7.3 Grundelemente der Romanstruktur

Der Ort, die Straße, das Haus, das Zimmer, neulich sagte ich mir, du nimmst jetzt alles, deine Heimat, die ganze Wetterau, deine Familie, deine Geschichte zwischen Grabsteinen und Steinbrüchen, setzt dich ins Zimmer deines Onkels und machst daraus dein letztes Werk, ein Werk, das du so lange weiterschreibst, bis du tot bist, und dieses Werk wirst du Ortsumgehung nennen, benannt nach der Ortsumgehungsstraße, mit der sie deine Heimat- stadt jetzt umgehen und auf der immer noch nicht gefahren wird, obgleich sie schon drei Jahre daran bauen und die Genehmigung, ein schönes deutsches Wort, sich über vierzig Jahre hingezogen und eigentlich mein ganzes Leben begleitet hat. (O 9) Die ersten Sätze des Romans Der Ort stellen eine Beschreibung dessen dar, was im Rahmen der Ortsumgehung verhandelt werden soll. Dabei verdeutlicht der Ich-Erzähler seine Position, die bereits aus den vorhergegangenen Bänden bekannt ist: Das etwa 40-jährige Ich vollzieht seine Geschichte von der frühesten Kindheit an nach. Dabei wird der Roman durch Zitate aus dem Song Spring Time von Charlie Chaplin unterteilt: Spring is here, Skunks are crawling sowie Worms are squirming begegnen dabei als Überschriften der einzelnen Teile.

Wie bereits in den vorangegangenen Romanen ist neben dem Leben des Erzählers die Ortsumgehungsstraße und deren Planung sowie Umsetzung das zweite strukturgebende Element, das an obiger Stelle hinsichtlich der Dauer mit dem Leben des Erzählers in Verbindung gebracht wird. Gleich zu Beginn des Romans wird der damalige Stand des Baues der Ortsumgehungsstraße im Rahmen eines Spaziergangs dargestellt:

Als ich fünfzehn war, lief ich mit der Tochter des Besitzers der Bindernagelschen Buchhandlung auf der Kaiserstraße über das Feld von Friedberg nach Ockstadt und zur Hollarkapelle, und sie, die Tochter des Buchhändlers, sagte, es sei doch Wahnsinn, genau hier, wo wir gerade über die Wiese liefen, wollten die Verrückten eine Straße hinbauen, das war 1983. (O 9f) Damit wird eine zeitliche Einordnung vorgenommen, im Verlauf des Romans wird allerdings hauptsächlich die Zeit knapp vor diesem Spaziergang abgehandelt. Aufbauend auf die oben stehenden Zeilen wird die erzählte Zeit von 1983 mit der Erzählzeit kontrastiert:

Jahrzehnte später übernahm die Buchhändlertochter die Buchhandlung, redete plötzlich vom Einzelhandel und von Parkplätzen, dem Schwerlastverkehr und daß überhaupt die Kaiserstraße entlastet werden müsse, und seitdem ist sie selbst Befürworterin der Ortsumgehung über unser Feld von damals, das inzwischen nicht mehr existiert, weil es sich in eine Trasse verwandelt hat, wie alles um uns herum. (O 10) Bereits auf den ersten beiden Seiten des Romans wird also die Verbindung zwischen Heimat und Vernichtung geknüpft, die im Rahmen der Poetik Maiers schon angesprochen wurde: „Unser Feld“ (O 10) wurde durch die Ortsumgehung zerstört. Wie im Rückblick auf die vorherigen Bände der

65 Ortsumgehung deutlich geworden sein sollte, präsentiert der Erzähler sein jüngeres Ich über weite Strecken als Kind, das sich nicht in die üblichen sozialen Zusammenhänge einordnen kann. Dabei sind etwa die Kindergarten-Verweigerung oder die Probleme in und mit der Schule, die hohe Fehlstundenanzahl aufgrund des gefühlten Anschwellens eines gigantische Kloßes im Hals inklusive, zu nennen. Die Distanz zwischen dem kleinen „Problemandreas“ (H 126) und seinen Mitmenschen lässt sich für ihn nicht überwinden, er versteht die Regeln der jeweiligen Gruppe nicht. In Der Ort wird erzählt, wie dem jugendlichen Andreas bewusst ist, dass sein Verhalten nicht als normal gilt: „Daß das alles eine Krankheit war, war mir damals schon ziemlich klar. Daß ich aus der Entfernung zu allem, in die ich damals in den Jahren nach der Buchhändlertochter immer mehr hineingeriet, niemals mehr herauskommen würde, war mir vermutlich noch nicht klar.“ (O 18) Hier ist von einer Entfernung die Rede, die unüberwindbar wird. Für Andreas gibt es allerdings nicht die Möglichkeit, sich anders zu verhalten: „Was ich vor allem nicht verstand, war, warum nicht alle das gleiche [sic] taten wie ich, […] kurz gesagt, nicht verzweifelt bzw. krank waren. Und dabei waren sie es doch, die krank waren, dachte ich damals stets.“ (O 19) Die Art zu leben der anderen scheint zwingend anders, nicht nachvollziehbar und falsch. Das Leben, so wie es die meisten Menschen um Andreas herum leben, erscheint ihm als unertragbare Zumutung. Die Wahrheit wird im falschen Leben der anderen von der Feigheit verdeckt. Das gilt auch für seine Familie und bringt ihn auch zu ihr in eine Distanz: „Alle diese Menschen konnten tun, was sie taten, und hielten es aus, es, dieses Zauberwort, in dem damals für mich etwa so viel steckte wie die ganze Welt. Ich war als einziger in unserem Haus eine Zauberbergexistenz.“ (O 20) Diese Zauberbergexistenz bedeutet das tägliche Lesen von Thomas Manns Roman Der Zauberberg und die Nachstellung der Peeperkorngelage auf dem eigenen Schreibtisch mit Wein und Essen.

Auch wenn der Erzähler schon alleine dadurch zuverlässiger wirkt als in den früheren Bänden, da er nun nicht mehr seine frühe oder früheste Kindheit, sondern seine Jugend nachvollzieht, stellt er die Unzuverlässigkeit seiner Erinnerung selbst etwa folgendermaßen heraus, wenn er vom Tagesablauf seines Vaters spricht: „Die Toilette und die Waschbecken, die er benutzte, würden dafür zweimal in der Woche von unserer jugoslawischen Putzfrau Frau Eiler geputzt werden, vielleicht war sie inzwischen auch ersetzt durch die polnische Putzfrau Frau Lotko.“ (O 81) Auch im Zusammenhang mit dem Besuch des CDU-Vorstandsvorsitzenden, gegen den unter anderem mit Salatköpfen protestiert wird, ist er sich der richtigen Abfolge der Ereignisse nicht sicher:

Die Gebrüder Engel hatten gerade eine LP herausgebracht, die Kopfsalat hieß. Der Begriff war metaphorisch und antibürgerlich gemeint. Vielleicht hatte die Friedberger Widerstandsbewegung diesen Begriff übernommen und war deshalb auf Salatköpfe gekommen (vielleicht bringe ich es zeitlich auch durcheinander, und die LP der Gebrüder

66 Engel war erst ein paar Monate später herausgekommen, dann waren die Friedberger Salatköpfe einfach Produkt eigener Ideen unserer Widerständler). (O 126f) Die Haupthandlung in Der Ort ergibt sich im Zusammenhang mit Katja Melchior, in die sich Andreas verliebt und der er immer näher kommt. Der Erzähler erinnert sich in diesem Zusammenhang etwa an eine Party, bei der er und Katja sich zum ersten Mal berühren, womit ein Augenblick der Auflösung stattfindet:

In diesen Zusammenhang gehörten nun auch die Bewegungen, in die Katja und ich uns hineinwiegten. Ich ging darin auf angenehme Weise meiner selbst verlustig. […] Alles war gut. Hätte man mich in diesem Augenblick getötet, wäre ich in einem vollkommen geheilten Zustand zum lieben Gott gekommen, aber vielleicht trifft das auf jeden zu, den es erwischt, während er gerade zugekifft ist oder ein Opiat genommen hat. (O 59) Im Rahmen dieser Party wird auch klar, dass Andreas nun nicht mehr ein unerreichbarer Einzelgänger ist, mit 15 Jahren ist er Teil einer Gruppe, in deren Rangordnung er automatisch einen bestimmten Platz einnimmt, der ihn gegenüber anderen Mitgliedern erhöht und ihn eine Über- legenheit über diese fühlen lässt. Diese Tatsache ist ihm schmerzlich bewusst, er kann sich allerdings nicht dagegen wehren. Dies wird in der Textpassage, in der es um seinen Bekannten Lemmy geht, dem er auf der bereits erwähnten Party begegnet, so ausgedrückt:

Umgekehrt fühlte ich in mir eine spontane Überlegenheit, die mir geradezu weh tat, weil ich nichts für sie konnte, weil ich sie gern abgelegt hätte und an der auch nichts gutzuheißen war. Ich konnte sie aber nicht ablegen, denn offenbar brachte ich diese Überlegenheit über Lemmy hier in Alex Binders Keller einfach kraft meines Wesens mit mir. (O 43) In seiner Verliebtheit werden Andreas Dinge um ihn herum, denen er zuvor keinerlei Betrachtung geschenkt hat, plötzlich sehr deutlich bewusst und erscheinen ihm fremd. Als er sich am Morgen nach der Party anzieht, geschieht dies etwa mit seiner Unterhose, die er daraufhin eingehend betrachtet: „Diese Unterhose liegt vor mir auf meinem Schreibtisch und wird mir gerade das Fremdeste auf der Welt.“ (O 78) Wenn Andreas in jener Zeit nicht gerade auf die oben beschriebene imitierende Art liest, läuft er durch Friedberg. Auch dabei sieht er ihm bereits bekannte Dinge plötzlich auf eine andere Art, er widmet sich ausführlich ihrer Betrachtung und das lässt Stimmungen bei ihm aufkommen, zum Beispiel eine diffuse Ahnung: „Diese Ahnung kam aus dem Stein, aus dem Portal und durch die Amseln. Offenbar schien sich irgend etwas in mir zu sammeln.“ (O 39f) Diese Veränderung im Verhältnis zu seiner Umgebung soll im anschließenden Kapitel im Zusammenhang mit der Frage nach der Funktion von Provinz noch genauer betrachtet werden.

Bereits früh im Roman thematisiert der Erzähler die ständige Selbstbespiegelung seines 15-jährigen Alter Egos. Dieses sieht sein eigenes Tun ständig als Pose an:

67 Ich weiß nicht, ob ich das romantische Doppelgängermotiv damals bereits kannte, aber es funktionierte genau wie in dem berühmten Schubertlied nach Heine: Ich stand auf der Straße und sah mich selbst, nur daß ich nicht nur jedes Mal darüber erschrak, sondern es in gewisser Weise sogar genoß wie den bereits erwähnten Finger in der Wunde, wenn man ihn hin und her bewegt. (O 23) Diese Bespiegelung zieht sich durch den gesamten Roman, bis hin zum Ende, als seine Hände ihm den Dienst verweigern. Der Pose kommt eine nicht unbedeutende Rolle zu, die etwa Christian Metz in seiner Rezension über folgende Bezeichnung für den Roman nachdenken lässt: „Der Eigenblutdopingroman speist sich aus der paradoxalen Verschränkung von Authentizität und Pose. Wie soll man diese Romanart nennen? Poserprosa?“281 Von Eigenblutdoping ist in diesem Fall Diedrich Diederichsen folgend die Rede, da der Autor seine gesamte Ortsumgehung ganz deutlich autobiographisch anlegt.282 Nach der Party, bei der Andreas Katja erstmals näher kommt, entwickelt er eine Reihe von Verhaltensweisen, die ihn zu einem „jugendliche[n] Wetterauer Bettelmönch“ (O 98) machen und mit einem „vermeintlich zwingenden Verweigerungs- oder Entsagungszustand“ (O 96) einhergehen. Er lässt zuhause das Essen stehen und isst im örtlichen Fisch-Imbiss die Reste von anderen, er zieht sich ungenügend an und friert deswegen ständig und schläft wenig. Dieser „Dienst“ (O 101) bringt ihn Katja zwar keineswegs näher, das ist aber auch nicht sein Zweck: „Ziel war auch nicht die kultische Verehrung Katjas um ihrer selbst willen. Das Ziel war vielmehr die mit einem solchen Kult einhergehende Veränderung meiner eigenen Person. Ich war dabei, ein Bild von mir zu entwerfen, das erste Bild meiner Wahl.“ (O 105) Der 15-Jährige beginnt damit, sich im Zuge seiner Verliebtheit auf eine von ihm selbst gewählte Art der Welt zu präsentieren. Dabei entsteht für ihn und für die Jugendlichen um ihn herum eine neue Welt, in der sie zum ersten Mal selbst Geschichte schreiben: „Zum zweiten Mal in unserem Leben gab es unser Leben zum ersten Mal.“ (O 50)

Allerdings kann auch dieser Zustand nicht dauerhaft sein, denn gegen Ende des Romans wird der Erzähler feststellen: „Diese ganze mich wie ein Paradies beherbergende neue Welt dieses damaligen Frühlings hatte sich nachträglich in eine Kloake von Klischees und Widerwärtigkeiten verwandelt.“ (O 150) Zu dem Zeitpunkt, auf den sich diese Feststellung bezieht, besucht Andreas seine Stammkneipe, das Lascaux, und verliert immer mehr das Gefühl in seinen Händen: „Einige Minuten später sitze ich da und betrachte meine Hände dabei, wie sie nun gänzlich willenlos und für jeden Impuls unempfänglich herunterhängen, als gehörten sie gar nicht mehr zu mir.“ (O 149) Am Ende bringt ihn ein Bekannter nach Hause und sperrt ihm die Tür auf. Der Erzähler hält dazu

281 Christian Metz [Rez.]: Andreas Maiers „Der Ort“: Die zärtlichste Entfremdung, seit es Heimatromane gibt. Erstellt am 15.08.2015. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. URL: http://www.faz.net/-gqz-86lr6 [20.05.2016]. 282 Vgl. ebda. 68 auf der letzten Seite des Romans fest: „ich war nicht einmal in Panik, aber ich genoß den Zustand auch nicht, ich hatte sogar irgendwie damit abgeschlossen, meine Hände an diesem Abend gänzlich und endgültig verloren zu haben, das Beängstigende und das Notwendige dieser Situation hielten sich in etwa die Waage“. (O 154) Auch dies kann wohl als Symptom der Entfernung, in die Andreas zu dieser Zeit zu allem, was ihn umgibt, hineingerät, interpretiert werden. Selbst seine eigenen Hände werden unbenutzbar und fremd für ihn.

