Rechtsterroristische Gruppen in Deutschland
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1 Rechtsterroristische Gruppen in Deutschland nach dem NSU 2 Robert Philippsberg 3 4 5 6 Zusammenfassung: In dem Aufsatz wird der Frage nachgegangen, welche charakteristischen 7 Merkmale rechtsterroristische Gruppen nach dem NSU in Deutschland zwischen 2011 und 8 2020 aufweisen. Hierzu wurden als Fallbeispiele die rechtsterroristischen Vereinigungen Old 9 School Society, Gruppe Freital, Revolution Chemnitz und die mutmaßlich rechtsterroristische 10 Gruppe S. anhand der Kriterien Entstehung und Entwicklung, Gruppenstruktur, Täter*in- 11 nenprofil, Auswahl der Ziele/Opfer, Gewaltintensität, Kommunikationsstrategie und Ideo- 12 logie untersucht. Der empirische Vergleich zeigt, dass die meist hierarchisch aufgebauten 13 Gruppen mehrheitlich eine rechtsextreme Ideologie, Gewaltbereitschaft, Waffenaffinität und 14 Menschenfeindlichkeit aufweisen. Sie bestanden fast ausschließlich aus Männern und ent- 15 standen häufig in Chatgruppen. Dort radikalisierten sich die (mutmaßlichen) Mitglieder 16 schnell und entschlossen sich zu teilweise schwersten Straftaten, deren Kommunikations- 17 wirkung sich fast immer durch die Zielauswahl (v.a. Migrant*innen und politische Geg- 18 ner*innen) ergeben sollte. Die realisierten und geplanten Taten belegen, dass die rechtster- 19 roristische Gefahr in Deutschland auch nach dem NSU hoch ist. 20 21 Schlüsselwörter: Rechtsterrorismus; Rechtsterroristische Gruppen; Gruppe Freital; Revolu- 22 tion Chemnitz; Oldschool Society; Gruppe S. 23 Summary: The essay investigates the characteristic features of right-wing terrorist groups 24 after the right-wing terror cell Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) in Germany between 25 26 2011 and 2020. For this purpose, the right-wing terrorist groups Old School Society, Gruppe Freital, Revolution Chemnitz and the presumed right-wing terrorist group Gruppe S. were 27 28 examined as case studies using the criteria of emergence and development, group structure, perpetrator profile, selection of targets / victims, intensity of violence, communication stra- 29 30 tegy and ideology. The empirical comparison has shown that the often hierarchically stru- ctured groups have a right-wing extremist ideology, a willingness to use violence, an affinity 31 32 for weapons and misanthropy. They consisted almost entirely of men and were often created in chat groups. There, the (presumed) members quickly radicalized and decided to commit 33 34 partially serious crimes, the communication effect of which should almost always result from the target selection (especially migrants and political opponents). The implemented and 35 36 planned terror acts showed that the right-wing terrorist danger of such organizations in Germany is high even after the NSU. 37 38 Title: Right-wing terrorist groups after Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) 39 40 Keywords: right-wing terrorism; right-wing terrorist groups; Gruppe Freital; Revolution Chemnitz; Oldschool Society; Gruppe S. 41 42 43 44 45 46 ZRex – Zeitschrift für Rechtsextremismusforschung, Jg. 1, Heft 1/2021, 147–166 https://doi.org/10.3224/zrex.v1i1.09 148 ZRex – Zeitschrift für Rechtsextremismusforschung, Jg. 1, Heft 1/2021, 147–166 1 1 Einleitung 2 3 Deutschland erlebte nach dem Bekanntwerden der Mord- und Anschlagsserie des „Natio- 4 nalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) eine Welle von tödlichen rechtsterroristischen Taten 5 durch allein handelnde Attentäter, die in München, Kassel, Halle und Hanau stattfanden 6 (Kehlbach/Nordhardt 2020). Doch auch nicht-tödliche, aber dennoch schwerwiegende 7 rechtsterroristische Taten von Gruppen erschütterten Deutschland in diesem Zeitraum. Den- 8 noch gibt es mit Ausnahme von Quent (2019a), der einen ersten Versuch zur Systematisierung 9 rechtsterroristischer Gruppen nach dem NSU vornimmt, bislang keine wissenschaftliche 10 Publikation, die sich im Rahmen eines systematischen Vergleichs ausschließlich mit rechts- 11 terroristischen Vereinigungen in Deutschland nach dem NSU auseinandersetzt. Gleichwohl ist 12 das Verständnis der charakteristischen Eigenschaften der rechtsterroristischen Gruppen 13 wichtig, um die aktuelle Bedrohungslage, die von derartigen Vereinigungen für potenzielle 14 Opfergruppen und den Staat ausgehen, besser einschätzen zu können. Mit der vorliegenden 15 Untersuchung soll daher, anhand eines Vergleichs von Fallbeispielen deutscher (mutmaßlich) 16 rechtsterroristischer Gruppen, aufgezeigt werden, welche spezifischen Merkmale rechtster- 17 roristische Vereinigungen in Deutschland nach dem NSU kennzeichnen. Bevor näher auf den 18 Begriff „Rechtsterrorismus“, die Auswahl der Fallbeispiele und die Vergleichskriterien ein- 19 gegangen wird, ist zunächst zum Hintergrundverständnis rechtsterroristischer