Literatur Und Reise
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Burkhard Moennighoff Wiebke von Bernstorff Toni Tholen (Hrsg.) Literatur und Reise Hildesheimer Universitätsschriften; 28 Impressum Verlag Universitätsverlag Hildesheim Vertrieb Universitätsverlag Hildesheim Marienburger Platz 22 31141 Hildesheim [email protected] Druck Druckhaus Lühmann Marktstr. 2-3 31167 Bockenem Gestaltung Verena Hirschberger ISSN 1433-5999 ISBN-10 3-934105-42-4 ISBN-13 978-3-934105-42-3 Hildesheim 2013 Inhalt Vorwort ......................................................................................... 5 Hanns-Josef Ortheil Schreiben und Reisen. Wie Schriftsteller vom Unterwegs-Sein erzählen ............................................................... 7 Burkhard Moennighoff Wer geht, sieht viel. Johann Gottfried Seumes Spaziergang nach Syrakus ........................................................... 32 Stefani Brusberg-Kiermeier Charlotte Brontës Jane Eyre: Stationen der Reise einer taubengrauen Heldin .................................................................... 51 Irene Pieper Virginia Woolf: The Voyage Out. Ein weiblicher Bildungsroman ............................................................................ 72 Ulrich Joost Lichtenbergs London ................................................................... 97 Toni Tholen Reisen und Melancholie: W.G. Sebald ...................................... 132 Jennifer Clare Amazing Journeys. Reisen, Trips und Bewegung in der Literatur der „68er“ ............................................................. 151 Christian Schärf Bruce Chatwin: Traumpfade ..................................................... 177 Wiebke von Bernstorff Reisen ins jugoslawische Kriegsgebiet: Peter Handke, Juli Zeh und Saša Stanišić ......................................................... 194 Rolf Elberfeld Wenn die Reise zum Wohnort wird – Matsuo Bashōs 松尾芭蕉 Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland (Oku no hosomichi 奥の細道) .................................................. 228 Heidi Gidion Lou-Andreas-Salomé und Rainer Maria Rilke – ihre Reise nach Russland im Jahre 1900 .................................................... 240 Autorinnen und Autoren ........................................................... 261 Vorwort Diejenigen Texte, die die Reise zu ihrem bestimmenden Thema machen und darum zurecht als Reiseliteratur bezeichnet und als literarische Gruppe behandelt werden, stellen ein buntes und viel- seitiges Ganzes dar. Das betrifft bereits die Gattungen. Die Unterscheidungen in Reiseroman und Reisebericht, in Reiseskizze, Reiseessay, Reise- tagebuch und Reisenotat, so sinnvoll sie sind, geben nur einen vorläufigen Aufschluss über die Heterogenität der Reiseliteratur, aber immerhin doch so viel zu erkennen, dass diese nicht über ei- nen Kamm zu scheren ist. Das betrifft natürlich auch die außerli- terarische Bedeutung, die das Reisen zu unterschiedlichen Zeiten und für unterschiedliche Menschen hat und hatte. Die Ziele des Reisens sind verschieden, wie auch seine Zwecke es sind. Man kann reisen, um Wissen zu sammeln, um Handel zu treiben, um ästhetische und erotische Erfahrungen zu machen, um innere Ein- kehr zu betreiben, um Geschichte zu erinnern, um Kultur(en) zu beschreiben oder um Abenteuer zu erleben. Man kann weg wollen oder hinstreben. Das Reisen kann freiwillig geschehen oder ge- zwungenermaßen. All die realen Modalitäten des Reisens färben auf die Literatur, die es thematisiert, ab, sofern sie sich von Realia überhaupt leiten lässt. Reiseliteratur tut das aber sui generis. Um davon einen Eindruck zu bekommen, muss man nur an Heinrich Heines Harzreise denken und an den darin artikulierten ironi- schen Vorbehalt gegenüber frühen Erscheinungen des Tourismus. Aber selbst da, wo sich die Reiseliteratur dem freien Spiel der er- finderischen Imagination überlässt, ist sie nicht ganz unabhängig von den Möglichkeiten des Reisens, die eine Zeit bestimmen. In Tilman Rammstedts modernem Schelmenroman Der Kaiser von China wird eine Reise durch das China der Gegenwart erfunden und so gekonnt, aber auch augenzwinkernd vorgetäuscht, dass der Leser ins Schwanken zwischen Glauben und Nicht-Glauben, sie hätte so stattfinden können, gerät. Die Rolle des Reisenden in der Literatur ist so vielgestaltig wie seine Fortbewegungsart vielseitig. Er kann als Abenteurer, Augenzeuge, Sozialreporter, Flaneur oder Entdecker unterwegs 5 sein, zu Fuß, auf dem Rücken eines Tiers, mit der Eisenbahn, dem Schiff oder dem Auto. Die Ziele, die sich Reisende in der Literatur setzen, sind un- überschaubar, ihre Aufzählung kaum möglich. Natürlich gibt es Reisemoden, wie zum Beispiel die Italienreise im 18. und 19. Jahrhundert. Aber immer wieder sind es die ausgefallenen Orte, die die Reisenden aufsuchen. Oft ist es die Anziehungskraft