7.4 Funktion der Provinz

Der Ort ist durchgängig in der Wetterau, über weite Strecken in Friedberg, angesiedelt. Dabei wird die Provinz vor allem im Zusammenhang mit der Ortsumgehung thematisiert. Diese bildet in allen bisherigen Teilen ein strukturierendes Element. Michael Rölcke vermerkt in diesem Zusammenhang zum ersten Band, Das Zimmer, „dass Maier mit seinen ständigen Tiraden gegen die reale Ortsum- gehung nicht lediglich als rückwärtsgewandter Zivilisationskritiker auftritt.“283 Vielmehr sehe er es als seine Aufgabe als Schriftsteller an, den Ort zu konturieren, indem er ihn umschreibt und Grenzen zieht.284 Damit schafft er „einen Rahmen, in dem Erinnerung oder poetische Welter- zeugung Platz finden. Erst diese ‚richtige‘ Ortsumgehung vermag es, so etwas wie Heimat auf- leuchten zu lassen.“285 Tatsächlich spielt das Umgehen des Ortes, im wahrsten Sinne des Wortes, im Sinne von sich die Umgebung gehend aneignen, im Verlauf des gesamten Romans eine bedeutende Rolle. Bereits zu Beginn lässt der Erzähler den jugendlichen Andreas geradewegs in die Idylle hineingehen:

Zwei Menschen gehen Hand in Hand an der Seebach entlang, das sind wir, die Buchhändlertochter und ich, es heißt bei uns die Bach und ist weiblich. Die Bach und das Ort. So reden wir. Hin und wieder landet eine Maschine auf dem kleinen amerikanischen Militärflugplatz, und wir laufen durch die Felder, das Wetterauer Blau über uns im Himmel, und dann erreichen wir Ockstadt, wo die Kirschen blühen, als blühten sie für uns. (O 11) Diese Idylle kann nicht von Dauer sein, mit der Trennung von der Buchhändlertochter wandelt sich die Umgebung zu einem Mahnmal dessen, was verloren ist: „Zu einer Zeit, als ich von der Buchhändlertochter längst getrennt war, lief ich immer wieder durch alle Gassen der Stadt, nachts suchte ich zwanghaft die Orte unserer gemeinsamen Vergangenheit auf, und stets war alles wie betäubt.“ (O 13f) Die Haupthandlung in Der Ort ist allerdings bereits vor dieser Beziehung angesiedelt und erzählt ebenso von einer Verliebtheit, wobei die Umgebung wiederum eine maßgebliche Rolle spielt. Bereits am Weg zu der Party, bei der er Katja, der besten Freundin der

283 Rölcke, Konstruierte Enge, S. 129. 284 Vgl. ebda. 285 Ebda. 69 Buchhändlertochter, erstmals näher kommt, sieht er den Ort in einem neuen Licht: „Ich war allein mit diesem Friedberg, diesen Mauern, diesen alten Steinen, diesem Licht, diesem Abend, und doch umfaßte das alles plötzlich viel mehr, als ich bislang in meinem Leben gesehen hatte.“ (O 41) Mit der erwachenden Liebe zu Katja setzt sich diese veränderte Art der Wahrnehmung seiner Umwelt, sprich seiner Wetterauer Heimat, fort. Wenn er sich in ihr bewegt, werden ihm Details mehr und mehr bewusst und erhalten eine neue Bedeutung. Dabei geben die Gefühle zu Katja auch den Gefühlen zu seiner Umgebung neue Impulse:

Wie in jenem Moment mit einem mal alles aus Katjas Gesicht bestanden hatte, so wurde für mich dieses Friedberg in der Wetterau in allen seinen Details plötzlich immer präsenter und aufgeladener, in völliger Vermengung mit dem Gefühl, das ich Katja Melchior gegenüber empfand. Da sie in jedem Detail der Stadt fehlte, in jeder Bank an der Burgchaussee, in jedem Stück Mauer unseres Burgwalls, in jedem Halm, der im Burggraben wuchs, in jeder Fiale und jedem Wimperg unserer Stadtkirche – weil sie in alldem fehlte, war sie umgekehrt in allem vorhanden und grundierte durch ihr Fehlen den gesamten Ort und die gesamte Landschaft, wobei ich mir nicht sagen konnte, was dieses »Fehlen« eigentlich bedeutete und worin es genau bestand. (O 106) Diese neue Bedeutung, die die Wetterau dadurch erlangt, dass Katja in all den Details, die nun mit großer Intensität von Andreas wahrgenommen werden, fehlt, schafft eine besondere Verbundenheit mit der Umgebung. Dabei ist ein Gestus des Schmerzes dominierend. Für die Rezensentin Ina Hartwig bedeutet dies konkret: „Der Ort, Friedberg in der Wetterau, bedroht von der Katastrophe der Ortsumgehung, fungiert als Bühne jugendlicher Selbsteroberung.“286 Tatsächlich scheint die Umgebung allerdings mehr als das zu sein. Indem sie ein bedeutender Teil seiner Gefühlswelt ist, geht ihre Funktion über die einer Bühne hinaus, denn letztlich gilt für den Erzähler: „Ich vollzog eine Hochzeit mit dem Ort, was in gewisser Weise stellvertretend für eine Zusammenführung mit Katja Melchior geschah bzw. diese ersetzte.“ (O 105) In dieser Phase seines Lebens fühlt Andreas eine unbegrenzte Freiheit, die in der Erzählung wiederum an die Umgebung angebunden ist:

Schließlich entwickelten wir ein Gefühl, als gehörte uns die ganze Wetterau und als gehörten wir uns alle gegenseitig, so erwachten wir morgens auf unseren Lagern in Dorheim, in Echzell, in Karben, in Schwalheim, in Ockstadt, und neben uns schliefen Mädchen oder Freunde, und noch der Heimweg verstärkte den Eindruck vollkommener Freiheit, man mußte ja jedesmal trampen oder wenigstens mit dem Fahrrad fahren und war immer in der Landschaft draußen, stets mit geweitetem Herzen. (O 109) Im Rahmen seiner Poetikdozentur spricht Maier davon, was er von der Lektüre der Lukrez-Texte für sein eigenes Schreiben gelernt habe und es drängt sich der Gedanke auf, dass sich in den folgenden Zeilen auch ein Anspruch findet, den er in Der Ort umzusetzen versuchte:

286 Ina Hartwig [Rez.]: Andreas Maier: Das Ich meiner Wahl. Erstellt am 01.07.2015. In:. Zeit online. URL: http://www.zeit.de/2015/24/andreas-maier-der-ort [12.05.2015]. Im Folgenden zitiert als: Hartwig, Ich. 70 Der andere, also Lukrez, lehrte mich, alles, wirklich alles im Text drinzuhaben, vom pubertären Bravo-Fotoroman bis hin zu Immanuel Kant, vom Höchsten bis zum Niedersten als dem, was wir sind in jedem Moment. Meine Vision eines bunten, lebendigen, formstrengen Textes, wie er mir nie gelungen ist, habe ich von Lukrez. Weltumspannender noch als der Zauberberg, dazu versponnen, polemisch in allen Gliedern, ein Text, der durch die Welt wie durch ein Bilderbuch führt und doch nur die Ausführung eines einzigen Gedankens ist, auf allen Ebenen. (Ich 116) Die Suche nach der erlösenden Wahrheit, das scheint jener Gedanke zu sein, den Maier in den vier Bänden der Ortsumgehung reich bebildert auszuführen versucht. Die Darstellung des Hohen und des Niederen sorgt aber auch dafür, dass Friedberg zu einem Abbild der gesamten BRD wird, wie es etwa auch in folgender Passage einer Rezension aus der Zeit betont wird: „Und nicht nur Friedberg in der Wetterau erkennt man wieder in diesem Ortsporträt, sondern pars pro toto den ganzen alten Westen der Republik, der, anderslautender Behauptungen zum Trotz, keineswegs auserzählt ist.“287

7.5 Pubertät und Wahrheit

Hinsichtlich der Beschreibung der Verliebtheit und des jugendlichen Hochgefühls gerät die Kritik am falschen Leben, das Andreas in seiner Wetterauer Heimat von allen Seiten begegnet, im Gegensatz zu den vorhergegangenen Bänden etwas mehr in den Hintergrund. Das Leiden an der Differenz, wie es im Rahmen der Frankfurter Poetikdozentur von Maier erläutert wurde, bezieht sich zwar weiterhin auf seine Familie. Allerdings findet er hier einen Platz in der Gruppe von Gleichaltrigen, die sich wiederum deutlich von den Erwachsenen abgrenzt:

Wir lernten gegen das Erwachsensein zu argumentieren, unser Instinkt wies uns den richtigen Weg: Die meisten Lehrer hatten keinerlei Begriffe für das, was sie taten, das spürten wir. Sie hatten nie Antworten gefunden, auf nichts. Sie lebten aus einer Gewohnheit heraus und leisteten an nichts einen Dienst. (O 118f) In seiner Kolumnensammlung geht Maier darauf ein, was Pubertät bedeutet, bzw. vielmehr was sie nicht bedeutet. Das Wort alleine sei eine Unverschämtheit und etwas Derartiges würde gar nicht existieren,288 vielmehr gelte: „Die sogenannte Pubertät hat die Gesellschaft erfunden, um die Wahrheit aus den Menschen zu tilgen.“289 Hier begegnet sie also wieder, die im Rahmen dieser Ausführungen vielthematisierte Wahrheit, die Maier zufolge also im Laufe des Erwachsenwerdens verloren geht. Das von der Gesellschaft mit dem Stigma ‚pubertierend‘ bedachte jugendliche Ich in Der Ort und seine Freunde haben die Wahrheit noch nicht verloren. In ihren Auseinandersetzungen mit den Lehrern, denen die Wahrheit hingegen längst verloren gegangen ist, wird dies deutlich. In

287 Hartwig, Ich. 288 Vgl. Maier, Onkel J., S. 111. 289 Ebda. 71 diesem Sinne können sie wohl noch als Kinder im Sinne von Rölckes Feststellung, die unter anderem Onkel J. in Das Zimmer zum Gegenstand hat, gelten: „Das Beharren auf der […] Idee, Kinder und Narren (und Schriftsteller und die Heimat) als ‚unbeschriebenes Blatt‘ zu begreifen, und das Bestehen auf der Berechtigung von Utopien ist die eigentliche Provokation.“290

Der jugendliche Andreas kommt den Menschen in diesem Band so nahe wie kaum zuvor, wie bereits erläutert findet er sich erstmals auch in einer Gruppe zurecht. Besonders auf sein Verhältnis zu Katja ist im Zusammenhang mit Nähe einzugehen. Indem die ausführlich, in aller Langsamkeit geschilderte Annäherung an Katja bei der Party schließlich in einen gemeinsamen Tanz mündet, ist sein Ich in gewisser Weise zeitweilig von einer Auflösung betroffen: „Ich ging darin auf angenehme Weise meiner selbst verlustig. (O 59). Hier scheint sich die bereits thematisierte Auflösung des Selbst, von der Maier in seiner Poetik-Dozentur spricht, wiederzufinden. In seinen eigenen Worten bedeutet das: „Keine Vernichtungen, keine irgendwie von außen begründeten Irritationen oder Verunsicherungen. Auch keine Epiphanien oder dergleichen.“291

Die Protesthaltung gegen die Erwachsenen, insbesondere die Eltern, manifestiert sich auch in den Störaktionen beim Besuch des CDU-Vorstandsvorsitzenden, dessen Schilderung viel Raum im Roman einnimmt. Obwohl nie explizit thematisiert, handelt es sich beim Vorsitzenden um Helmut Kohl. Gemeinsam mit anderen Juz-Gängern fällt Andreas im Bierzelt durch Provokationen wie wildes Herumknutschen auf. Von Katja kommt dabei im Vorfeld des Zeltfestes eine wichtige Feststellung: „Ich will da hin, sagte Katja. Ich möchte mir diese Leute anschauen. […] Die sind sich in allem so sicher, sagte Katja.“ (O 122) Diese vermeintliche Sicherheit teilen die Jugendlichen nicht. Im Rahmen der Beschreibung seiner jugendlichen Lesegewohnheiten drückt Maier diese Zweifel an der Sicherheit der Erwachsenen folgendermaßen aus:

Daß nicht alles so sein müsse, wie es ist, daß vielleicht alles anzuzweifeln sei, radikal, weil alles nur ein bloßes Funktionieren ist, zu dem sich nie jemand am Grund seines Seelenlebens wirklich entschieden hat, sondern das eher in einem allgemeinen menschlichen Trott seinen Ursprung hat, von den familiären Bindungen bis hin zum Tourismus, von der Schule bis hin zum Staatswesen, dieser Gedanke schien mir evident, und diese grundsätzlichen Zweifel fand ich z.B. bei Aljoscha Karamasow und später auch bei seinen Büchern.292 In Der Ort wird deutlich, wie sich Andreas von den Menschen, die das falsche Leben führen, abgrenzt. In ihrer Rezension drückt Hartwig dies folgendermaßen aus: „So führt die Verliebtheit nicht nur zu Katja hin, das auch; gleichzeitig wird eine rauschhafte Befreiung erlebt, von den Eltern,

290 Rölcke, Konstruierte Enge, S. 132. 291 Maier, Ich, S. 47. 292 Ebda S. 25f. 72 den Lehrern, die an Einfluss verlieren.“293 Und so findet sich Andreas einerseits in seinen Büchern und andererseits in seinem Freundes- und Bekanntenkreis – besonders bei Katja – wieder und stellt sich gegen das falsche Leben der Erwachsenen.

7.6 Fazit

Hinsichtlich der Gattungszuordnung des Romans Der Ort sowie des gesamten Projekts der Ortsumgehung kann gelten, dass die Provinz keineswegs als Dekor auftritt, sondern stark mit der Gefühlswelt des jugendlichen Andreas verknüpft ist. Somit sind die Kriterien für einen Provinzroman nach Mecklenburg eindeutig erfüllt. Wenn Rölcke zum Provinzroman festhält, dass „Westdeutschland [...] sich besonders zur Fokussierung auf biographische Wandlungen“294 eignet, gilt ihm Maiers literarische Ortsumgehung wohl in besonderem Maße als Untermauerung dieser These. Nicht unbeachtet bleiben darf im Rahmen Gattungszuordnung dieses literarischen Großprojekts der autobiographische Impetus. Maier gibt zu seiner Herangehensweise im Rahmen seiner Kolumnensammlung Onkel J. Heimatkunde detailliert Auskunft zu seiner Herangehensweise. So begegnen in ebendieser Kolumnensammlung sowie in seiner Poetikschrift immer wieder Überschneidungen mit den Inhalten der Ortsumgehung, erwähnt sei an dieser Stelle etwa exemplarisch die Kindergarten-Verweigerung.

