Daniel Koerfer Diplomatenjagd

Daniel Koerfer

Diplomatenjagd

Joschka Fischer, seine Unabhängige Historikerkommission und Das Amt

Mit einem Essay von Alfred Grosser

STRAUSSEdition Für Antonia, Lara und Chiara in Dankbarkeit für ihre drei Generationen umfassende Lebensklugheit, Unterstützung und Inspiration – und natürlich Yorcki, der mit »Susi« die Welt bereiste, als dieses Buch entstand.

Erste Auflage 2013

© 2013 STRAUSS Edition,

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch in Auszügen. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert, verarbeitet oder verbreitet werden.

Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Printed in

ISBN 978-3-943713-15-2

Auch als eBook erhältlich: ISBN 978-3-943713-20-6 (ePUB), ISBN 978-3-943713-21-3 (Kindle) ISBN 978-3-943713-22-0 (PDF) »Es ist den Menschen allen eigen, dass sie fehlgehen.« Sophokles

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Inhalt

Einleitung ...... 15

Damnatio memoriae oder ehrendes Gedenken? • Aufstand der Mumien • NSDAP-Mitglieder: und Hans-Dietrich Genscher • Moralisch unerbittliche Nachgeborene • Egon Bahr: »Keine verbrecherische Organisation« • »Fifty Shades of Grey«

Hitlers willige Diplomaten im Visier von Fischers willigen Historikern ...... 25

Arroganz und Ignoranz der späten Geburt • Bernhard Schlink: »Kultur des Denunziatorischen« • »Geschichtspolitik dominiert Geschichtswissenschaft« • Reisezweck 1941: »Liquidation von Juden« • Das Amt: eine »systematische und integrierende Gesamtdarstellung«? • Franz Nüßlein ein »Blutrichter«? • Strafaktion • Gerhart Feine • Entlastende Beweise stören das Gesamtbild • »Unser Buch hat einen Nerv getroffen« • Maßregelung der Kritiker durch die »Enthüllungshistoriker« • Selbstrehabilitierung der alten Funktionseliten? • Kampagne mit politischer Agenda • Jagdeifer der historischen Ermittler

Damnatio memoriae? Ein Gespräch mit Frank Schirrmacher über Das Amt und die deutsche Geschichte ...... 46

Seltsam ferne Nähe des Dritten Reiches • Keine integrierte Gesamtgeschichte des Amtes • Pauschale Verurteilungen und Geschichtspolitik • Die Frage nach Handlungsspielräumen in einer Diktatur • Der »Goldhagen-Fehler« • Keine Schaltzentrale für Massenmord • Prozess der kumulativen Radikalisierung • Thomas Mann und Ernst von Weizsäcker • Ausgrenzung, Austreibung, Aus- löschung • Potempa • Hitlers »Prophezeiung« vom 30. Januar 1939 • Gewalt und Härte gegen bürgerliche Eliten • Der Rassenwahn wird Staatsdoktrin • 8 Inhalt

»Arbeitsteiligkeit« des industrialisierten Massenmordens • Gipfel der Perfidie und Perversion • Das »UFO-Experiment« • Euthanasiemorde als »Geheime Reichssache« • Schrecken des Maßnahmenstaates • Heydrich und die Wann- see- Konferenz • Die »Blutklaviere« von Budapest • Seltene Beispiele für Re- sistenz • Zwei Folgekonferenzen nach der Wannsee-Konferenz • Hans Bernd von Haeften: »Hitler, der große Vollstrecker des Bösen …« • Leerstelle »Hitler« • Diplomaten als Camouflage • Goebbels Verachtung für Ribbentrop und das AA • »Lange Liste von Verrätern im Amt« • Der Kaltenbrunner-Bericht • Bohle an Himmler 1944: »Negative Tendenzen im Auswärtigen Dienst des Deutschen Reiches« • »Zahl der Nationalsozialisten im AA noch zu gering« • »Stätte bedächtiger Hemmung« • »Lederne Gesandtschaftsberichte« • »Schlappe, halt- und energielose Diplomaten« • Der Wilhelmstraßenprozess: Scharnier zur Nachkriegsgeschichte • Umfassend gescheitert • Eine Null und ihre Folgen • Die »Guttaten« von Franz Nüßlein • »Mobile und kompetente Funktionäre der Endlösung« • Niederlage, Befreiung, Neubeginn • Um die Bundesrepublik verdient gemacht • Eine ahistorische Beurteilung • als Ritterkreuzträger und Regimegegner in Israel • Auslöschung von Biographien über den Tod hinaus

Joschka Fischers Operation Hinkelstein

Auftakt im Verborgenen: Der Fischer-Erlass und die internen Reaktionen im Auswärtigen Amt ...... 119

Reibungsloser Start • Ein machtbewusster Außenminister • Schnelles Ende des innerministeriellen Honeymoons • »In dubio pro libertate« • Rebellion gegen den Fischer-Erlass • Schleuserprozess in Köln: Debakel für den Ressort- chef • »Kulturkampf 1938 gegen 1968« • Die Kommissionsidee als Auftakt zur Diplomatenjagd

Die Iden des März: Der »Meister der Mumien« meldet sich zu Wort ...... 134

Joschka Fischer gerät medial unter Beschuss • OPEC-Prozess in Wien • Tiefe Wurzeln der Grünen im kommunistischen Milieu • Der »Fall Schmierer« • »Nicht unter 200 Anschläge pro Minute« • Seltsamer Aktenfund im AA • Keine Glückwünsche mehr für ehemalige Pg • greift zur Feder Inhalt 9

• Überprüfung auf mögliche NS-Verstrickungen • Auskunft aus dem Docu- ment-Center in • Parteieintritt als Karrierehilfe • Ein Spitzendiplomat der Bundesrepublik • Grußadresse für Pol Pot • Der kalte Zorn des Ministers Fischer • Vom Menschenrecht auf politischen Irrtum

»Political animal« – und eine Vergangenheit, die nicht vergehen will ...... 158

Schlüsselbegriff: »Schranzen« • Der andere Metzgersohn • Im Sog der APO • Am Abgrund des Terrorismus • Keine Trauer um Ponto, Buback und Schleyer • Erster grüner Umweltminister des Planeten • Schmerzliche Rollenverteilung: Koch und Kellner

»Das Auswärtige Amt wird ihm ein ehrendes Andenken bewahren« – Nachrufkrise und Kommissionsfindungsverfahren ...... 172

Kein ehrendes Gedenken? • Das Motto der Diplomaten: »In dubio abstine« • Die Briefe der Marga Henseler • Fischers Ressentiment gegen die »Mumien« • »Nazitäter mit Blut an den Händen« • Der Fall von Botschafter Hans Krapf • Amtsinterne Nachrufsperre • Heinz Schneppen: »unsachlich, unanständig, unehrlich « • Einmaliger Akt der Rebellion im AA • Rainer Blasius als profun- der Kenner der Amts-Interna • »Anstelle des Amtes gedenken wir unseres Freundes« • Joschka Fischer bläst zur Jagd • Interne Unterschriftenliste im AA • Frank Elbe und das offene Wort • Die Treuepflicht des Beamten • Kreuz- verhör im Visa-Untersuchungsausschuss • »Ich habe die Bombe« • Ge schichtspolitik trifft Geschichtswissenschaft • Fritz Stern als Ratgeber • Festlegung auf einen einzigen Schwerpunkt: Holocaust • Aus fünf Kommis- sionsmitgliedern werden vier • Madeleine Albright und der Beginn einer wun- derbaren Freundschaft • Karriereherbst an der »Ivy League«

Fallstudien

Ermächtigungsgesetze ...... 219

Instrument zur Rettung, Instrument zur Zerstörung • Die Stunde der Exeku- tive • 1923 – Existenzkrise der Republik • Kein Masterplan • Der Griff nach der großen Vollmacht • Kabinettsbeschluss: »Mit dem Parlamentarismus ist 10 Inhalt es ein-für-allemal vorbei« • Reichstagsbrand und Reichstagsbrandverordnung • Das Ermächtigungsgesetz vom 23. März 1933: Drohkulisse und Abstim- mungsmanipulationen • Theodor Heuss • Carl Schmitt: »Vorläufige Verfas- sung der deutschen Revolution« • »Legale« Regimeänderung befördert will - fährige Selbstgleichschaltung • »Legal« heißt jetzt: Jeder Widerstand ist »illegal« • De Gaulle übernimmt die Weimarer Präsidialverfassung

Deutsch-sowjetische Beutepartnerschaft: Der Pakt zwischen Hitler und Stalin ...... 235

Hitler wollte den Krieg • Am Anfang steht der Schock • Zwei große Verbre- cher des Zwanzigsten Jahrhunderts • Das geheime Zusatzprotokoll in Nürn- berg • Wettlauf nach Moskau • »Ich habe immer Vabanque gespielt« • Der wichtigste politische Rohstoff: Zeit • Die vierte polnische Teilung • Kalte Großmachtpolitik auf Kosten Dritter • »Herz verschließen gegen Mitleid. Brutales Vorgehen« • Zwischen Hitler und Stalin: Zum letzten Mal schlägt die Stunde der Diplomaten • Die UdSSR: ein Koloss auf tönernen Füßen • Molotows Glückwünsche zur Einnahme Warschaus • Sowjetischer Einmarsch in Polen ohne britisch-französische Kriegserklärung • Goebbels Bewunderung für Stalins Propagandavorhang • Winston Churchill: Territorialgewinne »by force and fraud« • »Es war ganz wie unter Parteigenossen« • Erste gemeinsame deutsch-sowjetische Militärparade in Brest-Litowsk • Mörderisches »Molo- tow-Ribbentrop-Europa« • Kooperation der Terrororgane und geheime Flot- tenstützpunkte • Zwei Kulturen des Hasses und der Xenophobie • Das Massaker von Katyn • Konstante Leugnung trotz erdrückender Beweislage • Die Tarnkappe des Antifaschismus

Ernst von Weizsäcker – eine Schlüsselfigur ...... 274

Mann des Widerstands oder willfähriger Handlanger Hitlers? • Ein schwan- kendes Charakterbild • Karrierebeginn als Marine-Offizier • Die »Clique der hochgeschraubten Nichtskönner« im AA • »Die Demokratie ist der Krebs- schaden« • Bürgerlicher Salon-Antisemitismus • »1933er Spätlese« • Interims- chef der Personalabteilung • Botschafter in der Schweiz • »Wiedereintritt in den Kreis der Großmächte« • Stellungen verteidigen, um »Schlimmeres zu verhüten« • »Der Lebensnerv gezogen, die Zuständigkeiten in Frage gestellt« Inhalt 11

• Leiter der Politischen Abteilung • Staatssekretär an der »Lötstelle zwischen Dilettantismus und Sachverstand« • Verhinderung des großen Krieges, der ein »Finis Germaniae« wäre • Die Internationale der Diplomaten • »Jeder tue, was ihm sein Gewissen vorschreibt« • »Er hat im Grunde nichts zu sagen, wird aber mit verantwortlich gemacht« • Mitwirkung bei Rassenwahn und Mas- senmord • Der Staatssekretär und die Deportation der französischen Juden • Im Vatikan bei Pius XII. • Konspiration zur Rettung römischer Juden • Hauptangeklagter im Wilhelmstraßenprozess • Die »alten« politischen Eliten und die nationalsozialistischen Verbrechen • Hellmut Becker und Robert Kempner • Auschwitz: »Ein Lager, wo Arbeitsmänner interniert waren«? • Eu- ropäisches Netzwerk zur Unterstützung des Angeklagten • »Les bonnes expé- riences avec ce personnage important« • Der Auftritt Erich Kaufmanns – Sternstunde der Verteidigung • »Unresisting Resistance« und »Dissenting Opi- nion« • Begnadigungsbemühungen hinter den Kulissen

Die »Akte Franz Nüßlein« ...... 327

Verhaftung und Auslieferung • Im »Reichsprotektorat Böhmen und Mähren« • Karriere eines deutschen Verwaltungsjuristen • Aus gutbürgerlichem Hause: katholisch, jung, ehrgeizig • An der Schnittstelle zwischen Normenstaat und Maßnahmenstaat • Tschechische Schnellgerichtsverfahren • Um Kopf und Kragen schreiben • SS-Land: »Bollwerk des Deutschtums« • Ausbreitung des Maßnahmenstaates im Protektorat • Reinhard Heydrich verhängt den Aus- nahmezustand • »Blutrichter« oder Beamter in einer »Oase des Rechtsemp- findens«? • Rädchen in der Protektoratsverwaltung • Besatzungsherrschaft • Vergeltung für das Heydrich-Attentat: Lidice • Karl Hermann Frank – Der starke Mann im Protektorat • Erste Hinweise auf Rettungsaktivitäten • Zu keiner Zeit »strafverschärfend« tätig • Eine Art Schauprozess • Verurteilung auf der Basis von Gummiparagrafen • Gegen Urteile der Sondergerichte ist kein Rechtsmittel zulässig • Außerordentlicher tschechischer Volksgerichtshof in Prag bescheinigt »Guttaten« • Im Stalinismus sind 20 Jahre Lagerhaft wie ein Freispruch • Haftentlassung und weitere Karriere im AA nach 1955 • Im Fokus ostdeutscher Propagandakampagnen • Das amtsinterne »Berger-Gut- achten« • In den Akten: Heydrichs und Bormanns »Todeskuss« • In den büro- kratischen Mühlen des Dritten Reiches • Verstrickung in den mörderischen Apparat • Ein zu Unrecht Verfemter 12 Inhalt

Deutsche Funktionseliten im Allgemeinen und Franz Rademachers Reise nach Belgrad 1941 im Besonderen ...... 379

»Demokratie ist nun einmal kein Deckchensticken« • Große Überraschung: Im Dritten Reich gab es Nazis • Geschichtspolitik: Deutung und Umdeutung der Vergangenheit • Die Gleichschaltung des Staatsapparates beginnt • Die Straße durch die Diktatur ist mit Verordnungen gepflastert • Rasante Selbst- unterwerfung der Exekutive • Das erste deutsche Wirtschaftswunder unter- füttert den »Führer-Mythos« • Aufbau und Struktur des AA • Epochenjahr 1939: Das Tor zur moralischen Kernschmelze wird weit aufgestoßen • Wach- sender Bedeutungsverlust des Amtes • Dominanz der Seiteneinsteiger bei der Verfolgung von Juden • Das Referat D III der Deutschlandabteilung • Der »Judenreferent« Franz Rademacher • Dienstreise-Antrag 1941: »Abschiebung von 8.000 Juden« • Dienstreise-Abrechnung 1943: »Liquidation von Juden in Belgrad« • Fehldeutung von Quellen • Die partielle Kooperation zwischen RSHA und AA nimmt Formen an • Keine Spur von einem homogenen Aus- wärtigen Amt • Eine Verabredung Hitlers mit Ribbentop zum Massenmord gab es nicht • Erst ab Ende November 1941 kursieren die Einsatzgruppenbe- richte • Widerstand im AA: »Und ihrer aller wartete der Strick« • Nach 1945: Elitenkontinuität Ja, aber keine ideologische Kontinuität

Hexerjäger: Der Panzerschrank der Schande ...... 419

»Eine in ihrem wissenschaftlichen Gehalt beschädigte Studie« • Ein mutiger Magaziner ohne Furcht vor Professorenthronen • Misstrauen gegenüber dem Politischen Archiv • Minister Westerwelle setzt eine Unabhängige Archivarin- nenkommission ein • Wachsendes Unbehagen • Das Politische Archiv als »Ver- tuschungsmaschinerie«? • Akten, über die man nicht verfügt, kann man schwer fälschen • Des Kanzlers wichtigster Helfer: Herbert Blankenhorn • Alte Muster linker Geschichtspolitik • Der Menschenfänger Konrad Adenauer • Organisationsbüro für die konsularisch-wirtschaftlichen Vertretungen im Ausland • Innuendo, Innuendo • »Ihr naht Euch wieder, schwankende Ge- stalten« • »Man schüttet kein dreckiges Wasser weg, wenn man kein reines hat« • »Übereifer im Kampf gegen die Gespenster der Vergangenheit« • Pragma - tische Sicht der Hohen Kommissare • »Viel Geschrei – und nur wenig Worte« Inhalt 13

Die Stimme der Toten ...... 447

Michael Libal schreibt einen Brief • »Eine scheinheilige Mischung aus Häme, Neid und Verachtung« • Eine Privatrezension als Trostspender • »Fischers poli - tischer Amoklauf gegen das heutige Amt« • Verspäteter Prozess gegen frühere Angehörige der Behörde • Abstoßendes Verhalten vieler Angehöriger des AA • »Deutsche Diplomaten als Mischung aus Julius Streicher und Reinhard Hey- drich« • Semper aliquid haeret • Otto Bräutigam und das Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete • Kontext des Grauens • Himmlers Zorn über die »Humanitätsduselei« im Ostministerium • »Sammle erst die Fakten, dann kannst Du sie verdrehen« • Opportunismus als Grundeigenschaft des Diplo- maten

Fazit ...... 467

»Generation 1938« gegen »Generation 1968« • Geschichtspolitik als Waffe • Ressentiment und Verachtung statt Verstehen und Erklären • Wenige Gegner, einige fanatische Anhänger, viele Mitläufer • Abbé Sieyès: »J’ai survécu!« • Willy Brandt: »Die Integration der Pg war letztlich doch sehr positiv« • Kein Verhältnis auf Augenhöhe mit dem RSHA • Die Leistung der deutschen Diplomaten beim Neuaufbau wird ausgeblendet • Im Amt: Opportunismus, stiller Zorn und Resignation

A propos Das Amt – Ein Essay von Alfred Grosser ...... 481

Der Vorwurf der Kollektivschuld sollte nie erhoben werden • Vorsicht mit pau- schalen Wertungen – nicht nur im Falle Kiesinger • Man kann sich bekehren und echt bereuen • Falsche bis fatale Verallgemeinerungen

Anhang

Anmerkungen ...... 491 Literaturverzeichnis ...... 519 Personenregister ...... 531 Bildnachweis ...... 544

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Einleitung

Das Reich war ruiniert. Die Hauptstadt brannte. Die Toten waren kaum zu zählen. Der Herrscher, der eine Schreckensherrschaft errichtet hatte, bei der selbst engste Vertraute ermordet oder in den Selbstmord getrieben worden waren, jener absolute Herrscher, der sein Volk als zu schwach und seiner nicht würdig verachtete, er richtete sich am Ende selbst. Nach seinem Tode über- nahmen Heerführer die Kontrolle, Armeen stellten die öffentliche Ordnung wieder her – die Büsten des Herrschers aber wurden sogleich im ganzen Reich und in den eroberten, besetzten Gebieten zertrümmert, seine Insignien ge- ächtet, seine Helfer verfemt, verfolgt, gerichtet – und am Ende gar noch die Währung neu geprägt. Auch aus den Akten wurden die Spuren dieser schreck- lichen Herrschaft soweit möglich getilgt. Wir sprechen hier nicht von . Wir sprechen von – Nero, jenem römischen Imperator, der wenige Jahrzehnte nach der Errichtung des Kaiser- tums durch Augustus es schon tief diskreditiert und ganz nah an den Abgrund herangeführt, der eine Schreckensherrschaft errichtet und einen Bürgerkrieg entfesselt hatte, an dessen Ende Rom in Flammen aufging. Zugleich hatte dieser wahnhafte Herrscher die Staatsverschuldung über alle Maßen ausgeweitet durch eine erste gigantische Inflationierung der Währung, hatte durch die Bei- mischung immer größerer Mengen von Blei in die Silberlegierungen das Im- perium auch ökonomisch ruiniert, was schon bald nach seinem Tode die erste große Währungsreform im römischen Reich unvermeidlich werden ließ. Ge- stützt auf die Waffen der Legionen und kluge politische Entscheidungen sollten die drei Kaiser aus dem Geschlecht der Flavier – Vespasian, Titus und Domitian – das Imperium wieder stabilisieren und zu neuer Blüte und Machtentfaltung führen. Der bereits unter Vespasian begonnene und bewusst in Neros Privat- gärten angesiedelte Bau des Colosseums zeugt heute noch davon. Neros Bild aber wurde tatsächlich gelöscht auf Münzen, Stelen, Mosaiken, seine Büsten zertrümmert und aus privaten wie öffentlichen Räumen verbannt. Denn die Antike kannte für die großen Täter, für die großen Verbrecher eine Strafe, die wirken sollte weit über deren Tod hinaus. Man nannte diese 16 Einleitung

Strafe Damnatio memoriae, denn der Name dieser Täter, dieser Verbrecher sollte verfemt, verdammt sein bis ans Ende aller Tage und zugleich ihr Bild ge- ächtet werden in der Erinnerung bis in alle Ewigkeit. Es ging nicht um Auslö- schung, sondern um abschreckende Ächtung, denn die Namen der Verfemten waren post mortem keineswegs tabu. Aber sie waren verunglimpft und ver- nichtet über Generationen hinweg. Verdammt in alle Ewigkeit – das war eine furchtbare Waffe, war die Höchststrafe, ausgemacht selten angewandt, denn sie brach mit einem anderen wichtigen Grundsatz der römischen Zivilgesell- schaft: »De mortuis nihil nisi bene«. Über Tote nur gut, nur schonend reden und berichten. Denn diese sind verstummt für immer, können sich nicht mehr erklären, nicht mehr verteidigen. Eine »flächendeckende« Damnatio memoriae für ganze Berufs- oder Personengruppen hat die Antike nicht gekannt. Der Besucher einer Veranstaltung, die am 28. Oktober 2010 im völlig über- füllten Haus der Kulturen der Welt, der ehemaligen Berliner Kongresshalle, stattfand, musste sich fragen: Kannte die Gegenwart eine solche kollektive Damnatio memoriae? Wurde hier nicht plötzlich eine ganze Berufs- und Be- amtengruppe ins Visier genommen, deren Wirken Jahrzehnte zurücklag und deren Akteure nahezu sämtlich schon tot waren? Die aber nun plötzlich als Gruppe, als Behördenvertreter unisono verurteilt und vernichtet wurden? Vor- gestellt wurde die gerade erschienene Studie einer vielköpfigen Historiker- kommission zur Geschichte des Auswärtigen Amtes von den verantwortlichen vier Professoren Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes und Moshe Zim- mermann im Beisein von Bundesaußenminister a.D. Joschka Fischer – dem Initiator der Studie – und dessen Nachfolger, Bundesaußenminister a.D. Frank-Walter Steinmeier, nachdem am Vormittag bereits die offizielle Über- gabe im Amt am Werderschen Markt in Berlin-Mitte stattgefunden hatte. Der Name des amtierenden Bundesaußenministers Guido Westerwelle, dem sie dort überreicht worden war, fiel an diesem Abend in der Kongresshalle nur einmal, als erwähnt wurde, dass er sogleich angeordnet habe, dass das vorzu- stellende Buch fortan fester Bestandteil der Attaché-Ausbildung im diploma- tischen Dienst der Bundesrepublik sein müsse und sein werde. Joschka Fischer zog noch einmal alle Register. Gab sich zerknirscht. Er habe versagt. Zunächst. Habe die »Strukturen« im Auswärtigen Amt nicht ange- tastet. Das sei sicher ein Fehler gewesen. Heute würde er das anders machen. Und dann lobte er – Ladies first – noch vor der hervorragenden, herausragen- den, überragenden Arbeit der Kommission in höchsten Tönen eine ältere Dame, Marga Henseler, die ihn auf die von ihm zunächst übersehene schwe- lende Problematik aufmerksam gemacht habe: die braune Vergangenheit vieler Damnatio memoriae oder ehrendes Gedenken? 17

Im Berliner Haus der Kulturen der Welt diskutieren am 28. Oktober 2010 über die Bedeutung der Studie Das Amt: Moshe Zimmermann, Eckart Conze, Moderatorin Tissy Bruns, Joschka Fischer, Norbert Frei und Peter Hayes (v.l.n.r.).

Beamter und Würdenträger im deutschen diplomatischen Dienst. »Marga Hen- seler hat sich um Deutsch land verdient gemacht«, rief er aus; er werde sie dem Bundespräsidenten für das Bundesverdienstkreuz vorschlagen. Tosender Ap- plaus. »Es ist Marga Henseler, die meiner Ansicht nach hier Geschichte gemacht hat«, rief Fischer. Sie habe ihm einen Brief geschrieben, ihn auf einen »Nazi- Blutrichter« im AA, diesen Franz Nüßlein, hingewiesen, der nach seinem Tode im Amtsblatt ein »ehrendes Gedenken« bekommen habe. Der für hunderte von Todesurteilen verantwortlich gewesen sei. Die Formulierungen erinnerten an das Braunbuch. Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik und in West- berlin, das 1965 in Ost-Berlin erschienen war. Dort wurde Nüßlein bereits als Günstling von Bormann und Heydrich und als einer von »520 Nazi-Diplo- maten im Bonner Auswärtigen Dienst« vorgestellt, als einer derjenigen, die als »geistige Väter des Völkermords« die westdeutsche Nachkriegspolitik »vergif- ten«. Die denunziatorische Geschichtsschreibung der SED wirkte offenbar mächtig weiter – selbst nach dem Untergang der zweiten deutschen Diktatur. Nachdem Bundeskanzler Gerhard Schröder ihn auf den in seinem Ressort zunächst nicht beachteten Hinweis von Frau Henseler aufmerksam gemacht habe, hätte er, Fischer, den Handlungsbedarf erkannt. Jetzt habe er unverzüg- 18 Einleitung

Joschka Fischer erläutert dem Publikum am 28. Oktober 2010 das Ergebnis der »Operation Hinkelstein«: »Die Befunde waren niederschmetternd. Der Schmutz, der einem bei der Lektüre der knapp 900 Seiten des Berichts der Unabhängigen Kommission entgegenkam, war in der Tat deprimierend.« lich angeordnet, dass eine »Nachrufsperre« erging und mithin all jene, die im Dritten Reich bereits tätig, die Pg, in der SS, im SD oder anderen NS-Orga- nisationen Mitglied gewesen waren, fortan keinerlei Nachruf mehr bekommen dürften. Und schon gar nicht ein »ehrendes Gedenken« von Amts wegen. In seinen Erinnerungen I am not convinced berichtet Fischer wenig später von seinen nächsten Schritten und seinen Eindrücken nach der Lektüre des Kom- missionsberichts: »Mit der Einsetzung der Unabhängigen Historikerkommission hatte die Nachruf-Affäre ihr vorläufiges Ende gefunden. Tatsächlich zu Ende ging sie aber erst am 28. Oktober 2010, also mehr als fünf Jahre später. An diesem Tag legte die Historikerkommission ihren Bericht vor, der zu erschüttern- den Befunden kam: Das Amt war mitnichten ein Hort des Widerstandes gewesen, sondern ein integraler Bestandteil des nationalsozialistischen Re- gimes und der NS-Vernichtungsmaschinerie gegenüber den deutschen und europäischen Juden. Diese Mittäterschaft war keineswegs nur auf das be- rüchtigte ›Judenreferat‹ und dessen Mitarbeiter begrenzt gewesen. Der Ho- locaust wurde gerade auch durch die Botschaften und Generalkonsulate vor allem in den mit dem NS-Deutschland verbündeten oder von diesem Aufstand der Mumien 19

besetzten Staaten Südost- und Westeuropas aktiv betrieben … Die Grenzen zum Reichssicherheitshauptamt, der Mordzentrale der SS, waren fließend geworden, wie die Historikerkommission feststellte. Und auch für die Zeit nach 1951, dem Jahr der Neugründung des Auswärtigen Amtes der Bun- desrepublik Deutschland, waren die Befunde niederschmetternd. Eine selbst ernannte, durch die Mittäterschaft in der NS-Diktatur und am Holo - caust zutiefst schuldig gewordene diplomatische ›Elite‹ versuchte, die Ge- schichte zu ihren Gunsten umzuschreiben und umzudeuten. Dies war die Zeit der Legendenbildung über das AA als Hort des Widerstandes gewesen … Der Schmutz, der einem bei der Lektüre der knapp 900 Seiten des Be- richts der Unabhängigen Historikerkommission entgegenkam, war in der Tat deprimierend. Nach der Lektüre des Berichts der Kom mission verstand ich, warum den ›Mumien‹ der Nachruf so wichtig gewesen war. Er sollte der letzte, über den Tod hinausreichende ›Persilschein‹ sein, der die Legende vom AA als Hort des Widerstandes aufrechterhalten sollte. Damit war aber jetzt Schluss, denn diesen historischen Felsbrocken, den der Bericht der Historikerkommission darstellte, würde niemand mehr aus dem Weg räu- men können. Und die ›Mumien‹ hatten so endlich den Nachruf erhalten, den sie gewollt und – vor allem! – den sie verdient hatten.« 1 Mancher Besucher in der Kongresshalle wird sich ebenso wie Fischers Leser ge- fragt haben: Was würde aber nun mit Walter Scheel und Hans-Dietrich Gen- scher geschehen? Sollten sie keinen Nachruf erhalten, wenn sie starben? Sie waren keine »Täterväter«, aber sie waren als Angehörige der Jahrgänge 1919 bis 1929 vom Nationalsozialismus in ihrer Jugend geprägt und angezogen worden. Sie waren, bevor sie blutjung in den Krieg ziehen mussten, sich frei- willig meldeten oder als Flakhelfer verpflichtet wurden, in der HJ gewesen, in die Partei oder ihre Unterorganisationen eingetreten, ganz ähnlich wie Theo- dor Eschenburg, Walter Jens, Horst Ehmke, der Komponist Hans Werner Henze, Willy Brandts »Doppelminister« Karl Schiller oder die Schriftsteller Siegfried Lenz, Martin Walser, Dieter Wellershoff und noch viele andere. Man- cher, wie Günter Grass – mit »ss«, wie Journalisten später witzelten – oder Horst Tappert, war sogar freiwillig oder zwangsverpflichtet bei der Waffen-SS gewesen, wie über eine Million anderer Männer auch. Nach 1945 schwiegen sie alle darüber – ob voller Schamgefühl oder als entschlossene Verdränger, wer will das entscheiden? 2 Genscher erfuhr Anfang der siebziger Jahre, dass seine Mitgliedskarte mit der Nummer 10.123.636 aus dem Jahre 1944 erhalten geblieben war. Aber sie wurde wegen seiner wachsenden politischen Bedeutung und der ostdeutschen Kam- 20 Einleitung pagnen, bei denen die Vergangenheit als Waffe im innerdeutschen Klassenkampf instrumentalisiert wurde, aus der Hauptkartei im Berlin Document Center (BDC) entfernt und im Panzerschrank des amerikanischen Ar chivleiters abge- legt. Erst 1994, zwei Jahre nach Genschers Rücktritt vom Amt des Außenmi- nisters, wurde der Sachverhalt publik – und regte kaum jemanden auf. Ähnlich verhielt es sich bei Walter Scheel, der von geradezu altrömischer Härte gegen sich selbst ohnehin über seine Zeit im Krieg kaum sprach und seine gefährlichen Einsätze als Nachtjäger ebenso verschwieg wie seine Flecktyphus-Erkrankung, seine Rückgrat-Phlegmone. Als er 1978 auf seinen Partei eintritt im Jahre 1942 angesprochen wurde, meinte er lakonisch, die Mitgliedschaft habe während sei- ner Militärzeit »geruht«. Das war natürlich eine Verharmlosung und durchaus typisch für viele, die später nur ungern an ihre NSDAP-Mitgliedschaft erinnert werden mochten. Aber hätte das Auswärtige Amt im Falle seines Todes auf eine Würdigung, auf einen ehrenden Nachruf verzichten können? Joschka Fischer hatte Glück gehabt, dass Genscher und Scheel nicht ge- storben waren während seiner Amtszeit. Wäre das überhaupt möglich gewesen, die Damnatio memoriae tatsächlich auch für sie? Für »Mr. Bundesrepublik- Scheel« – so Arnulf Baring – und »Mr. Bundesaußenminister Genscher«, der über 18 Jahre das Ressort des Auswärtigen geleitet hatte? Scheel meldete bald nach Erscheinen des Kommissionsberichts öffentlich Widerspruch gegenüber den negativen Urteilen im Band Das Amt an: »Die ersten Erfahrungen als Außenminister 1969/70 waren wegweisend für meine ganze Zeit im Amt. Ich konnte mich auf die sachkundigen und, sagen wir ruhig: dienstfreudigen Menschen aller Dienstgrade verlassen. Einig waren wir uns darin, dass wir diejenigen, die im Auswärtigen Dienst Widerstand geleistet und dafür gelitten hatten, nicht vergessen dürfen. Jeder wusste, dass das sehr wenige waren. Die Gedenktafel im Haus mit den Namen der Hingerichteten zeigt es. Ich bin nie einem Mitarbeiter begegnet, der meinte, das Amt sei ein Hort des Widerstands gewesen. Solche Behaup- tungen waren längst aus der Welt. Die von Herrn Fischer berufene Kom- mission hat in ihrem Bericht dem Dienst die Verbreitung eines Mythos zugeschrieben, um diesen dann aufwendig zu widerlegen. Auch kenne ich keinen, der die Verstrickung des Dienstes in Hitlers verbrecherische Ge- waltpolitik vertuscht hätte. Mit Erstaunen lese ich, Hans-Dietrich Gen- scher, Klaus Kinkel und ich hätten Entscheidungen noch im Schatten solcher Tradition getroffen. Weniger skurril ist es, dass die 16 Autoren des Buches verstorbene Angehörige des alten – und neuen – Amtes durch un- verständliches Verschweigen nachweisbarer Tatsachen verleumden.« 3 NSDAP-Mitglieder: Walter Scheel und Hans-Dietrich Genscher 21

Offenbar hatte Fischer an Scheel und Genscher gar nicht gedacht – dass man im Amt bald nach der Präsentation des Kommissionsberichts erklärte, diese Beiden würden selbstverständlich dereinst prominent gewürdigt werden, machte die Sache nicht besser. Ungeachtet dessen gab sich Fischer als Trium- phator. Als derjenige, der Recht gehabt, Recht behalten hatte, als er endlich spät, aber nicht zu spät zur Jagd blies. Der gegen zahlreiche Widerstände ein zentrales Thema besetzt und am Ende nachhaltig »gesiegt« hatte. Vor der Ge- schichte. Für die Geschichtsbücher. Was die 68er einst begonnen hatten, je- denfalls in der Legende, an der sie gerne weiterstrickten, die autoritären Väter nämlich bohrend und anklagend zu fragen, wo sie gewesen, was sie getan hät- ten in der braunen Zeit, das hatte er jetzt für sein ehemaliges Ressort wir- kungsmächtig vollendet: die Demaskierung der alten Eliten. »Jetzt haben sie den Nachruf bekommen, den sie verdienten«, waren seine Worte. Triumph, Hohn und Häme. Sie waren zur Strecke gebracht, sie waren erledigt für alle Zeit. »Den Fels, den diese Unabhängige Historikerkommission auf das Feld ge- rollt hat, wird niemand mehr wegrücken« rief er aus und sollte es, noch immer hochzufrieden, wenige Monate später in seinen Erinnerungen I am not convinced – Der Irakkrieg und die rot-grünen Jahre abermals formulieren. Joschka Fischer schlug an diesem trüben Herbstabend 2010 das Publikum in der Berliner Kongresshalle in seinen Bann, wie früher die – von ihm ge- fürchteten, am Ende gehassten – grünen Parteitage. Er sei tief berührt, das sei kein gewöhnlicher Tag für ihn, sagte er. Und dann wieder mit plötzlich hoch- loderndem Zorn: Seine ministerielle »Nachrufsperre« habe im Amt einen Sturm der Empörung ausgelöst. Und einen regelrechten Aufstand dieser gro- tesken »Mumien«, der pensionierten Diplomaten, den ein Teil der Presse, vor allem dieser eine Journalist in Frankfurt – gemeint war Rainer Blasius – be- gleitet und befeuert habe mit immer neuen giftigen Artikeln. Er habe das alles zunächst gar nicht recht verstanden. Heute aber wisse er, den alten Diploma- ten sei es »mit ihren Nachrufen in diesem kleinen Blättchen des AA ganz of- fensichtlich um den letzten, über den Tod hinausreichenden Persilschein gegangen«. Das aber könne und dürfe nicht hingenommen werden. Fischer wörtlich: »Dieses Weiße-Wäsche-Waschen soll offenbar immer weitergehen. Damit muss jetzt Schluss sein!« Beifall brandete auf. Das Publikum sah sich in ein Wechselbad getaucht zwischen freudigem Enthusiasmus über die Aufklärungsleistung und Entsetzen über diesen offen- bar bis in die jüngste Gegenwart im Regierungsapparat der Republik weiter wirkenden braunen Sumpf. Fischer selbst zeigte sich – er ist wirklich ein groß- artiger Schauspieler – über die unerwartet fürchterlichen Ergebnisse »seiner« 22 Einleitung

Studie, »seiner« Kommission zutiefst »schockiert« – und zugleich spürbar stolz, dass er dieses Werk bewirkt, dass er fünf Jahre zuvor diese Unabhängige His- torikerkommission versammelt und eingesetzt hatte. »Das Amt war eine ver- brecherische Organisation«, mit dieser von Eckart Conze schon vor der Ver anstaltung in Interviews geprägten, verkaufsfördernden Formel war Fischer mehr als einverstanden. Das galt auch für die massive Kritik, die Conze an der Amtsführung seiner Vorgänger geübt hatte: »Eine Aufklärungsarbeit blieb unter Kiesinger/Brandt wie auch unter Brandt/Scheel sowie noch unter dem Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) in den späten 60er, 70er und den 80er Jahren aus. Die Netzwerke und die Geschichtspolitik des Amtes wirkten weiter.« 4 Diese Darstellung stieß in der Öffentlichkeit erstaunlicherweise kaum auf Widerspruch. Neben Walter Scheel bezog lediglich Egon Bahr, der alte Ver- traute Willy Brandts und sein wichtigster Mitgestalter der Neuen Ostpolitik, im Interview mit Jacques Schuster und Thomas Schmid klar und kritisch Stellung: »WELT: Teilen Sie das Urteil des Historikers Eckart Conze, dass das Auswärtige Amt eine ›verbrecherische Organisation‹ war? Bahr: Nein. Sicher gab es im Amt viele Diplomaten, die sich aus Oppor- tunismus und Karrieregründen bewusst in den Dienst der Judenvernich- tung gestellt haben. Aber in dieser absoluten Form ist das nicht richtig. Vergessen Sie auch nicht: Die Große Koalition war 1966 der Versuch, eine Versöhnung herbeizuführen. Das heißt: Wir hatten einen Bundeskanzler Kiesinger an der Spitze, der war Mitglied der NSDAP. Er kam aus dem Auswärtigen Amt. Ihm zur Seite stand ein Emigrant, Vizekanzler Brandt. Wehner, der Exkommunist, bekam die höchste Wiedergutmachung, die er sich wünschen konnte: Er wurde Bundesminister. Und wir hatten außer- dem mit Franz-Josef Strauß zu tun. Es hieß, zu versöhnen und nicht zu spalten. Einer der wichtigsten Mitarbeiter im Auswärtigen Amt war Ulrich Sahm. Er wurde später mit ins Kanzleramt genommen, danach wurde er Botschaf- ter in Moskau. Sein Vater war der letzte gewählte Oberbürgermeister von Berlin, später trat er in die NSDAP ein, wurde dann Botschafter in Oslo. Ribbentrop wollte ihn entlassen. Sahm senior beschwerte sich bei Hitler. Hitler hat Ribbentrops Entscheidung korrigiert. Wir hatten mit dem Sohn zu tun, der kommt in dem Buch Das Amt und die Vergangenheit gar nicht vor. Die Überprüfungskommission im Auswärtigen Amt hat sich nur der Schwerbelasteten angenommen. Brandt hat zum Beispiel den im Ruhe- Egon Bahr: »Keine verbrecherische Organisation« 23 stand befindlichen Duckwitz aktiviert, der zwar Pg, aber ein bekannter Anti-Nazi war und Juden in Kopenhagen gerettet hatte. Brandt hat ihn ganz bewusst als Staatssekretär ins Amt geholt. WELT: Je weiter das Dritte Reich weg ist, desto moralisch immer unerbittlicher scheinen die Nachgeborenen zu werden. Es scheint, als seien die damals Betrof- fenen milder im Umgang mit dem Dritten Reich gewesen, weil sie um die ver- schiedenen menschlichen Beweggründe wussten. Man wollte nach 1945 gemeinsam etwas Neues schaffen und drückte daher manchmal eben ein Auge zu. Aber noch einmal zurück zu Ihren Jahren im Auswärtigen Amt seit 1966. Es muss damals ja noch den Korpsgeist gegeben haben. Gab es da nicht wenigs- tens Spuren einer Überheblichkeit gegenüber dem Emi granten Brandt? Bahr: Nicht einmal in einer Nuance ist mir das begegnet. Null Kom ma Null. Ich musste damals den Planungsstab im Auswärtigen Amt völlig neu aufbauen, weil mein Vorgänger, der Pressesprecher geworden war, alle fä- higen Leute mitgenommen hatte. Ich habe dann qualifizierte Leute gesucht. Später habe ich erfahren, dass einer meiner Mitarbeiter Mitglied in der NSDAP gewesen war, ein anderer Mitglied der FDP. Das hat mich über- haupt nicht interessiert. Ich habe bei der Zusammenstellung des Personals danach gesucht: Wer ist fähig, wer ist loyal? Mit wem kann ich arbeiten. Das waren die Kriterien. WELT: Da sind wir aber gerade bei der Milde, die die früheren Generationen der Bundesrepublik haben walten lassen. Es hat Sie eben nicht interessiert, wer Pg – Parteigenosse – war und wer nicht. Und genau das nehmen die heutigen Generationen übel. Bahr: Ja, das ist aber Quatsch. Und das ist zutiefst ungerecht … WELT: Müsste man dann nicht heute noch einmal klar sagen: Wir konnten 1945 nicht 500.000 Menschen, die Nazis waren, erschießen. Bahr: Na selbstverständlich. Wenn man nur schmutziges Wasser hat, dann trinkt man eben nur das, was man hat. Das kann man entweder für zynisch oder für realistisch halten. Beide Bezeichnungen treffen auf den alten Rea- listen Adenauer zu. Ich gehe noch einen Schritt weiter: Wenn Hans Globke als Kommentator der Nürnberger Gesetze zum obersten Beamten der Bun- desrepublik gemacht wird, dann ist das eine stille Amnestie, die Adenauer eingeleitet hat. Ich bin damals wütend geworden, als ich hörte, wer da mit Globke in Amt und Würden kam. Im Abstand von Jahrzehnten hat sich mein Urteil gemildert unter der Überlegung, dass der alte Adenauer eine ungeheure Leistung zu vollbringen hatte: Er hatte einen Staat mit sechs Millionen NSDAP-Mitgliedern und den Vertriebenen vor sich, unter 24 Einleitung

denen der Anteil der Nazis nicht gering war. Er musste sehen, dass diese explosive Mischung eben nicht explodierte. Das ist Staatskunst.« 5 In Bahrs Worten bündeln sich die Einsichten sowohl des Zeitgenossen als auch eines langen Politikerlebens. Anders als im Kommissionsbericht sugge- riert wird, ist die Welt eben nicht schwarz oder weiß zu malen. Moshe Zim- mermann hat das ein paar Jahre später selbst erkannt, als er im Sommer 2013 auf einer Tagung der politischen Akademie in Tutzing launig formulierte, der Titel des Bandes hätte eigentlich »Fifty Shades of Grey« lauten müssen. Weder um Reinwaschen kann es also gehen, noch um pauschale Verurteilungen. Es geht auch nicht um Persilscheine für die Aufbaugeneration der Bundesrepu- blik – auch Bahr hat solche nicht ausstellen wollen. Sondern es geht darum, genau hinzuschauen und differenziert zu urteilen. Dass dies im Kommissi- onsbericht nicht durchweg der Fall gewesen war, mochte bereits mancher der Zuhörer in der Berliner Kongresshalle ahnen. Diese Zweifel an der Qualität der Studie sollten sich verstärken, je intensiver man sich mit dem Amt, seiner Vergangenheit, der Kommission und ihrem Bericht beschäftigte. 25

Hitlers willige Diplomaten im Visier von Fischers willigen Historikern

Das Gegenteil des Persilscheins ist anscheinend der braune Schuldschein, der jene Schuld festschreibt für alle Zeiten, inklusive anschließender entsprechen- der publizistischer und medialer Verbreitung. Ein negatives Exklusivitätsver- sprechen. Nicht abzustreifen, nicht zu löschen oder zu verwandeln durch tätige Reue und konkludentes Handeln. Egal, was man in anderen, späteren Lebens- abschnitten gemacht, getan, bewirkt hat. Schuld ohne Sühne. Und dement- sprechend ohne Verzeihen. Ohne Vergebung. Ohne Versöhnung. Gänzlich un christlich. Die moderne, kalte Form der Damnatio memoriae eben. Was sich da Ende Oktober in der Berliner Kongresshalle abgespielt hatte, war wirk- lich eine bizarre Veranstaltung und Fischers Historikerkommission eine selt- same Jagdgesellschaft. Das Ganze hatte etwas von einem Tribunal, von einem Schau prozess gehabt. Allerdings ohne Angeklagte. Die waren ja entweder tot oder ab wesend. Auch die Verteidiger fehlten. Ausschließlich Großinquisitoren, die sich einig waren. Wissenschaftler und Politiker in trauter Übereinstim- mung: Vernichtende Urteile über Abwesende, oftmals nach deren Tod ver- hängt und wirksam weit über den Tod hinaus. Aber war das angemessen? War das gerecht? Vor den dunklen Seiten des Auswärtigen Amtes konnte niemand mit klarem Blick die Augen verschließen. Auch nicht vor dem weit verbreiteten Opportunismus, dem vorauseilenden Gehorsam, den eine Vielzahl seiner Stellungnahmen und Dokumente aus dem Dritten Reich widerspiegeln, ganz zu schweigen von der Kooperationsbereit- schaft und Zuarbeit beim Völkermord, denn das Amt war keine Insel des Widerstands im braunen Meer gewesen. Der Rassenwahn hatte sich unter deut schen Diplomaten ebenso ausgebreitet wie im übrigen Land – mit all seinen entsetzlichen und beschämenden Folgen. Viele Diplomaten hatten tatsächlich überaus willfährig mitgewirkt als Treiber bei der mörderischen Menschenjagd, die Hitler, Himmler, Heydrich und ihre vielen Helfer in Europa auslösten. Das AA war auf der Leitungsebene ab Ende 1941 informiert über die Massen- morde der Einsatzgruppen und viele seiner Angehörigen waren in die büro- 26 Hitlers willige Diplomaten und Fischers willige Historiker kratische Abwicklung der Juden-Deportationen in Europa verstrickt. Sie wur- den damit Beteiligte im Prozess der »kumulativen Radikalisierung« (Hans Mommsen) bis hin zum industriellen Massenmord. Diese Schuld existiert – hier wie auch bei anderen Angehörigen der Funktionseliten. Aber kann man deshalb von einer Kollektivschuld und -verantwortung des AA als Gesamtinstitution sprechen? Die Mitwirkung Einzelner als Mittäter an den NS-Verbrechen führt nicht dazu, dass man die gesamte Behörde juris- tisch, historisch oder im allgemeinen Sprachgebrauch als verbrecherische Or- ganisation bezeichnen kann. Wir müssen doch gerade auf diesem Gelände einer uns fernen, immer schwerer verständlichen Lebenswelt mit all ihren Ab- gründen die bequemen pauschalen Urteile meiden und stets so genau wie möglich hinschauen, bevor wir werten. Die Arroganz und Ignoranz der späten Geburt, die uns auf vielen Seiten des Amt-Buches mit seinen inquisitorisch- vernichtenden Wertungen entgegentritt, ist für den Historiker kein hilfreicher Begleiter. Bernhard Schlink hat in diesem Zusammenhang mit guten Argu- menten von einer fragwürdigen Kultur des Denunziatorischen gesprochen, die sich mit diesem Band ausbreite: »Moshe Zimmermann, einer der Autoren der Arbeit über das Auswärtige Amt, wünscht sich, dass aus der Geschichte gelernt wird. Wer wünschte sich das nicht! Aber man lernt aus der Geschichte nicht, indem man auf sie blickt und über sie urteilt, als sei sie die Gegenwart. Man lernt Zivil- courage gegenüber totalitären Vereinnahmungen nicht, wenn sie präsentiert wird, als habe sie nach 1933 nicht mehr gekostet, als heute ein Aufbegehren gegenüber staatlichen oder gesellschaftlichen Institutionen kostet. Man lernt nicht, sich auch noch als Getriebener seiner Verantwortung bewusst zu sein, wenn man um das Verständnis für das Getrieben- und zugleich Verantwortlichsein anderer gebracht wird. Man lernt Widerständigkeit nicht, indem man einübt, sich vom Mainstream moralischer Selbstgewiss- heit und -gerechtigkeit tragen zu lassen. Es ist ein Geflecht von Gründen, dem sich die Kultur des Denunziatori- schen verdankt. Der denunziatorische Zugriff auf die Vergangenheit und auch die Gegenwart ist einfach. Moralisieren reduziert Komplexität. Die Erforschung nicht nur des äußeren, sondern auch des inneren Geschehens, die Erhebung nicht nur der markanten, sondern auch der unscheinbaren Befunde, aus denen Lebenswelten rekonstruiert werden, das Bewussthalten der Distanz, der letztlich unüberbrückbaren Kluft zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die Balance zwischen dem analytischen und theoretischen Gegenwartsblick und der Einfühlung in vergangene Mentalitäten, das mo- Bernhard Schlink: »Kultur des Denunziatorischen« 27 ralische Urteil aus dieser Balance – es ist aufwendig. Mit heutigem morali- schem Maßstab zu entlarven und zu diskreditieren bedarf keines großen Aufwands. Dazu kommen die Gratifikationen moralischer Überlegenheit und des re- bellischen Gestus. Sie befriedigen die Eitelkeit. Mehr noch, sie scheinen den Makel der deutschen Vergangenheit zu tilgen, den noch die Angehö- rigen der dritten und vierten Generation spüren, wenn sie sich für Ge- schichte interessieren und ihre Identität nicht nur aus dem Leben in der Gegenwart, sondern auch aus dem Leben mit der Vergangenheit bestim- men. Wird gegen die Vergangenheit rebelliert und wird sie moralisch ver- urteilt, dann scheint ihre Integration in die Identität zu gelingen: als Integration der Rebellion und der Verurteilung. Wie die Gründe, denen sich die Kultur des Denunziatorischen verdankt, hat sich auch das Material noch nicht erschöpft. Ein Ministerium des Drit- ten Reichs nach dem anderen wird historisch aufgearbeitet werden, und es wird sich zeigen, dass es ein williges Instrument des Nationalsozialismus war. Bei noch einem und noch einem Industrieunternehmen wird aufge- zeigt werden, dass es von Aufrüstung und Zwangsarbeit profitiert hat. Jedes Stadt-, jedes Gerichts-, jedes Kirchen- und jedes Vereinsarchiv enthält Quel- len aus dem Dritten Reich, und wenn sie gehoben werden, werden sie den Weg der Ausgrenzung und Verfolgung der Juden bestätigen. Was sonst? Ohne Unterlass kann die Frage gestellt werden, was die Deutschen wussten und was sie nicht wussten – was wussten sie, wenn sie nicht wissen wollten, was sie hätten wissen können? Nach dem Dritten Reich gibt es die DDR und die Bundesrepublik der fünfziger und sechziger Jahre, die das Erbe des Dritten Reichs nicht entschlossen genug abgeschüttelt hat, und in den sieb- ziger und achtziger Jahren den Terrorismus und seine Bekämpfung. Ständig wird Gegenwart zu neuer Vergangenheit und hält dem neuen moralischen Blick einer neuen Gegenwart nicht mehr stand. Ständig wird es in der Ge- genwart neue Stoffe für moralische Skandalisierungen geben. Aber wie sich bei der Kultur des Vergessens und Verdrängens und der Kul- tur des studentenbewegten und sozialdemokratischen Aufbruchs sowie der Kultur des In-der-Bonner-Republik-angekommen-und-mit-ihr-zufrieden- Seins schließlich Überdruss eingestellt hat, wird er sich auch bei der Kultur des Denunziatorischen einstellen. Es müsste einem nicht leid um sie sein, wäre nicht zu befürchten, dass sich mit ihr auch das Interesse an der Ver- gangenheit erledigen wird, mit der sie sich auf ihre besondere Art besonders intensiv beschäftigt. Der Überdruss an der Art der Beschäftigung wird deren 28 Hitlers willige Diplomaten und Fischers willige Historiker

Gegenstand nicht verschonen. Für eine der nächsten Generationen werden die Furchtbarkeiten des Dritten Reichs nicht nur weit weg sein; sie wird der Beschäftigung mit ihnen überdrüssig sein.«6 Es ist die Aufgabe des Historikers, das zu verhindern. Die Aufgabe ist an - spruchs voll, denn in seinem Berufsbild verschmelzen eine Vielzahl von Rollen: Bewahrer, Ermittler, Staatsanwalt, Verteidiger, Richter. Bleiben nur Staatsan- walt und Richter, ja Henker übrig, wird es problematisch. Anders als die neuen Jakobiner sollten wir uns immer wieder die Frage nach den Handlungsspiel- räumen in einer Diktatur stellen, sollten wir das individuelle Handeln, aber auch das Verhalten von Interessengruppen und Behörden differenziert auszu- forschen suchen in jener Zeit und uns dabei zugleich eingestehen, dass wir nicht wirklich wissen, ob wir die Probe selber bestanden hätten damals, als der mörderische Rassenwahn Staatsdoktrin geworden war. Überdies sind Historiker auch stets die Sprecher der Toten, weil diese keine Stimme mehr haben, nicht mehr sich und ihre Handlungsweisen erklären können aus ihrer Zeit, ihrem »Kontext« heraus. Sie sind bei allem zugleich Pathologen, die erst später, im Nachhinein, wenn alles geschehen ist, den Cor- pus öffnen, kleine Teilchen entnehmen, betrachten, wägen, wiegen und be- werten im Lichte der eigenen Zeit. Und sie sind Wissenschaftler, sind der Empirie verpflichtet, die belastende wie entlastende Tatsachen und Faktoren gleichermaßen in den Blick nimmt. »All the news that’s fit to print«, wie Mi- chael Wolffsohn, den Slogan der New York Times zitierend, immer sagt. Das erfordert Einfühlungsvermögen, Selbstreflexion und -zweifel sowie die Scheu vor vorschnellen Urteilen und Schlüssen. Denn die Aufgabe der Historiker und Historikerinnen ist schwierig. Sie sollen mit dem »State of mind« ihrer eigenen Zeit und Lebenswirklichkeit eine andere Zeit aufscheinen lassen und uns als Dolmetscher, soweit möglich, das Leben jener Anderen, jener Verstor- benen erklären, die handelten in fernen Zeiten unter uns fernen, uns fremden Umständen. Nicht einmal bei der Täter- und Mittäterforschung sind Historiker in erster Linie Jäger. Nicht die Abschussquote, sondern der Erkenntnisgewinn bleibt auch da ihr vordringlichstes Ziel. Leitmotiv eines jeden Historikers sollte bei alledem jenes weise Wort sein, das Konfuzius vor zweitausendfünfhundert Jahren prägte: »Wo alle loben, muss man prüfen. Wo alle anklagen, muss man prüfen.« Ein Motto, das Joschka Fischer und seiner Unabhängigen Histori- kerkommission noch ferner zu liegen schien als das Wirken Neros vor zwei- tausend Jahren. Die Damnatio memoriae ist in der Geschichtswissenschaft keine sinnvolle Kategorie und für den Historiker keine überzeugende Option. Sie hat ihren »Geschichtspolitik dominiert Geschichtswissenschaft« 29

Platz in der Geschichtspolitik. Wenn Geschichte zur Waffe, wenn sie bis hin zur selektiven Quellenpräsentation, das »Entlastungsmaterial« weitgehend aus- blendet und zur erzieherischen Maßnahme im Rahmen der Volkspädagogik eingesetzt werden soll. Wenn sie, wie in diesem Fall, zur »intentionalistischen Geschichtsschreibung« wird. Das eigentliche Motto der Veranstaltung in der Kongresshalle an jenem herbstlichen Abend hatte eigentlich gelautet: »Ge- schichtspolitik dominiert Geschichtswissenschaft«. Hier kam nicht die Gnade der späten Geburt zum Ausdruck, die Helmut Kohl in Israel den nach 1945 ge borenen Deutschen ganz richtig zugeschrieben hat, sondern das Gegenstück davon: die Arroganz und Ignoranz der späten Geburt, mit der nun nach mehr als sechzig, siebzig Jahren über die vor 1945 im Dritten Reich Tätigen, in Hit- lers massenmörderische Tyrannei Verstrickten final geurteilt wurde. Wer die wichtigen historischen Werke zum Thema etwa von Hans-Jürgen Döscher, von Sebastian Weitkamp, vor allem aber von Christopher Browning – aus dem Jahr 1979 – kannte, konnte durch die Ergebnisse des Kommissions- berichts nicht wirklich verblüfft werden. Die massive Verstrickung von Teilen des Auswärtigen Amtes – weit über die unmittelbar mit der Thematik befasste Deutschland-Abteilung unter Martin Luther und Franz Rademacher hinaus – in den deutschen Staatsvölkermord war nicht wirklich neu. Hier aber wurde sie als kaum fassliche Sensation präsentiert und auf das ganze Amt übertragen von Marie »Missie« Wassiltschikow bis zu . Und in einem medialen »Hype« fortgeschrieben, den schon die F.A.S. eingeleitet hatte, als sie noch vor der Präsentation des Historiker-Sammelwerkes – was aus - gemacht selten geschieht – am 24. Oktober 2010 unter der Überschrift Die Täter vom Amt ein ganzes »Buch«, ein ganzes vielseitiges und großformatiges Feuilleton ausschließlich diesem Thema gewidmet hatte. Als Beleg für die umfassende Verstrickung des Amtes wurde von der Kom- mission und in deren Gefolge auch von der F.A.S. – als optischer Aufmacher auf der Titelseite – eine amtsinterne Reisekostenabrechnung von dem im Amt für »Judenfragen« zuständigen Franz Rademacher – angeblich aus dem Jahre 1941 – präsentiert, auf der als Reisezweck »Liquidation von Juden in Belgrad« vermerkt worden war. Der amtierende Außenminister Westerwelle beeilte sich sogleich, sein Erschrecken über das Fundstück zu äußern, diesen Beleg dafür, dass man »im Auswärtigen Amt Mord als Dienstgeschäft abrechnen« konnte und zahlreiche weitere Zeitungen wie DER TAGESSPIEGEL oder die taz druckten es nunmehr sogar als bislang unbekannten Sensationsfund ab – ob- wohl die Quelle bereits seit den frühen fünfziger Jahren bekannt gewesen war.7 Noch auf der Historiker-Tagung in Tutzing im Sommer 2013 meinte Eckart 30 Hitlers willige Diplomaten und Fischers willige Historiker

»Art oder Gegenstand der Dienstgeschäfte: Liquidation von Juden in Belgrad und Besprechungen mit un- garischen Emissären in Budapest«. Außenminister Westerwelle kommentierte diesen Quellenfund am 28. Oktober 2010 ähnlich wie die Kommission: »In diesem Amt konnte man Mord als Dienstgeschäft abrech- nen«.8

Conze, diese Reisekostenabrechnung, die viele hätten lesen können, belege das Ausmaß der Verstrickung eindrucksvoll. In Wahrheit hatten die ominöse Reisekostenabrechnung außer ihrem Ver- fasser Rademacher damals nur noch zwei Personen gelesen: der Mann in der Reisekostenstelle und der Mann in der Registratur, bevor er sie zu den Akten nahm. Das war aber nicht 1941 geschehen, sondern anderthalb Jahre später, im Frühjahr 1943. Überhaupt stimmte so manches nicht an der präsentierten Ausdeutung der Quelle. Anders als von der Fischer-Kommission behauptet und – ihr folgend – von den deutschen Zeitungen verbreitet worden war, konnte dieses kleine Quellenstück gerade nicht als Beleg für eine umfassende Kenntnis der deutschen Staatsverbrechen im Auswärtigen Amt herangezogen werden – und das nicht allein deshalb, weil »Judenangelegenheiten« in der massenmörderischen Phase des Krieges durchweg qualifizierte Verschlusssa- chen gewesen waren, sondern weil sich die ominöse Reisekostenabrechung noch nicht auf die »Endlösung« bezog, aber auf einen anderen Zusammen- hang – auf die Erschießung von Juden als Geiseln im Krieg als Vergeltungs- maßnahme für Partisanen angriffe. Reisezweck 1941: »Liquidation von Juden« 31

Nach diesem Presseecho galt es, zügig Das Amt und die Vergangenheit zu lesen. Um sogleich zu staunen. Das sollte die »aus den Quellen und der ver- streuten Forschungsliteratur gearbeitete, systematische und integrierende Ge- samtdarstellung« sein, wie die vier Kommissionsmitglieder in der Einleitung auf Seite 11 vollmundig verkündeten? Hier ging es doch ausschließlich um ein einziges Thema: Die Verstrickung des Auswärtigen Amtes in den Holo- caust. Das sollte tatsächlich im Jahr 2010 die Basis für eine »systematische und integrierende Gesamtdarstellung« des Amtes darstellen? Alle Beteiligten hatten das vor der Veröffentlichung abgesegnet, durchgewunken. Was sagte das über das Land und seine Wissenschaftler aus? Das Buch schrieb doch in Wahrheit Daniel Goldhagens Hitlers willige Vollstrecker fort, hätte korrekter- weise allenfalls »Hitlers willige Diplomaten, beschrieben von Fischers willigen Historikern« heißen dürfen. Das sollte moderne Zeitgeschichte sein? Dafür waren Millionen an For- schungsmitteln bewilligt worden? War das nicht eine gewaltige Ohrfeige für die vielen Kollegen, die von Hans Adolf Jacobsen bis Peter Krüger, von Wolf- gang Michalka bis Manfred Funke, von Andreas Hillgruber bis zu Klaus Hil- debrand – um nur einige zu nennen – sich mit der Geschichte der deutschen Außenpolitik und des AA im Dritten Reich intensiv befasst hatten und die, 32 Hitlers willige Diplomaten und Fischers willige Historiker ganz anders als Fischer und seine Un ab hängige Kommission, die Verstrickung des Auswärtigen Amtes in die massenmörderischen Machenschaften des Hit- ler-Regimes nicht als den alleinigen, einzigen und zentralen Aspekt und An- gelpunkt ihrer Forschungsarbeit angesehen hatten? Waren sie nun alle »Vertuscher«, waren sie blind für das zentrale Feld gewesen? Der Kommissi- onsbericht behauptete wortmächtig ja tatsächlich mindestens Dreierlei mit Nachdruck und Verve: Das Auswärtige Amt sei zentral am Entscheidungspro- zess in Richtung staatlichem Völker- und Massenmord an den europäischen Juden beteiligt gewesen, habe diesem – selbst in höchstem Maße antisemitisch aufgeladen – im Inland sowohl propagandistisch wie auch mittels eigener Stel- lungnahmen und Gutachten von Anfang an intensiv den Boden bereitet. Es habe ferner aus dem Amt immer wieder Initiativen gegeben, die die Entwick- lung in Richtung auf den staatlichen Völker- und Massenmord entscheidend vorangetrieben hätten. Und Drittens: Es habe in den Jahren der sich beschleu- nigenden Radikalisierung im Krieg ein ausgemacht enges Verhältnis gegeben zwischen dem Reichssicherheitshauptamt (RSHA) und dem AA – ein Ver- hältnis auf Augenhöhe.9 Die Rigidität, mit der diese Behauptungen vorgetragen wurden, gingen weit über Browning, Döscher und Weitkamp hinaus. Auch diese Historiker waren offenbar nicht zum Kern der Thematik vorgedrungen. Das verblüffte und befremdete. Erstaunlich war aber auch das Menschenbild, das im Kom- missionsbericht präsentiert wurde. Es war voller stereotyper »Mumien«, aber ohne handelnde Akteure aus Fleisch und Blut. Denn von den Motiven, Inten - tionen, Spannungen, Lebenswirklichkeiten und Charakterzügen der vielen, die uns vorgeführt werden an dem einen, einzigen bedeutsamen Punkt, näm- lich was sie in den Akten über ihre Mitwirkung am massenmörderischen Ras- senwahn an Spuren hinterlassen haben, kaum ein Wort. Überall nur Phantome, Schablonen, schwarz-weiße Scherenschnitte. Nehmen wir den von Fischer ausführlich erwähnten Franz Nüßlein. Spielt bei der Bewertung dieses Mannes und seines Falles sein Charakter, sein ka- tholischer Glaube, seine Introvertiertheit, sein komplizierter Umgang mit Frauen eine Rolle? Nicht zuletzt vielleicht sogar sein Umgang mit Marga Hen- seler? Die beiden kannten sich ja schon aus Kriegszeiten in Prag. Sie war etwas später als er Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre ins Amt gekom- men; er soll ihr dabei sogar mit einer Empfehlung geholfen haben.10 Was, wenn Nüßlein und Frau Henseler sich besser kannten? Sie schwieg bis zu sei- nem Tod, wies erst danach die Leitungsebene des Amtes auf den »Blutjuristen« hin. Waren, bzw. sind solche Fragen interessant, ja bedeutsam? Für das Auto- Franz Nüßlein ein »Blutrichter«? 33 renkollektiv des Kommissionsberichtes: Nein. Für mich schon. Ich halte derlei zur Beurteilung des komplexen Falles Nüßlein – und jeder Fall eines ins Dritte Reich Verstrickten ist komplex – für wichtig. Sicher, das kann, das muss man später zusammenschmelzen, komprimieren fürs Gesamtbild. Wenige Hinweise können genügen. Aber sie müssen formuliert werden. Dabei war für mich rasch klar: An der Nüßlein-Geschichte stimmte etwas nicht, konnte gar nicht stimmen. Es war eigentlich simpel: 1947/48 herrschte in der Tschechoslowakei eine extrem deutschfeindliche Stimmung. Sie ver- stärkte sich noch nach dem kommunistischen Putsch. Der Hass auf die Deut- schen wurde von den neuen Machthabern noch weiter geschürt, um die Solidarität und Anerkennung im Innern mit der keineswegs populären neuen stalinistischen Regierung zu befördern. Muss man nicht wissen. Aber von den Beneš-Dekreten, vom brutalen Verfolgungsdruck der Tschechen gegenüber jenen Vertretern der deutschen Besatzungsmacht im einstigen »Protektorat Böhmen und Mähren« hatte im überwiegend älteren Publikum der Kongress- halle sicher der eine oder andere schon gehört. Über 650 Deutsche waren in der Tschechoslowakei nach dem Krieg zum Tode verurteilt worden, 465 wur- den wohl tatsächlich gehenkt, so viele wie in keinem anderen europäischen Staat nach 1945. Der Grundsatz galt: Wer als Deutscher einem Tschechen während der Besatzungszeit auch nur ein Haar gekrümmt hatte und sich jetzt im Bereich der tschechischen Justiz befand oder an diese ausgeliefert wurde – war unzweifelhaft des Todes. Ein »Blutrichter« war Nüßlein nicht. Jedenfalls nicht für die damals extrem deutschfeindlichen Tschechen, für die Vertreter der tschechischen Justizverwal- tung in jener unmittelbaren Nachkriegszeit, die ihn andernfalls sogleich zum Tode verurteilt hätten. Die im Übrigen sehr viel näher dran gewesen waren am grausigen Geschehen als Fischer und seine Unabhängige Historikerkommission es je hatten sein können. Eine stärkere Aussage aus von jedem deutschen Ein- fluss freien Quellen zu Nüßleins Entlastung ist nicht denkbar. Weil hier keine deutsche, keine alliierte Seite, keine Spruchkammer, kein Entnazifizierungs- verfahren, keine alten Seilschaften, keine braunen Verschwörungstheorien eine Rolle spielten, eine Rolle spielen konnten. Prag – das war nach der Auslieferung eine tödliche Bedrohung für jedes einstige Mitglied der deutschen Besatzungs- macht, auch wenn er keine Waffe in der Hand gehalten oder abgefeuert hatte. Hier fand sich jedoch ein Phänomen, auf das jeder stoßen wird, der sich mit dem Bericht der Kommission intensiver zu beschäftigen beginnt und das in den folgenden Kapiteln noch eine große Rolle spielen wird: die Jagdblind- heit dieser historischen Ermittler. Fast immer bei Entlastungsmaterial schlos- 34 Hitlers willige Diplomaten und Fischers willige Historiker sen die vier Professoren und ihr 30-köpfiges Recherche-Team die Augen, wandten den Blick ab, statt genauer hinzuschauen. Entlastende Dokumente? Unwichtig. Stören das Gesamtbild. Eine vom Bemühen um Verständnis, nicht vom vorrangigen Bestreben zur Verurteilung geleitete Argumentation, Ausle- gung, Deutung der Quellen? Nicht erwünscht. Nicht im Sinne des Auftrag- gebers. Erkenntnisleitendes Interesse der Kommission schien anscheinend gewesen zu sein, möglichst alle Beteiligten aus jener Phase des Amtes mit Aus- nahme der von Freislers Volksgerichtshof zum Tode Verurteilten als Schurken, als tief Verstrickte aus der »Verbrecherhöhle« zu entlarven – alle 5.000 bis 6.000 Diplomaten aus Hitler-Ribbentrops Auswärtigem Amt. Damnatio me- moriae für alle. Der geschichtspolitische Ansatz dominiert Recherche und Er- gebnis. Zugleich wird er vorgetragen mit dem hohen, vom Auftraggeber entschieden beförderten Anspruch, ein für alle Zeiten gültiges Geschichtsbuch über die Verstrickungen des AA im Nationalsozialismus und in den Folgejahr- zehnten vorgelegt zu haben – eben einen Felsklotz, einen »Hinkelstein«, der niemals mehr zu verrücken sein würde. Nach dem Erlebnis in der Berliner Kongresshalle wurde der »Fall Nüßlein« für mich zum Tor, oder besser zur Einstiegsluke in den dunklen Brunnen der Geschichte. Ohne ihn wäre dieses Buch nicht entstanden. Schon beim ersten, oberflächlichen Durchsehen von Dokumenten passten die Puzzleteile nicht mit dem zusammen, was Joschka Fischer und die Kommission vorgebracht hatten. Daher nahm ich Kontakt auf zu Frank Schirrmacher, berichtete ihm von meinen Einwänden und Erkenntnissen und skizzierte eine gänzlich andere Bewertung des »Nüßlein-Falles«. Denn an dieser Stelle zumindest bröselte der Felsblock doch schon ziemlich. Frank Schirrmacher fand die Hinweise inte- ressant. Er hatte sich für die Promotion des Amt-Bandes stark gemacht. Aber er erkannte, dass auch Gegenstimmen – Christian Hacke hatte sich zu diesem Zeitpunkt schon sehr kritisch in der WELT geäußert, auch Klaus Wiegrefe im SPIEGEL, Hans Mommsen in Rundfunkinterviews – ein Forum benötigten und gehört zu werden verdienten. Schirrmacher wollte die Debatte. Er lud mich nach Sacrow ein, zu einem vielstündigen, abgeschlossenen, gänzlich un- gestörten Austausch. Wir sichteten gemeinsam über viele Stunden hinweg das mitgebrachte Material, diskutierten frei und offen. Ein kleiner Auszug davon wurde in der F.A.S. vom 28. November 2010 unter der Überschrift »Macht Das Amt es sich zu einfach?« publiziert – die Langfassung wird erstmals in die- sem Band veröffentlicht. In diesem Gespräch mit Frank Schirrmacher hatte ich den von Joschka Fi- scher beauftragten vier Kommissionsmitgliedern und ihrem Historiker-Team Strafaktion 35 an vielen Stellen eine oberflächliche, falsche, einseitige, verzerrende Darstel- lung vorgeworfen und das an einer Reihe von Beispielen belegt. Ich hatte auch gesagt, das Amt-Buch sei »ein Buch der Rache«. Ein Freund aus dem AA hatte mir 2005 erzählt, dass der Minister Fischer beinahe über amtsinterne Querelen im Gefolge der Nachruf- und Visa-Affäre gestürzt wäre. Seine glänzende Kar- riere schien damals gefährdet wie nie zuvor. Überall witterte er Verräter im ei- genen Haus. Hatte nicht dies alles in Verbindung mit der für den Minister peinlichen, ihn zugleich aber auch peinigenden Nachruf-Affäre sein Ressen- timent gegen die alten Eliten wieder massiv anschwellen lassen? War die Ein- setzung der Historikerkommission seine Antwort, seine Reaktion auf all das gewesen?

