Inter.Magdeburger im Gespräch.VistaNah. Persönlich. Echt.

lutz trümper - täve schur - rayk weber - karl gerhold - maik franz carmen niebergall - phil hubbe - bernd heynemann - uvm. 02/16

Inhalt

Maik Franz 6

1. FC Magdeburg 14 Carmen Niebergall Lutz Trümper 22 Tourenreich Oberbürgermeister 30 Pascal Begrich Hans-Günther Pölitz 38 Miteinander e.V. Kabarettist 48 Bettina Wiengarn Karl Gerhold 54 Offener Kanal GETEC-Gruppe 64 Marc-Henrik Schmedt Rayk Weber 74 SC Magdeburg Fotograf 82 Bernd Heynemann Lena Gehlfuß 90 Ex-Schiedsrichter Café Herzstück 98 Täve Schur Radsportlegende Raimund Widra 108 Schauspieler 116 Sebastian Ebeling Boys‘n‘Beats Carolin Goldmann 124 Modedesignerin 132 Phil Hubbe Karrikaturist Redaktion 142

Fortsetzung folgt

Wisst Ihr eigentlich, in welcher Magdebur­ ger Kneipe Lutz Trümper zu Studienzeiten­ feierte? Wieviele Aktenordner die Briefe der Verehrerinnen von Täve Schur füllen? Welcher Magdeburger Schiedsrichter FIFA­ Weltmeisterschaftsspiele pfiff und im Bundes­ tag saß? Wir wussten es auch nicht, bis wir diese Menschen trafen, die uns ihre Geschichten er­ zählten. Die 16 Interviews aus Inter.Vista II sol­ len mehr Lust auf Magdeburg, seine Menschen und das Leben in der Elbestadt machen. Denn was alles in der Landeshauptstadt möglich ist, erfuhren wir wieder von hochkarätigen und engagierten Gesprächspartnern. Unternehmer, Politiker, Künstler, Kabarettisten, Schau­spieler, Karikaturisten und Sportler erzählen von ih­ ren Träumen und Erfolgen sowie von ihrem Leben in der Landeshauptstadt. Und natürlich ist auch die zweite Ausgabe wieder ein Produkt von Journalismus-­Studenten der ­Hochschule Magdeburg­-Stendal. Nah rangehen, genau hin­ schauen, gut zuhören – das ist das Motto. Denn nun heißt es wieder: Vista schon?

Euer Inter.Vista-Team Vista noch nicht? Maik Franz »Ich möchte dahin, wo ich mal war.«

Maik Franz ist seit Januar Assistent der Geschäftsführung beim 1. FC Magdeburg. Er war 14 Jahre Teil der Fußball- . Vor einem Jahr hing er die Stollenschuhe an den Nagel. Inter.Vista gibt er tiefe Einblicke in seine sportliche Odyssee, spricht über seine Beziehung zu Iron Maik und persönliche Anfeindungen.

Interview und Fotos: Lukas van den Brink

Maik Franz

Du hast zuletzt bei der Hertha gespielt, desliga aufgestiegen. Dein Ruf verän- wohnst noch in Berlin. Du pendelst derte sich. Nach dem Baden-Württem- mit dem Auto. Ist ein Umzug nach berg-Derby gegen den VfB Stuttgart Magdeburg geplant? hat Dich Mario Gomez im TV als Ich pendele nicht jeden Tag. Gelegent­ Arschloch bezeichnet. Du hast Dich lich schlafe ich auch im Hotel. Da ich im Anschluss zurückhaltend geäu- in Zehlendorf wohne, muss ich nicht ßert und auf keine Auseinander­ erst durch die ganze Stadt fahren. Der setzung außerhalb des Platzes einge- Weg zur Autobahn ist nicht allzu weit. lassen. Wie bewertest Du die Aussage Grundsätzlich kann ich mir einen mit dem gewonnenen Abstand? Umzug nach Magdeburg vorstellen. Ich finde seine Aussage etwas unglück­ Ich mag die Mentalität der Magde­ lich formuliert. Natürlich hat man sich burger. Aber man muss abwarten, wie auf dem Platz gegenseitig bekämpft es läuft. Wenn mich der Verein lang­ und ich kann verstehen, dass er an­ fristig an sich binden möchte, ist das gefressen war. Aber es ist überzogen, durchaus eine ­Option. solche Worte zu wählen. Ich bin mir sicher, er sieht das ähnlich.

Wie ist denn die Magdeburger Men- talität? Die Menschen sind offen und di­ rekt. Man weiß sofort, woran man ist. Manchmal ist der Magdeburger auch schroff. Das kann man falsch verstehen, aber meist ist das herzlich gemeint.

Du hast Anfang 2015 Deine Karrie- re als Profisportler beendet. Einige Deiner Gegenspieler haben bestimmt aufgeatmet. Wie schlimm warst Du denn wirklich? (lacht) Ich habe immer an der Grenze des Erlaubten gespielt, manchmal auch darüber hinaus. Ich wollte natürlich im­ mer gewinnen und habe dafür alles ein­ gesetzt, was mir zur Verfügung stand.

In der Saison 2006/07 bist Du mit dem Karlsruher Sportclub in die 1. Bun-

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Was ist genau vorgefallen? von Schülern gesagt, dass sie erstmal Wir haben versucht, dem VfB Stuttgart ihren eigenen Sohn erziehen solle, be­ das Leben so schwer wie möglich zu vor sie Schüler erziehe. Das hat mich machen. Mit allem, was uns zur Ver­ mehr beschäftigt als die persönlichen fügung stand. Da war natürlich auch Anfeindungen. Schundgequatsche dabei. Aber das ist auf dem Fußballplatz normal, egal in Du hattest während Deiner Karriere welcher Liga. immer wieder mit Verletzungen zu kämpfen. Auch da ist mentale Stärke Das Gefühl gefragt. Fiel es Dir schwer, die nötige vor tausenden Kraft aufrechtzuerhalten? ­Menschen auf­ In den ersten Jahren blieb ich zum Glück von schwerwiegenden Verlet­ zulaufen ist zungen verschont. Irgendwann bin ­unbeschreiblich. ich in einen Verletzungsstrudel rein­ Es ist wie eine gerutscht. Es wurde immer mehr. Sucht. Aber ich wollte wieder zurückkom­ men und habe mich an das körper­ liche Niveau herangekämpft. Das Außerhalb des Platzes galtest Du als Gefühl vor tausenden Menschen sehr handsam. Hattest Du mit dem aufzulaufen ist unbeschreiblich. Es Rüpel-Image zu kämpfen? ist wie eine Sucht. Das ganze Drum­ Nein, überhaupt nicht. Jedes Image herum ist beeindruckend. Die Vor­ ist besser als kein Image. Ich war mir bereitung auf das Spiel, die Fahrt ins immer meiner selbst bewusst. Des­ Stadion, tausende Menschen strömen halb konnte ich immer in den Spiegel dort hin. Es ist einfach geil. Aber alles schauen. Das war und ist mir wichtig. ist endlich und man muss einen recht­ zeitigen Absprung schaffen. Ich bin für alles dankbar, was ich lernen und Wie ging Dein Umfeld damit um? erleben durfte. Meine Familie hat das mehr getroffen als mich. Meine Eltern haben eine Zeit Hättest Du Dir ein schöneres Ende lang Diskussionen über mich in un­ gewünscht? terschiedlichen Internetforen verfolgt. Ich fühle mich geistig noch fit, und Da geht es oftmals sehr unreflektiert hätte gerne noch ein paar Jahre ge­ zu. Für Eltern ist es natürlich nicht spielt. Das Ausland hätte mich gereizt. erbaulich, wenn das Kind angefeindet Aber ich trauere dem nicht nach. Das wird. Meine Mutter ist Berufsschul­ ist Jammern auf hohem Niveau. Es gibt lehrerin. Ihr wurde unter anderem wesentlich schlimmere Schicksale.

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Gab es Möglichkeiten? hört, immer den linken Schuh zuerst Ich hätte noch eine Weile in den angezogen. In Wolfsburg habe ich eine USA kicken können, bei Philadelphia Weile am Tag vor den Spielen immer die gleiche Freundin angerufen. In meiner ersten Magdeburger Zeit hat­ Ich habe immer te ich eine Glücksunterhose. Solange an der Grenze wir gewonnen haben, wurde sie nicht des ­Erlaubten gewaschen. Das war natürlich nicht gerade hygienisch (lacht). Über mei­ ­gespielt, ne aktuellen Rituale spreche ich nicht. ­manchmal auch Das bringt vielleicht Unglück. darüber hinaus. Dir wurde der Schritt in den Profi­

fußball vom 1. FC Magdeburg er- ­Union. Ich hatte schon ein Flugticket. möglicht. Wie würdest Du Dein Ver- Eine Knieverletzung hat mir einen hältnis zum Verein beschreiben? Strich durch die Rechnung gemacht. Intensiv. Ich komme hier aus der Regi­ Du hast im Mai ein Bild von Deinem on. Der 1. FCM spielt in der Stadt und Sohn auf Facebook gepostet, mit dem in der Region eine große Rolle. Ich Titel »Ganz der Papa … Abräumer habe insgesamt drei Jahre für Magde­ durch und durch… «. Dein ehemaliger burg gespielt. Die ersten beiden Jahre Mannschaftskollege beim Karlsruher in der A-Juniorenmannschaft unter SC, Christian Eichner, hat das mit »Als Matthias Pape. Zusammen haben wir ich noch mein Zimmer mit ihm geteilt den A-Junioren DFB-Pokal gewon­ hatte, sah es ähnlich aus…« kommen- nen. Das erste Jahr bei den Herren tiert. Legst Du privat Wert auf Ord- war auch erfolgreich. Wir wurden Re­ nung? kordaufsteiger in der Oberliga Nord- (lacht) Ja, definitiv. Wir hatten in Karls­ Ost Süd und haben im DFB-Pokal ruhe eine verdammt coole Zeit. Ich habe unter anderem den 1. FC Köln und ein tolles Verhältnis zu Eiche. Wenn sich ­Bayern München besiegt, bis wir dann eine Angriffsfläche bietet, dann wird die im Viertelfinale knapp am folgenden meist wahrgenommen (lacht). Der Post Pokal­sieger Schalke 04 gescheitert war eine Steilvorlage. Aber der Kom­ sind. Das war eine coole Zeit. mentar entspricht nicht der Wahrheit.

Viele Sportler haben Rituale. Du auch? 2006 bist Du von der 1. Liga-Mann- Ich bin total abergläubisch. Ich habe schaft des VfL Wolfsburg in die 2. Liga vor den Spielen immer die gleiche nach Karlsruhe gewechselt. Warum? Musik in der gleichen Reihenfolge ge­ Ich hatte auf Anhieb ein gutes Gefühl.

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Ich hätte auch innerhalb der 1. Bun­ station Berlin gespendet und auch desliga zu Energie Cottbus wechseln der Kinderkrebsstation Karlsruhe können, wollte aber lieber um den den einen oder anderen Betrag über- Aufstieg spielen als gegen den Abstieg. lassen. Auch das widerspricht Dei- Das hat sich ausgezahlt. Wir waren nem Bad-Boy-Image. Welche Pro- vom ersten bis zum letzten Spieltag auf jekte stehen gerade an? einem Aufstiegsplatz positioniert. Das In der abgelaufenen Rückrunde habe gab es bis heute kein zweites Mal. ich für jeden Sieg des 1. FCM 300 Euro an die Pirmin Schwegler-Stiftung ge­ Dort hast Du schnell Kultstatus er- spendet. Pirmin war mein Kollege reicht und bist zu Deinem Spitz­ bei und war als namen Iron Maik gekommen. Findest Kind an Leukämie erkrankt. Er unter­ du den Namen ein wenig überspitzt? stützt eine Kinderkrebsstation in Überhaupt nicht. Der Name kam von der Schweiz. Die Kinderkrebsstation den Fans, darauf bin ich stolz. Ich tra­ Karls­­ruhe unterstütze ich auch noch ge den Namen gerne und identifiziere in regelmäßigen Abständen. mich damit. Viele bezeichnen mich des­ halb als Selbstdarsteller. Jeder soll seine Du warst 14 Jahre lang Teil der Meinung äußern dürfen. Ich werde die­ ­Bundesliga. Was ist Deine Lieblings­ se große Geste aber nicht ablehnen. anekdote? Es gibt viele schöne Anekdoten. An Du hast eine Zeit lang für jede gelbe dem Tag als ich mit Karlsruhe aufge­ Karte 500 Euro an die Kinderkrebs- stiegen bin, sind wir abends in einer

11 Fankneipe der harten Jungs gelandet. Minuten von Magdeburg entfernt. Als Wir haben bis in die Morgenstunden ich in Wolfsburg gespielt habe, fuhr gefeiert und wurden dann von der Po­ ich auch regelmäßig zu FCM-Spielen, lizei mit Blaulicht nach Hause gefah­ war am Hasselbachplatz essen und mit ren. Näher möchte ich darauf nicht Freunden unterwegs. In der Stadt, in eingehen. Vieles was dort passiert ist, der man spielt, ist man recht präsent. war nicht jugendfrei. Auf jeden Fall Wenn man jung ist, möchte man auch ein unvergesslicher Abend. etwas erleben und seinen Freiraum nutzen. Du studierst Sportmanagement an der IST-Hochschule Düsseldorf. Im Hat sich die Stadt seit Deiner ersten Januar 2016 hast Du die Assistenten­ Zeit beim 1. FCM verändert? stelle der Geschäftsführung beim Es sind ein paar neue Häuser und 1. FCM angetreten. Kannst Du Dir Wohnsiedlungen entstanden, ein paar vorstellen über das Studium hinaus Gebäude wurden renoviert. Aber ein beim 1. FCM zu wirken oder peilst großer Wandel ist in meinen Augen Du wieder die höchste Spielklasse an? nicht geschehen. Klar, deshalb mache ich das ja. Ich sehe meinen Amtsantritt als Investi­ In meiner Zeit als tion. Ich kann vom Verein profitieren Profisportler und der Verein von mir. Hier entsteht etwas. Mario Kallnik und der gesam­ war ich ein te Verein haben in den letzten Jahren waschechter großartige Arbeit geleistet. Jeder, der Serienjunkie. beim FCM tätig ist, hat ein blau-wei­ ßes Herz. Die Voraussetzungen für den nächsten Schritt sind geschaffen. Was macht die Stadt attraktiv? Natürlich möchte ich wieder in der Magdeburg ist lebendig, ist immer ersten oder zweiten Liga arbeiten. Ich in Bewegung. Durch die vielen Stu­ möchte dahin, wo ich mal war. Am denten hat die Stadt eine gewisse liebsten mit dem 1. FC Magdeburg. Energie. Zudem gibt es viele ­schöne Man sollte sich nicht kleiner machen Flecken. Die Elbe, der Dom, der als man ist. Aber man muss einen Fuß Hasselbachplatz und die vielen Parks vor den anderen setzen, Bescheiden­ verleihen der Stadt einen besonde­ heit und Demut zeigen. ren Charme. Magdeburg ist sowohl für junge Warst Du während Deiner ­sportlichen Menschen als auch für Familien Odyssee gelegentlich in Magdeburg? lebens­wert. Der Stadt eilt oft ein fal­ Ja, oft. Meine Eltern wohnen knapp 40 scher Ruf voraus. Hässliche Ecken

12 gibt es natürlich überall. Man sollte Verein nicht mehr erfüllend ist, kann nichts pauschalisieren. ich mir das durchaus vorstellen. Man sollte für alles offen sein. Wie entspannst Du in Deiner Freizeit? Mittlerweile mit meinem Kleinen. Er hat Feuer und ist ein kleiner Wirbel­ wind. Es macht Spaß, ihm zuzuschau­ en und mit ihm zu spielen. Das ist Erholung pur. Ich war schon immer kinderfreundlich, aber wenn man sich mit seinem eigen Fleisch und Blut be­ schäftigt, ist das besonders. In meiner Zeit als Profisportler war ich ein wa­ schechter Serienjunkie.

Welche Serien hast Du denn ge- schaut? Eigentlich alles. Vor allem Game of Thrones ist der absolute Hammer. Aber Vista. schon? auch Entourage, Prison Break, Brea- king Bad und Californication habe ich mir von Anfang bis Ende angesehen. Maik Franz ist 1981 in Merseburg geboren und Im März 2015 bist Du für die Re- nach mehreren Stationen portage-Reihe Iron-Maik – Sport als Profisportler in der am Limit für den Privatsender Sky Fußball Bundesliga nach vor die Kamera getreten und hast Magdeburg zurückge- Dich mit anderen Sportlern in kehrt. Er studiert an der unter­schiedlichen Disziplinen ge- IST-Hochschule Düssel- messen. Kannst Du Dir auch eine dorf Sportmanagement­ Fernsehkarriere vorstellen? und trat die Stelle als Die Zusammenarbeit mit Sky hat Assistent der Geschäfts- Spaß gemacht. Wir haben eine führung beim 1. FCM an. sechsteilige Reportage gedreht. Ich Seine Lieblingsorte in durfte mich mit internationalen Magdeburg sind die Elbe, Topathleten in deren Sportart mes­ der Rotehorn­park und sen. Das war eine tolle Erfahrung. das Hotel Lindenweiler. Wenn eines Tages die Erkenntnis kommen sollte, dass die Arbeit im

13 Carmen Niebergall

»Geht nicht, gibt`s bei mir nicht.«

Sie war Abgeordnete der ersten frei gewählten Volkskammer und kämpft noch immer für die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Im Interview mit Inter.Vista erinnert sich Carmen Niebergall an die Zeit nach der Wende und erzählt, wieso sie kein Problem damit hat, sich als Quotenfrau zu bezeichnen.

Interview und Fotos: Alexandra Birkenhauer

Carmen Niebergall

Wie würden Sie die Frau von heute aus auch als Quotenfrau. Was ist denn beschreiben? schlimm daran, wenn ich dadurch in Kritisch, selbstbewusst, zukunfts­ einem Gremium bin, in das ich sonst denkend – das sind treffende Adjektive. nie reingekommen wäre? Nur so kann Ich bin sehr optimistisch in Bezug auf ich etwas bewegen. die Entwicklung der heutigen Genera­ tion. Die schafft das gut, die Balance Das Studentenwerk wird auf Grund zwischen Arbeit und Familie zu halten. der Gleichberechtigung in Studie- Die Frauenbewegung hat schon einiges rendenwerk umgeschrieben – für erreicht. Wer glaubt, dass man diese rund 200.000 Euro. Halten Sie das Bewegung jetzt nicht mehr braucht, für sinnvoll? der irrt sich. Noch bin ich nicht zu­ Ja. So etwas macht auf die zunehmende frieden mit dem Frauen­anteil. Weder Gleichstellung aufmerksam und das ist in der Politik, noch in den Chefetagen. gut. Sie muss sich in Wort und Schrift Da ist noch eine Menge zu tun. abzeichnen, damit sie sich durchsetzt. Ich fühle mich bei dem Wort ›Bürger‹ Würden Sie sich selbst als emanzi- nicht angesprochen. Schließlich bin pierte Frau beschreiben? ich eine Bürgerin. Man darf es aber Ohne Ende! (lacht) Ich lasse mich nicht übertreiben. Manche ziehen es auch als Emanze bezeichnen. Von mir schnell ins Lächerliche. Und Männer

16 Carmen Niebergall denken oft, dass man ihnen etwas was das angeht. Also bin ich zusam­ wegnehmen will. Dabei will man nur men mit meinem Parteikollegen auf Gleichberechtigung schaffen. Bei den die Bühne gegangen, Hand in Hand Ministerien wird alle paar Jahre etwas sogar. (lacht) Aber man brauchte dann umbenannt und da redet keiner über wirklich nur zwei Sätze zu sagen, und die unnötigen Kosten. schon haben die Leute laut losgejubelt – und dann hat man uns sowieso nicht Wie sind Sie dazu gekommen, sich so mehr richtig verstanden. (lacht) stark für Frauen einzusetzen? Das kam nach und nach. Vor allem Ich lasse mich durch meine Zeit in der Volkskammer. auch als Emanze Da wurde mir bewusst, dass es schwie­ rig sein wird, zwei unterschiedliche bezeichnen. Von Gesellschaftsordnungen zu verbinden. mir aus auch als Quotenfrau. Wie haben Sie die Zeit in der Volks- kammer erlebt? Es war überwältigend. Nach all der Wie haben Sie die Jahre nach der großen Unzufriedenheit hatte man ­Einigung erlebt? auf einmal die Möglichkeit etwas zu Da war ich Staatssekretärin für ­Frauen verändern. Ich wollte die Einigung, und Gleichstellungsfragen in der das war mein fester Wille. Also habe Staatskanzlei Sachsen–Anhalt. Ich ich mich aufstellen lassen. Da wusste hatte viel mit den Problemen der gro­ ich noch nicht genau was auf mich zu ßen Arbeitslosigkeit, insbesondere bei kommt. Ich musste zwar oft Tag und Frauen, zu tun. Und auch mit Gewalt Nacht arbeiten. Aber es hat mich auch in der Familie. Was so im familiären sehr stolz gemacht. Die deutsche Eini­ Raum passiert, ist teilweise einfach gung ist etwas historisches – und ich unfassbar. Auch in den gerade auf­ war Teil davon. gebauten Frauenhäusern gab es viele schlimme Geschichten. Um besser Lag damals ein großer Druck auf damit umgehen zu können, benötigte Ihnen? ich zu der Zeit Hilfe von Fachfrauen. Der Druck war riesig! Das ist mir aber Sonst wäre ich vermutlich daran ka­ erst im Laufe der Zeit klar geworden. putt gegangen. Die Aufbauarbeit hat Nämlich am 18. März 1990, dem ei­ auch ihre spannenden Seiten. Man gentlichen Wahltag. Die Menschen schafft es, viele Ideen und Projekte feierten und freuten sich und ich sollte umzusetzen. am Alten Markt eine Rede halten. Da­ mals war ich aber noch schüchterner,

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Carmen Niebergall

Sie waren dann acht Jahre im Land- netten Abend mit meinen Freundinnen tag Sachsen–Anhalt. Wie hat Sie das und ein, zwei Gläschen Wein kamen geprägt? dann die besten kreativen Ideen.­ (lacht) Die CDU war damals in der Oppo­ Die Europäische Kommission wählte sition. Unsere Ideen sind fast grund­ Sie zur Botschafterin für Frauen als sätzlich nur abgelehnt worden. Man Unternehmerinnen. Wie kam es dazu? produzierte quasi für den Papierkorb. Per Mail erfuhr ich von einer Aus­ Aber dennoch hat mich auch diese schreibung. Da habe ich mich bewor­ Zeit weitergebracht. ben und wurde tatsächlich ausgewählt. Kurze Zeit später durfte ich nach Bei den Wahlen 2002 sind Sie nicht Stockholm fahren und bekam meine mehr angetreten. Wieso? Auszeichnung überreicht – und zwar Zum Einen hatte das innerparteiliche von der Kronprinzessin Victoria von Gründe. Zum Anderen war es eine Schweden! Das war eine große Ehre. sehr persönliche Entscheidung. Ich Ich bin sehr stolz darauf. komme aus der Wirtschaft, und da wollte ich auch wieder hin. In der Po­ Wo bewahren Sie die Auszeichnung litik ist die eigene Meinung manchmal auf? nicht so gefragt. Eingerahmt über meinem Schreib­ tisch. (lacht) Ich gehe gerne in den Garten Und was sind Ihre Aufgaben als Bot- und rede mit schafterin? Ich werbe dafür, dass Frauen sich für meinen Blumen, das Unternehmertum entscheiden. die können Beispielsweise gehe ich in Schulen, Unis immerhin nicht oder auf Seminare. Die Gründungs­ quote ist zwar schon besser geworden, widersprechen. aber Frauen sollten diesbezüglich noch stärker und selbstbewusster werden.

Kam daher auch die Idee tourenreich Steht Karriere in Ihrem Leben im zu gründen? Vordergrund? Ja, ich wollte wieder etwas Eigenes Rückblickend ja. Das war allerdings machen. Und die Tourismusbranche nie geplant. Durch die harte Zeit in hat mich schon immer interessiert. Da der Volkskammer hat sich das so erge­ mein Mann Ralf Architekt ist, hat es ben. Mein Sohn Marvin ist zu der Zeit sich angeboten, die Architektur und ins Internat gegangen. Wir haben uns Kunst als Nische zu nehmen. Bei einem aber dennoch zweimal die Woche ge­

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sehen und viel telefoniert. Wenn man Der BWA ist der einzige mir bekannte will, kriegt man alles organisiert. Geht Wirtschaftsverband, dem das Thema nicht, gibt`s bei mir nicht. Ethik in der Wirtschaft wichtig ist. Es ist einfach nicht mehr so, dass sich alle Haben Sie Ihr politisches Interesse an das Vereinbarte halten. Sonst gäbe es und Engagement an Ihren Sohn wei- nicht so viele Rechtsanwaltskanzleien. tergeben können? Gemeinsam mit anderen Institutionen Nein, das war aber auch nicht mei­ wird seit einigen Jahren ein Ethikpreis ne Absicht. Marvin hat sich in der für die Wirtschaft vergeben. Nach ei­ IT-Branche angesiedelt. Er ist zwar ner gewissen Zeit brauchte ich aber politisch auch sehr interessiert, aber mal wieder etwas Neues. Und durch meinen Beruf fand er schon von klein tourenreich bin ich momentan ziem­ auf viel zu zeitaufwändig. lich ausgelastet. Ich möchte nicht mehr 14 Stunden am Tag arbeiten müssen. Was machen Sie, wenn Ihnen die Deshalb konzentriere ich mich jetzt Motivation ausgeht? mehr auf mein Unternehmen. Das kommt nur vor, wenn ich krank bin und wirklich absolute Ruhe brau­ Die deutsche che. Ansonsten ist mein Kopf immer Einigung ist ­etwas voller Ideen, die ich am liebsten sofort historisches – umsetzen möchte. Aber ich gönne mir auch Entspannung. Sofern es der und ich war Teil Zeitplan zulässt. Dann gehe ich gerne davon. in den Garten und rede mit meinen Blumen, die können immerhin nicht widersprechen. (lacht) Und ich habe Wollten Sie schon immer in die gelernt, zu meditieren. Aber das kos­ Wirtschaft? tet wirklich viel Zeit. Lieber gucke ich Nein, ich wollte Lehrerin werden. Für sonntagabends den Tatort und bügele Sport und Geschichte. Aber dann hat­ nebenbei. So kann man das angeneh­ te ich einen bösen Sport­unfall und da­ me mit dem nützlichen verbinden. Ich her ging das nicht mehr. Zahlen habe bin ein ziemlich disziplinierter und ich schon immer geliebt. Die kann ich strukturierter Mensch. Wie eben die mir auch super merken. Also habe ich MathematikerInnen oder Natur­ dann meine Ausbildung in der Wirt­ wissenschaftlerInnen. schaft angefangen. Das alles hat mir mal wieder gezeigt, dass das Leben wie Bis Mai 2016 waren Sie Mitglied beim eine Sinus­kurve verläuft. Nach jedem Bundesverband für Wirtschafts­ Rückschlag geht es auch wieder hoch. förderung und Außenwirtschaft. Eine Tür geht zu und zwei gehen auf.

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Sie kommen aus dem dörflichen vielleicht mal langsam runter. Aber Schlagenthin. Sehen Sie nun Magde- jetzt ist das noch lange nicht in Sicht. burg als Ihre Heimat an? Ich will und kann noch. Ja. Am Anfang waren mein Mann und ich noch kritisch, aber dann haben wir uns schnell eingelebt. Noch dazu ist der Begriff Heimat für mich sehr fle­ xibel. Heimat ist für mich da, wo ich wohne. In Magdeburg fühle ich mich sehr wohl! Ich wohne mit meinem Mann in einem architektonisch schö­ nen Haus in Sudenburg. Das nenne ich immer liebevoll ›Mein Dorf in der Vista. schon? Stadt‹. Hier kann ich einen Plausch mit meinem Fleischer, Bäcker und Carmen Niebergall, 1955 Verkäufer führen und wenig später in Schlagenthin geboren, mitten in die Innenstadt fahren. Und studierte Finanzwirtschaft. wenn wir Lust auf eine richtige Groß­ Mit 35 wurde sie Abgeord- stadt haben, fahren wir einfach nach nete der ersten frei gewähl- Berlin. Auf´s Dorf ziehen würde ich ten Volkskammer, danach nicht mehr. Staatssekretärin für ­Frauen- und ­Gleichstellungsfragen Durch tourenreich kennen Sie alle Sachsen-Anhalts. Ecken Magdeburgs. Was ist Ihr Lieb- Von 1994–2002 war sie lingsort? Mitglied des Landtages Die Otto-Richter-Straße in Suden­ und gründete dann die burg, auch bunte Straße genannt. Die Incoming-­Agentur touren- Architektur der Häuser ist wundervoll reich – Architektur- und und viele sind farbenfroh und kreativ Kunstreisen Mitteldeutsch- gestaltet. Sie schießt wie ein Katapult land. Magdeburg findet sie aus Magdeburg heraus. Die Straße ist modern, bunt und krea- auf jeden Fall einen Besuch wert und tiv. Ihr Lieblingsort ist die daher auch bei meinen Touren durch ­Otto-Richter-Straße, die Magdeburg immer ein Muss. aufgrund der ­farbenfrohen Bauten auch ›bunte Straße‹ Können Sie sich vorstellen, bald in genannt wird. den Ruhestand zu gehen? Das kann ich mir im Moment absolut nicht vorstellen. Mit achtzig fahre ich

21 Lutz Trümper »Ich trage Emotionalität nicht jeden Tag vor mir her.«

Er ist seit 15 Jahren Oberbürgermeister von Magdeburg und ein Mann, der zu seinen Überzeugungen steht. Auch wenn er dafür seine 25-jährige Beziehung mit der SPD aufkündigen musste. Dr. Lutz Trümper erzählt Inter.Vista von seiner Studentenzeit, in der viel Pfeffi floss, mit wem er nach einem Schicksalsschlag durchs Leben tanzt und wie sein Spitzname lautet.