Aufbauend auf den Ausführungen der vorangegangenen Kapitel lässt sich folgende Feststellung, die Rölcke zu Das Zimmer getroffen hat, in hohem Maße auch für Der Ort sowie für das gesamte Projekt der Ortsumgehung aufrecht erhalten:

Maier begreift den Schriftsteller als jenen mythischen, bei Menasse, bei Stephan Thome und bei auftauchenden Umgeher oder Untergeher, der den Verlauf der Grenzen ständig überprüft. So weckt der Befund des Verlustes der glorifizierten Unschuld auch einen Schmerz, der daran erinnert, dass nicht alle Errungenschaften des Fortschritts per se für gut zu halten sind, sondern mit dem Gewinn gleichzeitig ein Verlust verbunden ist.295 Dieser Verlust betrifft unter anderem die Heimat, „die als solche ungebrochen nur noch vom Onkel J. erlebt werden konnte“,296 und mit ihr auch die Welt, die noch in Ordnung ist, den paradiesischen Zustand, in dem er sich am Anfang seines Lebens befand. Denn letztendlich gilt auch hier: Die bedeutenden Fragen des Lebens, in diesem Fall die Frage nach der Wahrheit, nach dem richtigen Leben werden in der Provinz ausverhandelt. In die selbe Kerbe schlägt auch Arnold Stadler bei seiner Laudatio auf Andreas Maier: „Andere sagen: Provinz. Ich sage: Welt. Andere sagen:

293 Hartwig, Ich. 294 Vgl. Rölcke, Konstruierte Enge, S.120. 295 Ebda S. 132. 296 Amann, Globalität, S. 276f. 73 Gesellschaft. Ich sage: Leben.“297 Diese Einschätzung stützt sich auf den ersten Band der Ortsumgehung, Das Zimmer, lässt sich aber wiederum auch auf die drei weiteren und speziell auf Der Ort beziehen. Am Beginn der literarischen Ortsumgehung wird die Wetterau als Welt bezeichnet, indem der Erzähler festhält: „Selbst Rom und alle anderen Städte, in denen ich gelebt habe, sind heute Bestandteil der Welt, die die Wetterau ist.“ (Z 13) Diese Welt allerdings wird durch die Menschen zugerichtet, sie wird zerstört, wie Maier es in seinem Artikel Heimat ist wie nackt vor Gott zu stehen ausführt. Rölcke hält dazu fest, dass es Maier nicht um das erzählerische Heraufbeschwören einer guten alten Zeit gehe, „sondern um die Darstellung des sich wandelnden Menschen und dessen verwandelndes Eingreifen in die Dinge und den Lauf der Welt.“298 In eine ähnliche Richtung geht auch Stadler: „Dieser Schriftsteller hat Erbarmen mit ihnen, den Menschen. Und setzt ihnen und ihrer immer wieder verschwindenden Welt ein Denkmal.“299 Dabei sei es keine Abrechnung mit den Menschen und ihrer Feigheit, die sie von der Wahrheit trennt und auch kein Hadern damit, sondern vielmehr zeige Maier die Menschen wie sie sind.300 Damit steht letztlich fest: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Dieser Grundsatz durchzieht sein Buch und Schreiben wie ein roter Faden. Aber durch keinen sonst als durch den Menschen, wird dieser Satz immer wieder verneint, also mehr als in Frage gestellt.“301

Auch wenn Andreas in diesem Band der Ortsumgehung zumindest in bestimmten Situationen ein Teil einer Gruppe ist, bleibt er doch letztlich ein Einzelgänger und mit seinen Gefühlen allein. Hartwig drückt dies in ihrer Rezension folgendermaßen aus: „Andreas, genannt Andy, den wir schon ein wenig zu kennen meinen, fühlt immer radikal, und zwar in erster Linie sich selbst.“302 Dennoch kommt er der Welt um sich herum und damit einigen seiner Mitmenschen in Der Ort näher als zuvor. Dabei ist er umgeben von einer Heimat, die eigentlich bereits verloren ist und deren zwingende Verbindung mit dem Verlust ihm immer deutlicher bewusst wird.

297 Arnold Stadler: Ich bin, was ich bin. Oder ich bin nichts. Laudatio auf Andreas Maier. In: Hugo-Ball-Almanach 3 (2012), S. 128. Im Folgenden zitiert als: Stadler, Laudatio. 298 Rölcke, Konstruierte Enge, S. 130. 299 Stadler, Laudatio, S. 134. 300 Ebda S. 129. 301 Ebda S. 131. 302 Hartwig, Ich. 74 8 Reinhard Kaiser-Mühlecker: Roter Flieder

Im folgenden Kapitel wird der 2012 erschienene Roman Roter Flieder des österreichischen Autors Reinhard Kaiser-Mühlecker einer Analyse unterzogen. Dabei wird die Struktur der Unterkapitel wiederum leicht adaptiert, während die Vorgehensweise in Grundzügen gleich wie bei den vorangegangenen beiden Analysen bleibt. Zuerst erfolgt unter dem Stichwort ‚Heimatdichter‘ eine Beschäftigung mit der Poetik von Kaiser-Mühlecker, die das Zutreffen dieser Bezeichnung thematisiert. Anschließend wird mit einer Inhaltsskizze des drei Generationen umfassenden Romans sowie mit der Erläuterung der Grundelemente der Romanstruktur eine Basis geschaffen. Darauf aufbauend wird schließlich die Funktion der Provinz in Roter Flieder untersucht. Als weitere Schwerpunkte erscheinen die Vater-Sohn-Beziehungen, die in allen Generationen eine bedeutende Rolle spielen, sowie die Thematisierung von Zeit und Schicksal im Roman. Eine Beschäftigung mit der Gattungszuordnung erfolgt im letzten Teil der Analyse, in dem die einzelnen Ergebnisse in eine Beziehung zueinander gesetzt werden sollen.

8.1 Reinhard Kaiser-Mühlecker: Ein Heimatdichter?

Bereits in den Ausführungen zu Andreas Maiers Poetik begegnete der Begriff ‚Heimatdichter‘ und die damit verbundenen Irritationen. Für Maier selbst kommen bei diesem Begriff Assoziationen mit Spinnstuben, Gemütlichkeit und ‚Idioten‘ wie ihm und Arnold Stadler auf.303 Und hier erweitert sich der Kreis um Reinhard Kaiser-Mühlecker: Tatsächlich war es Arnold Stadler, der Kaiser- Mühlecker den Einstieg in den literarischen Betrieb ermöglichte.304 Bereits in dessen erstem Roman Der lange Gang über die Stationen sah man „herbeigezauberte[n] Impressionen der ländlichen Lebenswelt im Österreich der 1950er Jahre“305 und schon wurde auch er mit dem Etikett des Heimatdichters bedacht.306 Im 2011 erschienen Magdalenaberg blieb er dem Leben am Land in einem bäuerlichen Milieu ebenso treu wie in Roter Flieder (2012) und Schwarzer Flieder (2014). Damit lieferte er drei Gründe, um an der Bezeichnung als ‚Heimatdichter‘ festzuhalten. Zu einfach sollte man es sich mit diesem Begriff allerdings nicht machen, wie in den Ausführungen zu Maier deutlich geworden ist, schwingen doch zahlreiche Konnotationen verschiedenster Art in ihm mit. Kaiser-Mühlecker selbst beschreibt in einem Interview sein Verhältnis zur Heimatliteratur wie folgt:

303 Vgl. Maier, Heimat, S. 2. 304 Vgl. Barbara Wróblewska: Reinhard Kaiser-Mühlecker – ein Virtuos der respektvollen Distanz. In: Neue Stimmen aus Österreich. 11 Einblicke in die Literatur der Jahrtausendwende. Hrsg. v. Joanna Drynda. Frankfurt a.M.: Lang 2013. (=Studien zur Germanistik, Skandinavistik und Übersetzungskultur. 8.) S. 122. Im Folgenden zitiert als: Wróblewska, Virtuos. 305 Ebda S. 121. 306 Vgl. ebda S. 122. 75 Mit dem Begriff Heimatroman kann ich nicht viel anfangen. Ebenso wenig wie mit dem Anti-Heimatroman. Ich finde, meine Literatur geht woanders hin. Ich habe nicht das Bedürfnis, die Heimat zu verklären, aber gleichzeitig muss ich auch kein Heimatbild zerstören. Diese extremen Haltungen liegen mir einfach nicht. Aber, dass die so genannte Heimat oder die so genannte Provinz für mich eine Rolle spielt und wahrscheinlich auch in Zukunft spielen wird, ist schon klar. Heimat ist, wovon man ausgeht, Heimat ist, wo die Erinnerung Bescheid weiß. Heißt es.307 Es ist also weder die Zerstörung der Heimat, noch die Idyllisierung, um die es in seinem Schreiben gehen soll. Im Portrait der deutschen Tageszeitung Die Welt wird der Abstand zur Anti-Heimat- literatur folgendermaßen begründet: „Weder kommen in Kaiser-Mühleckers Werk dörflich verquälte Kindheiten vor, die ihn ganz glatt zum Wiedergänger der Anti-Heimat-Literaten machen würden noch ist es der zuckende Leib der Gegenwart, dem hier der Puls gefühlt wird.“308 Welcher Art dieses hier angesprochene Zucken auch immer sein mag, ist es dennoch auch das Leben in der Gegenwart, das der Autor thematisiert. Er selbst hält dazu fest: „Es ist ein anderes Jetzt als das von . […] Es gibt diese von mir beschriebene Gegenwart eben auch. Und viele Menschen leben darin.“309 Dieser Gegenwart scheint auch ein überzeitliches Moment anzuhaften, wie etwa Petra-Maria Dallinger in ihrer Laudatio für Reinhard Kaiser-Mühlecker anklingen lässt: „Sie [Anm.: die Helden seiner Romane] scheinen sich (zwischen urban und parzivalesk) in einem Grenzland aufzuhalten, - wie ihre zeitliche Einordnung ist auch ihr Wesen vor allem charakterisiert im Uneindeutigen.“310

Indem Heimat für Kaiser-Mühlecker das ist, „wovon man ausgeht“, ergibt sich ein Berührungs- punkt mit Andreas Maiers Annahme von Heimat als Ort des ersten Seelenzustandes und damit als etwas bereits Verlorenem. So sieht auch er die Heimat nicht als Ort, den man tatsächlich bei Bedarf aufsuchen kann: „Bei mir ist es egal, wo ich bin, ich bin immer nur mit einem Fuß wo. Heimat als Ort, wenn es Wien wäre, ich wäre glücklich; oder von mir aus kann es auch Linz sein oder St. Pölten. Ich hätte einfach nur gerne, dass es einen Ort gäbe, wo man es aushält, den gibt es aber nicht.“311 Damit kommen Assoziationen mit einem modernen Heimatbegriff, der sich nicht mehr unmittelbar an Örtlichkeiten knüpft und die Fremde immer mitdenkt, auf. Und vielleicht findet sich in diesen Worten auch, ähnlich wie im Fall von Juli Zeh, ein gewisses Misstrauen dem Begriff ‚Heimat‘ gegenüber. Darauf verweist auch, dass er im Folgenden ganz allgemein von Orten spricht,

307 Karin Cerny: Interview mit Reinhard Kaiser-Mühlecker. URL: http://www.literaturhaus.at/index. php?id=7137 [27.05.2016]. Im Folgenden zitiert als Cerny, Interview. 308 o. V.: Reinhard Kaiser-Mühlecker: Ein Bauer ist Österreichs neue Literatur-Hoffnung. Erstellt am 03.01.2016. In: Die Welt. URL: http://www.welt.de/150563024 [27.05.2016]. Im Folgenden zitiert als: o. V., Hoffnung. 309 Ebda. 310 Petra-Maria Dallinger: Laudatio für Reinhard Kaiser-Mühlecker. In: Die Rampe (2015), H. 1. S. 25. Im Folgenden zitiert als Dallinger, Laudatio. 311 Elisabeth Putz: Ich bin kein Rebell. In: Buchkultur 116 (2008), S. 26. 76 denn für ihn spielt die Verbindung der Menschen mit Orten, denen sie nicht entgehen können und die weiter unten auch in seinem Roman Roter Flieder begegnen wird, eine gewichtige Rolle: „Ich glaub nicht, dass man die Orte seiner Vergangenheit verlassen kann. Orte an denen man länger war, schreiben sich in einen ein und man trägt sie mit sich herum.“312 Diese Verbindung bewirkt, dass Orte in seinem Schreiben niemals lediglich als Hintergrund gegenwärtig sind: „Orte sind für mein Schreiben einfach sehr wichtig, aber eben nicht als Kulisse, sondern als Plätze, die man kennt und für die man ein Gespür hat.“313 Diese Bindung zu Orten lässt sich für ihn auch nicht lösen, selbst wenn man es sich wünscht: „Man kann dem Dorf nie entfliehen, man hat es immer in sich, und wenn man ein Fenster dorthin aufmacht, dann ist man wieder mittendrin. Auch die Landschaft ist in einem drin.“314 Wenn Reinhard Kaiser-Mühlecker also über die ländliche, bäuerliche Lebenswelt schreibt, dann schreibt er auch deswegen darüber, weil er davon aufgrund seiner Biographie eine Ahnung hat.315

Daneben bildet das Schweigen einen roten Faden, der sich in seinem Schreiben durchgängig verfolgen lässt und in Rezensionen und wissenschaftlichen Abhandlungen immer wieder aufge- nommen wird. So stellt Barbara Wróblewska zu seinen ersten beiden Romanen fest: „Wie der vorangegangene Roman handelt auch diese Geschichte vom Schweigen, Nicht-Miteinander-Reden- Können und zunehmenden Verstummen.“316 Zu Roter Flieder hält Isabella Pohl fest: „Was die Goldbergers aber jeweils an die nächste Generation vererben, ist nicht der Fluch, sondern das Schweigen.“317 In einem Interview zu seinem ersten Roman auf ebendiese Schweigsamkeit seiner Figuren angesprochen, meint der Autor:

Es ist so, dass auch ich Geschwätzigkeit nicht gerade gelernt habe. Ich habe auch Smalltalk nicht gelernt. Es gibt einfach Gegenden, dort hat es der Smalltalk noch nicht hin geschafft. Es gibt in dem Buch ja auch eine Verbindung zum Alten Testament, wo einmal deutlich gesagt wird: Der Schwätzer ist ein Narr.318 Wieder ist es also der Ort, der prägend und für die Schweigsamkeit verantwortlich ist. Neben der Wortkargheit ist es auch eine spezielle Stimmungslage, die er in einem anderen Interview auf den Ort seiner Herkunft zurückführt: „Die Fröhlichkeit, die haben die Leute in meiner Herkunftsgegend