Reichsaußenminister Gustav Stresemann und sein vertrauter Mitarbeiter Gerhart Feine bei der morgend- lichen Lektüre im Tiergarten

Zugleich hatte ich in dem F.A.S.-Gespräch offen gelegt, dass mein Großvater eine der wenigen positiv bewerteten Persönlichkeiten im Amt-Band ist – Ger- hart Feine, der zusammen mit dem Schweizer Geschäftsträger Carl Lutz 1944 in Budapest, als das »Sonderkommando Eichmann« mehrere hunderttausend ungarische Juden in die Todes-Züge nach Auschwitz lockte und pferchte, we- nigstens mehrere tausend von diesen Bedrängten und Bedrohten durch Sam- 36 Hitlers willige Diplomaten und Fischers willige Historiker melvisa und eigens angemietete Häuserzeilen rettete. Feine war ein enger Ver- trauter Gustav Stresemanns gewesen und von diesem 1926 eigens nach Genf beordert worden, damit sie gemeinsam an der Sitzung teilnehmen konnten, als Deutschland feierlich in den Völkerbund aufgenommen wurde. Als »Mann der verachteten Systemzeit« war Feine während des Dritten Reichs im Amt nicht mehr befördert worden. Zu vertuschen gab es bei ihm nichts. Er hatte 1941 auf Posten in Belgrad erwogen, aus dem Dienst auszuscheiden, nachdem Felix Benzler durch Führererlass im April zum »Reichsbevollmächtigten des Auswärtigen Amtes beim Militärbefehlshaber in Serbien« bestellt worden war und eine Brutalisierung des Krieges, der Besatzungsherrschaft und des Parti- sanenkampfes sich abzeichnete. Auf Drängen seiner Frau war er dann doch geblieben und hatte versucht, einigen jüdischen Freunden wie der Familie Oserovic mit Schutzbriefen zu helfen. Der Mann wurde trotz Feines Hilfe- leistung nach Auschwitz deportiert und dort ermordet, seine Ehefrau aller- dings überlebte. Sie hielt den Kontakt und besuchte Feine sogar noch Ende der fünfziger Jahre auf Botschafterposten in Kopenhagen. Nach dem Krieg wurde Feine 1946 von einem Jeep der jugoslawischen Mi- litärmission in Bremen abgeholt und – mit Billigung der amerikanischen Be- satzungsmacht – nach Belgrad gefahren, um sich dort vor Gericht zu verantworten. Er gehörte zu den wenigen Deutschen, die freigesprochen und anschließend noch von der Tito-Regierung zu einem einwöchigen Hotelauf- enthalt auf Staatskosten eingeladen wurden – als Vertreter der verhassten eins- tigen deutschen Besatzungsmacht. Ja, Feine hatte den opportunistischen Eifer mancher deutschen Diplomaten, sich den braunen Machthabern anzudienen, mehr als dégoûtant gefunden, aber für ihn waren sie nicht in der Mehrheit gewesen. Deshalb hatte er keinerlei Probleme, 1952 in das neu aufgebaute Auswärtige Amt zurückzukehren, als er von AA-Personalchef Wilhelm Haas gefragt wurde, obwohl dieser Wechsel nach gegenüber seiner Tätigkeit als Präsident der Bremer Justizverwaltung zunächst mit erheblichen Gehalts- einbußen verbunden gewesen war. Von alledem war im Gespräch mit Frank Schirrmacher die Rede gewesen, aber auch davon, dass ich Hellmut Becker, den Verteidiger Ernst von Weizsä- ckers im Wilhelmstraßenprozess, gut gekannt hatte. Wer mir übel wollte, konnte deshalb versuchen, meine professionelle Betrachtungsweise in Zweifel zu ziehen, mich in die »Betroffenenecke« zu stellen und meine Einwände als »gänzlich subjektiv« abtun. Genau das geschah erstaunlich rasch. Am 9. De- zember 2010 meldete sich in der taz der Freiburger Kollege Ulrich Herbert zu Wort, der sich intensiv mit dem Holocaust beschäftigt und eine Studie Gerhart Feine 37

Gustav Stresemann mit Gerhart Feine (links neben ihm) nach der feierlichen Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund in Genf am 8. September 1926. 38 Hitlers willige Diplomaten und Fischers willige Historiker

über Werner Best, einen der Mitbegründer von Gestapo und Reichssicher- heitshauptamt, später dann NS-Statthalter im besetzten Dänemark, vorgelegt hatte. Die für uns entscheidende Passage aus seinem Interview lautete: »Frage: Der Historiker Daniel Koerfer hat kürzlich der Studie einen hämischen Unterton vorgeworfen. Ulrich Herbert: Den habe ich nicht ausmachen können. Er sagt ja auch, dass das Buch nicht der Versöhnung diene. Ist es Aufgabe der Wissenschaft, Versöhnung zu stiften? Es geht um Aufklärung. Herr Koerfer ist ja kein NS-Historiker; er tritt hier als Enkel eines ehemaligen AA-Beamten auf und fordert Gerechtigkeit für die ältere Generation. Sein Vorwurf lautet, dass die Autoren von Das Amt sich zu wenig in die seinerzeitige Lage der Beamten des Amtes eingefühlt hätten – schließlich habe es ja auch Zwänge gegeben, Laufbahnen, zu versorgende Familien. Er wirbt um Verständnis für die Täter und ihr Umfeld, für differenzierte Betrachtung, und dem werde das Buch nicht gerecht. Frage: Überrascht Sie diese Kritik? Ulrich Herbert: Solche Töne haben wir in Deutschland lange nicht mehr gehört. So ähnlich haben nach 1945 alle großen und kleinen NS-Funktio- näre argumentiert: Ihr wisst ja nicht, unter welchen Zwängen wir standen! In der Konsequenz gibt es dann gar keine Verantwortlichen mehr, sondern nur noch in unterschiedlich starkem Maße Getriebene, letztlich: Opfer. Im Vergleich zu solchen Zumutungen ist dieses Buch erfreulich nüchtern, auch wenn ich nicht alle Passagen gleichermaßen überzeugend finde …« Herberts Botschaft war ebenso klar wie vernichtend. Ein Griff in den Gift- schrank rhetorischer Mittel. Verkürzen, verdrehen, unterstellen. Statt auf Sach- argumente einzugehen, denunzierte er sein Gegenüber: Diesem Kritiker fehlt die Sachkompetenz. Er spricht »nur« als Betroffener und greift die Argumente und Verteidigungsstrategien der alten NS-Täter auf, transportiert sie in die Ge genwart. Da liegt der Schluss nicht mehr fern: Es handelt sich um einen verkappten Sympathisanten jener einstigen Täter. Hatte Herbert wirklich die Auszüge aus dem Gespräch mit Frank Schirrmacher gelesen? Daran musste man Zweifel haben. Aber er hatte einen Trend gesetzt. Udo Wengst, von 1992 bis 2012 stellvertretender Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München- Berlin, hat in diesem Zusammenhang festgestellt: »Über Maßstäbe für die historische Urteilsbildung zur Bewertung des Ver- haltens unter dem NS-Regime wird immer noch heftig, ja heftiger denn je gestritten. So tendieren insbesondere politisch der Linken zuneigende Wis- senschaftler dazu, das Handeln derjenigen, die in der NS-Diktatur – in »Unser Buch hat einen Nerv getroffen« 39

welcher Funktion auch immer – ›mitgemacht‹ und die im Nachhinein sich hiermit nicht in aller Öffentlichkeit auseinandergesetzt haben, aufgrund heutiger moralischer Maßstäbe zu be- und verurteilen. Damit ist meistens der Vorwurf der Apologie an diejenigen Historiker verbunden, die das je- weilige Leben und Handeln in den historischen Kontext einbetten und auf die spezifischen Zeitumstände hinweisen. Historiker, die sich dieser Ma- xime verpflichtet fühlen, halten das von ihnen vertretene methodische Vorgehen für geboten, da ansonsten zwangsläufig die historische Angemes- senheit der Urteilsbildung verfehlt würde …« 11 Wengst beschreibt hier im Herbst 2013 genau jene zentrale Konfliktlinie, an der entlang sich die Reaktionen im Anschluss an das Gespräch mit Frank Schirrmacher bewegen sollten. Bereits einen Tag nach Herbert reagierten die vier Kommissionsmitglieder ganz ähnlich. Die Redaktion der F. A. Z. hatte sich dieser Polemik zwar verweigert, daher erschien am Freitag, dem 10. De- zember 2010 in der Süddeutschen Zeitung unter der Überschrift »Unser Buch hat einen Nerv getroffen« die »Antwort der Unabhängigen Historikerkom- mission auf ihre Kritiker« von Conze, Frei, Hayes, Zimmermann. Dort konnte man lesen: »Das Amt hat einen Nerv getroffen, das zeigen die Reaktionen auf unser Buch. Manche Kritiker allerdings scheinen sämtliche Maßstäbe verloren zu haben. Zu einem unglaublichen Urteil hat sich Daniel Koerfer verstie- gen. Der Berliner Historiker, Autor von Studien über Ludwig Erhard und Hertha BSC im Dritten Reich, wiederholt in seiner Bewertung unseres Bu- ches zunächst zentrale Elemente jener Geschichtslegende, die nach 1945 – und nicht zuletzt im Umfeld des Weizsäcker-Prozesses – konstruiert worden ist und die sich wider besseres Wissen und wider die Erkenntnisse der his- torischen Forschung über Jahrzehnte halten konnten. Die Untersuchung, so Koerfer, marginalisiere den Widerstand von Diplomaten. Sie überzeichne die Wichtigkeit des Auswärtigen Amtes für den Holocaust und verschweige die von verschiedenen NS-Größen artikulierten Zweifel an der nationalso- zialistischen Zuverlässigkeit der Diplomaten … Die Kritik gipfelt in dem Vorwurf, Das Amt sei ›kein Buch der Versöhnung‹, sondern ein ›Buch der Rache‹. ›Buch der Rache‹ – ›Buch der Versöhnung‹: Was für Bewertungs- kriterien werden hier an eine wissenschaftliche Untersuchung herangetragen? Und was für eine Wirkung geht davon aus? Schon haben rechtsradikale Medien Koerfers Verdikt dankbar aufgegriffen …« Rechtsradikale Medien als Verstärker für eigene Thesen? Die Preußische Kreuz- zeitung, vielleicht gar die Junge Freiheit greifen auf, berichten über einen Dis- 40 Hitlers willige Diplomaten und Fischers willige Historiker kussionsbeitrag, signalisieren vielleicht sogar Zustimmung? Entsprechende Hinweise darauf sind im deutschen Wissenschaftsbetrieb die Höchststrafe. Damit wird jede Sachdiskussion im Keim erstickt, jeder Austausch von Argu- menten unmöglich gemacht. Damit wird der Kontrahent wissenschaftlich erledigt, denn das Internet kennt kein Vergessen. Das ist die moderne, fort - entwickelte Form der Damnatio memoriae – sie ist, anders als in der Antike, jetzt sogar schon zu Lebzeiten möglich und noch dazu viel nachhaltiger, weil viel leichter zu verbreiten. Die vier Kommissionsmitglieder wurden in der SZ nach der persönlichen Attacke aber auch ganz grundsätzlich, etwa als sie feststellten: »Unser Buch behandelt den Holocaust als ein Verbrechen, das nur im Zu- sammenwirken nahezu aller Institutionen des Dritten Reiches ausgeführt werden konnte. Es konzentriert sich dabei auf das AA und dessen institu- tionelle Mittäterschaft, darauf, wie eine mörderische Ideologie zur Hand- lungsräson einer Behörde werden konnte. Darüber hinaus legt unser Buch aber – und das ist wohl der wahre Stein des Anstoßes – die Bemühungen und Mechanismen dar, mit denen sich die Deutschen und zumal ihre Eliten nach dem Krieg ihrer Mitverantwortung für die verbrecherische Politik des NS zu entziehen suchten … Viele hatten sich mit einer funktionalen Er- klärungsformel gut eingerichtet, der zufolge die Verdrängung der Vergan- genheit und – in ihrem Zentrum – die Integration von NS-Belasteten zwar moralisch problematisch gewesen sei, aber zur Stabilisierung und Konsoli- dierung der Bundesrepublik und damit zu ihrem langfristigen Erfolge bei- getragen habe. Diese glatte Formel bot Raum für weitergehende Deutungen. So nahmen sich vor diesem Hintergrund die Nachkriegsbiographien von Diplomaten wie Franz Nüßlein, Franz Krapf u.a. viel gewichtiger und be- deutender aus als ihre Karrieren und Taten vor 1945. Über dem Erfolg des ›zweiten Lebens‹ erschienen die Schuld oder das Versagen im ersten nicht mehr der Rede wert. Am Ende glaubte man gar, dieses erste Leben aus den Geschichtsbüchern getilgt zu haben …« Wer es wagte, sich Fischers »Enthüllungshistorikern« entgegen zustellen, den suchten sie zu maßregeln. Das sollte etwa auch der F. A. Z.-Redakteur Rainer Blasius erleben: »In den Wochen seit Erscheinen unseres Buches hat sich ein Journalist, der im Politikteil der F.A.Z. für ›Politische Bücher‹ zuständige Rainer Blasius in bislang nicht weniger als sechs umfangreichen Artikeln als intimer Ken- ner unserer Kommissionsarbeit darzustellen versucht. Mit einem für Au- ßenstehende rätselhaften Eifer hat er dabei raunende Fragen, beleidigende Maßregelung durch die »Enthüllungshistoriker« 41

Unterstellungen und Falschbehauptungen in die Welt gesetzt und damit eine Kampagne fortgeführt, mit der er die Tätigkeit der Kommission seit ihrer Einsetzung begleitete. (…) Rainer Blasius fungiert dabei, alle Stan- dards journalistischer Distanz missachtend, als Sprachrohr und Feder jener Ehemaligen des Auswärtigen Amtes, die sich selbst die ›Mumien‹ nennen. Diese ›Mumien‹, in Wirklichkeit eine kleine Gruppe pensionierter Diplo- maten, begreifen sich inzwischen, wovon auch so mancher Leserbrief zeugt, als geradezu im Widerstand gegen eine Entwicklung, die sie nicht als eine für das Ansehen des Auswärtigen Amtes und der Bundesrepublik Deutsch- land wichtige, kritische Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit des AA und ihrer Wirkungsgeschichte begreifen, sondern als Kapitulation der wechselnden Amtsleitungen vor einer angeblichen geschichtspolitischen Korrektheit. Blasius Nähe zu diesen ›Mumien‹ kommt nicht von ungefähr. Der promo- vierte Historiker und Autor einer Studie über Ernst von Weizsäcker war seit 1990 im Politischen Archiv des AA tätig als Leiter der Editionsgruppe ›Akten zur Auswärtigen Politik‹ des Instituts für Zeitgeschichte. Seinen Ab- schied aus dem AA nahm Blasius in der Amtszeit von Joschka Fischer als vortragender Legationsrat …« Was bewirken solche Zeilen? Sie befördern den Meinungsaustausch zwischen den Kritikern. So war es auch in diesem Falle. Rainer Blasius und andere frühe Kritiker des Kommissionsberichts wie Hans Mommsen, Christian Hacke oder Heinz Schneppen traten mit mir in Verbindung. Wir waren an einer Fortset- zung der Sachdiskussion interessiert. Eine offene Debatte mit den Kommis- sionsmitgliedern entwickelte sich jedoch nicht. Sie verhinderten sogar über eine längere Phase hinweg den Abdruck aller kritischen Beiträge in einem Sammelband, den Martin Sabrow und Christian Mentel vom Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) in Potsdam herauszubringen beabsichtigten, indem sie die Publikation ihrer eigenen Stellungnahmen zunächst über viele Monate hinweg mit dem Argument, die Diskussion sei »noch nicht abge- schlossen« ablehnten. Dabei war der Chor der Kritiker immer größer, immer vielstimmiger geworden. Richard J.Evans hatte sich aus Cambridge sehr scharf geäußert, Johannes Hürter vom Münchner Institut für Zeitgeschichte eine abgewogene, aber doch wenig positive Bewertung beigesteuert, die Histori- kerkollegen Horst Möller und Gregor Schöllgen waren gleichfalls kritisch zu vernehmen gewesen. DER SPIEGEL mit Klaus Wiegrefe an der Spitze hatte ähnlich wie DIE WELT und die F. A. Z. gleichfalls keine Jubelarien mehr an- gestimmt.12 42 Hitlers willige Diplomaten und Fischers willige Historiker

Moshe Zimmermann resümierte denn auch schon im Frühjahr 2011 im Ge spräch mit seinem dem Kommissionsbericht gegenüber mehr als wohlge- sinnten Interviewpartner Alan Posener: »All das ist eine Kampagne, die eine politische Agenda hat«. Es gehe einerseits um die Entlastung, die Exkulpierung der alten Belasteten wie Ernst von Weizsäcker, andererseits aber auch um ak- tuellere Absichten: »Speziell will man den damaligen Außenminister Fischer unter Druck setzen, der die Studie in Auftrag gab – und vielleicht auch den jetzigen Außenminister Westerwelle, der unser Buch ja positiv bewertet hat.«13 Wer hatte eine politische Agenda? Wer war »man«? So unterschiedliche Köpfe wie Blasius, Evans, Hacke wurden hier einfach in einen Topf geworfen – Ver- schwörungstheorien brauchen Simplifizierungen. Aber die vier Professoren Conze, Frei, Hayes und Zimmermann empfanden offenbar jegliche Kritik als Majestätsbeleidigung und reagierten weiterhin ge- kränkt. Noch in der – trotz aller inzwischen ja noch weiter aufgefächerten Kritik von Fachkollegen und Journalisten – unveränderten Taschenbuch-Aus- gabe des Amt-Bandes im Jahre 2012 variierten sie in der Einleitung abermals ihre Positionen aus dem oben zitierten Beitrag aus der SZ.14 Weiterhin wiesen sie jegliche Kritik an ihrem Sammelwerk in barscher Form zurück, griffen statt dessen die oben bereits erwähnten Kritiker und nunmehr auch die Leitung des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes massiv an. Selbstgewiss ver- kündeten sie abermals: »Der hauptsächliche Grund für die große Resonanz, die unser Buch gefun- den hat, liegt vermutlich in der schlagartigen Zerstörung eines allzu lange geschönten (Selbst-)Bildes der deutschen Diplomatie … Grob gesagt, kreis- ten die Auseinandersetzungen um die nach dem Ende des Dritten Reiches zunächst weit verbreitete, dann aber effektiv ›vergessene‹ Ansicht, dass sich die traditionellen deutschen Führungsschichten durch ihre Mitwirkung an den nationalsozialistischen Regimeverbrechen schwer kompromittiert und eigentlich auf Dauer delegitimiert hatten. Gegen diese Auffassung machten aber die Betroffenen ebenso rasch wie wirkungsvoll mobil. Ergebnis dieser Anstrengungen war eine weitgehende Selbstrehabilitierung der alten Funk- tionseliten. Diese wiederum resultierte in einem moralisch anspruchslosen Umgang mit der NS-Vergangenheit, an dem sich seit den späten fünfziger und dann vor allem in den sechziger Jahren die Kritik der nachwachsenden Generationen entzündete. Gerade weil diese Kritik langfristig ungemein erfolgreich war, lenkte sie in gewisser Weise davon ab, dass sich unterhalb eines sich zusehends entfaltenden kritischen Bewusstseins ältere national - apologetische Restbestände halten konnten. Kampagne mit politischer Agenda 43

Der Konflikt schwelte längst, als die ›Nachruf-Affäre‹ die Auseinanderset- zung im Amt eskalieren ließ. Die schrillen Töne, die die Änderung der ›Nachrufpraxis‹ und die Einsetzung der Historikerkommission begleiteten, erschollen sogleich wieder – und das ist in dieser Perspektive wenig ver- wunderlich –, als die von Joschka Fischer in Auftrag gegebenen Studie schließlich vorlag. Nicht wenige, die auf die Historikerkommission los- gingen, meinten eigentlich – oder zumindest auch – den ›Achtundsechzi- ger‹ Fischer, dem ein erst vor wenigen Jahren pensionierter Botschafter einen ›bolschewistischen Umgang mit abweichenden Meinungen‹ vorwarf. Sie zielten auf einen Politiker, der in der Unabhängigen Historikerkom- mission ein Instrument seiner vergangenheitspolitischen Ambitionen ge- funden habe. Der Politikwissenschaftler Christian Hacke sprach gar von ›Fischers willigen Helfern‹ – in bewusster Anspielung auf Hitlers willige Vollstrecker, den Titel des kontroversen Buches von Daniel Goldhagen. Im Jahr 2005, noch in der Amtszeit Fischers, hatte sich Hacke erfolglos darum bemüht, im Auftrag des Auswärtigen Amtes dessen Geschichte in der NS- Zeit und die Frage der personellen Kontinuität nach 1945 untersuchen zu dürfen …« Der Schuss von Hacke muss die Kommissionsmitglieder offenbar besonders getroffen haben. Als Fischers »willige Helfer« mochten sie nun wirklich nicht gelten. Deshalb griffen sie einmal mehr bei der Abwehr zur Technik der dif- famierenden Unterstellung, zu einer Technik, die man in England mit dem Begriff »Innuendo« verknüpft. Heinz Schneppen hat als einer der Ersten darauf hingewiesen. Sie wird uns noch vielfach begegnen. Hacke wurden persönliche Motive unterstellt – hier: die Zurückweisung eines eigenen Forschungspro- jektes in der Endphase der Ära Fischer. Damit war er als persönlich »Betrof- fener« diskreditiert und sein Vorstoß abgeschmettert. Doch Kritiker sollten sich dadurch nicht mundtot machen lassen. Vielmehr gilt es, die Feststellung Walter Scheels als Arbeitsauftrag zu verstehen und aus- zufüllen: »Diese Streitschrift vieler Autoren darf nicht zum Standardwerk zur Geschichte des Auswärtigen Amtes avancieren, aus dessen Haushalt sie finan- ziert ist …« Natürlich ist es nicht möglich, das ganze Buch neu zu schreiben. Es soll aber zumindest partiell an einigen zentralen Wendepunkten und bei Schlüsselthemen, wie der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes 1933 oder der Entstehung und Ausformung der deutsch-sowjetischen Beutepart- nerschaft sechs Jahre später, eine andere Herangehensweise an die Thematik gezeigt werden. Gleiches gilt für den Umgang mit handelnden Personen. Auch hier sollen einige wenige Akteure wie Ernst von Weizsäcker oder Franz Nüß- 44 Hitlers willige Diplomaten und Fischers willige Historiker lein, der Aufgabe des Historikers entsprechend, in ihre Zeit gestellt werden. Unter diesem Aspekt sind die »historischen« Teile, die wenigen »Fallstudien« zu lesen. Sie werden in diesem Band eingerahmt von der Entstehungsge- schichte der Kommission einerseits, Ausschnitten zur Wirkungsgeschichte des Kommissionsbe richtes andererseits. Wie war es denn nun wirklich zur Kommissionsbildung gekommen? Was waren die Intentionen des Auftraggebers Fischer gewesen? Was hatte ihn als Minister bewogen, zur Jagd auf seine eigene Behörde zu blasen und diese ganz besondere Form der Staatsjagd auf die deutschen Diplomaten zu eröffnen? Woher kam der Jagdeifer der historischen Ermittler, der schon Heinz Schnep- pen aufgefallen war? Wie verhielt es sich mit dem Generationenkonflikt zwi- schen »1938« und »1968«, in welchem die Letzteren überaus verachtungsvoll auf die deutschen Funktionseliten der dreißiger und vierziger Jahre herab - blicken? Gab es tatsächlich in Deutsch land nach 1945 unter der politisch kor- rekten Oberfläche »nationalapologetische«, also nahezu braune, nationalistische »Restbestände«, die es mit Hilfe der mutigen Kommission und ihrer zahlreichen Helfer jetzt endlich spät, aber nicht zu spät aufzudecken, zu entlarven und damit zu eliminieren galt, damit sie nicht weiter zerstörerisch fortwirken konn- ten in der Statik der zweiten deutschen Republik? Oder hatte nicht doch Walter Scheel Recht, der im Frühjahr 2012 explizit anders formulierte, als er sagte: »Heute blicken wir mit Stolz zurück auf eine große diplomatische Aufbau- leistung. Sie wurde getragen von mehreren Generationen deutscher Diplomaten, die sich der Rückkehr Deutschlands als eines freiheitlich-de- mokratischen Staates, als eines verlässlichen Partners in die zivilisierte Völ- kergemeinschaft verschrieben haben. Es ging ihnen vor allem um den Neuaufbau von Vertrauen. Ohne dieses Vertrauen wäre die deutsche Wie- dervereinigung nicht möglich gewesen … Ich habe mich im Gegensatz zu Herrn Fischer, dem Auftraggeber des Kommissionsberichts, für die Arbeit des Archivs interessiert. An seiner Verlässlichkeit und fachlichen Kompetenz habe ich nie den geringsten Zweifel vernommen. Es ist bedauerlich, dass man jetzt die Archivare des Amtes ohne jeden Beleg öffentlich diffamieren kann. Nun stieß ja der Kommissionsbericht in der Fachwissenschaft auf harte Kritik und hat auch in der Presse eine breite Debatte ausgelöst. Zahl- reiche Mängel, innere Widersprüche und gezielte Auslassungen wurden aufgezeigt. Besonders bedauere ich die tendenziöse und gezielte Entstellung einiger Lebensläufe.« Ausgangspunkt und Kerngedanke dieses Buches ist die Überzeugung, dass eine Geschichtsschreibung, die Handelnde aus vergangenen Generationen zu Jagdeifer der historischen Ermittler 45 allererst verurteilt und das Gespür für eigene Gefährdungen weit von sich weist, ja ausschließt, uns nicht voranbringt. Nur wenn wir uns eingestehen, dass auch wir als Menschen in uns das Potential tragen, zu Tätern zu werden und viele von uns lediglich durch Zeitumstände, für die wir dankbar sein müs- sen, von solchen »Verstrickungen« verschont werden, können wir uns jener anderen, fernen dunklen Zeit zu nähern beginnen. Neben der Trauer um die unzähligen Opfer sind Demut und Dankbarkeit die besseren Begleiter für die Erforschung dunkler Zeiten durch Nachgeborene als die Verachtung und Ar- roganz der späten Geburt. 46

Damnatio memoriae? Ein Gespräch mit Frank Schirrmacher über Das Amt und die deutsche Geschichte

Frank Schirrmacher: Wir sind seit Herbst 2010 im Gespräch über das Buch Das Amt. Wie vorauszusehen, scheiden sich die Geister und vor allem unsere: Kann man über das Auswärtige Amt im Dritten Reich institutionell erzählen oder be- nötigen wir zum wirklichen Verständnis der Vorgänge die Geschichte einzelner. Und daran schließt sich die Frage an: ist Das Amt ein ungerechtes oder ein ge- rechtes Buch? Welchen Stellenwert geben Sie diesem Buch im Sinne der Zeitge- schichte – gehen Sie so weit, dass Sie sagen, das ist ein letztlich schlechtes Buch? Ist es ein reines Bruchstück? Daniel Koerfer: Es ist ein merkwürdiges Buch. Es bietet uns Ausschnitte, Einblicke in die Tätigkeit einer Behörde. Aber es zeigt uns keine Menschen in ihren psychologischen Verstrickungen. Stattdessen lesen wir Auszüge aus Per - sonalakten, biographische Daten, die seltsam unverknüpft und ohne analyti- sche Deutung und Ausdeutung daher kommen. Dem Buch fehlt fast gänzlich eine Tiefendimension. Zugleich ist es nicht – wie Tacitus einst verlangte – »sine ira et studio« geschrieben, also ohne Zorn und ohne Vorliebe, abwägend und zurückhaltend in den Wertungen, sondern mit einem seltsam hämischen, süffisanten Unterton nahezu allen handelnden und auftretenden Akteuren ge- genüber und das über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg, also bis in die neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts hinein. Auch die für die Ge- staltung der Außenpolitik der Bundesrepublik Verantwortlichen von Brentano bis Brandt, von Carstens bis Scheel und Genscher sind »betroffen«, von Erwin Wickert ganz zu schweigen. Schirrmacher: Was bringt es zunächst einmal dem Historiker? Koerfer: Für die Zeit des Dritten Reichs vertieft es das, was in den Studien von Christopher Browning (Die Endlösung und das Auswärtige Amt) – der im Grunde aber zeigt, wie man es macht, der sich von dieser Studie doch deutlich und vorteilhaft abhebt –, bei Hans-Jürgen Döscher (jedenfalls in seiner ersten Studie Diplomatie im Schatten der Endlösung) und jüngst auch von Sebastian Weitkamp (in seinem Buch Braune Diplomaten – Horst Wagner und Eberhard Seltsam ferne Nähe des Dritten Reiches 47 von Thadden als Funktionäre der Endlösung) bereits ausgeleuchtet worden ist: die starke Verstrickung von weiten Teilen des Apparates des AA in die Durch- führung des Völkermordes. Der Lackmustest für das Verhalten im Dritten Reich, für die Geschichte des Dritten Reichs ist allerdings im Amt-Buch fast ausschließlich diese eine Thematik, wofür, wie man hört, Moshe Zimmer- mann ganz besonders energisch eingetreten sein soll. Schirrmacher: Was ist daran auszusetzen. Das ist und bleibt doch ein Schlüsselfeld der deutschen Geschichte. Koerfer: Durch diese Fixierung wird das Dritte Reich in eine seltsam ferne Nähe gerückt. Der Holocaust ist heute als Thematik im »main stream« fest verankert, obwohl sich die meisten Menschen kaum noch eine wirklich ein- fühlende, mitfühlende Vorstellung von seinem Grauen machen können. Er ist uns näher als 1945 und dabei doch sehr fern, wie auch das gesamte Dritte Reich immer ferner rückt. Nach dem Krieg wurde das deutsche Massenmor- den in einer merkwürdigen Übereinkunft von Tätern wie Opfern eingekapselt, tabuisiert, machtvoll beschwiegen. Nach dem Krieg, nach den NS-Prozessen und den rund 1.500 vollstreckten Todesurteilen in ganz Europa gegen NS- Täter–was ich übrigens eine recht hohe Zahl finde – und der eher bürokra- tisch vollzogenen Entnazifizierung, die ja im Wesentlichen nur eine ganz kurzfristige Austreibung der Parteigenossen aus einem Teil der bürokratischen Apparate bedeutet hat, kam in der jungen Bundesrepublik schon sehr bald das Wort vom »Schlussstrich« auf. Schirrmacher: Ist das ein allgemeiner Trend nach 1945 gewesen oder doch eher aus dem Kreis der Belasteten und zutiefst Verstrickten geäußert worden? Koerfer: Zunächst war es der gerade abgewählte englische Premier Winston Churchill in seiner berühmten, aber kaum bekannten Züricher Rede über den Zustand Europas, der schon 1946 sagt, dass nach der Bestrafung der haupt- schuldigen NS-Täter gegenüber der Vielzahl der deutschen Schuldigen nun- mehr ein »gnädiger Akt des Vergessens« erfolgen müsse, damit der Kontinent zusammen mit den Deutschen wieder aufgebaut werden könne. Bei den Deut- schen dauert es noch etwas, bis sie selbst eine solche Forderung aufgreifen. Einer der Ersten ist Fritz Erler von der oppositionellen SPD, der am 23. Februar 1950 in der Debatte über die dann von allen Parteien gemeinsam vollzogene Novellierung des Artikel 131 GG – der es den ehemaligen, nicht massiv be- lasteten Pg erlauben wird, sich wieder in die Ämter, Dienststellen, Schulen einzuklagen und ihre Versorgungsansprüche zu »retten« – sagen wird, es müsse »endlich ein Schlussstrich gezogen werden unter das ganze Kapitel der politi- schen Säuberung«. Ein großer Teil des deutschen Volkes habe die braune Dik- 48 Damnatio memoriae? tatur aus »Irrtum« bejaht, andere aus Verblendung, aus Profitsucht, Bequem- lichkeit, »zu einem nicht unerheblichen Teil aber auch aus wirklichem Idealis - mus«.15 Solche Gesichtspunkte sind Joschka Fischer und seiner Unab hängigen Historikerkommission samt ihrem riesigen Rechercheteam anscheinend fremd und unverständlich. Erler fährt übrigens fort: »Es müssen sehr viele anständige Menschen positiv auch im nationalsozialistischen Staat und seinen Organisa- tionen mitgearbeitet haben. Sonst hätte der Nationalsozialismus bei allem sei- nem Terror gar nicht so lange bestehen können«. Wir sind damit gleich an einem zentralen Punkt. Die gesellschaftliche In- tegrations- und Ausstrahlungskraft des Nationalsozialismus, die Verlockung und Verführung – der »Führer« war tatsächlich eben auch ein großer »Ver- Führer«, dem nicht nur die acht Millionen Parteigenossen, sondern auch viele andere, übrigens nicht zuletzt auch viele Frauen, die der Volksmund damals »Nazissen« nannte, lange, fast bis in die letzten Monate des Untergangs hinein, willig und begeistert folgten –, die Erler anspricht und mit der er viele Hun- derttausende von Mitläufern zu entlasten sucht. Das alles scheint in dem Amt- Band aber an keiner Stelle mehr auf. In ihm dominiert die pauschale Ver ur- tei lung, wobei uns allenfalls ein kleiner, zugleich besonders schrecklicher und deprimierender Teilausschnitt der deutschen Diktatur präsentiert wird. Das Erler-Zitat stammt übrigens aus dem Buch Vergangenheitspolitik von Norbert Frei, einem der Kommissionsmitglieder, die man besser als Herausgeber be- zeichnen sollte. Er kennt die Materie gut, aber die Darstellung im Amt-Band fällt hier weit hinter seine früheren und differenzierteren Ausführungen zurück. Im Kommissionsbericht steht eine einzige Chiffre für das Dritte Reich, für die bereits im Buchtitel auftauchende Vergangenheit: »Holocaust« – ein Begriff, den übrigens bis weit in die siebziger Jahre in Deutschland niemand kannte. Ich halte diese Verengung für problematisch. Weil sich damit das »restliche« Dritte Reich immer weiter von uns entfernt. Und dieser Rest war nicht klein. Schirrmacher: Bleiben wir beim Aufbau des Buches. Sieht man von der grund- sätzlichen Fokussierung ab, was vermissen Sie denn noch? Koerfer: Vieles. Zunächst einmal ist es keine integrierte Gesamtgeschichte des Amtes, wie die Autoren in der Einleitung vollmundig behaupten. Das grenzt an Etikettenschwindel. Die ganze Diplomatie-Geschichte, der Umgang mit dem Bolschewismus, die heftigen Spannungen mit dem in der deutschen Führungsschicht, auch auf der Führungsebene des AA in den dreißiger Jahren nicht besonders hoch angesehenen polnischen Nachbarn, die Beziehungen zu Mussolini, zu Großbritannien, zu Japan, die Verwicklung in den spanischen Bürgerkrieg, das Zustandekommen des Hitler-Stalin-Paktes, später dann die Keine integrierte Gesamtgeschichte des Amtes 49

3,5 Millionen toten sowjetischen Kriegsgefangenen – zu alledem fast kein Wort. Aber auch die ersten, überraschenden Erfolge von Hitlers Außenpolitik, das von Papen mit dem Nuntius Pacelli, dem späteren Papst Pius XII., ausge- handelte Konkordat mit dem Vatikan, seine sensationelle, für die Führungs- ebene im AA übrigens zutiefst schockierende Wendung beim Nichtangriffs- pakt mit Polen Anfang 1934, das Zustandekommen des deutsch-britischen Flottenabkommens mit seiner Konkurrenz zwischen AA und Dienststelle Rib- bentrop, die weltweite Präsentation der »deutschen Olympischen Spiele«, der »Anschluss« Österreichs, das Münchner Abkommen werden weitgehend aus- geblendet. Selbst das gewählte Zentralthema des Antisemitismus hat auffallende Lücken. Wo liegt sein Erfolgsgeheimnis? Wieso kann er in einem modernen, zivilen – besser: zivilisierten – Rechtsstaat so schnell allgemein verbindliche Staatsdoktrin werden, sich immer mächtiger und mörderischer ausbreiten? Welchen Anteil hat das Amt am Zustandekommen der Nürnberger Rassege- setze? Nichts dazu. Aber auch Lücken bei wichtigen Details. 1938 wurde im Dritten Reich gesetzlich verfügt, dass alle jüdischen Deutschen sich in ihren persönlichen Papieren ab 1939 »Sarah« und »Israel« zu nennen hatten. In ihre Pässe wurde ein rotes »J« eingestempelt. Wie dieses rote »J« – zusammen mit der Namensergänzung ein wichtiges Element im Prozess der am Ende mör- derischen Ausgrenzung, eine Art vorweggenommener gelber Stern – über di- plomatische Kanäle, auf Anregung, ja Druck des schweizerischen Fremdenpolizeichefs Heinrich Rothmund und letztlich sogar des Berner Bun- desrates 1938 in die Pässe der deutschen Juden kam, wird nicht geklärt, wird nicht verraten. Im Band taucht allerdings (S.176 f.) im Herbst 1940 der deutsche Konsul von Mukden im Süden der Mandschurei auf. Der empfiehlt – nachdem in einem Zug offenbar jüdische Emigranten unangenehm aufgefallen waren – dieses »J« jetzt sogar auf der Außenseite der Pässe von deutschen jüdischen Emigranten anzubringen, damit diese von Japanern und Mandschuren für- derhin nicht mit ordentlichen Deutschen in einen Topf geworfen werden kön- nen. Eine Anregung, die Himmler acht Monate später, am 7. Juli 1941, aufnahm und umsetzte. Ein kleines, aber bezeichnendes Detail. Dass das AA Anregungen gibt, die von der SS aufgegriffen werden, ist in diesem seltenen Fall so gewesen, entsprach aber, anders als uns die Autoren Glauben machen, überhaupt nicht der sonstigen historischen Realität. Unstrittig allerdings: Für die Frage der letztlich europaweiten Verstrickung des Amtes in die NS-Rassenpolitik bietet das Buch eine Fülle von Beispielen und unterlegt sie zugleich mit einer These. Die These lautet, dass das zuneh- 50 Damnatio memoriae? mend an Bedeutung verlierende Auswärtige Amt in Hitlers Reich sich durch besonders »vorauseilende« Zuarbeit auf diesem »Kernfeld« des Regimes sozu- sagen eine neue Existenzberechtigung zu sichern versuchte, während nach dem Krieg die Beteiligten davon nichts mehr wissen wollten, im Gegenteil das AA zum Hort des Widerstands stilisierten und mittels sich wechselseitig absichern- der Seilschaften zu neuen Posten verhalfen, also mehr oder minder erfolgreich wieder/weiter im neuen AA der Bundesrepublik Karriere machen konnten. Schirrmacher: Was fehlt oder ist falsch daran? Koerfer: Diese Darstellung enthält durchaus einige Elemente der historischen Wahrheit. Aber wenn ich mir vorstelle, dass zukünftige Attachés im Amt – wie die Außenminister Fischer, Steinmeier und Westerwelle es unisono nach Erscheinen des Buches in wohl einmaliger Einmütigkeit gefordert haben – aus und mit diesem Buch die Geschichte ihrer Profession im Dritten Reich kennenlernen sollen, wird mir angst und bang. Denn so seltsam es klingen mag: Das Dritte Reich kommt in dem Buch kaum vor, kommt »nur« in einer Art Scherenschnitt vor. Die nicht ganz belanglose Frage nach Handlungsspiel- räumen in einer Diktatur wird an keiner Stelle gestellt. Wie, in welchem Rah- men war Resistenz, vielleicht sogar Widerstand möglich? Ab wann, bei welchem Wissens- und Kenntnisstand war er unumgänglich? Was ist dem Ein- zelnen – verheiratet, mittleres Alter, Kinder, kein nennenswertes Privatvermö- gen vorhanden für den möglichen Rückzug ins Privatleben, der ohnehin von Hitler im Krieg durch Verbote von Rücktritten und Abschieden erschwert wird – an solchem Widerstand möglich, ist ihm abzuverlangen? Bis hin zum Einsatz des eigenen Lebens? Zum Preis der Folter von Frau, Tochter und Ver- wandten durch die Gestapo? Ferner: Inwieweit lässt sich das »Sand-ins-Ge- triebe-streuen« aus den Akten einer Diktatur wirklich »herausfiltern«? Diese »Wahrheiten« stehen doch gerade nicht in den Akten. Müssen wir uns als His- toriker nicht aber zuerst mit all diesen Fragen auseinandersetzen, bevor wir zu Wertungen gelangen? Diese Fragen werden im Buch aber an keiner Stelle gestellt. Es wird von allen unterschiedlichen Autoren früh und nachhaltig ge- wertet. Abscheu spricht aus jeder Zeile – aus der Position des fernen Betrach- ters hat man aber immer leicht reden und noch leichter verurteilen. Schirrmacher: Genau das sagt Richard von Weizsäcker in unserem Interview (in der F.A.S. vom 24.10.2010). Die Frage ist aber doch, ob individuelle Handlungs- spielräume für eine gleichsam staatliche Historikerkommission so entscheidend sein können. Hier geht es doch eher um die Metamorphose eines ganzen Amtes. Der Schrecken darüber, wie leicht man schuldig werden konnte, steht buchstäblich auf einem anderen Blatt. Der »Goldhagen-Fehler« 51

Koerfer: Mir will partiell scheinen, als ob es nicht nur die Gnade der späten Geburt, sondern auch die Arroganz und die Ignoranz der späten Geburt gibt im Kreis der Kommissionsmitglieder, vielen Co-Autoren und ihrer jungen Zuarbeiter. Sie machen den »Goldhagen-Fehler«, übertragen unsere gänzlich andere Zeit auf die damaligen Verhältnisse. Sie unterstellen: Ein, zwei, drei machtvolle Demonstrationen gegen die SS und der braune Spuk ist vorbei. Wer das damals nicht gemacht hat, hat moralisch umfassend versagt, hätte nach dem Krieg allenfalls noch als Straßenkehrer im Staatsdienst beschäftigt werden dürfen. Weil im AA die selbst ernannte Elite des Landes versammelt war, hat sie ganz besonders versagt. Wirklich moralisch gesiegt haben erst die »68er«, die diesen Spuk als Erste angegriffen haben. Wirklich entschieden bei- seite gefegt hat ihn aber eigentlich erst Joschka Fischer, der als erster zur Jagd auf seine Diplomaten geblasen und »seine« Unabhängige Historikerkommis- sion dazu zusammengerufen hat. Schirrmacher: Ich hingegen bestehe darauf, dass wir durch Das Amt die insti- tutionelle Mittäterschaft neu fassen können. Denken Sie nur an die Information, dass der Attaché-Jahrgang 1938 als Ausbildungsbestandteil das Konzentrationslager Dachau besuchte. Koerfer: Der Attaché-Jahrgang 1938 und 1939 – es waren nur zwei Jahrgänge, im Krieg wurde das Ausbildungsprogramm gleich wieder eingestellt – besuchte auch Hitlers Berghof, also gewissermaßen die Regimespitze und deren Schat- tenreich. Damit wurde er nachhaltig auf Loyalität verpflichtet. Aber meine Kritik geht viel weiter. Im Dritten Reich ist der Rassenwahn Staatsdoktrin ge- worden. Ist amtliche Politik geworden. Beendet eine über hundertjährige, durchaus erfolgreiche Integrations- und Emanzipations-, also Freisetzungsge- schichte. Dieser Rassenwahn ist von der übergroßen Mehrheit der Deutschen, mehr als der Hälfte bis zu zwei Dritteln, schätzt Sebastian Haffner, akzeptiert, mitgetragen oder mindestens nicht behindert worden. Viele haben, wie nicht nur Götz Aly oder Ernst Klee an zahlreichen Beispielen zeigten, von der Aus- beutung, Vertreibung, Ermordung ihrer Nachbarn nachhaltig »profitiert«. Dem Rassenwahn wohnte eine starke Überzeugungskraft inne, obwohl »nur« etwa 500.000 deutsche Juden im Reich lebten, also etwa ein Prozent der Be- völkerung ausmachten, das sich noch dazu in den großen Städten konzen- trierte, in Berlin, Frankfurt, Leipzig. Viele Deutsche kannten überhaupt keine Juden, oder allenfalls nur ein oder zwei. Von einer »Judenüberschwemmung« konnte keine Rede sein. Jedenfalls ist dieser über Jahre und Jahrzehnte von Schlüssel-Multiplikato- ren wie Pfarrern, Journalisten, Lehrern subkutan den Deutschen eingeimpfte 52 Damnatio memoriae?

Rassenwahn mit Hitlers Machtübernahme Teil der staatlichen Politik gewor- den. In diesem Prozess der »kumulativen Radikalisierung« (Hans Mommsen) sind nicht nur die Parteiorgane, sondern auch alle Behörden des Reiches in- tensiv beteiligt. Sie alle sind ab 1933 dieser Politik der »Ausscheidung von Juden und anderen Volksschädlingen aus dem deutschen Volkskörper«, wie das damals hieß, verpflichtet. Das scheint in dem Buch aber nur ganz selten auf, etwa wenn über die Fülle der bürokratischen Bescheinigungen berichtet wird, die man brauchte, um Deutschland legal verlassen und überhaupt emi- grieren zu können –sofern man im Besitz eines Einreise-Visums des Ziellandes war – von den Ausreise- und Unbedenklichkeitsbescheinigungen des Finanz- amtes und der Gestapo bis hin zu denjenigen des AA. Überwiegend wirkt es aber so, als ob vor allem und ganz maßgeblich und zentral das AA auf diesem Felde Hitler, der SS und dem im ersten Kriegsmonat neu errichteten Reichssicherheitshauptamt (RSHA) – und diesem dann auch noch besonders servil – systematisch »zugearbeitet« hat. Das Amt habe wesent - lichen Anteil gehabt an der sich »unter seiner Beteiligung radikalisierenden Dynamik der Judenvernichtung und ihres Vollzuges«, heißt es schon in der Einleitung. Schirrmacher: Und das halten Sie wirklich für fundamental falsch? Koerfer: Die Kernthese des Buches jedenfalls, die die vielen hundert Seiten der ersten Hälfte durchzieht, das Auswärtige Amt und seine Mitarbeiter hätten bei den antijüdischen Maßnahmen der NS-Zeit eine zentrale und an manchen Punkten sogar leitende Rolle gespielt, seien in der Führungsspitze sogar maß- geblich beteiligt gewesen an der Entscheidung zum Holocaust, ist in dieser Form nicht zu halten, trifft vollumfänglich nicht zu. Es ist wirklich ganz klar und unmissverständlich festzuhalten: Das AA im Dritten Reich ist zu keiner Zeit eine Schaltzentrale für den Massenmord gewesen. Mitarbeit, Zuarbeit, Mithilfe bei der Ausgrenzung, Verfolgung, Entrechtung und – ja, leider auch – bei der Ermordung, aber nicht und zu keinem Zeitpunkt Schaltzentrale. Die Zusammenarbeit mit dem Reichssicherheitshauptamt erfolgte niemals part- nerschaftlich, sondern immer hierarchisch. Aus dem AA wurde durchweg zu- gearbeitet. Die nicht ganz unbedeutende Differenz zwischen Beratungs-, bzw. Zuar- beitungsverantwortung einerseits, Entscheidungsverantwortlichkeit anderer- seits, die der renommierte – deutsch-jüdische – Staats- und Völkerrechtler Erich Kaufmann zur Entlastung der deutschen Diplomaten bereits dem Nürnberger Gericht im Wilhelmstraßenprozess ausführlich erläutern wird, taucht in Ver- bindung mit diesem Verfahren in Das Amt lediglich in einem einzigen Ne- Prozess der kumulativen Radikalisierung 53 bensatz auf (S.408). Das ist deshalb erstaunlich – oder bezeichnend – weil Kaufmann vielleicht der wichtigste Entlastungszeuge Weizsäckers und der deutschen Diplomaten insgesamt im Wilhelmstraßenprozess gewesen ist. Er hat 1911 ein Standardwerk zum Völkerrecht verfasst, hat die Reichsregierun- gen bis zum Ende der Weimarer Zeit beraten, ist später dann wie der Ankläger Robert Kempner emigriert. Kaufmann analysiert im Prozess ausführlich die belastenden Quellenstücke als Völkerrechtler und Kenner der bürokratischen Abläufe, dechiffriert den verborgenen Subtext, filtert aber eben gerade keine verschärfende, radikalisierende Tendenz heraus, sondern ganz das Gegenteil davon: soweit möglich Abschwächungen, Milderungen. Aber seine Argumente werden »natürlich« im Amt-Band nicht erwähnt. Eine so diffizile Quellenana- lyse wie bei Kaufmann vor dem alliierten Gericht sucht man im Kommissi- onsbericht vergebens. Während Kaufmann sagt (und zeigt): Gerade die diplomatischen Quellen zur Judenvernichtung – denn genau darum geht es vor Gericht – sind hochgradig verschlüsselt, müssen daher besonders sorgfältig gelesen und »entschlüsselt« werden, nimmt die Historikerkommission alles immer eins zu eins. Das ist bisweilen – ich muss es so offen sagen – kläglich und nicht nur für den professionellen Historiker enttäuschend, weil es kaum mit Erkenntnisgewinn verbunden ist. Schirrmacher: Es ist ein Buch über das Auswärtige Amt – und ich verstehe es eher als die Beschreibung eines bestimmten Rädchens im Getriebe des Staates. Neh- men wir beispielsweise die Ausbürgerung Thomas Manns, das Verhalten von Ernst von Weizsäcker in der Gesandtschaft in Bern. Nicht ohne Erschütterung erfährt man, dass Weizsäcker damals in der Schweiz die Ausbürgerung Thomas Manns faktisch in die Wege leitete. Das entsprechende Schriftstück spricht doch Bände. Worum es hier ging – das Auswärtige Amt hatte aus Sorge vor der Reaktion im Ausland Thomas Mann zunächst schützen wollen –, ist eindeutig: es ging um das Deutungsmonopol der Eliten. Die Personifikation des Bürgers schlechthin, der Schriftsteller Thomas Mann, formulierte hier 1936 zum ersten Mal – es war das Olympia-Jahr mit all dem internationalen Prestige, das es Hitler brachte –, dass das nationalsozialistische Deutschland sich aus dem Kontext der Zivilisation ver- abschiedet hatte. Hier war eine sittliche Opposition formuliert, eine Feindschaft zwischen denen, die mitmachten, und denen, die es nicht taten, die im Untergrund der Gesellschaft bis in die neunziger Jahre fortwirken sollte. Koerfer: Das ist für mich ein schönes Beispiel für die »tendenziöse« Arbeits- weise im Amt-Buch. Über Weizsäckers Versetzung nach Bern 1933 steht dort: »Es entsprach ganz der antidemokratischen Haltung von Reichaußenmi- nister Neurath, den aus Altersgründen freiwerdenden Gesandtenposten in 54 Damnatio memoriae?

der Schweiz mit einem Mann seines Vertrauens zu besetzen. Adolf Müller, der letzte im Dienst verbliebene Sozialdemokrat in herausgehobener Stel- lung, wurde durch Ernst von Weizsäcker ersetzt, der bis dahin im fernen Oslo residierte«. (S.63f.) Zunächst einmal: Adolf Müller war zu dem Zeitpunkt 70 Jahre alt und schlichtweg amtsmüde. Mitte August 1933, die »Machtergreifung« im Reich war weitgehend abgeschlossen, tritt er selbst, ohne dazu gedrängt oder aufge- fordert worden zu sein – obwohl er nicht nur Sozialdemokrat, sondern auch noch Jude war – von seinem Posten ab, um den weiteren Lebensabend in der Schweiz zu verbringen, wo er 1943 stirbt. Inhaltlich stimmt seine Position weitgehend mit der seines Nachfolgers überein, wie der Schweizer Historiker Stephan Schwarz kürzlich herausgearbeitet hat: Müller wie Weizsäcker lehnen den Völkerbund ab, weil er Deutschland keine wirkliche Gleichberechtigung bringt. Müller wie Weizsäcker bemühen sich darum, dass die Schweiz mög- lichst wenig von deutscher Einmischung und militärischer Bedrohung durch die NS-Kavallerie tangiert wird. Als Gesandter in Bern sei Weizsäcker aller- dings 1936, wie das Buch unterstellt und Eckart Conze kürzlich im FOCUS nochmals unterstrichen hat, im Fall der Ausbürgerung von Thomas Mann »aktiv« oder »initiativ« geworden – und Sie, lieber Herr Schirrmacher, greifen das ja auch auf. Der Sachverhalt ist aber komplizierter. Das Auswärtige Amt hat tatsächlich lange gewissermaßen – ähnlich wie bei Albert Einstein – die Hand über Tho- mas Mann gehalten, hat seine Ausbürgerung verzögert, die bei einem erklärten Gegner des NS-Regimes wie ihm eigentlich schon 1933 nahegelegen hätte, auch wenn ihn das weltweite Renommee und nicht zuletzt der Nobelpreis etwas schützten (der war dem Regime im Falle von Carl von Ossietzky aber völlig egal, der trotzdem im KZ zu Tode geschunden wurde). Aber er hat sich schon vor 1936 sehr kritisch und scharf über das Dritte Reich geäußert. Jetzt mokiert er sich aber darüber, dass er immer noch nicht »rausgeworfen« worden ist. Am 3.Februar 1936 schreibt Thomas Mann in der Neuen Zürcher Zeitung auch – und darauf spielen Sie ja an – in seinem offenen Brief, der nationalso- zialistische »Judenhass« gelte nicht allein den Juden, sondern sei ein »Angriff auf Europa und jedes höhere Deutschtum« und »auf die christlich-antiken Fundamente der abendländischen Gesinnung«. Der Tatbestand nach Artikel 2 des Gesetzes vom 14. Juli 1933 über den Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit »wg. feindseliger Propaganda gegen das Reich im Ausland« – natürlich ein politischer Paragraf, der bis 1937 zur Ausbürgerung von 375 Personen herangezogen wurde – war damit für das Thomas Mann und Ernst von Weizsäcker 55

Die kurze Stellungnahme aus Bern von Botschafter Ernst von Weizsäcker zum Ausbürgerungsverfahren von Thomas Mann 56 Damnatio memoriae?

NS-Regime zweifellos erfüllt. Zwei Tage danach wird Hitler die Olympischen Winterspiele in Garmisch eröffnen, die Sommerspiele in Berlin stehen im Au- gust bevor und deshalb erfolgt keine unmittelbare Reaktion aus der Zentrale. Hinter den Kulissen beginnen aber die Ausbürgerungsmühlen kräftig zu mah- len. Die Botschaften in den deutschen Nachbarländern, also in Bern, , Prag und Wien werden um Stellungnahmen gebeten. Der geltenden Rechts- lage entsprechend müssen sie alle unisono konstatieren, dass die Gründe für eine Ausbürgerung vorliegen. Die Stellungnahme von Weizsäcker, in der er feststellt, »Thomas Mann habe den Langmut der deutschen Behörden gegen- über seiner Person mit höhnischen Bemerkungen bedacht«, deshalb bestünden von seiner Seite »keine Bedenken mehr, das Ausbürgerungsverfahren gegen ihn in die Wege zu leiten«, ist allerdings nicht die erste, die in Berlin eintrifft, wie Sie offenbar annehmen. Weizsäckers Stellungnahme trifft eine knappe Woche nach derjenigen aus Paris als letzte in Berlin ein. Im Kommissionsbe- richt steht immerhin (S.85), dass sie nach dem entsprechenden Gutachten des deutschen Botschafters in Frankreich, Johannes Graf von Welczeck, eintrifft. Von »initiativ werden« kann also tatsächlich nach Akten- oder Quellenlage im Falle Weizsäcker keine Rede sein. Aber sicher, medial macht es sich heute einfach besser, ihn in den Fokus zu rücken. Und der Historikerkommission geht es immer auch ganz erheblich um die »mediale Wirkung«, egal, was die Quellen wirklich sagen. Wenn sich Weizsäcker, anders als die anderen Ge- sandtschaften, bei dieser Sachlage im Übrigen gegen die Ausbürgerung von Thomas Mann ausgesprochen hätte, wäre seine politische Karriere beendet gewesen und er hätte wie der erwähnte Kollege Müller in die Schweiz über- siedeln können, allerdings eben anders als dieser, lange vor Erreichen der Al- tersgrenze. Das ist nur ein kleines Beispiel über die »Medienarbeit« im Kommissionsbericht, aber man kann es »pars pro toto« nehmen. Viel erschüt- ternder und peinlicher finde ich allerdings, dass die deutschen Verwaltungen im Sudentenland sich weigern, Heinrich und Thomas Mann die tschechoslo- wakische Staatsbürgerschaft zu verschaffen. Sie waren damals noch nicht von Hitler »heim ins Reich« geholt worden, also noch »frei« in ihren Entscheidun- gen – und weisen die entsprechende Anfrage der Familie zurück. Aber das steht nicht im Buch und steht auch heute in keiner deutschen Zeitung. Schirrmacher: Wie hätte denn eine differenziertere Darstellung Ihrer Meinung nach angelegt sein müssen? Wie hätte sie aussehen müssen? Koerfer: Zunächst einmal hätte der prozesshafte Gang der Entwicklung er- klärt werden müssen. Der biologistische Rassenwahn ist 1933 Staatsdoktrin, Staatsziel, ist staatliche deutsche Politik geworden. Er ist noch gefährlicher, Ausgrenzung, Austreibung, Auslöschung 57 bedrohlicher für die Betroffenen als der in der deutschen Gesellschaft weit verbreitete soziale Antisemitismus, der sich vor allem auf die Ostjuden fokus- sierte. Der biologistische Antisemitismus rückt aber nicht mehr die Religion in den Mittelpunkt, sondern eine ganz neue Kategorie: das Blut. Beim sozialen Antisemitismus konnte man zum Christentum wechseln, sich assimilieren und integrieren … Das Blut kann man nicht wechseln. Biologistisch ist das Ganze, weil es im Zeitalter der Tuberkuloseimpfung »modern«, pseudowis- senschaftlich daherkommt, mit Begriffen wie »Bazillen«, »Viren«, »Immuni- sierung« und »genetischen Defekten« operiert. Wer das falsche Blut in sich trägt, ist für die Volksgesundheit bedrohlich. Er ist ein Virus auf zwei Beinen. Er gehört ausgegrenzt, gehört in Quarantäne, gehört in ein Lager – er muss am Ende sogar ganz eliminiert werden. Hitler und mit ihm all seine Helfer und Vollstrecker wollen in ihrem Ras- senwahn das deutsche Volk gegen diesen jüdischen Virus »impfen«. Sie meinen, etwas Positives und alternativlos Notwendiges für die deutsche Gesell schaft zu tun. Entsprechend schlägt der Rassenwahn ab 1933 auf die Gesellschaft, auf das Leben der Betroffenen durch – in sich überlappenden Eskalationsschritten und -schüben. Ausgrenzung, Austreibung, Auslöschung sind die drei zentralen Eskalationsstufen. Die Schlinge zieht sich erst langsam, dann aber immer schneller, immer mörderischer zu. Parteibasis, etwa die SA, die zunächst ja die besonders brutale »Vorhut« des neuen Staates darstellt und Parteiführung, spä- ter dann die SS-Kommandos vor Ort und die zentralen Instanzen treiben wechselseitig den Prozess mit jeweils unterschiedlicher Intensität voran, sich gegenseitig bestärkend und radikalisierend. Zunächst schon 1933 Boykott und Berufsverbot, dann Drängen zur – vom Regime ja noch ausdrücklich gewollten – Emigration bei fast völliger ökono- mischer Ausplünderung durch die Reichsfluchtsteuer. Dann die Phase der Apartheid, des Herausdrängens aus dem öffentlichen Raum, kein Auto, kein Radio, kein Telefon, um die Ausgrenzung perfekt zu machen lange vor dem gelben Stern der öffentlichen Stigmatisierung, kein Theater-, Schwimmbad-, Kinobesuch, kein Gang zum Friseur, kein Wellensittich, kein Kanarienvogel mehr, schließlich dann auch fast nichts mehr an Nahrungsmitteln, keine Eier, kein Kuchen, Einkaufen nur zwischen 16 und 17 Uhr und bei Bombenan- griffen kein Schutz im Bunker. Die deutsche Bürokratie war wirklich auf be- schämende und erschreckend perfide Weise erfinderisch darin, das Leben der Juden zur Qual werden zu lassen. In den besetzen Gebieten im Osten, beson- ders im Generalgouvernement wird noch die Phase der Ghettoisierung da- zwischen geschaltet, auch diese schon ziemlich mörderisch übrigens. Ab Ende 58 Damnatio memoriae?