Interview und Fotos: Sara Simons und Kim Sichert

Lutz Trümper

Nashville ist eine der vielen Partner- Sie haben Physik und Chemie stu- städte von Magdeburg. Hören Sie diert. Die Naturwissenschaft lebt selbst Country-Musik, wie zum Bei- von strikten und unumstößlichen spiel Johnny Cash? Regeln. Was sind die strikten Regeln Ab und zu. Ich habe vorhin meinen der Politik? Schrank, indem CDs und DVDs ste­ In der Demokratie, in der wir uns jetzt hen, aufgeräumt. Da habe ich ein paar befinden, ist das Ziel, Mehrheiten zu CDs mit Country-Musik gefunden, organisieren. Man weiß, es gibt im­ die die Kollegen aus Nashville mit­ mer Leute, die andere Ideen haben. gebracht haben. Zu DDR-Zeiten war Die hohe Kunst ist, seine Meinung Karat meine Lieblingsband, aber heute so zu präsentieren, dass die anderen höre ich wirklich alles bunt gemischt. meinen, sie hätten es schon immer so gewollt. Stichwort DDR: Waren Sie während der Wende schon politisch aktiv? Sie sind 2015 aus der SPD aus­ Die Wende, das war eine ganz span­ getreten. Wie haben Sie sich gefühlt, nende Zeit. Ich war bei Demonstra­ als Sie Ihr Parteibuch zurückgege- tionen abends in Magdeburg dabei, ben haben? bei den Domveranstaltungen. So bin Um es mit einem Wort zu beschrei­ ich Schritt für Schritt in die Politik ge­ ben: Beschissen. Das war eine Aktion,­ kommen. die sich über zwei oder drei Tage ent­ wickelte, wo die Meinungen inner­ Die hohe Kunst ist, halb der Landespartei so verschieden seine Meinung so waren, dass ich das aus der Situation zu präsentieren, heraus entschied. Ich hätte das unter normalen Bedingungen nicht gemacht. dass die anderen Die Person mit der anderen Meinung meinen, sie hätten war die Spitzenkandidatin im Wahl­ es schon immer so kampf. Das war für die SPD nicht för­ gewollt. derlich. Mir war klar, dass das, was ich gesagt habe, richtig war. Da dachte ich mir: Nein, jetzt ist gut. Hatten Sie damals schon ein Idol, viel- leicht auch ein politisches Vorbild? Wer hat Sie in dieser Zeit unterstützt? Also wenn überhaupt, dann war es Privat waren es Tausende. Wenn je­ Helmut Schmidt, weil er immer eine mand in der Politik etwas macht, das gerade Linie verfolgte und seine Mei­ nicht typisch ist, dann sagen viele, das nung auch gegen Widerstand durch­ hat er gut gemacht. Es waren hunderte gesetzt hat. unterstützende Mails, die ich an diesem

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Tag bekam. Aus ganz Deutschland. Das mit einem fetten bunten Hakenkreuz war mir nicht so angenehm. Ich konn­ darauf. Der Schuldige konnte zum te sie gar nicht alle lesen. Aber das ist Glück von der Polizei ermittelt wer­ das Phänomen: Die Menschen glauben den. Am Ende war es eine traurige Ge­ immer, in der Politik seien alles Ver­ schichte. Es war nämlich kein Rechter. brecher und wenn dann mal einer aus­ Er wollte nur seinem Nachbarn etwas schert, ist das was Gutes. Böses und hat dessen Adresse drauf­ geschrieben. Haben Sie schon einmal Drohbriefe erhalten? Wie ernst muss man derartige Dro- Ja, ich habe viermal hintereinander hungen heute nehmen? Morddrohungen bekommen. Briefe, Wenn Sie sich die Welt jetzt anschauen,

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muss man es wahrscheinlich ern­ster gerufen. Die waren nach einer Vier­ nehmen als noch vor zwei oder drei telstunde vor Ort. Aber die Rechtsra­ Jahren. Durch diverse Attentate und dikalen waren so clever, dass sie mein andere grausame Sachen, die heutzu­ Grundstück nicht betraten, sondern tage passieren, ist die Hemmschwelle nur auf der Straße standen. Ich habe bei vielen Menschen sehr gesunken. natürlich Anzeige erstattet. Nach ei­ nem halben Jahr wurde das Verfahren Gab es Situationen, in denen Sie von der Staatsanwaltschaft allerdings Angst hatten? eingestellt, weil ich zwar genau sagen Angst hatte ich einmal. Das ist aber konnte, was gerufen wurde, aber nicht, jetzt schon sechs oder sieben Jahre wer von den 30 Leuten was gesagt hat. her. Da standen abends vor meinem Wenn man nicht genau feststellen Haus 30 Rechtsradikale in schwarzer kann, wer was gesagt hat, dann kann Montur. Die brüllten rechtsradika­ das Gericht nichts machen. le Sprüche. Da war uns ein bisschen mulmig, wir haben erst einmal das Ihr Vorgänger war Dr. Wilhelm Licht ausgemacht und die Polizei an­ Polte. Wie würden Sie die Unter-

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schiede zwischen Ihnen beschreiben? Geboren wurden Sie in Oschersleben, Doktor Polte war für die Zeit, in der waren aber sicherlich in Ihrer Kind- er Oberbürgermeister war, genau der heit und Jugend schon oft in Magde- Richtige. Er war euphorisch, konnte burg. Was ist Ihre erste Erinnerung die Leute begeistern. Er ist ein paar an die Stadt? Jahre älter als ich, war der SPD schon Der Zahnarzt. beigetreten in einer Zeit, als wir noch nach Westberlin reisen konnten. Und Das ist ja nicht so positiv. er war ein großer Fan der deutschen Ich hatte damals, was mir furchtbar Einheit. Diese Euphorie hat er auch peinlich war, eine Zahnklammer und gelebt. Ich bin dagegen eher ein, wie deshalb musste ich alle vier Wochen meine Frau immer sagt, sachlicher zum Kieferchirurgen hierher fahren. Typ, der mit Zahlen gut umgehen Das ist meine erste Erinnerung an kann und strukturiert an die Dinge Magdeburg. herangeht. Ich trage Emotionalität nicht jeden Tag vor mir her. Ich bin dagegen eher ein, wie meine Wo Sie gerade von ihr reden: Wie ha- ben Sie Ihre Frau kennengelernt? Frau immer sagt, Mit meiner ersten Frau war ich 21 Jah­ sachlicher Typ, re verheiratet, bis sie von heute auf der mit Zahlen morgen plötzlich starb. Das war ein gut umgehen kann rabiates Ereignis in meinem Leben. Meine jetzige Frau hatte eine Annonce und strukturiert aufgegeben, in der sie eine Begleitung an die Dinge für den Tanzstundenball ihrer Tochter herangeht. suchte. Die Eltern tanzen auf diesen Bällen mit ihren Kindern immer den ersten Tanz und da fehlte jemand. Und so hieß es in der Annonce: Suche je­ Wie würden Sie das heutige Image manden, der mit mir auf dem Tanzball von Magdeburg beschreiben? und dann durchs Leben tanzt. Es gibt eine Differenz, zwischen dem, wie die Magdeburger das Image wahr­ Hat Ihre Frau einen Spitznamen für nehmen und wie es überregional Sie? Oder haben Sie überhaupt einen? wahrgenommen wird. Diese wird aber Meine Frau nennt mich zwar nicht so. zunehmend abgebaut. Magdeburg Aber ich habe einen Spitznamen, der ist eine regionale Stadt. Überregional meinen Nachnamen abkürzt: Trümpi. wahrgenommen wird man nur, wenn man etwas ganz Besonderes macht.

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So ein großes Thema gibt es vielleicht Gibt es Ecken, die Ihnen nicht so gut alle drei, vier, fünf Jahre. Zum Beispiel gefallen? 2001 die großen Ausstellungen zu Es gibt Ecken, an denen man noch viel Otto I., dem Großen. Das war bundes­ machen muss, aber auch die haben weit in den Medien. jetzt schon etwas Schönes.

Wie sollte Magdeburg Ihrer Mei- Stichwort Wohnen: In welchem Stadt­ nung nach wahrgenommen werden? teil wohnen Sie? Magdeburg ist eine Stadt im Wandel. Ich wohne in Alt-Olvenstedt. Ich habe Dass in die Stadt auch wieder junge da ein Haus gebaut. Leute kommen, das war vor zehn Jah­ ren noch anders. Haben Sie auch einen Garten? Ja, einen kleinen, bescheidenen, in Mir war klar, dem wir aber kein Gemüse anbauen. dass das, was Wir haben nur einen Kulturgarten. Eine richtige Erholungsoase, mit ei­ ich gesagt habe, nem kleinen Swimmingpool, da kann richtig war. man am Wochenende schön entspan­ nen. Gartenarbeit mache ich wenig. Solange ich gut Geld verdiene, lasse ich die Gartenarbeit von einem Gärt­ Was ist Ihre größere Leidenschaft? ner machen. Also, ab und zu sprenge FCM oder SCM? ich den Rasen schon, aber das Un­ Ich habe eine große Leidenschaft für kraut zupfe ich eher nicht. beide. Da ich selber Handballer bin, fiebere ich etwas mehr beim SCM mit. Wie war Ihre Studienzeit so? Waren Aber die Mehrheit der Fans ist beim Sie ein Partytyp oder strebsam? Fußball und da muss ich als Politiker (lacht) Ich war beides. Ich war fleißig aufpassen. (lacht) und habe auch viel in der Freizeit ge­ macht. Den Studentenclub hatten wir Welche Ecken der Stadt mögen Sie gleich auf dem Gelände, Handball besonders? habe ich auch gespielt. Wir sind im­ Ich mag alles, was an der Elbe ist. Ich mer nach dem Handball in den Club fahre gerne mit dem Rad im Sommer gegangen und morgens erst ins Bett. an der Elbe auf beiden Seiten entlang. So wie das halt als Student ist. (lacht) Ich mag aber auch den Stadtpark und Damals wurde viel Schnaps und Bier den Herrenkrug. Überall, wo man sich getrunken, was heute nicht mehr so im Grünen gut erholen kann. der Fall ist. Heutzutage trinkt man ja eher Wein. Bei uns gab es nur Bier und

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Schnaps. Und Pfeffi natürlich. Der hatte damals seine Hochzeit. Aber das war mal abends im Club. Morgens wa­ ren wir natürlich alle wieder fit und Vista. schon? sind zur Vorlesung gegangen. (lacht) Dr. Lutz Trümper, geboren Waren Sie auch damals schon viel 1955 in Oschersleben. Seit am Hassel oder war der damals noch 1977 lebt er in Magdeburg. nicht so angesagt? Nach seiner Promotion Nein, da war damals noch fast gar 1984 war er bis 1992 als nichts los. Meistens waren wir erst wissenschaftlicher Mit­ in einer Kneipe in Buckau und dann arbeiter am Institut für sind wir weiter zum Hassel gezogen. Biochemie der Medizini­ Damals gab es nur wenige Gaststätten, schen Akademie Magde­ die waren immer schon ausgebucht. burg tätig. 1994 trat er der Wenn man da nicht vorher bestellt SPD bei und zog für diese hat, ist man nicht reingekommen. auch in den Stadtrat ein. 2000 war er kurzzeitig Hatten Sie damals eine Lieblings­ Präsident des 1. FCM bis kneipe? er 2001 zum Oberbürger- Da gab es ein Weinlokal, damals hieß meister der Landeshaupt- das Grün-Rot, ich glaube, das ist das stadt Magdeburg gewählt heutige m2. Da sind wir ganz gerne wurde. Im Oktober 2015 mal versackt. trat er wegen Differenzen mit der SPD-Landesvor- Sie waren immer sehr aktiv und viel sitzenden Katrin Budde unterwegs. Gibt es etwas, was Sie un- bezüglich der Flüchtlings­ bedingt noch sehen wollen? krise aus der Partei Da gibt es eine Menge. Es gibt viele aus. Sein Lieblingsort in Länder, die ich noch gerne sehen will, Magdeburg­ ist das Elb­ wenn ich mal Zeit habe. Ich würde ufer unterhalb des Doms. gerne mit einem Wohnmobil durch Magdeburg ist für ihn ein Kanada reisen. Ort mit großer Historie. Er beschreibt seine Stadt als weltoffen und »manchmal nicht euphorisch, aber be- geistert«.

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»Ich kam aus den USA mit dem Vorsatz wieder, irgendetwas tun zu müssen.«

Wo andere nur von Verbesserung reden, lässt er Worten Taten folgen. Pascal Begrich leitet seit 2009 Miteinander e.V., das Netzwerk für Demokratie und Weltoffenheit in SachsenAnhalt. Im Interview mit Inter.Vista erzählt er von dem Schlüsselerlebnis, das ihn dazu bewegte sich sozial zu engagieren, wie nah ihm seine Arbeit geht und wie er es schafft, abzuschalten.

Interview und Fotos: Marie Wintgen

Pascal Begrich

Ist Magdeburg weltoffen? Sind Sie gebürtiger Magdeburger? Einerseits: Ja, Magdeburg ist eine weltof­ Nein, ich bin gebürtig aus Erfurt. Ich fene Stadt. Es gibt viele engagierte Men­ habe lange Zeit in Genthin gelebt, aber schen, die sich für Demokratie und seit mehr als der Hälfte meines Lebens Weltoffenheit einsetzen. Und anderer­ ist Magdeburg meine Heimat. seits: Nein, Magdeburg ist keine weltof­ fene Stadt, weil es noch viele gibt, die sich Wie kamen Sie nach Magdeburg? eine rein deutsche Stadt wünschen. Es Ich kam 1990 mit meinen Eltern her, gibt Rassismus, es gibt Mobilisierungen da war ich 16 Jahre alt. Sie haben hier gegen Flüchtlinge und insofern bleibt beruflich neu angefangen und ich die Weltoffenheit eine Herausforderung. habe dann Geschichte, Anglistik und Aber eine, die man angehen kann. Germanistik studiert. Nach meinem Studium konnte ich mich hier beruf­ Was bedeutet Weltoffenheit genau? lich sehr gut entwickeln. Weltoffenheit bedeutet für mich Viel­ fältigkeit. Eine Vielfalt an Menschen Manchmal ist und Lebenseinstellungen. Und es be­ deutet ein gesellschaftliches Klima, in Ferne hilfreich, dem man hier angstfrei leben kann, um zu erkennen, egal mit welcher Hautfarbe, Religion, was in der Nähe sexueller Einstellung oder welcher Le­ wichtig ist. bensgestaltung auch immer.

Was müsste Magdeburg in Sachen Was gefällt Ihnen an der Stadt? Weltoffenheit und Demokratie noch Mir gefallen die Lage an der Elbe und verbessern? die vielfältige Geschichte mit all ihren Magdeburg ist ja kein homogener Brüchen, Problemen und Herausfor­ Block, dem man raten könnte dies oder derungen. Magdeburg ist oft erst auf das zu tun. In den Jahren seit der Wende den zweiten Blick eine schöne Stadt. hat sich hier vieles verändert, die Stadt Das finde ich spannender als andere ist weltoffener als in den Neunzigern. Orte, die diese Brüche nicht aufweisen. Wichtig ist und bleibt das Bekenntnis zur Weltoffenheit durch die Bevölke­ Und was gefällt Ihnen nicht? rung, das ist immer ausbaufähig. Des An der Stadt fehlt mir ein bisschen die Weiteren bleibt auch die Auseinander­ großstädtische Atmosphäre. Das mag setzung mit denjenigen, die ihre Ängste jetzt widersprüchlich sein, weil Mag­ und Vorurteile in Hass gegenüber be­ deburg ja eine Großstadt ist. Aber ich stimmten Menschengruppen umschla­ habe immer das Gefühl, dass man das gen lassen, von höchster Priorität. studentische und kulturelle Leben hier

32 Pascal Begrich stärker ausbauen könnte. Das hat auch wünsche ich mir aber deutlichere viel mit fehlenden Plätzen zu tun, wo Worte der Stadtoffiziellen nach Vor­ sich dieses großstädtische Leben kon­ fällen rechter Gewalt. Es ist gut, wenn zentrieren könnte. Außerdem kommt sich der Oberbürgermeister dazu äu­ mir die Auseinandersetzung mit den ßert und klarstellt, dass hier kein Platz schwierigen Epochen der Stadtge­ für so etwas ist. Das passiert aber lei­ schichte, bei der Fokussierung auf der nicht immer, oder seltener als wir Otto den Großen, Otto von Guericke es uns wünschen. und all den anderen Ottos zu kurz (lacht). Was wünschen Sie sich generell für die Zukunft Magdeburgs? Was denken Sie über die derzeitige Ich wünsche mir eine Stadtplanung, politische Situation in Magdeburg? die kulturelle und menschliche Aspek­ Es gibt leider eine große Minderheit te stärker berücksichtigt und weniger an Menschen, die ein Problem mit die wirtschaftlichen Interessen in den Vielfalt hat, sich nicht damit arrangie­ Mittelpunkt stellt. Eine weitere Aus­ ren will oder kann und das auch offen differenzierung und Förderung der auf der Straße zeigt. Das drückt sich in kulturellen Landschaft in Magdeburg, Demonstrationen, Diskriminierung, gerade mit dem Blick auf die Ambi­ Ge­walt, aber auch im Wahlverhalten tionen, Kulturhauptstadt zu werden. aus, zum Beispiel im Aufstieg einer Ich wünsche mir viele Initiativen, die Partei wie der AfD, die ein explizit auch alternative Geschichten zum nicht weltoffenes Modell der Gesell­ Mainstream erzählen. Es gibt immer schaft verfolgt. Das ist natürlich eine die eine große Kultur, die sehr wich­ große Herausforderung und betrifft tig ist, aber genauso bedeutend ist die nicht nur Magdeburg sondern ganz Off-Kultur. Sachsen-Anhalt. Was war früher Ihr Traumberuf? Sie haben gerade schon angespro- Als ich Schüler war, hat sich das natür­ chen, dass die negativen Dinge im- lich sehr oft verändert. Ich wollte sogar mer ein bisschen unter den Tisch mal Apotheker werden, aber eigentlich fallen. Denken Sie, dass Rechtsext- möchte ich schon seit vielen Jahren als remismus und Rassismus hier genug Historiker arbeiten. Da habe ich mit Aufmerksamkeit zuteilwird? meinem Beruf als Geschäftsführer von Wie soll man feststellen, wie viele Miteinander e.V. zwar nicht so ganz Maßnahmen und Aktivitäten genug das Ziel erreicht, aber meine Arbeit sind? Es wird eine Menge getan, die hier hat viel mit Erinnerungskultur Stadt engagiert sich sehr, sowohl fi­ und der Geschichte der Stadt zu tun. nanziell, als auch personell. Manchmal Insofern bin ich damit ganz zufrieden.

33 Pascal Begrich

Ich bin 1992 nach der elften Klasse ein Jahr in den USA gewesen. Das war die Zeit der vielen Brandanschläge hier in Magdeburg und das Jahr des Mordes an Torsten Lamprecht, dem ersten To­ desopfer rechter Gewalt in der Stadt. Es gab rassistische Diskurse und viele Menschen in der Stadt, die das nicht als Problem sehen wollten. Aus der Ferne kriegt man das auf einmal ganz anders mit, sieht alles mit ande­ ren Augen. Man wird auch gefragt: Was ist da los in Deutschland, was ist euer Problem? Da kommt man in Erklärungsnot. Ich kam aus den USA mit dem Vorsatz wieder, irgendetwas tun zu müssen. Ich habe mich dann in Jugendinitiativen und im Studium Wie kamen Sie zu Miteinander e.V.? engagiert. Das Thema spielte dann Über mein Studium. Meine Magister­ insofern im Studium auch eine Rolle, arbeit habe ich über das Außenlager weil ich mich auf die Geschichte des von Buchenwald bei den Poltewerken Nationalsozialismus und der DDR fo­ hier in Magdeburg geschrieben und kussierte. Also speziell auf Zeiten, in darüber auch referiert. Dort fragte denen Demokratie eine Herausforde­ man mich, ob ich nicht bei Mitein- rung für die Gesellschaft darstellte. ander e.V. auf Honorarbasis tätig sein möchte. Ich bekam eine Vertretungs­ Haben Sie in Ihrer Arbeit schon ein- stelle als Kollegen in Elternzeit gingen. mal resigniert? Seit 2009 bin ich Geschäftsführer. Ich Es gibt immer mal wieder diese Mo­ bin hier geblieben, weil mir die Arbeit mente, in denen man sich fragt: Kom­ sehr gefällt und ich hier viel selbst ge­ me ich tatsächlich voran? Miteinander stalten kann und weil ich an der Stadt e.V. wurde 1999 gegründet, in Reak­ hänge. tion auf den Einzug der DVU in den Landtag von Sachsen-Anhalt mit 13 Gab es einen bestimmten Punkt, an Prozent. Das war damals das höchs­ dem Sie sich entschlossen haben, te Wahlergebnis das jemals von einer sich sozial zu engagieren? rechtsextremen Partei erreicht wur­ Manchmal ist Ferne hilfreich, um zu de. 17 Jahre später ist die AfD in den erkennen, was in der Nähe wichtig ist. Landtag gewählt worden, sogar mit

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fast 25 Prozent. Insofern fragt man wird. Insofern wäre das Größte, was sich dann manchmal schon: Was ist in wir erreichen könnten, dass Rassismus 17 Jahren an Arbeit geleistet worden? und Gewalt so marginalisiert sind, Was ist davon nachhaltig? Wie kann dass sich Menschen dazu in der Lage man so etwas verhindern? Die Ant­ sehen, allein damit fertig zu werden. wort ist leicht: Das kann man nicht. Sicherlich ein utopisches Ziel, aber Es wird immer diese Probleme geben. wenn wir es schaffen, dauerhaft Netz­ Man darf nur nicht aufhören, dagegen werke in der Stadt zu verankern, dann anzugehen. haben wir viel erreicht.

Was war Ihrer Meinung nach das Magdeburg ist Wichtigste, das Miteinander e.V. bis- oft erst auf her erreicht hat? In Zusammenarbeit mit dem Bündnis den zweiten »Gegen Rechts« haben wir einen neu­ Blick eine en Umgang mit rechtsextremen Ereig­ schöne Stadt. nislagen erreichen können. Ich mache das an den Aufmärschen fest, die Na­ zis lange Zeit im Januar hier durchge­ Wie nahe geht Ihnen Ihr Job? führt haben. Es war sehr schwierig, die Man entwickelt eine professionelle Di­ Stadt und ihre Bevölkerung davon zu stanz. Aber jedes Mal, wenn wir von überzeugen, dass dies ein Thema ist, neuen Angriffen auf Menschen erfah­ mit dem man einen Umgang finden ren, geht mir das sehr nahe. Auch aus muss. Wie gehen wir damit um, wenn persönlicher Erfahrung. In den Neun­ 1.000 Neonazis durch die Stadt laufen zigern habe ich selbst Gewalt erlebt, und Menschen Angst haben müssen? gegen mich und gegen Freunde. Inso­ Heute gehen in jedem Januar viele De­ fern weiß ich sehr genau, was das heißt monstranten auf die Straße und sagen: und was das mit einem machen kann. »Wir stehen nicht für diese Art von Ge­ Was mir vor allem in letzter Zeit sehr schichtsbetrachtung. Wir stehen nicht nahe geht, ist die Verrohung der Spra­ für den Aufmarsch von Neonazis.« che im Internet. Es ist unglaublich, wie bereitwillig Menschen drohen, belei­ Was möchten Sie unbedingt noch er- digen und keine Hemmungen haben, reichen? die wüstesten Fantasien von sich zu Unser ehemaliger Vereinsvorsitzender geben. Hans-Jochen Tschiche hat immer ge­ sagt, unser Ziel müsse es sein Mitein- Was ist damals passiert? ander e.V. abzuschaffen, so dass unser Ich habe mich in Jugendinitiativen ge­ Tätigkeitsfeld nicht mehr gebraucht gen Rechtsextremismus engagiert und

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bin auf vielen Demonstrationen und men, mit denen ich mich beschäftige. Kundgebungen gewesen. Scheinbar Wobei ich mich schon fragen muss, habe ich in das Feindbild der Neona­ ob die Geschichte des Nationalsozi­ zis gepasst. Damals hat nicht sehr viel alismus das ideale Mittel ist, um von dazu gehört, Opfer rechter Gewalt zu Vorfällen rechter Gewalt abzuschal­ werden. Man musste nur zur falschen ten. (lacht) Ich habe meine Familie, ich Zeit am falschen Ort sein, im falschen bin verheiratet und habe zwei kleine Stadtteil, oder auf die falschen Leute Kinder die mich auf Trab halten und treffen, um Probleme zu bekommen. durch sie habe ich auch keine Zeit um Das ist glücklicherweise nicht mehr so depressiv zu sein. schlimm, jedenfalls nicht für jeden. Anders ist das natürlich für Geflüch­ Wie alt sind Ihre Kinder? tete heutzutage. Die sind jetzt fast ein Jahr alt. Ich habe Zwillinge, zwei Jungs. Wir waren vor Was tun Sie denn, um von Ihrer Ar- Kurzem eine Woche an der Ostsee. beit abzuschalten? Das war der erste Versuch, mit den Manchmal gelingt es. Ich habe meine zwei kleinen Kindern in den Urlaub Bücher und meine historischen The­ zu fahren und es hat überraschend gut

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geklappt. Da konnte ich dann auch ab­ schalten.

Wo würden Sie gern noch hinreisen? Am liebsten nach Alaska, weil ich dort mein Austauschjahr verbracht habe. Dass es Alaska geworden ist, war ein Zufall. Ich wollte in die USA und habe über eine Austauschorga­ nisation dort eine Familie gefunden. Wann hat man schon mal die Chance, zehn Monate in Alaska zu leben? Es war sehr schön und da würde ich gern wieder mal hin, auch mit den Kindern zusammen. Es war dort ganz anders als das großstädtische Leben, aber es ist gut, um mal eine andere Sicht auf Vista. schon? die Dinge zu bekommen. Pascal Begrich, Jahrgang Was möchten Sie beruflich und pri- 1974, wurde in Erfurt vat noch erreichen? geboren und kam 1990 Beruflich würde ich mich gerne wie­ nachMagdeburg. Er stu- der stärker mit Fragen der Erinne­ dierte hier Geschichte, rungskultur und der Stadtgeschichte Anglistik, Germanistik und beschäftigen und auch mehr Freiraum ist ­heute Historiker. Seit haben, um das intensiver tun zu kön­ 2009 ­leitet er den Verein nen. Also in Archive gehen, Menschen Miteinander e.V., der sich befragen und über Dinge nach­denken. für Weltoffenheit und Lange Zeit habe ich auch über eine Demokratie in Sachsen-­ Promotion nachgedacht, aber das Anhalt einsetzt. Am lieb­ lässt mein Job gerade leider nicht zu. sten verbringt er seine In privater Hinsicht sind wir gerade Zeit mit seinen Kindern in am Überlegen, was man so als neue Stadtfeld an der Schrote. ­Familie noch an Träumen hat, die es Magdeburg beschreibt zu erfüllen gilt. er als eine Stadt mit sprö- dem Charme, vernarbter Landschaft und Glück.

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»Als Kabarettist kannst du das Telefonbuch auch so vorlesen, dass es hinterher verboten wird.«

Wenn es um politisch-satirisches Kabarett geht, ist die Magdeburger Zwickmühle seit 20 Jahren eine der Top- Adressen in Magdeburg. Fast jeden Abend steht Hans- Günther Pölitz mit seiner Spielpartnerin Marion Bach dort auf der Bühne. Über 40 Jahre ist der Gründer des ersten privaten Kabaretts Magdeburgs nun schon im Geschäft. Mit Inter.Vista spricht er über seine Kabaretterfahrungen in der DDR, seine erste Begegnung mit Magdeburg und erzählt, warum der MDR seine Kolumne zum »Fall Böhmermann« nicht sendete.