312 Cerny, Interview. 313 Ebda. 314 o. V., Hoffnung. 315 Vgl. Wróblewska, Virtuos, S. 122. 316 Ebda S. 127. 317 Isabella Pohl [Rez.]: Reinhard Kaiser-Mühlecker: Roter Flieder. In: Kolik 58 (2013), S. 150. Im Folgenden zitiert als: Pohl [Rez.], Roter Flieder. 318 Cerny, Interview. 77 alle nicht so. Bei mir hat es mit dem Menschenschlag zu tun, mit dem ich aufgewachsen bin und dem ich entstamme. Der ist nicht fröhlich.“319

8.2 Inhaltsskizze

Der Roman Roter Flieder beginnt mit der Ankunft des alten Goldberger und seiner Tochter Martha in Rosental. Unbemerkt – den stummen Franz ausgenommen – kommen die beiden mit einem Pferdegespann an und beziehen noch in der Nacht einen Hof etwas außerhalb des Dorfes. Erst nach und nach werden die Umstände dieses Umzuges aufgeklärt: Goldberger hat als Ortsgruppenführer während des 2. Weltkrieges in seiner Heimat im Innviertel Denunziationen vorgenommen, die ihn und seine Tochter in Gefahr brachten und schließlich zur Flucht zwangen. Zu diesem Zeitpunkt ist seine Frau bereits verstorben und sein Sohn ist im Krieg. Sein Umzug zwingt ihn dazu, sein beachtliches Gut zurückzulassen und gegen einen Hof mit deutlich bescheideneren Dimensionen einzutauschen. Erstmals muss er als früherer Waldbauer sich mit Ackerbau auseinandersetzen. Doch er bemüht sich um einen Neuanfang und beginnt eine Beziehung mit der Nachbarin Elisabeth, deren Mann im Krieg gefallen ist. Auch in Rosental ist er wieder als Ortsgruppenführer tätig. In dieser Funktion kommt er eine Viertelstunde zu spät zur Erschießung eines polnischen Kriegsgefangenen, anschließend wirkt seine Tochter verstört und spricht nicht mehr mit ihm, obwohl er ihr nie erzählt, was vorgefallen ist.

Als sein Sohn Ferdinand nach dem Krieg zurückkehrt, sieht sich sein Vater mit dessen Verachtung konfrontiert und wird vom Sohn dazu gedrängt, ihm den Hof zu überschreiben. Martha heiratet und zieht zurück ins Innviertel, ihre Ehe wird gegen ihren Willen kinderlos bleiben und schließlich wird sie verstummen. Darin sieht Goldberger einen Fluch, denn einer Stelle im Alten Testament gemäß straft Gott bis ins siebte Glied. Darauf weist ihn ein Verwandter seiner verstorbenen Frau hin, der damit den Kontakt zu ihm abbricht. Auch Ferdinand heiratet und bekommt mit seiner Frau Anna drei Kinder: Paul, Thomas und Maria. Nach einem Test entscheidet er sich für zweitgeborenen Thomas als Hoferben, Paul wird aufs Internat geschickt, wo er sich in weiterer Folge trotz guter schulischer Leistungen nicht wohl fühlt. Als der alte Goldberger am Sterbebett darum bittet, Paul aus dem Internat zu nehmen, wird deutlich, dass er den Fluch als auf ihm lastend ansieht. Nach dem Tod Goldbergers nimmt Ferdinand dessen Bibel und ein Notizbuch an sich und erfährt so vom der Ansicht seines Vaters nach auf der Familie lastenden Fluch. Seine drei Kinder werden erwachsen, Thomas heiratet und führt die Arbeit am Hof fort, während Paul in Wien studiert und mehr und

319 o. V., Hoffnung. 78 mehr in Schwierigkeiten zu geraten scheint. Schließlich zündet er im Wahn das Haus von Elisabeth an, die für alle drei Kinder wie eine Großmutter war.

Während die ersten drei Teile des Romans überwiegend in Rosental angesiedelt sind, wechselt der Schauplatz im vierten Teil nach Bolivien. Dort lebt Paul auf dem Gut La Unión, wo er in der Landwirtschaft mitarbeitet und zwei Buben unterrichtet. Hin und wieder hält er in den Nachbar- gemeinden einen Wortgottesdienst. Langsam werden die vorangegangenen Ereignisse aufgeklärt: Nachdem Thomas ihn vom Hof verbannt hat, weil er von seiner Schuld hinsichtlich des Brandes gewusst hat, verbringt der an Wahnvorstellungen leidende Paul eine Zeit in der Psychiatrie, anschließend holt sein Freund Lorenz ihn zu sich. In der Absicht, den letzten ihm gebliebenen Wunsch in die Tat umzusetzen und sich umzubringen, geht er schließlich unter dem Vorwand nach Südamerika, in ein Kloster eintreten zu wollen. Dort wird er sich allerdings des angeblich auf der Familie lastenden Fluches bewusst und kommt zu der Überzeugung, dass er sich nicht umbringen darf, damit der Fluch beendet werden kann. Schließlich landet er auf La Unión, wo er mit aller Kraft gegen zeitweilig aufkommende Selbstmordgedanken kämpft und ein enges Verhältnis zu seinen beiden Schülern entwickelt. Als die Pater den älteren Jungen Javier in die Stadt holen und in eine höhere Schule geben wollen, sieht er die Chance zu verhindern, dass seine Geschichte sich wiederholt. So verhilft er Javier dazu, seinen Willen durchzusetzen und am Gut zu bleiben, wodurch er den Zorn des Paters Guillermo, des Bruders seines Freundes Lorenz, auf sich zieht. Dieser verbreitet in den Nachbargemeinden unter den für Aberglauben anfälligen Menschen das Gerücht, dass Paul ein Hexer sei und als dieser sie für seine Gottesdienste wieder besucht, kehrt er nicht mehr zurück.

Unterdessen sind in Rosental Thomas gegen seinen Willen und Maria absichtlich kinderlos geblieben. Als die jährliche Postkarte von Paul ausbleibt, stirbt Ferdinand in dem Glauben, sein Sohn sei tot, damit blieben alle seine Kinder kinderlos und der Fluch wäre beendet. Als Thomas die von seinem Großvater begonnenen und von seinem Vater weitergeführten Aufzeichnungen findet, erfährt auch er von dem Fluch und hält ihn zunächst im Gegensatz zu seiner Frau für einen verrückten Aberglauben. Als überraschend ein 17-Jähriger namens Ferdinand am Hof auftaucht und sich als Pauls Sohn herausstellt, scheint es für Thomas doch noch einen Hoferben zu geben. Ferdinand entschließt sich nach einigen Jahren in Rosental dennoch dazu, nach Wien zu ziehen und Landwirtschaft zu studieren. Damit scheint sich die Geschichte seines Vaters zu wiederholen und Thomas und seine Frau Sabine sowie die Großmutter Anna sehen in ihm das siebte Glied des Fluches. Der ihn erschreckende Aberglaube seiner Familie bestärkt Ferdinand in seinem Entschluss und mit seinem Umzug nach Wien findet der Roman sein Ende.

79 8.3 Grundelemente der Romanstruktur

In Roter Flieder begegnet durchgehend ein Er-Erzähler, der lediglich als erzählerisches Medium und nicht als narrative Person auftritt. Die Hauptfiguren betreffend, begegnen häufig Innensicht- Passagen, die sich vor allem auf die männliche Linie der Familie Goldberger beziehen; hinsichtlich der weiblichen Figuren betrifft diese Innensicht vor allem Martha, Elisabeth und Anna. Von den fünf Teilen des Romans Roter Flieder sind alle bis auf den vierten über weite Strecken in Rosental angesiedelt, daneben gibt es wenige Ausflüge nach Wien oder ins Innviertel, wo Martha nach ihrer Hochzeit wieder lebt. Einen weiteren Schauplatz stellt die Oberpfalz dar, die Ferdinand einmal während eines Heimaturlaubs im Krieg und einmal nach Kriegsende besucht. Zeit seines Lebens bleibt sie ihm dann ein Sehnsuchtsort, eine Ausflucht:

„Ferdinand war anders als sein Vater kaum je einmal aus der Haut gefahren. Aber es war vorgekommen, dass er die Beherrschung verloren hatte; und dann hatte er immer ausgerufen: »Ich wandere noch einmal aus!« Und jedesmal hatte Anna, auch die Kinder bisweilen, nur gelacht und gefragt: »Wo willst du denn schon hin?« Und Ferdinand: »In die Oberpfalz!« (F 516) Diesen Ort bereist er kurz vor seinem Tod mit seiner Frau nochmals und erzählt ihr ausführlich, welche Erinnerungen er mit dieser Gegend verbindet. Die wahre Bedeutung dieses Ausfluges wird ihr allerdings nicht bewusst: „Sie wusste nicht, dass, wovon sie gerade Zeuge wurde, das letzte Aufflackern einer zu Ende gebrannten Kerze war.“ (F 517) Das vierte Kapitel ist in Bolivien angesiedelt, dort lebt und arbeitet Paul auf dem Gut La Unión, das er sehr deutlich auf seine Heimat Rosental bezieht: „Er verglich es nicht mit Rosental, es war viel mehr als das: Sein Geist setzte das eine, weil das andere verschwunden war, an dessen Stelle.“ (F 406) Paul sieht sich mit einer Situation konfrontiert, die sein Verlassen des Hofes als Bub gewissermaßen wiederholt, als einer seiner beiden Schüler in die Stadt auf eine Schule geschickt werden soll. Damit erscheint sich für Paul eine Chance zu ergeben, die im Zusammenhang mit Zeit und Schicksal weiter unten noch ausführlicher erläutert wird.

Die ein knappes halbes Jahrhundert und drei Generationen abdeckende Erzählung wird durch die immer wiederkehrende Abfolge der Jahreszeiten und den damit in der Landwirtschaft anfallenden Arbeiten strukturiert. Die Tätigkeiten des bäuerlichen Lebens bilden also eine Grundierung, vor der immer wieder besondere Ereignisse hervortreten, die Veränderungen mit sich bringen. So stellen die Feste einen Ausstieg aus dem Alltag dar. Zu erwähnen sind hierbei besonders die Hochzeiten, vor allem jene von Martha und Andreas sowie von Ferdinand und Anna, die nicht nur Anlass zur Ausgelassenheit bieten, sondern auch Konsequenzen mit sich bringen, das Leben davor ist nicht das selbe wie danach. So bedeutet Marthas Hochzeit ihren Umzug zurück ins Innviertel und Ferdinand 80 wird Vater von drei Kindern. Besonders weitreichende Auswirkungen hat auch das Osterfest, bei dem Ferdinand seine Söhne testet, um den Hoferben festzulegen.

In dieser Strukturierung spielt auch der titelgebende Flieder eine gewichtige Rolle. Er begegnet im gesamten Verlauf des Romans immer wieder und zeigt an, dass es wieder Frühling geworden ist, dass wieder ein Jahr vergangen ist, und begleitet teilweise die Feierlichkeiten. Bereits auf der ersten Seite ist von den „wie mit Gewalt blühenden Fliederbüschen“ (F 9) die Rede, der Flieder ist also eng mit der Ankunft in Rosental verknüpft, er wird nach und nach zu einem Teil dieser neuen Heimat der Familie Goldberger. Martha hängt ganz besonders am Flieder, so hält sie auch bei ihrer Hochzeit im Innviertel „einen Strauß weißen Flieders in den Händen“ (F 151). Sie ist es auch, die vom Flieder als rot spricht: „»Selten schön«, murmelte Ferdinand und strich behutsam zuerst über den weißen, dann über den dunkelvioletten Flieder, den Martha rot nannte.“ (F 212) Auch für die Angehörigen der nächsten Generation hat der Flieder eine symbolische Bedeutung, Paul erinnert er in Wien an Rosental: „Da sah er den Flieder am Rand des Wiesenstreifens blassviolett blühen. […] Doch dort, um den Hof, blühte er in einem satten dunklen Rot, und auch das Weiß war anders als irgendwo sonst.“ (F 321) Der Flieder ist mit Heimat verknüpft, nirgends blüht er so wie dort. Als Paul in Bolivien lebt, kann er sich mit Hilfe der Pater zwei Fliederpflanzen besorgen, die vor seiner Hütte gepflanzt werden. Schließlich wird er in der Nähe dieser beiden Fliederbüsche beerdigt und damit gewissermaßen neben einem Stück Heimat, wie seiner Familie in einem Brief eines Paters mitgeteilt wird: „Dort liegen seine sterblichen Überreste begraben, nicht weit von den beiden Fliederbüschen, die er noch kurz vor seinem Tod pflanzte. Man sagte mir, es sei violetter oder dunkler Flieder – den roten, den er sich ausdrücklich gewünscht hatte, gäbe es nicht.“ (F 539) Wie auch Martha bezeichnete Paul den tatsächlich violetten Flieder immer als roten.

Über den gesamten Roman zieht sich die Sprachlosigkeit der Figuren. Von Beginn an kann das, was sie am meisten beschäftigt, schlicht nicht ausgedrückt und mit anderen geteilt werden. In ihrer Rezension für die Frankfurter Allgemeine Zeitung beschreibt Wiebke Porombka den zu Beginn des Romans auftretenden Franz, der nicht sprechen kann, in diesem Zusammenhang als menschliches Omen:

Franz’ quälender Sprachlosigkeit wird viel Sprachlosigkeit folgen. Menschen, die ver- schweigen, was hinter ihnen liegt, die verdrängen, was sie getan haben. Menschen, die verstummen angesichts von Ereignissen, die ihnen zu grausam scheinen, um darüber zu sprechen. Dass sie, anders als Franz, sprechen könnten, wenn sie wollten, möchte man

81 zunächst meinen. Wenn aber Kaiser-Mühlecker [...] von diesen Menschen erzählt, dann besteht kaum mehr ein Zweifel daran, dass sie es eben nicht können.320 Diese Sprachlosigkeit betrifft vor allem den vermeintlich auf der Familie lastenden Fluch. So findet der alte Goldberger gegenüber seinem aus dem Krieg heimgekehrten Sohn keine Sprache, die darüber Auskunft geben könnte, warum der Hof im Innviertel verlassen werden musste. Das schmälert keineswegs die Verachtung, die der Sohn gegenüber dem Vater von diesem Zeitpunkt an hegt. Während Ferdinands Sprechen von da an vor allem dazu dient den Vater zu demütigen, verstummt seine Schwester Goldberger gegenüber ganz, später soll sich diese Stummheit auf alle Menschen ausdehnen. Kaiser-Mühlecker bringt diese Schweigsamkeit, wie bereits oben erörtert, in einen Zusammenhang mit dem Ort, Geschwätzigkeit existiert ihm zufolge in dieser Gegend kaum.