1941, Anfang 1942 folgten dann die massenhaften Deportationen. Am Ende stand für fast alle Betroffenen die sofortige physische Vernichtung oder Ver- nichtung nach qualvoller Ausbeutung der letzten Arbeitskraft. Victor Klem- perer hat die Etappen ja bedrückend klar notiert. Von Anfang an hat das AA – wie die anderen Behörden und Körperschaften im Reich auch – diesen Prozess, diese staatliche Politik, begleitet. Das tun aber etwa auch die Sportverbände, die im Gefolge des April-Boykotts 1933 wie das AA beschwichtigende Stellungnahmen an ausländische Partner verschickt haben und unverzüglich Wahlen abschaffen, Führerprinzip und einen Arier- Paragrafen einführen, der Juden die Mitgliedschaft verbietet. Das tun die In- dustrieverbände, die Banken, Versicherungen, ja sogar die Schrebergärtner. Aber 1933 ist das Tor nach Auschwitz noch nicht weit aufgesperrt – es hat sich allenfalls spaltbreit zu öffnen begonnen. Schirrmacher: Sagen wir so – man hat sich 1933 vielleicht noch einreden können, das die tatsächliche Vernichtung der Juden lediglich Rhetorik einer rassistischen Partei gewesen sein mag. Aber im »Amt« steht ja auch, dass Weizsäcker bereits 1938 davon spricht, die Juden müssten auswandern, sonst gingen sie ihrer Ver- nichtung entgegen. Wann hätte man merken können, was bevorstand? Koerfer: Weizsäcker meinte 1938 wohl noch nicht die massenhafte Ermor- dung und physische Vernichtung, sondern deren Vorstufe, die ökonomische »Vernichtung« und damit zugleich den Entzug aller nennenswerten Lebens- grundlagen bis auf einen kleinen erbärmlichen Rest – was allerdings die phy- sische Vernichtung schon vorbereitete. Die völlige Entrechtung der deutschen und österreichischen Juden war zu diesem Zeitpunkt bereits weit fortgeschrit- ten. Gewaltexzesse und straflose Tötungen waren an der Tagesordnung. Die Verhaftungswelle nach der »Reichskristall-«, bzw. Reichsprogromnacht am 9. November 1938 ist zudem von einer riesigen Ausplünderungswelle begleitet, die »Arisierungen« erreichen ihr finales Stadium. Die KZ, in denen in den Jahren zuvor, ab 1935, 1936 »nur« 6.000 bis 10.000 Häftlinge inhaftiert waren – kein Vergleich zu Stalins Terrorlagersystem, Hitler brauchte den gro- ßen Terror damals nicht mehr – beginnen sich wieder zu füllen, erreichen im Krieg dann rasch Millionenzahlen. Aber noch gab es das Bestreben des Re- gimes, die Juden loszuwerden, auszutreiben und nicht innerhalb der eigenen Grenzen zu ermorden. Hitler, der 1937 im regierungsinternen Disput über das Ha’avara-Abkom- men zwischen dem Reichswirtschaftsministerium und zionistischen Funktio- nären die forcierte Auswanderung deutscher Juden nach Palästina gegen die Empfehlung des Auswärtigen Amtes – weil, wie der deutsche Generalkonsul Hitlers »Prophezeiung« vom 30. Januar 1939 59 in Jerusalem mitteilt, dadurch die deutsch-arabischen Beziehungen belastet würden – weiter vorantreiben lässt, spricht noch am 30. Januar 1939 in seiner berühmten Reichstagsrede und »Prophezeiung« nicht nur davon, dass die Ent- fesselung eines Weltkriegs durch die Juden deren Vernichtung zur Folge haben werde, sondern auch davon, dass es noch genügend Länder in der Welt gäbe, die Juden aufnehmen könnten und aufnehmen müssten. Noch ging es Hitler selbst nicht um die physische Vernichtung, die massenhafte Ermordung, son- dern um die Austreibung der gänzlich ausgeplünderten Juden aus Deutschland. In der Zeit von Hitlers Rede legt der Referent Emil Schumburg in der Deutschland-Abteilung des AA im Januar 1939 ein Memorandum zur Juden- frage als Faktor der Außenpolitik vor – das im Amt-Band ausführlich (S.384) geschildert wird – in dem er vorschlägt, so viele Juden wie möglich mittellos abzuschieben, um in deren neuen Gastländern mit ihren infolge der weiter wirkenden Weltwirtschaftskrise ohnehin bereits zahlreichen Almosenemp- fängern den Antisemitismus zu schüren. Vielleicht hatte Hitler das Memo- randum vor seiner Rede gerade vorgelegt bekommen. Jedenfalls bewegt er selbst sich noch in diesem Kontext. Bis zum Herbst 1941 war deutschen Juden nach der nahezu vollständigen Enteignung und Ausplünderung die »Ausreise« aus dem Reich gestattet, wenn sie ein Visum und eine Aufnahme- erklärung ihres Gastlandes vorweisen konnten. Erst als das industrialisierte Massenmorden beginnt, schließt sich die tödliche Falle für sie vollständig, gibt es nur noch in ganz seltenen Fällen offizielle Ausreisegenehmigungen des Regimes. Wer jetzt flüchten wollte, musste über die Grenze zur Schweiz, mit dem Risiko, weil dort – wie der Bund in Bern erklärte – das »Boot voll« war, zurückgeschickt zu werden in den Tod. Oder er musste Papiere fälschen, ge- fälschte Papiere erwerben, darauf stand die Todesstrafe. Einigen Tausend ge- lang es mit Hilfe ihrer deutschen Freunde und Nachbarn, als »U-Boote« abzutauchen und so »versteckt« innerhalb der NS-Gesellschaft in Deutsch- land zu überleben, viele Tausende wurden aber auch in den Selbstmord ge- trieben, weil sie den mörderischen Deportationsanweisungen nicht Folge leisten wollten. Schirrmacher: Bleiben wir bei der Frage, ab wann man in etwa sehen konnte, wohin der Zug des Rassenwahns fahren würde? Koerfer: Nur sehr wenige waren so hellsichtig wie der Vater der Judaistik-Pro- fessorin Marianne Awerbuch, der schon im Herbst 1932 in seiner Familie auf Auswanderung drängte und sich mit ihr nach Palästina aufmachen wollte. Sein Schlüsselerlebnis: Potempa. Vor allem das im Herbst 1932 veröffentlichte, für uns heute unglaubliche Solidarisierungstelegramm Hitlers, der den zu- 60 Damnatio memoriae? nächst zum Tode, kurz darauf zu lebenslanger Haft verurteilten SA-Männern, die in dem oberschlesischen Ort Potempa den polnischen Arbeiter und Ge- werkschaftsmann Konrad Pietrzuch auf brutalste Weise ermordet hatten, im Falle seiner »Machtergreifung« die sofortige Freilassung ankündigte – und so geschah es auch. Nach der Machtergreifung war der soziale Ausgrenzungsdruck aber doch bitter und erschreckend spürbar für die allermeisten Betroffenen, so dass bis Ende 1938 etwa zwei Drittel der rund 500.000 deutschen Juden das Land verlassen hatte. Gegangen waren vor allem die Jüngeren, Jugendlichen. »Aus Kindern werden Briefe«, lautete die bedrückende Feststellung in vielen Fami- lien. In Deutschland hatte der Rassenwahn bis zum Kriegsbeginn also bereits massiv und schrecklich »gewirkt«. Durch die Eroberungen im Krieg fielen den Deutschen nun plötzlich im Ausland Millionen Menschen in die Hände, die als »Bakterien« und »Bazillen«, als »Gefahr für einen gesunden Volkskörper« stigmatisiert und verfolgt wurden. Ohne dieses »Ausland« wäre das AA mit dem Völker- und Massenmord des Dritten Reiches kaum in Berührung ge- kommen. Schirrmacher: Einer Ihrer Haupteinwände ist die Darstellung der Beteiligung des Auswärtigen Amtes an den Massenmorden. Sie werfen, wenn ich das recht sehe, dem Buch vor, dass es das AA gleichsam zum Verursacher macht. Koerfer: Zum einen bin ich verblüfft, dass die zentrale Rolle und Bedeutung Hitlers in diesem Zusammenhang an keiner Stelle im Band thematisiert wird. Und es wird auch nicht deutlich, was Hermann Beck von der Universität Miami in seiner Studie über die Zusammenarbeit Hitlers mit den konserva- tiven Eliten im Dritten Reich eindrucksvoll herausgearbeitet hat – dass Hitler seine Macht nicht allein durch die Zusammenarbeit mit den konservativen und bürgerlichen Eliten errungen und gefestigt hat, sondern auch durch Ge- walt und Härte gegen sie. Davon ist im Kommissionsbericht nicht die Rede. Zum anderen hätte aber auch das höchst arbeitsteilige Verfahren des Völ- kermordens, das die individuelle Verantwortung auf ebenso perfide wie raffi- nierte Weise »aufsplittete«, präziser herausgearbeitet und der Stellenwert des AA, der Platz des AA in diesem Prozess, klarer verdeutlicht werden müssen. Im Buch wird eigentlich fast durchweg wie im Falle von Otto Abetz, dem deutschen Botschafter in Paris, einem überaus willfährigen NS-Diplomaten, bei der Deportation der Juden 1941/42 eine ganz flache Entscheidungshie- rarchie und kurze Handlungskette vorgeführt. Schirrmacher: Wie verhält es sich damit? Ist das Jahr 1941/42 nicht eine wichtige Zäsur? Gewalt und Härte gegen bürgerliche Eliten 61

Koerfer: Wir sind im März 1942, etwa zwei Monate nach der Wannsee-Kon- ferenz – das Massenmorden in den Vernichtungslagern im Generalgouverne- ment hat bereits begonnen. Adolf Eichmann vom RSHA fragt beim AA an, ob »gegen die Abschiebung von insgesamt 6.000 polizeilich näher charakteri- sierten Juden französischer Staatsangehörigkeit, beziehungsweise staatenlosen Juden nach dem Konzentrationslager Auschwitz (Oberschlesien)« Bedenken bestünden – ursprünglich waren im Dezember 1941 1.000 Juden als »Sühne- aktion« für Angriffe der Résistance auf Wehrmachtsangehörige verhaftet wor- den. Eichmann hatte die Zahl eigenmächtig auf 6.000 erhöht. Ribbentrop hatte in dieser Phase, angesichts des fortschreitenden Kompetenz- und Be- deutungsverlustes seines Ressorts, sich ein Prüfungsrecht vorbehalten. Aber es war dies kein materielles Prüfungsrecht, sondern lediglich ein formales. Noch fragt Eichmann daher an. Es sind dies die ersten Anfragen aus dem RSHA. Später – und auch das fehlt im Buch – wird das RSHA, wird Eichmanns »Ju- denreferat« IV B4 vielhunderttausendfache Deportationen anordnen, ohne das AA überhaupt noch irgendwie zu konsultieren – das AA hatte nach kurzer Zeit bereits als »Mitwirkungsorgan« ausgedient, ist wie in fast allen wichtigeren Fragen auch bei dieser Kernfrage für das Regime im Krieg komplett unwichtig geworden. Bei der ersten Anfrage Eichmanns allerdings ersetzt noch Staatssekretär von Weizsäcker im März 1942 höchstselbst im AA »keine Bedenken« durch »kein Einspruch« und die Deportationszüge rollen aus Frankreich Richtung Osten, rollen nach Auschwitz. Bei einer der nächsten und zugleich letzten Anfragen Eichmanns, diesmal geht es um die Deportation amerikanischer Juden aus Frankreich, wird Weizsäcker übrigens bemerken, dass dies nach Hitlers Kriegs- erklärung vom Dezember 1941 zu einer weiteren Verschlechterung des Ver - hältnisses zu den USA führen würde, ein Umstand, der zwar in der »Dissen - ting opinion« eines der drei Richter im Wilhelmstraßenprozess auftaucht, der Weizsäcker freisprechen will, aber sie kommt im Amt-Band nicht vor. Weiz- säcker wird später vor Gericht auf die – in seinen Augen – bedeutungsvollen Abschwächungen selbst hinweisen, als Angeklagter, dem die Todesstrafe droht. In diesem »Wilhelmstraßenprozess«, der unter dem Rubrum »gegen Weizsä- cker und andere« geführt wurde, wird er dann auch sagen, dass er zum dama- ligen Zeitpunkt 1941/42 davon ausging, dass es sich bei Auschwitz um ein Arbeitslager gehandelt habe.16 Schirrmacher: Ja, und ist das glaubhaft oder doch irreführend? Koerfer: Es ging um seinen Kopf. In einem Parallel-Prozess wurde 1947 in Bratislava der von den Amerikanern an die Tschechoslowakei überstellte Nazi- 62 Damnatio memoriae?

Gesandte Hanns Ludin, der im Krieg von Preßburg aus die Deportationen von 60.000 slowakischen Juden vorangetrieben hatte, zum Tode verurteilt und gehenkt – allerdings nicht »nur« wegen dieser Deportationen, sondern wegen 26 weiterer schwerer Anklagepunkte. Einer von Weizsäckers Vertrauten, Al- brecht von Kessel, hat später, 1964, in einem Ermittlungsverfahren ausgesagt, dass Ende 1941 den höheren Beamten im AA klar war, dass die Juden plan- mäßig auf die eine oder andere Weise physisch ausgerottet werden sollten. Die Zusammenfassung der Einsatzgruppen-Berichte hat Weizsäcker ab November 1941 abgezeichnet, was man in seinem Prozess damals noch nicht wusste. Dass er das Wannsee-Protokoll kannte, nehme ich an, auch wenn er es später bestritten hat. An der Vor- und Nachbereitung der zunächst für Dezember 1941 geplanten, dann wegen Hitlers Kriegserklärung an die USA auf Januar verschobenen Konferenz wurde er jedenfalls durch den Leiter der Deutsch- land-Abteilung, Unterstaatssekretär Martin Luther und dessen für Judenfragen zuständigen Referatsleiter Franz Rademacher in groben Zügen unterrichtet. Vielleicht hat er auch deshalb, weil er zumindest in Ansätzen wusste, worum es ging, so allergisch reagiert, als ihn der Vertreter des Auswärtigen Amts beim Oberkommando der 11. Armee, Otto von Hentig, zweimal auf die »Judenfrage« ansprach. Hentig war ein mutiger Mann, zwischen 1941 und 1942 Berichterstatter vom Kriegsschauplatz auf der Krim. Er berichtete im Sommer 1942 von der Aufdeckung von zumeist wohl jüdischen Massengrä- bern dort und kritisierte als einziger Vertreter des AA die Ermordung Hun- derttausender Juden in seinem Einsatzgebiet, forderte die Einhaltung des Völkerrechts und die medizinische Versorgung sowjetischer Kriegsgefangener – was übrigens im Amt-Band (S.208 f.) breit gewürdigt wird. Hentig jedenfalls hat nach dem Krieg überliefert, dass Weizsäcker ihn und von Hassell ange- schrien habe, als er auf diese Thematik zu sprechen gekommen sei und ge- schlussfolgert, Weizsäcker wolle augenscheinlich nicht mit ihr befasst sein. Um den »Fall Weizsäcker« und das ganze abscheuliche Geschehen beurteilen zu können, muss man allerdings in jedem Fall um die bereits erwähnte »Ar- beitsteiligkeit« des industrialisierten Massenmordens wissen. Diese »Arbeits- teiligkeit« fehlt völlig im Buch. Im AA saßen immer unwichtiger werdende Bürokraten. Im Film Monsieur Klein mit Alain Delon ist eine Deportations- geschichte aus Paris exemplarisch durchgespielt. Immer und in jedem Einzel- fall sind – wie überall in Europa – beteiligt die französischen oder sonstigen lokalen Behörden, die Gemeindeämter, die Listen der Juden zusammenstellen für die deutsche Besatzungsmacht, dann die Gendarmerie, die örtliche Polizei, die Juden für die Deutschen verhaftet und abliefert, Gerichtsvollzieher, An- »Arbeitsteiligkeit« des industrialisierten Massenmordens 63

Nicht nur ein Schreibtischtäter: Adolf Eichmann, Koordinator des Massenmordens im Zeichen des Rassenwahns im Reichs- sicherheitshauptamt (RSHA) und Leiter einer mörderischen Einsatzgruppe in Ungarn. wälte, Gutachter für die Vermögensschätzungen, Meldeämter etc. Es sind auch beteiligt französische Putzfrauen, die auf Bahnhöfen vor dem Transport in den Deportationszügen Leibesvisitationen an Jüdinnen vornehmen und nach in Körperöffnungen verborgenem Schmuck, Geld, Gold und dergleichen suchen müssen. Beteiligt ist die jeweilige nationale Eisenbahnverwaltung, ist die Reichsbahn, sind die Zugführer, die wissen, welche Fracht sie transportieren, besonders, wenn Züge wegen Kampfhandlungen stundenlang in praller Sonne stehen und nicht weiterfahren können. Die Schreie und das Stöhnen der Ge- schundenen konnte niemand überhören. Und dann kommt der Zug in die Vernichtungslager und an der Rampe stehen Ärzte und vollziehen die »Selek- tion«, entscheiden über »Arbeit«, was – meistens nur vorübergehend – »Leben« bedeutet oder »Gaskammer«, also den sofortigen, unverzüglichen Tod. Und am Schluss sind, Gipfel der Perfidie und Perversion, noch die Ange- hörigen der jüdischen Sonderkommandos Teil des Mordprozesses, die die zur Ermordung Bestimmten in die Gaskammer locken, weil sie deren jeweilige Sprache, deren Dialekt sprechen, weil sie beruhigen und Normalität vortäu- schen. Und weil diese jüdischen Sonderkommandos die Gaskammern an- schließend, nachdem die eingeworfenen Zyklon B-Kügelchen, sich mit Luft 64 Damnatio memoriae?

Das Auswärtige Amt in der Wilhelmstraße (Mitte) mit Hakenkreuz-Fahne auf dem Dach anlässlich des Reichsgründungstages am 18. Januar 1937. Gipfel der Perfidie und Perversion 65 vermischend und vom Boden aufsteigend, ihre tödliche Wirkung entfaltet und die in den Kammern Eingeschlossenen in einen kurzen, aber heftigen Todes- kampf verwickelt haben, wieder sauber machen, die verkeilten Körper heraus- ziehen und, ja, die Toten verbrennen müssen, obwohl dies nach jüdischem Glauben ein Sakrileg ist. Von alledem nicht einmal Spurenelemente im Buch. Da wird dem Leser vielmehr suggeriert – bitte korrigieren Sie mich, aber als ich es gelesen habe, dachte ich: Was wird mir da präsentiert? Das ist doch viel zu simpel – es kommt ein Brief aus dem RSHA mit der Anfrage, seid ihr mit der Deportation einverstanden? Kaum je Einwände der Diplomaten, in Paris, Belgrad, Athen oder wo auch immer. Ja, und manchmal sogar auch der Anstoß vor Ort, von einem deutschen Konsul, etwa in Griechenland, der in aller Form bittet, anregt, fordert, seinen Bezirk bei diesen Deportationen keinesfalls aus- zulassen. Und dann folgt die Deportation in den Tod. Es wird uns suggeriert, das AA sei ein wichtiger, sei ein bedeutender Faktor in dem allem gewesen, im Zusammenwirken mit dem RSHA entscheidend – über die Mitwirkung bei Ausbürgerungs- und »Grundstücksentjudungen«, also Enteignungen hinaus. Es heißt an einer Stelle wörtlich, das AA sei über das Referat Deutschland »gestaltend und ausführend« (S.178) an den von Eichmanns Referat organisierten Deportationen beteiligt gewesen, nachdem das »Programm« seine mörderischen Konturen angenommen habe. Das geht deutlich zu weit und trifft so nicht zu. Überdies war das Dritte Reich viel schrecklicher, als es uns hier in dieser simplifizierten Darstellung begegnet – weil viel mehr Menschen an viel mehr Orten involviert waren, nicht »nur« RSHA und AA. Schirrmacher: Ich lese das anders, vielleicht zu literarisch. Ich sage: wer im Drit- ten Reich seine Unterschrift unter ein Dokument setzt, das »keine Einwände« gegen die Deportation von Juden formuliert, ist moralisch und historisch nicht mehr zu retten. Und es ist ganz gleich, ob sein Einwand etwas bewirkt hätte oder nicht. Es gibt solche absoluten Momente – und das zu sagen darf man sich auch nicht scheuen, wenn man sich klarmacht, dass einen vielleicht nur die Gnade der späten Geburt vor ähnlicher Verstrickung rettet. Gerade wenn Sie die individuellen Fälle so hervorheben, denken Sie an all diejenigen, die dergleichen niemals unterschrie- ben hätten, denken Sie an die Darstellung von Ernst Jünger in Paris. Natürlich kann man nicht bestreiten, dass Dokumente wie dieses mit der Reaktion Weizsä- ckers auf Eichmanns Anfrage die Mittäterschaft des AA am Holocaust belegen. Koerfer: Das wäre töricht. Die ist nicht zu bestreiten. Aber im Buch wird so etwas wie eine Neudefinition des AA versucht, wenn schon auf dem Klappentext formuliert wird, es sei immer und überall »in die Gewaltpolitik des NS-Regimes 66 Damnatio memoriae? eingebunden« gewesen, habe die »Judenpolitik des Dritten Reiches nicht nur nach außen abgeschirmt«, sondern sei »in allen Phasen aktiv an ihr beteiligt« gewesen. Wirklich in allen Phasen? Es heißt in Das Amt (auf S.186) wörtlich: »Das RSHA war zur reibungslosen Durchführung der ›Endlösung‹ auf die Rückendeckung sämtlicher Reichsbehörden angewiesen und eben auch auf die des Auswärtigen Amtes«. Dahinter steckt das Bemühen, welches das ganze Buch durchzieht, das Aus- wärtige Amt als für die Staatsmorde essentiellen Teil des Beamtenapparates erscheinen zu lassen. Aber das geht zu weit, viel zu weit. Denn das Amt war für die Durchführung des Massenmordens weitaus unwichtiger als uns die Autoren glauben machen wollen – und die von präziser historischer Sach- kenntnis inzwischen doch eher ungetrübte Öffentlichkeit nach dem medialen »Hype« im Anschluss an das Erscheinen des Buches zukünftig annehmen wird und annehmen muss. Machen wir zur Verdeutlichung dieses wirklich zentralen Punktes ein ganz einfaches Gedankenexperiment: Das AA wird 1940 oder 1941 komplett in einem UFO entführt und ist mit samt seinen 5.000 bis 6.000 Herren und we- nigen Damen verschwunden. Glauben Sie, dass der Völkermord stattgefunden hätte oder nicht? Ihre Antwort hierauf kann leider und schrecklicherweise nur lauten: »Ja, so unfassbar es ist: selbstverständlich!« Jetzt das gleiche Experiment andersherum: Zu unser aller Glück hat das UFO 1940/41 nicht das AA, son- dern Himmler, Heydrich, Kaltenbrunner, Gestapo-Müller, Eichmann und das gesamte RSHA samt den Einsatzgruppen von SS, Sicherheitspolizei und SD für immer mitgenommen. Da wäre die Durchführung des Massenmordens doch schon sehr viel schwerer möglich gewesen. Wenn auch Hitler »mitgeflogen« wäre, wäre dieses massenhafte und mons- tröse Morden vermutlich zur Gänze ausgeblieben. Denn dass Hitler sich den biologistischen Rassenwahn – vermutlich von ihm erst gegen Ende des Ersten Weltkriegs unter dem Eindruck der für ihn verheerenden Niederlage und der daraus folgenden blutigen Münchner Räterepubliken mit ihren, teilweise zu- mindest, jüdisch-links-marxistisch-kommunistischen Führungsfiguren aufge- nommen, aufgesaugt – ganz zu eigen machte und seine Umsetzung dezidiertes Ziel seiner Politik wurde, hat die moralische Kernschmelze tatsächlich erst in Gang gesetzt. Der Impuls von der mit absolutistischen Vollmachten ausge- statteten Spitze dieser ersten deutschen Diktatur – hinter der sich viele willige Täter und Mittäter verstecken und verschanzen konnten – hält den ganzen Mordapparat in Betrieb, befeuert, inspiriert und legitimiert ihn. Er ermöglicht es vielen Tausenden von Tätern, die ähnlich dachten wie dieser »Führer« und Das »UFO-Experiment« 67 bereit waren, ihm immer weiter in den Irrgarten des Rassenwahns zu folgen – bis weit über jeden moralischen »Point of no return« hinaus, bis zum indus- triell-arbeitsteilig ablaufenden Mordprozess – und die dabei wiederum auf schreckliche Weise Eigeninitiative und »Kreativität« an den Tag zu legen. Schirrmacher: Das »Experiment« ist tatsächlich interessant. Aber Sie sagen hier ja auch mit Recht: Hitler. Wenn wir Hitler wegstreichen, hätte es keine Vernich- tung gegeben. Die Frage ist doch, wer sie ihm ermöglichte, sowohl direkt, wie das RSHA oder vermittelt, wie das AA. Was sagt uns das Experiment darüber hinaus? Koerfer: Es zeigt, dass den Autoren die kluge, für das Verständnis des Dritten Reiches hilfreiche und in der Fachwelt zumindest durchaus geschätzte Unter- scheidung von Ernst Fraenkel aus dem Jahr 1940 nicht mehr geläufig ist. Fra- enkel, wie der Ankläger Kempner im Wilhelmstraßenprozess ein tüchtiger preußischer Jurist, der nach 1933 in die Emigration gezwungen wurde, nannte das Dritte Reich in seiner Studie, die er im amerikanischen Exil verfasst hat, einen Dual State, einen Doppelstaat. Partiell war das Reich auf einer ganzen Reihe von Feldern ein Rechtsstaat geblieben, war tatsächlich noch ein »Nor- menstaat«, bei dem das BGB von 1900 fort galt. Scheidungen, Verträge, Grundbuchauszüge, Erbschaften, Bankgeschäfte, alles lief ab wie gehabt, wie gewohnt. Aber im Kernbereich des Regimes, beim Rassenwahn, bei der Ver- folgung der von der »Volksgemeinschaft« Ausgegrenzten und Entrechteten, und hier keineswegs allein im Falle von Juden, sondern auch für die Sinti und Roma, die Behinderten, die Homosexuellen usw. galt dieser Schutz der »Nor- men« nicht mehr, war er vollständig aufgehoben. An seine Stelle trat jetzt – so Fraenkel – im Dritten Reich der »Maßnahmenstaat«, der durch Einzelfall- entscheidungen oft ohne jegliche oder auf allenfalls sehr schwammiger Rechts- grundlage – wie etwa dem mörderischen, immer wieder verschärften »Heimtückegesetz« oder den »Volksschädlingsverordnungen« – über Leben und Tod herrschte und entschied. Zentraler Ort des Maßnahmenstaates war das KZ, aus dem sich nicht von ungefähr im Krieg die Vernichtungslager, die Vernichtungsfabriken entwickel- ten. Kein Anwalt, kein Richter, kein Verteidiger, ja nicht einmal ein Polizist und schon gar kein Journalist – außer bei getürkten PR-Veranstaltungen – hatte im KZ etwas verloren ab 1933/34, geschweige denn, dass er es je betreten durfte. Dort hatte der Rechtsstaat wirklich nichts mehr zu sagen. Im KZ galt allein und ausschließlich das »Recht« der SS mit dem Lagerkommandanten als oberster Instanz, als Herren über Leben und vielfachen Tod. Die SS war das Hauptvollzugsorgan des Maßnahmenstaates, welches ab 1939 über ein wach- sendes Lager- und Wirtschaftsimperium gebot, über eine ganze Reihe von 68 Damnatio memoriae?

Stamm- und Hunderte, ja Tausende Neben- und Außenlager. An der Spitze der SS stand Himmler, mit Heydrich als seinem wichtigsten Helfer und Zuar- beiter. Innenminister Fricks Versuche, den »Raum KZ« und die SS zu kontrol- lieren, einzubinden, hat Himmler immer wieder erfolgreich abzuwehren verstanden. Formal war Himmler zwar Frick zugeordnet und die SS, soweit sie Polizeifunktionen wahrnahm, dem Innenressort beamtenrechtlich unterstellt, aber da Himmler immer und jederzeit unmittelbaren Zugang zu Hitler, dem mit absolutistischen Vollmachten ausgestatteten »Führer«, besaß und dessen engster, wichtigster Vertrauter bei der Umwandlung des Rassenwahns in prak- tische Mordpolitik war – nicht umsonst sagt Christopher Browning: »Wer wis- sen will, was Hitler in der Rassenpolitik dachte und wollte, muss sehen, was Himmler tut« – lachte Himmler nur, wenn Frick wieder einmal einen seiner Vorstöße zu seiner »Einbindung« und Kontrolle unternahm. Dass Himmler im August 1943 Frick als Innenminister nachfolgt, war nur konsequent. Ein Jahr später, nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli, wird er dann auch noch Befehlshaber des Ersatzheeres, weitet seinen Zugriff – mit Hitlers Billi- gung – zusätzlich immer stärker auf den Militärbereich aus. In diesen Kontext gehört auch der von Unterstaatssekretär Luther mit Rü- ckendeckung Himmlers und Walter Schellenbergs, des Chefs des SS/SD-Aus- landsnachrichtendienstes, begonnene Machtkampf im AA, der zur Ablösung des »geisteskranken und amtsunfähigen« Ribbentrop und zum völligen »Ta- keover« der SS führen sollte. Luther, zwischenzeitlich zum SS-Brigadeführer (i.e. ) befördert, scheitert allerdings und wird Anfang 1943 ver- haftet, bekommt aber im KZ Sachsenhausen eine Vorzugsbehandlung, darf 1944 mit Hitlers Billigung zusammen mit seiner Frau in ein separates Haus am Rande des KZ ziehen, weil Himmler weiter die Hand über ihn hält. Er stirbt, kurz zuvor freigelassen, Mitte Mai 1945 an Herzversagen. Der Siegeszug des Maßnahmenstaates war 1942/43 bereits weit fortgeschrit- ten, der Normenstaat auf Restbestände im Dritten Reich zurückgedrängt. Wäh- rend die ersten beiden Phasen der Juden-Verfolgung – Ausgrenzung und Austreibung – noch von einer Flut von Verordnungen und Gesetzen begleitet werden und die Institutionen des Normenstaates wie Justizministerium, Finanz - ministerium usw. eine maßgebliche Rolle dabei spielen, gibt es für die letzte, radikalste Phase, die Auslöschung, keinerlei rechtlichen Rahmen in welcher Form auch immer – außer dem ominösen, nirgends schriftlich überlieferten Führerbefehl Hitlers, auf den sich von Himmler, Heydrich und Eichmann ab- wärts alle beriefen. Aber Hitler wollte wohl nicht unmittelbar mit dem Völ- kermord in Verbindung gebracht werden. Und er wagte es bis in die Endphase Euthanasiemorde als »Geheime Reichssache« 69

Anweisung Hitlers zur »Vernichtung lebensunwerten Lebens« (»Euthanasie«), verfasst unter seinem pri- vaten Briefkopf, vermutlich entstanden im Oktober 1939 und zurückdatiert auf den 1. September – den Tag des Kriegsbeginns. Die einzige überlieferte Quelle, die ihn unmittelbar mit den Staatsmorden im Zei- chen des Rassenwahns in Verbindung bringt. 70 Damnatio memoriae? seines Regimes nicht, den Deutschen wirklich unzweifelhaft offenzulegen, was geschah, vielleicht weil ihn die überwiegend ablehnende Reaktion nicht zuletzt von Teilen der Kirche wie von Bischof Galen auf die Euthanasie-Aktionen ab- schreckte. Es blieb bei verschiedenen Andeutungen. Offiziell wurde das mör- derische Geschehen in den Vernichtungslagern als Staatsgeheimnis, als »Geheime Reichssache« behandelt. Wer darüber sprach, konnte wegen »Gräu- elpropaganda« hingerichtet werden, bzw. ist hingerichtet worden. Für die Euthanasie-Morde gibt es allerdings eine erhalten gebliebene, schrift lich-knappe Anweisung Hitlers aus dem Oktober 1939, zurückdatiert auf den 1. September. Das ist aber nicht ein amtliches Schreiben des »Führers und Reichskanzlers«, sondern ein kurzer Brief unter seinem privaten Brief - kopf (!) über die »Gewährung des Gnadentodes«. Auch wenn sich dieser Brief an den Leiter der Kanzlei des Führers, Philipp Bouhler und den Begleitarzt Hitlers, Karl Brandt, richtet, wird daraus die nach der Ansiedlung ihrer Zen- trale in der Tiergartenstraße 4 in Berlin benannte T-4-Aktion, der Mord an mehr als 70.000 Behinderten und Geisteskranken. Das ist eine wichtige Brücke in den Holocaust, bei der die SS zunehmend einbezogen wird, bereits mit den mörderischen Medizinern kooperiert, die sie später in den Vernichtungslagern einsetzen sollte. Christian Wirth, Kriminalkommissar und SS-Obersturmbann- führer, ist Büroleiter in den Euthanasie-Zentren Grafeneck, Hadamar und Hartheim. Im Juli 1941 beauftragten ihn Bouhler und Brack die erste Eutha- nasieanstalt außerhalb der Reichsgrenzen aufzubauen. Daran schließt sich Ende 1941 der Auftrag an, mit der Ausrottung der Juden in Chelmno zu beginnen – dem ersten der sechs Todeslager in Polen. Solche »Brückenbiographien« finden wir viele auf diesem düsteren Feld. Denn der Vollzug des millionenfachen Massenmordens fiel ins Tätigkeits- feld der Organe des Maßnahmenstaates, also der SS. Die sah sich deshalb auch als »Elite« des Regimes, als zentrale Vorkämpferin. Himmler spricht in der ersten seiner Posener Reden vor den über 90 SS-Führern am 4. Oktober 1943 – nicht jedoch in der zweiten vor den Reichsführern und Gauleitern zwei Tage später – das ganz offen aus, die Aufzeichnung ist wirklich ein Schre- ckensdokument des Rassenwahns: »Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen bei- sammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durch- gehalten zu haben, und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwäche – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt«. Die Vertreter des Normenstaates wurden dabei als »Zuarbeiter« betrachtet und Schrecken des Maßnahmenstaates 71 benutzt und zugleich – willkommenes Nebenresultat aus Sicht von Himmler und Co. – beschmutzt, kontaminiert, sollten sich später nicht herausreden, herauswinden können mit der Entschuldigung, davon hätte man wirklich nichts gewusst. Das AA würde ich, Fraenkel folgend, trotz seiner Verstrickung in den deutschen Völkermord als Institution des Normenstaates und nicht des Maßnahmenstaates betrachten. Als Institution des Normenstaates mit Schnitt- stellen zu denjenigen des Maßnahmenstaates, wie dem RSHA. Solche Unter- scheidungen machen die Autoren des Amt-Bandes nicht. Schirrmacher: Warum ist das für unser Thema wichtig? Koerfer: Weil eben, anders als im Buch auf Seite 185 behauptet wird – übri- gens ohne jeden Quellen-Beleg, der wäre ja denn auch eine wirkliche wissen- schaftliche Sensation gewesen –, Hitler nicht in einer Unterredung mit Ribbentrop im September 1941 die Ermordung der europäischen Juden »be- siegelte«. Hans Mommsen hat in diesem Zusammenhang ebenso scharf wie treffend angemerkt, die »Beweisführung« der Kommission an diesem Punkt habe nicht einmal »Proseminar-Niveau«. Er hat Recht. Weil die Spitze des AA eben nicht »an der Entscheidung über die Endlösung direkt beteiligt« war, weil es schlichtweg Unsinn ist, dass dem AA zu diesem Zeitpunkt die »Initia- tive zur Lösung der Judenfrage auf europäischer Ebene« unterstellt wird oder dass es dabei die entscheidende, die maßgebliche Initiative ergriffen hätte. Nicht allein, weil das »Standing« von Ribbentrop zu diesem Zeitpunkt, im Herbst 1941, schon sehr gelitten hatte. Sondern ganz schlicht, weil der Ver- antwortliche für die »Endlösung der Judenfrage« bereits 1939 offiziell von Hit- ler bestimmt und mit »Brief und Siegel« ausgestattet worden war und sich diese »Kompetenz« wenige Wochen zuvor im Sommer 1941 gerade abermals von Hermann Göring schriftlich hatte bestätigen lassen. Der hieß aber nicht Ribbentrop. Der hieß Heydrich – mit ihm übernahm die SS die Regie in die- sem deutschen Drama. Es ist Heydrich, der wenige Wochen später, auf der Wannsee-Konferenz am 20.Januar 1942, einer zentralen Schnittstelle zwischen Maßnahmen- und Normenstaat, sich als Chef der Sicherheitspolizei und des SD als der von Hitler – über Göring – mit der »Endlösung der Judenfrage Be- auftragte« vorstellt gegenüber den geladenen Beamten und Funktionären aus insgesamt elf Ressorts. Vertreten sind das Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete, das Reichsministerium des Innern, die Vierjahresplanbehörde, das Justizministerium (der anwesende Staatssekretär war tatsächlich Hitlers Chef- Ankläger Freisler, in einer frühen Phase seines Lebens übrigens Kommunist und daher als Renegat dem NS-Regime und seinem »Führer« besonders erge- ben), das Amt des Generalgouverneurs, das Auswärtige Amt, die Parteikanzlei, 72 Damnatio memoriae?

Eine Schlüsselfigur des Dritten Reiches und ein Vollstrecker des Maßnahmenstaates: SS-Obergruppenführer und General der deutschen Polizei Reinhard Heydrich die Reichskanzlei, das SS-Rasse- und Siedlungshauptamt und das Reichssi- cherheitshauptamt. Ausdrücklich betont er – was im Buch völlig fehlt, Un- terstaatssekretär Luther vom AA tritt in den Passagen zur Wannsee-Konferenz überhaupt nicht als wesentlicher Antreiber in Erscheinung – dass ihm, Hey- drich, und damit der SS in der von Göring abgezeichneten Vollmacht nun- mehr »die zentrale Federführung bei der Bearbeitung der Endlösung der Judenfrage« übertragen worden sei. Ich wiederhole: »Zentrale Federführung«. Offenbar hat man in der Unabhängigen Historikerkommission nicht einmal das Wannsee-Protokoll genau gelesen. Es passte ja auch nicht in die eigene Argumentation und steht als Quelle der negativen Überhöhung des Auswär- tigen Amtes ziemlich massiv im Wege. Heydrich fordert bei dieser Gelegenheit jedenfalls, die Lehren aus den im Dritten Reich üblichen ausgeprägten Kompetenzstreitigkeiten ziehend, die geladenen Behörden glasklar und unmissverständlich auf, bei dieser »Endlö- sung der Judenfrage« – wobei allen Beteiligten klar war, dass es sich dabei nun- mehr nicht mehr um Ausgrenzung und Austreibung, sondern um Auslöschung, Vernichtung, kurz: um millionenfachen Massenmord handelte – der SS und dem Reichssicherheitshauptamt vorbehaltlos zuzuarbeiten. Heydrich und die Wannsee-Konferenz 73

Schirrmacher: Welche Rolle spielte das Auswärtige Amt denn auf der Wannsee- Konferenz im Januar 1942? Koerfer: Laut Protokoll jedenfalls keine wesentliche. Der entsandte Vertreter, eben Unterstaatssekretär Martin Luther, war über das Büro Ribbentrop ins AA gekommen und koordinierte die Rassenpolitik in den entscheidenden Re- feraten des Amtes in enger Kooperation mit Eichmann. Er wusste also ziem- lich präzise, worum es ging. Insgesamt war die Wannsee-Konferenz ja eine »Koordinierungskonferenz« für den Staatsmord in den Vernichtungslagern auf Staatssekretärsebene, aber keine »Entscheidungskonferenz«. Die Entscheidung zum Massenmorden war auf höherer Ebene, der Ebene Hitler/ Himmler schon Monate zuvor im Herbst 1941 gefallen. Als die Wannsee-Konferenz stattfand, hatten die Einsatzgruppen bereits hunderttausendfach gemordet, hatten die ersten »Probevergasungen« mit Kohlenmonoxyd aus LKW-Motoren längst stattgefunden, ja, waren bereits Vernichtungslager mit Gaskammern (Chelmno im Dezember 1941) errichtet, bzw. deren Planung und Bau weit fortgeschritten (Auschwitz, Belzec, Sobibor, Treblinka, etwas später dann noch Majdanek). Bei der Umsetzung dieser »Politik« waren die unterschiedlichsten Behörden und Instanzen – und keineswegs ausschließlich Deutsche – beteiligt, und eben keineswegs allein und in erster Linie das Auswärtige Amt. Schirrmacher: Ein wichtiger Einwand von Ihnen lautet wohl, der Filter der His- torikerkommission war zu grob eingestellt? Koerfer: Das muss man so sagen. Das zeigt sich auch bei der Behandlung des schwierigen Themas Resistenz/Widerstand. Da gibt es das kleine Kapitelchen zu Fritz Kolbe, der sich als ein für die Alliierten sehr wertvoller Informant und Helfer erwiesen hat und im Auswärtigen Amt der Nachkriegszeit lange ebenso wenig gewürdigt wurde wie mein Großvater Gerhart Feine, der, wie erwähnt, im Zusammenwirken mit dem sehr mutigen, in seiner Heimat dafür nach dem Krieg beamtenrechtlich abgestraften schweizerischen Geschäftsträger Carl Lutz – er stellte Sammelvisa aus, mietete ganze Häuserzeilen in Budapest zur einigermaßen sicheren Unterbringung der Verfolgten – Tausenden von unga- rischen Juden im Frühjahr und Sommer 1944 das Leben gerettet hat, als dort das Sonderkommando von Eichmann über Monate hinweg die letzte große massenmörderische Menschenjagd im Krieg begann. Eichmann war, anders als Hannah Arendt annimmt, weil sie den Prozess in Jerusalem 1961 nicht bis zum Ende verfolgt hat, überhaupt kein reiner Schreibtischtäter. Er war ein mörderischer Täter, ein Mann, der die erste ka- tastrophal gescheiterte »Versuchsdeportation« nach Nisko am San Ende 1939 leitete und später in Ungarn den Massenmord selbst unmittelbar vor Ort tat- 74 Damnatio memoriae?

Der Gesandte Edmund Veesenmayer, der als überzeugter Nationalsozialist ohne eine diplomatische Ausbildung als Protegé von Wilhelm Keppler ins Amt gelangt war, bei seiner Verhaftung als Kriegsverbrecher nach dem Krieg – sein Namensschild weist eine falsche Schreibweise auf. kräftig vorantrieb, der mit seinem Kommando, mit seinen »Eichmännern« hunderttausende jüdische Opfer buchstäblich in die Viehwaggon-Transporte zur Vergasung presste, dabei log und lockte, ein abgefeimtes hinterhältiges Spiel mit den Judenräten vor Ort spielte. Das ist viel mehr als die »Banalität des bösen Schreibtischtäters«. Mein Großvater wusste um diese »Qualitäten« von Eichmann, wusste, was sein Eintreffen in Budapest zu bedeuten hatte, suchte deshalb den vertraulichen Kontakt zu Carl Lutz. Feine weigerte sich damals auch, seiner 17-jährigen Tochter – sie war nach ihrem Patenonkel Gus- tav Stresemann »Gustava« getauft worden, wurde aber für ein junges Mädchen wohl doch passender »Tava« gerufen – ein Klavier zu kaufen oder zu mieten, obwohl in der Stadt plötzlich eine ganze Fülle von großartigen Klavieren zu haben waren. Aber diese stammten nahezu ausschließlich aus dem Besitz von deportierten Juden, waren »Blut-Klaviere«, wie es in der Familie hieß. Mein Großvater meinte allerdings über seinen Vorgesetzten in Budapest, den Gesandten Edmund Veesenmayer, der nach dem Krieg im Wilhelmstra- ßenprozess zu 20 Jahren Haft verurteilt, aber von dem amerikanischen Hohen Kommissar John McCloy schon 1951 begnadigt werden sollte, der sei zwar ein 150-prozentiger Nazi gewesen, aber darin völlig klar, offen, eindeutig, un- Die »Blutklaviere« von Budapest 75 verstellt und kühl. Das sei für den alltäglichen Umgang erträglicher gewesen als die vielen anderen, die zahlreichen Opportunisten im diplomatischen Dienst, die sich bedeckt hielten, von denen man nie genau wusste, wo sie wirklich standen. Die seien fast genauso unangenehm gewesen, wie die natio- nalsozialistischen Denunzianten und natürlich auch die schwadronierenden Fanatiker. Im Buch fehlen solche wichtigen Zwischentöne und Nuancen. Es gibt auch noch mehr Beispiele für Resistenz, die etwa Browning auflistet, die es aber sämtlich nicht geschafft haben, in dem Band übernommen zu werden. Oder nur in einem knappen Satz aufscheinen, wie etwa der Protest des deut- schen Geschäftsträgers in Athen, Fritz von Graevenitz, im Frühjahr 1944 gegen die Deportationen aus den zuvor von Italien besetzten Gebieten Grie- chenlands durch das RSHA (S.294). Nicht die von den Autoren vermerkte Tatsache, dass er »folgenlos« blieb, ist interessant, sondern das Faktum, dass es diesen Protest überhaupt gab und dass er in den Akten dokumentiert ist. Schirrmacher: Wir wollen uns hier den Raum für solche versunkenen Akte des Widerstands oder mindestens der Resistenz nehmen. Koerfer: Da ist die Geschichte des AA-Beamten Karl Klingenfuß, Pg seit 1933. Er kommt über die Auslandsorganisation der NSDAP 1937 ins Amt, kommt ins Ausland, nach Buenos Aires und von 1940 bis zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen 1942 nach Montevideo. Ab Juli 1942 – das große massenhafte Staatsmorden in den Vernichtungslagern ist in vollem Gange – wird der Legationsrat in die mit der Durchführung der »Endlösung« am engs- ten befasste, in die Rauchstraße ausgelagerte, nicht in der Wilhelmstraße an- gesiedelte Deutschland-Abteilung versetzt, weil ihn der dort federführende Franz Rademacher aus der gemeinsamen Zeit in Uruguay kennt und für sei- nen kleinen Stab anfordert. Das Referat Deutschland III ist ganz nah an der ethisch-moralischen Kernschmelze, die im RSHA ausgelöst und vorangetrie- ben wird. Klingenfuß will – so Browning – wissen, was mit den deportierten Juden geschieht. Klingenfuß will sogar tatsächlich ein KZ besichtigen – The- resienstadt. Rademacher sagt ihm, dass dies ein privilegiertes Lager sei und er dort nicht den richtigen Eindruck von der Lage der Juden bekomme, von ihrer lebensbedrohlichen Situation. Also verzichtet Klingenfuß auf die Reise – aber ihm wird in jenen Wochen und Monaten klar, »dass« – so Browning wei- ter – »er an einer langfristig angelegten Genozidalpolitik mitwirkte, wenn er sich auch der systematischen und umgehenden Vernichtung der deportierten Juden in Gaskammern noch nicht bewusst war«. Im Oktober 1942 bat Klingenfuß daher Hans Schroeder, den Leiter der Per- sonalabteilung, um Entlassung aus dem Judenreferat. Er nannte keinen Grund 76 Damnatio memoriae? außer dem, dass ihm die Arbeit »unangenehm« sei, dass er bei ihr »ein ungutes Gefühl« habe. Man kann das alles in dem kleinen Band von Heinz Schneppen, Odessa und das Vierte Reich (Seite 172 ff.) nachlesen. Klingenfuß wollte keine Diskussionen, die seine Versetzung hätten erschweren können. Er wollte nur weg. Im Dezember 1942 wurde seiner Bitte um Versetzung schließlich statt- gegeben. Ende des Jahres wurde er an die deutsche Botschaft nach Bern ver- setzt, im September 1943 dann der Botschaft in Paris zugeteilt. Am Kriegsende wird er interniert, Ende 1947 in Nürnberg verhört, aber nicht festgenommen. Im Amt-Buch ist diese doch wirklich bemerkenswerte Episode nicht ent- halten. Da allerdings ausführlich über die Ermittlungsverfahren nach dem Krieg gegen ihn als Syndikus der deutsch-argentinischen Handelskammer in Buenos Aires berichtet wird inklusive des letztlich erfolglosen Auslieferungs- begehrens, gerät Klingenfuß in ein viel schieferes, trüberes Licht, auch wenn immerhin von der Historikerkommission aus einem ihn entlastenden Brief von Robert Kempner zitiert wird. In jedem Fall hätte diese wichtige Episode aus der NS-Zeit vorgetragen werden müssen – übrigens ebenso wie die Tatsache, dass Klingenfuß anbot, freiwillig nach Deutschland zurückzukehren, um sich einer Untersuchung zu stellen. Durch das Weglassen solcher wichtiger Details gerät die ganze Dar- stellung in das von mir beklagte schiefe Licht, wird sie einseitig und ten- denziös. Klingenfuß hatte mit Rademacher, der nach Syrien flüchtet, als ihm vom Schwurgericht Bamberg in der Bundesrepublik der Prozess gemacht wer- den soll, in dem auch Klingenfuß wegen Beihilfe hätte angeklagt werden kön- nen, weit weniger gemein, als ihm im Buch unterstellt wird. Das Verfahren gegen Klingenfuß allein hätte nach Meinung der Staatsanwaltschaft Bamberg eingestellt werden müssen. Tatsächlich wurde Klingenfuß dann durch förm- lichen Beschluss der 1. Strafkammer des Landgerichts Bamberg am 9. Dezember 1960 »außer Verfolgung gesetzt«. In dem Beschluss heißt es: »Dr. Klingenfuß ist nie selbständig tätig geworden. Er hat stets auf Weisung gehandelt. Eigene Initiativen hat er nach den bisherigen Ermittlungen nie entwickelt.« Klingen- fuß war lange Geschäftsführer der Deutsch-Argentinischen Handelskammer und ist 1990 in Buenos Aires verstorben. Rademacher ließ sich übrigens in Syrien Anfang der sechziger Jahre vom BND anwerben, wird 1963 verhaftet, zwei Jahre später wegen einer akuten Krebserkrankung aber abgeschoben und kehrt 1966 nach Deutsch land zurück, wo ihn das Landgericht Bamberg zu einer Freiheitsstrafe von 5 Jahren verur- teilt, die aber wegen seiner unterschiedlichen Haftzeiten bereits als verbüßt gilt. Der BGH hat 1971 das Urteil in Teilen aufgehoben. Vor der Eröffnung Seltene Beispiele für Resistenz 77 des neuerlichen Verfahrens stirbt Rademacher im März 1973. Er ist ein ziem- lich typischer Fall für diese NS-Täter oder Mittäter. Die bundesdeutsche Justiz tut sich schwer mit ihrer Verfolgung. Aber dass sie überhaupt nichts getan hätte, dass es überhaupt keinen Verfolgungsdruck in Deutschland gab, kann man nicht sagen. Wie schwierig die strafrechtliche Aufarbeitung von Unrechts - taten in Unrechtsstaaten und Diktaturen ist, haben wir ja nach 1990 in ganz Osteuropa und natürlich auch im Fall der untergegangenen DDR gesehen und nochmals lernen müssen. Schirrmacher: Wie sehen denn die reinen Zahlen aus, was die Verfolgung und Verurteilung der NS-Täter anlangt? Koerfer: In Europa wurden zwischen 50.000 und 60.000 Täter verurteilt. Das ist heute kaum bekannt. Es zeigt, dass im Falle der NS-Terrorherrschaft nicht nur die großen Täter verfolgt wurden.17 Was Westdeutschland anlangt, so haben hier Staatsanwaltschaften seit Ende Mai 1945 bis Ende des Jahres 2005 insgesamt 36.393 Ermittlungsverfahren gegen 172.294 Beschuldigte eingeleitet. In 16.740 Fällen wurde Anklage erhoben. Davon wurden 6.656 Täter rechtskräftig verurteilt, es wurden von deutschen Gerichten 16 zum Tode (davon 4 Urteile vollstreckt vor Abschaffung der Todesstrafe durch Ver- abschiedung des Grundgesetzes), 166 zu lebenslanger Freiheitsstrafe, 6.297 zu zeitlich begrenzten Freiheitsstrafen, der Rest zu Geldstrafen verurteilt.18 In der SBZ wurden bis 1949 von ostdeutschen Gerichten 8.055 Personen wegen NS-Verbrechen verurteilt. Nachdem 1950 die sowjetische Militäradministra- tion die letzten Speziallager, also die letzten KZ, die ja nach 1945 weiter ge- nutzt worden waren von der Roten Armee, geschlossen hatte, wurden noch mehr als 3.400 Häftlinge der DDR-Justiz überantwortet, worunter allerdings nicht nur NS-Täter waren. Diese Delinquenten wurden von April bis Juni 1950 in den sog. »Waldheimer Massenprozessen« abgeurteilt. Dabei wurden 33 Todesurteile verhängt, von denen 24 vollstreckt worden sind. Hilde Ben- jamin, von 1953 an Justizministerin in der DDR, war an diesen Prozessen »beratend« beteiligt und bekam ja nicht von ungefähr den Beinamen »Die rote Guillotine«. Schirrmacher: Kehren wir zurück in die Zeit der Taten, in die Zeit – wie Sie sagen – des massenmörderischen Rassenwahns. Ich habe dem Buch entnommen, dass es nach der berüchtigten Wannsee-Besprechung vom 20. Januar 1942 tatsäch- lich noch zwei Folgekonferenzen gegeben hat, die aber in Deutschland gänzlich unbekannt geblieben sind. Wie verhält es sich damit? Koerfer: Diese zwei in ihrer Substanz – im Vergleich zur wirklich wichtigen Wannsee-Konferenz – eher unbedeutenden Folgekonferenzen am 6. März und 78 Damnatio memoriae?

27. Oktober 1942 sind allenfalls den NS-Spezialisten bekannt. Sie finden auf der unteren Beamten- und Juristenebene statt. Staatssekretäre nehmen nicht mehr teil, auch nicht Heydrich, bzw. sein Nachfolger Kaltenbrunner. Es ging auf diesen beiden Folgekonferenzen vor allem um die nicht zuletzt auch ju- ristische Frage der Behandlung von »jüdischen Mischlingen«, um die Frage, wie »Halb-« und »Vierteljuden« nach den Nürnberger Gesetzen jetzt, in der Phase der Ermordung und Vernichtung von »Volljuden« zu behandeln seien. Dabei wurde die technische Möglichkeit der Sterilisation erwogen – was die Krankenhäuser unter Verweis auf die Betreuung der vielen Kriegsopfer von der Front und dem Bombenkrieg ablehnten. Die Lösung dieser Frage wurde daher – und glücklicherweise für die möglichen Betroffenen – auf die Zeit nach dem Krieg vertagt. Die »Halb-« und »Vierteljuden« wurden damit weit- gehend verschont. Zur ersten Konferenz wird Rademacher, zur zweiten Klin- genfuß delegiert, kurz bevor er die Abteilung D III verlässt. Schirrmacher: Welche Fälle halten Sie noch für bemerkenswert? Koerfer: Beispielsweise Werner von Bargen, dem Browning bescheinigt, dass er teilweise erfolgreich Vollzugsschritte des Rassenwahns wie Deporta tions - anweisungen von Unterstaatssekretär Luther sabotierte. Im Buch ist davon keine Rede. Es wird lediglich zutreffend berichtet, dass von Bargen die De- portationen belgischer Juden nicht verhindern konnte, mithin »an ihnen be- teiligt war« und dies in seinem Entnazifizierungsverfahren verschwieg. Eine völlig andere Akzentuierung. Der Name Reinhard Henschel fehlt. Dieser Mann, nach dem Krieg unter anderem an der Botschaft in tätig, hat einen der ebenfalls lange im AA vergessenen, verdrängten, schon von der Gestapo – und dann auch weiter in der Nachkriegszeit – zu Unrecht mit der Roten Kapelle, der kommunisti- schen Untergrundbewegung verquickten »Widerständigen«, den 1942 hinge- richteten Rudolf von Scheliha großzügig finanziell unterstützt. Henschel hat sogar Scheliha, der ja erst vierzig Jahre später als Widerstandskämpfer vom AA akzeptiert und mit einer Ehrentafel gewürdigt worden ist, kurz vor dessen Ver- haftung aus Bern – im vollen Bewusstsein des Risikos, das er damit einging – einen Blankoscheck zukommen lassen, den die Gestapo bei der Hausdurchsu- chung im Schreibtisch zum Glück übersah und den Frau von Scheliha ihm erst nach dem Krieg voller Dankbarkeit zurück übermitteln sollte. Ein weiterer »Fall« ist die Geschichte Wolfgang von Welcks, der 1943 von der Gestapo verhaftet und verhört worden ist und der tatsächlich unehrenhaft aus dem Amt ausscheiden musste. Aufgrund nicht zuletzt eindrucksvoller fran- zösischer Affidavits und Entlastungsaussagen zu seinen Gunsten kehrt er 1951 Zwei Folgekonferenzen nach der Wannsee-Konferenz 79 ins AA zurück, in die neue Personalabteilung unter Wilhelm Haas. Im Buch taucht er nur mit seiner Nachkriegsgeschichte auf, wird hier jedoch als einer dargestellt, der der von Fischer und der Kommission »aufgedeckten« hoch- problematischen »Elitenkontinuität« Vorschub geleistet, den braunen Geist mit in die Nachkriegszeit transportiert habe. Dass er in den Kriegsjahren aus dem AA ausscheiden musste, dass er unehrenhaft entlassen worden ist, weil er eben gerade nicht als überzeugter Nationalsozialist galt, passt nicht ins Bild von der »verbrecherischen Organisation«. Also wird es im Kommissionsbericht einfach weggelassen. Schirrmacher: Dann gibt es den Fall der 6 jüdischen ungarischen Schüler der deutschen Schule in Budapest, die im Frühjahr 1941 darum bitten, an dieser of- fenbar sehr guten deutschen Schule trotz der zunehmenden Rassenpolitik des un- garischen Verbündeten das Abitur ablegen zu dürfen. Koerfer: Das ist in der Tat eine bemerkenswerte kleine Geschichte aus dem Umfeld des Leiters der kulturpolitischen Abteilung im AA, Fritz von Twar- dowski, der uns im Buch als williger Vollstrecker des SS-Rassenwahns begeg- net. Fast zeitgleich zu unserer Geschichte hat er den im Buch auftauchenden Vermerk diktiert: »Umsiedlung Volksdeutscher bearbeitet federführend AA Kult B spez. im Benehmen mit Reichsführer-SS und Vertreter Volksgruppe.« Nimmt man nur diese Aktenpassagen aus dem Buch, ist Twardowski tief braun, durch seinen in den Akten festgehaltenen Kooperationswillen mit Himmler und der SS schwer belastet, ein Nazi-Beamter schlimmster Sorte. Am 14. März 1941 hat dieser im Kommissionsbericht hoch belastete Be- amte aber in der Sache der jüdischen Schüler dem deutschen Gesandten in Budapest erstaunlicherweise antworten lassen: »Wenn dieser Bericht mit der Anfrage der ungarischen jüdischen Schüler in den Geschäftsgang des Auswärtigen Amtes gelangt, so ist damit das Schicksal der 6 jüdischen Schüler der dortigen Deutschen Schule wahr- scheinlich besiegelt, d.h., es würde deren sofortige Entlassung verlangt und sie würden die Reifeprüfung nicht mehr ablegen können. Der Bericht ist auch deshalb nicht geeignet, der zuständigen Abteilung Deutschland vorgelegt zu werden, weil in ihm ausdrücklich hervorgehoben wird, dass die 37 anderen jüdischen Schüler dann freiwillig ausscheiden. (…) Der einzige Grund, der vielleicht einigen Eindruck bei der Abteilung Deutsch- land machen würde, ist der, dass die Maßnahme der Verweisung der 6 jü- dischen Abiturienten als ›deutsche Härte‹ propagandistisch ausgeschlachtet werden würde. Herr von Twardowski empfiehlt Ihnen daher, die 6 jüdi- schen Schüler stillschweigend zum Abitur zu führen und sich der still- 80 Damnatio memoriae?

schweigenden Zustimmung der Landesgruppenleitung zu vergewissern. (…) Hoffentlich wird durch die vorgeschlagene Lösung die Angelegenheit sich erledigen lassen!« Das Ausrufezeichen gehört zur Quelle. Sie relativiert denn doch die Kernthese der Historikerkommission ziemlich eindrucksvoll, zwischen der Deutschland- Abteilung und dem restlichen Amt habe es bezüglich der Umsetzung des Ras- senwahns allenfalls graduelle Unterschiede gegeben, einheitlich sei hier wie dort alles entschlossen und ohne Zaudern umgesetzt worden. Twardowski empfiehlt ja nichts anderes, als den Vorgang nicht im Amt aktenkundig wer- den zu lassen, die Deutschland-Abteilung damit zu umgehen und stillschwei- gend die sechs jüdischen Schüler zum Abitur an der deutschen Schule in Budapest zuzulassen! Für einen deutschen Beamten und mit den Gepflogen- heiten der bürokratischen Abläufe in seiner Behörde vertrauten Diplomaten ein mehr als erstaunlicher Ratschlag. Schirrmacher: Diese Geschichte ist in der Tat berührend. Aber für mich auch noch aus einem anderen Grund. Denn vermutlich sind auch diese Schüler später ermordet worden wie etwa 600.000 ungarische Juden, sofern sie nicht zufällig zu den Tausenden von Carl Lutz und ihrem Großvater Feine in Budapest Geretteten gehörten. Ja, diese Geschichte beschreibt tatsächlich einen kleinen Widerstandsakt in diesem grausamen Geschehen. Koerfer: Ich bin überzeugt, dass es viel mehr solcher »widerständigen« Akte gegeben hat. Die Liste der von staatlichen Henkern in den Kriegsjahren Er- mordeten aus dem AA ist lang, kein anderes ziviles Ressort hat so viele Tote in verantwortlichen Positionen zu beklagen. Namen wie Albrecht Graf von Bernstorff, Eduard Brücklmeier, Herbert Gollnow, Hans Bernd von Haeften, Ulrich von Hassell, Otto Kiep, Richard Kuenzer, Hans Litter, Rudolf von Scheliha, Friedrich-Werner Graf von Schulenburg, Dr.Herbert Mumm von Schwarzenstein oder Adam von Trott zu Solz – die Liste von Verhafteten ist noch weit länger – belegen die bewundernswerte Bereitschaft dieser Männer, mit dem Einsatz und Opfer des eigenen Lebens gegen die Hitler-Diktatur auf- zustehen. Es ist nicht nachzuvollziehen, weshalb die Kommission nicht stärker die positive Vorbildfunktion dieser Taten betont, sondern im Grunde, an- knüpfend an die Reserviertheit der unmittelbaren Nachkriegsjahre, den Wi- derstand kurz und stiefmütterlich-skeptisch abhandelt – Moshe Zimmermann hat ihn ja nicht von ungefähr in Interviews wiederholt »marginal« genannt. Mein Großvater Gerhart Feine und Fritz Kolbe, die auf wenigen Seiten vorkommen, waren für das AA zudem weit weniger bedeutsam als etwa Hans Bernd von Haeften, dessen im Rückblick in ihrem Mut, ihrer Zivilcourage Hans Bernd von Haeften: »Hitler, der große Vollstrecker des Bösen …« 81 kaum mehr fassliche Bemerkung vor Freislers Volksgerichtshof, der »Führer« sei für ihn »der große Vollstrecker des Bösen in der Weltgeschichte«, in der Spitze des Regimes jedenfalls einschlug wie eine Bombe – für dieses mutig- offene Wort wird er unverzüglich, so schnell wie es überhaupt nur möglich war, zwei Stunden später in Plötzensee gehenkt werden. Sein Bruder Werner von Haeften, der Adjutant Graf Stauffenbergs, ist schon in der Nacht des At- tentats im Hof des Bendlerblocks erschossen worden. Die Familie kommt in Sippenhaft. Sein Sohn Jan von Haeften baut nach dem Krieg übrigens als langjähriges Oberhaupt des Haniel-Clans zusammen mit Otto Beisheim, einem Mitglied der »Leibstandarte Adolf Hitler«, den Metro-Konzern auf. Eine Facette deutscher Geschichte, wie sie sich die Autoren des Kommissi- onsberichtes in ihrer Vielschichtigkeit wohl kaum vorzustellen vermögen. Im Goebbels-Tagebuch taucht das Haeften-Wort übrigens mehrfach auf, so beeindruckt war der Propagandaminister davon. Um von Haeftens Hand- lungs- und Denkweisen zu verstehen, ist vor allem sein christliches Selbstver- ständnis wesentlich. Protestantisch erzogen und gemeinsam mit Dietrich Bonhoeffer konfirmiert, schloss Haeften sich frühzeitig der Bekennenden Kir- che an. Aus taktischen Gründen – das gibt es tatsächlich auch, verehrte His- torikerkommission – hat er sich verschiedentlich bemüht, in die NSDAP aufgenommen zu werden, wurde aber abgelehnt – und brachte es dennoch 1942 im angeblich durchweg gleichgeschalteten tiefbraunen Auswärtigen Amt zum stellvertretenden Abteilungsleiter der Kulturpolitischen Abteilung! Er ge- hörte wie Trott zu Solz und von Hassell zu den außenpolitischen Denkern des Kreisauer Kreises, aber er hatte, ähnlich wie Helmuth James von Moltke auch, Skrupel bezüglich der Mittel des Umsturzes. Ein Attentat – so notwendig und unvermeidlich es sich 1944 auch darstellte – war für Haeften ein Verstoß gegen das Fünfte Gebot, worunter er litt. Über solche inneren Kämpfe und Gewis- senskonflikte, die sich zwar nicht in den Personalakten, aber in Briefen und Tagebuchnotizen spiegeln, zugleich keineswegs singulär sind für das AA und darüber hinaus – denken Sie nur an die Schwierigkeiten, die viele Militärs damit hatten, den persönlichen Eid auf Hitler zu brechen – findet sich im Amt-Buch auch nicht die Spur einer Reflexion. Für heutige Leser mögen das alles sicherlich weit entfernte, ja gänzlich unbegreifliche und absurde Hürden sein, aber sie wegzulassen ist trotzdem ahistorisch. Schirrmacher: Wir kommen nunmehr zu einer durchaus seltsamen »Leer-Stelle« im Buch. Es fehlt die Spiegelung des Amtes in den Augen der Spitzenrepräsentanten des Hitler-Regimes. Das AA wurde verachtet. Und weil es verachtet wurde, suchte es sich nach 1939 womöglich besonders durch Ideologietreue auszuzeichnen. Das 82 Damnatio memoriae?

ändert nichts an der Verachtung. Mir ist aufgefallen, dass wir das AA tatsächlich an keiner Stelle aus der Perspektive der Staatsspitze sehen. Koerfer: Das ist wirklich verblüffend – diese Leerstelle »Hitler«. Als Historiker will ich doch wissen, wie sah Hitler, wie sah das Regime das AA? Von Hitler wissen wir, dass er zwei Berufsgruppen besonders gehasst, verachtet, ja verab- scheut hat – das Goebbels-Tagebuch ist voll davon: Juristen und Diplomaten. »Wer nichts wird, wird Diplomat«, spottete er und nannte sie nicht Statthalter, sondern »Schutthalter der Intelligenz«. Und was ist bei den Diplomaten das Besondere? In aller Regel sind sie – jedenfalls sofern sie im Dritten Reich Lauf- bahn- und Karrierediplomaten sind und keine Seiteneinsteiger vom »Büro Ribbentrop« oder von Bohles »Auslandsorganisation der NSDAP« – gleich- zeitig auch noch gelernte Juristen. Also sind sie beides – und für Hitler damit gleich im doppelten Sinne verachtete Bedenkenträger. Sie sind für ihn lästige Bremser. Sie sind lediglich für eine raffinierte Revision der Versailler Verhält- nisse, nicht für die brachiale, brutale – und zugleich extrem risikoreiche – Ent- faltung deutscher Machtansprüche. Für den großen Krieg sind sie nicht. Auch keine Kriegstreiber und Kriegshetzer – wobei wir hier nicht von Ribbentrop reden. Gewiss, es gibt unstrittig die im Buch dargestellte partielle Interessen - identität der deutschen Diplomaten mit Hitler über die Revision von Versailles hinaus, den Antibolschewismus, vielleicht sogar Träume von einer deutschen Hegemonialstellung in Kontinentaleuropa, die Zerschlagung Nachkriegspo- lens. Und es gibt den subkutan in der deutschen Gesellschaft, besonders in der Classe politique zweifellos vorhandenen Antisemitismus als wichtigen Be- rührungspunkt, über den wir schon gesprochen haben. Es gibt die Verharm- losungs- und Abschirmungsdienste nach außen, für die sich das AA dem Regime ab 1933 zur Verfügung stellt. Aber den großen Rasse- und Lebensraumkrieg, den Hitler von Anfang an will – man denke nur an seine diesbezüglich glasklaren und unmissverständ- lichen Worte im Hause Hammerstein-Equord Anfang Februar 1933 –, will die Mehrzahl der diplomatischen Elite nicht. Weizsäckers ernsthafte und 1938 auf konspirativem Wege über Mussolini, Göring, Heß durchaus erfolgreiche Bemühungen, diesen Krieg zu verhindern, sind ein deutliches Indiz. Im Kom- missionsbericht scheinen an keiner Stelle die interessanten Ausführungen von Hermann Rauschning über Hitlers Haltung gegenüber dem AA aus dem Jahr 1940 (!) auf, die Hans-Jürgen Döscher breit zitiert. Dort findet sich die fol- gende Passage: »Bei verschiedenen Gelegenheiten verurteilte Hitler [bereits in der Ära Neu- rath; D.K.] die ›altjüngferlichen Methoden‹ der deutschen Diplomatie. Leerstelle »Hitler« 83

Das Auswärtige Amt habe nicht einmal einen Apparat zur Nachrichtenbe- schaffung. Die ›ledernen Gesandtschaftsberichte‹, Feuilletons oder wissen- schaftlichen Abhandlungen interessierten ihn nicht. Damit machten sich die Diplomaten doch nur wichtig. Das ganze AA ersticke in ›Bürokratie und Formalismus‹. Er habe diesen ›Weihnachtsmännern in der Wilhelm- straße‹ gesagt, mit ihrer Berichtstätigkeit könne man in ruhigen Straßen ›weiter schlafen›, aber ›kein neues Reich schaffen‹. Neurath selber sei schwer - fällig, ›verschmitzt wie ein Bauer, aber ohne Einfälle‹. Vorläufig nütze sein wohlwollendes Gesicht mehr als alles andere: Neurath werde in England keine ›revolutionäre Politik‹ zugetraut. Er, Hitler, bediene sich der alten Klasse, indem er sie in Furcht und Abhängigkeit halte. Er sei überzeugt, dass er keine willigeren Helfer haben werde. Und würden sie aufsässig, dann stünde ihm das alte klassische Mittel, nämlich ihre physische Beseitigung, immer noch zu Gebote. Es sei nicht seine Schuld, wenn ihn die Vertreter der herrschenden Klasse, insbesondere die Deutschnationalen, für einfältig hielten und nachher feststellten, dass sie selbst die Dummen seien. Diese ›geschichtsbefugten Oberschichten‹ hätten nur noch eine Aufgabe, ›in Schönheit zu sterben‹.« 19 Das sind Sätze aus der Aufzeichnung von Hermann Rauschning in seinen 1940 in New York erschienenen Gesprächen mit Hitler, also nicht erst nach dem Krieg irgendwie zurecht gefälscht. Döscher hält die Aussagen für authen- tisch, obwohl mittlerweile bekannt ist, dass Rauschning niemals unter vier Augen mit Hitler gesprochen hat. Es sind Schlüsselsätze für den Umgang des Diktators mit seinen »Zuarbeitern und Helfershelfern im AA«, die das unter- streichen, was etwa auch von Goebbels in seinen Tagebüchern überliefert wird. Kurz nach Beginn des Krieges konkretisiert Hitler seinen tiefen Soupcon, seine Verachtung gegenüber der diplomatischen Elite, aber noch in einer anderen Quelle, die unsere Argumentation zusätzlich stärkt. Jedenfalls findet sich in den Aufzeichnungen von Hitlers Heeresadjutant, Major Gerhard Engel, unter dem Datum 14. März 1940 die folgende Passage: »Die adligen Familien ›seien international und besonders im Krieg ideale Nachrichtenträger zur Gegenseite auf Grund ihrer internationalen Versip- pung‹. Das ›Schlimmste‹ seien solche Diplomaten, ›die der Mentalität des Gastlandes erlägen‹, dort alles wunderbar finden und nach Möglichkeit noch im Ausland ihr eigenes Volk kritisierten. Etwas, was bei den Berufsdiploma- ten einfach nicht mehr herauszukriegen sei. Das sei auch einer der Gründe, weswegen er Zug um Zug Gesandten- und Botschafterposten mit befähig- ten, vor allem aber weltanschaulich sicheren Parteigenossen besetzen wolle.« 84 Damnatio memoriae?