Interview und Fotos: Tobias Barthel

Hans-Günther Pölitz

Herr Pölitz, die Zwickmühle­ feierte Wie hat sich das Kabarett seit Ihrer in diesem Jahr 20-jähriges Jubilä- Anfangszeit verändert? um. Geraten Sie persönlich auch des Kabarett verändert sich immer. Es Öfteren in die Zwickmühle? muss in der Zeit betrachtet werden, in Wenn wir keine Erfahrung mit diesem der es gemacht wird. In der DDR war Begriff gemacht hätten, hätten wir ihn eine ganz andere Art des Kabaretts sicherlich nicht gewählt. Jeder­ gerät an der Tagesordnung. Man wusste in seinem Leben mal in eine Zwick­ nicht wirklich viel über Politiker und mühle, also in eine schier ausweglose ihre Namen kamen beispielsweise gar Situation. Außerdem haben wir be­ nicht direkt vor. Vielmehr hat man reits das Studentenkabarett in Zwickau sich einiger Hilfskonstruktionen be­ Zwickmühle genannt. Daher entschie­ dient. So erwähnte man zum Beispiel den wir uns bewusst für diesen Namen den Namen ›Erich‹, indem man in ei­ und ich habe meine ­Wurzeln sozusa­ nem Satz die Worte ›Er‹ und ›ich‹ auf­ gen mit nach Magdeburg genommen. einanderfolgen ließ. Da das damalige Publikum ein sehr sensibles Hör- und 1972 begannen Sie mit dem Studen- Seh­verhalten hatte, konnte es mit die­ tenkabarett an der Pädagogischen sen Anspielungen viel anfangen. So Hochschule Zwickau. Wann kam bei konnten wir an der Zensur, die damals Ihnen das Interesse für politische natürlich nicht so genannt wurde, vor­ Themen auf? beiagieren. Zumindest hier in Magde­ Zu der Frage, wie ich überhaupt zum burg machten wir den Funktionären Kabarett gekommen bin, muss ich sa­ deutlich, dass es keinen Sinn macht, gen: durch Faulheit. Ein Begriff, der ja ein Textbuch zu beurteilen, ohne das bei Studenten nicht ganz unbekannt gesprochene Wort auf der Bühne zu ist. (lacht) Damals war es im ersten erleben. Als Kabarettist kannst du Studien­jahr Pflicht, ein Testat in einem auch das Telefonbuch so vorlesen, dass kulturell-künstlerischen Fach abzu­ es hinterher verboten wird. legen. Irgendwo, ziemlich weit unten auf der Anmeldeliste, stand auch Kaba­ Gab es einen Fall, bei dem die Politik rett. Ich dachte mir, dass man da in dem durch Einschränkungen eingriff? einen Jahr schon nicht so viel machen Ein Jahr vor der Wende planten wir, müsste. Da schnappte die Falle zu. Es gemeinsam mit der Herkuleskeule in hat mich mehr und mehr in Beschlag Dresden ein Programm mit dem Titel genommen, weil das Kabarett die »Der Fortschritt ist hinter uns her« he­ Möglichkeit bot, Denkanstöße für ge­ rauszubringen. Premierentermin war sellschaftliche Probleme zu geben. Das im November 1988. Das Programm war ja in der DDR nicht unbedingt all­ durfte jedoch, außer bei einer öffent­ gegenwärtig. lichen Generalprobe, nicht aufgeführt

40 Hans-Günther Pölitz werden. In einer Phase, in der die Zeit­ im Krieg nicht wieder originalgetreu schrift Sputnik aus dem Postzeitungs­ aufgebaut wurde. Stattdessen versuch­ vertrieb der DDR entfernt wurde, da te man, eine ›sozialistische Großstadt‹ sie nach Meinung der politischen zu schaffen. Das äußerte sich zum Bei­ Führung zu sehr von Gorbatschows­ spiel in großen Magistralen, die paral­ Glasnost und Perestroika geprägt war, lel durch die Stadt verliefen. Dadurch hatte sich absolute Eiszeit eingestellt. konnte kein urbanes Stadtzentrum Mit den SED-Funktionären war zu entstehen. Was hier nach der Wende diesem Zeitpunkt keine Diskussion an Einkaufszentren errichtet wur­ mehr möglich, während es in früheren de, zählt mit Sicherheit nicht zu den Gesprächen durchaus ab und zu noch Highlights der deutschen Baukunst. gelungen war, unsere Meinung durch­ Offensichtlich kennen die Architekten zusetzen. nur den rechten Winkel und dazuge­ hörige Glasverblendungen. Auch bei Im Jahr 1984 kamen Sie als künst- den zukünftigen Projekten kann be­ lerischer Leiter des Kabaretts Zange zweifelt werden, ob das wirklich das nach Magdeburg. Was war Ihr erster Optimale für Magdeburg ist. Aber da Eindruck von der Stadt? heutzutage alles eine Frage des Geldes Bereits Ende der siebziger Jahre hat­ ist, kann man sich hinter dem Argu­ ten wir mit dem Hochschulkabarett ment, dass alles andere zu teuer wäre, mehrere Gastspiele an der Pädago­ verschanzen. gischen Hochschule in Magdeburg. Meine erste Begegnung mit der Stadt Mit so einer war deprimierend. Wir ­kamen hier Haltung werden an einem kalten, verregneten Novem­ ber­tag an. Hier willst du nicht be­ wir keine Kultur- graben sein, dachte ich mir. Das hauptstadt ändert sich aber, wenn man erst ein­ werden. mal länger hier lebt und auch die Magdeburger kennenlernt. Die Men­ schen waren anfangs skeptisch, aber 1996 gründeten Sie die Zwickmühle jetzt verspüren wir eine derartige als das erste private ­Kabarett Magde- Treue und Herzlichkeit, die ihres­ burgs. Was bewog Sie dazu? gleichen sucht. Mitte der Neunziger war ich als Kaba­ rettist und Autor bei der Münchner Wie beurteilen Sie die Entwicklung Lach- und Schießgesellschaft tätig. In der Stadt? der Presse erschien damals ein Ran­ Magdeburg leidet an der schlimmen king, das deutsche Städte unter an­ Tatsache, dass es nach der Zerstörung derem nach ihren kulturellen Mög­

41 Hans-Günther Pölitz

lichkeiten auflistete. Magdeburg war Magdeburg bietet mittlerweile ein ziemlich weit hinten. Da ich die Idee breit gefächertes Kulturangebot. Hat hatte, etwas Eigenes zu machen, bot die Stadt das Zeug zur Kulturhaupt- sich dafür Magdeburg an. Ich war ja stadt 2025? schon vor meiner Zeit in München Da sehe ich noch großen Entwick­ vom Publikum gebeten worden, hier lungsbedarf. Als Ganzes betrachtet, in der Stadt zu bleiben und hatte ver­ sind wir vielleicht im ersten Drittel des sprochen, dass man zu gegebener Zeit ersten Drittels angekommen. wieder etwas von mir hört. Das Ver­ sprechen habe ich damit eingelöst. Wo sehen Sie noch Verbesserungs­ potenzial? Jan Böhmermann Auf allen Gebieten. Kultur ist ja mehr hat aus meiner als nur Kunst. Das geht schon bei der Kultur des Umgangs mit den Kul­ Sicht der ­Satire tureinrichtungen untereinander los. eher ­geschadet Von München, Dresden und anderen als sie zu Städten kenne ich es, dass in der Stadt ein gemeinsamer Spielplan hängt. ­revolutionieren. Alle Einrichtungen gehören da zum

42 Hans-Günther Pölitz kulturellen Aushängeschild der Stadt rede ich in der Kolumne mit der Ehe­ und werden beworben. Hier werden frau. eklatante Unterscheidungen zwischen privaten und kommunalen Einrich­ Sie sprechen dabei auch kontroverse tungen gemacht. Mit so einer Haltung Themen an. So beispielsweise Böh- werden wir keine Kulturhauptstadt mermanns Schmähkritik am tür- werden. kischen Präsidenten Erdoğan. Ihre Kolumne dazu wurde vom MDR Beim MDR läuft Ihre wöchentliche nicht gesendet. Wie lautete die Be- Radio-Kolumne Pölitz-Frühstück, in gründung des Senders? der Sie samstags die aktuellen The- Ich durfte die Kolumne gar nicht erst men der Woche satirisch aufberei- einsprechen. Die Begründung des ten. Wie ist die Idee entstanden? MDR war, dass es eine Familiensen­ Ein MDR-Redakteur trat 1997 mit der dung wäre, in der solche Begriffe nicht Idee an mich heran. Mittlerweile sind angebracht wären. Außerdem wol­ wir damit im 19. Jahr. le sich der MDR mit diesem Thema nicht bundesweit profilieren. Dabei An welchem Wochentag schreiben habe ich die originalen Formulierun­ Sie Ihre Texte für die Kolumne? gen aus Böhmermanns Gedicht nur In der Regel am Freitag. Nach dem verwendet, um diese in einen wirk­ Frühstück setze ich mich hin und re­ lich politischen Kontext zu stellen. kapituliere, was ich ab Montag in der Zeitung gelesen habe. Ich mache mir Wie stehen Sie zum »Fall Böhmer- nicht akribisch Notizen. Ich denke, mann«? was bei mir von der Woche im Ge­ Satire sollte nicht in Beleidigung aus­ dächtnis hängen blieb, das wird auch ufern. Egal ob Staatsoberhaupt oder beim Hörer hängen geblieben sein. Sa­ ganz normaler Bürger, man kann nicht tire kann man nur über etwas machen, ohne Anhaltspunkt Unterstellungen was bekannt ist. machen. Man muss den politischen Aspekt in den Mittelpunkt zu stel­ Dabei führen Sie immer ein schein- len. So wie es eine Woche vorher bei bares Gespräch mit ›Muttilein‹. Wen ­extra 3 gemacht wurde. Jan Böhmer­ meinen Sie damit? mann hat aus meiner Sicht der Satire Mit ›Muttilein‹ ist nicht die Mutter ge­ eher geschadet als sie zu ›revolutionie­ meint. Das könnte man ja vermuten. ren‹, weil dadurch ein vorauseilender Im sächsischen Sprachraum, aus dem Gehorsam entstanden ist. Es wird nun ich ja komme, ist es durchaus üblich, schon wieder vorher hinterfragt, ob dass sich Eheleute untereinander mit man Dinge darf oder nicht. ›Mutti‹ und ›Vati‹ ansprechen. Also

43 Hans-Günther Pölitz

Was darf Satire? politisch-satirischen Kabarett Spaß Da halte ich es mit Kurt Tucholsky: haben zu können, sollte man vorher Satire darf alles – füge aber noch hin­ auch mal die Zeitung gelesen oder zu – wenn sie gut gemacht ist. Nur Nachrichten geschaut haben. Wenn irgendetwas in die Welt zu posaunen man die politischen Abläufe nicht oder jemanden zu beleidigen, ist noch verfolgt und bestimmte Namen nicht keine Satire. kennt, kann ich im Kabarett auch nicht darüber lachen. Viele Jugend­ Die Magdeburger Zwickmühle bietet liche verschreiben sich deshalb doch jeden Mittwoch vergünstigten Ein- eher der Comedy, weil man da weni­ tritt für Schüler und Studenten an. ger Vorwissen benötigt. Aber es gibt Stößt dieses Angebot auf große Re- in Magdeburg einige sehr engagierte sonanz? Lehrer, die mit ihren oberen Klassen Sie könnte größer sein. Die Zuschau­ zu uns kommen und anschließend be­ er beim politischen Kabarett sind eher richten, dass die anfängliche Skepsis mittleren Alters und aufwärts. Um am der Jugendlichen in Interesse und der Frage nach einem nächsten Besuch umgeschlagen ist.

Bietet Satire die Chance, auch junge Menschen für politische Themen zu begeistern? Auf jeden Fall. Voraussetzung ist aber, wie gesagt, ein bisschen Interesse an der Politik und am gesellschaftlichen Leben zu haben. Um das oben Gesag­ te zu ergänzen: Es ist schön zu sehen, wenn die Schüler in der Pause, mit ih­ rer Freundin telefonierend, durch das Foyer laufen und dabei Sätze fallen wie: »Eh, das is cool hier, da musste mal mitkommen.«

Wie beurteilen Sie die aktuelle poli- tische Situation in Sachsen-Anhalt? Sehr kompliziert und besorgniser­ regend. Das gilt nicht nur für Sach­ sen-Anhalt. Es geht wieder um exis­ tenzielle Probleme, teilweise sogar

44 Hans-Günther Pölitz um Krieg. Ich hätte nie gedacht, dass 1990 bekam ich gemeinsam mit Mi­ ich mich in meinem Leben noch mal chael Rümmler den Salzburger Stier ernsthaft mit diesem Thema ausein­ (Kleinkunstpreis der deutschspra­ andersetzen muss. Wenn jetzt schon chigen Rundfunkanstalten; Anm. die ersten Politiker Worte wie ›Dritter d. Red.) verliehen. Das war die ers­ Weltkrieg‹ nutzen, tanzen wir ganz te und wohl auch internationalste nah am Kraterrand des Vulkans. Auszeichnung, neben dem schwei­ zerischen Kabarettpreis Cornichon Wir kamen hier oder dem Leipziger Löwenzahn. Jeder an einem kalten, verliehene Preis zeugt davon, dass andere unsere Arbeit schätzen. Das verregneten ist natürlich für uns auch Verpflich­ Novembertag an. tung, an unserem Motto festzuhal­ Hier willst du ten: Wo Magdeburger Zwickmühle nicht drauf steht, ist auch politisch-satiri­ sches Kabarett drin. begraben sein, dachte ich mir. Seit Anfang Juli ist die Magdebur- ger Zwickmühle in der jährlichen zweimonatigen Spielpause. Wie ver­ Was sagen Sie zum Thema AfD? bringen Sie die freie Zeit? Die AfD schaffte es bis jetzt nicht, Frei habe ich nur ›von der Bühne‹, auch nur eine einzige politische Sache aber nicht vom Schreibtisch. Da sitze ins Rollen zu bringen. So eine Partei, ich und arbeite am neuen Programm die nachweislich Verbindungen zu mit dem Titel »Kommt Zeit, kommt rechtsradikalen Kräften hat, soll die Tat«, das am 14. August in die Pro­ politische Situation als zweitstärkste ben gehen soll. Mein Urlaub findet Partei im Landtag mitbestimmen? Sie also im Dachgeschoss vor meinem nur zu verteufeln, macht aber keinen Computer statt. (lacht) Sinn. Wir müssen uns mit ihnen aus­ einandersetzen und dem Zuschauer Das hört sich an, als würden Sie nie klar machen, was er da eigentlich ge­ ganz abschalten können. wählt hat. Und das versuchen wir mit Ganz abschalten kann man in die­ unseren Programmen auf der Bühne. sem Beruf sowieso nicht. Da benei­ de ich jeden Tischler oder Schlosser, Ihr Schaffen wurde mit mehreren der zu einem festen Zeitpunkt mit Preisen ausgezeichnet. Gibt es eine der Arbeit aufhören kann. Auszeichnung, die Ihnen beson- ders viel bedeutet?

45 Hans-Günther Pölitz

Gab es Momente, in denen Sie es tieren, dass der Zuschauer glaubt, er bereuten, Kabarettist geworden zu hätte noch nie etwas zu diesem Thema sein? gehört. Vor jeder Premiere. (lacht) Nein, ich darf nicht vergessen, dass ich einen Wo sehen Sie die Magdeburger privilegierten Beruf habe, in dem Zwickmühle in 5 Jahren? ­Hobby und Beruf zusammenfallen. Es In meinem Alter sollte man nicht gibt so viele Menschen, die ihr Leben mehr in zu großen Abständen denken. lang einer ungeliebten Tätigkeit nach­ Ich hoffe, dass sich die Zwickmühle gehen müssen, um ihr täglich Brot zu dann ›noch am Markt befindet‹, wie verdienen. Von daher kann ich mich man heute sagt. Eine zentrale Aufgabe nicht beklagen, auch wenn ich wenig für die Zukunft ist es, jemanden zu Freizeit habe. finden, der die Zwickmühle auch nach meiner Zeit weiterführen möchte. Viele Jugend­­ liche ver­schrei­ ben sich doch eher der Comedy, weil man da weni- ger ­Vorwissen benötigt.

Am 13. September feiert Ihr neues Programm »Kommt Zeit, kommt Tat« Premiere. Können Sie einen kleinen Ausblick geben? Nein, die Tat kommt erst, wenn die Zeit ran ist. Im Grunde genommen bleiben die politischen Themen und Probleme ja stabil, so dass die jetzigen Programme eigentlich nichts an Aktu­ alität verloren haben. Jedoch ist nach einer Spielzeit nahezu das komplette Zuschauerpotenzial abgespielt. ­Unsere Aufgabe ist es, die Erkenntnisse neu zu reflektieren und sie so zu interpre­

46 YOU CAN‘T BE SAD WHEN YOU‘RE HOLDING A CUPCAKE

MADEMOISELLE CUPAKE IMMERMANNSTR. 23 39108 MAGDEBURG

Vista. schon?

Hans-Günther Pölitz, Jahrgang 1952, wurde im sächsischen Waldheim geboren. Nach Stationen in Zwickau und Dresden kam er 1984 nach Magdeburg und war im Kabarett Zange und bei den Kugelblitzen als Autor, Kabarettist, künstlerischer Leiter und Direktor tätig. 1994 und 1995 war er Mitglied der Münchner Lach- und Schießgesellschaft, bevor er 1996 das Ka- barett Magdeburger Zwickmühle gründete, das er selbst als seinen Lieblingsort in der Stadt auserkoren hat. Er ist verheira- tet und hat eine Tochter. Magdeburg in drei Worten, das heißt bei ihm: quadratisch, praktisch, gut.

47 Bettina Wiengarn

»Es ist immer ein Kampf ums Überleben.«

Wer einmal selbst einen Film machen will, der ist im Offenen Kanal Magdeburg genau richtig. Unter der Leitung von Bettina Wiengarn hat hier jeder die Chance, vor oder hinter der Kamera zu stehen und kann so das Programm mitgestalten. Mit Inter.Vista sprach sie über ihre ersten Eindrücke von Magdeburg, ihre Rolle als Chefin und die Zukunft des Offenen Kanals.

Interview und Fotos: Imke Boedeker

Bettina Wiengarn

Was ist das Besondere an einem tionsanfragen. Eigentlich bin ich das Offenen Kanal? Mädchen für alles. (lacht) Ein Offener Kanal ist ein Fernseh­ sender, bei dem das Programm nicht Du hast in Berlin und Toulouse von Festangestellten und Journalisten Philosophie und Romanistik stu- gemacht wird, sondern von den Bürge­ diert. Was hast Du danach gemacht? rinnen und Bürgern. Wir unterstützen Ich machte längere Zeit Übersetzun­ sie nur bei der Produktion von Sen­ gen für Belletristik und Sachbücher. dungen und zeigen, wie die Kameras Dann unterrichtete ich in Berlin funktionieren. Außerdem sind wir Me­ Deutsch für Ausländer und kam nach dienprojektzentren. Das heißt, wir sind der Wende in den Osten. In Zerbst gab Kooperationspartner bei Projekten di­ ich dann Orientierungskurse für Ar­ verser gesellschaftlicher Gruppen, die beitslose, da das nach der Wende ein den Weg ins Fernsehen sonst nicht so großes Problem war. leicht finden. Und wo hattest Du Deinen ersten Welche gesellschaftlichen Gruppen Kontakt mit Film und Fernsehen? meinst Du? Das war auch zu der Zeit in Zerbst. Zum Beispiel jetzt ganz aktuell Flücht­ Der Bildungsträger, für den ich die linge. Aber auch Senioren oder Jugend­ Kurse gab, hatte Kameras und Schnitt­ liche. Am Ende steht dann immer ein plätze und wir machten dann biografi­ Film. Bei diesen Projekten arbeiten Me­ sche Videoarbeit. dienpädagoginnen und Medienpädago­ gen, sowie Filmemacher mit. Wie bist Du dann zum Offenen Ka- nal in Magdeburg gekommen? Was genau sind Deine Aufgaben als Für mich stand fest, dass ich im Osten Chefin? bleibe. Inzwischen war ich auch frisch Ich koordiniere, organisiere und bin verliebt. Ich war in einer Arbeitsbeschaf­ Ansprechpartnerin für alle Koopera­ fungsmaßnahme, die sich »Künstler in

50 Bettina Wiengarn sozialen Arbeitsfeldern« nannte. Ich fing auch nach wie vor, dass Magdeburg eine an, Videoprojekte mit Jugendlichen zu unglaublich reiche Kulturszene hat. machen. Irgendwann kam die Idee, dass es auch Offene Kanäle in Sachsen-An­ Was fehlt Deiner Meinung nach noch? halt geben sollte. Und dann kümmerten Ehrlich gesagt wüsste ich nichts. wir uns mit der Initiative Offener Kanal Es gibt viele Kulturinitiativen. um die Lizenz. So kam ich nach Mag­ Mag­de­­­burg ist vielfältig und hat deburg. sogar einen Offenen Kanal. (lacht)

Trotzdem wohnst Du nicht in Magde- Eigentlich bin ich burg und pendelst jeden Tag. Warum? das Mädchen für Ich wohne in einem kleinen Dorf in alles. der Nähe von Zerbst direkt an der Elbe, zwischen Wiesen und Feldern. Ich liebe die Natur sehr. Ich fahre jeden Tag etwa Wie war Dein erster Eindruck von eine Stunde zur Arbeit, glücklicherwei­ Magdeburg? se einen Großteil mit dem Zug. Magdeburg sah damals noch ganz an­ ders aus als heute. Die Stadt war ka­ Bleibt bei der ganzen Arbeit und putt und grau. Man hatte in bestimm­ dem Pendeln noch Zeit für Dich? ten Vierteln den Eindruck, dass noch Ja, inzwischen arbeite ich weniger als ­irgendwelche Soldaten aus den Ecken früher. Damals hatte ich kaum Frei­ springen könnten. Es war für mich sehr zeit. Ich verließ morgens das Haus und exotisch, aber auch unglaublich span­ kam abends wieder, und war dann na­ nend. Ich entdeckte ein Land, was ich türlich sehr müde. überhaupt nicht kannte, aber kennen­ lernen wollte. Und wenn Du jetzt Zeit für Dich fin- dest, was machst Du dann am liebsten? Wie hat sich die Stadt seitdem ent- Ich habe einen riesen großen Garten, wickelt? in dem immer etwas zu tun ist. Ich lese Magdeburg hat eine ganz enorme Ent­ sehr viel, gehe spazieren und koche. wicklung gemacht. Städtebaulich und kulturell. Ein richtiger Einschnitt war Mit wem verbringst Du Deine Frei- 2005 die 1200-Jahr-Feier Magdeburg. zeit am liebsten? Da wurden auch durch den Offenen Mit meiner Lebensgefährtin. Kanal ganz viele Projekte angestoßen. Zum Beispiel gab es die Magdeburg Reagieren die Menschen komisch Rolle bei der wir Amateurfilme von auf Eure Beziehung? vor der Wende sammelten. Ich finde Nein, selbst in meinem Dorf nicht. Da

51 Bettina Wiengarn

gibt es inzwischen auch zwei weitere gleichgeschlechtliche Lebenspartner­ schaften. Es gab nie ein böses Wort.

Engagiert sich der Offene Kanal für Homosexuelle? Der Offene Kanal in Wernigerode ist da sehr aktiv. Vieles wird auch hier bei uns gesendet.

Hast Du Kinder? Nein.

Was treibt die Menschen an, Fernse- hen zu machen? Du bist nun fast 20 Jahre dabei. Wie Die Lust, etwas gut Gestaltetes zu hat sich denn das Programm des produzieren. Wir haben viele Schü­ ­Offenen Kanals entwickelt? lerpraktikanten. Ihnen reicht es eben Unser Programm ist wesentlich pro­ nicht, nur Handyvideos zu machen. fessioneller geworden. Wenn man sich Sie haben Lust, etwas zu lernen und die ersten Sendungen anguckt, ist das filmisch zu gestalten. zum Lachen. Natürlich gibt es immer noch Beiträge, die nicht so gut sind Für mich stand oder bei denen das Bild verwackelt ist. fest, dass ich im Aber das ist auch gut so, denn sonst könnte man sich nicht mehr verbes­ Osten bleibe. sern. Und vor allem würde beim Zu­ schauen niemand mehr auf die Idee kommen, dass man im Offenen Kanal Siehst Du das Fernsehen durch Platt- auch selbst etwas machen kann. formen wie YouTube gefährdet? YouTube ist eine riesige Konfettibox, Und wie steht es finanziell um den die ganz viel Tolles und ganz viel Blö­ Offenen Kanal? des zu bieten hat. Als Verbreitungsme­ Der Offene Kanal wird zu einem gro­ dium ist es aber super. Wir nutzen das ßen Teil aus Rundfunkgebühren fi­ ja auch. Es ist dann eine Konkurrenz, nanziert. Wir hatten in den letzten wenn Leute gar nicht mehr bei uns, Jahren mit ganz harten Einschnitten sondern nur noch auf YouTube publi­ zu kämpfen. Früher hatten wir zwei zieren. Ausbildungsstellen. Die nahm man uns weg. Wir versuchen unser Mög­

52 Bettina Wiengarn lichstes, aber es ist immer ein Kampf Rundfunkgebühren sich überhaupt ums Überleben. nicht lohnen würden. Dabei gibt es viele anspruchsvolle Formate, für die Meinst Du die Landesmedienanstalt sich 17 Euro im Monat lohnen. spart an der falschen Stelle? Auf jeden Fall. Meiner Meinung nach Was wünschst Du Dir für den Offe- müssten die Bereiche Bürgermedi­ nen Kanal? en und Medienkompetenz sehr viel Ich finde es spannend die Entwick­ mehr verzahnt werden. Die Medien­ lung im Medienbereich zu beobach­ anstalt könnte die Offenen Kanäle ten und mitzumachen. Außerdem in Sachsen-Anhalt mehr unterstützen wünsche ich mir, dass wir finanziell und Konzepte entwickeln. besser ausgestattet werden und vor al­ lem, dass wir weitermachen können. Schaust Du auch privat Fernsehen? Ja, aber weniger, weil ich immer mehr zum Serienjunkie mutiere.

Was ist Deine Lieblingsserie? Vista. schon? Breaking Bad. Bettina Wiengarn ist 1959 in Münster geboren. Nach Hörst Du auch Radio? ihrem Abitur, studierte sie Ja, ich nutze es sogar mehr als das Romanistik und Philoso- Fernsehen. Ich höre viel MDR Kultur phie in Toulouse und Berlin und Deutschlandfunk. und kam nach der Wende

nach Zerbst, um Orientie- Wie bewertest Du den derzeitigen rungskurse für Arbeitslose Journalismus? zu geben. Danach grün- Das ist ganz unterschiedlich. Es gibt dete sie mithilfe einer Ini- absoluten Qualitätsjournalismus. Zum tiative den Offenen Kanal Beispiel beim Radiosender Deutsch- Magdeburg, den sie heute landfunk. Das ist überhaupt nicht mit noch leitet. Ihr Lieblings- den auf Krawall gebürsteten Talk­ ort ist der Domplatz, weil shows im Fernsehen zu vergleichen. er romantisch ist. Magde- Aber ich glaube, dass wir in Deutsch­ burg beschreibt sie als eine land einen hohen Standard an Journa­ lebendige und engagierte lismus haben. Ganz schlimm finde ich Stadt mit einer trauma­ die vollkommen überzogene Kritik am tischen Vergangenheit. öffentlich-rechtlichen Fernsehen, dass das Programm so schlecht sei und die

53 Karl Gerhold »Für jemanden wie mich sehe ich keinen Ruhestand.«

Seit über 20 Jahren ist Dr. Karl Gerhold Geschäftsführer der GETEC-Gruppe – und er hat immer noch nicht genug davon. Nebenbei fährt er Fahrrad, spielt im Garten mit seinen Enkeln und engagiert sich beim MDR. Im Interview mit Inter.Vista erzählt er von seinem realitätsfernen Studium, warum er zu einer anderen Generation gehört und warum Ruhestand für ihn furchtbar langweilig wäre.

Interview und Fotos: Jytte Grieger und Marie Wintgen

Karl Gerhold

Sie haben 2011 das Bundesverdienst­ nicht immer alle dabei, meine älteste kreuz erhalten. Wie war die Verlei- Tochter lebt zum Beispiel in Berlin, hung für Sie? aber es kommt schon regelmäßig vor. Zwiespältig. In der Situation habe ich mich sehr gefreut, weil es doch eine Wie viel Hausmann steckt in Ihnen? große Auszeichnung und Anerken­ Ich arbeite gerne im Haus und küm­ nung ist. Aber hätte ich das vorher ge­ mere mich darum, dass alles in Ord­ wusst, hätte ich es nicht angenommen. nung ist. Am Sonntag, wenn die Haus­ Sagen wir es mal so: Ich bin nicht der hälterin nicht da ist, mache ich mal Typ für Orden. Die Ver­leihung war die Betten, wasche ab oder koche. Da anlässlich meines Geburtstagsemp­ wechsele ich mich natürlich mit mei­ fangs mit rund 300 Gästen. Da wäre es ner Frau ab. sehr unhöflich gewesen, abzulehnen. Aber jetzt bewahre ich es in meinem Kleiderschrank auf. Sie haben in Ihrer Rede bei der Verleihung besonders Ihre Frau er- wähnt. Sind Sie ein Romantiker? Ich habe mir darüber noch nie Gedan­ ken gemacht. Ein bisschen schon, ja. Meine Frau und ich kennen uns schon ein ganzes Leben lang. Wir haben uns im Studium kennengelernt.

Wie war es als einziger Mann im Haus? Konnten Sie sich durchsetzen? Das weiß ich nicht genau, aber ich glaube ja. (lacht) Ich will mich auch nicht immer durchsetzen. Ich ­liebe meine drei Töchter und meine Frau. Es ist alles gut. Die Älteste ist in einem medizinischen Beruf tätig, die Mittle­ re hier in der Firmengruppe und die Jüngste im Immobilien­bereich.