8.4 Funktion der Provinz

Es ist eine Voralpenlandschaft, agrarisch geprägt, kleinteilig. Diese Region spielt eine Hauptrolle in dem Roman. Immer wieder entwirft Kaiser-Mühlecker weniger Landschafts- bilder als vielmehr Landschaftsstimmungen; er lässt wie nebenbei die Jahreszeiten zwischen den Absätzen und Kapiteln wechseln, die Natur ihre Farben und die Welt, ohne dass man es zunächst gleich merkt, ihre angestammte Ordnung.321 Diese Passage aus Ulrich Rüdenauers Rezension für den Falter schreibt der Region, in der Roter Flieder angesiedelt ist, nicht weniger als eine Hauptrolle zu. Damit ist Norbert Mecklenburgs Anforderung an einen Provinzroman, derzufolge die Provinz nicht lediglich als Ausstattung begegnen darf, ohne Zweifel erfüllt. Die Feinfühligkeit, mit der Kaiser-Mühlecker die Landschaft darstellt, schafft eine Verbindung zwischen ihr und den Menschen, so wie in folgender Passage, in der geschildert wird, wie Elisabeth Ferdinand nach Kriegsende zum ersten Mal zum Hof seines Vaters in Rosental kommen sieht:

Er drehte sich zur Seite und sank in die Knie, kniete sich auf die hölzerne grüne Brücke. Er blickte lange, vornübergebeugt, in den Bach. Sie hörte das leise Rauschen des Baches in der Morgenluft. Es war, als fließe er, unsichtbar verdoppelt und viel breiter als in Wirklichkeit, auch durch die Luft. (F 89f) Der Autor glaubt daran, dass sich Orte in den Menschen einschreiben und dies drückt sich in seinen Figuren deutlich aus. Sie tragen den Ort ihrer Herkunft – man könnte es auch Heimat nennen – als deutlich wahrnehmbare Prägung mit sich. Dies gilt für den alten Goldberger, denn so sehr er sich auch bemüht, kann er nicht anders als den Umzug nach Rosental als Verlust zu sehen. Im Innviertel

320 Wiebke Porombka [Rez.]: Reinhard Kaiser-Mühlecker: Roter Flieder Doch das Böse sieht man nicht. Erstellt am 01.10.2012. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. URL: http://www.faz.net/-gr3-73aa2 [27.05.2016]. 321 Ulrich Rüdenauer [Rez.]: Reinhard Kaiser-Mühlecker: Roter Flieder. Es wird immer sein, wie’s immer war. In: Falter. URL: https://cms.falter.at/falter/rezensionen/buecher/?issue_id=451&item_ id=9783455404234 [27.05.2016]. Im Folgenden zitiert als: Rüdenauer [Rez.]: Roter Flieder. 82 definierte er sich dadurch, Waldbauer zu sein, die gemeinsame Arbeit im Holz mit seinem Sohn war für ihn sinnstiftend: „Die Frage nach dem Sinn war von dem Knallen der zweiten Axt mehr als beantwortet: ausgelöscht.“ (F 41) Als er in Rosental ein Bett für seine Tochter baut, ist es das Holz, das ihn zurückerinnert: „Womöglich war es der Geruch des Holzes beim Sägen, der sein Herz erinnerte und eine Wehmut wachrief.“ (F 40) Damit wird ihm schließlich endgültig klar, was er nicht wahrhaben will: „Alles in ihm wehrte sich dagegen, aber nichts konnte verhindern, dass er da im Hof stehend, die Säge mit dem zwischenzeitlich blau gewordenen Blatt in der Hand, begriff, einen gewaltigen, unwiederbringlichen Verlust erlitten zu haben.“ (F 41) Die Gründe dieses Verlustes hüllt er seiner Tochter und seinem Sohn gegenüber in Schweigen und diese reagieren auf ihre jeweils eigene Art darauf: Martha verstummt ihm gegenüber, beantwortet das so bedeutungsschwere Schweigen ihrerseits mit einem vollkommenerem Schweigen. Ihre Hochzeit bedeutet eine zeitweilige Entspannung im Verhältnis zum Vater und ist gewissermaßen eine Heimkehr in ihre frühere Heimat. Wieder ist es der Wald, das Holz, das an vergangene Zeiten denken lässt: „Wohin man blickte, war Wald. Dunkler, grüner dichter Wald. Wiesen, Hügel und Wald. In der ersten Zeit war ihr der Wald wie ein immerwährender undurchdringlicher Schutzwall erschienen, den sie vermisst hatte.“ (F 213) Martha nimmt den Wald auch als schutzspendend, Geborgenheit vermittelnd wahr. Wie schon in Unterleuten begegnet er auch in Roter Flieder als symbolisch hoch aufgeladenes Element.

Auch als Ferdinand nach dem Krieg nicht direkt nach Rosental geht, sondern eine Weile in der Oberpfalz bleibt, spielt der Wald – genauer die Waldarbeit – eine bedeutende Rolle. Sein ganzes bisheriges Leben hat sich Ferdinand schwach gefühlt und versucht seine Schwäche vor dem Vater zu verbergen. Dort aber erfüllt ihn bei der Waldarbeit eine neue Kraft: „Es knallte und Ferdinands Unsicherheit verflog. Stattdessen kam Kraft in ihn, mit jedem Schlag mehr Kraft.“ (F 115) Auch dem Wirt bleibt seine Kraft nicht verborgen und Ferdinand hat das erste Mal das Gefühl, niemandem nachzulaufen, sondern selbst das Tempo vorzugeben. Dabei wird ihm klar: „Auf einmal war alles anders.“ (F 116) Diese Veränderung geht im Wald vor sich, doch dieser stellt dabei weit mehr als eine Bühne dar, vielmehr ist er selbst ein Teil der Veränderung bzw. dessen, was sie hervorgerufen hat.

Dem Leben am Land, das den durchgehenden Normalzustand darstellt, wird in Roter Flieder die Stadt Wien in scharfem Kontrast gegenübergestellt. Der Stadt-Land-Gegensatz wird dabei deutlich illustriert, die Zuordnungen stehen klar fest. Als Goldberger und Ferdinand wegen dem Geschäft mit der Schottergrube nach Wien reisen, ist dies für Ferdinand ein ganz besonderes Erlebnis:

83 Er kam indes mit dem Schauen nicht hinterher. So vieles gab es zu sehen! Wie viele Frauen! Und wie schöne! Und wie furchtlos und offen und herausfordernd und gleichgültig sie ihn ansahen! Und alle paar Meter wieder ein neues Haus! Nie endende Häuserfluchten! Es war, alles zusammen, verwirrend, ja schwindelerregend. (F 209f) Die Stadt bietet eine Fülle neuer Eindrücke, besonders beeindrucken ihn die Frauen, die ein anderes Auftreten als jene in Rosental an den Tag legen. Die Fahrt mit dem Riesenrad wird in diesem Zusammenhang zum Schlüsselmoment: „Als er nach einigen Runden wieder ausstieg, war ihm, als sei er ein anderer Mensch geworden, als habe er etwas entdeckt, eine Art Möglichkeit, die ihm bisher nicht bekannt gewesen war.“ (F 210) Als er seine Söhne bei einem Osterfest einer Probe unterzieht, um festzustellen, wer den Hof übernehmen und wer studieren soll und die Entscheidung schließlich auf Thomas als Hoferben fällt, denkt er an diesen Moment zurück: „Klar und deutlich liegt die Stadt wie ein Teppich vor seinem inneren Auge, ein Teppich, dessen Muster er erkennen konnte“ (F 212). Später wird sein Sohn Paul in Wien studieren und nur in den Ferien nach Hause auf den Hof kommen. In der Stadt wird er zu trinken beginnen und in immer größer werdende Schwierigkeiten geraten. Bernhard Oberreither charakterisiert Pauls Rolle folgendermaßen:

Er spielt die fast schon klassische Rolle des in der Großstadt entfremdeten, unglücklichen Intellektuellen – allerdings mit der wichtigen Abweichung, dass hier nicht der Stab über Großstadt, Intellekt und Moderne gebrochen wird (Waggerl'sches dieser Sorte unterläuft Kaiser-Mühlecker nirgendwo), sondern über die Ausschließungsmechanismen des eigenen Soziotops.322 Somit findet sich das für den Provinzroman beliebte, seit seinen Anfängen als Dorfgeschichten vorhandene Element der Kritik an der Stadt als Lebensraum in Roter Flieder nicht. Kaiser- Mühlecker idealisiert weder das Leben in der Stadt noch jenes auf dem Land, weder in Rosental, noch im Innviertel, noch in Wien, noch in Bolivien. Günther A. Höfler hält zur Hinwendung zur Provinz und bäuerlichen Lebenswelt bei gleichzeitigem Verzicht auf Idylle fest:

Aber alsbald wird klar, dass es sich hierbei um keinen idyllischen und bergenden Rahmen handelt, sondern dass die geschilderte Atmosphäre eine der Unbehaustheit, der Kälte und des Unverständnisses ist beziehungsweise eine der Generationen übergreifenden Schuldlast und deren folgenreicher Verleugnung.323 Teilweise lässt die Beschreibung der Umgebung zwar einen Anflug von Idylle aufkommen, wie etwa in dieser Textpassage: „Im Gegensatz zu der Heimat war diese Gegend hier flach. Jetzt begannen die Vögel zu erwachen und zu singen, und ein leichter Wind kam auf, der die frischen

322 Bernhard Oberreither [Rez.]: Reinhard Kaiser-Mühlecker: Roter Flieder. Erstellt am 12.03.2013. URL: http://www.literaturhaus.at/index.php?id=9818&L=0%25252Fadmin%25252Ffile_manager. php%25252Flogin.php%252C [27.05.2016]. Im Folgenden zitiert als: Oberreither [Rez.], Roter Flieder. 323 Günther A. Höfler: „Definitely maybe“. Zur Prosa der Generation Y. In: Österreichische Gegenwartsliteratur. Hrsg. v. Hermann Korte. München: edition text + kritik. 2015. (=Text + Kritik Sonderband 2015) S. 320. Im Folgenden zitiert als: Höfler, Definitely maybe. 84 grünen Blätter der Bäume erzittern und im rasch heller werdenden Morgenlicht blinken ließ.“ (F 22) Dennoch bedeutet die hier beschriebene Umgebung in erster Linie einen Verlust, nämlich den der Heimat im Innviertel. Schließlich bietet das Dorf Rosental der Familie aber dennoch eine neue Chance und lässt den Verlust langsam in den Hintergrund treten, bis der alte Goldberger sich schließlich bewusst wird: „Das Kapitel Innviertel hatte er seit langem abgeschlossen. Es war keine Wunde mehr, schon gar keine offene.“ (F 179) Ulrich Rüdenauer stellt in seiner Rezension zu den Bemühungen des Sohnes Ferdinand Goldberger, den Hof erfolgreich zu führen, fest: „Diese Heimat muss man sich erobern, und es braucht Zeit, um in ihr heimisch zu werden.“324 In der Generation seiner Kinder wiederum ist Rosental dann bereits jener Bezugspunkt, der für ihn selbst und seinen Vater das Innviertel war. Als sein Enkel Paul in Bolivien lebt, setzt er das Gut La Reunión mit dem Hof gleich, auf dem er aufgewachsen ist. Rosental bleibt ihm stets ein gedanklicher Bezugspunkt:

Rosental fehlte ihm nicht. Auch seine Familie fehlte ihm nicht. Wie sollte ihm etwas fehlen, woran er täglich dachte? Er hatte nichts vergessen. […] Ob auch das Land sich veränderte? Er glaubte nicht daran. So wenig, wie sich hier etwas veränderte, würde sich dort etwas verändern. Die granitenen Grenzsteine würden immer noch genau dort aus der lehmigen schweren Erde lugen, wo er sie erinnerte. Wie sollte ihm fehlen, was er in sich trug? (F 487) Seine Heimat ist in ihn eingeschrieben und als diese begleitet sie ihn selbst auf einem anderen Kontinent täglich. Erst so weit weg von ihr kann er schließlich erkennen, was das Verhalten seines Großvaters am Sterbebett bedeutet hat und erst hier kann er ihm schließlich das Unausgesprochene verzeihen. Denn vor Pauls Tod setzt eine monumentale Erinnerung bei ihm ein, die ihn zurück nach Rosental in seine Heimat führt und mit einer Flut von Bildern einhergeht:

Seine Erinnerung lief wie ein Film vor ihm. Unzählige Bilder liefen, sich gegenseitig ablösend, wie ein Film, wie in einem Kino, durch dessen Leinwand man teilweise durchsehen konnte. Diese Bilder und das große Wandelbild der Landschaft verschwammen nicht miteinander, waren aber auch nicht voneinander zu trennen. (F 505) Diese Schlüsselstelle wird von Oberreither dergestalt charakterisiert: „Dort zur Ruhe gekommen, ereilt ihn zuerst ein Moment epiphanischer Einsicht – einer der wenigen im Buch – und kurz darauf, fast erwartungsgemäß, der Tod.“325 Denn schließlich führen all die Erinnerungen Paul zu einer weitreichenden Erkenntnis, die sich auf den Fluch der Familie und die letzten Worte seines Großvaters beziehen: „Denn er begriff da eines, wenn auch nur halb: Was es auch gewesen sein mochte, wofür der Großvater ihn um Verzeihung gebeten hatte, er hatte ihm dafür vollständig – im Herzen wie im Geiste – vergeben.“ (F 506) Nach dieser Einsicht erreicht Paul die Siedlung La Olla,

324 Ulrich Rüdenauer [Rez.]: Romanepos „Roter Flieder“: Flucht in eine andere Landschaft. Erstellt am 25.09.2012. In: taz.de. URL: http://www.taz.de/!5083316/ [27.05.2016]. 325 Oberreither [Rez.], Roter Flieder.