Ein Jahr später – die Quelle wird sogar im Amt-Band auf Seite 142 zitiert, al- lerdings ohne irgend etwas daraus zu machen, schon gar nicht ein entlastendes Moment für das AA – im November 1941 schreibt , der Chef des Persönlichen Stabes von Himmler, an Werner Best, der sich im RSHA intensiv mit Führungs- und Nachwuchsfragen befasst hatte: »Wie Sie wissen, wünscht der Führer, dass die deutschen Gesandten und Botschafter alten Stils, die heute zum großen Teil das Dritte Reich dem Ausland gegenüber zu vertreten haben, baldmöglichst durch hoch qualifi- zierte Nationalsozialisten ersetzt werden sollen.« Schirrmacher: Und wie deuten, wie interpretieren wir diese Aussagen aus dem Inneren der Macht im Dritten Reich? Koerfer: Jedenfalls anders als der Kommissionsbericht unterstellt. Hitler hat offenbar resigniert, was die alten Berufs- und Laufbahndiplomaten anbelangt. Von ihnen wird, jedenfalls nach seiner Auffassung, kaum einer mehr ein fana tischer, überzeugter Pg und Nationalsozialist. Zugleich berührt er bei seiner Kritik einen durchaus markanten Punkt – die vergleichsweise homo- gene, abgeschlossene Zirkelstruktur des Adels in Diplomatie und Militär, auch wenn seit 1933 der Anteil der zum Adel gehörenden Diplomaten kontinuier- lich zurückgeht. Innerhalb dieses Zirkels galt doch Folgendes: Nur wer zu diesem Zirkel gehörte, dem konnte man trauen, mit dem konnte man kon- spirative Absprachen treffen – und diese Zirkel konnten durch die Gestapo und ihre Spitzel nur schwer wirkungsvoll infiltriert werden. Das ist einer der Gründe, weshalb der Widerstand am 20. Juli so viele – eben meist adlige – Verschwörer in Militär und Bürokratie aufweist. Schirrmacher: Das antibürgerliche Ressentiment hat den Aufsteiger Hitler auf seinem Weg vom Wiener Männerheim in die Reichskanzlei immer begleitet. Koerfer: Dieses Ressentiment kommt natürlich nicht nur bei Hitler vor. Man könnte sogar fast sagen, dass an diesem einen Punkt, beim antibürgerlichen, gegen die alten Eliten gerichteten Ressentiment der Auftraggeber der Unab- hängigen Historikerkommission, Joschka Fischer, mindestens ein gewisses Ver- ständnis für Hitlers Haltung haben würde. Er steht den alten Diplomaten, den »Mumien« ja auch ähnlich distanziert, voller Aversionen und Verachtung gegenüber. Und sie bekommen ja nun auch »den Nachruf, den sie verdienen«. Dass dieses tiefe antibürgerliche Ressentiment und der tief verwurzelte Eli- ten-Verdacht ein Strang ist, der die deutsche Studentenbewegung, die Spon- tiszene, den autonomen schwarzen Block auf seltsame Weise mit Hitler verbindet – dürfte den Allermeisten gar nicht bewusst sein, weil für die Linke Hitler ja immer ein Knecht des Kapitals war und bleibt. Diplomaten als Camouflage 85

So lange Hitler die Diplomaten als Camouflage für seine gewaltige Aufrüs- tung, für seine nur bei wenigen Gelegenheiten und gegenüber einem kleinen Kreis von hohen Funktionären in den Friedensjahren enthüllten Kriegsplänen benötigt – ich denke hier ja auch an Hitlers Denkschrift über den Vierjahres- plan 1936 oder die Konferenz Ende 1937, die in der Hoßbach-Niederschrift überliefert wird –, nutzt und benutzt er sie. Mit Kriegsbeginn, nach dem Zu- standekommen des Hitler-Stalin-Paktes, an dem das AA durchaus gewichtigen Anteil hat, angefangen von Weizsäckers diskretem Knüpfen und Halten der Verbindung zum sowjetischen Geschäftsträger bis zur Ausgestaltung der Ver- tragstexte und des modus operandi für die neu etablierte Beutepartnerschaft, wird Diplomatie immer unwichtiger. Trotz der Kooperation bei der »Endlö- sung« wird das AA, anders als uns der Kommissionsbericht glauben machen will, nicht und zu keinem Zeitpunkt zu einem integralen, von der Regime- spitze geschätzten Bestandteil des Dritten Reiches, wie neben den gerade zitierten Quellen z.B. schon ein oberflächlicher Blick in die Goebbels-Tage- bücher der Jahre 1943/44 beweist. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass Goebbels ein Rivale des AA war und blieb und selbst immer wieder vernehm- lich davon träumte, an die Stelle Ribbentrops zu treten, anschließend alles besser zu machen und Konkurrenzneid generell diese Diktatur durchzieht, sind seine Notizen für unseren Zusammenhang aufschlussreich. Auch aus ihnen spricht weiterhin das gleiche abgrundtiefe Ressentiment, das wir schon bei Hitler vorgefunden und angesprochen haben – und über das der Kom- missionsbericht kein Wort verliert. Schirrmacher: Im Kommissionsbericht finden sich nicht einmal Andeutungen zu dem massiven Ressentiment, mit dem fanatische Nationalsozialisten wie Goeb- bels – darin Hitler folgend – von Anfang bis Ende des Dritten Reiches auf die tra- ditionellen Beamtenapparate und nicht zuletzt das Auswärtige Amt blickten. Koerfer: Der Perspektivwechsel ist beim historischen Jagdtrieb hinderlich, denn man ist ja ausschließlich fokussiert auf eine Gruppe, diesmal: die deut- schen Diplomaten. Ich kann Ihnen gerne einige Schlüsselpassagen aus dem Goebbels-Tagebuch zitieren, die zumindest im Hintergrund des Kommissi- onsberichts hätten aufscheinen müssen, um ein vollständigeres Bild zu zeich- nen.20 Am 1. Dezember 1941 diktiert Goebbels seinen Stenographen in die Stifte: »Die Mobilisierung für den Krieg geht in England viel weiter. (…) Ich habe ein gewisses Gefühl der Beschämung. Aber es gibt doch immer noch in den bürgerlichen Ministerien so viele Widerstände zu überwinden, dass man in vielen Punkten sich auch mit allem Einfluss, der einem zur Verfü- 86 Damnatio memoriae?

gung steht, nicht durchsetzen kann. Es ist schon schwer, die Stagnation und die Beharrung dieses festgefrorenen Beamtenapparates zu überwin- den.« (S.407) Am 30. März 1943 diktiert Goebbels seinen Stenographen eine Passage über Luthers Putschversuch im Auswärtigen Amt. Man merkt ihm die Schaden- freude darüber an, dass der Außenminister und Rivale offenbar nicht in der Lage gewesen war, das AA nachhaltig mit seinen Leuten, mit aufgeladenen Nationalsozialisten zu durchsetzen und jetzt plötzlich doch wieder vermehrt auf »die alten Diplomaten« zurückgreifen musste, wodurch seine Position sich weiter schwächte: »Ribbentrop hat … Aufschluss über den Fall Luther gegeben. Luther hat sich demnach nicht gerade loyal seinem Herren und Meister gegenüber be- nommen. Er hat eine Eingabe an den SD gemacht mit der Bitte, diese Ein- gabe über Himmler dem Führer vorzulegen. Diese Eingabe stellt eine ziemlich barsche und brüske Kritik an der gesamten deutschen Außenpo- litik im allgemeinen und an Ribbentrop im besonderen dar. U. a. wird Rib- bentrop in der Eingabe als Geisteskranker bezeichnet. Luther ist daraufhin auf Befehl des Führers verhaftet worden. Allerdings hat sich ein großer Teil der nationalsozialistischen Beamten des Außenministers mit ihm solidari- siert. Man kann sich vorstellen, wie außerordentlich peinlich dieser Fall für Ribbentrop und seine Amtsführung insgesamt ist. Ribbentrop ist demge- mäß auch ziemlich geknickt. Er sieht seinen ganzen Mitarbeiterstab zu- sammenbrechen und muss sich jetzt wieder im Wesentlichen auf die alte Diplomatie stützen. Es ist sehr bedauerlich, dass mitten im Kriege so ein Vorgang verzeichnet werden muss. (…) Luther ist vorläufig in ein KZ über- geführt worden; Ribbentrop hat aufgrund der wiederholten Anschuldigun- gen Luthers, die er auch bei den Vernehmungen der Politischen Polizei wiederholt hat, abgelehnt, ihn für die Front freizugeben. (…) Immerhin kann man daraus erkennen, dass im Bereich der Außenpolitik durchaus die autoritäre, zielstrebige Führung fehlt. Ribbentrop ist zu lange von seinem Amt entfernt. Was hat er im Führerhauptquartier zu suchen! Er soll an Ort und Stelle seinen Dienstgeschäften obliegen. Im Übrigen fehlt es ihm auch an einer klaren Konzeption …« (S.668 f.) Am 17. Juni 1944, also noch vor dem Attentat, ärgert sich Goebbels: »Große Schwierigkeiten habe ich immer noch bei der Durchführung einer richtigen Kriegsgefangenenpropaganda. Diese Schwierigkeiten werden vor allem vom Auswärtigen Amt gemacht. Aber auf welchem Gebiet macht dieses Ministerium keine Schwierigkeiten?« (S.484 f.) Goebbels Verachtung für Ribbentrop und das AA 87

Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop in der Uniform eines SS-Gruppenführers

Ganz ähnlich auch am 3. August 1944: »Überhaupt habe ich den Eindruck, dass niemand mehr die Absicht hat, sich den Forderungen des totalen Krieges zu entziehen – mit Ausnahme vielleicht des Auswärtigen Amtes. Aber auch damit werde ich sicherlich fer- tigwerden …« (S.216) Am 8. Juli, also noch vor dem Attentat, diktiert Goebbels: »Vor dem Volks- gerichtshof hat ein Prozess gegen Mitglieder des Auswärtigen Amtes statt- gefunden und zwar wegen Defaitismus und Landesverrat. Es sind dabei zwei Todesurteile ergangen, und zwar gegen sehr hohe Angehörige unserer auswärtigen Politik. Es ist geradezu skandalös, dass so etwas noch vorkom- men kann. Das Auswärtige Amt ist nur an der Oberfläche reformiert wor- den – das Gros seiner Beamtenschaft könnte ebenso gut unter Stresemann Außenpolitik machen …« (S.67) Nach dem 20. Juli diktiert Goebbels am 16. August 1944: »Zur selben Zeit tagt der Prozess gegen zwei Legationssekretäre, bzw. -räte des Auswärtigen Amtes und gegen Helldorf … Helldorf sticht auf das Beste von den Lega- tionssekretären und Legationsräten des AA ab, die den deprimierendsten Eindruck machen. Es handelt sich um ausgesprochene Defaitisten und In- 88 Damnatio memoriae?

ternationalisten, die in England erzogen worden sind und aus der Feind- schaft gegen den Führer überhaupt kein Hehl machen. Einer von ihnen, Hans Bernd von Haeften, betont sogar in seinem Schlusswort, dass der Führer die Inkarnation des bösen Weltprinzips sei. Dafür wird ihm denn auch zwei Stunden später der Strick um den Hals gelegt. Alle sechs Ange- klagten werden zum Tode verurteilt, darunter auch Graf Helldorf … Auf Befehl des Führers muss er als Augenzeuge drei Erhängungen beiwohnen, weil er sich als Nationalsozialist am Schlimmsten an unserer Idee und am Führer vergangen hat. Damit ist dies üble Kapitel Helldorf abgeschlossen. Es ist wohl das unerfreulichste in der Berliner Parteigeschichte …« (S.245) Am 23. August registriert Goebbels: »Das Auswärtige Amt schickt mir jetzt die Unterlagen zu seinen eigenen Einsparungsmaßnahmen. Aus diesen Un- terlagen ist zu ersehen, dass im AA eine Bürokratie und eine Überfütterung des reinen Verwaltungsapparates hochgeschossen ist, die zu den größten Bedenken Anlass gibt. Ich werde mir die Überholung des Auswärtigen Amtes für die nächste Woche aufsparen …« (S.296) Dann heißt es am 24. August 1944: »Der Legationsrat von Haeften hat be- kanntlich bei seiner Vernehmung gesagt, dass zwei Drittel des Auswärtigen Amtes so dächten wie er. Der Führer bemerkt sehr richtig, dass ich diese zwei Drittel, die sowieso defaitistisch gesinnt seien, abbauen solle [durch Stellungsbefehle im Rahmen der »Totale-Krieg«-Mobilisierungsmaßnah- men; D.K.] … Ribbentrop steht beim Führer nicht mehr hoch zu Buche. Seine Außenpolitik hat ja auf vielen Gebieten Schiffbruch erlitten und vor allem das Benehmen der Mitarbeiter Ribbentrops vor dem Volksgerichtshof hat den Führer außerordentlich irritiert …« (S. 310/311) Am 26. August 1944 wird notiert: »In Bukarest hat die wieder einmal die dt. Diplomatie gänzlich versagt. Es ist doch sonderbar: Ob in unser diplo- matisches Korps ausgesprochene Diplomaten oder Männer der Partei hi- neingeraten, sie werden vom Geist der deutschen Diplomatie sofort infiziert und verdorben. In Bukarest hat unser Obergruppenführer Killinger die deutschen Interessen vertreten, er ist genauso korrupt wie die anderen Di- plomaten. Allerdings war Killinger ja auch nie ein ausgesprochener und ernsthafter Nationalsozialist. Die Ereignisse in Rumänien sind für uns völlig überraschend gekommen; jedenfalls hat unser Auswärtiges Amt nicht das geringste vorher davon gewusst. Das kann man sich auch erklären, wenn man sich die Aussagen des Legationsrates von Haeften vor dem Volksge- richtshof vor Augen hält, dass zwei Drittel im Auswärtigen Amt so dächten wie er, der bekanntlich für seine Beteiligung am 20. Juli aufgehängt worden »Lange Liste von Verrätern im Amt« 89 ist. Bohle gibt mir eine lange Liste von Verrätern des Auswärtigen Amtes, die bisher schon zum Tode verurteilt, geköpft, erschossen oder erhängt wor- den sind. Diese Liste umfasst schon eine längere Denkschrift. Aber was nutzt das alles? Wir müssen unseren Weg weiter fortsetzen …« (S.331 f.) Am 3. August 1944 diktiert Goebbels: »Ich komme nun beim Führer auf die Frage der nationalsozialistischen Durchdringung der Rüstungswirtschaft zu sprechen … Der Führer schließt sich völlig meinem Standpunkt an. Auch er ist der Meinung, dass es heute in der großen Krise des Krieges kein Gebiet geben darf, das nicht bis zur letzten Zelle vom Nationalsozialismus und von der Dynamik der Partei durchdrungen wird. Überall, wo die Partei verschlossene Türen gefunden hat, hat sich Zersetzung und Verrat breit ge- macht. Das ist so in der , das ist so in der Diplomatie und das ist auch so in der Wirtschaft … Für die verräterische Clique in der Diplo- matie hat der Führer nur Worte tiefster Verachtung. Aber für Ribbentrop findet er wenigstens einen Ausdruck der Entschuldigung, indem er erklärt, dass Ribbentrop auf seine vielfachen Bitten keine Leute der Partei für die Diplomatie zur Verfügung gestellt worden sind …« (S.405) In seiner Denkschrift für Hitler vom 21. September 1944 heißt es in einer langen Philippika gegen Ribbentrop und das AA u.a.: »Ich darf nicht verschweigen, dass ich unseren Außenminister nicht für fähig halte, eine solche Entwicklung [eine Kriegswende; D.K.] einzuleiten. Er besitzt ein Amt, das, wie viele Prozesse und Urteile beweisen, zum gro- ßen Teil korrupt und defaitistisch ist. Dort glaubt man nicht mehr an den Sieg und kann deshalb auch nicht mit glühendem Fanatismus für ihn ar- beiten. Es ist das erste Mal, dass ich Ihnen, mein Führer, ein kritisches Ur- teil über einen Kollegen schriftlich und in aller Form unterbreite. Ich tue das heute, weil ich mich dazu als Nationalsozialist verpflichtet fühle …« (S.540) Am 27. September diktiert er: »Von Bohle erhalte ich eine ausführliche Denk - schrift über die Personalien des Auswärtigen Amts. Diese Denkschrift ist geradezu erschütternd. Was im Auswärtigen Amt noch an Juden, an jüdisch Versippten, an Freimaurern, ehemaligen Zentrumsleuten und SPDisten (!) herumläuft, spottet jeder Beschreibung. Es ist Ribbentrop in keiner Weise gelungen, wenigstens einen Fonds von Personalbestand im Auswärtigen Amt zu schaffen, auf den man sich verlassen kann. Infolgedessen ist das Auswärtige Amt auch geradezu von einer Seuche von Hoch- und Landes- verratsprozessen heimgesucht. Wenn man sich vorstellt, dass von diesen Kreaturen deutsche Außenpolitik in diesem Kriege gemacht wird, dann 90 Damnatio memoriae?

kann man auch verstehen, warum unsere Außenpolitik so wenig Erfolge erreicht hat. Ich werde diese Unterlagen auch bei meinem Vortrag beim Führer dazu benutzen, ihm klarzumachen, dass im Auswärtigen Amt eine Reform an Haupt und Gliedern stattfinden muss, wenn wir überhaupt die Hoffnung haben wollen, eine Außenpolitik zu betreiben, die der gegen- wärtigen Kriegslage gerecht wird.« (S.574 f.) Einen Tag später, am 28. September heißt es in Verbindung mit dem Thema »Ungarn«: »Der Führer verhandelt mit Veesenmayer im HQ über die in Ungarn zu treffenden Maßnahmen. Wir wollen evtl. eine Pfeilkreuz- ler-Regierung errichten. Dass die Ungarn schräge Pläne verfolgen, steht jetzt fest. Ich hielte es für das beste, man verhaftete Horthy und führte ihn in ein Wiener Hotel, um ihn dort unter Zwangskuratel zu stellen. Aber für solche abrupten Maßnahmen der deutschen Außenpolitik ist unser Auswärtiges Amt nicht zu haben …« (S.581) Interessant ist hier auch der Hinweis aus einem der unmittelbaren Macht - zentren in der deutschen Diktatur, dass laut Haeften (laut dem Kaltenbrunner- Bericht, dem umfangreichen und erstaunlich ungeschminkt-offenen SS- Verhörbericht der verhafteten Widerständler durch die Gestapo war es Trott) zwei Drittel im Amt so denken würden wie der Verhaftete. Es ist eine Quel- lenpassage, die etwaige Zweifel an der Echtheit dieser Aussage, wie sie offenbar bei der Historikerkommission vorhanden waren, beseitigen dürfte. Es handelt sich jedenfalls zweifelsfrei nicht, wie die Quelle hier belegt, um den nachträg- lichen Versuch einer »amtsinternen Mythenbildung«, wie sie Wilhelm Mel- chers im Kommissionsbericht unterstellt wird – der die Bemerkung bald schon nach dem Krieg überliefert hat. Das Goebbels-Tagebuch hat die Kommission verblüffenderweise als Quelle überhaupt gänzlich außen vor gelassen. Ein klas- sischer Fall von Jagdblindheit. Schirrmacher: Gibt es denn neben Goebbels Anmerkungen weitere nennenswerte »Innenansichten« aus dem Dritten Reich zum AA, die Sie vermissen und gerne eingefügt gesehen hätten? Koerfer: Wissen Sie, die Unabhängige Historikerkommission will uns ja glau- ben machen, als ob erst in der Endphase des Dritten Reiches, als Absetzbewe- gungen in den Behördenapparaten doch schon allgemein spürbar wurden, diese auch im Auswärtigen Amt eingesetzt hätten. Als ob die »Verbrecherhöhle« vor- her – überwiegend zumindest – auf den massenmörderischen NS-Kurs einge- schwenkt gewesen sei. Ob das so stimmt, scheint mir zweifelhaft. Eine frühe und recht aussagekräftige Quelle, auf die mich Heinz Schneppen aufmerksam gemacht hat, stammt von Albrecht Haushofer. Der Kaltenbrunner-Bericht 91

Schirrmacher: Das war der Sohn des Generals Karl Haushofer, Jahrgang 1903, also einer aus der von Michael Wildt beschriebenen »Generation des Unbedingten«, tief geprägt von der Erfahrung des 1.Weltkrieges und der Niederlage, weiter sozia- lisiert durch die wenig attraktiven Jahre nach Versailler Vertrag, den mühsamen Anfängen der Weimarer Republik und Hyperinflation. Für alles Spätere eine höchst problematische Grundlage. Viele gerade junge Männer dieser Generation sind Hit- ler mehr als euphorisiert gefolgt. Haushofer auch? Er war ja Assistent von Albrecht Penck und wohl einer der bekanntesten deutschen Geopolitiker jener Zeit. Nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 wird er verhaftet, und im berüchtigten Gestapo- Gefängnis Lehrter Straße in Berlin-Moabit inhaftiert und ganz kurz vor dem Ende des Krieges am 23. April 1945 zusammen mit Klaus Bonhoeffer und einigen anderen ausgewählten Gefangenen beim Marsch vom Gefängnis zum Gestapo- Hauptquartier in der Prinz-Albrecht-Straße noch von der SS ermordet wurde. Wie kommt er ins Spiel? Koerfer: Haushofer ist fast gleich alt wie Himmler (geb. 1900), Heydrich (geb. 1904), Eichmann (geb. 1906) und viele andere dieser »Generation« aus dem personellen Kernbestand der SS. Das Dritte Reich kann man durchaus als Geschichte einer aufgeladenen Jugendbewegung, einer Bewegung dyna- misierter, radikalisierter junger Männer »erzählen« – die den älteren adeligen und bürgerlichen Herren aus dem Auswärtigen Amt mehr als skeptisch, ja verachtungsvoll gegenüber stehen. Der fundamentale Generationenkonflikt zwischen Vätern und Söhnen kommt ja nicht nur in der 68er Generation von Joschka Fischer vor. Haushofer ist vom Nationalsozialismus zunächst durchaus stark angezogen und fasziniert – wie viele andere dieser besagten jungen Männer auch. Er ge- hört zum Umfeld von Rudolf Heß, der ihm 1933 gleich eine Dozenten-Stelle an der renommierten Hochschule für Politik in Berlin verschafft. Außerdem hält Haushofer engen Kontakt zur Dienststelle Ribbentrop, wird von dieser für verschiedene Auslandseinsätze verwendet, etwa nach England, Südostasien oder Japan geschickt. Ribbentrop akzeptiert ihn als Berater – er taucht im Be- richt der Historikerkommission aber nur an einer marginalen Stelle auf (S.94), als er ihn auf Albrecht von Thadden aufmerksam macht, der später im be- rüchtigten Deutschland-Referat unter Luther und Rademacher eng mit Eich- mann kooperieren wird. Haushofer gehört vermutlich auch zu denjenigen, die Ribbentrop auf Weizsäcker als geeigneten Staatssekretär hingewiesen haben. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges kommt Haushofer zu einer für das Dritte Reich mit seinem Institutionen-Wirrwarr typischen Nebenstelle des Auswärtigen Amtes, ist dort eine Zeitlang Mitarbeiter der Informations- 92 Damnatio memoriae? stelle I.21 Nach dem England-Flug von Heß im Mai 1941 wird er verdächtigt, an den Vorbereitungen mitgewirkt zu haben, wird von der Gestapo verhaftet – und aus der dem AA zuarbeitenden Deutschen Informationsstelle entlassen. Er kommt frei und nimmt jetzt Kontakt zum Widerstand, zum Kreisauer Kreis, zu Carl Friedrich Goerdeler auf. Das kostet ihn, wie Sie ja schon gesagt haben, noch kurz vor Kriegsende das Leben. Alles Vorgänge, die im Bericht der Kommission keine Rolle spielen. Von Haushofer, der sehr gut vernetzt war im Dritten Reich, ist ein Gutachten für Heß, das vermutlich auch Rib- bentrop kannte, aus dem Jahre 1935/36 über den inneren Zustand des Aus- wärtigen Amtes überliefert, das dem Bild, welches der Kommissionsbericht davon aufwändig zeichnet, ebenso deutlich widerspricht wie seiner These von der erst im letzten Kriegsjahr sich öffnenden Kluft zwischen Amt und Re- gimespitze. In dem Haushofer-Gutachten, das kein Dokument aus der Zeit der Persilscheine nach dem Krieg ist, heißt es unter anderem: »Das Auswärtige Amt ist schon seit Jahren mehr eine Stätte bedächtiger Hemmung als eine Stätte klarer Willensbildung gewesen. Seit 1933 ist es nicht besser, sondern schlimmer geworden. Ein wesentlicher Teil des Per- sonalbestandes im Auswärtigen Amt steht dem Geschehen der beiden letz- ten Jahre gegenüber mit dem Gefühl, dass man jugendlichem Ungestüm schlichtweg die Möglichkeit geben müsse, sich tot zu laufen. Von Botschaf- tern und Gesandten solcher Grundeinstellung kann man schwerlich erwar- ten, dass sie die Politik des Führers tatsächlich mit aller Kraft und vollster Überzeugung vertreten. Es gibt Botschafter und Gesandte, die anders emp- finden. Sie sind aber eine Minderheit. Im Großen und Ganzen hat es daher einen guten Grund, wenn bezüglich der Haltung des Auswärtigen Amts gegenüber dem Führer bei zahlreichen Parteistellen Misstrauen besteht.« 22 Man darf sicher hinzufügen, ohne diese Quelle zu »überinterpretieren«: Wenn nicht nur bei den »zahlreichen Parteistellen«, sondern eben auch bei Heß, bei Hitler entsprechendes Misstrauen besteht, ist das angesichts der Zusammenset- zung des Amtes und der in ihm verbreiteten Haltungsweisen nur zu verständlich und konsequent für Haushofer. Von einem energisch dem Regime zuarbeiten- den Amt berichtet dieser Gutachter jedenfalls nicht, eher vom Gegenteil. Schirrmacher: In der Tat eine bemerkenswerte Stellungnahme aus der Frühphase des Regimes. Vielleicht an dieser Stelle ein kurzes Wort zu Ribbentrop und seinem »Blick auf das Amt«? Koerfer: Ähnlich wie Döscher hat schon Joachim Fest – das deckt sich mit Haushofers Einschätzung – in seinem Buch Das Gesicht des Dritten Reiches (S.247 ff.) in seinem Ribbentrop-Porträt festgestellt: »Stätte bedächtiger Hemmung« 93

Ribbentrop begrüßt nach seiner Ernennung im Februar 1938 die Diplomaten. Die Parteiabzeichen am Re- vers in der ersten Reihe sind auffällig – aber es fehlen die SS-Uniformen. Noch. Ribbentrop brachte aus seinem Büro eine ganze Reihe von Seiteneinsteigern in den diplomatischen Dienst mit bis hin zu seinem Adjutanten Bernd Gottfriedsen, die den Charakter des Amtes veränderten und nicht zuletzt auch die Ras- senpolitik energisch vorantrieben.

»Die konservative Grundhaltung dieser Behörde, ihre traditionelle Sach- lichkeit und widerstrebende Steifheit, die gekoppelt war mit einem man- gelnden Willen zum Enthusiasmus, wie das Regime ihn forderte, aber auch ihre bürokratische Umständlichkeit waren Ribbentrop ein Greuel. Die ›ledernen Gesandtschaftsberichte‹ interessierten ihn nicht, so hat er selbst einmal versichert und das Bild des kommenden Diplomaten nationalsozia - listischer Schule mit den Worten beschrieben: ›Ein tüchtiger Botschafter muss Vergnügungsdirektor sein können, er muss jedenfalls kuppeln und fälschen können. Was er aber am allerwenigsten sein sollte, ist ein korrekter Beamter‹.« Ribbentrop war mit dieser Auffassung ganz nah bei Goebbels – und bei Hitler. Allerdings war Hitler nach 1939/40 immer weniger nah bei ihm. Der Außen- minister stand immer weniger in der »Gnade« des »Führers«, der sich über ihn sogar im Frühjahr 1943 als lästigen »Wichtigtuer« lustig macht – was im Kom- 94 Damnatio memoriae? missionsbericht kaum aufscheint. Schon Fest hat in diesem Zusammenhang klug – und ganz ähnlich wie die Kommission – beobachtet (S.253): »Einen Teil seines Einflusses versuchte er zu behaupten, indem er sich nach dem bewährten Beispiel anderer Führungsrivalen aktiv in die Politik der Ausrottung der Juden einschaltete und bei den verbündeten Regierungen auf verstärkte ›Evakuierung‹ der jüdischen Bevölkerungsteile drängte, frei- lich ohne nachhaltigen Erfolg.« Der Zusatz ist wichtig: »freilich ohne nachhaltigen Erfolg.« Exakt so ist es. Anders als der Kommissionsbericht glauben machen möchte, war das Aus- wärtige Amt eben zu keinem Zeitpunkt eine Schaltzentrale des Völkermordes. Sie war in Teilen, die über die Deutschlandabteilung weit hinaus reichten, eine »zuarbeitende« Reichsbehörde – und das ist schrecklich genug. Aber nicht Schaltzentrale, Koordinationsstelle. Auch Ribbentrop selbst war zu keinem Zeitpunkt ein gleichwertiger Partner für das Regime, für Hitler, schon gar nicht zur »Verabredung des industriali- sierten Massenmordens mittels Gas«. Ribbentrop, der Hitler 1933 mit ins Amt gehoben hatte, weil in seiner Villa in der Lentzeallee in Berlin-Dahlem die entscheidenden Geheimtreffen zwischen diesem, Papen und Oskar von Hindenburg stattgefunden hatten, neigte allerdings zur gewaltigen Selbstüber- schätzung. Als ihn Dönitz nach dem Selbstmord Hitlers am 1. Mai 1945 als Außenminister absetzt, ihm aber die Möglichkeit einräumt, einen geeigneten Kandidaten für diese Position in der provisorischen Reichsregierung zu be- nennen, ruft Ribbentrop eine Stunde später wieder an und sagt, er habe wirk- lich reiflich nachgedacht, aber er könne »mit gutem Gewissen« Dönitz nur einen einzigen Mann für diese Position verschlagen. Er heiße – tatsächlich! – Ribbentrop. Schirrmacher: Wir sind bei den Quellen, die die Sicht des Regimes auf das Amt spiegeln. Wie sieht es in der weiteren Entwicklung des Dritten Reiches mit solchen Quellenstücken aus? Koerfer: Es gibt den bereits erwähnten sogenannten Kaltenbrunner-Bericht, die umfangreiche Ermittlungsakte nach dem Attentat vom 20. Juli, die im Amt-Buch ganz kurz aufscheint (S.307), aber nicht mit den wirklich interes- santen Passagen, wo es etwa heißt: »Die nicht-nationalsozialistische Gruppe im Auswärtigen Amt konzentriert sich nach der Darstellung von Trott im Wesentlichen um Weizsäcker, ferner um Papen und Woermann.« Eine »nicht-nationalsozialistische Gruppe« im AA laut Aussage der NS-Verhör- spezialisten? Das passte der Kommission wohl einfach nicht ins Konzept. Passte »Lederne Gesandtschaftsberichte« 95 nicht zum Bild von der »verbrecherischen Organisation«. Wird nicht erwähnt oder als Behauptung ohne Substanz abgetan. Natürlich zeigt der Kaltenbrun- ner-Bericht auch, dass man im AA nach dem Attentat vom 20. Juli darum be- müht war, die Distanz zu den Widerständlern zu betonen, um eben gerade nicht als Hort des Widerstands zu erscheinen und daher eng kooperierte mit den Er- mittlern von der Gestapo, vom RSHA. Das sollte nicht verschwiegen werden. Ich würde aber mindestens noch zwei weitere wichtige, gewichtige Quel- lenstücke nennen wollen. Zum einen das Warnschreiben von Wilhelm Bohle, dem Leiter der nach 1933 mit dem AA und dem »Büro Ribbentrop« konkur- rierenden Auslandsorganisation (AO) der NSDAP im Range eines (für alle ausländischen Territorien) und SS-Obergruppenführers (General) an Heinrich Himmler vom 23. September 1944. Bohle war Anfang 1937 über den Stab des Stellvertreters des »Führers«, Rudolf Heß, seinen Förderer und Gönner, ins AA gekommen und einer der Staatssekretäre geworden. Auch wenn er im Krieg fast völlig in den Hintergrund gedrängt worden war, kannte er das Amt recht gut. Jedenfalls teilt er Himmler jetzt mit: »Eine Durchsicht des jetzigen Standes der höheren Beamten unseres Aus- wärtigen Dienstes ergibt folgendes Bild: evangelisch 506 / röm.-katholisch 119 / gottgläubig 64 / deutschgläubig 1. Bei den Gottgläubigen handelt es sich zum überwiegenden Teil um die jungen Beamten, die aus Partei oder Hitlerjugend stammen und in den letzten Jahren übernommen wurden. Die konfessionellen Bindungen unserer diplomatischen und konsularischen Beamten haben nach meinen Erfahrungen seit der Machtergreifung sehr wesentlich zu der inneren Ablehnung des nationalsozialistischen Staates beigetragen. Es ist auch unbestreitbar, dass diese Bindungen gerade bei den Auslandsbeamten in einem besonderen Maße dazu führen, ihre Krisen - festigkeit stark zu schwächen. Dass solche Beamte entweder gar nicht oder nur mit halbem Herzen der feindlichen Propaganda über die angebliche Knebelung der Kirchen in Deutschland entgegen getreten sind, liegt auf der Hand. Heil Hitler!« Eine doch zumindest erstaunliche Einschätzung aus dem Inneren der braunen Diktatur über eine Behörde, die uns von Joschka Fischers Unabhängiger His- torikerkommission nahezu ausschließlich als »Verbrecherhöhle« präsentiert wird. Interessant ist auch, dass im Falle der vielen SS-Ehrenränge im AA der eigentlich mit einem SS-Beitritt vom Regime nachdrücklich »gewünschte« Kirchenaustritt nicht einher gegangen war, die Zahl der »Gottgläubigen«, also der Atheisten im Sinne von Hitler und Himmler, auffallend niedrig blieb. Ein Indiz dafür, dass es bei diesen »Ehrenrängen« nicht um »wahre SS-Männer« 96 Damnatio memoriae? ging, sondern um den Versuch einer Verpflichtung der alten Eliten auf das neue System. Für eine restlose Durchdringung des Amtes im Sinne der NS- Ideologie spricht der Befund von Bohle jedenfalls nicht. Schirrmacher: Ich glaube nicht, dass das Buch das so behauptet. Ich glaube eher, die Ideologie war ein Karrierevehikel. Koerfer: Das letzte Quellenstück, das vielleicht informativste, hier wohl erst- mals publizierte – ein Fundstück aus dem Sonderarchiv/Russischen Staatli- chen Militärarchiv in Moskau – stammt aus dem RSHA, also aus dem Zentrum des Maßnahmenstaates und ist ein als »Geheime Reichssache« ge - stempeltes »Gutachten« über »Negative Tendenzen« im Auswärtigen Dienst des D eutschen Reiches, gleichfalls aus dem Herbst 1944. Es ist ein mehrsei- tiges Gutachten der Abt. VI/Kultur des RSHA, das sich auf durchaus diffe- renzierte, beinah modern anmutende Weise mit dem AA auseinandersetzt. Seine Kernpassagen lauten: »Nach Ausbruch des jetzigen Krieges erfolgte durch die Erweiterung des Aufgabenkreises des AA, das den Monopolanspruch auf auswärtige Politik und Propaganda durchsetzte, eine Personalinflation, die die Bürgschaften für die Zuverlässigkeit der deutschen Diplomaten verwässerte. Aus diesen Zwiespältigkeiten entstand eine Atmosphäre, die es in der Stunde der Ge- fahr schwachen Köpfen und Charakteren erleichterte, ihre ›Hände in Un- schuld zu waschen‹ und ihr Leben in Sicherheit zu bringen, anstatt dem Reich die Treue und dem Führer den Eid zu halten. Der erschreckende Umfang, den die Meldungen über Hoch- und Landesverrat, Wehrdienst- verweigerung, Desertion und Heimtücke bei Angehörigen des Auswärtigen Dienstes in den letzten Monaten angenommen haben und die maßgebliche Beteiligung von Vertretern des diplomatischen Dienstes, gerade auch sol- chen der ›alten Schule‹, am Putsch des 20.7., drängen zwangsläufig die Frage auf, ob es sich hier nur um eine zufällige Häufung von Einzelerschei- nungen handelt, die man im 5. oder 6. Kriegsjahr ruhig als mit einer kri- minalistischen Erfassung als erledigt ansehen könnte oder ob diese Dinge einen ernsten staatsgefährdenden Charakter tragen als Auffassung einer dem Nationalsozialismus entgegenstehenden Grundhaltung und einer ›eigenwilligen‹ Auffassung vom Beruf des Diplomaten. Es obliegt leider keinem Zweifel, dass das Letztere der Fall ist und dass demzufolge Maß- nahmen ergriffen werden müssen, um das Reich vor einer Wiederholung und Fortsetzung dieser Ereignisse zu schützen. Diese Erscheinungen interessieren nicht nur staatspolizeilich. Auch die viel- fache Erfolglosigkeit der auswärtigen Politik des Reiches in den letzten Jah- »Schlappe, halt- und energielose Diplomaten« 97

ren kann und muss zwangsläufig darauf zurückgeführt werden, dass Re- präsentanten des Reiches im Ausland infolge ihrer angekränkelten, defai- tistischen und anti-nationalsozialistischen Grundhaltung – sowohl nach innen wie nach außen, bewusst oder unbewusst – ein falsches Bild der Lage des Reiches vermittelten. In einem Kriege wie dem jetzigen können Diplo- maten, die glauben, dem Reich überwiegend auf Grund ihres Namens, ihrer familiären Beziehungen zum Ausland, ihrer Zugehörigkeit zu be- stimmten Cliquen dienen zu können, im Auslande nicht das natürliche Kraftzentrum sein … Dass trotz alledem in der Personalpolitik des AA bisher kein entscheidender Wandel eingetreten ist, zwingt zu der Schluss- folgerung, dass auch in der Zentrale nicht jener kämpferische und verant- wortungsbewusste nationalsozialistische Geist vorherrscht, der gerade bei einer der wichtigsten Reichsdienststellen unerlässlich ist …Wenn solche schlappen, halt- und energielosen Diplomaten von den die Personalpolitik des AA verantwortenden Männern noch nicht ausgemerzt worden sind, so ist das ein untrügliches Symptom dafür, dass die Nationalsozialisten im AA sich noch nicht im erforderlichen Maße haben durchsetzen können und dass – alles in allem – die Personalpolitik im AA im Jahre 1944 noch nicht diejenigen politischen Konsequenzen gezogen hat, die in anderen Reichs- ressorts bereits 10 Jahre früher durchgesetzt worden sind.« Schirrmacher: Ich muss zugeben, das ist schon ein ziemlich erstaunliches Quel- lenstück. Das Bild von den Diplomaten, die gerne »die Hände in Unschuld wa- schen« würden, ist durchaus einprägsam. Koerfer: Dieses Gutachten, das tatsächlich im Jahr 1944, also elf Jahre nach der »Machtergreifung« bemängelt, dass die »Zahl der Nationalsozialisten im AA zahlenmäßig noch zu gering ist«, steht gänzlich verquer zu den »For- schungsergebnissen« der Kommission, ebenso wie die Notizen von Goebbels und Bohle. Es passt aber als Puzzle-Teil mit den Impressionen zusammen, welche Haushofer uns vermittelt hat. Während für Conze, Frei, Hayes, Zim- mermann und Co. in der Tradition des Nürnberger Anklägers Robert Kemp- ner das AA eine »Verbrecherhöhle« gewesen ist, war es für den SD, für das RSHA, für Hitler und Goebbels eine Versammlung von ziemlich unsicheren Kantonisten, jedenfalls nicht von fanatischen, engagierten und verlässlichen Nationalsozialisten. Das Gutachten bietet Indizien für etwas, was die Historikerkommission als apologetische Nachkriegslegende des AA abgetan hat – dass nicht nur mit der Übernahme der 60, 70 Leute aus dem Büro Ribbentrop, sondern auch, ja vor allem, mit der Neueinstellung junger, engagierter Nationalsozialisten 1937/38 98 Damnatio memoriae? tatsächlich von Regimeseite versucht worden ist, den Charakter des Amtes zu modifizieren, stärker in Richtung NS zu trimmen. Antisemitisch aufgeladen war das Amt schon zu Neuraths Zeiten. Aber erst mit Ribbentrop, nicht mit Neurath, beginnt die starke Vernetzung und – in einigen wenigen Ressorts – partielle Verschmelzung mit der SS und ab Herbst 1939 dann auch mit dem RSHA. Rademacher und Thadden, in der berüchtigten Deutschland-Abtei- lung im noch berüchtigteren Referat Deutschland III tätig, waren 1937 ins Amt gekommen, Luther und Wagner über Ribbentrop. Das Gutachten belegt, was die Kommission nicht wahrhaben will: Es gab nationalsozialistisch aufgeladene Seiteneinsteiger, die die Kontinuität der Ko- operation mit dem Regime intensivierten und den Charakter des Amtes ver- ändert haben. Dazu gehört etwa der Weizsäcker-Nachfolger Gustav Adolf Baron Steengracht von Moyland, Staatssekretär z.b.V. Wilhelm Keppler, die Abteilungsleiter Hermann Kriebel (Personal und Verwaltung), Walther Wüster (Information), Ernst Frenzel (Inland I) oder Rudolf Likus, der Verbindungs- mann des AA zur SS. Auch die meisten später als »Haupttäter« verfolgten Amtsvertreter an den unterschiedlichsten Stellen im besetzten Europa wie Otto Abetz (Paris), Otto Bene (Niederlande), Manfred Freiherr von Killinger (Slowakei, bzw. Rumänien), Hanns Ludin (Slowakei), Edmund Veesenmayer (Serbien und Ungarn), Siegfried Kasche (Kroatien) oder Adolf-Heinz Beckerle (Bulgarien) sind solche Quereinsteiger aus dem Umfeld der Dienststelle Rib- bentrop, der Partei oder SS und SA. Auch Leute wie Walter Stahlecker oder Alfred Six vom SD werden von den Autoren des Kommissionsberichts nahezu durchweg unisono dem AA zugeschlagen. Gleiches gilt für die den jeweiligen Botschaften von der SS zu- und abgeordneten Polizeiattachés und »Berater für Judenangelegenheiten«. Deren Handlungen werden immer pauschal dem Amt zugeordnet. Das trifft so nicht zu, ist mir jedenfalls viel zu undifferenziert, ist schon eine ziemlich fragwürdige, allenfalls durch die geschichtspolitischen Intentionen der Kommission motivierte Verfälschung. Wer sich in der Materie etwas auskennt, vermutet jedenfalls diese Absicht und ist verstimmt. Wer sich in der Materie nicht auskennt, ist tief beeindruckt und wird nachhaltig negativ »geprägt«. Zu entscheiden, wer hier in der Mehrheit ist, überlasse ich Ihnen. Schirrmacher: Aber als Historiker ist Ihnen doch bekannt, dass die Zweifel an der nationalsozialistischen Ideologiefestigkeit seit den Rückschlägen im Kriege fast alle Institutionen des Reichs treffen, die Wehrmacht ebenso wie das Rüstungsmi- nisterium. Parallel dazu verläuft die immer größere Bedeutung Martin Bormanns. Am Ende ist dann sogar auch die SS untreu und der letzte Nationalsozialist ist, nach den Worten Joachim Fests, Adolf Hitler selbst. Ich lese Das Amt nicht so, als Der Wilhelmstraßenprozess: Scharnier zur Nachkriegsgeschichte 99 würden die Autoren das Personal der Wilhelmstraße zu genuinen Nationalsozia- listen erklären. Mir scheint: gerade nicht. Und das macht es ja so brisant. Koerfer: Diese Absetzbewegungen kommen mir in dem Buch zu kurz. Ich begegne in ihm fast ausschließlich den schablonenartigen »willigen Vollstre- ckern« im Sinne Goldhagens mit Staatssekretär Ernst von Weizsäcker an der Spitze. Schirrmacher: Der Prozess gegen ihn ist aber doch zweifellos das Scharnier zur Nachkriegsgeschichte? Koerfer: Das stimmt. Schlüsselfigur für den Prozess wie merkwürdigerweise auch für die Kernaussage des Amt-Buches ist der damalige Ankläger Robert Kempner. In der Weimarer Zeit war er, aus einer nicht unvermögenden jüdi- schen Familie in Berlin-Lichterfelde stammend, in die SPD eingetreten und als Jurist im preußischen Innenministerium tätig gewesen, sein Bruder Walter, ein Mediziner, war der Leibarzt von Stefan George, was im Prozess eine bizarre Rolle spielen wird. Die Vertreibung aus Deutschland, die erzwungene Emi- gration in die USA war eine überaus bittere und zugleich prägende Erfahrung für ihn wie vermutlich auch für den Bruder, der später in den USA blieb. Schon sehr bald nach Beginn der Ermittlungen zur Vorbereitung des »Wil- helmstraßenprozesses« war er überzeugt: »Das Auswärtige Amt war eine Mör- derhöhle«. Er wollte, wie er einmal sagte, die »Herren mit der blutbespritzten weißen Weste« hängen sehen. Kempner ist es auch, der in seinen Erinnerun- gen als Ankläger einer Epoche feststellt (auf Seite 311): »Das Ministerium Rib- bentrop wollte von 1938 an vor Hitler beweisen, dass es ebenso tüchtig war wie die Gestapo selbst«. Im Grunde knüpfen Joschka Fischer und seine von ihm eingesetzte Unabhängige Historikerkommission (UHK) unmittelbar an diese Haltung, an diese Einschätzung an, was doch eher seltsam anmutet, denn ich dachte jedenfalls, wir hätten inzwischen ein etwas differenzierteres Bild des Geschehens. Schirrmacher: Tatsächlich rückt ja mit Kempners Ermittlungen ein Mann in den Vordergrund, in den Mittelpunkt, von dem man das in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht erwartet hat – Ernst von Weizsäcker, der wichtigste der fünf Staatssekretäre in Ribbentrops Auswärtigem Amt. Inwiefern ist dieser Mann eine Schlüsselfigur für unsere Thematik? Koerfer: Tatsächlich ist Ernst von Weizsäcker, Ribbentrops Staatssekretär und erster Beamter des Ressorts von 1938 bis 1943, eine tragische Figur. Er steht für die Selbstüberschätzungen und die Fehlurteile des deutschen Bürgertums gegenüber Hitler. Wie Papen, der glaubte, Hitler »engagiert zu haben« und viele andere bürgerliche Politiker über die Kreise des Koalitionspartners 100 Damnatio memoriae?

DNVP hinaus dachte auch Weizsäcker, er könne diesen »Führer« zähmen, lenken, abmildern, »mesure in das System bringen«, wie er es einmal genannt hat. Ihn als wirksames Antidot, als Gegengift gegen die kommunistische Be- drohung einsetzen – die heute ja oft ganz vergessen wird, aber während des schwelenden Bürgerkriegs zwischen KPD und NSDAP in den frühen dreißi- ger Jahren bis weit in Kirchenkreise hinein die deutsche »Classe politique« umtrieb und in Angst versetzte. Und zugleich hoffte er, mit diesem Hitler die Wiedergewinnung deutscher Macht und Größe zu erleben – ohne den großen Krieg. Aber Hitler ließ sich nicht lenken und »zähmen«. Spätestens ab Sep- tember 1939/40 war Weizsäcker umfassend gescheitert – dass einer seiner Söhne in den ersten Kriegstagen, beim Einmarsch in Polen in der Tucheler Heide fällt, war ein symbolhaftes Menetekel. Zugleich war er tief in den na- tionalsozialistischen Unrechtsstaat verstrickt und wusste um das Grauen, selbst wenn auch ihn der Sieg über Frankreich wie die Mehrzahl der Deutschen kurzfristig noch einmal euphorisierte und neuerlich Bewunderung für Hitler aufkeimen ließ. In jenem Frühjahr 1940 notiert sein nach dem 20. Juli hin- gerichteter Freund Ulrich von Hassell, der ihn ja insgesamt durchaus kritisch beurteilt, seine mangelnde Entschlusskraft zum mutigen Widerstand bemän- gelt, Weizsäckers Lage sei »in jeder Hinsicht abscheulich; im Grunde hat er nichts zu sagen, wird aber mit verantwortlich gemacht«. Das ist ein wichtiges Zitat zur Bewertung der AA-Spitze hinter Ribbentrop in jener Zeit. Leider sucht man es im Amt-Buch vergebens. Die Verteidigung durch Hellmut Becker und Richard von Weizsäcker hat im Wilhelmstraßenprozess an dieses Zitat angeknüpft und den römischen Rechtsgrundsatz des Julius Paulus aus dem 3. Jahrhundert n. Chr. »Culpa caret qui scit quod prohibere non potest« (»Schuldlos ist, wer Kenntnis von dem hat, was er nicht verhindern kann«) in den Mittelpunkt ihrer Strategie und des Abschlussplädoyers gestellt. Dem Plädoyer und mithin dieser Auffassung ist immerhin einer der Richter gefolgt. Richter Leon W. Powers, in der Zwischen- kriegszeit Richter am Supreme Court von Iowa, hat eine »Dissenting opinion«, eine abweichende Meinung zum Urteil für Weizsäcker abgegeben, für Frei- spruch votiert, statt der sieben Jahre Haft, die am Ende verhängt wurden. Schirrmacher: Die Prozessführung ihres Patenonkels Hellmut Becker im Wil- helmstraßenprozess wird von den Autoren im Buch als wesentlich für die »Legen- denbildung« und Stilisierung des Nachkriegs-AA als »Hort des Widerstandes« gewertet. Koerfer: Also, ein Wort zu Hellmut Becker. Der war damals ein junger, in großen Strafsachen noch gänzlich unerfahrener, aber hochintelligenter Anwalt, Umfassend gescheitert 101 ein enger Freund der Familie Weizsäcker aus Berliner Tagen. Sein Vater war der preußische Kultusminister Carl Heinrich Becker. Er hat in der Tat, mate- riell unterstützt und finanziert von Robert Boehringer, das ganze umfassende Netzwerk der beiden Familien in Deutschland, der Schweiz, aber auch in Nor- wegen und den USA von Marion Dönhoff, Richard Tüngel und Margret Bo- veri bis zu den Bischöfen Wurm und Berggrav oder Albert Oeri, dem Neffen Jacob Burckhardts und den Schwarzenbachs mobilisiert, um Weizsäcker zu verteidigen. Und er hat auch, soweit das möglich und machbar war, die Aus- sagen der Zeugen aus dem Amt um von Braun, Schroeder, Melchers, den Ge- brüdern Kordt bis hin zu Etzdorf, Nostitz und von Kessel »koordiniert«. Hätte er das als Verteidiger nicht tun sollen? Auf die vielfältigen Verbindungen seines Mandanten aus der Amts-Zeit verzichten? Die große Verschwörungstheorie, den Willen zur langfristigen Legendenbildung, die die Autoren des Kommis- sionsberichtes daran knüpfen, sehe ich nicht. Es ging um Leben und Tod, nicht um die weitere Nachkriegszeit. An ein neues AA war damals noch nicht einmal im Traum zu denken, denn die Besatzungsmächte hatten genau das verboten. Wenn damals allerdings bekannt geworden wäre, bzw. wenn hätte bewiesen werden können, dass Weizsäcker 1942 wusste, dass an der Endstation der Deportationszüge – und nicht allein in Auschwitz – der industriell-ar- beitsteilige Massenmord stattfindet, wäre er vermutlich hingerichtet worden. Die Einsatzgruppenberichte kannte er zu diesem Zeitpunkt, seine braune Pa- raphe belegt es – aber das verschwieg er im Prozess. Er wusste also, dass im Auftrag des Regimes mittels Massenerschießungen hunderttausendfach hinter der Front gemordet wurde – von den Vergasungen mag er tatsächlich erst spä- ter im Vatikan erfahren haben. Es bleibt allerdings ein Rätsel, weshalb Weizsäcker nicht schon zum Jah- reswechsel 1941/42 um seine Versetzung gebeten oder – weil Hitler Verset- zungsgesuche verbot – eine schwere Erkrankung vorgeschützt hat, statt dessen noch ein langes, entsetzliches Jahr zuwartete und erst Anfang 1943 seinen Ab- schied vom Amt in Berlin einleitete, in die »innere Emigration« Richtung Rom, als Botschafter zum Papst ging. Er war wohl in einer merkwürdigen Be- amtenloyalität gefangen und von antisemitischem Ressentiment mindestens in der Anfangszeit des Regimes bis 1938/39 selbst nicht frei. Jener Akt seines Nachfolgers Steengracht, von dem Margret Boveri berichtet, der durch Hin- zufügen einer Null auf einer der seltenen Ausreisegenehmigungen des Regimes für 400 Juden 3.600 zusätz liche Leben rettete, sich auf »Übermittlungsfehler« hinausredete, wäre Weizsäcker nicht in den Sinn gekommen. Auch ein Pisto- lenattentat auf Hitler lag ihm fern – wie den Allermeisten übrigens. Aber ge- 102 Damnatio memoriae? rade der Fall Weizsäcker ist ein Lehrbeispiel für den Umgang mit Verstrickten im Dritten Reich – die Fischer-Kommission hat wenig Fingerspitzengefühl für Nuancierungen. Sie urteilt fast durchweg abschätzig und bleibt ohne Ge- spür für die bittere Ausweglosigkeit der damaligen Situation. Ex post sind sol- che Urteile wohlfeil und ihr Erkenntniswert gering. Schirrmacher: Reden wir an dieser Stelle über den »Fall Nüßlein«. Der »Fall« schien für mich völlig eindeutig und klar, bis Sie mir doch ziemlich bemerkens- werte Details aus der Personalakte vorgetragen und eine etwas andere Deutung entwickelt haben. Koerfer: Mit Nüßlein fing ja – scheinbar – alles an. Der Fall scheint auf den ersten Blick ziemlich klar – ein furchtbarer Jurist, tief verstrickt im Stabe Heydrichs, des stellv. Reichsprotektors im von deutschen Truppen besetzten Prag. Ein schrecklicher deutscher Jurist. Die entsprechenden Angaben aus dem Ost-Berliner Braunbuch treffen nach Auffassung der Unabhängigen His- torikerkommission weitgehend zu – und die Kommissionsmitglieder setzen sogar noch einen drauf, indem sie in ihrer Einleitung (S.18) formulieren, »wie der Fall Nüßlein zeigt, halfen in Zeiten des Kalten Krieges die Anschul- digungen eher als sie dem Betroffenen schadeten, weil sie aus der DDR kamen …« Schirrmacher: Für mich ist das einleuchtend. Für mich ist Nüßlein ein gutes Beispiel für abschreckende Eliten-Kontinuität. Koerfer: Wir sind hier an einem entscheidenden Punkt. Am Fall Nüßlein kann ich Ihnen sehr gut zeigen, was ich meine, wenn ich der Unabhängigen Historikerkommission eine »intentionalistische« Geschichtsschreibung vor- werfe. Sie mag dem Auftraggeber Joschka Fischer entgegengekommen sein, hat aber der Kommission den Blick auf den Mann und sein Wirken verstellt. Wenn man von vornherein mit der Gewissheit, der Betreffende sei schuldig, an einen »Fall« herangeht, übersieht man leicht etwaige Entlastungsmomente. Man will »Schuld« beweisen, aber nicht Verhaltensweisen »verstehen« und er- klären. Ein verengter Fokus führt aber in aller Regel zu problematischen Re- sultaten. Jedem Historiker müsste sofort ins Auge fallen, wie seltsam es ist, dass ein »Blutrichter« Nüßlein 1948 in Prag vor einem tschechisch-kommu- nistisch-stalinistischen Volksgerichtshof steht – und nicht hingerichtet wird. Schirrmacher: Ihr Hinweis auf das Prager Gericht ist in der Tat interessant. Was hat die Kommission übersehen? Wie hätte denn die eigentliche »Beweisführung« in diesem Fall lauten müssen? Ist der Fall nicht doch »sonnenklar«? Koerfer: Der Fall Nüßlein ist bei näherer Betrachtung überhaupt nicht klar – und damit leider auch kein »Beweis« für die grausige braune Elitenkontinuität, Eine Null und ihre Folgen 103 die als Vorwurf den Subtext des Amt-Buches durchzieht. Nüßleins extrem um- fangreiche Personalakten sind eine rechte Fundgrube – was hier nicht als Wort- spiel gemeint ist.23 Er ist als Jurist – nicht als Diplomat – in Prag in keiner Entscheidungs- kammer, er ist nicht an einem Gericht, er fällt – das ist wirklich festzuhalten – keine größeren Urteile, keine Todesurteile. Aber er ist der zweite oder dritte Mann in dieser Verwaltungsabteilung, über deren Tisch die Urteile des deut- schen Landgerichts in Prag wie auch die Anweisungen zur Vollstreckung der Urteile laufen, der auch die Gnadengesuche entgegennimmt und weiterleitet an den Reichsprotektor und das Reichsjustizministerium. Entscheiden konnte Nüßlein über Gnadensachen nicht. Er konnte aber Gesichtspunkte zu Guns- ten des oder der Angeklagten in die Akten einfließen lassen. Einen Rechtsanspruch auf Begnadigungen kennt das deutsche Besatzungs- system nicht. Begnadigungen sind extrem selten, die Vollstreckung von To- desurteilen der – schreckliche – »Normalfall«. Häufig werden Todesurteile des Volksgerichtshofs in Prag wie im Reich in den letzten Kriegsjahren ohne jeden Zeitverzug innerhalb von Stunden vollstreckt. Denken Sie an die Ge- schwister Scholl, wo der Volksgerichtshof mit Freisler an der Spitze ja extra nach München reist und innerhab von nur zwei Stunden nach der Verurtei- lung am 22. Februar 1943 die Todesurteile vollstreckt werden. Innerhalb die- ser kurzen Frist zwischen Urteil und Vollstreckung war jedes Gnadengesuch aussichtslos. Es gab aber einige wenige Fälle in Prag, wo Hinrichtungen auf- geschoben oder aufgehoben wurden. Eine schwangere Tschechin soll von der deutschen Besatzungsmacht begnadigt worden sein, als ihre Schwangerschaft bekannt wurde. Abgewiesene Gnadengesuche hat Nüßlein weitergeleitet. Die Verurteilten sind anschließend hingerichtet worden. Er hat aber – was bislang völlig un- bekannt ist und selbst der Außenminister a.D. Fischer in der Berliner Kon- gresshalle wohl nicht wusste – zugleich selbst Begnadigungen befürwortet und sich hinter den Kulissen sogar erfolgreich für Verurteilte eingesetzt. Dies – und das ist eigentlich sensationell – geht aus dem Urteil des stalinistisch-kom- munistischen Volksgerichts aus dem Jahre 1948 in Prag zweifelsfrei hervor. Das Urteil ist erstaunlich – und das stärkste Argument, das Nüßlein zu seinen Gunsten anführen kann. Auf das Todesurteil wird explizit verzichtet, weil es »Guttaten« von ihm gibt. Einem deutschen Mitglied der verhassten Protek- toratsverwaltung werden von einem stalinistischen Volksgericht »Guttaten« bescheinigt. Haben Sie davon jemals schon gehört? Gibt es literarische Bei- spiele, vielleicht in einem Roman von Pavel Kohut? Ich bezweifle das. Der 104 Damnatio memoriae?

Vorgang ist ziemlich einmalig. Nach seiner Begnadigung und Abschiebung in die Bundesrepublik hat er sich 1955 beim Auswärtigen Amt beworben, wurde überprüft und eingestellt. Schirrmacher: Und hier treffen wieder unsere beiden Welten und Sichtweisen aufeinander. Ich finde Ihre Darstellung, zugegeben, faszinierend. Aber wenn über einen späteren Beamten der Bundesrepublik Deutschland eine Expertise von Rein- hard Heydrich bei Martin Bormann vorliegt, wonach er ein überzeugter Natio- nalsozialist sei und man ihn unbedingt befördern müsse, dann sage ich: So jemand braucht keinen ehrenden Nachruf. Es ging nicht darum, ihn zu verdammen, es ging nicht darum ihn zu bestrafen. Es ging nur darum, ihn nicht zu würdigen. Koerfer: Da möchte ich widersprechen. Jemand, der sich in einem diktatori- schen Regime erfolgreich für Begnadigungen einsetzt, ist jemand, der nicht alles »abnickt«. Der ist eben kein feuriger Nationalsozialist, auch wenn sich in den Akten tatsächlich die von Ihnen erwähnte positive Bewertung von Bor- mann, bzw. Heydrich findet. Das scheinen übrigens bislang die einzigen Quel- len zu sein, die gegen ihn sprechen. Als mörderischen NS-Juristen und »Blutrichter« können wir Nüßlein nach allem, was wir über ihn wissen, nicht betrachten. Nüßlein ist nicht Hans Filbinger, der verstockt bis ins hohe Alter seine Todesurteile als Marinerichter in der Untergangsphase des Dritten Rei- ches verteidigt. Dass Nüßlein selbst später nie – weder öffentlich noch intern – seine »Guttaten«, die ihm in Prag das Leben retten, zur eigenen Verteidigung angeführt hat, darf ihm posthum nicht zum Nachteil gereichen. Auch, dass er im Stab von Heydrich »diente«, reicht allein zu einer Verurteilung nicht aus. Wie gesagt, die komplizierte Einzelfallprüfung und Gewichtung der Ge- sichtspunkte ist wie in allen anderen Fällen auch in seinem Fall unerlässlich. Die Kommission hat sich darauf nicht eingelassen und es sich zu leicht ge- macht mit ihrem Verdikt. Schirrmacher: Unsere beiden Welten sind an dieser Stelle nicht kompatibel. Ich kann Ihnen folgen, was die Bedeutung und Bewertung des Urteils anlangt. Ein »ehrendes Gedenken« halte ich weiterhin für problematisch. Kommen wir aber jetzt zur Nachkriegszeit, der ja gut die Hälfte des Buches gewidmet ist. Koerfer: Für noch problematischer als den ersten Teil über das Dritte Reich halte ich den zweiten, der sich der Nachkriegsgeschichte widmet. Dass im Zusammenhang mit dem mehrfach erwähnten Anwachsen der NPD in den sechziger Jahren von einem Anwachsen des Rechtsradikalismus in der Bun- desrepublik geraunt wird, in diesem Zusammenhang auch die Hakenkreuz- schmierereien an der Kölner Synagoge als Indizien erwähnt werden – dass sie als durchaus wirkungsvolle, international breit wahrgenommene Zersetzungs- Die »Guttaten« von Franz Nüßlein 105 maßnahme von Markus Wolfs MfS konzipiert und inszeniert wurden, steht nirgends, weil es nicht auf die Argumentationsschiene passt – gehört in den größeren Kontext des Bandes. Da klingt doch sehr viel nach Verschwörung, alten Seilschaften, nach Fortschreiben alter Ideologien, nach – und so wird es ja auch im gegenwärtigen medialen Zirkus »verkauft« – »Kontinuität der be- lasteten, braunen Eliten«. Intentionalistische Geschichtsschreibung eben. Schirrmacher: Was aber ist denn daran so falsch ? Koerfer: Kein Zweifel: Auch deutsche Diplomaten haben sich nach dem Un- tergang des NS-Regimes untereinander abgesprochen, haben sich wechselseitig gestützt, mit »Persilscheinen« geschützt, ihre Biographien »geschönt«, ihre Ver- strickungen vertuscht, sich in internen Kassibern vor juristischer Verfolgung und Aufarbeitung gewarnt, dabei sogar einem Teil belasteter »Weggefährten« ins neue Amt geholfen. Aber das ist nicht so verblüffend und erstaunlich. Das ist in den allermeisten Behörden nach 1945 so gewesen, übrigens auch im be- setzten Österreich und nach 1990 im Bereich der ehemaligen DDR bei SED, MfS, Staatsapparat massenhaft vorgekommen. Noch wesentlich »erfolgreicher« als die Diplomaten waren nach dem Krieg in der neuen Bundesrepublik beispielsweise die Juristen, die Polizisten, die Kriminalisten, die Ärzte und die verehrten Herren Professoren, die allesamt kaum nennenswerte Karrierebrüche und Gerichtsverfahren zu gewärtigen hat- ten, in ihren jeweiligen Institutionen auf eine extrem hohe Personenkontinui- tät kommen, egal ob im Staatsdienst oder an den Universitäten – obwohl sehr viele von ihnen eng mit besonders mörderischen, besonders kontaminierten Bereichen des NS-Maßnahmenstaates im Dritten Reich in Berührung gekom- men waren. Aus dem unmittelbar am stärksten kontaminierten Bereich des AA, der am engsten mit dem RSHA, mit Heydrich, Kaltenbrunner, Müller, Eichmann, Wisliceny, Dannecker und Co. zusammengearbeitet hat, aus der Deutschland-Abteilung, später dann dem Referat Inland II aus dem Ribben- trop-Weizsäcker Amt ist meines Wissens mit Ausnahme von Herbert Müller- Roschach niemand nach 1951 ins neue AA gelangt. Müller-Roschach, Jahrgang 1910, war 1941/42 nur wenige Monate im hoch kontaminierten, für »Judenfragen, Rassenfragen« zuständigen Referat D III in der Rauchstraße, ging anschließend zum Militär. Ob das geschah, um aus der Deutschland-Abteilung wegzukommen oder aus Heldenmut und Pa- triotismus, wissen wir nicht. Nach Berlin kehrt er jedenfalls nicht wieder zu- rück, wird ab Mitte 1943 als persönlicher Referent des Geschäftsträgers einer Außenstelle des Amtes in Sigmaringen eingesetzt. Zwei Ermittlungsverfahren gegen ihn werden nach dem Krieg eingestellt. Er gelangt am 2. Oktober 1951 106 Damnatio memoriae? zurück ins Amt, in die Abt. IV (Handelspolitik). Bei der Einstellung hatte er den Hinweis auf seine Tätigkeit im Referat D III weggelassen, »unterschlagen«, wenn Sie so wollen. Dass Müller-Roschach im Amt-Band (S.672) dem nicht sachkundigen und deshalb staunenden Leser als Beispiel für die »Elitenkon- tinuität« vom Hitler-Ribbentrop-Amt ins Amt von Adenauer/Heuss präsen- tiert wird, ist nachgerade grotesk. Müller-Roschach ist im Übrigen, wie gesagt, der einzige, der es aus dieser schwer belasteten Abteilung später ins neue Amt »geschafft« hat. Er ist allerdings mit den Tätern, die wir sonst dort antreffen, nicht zu vergleichen. Einige von ihnen, wie Franz Rademacher oder Eberhard von Thadden und Horst Wagner, die Sebastian Weitkamp in seiner offenbar in Deutschland weit- gehend unbekannten, lesenswerten Studie über Braune Diplomaten zu Recht als »mobile und kompetente Funktionäre der Endlösung im AA« bezeichnet hat, sind ja immerhin, wenn auch bisweilen spät und nicht durchweg erfolg- reich, angeklagt worden. Eine Reihe von NS-Tätern, nicht nur von »Schreib- tischtätern« haben sich wie Eichmann, Rademacher oder Wagner am Ende erfolgreich der Strafverfolgung durch Flucht über die »Rattenlinie«, also über Italien, manchmal sogar mit Hilfe aus dem Vatikan, nach Südamerika oder aber in den Nahen Osten, nach Ägypten und Syrien, zu entziehen verstanden. Schirrmacher: Welche Kriterien sind denn Ihrer Auffassung nach zur Bewertung anzulegen? Koerfer: Im Buch heißt es an einigen Stelle völlig richtig, das Kriterium der Parteimitgliedschaft sei nicht sonderlich aussagekräftig als vorrangiges Unter- scheidungs- und Bewertungsmerkmal, als »Filter«. Im Grunde fällt aber der Autorenkreis dann hinter diese eigene Aussage zurück, betont das – bei Ruhe betrachtet – für deutsche Nachkriegsbürokratien nicht sonderlich überra- schende Faktum, dass bei den Neueinstellungen im AA nach 1950/51 der An- teil der Pg wesentlich höher lag als der Anteil der ehemals Verfolgten, ja, dass »je höher der Dienstrang, desto häufiger ein NSDAP-Parteibuch zu finden« gewesen sei. Die massive Pg-Zählerei bringt aber kaum Erhellendes, zumal – was im Amt-Buch nicht aufscheint – Hitler im März 1939 Ribbentrop über Heß hatte ausdrücklich wissen lassen, dass »wichtige Stellen im AA nur mit Beamten besetzt werden sollen, die der NSDAP als Mitglieder angehören. Der Stellvertreter des Führers hat daher darum gebeten, zumindest bei Beförderungen vom Ministerialrat an auf- wärts stets so zu verfahren. Diese Auffassung hat der Führer nunmehr aus- drücklich gebilligt … Ein entsprechender Erlass geht dem Ministerium auf Grund der Entscheidung des Führers seitens des Herrn RM des Inneren zu.« »Mobile und kompetente Funktionäre der Endlösung« 107

Des Weiteren ist zu beachten, dass etwa ab Mitte des Krieges Ribbentrop sich weigerte, Versetzungsgesuche zu genehmigen, ja überhaupt vorgelegt zu be- kommen. Es war also schwieriger geworden, das Amt zu verlassen und sich etwa an die Front versetzen zu lassen, wenn man das selbst für notwendig hielt und nicht einberufen wurde. Leider gilt daher weiterhin der alte Grundsatz der Einzelfallprüfung für jede Bewertung und Beurteilung – übrigens auch bei SD-Rängen, SS-Rängen, ganz besonders bei SS-Ehrenrängen, zumal die SS, Himmler, Heydrich und Co. die »sauberen« distanzierten Herren der Wil- helmstraße durch enge Verbindung mit dem Massenmord bekanntlich kon- taminieren, sich gefügig machen und lenken wollte. Und ihnen auch den Ausweg in die spätere Ausrede verbauen wollte: Davon haben wir alle nichts gewusst, dafür war einzig und allein immer nur die SS zuständig, wir sind völ- lig unschuldig, haben mit dem Widerstand sympathisiert. Schirrmacher: Wie würde denn eine andere Herangehensweise aussehen können oder vielleicht sogar aussehen müssen? Koerfer: Man darf es sich nicht so leicht machen wie bisweilen im Buch – dort heißt es etwa über Franz Krapf, seit 1933 Pg und SS-Mitglied, seit 1938 SS-Untersturmführer (=Leutnant), von 1940 bis 1945 als Legationssekretär in der Wirtschaftsabteilung in Tokio tätig, nach dem Krieg ein »Karrieredi- plomat der Bundesrepublik«, Botschafter wiederum in Tokio und beim NATO-Rat in Brüssel: »Über Krapfs Tätigkeit in Japan war wenig bekannt, aber soviel ist klar, selbst im fernen Asien waren deutsche Diplomaten mit der Endlösung der Judenfrage befasst.« Das, was man im angelsächsischen Raum mit »Innuendo« bezeichnet, schwer angreifbare Unterstellungen wie diese hier, sind ein häufig verwendetes Stilmittel im Amt-Buch. Wie sich deutsche Di- plomaten in Asien ganz konkret mit der Endlösung befasst haben, wird nicht verraten. Auch die Behauptung »Krapf war ein SD-Spitzel« bleibt im Buch ohne Beleg. Ohne handfeste Beweise sind solch schwerwiegende Anschuldi- gungen problematisch, zumal mit größerem Zeitabstand jeglicher Nachweis, also auch der Unschuldsbeweis immer schwerer zu führen ist und dann derlei einfach stehen bleibt für alle Zeit. Das ist eine hoch problematische Form der Damnatio memoriae. Krapf ist tot, er kann sich nicht mehr gegen solche Dar- stellungen wehren. Da mit seinem Tod die durch Joschka Fischer geänderte Nachruf-Praxis – keine Nachrufe für NS-Verstrickte mehr im Nachrichten- blatt des Amtes – überhaupt erst auffiel, ist es bemerkenswert, dass im Buch keinerlei neues, wirklich belastendes Material vorgelegt wird, sondern lediglich die bereits bei Döscher erwähnten, überaus vagen Verdächtigungen einfach weiter transportiert werden. 108 Damnatio memoriae?