Wie oft kommt es noch vor, dass Ihre gesamte Familie gemeinsam am Tisch sitzt? Oft. Ich habe viele Enkel. Es sind zwar

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Haben Sie viel von der Kindheit Ih- relativ hohen Frauenanteil. Einige rer Töchter mitbekommen? Frauen sind auch aufgestiegen und ha­ Unterschiedlich. Ich war viel unter­ ben sich mitentwickelt, obwohl das in wegs. Es gab anfangs Phasen, als ich der Branche eher un­typisch ist. in der Landesregierung tätig war, da war es sehr schwer. Zum Glück war Heute ist die GETEC-Gruppe ei- das nicht so lange. Seitdem ich selbst­ ner der größten Energiekonzerne ständig bin, ist es besser geworden. Ich Deutschlands. Hätten Sie damit ge- bin zwar viel unterwegs, aber nehme rechnet? mir meine Freiräume und bin häufiger Nein, überhaupt nicht. Hatte ich auch zuhause. nicht vor. Anfangs waren wir nur vier oder fünf Leute. Es fing in einer Medizin konnte Bau­baracke in der Medizinischen Akademie­ an. In DDR-Zeiten blie­ ich nicht studie- ben Baubaracken meist stehen, und ren, weil ich kein weil Büroraum knapp war, mieteten Blut sehen kann. wir eine an. Es war furchtbar. Gewöh­ nungsbedürftig waren die sanitären Anlagen. Nach einem halben Jahr konnten wir zum Glück in die Suden­ Heutzutage nehmen sich viele Väter burger Wuhne umziehen. Wir waren einige Monate Elternzeit. Bedauern Untermieter bei Buderus. 1997 haben Sie, dass Sie das nicht konnten? wir dann auf dem heutigen Gelände Ich bin eine andere Generation. Ich das erste Firmengebäude bezogen. glaube, das hätte damals einfach nicht Das war dann richtig schön. Jetzt ha­ funktioniert. Meine Frau hat trotz der ben wir zwei Standorte in Magdeburg. drei Töchter auch immer gearbeitet. Alles ist immer größer geworden. Sie war nur einige Wochen nach der Entbindung zuhause, danach haben Woher kam die Idee, einen Energie­ wir es anders organisiert. Elternzeit ist konzern zu gründen? eine positive Maßnahme, aber es geht Ich bin kein Ingenieur oder Energie­ auch ganz anders. Jeder muss es für fachmann, aber ich habe mich im­ sich anhand der Umstände entscheiden. mer für umweltfreundliche Energie­ erzeugung interessiert. Und die Arbeiten bei der GETEC viele Frauen? Energieversorgung in der DDR war Ja. Wir haben die Besonderheit, dass grottig organisiert. Das war desaströs. es in der DDR sehr viele Ingenieurin­ Viel zu groß, unwirtschaftlich und in­ nen gab, anders als im Westen. Des­ effizient. Es verlangte nach neuen An­ halb hatten wir von Anfang an einen sätzen.

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Würde sich das heutzutage noch loh- war damals auch nichts für mich. Am nen? Ende war es eine Negativauswahl.­ Ich Heute würde es sich nicht mehr in hatte wenig Ahnung, was Volkswirt­ dem Umfang lohnen, weil wir auf ei­ schaft ist, aber es interessierte mich. nem ganz anderen Stand sind. Natür­ lich gibt es immer noch Potenziale, Normaler- die wir auch versuchen zu nutzen. Die Welt hat sich verändert. Es gibt immer weise bin ich wieder neue Ansätze und man muss Phlegmatiker. den richtigen erwischen. Damals war es ein guter. Hat Ihr Studium Sie gut auf die Rolle Wie kamen Sie dazu, sich mit 43 als Geschäftsführer vorbereitet? selbstständig zu machen? Auf die Rolle eines Geschäftsführers Das ist ein gutes Alter. Man kann sich nicht, aber es hat mich auf die Welt zwar auch mit 20 selbstständig ma­ vorbereitet. Das Volkswirtschaftsstu­ chen, aber mit 40 hat man schon mehr dium war eher ein Studium Generale. Erfahrung. Man muss in der Lage Man lernt sehr viele Dinge, aber die sein, mit anderen Menschen sachge­ sind weit weg vom wirklichen Leben. recht und konstruktiv zu kommuni­ Ich glaube schon, dass es abstraktes zieren und bereit sein, Verantwortung Denken und das Finden von Prob­ für andere zu übernehmen. Das kann lemlösungen fördert. Das könnte mir man, glaube ich, mit 40 besser. Ich will geholfen haben. Aber obwohl ich auch um Gottes Willen nicht dazu aufrufen, promoviert habe, habe ich nie wieder dass Sie erst 40 werden müssen, um etwas mit meinem Studienfach zu tun sich selbstständig zu machen, aber bei gehabt. mir passte es gut. Danach haben Sie bis 1990 im Nie- Sie haben ursprünglich in Göttingen dersächsischen Innenministerium Wirtschafts- und Sozialwissenschaf- gearbeitet. Wieso kamen Sie dann ten studiert. Wie kamen Sie dazu? nach Sachsen-Anhalt? Das war 1969, man könnte sagen, in Ganz einfach: Weil ich ein ›Schwar­ einem anderen Leben. Ich wollte ein­ zer‹ bin. Ich gehöre der CDU an. 1990 fach von Zuhause weg. Jura war mir gewann Gerhard Schröder in Nieder­ zu langweilig, Lehrer wollte ich auf sachsen die Landtagswahl und man keinen Fall werden. Medizin konnte wollte meine Position mit einem SPD- ich nicht studieren, weil ich kein Blut Mann besetzen. Dann hatte ich das sehen kann. Und ich hatte gehört, Privileg, mir eine Stelle aussuchen zu die arbeiten so hart im Studium, das dürfen. Ich wurde Beauftragter der

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Landesregierung Niedersachsen für Thüringen und Sachsen-Anhalt. Wir den Verwaltungsaufbau im Lande haben den Rundfunkstaatsvertrag Sachsen-Anhalt. So bin ich hier gelan­ entwickelt. Es war sofort klar, dass der det. Es gab noch keine Landesbehör­ Hauptsitz nach Leipzig sollte. Sachsen den, sondern es war ein zentral gelei­ war schließlich das größte Vertrags­ tetes System. Und so haben wir dann land. Aber ich habe darauf geachtet, die Landesverwaltung aufgebaut, das dass wichtige Bereiche des MDR, war sehr spannend. nämlich die Hörfunkdirektion in Hal­ le und das Werbefernsehen in Erfurt Was waren Ihre Aufgaben genau? angesiedelt werden. In Sachsen-An­ Ich habe unter anderem eine Stellen­ halt waren das immerhin über 500 börse organisiert. So habe ich alle, die Arbeitsplätze. Da bin ich immer noch nach Sachsen-Anhalt wollten, an die stolz drauf. Und es war enorm wich­ verschiedenen Unternehmen und Be­ tig, dass Sachsen-Anhalt partizipieren hörden vermittelt. Viele, die heute hier konnte, und nicht nur Sachsen. Es war sind, sind damals durch diese Stellen­ eine spannende Zeit, denn wir haben börse gegangen. Dann haben wir die den MDR von Null aufgebaut. Vorläuferorganisationen der späteren Ministerien gebildet und das erste Wirken Sie heute noch beim MDR Amtsblatt herausgegeben. Im Oktober mit? 1990 wurden wir durch die erste Lan­ Ich sitze im Verwaltungsrat, dem Auf­ desregierung abgelöst. Nach einem sichtsrat des MDR. Wir beraten die Vierteljahr war die Aufgabe also erle­ Spitze des Hauses und genehmigen digt. In der Landesregierung habe ich wichtige wirtschaftliche Vorhaben. dann mitgearbeitet. Seit mittlerweile 26 Jahren bin ich in den Gremien des MDR tätig. Das Während Ihrer Tätigkeit bei der macht mir sehr viel Spaß, weil es etwas Landesregierung Sachsen-Anhalt ganz Anderes ist als meine Arbeit bei haben Sie auch zur Gründung des der GETEC. Es ist mein Spielbein. Ich MDR beigetragen. Wie lief das ab? habe durch den MDR auch noch ein Ich war Chef der Staatskanzlei. Die ist paar andere Mandate, zum Beispiel bei für Medienfragen zuständig. Wir soll­ den Bavaria Filmstudios in München. ten damals einen freien, unabhängi­ Ich liebe es, wenn ich unterschiedliche gen Sender bekommen. Vorher waren Erlebnis- und Erfahrungshorizonte die Medien staatsgeleitet. Die neuen habe. unabhängigen Medien mussten aber trotzdem von staatlicher Seite organi­ Schauen Sie privat auch den MDR? siert werden. Ich hatte die Federfüh­ Ja, natürlich. Ich schaue aber insge­ rung für die neuen Länder Sachsen, samt wenig Fernsehen. Beim MDR

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schaue ich aber ganz gezielt auf Dinge­ entwickelt, so wie viele ostdeutsche wie Programmgestaltung oder The­ Städte. Es gibt nur wenige Ecken, die menauswahl. Das ist bei meiner Tätig­ noch sind wie 1990. Die Bau­sub­stanz keit klar. ist saniert. Es ist heute eine sehr grüne, freundliche und farbige Stadt mit vielen Wie war damals Ihr erster Eindruck Highlights. Und das war früher nicht so. von Magdeburg? Ich kannte die DDR. Ich habe damals Wohnen Sie heute auch noch in jede Gelegenheit genutzt, um in die Magde­burg? DDR zu fahren. Ich war also nicht Nein. Ich habe als meinen ersten überrascht. Aber es sah schon trostlos Wohnsitz ein Einfamilienhaus in Han­ aus. Sehr grau. Im Winter schaltete ich nover. Hier habe ich eine Wohnung. immer gleich auf Umluft, wenn ich in die Stadt fuhr, wegen des Kohle­ Fühlen Sie sich in Hannover mehr geruchs. zuhause? Das würde ich nicht sagen. Ich bin Im Fernsehen auch kein Hannoveraner, aber zwei meiner Kinder mit den Enkeln leben fand ich Hand- dort. Ich habe ein schönes Zuhause ball furchtbar und wenn man älter wird, lässt man ­langweilig. sich nicht so gut verpflanzen. Ich habe auch in Magdeburg eine wunderschö­ ne Wohnung, aber am Wochenende Wo haben Sie hier damals gewohnt? versuche ich, in Hannover zu sein. Ich Im Bauarbeiterhotel. Das ­wurde bin trotzdem in beiden Städten gleich inzwischen abgerissen. Es ­waren gern. Magdeburg ist mein gesellschaft­ 16-stöckige Gebäude in der ­Otto- licher Mittelpunkt, Hannover ist mein von-Guericke-Straße, in der Nähe der Rückzugsgebiet. Oberfinanzdirektion. Dort wurden Bauarbeiter untergebracht. Ich fand Was gefällt Ihnen an Magdeburg be- es gewöhnungsbedürftig. Ich bin des­ sonders? halb in der Regel spät nach Hause ge­ Ich finde den ganzen Domplatz, die kommen und ganz früh aufgestanden. Straßen drum herum und die Elbe Aber dort habe ich auch nur ein knap­ faszinierend. Auch am Wissenschafts­ pes Dreivierteljahr gewohnt. hafen ist es sehr schön. Dort haben wir ein Bürogebäude und ich laufe da ger­ Wie hat sich Magdeburg seitdem ne entlang oder fahre Rad. Ansonsten verändert? mag ich noch den Herrenkrug und ei­ Enorm. Magdeburg hat sich sehr gut nige Ecken in Stadtfeld.

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Wo gehen Sie gerne mit Ihrer Frau angespannte Situationen, aber nor­ Essen? malerweise bin ich Phlegmatiker. Ich Am liebsten gehen wir ins Bralo am kann gut abschalten, aber ich nehme Domplatz. Das passt gut, weil ich ge­ auch Arbeit mit nach Hause. In mei­ genüber wohne. nem vertrauten Umfeld zu arbeiten ist sehr schön. Wenn eine meiner Töchter Die GETEC unterstützt seit 15 Jah- kommt, gehe ich zwischendurch eine ren den SCM. Haben Sie eine per- Stunde mit dem Enkel in den Garten. sönliche Verbindung zu dem Club? Jetzt natürlich schon. Mir hatte das Wenn man älter Sponsoring mal jemand vorgeschla­ gen. Da hab ich mir mal ein Spiel wird, lässt man angeschaut und fand es toll. Im Fern­ sich nicht so gut sehen fand ich Handball furchtbar verpflanzen. langweilig, aber in der damaligen Bör­ delandhalle, heute GETEC-­Arena, ist das schon super. Sie sind jetzt 65. Haben Sie schon Machen Sie selbst auch Sport? über ­Ihren Ruhestand nachgedacht? Ich habe Fußball gespielt und Für jemanden wie mich sehe ich kei­ Leichtathletik gemacht. Ich versuche, nen Ruhestand. Nichts wäre furcht­ dem Verfall entgegenzuwirken. Ich barer als von heute auf morgen alles, habe einen Physiotherapeuten, der was ich mir erarbeitet habe, nicht mich einmal die Woche quält, und ich mehr machen zu können. Ruhestand fahre auf einem Ergometer oder auf ei­ fände ich schon sehr langweilig. Aber nem richtigen Fahrrad. Ich weiß nicht, ich versuche, mir meine Zeit anders ob man das als Sport bezeichnen kann, einzuteilen. Vor über zwei Jahren aber ich tue ein bisschen was. habe ich mich bereits aus der opera­ tiven Geschäftsführung zurückgezo­ Als Geschäftsführer haben Sie eine gen. So habe ich mehr Freiraum für große Verantwortung. Können Sie meine privaten und familiären Ange­ auch mal abschalten? legenheiten. Aber auch wenn ich im Ich kann immer abschalten, sogar Hintergrund wirke, will ich die ­Dinge in der Firma. Ich habe so viel erlebt, mitgestalten und beeinflussen. Ich so schnell bringt mich nichts mehr glaube auch, dass ich andernfalls sehr aus der Ruhe. Vielleicht wäre ich ein schnell alt werden würde. Ich möchte bisschen nervös, wenn Herr Obama aber auch auf keinen Fall zum Fossil durch die Tür kommen würde, aber werden. auch nicht wirklich. Es gibt zwar mal

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Vista. schon?

Dr. Karl Gerhold, Jahrgang 1950, ist in Nordhessen geboren. Er studierte Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Göttingen und begann seine Karriere in der Landesverwaltung Nieder- sachsens. Nach der Wende kam er nach Magdeburg, um hier den Aufbau derL andesverwaltung mitzugestalten. Später bau- te er als erster Chef der Staatskanzlei den MDR mit auf. Im Al- ter von 43 Jahren gründete er die GETEC-Gruppe, die heute mit sechs Teilkonzernen und über 1.150 Mitarbeitern zu den größ- ten Energiedienstleistern Deutschlands gehört. Sein Lieblings- ort in Magdeburg ist der Domplatz und er beschreibt die Stadt als spannend, geschunden und wiederauferstanden.

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»Am Anfang stand die Motivation, etwas für Magdeburg zu tun.«

Das Sportgeschäft ist sehr schnelllebig. Das weiß auch Marc- Henrik Schmedt. Seit sechs Jahren leitet der gebürtige Rheinländer die Geschicke des SC Magdeburg und ist dabei immer auf Kontinuität bedacht. Inter.Vista erzählt er von seiner Anfangszeit in Magdeburg, spricht über die Entwicklung des Vereins und erklärt, welche sportliche Chance jetzt ergriffen werden muss.

Interview und Fotos: Tobias Barthel und Stefan Matsuura

Marc-Henrik Schmedt

Herr Schmedt, fehlt Ihnen der Kar- Goethestraße und später dann in mei­ neval? ner ersten eigenen Wohnung in einem Ja, deswegen feiere ich hier auch nicht. sechsstöckigen Haus am Salbker See. Entweder richtig oder gar nicht. Ob­ wohl Magdeburg sich alle Mühe gibt. Es war komplett Aber wenn man aus dem Rheinland kommt, ist es eben doch etwas anders. anders, wenn (lacht) man als ›verwöhnter Sie kamen vor 25 Jahren direkt nach ­Wessibengel‹ der Wende aus dem Rheinland nach Magdeburg. Warum sind Sie gerade hierher kam. in dieser Zeit nach Ostdeutschland gekommen? Im Februar 1991 schloss ich meine Waren Sie früher selbst als Hand­ Banklehre ab. Da in Magdeburg zu­ baller aktiv? fällig die Partnerfiliale der Bank Bonn Nein, war ich nicht. Aber Fußball habe war, wurde ich hierher delegiert. Ur­ ich gespielt. sprünglich wollte ich nur ein halbes Jahr hierbleiben. Doch nach dieser Wie hat sich ihr Interesse am Hand- Zeit stand für mich fest, dass ich hier ball entwickelt und wie kam der nicht mehr weg will. Das war auch ein Kontakt zum SCM zustande? guter Entschluss. Vor meiner Zeit beim SCM war ich Abteilungsleiter einer großen Das muss damals eine große Umstel- Bank. Im Zuge dessen finanzier­ lung gewesen sein. te ich mal das Schweizer Haus im Es war komplett anders, wenn man Rotehornpark. Darüber bekam als ›verwöhnter Wessibengel‹ hierher ich dann Kontakt zum Vorstand kam. Es war aber eben auch eine total des SCM. Als ich sagte, dass ich spannende Aufbruchszeit. Vieles, was mich gern im Verein einbringen wol­ man während der Banklehre gelernt le, bekam ich die Verantwortung für hatte, galt plötzlich nicht mehr. Da war die zweite Mannschaft. Dass ich nun es normal, dass eine Bank in Haldens­ genau zum Handball gekommen bin, leben von einem Schäferhund bewacht war also reiner Zufall. Am Anfang wurde. stand die Motivation, etwas für Mag­ deburg zu tun. Jetzt sind es schon 16 Wo war Ihre erste Wohnung in Mag- Jahre. deburg? Erst wohnte ich in einem Hotel in der

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Vor Ihrer Tätigkeit als Geschäfts­ haben. Am nächsten Tag folgte dann führer waren Sie für die Youngsters der Empfang beim Oberbürgermeister tätig. Wie genau ist der SCM im und das Essen mit den Familien. Nachwuchsbereich aufgestellt? Ich bin nach wie vor auch für die Für den SCM ist es der erste Titel Youngsters verantwortlich. Als ich vor seit 2007. Damals wurde der EHF zehn Jahren dort anfing, haben wir Europa Pokal gewonnen. Außerdem begonnen, ein Farmteam nach ame­ konnten Schulden in Höhe von 2,5 rikanischem Vorbild aufzubauen. Wir Millionen Euro nahezu komplett haben beim SCM eine eigenständige abgebaut werden. Wie sehr mussten Sponsorenklientel für die Nachwuchs­ Verein und Mannschaft umgebaut mannschaft. Da der Nachwuchs also werden, um diesen Erfolg zu errei- mehr oder weniger autark finanziert chen? wird, können wir das auch in den Man muss den Prozess als Ganzes­ nächsten Jahren fortsetzen, ohne dass ­sehen. Im Jahr 2007 war der SC wir als Verein großartig finanzielle Magde­burg faktisch insolvent. Der Unterstützung leisten müssen. Sanierungsprozess wurde dann ab 2007 begonnen und bis 2010 bereits Wie Sie bereits erwähnten, kommen hälftig abgeschlossen. Seit ich gemein­ Sie aus dem Bankwesen. Welche sam mit Steffen Stiebler übernommen Fähig­keiten eines Bankers braucht habe, hat sich das Gebilde komplett ein Sport-Geschäftsführer? verändert. Dazu gehören neben dem Grundsätzlich ist es nicht verkehrt, strukturellen Aufbau auch Marketing, wenn man eine Bilanz lesen kann und Kommunikation, Markenentwicklung Buchungssätze beherrscht. und natürlich auch die Mannschaft selbst. In der abgelaufenen Saison konnte der SCM den DHB-Pokal beim Final­ Bei Ihrer Vertragsverlängerung im Four in Hamburg gewinnen. Wie Februar sagten Sie, dass Ihnen die und wo wurde gefeiert? Weiterentwicklung der Marke SCM Die Feier ging in Hamburg schon los besonders wichtig ist. Welche Maß- und es war einfach der Wunsch der nahmen haben Sie bis jetzt ergriffen Mannschaft, so schnell wie möglich und welche haben Sie noch im Blick? nach Magdeburg zurückzukehren. Der sportliche Erfolg ist sicherlich Die erste Station war gegen 22.30 Uhr die Kernaufgabe. Jedoch geht es in der Mückenwirt. Dort waren auch vie­ erster Linie darum, den SC Magde­ le Fans vor Ort, die die Mannschaft burg als identitätsstiftenden Leucht­ schon in Hamburg unterstützt oder turm für Sachsen-Anhalt und die ge­ das Spiel beim Public Viewing verfolgt samte Region zu platzieren. Anstatt

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Freundschaftsspiele in Bayern oder Europa Pokal sicher. Glauben Sie, Baden-Württemberg zu spielen, be­ dass der SCM auch in der nächsten suchen wir im Rahmen der Sachsen-­ Saison Pokal und Meisterschaft an- Anhalt-Tour regelmäßig die Altmark, greifen kann? Dessau oder den Harz, um einfach die Das haben wir natürlich vor. Wir ha­ Verbundenheit zur Bevölkerung und ben jetzt zweimal hintereinander das auch zu den dort ansässigen Unter­ Final Four im DHB-Pokal erreicht. nehmen zu zeigen. Unsere Sportart hat Davor war neun Jahre lang nichts, natürlich auch entsprechende Vorzü­ weil wir auch oft Pech bei der Auslo­ ge. Wir haben regelmäßig über 6.000 sung hatten. Wir wollen um die euro­ Zuschauer in der Halle, spielen in der päischen Plätze spielen, aber wir sind Bundesliga, aktuell auch europäisch. jetzt an einem Punkt, an dem wir in Das sind alles Werte, die eben auch Magdeburg Entscheidungen treffen zum Selbstbewusstsein von Magde­ müssen. Entweder wollen wir wei­ burg und Sachsen-Anhalt beitragen ter oder bleiben eine Mannschaft, die sollen. dauerhaft um die Plätze sechs bis neun spielt. Das ist eine Grundsatzentschei­ Sie sagten, dass Sie den SCM als dung, über die jetzt entschieden wer­ ›Leuchtturm im Osten‹ sehen. den muss. ­Welche anderen Vereine sehen Sie in einer ›Leuchtturmfunktion‹? Entweder wird Unabhängige Erhebungen zeigen, dass Bennet Wiegert es überregional im gesamten Osten hier ein guter drei Sportveranstaltungen gibt, die grundsätzlich von allen als identitäts­ Trainer oder er stiftend wahrgenommen werden: die wird es Eisbären Berlin im Eishockey, Oberhof woanders. im Biathlon und der SC Magdeburg im Handball. Die aktuellen TV-Zah­ len zeigen, dass der gesamte Osten Ab welchem Jahr ist für Sie der An- SCM schaut. In der abgelaufenen Sai­ griff auf die Champions League-Plät- son hatten wir mit über 86 Millionen ze realistisch? Zuschauern den Top-Wert der Liga. Die Grundsatzfrage ist, ob wir das wollen. Und wenn wir das wollen, Sie sind der Meinung, dass Magde- müssen wir definieren, was dafür nö­ burg das Potenzial hat, nachhaltig tig ist. Erst dann können wir die ent­ um das europäische Geschäft mitzu- sprechenden Schritte einleiten. Ich spielen. Durch den Pokalgewinn hat glaube, dass man bis zum Jahr 2020 im der Verein einen Startplatz im EHF Rahmen eines Drei-Jahres-Plans die

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Voraussetzungen dafür schaffen kann. Ihr Präsident Dirk Roswandowicz Eine ­Garantie dafür gibt es nicht. So­ lobte Sie als einen der »besten Ge- bald sich Spieler verletzen, wird der schäftsführer der Handball-Bundes- Plan wieder zurückgeworfen. Aber liga«. Was genau sind ihre Auf­gaben? das Schaffen der Voraussetzungen ist Ich weiß gar nicht, ob mein Präsident wichtig, um Spieler wie Finn Lemke die anderen alle kennt. (lacht) Der oder Michael Damgaard in Magde­ Hauptpunkt ist, dass wir letztendlich, burg halten zu können. Die Spieler bei aller Emotionalität, den SC Magde­ wollen natürlich wissen, wo wir als burg als ein Wirtschaftsunternehmen Verein in drei Jahren stehen wollen. führen. Meine Hauptaufgaben liegen Allein eine Gehaltserhöhung reicht da im wirtschaftlichen Bereich und im nicht aus. Die Spieler wollen Cham­ Marketing. Andere Aufgaben, wie der pions League spielen. Deswegen müs­ sportliche Bereich, wurden auf meh­ sen wir zwingend diesen Weg gehen, rere Schultern verteilt. Am Konstrukt aber dafür ist noch eine Menge nötig. eines ›Alleinherrschers‹ sind bis jetzt schon viele Vereine gescheitert. Nach der Trainerentlassung im ­Dezember 2015 haben Sie sich mit Ich könnte nicht Bennet Wiegert für eine interne ­Lösung von den Youngsters ent- morgen bei einem schieden. Was sprach dafür? anderen Club Wir haben von Anfang an betont, anfangen und dass wir gern langfristig mit Bennet dabei die gleiche Wiegert arbeiten möchten. Von einer Interimslösung war keine Rede. Der Leidenschaft wie Hauptgrund war, dass Bennet einfach für Magdeburg alles mitbringt. Es gibt keinen Bundes­ entwickeln. ligatrainer, der eine höhere theore­ tische Ausbildung hat als er. Sein Mangel an Erfahrung kompensiert er Haben Sie nach Ihrer erfolgreichen mit Geradlinigkeit und Fleiß. Im Ge­ Arbeit in Magdeburg bereits Ange- spräch mit dem Aufsichtsrat habe ich bote von anderen Vereinen erhalten? klar gesagt, dass wir uns entscheiden Es gab schon mehrere Optionen. Aber müssen: Entweder wird Bennet Wie­ für mich geht das jetzt einfach nicht. gert hier ein guter Trainer oder er wird Ich bin hier vor Ort mit Leidenschaft es woanders. Und ich hoffe, dass mit bei der Sache und könnte nicht ab dem Pokalsieg alle Trainerdiskussio­ morgen bei einem anderen Club an­ nen ad acta gelegt sind. fangen und dabei die gleiche Leiden­ schaft entwickeln wie für Magdeburg.

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Wir sind hier in Magdeburg noch nicht fertig.

Das klingt nach viel Arbeit. Haben Sie überhaupt Freizeit oder müssen Sie sich die nehmen ? Es ist ein fließender Übergang zwi­ schen Arbeit und Freizeit. Insofern ist es eigentlich keine Belastung. Am Ende einer Saison mit Trainerent­ lassung und Final Four merkt man schon, dass man runter ist. Aber ich habe mir das so ausgesucht. Für mei­ ne Aufgabe opfere ich auch gerne ge­ regelte und limitierte Arbeitszeiten. Meine Arbeit ist hochspannend und ich bin dankbar, dass ich genau das machen darf. möchte, muss man zum Fußball oder Verbinden Sie auch manchmal Handball gehen. ­Berufliches mit Privatem ? Ja, klar. Man ist ja faktisch 24 Stun­ Warum sollten junge Leute nach den im Einsatz. Natürlich ergibt sich Magdeburg kommen? da manchmal die ein oder andere ge­ Wir sind nicht das Land, wie es Au­ schäftliche Gelegenheit. Aber noch ßenstehende sehen. Man sollte sich verrückter ist meine Frau. Sie leitet erst einmal alles in Ruhe anschau­ den Fan-Shop und die Merchan­ en und nicht nur nach dem ersten dising-Abteilung. Da muss ich eher sie Anschein urteilen. Da ist aber jeder bremsen. Magdeburger aufgefordert, das positiv nach außen zu tragen. Was macht Magdeburg zu einer ­erfolgreichen Sportstadt? Wie beurteilen Sie das Stadtmarke- Zum einen hat Magdeburg eine gro­ ting der Stadt Magdeburg? ße Historie. Zum anderen haben wir Gut, aber wir könnten noch etwas ein fachlich versiertes Publikum, das selbstbewusster sein. Auf viele Din­ aber auch teilweise noch in der Ver­ ge kann man sehr stolz sein. Egal, gangenheit lebt. Daraus resultiert eine ob das Fußball, Handball, die gu­ hohe Erwartungshaltung. Wenn man ten Unternehmen, die kulturellen in Sachsen-Anhalt Spitzensport sehen Alleinstellungsmerkmale oder der

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hervorragende Bildungs- und Wissen­ Wie wird das beim SCM umgesetzt? schaftsstandort ist. Wir können hier Nachdem die deutsche Nationalmann­ im Land vieles. Das müssen wir uns schaft im Januar Europameister ge­ nur vergegenwärtigen, mit breiter worden ist, habe ich einen Artikel ge­ Brust vorweg gehen und unsere Stadt lesen mit der Überschrift »Fußball ist positiv verkaufen. Auch wir als Verein Frau Merkel, Handball ist Frau Petry«. erleben immer wieder, dass neuver­ Das empfinde ich als Schwachsinn. pflichtete Spieler, die zum ersten Mal Das Problem ist, dass es in den klas­ nach Magdeburg kommen, zuerst die sischen Herkunftsländern der Migran­ großen Wohnhäuser sehen und sich ten keinen Handball gibt. Fußball da­ dann fragen, wo sie eigentlich hier ge­ gegen spielen Kinder auf der ganzen landet sind. Das ändert sich aber spä­ Welt. Wir unterstützen eine Plattform, ter, wenn sie andere Ecken der Stadt über die versucht wird, Migranten mit gesehen haben. Ich glaube, dass wir da Bleibeperspektive in Praktikumsstel­ noch eine Menge zu kommunizieren len zu vermitteln. Wir bringen hier haben. unser Netzwerk ein und haben selber eine junge Migrantin als Praktikantin Die Geschichte aufgenommen. Außerdem haben wir mit Römern und jetzt ein Deutschlandstipendium an eine junge Frau aus Pakistan verge­ Galliern funk­ ben, um zu zeigen, dass Magdeburg tioniert nach­ für junge, intellektuelle Menschen ein haltig eben nur attraktiver Standort sein kann. Ich im Comic. Am Ende bin gern bereit, solche Dinge plakativ nach außen zu zeigen. wirft Geld eben doch Tore. Wo sehen Sie sich und den Verein in fünf Jahren? Wenn wir jetzt die Weichenstellung schaffen, sind wir in fünf Jahren eine Inwieweit trägt der SC Magdeburg Mannschaft, die dauerhaft um die zu dieser Vermarktung bei? ersten vier Plätze mitspielt. Wir soll­ Die Politik hat verstanden, dass wir ten bis dahin sowohl wirtschaftlich als Verein ein Beispiel für gelebte In­ als auch sportlich zu den Top-Teams tegration sind. In unserer Mannschaft der Liga aufschließen. Die sportliche vereinen sich mehrere Nationen und Entwicklung folgt immer der wirt­ wir haben zusammen Erfolg. Wir stel­ schaftlichen. Das kann man gut oder len uns den gesellschaftlichen Themen schlecht finden, aber am Ende ist es wie Migration oder Fachkräftemangel. so. Natürlich gewinnt man auch mal

72 Marc-Henrik Schmedt gegen größere Mannschaften, aber die Geschichte mit den Römern und den Galliern funktioniert nachhaltig eben nur im Comic. Am Ende wirft Geld eben doch Tore.