des Fremden, die den Aufbruch zu fernen Orten erklärt. Außerdem erklärt sie die literarische Produktivität, der sich die Reiseliteratur verdankt. Die tatsächliche oder imaginierte Begegnung mit dem Fremden und Anderen, die die Loslösung vom Herkunftsort und der gewohnten Umgebung voraussetzt, regt die Phantasie an und stimuliert den Impuls zu schreiben. Das gilt selbst für einen so denkwürdigen Text wie Johann Gottfried Herders Journal meiner Reise im Jahr 1769, der nur in seinem Titel zu erkennen gibt, dass er zur Reiseliteratur gerechnet werden soll. Es ist die Gestaltungsvielfalt, die den Reiz der Reiseliteratur ausmacht. Ihr geht der vorliegende Band in einer Reihe von Ein- zelstudien nach. Er vereint Beiträge zur Literatur unterschiedli- cher Epochen und Länder. Getragen werden sie von der gemein- samen Absicht, die Interkulturalität der Reiseliteratur zu er- schließen und zu erhellen. Allen Kolleginnen und Kollegen, die mit ihren Beiträgen zu diesem Band beigetragen haben, gilt unser herzlicher Dank. Ebenso danken möchten wir Julia Moneke, die bei der Vorberei- tung des Bandes wertvolle Arbeit geleistet hat, und der TUI AG, die durch ihre großzügige Unterstützung unser Projekt hilfreich gefördert hat. Hildesheim, im Juni 2013 Burkhard Moennighoff, Wiebke von Bernstorff, Toni Tholen 6 Hanns-Josef Ortheil Schreiben und Reisen Wie Schriftsteller vom Unterwegs-Sein erzählen I Wie kaum eine andere Lebensform hat das Reisen zur Entwick- lung des Schreibens beigetragen. Auf Reisen zu sein – das konnte bedeuten: sich im Ungewissen und Unbekannten zu bewegen und diese ungewohnten Bewegungen bewusst zu fixieren. Die Frem- de, der man auf Reisen begegnete, zog dann das Schreiben an, sie war der Auslöser, der Reiz und das Stimulans eines Notierens, das ihre Nachwirkungen und ihren Nachhall festhalten und dadurch bekannt machen wollte. So forderte das Reisen nicht nur das Schreiben heraus, son- dern ging oft sofort in ein Schreiben über. Das frisch Gesehene wurde in den verschiedensten Stillagen notiert und verfügbar ge- macht, zunächst im intimen, persönlichen Sinn, dann aber auch für die anderen, die Gruppe, die daheim Gebliebenen. Beide Lebensakte – Reisen und Schreiben – berührten sich im Medium des Zeitlichen: Eine größere Bewegung (des Reisens) wurde in eine kleinere (des Schreibens) übertragen, die Reisebe- wegung verwandelte sich in eine Schreibbewegung, oft sogar in zeitlicher Parallelität, als könnte das eine ohne das andere nicht sein. Ausdehnung und Ausbreitung – das waren sowohl im Reisen als auch im Schreiben zentrale Momente der Zeithypnose: Die Zeit (der Reise) sollte für Momente still stehen und bewahrt wer- den von der Zeit (des Schreibens). Die beiden Zeitformen waren sich dadurch von vornherein immer sehr nahe. Diese Nähe war so stark und derart elementar, dass das Reisen sich aus eigener Dynamik in ein Schreiben ver- wandeln und das Schreiben aus einem ganz ähnlichen vitalen Im- puls zu einem Reisen werden konnte. Der Reisende war dann un- terwegs, indem er sich mit dem Blick auf das Schreiben in einen Raum einschrieb – oder der Schreibende reiste, indem er das Rei- sen (in der Kutsche, im Zug, im Flugzeug) mit seinem Schreiben überdeckte. 7 Reisen und Schreiben entwarfen sich so auch räumlich: durch ei- ne bestimmte Betrachtung ausgewählter Räume (Landschaften, Städte, Territorien) oder durch die Komposition von besonderen Schreibräumen der Reise. Die Räume des jeweiligen Reisens konnten sich derart in Räumen des Schreibens spiegeln und zu bestimmten Formaten der Mitteilung führen. Manche dieser schriftlichen Formate wollen über das Reisen triumphieren und ihm erst seine eigentliche Gestalt geben, andere geben sich demütig und unterwerfen sich dem Reisen, einige ver- halten sich aber auch neutral, wie Registraturen. Ich möchte eini- ge dieser Mitteilungsformate grob unterscheiden und als Systeme des Schreibens über das Reisen kenntlich machen, bevor ich mich von diesen Systemen löse und in aller Kürze noch etwas über das Schreiben auf Reisen1 sage. II Eine der frühsten und bis heute ungebrochenen Formen des Rei- sens ist die Abenteuerreise. Während ihres meist episodischen Verlaufs wahrt der Reisende eine naive Distanz zu der Fremde. Er will sie weder untersuchen noch tiefer in sie eindringen, er will sie vielmehr körperlich erleben. Reibung an der Fremde, direkte, körperliche Auseinandersetzung mit ihr, heftiger, aber nicht allzu langer Kontakt – das sind Momente dieser Form des Reisens. Der Abenteurer lässt sich in Erlebnisabläufe verwickeln, die sich am Ende zu einer Darstellung (einer Geschichte) schließen sollen. Die Erzählung und das Schreiben über solche Reisen sind demzufolge Erzählungen von bestandenen Abenteuern, von überwundenen Hindernissen, von gelungener Flucht und erneu- tem Aufbruch. Immerzu ist das Fremde eine bestimmte,