Schirrmacher: Ich finde, dass das Buch sehr deutlich zeigt, dass es nach 1945 keine ideologische Kontinuität gab. Ich halte das geradezu für seine Essenz. Es geht nur darum, sich gegenseitig zu schützen oder zu retten, aber nicht darum, den Nationalsozialismus wieder auferstehen zu lassen. Sie lesen das aber anders. Koerfer: Ja, leider. Im Buch werden die Kontinuitätslinien doch wirklich sehr stark hervorgehoben. Es wird etwa festgestellt: »Die reaktivierten Diplomaten, die in ihrer Mehrheit unter Neurath und Ribbentrop ihre ›Pflicht‹ getan und die NS-Außenpolitik exekutiert hatten, stellten ab 1951 eine nicht geringe Belastung für das neue Amt dar«. Das ist ein starkes Stück der Abwertung, finden Sie nicht? Ein entscheidender, für die Betroffenen fast ehrabschneidender Fehler des Buches ist, wenn die »schleichende Restauration des Auswärtigen Dienstes« nach 1951/52 als gro- ßes Manko hervorgehoben wird, dabei massiv personelle Kontinuitäten mit Kontinuitäten der Mentalität und weniger des Handelns gleichgesetzt werden. Wie schon Jürgen Kocka vor Jahren in seiner Auseinandersetzung mit der Frage »1945 – Neubeginn oder Restauration?« gezeigt hat, gab es nach dem Krieg eine hohe Personalkontinuität.24 Auf das AA bezogen: Es gab dort sogar zugleich eine Kontinuität des »nationalen Bewusstseins«, d.h. die nationale Frage, die Frage der Revision der deutschen Teilung trieb die Beteiligten um, sie »dockten« dabei geschickt – das unterstellt das Buch ja auch und das ist gar nicht so falsch – an den antikommunistischen Grundkonsens der westli- chen Siegermächte, der USA vor allem an und stilisierten sich zu »Sowjetex- perten«, obwohl deutsche Soldaten in Osteuropa in einen mörderischen »Rassen- und Lebensraumkrieg« geschickt worden waren und das alle Betei- ligten mehr oder minder präzise wussten. Und sie machten darüber weiter Karrieren. Aber entscheidend ist doch, nachzulesen bei Kocka oder auch bei Hans-Ulrich Wehler: Es gab keine – ich wiederhole: keinerlei – Restauration im Sinne der NS-Ideologie, auch nicht im Sinne der Rapallo-Ideologie Wei- mars, des Jonglierens und Chargierens zwischen Moskau und dem Westen. Dazu war der Bruch von 1945 zu nachhaltig, der nachträglich sich immer weiter öffnende, immer sichtbarer werdende moralische Abgrund von 1933 bis 1945 viel zu tief – übrigens auch die im Buch nahezu gänzlich wegretu- schierte sowjetische Bedrohung bald schon zu stark. Bittere Niederlage, ja. Aber eben auch Befreiung, Neubeginn, eine neue Chance, wie Richard von Weizsäcker in seiner bedeutenden Rede zum 8. Mai 1985 gesagt hat – das galt ab und nach 1945 auch für die Mehrzahl der Män- ner, die das neue AA aufbauten und tatsächlich zu Teilen die alten Beamten waren. Zurück in die Ära Hitler-Himmler-Ribbentrop wollte aber keiner von Niederlage, Befreiung, Neubeginn 109 ihnen. »Wir wollen unseren Adolf Hitler wiederhaben«, sagte keiner von ihnen, anders als nach 1918, als es hieß »Wir wollen unseren Kaiser Wilhelm wiederhaben«. Vielmehr wollten alle im »neuen« Amt die durchaus unerwar- tet sich bietende Chance, dieses heute gänzlich vergessene Geschenk der Nachkriegszeit, energisch nutzen, wie die allergrößte Mehrzahl der Deutschen und der anderen Verstrickten übrigens auch. Das Wirtschaftswunder der fünf- ziger Jahre wird nicht von ungefähr durch diesen Energieschub gespeist, den Willen, das Wirtschaftswunder von 1934 bis 1939 noch einmal zu wieder- holen, aber ohne NS-Vorzeichen, ohne Hitlerei, ohne Rassenwahn und -hass, in der westlichen Allianz der »Guten«, angeführt von der bewunderten He- gemonialmacht, den USA, und in enger Kooperation mit den europäischen Nachbarn, Frankreich vor allem. Schirrmacher: Geht das Urteil der Historikerkommission wirklich so weit? Koerfer: Das Buch zeichnet dieses Bild. Es unterstellt im Kern den an der AA-Nachkriegsentwicklung maßgeblich Beteiligten von Herbert Blankenhorn über bis zu Erwin Wickert usw. (allesamt Pg wie Scheel und Genscher und Adenauers letzter Außenminister Gerhard Schröder und viele andere; etwa sieben bis acht Millionen Parteigenossen und natürlich auch überaus enthusiasmierte Parteigenossinnen umfasste die NSDAP), sie seien nicht wirklich in der Bundesrepublik angekommen, verwendet ihnen gegen- über diesen seltsam süffisanten, abschätzig-abwertenden Ton. Ich finde das infam und ärgerlich. Und ich finde die öffentliche Reaktion darauf, nicht al- lein das unqualifiziert Lobhudelnde von Außenminister Westerwelle gegen- über dem Kommissionsbericht, sondern auch viele der Begleitkommentare in unserem seltsamen Medienzirkus beschämend und kläglich. Ich kann sie mir teilweise allerdings mit dem einfachen Faktum erklären, dass eine Vielzahl der beteiligten Artisten in dieser Zirkusarena nicht mehr wirklich lesen und nach- denken, sondern vor allem darauf achten, was der Kollege gerade für eine Pi- rouette aufs Blatt gezaubert hat und dann eben ihre eigene Pirouette daneben setzen wollen. Joachim Fest hatte ja schon vor vierzig Jahren den berühmten kleinen Zettel mit seiner Lebensmaxime in der Brieftasche, auf dem stand: »Den Lärm der Clowns aushalten«. Genau darum geht es ja auch bei unserem Gespräch, um trotz des Lärms in der Manege im Diskurs zu nachdenklich- klaren Positionen zu gelangen. Schirrmacher: Bleiben wir beim Thema »Nachkriegszeit« und schreiten dieses Feld noch etwas weiter gemeinsam ab. Koerfer: Also, wie gesagt – und dazu gibt es bislang kaum kritische Rezen- sionen, sieht man vielleicht einmal von Christian Hacke und Gregor Schöll- 110 Damnatio memoriae?

Bundeskanzler Konrad Adenauer und sein Staatssekretär Hans Globke

gen ab – in seiner Grundströmung, im Grundklang seiner Wertung ist das ein ganz besonders ärgerliches und wenig überzeugendes Kapitel im Kommis - sions bericht. In ihm wird die Lebensleistung von Männern unterschlagen oder beschmutzt, die diesem Land über Jahrzehnte hinweg absolut loyal ge- dient und sich um die Entwicklung der Bundesrepublik nachhaltig verdient gemacht haben. So verdient wie Erwin Wickert, dem Helmut Schmidt zum Abschied in einem seiner wirklich sehr seltenen Handschreiben dafür ausge- macht freundschaftlich dankt. Das neue AA in Bonn war nicht mehr das AA Hitlers und Ribbentrops, nicht allein wegen der Ortsverlagerung. Das AA in der Bundesrepublik war das AA der Bundesrepublik. Übrigens: Auch Globke hat sich um die Bundesrepublik verdient gemacht. Wer seine geschickte Amtsführung, seine Steuerung des Kabinetts über die »Spiegelreferate« im Kanzleramt kennt, kann nur staunen. An der Ausformung der Kanzlerdemo- kratie hat er maßgeblich mitgewirkt. Sein »Schwachpunkt«, seine Tätigkeit als Jurist im Dritten Reich in Fricks Innenministerium, seine Mitarbeit an einem abscheulichen Kommentar der NS-Rassengesetze steigerte noch seine Loyalität gegenüber Adenauer, der genau wusste, was er an ihm hatte, nach- dem er den doch eher chaotischen »Zigeuner« Otto Lenz als Leiter des Kanz- Um die Bundesrepublik verdient gemacht 111 leramtes losgeworden war. An Globke hat der Vater der Füchse von Rhöndorf ja auch bis zum Schluss, bis zu dessen Pensionierung festgehalten und ihn verteidigt. Schirrmacher: Wie verhielt sich Ihr Großvater Feine nach dem Krieg, wie stand er zu dem Amt, in welchem er nach 1933 als Mann aus der verachteten und ver- femten »Systemzeit« der Weimarer Republik und enger Stresemann-Vertrauter nicht mehr beförderungswürdig gewesen war? Gab es Ressentiments gegenüber die- ser Behörde? Koerfer: 1945 ist eine tiefe Zäsur. NS-Deutschland ist unter gewaltigen Op- fern besiegt – und zutiefst moralisch diskreditiert. Auf Hitler-Diktatur folgt Teilung, die Auslöschung als Staat, als Völkerrechtssubjekt, Besatzungsdiktatur. »Unbelastete« wie Feine allerdings sind »kostbar«. Er wird, nachdem ihn ein Belgrader Gericht 1946 von allen Kriegsverbrechen freigesprochen hat, Land- gerichtspräsident in seiner Heimatstadt Bremen, wird von dort als Delegierter in den Verfassungskonvent von Herrenchiemsee entsandt, ist also einer aus der kleinen Gruppe unbekannter »Founding Fathers« dieser Bundesrepublik, die unter Leitung des bayerischen Staatssekretärs Anton Pfeiffer die Rohfas- sung des Grundgesetzes formulieren. Muss man sich nicht wirklich schämen dafür, hätte man im Kommissionsbericht ruhig erwähnen können, steht alles in seiner Personalakte – und die Rechercheure der Kommission im Archiv leg- ten ja besonderes Gewicht auf die Personalakten. Aber da interessierte Feine nur an einem einzigen Punkt: was sein Zusammenwirken mit Carl Lutz in Budapest 1944 anlangt. Auch das eine seltsame Verkürzung, denn der Mann hätte noch mehr an im Dritten Reich selten »Positivem« zu bieten gehabt. Als das »neue« AA 1950/51 aufgebaut wird, bekommt Feine schon bald eine Anfrage von Haas, dem neuen Personalchef, ob er zurückkommen möchte ins Amt? Die beiden kannten sich nicht zuletzt auch aus der Zeit der Arbeit in der Bremer Verwaltung nach dem Krieg. Ob er zurückkommen will in das ja of- fenbar noch tief »angebräunte Amt«, wo lauter ehemalige Nazis sich in Seil- schaften zusammentun und unter dem Deckmantel der Rückkehr in eine angebliche Zentrale des Widerstands neue Ränke zu schmieden beginnen? Feine zögert dennoch keine Sekunde, sagt Haas zu, kehrt zurück. Natürlich, könnte man hämisch einwenden, als Unbelasteter, nie, zu keiner Zeit Pg, stan- den ihm jetzt alle Türen offen und die Verdienstmöglichkeiten waren besser. Leider falsch. Das Richtergehalt in Bremen lag deutlich über seinen Bezügen beim Eintritt ins neue Auswärtige Amt. Und mit der Beförderung ging es auch nicht ganz so rasant voran. Es dauerte noch mehrere Jahre, bis er zum Bot- schafter ernannt wurde. 1959 starb er auf Posten in Kopenhagen. Dieser Teil 112 Damnatio memoriae? der Geschichte fehlt im Kommissionsbericht. Er hätte nicht »gepasst« ins düs- tere, zumindest subkutan weiterhin braune Bild des Nachkriegs-Amtes. Schirrmacher: Sie halten ja auch die Darstellung von Willy Brandt und Egon Bahr im Buch für fragwürdig, also aus einer Zeit, die sich an die Ära Adenauer anschließt, in der die Sozialdemokratie nach fast vier Jahrzehnten als Regierungs- partei wieder direkten Einfluss auf die Geschicke der Republik nehmen kann? Koerfer: Willy Brandt, der von 1966 bis 1969 das AA leitete, kommt in dem Buch schlecht weg, ähnlich wie Egon Bahr. Der unterschwellige Vorwurf der Autoren lautet: Beide hätten nicht Remedur geschaffen, hätten das belastete, braun kontaminierte Personaltableau nicht mit einer neuen Farbe – Rot ver- mutlich – ausgestattet, obwohl das SPD-Parteibuch ja nach Godesberg blau eingefärbt worden ist. Auch diese Beurteilung ist ahistorisch. Und es ist be- sonders interessant, dass sie von SPD-Epigonen wie von Brandts Nach-Nach- folger Frank-Walter Steinmeier weitergetragen und kolportiert wird, etwa bei der Präsentation des Buches in der Berliner Kongresshalle, wo Steinmeier keine Silbe zur Verteidigung Brandts über die Lippen brachte, sich nur ausnehmend lobend und anerkennend über die »Leistung der Historikerkommission« äu- ßerte. Vermutlich hatte er den Text des Kommisionsberichtes selbst nicht ge- lesen und lediglich vorgetragen, was ihm sein Referent dazu notierte. Aber auch später – Lesezeit war inzwischen vielleicht doch vorhanden gewesen – kein Wort der Korrektur, der Richtigstellung. Brandt und Bahr wollten während ihrer Zusammenarbeit schon in Berlin, von 1966 an dann auch im AA und ab 1969 im Kanzleramt – Egon Bahr hat das ja jüngst noch einmal verdeutlicht – ganz dezidiert eine Amtsführung der Versöhnung. Das schloss auch eine Versöhnung mit den Belasteten – nicht mit den mörderischen Tätern – der braunen Vergangenheit ein. Mag sein, für die Autoren des Kommissionsberichts eine höchst verwerfliche Grundhaltung. Aber Brandt war kein Narr und keineswegs so undifferenziert und »blind«, wie er uns hier präsentiert wird. Schirrmacher: Der Kanzler dieser dritten Großen Koalition in der deutschen Ge- schichte nach Stresemann und Hermann Müller hieß aber nicht Adenauer, sondern Kiesinger. Unter und neben Kiesinger rieb sich Brandt doch auf. Koerfer: Das sehr gespannte, schwierige persönliche Verhältnis von Kanzler Kiesinger und Außenminister Brandt von 1966 bis 1969 ist für unser Thema nicht wirklich von Bedeutung. Für das Funktionieren der ersten Großen Ko- alition war das Verhältnis Kiesinger-Wehner entscheidend. Wehner war ja überhaupt der Architekt dieser Koalition gewesen. Der sozialdemokratische Meisterstratege hatte 1957, als Kiesinger als Ministerpräsident nach Baden- Eine ahistorische Beurteilung 113

Gerhart Feine als deutscher Botschater im Dienste der Bundesrepublik 1958

Württemberg ging, diesem zum Abschied ein Telegramm hinterhergeschickt, das aus fünf Worten bestand: »Bonn ist ärmer geworden – Wehner«. Das darf man im Rückblick getrost als ersten Schritt zur Anbahnung der Großen Ko- alition bezeichnen. Wehner wusste, dass Kiesinger Pg gewesen war. Es spielte für ihn – anders als für Fischer und seine Unabhängige Historikerkommission – überhaupt keine Rolle, denn an Kiesingers demokratischer Grundeinstellung gab es nicht den Hauch eines Zweifels. An derjenigen von Wehner, dem ehe- maligen Kommunisten, ja Stalinisten, übrigens auch nicht. Nehmen wir ein Wort dieses Kanzlers Kurt Georg Kiesinger, das im Amt- Band auftaucht und das an das gerade zitierte Wort von Brandt anknüpft, wobei der Kanzler durchaus auch sich selbst umschreibt: »Millionen in diesem Lande, die in der tragischen Situation der Hitlerzeit eben nicht jene heroische Haltung der Widerstandskämpfer oder nicht jenen Entschluss zur Emigration finden konnten oder finden wollten, sind nach der Katastrophe trotzdem echte und überzeugte Bürger des demokra- tischen Staatswesens geworden.« Diese ja völlig richtige und zutreffende Beobachtung wird im Amt-Band eher hämisch und feindselig kommentiert – dort heißt es nämlich, nicht jeder Leser hätte für derlei »feinsinnige Unterscheidungen Verständnis«. Feinsinnig heißt hier wohl soviel wie spitzfindig, die Fakten verdrehend, um sich selbst zu ex- 114 Damnatio memoriae? kulpieren. Mit solch vergifteten Unterstellungen und Andeutungen wird viel- fach im Kommissionsbericht »gearbeitet«. Das hat mit sauberer, stringenter Ar- gumentation wenig zu tun. Natürlich kommt Kiesinger im Band als »Pg 2.633.930« (S.669 f.) vor – eine zweifellos tendenziöse und gänzlich unange- messene Etikettierung, wenn man Philipp Gasserts Kiesinger-Biographie kennt. Beate Klarsfelds Ohrfeige auf dem CDU-Parteitag am 7. November 1968 in Berlin darf gleichfalls nicht fehlen. Kurzum, Kiesinger wird uns wegen sei- ner Parteimitgliedschaft und seiner Tätigkeit in der Propagandaabteilung, der Rundfunkpropaganda-Abteilung in Ribbentrops AA im Kommissionsbericht unterschwellig als nachhaltig Verstrickter präsentiert. Dass sein Fall völlig an- ders liegt, dass er in der Endphase des Dritten Reiches wegen Behinderung der geplanten antisemitischen Propaganda in den USA im Amt denunziert wurde – die Dokumente dazu spielt Conrad Ahlers (SPD) vom SPIEGEL nicht nur ihm zu, sie liegen sogar am Tage von Kiesingers Kanzlerwahl im Dezember 1966 als Kopien in den Postfächern aller Bundestagsabgeordneten, machen seine problemlose Kanzlerwahl nicht nur für die Sozialdemokraten wohl überhaupt erst möglich, Ahlers selber wird ja bald darauf Regierungs- sprecher dieser Großen Koalition werden – hat der Kiesinger-Biograph Gassert in seiner minutiös gearbeiteten Studie präzise herausgearbeitet. Wer Gasserts Buch kennt, merkt sofort, dass im Amt-Band ein seltsames Spiel gespielt wird. Wer es nicht kennt und sich auf den Kommissionsbericht verlässt, wird fehl- informiert. Die Akzentuierung ist einfach viel zu negativ. Das gilt natürlich nicht nur für Kiesinger. Schirrmacher: Wirklich erhellend ist für mich die Rolle von Rolf Friedemann Pauls, dem ersten deutschen Botschafter in Israel, von der Sie mir in unserem Vor- gespräch erzählt haben. Koerfer: Nehmen wir die Geschichte dieses verdienten Diplomaten der Bun- desrepublik, des ersten deutschen Botschafters in Israel, Rolf Friedemann Pauls. Er war im Dritten Reich Ritterkreuzträger und Regimegegner zugleich gewesen – heute für politisch korrekt Denkende bei uns sicher ganz schwer nachvollziehbar. Aber auch dieser Widerspruch prägte das Leben im Dritten Reich. Pauls hatte an der Ostfront gekämpft, war dort schwer verwundet worden. Er hatte nach dem Krieg an der Gesandtschaft in Luxemburg gear- beitet, war an den Botschaften in Athen und Washington gewesen und zeit- weise persönlicher Referent von Hallstein. Seine Ernennung und Entsendung nach Israel löste in einem Teil der dortigen Medien, keineswegs allein bei den Boulevardzeitungen, einen Sturm der Empörung aus, der im Buch über Sei- ten hinweg behandelt wird. »Ich möchte lieber einen Mann, der seinen Arm Als Ritterkreuzträger und Regimegegner in Israel 115 im Kampf gegen Hitler anstatt im Kampf für Hitler verloren hat«, zitieren die Verfasser einen israelischen Diplomaten. Das ist ja auch alles richtig – und war noch viel bitterer als im Buch beschrieben. Demonstranten halten bei Pauls Ankunft Transparente hoch mit der Aufschrift: »6 Millionen mal NEIN« – in Anspielung auf die Toten in den Vernichtungslagern. Der israe- lische Protokollchef weigerte sich sogar, Pauls zu empfangen. Für Menachem Begin und andere Israelis sind alle Deutschen weiterhin Mörder, mithin auch Pauls. Im Kommissionsbericht scheint von der Dramatik des Neubeginns und der vorsichtigen Normalisierung wenig auf. Am Ende der langen Passagen zu Pauls steht lediglich ein kleiner Satz: »Wie man hört, soll seine Mission den- noch ein Erfolg gewesen sein«. Pauls – von Niels Hansen in seiner hervorra- genden Geschichte der deutsch-israelischen Beziehungen breit gewürdigten – Verdiensten um die deutsch-israelische Aussöhnung wird eine solch verkürzte, ja verfälschende Darstellung nicht gerecht. Dass der Held des Sechstagekrieges, Moshe Dajan, seinen Militärfreund Pauls als einzigen westlichen Gast zur Hochzeit seiner Tochter einladen sollte, erwähnen die Autoren beispielsweise nicht. Nicht umsonst hat die Jerusalem Post 1989 in ihrem Rückblick auf die bilateralen Beziehungen geschrieben »Seit 1965, seit sie diplomatische Bezie- hungen mit Israel aufnahm, ist die Bundesrepublik nach den USA unser bester Freund geworden«. Der Anteil des Auswärtigen Amtes an diesem Prozess sollte nicht so gering veranschlagt werden wie im Buch. Der Anteil und die Bedeutung von Perso- nen wie Pauls sollte nicht verschwiegen werden. Für die Politiker in Israel waren die Abgesandten aus Bonn seit der Aufnahme der diplomatischen Be- ziehungen 1965/66 – übrigens eine der wenigen Entscheidungen, wo Ludwig Erhard als Bundeskanzler von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch machte – nicht Abgesandte aus einer immer noch leicht angebräunten »Ver- brecherhöhle«, sondern ernstzunehmende seriöse Partner, mit denen mancher wie etwa im Falle von Pauls, im Falle von Klaus Schütz, im Falle von Niels Hansen, um nur einige zu nennen, nachhaltig persönlich Freundschaft schloss. Partner aus einem Land zudem, das mit beträchtlichen finanziellen Hilfen den Aufbau Israels gerade in den bedrohten fünfziger Jahren maßgeblich mit be- förderte und sichergestellt hatte. Schirrmacher: Ist es Verschweigen oder ist es nicht eher eine bewusste Entschei- dung: die Geschichte einer Institution, nicht die Geschichte von Individuen. Im- merhin haben vier sehr renommierte Autoren diese Studie verfasst, keiner von ihnen ist als »68er« bekannt. 116 Damnatio memoriae?

Koerfer: Verfasst haben das Buch nicht die vier Professoren Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes und Moshe Zimmermann, sondern die eher ver- schämt im Bandesinneren genannten Mit- und Zuarbeiter als »Schattenschrei- ber«, allen voran – Ladies first – Annette Weinke, Andrea Wiegeshoff und Lars Lüdicke. Thomas Karlauf hat dem Ganzen dann durch ein geschicktes Lek- torat am Ende einen einheitlichen Schliff verliehen, was sicher erheblich der Lesbarkeit, weniger allerdings der historischen Substanz und Differenzierung – über die wir in den vergangenen Stunden diskutiert haben – gedient hat. Viel- leicht hat er noch etwas Pfeffer beigemischt. Aber was Ihre Frage angeht: Die Geschichte von Institutionen ist doch immer die Geschichte der Menschen, die in ihnen handeln und deren Wirken »wir« rückblickend verstehen und er- klärt bekommen wollen. Um die Vergangenheit anzunehmen, annehmen zu können, auch, um uns mit ihren düsteren Seiten auseinanderzusetzen. Das Amt ist aber kein solches Buch der Erklärung. Und kein solches Buch der Ver- söhnung. Es ist kein Buch der anteilnehmenden, sorgfältigen Ermittlung, son- dern der pauschalisierenden Wertung, die fast durchweg dominiert. Es ist ein Buch der Ausgrenzung. Es ist – ich muss es so offen aussprechen – ein Buch der Rache. Und die Historikerkommission, die Joschka Fischer am Ende seiner intern ja durchaus schwierigen Zeit im AA 2005 noch eingesetzt hatte, hat sich dafür instrumentalisieren lassen. Schirrmacher: Diesen sicherlich auf breiten Widerspruch stoßenden Vorwurf müs- sen Sie wohl doch noch etwas präziser erläutern und erklären. Koerfer: Joschka Fischer ist mit diesem Auswärtigen Amt und seinen Usancen nach gutem Start emotional nie wirklich warm geworden, auch wenn er sich rasch und dann sogleich ziemlich meisterhaft – und von vielen im Amt dafür zunächst bewundert – auf dem neuen außenpolitischen Weltparkett zu bewe- gen gelernt hat. Aber sein antibürgerlicher Soupcon aus den Frankfurter Sponti-Tagen saß tief. Die alte Grundüberzeugung der 68er, dass die Väter aus der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegsgeneration die NS-Verbrechen immer vertuscht, dass sie »Beschweigekartelle« gebildet und »Persilscheinket- tenbriefe« verfasst hätten, war wohl immer schon in ihm ausgeprägt und blieb das auch während seiner Amtszeit als deutscher Außenminister. Genauer: Sie erhielt während dieser Amtszeit neue Nahrung durch die Erfahrungen mit den »alten« Diplomaten, von denen manche nun starben und um deren Nach- rufe, um deren »ehrendes Gedenken« es jetzt ging. Den noch lebenden alten Diplomaten, die sich in die Diskussion über eben diese Nachrufe einschalte- ten, die von Fischer persönlich angeordnete restriktive Praxis scharf kritisier- ten, wurde nicht von ungefähr bald das abschätzige Etikett »Mumien« im Auslöschung von Biographien über den Tod hinaus 117 medialen Diskurs angeheftet. Das sie sich, durchaus selbstironisch, übrigens zunächst selbst angeheftet hatten. Hinzu kommt, dass Fischer in der Visa-Affäre, vor dem Untersuchungs- ausschuss des Bundestages, wo er sich ohnehin so oft auf Gedächtnislücken berufen musste, dass selbst die ihm wohlgesonnene Bettina Gaus in der taz mutmaßte, dass hier der Grenzbereich zur Lüge wohl mehrfach überschritten worden sei, plötzlich auf die Loyalität eben dieses AA angewiesen gewesen war. Es war die gefährlichste Klippe seiner gesamten Karriere. Bei einer Lüge durch den Untersuchungsausschuss ertappt zu werden, hätte einen unrühm- lichen Abschied à la Strauß 1962 in der SPIEGEL-Krise bedeuten können – unvorstellbar für einen ausgeprägten Egomanen wie ihn. Fischer kam durch, weil das AA nicht gegen ihn »spielte« – aber er hat nie vergessen, dass er hier mit einem Mal plötzlich der Schwächere, der Abhängige war. Die Einrichtung der Unabhängigen Historikerkommission war also alles in allem ein vergiftetes Abschiedsgeschenk von ihm. Und die Kommission »lieferte«, auch wenn sie seither verständlicherweise ihre Unabhängigkeit wie eine Monstranz vor sich her trägt. Aber allen Beteiligten war der »Subtext« doch gewiss mehr oder min- der deutlich bewusst. Durch die frühe Festlegung der Kommission auf den für sie zentralen Fokus, auf »Judenverfolgung und Menschheitsverbrechen im Dritten Reich« wurde ja auch ganz unzweifelhaft, ganz bewusst eine starke Verknüpfung zwi- schen der Nachruf-Problematik und den Recherchen der Historiker herge- stellt, die in ihrem Ergebnis die hart-ablehnende Haltung des Außenministers Fischer gegenüber den alten, möglicherweise Verstrickten im Amte mehr als nur zu rechtfertigen und zu bestätigen scheinen. Als Medienprofi erkannte Fi- scher die Breitenwirkung seines geschichtspolitischen Schachzuges sofort und konnte seine tiefe Genugtuung über dessen Ergebnisse nur schwer verbergen. Ja, muss man hinzufügen, wenn nur dieses Buch, dieses Meisterwerk der se- lektiven Wahrnehmung, übrig bliebe für alle Zeiten als einziges Buch über das deutsche Auswärtige Amt im zwanzigsten Jahrhundert, sie wären tatsäch- lich vernichtet für alle Zeiten. Dann kehrte das antike Rom zurück. Es kannte als Höchststrafe, als Strafe über den Tod hinaus, eine besondere Waffe – die Damnatio memoriae, die Löschung des Namens und Wirkens einer Person über den Tod hinweg. Gelöscht soll werden das Bild all jener, die in der brau- nen Zeit an den Schreibtischen saßen und als Rädchen mitwirkten und mit- taten an der Maschinerie des Rassenwahns und Rassenmordes. Darum geht es. Das ist das große Subthema des Buches – die Auslöschung von Biografien über den Tod hinaus. Keine Nachrufe mehr, es könnten Ver- 118 Damnatio memoriae? brecher darunter sein. Dass das Auswärtige Amt nach Erscheinen des Bandes eine Weisung an alle Missionen hat ergehen lassen, dass die Bilder sämtlicher Missionschefs aus der Zeit vor 1945 in den Auslandsvertretungen abgehängt werden sollen, zeigt: das Buch ist verstanden worden. Die breite, sehr einseitige mediale Darstellung tut das Ihre. Die Damnatio memoriae beginnt zu wirken. Der Band entfaltet seine fatale Prägekraft. Der mediale Diskurs ist damit ge- schlossen. »Roma locuta, causa finita«, heißt es in der katholischen Kirche. Für uns soll es heißen: »Joschka Fischer und seine Unabhängige Historiker- kommission haben gesprochen. Das Amt bis zum Beginn von Rot-Grün 1998 ist – vernichtet«. Schirrmacher: Ich sehe Das Amt nicht als ein Buch das alle anderen ersetzt, es ist keine Coda, sondern, wie ich schrieb, ein Anfang. Ich sehe es als ein Buch, das eine Debatte eröffnet. 119

Joschka Fischers »Operation Hinkelstein«

»Plötzlich stand ich in einem Kulturkampf 1938 gegen 1968. Da habe ich aller- dings gesagt: Ja, wenn ihr den wollt, Freunde, dann könnt ihr den haben. Als dann die Visa-Affäre hochkochte, ging’s richtig los. Da dachten die wohl, jetzt haben wir ihn. Ohne diese ganze Visa-Affäre hätte die Frage der Nachrufe wohl niemals eine solche Wirkung entfaltet. Das habe ich mir alles ein Weilchen ange- guckt, dann hatte ich die Faxen dicke und habe diese Kommis sionsidee ausgebrütet. Mir war klar, dass ich da meinen letzten Stein in die Luft werfe, der lange in der Luft sein würde, sich während des Fluges aber auf wundersame Weise verändern und am Ende als Hinkelstein auf die römischen Legionäre niedergehen würde. Mir war zugleich klar, dass ich den Einschlag, das Erscheinen des Kommissions- berichtes selbst nicht mehr im Amt erleben würde.« (Joschka Fischer zu Fritz Stern in ihrem 2013 veröffentlichten Gespräch über Politik, S. 50)

Auftakt im Verborgenen: Der Fischer-Erlass und die internen Reaktionen im Auswärtigen Amt

Im März 2001 sollte das Auswärtige Amt am Werderschen Markt in Berlin Geburtstag feiern. Fünfzig Jahre zuvor war es nach der kleinen Revision des Besatzungsstatuts in der Bonner Koblenzer Straße wieder etabliert worden. Erster Außenminister der jungen Bundesrepublik war der alte Fuchs aus Rhöndorf geworden, Bundeskanzler Konrad Adenauer, der das Amt des Bun- desaußenministers bis 1955 in Personalunion mit verwaltete und zugleich als CDU-Vorsitzender amtierte, also wesentliche Regierungsentscheidungen je- derzeit in einem privaten Dreiergipfel höchst effizient mit sich selbst abstim- men und vorbereiten konnte. In Zeiten von Koalitionsregierungen, wie sie in 120 »Operation Hinkelstein«: Auftakt im Verborgenen

Bundeskanzler Gerhard Schröder und sein wichtigster Partner Joschka Fischer, der zukünftige Außenmi- nister und Vizekanzler, sichtlich entspannt nach dem Abschluss der harmonischen und kurzen Koalitions- verhandlungen zwischen SPD und Grünen am 19. Oktober 1998. der Bundesrepublik durchweg üblich sind – selbst in der einmaligen Phase der absoluten Mehrheit von Sitzen und Mandaten im Deutschen Bundestag zwischen 1957 und 1961 hatte die Union unter Adenauer nicht allein regiert – war das ein beträchtlicher Vorteil, ganz besonders in den schwierigen und von fundamentalen Konflikten zwischen der CDU/FDP/DP-Regierung und der sozialdemokratischen Opposition geprägten Anfangsphase der Republik. Nun, ein halbes Jahrhundert später war an die Spitze des Ressorts ein Mann getreten, dem – er war 1948 geboren und damit nur wenig älter als das neue Amt selbst – sicher noch zehn Jahre zuvor das nur die Wenigsten zugetraut hätten: Joschka Fischer, Schlüsselfigur der grünen Bewegung, ihr Frankfurter Urgestein und hessischer Mitbegründer seit 1982 und sechzehn Jahre später tatsächlich Vizekanzler und Außenminister der ersten rot-grünen Koalition in der Geschichte der Republik und über Jahre hinweg ihr beliebtester, popu- lärster Politiker überhaupt. Mit dem sozialdemokratischen Bundeskanzler Gerhard Schröder verband Fischer eine von Testosteron gesättigte Männer- freundschaft, die keineswegs frei war von Rivalität, Misstrauen und heftigen Reibungsloser Start 121

Auseinandersetzungen, die bisweilen sogar in wechselseitigen Rücktrittsdro- hungen gipfelten. Beide verband ein gemeinsamer Alptraum: Von anderen abhängig zu sein. Fischers Start im Auswärtigen Amt verlief – ganz anders als etwa im Falle von Walter Scheel 1969/70, dem Brandts Vertrauter und Chefarchitekt der Ostpolitik, Egon Bahr, doch zunächst die Schau gestohlen hatte mit seinen zügig eröffneten und klug vorbereiteten Verhandlungen mit Andrej Andreje- witsch Gromyko in Moskau – erstaunlich reibungslos. Das Amt hatte Fischer zielbewusst angestrebt zusammen mit der Vizekanzlerschaft, weil er – darin Genscher folgend – die Steuerungsachse der Koalition im Zusammenspiel mit Gerhard Schröder nur so, also nahezu auf Augenhöhe mit dem Kanzler, meinte gestalten zu können. Das war so falsch nicht. Hinzu kam, was er Fritz Stern gegenüber in dem 2013 erschienenen Buch Gegen den Strom freimütig einräumt: »Ich war immer sehr machtbewusst, was meine eigene Person betraf … Klaus Kinkel und andere wollten die SPD 1998 ja überzeugen, dass ich nicht Außenminister werden könne, so einen Kerl wie mich könne man doch nicht zum Außenminister machen, hieß es. Und da habe ich dem damaligen SPD-Parteivorsitzenden Oskar Lafontaine klar gesagt, das könnt ihr machen, Rot-Grün wird es dann dennoch geben, aber mich gibt es dann nicht in der Regierung, das müsst ihr wissen. Das war für mich aus Gründen der Macht- balance nicht verhandelbar. Ich habe vieles ertragen, erduldet und mitge- macht – aber immer zu Bedingungen, die ich für vertretbar hielt …« 25 Als Fischer ins Auswärtige Amt einzog, staunten die leitenden Beamten nicht schlecht, wie rasch und sicher sich dieser vielseitig interessierte, wache und aufnahmebereite Autodidakt, fliessend Englisch sprechend und in feinstes Tuch gewandet, auf dem ihm zunächst ja durchaus fremden diplomatischen Parkett zu bewegen verstand. Wie rasch er auch die Zügel anzog und sich in Szene zu setzen, sich international Anerkennung zu verschaffen wusste. Er wirkte aufgeschlossen und entgegenkommend, pflegte flache Hierarchien, zö- gerte nicht, Wissenslücken einzuräumen. Rief – überaus ungewöhnlich und für die Betreffenden erfreulich – Referatsleiter persönlich an, um nachzufra- gen, der neuen Sphäre und fremden Materie auf den Grund zu gehen. Das Amt atmete nach 24 Jahren als kontinuierliches, ununterbrochenes FDP-Mi- nisterium regelrecht auf – jedenfalls taten das alle, die nicht das liberale Par- teibuch in der Tasche hatten. Fischer zögerte auch nicht, sich in der schwierigen Anfangsphase immer wieder Rat zu holen vom erfahrensten Ex- perten der Republik auf diesem Gebiet – von Hans-Dietrich Genscher. Das 122 »Operation Hinkelstein«: Auftakt im Verborgenen

Washington, 30. April 2002: Außenminister Joschka Fischer zusammen mit Wolfgang Ischinger,1998–2001 Staatssekretär des AA, nunmehr Deutscher Botschafter in den USA, Klaus Scharioth, Leiter der Politischen Abteilung des Auswärtigen Amtes und 2002–2006 Staatssekretär des AA sowie Andreas Michaelis, Presse - sprecher des Auswärtigen Amtes (v.l.n.r.).

Telefon im Arbeitszimmer seines Vorgängers Klaus Kinkel blieb dagegen stumm. Alphatier spricht nur mit Alphatier. Im Ministerium wurde das re- gistriert. Es trug Fischer Sympathien ein, wirkte vertrauensbildend. Und so merkwürdig es klingen mag, mit den politischen Grundlinien dieses neuen grünen Außenministers Fischer, der vehement für die westliche Allianz, die NATO, die Europäische Einigung eintrat, der eine Isolierung der Bun- desrepublik in den internationalen Gremien, nicht zuletzt der UNO durchweg zu vermeiden suchte und wohl tatsächlich zurückgetreten wäre, wenn die Bun- desregierung mit ihrer Ablehnung des zweiten Irakkrieges durch George W. Bush 2001/2002 am Ende alleine im westlichen Lager dage standen hätte – mit diesem Außenminister Joschka Fischer, mit seiner außenpolitischen Grund - einstellung also, hatten die leitenden Diplomaten bis zum Ende seiner Amts- zeit keine Probleme. Probleme hatten sie jedoch zunehmend mit dem Behördenchef Fischer und seinem nach dem Ende der wechselseitigen Ken- nenlernphase zunehmend als selbstherrlich und wenig vermittelnd empfun- Ein machtbewusster Außenminister 123 denen Regierungsstil und den daraus folgenden innerministeriellen Entschei- dungen und Anweisungen, die vor allem auf dem grünen Feld gewachsen zu sein schienen. Probleme, die dadurch noch verstärkt wurden, dass die beamte - ten Staatssekretäre des Ressorts, also die für das reibungsglose Zusammenspiel des Ministers mit dem großen, weit verzweigten und weltweit operieren den Beamtenapparat dieser Bundesbehörde zentralen Personen, nicht immer, ja eigentlich immer weniger ihrer Aufgabe gerecht zu werden vermochten und ihre Vermittlungsfunktion allenfalls noch mit deutlich gebremsten Erfolgs- und Durchsetzungschancen ausfüllten. Das begann bereits mit Wolfgang Ischinger. 1993 bis 1998 war der FDP- nahe Ischinger Chef des Planungsstabs und dann Leiter der Politischen Ab- teilung (Politischer Direktor) im Auswärtigen Amt gewesen, von 1998 bis 2001 war er Staatssekretär des Amtes. Ihm zur Seite standen Staatssekretär Dr. Hans-Friedrich von Ploetz und ab 1999 dann Günter Pleuger sowie die beiden aus dem Lager der Koalitionsparteien stammenden und dem Koalitionspro- porz entsprechend ins Amt gerückten Staatsminister Dr. Ludger Volmer von den Grünen sowie Günter Verheugen von der SPD. In Ischingers kurze Amts- zeit fiel der erste große – und für das Ressort gänzlich ungewöhnliche – Krach, der Visa-Krach, den er, der Spezialist für Abrüstungs- und Sicherheitsfragen, nicht wirklich und schon gar nicht nachhaltig zu kalmieren vermochte. Ganz im Gegenteil, der Brand schwelte in den Fundamenten des Ressorts weiter, nachdem er 2001 – und bis 2006 – als Botschafter der Bundesrepublik nach Washington gegangen war. Sein Nachfolger wurde Klaus Scharioth. In allem. Was die Position anging: als beamteter Staatssekretär. Was die Problemlage anging: die internen Kabalen, die er nicht wirklich nachhaltig beilegen konnte. Was den Botschafterposten nach dem Rückzug anging: Wiederum Washing- ton. Scharioth standen ab 2002 als zweiter Staatssekretär Jürgen Chrobog, dazu als Staatsministerin Kerstin Müller von den Grünen und Hans Martin Bury von der SPD als Staatsminister für Europa zur Seite, wobei man Bury wohl, ohne ihm zu nahe zu treten, als politisches Leichtgewicht bezeichnen darf. Bei Scharioth ist das anders. Gerade weil er sich – jedenfalls nach dem Ein- druck vieler hochrangiger Diplomaten – zu stark, zu einseitig auf die Seite von Joschka Fischer stellte und nur selten jenen »Mut vor dem Minister« be- wies, den eigentlich jeder beamtete Staatssekretär haben sollte. Scharioth je- denfalls machte keine rundum glückliche Figur in der ganzen Geschichte und stellte vor allem sein nicht sonderlich ausgeprägtes Talent als hausinterner »Troubleshooter« unter Beweis. 1946 in Essen geboren, war er als Rotary-Sti- pendiat ans College of Idaho in Caldwell gegangen, hatte bis 1973 in Bonn, 124 »Operation Hinkelstein«: Auftakt im Verborgenen

Freiburg und Genf Jura studiert, die nächsten zwei Jahre dann wieder in den USA, an der renommierten Fletcher School of Law and Diplomacy, der Har- vard Law School und der John F. Kennedy School of Government. 1976 trat er ins Auswärtige Amt ein. Von 1982 bis 1986 gehörte er dem Planungsstab an, war von 1986 bis 1990 an der Ständigen Vertretung bei den Vereinten Nationen, war in New York stellvertretender Vorsitzender des UN-Rechtsaus- schusses und des Charta-Ausschusses. Anschließend drei Jahre im Völker- rechtsreferat des AA, wechselte er 1993 für drei Jahre als Kabinettschef des NATO-Generalsekretärs nach Brüssel. Wieder in Bonn zurück, übernahm er unter Klaus Kinkel die Leitung des Referates Verteidigungs- und Sicherheits- politik. Unter Joschka Fischer stieg er 1999 zum Politischen Direktor und Lei- ter der Politischen Abteilung auf. 2002 machte Fischer diesen erfahrenen deutschen Spitzendiplomaten zum Staatssekretär. Scharioth gelang es jedoch nicht, die bereits im Hause züngelnden Flämmchen der Rebellion dauerhaft auszutreten. Tatsächlich war der innerministerielle Honeymoon schon lange vor Scha- rioths Ernennung vorbei gewesen. Fischer hatte seine grüne Entourage ins Haus mitgebracht und verließ sich – neben den erwähnten Staatssekretären – immer stärker und spürbarer auf sie. Er hatte aber auch einige wenige »grüne« Inhalte mitgebracht und mit deren Implementierung in der deutschen Au- ßenpolitik begonnen. Beides zusammen trug schon früh dazu bei, dass die an- fänglich durchaus vorhandene wohlwollende Aufnahmebereitschaft gegenüber dem neuen Minister in seiner Funktion als Behördenleiter auf den höheren Ebenen des Auswärtigen Amtes zusammenschmolz. Das erste große Konfliktfeld, das sich gänzlich unbemerkt von der Öffent- lichkeit bald schon zwischen dem Minister und seinen unmittelbaren Vertrau- ten sowie weiten Teilen des Ressorts auftat und durchaus symptomatische Züge für alles Weitere tragen sollte, lag nicht von ungefähr in einem Kernge- biet der Grünen: auf dem weiten, in Deutschland tief umstrittenen Feld der Einwanderungs- und Ausländerpolitik. Anfang 1999 hatte Roland Koch, der hessische CDU-Spitzenkandidat, es gewagt, eine Unterschriftenkampagne gegen die von der rot-grünen Bundesregierung geplante doppelte Staatsbür- gerschaft einzuleiten und daraufhin kurz nach der Niederlage der Union bei der Bundestagswahl und dem bitteren Ende der langen Ära Kohl einen furio- sen Wahlsieg eingefahren. Ausgangspunkt für seinen überraschenden Sieg war ohne Zweifel seine Anti-Ausländerkampagne gewesen, auf die die Grünen, sonst selbst durchaus plebiszitären Elementen zugeneigt, keine Antwort ge- wusst hatten. Sie und mit ihnen weite Teile der ihnen ohnehin emotional na- Schnelles Ende des innerministeriellen Honeymoons 125 hestehenden Massenmedien sprachen von populistischer Kampagnenpolitik und geißelten Kochs Unterschriftenlisten heftig. Joschka Fischer, der in Hes- sen, in Frankfurt am Main politisch sozialisiert worden war und die Vorgänge genau verfolgte, reagierte im Amt auf seine Weise. Am 15. Oktober 1999 legte der sogenannte »Plurez-Erlass 4083« die zukünftigen Verfahrensregeln bei der Vergabe von Visa fest. Im Sinne einer Öffnung, im Sinne einer zukünftigen Erleichterung der Einreise. Sollte Koch seine Kampagne weiter fahren, so er- folgte jetzt vom AA der Konter auf diese landespolitische Initiative. Die Anweisung an die – dem Titel des Erlasses entsprechend – untergeord- neten diplomatischen Vertretungen der Bundesrepublik, vor allem an die Ge- neralkonsulate und Auslandsvertretungen in Osteuropa, in Baku, Bukarest, Kiew, Minsk, Nowosibirsk, Saratow, Sofia, St. Petersburg, Tiflis und Moskau lautete jetzt: »Wird im Rahmen des Visumverfahrens für einen Kurzzeitauf- enthalt in der Bundesrepublik Deutschland ein Carnet de Touriste (Reise- schutzversicherung des ADAC) vorgelegt, so soll die Auslandsvertretung in der Regel auf die Vorlage aller weiteren Unterlagen zum Zweck der Reise (z.B. Hotelbuchung), zur Finanzierung (einschl. für den Krankheitsfall) sowie im Regelfall auf weitere Nachweise zur Rückkehrbereitschaft verzichten«, wie man dem Protokoll der 17. Sitzung des Visa-Untersuchungsausschusses vom 20. April 2005 entnehmen kann. Mit einem Wort: die Einreise aus Osteuropa in die Bundesrepublik und damit in den Wirtschaftsraum der EU wurde dadurch massiv erleichtert. Zugleich wurde jetzt der Reiseschutzversicherung eine Schlüsselrolle zugewiesen – und einer besonderen Form der »Beschaffungs- kriminalität« Tür und Tor geöffnet. Wer im Besitz einer solchen Reiseschutz- versicherung war, wer dafür viel Geld an dubiose Vermittler zahlen konnte und zahlen musste –, der hatte das gelobte Land fast schon erreicht. Die deutschen Generalkonsulate merkten die Auswirkungen dieses Erlasses sofort. Der Druck in den Warte- und Vorzimmern nahm zu. Sie füllten sich immer stärker. Die Prüfzeiten für einzelne Anträge wurden zwangsläufig immer geringer. Zurückweisungen wurden von den Betroffenen immer zor- niger aufgenommen. Aber es gab tatsächlich noch Zurückweisungen – nicht nur bei Messebesuchern, beim Wissenschaftleraustausch, auch bei geplanten Krankenhausaufenthalten. Für einen grünen Politiker möglicherweise unfass- bar – und der Rechtslage geschuldet. Deshalb erfolgte von Seiten des Ministe- riums jetzt ein höher angesiedelter, sogenannter »Omnez-Erlass«, der nun für alle diplomatischen und berufskonsularischen Vertretungen gelten und am 3. März 2000 in Kraft treten sollte – der »Volmer-Erlass«, benannt nach dem grü- nen Staatsminister im Auswärtigen Amt und MdB Ludger Volmer, der aber an 126 »Operation Hinkelstein«: Auftakt im Verborgenen dem Erlass kaum nennenswerten Anteil gehabt hatte. Weshalb der Erlass denn auch bald und viel treffender »Fischer-Erlass« genannt werden sollte – denn der Erlass trug seine Unterschrift und nicht diejenige seines Staatsministers. Dieser Erlass – das »Koch-Trauma« saß tief – öffnete die administrative Schleuse nach Deutschland noch weiter. Sein berühmter Kernsatz lautete: »Nicht jeder Zweifel an der Rückkehrbereitschaft, sondern erst die hinrei- chende Wahrscheinlichkeit der fehlenden Rückkehrbereitschaft rechtfertigt die Ablehnung eines Besuchsvisums. Wenn sich nach pflichtgemäßer Abwä- gung und Gesamtwürdigung des Einzelfalls die tatsächlichen Umstände, die für und gegen eine Erteilung des Besuchsvisums sprechen, die Waage halten, gilt: ›in dubio pro libertate‹« – im Zweifel für die (Reise-)Freiheit. Nicht mehr wie zuvor »in dubio pro securitate«. Im Zweifel für die nationale Sicherheit und gegen den Einreiseantrag. Der Ermessensspielraum der deutschen Vertretungen wurde damit weiter beschnitten, jegliche Ab- oder Zurückweisung massiv erschwert. Lag die Be- weislast zuvor beim Antragsteller eines Visums, dass er finanziell abgesichert sei und auf drei Monate befristet in den Raum der EU einzureisen beabsich- tige, wurde die Beweislast durch den Fischer-Erlass jetzt umgedreht. Um einen Antrag abweisen zu können, mussten die deutschen Diplomaten vor Ort un- lautere Absichten nachweisen. Nur wer im Ausländerzentralregister (AZR) oder im Schengener Informationssystem (SIS) als kriminell oder – schon bald, nach dem 11. September 2001 – als potentieller Terrorist erfasst worden war, konnte von vornherein zurückgewiesen werden. Gewiss sollte der angegebene Besuchszweck einleuchten und auch die Rück- kehrbereitschaft wahrscheinlich sein – aber wer wollte derlei bei einem Drei- monats-Visum tatsächlich wirksam kontrollieren? Gewiss gab es Forderungen aus dem Bereich der Wirtschaft nach einer Liberalisierung des Zuzuges, und die Mitglieder des Menschenrechtsausschusses im Bundestag, allen voran Clau- dia Roth, dankten dem Minister und seinem Staatsminister Volmer über- schwänglich. Auch die Presse bis hin zur F. A. Z. registrierte wohlwollend »Mehr Kulanz in der Vergabepraxis«, schließlich sollten nach dem Zerfall der Sowjet- union und dem Verschwinden des Eisernen Vorhangs auch jene von Reisefrei- heit und Freizügigkeit profitieren, die sie so lange hatten entbehren müssen. In den osteuropäischen Konsulaten schwoll der Strom der Antragssteller jedoch immer stärker an. Durchschnittliche Prüfungsdauer für einen Antrag: ein bis zwei Minuten. Die Schleuserkriminalität nahm rapide zu, das sich öff- nende Geschäftsfeld wirkte einfach zu verlockend. Illegale Arbeitskräfte aus der Ukraine und anderen ehemaligen Ostblockstaaten, die über die deutsche »In dubio pro libertate« 127

Botschaft eingereist waren, wurden bald in Spanien und Portugal aufgegriffen. Innerhalb der rot-grünen Bundesregierung machte der ähnlich wie Fischer überaus machtbewusste, ehemals grüne, nunmehr auf dem SPD-Ticket als Bundesinnenminister im Kabinett sitzende Otto Schily dem Außenminister die Hölle heiß. Sofort nach Bekanntwerden des »Fischer-Erlasses« rügte er scharf, sein Haus sei bei der Formulierung nicht eingebunden worden. Im In- nenministerium vertrete man die Auffassung, der Erlass sei in weiten Teilen rechtswidrig. Aber Fischer setzte sich durch. Der Erlass blieb in Kraft. Hinzu kam, dass die Anweisung mit massiven Einsparungen im Haushalt des Ressorts zusammenfiel. Bis 2003 sollte das Auswärtige Amt fast eine halbe Milliarde einsparen. Fischer hatte daher die Tarifverträge der Mitarbeiter in den Botschaften vor Ort zum 1. April gekündigt und verfügt, dass ab April 2000 jeweils nur noch neue Verträge zu den Konditionen des jeweiligen Gast- landes abgeschlossen werden dürften. Der Leiter der Abteilung 1/Zentralabteilung Heimo Richter erhielt die An- weisung, die Kündigung umgehend allen diplomatischen und konsularischen Vertretungen im Ausland als »notwendige Maßnahme im Rahmen der Ein- sparaktion der Bundesregierung für den Haushalt 2000« zur Kenntnis zu brin- gen und darauf hinzuweisen, dass anders die unmittelbar erforderliche Einsparung von 270 Millionen im Haushaltsjahr nicht zu erreichen wäre. Der Leitungsebene musste klar sein, dass das für die 569 deutschen und 761 nicht deutschen Ortskräfte unter den 4.596 an den Auslandsvertretungen Beschäf- tigten soziale Härten und Einbußen bedeuten würde. Besonders für die nun durch den Visa-Erlass ja besonders geforderten Teams in den osteuropäischen Staaten. Die Nettogehälter in Moskau lagen für deutsche Beschäftigte zwischen 2.500 und 2.800 Mark. Russen, die an der deutschen Botschaft und den deut- schen Konsulaten in ihrem Land beschäftigt waren, bekamen weniger als die Hälfte. Damit sollten sich nun offenbar zukünftig auch ihre deutschen Kol- legen bescheiden. Helmut Bauche, der Sprecher der Vereinigung Deutscher Auslandsbeamter, wies in einem Schreiben an den Amtschef sogleich auf die Problematik hin: »In Moskau wird man in diesem Sommer wahrscheinlich schon nicht mehr in der Lage sein, die dringend benötigten Arbeitskräfte wie bisher aus dem Pool der Ehepartner zu gewinnen, da diese bei Bekanntwerden des Rund- erlasses ihre Bewerbung zurückgezogen haben.« Auch Studenten, die in den Semesterferien stets gern gesehen und preiswerte Hilfskräfte an der Botschaft in Moskau gewesen wären, hätten bereits abgesagt, 128 »Operation Hinkelstein«: Auftakt im Verborgenen wie DIE WELT am 15. März 2000 unter der Überschrift »Joschka Fischer kündigt Tarifverträge« ebenfalls noch zu vermelden wusste. Im Ministerium selbst begann es zu brodeln. Das war für das Auswärtige Amt neu. Die besonders betroffenen deutschen Botschafter und Geschäfts- träger, die das Chaos vor Ort, die Wellen der Emotionalität, aber auch die ge- fährlichen Situationen in Folge des Massenansturms zusammen mit ihren Mitarbeitern unmittelbar miterlebten, begannen schwere Bedenken und Ein- wände gegen den Erlass vorzubringen. Dr. Ernst-Jörg von Studnitz, der Bot- schafter in Moskau, machte wohl den Anfang. Studnitz zeigte, was im Amt lange vermisst worden war: Zivilcourage. Seine Kritik fiel so heftig aus, dass fortan in der Berliner Zentrale von »Moskau als dem Herz und Hort des deut- schen Widerstandes« gegen den Fischer-Erlass gesprochen wurde, wie Damir Fis und Sigrid Averesch in der Berliner Zeitung vom 21. April 2005 unter der bezeichnenden Überschrift »Es waren wirklich haltlose Zustände« der Leser- schaft mitzuteilen wussten. Unter der Verantwortung von Botschafter Studnitz war der Erlass in Mos- kau lange weitgehend ignoriert worden. Man hatte dort neben dem Carnet de Touriste und dem Reiseschutzpass nach weiteren Unterlagen und Informa- tionen gefragt, bevor man ein Visum ausstellte – was ja der Erlass gerade hatte ausschließen und verhindern wollen. Studnitz war es auch, der im März 2005 im Vorfeld des Visa-Untersuchungsausschusses, mittlerweile im Ruhestand, dem SPIEGEL gegenüber offen aussprach, was ein Teil der deutschen Spit- zendiplomaten Fischer vorwarf: »Es war der Versuch, grüne Politik in praktische Politik umzusetzen. Für Joschka Fischer gab es nach seinem Amtsantritt wenige Möglichkeiten, grüne Außenpolitik zu machen. Jeder neue Außenminister macht die Er- fahrung, dass es für Parteipolitik kaum Spielraum gibt. Fischer hat es trotz- dem versucht. Zum ersten Mal, als er im November 1998 den Verzicht der nuklearen Erstschlagkapazität der NATO forderte, was misslang. Die neuen Visaregeln im Jahr 2000 waren ein neuer Anlauf …« 26 Der Versuch, grüne Politik in die Visa-Praxis umzusetzen, wurde auf dem Rü- cken der betroffenen Botschaften ausgetragen. Der aufkommende Protest der Missionschefs vor Ort bewirkte nichts. Ob er Fischer nicht erreicht hatte? Von Studnitz bezweifelt das: »Offenbar hat man im Amt die Augen vor der Realität verschlossen, als die ersten Probleme auftauchten. Das Phänomen gibt es ja oft, wenn ideologi- sche Elemente in die Politik einfließen. Ob Fischer nichts von den War- nungen und Hilferufen aus den Botschaften erfahren hat? Das halte ich für Rebellion gegen den Fischer-Erlass 129

Dr. Ernst-Jörg von Studnitz, Deutscher Botschafter in Moskau 1995–2002

schwer vorstellbar. Die Visapolitik war ein Dauerbrenner für die deutschen Vertretungen in Osteuropa. Ich war nicht der einzige Botschafter, der im Jahr 2000 die Berichte mit den Bedenken gegen die neuen Visaregeln selbst abgezeichnet hat. Trägt ein Bericht die Paraphe des Botschafters, wird er dem Staatssekretär vorgelegt – und oft auch dem Minister selbst. Letztlich ist die Frage aber nicht entscheidend. Denn ein Minister steht immer in der Verantwortung. Entweder Fischer hat von den Problemen gewusst und nicht reagiert – oder die Abläufe in seinem Haus waren so unzureichend organisiert, dass brennende Themen nicht bei ihm ankamen. Dann ist das Organisationsversagen gleichfalls dem Minister anzurechnen. Dass der Mi- nister davon spricht, die politische Verantwortung zu übernehmen, ist so lange eine leere Geste, solange sich nicht konkrete Folgen anschließen …« (DER SPIEGEL 12, 21. März 2005, S.32). Was von Studnitz damit im Frühjahr 2005 meinte, war klar: Er hielt einen Rücktritt von Fischer für überfällig. Damit stand er nicht allein. Ihm zur Seite trat der ehemalige Botschafter und BND-Chef Hans-Georg Wieck, der kurz darauf mit ähnlicher Stoßrichtung öffentlich erklärte: »Das nationale und internationale Ansehen des Auswärtigen Amtes hat durch die Visa-Affäre, die ja alle am Schengen-Verfahren beteiligten Staaten betrifft, schon jetzt Schaden genommen. Die Affäre zeigt, dass der Minister Fischer die fachliche Kompetenz der Diplomaten übergeht. Man muss sich 130 »Operation Hinkelstein«: Auftakt im Verborgenen

fragen, ob sich die Bundesrepublik auf Dauer einen solchen Zustand er- lauben kann, wenn dadurch die Handlungsfähigkeit des gesamten Amtes beeinträchtigt wird.« Ähnlich äußerte sich Hagen Graf Lambsdorff, zur Zeit des Volmer/Fischer- Erlasses Botschafter in Prag. Er sprach von »katastrophalen Folgen der Politik Fischers« und einer »Riesenblamage für die deutsche Außenpolitik«.27 Wir sollten das im Hinterkopf behalten, wenn wir den Fortgang der innerminis- teriellen Ereignisse betrachten und wieder zu unserem Ausgangspunkt zurück- kehren, den Visa-Problemen 1999/2000. Tatsächlich war von Studnitz mit seinem Zorn damals nicht allein geblieben. Ihm zur Seite sprang Irene Kohl- haas in Chisinau, die – das war nicht ohne Pikanterie – bereits die von der Vorgängerregierung Kohl eingeführten Liberalisierungen vor allem gegenüber osteuropäischen Juden öffentlich moniert hatte. »Es kommen zu viele und oft die Falschen!« hatte DER SPIEGEL am 27. Mai 1996 unter der Überschrift »So leise wie möglich« vermeldet. Und dabei berichtet, dass Fischers Vorgänger Kinkel auch gegen eine Lockerung der Visa-Vergabe votiert hatte. Umso bemerkenswerter natürlich jetzt der Kurswechsel unter Joschka Fischer, mit dem sich immer mehr deutsche Diplomaten nicht abfinden mochten. Der Nachfolger von Irene Kohlhaas, Michael Zickerick, gehörte wohl gleich- falls zu den entschiedenen Kritikern wie seine Kollegen in Eriwan und Isla- mabad, Volker Seitz und Hans-Joachim Daerr. Oder Dietmar Stüdemann, dessen Mitarbeiter in Kiew eine ganz besondere Last zu tragen hatten, bis an den Rand der physischen wie psychischen Erschöpfung arbeiteten und sich von der Zentrale in Berlin regelrecht im Stich gelassen fühlten, weil gerade in ihren Amtsräumen der Druck bis in die Gefahrenzone tätlicher Auseinander- setzungen hinein zugenommen hatte – wie Botschafter Stüdemann später, im Frühjahr 2005, dem Bundestags-Untersuchungsausschuss anvertrauen sollte. Aus Baku kam die Kritik von Dr. Christian Siebeck, aus Bukarest von Dr. Wolfgang Schilling, einem ehemaligen Adlatus Willy Brandts, aus Minsk von Dr. Horst Winkelmann und schließlich sogar noch aus dem fernen Rabat von Dr. Hans Dieter Scheel. Auch Immo Stabreit, Jahrgang 1933, seit 1962 im Auswärtigen Amt, von 1983 bis 1987 in Kohls Kanzleramt, später dann Bot- schafter in Washington und einer der »Granden« des Dienstes, von 1998 bis 2002 übrigens geschäftsführender Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, soll sich ausgemacht kritisch zu Fischers Politik geäu- ßert haben, was im Amt natürlich sofort die Runde machte. Kurzum, eine Vielzahl von höherrangigen Diplomaten äußerte jetzt massiv Kritik – aber sie taten es intern, in Briefen, E-Mails und Depeschen. War das Schleuserprozess in Köln: Debakel für den Ressortchef 131 nun erstmals eine regelrechte Welle der Zivilcourage oder reine Unbotmäßig- keit? War das für einen deutschen Beamten vertret- und wünschbar als Reak- tion oder reine Renitenz und obendrein wegen der gegen die grün-großzügige Einwanderungspolitik gerichteten Stoßrichtung schlicht weg reaktionär und inakzeptabel? Für Fischer galt wohl Letzteres. Wie verhielt sich die Spitze des Amtes in dieser heiklen Frage? Die Staats- minister Ludger Volmer von den Grünen und Christoph Zöpel von der SPD – der ohnehin sehr diskret wirkte und dessen Mitgliedschaft im SPD-Bundes- vorstand in jener Zeit kaum wahrgenommen wurde –, der im September 1999 dem als EU-Kommissar nach Brüssel wechselnden Günter Verheugen ins AA nachgefolgt war, legten ihrem Minister ohnehin keine Steine in den Weg. Aber das taten, jedenfalls nach allem, was wir bis heute wissen, auch die beamteten Staatssekretäre nicht, weder Dr. Hans-Friedrich von Ploetz noch – und weit gewichtiger – Wolfgang Ischinger. Vielleicht wäre sonst manches anders ge- kommen. So aber fraß sich zunächst für die Öffentlichkeit gänzlich unsichtbar der »Spaltpilz« durch die interne Statik des Auswärtigen Amtes. Es tat sich eine wachsende Kluft auf zwischen dem Minister und der Leitungsebene auf der einen, den Diplomaten draußen und drinnen auf der anderen Seite. Die Visa-Affäre schwelte zunächst intern vor sich hin. Wirklich offen brach sie erst aus, als die Große Strafkammer des Landgerichts Köln am 9. Februar 2004 den 39 Jahre alten Mathematiker Anatoli Barg zu fünf Jahren Haft ver- urteilte – »wegen bandenmäßiger Menschenschleusung«, einem bis dahin in Deutschland nicht sonderlich oft vor Gerichtsschranken verhandelten Straf- tatbestand. Der Vorsitzende Richter gab in der Verhandlung allerdings zu Pro- tokoll, dass die Strafe eigentlich doppelt so hoch hätte ausfallen müssen, aber man dem Angeklagten strafmildernd zu Gute halten wolle, dass das Auswär- tige Amt und partiell auch das Innenministerium »durch schweres Fehlver- halten« den Straftaten massiv Vorschub geleistet hätten. Das hatte es in der deutschen Rechtsgeschichte noch niemals zuvor gegeben. Der inzwischen aus dem Amt ausgeschiedene Ludger Volmer verlegte sich denn auch sogleich auf persönliche Polemik, als er fragte, ob der Richter nicht eine Art »Rachengel« gewesen sei, weil ihm vor Jahren eine Position im Mi- nisterium verwehrt worden sei. Inzwischen waren jedoch die fundamentalen Schwächen des von Fischer initiierten, von Volmer auf den Weg gebrachten Erlasses »514-51« offen zu Tage getreten. »In dubio pro libertate«, das hatte eben auch geheißen, dass viele Tausende gefälschter Einladungen – wie das Kölner Gericht nun feststellte – von den Schleuserbanden in Umlauf gebracht und eingesetzt worden waren. Für kleines Entgelt – die Rede war von 50 132 »Operation Hinkelstein«: Auftakt im Verborgenen

Mark – hatten sich diese Kriminellen bei deutschen Drogensüchtigen oder Stadtstreichern entsprechende Unterschriften besorgt. Die gut gemeinte Liberalität von Außenminister Joschka Fischer sei – so der Richter im Kölner Verfahren – »offensichtlich zum Bumerang« ge worden. Besonders die Botschaft in Kiew war zu einem weit offenen Einfallstor gewor- den. Allein 2001 hatte dort die kaum vorstellbare Zahl von 300.000 Einrei- seanträgen bearbeitet werden müssen. Etwa ein bis zwei Minuten standen pro Antrag an Prüfungszeit zur Verfügung. Lediglich drei bis sechs Prozent der Anträge wurden abgelehnt, so wenige wie nirgendwo sonst. Trotz immer wie- der vorgebrachter Warnungen von Bundeskriminalamt und Bundesgrenz- schutz habe sich bis 2003 keine Änderung dieser Praxis erreichen lassen, weil Fischers Auswärtiges Amt und das Innenministerium ihren Segen zur neuen Regelung gegeben hatten. Das sei, so der Richter Ulrich Höppner im Kölner Verfahren, »so etwas wie ein kalter Putsch der politischen Führung gegen die bestehende Gesetzeslage« gewesen. Bei den Ermittlungen habe sich die Berliner Behörde zudem wenig kooperativ gezeigt. Neun Monate habe man bei der Staatsanwaltschaft warten müssen, bis eine Stellungnahme des Auswärtigen Amtes endlich eintraf, be- klagte der Kölner Oberstaatsanwalt Egbert Bülles. »Die hatten nichts Besseres zu tun, als den Gang der Hauptverhandlung zu stören«, monierte auch Richter Höppner. So habe die grüne Amtsleitung in Berlin Aussagegenehmigungen für ihre Beamten mit dem Hinweis abgelehnt, Mitarbeiter von der Kiewer Botschaft seien von der Mafia bedroht worden. Wovon die betreffenden Be- amten, als sie dann doch vorgeladen werden konnten, um als Zeugen auszu- sagen, nie etwas gehört haben wollten. Übrigens auch nicht von den – angeblichen – Warnungen von Polizei und Grenzschutz. »Glatt gelogen« war das also gewesen, was da aus Berlin an Hinweisen vorgebracht worden sei, stellte der Richter fest – und DER SPIEGEL widmete all dem schon bald da- rauf am 16. Februar 2004 eine ausführliche Geschichte unter der bezeichnen- den Überschrift »Kalter Putsch«. Tatsächlich sollte aber noch fast exakt ein Jahr vergehen, bis ein Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages das Thema aufgriff. Die rot-grüne Regierung hatte lange erfolgreich hinhal- tenden Widerstand geleistet. Bis es soweit war, hatte sich das Verhältnis zwi- schen dem grünen Minister und dem Gros seiner höheren Beamten weiter verschlechtert. Joschka Fischer hat im 2013 unter dem Titel Gegen den Strom in Buchform erschienenen langen Gespräch mit Fritz Stern sehr offen über seine Eindrücke und Erfahrungen in der Zeit von 1998 bis 2005 im Auswärtigen Amt berich- »Kulturkampf 1938 gegen 1968« 133 tet, dabei diese Konfrontationen keineswegs ausgespart, sondern sehr freimütig etwa auf Seite 50 Folgendes gesagt: »Plötzlich stand ich in einem Kulturkampf 1938 gegen 1968. Da habe ich allerdings gesagt: Ja, wenn ihr den wollt, Freunde, dann könnt ihr den haben. Als dann die Visa-Affäre hochkochte, ging’s richtig los. Da dachten die wohl, jetzt haben wir ihn. Ohne diese ganze Visa-Affäre hätte die Frage der Nachrufe wohl niemals eine solche Wirkung entfaltet. Das habe ich mir alles ein Weilchen angeguckt, dann hatte ich die Faxen dicke und habe diese Kommissionsidee ausgebrütet. Mir war klar, dass ich da meinen letz- ten Stein in die Luft werfe, der lange in der Luft sein würde, sich während des Fluges aber auf wundersame Weise verändern und am Ende als Hin- kelstein auf die römischen Legionäre niedergehen würde. Mir war zugleich klar, dass ich den Einschlag, das Erscheinen des Kommissionsberichtes selbst, nicht mehr im Amt erleben würde.« Das »Ausbrüten« der Kommissionsidee – war das also tatsächlich der Auftakt zur ministeriellen Diplomatenjagd? Ja. Denn auf die Anschlussfrage von Fritz Stern, was ihn so sicher gemacht habe, dass es zu einer »Verurteilung« komme, er habe ja nicht von vornherein wissen können, zu welchen Ergebnissen die Historikerkommission gelangen würde – antwortete Joschka Fischer ebenso freimütig wie siegessischer: »Ich ging fest davon aus, dass es so kommt. Ich kannte ja schließlich die Bücher von Hans-Jürgen Döscher …« »Ich ging fest davon aus, dass es so kommt.« Eine Recherchearbeit, bei der das Ergebnis für den Auftraggeber offenbar von vornherein feststeht. Festste- hen musste. So etwas wie eine »self-fulfilling prophecy«. Die winzige Eizelle der Unabhängigen Historikerkommission und ihre geschichtspolitische Stoß- richtung zeigt sich erstmals in unserem Reagenzglas. Ihr Werk wird sich in einen Hinkelstein verwandeln, der die Legionen des konservativen Imperiums zertrümmern soll. Miraculix, bzw., wenn man optische Maßstäbe anlegt, wohl eher Obelix Fischer darf selber zu Beginn gleich den Zaubertrank mischen und bekennt das hier ganz offen. Er tut das übrigens in Begleitung seines be- währten und vertrauten Lektors und Moderators Thomas Karlauf, der 2007 eine minutiös recherchierte umfassende George-Monographie vorgelegt und schon den Kom missionsbericht redigiert hatte. Doch noch ist das Ei der Kom- mission nicht ausgebrütet. Erst müssen Visa- und Nachruf-Affäre sich vermi- schen, um die nötige Dynamik für die Einsetzung der Unabhängigen Historikerkommission zu entfalten. 134