85 wo er wie jeden Monat einen Wortgottesdienst halten soll. Er kommt dort unter Umständen ums Leben, die nicht gänzlich aufgeklärt werden. Fest steht allerdings so viel: Nach seiner Meinungsverschiedenheit mit Pater Guillermo, die Erziehung seines Schülers Javier betreffend, hat dieser den für Aberglauben anfälligen Mitgliedern der Gemeinde mitgeteilt, dass Paul ein Hexer sei. Schon einmal war es dort wegen eines vermeintlichen Fluches zu einem im Kollektiv begangenen Mord gekommen. Hierbei scheint bemerkenswert, dass es in Pauls Heimat Rosental wie in Bolivien Aberglaube ist, der das Denken der Menschen stark beeinflusst. Paul stirbt jedenfalls in dem Glauben, dass der Fluch enden kann, da er keine Kinder hat. Nach seinem Tod wird sich dies als Irrtum herausstellen, sein Sohn Ferdinand wird nach Rosental kommen und in den Augen seiner Verwandten das siebte Glied sein.

8.5 Vater-Sohn-Beziehungen

Für Roter Flieder in besonderem Maße prägend sind die dargestellten Vater-Sohn-Beziehungen. Indem der Hof zuerst vom alten Goldberger an seinen Sohn Ferdinand und später von ihm weiter an seinen zweitgeborenen Sohn Thomas gegeben wird und jeder von ihnen jeweils seine eigene Art der Hofführung unterhält, prägen diese Figuren in besonderem Maße die Geschicke der Familie Goldberger. Von weitreichender Bedeutung ist allerdings auch, wer eben gerade nicht das Hoferbe antritt, nämlich Ferdinands ältester Sohn Paul. Hier deutet sich bereits großes Konfliktpotential in der Vater-Sohn-Beziehung an. Dieses findet sich allerdings bereits eine Generation zuvor zwischen dem alten Goldberger und dem aus dem Krieg heimkehrenden Ferdinand. Dass sein Vater während seiner Abwesenheit den Hof im Innviertel verlassen musste, führt bei Ferdinand zu Ablehnung. Dass der Vater nicht ausspricht, was tatsächlich passiert ist, lässt die Kluft zwischen den beiden keineswegs kleiner werden:

Jetzt schlug das Pendel zum letzten Mal aus, und Ferdinand war gewiss: Er verachtete seinen Vater. Den, der ihm da schwarz wie ein Vogel gegenübersaß, verachtete er. Er verachtete ihn für das, was er getan hatte, ohne dass er wusste, was es war; allein die Folgen genügten ihm als Grund. (F 103) Die Gespräche zwischen ihm und dem Vater nützt Ferdinand von da an hauptsächlich dazu, den Vater zu demütigen. Er besteht darauf, den Hof von ihm überschrieben zu bekommen und drängt ihn zu Elisabeth zu ziehen. Die Schwäche, die er lange Zeit gegenüber seinem Vater empfunden hat, scheint verschwunden zu sein, die auf ihm lastende Schuld zwingt seinen Vater dazu, sich Ferdinand unterzuordnen. Nicht durch Worte, aber durch Taten will er von seinem Sohn Vergebung erlangen, etwa als er ihm das durch die Schottergrube erlangte Vermögen schenkt. Bei aller Abneigung ist sich Ferdinand dennoch bewusst, dass er nicht frei vom geistigen Erbe seines Vaters

86 ist: „Denn allzu oft befiel ihn die Angst, im Grunde so zu sein wie sein Vater; und wenn nicht schon jetzt so zu sein, dann so zu werden, eines Tages, wenn er keinen Vater mehr hätte.“ (F 166) Auch den Augen seiner Frau bleiben gewisse Ähnlichkeiten zwischen den beiden nicht verborgen: „Sie hatte ihn, vor allem im Vergleich zu seinem Vater, immer für vernünftig, ja durchschaubar gehalten, jetzt dachte sie, dass er, auf seine spezielle Art, ebenso seltsam und rätselhaft war, wie Goldberger es gewesen war.“ (F 311) Ferdinand ist sehr bemüht, seine eigene Art der Hofführung zu etablieren und gesteht seinem Vater kaum mehr als Rolle eines Hilfsarbeiters ohne Entscheidungsbefugnis zu. Als dieser sich dann mit der Schottergrube ein neues Betätigungsfeld sucht, möchte sich Ferdinand davon abgrenzen:

Ferdinand konnte sich nicht von seinem Vater lösen. Innerlich war es nicht schwierig; innerlich hatte er es längst getan, schon vor sehr langem, nachdem er aus dem Krieg zurückgekommen war. Nur äußerlich, da war es scheinbar unmöglich. Warum blitzte Joseph ihn an? Ihn? Es war nicht seine Schottergrube – er hatte nichts damit zu tun. (F 205) Dennoch wird ihm bewusst, dass ihn die anderen Menschen stets mit seinem Vater in Verbindung bringen werden, trotz seiner innerlichen Loslösung von ihm. Die familiären Bande bleiben außen gut sichtbar bestehen. Erst nach dem Tod des alten Goldbergers findet Ferdinand in Gedanken seinen Frieden mit dem Vater. Für ihn selbst wiederum nimmt das Verhältnis zu seinem Sohn Paul in diesem Moment eine Wende, als klar wird, dass dieser nicht als Hoferbe vorgesehen ist und nach K. in das Internat geschickt werden soll: „Er wusste, dass er nicht für den Hof vorgesehen war. Er wusste es schon seit langem. So wie er wusste, dass er aus einem anderen Holz geschnitzt war als sein Vater, wusste er das. Beides wollte er nicht wissen – er wusste es trotzdem.“ (F 225) Seinen Vater quält von nun an die Sorge darüber, ob es richtig gewesen ist, Paul ins Internat zu schicken. Und tatsächlich müssen er und seine Frau schon bald Veränderungen an ihrem Sohn feststellen, wenn er wochenends auf den Hof zurückkehrt: „Beide ertrugen es nicht zu sehen, wie Paul sich veränderte, wie er von Mal zu Mal stiller wurde, in sich gekehrter und unzugänglicher.“ (F 257) Diese Entfernung zu Paul wächst mit der Zeit noch mehr. Als er während seines Studiums in Wien in den Ferien heimkehrt – zu diesem Zeitpunkt hat er bereits ein Alkoholproblem und wurde durch die Trennung von seiner Freundin einigermaßen aus der Bahn geworfen – denkt sein Vater: „Einzig Paul bereitete ihm Sorgen, vor allem zu Beginn, als er gekommen war. Er war herumgestanden wie ein Fremder, den ganzen Tag im Unterhemd und wie gerade erst aufgestanden, und hatte manches Unsinnige gemacht.“ (F 365) Noch im selben Sommer zündet Paul im Wahn das Haus von Elisabeth an, das sie ihm vererben wollte. Schließlich ist es allerdings nicht sein Vater, der Paul daraufhin verstößt, sondern sein Bruder Thomas: „Ja. Und wenn du dich hier noch einmal blicken lässt, dann bring ich dich um.“ (F 390)

87 Für Pauls Sohn wiederum ist sein Leben in Rosental auch eine Suche nach dem nie gekannten Vater. In seinem Onkel, dessen Frau und seiner Großmutter findet er eine Familie, wie er sie sich immer ersehnt hatte. Zu Beginn ist es allerdings wieder die Sprachlosigkeit, die Thomas nicht über seinen Bruder sprechen lässt und Ferdinand nicht nach seinem Vater fragen. Schließlich wählt er unwissend das selbe Studienfach wie sein Vater. Als er von seinen Verwandten darauf hingewiesen wird, ist das für ihn ein großes Glück: „Noch nie, nicht einmal, wenn er, was er oft tat, ein Foto von ihm ansah, hatte er sich seinem Vater so nahe gefühlt wie in diesem Moment“ (F 581) Nach und nach erfährt er von seinem Onkel doch noch einiges über seinen Vater und fühlt sich in gewisser Hinsicht als dessen Wiedergänger, wie weiter unten noch näher ausgeführt wird.

8.6 Zeit und Schicksal

Der gesamte Roman und seine Handlung wird begleitet von Reflexionen zur Zeit und ihrem Takt, was den Rezensenten Ulrich Rüdenauer zu dieser Feststellung gelangen lässt: „Es ist eine epische Erzählung von Schuld und Sühne, von Aberglaube und Duldsamkeit – und vom Rhythmus der Zeit.“326 Bildreich wird die Unerbittlichkeit der vergehenden Zeit dargestellt, etwa in dieser Text- passage über den alten Goldberger, in der die Zeit als fließend beschrieben wird: „Er wollte gehen und gehen. Denn dieses Gehen war wie sein Leben, und der Bach war wie die Zeit. Alles floss an ihm vorbei, das Wasser, die Zeit, und doch ging er, doch lebte er.“ (F 180) Die Jahre vergehen und der mittlerweile kurz vor seinem 75. Geburtstag stehende Goldberger sucht nach einem Halt, um sich gegen die Zeit zu stemmen. Diesen findet er in Form einer Schottergrube, die es ihm erlaubt, nochmals einen Beginn zu wagen: „Die Idee war die Fortsetzung des Gehens, das er nicht ewig machen konnte. Aber etwas Neues anfangen, das konnte er.“ (F 181) Auch sein Sohn sieht sich mit dem Fortlaufen der Zeit konfrontiert, mittlerweile ist er Vater von drei Kindern. Hier ist es nicht das Wasser, sondern die Luft, mit der das Verstreichen der Zeit illustriert wird: „Wie Wind, der durch ein Schlüsselloch zieht, waren die Jahre vergangen.“ (F 193)

An anderer Stelle – hier steht das Unausgesprochene zwischen Ferdinand und seinem Vater im Raum – rieselt die Zeit: „Wie viel Zeit verging so? Es war nicht zu sagen – wäre selbst mit einer Uhr nicht zu sagen gewesen. Die Zeit, die da durch diesen Raum rieselte, bestand aus etwas anderem als Sekunden oder Minuten; sie bestand aus Geschichten.“ (F 138) Die Zeit wird auf unbestimmbare Weise gedehnt, indem sie gefüllt wird von all dem, was nicht gesagt wird. Das Gefühl einer gedehnten Zeit kommt nicht nur für die Figuren, sondern auch für die Lesenden auf, was im Portrait der Welt zu folgendem Fazit hinsichtlich Kaiser-Mühleckers Schreiben führt: „Erst

326 Rüdenauer [Rez.]: Roter Flieder. 88 die bis an ihre Grenzen zerdehnte Zeit ist eine verdichtete Zeit.“327 Für Paul setzt die Zeit während seines Aufenthaltes in der Psychiatrie beinahe völlig aus: „Es war nicht die Zeit, die draußen einmal lauter, einmal leiser tickend zog. Hier gab es das nicht, hier war alles aufgehoben in Weiß.“ (F 445) Die Farbe Weiß dominiert während dieser Zeit alle anderen Eindrücke, seine Empfindungen sind auf ein Minimum reduziert. Auch Pauls letztes Empfinden ist mit der Zeit verknüpft, sein nie gänzlich aufgeklärter Tod wird als Stehenbleiben der Zeit beschrieben: „Aber vielmehr, als dass er körperlich etwas empfand oder wahrnahm, war es, als habe jemand endgültig die Zeit angehalten. Nichts war mehr.“ (F 509) Letztlich bedeutet das Vergehen der Zeit immer auch einen Verlust, wie an folgender Textstelle deutlich wird:

Seit vielen Jahren war Goldberger tot. Nichts war mehr, wie es gewesen war in Elisabeths Leben. Wenn sie auf der Straße die Autos nahezu lautlos vorbeibrausen sah, auf den Feldern die immer größer werdenden Traktoren auf und ab jede Arbeit fast alleine erledigen sah und am Himmel dann und wann Flugzeuge fliegen und weiße Streifen, die keine Wolken waren, hinterlassen sah, wusste sie, dass ihre Zeit vorbei war. (F 294) Die Zeit bringt Neues, letztlich nimmt sie aber auch. Elisabeth findet sich in einer Welt wieder, die nicht mehr ihre ist und muss eine große Lektion lernen:

Von dem Tag an, an dem sie den ersten Bruder an den Krieg und an den Tod, was für sie dasselbe war, verloren hatte, hatte sie, anstatt sie endgültig anzunehmen, sich geweigert, die einzige, größte Lektion des Lebens zu akzeptieren, die Lektion, die sie längst, schon allzu früh, gelernt hatte und die lautete, dass nichts Bestand habe. (F 294) Doch nicht sie allein, auch Thomas muss diese Lektion lernen: „Freilich, er hatte viel verloren; aber das hatte ihm alles das Leben selbst genommen, wie es einem jeden Dinge nahm und gab, scheinbar ohne jede Regel.“ (535) Und Paul begleitet diese Lektion durch sein ganzes Leben:

Viel zu früh, vielleicht am Totenbett des Großvaters, vielleicht auf den Weiden beim Töten der Tiere, vielleicht bei irgendeiner anderen der unendlichen, doch unterschiedlich deutlichen, Gelegenheiten hatte Paul gelernt, dass nichts hielt, nichts blieb auf dieser Welt. Oft hatte er, als hätte er sie je vergessen, diese Lektion wiederholen müssen. (F 477) Damit geht auch das Annehmen des Schicksals einher und dieses Schicksal bedeutet für die Familie Goldberger eben auch den Fluch bis ins siebte Glied. Als Ferdinand von Thomas erfährt, dass Paul Elisabeths Hof angezündet hat, ist für ihn der Punkt des Annehmens erreicht: „Das war der letzte Schritt; er hatte das Schicksal angenommen. Was mehr konnte ein Mensch machen? Manchmal brauchte man ein ganzes Leben dazu.“ (F 398) Für Rüdenauer steht die Sprachlosigkeit der Figuren in Zusammenhang mit diesem Glauben an das unentrinnbare Schicksal:

327 o. V., Hoffnung. 89 Er versteht die Zeit aus den Menschen heraus, hat, selbst aufgewachsen und lebend in diesem Landstrich, die Erzählungen und die Stimmen der Dorfbewohner im Ohr. Und er begreift selbst noch ihre Verkümmerung und Sprachlosigkeit als Ausdruck des Glaubens an ein unhinterfragtes Weiter, das als Schicksal begriffen wird.328 Es ist der Ort, der mit für die Prägung der Menschen verantwortlich ist und diese lässt sie schweigend vor dem unüberwindbaren Schicksal stehen. Für Paul war es bereits als Kind keine Option, sich gegen sein Schicksal in Form des Internats in K. zu wehren. Obwohl er nie vom elterlichen Hof weg wollte, fügt er sich dem Wunsch seines Vaters ohne Protest. Als er sich dieses Fügens viele Jahre später in Bolivien bewusst wird, scheint sich die Gelegenheit zu ergeben, eine Korrektur vorzunehmen. Und so setzt er seine Kraft daran, seinem Schüler Javier dabei zu helfen, seine Entscheidung, am Gut La Unión bleiben zu wollen, durchzusetzen. Vorerst scheint dieses Unterfangen erfolgreich:

Obwohl es Unsinn war und er wusste, dass es Unsinn war, hatte er seit Javiers Entscheidung, nicht wegzugehen und in eine höhere Schule einzutreten, das Gefühl, als sei dadurch in seinem, Pauls, Leben eine Korrektur vorgenommen worden; als sei dadurch die falsche Entscheidung in seinem Leben aufgehoben, wiedergutgemacht. (F 485) Dass diese Korrektur im Grunde genommen unmöglich ist, ist Paul bewusst. Nicht bewusst ist ihm jedoch, dass die Widerstände noch nicht ausgeräumt sind. Nach seinem Tod, der wohl auf eine Intrige von Pater Guillermo zurückzuführen ist, wird Javier dennoch von zu Hause weg und auf eine Schule in der Stadt geschickt. Letztlich gibt es für Paul kein Ausbessern des Schicksals. Sein Sohn Ferdinand, von dem er nichts wusste, taucht nach seinem Tod am Hof der Goldbergers auf und lebt dort einige Jahre. Eine Entfremdung von seinem Onkel Thomas, dessen Frau Sabine und seiner Großmutter Anna findet statt, als diese ihm vom Fluch erzählt, demzufolge er das siebte und letzte Glied darstellen würde, das von Gott gestraft wird. Erschrocken vom Aberglauben der Menschen, die ihm mittlerweile zu der Familie geworden sind, die er sich immer gewünscht hat, sieht er sich in seinem Entschluss bestätigt, nach Wien zu gehen und Landwirtschaft zu studieren, womit er zum Wiedergänger seines Vaters wird und das Schicksal zurechtrücken will: „Ferdinand hatte die etwas undeutliche Idee, er müsse den Weg des Vaters offenbar nachgehen und ihn auf diese Weise neu gehen, um etwas im Universum geradezurücken.“ (F 611) Inwiefern dies gelingt, bleibt in Roter Flieder im Dunkeln, der Roman endet mit Ferdinands Weggang aus Rosental, seine Geschichte wird in Schwarzer Flieder fortgesetzt.