Vista. schon? Marc-Henrik Schmedt, Jahrgang 1969, wurde in Simmern im Rheinland geboren. Ein Jahr nach der Wende kam er als Ban- ker nach Magdeburg und ist mittlerweile Geschäftsführer der Handballabteilung des SC Magdeburg. Schmedt ist verheiratet und sein Lieblingsort in Magdeburg ist für ihn immer dort, wo seine Frau ist. Die Stadt beschreibt er als sportbesessen, grün und absolut lebenswert.

73 Rayk Weber »Wer ankommen will, muss reisen.«

Vor 20 Jahren schoss er am Strand von Mallorca ein Foto von seiner Freundin. Rayk Webers Neugier an der Fotografie war geweckt. Aus den anfänglichen Schnappschüssen wurden Bilder voller Geschichten und Emotionen. Im Interview mit Inter.Vista erzählt er von seinem »Spinnertraum New York«, wegweisenden Schicksalsschlägen und Fotoshootings, die ihn zum Weinen brachten.

Interview und Fotos: Jytte Grieger

Rayk Weber

Ist Deine Kamera immer dabei? ich genau am 4. Juli geboren bin, flog Nicht immer. Aber beim Reisen schon. ich zu meinem 30. Geburtstag hin. Ich Wenn ich privat eingeladen bin, habe war kaum vorbereitet, aber mein Sitz­ ich keine Kamera dabei. Ein befreun­ nachbar im Flugzeug, der einen Onkel deter Fotograf erzählt mir, dass er in New York hatte, bot mir an, mich manchmal nur noch eingeladen wird, mitzunehmen. Dadurch habe ich New weil die Leute wissen, er macht Fotos. York sofort aus einem anderen Blick­ Das ist keine Lebensqualität mehr. Ich winkel kennengelernt, als ein norma­ brauche den Abstand zur Fotografie, ler Tourist. Anfangs fühlte ich mich um das Feuer zu behalten. wie eine kleine Ameise im Dschungel, aber dann konnte ich die Stadt nicht Momentan läuft Deine fünfte New mehr loslassen. Es heißt, New York York-Ausstellung. Wieso fotogra- könne man nur lieben oder hassen. fierst Du in New York? Ich liebe es. Jetzt erobere ich diese Lie­ Ich mache seit vielen Jahren Reisefoto­ be zu New York jedes Jahr neu. Und grafie. Das erste Mal in New York war ich bringe immer neue Bilder für die ich 2005. Um sich Träume zu verwirk­ Ausstellung mit. lichen, muss man erstmal anfangen zu spinnen. Mein Spinnertraum war Momentan kann man sich außer- es, einmal zum Unabhängigkeitstag dem im Gehrke am Hasselbachplatz nach New York zu fliegen. Und weil ­Deine Fotos aus Indien anschauen.

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Wie kamst Du dazu, eine Fotoreihe Du produzierst die Kalenderreihe in Indien zu machen? Hautfreudli.ch. Wie kamst Du dazu, Das war Zufall. Ein Freund nahm nackte Frauen zu fotografieren? mich auf eine Geschäftsreise nach In­ Ich habe mir den Traum aller Männer dien mit. Vorher hatte ich mich nie erfüllt. (lacht) An einem bestimm­ mit dem Land beschäftigt und hatte ten Punkt habe ich gemerkt, dass es auch Vorurteile, zum Beispiel dass es mit meiner Fotografie vorwärts ge­ dort arm und gefährlich sei. Ich habe hen musste. Ich machte Aktfotos von vor der Reise mein allererstes Testa­ Frauen aus meinem Bekanntenkreis. ment gemacht, weil ich nicht wusste, Anfänglich wurde ich belächelt oder was mich erwartet. Und dann wurde habe Sprüche bekommen wie: »Der ich komplett überrascht. fotografiert nackte Frauen, um sie ins Bett zu kriegen.« Das hat mir am Indien hat Dich also positiv über- Anfang wehgetan. Als die Leute mit­ rascht? bekommen haben, dass der Kalender Ja. Ich bin mit einem so guten Gefühl ein professionelles Produkt ist, wurde nach Hause gekommen. Wir hatten es akzeptiert. Mittlerweile ist er ein sehr viel mit den Menschen vor Ort Image-Produkt und ein Kult-Objekt zu tun. Von den ganz Armen bis zum in der Stadt. Multimillionär. Alle waren sehr herz­ lich und dankbar. Wir haben Orte Als Fotograf gesehen, zu denen ein normaler Tou­ rist nicht kommen würde. Es war eine mache ich Politik Horizonterweiterung und ich würde auf kleinster wieder hinfahren. Besonders gefreut Ebene. hat mich, dass unser indischer Reise­ führer extra zur Vernissage aus Indien anreiste. Wieso grade ein Kalender? Macht das Fotografieren im Ausland Für die Form des Kalenders entschied mehr Spaß? ich mich, weil ich etwas haben woll­ Es macht Spaß, weil man unterwegs te, was nicht jeder Fotograf so schnell ist. Man ist mal weg vom Alltag und machen kann. Ich hatte kein Konzept das ist immer toll. Ich versuche, zwei und wäre fast pleitegegangen. Aber die bis drei Mal im Jahr zu reisen, um Ab­ Leute waren angetan. Das war 2000. wechslung zu haben. Aber nach Hause Bis heute ist der Kalender das gemein­ zu kommen, macht auch Spaß. same Werk unseres Teams. Er ist un­ sere kreative Spielwiese. Wir entschei­ den, wie wir ihn haben wollen. Der

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Reiz dabei ist es, jedes Jahr ein neues litik. Als Fotograf mache ich Politik Thema zu finden. auf kleinster Ebene. Wenn ich die Ge­ schichten meiner Fotos erzähle, sind Wieso der Name Hautfreundli.ch? die Menschen emotional berührt und Der Name entstand, weil ich zu machen sich Gedanken. Ich beeinflus­ schüchtern war. Ich konnte das Wort se sie also. Aktshooting nicht aussprechen. Au­ ßerdem ist der Begriff negativ belegt. Warum wolltest Du Fotograf werden? Bei den meisten geht im Kopf ein Film Es erfüllt mir viele Lebensbedürfnisse. los, weil sie nicht wissen, was genau Ich kann kreativ sein. Wenn ich das gemeint ist. Das Klischee, dass Akt et­ nicht darf, werde ich krank. Ich habe was Schlimmes sei, bin ich umgangen. keinen Nine-to-Five-Job. Manchmal Wenn ich Hautfreundli.ch-Shooting habe ich jeden Tag Shootings und fal­ sage, ist zwar nicht sofort klar, was ge­ le abends tot ins Bett und manchmal meint ist, aber es ist ein positives Wort. sitzen wir nur im Büro und holen uns Ich mache Hautfreundli.ch-Fotos. auch mal ein Eis unten beim Bioladen. Aber am Abend weiß ich, was ich ge­ Du hast an der Otto-von-­Guericke- tan habe und für wen. Man trifft im­ Universität Politik studiert. Was war mer Menschen und erfährt Geschich­ Dein Berufswunsch? ten. Auf die muss ich mich einlassen, Ich wollte Gastronom werden und um ein gutes Ergebnis zu bekommen. amerikanische Erlebnisgastronomie Eigentlich sagen alle, sie wären nicht machen. In einem Projekt habe ich fotogen. Wir gucken immer auf unsere aber gemerkt, dass es nicht das Richti­ Schwächen. Das Schönste ist, wenn du ge ist. Man arbeitet viel zu hart und hat Menschen diese Unsicherheit nimmst nie einen freien Sonntag, das macht ja und ihnen zeigst, wie gut sie ausse­ gar keinen Spaß. (lacht) Studiert habe hen. Natürlich brauchen wir Geld um ich nur wegen meiner Mutter. Ich zu überleben, aber es ist die schönste wechselte auch mehrmals das Neben­ Bezahlung, wenn die Menschen glück­ fach. Insgesamt studierte ich acht Jah­ lich aus einem Shooting rausgehen. re. Nicht weil ich dumm war, sondern weil es meine einzige Chance war, he­ Hast Du schon immer in Magdeburg rauszufinden, was ich vom Leben will. gelebt? Ein Semester habe ich behauptet, ich Ich bin in Magdeburg geboren. Weil hätte ein Politikpraktikum, aber in mein Vater bei der Nationalen Volks­ Wahrheit war es ein Fotopraktikum armee war, mussten wir herumreisen, in den USA. Meine Abschlussarbeit aber seit 1988 bin ich in Magdeburg. schrieb ich über die Wirkung und Be­ Nach dem Studium haben damals einflussung von Fotografie in der Po­ viele die Stadt verlassen. Aber Guido

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Schwirzke vom Prinzz Club und ich waren der Meinung, unsere Stadt hat Potenzial. Den Prinzz Club gibt es jetzt schon viele Jahre und er war immer der Club in dieser Stadt. Das zu er­ reichen, war vergleichsweise einfach. So ist es auch mit meinen Ausstellun­ gen. Es gibt hier kein großes Angebot. In Magdeburg mag es wirtschaftlich schwieriger sein als in anderen Städ­ ten, aber man hat eine große Chance.

Du willst also in Magdeburg bleiben? Ja. Ich habe schon so viele tolle Orte gesehen, aber irgendwann ist das auch alles normal. Magdeburg ist der Alltag für mich, und wir haben es schön hier. In München könnte ich vielleicht das Doppelte verdienen, aber da sind auch Fotografierst Du gerne im Studio? die Lebenshaltungskosten viel höher. Ich war früher sehr gegen Studio­ Es heißt, die Menschen in Magdeburg fotografie. Es ist so verstaubt und je­ seien ein bisschen verschlossen und der hat Schiss vor’m Studio – das ty­ etwas stieselig, aber es gibt hier auch pische Passbild-Gefühl. Anfang 2013 viele lustige und herzliche Menschen. habe ich einen Workshop bei dem Wenn man will, findet man die auch. damals besten europäischen Studio- und Familienfotografen gemacht. Der Was sind die Foto-Hotspots der Stadt? hat mir gezeigt, wie man Familien im Verrät man sowas? Magdeburg hat Studio fotografiert. Man wird Leute viele Möglichkeiten. Bei meinem glücklich machen und zum Heulen Praktikum in der Schweiz war der Fo­ oder Nachdenken bringen. Auf den tograf begeistert von den Locations Fotos sieht man natürlich, dass es im auf meinen Bildern. Wir waren damals Studio ist. Das Wichtige ist aber, die mit Auftragsshootings viel im Wissen­ Gefühle der Menschen zu zeigen und schaftshafen, im Gesellschaftshaus, im die Geschichten zu erzählen. Ich habe Gewächshaus oder im Prinzz Club. beispielsweise mal meine Mutter und Wir haben aber auch viele Kunden, die meine Oma fotografiert. Du siehst lieber ins Studio wollen. vielleicht nur eine alte und eine junge Frau, die lachend aufeinanderliegen. Aber wenn du die Geschichte dazu

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kennst, hat es einen Wert. Seit ich das eine alte Dame gesagt, das Shooting sei gelernt habe, wollen alle von mir im einer ihrer schönsten Tage gewesen. Studio fotografiert werden. Ich selber will gerne auch mal wieder raus, aber Erinnerst Du dich an ein besonders der Kunde lenkt. emotionales Shooting? Für mich privat war das Fotoshooting Welche Shootings machst Du am mit meiner Mutter und meiner Oma liebsten? sehr emotional. Meine Mutter ist im Die Mischung macht’s. Zu 90 Prozent Oktober 2013 verstorben. Kurz darauf besteht meine Fotografie aber aus den gab es ein weiteres emotionales Shoo­ Menschen. Ich fotografiere besonders ting. Ein junger Geschäftspartner, des­ gerne Familien. Wenn man selbst sen Vater die gleiche Krankheit hatte, Schicksalsschläge erlebt hat, bekommt wollte ein Familien-Fotoshooting zum man eine andere Wertvorstellung von Abschied machen. Wunschtermin war Familie. Bei Familienfotografie muss der 27. Dezember, aber ich arbeite zwi­ schen Weihnachten und Neujahr nicht. Ich brauche den Wir haben es dann Ende November gemacht. Bei dem Shooting haben wir Abstand zur alle geheult, weil wir wussten, was da Fotografie, um passiert und ich habe mir einen Faux­ das Feuer zu pas erlaubt: Die Frau von dem kranken Mann war total aufgeregt und gerührt behalten. von der Situation. Und dann sagte ich: »Mach ganz locker, bei mir ist noch nie­ man Emotionen vermitteln. Anfangs mand beim Fotoshooting gestorben.« fühlen sich oft alle unwohl. Dann Alle guckten mich erschrocken an, aber lasse ich sie sich in den Arm nehmen im nächsten Moment haben wir alle und die Augen schließen, und sie spü­ herzlich gelacht. Ich habe der Familie ren die Verbundenheit der Familie. nicht nur Fotos geliefert, sondern auch Manche haben sich auch einfach lan­ den Moment. Es war ein bedrückender ge nicht in den Arm oder an die Hand Anlass, aber trotzdem auch ein schönes genommen. Man muss zwar auch sen­ Zusammentreffen. Das Traurige an der sibel sein, wenn man die Familienver­ ganzen Geschichte ist, dass der Mann hältnisse nicht kennt, aber manchmal am 26. Dezember verstorben ist. Wäre muss man einfach machen. Ich foto­ ich nicht egoistisch gewesen und hätte grafiere auch gerne alte Menschen. Die den Termin verschoben, hätten die Fo­ Gesichter erzählen so viele Geschich­ tos nie stattgefunden. Für mich ist das ten. Je älter die Leute sind, desto mehr ein Shooting, von dem ich noch lange schätzen sie den Moment. Letztens hat erzählen werde.

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Stehst Du auch mal selbst vor der Lebens. Davon werden die meisten Kamera? Bilder handeln und es kommt auch Ja. In meiner Anfangszeit habe ich am noch die Hautfreundli.ch-Vernissage. Ende des Shootings oft die Rollen mit Dann reicht es auch mit Ausstellungen. dem Kunden getauscht. Als Fotograf (lacht) Aber wenn jemand ein Bild aus muss man wissen, wie es sich anfühlt, den Ausstellungen kauft, das ich aus ei­ vor der Kamera zu stehen. gener Motivation und ohne kommerzi­ ellen Antrieb gemacht habe, ist das ein Hast Du andere Hobbies neben der tolles Gefühl. Dann fühle ich mich als Fotografie? Künstler. Bald einen Hund, Leo. Und ich gehe gerne joggen. Früher hatte ich Ziele, die ich erreichen wollte und musste. Aber als 2013 meine Mutter verstarb, hat sich mein ganzes Leben neu jus­ tiert. Seitdem laufe ich nur noch, um Spaß zu haben. Ich will raus und in der Natur abschalten. Alleine schaffe ich es aber selten, den inneren Schwei­ nehund zu überwinden. Ich habe Vista. schon? verschiedene Laufpartner. Zum Aus­ gleich bin ich auch sehr gerne allein Rayk Weber, Jahrgang und mache mal gar nichts. Faul sein zu 1975, ist in Magdeburg dürfen, ist auch eine Lebensqualität. geboren. Sein Ursprungs- foto schoss er 1996 von Welche neuen Projekte sind geplant? seiner damaligen Freun- Das nächste Projekt ist eine Reisefoto­ din am Strand von Mallor- grafie-Ausstellung: Auf der Suche nach ca. Während seines Studi- Liebe – Eine kleine Weltreise. Daran ums kristallisierte sich die arbeite ich seit drei Jahren und am 14. Fotografie­ immer mehr September 2016 ist die Ausstellungser­ heraus. Seit 2000 ist er öffnung. Nach dem Tod meiner Mutter offiziell als freier Fotograf war ich acht Mal mindestens eine Wo­ tätig. Neben seinem über- che lang unterwegs. Wer ankommen regional bekannten Kalen- will, muss reisen. 2014 ist dann auch der Hautfreundli.ch macht meine langjährige Beziehung zu Ende er auch immer mehr durch gegangen. Ich war also auf der Suche seine Reisefotografie auf nach Liebe, aber auch auf der Suche sich aufmerksam. nach der Liebe und Leidenschaft des

81 Bernd Heynemann »Man kann mit den Wölfen heulen oder man betritt selbst die Bühne.«

Er hat Fußball-Welt- und Europameisterschaften live auf dem Rasen erlebt, hitzige Diskussionen im Deutschen Bundestag geführt und engagiert sich seit langem im Stadtrat sowie im Landtag für die Belange Magdeburgs. CDU-Politiker Bernd Heynemann ist nicht nur in der AOK im Bereich »Strategische Markenführung« tätig, sondern hat auch schon anderweitig viel erlebt und gesehen. Wir haben nachgefragt: nach seinen Visionen für die Stadt Magdeburg, den Parallelen zwischen Fußball und Politik und ob bei so einem vollen Terminplan überhaupt noch Freizeit bleibt.

Interview und Fotos: Kim Sichert

Bernd Heymemann

Sie waren früher Schiedsrichter, als Bürger, wenn man durch die Stadt heute sind Sie politisch aktiv. Was geht, ob das jetzt der Tunnelbau oder ist anstrengender zu leiten? Ein der Brückenbau ist. Dass das so ewig ­Fußballspiel oder eine politische dauert, ist eigentlich auch das Stören­ Diskussion? de. Ich bin jemand, der schnell richtig Es war nicht so, dass erst das Eine und und korrekt entscheidet. dann das Andere kam. Das lief schon parallel. Ich war seit 1999 Mitglied des Inwieweit sind die Fähigkeiten, die Stadtrates und beendete erst 2001 mei­ Sie als Schiedsrichter erworben ne aktive Schiedsrichterkarriere. Da­ ­haben, Ihnen heute in der Politik nach war ich noch im Bundestag aktiv nützlich? und auch im Landtag. Als Schiedsrich­ Wichtig ist auch in der Politik, dass ter entscheidest du, gibst die Richtung man beharrlich sein Ziel verfolgt. Aus­ vor und dann geht das Spiel weiter, dauer. Du musst versuchen Entschei­ innerhalb von kürzester Zeit. In der dungen herbeizuführen, dass nicht Politik dauert das immer, ehe über­ alles zerredet wird, sondern dass man haupt ein Thema platziert wird, ehe wirklich zu konkreten Beschlüssen man Mehrheiten bekommt, ehe etwas kommt. umgesetzt wird. Das sieht man ja auch Wie kam es zu Ihrer Karriere als Schiedsrichter? Als Schiedsrichter ist man erstmal »Semiprofi«. Also man hat einen Be­ ruf und ist nebenbei noch als Schieds­ richter aktiv. In meiner Jugend­ war ich viel auf dem Sportplatz und habe Fußball gespielt. Früher gab es we­ nige Schiedsrichter. Heute übrigens auch. Dann pfeifst du mal ein zwei Spiele, weil sonst keiner will und dann sagt der Verein: »Jetzt hast du genug Spiele für uns gepfiffen, jetzt kannst du mal die Prüfung machen.« Und dann musst du dich entschei­ den. Spieler oder Schiedsrichter? Ich entschied mich für das Zweite und das war richtig so.

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Sie galten damals und auch heute Die Entscheidungen der Schiedsrich­ noch als einer der besten Schieds- ter versuche ich also immer gelassen richter der Liga. Der Kicker nannte zu sehen. Ich habe auch noch nie eine sie 1998 den »besten Unparteiischen gelbe oder rote Karte bekommen. der Liga«. Was unterschied Ihre (lacht) Art das Spiel zu leiten von anderen Schiedsrichtern? Es hat alles Die Problematik ist ja damals wie seinen tieferen heute die Gleiche. Wichtig ist, eine Kommunikation auf dem Feld mit Sinn. Ich bin gerne den Spielern zu haben. Es heißt ja: Magdeburger. wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus. Also wenn ich nur rumschreie und mit gelben oder roten Gibt es eine lustige Anekdote aus Ih- Karten winke, kommt das natürlich rer Schiedsrichter-Zeit? nicht gut an. Ein Spieler will auch mal Also ich bin ja nicht als Schiedsrichter verstanden werden und deshalb ist das auf die Welt gekommen. Ich habe mich Amt des Schiedsrichters nicht auf den von der Kreisklasse in die Bezirksklas­ ›Richter‹ bezogen, sondern eher auf se und weiter nach oben vorgearbeitet. Kooperation. Wenn man als junger Mensch eine Schiedsrichter-Ansetzung hat, dann Sie haben auch früher selber Fußball will ich die auch wahrnehmen – ist ja gespielt. Bei welchem Verein und ein Spielauftrag. Ich musste einmal ein welche Position? Spiel in der Altmark pfeifen und zu Früher spielte ich bei der Fortuna, DDR-Zeiten hatte man ja nicht unbe­ heute noch bei Alte Herren beim Po­ dingt ein Auto oder Telefon. Ich nahm lizeisportverein, beim PSV. Rechtsau­ also den Zug, bin aber zehn Kilometer ßen oder Mittelstürmer. zu weit gefahren. Aber wie komme ich zurück und rechtzeitig zum Spiel? Ich Regen Sie sich auch manchmal über hielt dann einfach auf der Straße einen den Schiedsrichter auf oder haben Bauern an, der gerade eine Sau zum Sie einen anderen Blick auf die Sa- Decken brachte und fuhr mit. Ich hing che? halb mit auf dem Schweinewagen, bin Man hat schon einen anderen Blick, dann aber noch pünktlich angekom­ nimmt sich bewusst zurück und dis­ men. Heute ist das natürlich anders. kutiert nicht über jedes Foul. Ich weiß Da hat sogar jeder Schiedsrichterassis­ ja wie schwer das ist. Ein »Richter« tent ein Auto. muss ja immer entscheiden – Pro oder Contra und einer ist immer verärgert.

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Verfolgen Sie die Spiele des 1. FCM? ten drei Jahre auch in der Handball-­ Selbstverständlich, ich bin Ehren­ Bundesliga wieder unter den ersten mitglied und auch öfter im Stadion. fünf stehen wird. Ich finde großartig, was für eine tolle Saison gespielt wurde. Aber wenn man Bei welchen Sportarten sehen Sie sieht, was Würzburg geschafft hat, da in Magdeburg noch Handlungs­ wäre mit mehr Konzentration viel­ potential? leicht auch mehr drin gewesen. Man Basketball ist sicherlich so ein Thema. hat ja richtig gemerkt, wie die Luft Ich kenne auch die Protagonisten, die raus war, als der Klassen­erhalt durch versucht haben, den Basketball hier war. Man hätte den Durchmarsch in Magdeburg zu etablieren. Zum sonst echt packen können. Beispiel mit der Gieseler-Halle. Aber dann hat es im Management, bei den Wo sehen Sie den Verein in fünf Finanzen nicht gestimmt. Die Zu­ ­Jahren? schauerresonanz fehlte. Das war ein Man muss ja immer vorsichtig sein. Projekt, aber man hätte sich mehr Zeit Im Fußball kann man vieles planen, geben können. Ich denke, das steht aber nicht alles. Der Verein ist auf jetzt auf tönernen Füßen. einem guten Weg, sie sind gut aufge­ stellt. Nicht nur finanziell, sondern Würden Sie Magdeburg allgemein auch hinsichtlich des Managements, als Sportstadt beschreiben? des Trainers und der Mannschaft. Die Magdeburg ist auf jeden Fall eine Saison wurde gut abgeschlossen, wir Sportstadt. Wir haben ja nicht nur sind für den DFB-Pokal qualifiziert Handball und Fußball zu bieten, son­ und ich denke, in den nächsten drei dern sogar einen Olympia-Stützpunkt. Jahren werden wir auch in die zweite Liga aufsteigen. Dann muss man erst­ Sind Sie selber, abgesehen von Fuß- mal einen Punkt machen. Champions ball, noch sportlich aktiv? League und so was wäre schon ziem­ Ich spiele noch Golf, bei den GoFus, lich weit hergeholt. (lacht) das sind die golfspielenden ehemalige Fußballer. Wir veranstalten weltweit Wie sieht es aus mit anderen Sport- Turniere und das eingenommene Geld arten im Magdeburg? Was verfolgen wird in Bolzplätze investiert. Echt eine Sie da? schöne Sache. Beim Handball bin ich öfter. Mit Ben­ net Wiegert gibt’s da jetzt auch einen Sie absolvierten Schule und Studium Trainer, der die Region hier versteht. in Magdeburg, sind jetzt auch beruf- Deshalb bin ich mir sicher, dass der lich hier aktiv. Waren Sie jemals län- SC Magdeburg innerhalb der nächs­ ger von dieser Stadt getrennt?

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Länger als vier Wochen war ich nie Stadt Magde­burg hat ein national weg von hier. Nicht einmal während und international­ schlechtes Image«. meiner Zeit im Bundestag. Wie würden Sie das Image der Stadt beschreiben? Warum ist das so? Was macht diese Das ist schon ein paar Jahre her. Aber Stadt für Sie so sehr aus? denken Sie daran, wie Anfang der Als junger Mensch nimmt man sich neunziger Jahre hier beispielsweise viel vor. Ich wollte damals nach Dres­ zum Herrentag Ausländer durch die den, das klappte leider nicht. Sportlich Stadt gejagt wurden. Das ist natür­ hatte ich auch ein paar Angebote, auch lich ein schlechtes Image. Ich denke im Fußballmanagement, aber das zer­ Magdeburg hat sich als Stadt positiv schlug sich alles. Bei einem günstigen entwickelt – was Arbeitsplätze, Urba­ Angebot hätte ich die Stadt schon ver­ nität und Grünflächen betrifft. Wir lassen. Aber, es hat alles seinen tiefe­ haben auch einige Großprojekte und ren Sinn. Ich bin gerne Magdeburger. natürlich das Sport-Image. Diesen Satz würde ich heute nicht mehr un­ Auf der Webseite der CDU/CSU wer- terschreiben. In den Neunzigern war den Sie mit dem Satz zitiert »Die das anders. Man kann also mit den

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­Wölfen heulen oder man betritt selbst Haben Sie Ihre Frau auch hier in die Bühne. Das war auch mein Ansatz. Magdeburg kennengelernt? Ich möchte aktiv werden und bin des­ Ja, und zwar genau hier in der AOK. halb Kommunalpolitiker geworden. Wie verbringen Sie ihre Freizeit in Politik ist wie Magdeburg? FuSSball eine Also der Terminplan ist jede Woche gut gefüllt. Viele Termine der Stadt, Mannschafts- auch Parteitermine und so etwas. sportart. Dann spiele ich selbst noch Fußball. Es ist nicht so, dass ich mich irgend­ wo mit ’nem Zigarillo ins Grüne ­setze. Höchstens zu Hause mal auf der Was haben Sie selber in Magdeburg ­Terrasse. schon explizit bewegt? Einer allein kann überhaupt nichts bewegen. Politik ist wie Fußball eine Mannschaftssportart. Einer allein wird nie Weltmeister, es sind immer elf Mann. Meine Vision ist immer noch die dritte Elbquerung im Süden der Stadt. Eine Brücke. Dafür kämpfe ich schon seit 15 Jahren. Dann stellt sich immer die Frage nach Verbünde­ ten und wie man das finanziert. Das ist wirklich eine Vision von mir. Natürlich­ versuche ich auch viel für den Sport zu machen. Ich bin auch Vorsitzender des Ausschusses für Bildung, Schule und Sport der Stadt Magdeburg, der unter anderem den Olympiastützpunkt, des­ sen Rahmenbedingungen sowie den Breitensport betrifft.

Was ist für Sie der schönste Ort in Magdeburg? Zu Hause. (lacht)

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Vista. schon?

Bernd Reinhold Gerhard Heynemann wurde 1954 in Magde­ burg geboren. Von 1980 bis 2001 war er sowohl in der DDR-Oberliga als auch in der Bundesliga als Schiedsrich- ter aktiv. Er pfiff zudem Spiele der Fußball-EM 1996 und der WM 1998. Noch bis 2001 wurde er als Schiedsrichter­ beobachter auf nationaler und internationaler­ Ebene ein­ gesetzt. 1997 trat er der CDU bei und ist seit 1999 Mitglied des Magdeburger Stadtrats. Von 2002 bis 2009 war er zu- dem Mitglied des Deutschen Bundestags. Seine Heimatstadt beschreibt er als interessant und lebenswert. Magdeburg habe eine große Perspektive. Lena Gehlfuß »Ich bin eine Schnitzelesserin.«

Kuchen, Torten und Cookies sind bei Lena Gehlfuß Herzensangelegenheiten. Die Liebe zum Backen wurde der 37-Jährigen mit in die Wiege gelegt. Zusammen mit Melanie Weber hat sie letzten Oktober den Weg in die Selbstständigkeit gewagt und das Café Herzstück eröffnet. Warum es nicht Streuselpeter heißt und weshalb sie beim Backen immer auf volles Risiko gehen, erzählt sie im Interview mit Inter.Vista.