Die Iden des März: Der »Meister der Mumien« meldet sich zu Wort

Joschka Fischer hatte als neuer Minister mit einiger Verzögerung begonnen, personalpolitische Akzente zu setzen und die Personalstruktur im AA in seinem Sinne partiell umzugestalten. Erst sollte sich »seine« Behör de wohl an ihn und seinen verblüffenden Wandel vom Sponti zum Staatsmann gewöhnt haben. Trotz des inzwischen ausgerufenen Sparzwanges verfügte er dann allerdings Ende 1999, dass – dem Antrag der Regierungsfraktionen entsprechend – vier Personalstellen im höheren Dienst neu geschaffen und mit drei SPD-Frakti- onsangehörigen und einem langjährigen Mitarbeiter der Friedrich-Ebert-Stif- tung besetzt würden. Der Protest des Personalrates dagegen, der ihm in einem Offenen Brief vorwarf, die »Behörde als Abschiebebahnhof für Versorgungs- fälle« zu missbrauchen, verhallte wirkungslos. Im Kommissionsbericht werden diese Aktivitäten des Ministers aus jener Phase, als er noch nicht für die dunklen personal politischen Schatten seines Hauses sensibilisiert und darüber zum »Auf- klärer« geworden war, durchaus kritisch bewertet. So heißt es wörtlich: »Anstatt der Ämterpatronage in seinem Haus einen Riegel vorzuschieben, stellte der Minister nun selbst personalpolitische Weichen. Nach und nach besetzte er wichtige Positionen mit Vertrauten, darunter auch politische Weggefährten aus seiner Zeit als Aktivist im Frankfurter Häuserkampf«.28 Unter den von ihm mitgebrachten Außenseitern und »Quereinsteigern« waren solche, die den Unmut der Laufbahnbeamten auf sich zogen. Dazu gehörte etwa Georg Dick, den Fischer 1983 in Frankfurt als Journalist beim Pflaster- strand kennengelernt und zum Pressereferenten im Bundestag sowie ab 1985 zum Pressesprecher in seinem Hessischen Ministerium für Umwelt und Ener- gie gemacht hatte. Danach war Dick bis 1998 nacheinander Pressesprecher der Grünen im Hessischen Landtag, Stellvertretender Regierungssprecher der Hessischen Landesregierung und zuletzt Abteilungsleiter in der Hessischen Staatskanzlei gewesen. Nach Fischers Amtsantritt wurde er zum Leiter des Pla- nungsstabes des Auswärtigen Amtes ernannt, 2000 ging er als Nachfolger von Horst Pahlenberg als Botschafter der Bundesrepublik nach Chile. Noch unter Joschka Fischer gerät medial unter Beschuss 135

Fischer kehrte er 2003 in die Zentrale nach Berlin zurück, wo er von Joachim Schmillen erneut die Leitung des Planungsstabes übernahm, während dieser wiederum nach Chile wechselte. 2006 wurde Dick zum Ministerialdirektor befördert. Der bereits erwähnte Schmillen, ebenfalls ein enger Mitarbeiter des Ministers und Vizekanzlers, war von 1998 bis 2000 sein Büroleiter, anschlie- ßend als Nachfolger von Dick Leiter des Planungsstabes. 2003/2004 holte Fischer, wenn auch eher widerwillig, Claudia Roth als Beauftragte der Bun- desregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe ins Auswärtige Amt. Ganz besonderen Unmut der altgedienten Diplomaten weckte aber eine an- dere Personalentscheidung. Das war Fischers persönlicher Entschluss, Joscha Schmierer als »einen sehr guten Analytiker Europas« – so Fischer in seinem Ge- spräch mit Fritz Stern 29 – in den Planungsstab des Auswärtigen Amtes zu holen. Schmierer war Erster Sekretär des Kommunistischen Bundes Westdeutschlands gewesen und hatte dem kambodschanischen Massenmörder Pol Pot einst eine Grußadresse geschickt. Der Unmut der altgedienten Diplomaten brach zum ersten Mal im März 2001 auf. Er brach geradezu modellhaft auf über jene Um- wege, wie sie auch für all die Konflikte typisch werden sollten, welche im Mit- telpunkt dieses Buches stehen. Er brach auf über jene, die nicht mehr im Apparat des AA in Amt und Würden waren, die Pensionäre, die sich aber dem Amt wei- terhin eng und aktiv verbunden fühlten, durch ein engmaschiges, gut funktio- nierendes Netzwerk mit ihm verknüpft waren und sich durchaus selbstironisch »Die Mumien« nannten. Bald nannten sie auch die allmählich beteiligten Jour- nalisten so und natürlich ihre Gegner bis hin zum Minister, zu Joschka Fischer. Dieser dann aber mit einem ausgesprochen verächtlichen Unterton. Weshalb wurden die »Mumien« aktiv? Weil sie die Buschtrommeln der alten Amtsverbindungen hörten. Aber auch, weil sie Zeitungen und Illustrierte lasen. Anfang 2001, kurz vor der Amtseinführung von Präsident George W. Bush in Washington, geriet Außenminister Fischer unerwartet heftig und be- drohlich »under fire«. Fast schien es so, als ob er von seiner Vergangenheit ein- geholt werde. Anfang Januar hatte Bettina Röhl, die Tochter von Ulrike Meinhof, dem Stern Presse-Fotos aus dem Jahr 1973 zugeleitet. Sie zeigten be- helmte Demonstranten, die auf Polizisten einprügelten – was in Deutschland eher ungewöhnlich war, meist verhält es sich ja andersherum. Der Stern pu- blizierte am 4. Januar fünf davon und löste ein internationales Medienecho aus. Bettina Röhl identifizierte nämlich auf diesen Bildern Joschka Fischer als einen der behelmten Schläger und warf ihm Heuchelei und mangelhafte Be- reitschaft zur »Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit« vor. 136 »Operation Hinkelstein«: Der »Meister der Mumien« meldet sich zu Wort

Konfrontation mit der Staatsmacht: Joschka Fischer und ein Polizeibeamter 1973

Mit den Bildern aus seiner Frankfurter »Spontizeit« konfrontiert, stritt Fischer den Sachverhalt nicht ab, aber als er sich am 17. Januar 2001 im Bundestag rechtfertigen musste, tat er das ziemlich arrogant, oberflächlich und feixend mit eher kläglichen Auslassungen. Auf die Frage des CDU-Abgeordneten Mar- tin Hohmann: »Sie können also ausschließen, dass Sie Menschen mit Stein- würfen getroffen oder verletzt haben?« antwortete er: »Mir ist davon nichts bekannt. Es müsste mir bekannt sein, wenn ich es bejahen soll.« Das war ge- nauso lächerlich wie seine Verlautbarung, er habe »die Steine in die Luft ge- worfen«, also mit Wurfgeschossen nicht auf Menschen gezielt. Das Protokoll vermerkt an dieser Stelle »Heiterkeit bei der SPD und dem Bündnis 90/Die Grünen« und ausdrücklichen Beifall des PDS-Abgeordneten Uwe Kisch. Bun- deskanzler Schröder amüsierte sich gleichfalls köstlich. Heiter blieb die Stim- mung, als Joschka Fischer vor dem Parlament feststellte: »Ich habe niemals Molotowcocktails geworfen und ich habe auch nicht dazu aufgerufen, Molo- towcocktails zu werfen …« Aber das war wohl nicht die ganze Wahrheit, die Fischer hier enthüllte. Er entschied sich zu dieser höchst fragwürdigen Aussage, weil er darauf vertraute, dass niemand seiner alten Kampf- und Weggefährten jemals gegen ihn auftreten und aussagen würde. OPEC-Prozess in Wien 137

Auch Angela Merkel, die damalige CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende, griff in die Debatte ein, wie ihre Biographin Evelyn Roll eher beiläufig und ohne weiterführende Kommentierung mitteilt. Sie sagte in der gleichen Sitzung di- rekt an die Adresse von Fischer gerichtet: »Herr Vizekanzler, ich erwarte von Ihnen nicht nur, dass Sie sich für das Werfen von Steinen auf einen konkreten Menschen entschuldigen. Ich er- warte von Ihnen vielmehr auch, dass Sie sagen: Ich hatte in der damaligen Zeit eine total verquere Sicht von der Bundesrepublik Deutschland. Ich habe mich geirrt. Ich habe eine falsche Sicht gehabt. Das war überhaupt nicht die richtige Sicht. Und ich habe deshalb Buße zu tun und dies anzu- erkennen.«30 Natürlich verhallte dieser Appell gänzlich folgenlos. Fischer hatte damals al- lerdings noch gravierendere Probleme. Die »Fragestunde« im Bundestag fiel beinahe zusammen mit seinem Auftritt als einem der letzten Zeugen im so- genannten OPEC-Prozess in Wien, bei dem mit Hans-Joachim Klein ein Mit- bewohner seiner Wohngemeinschaft aus Frankfurter Tagen sich vor Gericht verantworten musste und am Ende zu neun Jahren Haft verurteilt werden sollte, von denen er allerdings nur drei abzusitzen brauchte. In diesem Prozess hat Fischer am 16. Januar 2001 ausgesagt. Klein war ein enger Vertrauter von ihm gewesen, Mitglied der »Revolutionären Zellen«, jener Organisation, deren Anhänger im Auftrag der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) Ende Dezember 1975 in Wien das Hauptquartier der Organisation Ölexportieren- der Länder (OPEC) überfallen und mehrere Erdölminister und deren Mitar- beiter als Geiseln gefangen genommen hatten. Anführer der sich selbst als Arm der arabischen Revolution bezeichnenden Gruppe war Illich Ramirez Sanchez, der sich auch Carlos oder der »Schakal« nannte. Ihm zur Seite stand Klein, der bei dem blutigen Überfall einen Bauchschuss abbekommen hatte, aber wie die anderen Terroristen freies Geleit erhielt und nach Libyen ausge- flogen worden war. Ein halbes Jahr später entführte die gleiche Gruppe ein Flugzeug der Air France nach Uganda. Unmittelbar bevor eine israelische Sondereinheit die Entführung in Entebbe beendete und die Geiseln befreite, hatten die Terro- risten unter der Anleitung des Deutschen Wilfried Böse damit begonnen, die jüdischen von den sonstigen Passagieren zu trennen, zu »selektieren«, um die Exekution dieser Geiseln vor allen anderen vorzubereiten, falls ihren Forde- rungen nicht nachgekommen werden sollte. Unter dem Eindruck dieser Er- fahrung sollte Hans-Joachim Klein sich von der Gruppe lossagen und in Frankreich untertauchen. Joschka Fischer war nicht so weit gegangen wie 138 »Operation Hinkelstein«: Der »Meister der Mumien« meldet sich zu Wort

Klein. Doch er hatte enge Verbindungen in eine Szene gehabt, wo die Grenzen zum Terrorismus fließend geworden waren und manche seiner Wegbegleiter sie überschritten. In jenem Januar im Jahre 2001 kam diese problematische Vergangenheit Fischers auf seltsame Weise an mehreren Punkten wieder zum Vorschein – und zwar dergestalt, dass sie jedem politisch Interessierten und nicht zuletzt auch einem pensionierten Diplomaten wie Erwin Wickert schwerlich verbor- gen bleiben konnte. Auf den »Fall Schmierer« waren alle Leser der F. A. Z. spätestens am 31. Ja- nuar 2001 aufmerksam gemacht worden durch einen ganzseitigen Artikel aus der Feder von Jochen Staadt. Den Verfasser wird die Historikerkommission in ihrem Bericht hämisch als »68er, der ins konservative Lager gewechselt war« (S.701) vorstellen. In der Tat hatte Staadt die Welt der K-Gruppen Ende der 60er Jahre selbst kennengelernt – und sich wie Fischer davon emanzipiert. Er war und ist Mitarbeiter im von Klaus Schroeder gemeinsam mit FU-Präsident Johann Wilhelm Gerlach ins Leben gerufenen Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität Berlin und kann als einer der profundesten Kenner lin- ker totalitärer Strukturen und Herrschaftstechniken im Lande gelten. Weshalb das von der Kommission mit dem wenig schmeichelhaften Etikett »konser - vativ« verbunden wird, erscheint nur dann rätselhaft, wenn man nicht weiß, dass sich Fischer über diesen Artikel von Staadt von 2001 stark echauffiert hat, nicht zuletzt, weil er ihm noch beträchtlichen Ärger bereiten sollte. Unter der Überschrift »Nicht unter 200 Anschläge pro Minute« hatte Staadt die tiefen Wurzeln der Grünen im kommunistischen Untergrund der Republik ausgegraben, jene Wurzeln, die sie selbst mittlerweile fast vollständig aus der öffentlichen Wahrnehmung auszulöschen vermocht hatten. Dabei haben die K-Gruppen am Ende ihres seltsamen Diffusionsprozesses Anfang der 80er Jahre vor allem bei einer Partei ihre politische Heimat und immer mehr gut dotierte Posten und Pöstchen gefunden: bei den Grünen. Und über die Grünen dann auch allmählich im von ihnen zunächst tief verachteten öf- fentlichen Dienst. Der Herkunftsanteil allein der K-Gruppen – also ohne die linke Sponti-Szene – bei den Grünen liegt, so Staadt, bis in die achtziger Jahre hinein bei etwa 25 bis 30 Prozent. Wichtigste dieser K-Gruppen war der Kom- munistische Bund Westdeutschland (KBW), der 1976 rund 2.700 Mitglieder umfasste und bundesweit in 400 Zellen organisiert war. Vor allem an einigen Hochschulen wie etwa der FU Berlin war ihr Ableger, die Kommunistische Hochschulgruppe (KHG) sehr aktiv. Die verkaufte Auflage des KBW-Wo- chenblattes Kommunistische Volkszeitung betrug 30.000 Exemplare. »Nicht unter 200 Anschläge pro Minute« 139

Die Führung dieser kommunistischen »Sekte« lag in den Händen einer kleinen Gruppe bezahlter Funktionäre, die »Ständiger Ausschuss« genannt und von einem Zentralen Komitee (ZK) gewählt wurde, dem 39 Mitglieder und 10 Kandidaten angehörten. Von 1973 bis 1983 stand an der Spitze des ZK Hans-Gerhart »Joscha« Schmierer, der sich Anfang der siebziger Jahre zur »Hyperautorität der KBW-Gründer in mauserte« (Jochen Staadt). Der KBW hatte seinen Mitgliedern erhebliche Mittel »abgepresst«, indem er sich Erbschaften und Vermögenswerte überschreiben ließ. Er verfügte über Immobilien in Frankfurt, Hamburg und anderen Städten sowie einen eigenen Fuhrpark von 52 neuen Saab-PKW. Die Führung herrschte mit strengem Re- giment: »Alle im Apparat beschäftigten Kader sind verpflichtet«, hieß es in einer Anweisung vom November 1976, »das Schreiben auf der Schreibma- schine zu erlernen. Sie sollen bis Weihnachten nicht unter 200 Anschlägen pro Minute gelandet sein.« Im Oktober 1977 – wir befinden uns im deutschen Herbst des Terrorismus, die CDU/CSU hatte gerade ein Verbot der K-Gruppen gefordert – inter- viewte das Frankfurter Spontiblatt Pflasterstrand, das schon Jahre früher Daniel Cohn-Bendits unsägliche »Kinderstreichel«-Texte auszugsweise vorabgedruckt hatte, KBW-Chef Schmierer. Damals hatte Schmierer sich zur Gewaltfrage wie folgt geäußert: »Wenn man die Frage der Gewalt als eine philosophische Debatte führt, dann endet es so, dass gesagt wird: Gewalt darf nicht sein, oder sonstwas. Aber wenn man untersucht, welche Interessen liegen bei welcher Klasse vor, wie kann die Klasse ihre Interessen vertreten, dann sieht die Sache schon anders aus…Ihr wisst, wir haben uns zwar immer von den Taten der RAF distanziert, aber wir haben bei den Aktionen bei Buback und Schleyer z.B. immer gesagt: Wir haben zwar keine klammheimliche Freude, aber wer wird schon um sie weinen …« Nein, mit der klammheimlichen Freude, die ein gewisser Göttinger »Mesca - le ro« – es war der Germanistikstudent und spätere Deutschlehrer Klaus Hülbrock, der sich zwanzig Jahre später als Verfasser offenbarte – bei der Ermor dung von Bundesanwalt Siegfried Buback empfunden und im Kursbuch in einem Text offenbart hatte, wollte Schmierer nicht aufwarten. Im Grunde war er aber nicht weit von dieser Haltung entfernt. Das war linker Mainstream. Ähnlich verhielt es sich mit der anti-israeli- schen Ausrichtung des KBW, der auf seinen Plattformen verkündete: »Das rassistische Gebilde ›Israel‹ ist gegen alle Völker und Staaten des Nahen und Mittleren Ostens gerichtet, es ist der Feind aller Völker. Solange dieses Gebilde 140 »Operation Hinkelstein«: Der »Meister der Mumien« meldet sich zu Wort im Nahen und Mittleren Osten existiert, wird es keinen Frieden in dieser Re- gion der Welt geben«. Entsprechend verschickte der KBW Grußbotschaften und Kampfparolen an linke Regime und Guerillabewegungen in aller Welt. Dem albanischen Diktator Enver Hodscha teilte Schmierer mit: »Der Kom- munistische Bund Westdeutschland unterstützt entschieden alle Reparations- forderungen der Volksrepublik Albanien an den BRD-Imperialismus und die Regierung der BRD«. Schmierer lobte zudem in seinem Schreiben »die glän- zenden Erfolge« der Partei der Arbeit in Albanien – einem der ärmsten Länder Europas vor und nach seinem Schreiben – und erklärte sich ausdrücklich ein- verstanden mit der albanischen Kritik am »Entspannungsschwindel«, den »die beiden Supermächte mit der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE) betreiben, um ihren Kampf um die Vorherrschaft über Europa und die Vorbereitung des imperialistischen Krieges zu tarnen.« Noch abstoßender sind die Glückwunschtelegramme des KBW, die 1980 von Schmierer an die massenmörderischen Roten Khmer gesandt worden waren. Am 15. April 1980 hatte Schmierer dem »Genossen Pol Pot, Sekretär des ZK der Kommunistischen Partei Kampucheas« in der Dschungelfestung »anlässlich des 5. Jahrestages des Sieges des kampucheanischen Volkes in sei- nem Kampf gegen den US-Imperialismus unsere feste Solidarität versichert – auch im Kampf des kampucheanischen Volkes gegen die sowjetisch-vietna- mesische Aggression.« Dieser Kampf sei »ein wichtiger Beitrag zum Weltfrie- den. Seine Siege im Kampf gegen den US-Imperialismus und beim Aufbau des Landes hat das kampucheanische Volk unter der Führung der Kommu- nistischen Partei Kampucheas errungen. Sie sind das Ergebnis der korrekten Linie der KPK und der korrekten Politik der Einheitsfront im Innern …« Kor- rekte Politik? Dem Terror der Roten Khmer fielen Millionen zum Opfer. Dass Schmierer das im Frühjahr 1980 nicht hätten wissen können? Absurd. Denn DER SPIEGEL hatte kurz vor Absendung des Telegramms eine lange Repor- tage über die Schrecken in Kambodscha publiziert unter der Überschrift »Ich höre Schreie in der Nacht«, worauf Staadt völlig zu Recht hinweist. Aber das hielt den KBW auch nicht davon ab, den im Dschungel untergetauchten Rest- truppen der Roten Khmer bald darauf noch 240.000 Mark als »Rote Hilfe« anzuweisen.31 Der KBW war gegenüber Kritikern und Abweichlern von einer massiven Intoleranz – wie sonstige Sekten auch. Was nicht in die eigenen ideologischen Denk- und Sprachmuster passte, war als »falsch oder bürgerlich« abzulehnen. Falsch oder bürgerlich – eine der zentralen Konfliktquellen zwischen Fischer und den Laufbahnbeamten des AA wurzelt hier zusammen mit dem ausge- Seltsamer Aktenfund im AA 141 prägten antibürgerlichen Ressentiment der K- und Spontigruppen aus Fischers Rebellenphase. Wenige Wochen später kam es endlich zur ersten direkten Kon fron tation. Denn eine der »Mumien« wurde – höchst symbolträchtig – an den Iden des März 2001 aktiv, lange bevor es um Nachrufe, um die braune Vergangen- heit einiger dieser »Mumien« selbst gehen sollte. Jetzt ging es um die wesent- lich jüngere Vergangenheit, um die siebziger und die achtziger Jahre. Und es ging um die Vergangenheit von Männern aus Fischers engerer Umgebung, ging zugleich immer und durchweg auf subtile, verborgene Weise um des Mi- nisters eigene Vergangenheit. Ohne die Iden des März 2001 ist alles, was später kommt, nicht zu verstehen. Aber wir müssen noch präziser werden: nicht eine der »Mumien« wurden aktiv. Der »König der Mumien« höchstselbst griff zur Feder: Erwin Wickert. Anfang März 2001 schrieb er dem Außenminister Fi- scher einen Brief. Begann damit alles, was uns in diesem Band interessiert? Oder nicht doch schon früher? Ein überraschender Fund in den Personal- unterlagen von Erwin Wickert im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes legt nahe, dass wir mit unserer Geschichte tatsächlich noch fast genau ein Jahr früher einsetzen müssen. Mit dem Geburtstag von Erwin Wickert am 7. Ja- nuar 2000. Eigentlich muss dieser Geburtstag am Anfang von allem stehen – denn der im vorangegangenen Kapitel behandelte Fischer-Erlass in der Visa- Frage stammt aus dem März 2000 und ist damit noch jüngeren Datums. Erwin Wickert wurde an diesem 7. Januar 2000 85 Jahre alt. Im Bonner General-Anzeiger erschien am Tag nach seinem feierlichen Geburtstagsempfang am 20. Januar eine kleine Würdigung unter der Überschrift »Das Rätsel der Doppelexistenz«. Während man im Bonner Blatt damit auf die zwei »Haupt- rollen« in Wickerts Leben, auf den Homme de lettres und den Diplomaten anspielte, existierte offenbar noch eine andere Deutungsmöglichkeit, wie sich schon bald im großen Gebäudekomplex des AA an der Adenauerallee erwei- sen sollte. Die journalistische Würdigung Wickerts geriet jedenfalls unmittel- bar in den Geschäftsgang des Auswärtigen Amtes. Im Referat 101, der für Personalfragen des Höheren Dienstes und der Ho- norarkonsuln zuständigen Abteilung, war jemand diese Zeitungsnotiz samt Foto aufgefallen, das neben dem berühmten Vater den im Lande inzwischen noch viel berühmteren Sohn, den »Mr. Tagesthemen« und »ARD-Anchor- man« zeigte. Um die mediale Wirkung besorgt, hatte der aufmerksame Beamte im Ministerium, als die Zeitungsnotiz in den Geschäfts- gang gegeben wurde, in einem kurzen handschriftlichen Vermerk sogleich gefragt: »Haben wir gratuliert?« Die Antwort, gleichfalls auf der Quelle ver- 142 »Operation Hinkelstein«: Der »Meister der Mumien« meldet sich zu Wort

Ein überraschender Aktenfund aus dem Auswärtigen Amt Keine Glückwünsche mehr für ehemalige Pg 143 merkt, fiel kurz und knapp – und für unseren Kontext höchst bemerkens- wert – aus: »Nein, da NSDAP Mitglied. Ablehnung wurde vom Ministerbüro bestätigt.« Hatte man im Referat 101 in vorauseilendem Gehorsam gegenüber dem grünen Minister Wickert nicht gratuliert? Hatte es aus dem Ministerbüro Joschka Fischers bereits eine entsprechende Anweisung gegeben? Darüber ver- rät das kleine Quellenstück nichts. Festhalten lässt sich jedoch: Der Frage- steller wusste bis zu diesem Zeitpunkt nichts von einer entsprechenden Neuregelung von Glückwünschen. Das Ministerbüro hingegen war darüber im Bilde und hatte diese Neuregelung, von wem auch immer sie ausgegangen war, ausdrücklich gut geheißen und gegenüber Referat 101 nicht korrigierend eingegriffen. Man darf davon ausgehen, dass der Minister über den Vorgang unterrichtet wurde und es sich nicht um eine »Eigenmächtigkeit« seines Büros gehandelt hat. Das Resultat war eindeutig. Einem hoch betagten Mann, zu dessen Ab- schied aus dem Diplomatischen Dienst und dem Auswärtigen Amt 1979 noch das gesamte Bundeskabinett unter Helmut Schmidt in seltener Einmütigkeit beschlossen hatte, ihm den Dank der Republik auszusprechen – ein überaus seltener Vorgang in der Geschichte dieser Republik – sollte 21 Jahre später nicht einmal mehr offiziell zum Geburtstag gratuliert werden dürfen, weil er in jungen Jahren NSDAP-Mitglied gewesen war? Offenbar reichte jetzt die Parteimitgliedschaft als »Ausschlusskriterium« und gravierender »Verdachts- moment« aus, denn andere nennenswerte Verstrickungen Wickerts in die braune Diktatur waren ja nicht überliefert. Das alles war anscheinend »mit dem Ministerbüro abgesprochen«, geschah also mit ausdrücklicher Billigung des grünen Außenministers Joschka Fischer. Damit liegt das erste, früheste Spurenelement der »Diplomatenjagd« aus den Akten vor uns, das es bislang gibt. Von der Verweigerung des Glückwunsches zum 85.Geburtstag für Wi- ckert bis zur Verweigerung des Nachrufes und des »ehrenden Gedenkens« wegen einer angeblichen »NS-Vergangenheit« für eine ganze Gruppe sollte es dann nur noch ein kleiner Schritt sein. Zugleich relativiert der Aktenfund die späteren »Aussagen« von Joschka Fi- scher und legt Zeugnis ab von seinem selektiven Gedächtnis. Lange vor dem Brief von Marga Henseler hatte der Außenminister Fischer die Glückwunsch- praxis des Hauses still und leise zu modifizieren begonnen, wie dieser kleine Quellenfund unzweifelhaft verrät. Auch im Amt muss das jemand erkannt haben, denn er veranlasste am 25. Februar 2000, dass der kleine amtsinterne Dialog auf der Geburtstagsnotiz des Generalanzeigers vom Januar in Verbin- 144 »Operation Hinkelstein«: Der »Meister der Mumien« meldet sich zu Wort dung mit einer Karteikarte in den Personalunterlagen von Erwin Wickert ab- gelegt wurde, damit er auf keinen Fall verloren ging oder verschwand. Man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass Wickert, mit den Usancen des Amtes bestens vertraut und mit manchen der etwa 5.000 Beschäftigten weiterhin gut vernetzt, den überraschend ausgebliebenen ministeriellen Glück- wunsch präzise registriert haben wird. Natürlich verstand er dieses »Zeichen« zu deuten. Die Schärfe seiner Diktion gegenüber dem Minister ein gutes Jahr später mag darin ein Stück weit ihre Erklärung finden. Unter dem Datum des 3. März 2001 und unter dem Eindruck der Ereignisse in den Vorwochen von den Polizisten-Prügel-Bildern bis zu Staadts KBW-Artikel schickte Wickert jedenfalls aus Oberwinter bei Bonn, wo viele »Mumien« nach dem Ausschei- den aus dem aktiven Dienst ihren Alterssitz gefunden hatten, die folgenden Zeilen an den Werderschen Markt in Berlin-Mitte an Bundesaußenminister Joschka Fischer: »Sie waren so freundlich, mich zur Fünfzig-Jahres-Feier des Auswärtigen Amtes einzuladen. Natürlich sind fünfzig Jahre ein Grund zum Feiern. Ich bedauere dennoch, diese Einladung nicht annehmen zu können und will Ihnen auch erklären, warum: Das Auswärtige Amt kann mit Genugtuung auf die vergangenen Jahrzehnte zurückblicken. Es hat ausgezeichnete Au- ßenminister gehabt, seine Mitarbeiter haben sich in der Welt einen hervor- ragenden Ruf erworben. Unserer Außenpolitik sind nur wenige Fehler vorzuwerfen. Ihr vor allem ist es zu verdanken, dass aus dem besiegten, zer- störten, geteilten Volk wieder eine geeinte Nation, Förderer des geeinten Europas, Freund der Nachbarn und ein geachtetes Mitglied der Völkerver- sammlung geworden ist, das für Frieden, Versöhnung und Humanität ein- tritt. Meine Kollegen und ich, die wir jetzt im Ruhestand leben, sind stolz darauf, im Auswärtigen Amt dieser Politik gedient zu haben. Ich habe aber letzthin von Kollegen – Botschaftern und Staatssekretären aus jener Zeit – Sorge darüber gehört, dass der bisher untadelige Ruf des Amtes neuerdings in Zweifel gezogen wird. Ich teile diese Sorge. Ich möchte mich heute auf dieses Thema beschränken und konkret einen Fall herausgreifen, der diese Zweifel bestätigt und mir und manchen meiner alten Kollegen als symptomatisch erscheint. Konkret: Sie haben im Pla- nungsstab des Amtes einen Referenten als Angestellten eingesetzt, Herrn Schmierer, der bis 1983 dem Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW) angehörte, jener stalinistisch ausgerichteten Vereinigung, der Breschnjews Kommunismus nicht radikal genug war. Er war in dieser Or- ganisation Sekretär des Zentralkomitees, nahm also eine führende Stelle Erwin Wickert greift zur Feder 145 ein. In dieser Eigenschaft hat er 1980 dem ›Genossen Pol Pot‹, also einem der Genozidmörder des 20. Jahrhunderts, der an die zwei Millionen seiner Landsleute hat umbringen lassen, ein Grußtelegramm gesandt und ihn seiner ›festen Solidarität‹ versichert. Vielleicht werden Sie antworten, Ihr Referent sei damals einem politischen Irrtum erlegen und habe sich inzwi- schen gewandelt. Wenn er sich aber mit Pol Pot solidarisch erklärte, dessen Massenmorde in der ganzen Welt Abscheu erregten, dann war das kein po- litischer Irrtum, sondern das Bekenntnis zu einer zutiefst inhumanen An- schauung vom Menschen als bloßer politischer Verfügungsmasse. Für mich als Deutschen, dessen nationale Geschichte durch die Genozid- und Kriegs- politik Hitlers schwer belastet bleibt, ist der Gedanke schier unerträglich, dass unsere Außenpolitik heute unter anderem von einem Mann entworfen wird, der sich zu einem Massenmörder wie Pol Pot bekannt hat. Wenn Ihre Partei Herrn Schmierer haben will, so ist das Ihre, wenn er einen unpoliti- schen Beruf ergreift, seine Sache. Sie können sich gewiss vorstellen, wie Ihre Ansichten von der künftigen Gestalt Europas bei ausländischen Kollegen wirken, wenn diese vermuten müssen, dass sie aus der Planungswerkstatt jenes Mannes kommen, der sich heute in der Presse als Experte für die Europa-Politik vorstellt, vor zwei Jahrzehnten aber noch Pol Pot zu seiner Politik millionenfachen Mordes gratulierte und sich u.a. auch in unsäglicher Weise zu den Morden an Bu- back und Schleyer geäußert hat. Nicht jeder Wandel ist glaubwürdig, vor allem nicht, wenn dahinter Opportunismus und eine schnelle Karriere auf dem langen Marsch durch die Institutionen zu vermuten sind … An den Angriffen gegen Sie beteilige ich mich nicht, aber ich nehme an, Sie werden sich selbst fragen, ob Ihre Wandlungen nach den wilden Frank- furter Jahren bei uns im Lande Glauben finden, wenn Sie alte Kumpane und führende Genossen des radikalen stalinistischen Kommunismus an entscheidende Schaltstellen des Auswärtigen Amtes setzen. Unter den frü- heren Außenministern war es selbstverständlich, dass die Planung der Außen politik in den Händen von Beamten lag, die das Vertrauen der Staats - sekretäre und politischen Direktoren genossen. Ich frage mich, ob Sie den Einsatz Herrn Schmierers auch mit diesen abgestimmt haben. Das kann ich mir nur schwer vorstellen, denn wenn Sie sich mit der Berufung dieses ehemaligen stalinistischen Vorkämpfers in den Planungsstab einverstanden erklärt hätten, dann hätten Sie ja die Tradition des Anstands, der Haltung, der Verlässlichkeit und des Stils verraten, die das Auswärtige Amt seit fünf- zig Jahren prägt … Sie, Herr Minister, würden dieser Tradition dienen, 146 »Operation Hinkelstein«: Der »Meister der Mumien« meldet sich zu Wort

wenn Sie dafür sorgen, dass der Ruf der deutschen Außenpolitik nicht wei- ter durch solche Zweideutigkeiten in der Personalpolitik in Frage gestellt wird. In der Gewissheit, dass die Beamten und Angestellten des Auswärti- gen Amtes die alte Tradition wahren und behaupten werden, bleibe ich, sehr geehrter Herr Bundesaußenminister, mit freundlichen Grüßen Erwin Wickert.« Ohne diesen Brief hätte es die Einsetzung der Unabhängigen Historikerkom- mission vier Jahre später vermutlich nicht gegeben. Dieser Brief war ein Pau- kenschlag bis hinein in die Grußformel am Ende – die nicht mit »Ihr« Erwin Wickert endete, was ein Mindestmaß an diplomatischer Höflichkeit eigentlich erfordert hätte. Eine solche Ohrfeige hatte Joschka Fischer noch nie zuvor er- halten. Der Brief muss ihn maßlos geärgert haben – und tief getroffen. Hier zückte kein Brutus den verborgenen Dolch. Hier trat einer der greisen »Sena- toren« offen vor, signalisierte unmissverständlich, dass er nicht nur für sich allein zu sprechen beabsichtige, sondern auch für »manch einen seiner alten Kollegen«. Erinnerte an die erhebliche Aufbauleistung des Auswärtigen Amtes in den Gründer- und Anfangsjahren der Republik. Und machte die Sache die- ser Republik, die res publica im Wortsinn zu seiner ureigenen Sache. Griff ihn, den Minister, für eine in der Tat höchst fragwürdige Personalentscheidung an. Das sah Fischer auf den ersten Blick. Er war ein alter erfahrenerer Kämpe, der sich genug Narben auf der Straße und auf den ihm mittlerweile verhassten grünen Parteitagen geholt hatte, um nicht zu sehen, dass er unverzüglich rea- gieren musste. Dieser Wickert war ein Gegner von beträchtlichem Gewicht. Er verkörperte wie kaum ein anderer als Symbolfigur den Weg des Auswärtigen Amtes. Dieser ebenso knorrig-kantige, wie feinsinnig-kultivierte Mann, 1915 in Bralitz im Oderbruch in der Mark Brandenburg geboren, – sein im Alter zerfurchtes Ge- sicht, seine kerzengerade Haltung erinnerten an diese preußische Heimat – war in Wittenberg und Berlin aufgewachsen, aber schon in den dreißiger Jah- ren in die USA aufgebrochen, um zu studieren und die Welt kennen zu lernen. Die Neugier trieb ihn bald noch weiter hinaus. Aber es war auch eine Art Flucht gewesen, wie er ein Jahr vor seinem Tod am 9. April 2007 in einem Interview mit der WELT anmerkte: »Mein erster USA-Aufenthalt 1935 als Austauschschüler war eine Flucht vor dem Elternhaus. Ich habe mich mit meinem Vater nicht verstanden. Er war Nationalsozialist und überzeugter Antisemit. Ich sollte Offizier wer- den, und er drängte mich, schon als Schüler in die SA einzutreten. Ich war damals achtzehn Jahre alt. Obwohl ich lieber für mein Abitur arbeiten Überprüfung auf mögliche NS-Verstrickungen 147

wollte, musste ich einen SA-Mitgliedsantrag stellen, und ich nahm auch einige Zeit an den ›Sturmabenden‹ teil, wo viel Bier getrunken und Witze erzählt wurden. Nach dem Abitur ging ich einfach nicht mehr hin. In mei- ner Biographie nach dem Krieg habe ich mich als SA-Mann bezeichnet, bis ich im amerikanischen Document Center überrascht feststellte, dass ich gar nicht in der SA gewesen war. Nur ›Mitgliedschaft beantragt‹ stand als Eintrag unter meinem Namen.« Erinnerungen sind eine trügerische Sache. Im Kommissionsbericht wird Wi- ckert vorgeworfen, bei seiner »Transformation vom NS-Auslandspropagan- disten zum homme de lettres« die Unwahrheit gesagt zu haben, etwa »falsche Angaben zu seiner SA-Mitgliedschaft gemacht zu haben« (S.702f.). Dieser Vorwurf trifft zu. Allerdings unterschlägt der Kommissionsbericht die mehr- stufige Überprüfung, der Wickert nach dem Kriege unterzogen worden ist, von deutscher wie von alliierter Seite. Anders als die Kommission in ihrem Bericht glauben macht, war es damals nicht ganz einfach, ins neu errichtete Auswärtige Amt zu gelangen, Seilschaften hin oder her. 1954, als es um seine Wiedereinstellung in dieses Amt ging, erfolgte im Falle von Wickert eine erste Anfrage aus dem AA bei den Amerikanern. Die Bundesrepublik war noch nicht souverän, die Hohen Kommissare wachten über der jungen Republik und wachten auch über die »Neueinstellungen«. Am 3. Februar 1954 wird Dr. Herbert Ruoff 32, Legationsrat in der Personal- abteilung des AA über das »Allied Travel Liaison Office« vom Stab des High Commissioner for Germany (US-HICOG) mitgeteilt, dass Wickert am 1. Februar 1940 unter der Mitgliedsnummer 7 464 449 in die NSDAP einge- treten war und anschließend ab September 1940 als Mitglied der »Ortsgruppe Sektion Auswärtiger Dienst« geführt wurde. Das wirkte, ganz anders als der Kommissionsbericht uns glauben machen will, nicht beruhigend. Ruoff, der 1977 in den Ruhestand treten und 2005 in Bonn versterben wird, sollte zu den ersten Diplomaten gehören, bei denen sich Fischers Damnatio memoriae auswirkte und die keinerlei »ehrendes Gedenken« mehr erhielten; in seinem Falle, weil er 1933 in die SA und 1937 in die NSDAP eingetreten war. Mit den deutschen Staatsverbrechen hatte dieser bayerische Jurist im AA jedoch nach unserem Kenntnisstand nichts zu tun gehabt und mit den ominösen Be- schweigekartellen nach dem Krieg auch nicht. Denn er will es 1954 – im Auf- trag seiner Behörde – im Falle Wickert jetzt genauer wissen. Das Bundesamt für Verfassungschutz in Köln wird von ihm eingeschaltet und das Berlin Do- cument Center um eine nochmalige, sorgfältigere Prüfung gebeten. Anfang August 1954 teilt es über den Verfassungsschutz in seinem von Manfred Gug- 148 »Operation Hinkelstein«: Der »Meister der Mumien« meldet sich zu Wort genheim, dem zuständigen Exekutive Officer, abgezeichneten Kurzgutachten zu Erwin Wickert, Ruoff und der Personalabteilung im AA mit: »Mitglied der Reichsschrifttumskammer, Mitglied der SA von 1933–1937, anschließend Mitglied der HJ. Mitglied der Arbeitsgemeinschaft ›Junges Schaffen‹ der Reichsjugendführung. W. bestand 1934 das Abitur, ging an- schließend zum Reichsarbeitsdienst, dem er bis Oktober 1934 angehörte und war in der Folgezeit kurzfristig im Reichsamt für Volkstum und Hei- mat tätig. 1934/35 studiert er an der Berliner Universität Kunstgeschichte und Deutsch und war in dieser Zeit anfangs Angehöriger des Kamerad- schaftshauses des NS-Deutschen Studentenbundes und später des Mann- schaftshauses des Rasse- und Siedlungshauptamtes. Im September 1935 trat er eine Freistelle als Austauschstudent im Dickonson College, Carlisle, USA an. Dort war er Führer der Austauschstudenten und Herausgeber von deren Zeitschriften …« 33 Einwände gegen eine Einstellung von Wickert ergaben sich aus diesem Gut- achten keine. Dass er kostengünstig in Studentenwohnheimen der Partei und der SS gewohnt hatte, konnte man ihm nicht wirklich zum Vorwurf machen. In diesen Häusern ehemaliger, mittlerweile verbotener Studentenverbindun- gen, die von Parteiorganisationen im Zuge der Gleichschaltung »übernom- men«, bzw. beschlagnahmt worden waren, konnten viele Studenten mietfrei wohnen, was angesichts des spürbaren Wohnungsmangels in der Reichshaupt- stadt durchaus verlockend war. Was Wickert 2007 über seinen weiteren Weg und seine »éducation politique« berichtet hat, deckte sich – was die Orts- und sonstigen Angaben anging – mit den Informationen des Gutachtens aus dem Document Center: »Amerika hat mein Leben geprägt. Es hat mich gelehrt, politisch zu denken, nicht zu pauschalisieren, beide Seiten einer Medaille zu sehen. Es hat mich gelehrt, dass Freiheit das höchste Gut ist. Gewiss fand ich später auch Züge im amerikanischen Leben, die mich befremdeten, zum Beispiel den ausge- prägten Antisemitismus, auf den ich nicht vorbereitet war und gegen den ich gerade in Deutschland – sehr riskant und unvorsichtig – einen Artikel ›Antisemitismus und Sexualität‹ geschrieben hatte, der aber außer wütenden Drohungen Julius Streichers für mich keine Folgen hatte, da ich ja in Ame- rika war. Doch man traf in den Vereinigten Staaten ebenso wie bei uns wie- derum oft Menschen, die den Antisemitismus verurteilten.« Er verdiente sich sein Geld in einem Reisebüro in New York, fuhr mit dem Zug als Tramp quer über den Kontinent, als die Wächter der Bahn solche »Schwarzfahrer«, wenn sie ihrer habhaft wurden, noch schonungslos vom fah- Auskunft aus dem Document-Center in Berlin 149

PA AA, Personalakte Wickert: Überprüfung durch die amerikanische Besatzungsmacht und den Verfassungsschutz auf mögliche Verstrickungen in die NS-Diktatur. 150 »Operation Hinkelstein«: Der »Meister der Mumien« meldet sich zu Wort renden Zug warfen, arbeitete bald als Kellner in San Francisco. Von dort brach er auf nach Japan, Korea, Mandschuko, den Nor den Chinas. Asien wurde seine lebenslange Leidenschaft, seine Passion. Mitte 1937 kehrte Wickert nach Deutschland zurück. Er promovierte in Heidelberg bei Hubert Schrade, der dort den Lehrstuhl des wegen seiner jüdischen Frau als »arisch versippt« ent- lassenen Vorgängers August Grisebach eingenommen hatte und bald wie so viele, wie etwa Ernst Rudolf Huber und Hellmut Becker auch, an die Reichs- universität nach Straßburg gehen, dort sogar Prorektor werden sollte. Im Ent- nazifizierungsverfahren von Schrade stellte Wickert 1948 seinem Doktorvater, der 1937, nach Aufhebung des Aufnahmestops in die NSDAP eingetreten war, einen »Persilschein« zur Verfügung. Schrader wurde an die Universität Tübingen berufen und konnte seine akademische Tätigkeit fortsetzen.34 In seinen Memoiren Mut und Übermut hat er sich 1991 zu seinem Partei- eintritt geäußert, in Verbindung mit Bemerkungen über die NSDAP-Mit- gliedschaft Kiesingers während der Bildung der Großen Koalition 1966. Seinen eigenen Parteieintritt 1940, im Alter von 35 Jahren – nachdem er im September 1939 als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter in die Kulturabteilung des AA in Berlin eingetreten war – begründet Wickert damit, dass ihn die NSDAP-Ortsgruppe aufgefordert habe, in die Partei einzutreten oder bei sei- ner Wirtin, Getrud Heinersdorff, auszuziehen, bei der er überaus kostengüns- tig logierte, weil diese mit einem inzwischen nach Paris emigrierten Juden, dem bedeutenden Glasmaler Gottfried Heinersdorff verheiratet war und deren Tochter folglich »Halbjüdin« sei. Als Parteimitglied, so legt diese Passage nahe, wäre er nach Auffassung seiner NSDAP-Ortsgruppe mithin besser gegen den Vorwurf der »Rassenschande« gefeit. Daraufhin habe er den Akt vollzogen, »mit dem die Partei mich zur Loyalität verpflichten wollte. Ich blieb bei Frau Heinersdorff wohnen, zog nicht aus. In der nächsten Woche stellte ich bei der Ortsgruppe Berlin-Lankwitz den Antrag, mich in die Partei aufzunehmen. Ich sah das als Nötigung an.« (S.292 f.) Begründungen für Parteieintritte wer- den im Rückblick häufig auf bizarre Wese zurechtgezimmert. Das ist vermut- lich auch diesmal der Fall. Allerdings wirkt diese Legitimationslegende nicht sonderlich überzeugend. Ein simpler Wohnungswechsel hätte ja bereits ge- nügt, um dem Parteieintritt zu entgehen. Wahrscheinlicher ist, dass Wickert in die Partei eintrat, um seine berufliche Karriere zu befördern. Möglicherweise hatte ihm Karl Jaspers, den er in Hei- delberg vor dem Krieg kennenlernte, tatsächlich geraten, die Stelle im Amt anzunehmen. Jaspers war zwar, weil er sich geweigert hatte, sich von seiner jüdischen Frau zu trennen, in den Ruhestand versetzt und mit einem Publi- Parteieintritt als Karrierehilfe 151 kationsverbot belegt worden, aber immer noch gut vernetzt. Vermittelt hatte Wickert diese Möglichkeit aber SA-Obergruppenführer Hermann Kriebel, ein »alter Kämpfer« der NSDAP, Teilnehmer am Münchner Putsch 1923 und Mithäftling Hitlers in Landsberg, später dann ab 1937 deutscher Generalkon- sul in , wo ihm Wickert bereits begegnet war. Im Frühjahr 1939 hatte er die Leitung der Personal- und Verwaltungsabteilung im Auswärtigen Amt übernommen – im Kommissionsbericht wird darauf hingewiesen (S.702). Mit dem jungen Wickert verband Kriebel weniger die Begeisterung für Hitler als vielmehr die Begeisterung für Asien und die moderne Rundfunktechnik. Zunächst holte er Wickert in das Rundfunkreferat der Kulturabteilung. We- nige Monate später schickte er ihn als ersten Rundfunkattaché des Auswärti- gen Dienstes nach Shanghai, um dort den NS-Propaganda-Sender XGRS aufzubauen. Wobei Wickert insgesamt beträchtliches Glück hatte. Weil er nicht an die Front musste. Weil sich seine jugendlichen Asienreisen schon jetzt ganz überraschend auszahlten. Weil er ein Jahr später wiederum als Rundfun- kattaché nach Tokio versetzt wurde, nachdem der Landesgruppenleiter der Auslandsorganisation (AO) der NSDAP in Shanghai seine Abberufung gefor- dert hatte. Für all das war der Eintritt in die NSDAP im Februar 1940 – die Popularität Hitlers im Reich hatte nach dem kurzen und für die deutschen Truppen verlustarmen Feldzug in Polen bereits vor dem siegreichen Einmarsch in Paris neue Höhen zu erklimmen begonnen – ein geringer Preis. Auch in Japan arbeitete Wickert als Rundfunkattaché eng mit dem »Ab- hördienst Seehaus« des Auswärtigen Amtes zusammen, der durch das Abhören der ausländischen Rundfunkprogramme aus der jeweiligen Region möglichst wertvolle Informationen für die Reichsregierung gewinnen sollte. In Tokio ar- beitete er unter der Leitung des Gesandten Erich Kordt, eines dezidierten Hit- ler-Gegners, mit Franz Krapf, dem Wirtschaftsfachmann an der deutschen Botschaft zusammen – und auch mit Richard Sorge, dessen Enttarnung als Spion Stalins, seine Verurteilung und Hinrichtung in Toshima im November 1944 er aus unmittelbarer Nähe verfolgte. Die Kapitulation erlebte er in Japan, wurde dort Zeuge der ersten Rundfunkansprache des Gott-Kaisers Hirohito, der noch niemals zuvor zu seinen Untertanen gesprochen hatte. Erst 1947 kehrte er wieder nach Deutschland zurück. Wickert lebte zunächst in Heidelberg, von der dortigen Spruchkammer als »entlastet« eingestuft, als freier Schriftsteller und Rundfunkautor – das Metier kannte er ja nun wirklich genau –, verfasste Hörspiele und entwickelte neben seinen fein ziselierten Erzählungen Manuskripte für historische Dokumenta- tionen, bevor er auf Drängen von Krapf und Herbert Blankenhorn 1955 wie- 152 »Operation Hinkelstein«: Der »Meister der Mumien« meldet sich zu Wort

Erwin Wickert: Diplomat, Schriftsteller, Sinologe, Homme de lettres und »Meister der Mumien« der in den Auswärtigen Dienst zurückkehrte und nach Bonn zog, wo er zwei Jahre später trotz fehlender Attachéprüfung verbeamtet wurde. Davor musste er allerdings eine Beamtenprüfung absolvieren, auf die er sich fast ein Jahr lang akribisch vorbereitet hatte. Zunächst Referent bei der NATO-Vertretung in Paris, kehrte er 1960 in die Zentrale zurück, wurde Referatsleiter der Ostab- teilung und zugleich einer der engsten Mitarbeiter des Außenministers Ger- hard Schröder (CDU), der 1961 Heinrich von Brentano abgelöst hatte. In dieser Position formulierte er eine ganze Reihe von Reden und Positi- onspapieren für den Minister und das Amt. Sein wichtigster Beitrag in jener Zeit war die eng mit der oppositionellen SPD, mit Herbert Wehner abge- stimmte Formulierung der »Friedensnote«, jener »Note zur Abrüstung und Sicherung des Friedens« in Europa, mit welcher die Regierung Erhard im März 1966 Bewegung in die festgefahrene, durch die Hallstein-Doktrin zunehmend blockierte deutsche Ostpolitik hatte bringen wollen und die deshalb allen Ost- blockstaaten übermittelt worden war – mit Ausnahme der DDR. Diese Frie- densnote, an die Willy Brandt und Egon Bahr bald anknüpfen sollten, blieb daher zunächst folgenlos. Ende 1968 wurde Wickert zum deutschen Gesand- ten in London ernannt, von 1971 bis 1976 vertrat er die Bundesrepublik in Bukarest und von 1976 bis 1980 in Peking. Ein Spitzendiplomat der Bundesrepublik 153

Die Rückkehr nach Asien hat er als einen verdienten späten Höhepunkt verstanden, und diese Ernennung war wohl auch eine von Außenminister Hans-Dietrich Genscher geplante Geste des Dankes für diesen hoch verdien- ten deutschen Diplomaten. Zu seinem Abschied aus dem aktiven Dienst im Amt schickte ihm der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt eines seiner seltenen persönlich adressierten Fernschreiben, das sich in der Personalakte findet, um ihm den Dank der Republik auszusprechen, für die er »Außeror- dentliches« geleistet habe. Das gelte für seine Lebensleistung insgesamt – gelte für den Diplomaten wie den Schriftsteller. Später dann, als sein Sohn Ulrich Wickert, der wie Joschka Fischer ein 68er und mit Rudi Dutschke gut be- kannt, ja befreundet gewesen war, in seiner Zeit als Sprecher der »Tagesthe- men« einmal Präsident Bush jr. mit Osama Bin Laden gleichsetzte und sich nach einem Sturm der Empörung davon gleich wieder distanzieren musste, schrieb Vater Wickert ihm die folgenden Zeilen: »Lieber Uli, erstens, Deine Behauptung, die Denkstrukturen von Bush und Bin Laden seien gleichartig, ist bescheuert. Zweitens, dass du diese Behaup- tung bedauerst und zurückziehst, ist eine kluge und richtige Entscheidung. Drittens, du kannst weiterhin meines väterlichen Wohlwollens gewiss sein.« Wickert war tatsächlich ein bedeutender deutscher Diplomat – und ein weiser Vater. Kein Zweifel allerdings, dieser Erwin Wickert mit seinen mittlerweile über 86 Jahren war für Fischer ein veritabler Kontrahent. Der Minister konnte sein Schreiben nicht einfach in den Papierkorb ent- sorgen und vergessen. Er erkannte natürlich sofort, dass Wickerts Entschluss, ihm seine Personalentscheidung in Sachen Schmierer vorzuhalten, durchaus raffiniert gewesen war. Fischer, für den die Essenz der Politik immer und über- all die Machtfrage war, erkannte auf den ersten Blick: Hier wurde er ganz un- mittelbar herausgefordert. Wickert nannte Schmierer – und meinte ihn selbst, den grünen Außenminister. Denn in Schmierer spiegelte sich die Biographie von Joschka Fischer wie bei keinem sonst im Amte. Nicht nur, was die Vor- namen anging. Hans-Gert Schmierer ließ sich seit langem schon »Joscha« rufen. In der Zeit der Studentenrebellion hatte er begonnen, Geschichte und Philosophie zu studieren, hatte sogar promovieren wollen – bei Werner Conze. Sein Neffe Eckart Conze würde 35 Jahre später zu jenen Historikern gehören, die die Geschichte des Auswärtigen Amtes »aufarbeiten« sollten – eine kleine verblüffende zeithistorische Pointe. Schmierer nahm im kleinen Maßstab vor- weg, was später durch die Kommission geschah. Als Werner Conze als Rektor der Universität in Heidelberg 1969 während einer Podiumsdiskussion über seine Zeit im Zweiten Weltkrieg berichtete und das Vorgehen der Wehrmacht 154 »Operation Hinkelstein«: Der »Meister der Mumien« meldet sich zu Wort verteidigte, hat Schmierer ihn mit faulen Eiern beworfen und dadurch seine akademische Karriere endültig vorzeitig beendet. Die Kommission sollte dem- gegenüber ganz andere »Munition« verwenden – die Damnatio memoriae. Die ereilte aber auch Werner Conze, immerhin zusammen mit Reinhart Koselleck Herausgeber der Geschichtlichen Grundbegriffe. Dabei erging es ihm ähnlich wie später Nüßlein und Co. Der Bannstrahl traf auch ihn Jahre nach seinem Tod, ähnlich wie bei Theodor Schieder, Albert Brackmann, Otto Brun- ner, Hermann Aubin oder jüngst Theodor Eschen burg. Sie alle waren in jun- gen Jahren in der HJ gewesen, waren Pg geworden oder in der SS gewesen. Manche hatten sich in ihren frühen Veröffentlichungen aus der Zeit des Drit- ten Reiches anfällig für den nationalsozialistischen Größen-, Rassen- und Le- bensraumwahn gezeigt. Sie alle machten nach dem Krieg mehr oder minder steile Karrieren, wurden Vorbilder, akademische Lehrer für Generationen von Doktoranden, Habilitanden, denen zu Lebzeiten keiner diese Vergangenheit nachhaltig vorhielt, über die sie selbst nicht reden und öffentlich reflektieren mochten. Nach ihrem Tod allerdings brach in der Historikerzunft der Konflikt über die Bewertung und Deutung der Vergangenheit machtvoll auf, der etwa den Historikertag 1998 in Frankfurt am Main dominieren sollte. Das Buch Das Amt kann man durchaus in diese »Traditionslinie« stellen. Zumindest die deutschen Kommissionsmitglieder und auch ihre Zuarbeiter wussten um die- sen Kontext. Fragestellung, Konfliktlinien, die hohe Bedeutung, die der Par- teimitgliedschaft plötzlich zugemessen wird, alles ist einmal mehr ähnlich. Doch zurück zu Schmierer. Er war seit 1968 im Bundesvorstand des Sozia- listischen Deutschen Studentenbundes (SDS) und radikalisierte sich nach des- sen Niedergang weiter, wurde Mitbegründer einer der größten deutschen kommunistischen Gruppen, dem maoistischen Kommunistischen Bund West- deutschland (KBW). Bis zur Auflösung 1983 gehört er dem engsten Führungs- zirkel an – in seiner erbittert bekämpften Konkurrenzorganisation, dem Kommunistischen Bund (KB), war zu jener Zeit Jürgen Trittin als Anführer in Göttingen aktiv, wo auch »Mescalero« studierte. Im Dezember 1978 reiste Schmierer sogar noch selbst mit einer KBW-Delegation zu einem Sympathi- santenbesuch zu Pol Pot nach Kambodscha und schickt diesem noch 1980 – da sind die Killing Fields schon bekannt, auf die Wickert anspielt und worauf Fischer in seiner Antwort ebenfalls eingehen wird – die oben bereits erwähnte Grußbotschaft. Schmierer hatte wie Fischer Anfang der siebziger Jahre an ge- walttätigen Demonstrationen teilgenommen und musste – anders als dieser – 1975 nach seiner Verurteilung wegen schweren Landfriedensbruchs zwei Drittel seiner achtmonatigen Haftstrafe in der Justizvollzugsanstalt Waldshut absitzen. Grußadresse für Pol Pot 155

In der zersplitterten und verfeindeten Linken war der stalinistisch-maois- tische Schmierer vermutlich noch etwas weiter links außen einzuordnen als Fischer und Daniel Cohn-Bendit mit ihrer Frankfurter Spontigruppe »Revo- lutionärer Kampf«. Für Schmierer waren damals Fischer und Cohn-Bendit wohl eher »arbeitsscheue Bonvivants« als ernstzunehmende revolutionäre Schüler Maos – wie man bei Gerd Koenen nachlesen kann.35 Wie Joschka Fischer oder Jürgen Trittin fand auch Joscha Schmierer über die Grünen den Weg aus der kommunistischen Sekte zurück in die politische Gesellschaft. Er war ab 1983 bis 1999 – in einer grünen Nische – Chefredak- teur der den Grünen nahestehenden Zeitschrift Kommune. Forum für Politik, Ökonomie und Kultur. Dann wurde er von Fischer ins Auswärtige Amt geholt, wo er den realpolitischen Kurs des Ministers nachhaltig unterstützte, etwa die Militäreinsätze der westlichen Allianz im Kosovo und in Serbien (ab 1999) und auch in Afghanistan nach den Anschlägen vom 11. September klar befür- wortete. Später, also lange nach dem brieflich ausgetragenen Disput zwischen dem Minister und Wickert, äußerte Schmierer sogar Verständnis für George W. Bush und dessen Entschluß, ohne UN-Mandat im Irak zu intervenieren, worüber die taz am 12. Mai 2003 mit spürbarem Befremden berichtete.36 Fischer jedenfalls musste auf den Brief von Wickert reagieren. Seine Ant- wort ist nicht ungeschickt – aber wer das Antwortschreiben sorgfältig liest, stellt schnell fest, dass sie mit zusammengebissenen Zähnen formuliert worden war. Mit Datum vom 13. März ließ Fischer den alten Herren in Oberwinter folgendes wissen: »Ihr Schreiben zu Ihrer Nichtteilnahme an der Veranstaltung anlässlich ›50 Jahre Auswärtiges Amt‹ habe ich erhalten. Ich teile allerdings weder Ihre Argumentation noch die Konsequenz, die Sie daraus ziehen. Eines vorweg: In der Bewertung des Terrorregimes von Pol Pot bin ich mit Ihnen völlig einig. Unter seiner menschenverachtenden Herrschaft kamen in den ›killing fields‹ Kambodschas Millionen Menschen durch Deportation, Zwangsar- beit, Folter und Mord zu Tode. Eine Solidarisierung mit Pol Pot und seinem verbrecherischen Regime war und ist durch nichts zu rechtfertigen.Etwas völlig anderes aber ist es, einem Angestellten des Auswärtigen Amtes zu un- terstellen, seine Abkehr von Positionen und Erklärungen, die 20 Jahre zu- rückliegen, sei aus Opportunismus erfolgt und nicht aus Einsicht und einer glaubhaften Wandlung zum Demokraten. Ich bin sicher, dass das Recht, politische Auffassungen zu ändern, auch grundsätzlich zu ändern, gerade auch in Ihrer Generation vielfach in Anspruch genommen wurde. Herr Schmierer ist vor seiner Einstellung den in der Bundesrepublik üblichen 156 »Operation Hinkelstein«: Der »Meister der Mumien« meldet sich zu Wort

Verfahren und Regeln unterworfen gewesen, einschließlich einer Sicher- heitsüberprüfung. Offenheit und Toleranz auch gegenüber Quereinsteigern stehen dem Auswärtigen Dienst gut zu Gesicht. Gerade angesichts des Res- pekts, den Ihre Lebensleistung für das Auswärtige Amt und die Außenpo- litik der Bundesrepublik Deutschland verdienen, lassen Sie mich hinzufügen, dass ich es nicht als Ausweis von Souveränität empfinde, die Teilnahme an der Festveranstaltung einer Institution, durch die in 50 Jahren Zehntausende von Mitarbeitern gegangen sind und die – wie Sie zu Recht sagen – Großes zu Aufbau und Ansehen der deutschen Demokratie beige- tragen hat, von früheren Auffassungen eines einzelnen Mitarbeiters abhän- gig zu machen. Ich bedauere, dass Sie nicht kommen. Falls Sie es wünschen, bin ich gern zu einem Gespräch bereit. Mit freundlichen Grüßen J. Fischer« 37 Die Antwort von Fischer ist bedeutsam, weil in ihr so etwas wie ein Men- schenrecht auf politischen Irrtum postuliert wird und selbst eine radikale, ex- tremistische Vergangenheit der Entwicklung und »glaubhaften Wandlung zum Demokraten« nicht im Wege stehen muss, kann und darf. Was Fischer hier für seinen 68er-Weggefährten Schmierer und damit natürlich indirekt auch für sich selbst in Anspruch nimmt, die »Offenheit und Toleranz« gegenüber einst belasteten Quereinsteigern in hohen und höchsten Staatsämtern – war er allerdings bald selbst nicht mehr bereit zu konzedieren, als es um andere Verstrickte ging, deren Verstrickungen noch viel länger als diejenigen Schmie- rers oder seine eigenen zurücklagen. Es waren keine »roten«, sondern »braune« Verstrickungen. Behalten wir also diesen Brief von Fischer im Hinterkopf, auch seine lobenden Worte über das Auswärtige Amt insgesamt, das »Großes zu Aufbau und Ansehen der deutschen Demokratie beigetragen hat«. Darin war er sich mit Wickert einig. Diese Betrachtungsweise verband sie. Noch. Im Kommissionsbericht ist diese Episode enthalten. Das ist nicht wirklich erstaunlich. Verblüffend ist jedoch, wie offen und eindeutig die Autoren Partei ergreifen. Für Fischer – und gegen den alten Diplomaten: »Dass Wickert in Inhalt und Form weit über das Maß hinausgeschossen war, lag auf der Hand. Hinzu kam, dass Zeitpunkt und Stoßrichtung seines Briefes auf einen direkten Zusammenhang mit der FDP-Anfrage [nach der Rolle von Schmierer im AA; D.K.] – also auf eine gezielte politische Pro- vokation – schließen ließen. Doch obwohl Wickerts Argumente darauf hindeuteten, dass sich bei manchen Pensionären des AA ein sonderbar un- aufgeklärtes Geschichtsverständnis hatte behaupten können, nahm Fischer Vom Menschenrecht auf politischen Irrtum 157

den unerfreulichen Briefwechsel nicht zum Anlass, die seit langem über- fällige Aufarbeitung der Vergangenheit des Amtes endlich anzustoßen. Wie noch alle seine Vorgänger scheute auch der Grünen-Außenminister vor der Aufgabe zurück, die institutionellen und biographischen Belastungen des Amtes wissenschaftlich untersuchen zu lassen. Die knapp überstandene Kontroverse über die Brüche der eigenen Biographie mag die Zurückhal- tung des Ministers erklären …« 38 Die posthume, unterschwellige Verunglimpfung von Wickert durch die Au- toren des Amt-Bandes, der sich Fischer übrigens später etwa im Gespräch mit Fritz Stern explizit anschließen wird, kann man nur als befremdlich bezeich- nen. Wickert, der angeblich jedes Maß verloren hatte, wird »unaufgeklärtes Geschichtsverständnis« bescheinigt oder präziser: unterstellt. Im Gegensatz zum aufklärerischen Furor der Historikerkommission. Fischer, dem die Poli- zisten-Prügel-Fotos gerade um die Ohren gehauen werden, ist noch nicht be- reit, die Geschichte des Amtes aufarbeiten zu lassen. Dabei ist doch eine Aufarbeitung der Amtsgeschichte längst überfällig – nach Meinung der Un- abhängigen Historikerkommission. Allerdings tischt sie uns einen ziemlichen Popanz auf, um anschließend auf ihn einzuschlagen. Neonazistische Erschei- nungen, Handlungen oder Störmanöver hat es im Auswärtigen Amt inklusive seines kleinen Vorläufers zu keinem Zeitpunkt gegeben. Aber die Behauptung allein ist mächtig und wirkungsvoll. Was den Nationalsozialismus anlangt, so wissen wir über den Alltag in ihm, über das Leben in der ersten deutschen Diktatur immer weniger. Die Masseneuphorie für Hitler ist uns ebenso fremd geworden wie der brutale Verfolgungsdruck. Gleichzeitig wird das Urteil der Enkel und Urenkel immer apodiktischer. Das hat Folgen für die einst in die NS-Politik Verstrickten. Sie werden heute viel härter bewertet und schroffer kritisiert, ja stigmatisiert als in den ersten Nachkriegsjahrzehnten. Für sie ist jegliche Unschuldsvermutung und oft auch die Einzelfallprüfung außer Kraft gesetzt. Angemessen scheint für sie fast ausschließlich die Gruppen-Höchst- strafe, die Gruppen-Damnatio zu sein, festzuschreiben im Buch der Ge- schichte – wie durch die Unabhängige Historikerkommission. 158

»Political animal« – und eine Vergangenheit, die nicht vergehen will

Ein Jahr nach den Visa-Turbulenzen im Auswärtigen Amt, die der Öffent- lichkeit noch weitgehend verborgen geblieben waren, standen Bundestags- wahlen an. Joschka Fischer hat in seinen Erinnerungen unter dem Titel I am not convinced 2011 über diese Zeit berichtet. Bis auf das letzte, der hektischen Endphase seiner Ministerzeit gewidmete Kapitel und einige eher beiläufige Bemerkungen, etwa markantes Lob für den hervorragend arbeitenden Kri- senstab im Gefolge der Tsunami-Katastrophe, die auch viele Deutsche mit sich fort riss, kommt das Amt auf den rund 400 Seiten auffälligerweise nicht vor. Mit einer Ausnahme, einem einzigen längeren Abschnitt, den wir hier gleich zitieren werden. Ausgangspunkt zu seinem Verständnis sind die mise - rablen Umfragewerte für Rot-Grün, der deutliche Aufschwung für die FDP und mehr noch für Angela Merkel und die Union, bzw. ihre im Gefolge des Leipziger Parteitages propagierte Revitalisierung der Sozialen Marktwirtschaft, für die die Grünen im Allgemeinen und Fischer im Besonderen nur Verach- tung übrig haben. Im Frühling und Sommer 2002 geht Joschka Fischer davon aus, dass er bald seinen Schreibtisch am Werderschen Markt wird räumen müssen. Er schreibt rückblickend: »In diesem Frühsommer 2002 war die Stimmung in der Hauptstadt ge- spalten – Vorfreude auf den kommenden Wahlsieg bei Schwarz-Gelb und eine elegische Abschiedsstimmung bei Rot-Grün. Im Ministerium summte es schon vor Gerüchten, wer unter meinem absehbaren Nachfolger Wolf- gang Gerhardt von der FDP was werden würde und die diversen liberalen Parteibuchschranzen brachten sich bereits in Position. Zudem wurde im Amt offen die Abrechnung mit Rot-Grün angekündigt. Mir wurde auch zugetragen, dass man sich bei der FDP neben den Personalfragen bereits Gedanken über die Ausstattung meines Ministerbüros machen würde, was allerdings meine Entschlossenheit, die kommende Bundestagswahl doch noch zu gewinnen, nur noch weiter steigerte. Da verteilten ganz offensicht- lich bereits welche das Fell des Bären, während dieser noch fröhlich Schlüsselbegriff: »Schranzen« 159

Die Mühen der Ebenen: Joschka Fischer im Bonner »Tulpenfeld« am 17. Februar 1983 anlässlich der Presse - konferenz der Grünen zur Bundestagswahl am 6. März. Die 1980 gegründete Partei wird nach dieser Wahl erstmals in den Bundestag einziehen.