Taten auf die 20 zentrale Bedeutung der Gewalt im Rechtsextremismus hinzuweisen. Laut Dierbach dient sie 21 in ihrer grundlegenden Funktion dazu, „in einem symbolischen und praktischen Sinne ge- 22 sellschaftliche Dominanz herzustellen und dadurch politische Wirkung zu entfalten“ (Dier- 23 bach 2016: 493). Was ist jedoch unter Rechtsterrorismus zu verstehen, der einen Teilbereich 24 des Terrorismus darstellt? In rechtlicher Hinsicht wird in Deutschland durch den §129a StGB 25 inhaltlich bestimmt, welche Vereinigungen als terroristisch einzustufen sind, wobei sowohl 26 die Mitgliedschaft als auch deren Unterstützung strafbar ist (129a StGB, 2017). Für die 27 vorliegende Studie wird unter dem Terrorismusbegriff die weit gefasste, aber die zentralen 28 Elemente des dynamisch sich entwickelnden Terrorismus aufgreifende Definition des Sozi- 29 alwissenschaftlers Fabian Virchow verwendet. Laut dieser Definition ist Terrorismus ein 30 „geplantes, nicht nur einmaliges gewaltsames Handeln von (halb‐)geheim agierenden Indi- 31 viduen oder Gruppen mit dem Ziel […], Angst und Einschüchterung bei einer größeren Zahl 32 von Menschen zu erzeugen und/oder Entscheidungen politischer Akteure oder sozialer 33 Gruppen zu beeinflussen, ohne dabei etwa auf persönliche Bereicherung zu zielen“ (Virchow 34 2016: 8). Das Spezifische am Rechtsterrorismus ist dabei die auf dem Rechtsextremismus 35 basierende ideologische Zielrichtung und damit einhergehende Ungleichwertigkeitsvorstel- 36 lungen (z.B. völkisches Denken, Rassismus, Antisemitismus und Autoritarismus; Salzborn 37 2018: 22–32). 38 39 40 41 2 Untersuchungsgegenstand und Methoden 42 43 Für die vorliegende Untersuchung wird der Rechtsterrorismus von Gruppen nach dem NSU 44 bis Ende 2020 anhand von vier Fallbeispielen untersucht, die mit ihrem jeweiligen Wir- 45 kungszeitraum angegeben werden. Dabei handelt es sich um die „Gruppe Freital“ (GF) 46 Robert Philippsberg: Rechtsterroristische Gruppen in Deutschland nach dem NSU 149 1 (2015–2016), die „Old School Society“ (OSS) (2015–2016), die Gruppierung „Revolution 2 Chemnitz“ (RC) (2018) sowie die mutmaßlich rechtsterroristische Vereinigung „Gruppe S.“ 3 (GS) (2019–2020). Die vier Gruppen wurden ausgewählt, da sie aufgrund ihrer (mutmaßlich) 4 geplanten oder ausgeführten Taten eine überregionale Bedeutung in Deutschland erlangt 5 haben und zum Teil in mehreren Bundesländern aktiv waren. Außerdem repräsentieren sie 6 durch ihre unterschiedliche Art der Gruppenstruktur und das Profil ihrer (mutmaßlichen) 7 Mitglieder beispielhaft die Bandbreite des Rechtsterrorismus in Deutschland nach dem NSU. 8 Ein weiteres Kriterium für die Auswahl der Fallbeispiele ist die vorhandene Quellenlage zu 9 den jeweiligen Gruppierungen. Mit Ausnahme der GS liegen zu den anderen Gruppierungen 10 Urteile aus Prozessen gegen ehemalige Mitglieder vor, die eine genaue Analyse der jeweiligen 11 Gruppe erlauben.1 Bei der GS kam es im Untersuchungszeitraum noch nicht zu Gerichts- 12 prozessen gegen Personen, die dieser Gruppierung angehört haben oder sie unterstützt haben 13 sollen. Allerdings gibt es mittlerweile neben zahlreichen Presseberichten und Antworten auf 14 parlamentarische Anfragen auch eine Anklageschrift der Generalbundesanwaltschaft (GBA), 15 zu der diese eine Pressemitteilung publiziert hat. Anhand dieser Dokumente, die zwar le- 16 diglich Quellencharakter aufweisen, ist es möglich, grundlegende Aspekte im Sinne der 17 Forschungsfrage zur GS zu beantworten. 18 Um rechtsterroristische Gruppen vergleichend betrachten zu können, ist es zunächst 19 notwendig, entsprechende Analysekriterien festzulegen. Besonders geeignete Vergleichskri- 20 terien hat der Politikwissenschaftler Sebastian Gräfe (Gräfe 2017) für eine Studie zu rechts- 21 terroristischen Gruppierungen formuliert. Diese lauten: Ideologie, Gruppenstruktur, Auswahl 22 der Ziele/Opfer, Gewaltintensität sowie Kommunikationsstrategie. Da Gräfes Kriterienkata- 23 log zentrale Aspekte für die Charakterisierung und insbesondere den Vergleich von rechts- 24 terroristischen Gruppen enthält, bilden diese die Grundlage für die vorliegende Untersuchung. 25 Vom Autor werden jedoch zwei zusätzliche Kriterien hinzugefügt. Zum einen das Kriterium 26 „Entstehung und Entwicklung“, mit dem untersucht wird, wie die Gruppe zustande gekom- 27 men ist, wie sie sich, auch hinsichtlich der terroristischen Zielsetzung, entwickelte und wie 28 lange sie existiert oder bis zu einer Zerschlagung durch die Sicherheitsbehörden oder einer 29 Selbstauflösung existierte. Als weiteres Kriterium wurde das „Täter*innenprofil“ hinzuge- 30 fügt, um zu ergründen, welche charakteristischen Merkmale die Mitglieder einer Vereinigung 31 zum Beispiel im Hinblick auf mögliche (politisch relevante) Vorstrafen, ein Engagement in 32 rechtsextremen Vereinigungen oder hinsichtlich soziostruktureller Spezifika