Interview und Fotos: Kevin Grabowski

Lena Gehlfuß

Dein Sohn hält sich häufig im Laden ganz gern gebacken. Wir backen nach auf. Backt er denn auch gerne? handgeschrieben Rezepten von ihr. Ja, der liebt das wirklich. Er hat das Meine Familie zelebriert Geburtstage schon immer geliebt und fand es schön mit einer besonders schönen Torte. Da bei mir auf der Arbeitsfläche zu sitzen passt dann der Blumenstrauß zum und Küchenchaos zu veranstalten, also Geschenkpapier. Ich bin so aufge­ Eier aufzuschlagen oder mit Fondant wachsen. Wir backen und wir kochen und Perlen zu spielen. Der findet das gerne. Das ist meine Familie. Als dann toll, er wird das Herzstück-Imperium mein Sohn da war, wollte ich ihm zum mal übernehmen. (lacht) ersten, zweiten und dritten Geburtstag außergewöhnliche Torten machen. So Wie hast Du die Liebe zum Backen bin ich an diese Fondantfummelei und entdeckt? Motivtorten gekommen. Das Ganze Früher hat meine Oma väterlicherseits hat sich dann verselbstständigt.

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Die Fondanttorten sind sehr an- dass ich letztens in der Stadt war, um spruchsvoll zu gestalten. Hast Du mir Schuhe zu kaufen und dann doch dafür einen Kurs belegt? mit zwei Back­büchern nach Hause Durch viele YouTube-Tutorials und kam. Des Weiteren informieren wir Bücher und Zeitschriften habe ich uns viel im Internet. Zum Beispiel mir alles autodidaktisch angeeignet. ist Pinterest eine ­super Plattform um Ich habe alles gebunkert, was man so so etwas herauszu­suchen. Meistens besitzen kann zu dem Thema. Aber ­lassen wir uns aber wirklich nur vom am 30. Mai fahre ich nach Langen­ ­Titel inspirieren und setzten die Re­ feld zu Sharon Wee. Darauf freue ich zepte dann auf unsere Art und Weise mich schon ganz lange. Ich verfolge sie um. schon seit vielen Jahren auf Facebook. Sie bietet Tutorials und Masterclasses Wie viele Backbücher sind in Deiner an, die man sich kostenpflichtig her­ Bibliothek? unterladen kann. Jetzt bietet sie end­ Zusammen haben wir rund 150. lich einen Kurs in der Cake Company in Langenfeld an. Kommt dann irgendwann das eigene Backbuch? Ich frage mich Ja. Wir werden ein Herzstück-Back­ buch herausbringen. Das Beste da­ immer, wie etwas ran ist, dass unsere Follower ihre nur so gut Lieblings­rezepte einsenden können. schmecken kann. Die drei besten Lieblingsrezepte unse­ rer Fans kommen mit Foto ins Buch.

In welchen sozialen Netzwerken seid Wo sammelst Du Ideen für Rezepte? Ihr aktiv? Das ist ganz unterschiedlich. Also Instagram und Facebook. Die Herz- mittlerweile haben wir viele Ba­ stück-Seite auf Facebook war vorher sisrezepte für unsere Cheesecakes meine private. Die hieß vorher Herz und Cookies, die wir dann abwan­ aus Zucker. Da hatte ich bereits einein­ deln. Wenn das Basisrezept erst halbtausend Follower. mal funktioniert, dann hat man eine tolle Grundlage. Unser Cookie­ Wie häufig backst Du noch zu Hause? rezept ist übrigens unser Geheim­ Das ist weniger geworden. Wir ha­ rezept, das wir nicht rausgeben. ben Montag und Dienstag zu. Jeden Ansonsten besitzen wir wirklich ­Dienstag treffen wir uns um 9.00 Uhr eine Bibliothek an Backbüchern. und besprechen den Wochenplan, ­Bezeichnend dafür ist zum Beispiel, fahren einkaufen und fangen an, alles

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vorzubereiten. Wir arbeiten im Schnitt fähr 30 verschiedenen Kuchen haben. 70 Stunden in der Woche. Ich gehe Aus denen wählen wir dann unser morgens um 7.00 Uhr mit meinem Wochen­sortiment aus. Also wir haben Sohn aus dem Haus, bringe ihn zur immer einen Gugelhupf dabei, ein oder Schule und fahre hier her. Abends sind zwei Cheesecakes, zwei Blech­kuchen, wir vor 18.00 oder 19.00 Uhr nicht zu zwei vegane Varianten, Cupcakes und Hause. Wenn ich mal frei habe und Cookies sowie irgendetwas Torti­ eine Familienfeier anliegt, dann backe ges. Inspiriert von Bildern aus Back­ ich auch. Aber ich ärgere mich auch büchern, Pinterest und so weiter, wird nicht, wenn meine Schwester sagt dann entschieden, was wir in unseren »Heute backe ich den Kuchen«. Basis­kuchen hinein drapieren. Also in einer Schokoladenwoche kommt Sie sollen nicht dann ein weißer Schokoladenkuchen nur ins ­Herzstück raus. Wir hatten aber auch schon mal kommen, eine Zitrus­woche oder einfach nur das Motto »Grün«. Meistens entscheiden ­sondern auch wir aus dem Bauch heraus. zu uns, zu Lena und Melli. Probiert Ihr die Dinge vorher aus? Nein, das machen wir nicht. Volles Risiko. Das ist der Grund, warum wir Was passiert denn mit dem Kuchen, bei manchen einfach auf Basisrezepte der übrig bleibt? zurückgreifen, weil die funktionieren. Der Kuchen, der sonntags übrig bleibt, wird meistens unter uns aufgeteilt. Was passiert, wenn etwas übrig bleibt? Mein Freund arbeitet in Zielitz im Alle Milchprodukte sind gekühlt. Der Dreischichtsystem, und wenn er sonn­ Gugelhupf steht draußen unter einer tags keinen Kuchen mitbringt, dann Glocke, das tut dem nichts, dass der sind seine Kollegen traurig. Die ­ganze nicht gekühlt ist. Alles andere steht in Schicht wird mit Kuchen versorgt. An­ Kühlschränken. Die Kühlkette wird sonsten essen wir ja auch gerne ­Kuchen. nicht unterbrochen, wir können den Kuchen also auch noch am nächsten Wie variiert Ihr eure Grundrezepte? Tag anbieten. Bleiben jetzt mal nur Wir haben ein wöchentlich wech­ zwei Stücke übrig, dann bieten wir die selndes Angebot. Meistens bomben am nächsten Morgen nicht mehr mit wir uns von Sonntag bis Montag mit an, weil wir das auf der Platte einfach irgendwelchen Kuchenrezepten oder hässlich finden. Das wandert dann -bildern zu, so dass wir Dienstag­ eben in die Schichtkartons meines vormittag eine Auswahl von unge­ Freundes. Ab dem dritten Tag wür­

94 Lena Gehlfuß den wir auch das nicht mehr anbieten. fall muss die Familie mit ran. ­Meine Schon wegen der eigenen Qualitäts­ Schwiegermutter oder Melanies ansprüche. Der Kuchen soll nun mal ­Mutter sind häufig da und springen in so richtig schön frisch sein. der Küche mal mit ein. Mein Freund ist quasi zuständig für alles Grobe. Wie ist die Zusammenarbeit mit Wenn irgendetwas kaputt ist, muss er ­Melanie und Dir entstanden? das reparieren. Wenn schwere Sachen Ich war schon länger mit ihrer Mutter zu transportieren sind, muss er das befreundet und Melli suchte nach ei­ machen. Melanies Schwager kümmert nem Objekt für ihr eigenes Café. Sie sich um unser Kassensystem. Es ist hat sich auf das amerikanische Backen eben ein Familienbetrieb. spezialisiert, also Cookies, Cupcakes und Cheesecakes. Das ist ihr Metier. Es ist schön zu hören, dass die ganze Irgendwann war ich hier in der Nähe Familie Euch unterstützt. und wartete auf eine Freundin. Ich Stimmt. Mein Sohn freut sich im­ bin dann hier reingegangen, weil mir mer, wenn er den Tisch abräumen so kalt war. Beim Rausgehen sah ich, oder das Kaffeepulver vor der Mühle dass ein Nachmieter gesucht wird. In­ nerhalb von zwei Minuten hatte ich den Laden mit meinem inneren Auge eingerichtet. Ich wollte damals aber noch einen Rechtsstreit von einem Unfall abwarten. Von der Abfindungs­ summe würde ich dann den Schritt wagen, aber nicht allein. Als ich dann mal wieder bei ihrer Mutter war, er­ zählte sie mir, dass Melanie gerade dabei sei, diesen Laden zu kaufen und daraus ein Café zu machen. Ich war am Boden zerstört. Drei Tage haderte ich. Dann habe ich ihr quasi eine Be­ werbungs-SMS geschrieben. Melanie war gleich begeistert. Wir wollten das ­Gleiche und das bis heute.

Wie groß ist Euer Team? Unser Koch Mario ist unser einziger Festangestellter. Dann haben wir noch zwei junge Aushilfen. Im Zweifels­

95 Lena Gehlfuß

weg­pinseln darf. Das ist für ihn das Webseite heißt Fräulein Zimt und mei­ ­Größte. Dann sagt er immer, dass er ne hieß Herz aus Zucker. Wir spielten das Ladenkind sei. Dann kommt nach lange mit den Worten herum, fanden zwei Minuten immer schon die Frage, aber nichts Passendes. Mit der Familie wie viel er in der Stunde verdiene. machten wir dann ein Brainstorming. Der witzigste Name kam übrigens von Du hast erzählt, dass Du 70 Stunden meinem Schwager. Er schlug Streusel- in der Woche arbeitest. Wie gehst Du peter vor. Meine Schwester kam dann damit um? Wir machen das wirklich gerne. Mit­ unter habe ich, gerade was meinen Wir würden den kleinen Sohn anbelangt, ein schlech­ Laden nie alleine tes Gewissen, dass ich so gerne hier­ lassen. her fahre. Teilweise Sonntagfrüh um sieben. Andere wären bedient, dass sie den Sonntag nicht zu Hause verbringen können. Für mich ist es die ­schönste auf die Idee Café Herzstück. Da wir Zeit, weil alles so ruhig ist. Keiner ist das von Herzen gerne machen und das unterwegs und die ­Sonne geht auf. Je­ Stück steht für Kuchenstück. doch kollidiert dieses Glücksgefühl­ mit dem Wunsch, mehr Zeit mit dem Kind Was hebt Euer Café von anderen in zu verbringen. Es ist aber auch geplant, Magdeburg ab? dass wir mit unseren Stunden runter Ich würde nicht sagen, dass unser gehen. Es war uns bewusst, dass das Kuchen immer besser ist, aber in erste Jahr anstrengend wird. anderen Cafés finde ich Kuchen oft trocken, Cremes sind nur aus Butter Klingt nach dem perfekten Job. und manche Tees schmecken abge­ Ja, alles, was wir machen, ist für uns. standen. Manche Cafés arbeiten mit Wir müssen keinem Rechenschaft Fertig­produkten. In unserem Stil gibt ablegen. Bezeichnend dafür ist, dass es rein optisch nichts Vergleichbares ­Melanie mich einmal fragte, ob sie in Magde­burg. Und für die Größe einen Schal im Laden tragen könnte. unseres Ladens haben wir ein großes Selbstverständlich. Sie kann meinet­ Kuchen­angebot. In anderen ­Cafés ar­ wegen mit einem Clownskostüm da­ beitet Personal, aber die Chefin ist stehen. Das ist unser eigener Laden. nicht da. Wir würden den Laden nie allein lassen. Die Leute sollen zu uns Wie seid Ihr auf den Namen Herz- kommen, nicht nur um Kuchen zu stück gekommen? essen. Wir geben dem Laden eine Durch meine Schwester. Also Melanies persön­liche Note, indem wir Leute

96 persönlich begrüßen und uns an ihr len würden, wenn wir nicht investie­ Lieblingsgetränk erinnern oder an ren. Bei einem zweiten Laden müssten das, was sie gerne mögen. Sie sollen wir uns trennen und das können wir nicht nur ins Herzstück kommen, son­ auf keinen Fall. Wir ziehen es aber in dern auch zu uns, zu Lena und Melli. naher Zukunft mal in Erwägung.

Ihr bietet auch vegane Kuchen an. Was ist Dein Lieblingsrezept? Bist Du selber Veganerin? Weiße Schokoladen-Himbeer-­Cookies. Ich nicht. Ich bin eine Schnitzel­ Die liebe ich wirklich. Man weiß ge­ esserin. Melanie ist Vegetarierin und nau, wie die schmecken. Dann liegen hat sich auch eine ganze Zeit lang die in der Küche, sind noch lauwarm vegan ernährt, damit sie darüber ge­ und du gehst nach hinten und beißt nau bescheid weiß. Und ich ärgere sie hinein. Ich frage mich immer, wie dann gerne. (lacht) ­etwas nur so gut schmecken kann.

Ihr habt im Oktober 2015 das Café eröffnet. Schon darüber nach­gedacht, Euch zu erweitern? Im Moment ist der Gedanke erst­ mal weggeschoben. Wir wollen ja ­eigentlich nur Kuchen backen. Unser Finanz­berater sagt aber auch immer, dass wir zu viel an das Finanzamt zah­

Vista. schon?

Lena Gehlfuß ist 1979 in Magdeburg geboren. Sie machte eine Ausbildung zur Sport- und Fitnesskauffrau. Außerdem studier- te sie Bildungs­wissenschaften, konnte dies jedoch aufgrund eines Unfalls nicht abschließen. Während ihres Genesungs- prozesses entschloss sie sich zusammen mit Melanie Weber das Café Herzstück in Stadtfeld zu eröffnen. Sie ist gern im ­Grünen wie zum Beispiel im Stadtpark oder in Prestau. Magde- burg beschreibt sie als jung und kulinarisch.

97 Täve Schur »Wenn ich damals gedopt hätte, wäre ich heute wohl krank.«

Gustav-Adolf Schur ist einer der bekanntesten Sportler aus der DDR. Legendäre Radrennsiege bei Olympischen Spielen, Weltmeisterschaften und der Friedensfahrt machten den heute 85-Jährigen im Osten berühmt. Noch heute ist er aktiv, sportlich aber auch lokalpolitisch. Inter.Vista erzählt er, wie er mit Ruhm, Doping und den unzähligen Verehrerinnen umging.

Interview und Fotos: Max-Richard Finger und Julia Bordunov

Täve Schur

Wann haben Sie Ihr erstes Fahrrad Ding nie wieder fahre. Aber dann er­ bekommen und wer hat Ihnen das holt man sich über Herbst und Winter Fahren beigebracht? und im neuen Jahr war alles wieder Das habe ich mir selber während der vergessen. Zeit des Zweiten Weltkrieges beige­ bracht. Mein erstes Fahrrad war das meines Vaters. Immer wenn er es nicht Aus mir wurde brauchte, habe ich es mir geschnappt. man nicht klug.

Mit 19 Jahren haben Sie mit dem Profisport begonnen. Nach heutigen Verhältnissen relativ spät. Wie sind Haben Sie ihren Ruhm immer genie- Sie zum Radsport gekommen? ßen können oder wurde es ab und zu Zur damaligen Zeit nannten wir es auch zu viel? zwar Profisport, aber das war es im Den Menschen gegenüber, die meinen Grunde nicht. Ich hatte bereits wäh­ Weg verfolgten und begleiteten, hatte­ rend der Schulzeit eine gute sportliche ich immer eine gewisse Verpflich­ Ausbildung genossen. Ich war bei­ tung. Ich erhielt so viel Zuspruch, spielsweise immer ein hervorragender das zeigte mir, dass das was ich tat Läufer. Im Krieg lernten wir, dass ein notwendig und interessant war. Ich guter Deutscher jemand sei, der den habe immer sehr viele Briefe von Fans anderen ein paar vor die Schnauze bekommen. Auch Liebesbriefe und haut. Aber so jemand war ich nicht. Heirats­angebote bekam ich. In mehr Erfolg sah ich darin, besser zu sein als 4.000 ­Briefen ist das im Museum als die anderen. Nach dem Krieg ent­ nachzulesen. (lacht) stand die Friedensfahrt. Die war ein gewaltiger Ansporn für mich. Da ein­ Und, wie viele Verehrerinnen hatten mal mitfahren. Aber natürlich war das Sie? erst mal gewaltig hochgegriffen. Ich Das weiß ich nicht, aber mir schien begann zunächst an ganz normalen, es eine ganze Menge zu sein. Unsere organisierten Rennen teilzunehmen. ehrenamtliche Mitarbeiterin des Mu­ Bereits mein zweites habe ich mit mei­ seums hat die Briefe alle gelesen und nem eigens zusammengebastelten Rad die wichtigsten herausgesucht. Die be­ gewonnen. Und schon hatte ich den finden sich jetzt in 46 Aktenordnern. Ruf Höheres erreichen zu können. In Folge dessen nahm ich dann an der Werden Sie immer noch häufig auf DDR-Rundfahrt teil und ab 1952 an der Straße erkannt? der Friedensfahrt. Zunächst dachte Ja, überall. Ich versuche immer, mich ich danach, dass ich dieses sauharte vernünftig zu verhalten. (lacht)

100 Täve Schur

Was wollen die Menschen von Ihnen?­ Leipzig hat mir beim Verstehen des Fotos, Autogramme? Zusammenwirkens zwischen Physis Nein, die geben zu erkennen, dass sie und Ernährung sehr geholfen. mich erkennen. Meistens sehe ich aber zuerst, dass ich erkannt werde und Hatten Sie im Laufe Ihrer Karriere grüße als Erster. Frauen gegenüber viele Freundinnen? habe ich diese Verpflichtung sowieso. Ach, die hätte ich wohl haben können. Hatte ich aber nicht. Aus mir wurde Ihnen ist der Sport immer noch man nicht klug. Das war aber eher wichtig. Die Ernährung auch? ein Glücksfall für mich. Die Bean­ Ja, alles zusammen. Man muss wis­ spruchungen zu meiner Zeit waren so sen, was einen zu Höchstleistungen hoch, dass dafür kaum Zeit blieb. bewegt. Ich habe mich immer an die Normen des Leistungssports gehalten Wie haben Sie denn Ihre Frau und zum Beispiel ordentlich abtrai­ kennen­gelernt? niert. Viele machten das nicht. Mein Meine Frau lernte ich in einem Urlaub Studium der Sportwissenschaften in kennen. Mit ihr lebe ich bis heute zu­

101 Täve Schur

sammen. Es gibt zwar hin und wieder Ihr Sohn Jan ist nach dem tsche- Unstimmigkeiten, aber wo gibt es die chischen Radrennfahrer Jan Vesely nicht. (lacht) ­benannt. Warum? Das ist eine ganz einfache Sache. Wenn man seinen Namen hunderte, Das groSSe Geld tausende Male schreibt, beispielswei­ hat alles im Griff. se auf Autogrammkarten, dann ist das ermüdend. Mein Vorname ist ja eigentlich Gustav-Adolf. Zum Glück entstand dann der Spitzname unter Zu Ihrer aktiven Zeit war die Tour dem mich jeder kennt, das hat mir de France das große Konkurrenzren- einiges erleichtert. Ich dachte mir, nen zur Friedensfahrt. Haben Sie die wenn der Junge auch mal Erfolg hat, Tour verfolgt? was ich mir ja wünschte, dann bietet Eigentlich nicht. Erstens hatten wir sich der ­kurze Vorname meines ehe­ keinen Fernsehapparat und zweitens mals ­ärgsten Konkurrenten und guten war sie einfach nicht so beliebt bei Freundes Jan Vesely an. 2003 ist er lei­ meinen Rennfahrerkollegen und mir. der verstorben. Zu meinen Anfangszeiten als Ama­ teur hatte ich einen Gegner, Hennes Inwiefern waren Sie daran beteiligt, Junkermann. Wir waren etwa gleich dass Ihr Sohn Jan auch ein erfolg­ stark. Der ist ganz erfolgreich die Tour reicher Radsportler wurde? de France gefahren. Ich habe mich Eigentlich wenig. Er fing mit sechs Jah­ vor ihm platzieren können, bei den ren in Leipzig mit Judo an. Das gefiel Rennen die wir zusammen fuhren. ihm dann nicht mehr. Er wollte ­lieber Beispielsweise zweimal bei Rund um schwimmen. Das passte ganz gut, weil Dortmund. Also wäre ich bei der Tour meine Frau mal Schwimmerin war. de France wahrscheinlich auch nicht 1970 zogen wir dann von Leipzig nach schlechter gewesen. Nichtsdestotrotz Magdeburg um. Hier stieg er sofort ist es ein sauhartes Ding. Wenn ich mir wieder beim Schwimmen ein, fing das heute angucke. Bergabfahrten, wo aber auch an, sich für Radsport zu die Fahrer mit 80 km/h runterrasen. begeistern. Da mischte ich mich erst­ Das hätte ich nicht unbedingt machen mals ein. Er wollte nämlich gleich bei wollen. Wir hatten solche Abfahr­ Dynamo in der Nähe unseres Wohn­ ten auch. Aber nicht in einer solchen ortes anfangen. Ich sagte ihm, wenn Menge und nicht ganz so gefährlich. er was werden wolle, dann müsse er durch die ganze Stadt zu meinem al­ ten ­Verein. Und das hat gefruchtet. Erst hat er sich durch gute Leistungen

102 Täve Schur ein Rad erarbeitet, später musste er kau und über Nedlitz wieder zurück. sich dann gegen die Dynamo­ -Fahrer Das sind um die 60 bis 70 Kilometer. durchsetzen und war stolz auf seine Das aber auch nur einmal wöchent­ Leistung. Ich bin heute noch der Mei­ lich. nung, alles richtig gemacht zu haben. Er hat sich gut entwickelt, ist Olympia­ 1956 und 1960 haben Sie an den sieger geworden und heute als Trainer Olympischen Sommerspielen in in Frankfurt an der Oder tätig. Melbourne und Rom teilgenommen. Die DDR und BRD traten damals Viele Ihrer Räder sind in Ihrem unter gemeinsamer Flagge an. Wie ­Museum in Kleinmühlingen ausge- war das Verhältnis untereinander? stellt. Haben Sie ein Lieblingsstück, Zu den Sportlern aus dem Westen soll­ welches Sie nie hergeben würden? ten wir eine gewisse Distanz wahren, Ja. Das war ein Geschenk meiner um keine engen Kontakte aufzubauen, Jungs. Jan war unter anderem in einem da es damals viele Abwerbeversuche italienischen Rennstall unter Vertrag gab und einige diesen erlagen. Dazu und ich hatte immer mit einem guten gehörte ich nicht. In Melbourne wa­ italienischen Rad, mit einer De Rosa ren wir eine bestens trainierte Mann­ geliebäugelt. Schließlich schenkten schaft. Man muss die Stärken seiner mir meine Söhne eine. Allerdings nur Gegner kennen und wissen, welche den Rahmen, den Rest baute ich mir Leistungen sie schon im Frühjahr er­ selbst zusammen. Der Rahmen ist al­ brachten. Deswegen wusste ich auch, lerdings ein absolutes Unikat, von ei­ wie man sich zu verhalten hatte, wenn nem italienischen Rahmenbauer ent­ man gegen einen starken Gegner an­ worfen. Diese Rennmaschine habe ich tritt. Die Lage war außerordentlich heute noch, aber gut weggeschlossen. kompliziert und politisch auch an­ (lacht) gespannt. Wir belegten den dritten Platz in der Mannschaftswertung und Wenn Sie mit dem Rad unterwegs erhielten damit die Bronze-Medaillie. sind, was ist Ihre Lieblingsstrecke in 1960 in Rom belegten wir den zweiten Magdeburg? Platz und damit gewannen wir die Sil­ Ich fahre nie nach Magdeburg, höchs­ bermedaille. Darauf sind wir bis heute tens, wenn ich zum Radladen muss. sehr stolz. Durch meinen Weltmeister­ Aber sonst gar nicht. Wenn ich mit sieg wurde sehr auf uns geachtet. Am meinem Freund rausfahre, dann tref­ Ende belegten wir den zweiten Platz. fen wir uns an der Kreuzung bei der Wir sind bis heute noch stolz darauf. B1. Von dort aus fahren wir nach Kör­ belitz, anschließend durch den Wald nach Stegelitz, durch Möckern, Leitz­

103 Täve Schur

Was stand bei Ihnen im Mittelpunkt. man nicht mehr rauskommt. Mutter­ Die Leidenschaft zum Sport oder der und fünf Kinder. Es knallte und man Drang nach Erfolg? kriegte die Druckwellen mit. Die Weder noch. Es war die Verpflich­ ­Ziegel flogen hoch und landeten im tung. Meine Leistung, mein Verhalten, Vorgarten, die Scheiben flogen raus. meine Moral. Ich stand in der Öffent­ Sowas prägt sich ein. Das vergisst man lichkeit. Ich habe an die 4.000 Briefe nicht. bekommen. Von jedem Geburtstag habe ich noch eine Kiste Briefe. Die Sie waren politisch immer sehr enga- konnte ich noch gar nicht alle lesen. giert, aktuell noch im Ortschaftsrat. Unter meinem Schreibtisch steht auch Wie sehen da Ihre täglichen Auf­ noch eine Kiste von meinem letzten gaben aus? Geburtstag. Die vielen Briefe habe ich Tägliche Aufgaben sind es nicht. mir angesehen, um zu ermitteln, wo ­Momentan verändern wir weniges, Geld drin ist. Ich habe 1.000 Euro aus weil das Geld in den Kommunen fehlt. Briefen geholt. Die sind alle an unser Vor einigen Jahren haben wir noch Museum gegangen. Einen Namen im etwas geändert Wege verbessert und Bewusstsein der Menschen zu haben, auch soziale Einrichtungen. ist eine hohe Verpflichtung. Und das ist manchmal erdrückend. Mit Ihrem Bundestagsmandat be- traten Sie auch eine weitaus ­größere Dann könnten die ­politische Bühne. Wie haben Sie Leute sagen, dass ­diese Zeit in Erinnerung? der Täve auf die Ich habe sie eher in schlechter Erin­ nerung. Ich wollte nie wieder in ein Erde gefallen sei. solch großes Gremium rein wie da­ mals zum Beispiel die Volkskammer. Das bedeutet, sich in so viele Dinge Konnten Sie Ihre jungen Jahre über- einzu­arbeiten, mitreden zu müssen. haupt genießen, oder war der Druck Man hat auch seine Redenschreiber zu hoch? und andere Unterstützer. Im Bundes­ Ich hatte immer Druck. Ich war das äl­ tag wurden mir die Reden vorbereitet. teste von fünf Kindern. Ich habe zwei Wir haben sie dann gelesen und über­ Bombenteppiche im Krieg erlebt. Als arbeitet. Für die Tätigkeiten dort gab Jugendlicher war ich auch noch der es einen Haufen Geld. Ich habe viel Überzeugung, dass die Deutschen zu gespendet. Trotzdem ist das Geld jetzt Recht Krieg führen. Aber ich bin eines weg. Meine Frau und ich fragen uns Besseren belehrt worden. Ich saß in bis heute noch, wo es ist (lacht). Schuttbunkern, wo wir dachten, dass

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Täve Schur

Wie sehen Sie die politische Entwick- Da hat sich Trömer hingestellt und lung in Sachsen-Anhalt? Besonders gesagt, dass sie ihn zu DDR Zeiten nach der letzten Landtagswahl? zum Doping gezwungen haben und Die ganze politische Entwicklung un­ dass er durch Nierenversagen sogar serer Welt hängt vom Geld ab. Das Blut spuckte. Ich dachte mir, dass es große Geld hat alles im Griff. Da kön­ eine Provokation ist, er lachte näm­ nen wir machen was wir wollen. lich. Aber um nochmal drauf zurück zu kommen. Wenn ich damals gedopt 2011 war Ihr Name in aller Munde,­ hätte, wäre ich heute wohl krank. als es um die Neuaufnahmen in die Hall of Fame deutscher Sportler ging. Wo waren sie am 9. November 1989? Sie selbst waren zwar nominiert, Ich weiß nicht mehr genau wo ich ­wurden nach langer Dis­kussion aller­ war. Um ehrlich zu sein habe ich den dings nicht aufgenommen. Wie sehr Mauer­fall gar nicht richtig mitge­ ärgern Sie sich heute noch darüber? kriegt. Ich habe das im ersten Moment Für mich ist es noch immer verwun­ auch gar nicht richtig ernst genom­ derlich. Ich ärgere mich schon. Es men. Ich dachte mir immer, dass die ist eine Blamage für die Verantwort­ eine Meise haben. Und fragte mich, lichen, denn es wurde mir nie richtig wer sich hier überhaupt beschweren begründet. Ich bin einfach ein Mensch, will. Wir hatten Arbeit, den Menschen der gerade heraus sagt, wie er die Welt ging es sozial gut. Wir hatten keine und Politik sieht. Ich sage das, was ich Sorgen. Ich brauche das aber nicht weiß und denke. Doch das kann nicht weiter auszuführen. der Grund gewesen sein. Zu Ihren Geburtstagen gibt sich im- Haben Sie Verständnis für die mer noch die Prominenz aus Gesell- Kritiker, die durch das systema- schaft, Politik und Sport die Klinke tische Doping der DDR teil­weise in die Hand. Können Sie die Feier- mit gravierenden­ Folgeschäden lichkeiten überhaupt genießen? zu kämpfen haben? Beispiels­weise Das würde ich mir schon mal wün­ Bahnradfahrer Uwe Trömer mit schen. Vielleicht passiert es ja, wenn beidseitigem Nierenversagen. ich 100 Jahre alt bin. Da muss man Zuerst einmal ist die Doping-Frage aber kämpfen, um dahin zu kom­ eine politische Frage geworden. Als ich men. Dann sind wahrscheinlich einige in die Hall of Fame nicht aufgenom­ ­Leute nicht mehr da, die zu meinem men werden sollte, veröffentlichten 85. Geburtstag nach Kleinmühlingen wir Zuschriften, die ich von der Bevöl­ kamen. Auf jeden Fall war das eine kerung erhielt, in einer ­Broschüre. Die harte Belastung. Eine sehr harte sogar. habe ich dann in Berlin vorgestellt. Ich konnte mich gar nicht richtig um

106 Täve Schur die kümmern, von denen ich mir ge­ wünscht hatte, dass sie kommen.

2005 wurde ein Asteroid nach Ihnen benannt. Wurden Sie vorher darüber in Kenntnis gesetzt? Wie haben Sie sich dabei gefühlt, als sie davon er- fahren haben? Die Sternwarte rief an und fragte, ob ich einverstanden bin. Ich habe ihnen gesagt, dass es für mich eine Ehre ist. Aber am wichtigsten war mir, dass er nicht auf die Erde fallen kann. Das mussten sie mir bestätigen. Denn dann könnten die Leute ja sagen, der Täve sei auf die Erde gefallen.