brummte. Und da es sich in diesem Fall um mein höchstpersönliches Fell handelte, wollte ich das auch so teuer wie möglich verkaufen.« 39 Der Schlüsselbegriff in dieser Passage lautet: »Schranzen«. Er stammt aus der Zeit des Absolutismus, also aus dem 16. und 17. Jahrhundert und meint, stark abwertend, den Höfling, dem wenig schmeichelhafte Charakterzüge zuge- schrieben werden. Er ist intrigant, heuchlerisch, ein Schmeichler und Katz- buckler, immer bereit, Konkurrenten zu demütigen und durch Verleumdung und üble Nachrede auszustechen. Die moderne Form der Hofschranze ist die uns hier von Joschka Fischer – sprachschöpferisch kreativ – präsentierte »Par- teibuchschranze«. Steigerungsform: »liberale Parteibuchschranze«. Die Freien Demokraten gehören für die Grünen ja seit eh und je zu den Teufelssängern der verhassten Marktwirtschaft, die sie zu gern längst schon aus dem »Partei- engarten weggeharkt«, also eliminiert hätten, wie Helmut Schmidt es sich 160 »Operation Hinkelstein«: »Political animal«

1982 wünsch te, nachdem die sozialliberale Koalition zerbrochen war. An Stel- len, wie der eben zitierten, begegnen wir unmittelbar und authentisch dem wohl größten »political animal«, welches die Bundesrepublik in den ersten sechs Jahrzehnten ihrer Geschichte hervorgebracht hat. Gerhard Schröder kann mit dieser bizarren Karriere nicht annähernd mithalten. Das könnten allenfalls noch Herbert Wehner und mehr noch Franz Josef Strauß, jener – neben Fischer – andere Metzgersohn aus Bayern, der mit seiner barocken Figur und dem machiavellistischen Politikverständnis durchaus als entfernter Ver- wandter des grünen Urtiers durchgehen mochte. Doch der war – anders als ihn Rudolf Augstein und seine SPIEGEL-Redakteure darstellten – fast immer, jedenfalls wenn es drauf ankam, ein Zögerer und Zauderer gewesen, von Kreuth über Kohl bis zum Kanzleramt. Ein solcher Cunctator maximus ist Joschka Fischer nicht. Seine Karriere befindet sich überdies in ihrem Zenit, als wir ihm hier begegnen. Geboren wird Joschka Fischer 1948 in der tiefsten Provinz in Gerabronn, bzw. Schrozberg – auch Rezzo Schlauch stammt von dort – im Landkreis Schwä- bisch-Hall im Nordosten des späteren Landes Baden-Württemberg als Sohn eines ungarischen Metzgers. Er wird hineingeboren in eine Familie von Ver- triebenen. Denn die Familie kam 1946 ins Hohenloher Land aus dem kleinen Dorf Budakeszi bei Budapest, zweihundert Jahre nach ihrer dortigen Ansied- lung, wo sie seit sechs Generationen das Metzgerhandwerk ausgeübt hatte. Sie war von den Kommunisten ausgewiesen und enteignet worden, weil – so besagten es Gerüchte – der Vater in Diensten von Admiral Horthy gestanden haben soll, jedenfalls Verbindungen zu ihm gehabt hatte. Erzwungenermaßen wechselt die Familie in die amerikanische Besatzungszone über. Metzger wer- den auch dort gebraucht – und das »Wappen«, das sich Joschka Fischer 2004 für 2.000 Euro zulegen wird, zeigt denn auch einen Fisch unterhalb zweier gekreuzter Hackebeilchen und zwei Helmflügelchen, die an Asterix, die Un- besiegbarkeit und den Hinkelstein erinnern. Sein Vorname trägt noch die Spuren dieser Herkunft, ist er doch aus der ungarischen Verkleinerungsform für »Josef« abgeleitet. Die Eltern hatten schon im Weltkrieg in Ungarn Zuflucht im katholischen Milieu gefunden – nun sind sie zunächst zwar fremd in der deutschen Fremde, wie Karl Valentin sagen würde, aber sie sind streng katholisch. Das konservativ-katholisch-dörfliche Milieu in der neuen Heimat nimmt sie auf, stößt sie jedenfalls nicht brutal ab wie manch andere Vertriebene. Ein CDU-Landtagsabgeordneter kommt aus demselben Ort wie sie, hilft ihnen beim Antrag auf Lastenausgleich. Sie werden ihm als stramme CDU-Wähler immer die Treue halten und – so lange Der andere Metzgersohn 161

Das Wappen von Joschka Fischer mit seinen sicherlich gewollten Assoziationen

das möglich ist – ausschließlich ihm ihre Stimme geben. Joschka Fischer selbst hat im ersten Teil seines Gesprächs mit Fritz Stern manches dazu erzählt. Die Schule bricht er in der 10.Klasse ab. Jobbt, beginnt eine Lehre als Pho- tograph. Bricht sie ab. Zerstreitet sich mit dem Vater. Rebelliert gegen ihn und das katholisch-konservative Milieu, den »erzkatholischen Würgegriff der Mater Ecclesia«, für den seine Mutter steht. Ist früh schon eine Leseratte mit beträchtlicher Speicherkapazität. Geht mit 16 fort aus Oeffingen, aus Langen- burg an der Jagst im Hohenloher Land. Besucht aus Interesse, aber auch weil der Zufall Pate steht, in Frankfurt am Main Vorlesungen von linken Geistes- größen jener Zeit wie Oskar Negt, Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas. Sympathisiert mit dem SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund), der für die damaligen SPD-Genossen schon zu weit links war, weshalb einem Juso die Mitgliedschaft seit Anfang der sechziger Jahre verboten ist und bleibt. Rückt weiter nach links. Gerät zwei Tage nach den Todesschüssen auf Benno 162 »Operation Hinkelstein«: »Political animal«

Ohnesorg während des Schah-Besuchs am 2. Juni 1967 durch den auf der »Pay- roll« der DDR-Staatssicherheit stehenden West-Berliner Kriminalobermeister Karl-Heinz Kurras eher zufällig in Stuttgart in eine SDS-Protestdemonstration. Da ist er gerade 19 Jahre alt geworden, nach damaligem deut schem Recht also noch nicht volljährig. Fortan wird er durch die Kampfthemen der linken deutschen Studenten politisiert: die NS-Vergangenheit, der sich zu stellen die sonst autoritären Väter offenbar peinlich vermieden. Der imperialistisch-verbrecherische Krieg der USA in Vietnam. Die den Rechtsstaat bedrohenden, ja abschaffenden Not- standsgesetze. Den Muff aus tausend Jahren unter den Talaren der Hochschul- magnifizenzen. Die durch Unkenntnis gestützte Verehrung für einen der größten Massenmörder des 20. Jahrhunderts – für Mao und seine von millio- nenfachem Mord begleitete Kulturrevolution. Sicher, nur eine studentische Minderheit um Rudi Dutschke und Hans-Jürgen Krahl brabbelte pseudomar- xistisches Kauderwelsch, faselte von revolutionärer Situation, einer Rückkehr des NS-Terrors, von »repressiver Toleranz«. Fischer selbst spricht gegenüber Fritz Stern von »grauenhaftem Kauderwelsch, viel rhetorischem Stroh«, spricht auch davon, dass Jürgen Habermas mit seinem »Vorwurf des Linksfaschismus nicht ganz falsch gelegen« habe.40 Die schweigende studentische Mehrheit ver-

In einem kleinen germanischen Dorf wird der Kampf gegen die römischen Legionen vorbereitet … Im Sog der APO 163

»Mir war klar, dass ich meinen letzten Stein in die Luft werfe, der lange in der Luft sein … und am Ende als Hinkelstein auf die römischen Legionäre niedergehen würde. Mir war zugleich klar, dass ich den Ein- schlag, das Erscheinen des Kommissionsberichtes selbst nicht mehr im Amt erleben würde.« (Joschka Fischer zu Fritz Stern, Gegen den Strom – Ein Gespräch über Geschichte und Politik, München 2013, S.50) stand damals aber wohl ohnehin von dem »Jargon« wenig, hielt manche der angesprochenen Themen jedoch für überzeugend, zog daher mit den Gali- onsfiguren auf Demonstrationen und in Wohngemeinschaften. Das tut auch Joschka Fischer. Er sitzt »friedlich« in Frankfurt an der Gal- luswarte und blockiert die Produktionsstätten des verhassten Springer-Ver- lages in der Societätsdruckerei an der Frankenallee, will die Auslieferung der BILD-Zeitung verhindern, auf deren Titelseiten den rebellischen Studenten damals mehr oder minder unverhüllt ein »Geht doch nach drüben!«, »Geht doch in die sozialistische DDR!« entgegenschlägt und die die Studenten bald mitverantwortlich machen werden für die Schüsse eines kleinen Malergesellen auf Rudi Dutschke. Sollte die Linke wie einst in Weimar wieder zur Schlacht- bank geführt werden? Nein, nie wieder. »Enteignet Springer!« war denn auch eine unter den Linken jener Jahre verbreitete populäre Forderung. Fischer geriet bei dieser Gelegenheit allerdings zusammen mit seiner damaligen Frau in einen Polizeikessel. Er schützt sie mit seinem Körper, wird dafür schwer verprügelt. Hat fortan Angstzustände auf Demonstrationen, die er erst über- 164 »Operation Hinkelstein«: »Political animal« windet in der Eins-zu eins-Situation, als er auf einen Polizisten zuläuft und selbst zu prügeln beginnt. Schwere familiäre Schicksalsschläge liegen gerade unmittelbar hinter ihm. Im November 1966 sind sein Vater – mit ihm unversöhnt – und die zweitäl- teste Schwester innerhalb von nur zehn Tagen gestorben. Die Nachricht hatte ihn in Syrien erreicht. Auf dem »Hippie-Trail« wollte er nach Indien und Nepal trampen. Jetzt kehrt er nach Deutschland zurück. Besucht einen PLO- Kongress in Algier, jobbt bei Opel, versucht die Arbeiter zu politisieren, wird deshalb schon nach wenigen Monaten als ein »den Betriebsfrieden störender Agitator« gefeuert. Aber er lernt daraus, ist ein wissbegieriger Autodidakt, lernt schnell. Jobbt als Buchhändler, liest viel, jobbt als Taxifahrer, radikalisiert sich, sympathisiert mit jenen wenigen, die im Gefolge der »Rote Armee Fraktion« (RAF) als »Stadtguerilla« in den Untergrund gehen, zu Terroristen und Mör- dern werden. Wird Mitglied in einer kleinen aggressiven linken Randgruppe im Frankfurt der frühen siebziger Jahre – Udo Riechmann, Mitglied im letzten SDS-Bundesvorstand, hat 1969 den Namen für sie geprägt: »Putztruppe«, Proletarische Union für Terror und Zerstörung. Macht mit dieser Putztruppe bis 1975 mit beim »revolutionären Kampf«, gehört zu jenen kleinen linksra- dikalen und militanten Kämpfern in der Frankfurter Szene, die sich verharm- losend »Spontis« nennen, aber extrem nah am bewaffneten Linksterrorismus jener Jahre vorbeisteuern. Am 9. Mai 1976 wählt Ulrike Meinhof im Hochsicherheitstrakt des Ge- fängnisses von Stuttgart-Stammheim den Selbstmord, isoliert und gemobbt von ihren engsten Weggefährten, besonders von Andreas Baader und Gudrun Ensslin. Für die linke Szene steht sogleich fest: Staatsmord im Knast. »Rache für Ulrike« skandieren alle auf den Szene-Versammlungen in Frankfurt nach ihrem Tod. Dem »Bullen-Staat« es zu »zeigen«, Widerstand zu leisten gegen den Obrigkeitsterror, lautet die Parole. Joschka Fischer ist unter den 40 bis 50, die an diesem Abend die nächste Demonstration planen, die jetzt den Einsatz von Molotowcocktails diskutieren, beratschlagen, wie diese durch die Poli- zeikontrollen bis zum »Einsatzort« gebracht werden können. »Verteidigungs- minister« lautet nicht von ungefähr sein Spitzname in der Szene der linken Hausbesetzer und Genossen vom »Revolutionären Kampf«. Er ist ein kluger Planer von Demonstrationsabläufen. Lässt sorgfältig vorher »üben«, wie man sich zu bewegen, wie anzugreifen, wie zu flüchten und vor allem, wie man ge- fangen genommene Demonstranten zu befreien hat. Und Polizisten Schilder, Helme, Schlagstöcke, sogar Waffen abnimmt. Kurz darauf, 1977 schreibt er freimütig in einem Aufsatz für die linke Zeitschrift Autonomie: Am Abgrund des Terrorismus 165

»Im Zusammenhang mit der Notwendigkeit, sich zu schlagen, wurde dann leicht auch, ja, die LUST am Schlagen daraus, ein existentiell sadistisches Vergnügen, auch wenn’s ein Bulle war. Wirklich war die Erfahrung der di- rekten Konfrontation mit der staatlichen Gewalt und ihren Schweinen, wirk- lich war meine Angst davor und mein Glück und mein Stolz (jawohl: Stolz), wenn wir’s ihnen mal erfolgreich gezeigt hatten … Stalin war so ein Typ wie wir. Es ist unser und mein dunkelstes Kapitel, ich weiß oder ahne es nur, weil ich da selbst wahnsinnige Angst vor bestimmten Sachen in mir habe. Bartsch und Honka sind Extremfälle, aber irgendwo hängt das als Typ in mir …« 41 Der Massenmörder Dschughaschwili, der Knabenmörder Jürgen Bartsch, dazu Fritz Honka, der vier Frauen tötete und zersägte, es ist schon eine bizarre »Ah- nengalerie«, die er da selber auflistet. Zurück ins Jahr 1976. Zwei Zeugen haben später ausgesagt, Joschka Fischer habe an jenem Abend des Todestages von Ulrike Meinhof explizit zum Einsatz von Molotowcocktails aufgerufen, die schwere Verletzung, ja Tötung von Po- lizeibeamten bewusst in Kauf genommen – der STERN hat am 4. April 2013 ausführlich darüber berichtet. Molotowcocktails sind eine gefährliche Waffe. Benzin wird in eine Flasche gefüllt, ein Lappen, eine Socke wird in den Hals gestopft und angezündet, kurz gewartet – und fertig ist ein hoch explosives Wurfgeschoss, denn beim Platzen ergießt sich die schwer zu löschende Flüs- sigkeit über jeden Attackierten. Neben Udo Riechmann erinnerte sich auch der spätere ZEIT-Journalist Michael Schwelien an jenen Abend: »Wehrt Euch, nehmt die Mollis, so eine Stimmung habe geherrscht, und Fischer hat die Leute regelrecht ermuntert. Er hat die Stimmung aufgeheizt, er hat nicht ge- sagt: Hört auf! Das ist ja Wahnsinn!« Was am nächsten Morgen geschah, wird in der STERN-Reportage geschildert. In ihr kommt ausführlich jener Polizei- beamte zu Wort, der durch explodierende Molotowcockatails damals lebens- bedrohlich verletzt werden sollte: »Der 10. Mai 1976 war ein sehr heißer Tag. Jürgen Weber war 23, Polizei- obermeister in Frankfurt, und weil ihn ein Kollege darum gebeten hatte, tat er für ihn Dienst. In einem Streifenwagen fuhr er hinter einem De- monstrationspulk her, es waren über 1000 Leute. Sie waren auf der Straße, weil am Tag zuvor das RAF-Mitglied Ulrike Meinhof in Stammheim tot aufgefunden worden war, weil ›Ulrike‹, wie die Demonstranten vermuteten, ›ermordet‹ worden war, weil ›Ulrike‹, wie es der damals 28-jährige Fischer ausdrückte, ›im Knast von der Reaktion in den Tod getrieben, ja im wahrs- ten Sinne des Wortes vernichtet‹ wurde. Noch heute fällt es Weber schwer, über das zu reden, was damals an jenem Montag im Mai kurz vor 17 Uhr 166 »Operation Hinkelstein«: »Political animal«

passierte: Es war alles friedlich, keine Vorkommnisse, plötzlich blieb das Ende des Demonstrationszugs am Roßmarkt stehen. 40, 50 Leute drehten sich wie auf Befehl rum und warfen die ersten Molotowcocktails. Es ist nicht schön, diese Dinger auf dich zukommen zu sehen. Da kommt Panik auf. Die haben ganz gezielt geworfen. Es wurde massiv auf das Auto ge- worfen, als ich raus wollte, explodierte neben meiner Fahrertür ein Molo- towcocktail. Da war plötzlich eine meterhohe Flammenwand, sie schlug über das Auto. Ich will deshalb also bei der Beifahrertür raus, verhake mich, da schlägt rechts oben am Holm eine Flasche ein, alles ergießt sich ins Auto, das Auto brennt, ich brenne, irgendwie komm ich raus und bin wegge- rannt. Meine Kollegen sind hinter mir her, haben mich umgeworfen und mich gelöscht. Ich schrie meine Kollegen an: ›Erschießt mich! Erschießt mich!‹ 60 Prozent seiner Haut waren zerstört, Oberkörper, Arme, Beine, alles, bis auf sein Gesicht, Jürgen Weber war einer der ersten Menschen, die eine solch massive Verbrennung überlebten. Und er sagt heute: ›Fischer ist für mich der geistige Täter.‹ Er würde ihn heute ›gerne fragen, ob er all die Jahre mit ruhigem Gewissen geschlafen hat?‹« Am 14. Mai 1976, vier Tage nach der Meinhof-Demonstration, sehr früh am Morgen, verhaftete die Polizei zwölf Männer und zwei Frauen unter dem Ver- dacht des versuchten Mordes. Als besonders schwer belastet galten zwei Stu- denten, ein Schlosser, ein Elektroingenieur sowie »der 28-jährige Josef Martin Fischer«. Am Samstag war er aber bereits wieder auf freiem Fuß. Sämtliche Er mittlungen verliefen im Sande. Der »Mordversuch« an Jürgen Weber, der mehr als einen Monat in Lebens- gefahr schwebte und allen Prognosen zum Trotz, wenn auch schwer traumati - siert, überlebte, blieb ungeklärt. Zur Anklageerhebung kam es seltsamerweise nicht. Was in den etwas mehr als 24 Stunden seiner Inhaftierung mit Joschka Fischer geschah, ob er unter Druck gesetzt oder korrekt behandelt worden ist? Wir wissen es nicht. Er hat später wiederholt betont, dass er damals »fast ka- putt gegangen« wäre. Die Verhaftung hat bei Joschka Fischer vermutlich einen intensiven Prozess des Nachdenkens in Gang gesetzt. Er beginnt, sich von der linksradikalen Szene zu lösen. Auf dem von Michael Schwelien und dem »Sozialistischen Büro« organisierten »Anti-Repressionskongress« in Frankfurt, einer Veranstal- tung gegen den von der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt und Wal- ter Scheel eingeführten Radikalenerlass und die Berufsverbote für linke Staatsfeinde, vor allem Mitglieder der 1968 neu zugelassenen DKP, ergreift ein moderaterer Joschka Fischer vor 20.000 Zuhörern das Wort. Im STERN Keine Trauer um Ponto, Buback und Schleyer 167 vom 4. April 2013 sind auch diese Zitate nachzulesen. Zunächst lobt er den gewaltsamen Protest vom 10. Mai gegen die »Ermordung von Ulrike«: »Dreitausend Linke hatten das Gefühl gehabt, dass es jetzt reicht mit dem staatlichen Terror gegen die politischen Gefangenen, dass man jetzt, um den Preis des Verlustes der eigenen Menschlichkeit, seiner Sensibilität für Gewalt und Unterdrückung folgend auf die Straße gehen muss, handeln muss. Und sie haben gehandelt.« Erstmals findet sich aber hier bei ihm eine Distanzierung von der RAF und den Revolutionären Zellen: »Gerade weil unsere Solidarität den Genossen im Untergrund gehört, weil wir uns so eng mit ihnen verbunden fühlen, fordern wir sie hier auf, Schluss zu machen mit diesem Todestrip«. Es ist ein tastendes Suchen nach der ei- genen, neuen Position: »Wir können uns (natürlich) nicht einfach von den Genossen der Stadtguerilla distanzieren, weil wir uns dann von uns selbst distanzieren müssten. Weil wir unter demselben Widerspruch leiden, zwi- schen Hoffnungslosigkeit und blindem Aktionismus hin- und her schwan- ken. Aber aus demselben Grund müssen wir die Aktionen der Stadtguerilla entschieden angreifen, weil wir wissen und fühlen, dass sie Selbstaufgabe bedeuten, den Verzicht auf Leben, den Kampf bis zum Tod und bis zur Selbstvernichtung.« Die Ereignisse im deutschen »Herbst des Terrorismus« 1977 mit der Entfüh- rung und späteren Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer, bei der zunächst sein Fahrer und sein Sicherheitsbegleitkommando erschossen worden waren, die Entführung der Lufthansa-Maschine »Landshut« durch Terroristen, die Erstürmung des Flugzeugs und die Geiselbefreiung in Mogadischu durch die GSG 9, der anschließende Selbstmord der Stammhei- mer Häftlinge Baader, Ensslin und Raspe beschleunigen bei ihm den Bewusst- seinswandel. Auch wenn er noch ein Jahr später die Ermordung von Hanns Martin Schleyer und seiner Sicherheitsbegleiter, von Bundesanwalt Siegfried Buback und von dem Bankier Jürgen Ponto durch die RAF im Frankfurter Sponti-Magazin Pflasterstrand mit dem Satz kommentiert: »Bei den drei hohen Herren mag mir keine rechte Trauer aufkommen, das sag ich ganz offen, für mich …« 42, verabschiedet er sich von den Illusionen des bewaffneten Umstur- zes, wird am Ende seines Weges das staatliche Gewaltmonopol sogar vehement verteidigen und als stabilitätsfördernde zivilisatorische Errungenschaft loben. Er habe, so wird er bald nicht müde zu betonen, sich zum überzeugten De- mokraten gewandelt, das gelte für viele seiner Generation, die bei den Grün- Alternativen ihr politisches Betätigungsfeld gefunden hätten: 168 »Operation Hinkelstein«: »Political animal«

»Ich habe erkannt, wie Gewalt die eigenen Gesichtszüge verzerrt, selbst wenn man meint, sie aus guten Gründen einsetzen zu können. Ich habe damals Unrecht getan, und ich habe mich dafür zu entschuldigen bei allen, die davon betroffen waren.« 43 All diese Szenen gehören aber in das Tableau der Auseinandersetzungen, das sich vor unseren Augen mittlerweile enthüllt. Es sind Stationen in dem selt- samen Generationenkonflikt, diesem Großväter-Väter-Söhne-Konflikt, der damals zunächst hinter den Kulissen, dann aber auch zunehmend vor den Augen der Öffentlichkeit ausgefochten wurde. In diesem Konflikt spielt das tiefe Ressentiment eine bedeutsame Rolle, das Fischer gegenüber den konser- vativen Altvorderen zeitlebens empfindet, seit seinen tief katholisch geprägten Kinder- und Jugendtagen. Nicht umsonst wird er zu Fritz Stern sagen: »Preußen war politisch eine ziemlich reaktionäre Veranstaltung trotz der Aufklärung und einiger großer Persönlichkeiten. Dass das berühmt-berüch- tigte Krautjunkertum jeden Anflug von Demokratisierung und Liberali- sierung im Keim erstickte – das alles wird von den Preußenfreunden gern vergessen. Ich muss sagen, dass ich ganz froh bin, dass die ostelbischen Jun- ker alle im Kölner Sozialbau oder sonst wo in Westdeutschland gelandet sind. Ich sehe das als eine der ganz großen Veränderungen der jüngeren deutschen Geschichte, die der Bundesrepublik einen wirklichen Neuanfang ermöglicht haben«.44 Ja, es gibt wohl eine hämische Seite bei Fischer, die hier aufscheint. Viele der verhassten ostelbischen Junker landeten ja gerade nicht im »Kölner Sozial - bau«, sondern wurden von Hitlers Schergen für ihre Verwicklung in den 20. Juli gehenkt oder später von Ulbrichts Schergen enteignet, verjagt, manchmal sogar ermordet. Fischer weiß das natürlich. Aber die »klammheimliche Freude« über die Vernichtung und soziale Herabstufung dieser – der deutschen Linken auf rätselhafte Weise zutiefst und dauerhaft verhassten – Gruppe bis zur Be- deutungslosigkeit überwiegt. Aber Ressentiment dominiert hier Reflektion. Es ist ein Mechanismus, der uns auch beim Jagdtrieb seiner historischen Er- mittler wieder begegnet. Fischer selbst hatte mehr Glück. Er endete nicht im »Kölner Sozialbau«. Aus einer Familie von Vertriebenen stammend, tritt er auf Umwegen an zu seinem erstaunlichen Karrierelauf. Nicht vom Tellerwä- scher zum Millionär, aber doch vom Polizisten attackierenden Revoluzzer und Taxifahrer ohne Schulabschluss zum Außenminister und Vizekanzler der Bun- desrepublik – was für ein verblüffender Aufstieg! Jahre zuvor war Fischer in Hessen der erste grüne Umweltminister der Bundesrepublik, nein, »des ganzen Planeten« gewesen, wie er rückblickend meinte, als sich erstmals in ihrer Ge- Erster grüner Umweltminister des Planeten 169 schichte die Grünen an einer Koalition mit der SPD beteiligten, ihrem bislang einzig wirklich geschätzten Dauerkoalitionspartner. Die zwei Experimente mit der vor allem bei der grünen Wählerklientel tief verhassten Union platzten in Hamburg und im Saarland nicht von ungefähr schnell. Fischer war zugleich der erste Minister in Deutschland gewesen, der in einem ausgebeulten Tweed-Sakko und eigens neu erstandenen knallweißen Turnschuhen den Amtseid leistete, vor seinem Eintritt in das Kabinett des so- zialdemokratischen Ministerpräsidenten Holger Börner, eben jenes Mannes, der ihn und seine kommunistisch-grüne Anarcho-Antiatom-Antikapitalismus- und Antimodernismus-Partei mit ihren wenigen konservativen Einsprengseln noch kurze Zeit zuvor mit der Dachlatte hatte Mores lehren wollen. Gewiss, es war eine wackelige Koalition und nach knapp zwei Jahren war sie schon wieder vorbei. Dennoch: Die erste Regierungsbeteiligung auf Landesebene, die erste Regierungsbeteiligung auf Bundesebene war jeweils und vor allem das Werk von ihm, von Joschka Fischer. Es war seine wichtigste Lernphase in Sachen Handhabung staatlicher Macht - apparate, eine bedeutsame Lehrzeit für ihn. 2013 hat er im Gespräch mit Fritz Stern darüber berichtet: »Bei den Grünen habe ich mich durchgesetzt durch Niederlagen, nicht durch Siege. Die schlimmste Zeit war die erste rot-grüne Koalition in Hes- sen von 1985 bis 1987 gewesen. Das war furchtbar, in der Zeit bin ich rich- tig alt geworden. Die Partei war gegen mich – nicht die hessische, aber die Bundespartei – die Medien waren gegen mich, die SPD war nicht für mich, die Opposition angeführt von Manfred Kanther war heftig gegen mich – und ich hatte keine Ahnung vom Regieren. Ich hatte keine Ahnung von Umweltpolitik. Der Koalitionsvertrag war ganz schlecht verhandelt, was den Grünen nicht vorzuwerfen ist, es war das erste Mal. Ich hatte kaum Zu ständigkeiten. Ehrlich gesagt, wusste ich damals gar nicht, was Zustän- digkeiten sind. Nach 16 Monaten war es vorbei, Gott sei Dank! Ich war so was von fix und alle, aber es war zugleich die Zeit, in der ich am meisten in meinem Leben gelernt habe«.45 Es war die Zeit der erbitterten parteiinternen Kämpfe zwischen pragmatisch- linken »Realos« und fanatisch-marxistisch geprägten »Fundamentalisten«, eine Zeit der öffentlichen Anfeindungen, als die Grünen noch nicht im »Main- stream« der Bundesrepublik mit breiter medialer Unterstützung ihre Bahnen zogen. Trotz seiner Erschöpfung lernte Fischer schnell und verstand es rasch, den »Gleichmachertendenzen« in seiner Partei zu trotzen, sich abzuheben von allen anderen und dabei enorm populär zu werden wie niemand sonst bei den 170 »Operation Hinkelstein«: »Political animal«

Grünen. Er verstand die Massen anzuziehen und zu mobilisieren weit über die »Stammwähler/innen« hinaus. Er wurde Zugpferd und Sonnenkönig die- ser Partei, war der wichtigste Fixstern für sie. Er zog an, stieß ab und steuerte zugleich höchst geschickt die labile Basis. Um ihn kreiste alles, mochten die andern darüber laut oder leise maulen und motzen. Und er hatte Fortüne – 2002 zum letzten Mal. Wider alle Erwartungen ge- wann Rot-Grün die Bundestagswahl. Die klare Ablehnung einer Mitwirkung am zweiten US-Irak-Krieg von George W. Bush, der deutsche »Monsunregen« im August mit seinen Flutwellen und Überschwemmungen, wo Gerhard Schröder sich instinktsicher als zupackender Deichgraf präsentierte und das Füllhorn der raschen, unbürokratischen staatlichen Hilfe öffnete – Notlagen sind stets die Stunde der Exekutive –, sowie Angela Merkels ungeschickte Prä- sentation eines weißen Steuerkaninchens, das vom Kanzler sogleich zum Nachteil der Union als »Professor aus Heidelberg« samt seinen angeblich zu- tiefst asozialen Steuermodellen stigmatisiert wurde, hatten in den letzten Wo- chen des Wahlkampfes den von der Opposition gefürchteten, von Rot-Grün ersehnten »last-minute-swing« bewirkt. Es war zwar knapp gewesen, aber es reichte tatsächlich, nicht zuletzt wegen der Überhangmandate, auf die Schrö- der 2005 abermals hoffte, als er im Fernsehen seinen auf den ersten Blick ziem- lich unverständlichen Macho-Auftritt hinlegte. 2002 misslang Rot-Grün der Neustart allerdings, ganz ähnlich wie bei Willy Brandt nach dem großen Wahlsieg dreißig Jahre zuvor. Die Koalitionäre waren schlichtweg erschöpft. Die bald schon von Gerhard Schröder implementierte »Reformagenda 2010« wurde innerhalb der SPD nicht richtig erklärt, nicht wirklich »kommuniziert«, sondern der Partei »par ordre de mufti« oktroyiert. Das ließ die Genossen und Gewerkschafter in Scharen zur Linkspartei wechseln, wo Oskar Lafontaine, der einstige SPD-Vorsitzende und Spitzenkandidat als Renegat seinen obskuren Rachefeldzug gegen den Bundeskanzler und die Sozi- aldemokratie intensivierte und alles tat, um seiner ehemaligen Partei zu schaden. Er konnte leicht mit populistischen Parolen und Verheißungen operieren, weil er wusste, dass diese niemals dem Test der Realität ausgesetzt werden würden. Joschka Fischer selbst war amtsmüde. Zwar freute es ihn geradezu diebisch, den »Parteischranzen« in seinem Amt ein Schnippchen geschlagen zu haben und auf die alte Position zurückkehren zu können. Aber das sollte nur für eine begrenzte Zeit geschehen. Fischer strebte nach Höherem, wollte in der Mitte der Legislaturperiode erster europäischer Außenminister werden, hatte sich eigens deshalb von Gerhard Schröder in den europäischen Verfassungskonvent delegieren lassen, der unter dem Vorsitz von Valéry Giscard d’Estaing eine Schmerzliche Rollenverteilung: Koch und Kellner 171 neue europäische Verfassung entwerfen sollte. In seinem Amt am Werderschen Markt fühlte er sich nicht mehr wirklich ausgefüllt. Seine wenig attraktive Hauptaufgabe in jenem Ressort war doch, die Scherben im deutsch-amerika- nischen Verhältnis zu kitten und öffentlichkeitswirksam einen Händedruck zwischen Präsident Bush und dem Bundeskanzler zuwege zu bringen – was erleichtert wurde, weil die Apparate weiter eng und gut zusammenarbeiteten, die Konflikte lediglich die oberen Ebenen berührten. Der Außenminister und Vizekanzler litt wohl auch darunter, dass er nur Kellner, Schröder aber der Koch war in diesem Regierungsrestaurant – und der Bundeskanzler sich durchzusetzen pflegte bei der Menü-Gestaltung. Das ging bis zu den abrupt eingeleiteten vorzeitigen Neuwahlen 2005, inklusive einer willentlich verlorenen Vertrauensfrage, denn tatsächlich verfügte der Bundeskanzler ja über eine stabile Mehrheit im Parlament. Auch wenn Fischer das wie alle Grünen, aber auch Frank-Walter Steinmeier für kompletten Unfug und töricht hielt, fügte er sich und spielte mit. Joschka Fischer hatte dem Bun- deskanzler allerdings bereits vorher gesagt, dass er in jedem Fall in absehbarer Zeit aus dem Kabinett und aus der Bundespolitik überhaupt aussteigen wolle. Daher kämpfte er auch nicht mit aller Kraft gegen diese einsame Entscheidung des Kanzlers an, die ihm schon lange vor der Landtagswahl in Nordrhein- Westfalen für den Fall eines desaströsen Ausgangs dort von Schröder bei einem Abendessen unter vier Augen als Möglichkeit angekündigt worden war. Das war in Rom geschehen, am Vorabend der Beerdigung von Johannes Paul II. im Hotel de Russie an der Piazza del Popolo. Schröder räumte an diesem ebenso trauten wie traurigen Abend, obendrein noch seinem Geburtstag, für die SPD die Alternative des Machterhalts in einer Großen Koalition mit der Union freimütig ein, während für die Grünen lediglich wieder die harten Bänke der Opposition winken würden. Fischer akzeptierte das nüchtern und lamentierte keine Sekunde. 172

»Das Auswärtige Amt wird ihm ein ehrendes Andenken bewahren« – Nachruf-Krise und Kommissionsfindungsverfahren

In dieser Zeit war der Konflikt innerhalb des Auswärtigen Amtes aber bereits eskaliert, für den der interne Visa-Streit und der Briefwechsel mit Erwin Wickert den Auftakt hinter den Kulissen gebildet hatten. Am 9. Februar 2003 verstarb in Bad Homburg mit 93 Jahren Generalkonsul a.D. Dr. Franz Nüß- lein. Alle aktiven Mitarbeiter des Amtes erhielten eine Todesanzeige, auf wel- cher zudem der oder die nächste Verwandte aufgeführt wurde mit der aktu ellen Anschrift, damit die Kondolenzbriefe auch an den richtigen Adres- saten geschickt werden konnten – in unserem Fall an die Großnichte von Franz Nüßlein. Im Mai erschien daraufhin im kleinen Amtsblatt, der Hauszeitschrift intern AA, auf Seite 9 eine kurze Würdigung, deren Text mit demjenigen der Todes- anzeige vom Februar deckungsgleich war. Abermals stand bei Nüßlein wie bei den 5 anderen, gleichfalls hoch betagt Verstorbenen – sie waren 76, 80, 86, 92 oder 93 Jahre alt geworden – die kurze, knappe Formel: »Das Auswärtige Amt wird ihm ein ehrendes Andenken bewahren.« Die Hauspostille des Amtes war keine bedeutende Publikation mit bun- despolitischer Breitenwirkung. Aber alle über die Welt verstreuten deutschen Diplomaten erhielten sie automatisch per Kurier und wurden so kurz und knapp über Personalien (vor allem Beförderungen) im Haus, aber auch über »Prosecco, Feta und Nivea« oder »Ein Fußballturnier mitten im Bürgerkrieg« und natürlich – seit Beginn der Ära Fischer – über »Außenpolitik für Um- weltschutz« oder »Walschutz/Klimawandel/Biotechnologie« von der Zentrale unterrichtet; die genannten Beispiele sind dem erwähnten Mai-Heft 2003 ent- nommen. Auch die zahlreichen älteren Pensionäre wurden auf diese Weise ein wenig à jour gebracht, was die Vorgänge im Amt anging. Das Amtsblatt hatte einen verlässlichen Stamm von mehreren tausend Lesern. Die Pensionäre blickten jeweils einmal im Monat mit begreiflichem Interesse auf die Seite der Nachrufe, um festzustellen, wer von den ehemaligen Weg- und Teamgefährten nun für immer abberufen worden war. Für die Pensionäre des Amtes war die Kein ehrendes Gedenken? 173

Nachruf-Seite im Blättchen von besonderer Bedeutung, weil sie nicht mehr automatisch im amtsinternen Verteiler für die Todesanzeigen aufgeführt waren wie jeder Mitarbeiter im Hause. Der knappe offizielle Nachruf des Amtes für Nüßlein wies natürlich eine befremdliche Lücke auf. Über die Zeitspanne zwi- 174 »Operation Hinkelstein«: Nachrufkrise und Kommissionsfindung

Reichlich unscheinbar wirkt die Seite, auf der sich der Stein des Anstoßes verbarg – sechs Nachrufe auf überwiegend hochbetagte Männer, die allesamt nach dem Zweiten Weltkrieg ihrem Land verlässlich ge- dient hatten als Generalkonsuln, Leiter des medizinischen Dienstes in Kairo oder Neu-Dehli, aber auch als Pförtner und Bote. Aus: intern AA, Mai 2003, S.9. Das Motto der Diplomaten: »In dubio abstine« 175 schen dem Abschluss seines Jurastudiums, bzw. dem Beginn seiner Tätigkeit für das Justizministerium und seiner »Inhaftierungszeit« verlor er kein einziges Wort. Die Zeit in Prag, im Stab der deutschen Protektoratsverwaltung, als Zuarbeiter für Constantin Freiherr von Neurath, später dann für Reinhard Heydrich, Wilhelm Frick und Karl Hermann Frank wurde verschwiegen. Wie läßt sich das erklären? Verschwörungstheoretisch? Nein, viel simpler. Der für die Formulierung zuständige Mitarbeiter in der Personalabteilung hatte sich – wie in solchen Fällen üblich – Nüßleins Personalakte kommen lassen. Die Akten lage war in seinem Fall ungewöhnlich umfangreich und kompliziert. Mehrere hundert Seiten auf verschiedene Fundstellen verteilt. Ob der Sach- bearbeiter sie alle zusammenbekam, wissen wir nicht. In jedem Fall war es na- hezu unmöglich, selbst große Teile in kurzer Zeit durchzulesen, zu gewichten und – zu verstehen. Es gab ja noch weitere Todesfälle im Haus, die nach Nach- rufen verlangten. Und diese dicke Akte war überdies voll von widersprüchli- chen Hinweisen über die Tätigkeit Nüßleins in der Zeit des Dritten Reiches. Offenbar, das sah man gleich, war Nüßlein schon zu Lebzeiten umstritten gewesen. Es gab schwer Belastendes, sogar eine Stellungnahme von Bormann, dem Leiter von Hitlers Parteikanzlei – der »Führer« verfügte über vier Kanzleien (Parteikanzlei/Reichskanzlei/Reichspräsidentenkanzlei/Persönliches Büro), aber im Krieg leitete Bormann zweifelsohne die wichtigste, war einer der mäch- tigsten Männer im Reich. Es gab aber auch Entlastendes wie die Aussage eines Schweizer Diplomaten zu Gunsten von Nüßlein über dessen Tätigkeit in Prag, gab umfangreiche, differenzierte Gutachten von Staatssekretären und – den- noch – immer wieder neue Anschuldigungen und Verdächtigungen bis hin zu den Schülern der deutschen Schule, die in Barcelona Anfang der siebziger Jah- ren dagegen protestierten, dass Nüßlein ihnen feierlich die Abiturzeugnisse überreichen sollte. Das wichtigste Entlastungsdokument, das in der Einleitung bereits erwähnte, rund 20 Seiten umfassende Prager Urteil von 1948 stach dem Sachbearbeiter nicht ins Auge, ähnlich ging es einer Kollegin aus dem Umfeld der Historikerkommission, die die Akten bald darauf gleichfalls durchsah. Unser Sachbearbeiter verfuhr daher gemäss dem Ratschlag des Staatssekre- tärs Ernst von Weizsäcker: »In dubio abstine«. Im Zweifel Zurückhaltung, Abstinenz, Ausklammern, Weglassen. Die Experten im Politischen Archiv des Hauses wurden nicht hinzugezogen oder konsultiert. Er wollte Nüßlein nicht Unrecht tun, traute sich eine eigene Wertung nicht zu. Klammerte also die Jahre im Protektorat gleich ganz aus. Jene, die im Geschäftsgang anschließend abzuzeichnen und freizugeben hatten, machten keinerlei Einwände geltend. Nach dem Motto: Wir können nicht mehr entscheiden, was damals war. Und 176 »Operation Hinkelstein«: Nachrufkrise und Kommissionsfindung er hat dem Land nach dem Krieg doch tatsächlich verlässlich und treu gedient. Also – möge Franz Nüßlein in Frieden ruhen. Was macht die Unabhängige Historikerkommission aus diesem Nachruf, ohne ihn selbst abzudrucken? Sie arbeitet mit Unterstellungen: »Der zuständige Referent hatte wie in vergleichbaren Fällen auch die ihm wichtig erscheinenden Daten aus der Personalakte entnommen. Da Nüß- lein seine Mitverantwortung für Todesurteile der NS-Strafjustiz im Protek- torat Böhmen und Mähren zu Lebzeiten stets bestritten hatte und ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen ihn ergebnislos eingestellt wor- den war, hatte der Referent das Historische Referat des Amtes nicht kon- sultiert. Verfälschungen, Ungereimtheiten und Auslassungen im Lebenslauf, die auf ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Glättung und Stilisierung verwie- sen, flossen folglich jetzt ungeprüft in den Nachruf ein.« 46 Jeder Leser kann die »Angemessenheit« dieser Aussagen am Faksimile des Nachrufs selbst überprüfen. Eine wesentliche Auslassung weist der Nachruf tatsächlich auf. Aber wo sind die zahlreichen Verfälschungen und Ungereimt- heiten, das von der Historikerkommission »diagnostizierte« Bedürfnis nach Glättung und Stilisierung? Der knappe Text des Nachrufes ist kaum wesentlich länger als die irreführende »Interpretation« im Amt-Band. Sie setzt darauf, dass kaum ein Leser den Originaltext jemals zur Verfügung haben wird, ja zur Ver- fügung haben kann, denn er ist allein im amtsinternen Blättchen abgedruckt worden. Geschichtspolitik und Diplomatenjagd mögen so funktionieren. So- lider Umgang mit Quellen sieht anders aus. Bei einer ehemaligen, inzwischen gleichfalls hochbetagten Mitarbeiterin des Amtes, Frau Marga Henseler, die Franz Nüßlein schon lange gekannt hatte, ihm im Krieg bereits in Prag bei Bekannten begegnet war, später dann nahezu zeitgleich mit ihm ins Auswärtige Amt kam, wobei er sich – so hörte man später – für sie verwendet haben soll, traf der amtsinterne Nachruf für ihn auf entschiedenen Widerspruch. Nicht allein wegen seiner bereits erwähn- ten Auslassungen, sondern viel grundsätzlicher, weil er überhaupt formuliert worden war. Sie, die in all den Jahren geschwiegen hatte, als sie selbst noch bis zur Pensionierung Angestellte im Referatsteil 117-E und mit der Edition der Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik (ADAP) beschäftigt war und Nüßlein noch unter den Lebenden weilte, mit dem sie sogar, jedenfalls den im Amt kursierenden Gerüchten zufolge, einmal ein Techtelmechtel gehabt haben soll, erblickte in dem Verstorbenen jetzt plötzlich einen zutiefst in das NS-Unrecht Verstrickten während aus der Zeit der deutschen Besatzung im »Protektorat Böhmen und Mähren«. Die Briefe der Marga Henseler 177

Sie intervenierte bei Außenminister Fischer und bei Bundeskanzler Schröder in Sachen Nüßlein: Marga Henseler

Sie schrieb einen aufgebrachten Brief an »ihren« Minister. Protestierte gegen das »ehrende Andenken«. Schrieb, Nüßlein sei »in Wirklichkeit ein gnaden- loser Jurist« gewesen, der eine erhebliche Mitschuld an der »animosen Haltung der Tschechen gegenüber der Bundesrepublik« trage.47 Warum Nüßlein dann aber nicht 1948 in Prag gehenkt worden war? Das Rätsel löste auch Frau Hen- seler nicht. Sie sah nur, was sie sehen wollte. Darin denen nicht unähnlich, die von ihr wie Frau Dr. Annette Weinke im Auftrag von Fischer und seiner Kommission auf die »Spur« gesetzt werden sollten. Die alle vier wichtigen Ak- tenbände zu Nüßlein in der Hand hatte, aber dennoch Wesentliches übersah, beiseite ließ. Der Brief von Marga Henseler wurde Fischer von seinem Ministerbüro nicht vorgelegt, die Beantwortung dem Referat Höherer Dienst (Ref.101) und möglicherweise noch dem Politischen Archiv (Ref.117) übertragen. Unter dem Datum des 10. Juli 2003 wurde Frau Henseler durch das Personalreferat um Verständnis für die gewählte Form der Todesanzeige gebeten, ohne an- sonsten auf ihre Kritikpunkte einzugehen. Daraufhin verfasste sie, nunmehr erst recht erbost, einen zweiten geharnischten Brief, den sie diesmal gleich an Bundeskanzler Gerhard Schröder adressierte und dem sie ihr erstes Schreiben an Joschka Fischer und die Antwort des Ressorts beifügte. Dieses Kompen- dium wurde dem Bundeskanzler tatsächlich vorgelegt. Gerhard Schröder 178 »Operation Hinkelstein«: Nachrufkrise und Kommissionsfindung pflichtete Henseler nach der Lektüre unverzüglich bei und sandte den Vorgang an seinen Vizekanzler und Außenminister zur Bearbeitung und Erledigung zurück. Jetzt kam der Vorgang im AA auf den Schreibtisch der grünen Staatsminis- terin Kerstin Müller, bzw. auf den Schreibtisch in ihrem Vorzimmer. Von dort wurde abermals das Referat Höherer Dienst eingeschaltet. Die Sachbearbeiterin in diesem Referat hatte inzwischen gewechselt. Aber auch die Nachfolgerin kam zu einem ähnlichen Befund, wie der Kommissionsbericht verrät: »Da es sich um eine Todesanzeige für den internen Gebrauch handele, eine ausführliche biographische Würdigung mithin nicht vorgesehen sei, sei es gerechtfertigt, die Inhaftierungszeiten ›im amerikanischen Lager und in der Tschechoslowakei‹ verkürzend als ›Internierung‹ zu bezeichnen. Auch eine nachträgliche Korrektur der Todesanzeige erscheine nicht angebracht.« Die Kommission bewertet diesen Vorgang wie folgt: »Erneut blieb somit die Möglichkeit außer Betracht, dass der verharmlosende, teilweise auch grob verfälschende Text des Nachrufs außerhalb des Amtes wahrgenommen und kritisiert werden könnte; auch der an sich naheliegende Gedanke, dass außer Henseler noch andere ehemalige und gegenwärtige Bedienstete des Auswärtigen Amtes an der Gedenkpraxis Anstoß nehmen könnten, fand keinen Niederschlag in den Erwägungen der Personalabteilung.« 48 Vermutlich von Schröder en passant, aber mit seinem üblichen leicht spöttisch- kritischen Unterton auf den Vorgang angesprochen, erfuhr Fischer erst jetzt von Marga Henselers Beschwerde, die in ihrem Schreiben an den Bundes - kanzler ihre Vorwürfe noch gesteigert und gemeint hatte, das Amt habe »Nüßleins Personalakten gereinigt«, die Todesanzeige sei eine reine »Ge schichts - fälschung«; ein Verdacht, der die Historikerkommission später gleichfalls um- treiben wird. Der Minister – wer lässt sich schon gern vom Bundeskanzler wegen eines Versagens rügen – war peinlich berührt. Noch in seinen Erinne- rungen aus dem Jahr 2011 zeigt er sich bestürzt, entsetzt, empört. Nicht allein über Nüßlein, nein, über ganze Teile seines Ministeriums, des Auswärtigen Amtes, das er für all die internen Schwierigkeiten verantwortlich macht, denen er sich in den Jahren von 2003 bis 2005 nahezu ununterbrochen ausgesetzt sah und die ihm die Erledigung der ohnehin anspruchsvollen außenpolitischen Hausaufgaben erschwerte, wie er sich rückblickend erinnerte: »Gleichzeitig mit der Visa-Affäre entwickelte sich noch eine ganz andere Affäre, die mich zwar betraf, recht eigentlich besehen aber eine hoch bla- mable Affäre für Teile des AA und ganz besonders für die hochmögenden Pensionäre dieses Dienstes war. Noch heute, bei der Durchsicht der Auf- Fischers Ressentiment gegen die »Mumien« 179

zeichnungen, kann ich es immer noch nicht fassen, wie sich diese ›Creme der deutschen Diplomatie i.R. (im Ruhestand)‹ damals – und nicht etwa 1965 – angesichts der historischen Faktenlage meinte verhalten zu müssen. Im Amtsjargon wurden diese ehemaligen Botschafter, Staatssekretäre und sonstigen Exzellenzen ›Mumien‹ genannt – und zwar völlig zu Recht, wie die Ereignisse zeigen sollten. ›Mitten in der Visa-Affäre rebellieren Diplo- maten gegen eine Gedenkanordnung von Joschka Fischer‹, brachte es eine Berliner Zeitung auf den Punkt.« 49 Um diese Zeilen und vor allem das scharfe Ressentiment Fischers gegen die »Mumien« und »alten Schranzen« zu verstehen, muss man nicht nur den Brief- wechsel mit Wickert ins Kalkül ziehen. Sonden auch die Tatsache, dass Fischer damals nur noch einer kleinen Handvoll Getreuer im Amt vertraute, sich eng mit ihnen abstimmte und absprach. Da war vor allem seine tüchtige Bürolei- terin Helga Schmid, war Martin Kobler, einer seiner wichtigsten Mitarbeiter, ebenfalls aus dem engsten, dem Minister persönlich zugeordneten Stab. War sein Pressesprecher Walter Lindner, in jenen Tagen und Wochen nahezu un- ersetzlich, als es plötzlich und unerwartet um Fischers eigenen Kopf und Kra- gen ging, seine glänzende Karriere am seidenen Fädchen hing. Als die Medien gerade jetzt besonders geschickt und intensiv »gefüttert« und »begleitet« wer- den mussten. Zu diesem Team gehörte auch der versierte, von Fischer in I am not convinced ausdrücklich gelobte Protokollchef Hans-Joachim Weber. Die Verbindungen ins Amt hinein liefen zu diesem Zeitpunkt vor allem über Dr. Klaus Scharioth, nach der gewonnenen Bundestagswahl 2002 von Fischer zum beamteten Staatssekretär befördert; und nach Fischers Abgang sollte Scharioth von 2006 bis 2011 wie sein Vorgänger – und dann auch sein Nachfolger – als Botschafter nach Washington gehen. In der Zeit der höher schlagenden Wellen im Amt war er der wichtigste Mittler zwischen dem Mi- nister und seiner Behörde. Jürgen Chrobog, der zweite Staatssekretär zu jener Zeit, hatte als ehemaliger Genscher-Vertrauter nicht den richtigen »Stallge- ruch« für Fischer und wurde zur Bewältigung der eskalierenden Krisen kaum herangezogen. Auch Kerstin Müller, als Staatsministerin die Dritte auf der Leitungsebene des Ressorts, die aus Gründen des Parteienproporzes 2002 für die Grünen in das Ministerium gekommen war, schied für Fischer als Vertraute aus, obwohl sie eine ähnliche Karriere wie Schmierer hinter sich hatte. Auch Kerstin Müller hatte sich lange aktiv für eine linke – diesmal trotzkistische – Sektierergruppe, die »Internationalen Marxisten« eingesetzt, bevor sie ab 1986 Mitglied der Grünen wurde und in dieser Partei rasch aufstieg, von 1990 bis 1994 Landes- 180 »Operation Hinkelstein«: Nachrufkrise und Kommissionsfindung vorsitzende in NRW werden konnte. Im Bundestag war sie als Außen- und Sicherheitspolitikerin vor dem Wechsel ins Auswärtige Amt nicht wirklich aufgefallen. Für Fischer, für die Grünen überhaupt war wichtiger, dass sie eine »grüne« Frau war. Der Minister – und mit ihm seine Partei – konnten mit der Ernennung das Drängen der »Grüninnen« nach Teilhabe an der Macht zu- friedenstellen, ohne sie wirklich ins Vertrauen ziehen zu müssen. Denn einer Frau aus der Spitzenebene der Grünen politisch tief und nachhaltig zu ver- trauen, kam für den »Macho« Fischer zu keiner Zeit in Frage. Er vertraute, wenn überhaupt, dann schon lieber Männern. Einigen wenigen zumindest. Und beriet sich mit diesen. Mit Fritz Kuhn zum Beispiel. Oder mit dem Mit- kämpen aus den alten Rebellenzeiten, Daniel Cohn-Bendit. Am Rande viel leicht noch mit Rezzo Schlauch, wegen der gemeinsamen Wurzeln im Hohen loher Land. In Sachen Nüßlein war es jedoch Scharioth, der tätig werden musste. Er hatte schon den Krisenstab nach der Tsunami-Katastrophe hervorragend ge- managt – und sollte jetzt erneut als Troubleshooter des Ministers agieren. Was im Ressort selbst misstrauisch beäugt wurde und Scharioth intern etwas iso- lierte. Denn im Ressort begann man tatsächlich von diesem Außenminister abzurücken. Jedenfalls beugten sich jetzt Staatssekretär und Minister über die Akten Nüßlein. Und der Minister stellte anschließend fest: »Ich hatte ganz offensichtlich, was die Akten bestätigten, einem Nazitäter, der Blut an den Händen hatte, ein ›ehrendes Andenken‹ in der Hauszeitung ›intern AA‹ aussprechen lassen. Sein Name: Franz Nüßlein, früherer Ober- staatsanwalt im Reichsprotektorat Böhmen und Mähren, wie damals der von Nazideutschland besetzte westliche Teil der Tschechoslowakei genannt wurde. Dort war er unter anderem für Gnadenangelegenheiten und d.h. vor allem für die Bestätigung von Todesurteilen zuständig. Er soll an etwa 900 solcher Urteile beteiligt gewesen sein, bei denen die Verurteilten hin- gerichtet worden waren, weil sie etwa jüdische Menschen vor ihrer Depor- tation in den sicheren Tod bewahren wollten. Nüßleins Leistungen wurden sowohl vom damaligen Reichsprotektor und Leiter des Reichsicherheits- hauptamtes Reinhard Heydrich als auch von Martin Bormann, dem Leiter von Hitlers Parteikanzlei und späteren Sekretär, gewürdigt. Allerdings han- delte es sich bei der braunen Biographie Nüßleins keineswegs um ein Ge- heimnis, sie war damals im Amt durchaus bekannt, wie mir der Brief jener früheren Mitarbeiterin, Frau Henseler, zeigte. Was sollte ich tun? Würde ich demnächst noch mit weiteren Nüßleins zu tun bekommen? Und das im Jahr 2005, dem sechzigsten Gedenkjahr des Endes des 2. Weltkrieges und »Nazitäter mit Blut an den Händen« 181

der Befreiung Europas vom Nationalsozialismus … und ausgerechnet ich sollte Tätern und Mitläufern der Nazibarbarei im Auswärtigen Amt ein ›eh- rendes Andenken‹ aussprechen. Dies kam für mich auf keinen Fall infrage. Zudem bestand das Risiko, dass solche ›Nachrufe‹ national wie internatio- nal eine heftige und berechtigte Kritik am Amt auslösen konnten. Die Bundesrepublik war ohne Zweifel zu einer großen Erfolgsgeschichte geworden und dazu gehörte auch die Integration von Millionen von Mit- läufern und ehemals begeisterten Anhängern der Nazidiktatur. Menschen ändern sich im Laufe eines langen Lebens, ich wusste das nur zu gut aus eigener Erfahrung. Und in der Gesamtbetrachtung eines Lebens müssen alle Teile einbezogen werden. Nüßlein war aber zweifelsfrei mehr als ein Mitläufer gewesen. Sein Nachruf hätte deshalb nie erscheinen dürfen und ein ähnlicher Fall durfte sich im Interesse unseres Landes nicht wiederholen. Ich saß mit Helga Schmid und Staatssekretär Scharioth immer wieder zu- sammen und wir drehten und wendeten die Problematik hin und her. Wir konnten unmöglich entlang der Aktenlage in jedem Einzelfall die notwen- dige Abgrenzung leisten. Nicht jeder Fall war so eindeutig wie der vorlie- gende. Überhaupt keine Nachrufe mehr? … Ich dachte, dass das Thema 2003 positiv und gesellschaftsübergreifend durch einen neuen ›Befreiungs- konsens‹› beantwortet wäre. Und so entschied ich, ehemaligen SS-, SA- und NSDAP-Mitgliedern zukünftig das ›ehrende Andenken‹ zu verweigern, nicht wissend, welchen Mumiensturm ich auslösen sollte. Im Auswärtigen Amt galt offenbar eine andere Zeitrechnung.« 50 Fischer, der hier den »Befreiungskonsens« als Argumentationshilfe einführt, meint damit, dass die Zäsur von 1945 mittlerweile in der deutschen Gesell- schaft in erster Linie als »Befreiung« und eben nicht mehr als »Niederlage« ge- wertet würde. Also, dass mithin Deutschland auch von all jenen, die im Dienste des Regimes standen, das im Mai 1945 nicht nur militärisch, sondern auch politisch-ökonomisch, vor allem aber moralisch ruiniert in Schutt und Asche versank, »befreit« worden ist. Oder mindestens hätte befreit werden müssen. Es erging dementsprechend im September 2003 eine schriftliche Wei- sung in der von Fischer skizzierten Form an die Personalreferate. Sie muss die ähnlich lautende Weisung aus dem Jahr 2000, die Fischer hier mit keinem Wort erwähnt, ergänzt oder erweitert haben. Das Kriterium der Parteimit- gliedschaft bekam jetzt jedenfalls amtsintern einen sehr hohen Stellenwert, einen Ausschlusscharakter, der von der Sache her nicht geboten ist, weil das Raster dadurch viel zu grob gerät. Auch die Mitgliedschaft in der SA und selbst in der SS, bei der es sich meist um »Ehrenränge« ohne wirkliche Gestaltungs- 182 »Operation Hinkelstein«: Nachrufkrise und Kommissionsfindung

Franz Krapf, ein deutscher Spitzendiplomat, am Ende seine Karriere Botschafter in Japan und ständiger Vertreter bei der NATO. macht gehandelt hatte, reichte für eine rigide Ablehnung des oder der Betref- fenden nicht aus, will man die Damnatio memoriae für eine ganze Gruppe vermeiden. Aber Joschka Fischer war kein Historiker – und selbst »seine« His- torikerkommission schwankte später, von ihm einmal aufs falsche Pferd ge- setzt, an diesem Punkte ziemlich heftig hin und her. Insgesamt neigte sie aber wohl zu einer ähnlichen Grundeinstellung wie der Minister, ja, sie ging sogar noch darüber hinaus, indem sie die Angehörigen des Auswärtigen Amtes in der Zeit zwischen 1933 und 1945 überwiegend als Angehörige einer »verbre- cherischen Organsiation« präsentierte, auch wenn das von Eckart Conze ge- prägte Etikett im Buch selbst keine Verwendung findet. Unzweifelhaft wurde durch diese Etikettierung das gesamte Amt jedoch an die berüchtigste und be- reits von den Siegermächten 1945 mit guten Gründen entsprechend stigmati- sierte verbrecherische Organisation des Regimes herangerückt – an die SS. Nachdem Fischers Weisung ergangen war, geschah zunächst nach außen hin – nichts. Eine ganze Reihe älterer Mitglieder aus dem Auswärtigen Amt verstarben unbemerkt, ehemalige Pg, die keinen Nachruf erhielten. Es waren zehn, zwölf, vierzehn Verstorbene. Niemand fiel etwas auf. Fischers Entschei- Der Fall von Botschafter Hans Krapf 183 dung war ja auch nicht offen kommuniziert worden. Fast anderthalb Jahre später starb am 23. Oktober 2004 in Bonn – seltsamer Zufall – im gleichen Alter wie Nüßlein mit 93 Jahren Botschafter a.D. Franz Krapf. Krapf war einer der bedeutenden deutschen Diplomaten aus der zweiten Reihe der Beamtenhierarchie des Auswärtigen Amtes unterhalb der Ebene der beamteten Staatssekretäre. Er war Gesandter in Washington, Leiter der Ost- West- Abteilung, Botschafter in Tokio und von 1971 bis 1976 Ständiger Ver- treter der Bundesrepublik beim NATO-Rat in Brüssel gewesen. Ein Spitzen- diplomat über Jahrzehnte hinweg. Dass Fischers Entscheidung ausgerechnet im Falle von Franz Krapf zum ersten Mal im Amt auffiel, ist von merkwürdi- gem Symbolgehalt. Krapf war 1911 geboren, gehörte mithin wie Nüßlein der Generation des Unbedingten (Michael Wildt) an, also jener Generation von Deutschen, in der viele junge Männer, die selbst nicht am Krieg teilgenommen hatten, durch die Weltkriegsniederlage und – in ihrem Gefolge – die Milita- risierung und latente Brutalisierung der Gesellschaft geprägt waren. Der Wei- marer Republik brachten sie allenfalls Verachtung entgegen. Viele von ihnen, denen Klaus Theweleit 1977 seinen Doppelband Männerphantasien gewidmet hat, träumten von der »konservativen Revolution«. In der Endphase der Re- publik wurden immer mehr, durch Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise noch zusätzlich politisch aufgeladen, von Hitler und seinen paramilitärischen Männerbünden, aber auch von seinen Zukunftsverheißungen angezogen und strömten bald schon in die SA, später dann in die SS. Auch Krapf war während seines Studiums der SS und der NSDAP beige- treten, bevor er nach einem Sprachenstudium in Japan (1935–1937) im Jahre 1938 in den Auswärtigen Dienst eintrat und anschließend in Ägypten, in der Sowjetunion und von 1940 bis 1945 in Tokio eingesetzt wurde. Im Kommis- sionsbericht heißt es nach einer knappen biographischen Skizze schon früh auf Seite 9: »Von 1940 an war er an der deutschen Botschaft in Tokio und wirkte dort auch als Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes (SD) der SS. Über Krapfs Tä- tigkeit ist wenig bekannt, aber klar ist: Selbst im fernen Ostasien waren deutsche Diplomaten mit der ›Endlösung‹ der Judenfrage befasst.« Das jedoch ist eine ziemlich dreiste Unterstellung. Bei einer Podiumsdiskus- sion im Verein der Berliner Kaufleute und Industriellen (VBKI) am 5. Mai 2011 aus dem Publikum darauf angesprochen, brachte Moshe Zimmermann den im Amt-Band nicht erwähnten, in der Tat berüchtigten Josef Meisinger ins Spiel, der an der Botschaft in Tokio zusammen mit Krapf tätig gewesen sei. Genauer: der der deutschen Mission in Japan im Krieg als Polizeiattaché 184 »Operation Hinkelstein«: Nachrufkrise und Kommissionsfindung zugeordnet war, nachdem er sich 1939/40 als »Schlächter von Warschau« einen blutigen Namen gemacht hatte. Offenbar war Meisinger für Zimmer- mann ein Diplomat wie Krapf, obwohl er nicht dem Auswärtigen Dienst, son- dern dem RSHA, bzw. der Gestapo angehörte, aus deren Etat er auch bezahlt wurde. Und Zimmermann verknüpfte nun wiederum Krapf mit Meisinger, zu dessen Aufgabe die »Endlösung der Judenfrage in Ostasien« gehört habe. Wie diese Aufgabe aber ganz konkret in Japan erfüllt werden sollte, wissen wir bis heute nicht wirklich und wusste auch Zimmermann nicht. Auf diese ominöse Weise Krapf mit dem Völkermord in Verbindung zu bringen, bleibt daher höchst fragwürdig, weil keinerlei weitere und substantielle Informatio- nen damit verknüpft werden. Hans-Jürgen Döscher hat in seinem unmittelbar nach Krapfs Tod 2005 erschienenen Buch Seilschaften berichtet, dass dieser bei seiner Entnazifizie- rung nicht durchweg präzise, korrekte Angaben gemacht hat, etwa, was seine Zugehörigkeit zur SS betraf, die er im März 1939 endgültig verlassen haben will. Tatsächlich teilte der Chef der Sicherheitspolizei und des SD noch im Mai 1944 dem SS-Personalhauptamt mit, dass »SS-Untersturmführer Krapf« neben vier weiteren Angehörigen des AA ehrenamtlicher Mitarbeiter des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) sei und laufend zur Mitarbeit heran- gezogen werden müsse. »Trotz seiner Zugehörigkeit zu einer verbrecherischen Organisation wie der SS, die den westalliierten Dienststellen bekannt war, machte Krapf nach 1950 eine beachtliche Karriere im Auswärtigen Dienst der Bundesrepublik Deutschland«, heißt es allerdings mit gutem Grund bei Döscher.51 Diesem Mann wird nun posthum von Minister Fischer ein »ehrendes Ge- denken« verweigert. Weil er als junger Mann Pg geworden war. Weil er in die SS eintrat, weil er für den SD gearbeitet habe. Belege für eine Tätigkeit als eh- renamtlicher Mitarbeiter des Ordens unter dem Totenkopf, geschweige denn eine Mitwirkung an Staatsverbrechen haben weder Döscher noch spätere For- scher gefunden. Zwei ganz simple Fakten zu Krapfs Entlastung werden – es ist ähnlich wie bei Nüßlein, die simplen Dinge sieht man nicht – vollständig außer Acht gelassen: Erstens: Er ist 1944 immer noch Untersturmbannführer, also Leutnant, ein niedriger Rang, den er bereits 1938 inne hatte – Karrieren von überzeugten, vom Rassenwahn angetriebenen SS-Männern sehen anders aus. Ohne Beför- derungen findet sich keine einzige. Zweitens: Er war den ganzen Krieg über in Tokio tätig. Von dort rollte nie ein Zug nach Auschwitz. Gewiss, er hätte ein Denunziant sein können, der im Amtsinterne Nachrufsperre 185

Geheimen andere bespitzelte, verriet, auslieferte. Aber das war er nicht. Jeden- falls gibt es dafür bislang keinerlei konkrete Beispiele, geschweige denn Belege. Überdies war Krapf wie Wickert ein Freund von Erich Kordt gewesen, der als prononcierter Hitler-Gegner – gleichfalls NSDAP-Mitglied und Mitglied der SS – in der Wilhelmstraße zusammen mit seinem Bruder Theo die Briten vor dem Krieg unter Verweis auf Hitlers massive geheime Aufrüstungspolitik zu einer harten Abwehrhaltung, zu einem frühen Abschied von der Appease- ment-Politik hatte bewegen wollen und ab 1941 gleichfalls in Tokio Dienst tun sollte. Krapf war im Amt ungemein geschätzt, war ein Mann von hoher Reputation gewesen. Der kluge, feine Klaus Schütz hatte bereits von 1962 bis 1966 als Senator für Bundesangelegenheiten und gleichzeitig Bevollmächtigter des Landes Ber- lin beim Bund Krapf kennengelernt und dieser Kontakt hatte sich intensiviert, als er selbst Ende 1966 für ein Jahr als beamteter Staatssekretär ins AA nach Bonn wechselte. Schütz – der sehr sensibel gegenüber braunen Verstrickungen reagierte, was ihm während seiner Zeit als Botschafter in Israel hohes Ansehen eintrug – hielt zu Krapf weiter freundschaftlichen Kontakt, nachdem er wieder nach Berlin zurückgekehrt und als Nachfolger des wegen der Schüsse auf Benno Ohnesorg zurückgetretenen Heinrich Albertz Regierender Bürgermeis- ter geworden war. Auch der ehemalige Bundesverteidigungsminister Georg Leber (SPD) schätzte Krapf, ebenso der langjährige Außenminister Hans-Die- trich Genscher, der den Verstorbenen im Trauergottesdienst in der Kreuzkirche in Bonn umfassend und einfühlsam würdigte. Der übliche Nachruf im Auswärtigen Amt aber unterblieb. Auf Nachfragen aus dem Haus und von Pensionären erklärte der Leiter der Zentralabteilung in schriftlicher Form und gewundener Diktion, dass »Kritik in Medien und Öffentlichkeit« dazu geführt hätten, die »Regeln für die Ehrung verstorbener Amtsangehöriger zu überprüfen und anzupassen – nicht zuletzt mit Rücksicht auf die Hinterbliebenen«. Allerdings wurde den Pensionären versichert, dass man von Amts wegen selbstverständlich »jedem in würdiger Form gedenken will«, wenn auch wohl zukünftig »nicht mehr jedem ein ehrendes Andenken bewahrt werden soll«. Für alle mit den Gepflogenheiten im Hause Vertrauten war diese Antwort ziemlich befremdend. Schon bald sickerte durch, dass eine amtsinterne Beschwerde im Jahre 2003 über einen Nachruf für einen Diplo- maten, der wegen seines Verhaltens im Dritten Reich einen solchen niemals hätte bekommen dürfen, mit ausdrücklicher Billigung des Ministers eine Än- derung der Praxis bewirkt habe.52 Gemeint war der Fall Nüßlein. Ausgerechnet als die Nachruf-Affäre jetzt, Ende 2004 Anfang 2005, publik wurde, erschien 186 »Operation Hinkelstein«: Nachrufkrise und Kommissionsfindung ein kleiner Band mit Briefen von – Erwin Wickert. Dem bekanntlich zu sei- nem 85. Geburtstag im Jahr 2000 auf Anweisung des Ministerbüros keine Glückwünsche aus dem Amt mehr hatten übermittelt werden dürfen, weil er in jungen Jahren Pg gewesen war. Der kleine Band enthielt auch den kurzen, oben zitierten Briefwechsel zwischen Wickert und dem Minister aus dem Jahr 2001. In der F.A.Z. vom 15. Dezember 2004 hat Rainer Blasius unter der Überschrift »Ernst nehmen und Ernst nennen« diesen Band besprochen und ausführlich aus jenem Briefwechsel die für den Schlagabtausch zentralen Pas- sagen zitiert. Diese Rezension war politisch folgenreich. Eine Art Türöffner. Sie ermutigte die ehemaligen Amtsangehörigen, nun ihrerseits aus der Deckung zu treten und gegen die vom Außenminister veränderte Nachruf-Praxis anzugehen, wobei sie sich des Leserbrief-Forums der F. A. Z. bedienten. Der erste war Bot- schafter a.D. Heinz Schneppen. Sein mit Erwin Wickert abgestimmter Brief, der seine besondere Wucht dem rhetorisch einprägsamen Dreiklang »unsach- lich, unanständig, unehrlich« verdankte, wurde am 18. Januar 2005 veröffent- licht. In ihm knüpfte Schneppen an jenen Briefwechsel an, auf den Rainer Blasius vier Wochen zuvor als Erster hingewiesen hatte: »Fischer wies in seiner Antwort auf die ›glaubhafte Wandlung‹ seines Mitar- beiters Schmierer ›zum Demokraten‹ hin und stellte seinerseits fest, dass ›das Recht, politische Auffassungen zu ändern, auch grundsätzlich zu ändern, ge- rade auch in Ihrer Generation vielfach in Anspruch genommen wurde‹. Wie wahr, Herr Minister. Und wie anders die eigene Praxis. Denn nach einer dem Minister zugeschriebenen Anweisung erhält nunmehr kein verstorbener frü- herer Angehöriger des Auswärtigen Dienstes einen Nachruf, der schon im ›alten‹ Auswärtigen Dienst tätig und Mitglied der NSDAP gewesen ist. Ent- sprechend haben zwei in den letzten Monaten verstorbene Angehörige des Auswärtigen Dienstes – Botschafter a.D. Krapf und Generalkonsul a.D. von Heyden – keinen Nachruf erhalten. So ist es auch in der Januar-Nummer bei anderen Ehemaligen der Fall … Wichtiger ist, dass es, von der Mit- gliedschaft [in Partei und SS; D.K.] abgesehen, nichts gibt, was man ihnen vorhalten könnte. Sie sind von der Spruchkammer entlastet, nach dem Krieg in den Auswärtigen Dienst zurückgekehrt. Sie haben der Bundesrepublik Deutschland mehrere Jahrzehnte im In- und Auslande gedient. Jetzt sind sie für das Auswärtige Amt posthum zu ›Unpersonen‹ geworden. Bundesminister Fischer braucht nur sein Arbeitszimmer zu verlassen, um den Namen der zwölf Amtsangehörigen zu begegnen, die im Widerstand gegen Hitler ihr Leben lassen mussten. Sechs von ihnen waren in der Partei. Heinz Schneppen: »unsachlich, unehrlich, unanständig« 187