328 Rüdenauer [Rez.]: Roter Flieder. 90 8.7 Fazit

Roter Flieder geht – wie weiter oben bereits kurz angerissen – ohne Weiteres als Provinzroman durch, auch Kaiser-Mühleckers Einschätzung der Bedeutung, die „die so genannte Heimat oder die so genannte Provinz“329 für sein Schreiben hat, fügt sich nahtlos in diesen Befund ein. Die Selbsteinschätzung des Autors, derzufolge ihm extreme Positionen wie jene der Zerstörung des Heimatbildes im Anti-Heimatromans nicht liegen würden330, bestätigt sich in Roter Flieder dahingehend, als die Provinz sich nicht in einem Maße als geschlossen präsentiert, das sie ausweglos und damit als Gefängnis erscheinen ließe.331 Geht man also von Mecklenburgs Definition aus, lässt sich dieser Roman nicht der Anti-Heimatliteratur zuordnen. Eine Zuordnung zur Gattung des Generationenromans scheint hingegen zulässig, denn dieser stellt per definitionem „eine geheime Koinzidenz und unterschwellige Kontinuität zwischen den Familienmitgliedern her“332, wie es in Roter Flieder deutlich der Fall ist. Wie bereits angeklungen ist, stellen derartige Überschneidungen hinsichtlich der Gattung allerdings den Provinzroman betreffend keineswegs eine Außergewöhnlichkeit dar. Die Landschaft spielt in diesem Roman eine Hauptrolle, folgende Feststellung in Dallingers Laudatio lassen sich damit in Zusammenhang bringen:

Die besondere Bedeutung des Raumes und die genau Beschreibung des Dinglichen haben an mögliche literarische Vorbilder wie , oder auch Franz Tumler und den roman nouveau denken lassen. Die – im Stifter'schen Sinne – ‚wirklichere Wirklichkeit‘ Kaiser Mühleckers bildet nicht ab, sondern montiert vergrößerte Ausschnitte und Fragmente ganz individueller Beobachtungen.333 Der Ort steht immer in engem Zusammenhang mit den Menschen und ihrem Schicksal. Wie sich die Menschen in ihm befinden, befindet auch er sich in den Menschen, wo auch immer sie hingehen. Die von Kaiser-Mühlecker gestalteten Landschaftsstimmungen stehen nie als Selbstzweck für sich allein, sondern sind Teil einer kleinen Welt, in der alles seine Bedeutung hat und in der sich große Fragen stellen. So stellt die geschilderte Lebenswelt die Grundierung dar, auf der sich einmal mehr universale Fragen abzeichnen wie jene „nach dem Maß der Abhängigkeit des Einzelnen von seinem familiären Erbe, der Verantwortung, der Bürde, die er von seinen Vorfahren ungewollt – und möglicherweise unabänderlich – auferlegt bekommt.“334

329 Cerny, Interview. 330 Vgl. ebda. 331 Vgl. Mecklenburg, Provinz, S. 48. 332 Ariane Eichenberg: Familie – Ich – Nation. Narrative Analysen zeitgenössische Generationsenromane. – Göttingen: V&R unipress 2009. S. 126. 333 Dallinger, Laudatio, S. 25. 334 Vgl. Pohl [Rez.], Roter Flieder, S. 150. 91 Das Gewicht der Bürde, die in Roter Flieder von Generation zu Generation weitergegeben wird, ist kein leichtes: Die unausgesprochene Schuld, die seelischen Deformationen der Familienmitglieder und das Vergehen der Zeit, das mehr nimmt als gibt, wiegen schwer. All das wird von den Familienmitgliedern als Schicksal zusammengefasst, das sie mühevoll anzunehmen versuchen. Auch auf der Ebene der Erzählinstanz wird dieser Haltung keine Deutung entgegengesetzt:

Die Schilderung menschlicher Handlungen, der drückenden, Missverstehen generierenden Sprachlosigkeit und des Unglücks erfolgt bei diesem Autor niemals deutend oder wertend, alles wird vom epischen Gestus des ›Schicksal geschieht eben‹ getragen, womit dieses stets gravitätische Wucht annimmt.335 Seltene Versuche der Auflehnung der Figuren gegen ihr Schicksal sieht Rüdenauer in der Liebe, die Auflehnung ist allerdings nie von Dauer und scheint sich letztendlich immer in Lethargie zu verwandeln.336 Über den gesamten Roman, von der Ankunft der Goldbergers in Rosental bis zu Pauls Grab in Bolivien und wieder zurück als an dieses Grab erinnerndes Mal am heimatlichen Hof, begegnet der rote Flieder immer wieder. Er gilt den Figuren dabei mitunter als Symbol für Heimat, besonders in Pauls Fall. Über die Generationen zieht sich dabei die Angewohnheit, den Flieder als rot zu bezeichnen, obwohl er dunkelviolett ist. Diese Wahrnehmungsverschiebung verweist wohl auch auf eine viel gewichtigere: Der Flieder ist rot, weil es die Goldbergers so sehen, der Fluch reicht bis ins siebte Glied, weil die Goldbergers es so sehen.

Am Ende des Romans angekommen, lehnt sich mit Ferdinand das vermeintlich siebte Glied gegen den Aberglauben auf und „beweist noch recht schwächliches historisches Bewusstsein“337, was die Taten seines Urgroßvaters als Auslöser des Fluches betrifft: „Man glaubte daran, dass sich an den Nachfahren rächte, was der alte Goldberger, Ferdinands Urgroßvater, als Ortsgruppenführer im Innviertel nicht einfach verbrochen hatte, sondern wegen eben dieses Amtes gewissermaßen hatte verbrechen müssen!“ (F 597) Der Rezensent Bernhard Oberreither sieht in dieser Figurenrede von Ferdinand eine Irritation, aber auch einen Beweis für die kluge Konstruktion dieses Romans338: „Das Gewicht der Vergangenheit, die nur in verstümmelter Form erinnert wird, einerseits; andererseits die Erfolgsgeschichte, Wiederaufbau, Wachstum.“339 So ist Roter Flieder auch ein Roman über das Erinnern, das aufgrund der Sprachlosigkeit umso schwerer lastet. Und es ist ein Roman über die Unbehaustheit oder – wenn man so will – den Verlust der Heimat.

335 Höfler, Definitely Maybe, S. 320. 336 Vgl. Rüdenauer [Rez.]: Roter Flieder. 337 Oberreither [Rez.], Roter Flieder. 338 Vgl. ebda. 339 Ebda. 92 9 Zusammenfassung

Der Provinzroman ist gegenwärtig angesichts einer Annäherung von dörflichen und städtischen Lebenswelten nicht etwa dabei, in ein Nischendasein abzurutschen, vielmehr kann sich die Provinz dank ihrer Funktion als Weltessenz, in deren Rahmen Erfahrungsräume in höchstem Maße genutzt werden können, in der Gegenwartsliteratur einiger Beliebtheit erfreuen. Mit einem diachronen Blick auf das Erzählen von Provinz zeigt sich, dass sich immer wieder Verknüpfungen mit gesell- schaftlichen Entwicklungen und damit zusammenhängenden Problemfeldern ergaben. Diese Gattung, die hier aufgrund der zu eng gefassten Definition des Heimatromans sowie der ideologischen Bürde, die der Begriff ‚Heimat‘ zu tragen hat, als Provinzroman bezeichnet wird, lässt sich dahingehend definieren, dass die Provinz nicht lediglich als Dekor, sondern als für den Inhalt prägend auftritt. Selbst bei eindeutiger Einhaltung dieser Vorgabe ergeben sich dennoch Überschneidungen mit weiteren Gattungen, wie sich im Rahmen der Analyse der drei Romane gezeigt hat. So ist Unterleuten laut Verlag ein Gesellschaftsroman, daneben lassen sich Züge des Kriminalromans ausmachen, Roter Flieder tendiert deutlich in Richtung Generationenroman und die gesamte Ortsumgehung ist in hohem Maße autobiographisch. Dennoch konnte die Analyse zeigen, dass es sich bei allen drei Romanen auch eindeutig um Provinzromane handelt, Unterleuten entspricht dem von Rölcke vorgeschlagenen Bauplan eines idealen Provinzromans sogar in sehr hohem Maße.

Die für das Leben in der Provinz idealtypische Struktur der Dorfgemeinschaft sieht sich ebenso mit Auflösungserscheinungen konfrontiert wie ein rein auf Örtlichkeit aufbauendes, unreflektiertes Zugehörigkeitsgefühl zu einer Heimat. Diese gesellschaftlichen Entwicklungen werden im aktuellen Provinzroman aufgenommen und thematisiert. So stellt Andreas Maier in seiner literarischen Orts- umgehung und auch abseits davon umfangreiche Überlegungen zum Wesen von Heimat an, Juli Zeh thematisiert in Unterleuten die Auflösung von traditionellen Dorfstrukturen und Reinhard Kaiser- Mühlecker illustriert in Roter Flieder die Prägung der Menschen durch Orte. Daneben wird eine Reihe weiterer bedeutender gesellschaftlicher Fragestellungen im Dorf, das somit als Laboratorium dient, ausverhandelt: Kann Gemeinschaft angesichts des gegenwärtigen Individualismus noch funktionieren? Wo bleibt die Moral, wenn es um Selbstverwirklichung geht, die scheinbar keine Schranken kennt? (Unterleuten) Wie findet man das wahre Leben im falschen? Kann man die Heimat vor der Zerstörung der blind fortschrittsgläubigen, auf schieres Funktionieren ausge- richteten Menschen bewahren? (Der Ort) Wie kann man das Schicksal annehmen, wie grausam es

93 auch sein mag? Gibt es Verständigung angesichts der über Generationen drückenden Schuldlast? (Roter Flieder)

So sind es durchwegs existenzielle Fragen, die dem Provinzroman seine Relevanz in der Gegenwart verleihen. Die Provinz bietet dabei den Vorteil eines klar umrissenen Schauplatzes und einer überblickbaren Anzahl an Figuren und wird somit zu einem idealen Laboratorium, in dem auch Zeitgeschichte abgehandelt wird. So sind es im brandenburgischen Dorf Unterleuten Konflikte, die in der DDR wurzeln und auch mit dem Mauerfall nicht ausgeräumt worden sind, während im Roman Roter Flieder der alte Goldberger, der zur Zeit des 2. Weltkrieges als Ortsgruppenführer tätig gewesen ist, in dieser Funktion Schuld auf sich geladen hat, die seinen Nachkommen ein drückendes Erbe sein wird. In Der Ort stehen zwar biographische Wandlungen im Vordergrund, dennoch stellt Maier ein breites Panoptikum dar, in dem Friedberg in der Wetterau in den 1980er Jahren für den gesamten Westen der Republik stehen kann. Auch ist es weder eine vollständige Idyllisierung des Lebens am Land, noch die Darstellung der dörflichen Lebenswelt als unentrinnbaren Alptraum, die in den drei hier untersuchten Romanen begegnet. Das Leben in den hier untersuchten literarischen Provinzen ist weder gänzlich Paradies noch gänzlich Hölle, gleiches gilt für die Stadt als an Eindeutigkeit verlierender Gegenpol. In der literarischen Provinz wird, was die drei in dieser Arbeit untersuchten Romane anbelangt, eine Vielzahl an verschiedenen Lebensentwürfen dargestellt, was wohl in hohem Maße der gesellschaftlichen Realität der gegenwärtigen Provinz entspricht.

94 10 Literaturverzeichnis

10.1 Untersuchte Romane

Kaiser-Mühlecker, Reinhard: Roter Flieder. Frankfurt a.M.: Fischer 2014.

Maier, Andreas: Das Zimmer. Berlin: Suhrkamp 2010.

Maier, Andreas: Das Haus. Berlin: Suhrkamp 2011.

Maier, Andreas: Die Straße. Berlin: Suhrkamp 2013.

Maier, Andreas: Der Ort. Berlin: Suhrkamp 2015.

Zeh, Juli: Unterleuten. München: Luchterhand 2016.

10.2 Forschungsliteratur

Altvater, Friedrich: Wesen und Form der deutschen Dorfgeschichte im neunzehnten Jahrhundert. Nendeln: Kraus Reprint 1967. (= Germanistische Studien. 88.)

Amann, Wilhelm: Die Provinz im Zeitalter der Globalität. Romane von Peter Kurzeck (Vorabend), Andreas Maier (Das Zimmer) und Stephan Thome (Grenzgang). In: Raum – Region – Kultur. Literaturgeschichtsschreibung im Kontext aktueller Diskurse. Hrsg. v. Marjan Cescutti, Johann Holzner und Roger Vorderegger. Innsbruck: Universitätsverlag Wagner 2013. (=Schlern-Schriften. 360.) S. 269-278.