Vista. schon?

Gustav-Adolf, genannt Täve, Schur ist am 23. Februar 1931 im Biederitzer Ortsteil Heyrothsberge geboren. Mit 19 Jahren begann sein Aufstieg im Radsport. Die Bilanz seiner Erfolge ist beeindruckend: zweimaliger Gewinner der Friedensfahrt, Olympiazweiter­ im Mannschaftszeitfahren 1960, Olympia­ dritter in der Mannschaftswertung 1956. Schon zu DDR-­Zeiten politisch engagiert, betrat er nach der Wende nochmal die ­politische Bühne. Zwischen 1998 und 2002 saß er für die Frak­ tion der PDS im Bundestag. Heute lebt er mit seiner Frau in Heyrothsberge. Zu seinen Lieblingsorten in Magdeburg zählt unter anderem das Hundertwasserhaus.

107 Raimund Widra »Ich hab viel Zeit damit verbracht, unglücklich verliebt zu sein.«

Wenn Raimund Widra auf der Bühne steht, dann atmet das Publikum mit. Er kennt »die Bretter, die die Welt bedeuten« und er kennt das Gefühlsleben des Werther. Privat und auf der Bühne. Er kann schauspielern, tanzen und sogar ein bisschen singen. Seit 2011 ist er am Theater Magdeburg. Ein Gespräch über unglückliche Liebe, Discgolf und seine Zeit bei Schloss Einstein.

Interview und Fotos: Sara Simons

Raimund Widra

Woran arbeitest Du gerade? nicht ganz artfremd ist und habe mir An einem Stück, das Der Wij heißt. diese Fächerkombination ausgesucht. Das wird im Rahmen des Theater­festi­ Mehr oder minder wahllos. (lacht) vals Wilder Osten – Ereignis Ukra­ine Ich war ein ziemlicher Schmalspur­ aufgeführt, bei dem von ukrainischen student. Aber bin ja dann doch zum Regisseuren drei Stücke der ukrai­ Glück erlöst worden. nischen, zeitgenössischen Dramatik inszeniert werden. Es gibt aber auch Meine Oma sagte Lesungen und Konzerte. immer »Raimi« zu Es heißt ja immer, Schauspielerei sei mir. Das ist doch eine brotlose Kunst. Wie siehst Du niedlich, oder? das? Das ist bestimmt größtenteils richtig.­ ­Allerdings ist der Vorteil hier in Deutschland, dass wir im Verhältnis Was würdest Du jemandem raten, zu anderen Ländern eine sehr gute der Schauspieler werden will? Förderung haben und der Theater­ Ich rate dazu, es erstmal an einer betrieb ermöglicht Schauspielern zu­ staatlichen Schule zu probieren. Man mindest ein gesichertes Einkommen. muss sich darauf einstellen, dass es Aber es gibt uns wie Sand am Meer eine Zeit lang dauern kann, bis man und die meisten haben ganz schön zu angenommen wird. Es sind halt un­ knabbern. Ich habe in Leipzig Schau­ endliche ­viele Bewerber und es gibt spiel studiert und hier in Magdeburg wenige Plätze an den Schulen. Ich glücklicherweise gleich im Anschluss hatte zum Beispiel eine Kommilito­ etwas gefunden. nin, die hat 17 Mal vorgesprochen. Ich weiß nicht, ob ich dafür den Atem Du hast vor Deinem Schauspiel­ gehabt hätte. Für Frauen ist das noch studium noch vier Semester Germa­ um einiges schwieriger, weil weniger nistik und Philosophie in Deiner Plätze an Mädels vergeben werden. Es Heimatstadt Potsdam studiert. Wie gibt aber doppelt so viele Frauen, die kam es dazu? sich bewerben, im Verhältnis zu den Ich hatte nach dem Abitur an der ­Männern. Aber sie hat es geschafft und Schauspielschule vorgesprochen, da ist eine tolle Schauspielerin geworden, bin ich nicht weitergekommen. Ich sie hat sich nicht abschütteln lassen. dachte mir, dass es eine Weile dauern wird, bis es mit einem Platz an einer Wie oft hast Du vorgesprochen? staatlichen Schauspielschule klappt. Dreimal. Ich wollte dann etwas studieren, das

110 Raimund Widra

Und womit? haben, haben uns Kinder auch wie Unter anderem mit dem Ferdinand Erwach­sene behandelt. In dem Alter aus Kabale und Liebe. Diese Rolle hab findet man das natürlich super. Der ich auch im Studium gespielt und ich Dreh dauerte zwar manchmal länger, hab sie beim Vorsprechen am Theater es war auch mal anstrengend. Aber ich Magdeburg gezeigt. Ich wurde genom­ habe das immer genossen und nie als men und mein erstes Stück war dann große Arbeit empfunden. Kabale und Liebe, mit mir als Ferdi­ nand. Da hat sich für mich irgendwie War Dir zu der Zeit schon klar, dass ein Kreis geschlossen. Du Schauspieler werden willst? Nein. Zur Leidenschaft wurde es tat­ Du hast für Film und Fernsehen sächlich erst, als ich anfing, in einer ­gearbeitet. Wo ist für Dich als Schau- Schul-AG Theater zu spielen. Das spieler der Unterschied zur Bühnen- war echt eine tolle Truppe mit einer arbeit? sehr engagierten Leiterin. Damit steht Der größte Unterschied ist, dass man und fällt das ja. Für ein Schultheater beim Theater sechs Wochen Pro­ wurde das wirklich sehr ambitioniert benzeit hat, in der das gesamte Team betrieben. Wir hatten zum Beispiel ­einen Abend entwickelt. Wenn man aber dreht, muss die Rolle fertig sein, wenn man ans Set kommt. Die Rolle erarbeitet man meist für sich alleine. Das ­Drehen ist auch sehr viel tech­ nischer. Man muss zum Beispiel auf den Anschluss achten. Bei welchem Satz hab ich die Kaffeetasse hoch­ genommen? Oder mit einem Auge auf­passen, dass man nicht über die Markierung tritt und man muss trotz­ dem ein organisches­ Spiel zeigen und auf­passen, nicht wie ein Roboter zu ­wirken.

Du warst auch mal bei Schloss Einstein.­ Hat es Dir am Set gefallen? Ja, total. Ich war ab der ersten Folge dabei, der erste Cast sozusagen. Das war ein Haufen netter, junger Leute. Die Erwachsenen, die da gearbeitet

111 Raimund Widra

zwei Maskenbildner. Das war ein älte­ Wie wichtig ist denn das Publikum? res Ehepaar, die früher bei der DEFA Die meisten Abende leben vom Dialog ­arbeiteten und die uns bei den Auffüh­ mit dem Publikum. Das kann einen rungen immer schminkten. Das war schon anheizen, wenn die Zuschau­ natürlich toll. er viel lachen und sich amüsieren. In Momenten, die sehr ernsthaft sind, Was ist für Dich eine gute Vor­stellung? gibt es einen Zustand, bei dem man Wenn ich das Gefühl habe, dass ich auch bei absoluter Stille merkt, dass die Sachen sehr aktuell entwickele. Die das Publikum sehr aufmerksam ist, Sachen sind alle geprobt, aber wenn dass es mitgeht und mitatmet. Das ist man dem Spielpartner immer neu zu­ sehr beglückend. hört und dadurch das Spiel lebendig ist, dann ist das eine gute Vorstellung. Bei welchen Deiner Rollen ist das Es gibt aber auch Tage, an denen das ganz besonders der Fall? nicht so gut klappt. Vermutlich fällt es Der Werther geht sehr nach vorne. Das dem Publikum gar nicht so auf, aber ist ein Monologabend, und der lebt für einen selbst ist das ein doofes Ge­ natürlich davon, dass man mit dem fühl. Publikum arbeitet. Der ist für junge

112 Raimund Widra

Leute sehr geeignet, weil das Thema Das wäre nicht so gut für meine Karri­ ›unglückliche Liebe‹ gut passt. Das ist ere, weil ich nicht so ein guter Sänger ja nicht nur ein Erwachsenenthema. bin. (grinst)

Was fasziniert Dich persönlich an Ich fand es ganz gut. der Rolle? Ich hab in dem Stück nur eine Zeile Ich glaube diese Gefühlslage des alleine gesungen und sonst immer nur Werther kennen ganz viele. Ich hab die Lippen bewegt. (lacht) Nein, nicht viel Zeit damit verbracht, unglück­ ganz. Aber das ist fast mein musikali­ lich verliebt zu sein. Das kann ja sches Maximum. (lacht) sehr ­große Energien freisetzten, auch wenn man nicht zurück geliebt wird Du arbeitest, wenn andere frei ­haben. und wenn es in der Schwebe ist. Über Schränkt das Dein Privatleben ein? weite ­Strecken kann man sich so­ Die meisten und intensivsten Kontak­ gar sehr wohl darin fühlen, weil es te hab ich zu den Leuten am Theater. ­motiviert und man sich sehr lebendig Ich hab aber auch ein paar Kontakte vorkommt. Aber dann gibt es einen außerhalb. Die weiß ich besonders zu Punkt, ab dem es ­scheiße wird. Man schätzen, wenn es im Theater stressig will, dass das Gefühl erwidert wird. ist und es mal nicht so gut läuft. Es ist Wenn das nicht passiert, dann macht tatsächlich nicht so einfach, Kontakte­ einen das fertig. Im Fall des Werther außerhalb zu pflegen. Allein schon ist es genau so, er kann und will mit durch meine Arbeitszeiten. dieser Zurückweisung nicht umgehen. Soweit hat das bei mir aber zum Glück Wenn Du mal so einen richtigen noch nicht gereicht. Scheißtag hast, wer tröstet Dich dann? Seit deiner Kindheit hast Du getanzt,­ Mein Fernseher und Uno Pizza. Die Ballett und lateinamerikanischen beiden können das ganz gut. (lacht) ­Turniertanz. Gehst Du dem noch Aber natürlich auch meine Freunde nach? und meine Familie. Nein, nicht mehr aktiv, aber auf ­privaten Feten manchmal sehr aus­ Du bist seit 2011 in Magdeburg. Was giebig. Ich kann das tatsächlich ganz gefällt Dir an der Stadt? gut, muss ich ehrlich gestehen. (lacht) Magdeburg ist sehr grün und der Fluss ist super. Ganz ehrlich, ich mag sogar Du spielst in dem Musical Ein Käfig die Leute. Nicht alle gleichermaßen, voller Narren mit. Wie gefällt es Dir? aber ich bin auch so ein Ossi und Sagen wir mal so: Ich würde Musicals das leicht schlecht Gelaunte, Phleg­ nicht ausschließlich machen wollen. matische ist mir als Brandenburger

113 Raimund Widra

nicht fremd. Da trage ich sehr viel Was ist das? von in mir und dafür habe ich große Eine Randsportart. Eine Mischung Sympathien. Hier dauert es vielleicht aus Frisbee und Golf. Man hat meh­ ein bisschen länger, mit den Leuten rere Bahnen, einen Abwurfpunkt in Kontakt zu kommen. Aber wenn und Frisbeescheiben. Die Scheiben man sich beschnuppert, angefreundet sind allerdings flacher und kleiner im hat, dann sind das sehr verbindliche Durchmesser. Die kann man sehr weit Freundschaften. Das schätze ich sehr. werfen. Es ist dann dasselbe Prinzip wie beim Golf. Man muss vom Ab­ Man will, dass wurfpunkt in möglichst wenigen Ver­ suchen zu einem Fangkorb kommen. das Gefühl er- Es ist wie spazieren gehen und zwi­ widert wird. schendurch ein bisschen Scheiben Wenn das nicht werfen. Man macht sich nicht tot, aber passiert, dann man ist an der frischen Luft. macht einen das Willst Du in Magdeburg bleiben, fertig. oder willst Du nochmal weg? Ich geh nach dem Sommer nach Leipzig.

Was war Dein erster Eindruck, als Hast Du da ein Engagement? Du hier angekommen bist? Nein, ich bin dann freischaffend. Zum ersten Mal in Magdeburg war Ich probiere jetzt mal aus, wie das so ich tatsächlich zum Vorsprechen am ist. Ich werde gastieren, also immer Theater. Das war im Herbst, es war stücke­weise an unterschiedlichen The­ schlechtes Wetter, ich musste am Da­ atern spielen. Aber auf lange Sicht will maschkeplatz umsteigen. Das ist kein ich wieder fest in ein Ensemble. schöner Ort. Das war der erste Ein­ druck. Dann war ich im Café Flair Hast Du nicht ein bisschen Schiss frühstücken und die Gegend da ist ­davor, freiberuflich zu arbeiten? auch eher so ein Unort. Total. Ich kenne das nicht. Man muss sich kümmern und netzwerken, damit Hast Du abgesehen vom Strudelhof die Leute wissen, dass man gastieren eine Ecke, wo Du gerne bist? will. In einem Theaterensemble wird Ich bin gerne Zuhause, ich hab eine man einfach besetzt und muss sich sehr schöne Wohnung in Stadtfeld. um nichts kümmern. Aber wenn man Ich bin auch gern im Elbauenpark und freiberuflich arbeitet, kann man sich gehe meinem Hobby nach: Discgolf. selbst aussuchen, was man macht. Ich hab nach dem Sommer zum Beispiel

114 Raimund Widra ein Engagement für eine Produktion ten ein paar Leute »Atze« zu mir, weil in Stuttgart. das mein Figurenname bei Schloss Einstein war. Meine Oma sagte immer Liest Du gerne? »Raimi« zu mir. Das ist doch niedlich, Ja. Mir gefiel zum Beispiel das Buch oder? Der König aller Krankheiten. Das ist eine Biografie der Krankheit Krebs. Ich hab zum Glück im nahen Um­ feld keinen­ Betroffenen. Aber ständig sterben Leute an dieser Krankheit und jeden­ tangiert das in irgendeiner Form.

Ist das etwas, wovor Du große Angst hast? Nicht konkret. Aber ich bin als Schau­ spieler sehr auf meinen Körper ange­ Vista. schon? wiesen. Die Art, wie ich spiele, ist sehr körperlich. Ich hatte bis jetzt immer Raimund Widra, ­geboren vollen Zugriff darauf. Leider behandle 1985, blieb nach seinem ich meinen Körper nicht als so wert­ Abitur in seiner Heimat- voll, wie er eigentlich ist. stadt Potsdam, um Germa­ nistik und Philosophie­ zu Wenn Du in den Urlaub fährst, studieren. Dieses Studi- dann lieber in die Berge oder an den um war für ihn zunächst Strand? nur eine Notlösung, In die Berge. denn eigentlich wollte er Schauspieler werden. Warum? 2008 nahm ihn die Schau- Ich bin einfach kein Strand-Typ. Meer spielschule in Leipzig an. ist schon gut, aber ich kann nicht den Drei Jahre später hatte ganzen Tag am Strand liegen. In der er seinen Abschluss als Sonne kann ich nicht lesen, es ist mir Schauspieler in der Tasche zu warm. Ich bin halt so ein Nord­ und fing direkt danach im europäer, da überhitzt der Organis­ Magdeburger Theater an. mus. (lacht) Die Stadt beschreibt er als liebenswert, launisch, mit Hast Du einen Spitznamen? ›Luft nach oben‹. Keinen etablierten. In der Schule sag­

115 Sebastian Ebeling »Schwule können ausgelassener feiern.«

Jungs und Mädels, High-Heels und Sneakers, Cocktails und Bier – eine klassische Rollenverteilung. Doch das ist hinter den Toren vom einzigen Schwulenclub Magdeburgs schwer zu finden. Wer dem Boys’n’Beats einen Besuch abstattet, findet auf alle Fälle: ausgelassene Partys, spannende Menschen und seinen Besitzer Sebastian Ebeling. Mit ihm durfte Inter.Vista hinter die Kulissen des Nachtlebens blicken und erfahren, dass das Leben nicht nur eine einzige Party ist.

Interview und Fotos: Anne Streicher

Sebastian Ebeling

Beschreib doch mal den typischen Findest Du Magdeburg tolerant Boys’n’­Beats Stammgast? gegen­über Homosexuellen? Die meisten sind ausgeflippt und gut Teils, teils. In erster Linie würde ich drauf. Wenn sie kommen, dann wol­ sagen: Ja klar! Homosexualität ist das len sie Spaß haben und bringen gute Normalste der Welt und man muss da­ Laune mit. Das heißt, sie sind optisch rüber gar nicht mehr groß diskutieren. entsprechend hergerichtet und voller Aber man wird ja oftmals eines Besse­ Drang, Party zu machen. Um viel­ ren belehrt. Es gibt nun leider immer leicht auch jemanden für die Zukunft noch Leute, die ziemlich altertümlich zu finden. denken und das als schlimm oder als Krankheit ansehen.

Toleranz ist Brauchst Du starke Türsteher? bei uns groSS Nein. (lacht) Ich hab zwar welche, geschrieben. aber die sind alle nett und haben das Feingefühl, dann entsprechend zu re­ agieren. Natürlich gibt es immer mal wieder Gäste, die sich mal daneben Warum gerade ein Club für Homo­ benehmen und vergessen, wo sie ge­ sexuelle? Wie kamst Du dazu? rade sind. Aber die werden dann auch Weil ich’s nicht schlimm finde. Ich schnell aufgeklärt und wenn es nötig wurde schon früher offen erzogen, ist, zum Heimweg geleitet. also war das Thema Homosexualität auch nichts Befremdliches. Sowohl Das Boys’n’Beats ist ja der einzige damals, als auch heute nicht. Es gibt Schwulenclub in Magdeburg. Fühlst für mich keinen Unterschied zwischen Du Dich damit wohl oder hättest Du dem Hetero-Gast oder dem schwulen gerne noch eine andere Anlaufstelle oder lesbischen Gast. Das ist für mich für Deine Gäste? nicht von Belangen. Ich würde mich sehr darüber freuen, wenn es noch so eine Art Schwulen­ Und gibt es einen Unterschied zwi- bar gäbe. Das würde Magdeburg sehr schen Schwulen- und Hetero-Clubs? bereichern und man könnte gut zu­ Ich glaube, Schwule können ausgelas­ sammenarbeiten. Eine Win-Win-­ sener feiern. Es gibt so gut wie keinen Situation, sowohl für mich, als auch Stress und die meisten Abende in mei­ für den Barbesitzer. Als Landeshaupt­ nem Club laufen harmonisch ab. Tole­ stadt können wir im Moment für ranz ist bei uns groß geschrieben. Homo­sexuelle nicht viel bieten.

118 Sebastian Ebeling Sebastian Ebeling

Würdest Du denn selber gerne noch weitere Clubs oder Bars eröffnen Ich liebe wollen? Magdeburg. Ich Nein, nicht wirklich. Es macht Spaß, so bin gerne hier. wie es jetzt ist. Um es gescheit aufzu­ ziehen, müsste man viel Vorarbeit leis­ ten. Wenn es jemanden gibt, der ­etwas Gibt’s einen Abend im Boys’n’Beats, Neues eröffnen will, dann ­könnte ich der Dir besonders in Erinnerung gerne mit Rat und Tat dabei sein und ­geblieben ist? mir eine Zusammenarbeit vorstellen. Da gibt’s einige. Das kann ich nicht an Aber alleine nicht. einem Abend festmachen. Es gibt viele, an die ich mich gerne zurück­erinnere.

119

Sebastian Ebeling

Wenn zum Beispiel DJs dabei sind, Was macht für Dich eine gute Party bei denen du sicher sein kannst, die aus? bringen gute Laune mit und es wird Wenn sie friedlich abläuft, alle Spaß ein Kracher-Abend. Und trotzdem ist ­haben und den Alltag auch mal zu kein Abend wie der andere. ­Hause lassen können. Deshalb geht man ja weg. Um Spaß zu haben, die Woche irgendwie von sich zu drängen Freizeit? Die und das Leben zu leben. Wenn das ge­ nehme ich mir! lingt und man danach glücklich nach Hause geht, ist das für mich eine gute Party.

Was ist das Skurrilste, das Du hier Hast Du denn ein Rezept gegen den schon gesehen hast? fiesen Kater am nächsten Tag? (lacht) Ich glaube, da sollte ich nicht Sport, um mich irgendwie dagegen zu sehr ins Detail gehen. Wir hatten zu wehren. Ich schwitze einfach alles mal eine Zeit lang einen »SM-Stamm­ raus, trinke viel Wasser und esse herz­ tisch«, für den ich jeden Donnerstag haft. aufgemacht habe. Da waren die Jungs und Mädels schon sehr umfangreich Was hältst Du allgemein vom Nacht- in ihren Ideen und Spielereien. An­ leben in Magdeburg? sonsten fällt mir gerade eine witzige Durch den Club hier komme ich Geschichte ein, die ich immer gerne ­natürlich selten raus, aber ich ver­ erzähle. Da hatte ein Pärchen seinen such schon mal eine Party mitzuma­ Spaß auf den Toiletten und sich dabei chen. Ich würde sagen, dass es schon die Schuhe ausgezogen. Ich kann dir ein gutes­ Angebot gibt. Wir haben nicht sagen, warum sie das gemacht vernünftige Bars, ordentliche Disko­ haben. Jedenfalls haben sich ein paar theken und gerade im Sommer sind andere Gäste einen Spaß daraus ge­ ja viele Festivals und Open Airs. Also macht, haben die Schuhe genommen gibt es nichts, was ich vermissen wür­ und vor den Toiletteneingang gestellt. de. Natürlich mussten die beiden erstmal wieder rauskommen, um die Schuhe Würdest Du dich selbst als nachtaktiv­ wiederzubekommen. Und dann stand oder Frühaufsteher beschreiben? da eine riesige Traube Menschen vor Eigentlich beides. Wenn ich nachts den Toiletten. Das war den beiden arbeite und um sechs Uhr nach echt peinlich, aber es war eine echt ­Hause komme, bin ich trotzdem um witzige Sache. zehn Uhr wach. Sonntagabend hole ich dann meinen Schlaf nach um für

121 Sebastian Ebeling Sebastian Ebeling

Montag wieder fit zu sein. Ich brauche Hast Du überhaupt Freizeit? einfach nicht wirklich viel Schlaf. Die nehme ich mir! Wenn ich merke, dass mir langsam alles zu viel wird Hast Du früher schon davon ge- und ich die Nase voll von allem habe, träumt Clubbesitzer zu werden? dann nehme ich mir frei, um etwas Ja, auf jeden Fall. Als ich den Beruf als Tolles mit meiner Familie zu machen. Restaurantfachmann erlernt hatte, war mir klar, dass ich mal selbstständig Ist Dein Privatleben der Ruhepol zu werden und mein eigenes Ding durch­ Deinem Berufsleben? ziehen möchte. Mein erster Gedanke Definitiv. Ich freue mich immer, nach war, ein eigenes Restaurant aufzu­ der Arbeit nach Hause zu kommen. machen, aber dann kam das Inter­esse Wenn meine Tochter schon wach ist zur Bargeschichte beziehungsweise und zu mir ins Bett krabbelt, kann ich Barkultur hinzu. So hat sich der Weg alles drum herum vergessen. So kann dahingehend verändert, dass es kein ich runterkommen und wieder Kraft Restaurant, sondern ein Club wurde. tanken.

Deshalb geht Wie funktioniert die Absprache mit Deiner Frau, was das »Zeit­ man ja weg. Um management« der Familie angeht? SpaSS zu haben, Das zweite Kind ist ja gerade unter­ den ­All­tag zu wegs. Da meinte sie schon, dass ich ­vergessen und das vielleicht mal ein Wochenende mehr daheim sein sollte. (lacht) Aber ansons­ Leben zu ­leben. ten hat es bis jetzt immer gut geklappt und wir konnten uns unsere Zeit ein­ teilen. Sie kann meine Situation­ zum Und jetzt, da Du es bist, ist es immer Glück ganz gut nachvollziehen,­ da sie noch der Traumjob schlechthin? auch in der Gastronomie tätig ist. Es macht immer noch sehr viel Spaß und ich würde auch mit niemandem Du bist mit dem Club fest an Magde­ tauschen wollen. Aber manchmal burg gebunden. Ist das in Deinem kann das Geschäft echt anstrengend Sinne oder könnte es Dich auch woan- sein. Man muss immer am Ball blei­ dershin verschlagen? ben und auch die Steine, die einem Nein, ich war ja nach meiner Ausbil­ manchmal in den Weg gelegt werden, dung schon für drei Jahre in Bayern wegräumen. und habe da meine Erfahrungen sam­ meln können. Ich liebe Magdeburg. Ich bin gerne hier und wenn es keinen

122 Sebastian Ebeling Sebastian Ebeling

Grund gäbe, dann muss ich Magde­ burg auch nicht den Rücken kehren.

Wenn Du jetzt von einem ange- sagten Club in Berlin ein Angebot ­bekommen würdest, würdest Du dir es dann überlegen? Schwierig … Ich hoffe die Frage stellt sich nie. (lacht) Es würde mir wahr­ scheinlich sehr schwer fallen, nein zu sagen. Das Interesse und die Motiva­ tion wären schon da. Aber zum Wohl meiner Familie würde ich das Angebot letzten Endes wohl ausschlagen.

Vista. schon?

Sebastian Ebeling ist 1984 in Magdeburg geboren und ein waschechtes Magdeburger Kind. Er schloss seine Ausbil- dung zum Restaurantfachmann erfolgreich ab und schnup- perte dann drei Jahre bayerische Gastronomie-Luft. Zurück in Magdeburg­ begeisterte er sich für die Club- und Bar­szene und übernahm mit 25 Jahren den einzigen Schwulenclub der Stadt, das Boys’n’Beats. Er steckt viel Energie und Zeit in ­seinen Club – aber das macht er gerne. Seinen Ausgleich ­findet er zuhause bei seiner Familie, mit der er gerne an die Elbe oder in den Stadtpark geht. Zu Magdeburg gehören für ihn der Fußball, die Elbe und freundliche, aufgeschlossene Menschen.

123 Carolin Goldmann

»Ich war so ein richtiger Stubenhocker.«

Betritt die 28-Jährige einen Stoffladen, ist sie in einer anderen Welt. Die Designerin Carolin Goldmann wusste seit ihrem ersten Disney-Film, dass sie Kleider entwerfen möchte. Mit Ehrgeiz und Durchhaltevermögen hat sie ihr Label Lady Caro Lynn bereits mit 21 Jahren gegründet. Inter.Vista erzählte sie im Gespräch, warum sie beinahe von einem Bus überfahren wurde und wie es dazu kam, dass sie für Micaela Schäfer ein Kleid aus Videobändern entwarf.

Interview und Fotos: Nathali Söhl und Kevin Grabowski

Carolin Goldmann

Du hast vor Kurzem geheiratet. Wie Seit wann wusstest Du, dass Du sah Dein Hochzeitskleid aus? Hast ­Designerin werden möchtest? Du es selbst entworfen? Also das ist eigentlich eine von die­ Ja, das habe ich in der Tat selbst ge­ sen typischen Geschichten. Soweit ich macht. Es war sehr aufregend, da ich mich zurückerinnern kann, habe ich sonst immer für andere nähe und de­ mit vier Jahren diese ganzen ­typischen ren Wünsche umsetzen darf. Dieses Disney-Filme gesehen. Besonders als Mal konnte ich allerdings ein Kleid Belle aus Die Schöne und das Biest nach meinen Vorstellungen nähen in diesem gelben Kleid die Treppe und dafür habe ich natürlich ganz tolle runter­kam, dachte ich, so was möchte Spitze, Diamanten und Perlen verwen­ ich auch können. So ein Kleid nähen det. Mein Kleid war am Oberteil eng und entwerfen. Im Sommer, wenn anliegend und der Rock dann ganz meine Freunde draußen spielten, weit ausgestellt, mit sehr viel Tüll und habe ich drinnen gemalt und Klei­ hinten zum Schnüren. der entworfen. Aus Taschen­tüchern bastelte ich sogar Kleider für meine Weißt Du noch, was Dein Mann Barbie-­Puppen. Ich war so ein rich­ beim ersten Date anhatte? tiger Stuben­hocker. Man musste mir Eine Jeans und einen grau-orange nur Stift und Block geben, um mich ­gestreiften Pullover. Komischerweise glücklich zu machen. Seitdem wusste kann ich mich an solche Dinge immer ich, dass ich in diese Richtung gehen erinnern. möchte.