Badwe, Neeti: Spannungsfeld Heimat: Zwischen geopolitischer Vorstellung und virtueller Vernetzung. In:In: Vielheit und Einheit der Germanistik weltweit. Akten des XII. Internationalen Germanistenkongresses Warschau 2010. Hrsg. v. Franciszek Grucza. Frankfurt a. M. u.a.: Lang 2012. (= Publikationen der internationalen Vereinigung für Germanistik. 9.) S. 23-27.

Bartels, Gerrit [Rez.]: Andreas Maier und sein Roman "Der Ort": Im Zeichen der Hickelkästchen. Erstellt am 07.06.2015. In: Der Tagesspiegel. URL: http://www.tagesspiegel.de/kultur/andreas- maier-und-sein-roman-der-ort-im-zeichen-der-hickelkaestchen/11878692.html [20.05.2016].

Baum, Detlef: Dorf und Stadt als idealtypische Konturen und Lebensräume in Ost und West. In: Imaginäre Dörfer. Zur Wiederkehr des Dörflichen in Literatur, Film und Lebenswelt. Hrsg. v. Werner Nell und Marc Weiland. Bielefeld: transcript 2014. (= Edition Kulturwissenschaft. 41.) S. 111-135. 95 Baur, Uwe: Dorfgeschichte. Zur Entstehung und gesellschaftlichen Funktion einer literarischen Gattung im Vormärz. München: Fink 1978.

Blickle, Peter: Der neue Heimatbegriff. In: Vielheit und Einheit der Germanistik weltweit. Akten des XII. Internationalen Germanistenkongresses Warschau 2010. Hrsg. v. Franciszek Grucza. Frankfurt a. M. u.a.: Lang 2012. (= Publikationen der internationalen Vereinigung für Germanistik. 9.) S. 41-46.

Bredow, Wilfried von: Zwiespältige Zufluchten. Zur Renaissance des Heimatgefühls. Hrsg. v. Wilfried von Bredow und Hans-Friedrich Foltin. Berlin, Bonn: Dietz 1981.

Cerny, Karin: Interview mit Reinhard Kaiser-Mühlecker. URL: http://www.literaturhaus.at/index. php?id=7137 [27.05.2016].

Dallinger, Petra-Maria: Laudatio für Reinhard Kaiser-Mühlecker. In: Die Rampe (2015), H. 1. S. 25f.

Drafz, Helge: Heimatkunde als Weltkunde. Provinz und Literatur in den achziger Jahren. In: Neue Generation – Neues Erzählen. Deutsche Prosa-Literatur der achtziger Jahre. Hrsg. v. Walter Delabar. Opladen: Westdeutscher Verlag 1993. S. 77-102.

Eichenberg, Ariane: Familie – Ich – Nation. Narrative Analysen zeitgenössische Generationenromane. – Göttingen: V&R unipress 2009.

Gansel, Carsten: Von romantischen Landschaften, sozialistischen Dörfern und neuen Dorfromanen. Zur Inszenierung des Dörflichen in der deutschsprachigen Literatur zwischen Vormoderne und Spätmoderne. In: Imaginäre Dörfer. Zur Wiederkehr des Dörflichen in Literatur, Film und Lebenswelt. Hrsg. v. Werner Nell und Marc Weiland. Bielefeld: transcript 2014. (= Edition Kulturwissenschaft. 41.) S. 197-224.

Granzin, Katharina [Rez.]: Neuer Roman von Juli Zeh: Da stinkt doch was in Unterleuten. Erstellt am 07.03.2016. In: taz.de. URL: http://www.taz.de/!5284060 [30.05.2016].

Greverus, Ina-Maria: Auf der Suche nach Heimat. München: C. H. Beck 1979. (=Beck'sche Schwarze Reihe. 189.)

Greverus, Ina-Maria: Der territoriale Mensch. Ein literaturanthropologischer Versuch zum Heimatphänomen. Frankfurt a. M.: Athenäum 1972.

96 Haberland, Detlef: „Denk' ich an Deutschland...“ - Juli Zehs ästhetisch-politische Position im Politik-, Mentalitäts- und Wertewandel. In: Literarische Koordinaten der Zeiterfahrung. Hrsg. v. Joanna Ławnikowska-Koper und Jacek Rzeszotnik.. Wrocław u.a.: ATUT u.a. 2008. S. 116-131.

Harbers, Henk: »Reden könne jeder« Nihilistische Thematik im Werk von Andreas Maier. In: Weimarer Beiträge 56 (2010) H. 2, S. 193-212.

Hartwig, Ina [Rez.]: Andreas Maier: Das Ich meiner Wahl. Erstellt am 01.07.2015. In:. Zeit online. URL: http://www.zeit.de/2015/24/andreas-maier-der-ort [12.05.2015].

Hein, Jürgen: Dorfgeschichte. Stuttgart: Metzler 1976. (= Sammlung Metzler. Realien zur Literatur. Abt. E: Poetik. 145.)

Herminghouse, Patricia: The Young Author as Public Intellectual. The Case of Juli Zeh. In: German Literature in a New Century. Trends, Traditions, Transitions, Transformations. Hrsg. v. Katharina Gerstenberger und Patricia Herminghouse. New York, Oxford: Berghahn Books 2008. S. 268-284.

Hoch, Jenny: Schriftstellerin Juli Zeh: "Ich verstehe, dass mein Stil viele nervt". Erstellt am 13.10.2007. In: Spiegel Online. URL: http://www.spiegel.de/kultur/literatur/schriftstellerin-juli-zeh- ich-verstehe-dass-mein-stil-viele-nervt-a-511197.html [29.04.2016].

Höfler, Günther A.: „Definitely maybe“. Zur Prosa der Generation Y. In: Österreichische Gegenwartsliteratur. Hrsg. v. Hermann Korte. München: edition text + kritik. 2015. (=Text + Kritik Sonderband 2015) S. 310-321.

Kittler, Friedrich A.: De Nostalgia. In: Literatur und Provinz. Das Konzept Heimat in der neueren Literatur. Hrsg. v. Hans-Georg Pott. Paderborn u.a.: Schöningh 1986. S. 153-168.

Koppensteiner, Jürgen: Das Leben auf dem Lande. Zu den Anti-Heimatromanen österreichischer Gegenwartsautoren. In: Akten des VI. Internationalen Germanisten-Kongresses Basel 1980. Bd. 4. Hrsg. v. Heinz Rupp und Hans-Gert Roloff. Bern u.a.: Lang 1980. (= Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A, Kongressberichte. 8.) S. 454-551.

Koppensteiner, Jürgen: Anti-Heimatliteratur: Ein Unterrichtsversuch mit Franz Innerhofers Roman Schöne Tage. In: Die Unterrichtspraxis/Teaching German 14 (1981) H. 1, S. 9-19. URL: http://www.jstor.org/stable/3529918 [18.04.2016].

97 Kunne, Andrea: Heimat im Roman: Last oder Lust? Transformationen eines Genres in der österreichischen Nachkriegsliteratur. Amsterdam: Rodopi 1991. (= Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur. 95.)

Laberenz, Lennart [Rez.]: Weltweisheiten vom Dorf. Erstellt am 28.03.2016 In: Der Freitag. URL: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/weltweisheiten-vom-dorf [30.05.2016].

Lachinger, Renate: Der österreichische Anti-Heimatroman. Eine Untersuchung am Beispiel von Franz Innerhofer, Gernot Wolfgruber, Michael Scharang und Elfriede Jelinek. Salzburg, Univ., Diss. 1985.

Langthaler, Ernst: Das Dorf (er-)finden. Wissensfabrikation zwischen Geschichte und Gedächtnis. In: Imaginäre Dörfer. Zur Wiederkehr des Dörflichen in Literatur, Film und Lebenswelt. Hrsg. v. Werner Nell und Marc Weiland. Bielefeld: transcript 2014. (=Edition Kulturwissenschaft. 41.) S. 53-80.

Maier, Andreas: Heimat ist wie nackt vor Gott zu stehen. Erstellt am 01.02.2012. In: Cicero Online. URL: http://www.cicero.de/salon/heimat-ist-wie-nackt-vor-gott-zu-stehen/48096 [20.04.2016].

Maier, Andreas: Ich – Frankfurter Poetikvorlesungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006. (=Edition Suhrkamp. 2492.)

Maier, Andreas: Onkel J. Heimatkunde. Berlin: Suhrkamp 2011. (=suhrkamp taschenbuch. 4261.)

März, Ursula [Rez.]: "Unterleuten": Jedes Dorf ist eine Welt. Erstellt am 05.04.2016. In: Zeit online. URL: http://www.zeit.de/2016/13/unterleuten-juli-zeh-roman [13.05.2016].

Mecklenburg, Norbert: Die grünen Inseln. Zur Kritik des literarischen Heimatkomplexes. München: iudicium 1986.

Mecklenburg, Norbert: Erzählte Provinz. Regionalismus und Moderne im Roman. Königstein i. T.: Athenäum 1982.

Metz, Christian [Rez.]: Andreas Maiers „Der Ort“: Die zärtlichste Entfremdung, seit es Heimatromane gibt. Erstellt am 15.08.2015. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. URL: http://www.faz.net/-gqz-86lr6 [20.05.2016].

98 Nell, Werner; Weiland, Marc: Imaginationsraum Dorf. In: Imaginäre Dörfer. Zur Wiederkehr des Dörflichen in Literatur, Film und Lebenswelt. Hrsg. v. Werner Nell und Marc Weiland. Bielefeld: transcript 2014. (= Edition Kulturwissenschaft. 41.) S. 13-50.

Oberreither, Bernhard [Rez.]: Reinhard Kaiser-Mühlecker: Roter Flieder. Erstellt am 12.03.2013. URL: http://www.literaturhaus.at/index.php?id=9818&L=0%25252Fadmin%25252Ffile_manager. php%25252Flogin.php%252C [27.05.2016]. o. V.: Reinhard Kaiser-Mühlecker: Ein Bauer ist Österreichs neue Literatur-Hoffnung. Erstellt am 03.01.2016. In: Die Welt. URL: http://www.welt.de/150563024 [27.05.2016].

Pohl, Isabella [Rez.]: Reinhard Kaiser-Mühlecker: Roter Flieder. In: Kolik 58 (2013), S. 148-151.

Porombka, Wiebke [Rez.]: Reinhard Kaiser-Mühlecker: Roter Flieder Doch das Böse sieht man nicht. Erstellt am 01.10.2012. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. URL: http://www.faz.net/-gr3- 73aa2 [27.05.2016].

Putz, Elisabeth: Ich bin kein Rebell. In: Buchkultur 116 (2008), S. 26f.

Ricoeur, Paul: Zeit und Erzählung. Bd. 1: Zeit und historische Erzählung. Aus dem Französischen v. Rainer Rochlitz. München: Fink 1988.

Rohde, Carsten: Der liebe Gott und das Nichts. Andreas Maier und der postpostmoderne Wahrheitsdiskurs. In: Euphorion 108 (2014) H. 1, S. 85-103.

Rölcke, Michael: Konstruierte Enge. Die Provinz als Weltmodell im deutschsprachigen Gegenwartsroman. In: Die Unendlichkeit des Erzählens. Der Roman in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1989. Hrsg. v. Carsten Rohde und Hansgeorg Schmidt-Bergmann. Bielefeld: Aisthesis 2013. S. 113-138.

Rüdenauer, Ulrich [Rez.]: Reinhard Kaiser-Mühlecker: Roter Flieder. Es wird immer sein, wie’s immer war. In: Falter. URL: https://cms.falter.at/falter/rezensionen/buecher/?issue_id=451&item_ id=9783455404234 [27.05.2016].

Rüdenauer, Ulrich [Rez.]: Romanepos „Roter Flieder“: Flucht in eine andere Landschaft. Erstellt am 25.09.2012. In: taz.de. URL: http://www.taz.de/!5083316/ [27.05.2016].

99 Schmidt-Dengler, Wendelin: Österreichische Gegenwartsliteratur ab 1990. In: In: eLib.at (Hrsg.) URL: http://www.univie.ac.at/elib/index.php?title=Oesterreich_-_Gegenwartsliteratur_ab_1990_- _Wendelin_Schmidt-Dengler [20.04.2016].

Schröder, Christoph [Rez.]: Juli Zehs "Unterleuten": Windkrafträder auf Misthaufen. Erstellt am 12.03.2016. In: Der Tagesspiegel. URL: http://www.tagesspiegel.de/kultur/juli-zehs-unterleuten- windkraftraeder-auf-misthaufen/13311834.html [30.05.2016].

Schumacher, Ernst-Friedrich: Small is beautiful. Die Rückkehr zum menschlichen Maß. 2. Aufl. Reinbek: Rowohlt 1982.

Schöbel, Sören: Landschaftsbilder zwischen Bewahren und neuer Gestalt. In: Der Bürger im Staat (2011) H. 1/2, S. 50-57.

Stadler, Arnold: Ich bin, was ich bin. Oder ich bin nichts. Laudatio auf Andreas Maier. In: Hugo- Ball-Almanach 3 (2012), S. 126-135.

Suerbaum, Ulrich: Kriminalroman. In: Handbuch der literarischen Gattungen. Hrsg. v. Dieter Lamping. Stuttgart: Kröner 2009. S. 438.

Wróblewska, Barbara: Reinhard Kaiser-Mühlecker – ein Virtuos der respektvollen Distanz. In: Neue Stimmen aus Österreich. 11 Einblicke in die Literatur der Jahrtausendwende. Hrsg. v. Joanna Drynda. Frankfurt a.M.: Lang 2013. (=Studien zur Germanistik, Skandinavistik und Übersetzungskultur. 8.) S. 121-130.

Zeh, Juli: Auf den Barrikaden oder hinterm Berg? In: Dies.: Alles auf dem Rasen. Kein Roman. Frankfurt a. M.: Schöffling & Co 2006. S. 214-219.

Zeh, Juli: Fliegende Bauten. In: Dies.: Alles auf dem Rasen. Kein Roman. Frankfurt a. M.: Schöffling & Co 2006. S. 95-102.

Zeh, Juli; Geiger, Thomas: Es geht immer um Sprache. Ein Gespräch über Jura und Literatur. In: Sprache im technischen Zeitalter 44 (2006), H. 12, S. 417-431.

Zeh, Juli: Goldene Zeiten. In: Dies.: Nachts sind das Tiere. Frankfurt a. M.: Schöffling & Co 2014. S. 93-103.

Zeh, Juli: Reizklima. In: Dies.: Nachts sind das Tiere. Frankfurt a. M.: Schöffling & Co 2014. S. 280-286.

100