Hat sich sein Kleidungsstil durch Dich verändert? ES ist manchmal Ja. Als wir uns kennenlernten war er 18 so, als wäre ich und ich 19 Jahre alt. Seit fast zehn Jah­ süchtig. ren sind wir nun zusammen, das prägt natürlich. Mir hat aber schon immer gefallen, was er getragen hat. Frauen Wann hast Du Deine erste Näh­ achten ja sehr auf solche ­Dinge. maschine bekommen? Relativ spät, erst mit 16 Jahren. Meine­ Was sind denn für Dich modische Eltern waren zuerst ein wenig skep­ No-Gos? tisch. Doch von da an saß ich eigent­ Jeder hat ja seinen eigenen Geschmack lich nur noch an der Näh­maschine. und soll tragen was er möchte. Aber ich finde es nicht so schön, wenn man Hast Du Kinder? lange Leggings und darüber kurze Ja, ich habe einen dreijährigen Sohn. ­Hosen trägt.

126 Carolin Goldmann

Machst Du seine Kleidung auch selbst? Ich wollte einfach etwas Anderes. Als Ich habe leider nicht so viel Zeit, um ich klein war, habe ich sehr gerne Alf für meinen Sohn oder mich zu nähen. geguckt und die Tochter in der Serie Wenn ich Stoffe kaufen gehe, sucht er hieß Lynn. Diesen Namen fand ich toll sich manchmal auch etwas aus. Neu­ und habe ihn einfach in mein Label lich hat er sich einen Stoff mit Minions mit einfließen lassen. Ich habe mein ausgesucht. Daraus habe ich eine Hose eigenes Logo entworfen. Lady habe ich und eine Mütze gemacht. nur vor den Namen gesetzt, weil ich größtenteils Frauensachen entwerfe Warum heißt Dein Modelabel nicht und nähe. Carolin Schmidt beziehungs­weise Goldmann, sondern Lady Caro Lynn? London, Paris und Berlin sind be- Schmidt heißt ja nun jede zweite kannte Modestädte. Warum bist Du ­Person. Wenn man das im Internet in Magdeburg geblieben, wo Berlin eingibt, kommen tausende Ergebnisse. doch gleich um die Ecke ist?

127 Carolin Goldmann

In Berlin gibt es an jeder Ecke Mode­ ein anderer Name stand. Dieses halbe designer. Außerdem liebe ich meine Jahr ging so schnell rum, es war dann Heimatstadt. Hier bin ich geboren gut, wieder meine eigenen Projekte und aufgewachsen. Ich genieße es zu anzugehen. reisen, aber ich freue mich immer wieder, in meine kleine Heimatstadt Braucht man ein gutes Zeitmanage- zurückzukehren. Man ist schnell von ment für diesen Beruf? einem am anderen Stadtende. Das ge­ Ja. Wir waren Anfang Mai fünf Tage fällt mir. (lacht) an der Ostsee und ich musste meinem Mann versprechen, keine Arbeit, kei­ Du hast den Nachwuchsunterneh- ne Stifte und kein Buch mitzunehmen. merpreis mit 21 Jahren bekommen. Perlen durfte ich auch nicht annähen. Worin liegt Dein Erfolgsgeheimnis? Es ist manchmal schon so, als wäre ich Anfangs hatte ich viel Glück und mei­ süchtig. Zu Hause habe ich mich sofort ne Eltern haben mich sehr unterstützt. wieder an die Nähmaschine gesetzt. Nun mache ich das schon seit acht Jah­ ren. Ich bin, wie ich bin. Selbstständig Was machst Du gerne, wenn die sein heißt, dass man wirklich selbst Nähmaschine mal aus ist? und ständig arbeiten muss. Wenn Ich liebe es, Zeit mit meiner Familie mein Kind im Bett liegt, dann nähe zu verbringen und mit meinem Hund ich auch mal bis Mitternacht. Es gibt Gassi zu gehen. Wir gehen auch gern natürlich auch mal Tage, an denen ich ins Kino und Essen. meine Nähmaschine ruhen lasse und entspanne. Das muss auch mal sein. Welches ist Dein Lieblingsrestaurant in Magdeburg? Du hattest durch diesen Preis unter Das Qilin ist toll. Dann gehen wir noch anderem ein Stipendium in London gerne ins Berner and Brown oder ins erhalten. Wo warst Du? Magado. Da gehen wir essen, bevor Das Label hieß From Somewhere. Die wir dann ins Kino gehen. (lacht) Modedesignerin ist Italienerin und lebt nun in England. Wir nähten und Du arbeitest sehr viel mit Micaela entwarfen Sachen, die später in Lon­ Schäfer zusammen. Wie kam es dazu? don und Tokio auf der Fashion Week Ich weiß, sie polarisiert. Ich finde sie gezeigt wurden. Diese Arbeit war toll, einfach witzig, frisch und locker. Bei aber schnell merkte ich, dass es Zeit Germany’s Next Topmodel ist sie mir wurde, wieder mein eigenes Ding zu aufgefallen, weil sie da schon so knap­ machen. Ich konnte dort zwar auch pe Sachen anhatte. Und als sie im Ideen umsetzen, aber mir tat es schon Dschungelcamp war, dachte ich mir, ein wenig weh, dass an den Kleidern wenn sie jetzt schon so polarisiert,

128 Carolin Goldmann dann wird sie danach ständig in der normal. Sobald die Kamera läuft, Presse sein. Ich schickte ­ihrem Ma­ spielt Micaela ihre Rolle. Ich bin ihr nagement ein paar Entwürfe und sie sehr dankbar dafür, dass sie oft meine rief mich dann tatsächlich an. Mein Kreationen trägt. Es ist ja bei ihr auch erstes Kleid für sie war das Video­ nicht so einfach, sie dazu zu bringen, bandkleid, das sie auf der Men in mal etwas anzuziehen. (lacht) Das ist Black-Premiere anhatte. Damit ist sie nicht selbstverständlich, da die Desig­ sehr aufgefallen. Sogar in ­Amerika ner bei ihr Schlange stehen. und England schrieb man darüber. Positiv und negativ, aber das war Sinn Arbeitest Du sonst noch mit an- und Zweck dieser Sache: Werbung. deren bekannten Persönlichkeiten ­zusammen? Wie ist die Idee zu diesem Kleid Sara Kulka lief in Berlin für mich ­entstanden? auf einer Modenschau anlässlich der Ich hatte eigentlich andere Kleider ­Fashion Week. vorbereitet. Aber von meinem Nach­ barn bekam ich alte Videokassetten Gibt es noch weitere Personen, die und fing dann an, die Bänder rauszu­ Du gerne einkleiden möchtest? ziehen. Ich nähte darauf ein Taillen­ Heidi Klum oder Helene Fischer band und Oberteil zusammen. Bevor ­wären nicht schlecht. Bei letzterer ich zu ihr fuhr, war ich mir noch un­ habe ich schonmal angefragt. Da kann sicher. Ich habe es dann aber einfach man natürlich nach den Sternen grei­ mitgenommen. Sie war davon begeis­ fen. Ansonsten noch die Vier von Sex tert. Durch das Kleid war sie häufig in and the City. Die Serie liebe ich ja der Presse zu sehen. auch. Herzogin Kate wäre natürlich toll, aber da ranzukommen ist so gut Selbstständig wie unmöglich. sein heiSSt, dass Was inspiriert dich? man ­wirklich Ich muss nur in einen Stoffladen ge­ selbst und hen und schon entwickeln sich zehn ­ständig arbeiten verschiedene Kleider in meinem Kopf. muss. Sobald ich dann zu Hause bin, zeichne ich die Ideen in mein Buch. Einmal, kurz bevor ich meine letzte Kollektion Worin unterscheidet sich die private Peppermint Grey beendete, entdeckte Micaela von der im Fernsehen? ich einen so tollen Stoff, dass ich so­ Eigentlich ist sie ein ganz normaler fort eine Hose mit einem besonderen Mensch. Sie ist klug und redet ganz Schnitt vor Augen hatte. Bis nachts um

129 Carolin Goldmann

drei habe ich den Schnitt entworfen Was sind Deine zukünftigen Projekte? und diese Hose genäht. Das Lustige Ich arbeite jetzt mit der Stiftung daran war, dass sie, noch bevor sie auf Kinder­herz zusammen und entwerfe dem Laufsteg war, verkauft wurde. So dafür eine Kinderkollektion. Von je­ etwas hatte ich noch nie. (lacht) dem verkauften Kleidungsstück gehen 20 Prozent an die Stiftung. Ich kann es Durchhaltever- kaum erwarten, loszulegen. mögen, Geduld und Biss muss man haben.

Wo kaufst Du am liebsten Stoff? Bei Karstadt gibt es ab und zu schöne­ Stoffe, außerdem kaufe ich meine ­Spitze für Brautkleider bei der Stofferie Vista. schon? Pelamenti oder im Internet, da habe ich auch ein paar tolle Lieferanten. In Carolin Goldmann ist 1987 Berlin bin ich ebenfalls regelmäßig, in Magdeburg geboren. um Stoffe zu kaufen. Mein absolutes 2008 gründete sie nach Highlight ist ein Stoffladen in London. ihrem Abschluss ihr Mode­ Nach meinem ersten Besuch war ich label Lady Caro Lynn. Nur noch so in Gedanken vertieft und von ein halbes Jahr später er- den Stoffen wie benebelt, dass ich fast hielt sie den Nachwuchsun- von einem Bus überfahren wurde. ternehmerpreis und ein Sti- pendium, womit sie nach Wie hat sich Magdeburg modisch London ging. Wenn sie verändert? nicht an der Nähmaschine Stoffläden schießen momentan wie sitzt, hält sie sich am lieb­ Pilze aus der Erde. Kleider sind so sten im Stadtpark oder im ein Hype geworden. Manche Abiball­ Nordpark auf, wo sie schon kleider sind halbe Hochzeitskleider. als Kind mit ihrer Groß- Neulich wollte eine Mutter bei einem mutter spazieren ging. Mit Auftrag für ein Jugendweihekleid vor­ Magdeburg verbindet sie ab ein Foto von dem bunt karierten die Begriffe Heimat, Freun- Stoff, damit sie die Tischdecke, die de und Grün. Torte und die Einladungen auf das Kleid abstimmen konnte.

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NAS-1220 AZ_INSA_Stark_A5_2016_R2.indd 1 18.05.16 17:27 Phil Hubbe »Mein Auftrag ist nicht für eine bessere Welt zu kämpfen. Wenn ich dabei helfen kann, okay.«

Phil Hubbe zeichnet Behinderten-Cartoons. Er ist selbst an Multiple Sklerose erkrankt. Inter.Vista erzählt er, wie es dazu kam, wie er auf seine Krankheit zum ersten Mal aufmerksam wurde und warum das Leben in Magdeburg zur Rallye werden kann.

Interview und Fotos: Max-Richard Finger und Lukas van den Brink

Phil Hubbe Phil Hubbe

Wie ist der Künstlername Phil das so nicht bestätigen. Ich bin eigent­ ­zustande gekommen? lich recht gut vertreten. Aber das mag Ich habe früher immer mit Phil unter­ auch am Thema liegen. Das ist sehr schrieben. Etabliert hat sich der Name speziell und hat einen Tabucharakter. durch meinen Verleger, als mein erstes Buch 2004 vom Lappan-Verlag veröf­ Auf Ihrer Webseite steht, dass Sie fentlicht wurde. Sie meinten es klinge Freunde dazu ermutigt haben, sich besser als Philipp. Dabei ist es dann dem Thema Menschen mit Behinde- auch letztendlich geblieben. rung in Ihren Karikaturen zu wid- men. Hat Ihnen selbst der Mut dazu Wir haben online nur wenige Inter- gefehlt? views von Ihnen gefunden. Wirkt die Als ich 1992 anfing als freiberuf­ offene Art mit Behinderungen um- licher Zeichner zu arbeiten, habe zugehen abschreckend? ich mich mit dem Thema gar nicht In meiner Branche ist die Nachfrage beschäftigt. Der Auslöser war um nicht allzu groß. Dennoch kann ich die Jahrtausend­wende, als ich auf

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­Cartoons des US-Amerikaners John verwerflich betrachtet. Auch heute ist Callahan aufmerksam wurde. Er hat es noch so, dass meine Zeichnungen Behinderten-Cartoons veröffentlicht immer mit einer Infobox oder Ähn­ und bekam deshalb viele böse Leser­ lichem erscheinen, wo erläutert wird, briefe. Niemand wusste, dass er im wer ich bin und was ich mache. Den­ Rollstuhl sitzt. Salopp gesagt: Er ist noch bemerke ich einen extremen im Suff gegen einen Brückenpfeiler Wandel, wenn ich daran denke, dass gefahren. Er konnte danach nur noch ich beispielsweise für Aktion Mensch die Hände bewegen. Seine Arbeit hat eine Plakatkampagne gestaltet habe. mir sehr gut gefallen. Ich dachte mir, Langsam merken die Behinderten­ dass ich auch an dem Thema arbeiten verbände, dass die Zeichnungen könnte. Freunde und Bekannte haben auch von vielen Behinderten genutzt mich dazu ermutigt. Anfangs hatte ich ­werden und sie sich dadurch nicht an­ Hemmungen, Witze über Handicaps gegriffen fühlen. zu machen. Deshalb habe ich mei­ ne ersten Werke anderen Menschen mit Behinderung gezeigt. Menschen Ich bin ­­Links- die mich nicht kannten, die Sache händer, unbefangen betrachteten. Sie waren von daher. durchweg begeistert, schickten mir Themen-Ideen. Das überzeugte mich weiter zu machen. Auf Ihrer Webseite ist in einem Gäste­bucheintrag zu lesen, dass ihre Zum einen ist es also noch ein Tabu­ Comics in ein Seminar für das Lehr- thema. Zum anderen in Ihrem Fall amt eingebaut werden. Sehen Sie in eine unglaubliche Erfolgsgeschichte. Ihrer Tätigkeit als Illustrator einen Warum? Bildungsauftrag? Es hat eine Weile gedauert. Als ich Das ist mir zu hochtrabend. Mittler­ meine ersten Behinderten-Cartoons weile vielleicht schon, aber das ist ein­ bei den beiden großen deutschen fach dem Thema geschuldet. Anfangs Satire­zeitschriften, Titanic und Eulen­ ging es mir lediglich um Unterhaltung. spiegel einreichte, handelte ich mir Zwischenzeitlich habe ich überlegt, ei­ zwei Absagen ein. Beide Verlage hat­ nen pädagogischen Zeigefinger einzu­ ten damals zu großen Respekt vor dem bauen. Aber das geht nicht. Wenn man Thema Behinderung. Die Redaktion so an einen Cartoon rangeht, läuft der Titanic fuhr damals einen anderen ­etwas falsch. Es sind nun mal meistens stilistischen Zug und argumentierte Realitäten, die ich zeichne, nur etwas noch zusätzlich damit. Zur damali­ zugespitzt. Ich möchte kein Botschaf­ gen Zeit wurden solche Cartoons als ter sein. Mein Auftrag ist nicht für eine

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bessere Welt zu kämpfen. Wenn ich Was darf Satire denn nicht und wo dabei helfen kann, okay. beginnt die Grenze zur Polemik? Für mich ist die Grenze nicht statisch. Aber so ein Eintrag macht Sie schon Allerdings sollte man nur etwas zeich­ stolz, oder? nen, wovon man Ahnung hat. Wenn Das freut mich natürlich riesig. Oft man nicht in der Materie steckt, sollte sind es die kleinen Dinge oder Bemer­ man die Finger still halten. Dadurch, kungen, die mich stolz machen. Eine dass ich selbst betroffen bin und Leserin schrieb mir, dass ihr an MS er­ auch in Behindertenkreisen verkehre, krankter Mann nach fünf Jahren wie­ zeichne ich aus erster Hand. der das erste Mal lachte, als er meine Cartoons gesehen hat. Das ist für mich Was macht in Ihren Augen einen die höchste Form der Bestätigung. ­Karikaturisten zu einem guten Kari- katuristen? Ich hatte das Ge- Karikaturen sollten anecken und ­witzig sein. Mich stören viele Zeichnungen fühl durch eine in Tageszeitungen. Man ­bekommt oft­ Milchglasscheibe mals das Gefühl bloße Illustrationen­ zu schauen. von aktuellen Ereignissen zu sehen. Sowas bringt nichts in Gang.

Und was macht einen Karikaturisten Haben Sie auch schon erfahren, dass erfolgreich? sich Menschen durch Ihre Karika­ Wenn seine Zeichnungen veröffent­ turen angegriffen fühlen? licht werden. (lacht) Das Problem ist, dass sich meistens Leute echauffieren, die gar nicht selbst Sie bedienen sich oftmals an Filmti- betroffen sind und auch keine Betrof­ teln und wandeln diese ab. Unter an- fenen in ihrem Umfeld haben. Die derem heißen Werke von Ihnen: Der denken, sie müssen sich schützend vor Stuhl des Manitou, Der letzte Mohi- die Behinderten stellen. Das finde ich kaner und Das Leben des ­Rainer. albern. Viele Behinderte beschweren Wer ist Rainer? sich eher über die Tatsache, dass ich MS Rainer ist eine meiner ersten Fi­ ihre Krankheit noch nicht verarbei­ guren die ich im Zusammenhang mit tet habe. Das bestätigt meine Arbeit. meiner Krankheit gezeichnet habe. Es Grundsätzlich habe ich aber ein Prob­ ist mein Lieblingscartoon und auch lem damit, wenn Leute mir vorschrei­ der von vielen MS-Betroffenen. Ich ben wollen, was ich zu tun habe und bekam damals Anrufe und wurde ge­ was nicht. fragt, ob ich dieser Rainer bin. (lacht)

136 Phil Hubbe

Die Idee mit den Filmtiteln ist nicht kann man nicht vergleichen. Das wur­ auf meinem Mist gewachsen. Kurz de mir schnell klar. Deshalb habe ich vor der Veröffentlichung des ersten das Studium nach einem Semester Bandes im Jahr 2004, kam der Film abgebrochen. Um Geld zu verdienen Der Schuh des Manitou in die Kinos. habe ich in Keramikwerken Schicht Mein Verleger hatte damals die Idee, gearbeitet. den Buchtitel daran anzulehnen. Ich war davon eigentlich nicht überzeugt. Sie sind seit 1985 an MS erkrankt. Aber es war mein erstes Buch und 1988 wurde die Diagnose gestellt. wollte ihm nicht widersprechen. Der Wie wurden Sie das erste Mal auf rollstuhlfahrende Häuptling auf dem Ihre Krankheit aufmerksam? Cover passt thematisch super. 1986 habe ich meinen Grundwehr­ dienst in der Nähe von Schwerin ge­ Welche Person des öffentlichen leistet. Ich bekam Schwierigkeiten ­Lebens karikieren Sie am liebsten? beim Sehen, hatte das Gefühl durch Einen Favoriten habe ich nicht. Es gibt eine Milchglasscheibe zu schauen. natürlich Personen, meistens aus der Es stellte sich als eine Sehnervent­ Politik, die hat man einfach drin. Zum zündung heraus. Ich hatte auch eine Beispiel ist unsere Kanzlerin recht ein­ Zahnentzündung. Meist fängt es mit fach zu zeichnen. kleinen Wehwehchen an. Dann blieb ich drei Jahre verschont, bekam da­ Sie haben in Ihrer beruflichen Lauf- nach aber einen richtig starken Schub. bahn einige Umwege genommen. Ich ließ Dinge fallen. Konnte teil­ Eine Ausbildung als Wirtschafts- weise nicht laufen. Meine damalige kaufmann. Schichtarbeiter in einem Freundin, jetzige Frau, arbeitete als Keramikwerk. Abgebrochenes Ma- Krankenschwester und erzählte einer thematik-Studium in Magdeburg. Ärztin von meinen Beschwerden. Sie Was verbinden Sie mit dieser wech- schickte mich sofort in die Neurologie. selhaften Zeit? Da bekam ich die Diagnose. Ich wuss­ Ich wollte eigentlich Grafik studie­ te überhaupt nicht worum es geht. ren. Unter anderem habe ich mich Meine erste Frage an den Arzt war, ob an der Burg Giebichenstein in Halle ich denn wieder Fußball spielen kön­ an der Saale für den Studiengang Ge­ ne. Er schaute mich ganz komisch an, brauchsgrafik beworben. Ich wurde riet mir mit dem Zeichnen aufzuhören nicht ­angenommen. Daraufhin habe und lieber wieder Mathe zu studieren. ich erstmal etwas völlig anderes stu­ Ich müsse damit klar kommen behin­ diert. Da ich zu meiner Schulzeit nicht dert zu sein. Diese Aussage war nicht schlecht in Mathe war, fiel meine Wahl gerade erbaulich. ­darauf. Schul- und Studium-Niveau

137 Phil Hubbe

Wie würden Sie das Krankheitsbild genau einteilen. Ich könnte nicht mehr einem fünfjährigen Kind erklären? von morgens bis abends im Büro ar­ Wie haben Sie es beispielsweise Ihrer beiten. Glücklicherweise arbeite ich Tochter erklärt, als sie ein Kind war? von zu Hause aus und kann mir die Ich glaube einem fünfjährigen Kind Pausen nehmen die ich brauche. Dazu würde ich es nicht erklären. Das ist ist meine Feinmotorik in der rechten vielleicht etwas schwierig. Meine Hand etwas eingeschränkt. Ich bin Tochter hat es nach und nach mit­ Linkshänder, von daher. bekommen. Immerhin ist sie damit aufgewachsen. Wir haben sie nie bei­ Haben Sie durch Ihre Krankheit ein seite genommen, wie man sich das anderes Bild von gesellschaftlichen vielleicht vorstellt. MS ist die Krank­ Umgängen gezeichnet, oder viel- heit der 1000 Gesichter. Jedes Krank­ leicht auch zeichnen müssen? heitsbild kann unterschiedlich ausse­ Ja, das kommt automatisch. Zuerst hen. Das macht eine allgemeingültige musste ich lernen egoistischer zu wer­ Erklärung kompliziert. den. In der Hinsicht, dass man ande­ ren nicht großartig entgegenkommen Ich konnte mein kann. Ich hatte vor meiner Erkrankung keinen Kontakt zu Behinderten. Dann Hobby zum Beruf habe ich plötzlich deren Blickwinkel machen, dabei gesehen. Ich stellte die Probleme und meine Krankheit Stigmatisierungen fest, mit denen sie verarbeiten. Es ist jeden Tag zu kämpfen haben. eine Art Therapie. Was bedeutet ›behindert sein‹ für Sie im Allgemeinen? Vom öffentlichen Leben ausgeschlos­ sen zu sein. Es gibt den Spruch: Man Welches Gesicht zeigt die Krankheit ist nicht behindert, man wird behin­ in Ihrem Fall? dert. Für Rollstuhlfahrer kann der Ich finde ein recht gutes. Man sieht es Ausflug in die Stadt zu einer Rallye mir nicht an. Mit den Einschränkun­ werden. Das sehe ich bei Freunden. gen die ich habe kann ich leben. Klei­ Das Schlimmste ist aber, wenn der Job nigkeiten, im Vergleich zu anderen wegfällt. Ohne Aufgabe wird man un­ MS-Erkrankten. glücklich.

Welche sind das? Ist Magdeburg im öffentlichen ­Leben Sport ist tabu. Dazu die chronische barrierefrei? Müdigkeit. Ich muss mir meine Zeit Ich habe nicht unbedingt den Ver­

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Phil Hubbe

gleich zu anderen Städten. Es ist schon ein paar Worte. Auch ihr Mann ist einiges passiert, aber es besteht im­ recht engagiert. Wir wissen unsere mer noch eine Menge Nachholbedarf. ­Arbeit gegenseitig zu schätzen. Ein Meine im Rollstuhl sitzenden Freunde regelmäßiger Austausch findet aber müssen teilweise drei Haltestellen frü­ nicht statt. her aussteigen um ihr Ziel problemlos zu erreichen. Wie ist es denn um die MS-Szene in Magdeburg bestellt, abseits der Ihre Karikaturen haben oftmals ei- großen, offiziellen Organisationen? nen politischen Bezug. Wie sehen Sie Sind die Menschen untereinander die politische Entwicklung in Sach- vernetzt? sen Anhalt? MS-Szene klingt gut (lacht). Die DMSG Ich sehe die Situation ein bisschen mit Magdeburg hat zwei Untergruppen. Graus und habe mich schon erschro­ Eine ist für jüngere Menschen.­ Meist cken, als die Wahlergebnisse feststan­ haben sie Hemmungen sich zu outen den. Mit einem derartigen Zuspruch und ihre Arbeitgeber wissen nichts für die Alternative für Deutschland davon. Deshalb bleibt die Gruppe im habe ich nicht gerechnet (Anm. der Untergrund. Die andere Untergruppe Red.: Landtagswahl 2016 Sachsen An­ ist für jedermann. Die Magdeburger halt/ AfD: 24,3%). MS-Szene ist auf jeden Fall am Leben.

Ohne Aufgabe Sie meinten, dass Sie von zu Hause aus arbeiten. Wie viel Tage nehmen wird man Sie sich denn im Monat frei und unglücklich. schalten ab? Eigentlich gar keinen. Wenn ich nicht in den Ferien bin kann ich nicht ab­ schalten. Ich arbeite auch am Wochen­ Dr. Gabriele Haseloff, Ehefrau des ende, da ich für den kicker zeichne und amtierenden Ministerpräsidenten der montags erscheint. Ich habe viel Dr. Reiner Haseloff, ist Schirm- Spaß dabei. Ich konnte mein Hobby herrin des Landesverbandes Sach- zum Beruf machen und dabei meine sen-Anhalt der Deutschen Multiple Krankheit verarbeiten. Es ist eine Art Sklerose Gesellschaft (DMSG), für Therapie. die Sie auch Öffentlichkeitsarbeit be- treiben. Stehen Sie mit Frau Haseloff Sie haben selbst Fußball gespielt, im Austausch? zeichnen für den kicker. Sind Sie Bei offiziellen Veranstaltungen sieht Fußballfan? man sich, begrüßt sich, und wechselt (lacht) Die Frage musste kommen. Ich

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bin kein eisenharter Fan. Ich sympathi­ diese Saison das erste Mal seit Jahren siere unter anderem mit ­Borussia Dort­ wieder im Stadion. mund. Zeichne aber für das Stadion­heft des VfL Wolfsburg. Das hat mir schon Angenommen Sie würden morgen viel Ärger von befreundeten Hannover zehn Millionen Euro in der Lotterie 96 Fans eingebracht. Felix­ Magath, der gewinnen, würden Sie den Gewinn ehemalige Trainer des VfL Wolfsburg, spenden oder gänzlich für sich behal- hat mir damals eine ­kicker-Karikatur ten? abgekauft. So entstand der Kontakt. Gänzlich für mich behalten würde ich es definitiv nicht. Ich weiß nur, dass ich Verfolgen Sie auch den Sport in weiter arbeiten würde. Magde­burg? Ich hatte eine Dauerkarte für die Hand­ baller. Die Entwicklung des Fußballs verfolge ich auch.

Der 1. FC Magdeburg ist im Moment in aller Munde. Sind Sie manchmal im Stadion? Ich bin nicht der große FCM-Fan. Freue mich aber über den aktuellen sportlichen Erfolg. Tatsächlich war ich

Vista. schon?

Phil Hubbe ist 1966 geboren und seit 24 Jahren freiberuflicher Zeich- ner. Er zeichnet ­beispielsweise für den kicker und das ZDF. ­Bekannt wurde er unter anderem durch seine Behinderten-­Cartoons. ­Außerdem betreibt er Öffentlichkeitsarbeit für dieD eutsche ­Multiple ­Sklerose Gesellschaft und zeichnet für das Stadionheft­ des VfL Wolfsburg. Magdeburg beschreibt er als grün und lebendig. Seine Lieblingsorte in der Domstadt sind der Rotehornpark und das Café Amsterdam.

141 Die Inter.Vista-Redaktion. Impressum Satz und Layout Alexandra Birkenhauer, Julia Bordunov, Projekt- und Produktionsleitung Kevin Grabowski, Nathali Söhl, Dr. Uwe Breitenborn Anne Streicher, Marie Wintgen Arlette Krickau Bildbearbeitung Redaktion und Autoren der Ausgabe Imke Boedeker, Friederike Franke Tobias Barthel, Alexandra Birkenhauer, Imke Boedeker, Julia Bordunov, Lektorat und Korrektorat Max-Richard Finger, Friederike Franke, Jytte Grieger, Friederike Franke, Julian Gefeke, Kevin Grabowski, Julian Gefeke, Arlette Krickau, Jytte Grieger, Stefan Matsuura, Dr. Uwe Breitenborn Kim Sichert, Sara Simons, Nathali Söhl, Anne Streicher, Redaktionsfotos Lukas van den Brink, Marie Wintgen Thomas Schäfer

Chefredaktion Covergestaltung Jytte Grieger, Lukas van den Brink Marie Wintgen, ­Alexandra Birkenhauer

Online publiziert auf www.issuu.com Ein Projekt von Studierenden des Inter.Vista Nr. 2 | November 2016 BA Journalismus Redaktionsschluss August 2016 FB Soziale Arbeit, Gesundheit und Medien Hochschule Magdeburg-Stendal Breitscheidstraße 2, 39114 Magdeburg www.hs-magdeburg.de www.swm-app.de