Die Botschafter von Hassell und Graf von der Schulenburg, beide für den Fall eines geglückten Attentats als Außenminister im Gespräch, waren Par- teimitglieder seit 1933, bzw. 1934. Sie wurden ebenso in Plötzensee gehenkt wie Botschaftsrat Brücklmeier, der der NSDAP wie der SS angehörte. Adam von Trott zu Solz, Mitglied des Kreisauer Kreises, ist schon 1940 in die Partei eingetreten wie schon Jahre zuvor die von den Nazis ermordeten Amtsangehörigen Gollnow und Litter. Willy Brandt verfügte als Außen- minister über mehr Souveränität, machte er doch Georg Ferdinand Duck- witz zu seinem Staatssekretär, obwohl dieser seit 1932 der Partei angehörte. Die Israelis haben Duckwitz, den ›Retter der dänischen Juden‹, in Yad Vas- hem geehrt. Das von Minister Fischer angeordnete oder zu vertretende Ver- fahren ist unsachlich, unanständig, unehrlich. Es ist unsachlich, weil das Kriterium der Mitgliedschaft zu kurz greift. Es ist unanständig, weil Fischer bewährten Angehörigen des Auswärtigen Dienstes der Bundesrepublik Deutschland die Ehre des Nachrufs verweigert. Es ist unehrlich, weil der Minister anderen das Recht auf politischen Irrtum abspricht, es aber für sich und seine Freunde sehr wohl in Anspruch nimmt.« Deutliche Worte allesamt einschließlich der Hinweise auf Duckwitz. Diesem, ursprünglich einem Schifffahrtsspezialisten aus dem Verkehrsministerium, dann im diplomatischen Dienst, hatte Werner Best, der deutsche NS-Statt- halter im besetzten Dänemark, von den unmittelbar bevorstehenden Juden- deportationen berichtet. Duckwitz leitete diese brisanten Informationen an den Vorsitzenden der dänischen Sozialdemokraten, Hans Hedtoft, weiter – und dieser informierte die jüdische Gemeinde. Tatsächlich gelang es dadurch, nahezu sämtliche dänischen Juden vor dem deutschen Zugriff zu verbergen und anschließend in Fischerbooten nach Schweden zu bringen. Bei Ruhe be- trachtet waren Schneppens Hinweise nicht von der Hand zu weisen. Was für Schmierer Recht war, musste für Krapf doch nur billig sein. Aber Fischer hatte längst in den Kampfmodus umgeschaltet. Der Sponti in ihm brach durch. Für nüchtern sachliche Überlegungen hatte er keinen Sinn mehr. Er erblickte in diesen Zeilen lediglich eine Kampfansage. Mehr noch: eine Kriegserklärung. Für ihn hatte damit der Aufstand der »Mumien« begonnen. Und die »Mu- mien« legten nach. Am 9. Februar 2005 erschien im Innenteil der F. A. Z. eine schwer zu übersehende, großformatige Gedenkanzeige, die von 128 ehemali- gen Angehörigen des Amtes unterzeichnet worden war – fast keiner der Un- terzeichner war im Amt vor 1945 aktiv oder Mitglied der NSDAP gewesen. Zu den Unterzeichnern zählten jedoch einige Exdiplomaten, die nach dem 20. Juli 1944 enge Familienangehörige verloren hatten. 188 »Operation Hinkelstein«: Nachrufkrise und Kommissionsfindung

Organisiert worden war die Anzeigenaktion von Botschafter a.D. Heinz Schneppen in Berlin und Wilhelm Haas jr. in Bonn, wo die allermeisten der Unterzeichner wohnten. Botschafter a.D. Wilhelm Haas ist der Sohn jenes ersten Personalchefs des Auswärtigen Amtes nach dem Krieg, der 1937 aus dem Auswärtigen Dienst ausschied, weil er sich weigerte, sich von seiner Frau – einer »Volljüdin« im Sinne der NS-Rassengesetzgebung – zu trennen und mit seiner Familie nach Peking zog, da er Japan verlassen musste und nicht mehr nach Deutschland zurückkehren wollte. Erst 1947 kehrte die Familie nach Deutschland zurück und Haas sen., Jahrgang 1896, wurde Staatsrat des Senats von Bremen. Ab 1949 war er im Bundeskanzleramt leitend in der »Dienststelle für Auswärtige Angelegenheiten« tätig, und bereitete den personellen Neu- aufbau des Amtes 1951 vor, den die Historikerkommission Jahrzehnte später so herabwürdigen wird. Nach der Wiederaufnahme der diplomatischen Be- ziehungen ging er 1956 als Botschafter in die Sowjetunion und von 1958 bis zu seiner Pensionierung 1961 noch nach Japan. Sein Sohn, Wilhelm Haas jr., Jahrgang 1931, trat 1955 in den Auswärtigen Dienst ein und wurde 1959 Pressereferent an der deutschen Botschaft in Tokio. Nach Tätigkeiten im Ost- europa-Referat des Amtes, in Nairobi, im NATO-Generalsekretariat und in der Pariser Botschaft folgte schließlich 1984 die Berufung zum Leiter der Po- litischen Abteilung Dritte Welt. Im Oktober 1985 wurde er als Nachfolger von Niels Hansen zum Botschafter in Israel berufen. 1990 wechselte er nach Japan, wurde bis zu seiner Pensionierung 1996 ab 1994 noch Botschafter in den Niederlanden. Krapf verkehrte in Asien als Student im Hause der Familie Haas. Diese Freundschaft sollte Krieg und Nachkriegszeit überdauern. Diese Todesanzeige war, das wussten alle Unterzeichner nur zu genau, ein bislang einmaliger Akt in der deutschen Behördengeschichte. So etwas hatte es noch niemals zuvor gegeben. Vorletzter Unterzeichner war Erwin Wickert, der vor allen anderen die direkte Konfrontation mit dem Minister gesucht hatte. Noch nie zuvor war eine interne Anweisung eines Ministers öffentlich vor aller Welt so unverhüllt und hart kritisiert worden von ehemaligen hohen Staatsbeamten – von Botschaftern, Gesandten, Ministerialdirigenten und Le- gationsräten über Generalkonsuln bis hin zu Legationssekretärinnen a.D. Für eine Entscheidung im Übrigen, die der Minister im Haus nicht offen kom- muniziert, sondern nach der ihm vom Bundeskanzler übermittelten Interven- tion von Frau Henseler diskret verfügt hatte, damit sie im Verborgenen wirke. Erst im März 2005 sollte er sie intern in einem Rundbrief allen Mitarbeite- rinnen und Mitarbeitern gegenüber begründen. Der Wortlaut der Anzeige selbst war kurz – und in seiner Aussagekraft schwer zu steigern. Er bestand Einmaliger Akt der Rebellion im AA 189 190 »Operation Hinkelstein«: Nachrufkrise und Kommissionsfindung aus einem einzigen Satz: »Freunde, Kollegen und Mitarbeiter bewahren ihm ein ehrendes Andenken«. Auch ein aktiver, allerdings kurz vor seiner Pensionierung stehender Di- plomat sprach sich bald darauf öffentlich – gleichfalls extrem ungewöhnlich – gegen die von Minister Fischer neu eingeführte Praxis, bzw. das angeordnete Nachruf-Verbot aus – Frank Elbe. Es war ein Zufall, aber er gewann durch die zeitliche Nähe noch zusätzlich an Sprengkraft, weil Rainer Blasius einen Tag nach der Anzeige für Krapf auf der Titelseite der F. A. Z. in einem soge- nannten »Rähmchen« die neue Gedenkpraxis Fischers thematisieren sollte. Inhaltlich knüpfte dieser Beitrag an den »Leserbrief« von Schneppen vom 15. Januar an, berichtete zudem darüber, dass der Personalrat im Auswärtigen Amt sich offenbar bislang nicht mit dem heiklen Thema der veränderten Nachruf- praxis hatte beschäftigen mögen. Blasius – die ganze Geschichte begann jetzt sichtlich Kreise zu ziehen – fasste zudem die Anfrage des CSU-Bundestagsab- geordneten Klaus Rose in dieser Sache zusammen. CSU-MdB Rose war ein früherer Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium der Vertei- digung, der sich im Regierungsapparat gut auskannte und am 21. Januar 2005 den Außenminister um Aufklärung in der Nachruf-Sache gebeten hatte. Seine stachelige Anfrage musste dem Außenminister vergiftet vorkommen, weil der CSU-Abgeordnete die Argumentation von Wickert und Schneppen aufgriff, als er im Parlament erklärt hatte: »Vor allem empört mich das Messen mit zweierlei Maß: Wer einmal Kom- munist war, kann sich ›glaubhaft wandeln‹, wer Nazi war und zur SPD kam, ebenfalls. Wer aber nicht diese Voraussetzungen erfüllt, wird sogar nach seinem Tod noch diskriminiert, obwohl er größte Leistungen für Deutschland eingebracht hat.« Fischer ließ seinen Staatssekretär Scharioth mit Datum vom 15. Februar ant- worten – und bereits am 19. Februar zitierte Rainer Blaisus in seinem Stück »Union gegen Fischers Gedenkpraxis« auf Seite 2 in der F. A. Z. aus diesem Schreiben, in welchem Scharioth mitgeteilt hatte, dass es bei der veränderten Gedenkpraxis, bzw. der Entscheidung über die Veröffentlichung eines Nach- rufs »nicht um eine erneute historische Aufarbeitung der Vergangenheit ein- zelner ehemaliger Amtsangehöriger« gehe. Das sei und bleibe die Aufgabe der Historiker. »Aber wir dürfen historische Schuld und Verantwortung nicht relativieren. Das wäre unverzeihlich gegenüber all denen, die im Nationalsozialismus ihrer Rechte beraubt, ausgegrenzt, verfolgt und ermordet wurden. Es wäre unverantwortlich für unsere Gegenwart und Zukunft, denn Versöhnung Rainer Blasius als profunder Kenner der Amts-Interna 191

mit unseren Nachbarn kann nur gelingen, wenn wir nationalsozialistisches Unrecht beim Namen nennen und uns zu unserer Verantwortung klar be- kennen. Den personellen Kontinuitäten und Verbindungslinien zwischen der nationalsozialistischen Verwaltung und den Ministerien und Behörden der Bundesrepublik Deutschland muss sich das Auswärtige Amt auch 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges stellen …« Das war wunderbar an der Frage des CSU-Abgeordneten Rose vorbei geant- wortet. Wer wollte und sollte diese Sätze aus der Classe politique der Republik ernstlich bestreiten? Nur was das alles mit der geänderten Nachrufpraxis zu tun hatte, blieb gänzlich im Dunkeln. Oder sollte das etwa heißen, dass sämt- liche Diplomaten, die schon vor 1951 im Auswärtigen Dienst und damit unter Hitler und Ribbentrop tätig gewesen waren, nunmehr nach ihrem Tode amt- lich zu verleugnen waren? Eine von Amts wegen, von der Amtsspitze verord- nete Damnatio memoriae gewissermassen? Weil zu einer Einzelfallprüfung der etwa noch 60 lebenden »Fälle« keine Möglichkeiten im Hause vorhanden waren, wie der Staatssekretär mitteilte? Verfügte das Amt nicht über ein her- vorragendes Politisches Archiv, in dem die Personalunterlagen lagerten? Aber darauf hatte den Minister vermutlich keiner aus seiner unmittelbaren Entou- rage hingewiesen. Oder – und noch wahrscheinlicher – Fischer wollte mit den Ressourcen des Amtes immer weniger zu tun haben. Eine direkte Antwort des Ministers erhielt Rose durch Scharioth jedenfalls nicht. Und doch enthielten die Sätze des Staatssekretärs eine Botschaft, auch wenn sie der CSU-Abgeordnete damals noch nicht zu entschlüsseln vermochte. Per- sonelle Kontinuitäten? Verbindungslinien zwischen der NS-Zeit und der spä- teren Bundesrepublik? Aufgabe der Historiker? Ja, das waren Begriffe, wie sie bald darauf im Auftrag Fischers an eine Unabhängige Historikerkommission auftauchen sollten. Scharioths Worte lassen vermuten: Hinter den Kulissen hatten auf der Leitungsebene die Vorbereitungen und Planungen dazu wohl bereits begonnen. Die Beiträge von Rainer Blasius in der F. A. Z. wirkten wie eine nachträgliche oder zusätzliche Erläuterung der Anzeige für Krapf. Wer lesen konnte, hatte keine Mühen, zu verstehen. Dazu brauchte man keinerlei Insiderwissen mehr. Blasius kannte die Materie gut. Seit seiner Dissertation Für Großdeutschland und gegen den großen Krieg – Staatssekretär Ernst von Weizsäcker in den Krisen um die Tschechoslowakei und Polen 1938/39, und den Arbeiten über Adam von Trott zu Solz, Hasso von Etzdorf und den Wilhelmstraßenprozess hatte ihn das Thema begleitet. Rund zehn Jahre lang war er von 1990 bis 2000 als Leiter der Außenstelle Bonn des Münchner Instituts für Zeitgeschichte (IfZ) sowie 192 »Operation Hinkelstein«: Nachrufkrise und Kommissionsfindung zugleich als wissenschaftlicher Leiter der Edition der »Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland« ( AAPD) mit der Geschichte des Amtes und seinem besonderen Archivwesen befasst sowie mit der Bewertung und Deklassifizierung einer Vielzahl von Akten, an der neben den Fachrefe- raten des Amtes auch das Bundeskanzleramt beteiligt war. Er diente damals zugleich zwei »Herren« – Horst Möller im IfZ und dem AAPD- Her ausgeber Hans-Peter Schwarz. 1995 wurde der für seine Tätigkeit im IfZ beurlaubte Bundesbeamte aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern in das Auswärtige Amt berufen und 1999 zum Vortragenden Legationsrat be- fördert. Auf eigenen Wunsch verließ er jedoch das Amt und wechselte an den Redaktionsschreibtisch bei der F. A. Z. in Frankfurt. Rainer Blasius war wohl der einzige auf Seiten der Journalisten, der in dem sich abzeichnenden Konflikt über ein hohes Maß an Sachkompetenz verfügte, ohne die Augen vor den dunklen Seiten der Amtsgeschichte zu verschließen. Die »Mumien« ließen am 14. März 2005 eine weitere Anzeige folgen – diesmal in der SZ. Erneut war der Text der Anzeige für den im November 2004 in München verstorbenen Wilhelm-Günther von Heyden kurz. Unterzeichnet hatten hier die Teilnehmer des sogenannten »Rheinbaben- Kreises«. Der Namenspatron Werner Freiherr von Rheinbaben war ein Mann des diplomatischen Dienstes der Weimarer Republik, der nach dem Tode Stre- semanns 1929/30 kurzzeitig als Außenminister im Gespräch gewesen und 1932 stellvertretender Leiter der deutschen Delegation auf der Genfer Abrüs- tungskonferenz geworden war. Die Leitung übernahm er, nachdem Hitler den ursprünglichen Chef dieser Mission, Rudolf Nadolny, abberufen hatte. Rhein- baben war der letzte deutsche Diplomat, der vor der Versammlung des Völ- kerbundes in Genf im Oktober 1933 eine Rede hielt – und bei dieser Gelegenheit den vom »Führer« angeordneten Austritt seines Landes aus der Organisation bekanntzugeben hatte. Wenige Tage später, am 1. November wurde Rheinbaben, der zu den poli- tischen Beratern des Generals Kurt von Schleicher gehörte, auf der Basis des »Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« aus dem diploma- tischen Dienst entlassen. Es gab nur einen Mann, der sowohl die Anzeige von Krapf wie für Wilhelm-Günther von Heyden signiert hatte: Hans-Georg Wieck, der einst als Leiter des Bundesnachrichtendienstes in Pullach ansässig gewesen war, von Heyden kennengelernt hatte und seine Verbundenheit mit ihm dokumentiert wissen wollte. Auch in dieser Anzeige in der Süddeutschen Zeitung fand sich wie schon im Falle Krapf eine unmissverständliche Kampfansage der »Ehemaligen« an den »Anstelle des Amtes gedenken wir unseres Freundes« 193

Minister Fischer und seine aktuelle Weisung. Die diesmal gewählte Formel steigerte den Affront sogar noch: »Anstelle des Auswärtigen Amts gedenken wir unseres Kollegen und Freundes«. Dass im Falle von Heyden auf ein ehrendes Gedenken von Amts wegen ver- zichtet werden musste, war wie schon im Falle von Krapf seltsam, diesmal vielleicht sogar noch seltsamer. Von Heyden war vor der Aufnahme in den Auswärtigen Dienst 1935 in die NSDAP eingetreten, vor dem Krieg in Ko- penhagen, Kairo, Cleveland und Washington stationiert gewesen, während des Krieges in der Dienststelle des Reichsbevollmächtigten in Italien. Nach- dem er bei Kriegsende wie alle deutschen Diplomaten in Italien – mit Aus- nahme Ernst von Weizsäckers, der mit einigen Vertrauten erfolgreich im Vatikan um politisches Asyl nachgesucht hatte – kurze Zeit interniert worden war, wurde von Heyden für einige Jahre Journalist beim Handelsblatt, bevor er 1951 wieder ins AA zurückkehrte und sofort zum Leiter der Delegation für die Pleven-Plan-Konferenz in Paris ernannt wurde – was bei einem NS-Ver- strickten kaum der Fall hätte sein können. 1953 holte ihn Theodor Heuss ins Bundespräsidialamt, wo er als Leiter des Referats II u.a. zuständig sein sollte für die Verbindungen zum Auswärtigen Amt, für wirtschaftliche Fragen, Pro- 194 »Operation Hinkelstein«: Nachrufkrise und Kommissionsfindung tokollangelegenheiten, Auswanderung und – nicht zuletzt – jüdische Pro- bleme, bzw. »Fragen des Judentums«. Heuss, bei dieser Thematik überaus sen- sibel, hätte niemals einen belasteten NS-Funktionär an dieser heiklen Stelle eingesetzt. 1958 kehrte von Heyden ins AA zurück und ging unter anderem als Botschaftsrat nach Neu Delhi und als Generalkonsul nach Hongkong und Macao. Auch er ein Mann also, der nach 1945 am Aufbau der neuen Bundes- republik tatkräftig und verlässlich mitgewirkt hatte. Ihn nicht zu ehren, seinen Tod nicht intern anzuzeigen, empfanden diejenigen, die ihn gekannt hatten, als völlig unangemessen, ja ehrabschneidend und wählten eine entsprechend unverhüllt-kritische Formulierung, mit der sie sich von der von Joschka Fi- scher angeordneten neuen Praxis unzweideutig distanzierten. Noch in den Er- innerungen Joschka Fischers aus dem Jahre 2011 lodert der Zorn des Ministers über all die eben geschilderten Vorgänge: »Mit der losbrechenden Visa-Affäre bot sich Ende Januar eine mehr als günstige Gelegenheit zur öffentlichen Attacke. Es erschien am 9. Februar 2005 (ausgerechnet an Aschermittwoch) eine große Anzeige unter der Überschrift ›In memoriam Franz Krapf‹ mit den Unterschriften von fast allem, was im deutschen Auswärtigen Dienst Rang und Namen hatte und nicht mehr aktiv war. Das war ein frontaler Angriff auf mich. Aber ich dachte auch nicht eine Sekunde daran, klein beizugeben. Die wollten die Auseinandersetzung, sagte ich mir. Also sollten sie sie bekommen. Im Üb- rigen fiel mir immer wieder der Satz des Helden aus dem Film ›Die Mumie kehrt zurück‹ ein, als dieser vor ebenjenen flüchtete: ›Ich hasse Mumien‹. Fortan galt das auch für mich. Und wie von Geisterhand gesteuert, ging es nunmehr auch im Haus selbst los. Unterschriftenlisten kursierten gegen mich und gegen die Änderung der Nachrufpraxis, während wiederum an- dere Mitarbeiter sich für die Beibehaltung der geänderten Nachrufpraxis aussprachen. Wolfgang Gerhardt, der mich 2002 allzu gerne im Amt beerbt hätte und von dem man mir berichtete, dass er sich damals bereits die Möbel für das Ministerbüro ausgesucht hatte, rief die Diplomaten zum Wi- derstand gegen mich auf (mit einer Radikalität, die ich diesem eher betu- lichen Kollegen gar nicht zugetraut hätte!). Die Oppositionsseilschaften und Parteibuchkarrieristen erhoben in Amt und Presse ihr Haupt – und das alles mitten in der Visa-Affäre! Der Personalrat bat mich, einen Schritt auf das Haus zuzugehen und so einigten wir uns darauf, dass es in Zukunft bei der bloßen Todesnachricht ohne ›ehrendes Andenken‹ blieb.« 53 Das war der Moment, an dem sich Joschka Fischer entschloss, den Mumien, Blasius, Rose und Co. eine Antwort zu geben – seine Antwort. Er, der nur zu Joschka Fischer bläst zur Jagd 195 genau wusste, wie man über Bande spielt, um die eigenen Interessen durch- zusetzen und dazu manchmal krumme Wege gehen musste, rechnete damit auch bei seinen Gegnern aus dem Amt. Deshalb erfolgte seine Antwort nicht unmittelbar und offensiv. Sondern auf seine Art. Indirekt. Er hatte eine ebenso subtile wie wirksame Form der »Strafe« im Auge: Er würde zur Jagd blasen. Zur Jagd auf sein eigenes Ressort. Auf die deutschen Diplomaten. Fischer be- kennt das 2011 selbst ganz offen und unverhüllt – und noch immer führt ihm der kalte Zorn die Feder: »Ich war damals wild entschlossen, die Gelegenheit zu nutzen um mittels einer internationalen Historikerkommission die Geschichte dieses Auswär- tigen Amtes im Dritten Reich und im Übergang zur Bundesrepublik auf- arbeiten zu lassen. Ganz offensichtlich bedurfte die Geschichte des Amtes und seiner Diplomaten wirklich einer gründlichen historischen Aufarbei- tung. Denn was dann in dieser ganzen Auseinandersetzung um die Nach- rufe im Jahre 2005 zum Vorschein kam, war die erschreckende Tatsache, dass bei einem Teil der ehemaligen Diplomaten nach wie vor ein Kasten- denken, eine Gruppenloyalität und eine Geschichtsvergessenheit herrschte, die ich bis dato nur aus Büchern gekannt hatte. Plötzlich realisierte ich, wie abgrundtief fremd mir dieser elitäre Standesdünkel war und ich viel- leicht doch einen großen Fehler gemacht hatte, als ich darauf verzichtete, die Strukturen und die Mentalität des Amtes anzugehen.« In dieser langen Passage des Zorns über das Amt geht Fischer verachtungsvoll auch auf die Argumente von Erwin Wickert ein, ohne allerdings seinen grund- legenden Briefwechsel oder Wickerts Namen zu erwähnen. Aber jeder Leser dieses Buches weiß unmittelbar, wer und was gemeint ist: »Der einsame intellektuelle Höhepunkt [gemeint ist: Tiefpunkt; D.K.] die- ser Debatte war jedes Mal erreicht, wenn die Herren mit der braunen Ver- gangenheit oder deren Verteidiger sich hinter dem Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW) zu verschanzen suchten. Dieser habe den Mörder Pol Pot verherrlicht – was zutrifft und auf das Schärfste kritisiert werden muss. Diese Kritik haben Dany Cohn-Bendit und ich auch in den siebziger Jahren geäußert, weshalb der KBW Dany nach dem Sieg der Revolution in die Fischmehlfabrik zwecks Umerziehung schicken wollte. Mich hätten sie vermutlich dazu gepackt … Ich billige, erstens, jedermann das Recht der Einsicht und Änderung zu. Deswegen musste ich diesen Leuten aber doch kein ›ehrendes Gedenken‹ gewähren. Und zweitens kann und muss man am KBW vieles kritisieren, diesen aber mit der Hitler-Partei oder gar mit einer verbrecherischen Organisation wie der SS, die direkt am Massen- und Völ- 196 »Operation Hinkelstein«: Nachrufkrise und Kommissionsfindung

kermord beteiligt war, zu vergleichen, ist einfach nur bodenlos daneben. Sich mit einer Nazi- oder SS-Vergangenheit hinter dem KBW zu verschan- zen, zeigt aber auch, um welche Sorte ›Helden‹ es sich bei den braunen Mu- mien handelte. Ich hatte für diese Feigheit nur noch Verachtung übrig. Die Mumien wollten es wissen! … Sie sollten mich kennenlernen. Dass die mich nicht sympathisch fanden, konnte ich nachvollziehen und diese Antipathie beruhte auf Gegenseitigkeit. Warum hielten sie den Kopf nicht unten, denn sie mussten doch wissen, dass sie angesichts der Faktenlage niemals gewinnen konnten? Die Mumien wollten mit mir Schlitten fahren – und also fuhren wir Schlitten. Jetzt war ich zur Aufarbeitung der Vergangenheit des Auswär- tigen Amtes in der Zeit von 1933 bis 1945 und auch während der Nach- kriegszeit und in den Jahrzehnten der Bundesrepublik entschlossen …« 54 Um diese Zeilen wirklich zu verstehen, muss man wissen, dass sich im Früh- jahr 2005, auf das er wutentbrannt zurückblickt, die Dinge auf vielfältige Weise für Fischer zuspitzten, noch bevor das Debakel für die SPD bei den Landtagswahlen in NRW am 22. Mai zur Kurzschlussreaktion von Gerhard Schröder und zu den von ihm im Alleingang erzwungenen Neuwahlen führte, an deren Ende eine Große Koalition unter der Kanzlerin Angela Merkel stehen sollte. Mithin schon bald genau das eintrat, was Fischer immer gefürchtet hatte. Die Grünen waren draußen aus den Regierungsämtern, während die Sozialdemokraten weiterregieren konnten, wenn auch »nur« als Juniorpartner der Christdemokraten. In dieser Zeit, als der Visa-Untersuchungsausschuss sich formierte, auf den wir gleich kommen werden, eskalierte der Konflikt im Amt zunächst intern, um dann endlich öffentlich aufzubrechen. Anfang März teilte der Minister seine Nachruf-Entscheidung, die er ja schon über andert- halb Jahre früher getroffen hatte, den »Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern« im Amt in seinem Rundschreiben mit: »Ehemalige Angehörige des Auswärtigen Amtes, die Mitglied der NSDAP waren, werden ab September 2003 grundsätzlich nicht mehr mit einem Nachruf geehrt. Auslöser hierfür war der Nachruf für einen Generalkonsul a.D., der für erhebliche Entrüstung gesorgt hat und so nie hätte er scheinen dürfen. Der Verstorbene hatte vor 1945 als Oberstaatsanwalt und NSDAP- Mitglied in der besetzten Tschechoslowakei an zahlreichen Verfahren mit- gewirkt. Ehrende Nachrufe in diesen und vergleichbaren Fällen … wären geeignet, das Ansehen des Auswärtigen Amtes und der Bundesrepublik zu beschädigen.« 55 Vergleichbare Fälle? Nicht bekannt. Staatssekretär Scharioth erklärte beglei- tend, die von den Pensionären angeregte Einzelfallprüfung anhand der im Po- Interne Unterschriftenliste im AA 197 litischen Archiv vorhandenen Personalakten könne nicht geleistet werden – wegen der Komplexität der Materie und wegen Personalmangel. Das stieß im Amt auf Befremden, weil das Ressort neben den Aktenbeständen auch über einen versierten »Historischen Dienst« verfügte, der zufälligerweise gerade – seit 1995 – ein hervorragendes Biographisches Handbuch des deutschen Auswär- tigen Dienstes 1871–1945 erstellte und prädestiniert für die Aufgabe gewesen wäre, worauf Rainer Blasius später, am 26. Oktober 2010, in seinem Stück »Der Generalkonsul und das Auswärtige Amt« als Erster hinweisen sollte. Wenn Fischer später im Gespräch mit Fritz Stern angibt, er habe höchstper- sönlich »die Nachrufpraxis durch einen entsprechenden Erlass so geändert, dass künftig jeder Einzelfall geprüft werden müsse« 56, ist das ein Beispiel für selektive Umdeutung und Selbststilisierung. Denn tatsächlich hat es ja eine Einzelfallprüfung nicht gegeben. Plötzlich kursierte eine interne Unterschriftenliste im Auswärtigen Amt, mit welcher nunmehr auch aktive Mitarbeiter gegen die geänderte Nachruf- Praxis des Ministers rebellierten. Mehr als siebzig aktive Angehörige des Amtes, darunter auch der Leiter des Politischen Archivs, Ludwig Biewer »als Privat- mann aus Zehlendorf«, unterzeichneten ein Solidarisierungsschreiben, das auf den 25. März 2005 datiert und an Heinz Schneppen, den Initiator der Anzeige für Krapf, adressiert war. Mit ihm sollte die »generationsübergreifende« Ver- bundenheit zwischen den »Ehemaligen« und den »Aktiven« dokumentiert werden. Darin hatte es u.a. geheißen: »Es ist in der Tat beschämend zu sehen, wie gerade diejenigen, die das Recht auf politischen Irrtum für sich selbst nur zu bereitwillig in Anspruch neh- men, dieses Recht älteren Generationen verweigern und meinen, sich 60 Jahre nach Kriegsende zu posthumen Richtern über Kollegen aufspielen zu müssen, die angeblich in der Zeit ihres Wirkens für unser Land viel zu nach- sichtig behandelt worden sind. Die Unterzeichner des Briefes sind davon überzeugt, dass die Ehrung der Toten zum kulturellen Kernbestand sämtli- cher Zivilisationen gehört. Sie zu verweigern, ist Ausdruck anmaßender Selbstüberschätzung und spiegelt das manichäische Geschichtsbild derjeni- gen wieder, die bereits 1968 glaubten, keinem über 30 trauen zu dürfen.« 57 Zu den Unterzeichnern, die vehement gegen die Damnatio memoriae für alte Amtsangehörige protestierten und eine Zweiteilung in gute »68er« und böse »38er« ablehnten, hatten zwar nicht die hohen und höchsten Dienstränge ge- hört, aber es ärgerte Fischer trotzdem, denn es waren einfach zuviele gewesen. Er sprach gegenüber Fritz Stern verächtlich vom »Froschaufstand«, fragte sich: »Warum treibt die das so um? Die konnten doch dabei nichts gewinnen.« 58 198 »Operation Hinkelstein«: Nachrufkrise und Kommissionsfindung

Ranghöchster Unterzeichner in der Zentrale war tatsächlich Ludwig Biewer, als Vortragender Legationsrat seit 2003 Leiter des Politischen Archivs des Aus- wärtigen Amtes. Dass einer der Herren über die Archivakten sich kritisch zu Wort gemeldet hatte, war für Fischer kein Zufall. Das Archiv war ihm generell suspekt. In den bereits zitierten Erinnerungen von Fischer finden sich ent- sprechende Indizien für diese Haltung. Er unterstellte im Kampf um die Deu- tungshoheit über die Vergangenheit dem Archiv durchweg manipulatives, beschönigendes Verhalten und »seine« Kommission wird ihm darin zumindest partiell folgen: »Die erfolgreiche Umschreibung der braunen Geschichte und damit auch und gerade der einzelnen Biographien [nach 1945; D.K.] setzte vor allem die Herrschaft über die Akten als entscheidender objektiver Wissensquelle voraus und die war mit der Sonderregelung für das AA gegeben. Die Zen- trale Rechtsschutzstelle des Amtes, die dafür eingerichtet worden war, nach dem Krieg im Ausland angeklagte und verurteilte Deutsche zu betreuen, verwandelte sich in den fünfziger Jahren – wie der Kommissionsbericht zeigte – unter der Hand in eine Täterwarnstelle. (…) Der Schmutz, der einem bei der Lektüre der knapp 900 Seiten des Berichts der unabhängigen Historikerkommission entgegenkam, war in der Tat deprimierend.« 59 2005 war aber etwas anderes für ihn deprimierend. Beispielsweise, dass jetzt erstmals in der Geschichte des Auswärtigen Amtes ein einzelner aktiver Bot- schafter – Frank Elbe – an die Öffentlichkeit trat, einen scharfen Brief an den Minister schrieb und gleichzeitig seine Veröffentlichung in der Presse lancierte, in welchem die neue ministerielle Nachruf-Praxis offen gerügt wurde. Und anschließend schüttete dieser Mann zusätzlich in Interviews Öl in das bereits hochlodernde Feuer. Auch das hatte es in der bundesdeutschen Diplomatie- und Ministerialgeschichte noch nie gegeben. Frank Elbe hatte seine Karriere als Konsularreferent in Warschau begonnen, ging anschließend nach London, war von 1986 bis 1987 stellvertretender Leiter des Referates für nukleare Ab- rüstung im Amt, dann – als Genscher-Vertrauter – Leiter des Leitungsstabes, Leiter des Planungsstabes, schließlich ab 1997 Botschafter in Japan, in Polen, Indien und jetzt, am Ende seiner Karriere – er stand mit 64 Jahren kurz vor der Pensionierung – in Bern, in der Schweiz. Fischer war hellauf empört – und versetzte Elbe sogleich und vorzeitig in den Ruhestand. Nachdem das feststand, gab Elbe jegliche Zurückhaltung auf und der WELT ein freimütiges Interview, wie es die restliche Welt kaum je gesehen hatte. Schon die Über- schrift hatte es in sich: »Minister Fischer will die Moral fallbeilartig exekutie- ren«. Dieses Interview wurde ausgerechnet am 24. April 2005 veröffentlicht, Frank Elbe und das offene Wort 199 als der Auftritt Fischers vor dem Visa-Untersuchungsausschuss anstand – ein für den Minister noch zusätzlich ebenso peinlicher wie peinigender zeitlicher Zusammenhang. Der natürlich beabsichtigt war. Und Elbe erläuterte seine Haltung freimütig, als er nach seinen Motiven für den Gang in die Öffent- lichkeit gefragt wurde: »Ich wollte der von mir beobachteten Spaltung des Auswärtigen Dienstes entgegenwirken. Ich habe zunächst gezögert, das öffentlich zu machen. Aber ein früherer Brief an den Leiter der Personalabteilung wurde nicht beantwortet. Ich hörte dann, dass ehemalige Staatssekretäre und Botschafter an Herrn Fischer und Staatssekretär Scharioth geschrieben hatten. Auch sie erhielten keine Antwort. Da habe ich meinen Brief dann als öffentlichen geplant. Ich bin gegen eine fixe Gedenkpraxis. Es sollten Einzelfälle richtig entschieden werden. In den Fällen Nüßlein und Krapf ist jeweils falsch ent- schieden worden. Nur so hat der frühere NS-Oberstaatsanwalt einen Nach- ruf erhalten, bei dem man sich auf die Todesnachricht hätte beschränken sollen. Botschafter Krapf hingegen hat keinen Nachruf mehr erhalten, ob- wohl er hervorragende Dienste für Deutschland erbracht hat … Ich setze mich hier nicht ein, um Ex-Nationalsozialisten ein ehrendes Gedenken zu verschaffen. Aber ich sehe Krapf und andere im Lichte ihrer Persönlichkei- ten und beträchtlicher Leistungen. Da darf man nicht allein auf die Mit- gliedschaft in der NSDAP abstellen. Das ist rigoroser Moralismus eines Saint-Just oder Robespierre, der die Unterscheidung zwischen gerecht und nicht gerecht fallbeilartig exekutiert. Der in der DDR aufgewachsene SPD- Politiker Richard Schröder hat es so gesagt: ›Wer nicht selbst in einem to- talitären Staat gelebt hat, überschätzt leicht seine eigene Fähigkeit zum Widerstand.‹ Das kann ich nur unterstreichen.« Schon früh scheint hier jene zentrale Frage auf, auf die die Historikerkom- mission später keine Antwort geben und an der sie sich vorbeimogeln wird: die Frage nach den Handlungsspielräumen von Staatsdienern in einer Dikta- tur. Der kluge Richard Schröder hatte es auf den Punkt gebracht: Jeder sollte sich glücklich schätzen, dem die Prüfungen einer Diktatur erspart bleiben. Wer nie in einer solchen gelebt hat, neigt dazu, die Freiräume und Möglich- keiten der Abwehr von Unrecht weit zu überschätzen. Genau das war bei der Historikerkommission und ihren vielen meist jüngeren Mitarbeitern später der Fall. Aber Elbe monierte auch ganz grundsätzlich die veränderte Nach- rufpraxis: »Es wäre zutiefst ungerecht, wenn etwa Staatssekretär Kastrup, der sich ein- zigartig um die Wiedervereinigung bemüht hat, später ein ehrendes Ge- 200 »Operation Hinkelstein«: Nachrufkrise und Kommissionsfindung

denken versagt würde. Und bekäme der frühere Staatssekretär Duckwitz, auch er ja ein NSDAP-Mitglied, heute keinen Nachruf, obwohl er als der Retter dänischer Juden in Yad Vashem einen Ehrenplatz hat? Das ist doch alles ziemlich absurd. Ich habe sieben Jahre in Polen gearbeitet, Anfang der siebziger Jahre und von 1999 bis 2003 als Botschafter. Ich kenne die Ver- brechen in deutschem Namen in allen scheußlichen Einzelheiten nicht zu- letzt auch aus Justizakten. Wir werden unserer Verantwortung gegenüber den Opfern durch Menschlichkeit gerecht, nicht durch eine bürokratische Farce, die es verhindert, Verbrecher und anständige Menschen voneinander zu unterscheiden. Es gibt wenig Sakrales in der Politik. Auschwitz ist sakral. Es darf nicht als Mittel der politischen Auseinandersetzung oder Rechtfer- tigung benutzt werden. Herr Fischer ist sich dessen nicht immer bewusst. Darauf angesprochen, dass er als junger Mann Steine geworfen hat, war seine Antwort: ›Ich habe Auschwitz nicht gemacht.‹ Den Parteitag der Grü- nen riss er mit dem Auschwitz-Argument herum, dem Bundeswehr-Einsatz im Kosovo zuzustimmen. Und inhaltlich bedient er sich des Arguments nun, um einen unnötigen, bürokratischen Erlass zur Gedenkpraxis zu rechtfertigen. Auschwitz erfordert einen sehr behutsamen, respektvollen Umgang. Mehr als hundert Ex-Diplomaten haben sich jetzt für Krapf ein- gesetzt. Die Aktion ist einzigartig für das Auswärtige Amt. Da haben viele mitgemacht, die zu den honorigsten Persönlichkeiten der deutschen Nach- kriegsdiplomatie gehören, die für wichtigste Entwicklungen stehen: von Staden für die Ostpolitik, Bräutigam für die Deutschlandpolitik, Lauten- schlager für die Europäische Union, Kastrup für die Wiedervereinigung. Das sind keine alten Kameraden. Es waren alle politischen Richtungen ver- treten. Die Aktion beweist das Zusammengehörigkeitsgefühl im Auswär- tigen Dienst, das auf Menschlichkeit und Respekt aufbaut …« Auf die insistierende Frage, ob er sich gegenüber Minister Fischer nicht tat- sächlich illoyal verhalten habe, antwortete Elbe: »Man geht mit dem Begriff heute ziemlich flott um. Ich habe nicht gegen die Treuepflicht verstoßen. Ich habe getan, was auch Beamten möglich ist: einen Beitrag zu leisten zu einer bereits öffentlichen Diskussion. Er berührte nicht die Außenpolitik, sondern die Frage, wie das Auswärtige Amt mit sei- nen Mitarbeitern umgeht … Ein Beamter, ob Botschafter oder Registrator, kann seinen Dienstherrn kritisieren, wenn dies in der gehörigen Form ge- schieht. Ich habe gut 40 Briefe aus dem Auswärtigen Amt bekommen. Die meisten loben mich mit Begriffen wie Mut und Zivilcourage. Zwei werfen mir Illoyalität vor. Ich halte beides für falsch. Es war ein Beitrag zu einer Die Treuepflicht des Beamten 201

Diskussion. Nun sollen offenbar Historiker die NS-Zeit des Auswärtigen Amts aufarbeiten. Man kann das machen. Es ist besser für Angehörige des Auswärtigen Dienstes, die Vergangenheit des Ministeriums zu kennen. Man kann aber gleichzeitig dafür sein, dass Krapf einen Nachruf erhält. Und: Warum ausgerechnet jetzt, obwohl Fischer bereits sieben Jahre im Amt ist? Wenn das von Fehlern der Nachrufpraxis ablenken soll, sollte der Rech- nungshof die Ausgabe für die Kommission rügen.« An dieser Stelle taucht bereits jener Vorwurf auf, mit dem bald schon von Kommissionsseite reflexartig auf Positionen reagiert werden wird, wie sie Elbe eingenommen hatte. »Ihnen wird vorgeworfen«, so der Interviewer Romanus Otte, »Sie ergriffen mit Ihren Argumenten Partei für alte Nazis«? Darauf ant- wortete Elbe: »Mich trifft das hart. Ich habe in wichtigen Verfahren wie im Maidanek- Prozeß oder gegen Warschaus Gestapo-Chef dazu beigetragen, Nazis vor Gericht zur Verantwortung zu ziehen. Meine polnischen und jüdischen Freunde kennen meine Abscheu gegen das nationalsozialistische Deutsch- land. Ich wurde mit der goldenen Verdienstmedaille des polnischen Ver- bandes der Geschädigten des Dritten Reiches ausgezeichnet. Und meinen Brief habe ich erst nach einem Gespräch mit Bill Haas geschrieben. Sein antifaschistisches Engagement als ehemaliger Botschafter in Israel ist be- kannt. Als ich wusste, dass er die Aktion für Krapf unterstützt, war klar, dass ich das machen musste. (…) Wenn Herr Fischer aber glaubt, die Mehr- heit der Kollegen im Amt stünde hinter ihm, täuscht er sich. Es ist wie im Andersen-Märchen: Falsche Berater reden dem Kaiser ein, er sei gut ange- zogen. In Wahrheit geht er nackt durch die Menge …« 60 Das Interview legte die fundamentalen Differenzen zwischen dem Minister und einem Großteil seiner Mitarbeiter schonungslos bloß. Bereits kurz vor Elbe hatte Fischers alter Kontrahent Erwin Wickert in einem Gespräch mit der WELT am Sonntag am 4. April 2005 ganz ähnlich wie Elbe beide The- menstränge, die Nachruf-Affäre und die Visa-Thematik, verknüpft und den tiefen Vertrauensverlust zwischen dem Minister und dem Gros der Diploma- ten gleichfalls unverhüllt angesprochen. Unter der Überschrift »Wir waren keine Nazis« warf er Fischer bereits vor, was man nun, Jahre später, auch dem Kommissionsbericht vorhalten könnte: »Die Diskussion bei uns über diese Frage ist einfach primitiv. Minister Fi- scher unterstellt, dass jemand, der in der NSDAP war, auch ein Nazi sein mußte. Das ist aber nicht der Fall, da seit Ribbentrops Ernennung als Au- ßenminister 1938 die Mitgliedschaft in der Partei im AA obligatorisch 202 »Operation Hinkelstein«: Nachrufkrise und Kommissionsfindung

wurde. Fischer hat offensichtlich keine Ahnung von den Zuständen in einem totalitären Staat. Die Diskussion geht von Zuständen im Dritten Reich wie in unserem Staate aus, wo Menschen freiwillig entscheiden kön- nen, ob sie in eine Partei eintreten können oder nicht. Dass der Außenmi- nister, der selbst über große Brüche in seiner Biographie verfügt, so rigide über andere urteilt, ist schamlos. Ja, ich war NSDAP-Mitglied. Man hat mich dazu aufgefordert … Wenn Herr Fischer denkt, dass ich wegen einer NSDAP-Mitgliedschaft ein Nazi war und etwas Unehrenhaftes getan habe, verzichte ich gern auf eine Ehrung in der Hauspostille des AA. Was die Visa-Affäre anlangt, so habe ich große Zweifel, ob das Vertrauen zwischen dem Minister und den Diplomaten wieder hergestellt werden kann. Durch seine Politik in der Visa-Abteilung hat Fischer auch das Vertrauen in seine eigene Person verloren. Der Außenminister sollte endlich die Verantwor- tung übernehmen. Verantwortung heißt auf deutsch: Wenn man gescheitert ist, zurückzutreten.« Es wurde eng für Joschka Fischer. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Opposition bereits längst die Einrichtung eines Bundestagsuntersuchungsausschusses durchgesetzt, der am 21. April 2005 seine Arbeit aufnahm und mit der hoch- notpeinlichen, erstmals live im Fernsehen übertragenen Befragung des ver- antwortlichen Außenministers Joschka Fischer und seines Staatsministers a.D. Ludger Volmer begann. Ihnen folgte der damalige UNO-Botschafter und ehe- malige beamtete Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Günter Pleuger. In seinen Erinnerungen erweckt der sonst sehr freimütige Außenminister a.D. Joschka Fischer den Eindruck, es habe sich nicht um eine wirklich dra- matische Situation für ihn gehandelt, an deren Entstehung im Übrigen die Vorgängerregierung Kohl zu großen Teilen die Verantwortung hätte tragen müssen. Von dieser Darstellung sollte man sich nicht hinters Licht führen las- sen. Joschka Fischer teilt selbst mit, dass er sich den ganzen Sonntag vor dem Beginn der Einvernahme durch die Bundestagsabgeordneten von seinen engs- ten Vertrauten, darunter auch Fritz Kuhn, habe »coachen« lassen. Zu diesen Vertrauten wird sicherlich auch Dietmar Huber gehört haben, der langjährige Pressesprecher der Bundestagsfraktion der Grünen, mit dem Fischer eine ver- trauensvolle Kooperation verband und mit dem er nach seinem Abschied aus der Politik 2009 die JF&C (Joschka Fischer&Company GmbH) zur Politik- und Firmenberatung gründen sollte. Einem solch intensiven »Crossfire-Trai- ning«, wie es vor amerikanischen Prozessen üblich ist, unterzieht man sich nicht ohne Not. Nicht, wenn alles einfach und klar ist. Fischer berichtet selber, dass er in der Nacht vor der ersten Einvernahme kaum geschlafen und bis in Kreuzverhör im Visa-Untersuchungsausschuss 203 die frühen Morgenstunden noch alleine Akten durchforstet habe. Wonach? Nach Spuren, die seine Verwicklung hätten zeigen können? Nach belastenden Hinweisen? Fischer wusste genau, es ging um seine Ehre, seinen Reputation, sein Ansehen über den Tag hinaus. »Wenn Sie in einem Regierungsamt sind, geht es um ihren Kopf auch dort, wo der Apparat versagt. Das ist Minister- verantwortung. Du bist der Sündenbock. Du haftest«, sagte er zu Fritz Stern.61 Das war noch ein kleines Nachbeben aus der Visa-Affäre. Denn Fischer machte in den Befragungen keine gute Figur. Auffallend oft musste er sich auf Erinnerungslücken berufen. Seine Karriere war niemals zuvor so gefährdet ge- wesen wie in diesem Moment. Er wusste: Würde ihm eine Lüge nachgewiesen werden, drohte ihm das Schicksal von Franz Josef Strauß, der 1962 den Bun- destag über seine Mitwirkung an der Verhaftung des SPIEGEL-Redakteurs Conrad Ahlers belogen hatte und nach Aufdeckung dieses Sachverhalts un- verzüglich zurücktreten musste. Deshalb schützte Fischer so oft wie möglich im Ausschuss Gedächtnislücken vor. Das war wesentlich besser, als irgendwo an einem dummen Punkt bei einer Falschaussage ertappt zu werden. Auch die Übermittlung der vom Untersuchungsausschuss angeforderten Aktenberge war sorgfältig kontrolliert und argwöhnisch überwacht worden, bevor das Ma- terial an zehn, zwölf Kopiergeräten gleichzeitig kopiert wurde, damit nur ja kein Blatt zuviel und vor allem nicht das falsche Dokument das Haus verließ. Bekanntlich stürzte Joschka Fischer nicht. Die mediale Ermittlungsinten- sität war in seinem Falle und angesichts seiner immensen Popularitätswerte auch nur schwach ausgeprägt, ganz anders als das etwa noch bei Franz Josef Strauß der Fall gewesen war, den nicht zuletzt der damalige Koalitionspartner, die dafür fortan vom ihm gehasste FDP, zu Fall gebracht hatte. Oder die hef- tige Hatz, die der politisch tumbe Christian Wulff wegen ziemlicher Nichtig- keiten über sich ergehen lassen musste und die ihn am Ende Amt, Ansehen und Ehe kosten sollte. Derlei musste Fischer nicht befürchten: Das »rot-grüne Projekt« hielt zusammen. Und die Medienmehrheit hielt zu ihm. Lockere Ein- wanderungspolitik war »common sense« für beide Partner und die meisten Journalisten. Fischer erklärte, staatsmännisch tief erschüttert ob der zu Tage getretenen Missstände in den fernen Missionen und die Verwicklung krimi- neller Kölner Kreise, er übernehme für alles die Verantwortung. Für alles! Die Reuebekundungen dieses großartigen Staatsschauspielers waren eindrucks- voll – und blieben politisch zugleich gänzlich folgenlos. Ein Rücktritt kam nicht in Frage. Die Position des Ministers wurde allerdings noch dadurch verbessert, weil wegen der überraschend von Gerhard Schröder anberaumten Neuwahlen der 204 »Operation Hinkelstein«: Nachrufkrise und Kommissionsfindung

Visa-Untersuchungsausschuss bereits am 2. Juni 2005 auf Antrag der rot-grü- nen Mehrheit seine Ermittlungen ohne Ergebnis beendete und mit dem Hin- weis auf »Zeitmangel aus Verfahrensgründen« seine Arbeit einstellte. Er ging als kürzester Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages in die Ge- schichte ein. Dem Protest der oppositionellen CDU/CSU und FDP wurde zwar später vom Bundesverfassungsgericht Recht gegeben, aber da amtierte bereits eine neue Regierung, die zweite Große Koalition der Republik unter Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier. Die Ermittlungen des Untersu- chungsausschusses waren im Sande verlaufen. Joschka Fischer aber hatte weder die amtsinterne Rebellion nach den Visa-Erlassen von 1999/2000 noch den Aufstand der »Mumien« im Gefolge der Nachruf-Affäre und schon gar nicht die für ihn wahrscheinlich traumatisch-strapaziösen Erfahrungen im Visa-Un- tersuchungsausschuss vergessen, als er plötzlich abhängig gewesen war von der Loyalität einer von ihm nicht sonderlich geschätzten bürgerlichen Beamten - elite im AA. Joschka Fischer ging jetzt selbst in die Offensive. Parallel zu den hier skiz- zierten Vorgängen fanden hinter den Kulissen intensive Gespräche, Sondie- rungen und diverse Abendessen statt, wo über die Zusammensetzung jener »Historikerkommission« beraten wurde, die Fischer nunmehr unbedingt zur »Erforschung« der Vergangenheit des Auswärtigen Amtes einsetzen wollte. Die »Operation Hinkelstein« kam ins Rollen. Im Amt erhielt Staatssekretär Scha- rioth den Auftrag des Ministers, eine entsprechende Kommission von vier bis fünf Historikern zusammenzustellen. Der vom Minister ausdrücklich angeord- nete Diskretionsgrad war hoch. Die interne Kommunikation über dieses mi- nisterielle Projekt erfolgte daher ausschließlich über sogenannte »Non-Papers«, ihr Umlauf also ohne Aktenzeichen und außerhalb des normalen Geschäfts- ganges. Ob die Unterlagen überhaupt und vollständig erhalten geblieben sind, ist nicht bekannt. Es wird für eine neue und wirklich unabhängige Historiker- kommission in einigen Jahrzehnten schwer sein, die genaue Entstehungsge- schichte ihrer Vorgängerin nachzuzeichnen, obwohl wir uns nicht in einer Diktatur, sondern in einem demokratischen Regierungsapparat bewegen. Etwas anderes jedoch wird eine spätere Historikerkommission unzweifelhaft feststellen: Der »Gender-Gesichtspunkt« war für den Minister Joschka Fischer gänzlich unwichtig und spielte bei den Anweisungen für das Auswahlverfahren überhaupt keine Rolle, d.h., es musste nicht zwingend mindestens eine Frau in die Kommission berufen werden – das wäre heute, ein knappes Jahrzehnt später, vermutlich bereits völlig unmöglich. Das politische Spektrum, aus dem die Historiker-Kandidaten stammen sollten, wurde allerdings klar, präzise und »Ich habe die Bombe« 205

Nachdem sich am 20. Januar 2005 der Visa-Untersuchungsausschuss des Bundestages konstituiert hatte und Fischer immer ofensichtlicher in den Fokus der Ermittlungen rückte, nahmen sich die Karikaturisten Greser & Lenz am 19. Februar in der F. A.Z. der Sache an. Ahnten die beiden Karikaturisten schon damals hellsichtig, dass Fischer an einem eigenen »Ermittlungsverfahren« gegen sein Ministerium »bastelte«? unzweideutig vorgegeben: »Links bis Mitte«. Und es sollte von vornherein ein Historiker jüdischen Glaubens hinzugezogen werden. Von Staatssekretär Scha- rioth kursierte das Wort als Anweisung: »Am besten ein amerikanischer Jude«. Die naheliegende, im Haus sofort diskutierte Variante, jene mit der Auf- gabe zu betrauen, die wie Rainer Blasius, Klaus Hildebrand, Horst Möller oder Gregor Schöllgen bei der Edition der Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland vorzügliche Arbeit geleistet und sich als Kenner der Materie erwiesen hatten, abermals heranzuziehen, wurde von der Lei- tungsebene sofort zurückgewiesen und als untauglich verworfen. Keiner der Genannten war »links«. Für das fundamentale Eliten-Bashing der Diploma- tenjagd, wie es Joschka Fischer vorschwebte, für seinen »Kulturkampf 1968 gegen 1938« waren sie, das sah man auf den ersten Blick, ungeeignet. Weil sich die Auswahl der Kommission als schwierig erwies, wurden die Genann- ten dennoch mehrfach von verschiedenen am Findungsprozess Beteiligten 206 »Operation Hinkelstein«: Nachrufkrise und Kommissionsfindung ins Gespräch gebracht – und immer wieder von der Führungsebene zurück- gewiesen. Früh ist wohl Eckart Conze »nominiert« worden, Professor an der Univer- sität Marburg, der 1993 in Erlangen von Michael Stürmer mit einer Studie über die deutsch-französischen Beziehungen in der ersten Hälfte der Ära de Gaulle promoviert worden war und u.a. eine Monographie zur Geschichte der internationalen Beziehungen vorgelegt hatte. Als ausgewiesener Kenner des Dritten Reiches war Conze bislang nicht in Erscheinung getreten – auch nicht als Linker. Aber das machte nichts. Die Leitungsebene suchte einen Mann, der nicht zu stark polarisierte, aber ihre Hinweise aufzunehmen verstand und die Kommission später zu moderieren vermochte. Nicht von ungefähr trat Conze nach der Veröffentlichung des Forschungsberichts als Sprecher der Kommission in Erscheinung. Um sein Defizit in puncto NS-Zeit abzudecken, kam Norbert Frei ins Gespräch, lange Jahre Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte in München, der »Urmutter-Institution« der deutschen NS-Forschung, entspre- chend auch Mitarbeiter in der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. Er hatte sich 1995 mit einer fundierten Studie über die deutsche »Vergangen- heitspolitik« in den Anfangsjahren der Bundesrepublik in Bielefeld habilitiert, war Professor an der Ruhruniversität in Bochum geworden, war Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin gewesen, hatte auch u.a. über den Führerstaat und den Journalismus im Dritten Reich publiziert und wechselte damals gerade an die Friedrich-Schiller-Universität nach Jena. Frei war ein Fachmann für exakt jenes Thema, das den Minister im Kern und vor allem anderen interessierte: Vergangenheitspolitik, Umgang mit in den Nationalsozialismus verstrickten Funktionseliten nach dem Krieg. Der archimedische Punkt für das Projekt, das Fischer nunmehr in Gang setzte, um das alte AA aus den Angeln zu heben, lag nämlich nicht in der NS-Zeit oder in der Zeit der Bundesrepublik. Er lag, bzw. liegt in der Zwischenphase zwi- schen dem 8. Mai 1945 und dem 23. Mai 1949, der Zeit der großen NS-Pro- zesse und bürokratischen hunderttausendfachen Entnazifizierungsverfahren. Dabei dockt das Projekt auf verblüffende Weise an die Argumentation des da- maligen Anklägers in Nürnberg, Robert Kempner, an, der schon 1947 davon sprach, die Herren im Auswärtigen Amt mit ihren blutbespritzten weißen Westen wenn nicht an den Galgen zu bringen, so doch als wichtigste Funkti- onselite Hitlers vollständig ins Abseits zu stellen, sozial zu ächten, für immer ihres Einflusses und ihrer Reputation berauben zu wollen. Es kam anders, wie wir wissen. Doch jetzt, nach dem Tode von Franz Nüßlein, sollte sich das spät, aber nicht zu spät ändern, sollte die Mission von Kempner durch Fischer, bzw. Geschichtspolitik trifft Geschichtswissenschaft 207

»seine« Historikerkommission vollendet werden, mindestens noch die post- hume Ausgrenzung der einstmals Verstrickten erfolgen, die offenbar so zahl- reich unter Adenauer ins AA zurückgekehrt waren. Für diese Aufgabe war Frei ein geeigneter Mann, denn er verstand wirklich etwas von der Sache, hatte sich in seiner 1995 publizierten Habilitationsschrift bereits ausführlich und vielschichtig mit dem für die Thematik wichtigsten Schlüsselprozess – dem Wilhelmstraßenprozess – und seinen Schlüsselfiguren Ernst von Weizsäcker und Hellmut Becker beschäftigt. Der Prozess und die Personen aus diesem Zusammenhang bilden so etwas wie einen durchlaufenden Subtext in seiner Darstellung. Auch wenn das AA nur am Rande aufscheint, stellen die folgenden Sätze, die offenbar jemand aus Fischers Umgebung genau gelesen und verstanden haben muss, Freis Eintrittsbillet in den Kommissions- kreis dar: »Die von Becker koordinierten, nicht selten auch inspirierten Aussagen zu- gunsten des Staatssekretärs von Weizsäcker sind ein eindrucksvoller Beleg für die enorme Energie, mit der inzwischen Teile der alten Funktionseliten daran arbeiteten, ihre Lesart der jüngsten Vergangenheit sowohl bei den Besatzungsmächten als auch bei den neuen politischen Entscheidungsträ- gern auf deutscher Seite durchzusetzen. Diese Bestrebungen erschöpften sich keineswegs in der Suche nach individuellem beruflichem Unterkom- men, sondern zielten auf kollektive moralische Rehabilitierung und Aner- kennung ihres seinerzeitigen Versuchs, Distanz zum Nationalsozialismus zu wahren. Im Falle der vor-nationalsozialistischen (Ende der dreißiger Jahre freilich fast vollständig der NSDAP beigetretenen) Mannschaft ging es überdies darum, die Ansprüche auf maßgebliche Mitwirkung an einer künftigen deutschen Außenpolitik nicht dadurch zu gefährden, dass man einer gleichsam stellvertretenden Verurteilung der Galionsfigur Weizsäcker tatenlos zusah. (…) Wenn es gelänge, ihn vorzeitig freizupauken, wäre zu- mindest ein Stück weit jene Deutung durchgesetzt, die Weizsäcker als ›Mann des Friedens‹ feierte und ein auch noch retrospektiv für legitim er- achtetes deutsches Großmachtstreben scharf von jenem nationalsozialisti- schen Rassenimperialismus trennte, den im Nachhinein niemand gemocht oder gar unterstützt haben wollte«.62 Und etwas später heißt es bei Frei in seiner Schilderung des hinter den Kulissen ausgefochtenen Kampfes um die vorzeitige Freilassung des im Wilhelmstra- ßenprozess verurteilten Ernst von Weizsäcker: »Die Motive waren zunächst nicht verteidigungspolitischer, sondern ver- gangenheitspolitischer Natur: Es ging um die politisch-moralische Reha- 208 »Operation Hinkelstein«: Nachrufkrise und Kommissionsfindung

bilitierung militärischer, staatsbürokratischer und wirtschaftlicher Eliten, deren Ehre und Einfluss durch die Aburteilung einiger ihrer Mitglieder so- zusagen kollektiv beschädigt worden waren. Es ging, dem traditionellen Führungs- und Repräsentationsanspruch dieser Eliten entsprechend, mit- hin um eine nationale Frage«.63 Fischer konnte mit diesen Passagen, diesen Positionen und vor allem diesen Deutungen zweifellos viel anfangen. Ihm ging es ja tatsächlich vor allem genau darum – um Geschichtspolitik und um Deutungshoheit. Um Prägung und Lenkung der öffentlichen Meinung. Um Entlarvung – denn er verstand sich als Aufklärer. Und um Vernichtung – zumindest des Ansehens, der Ehre der einst im Dritten Reich Verstrickten, unabhängig von allen späteren Einsichten und Verdiensten beim Aufbau des neuen deutschen Staates. Dabei tat es für ihn gleichfalls nichts zur Sache, dass die meisten mittlerweile bereits verstorben waren oder aber hochbetagt als Pensionäre ihrem Ende entgegengingen. Nein, er wollte – zumindest im Nachhinein – die verdeckten Verstrickungen jener einstmals braunen Eliten offenlegen, bzw. durch die Kommission ebenso auf- decken lassen wie die anschließende Verschleierungstaktik und Camouflage in der Bundesrepublik – am gleichen politischen Ort, im Auswärtigen Amt. Wesentlicher Ansatzpunkt dabei, das hatte Frei in der zitierten Passage ja schon angedeutet, war der Nachweis für die Verstrickung dieser Funktions- eliten in den »nationalsozialistischen Rassenimperialismus« – also genau das, was sie ja nachgerade zu leugnen, zu verbergen suchten. Gelang an dieser Stelle ein – für Fischer, den Schöpfer des »Hinkelstein-Konzepts«, von vornherein erwarteter, absehbarer – Durchbruch, brach ihre ganze Verteidigungsstrategie zusammen und sie waren entehrt für alle Zeiten. Darum ging es Fischer, darum geht es später im Buch Das Amt und die Vergangenheit. Der Minister und die Kommission, sie hatten sich gefunden. Das wog bei Frei bei Weitem auf, dass die Außenpolitik nicht zu seinen Spezialgebieten gehörte. Entsprechende vorsichtige, kritische Hinweise darauf aus den am Suchverfahren beteiligten Gremien des Amtes wurden von der Leitungsebene daher stets energisch zurückgewiesen. Allerdings wurde jetzt, nachdem sich die gewünschte Grundstruktur der Kommission bereits abzeich- nete, von ihr dann doch noch der hoch renommierte, allerdings eher dem konservativen Lager zuzurechnende Bonner Historiker Klaus Hildebrand hin- zugezogen. Er war unstrittig ein fundierter Kenner der deutschen Außenpo- litik wie auch der NS-Zeit, sein immer wieder aufgelegtes Handbuch zum »Dritten Reich« diente nicht von ungefähr Generationen von Studenten im Examensstress als zentrales Hilfs- und Rettungsmittel. Allerdings war Hilde- Fritz Stern als Ratgeber 209 brand, dafür spricht seine recht späte »Nominierung« wie auch sein geringer Einfluss auf die Zielsetzungen der »Forschungsarbeiten«, wohl eher als eine Art »Feigenblatt« gedacht. Keinesfalls war er als eine die Kommissionsarbeit dominierende, die Forschungsrichtung prägende Figur hinzugezogen worden. Ob vom Minister, von Eckart Conze, Norbert Frei oder Klaus Hildebrand die Anregung ausging, auch ausländische Wissenschaftler zu berufen, ist nicht eindeutig klar. Sicher ist, dass schon bald von der Leitungsebene diese Anre- gung aufgegriffen und mit einer bedeutsamen Präzisierung versehen wurde: »renommierte Wissenschaftler aus dem Ausland mit jüdischem Hintergrund« sollten hinzugezogen werden. Es folgten eine Reihe von kleinen Gesprächs- runden, bei der Fritz Stern als alter im Politikgeschäft erfahrener Professor der Columbia-Universität (er war übrigens auch ein Bekannter von Hellmut Be- cker) als Ratgeber dazu gebeten wurde. Fritz Stern wusste natürlich um die Abgründe der deutschen Geschichte und war in der internationalen Welt von Wissenschaft und Politik bestens ver- netzt. Fischer wiederum schätzte ihn, hatte im Herbst 2004 die Laudatio auf Stern anlässlich der Verleihung der Leo-Baeck-Medaille gehalten, sich mit ihm ausgetauscht. Der Preis des Leo-Baeck-Instituts in New York wird seit Ende der siebziger Jahre vergeben an jene, die sich in besonderer Weise um die Aus- söhnung zwischen Juden und Deutschen verdient gemacht haben und ist nicht zu verwechseln mit dem Leo-Baeck-Preis des Zentralrates der Juden in Deutschland. Weitere Preisträger dieser Medaille waren etwa Helmut Son- nenfeldt, der amerikanische Sicherheitsberater und enge Vertraute von Henry Kissinger, der Historiker George L. Mosse, Michael Blumenthal, der Direktor des Jüdischen Museums in Berlin und dessen Architekt Daniel Libeskind sowie Otto Schily, Weltbankpräsident James D.Wolfensohn, der Dirigent Kurt Masur, der Künstler Anselm Kiefer und 2010 die Bundeskanzlerin Angela Merkel gewesen. Weiteren Preisträgern werden wir am Ende dieses Kapitels noch begegnen. Jedenfalls hatten sich Fischer und Stern bei dieser Gelegenheit näher ken- nengelernt. Man könnte das Ende des Bogart-Films Casablanca zitieren – es war der »Beginn einer wunderbaren Freundschaft«, deren Spuren weiter oben bereits aufgeschienen sind. Fritz Stern war im Frühjahr 2005 für den Minister Fischer jedenfalls schon so etwas wie der adäquate Ansprechpartner und Be- rater bei der »historischen« Thematik. Bei einem diskreten Abendessen im no- blen Berliner Hotel Ritz Carlton am Potsdamer Platz wurde im Frühjahr 2005 in einer kleinen Runde von Joschka Fischer, Staatssekretär Scharioth, Klaus Hildebrand und Fritz Stern, vermutlich auch noch Eckart Conze und Norbert 210 »Operation Hinkelstein«: Nachrufkrise und Kommissionsfindung

Frei die endgültige Zusammensetzung der einzusetzenden Historikerkommis- sion abgestimmt. Im Juli 2005 war es dann soweit. Kurz nachdem der Visa-Untersuchungs- ausschuss seine Arbeit eingestellt hatte – in Frankreich würde man sagen: quelle coïncidence – und wenige Monate vor der Bundestagswahl, die ihn vo- raussichtlich das Amt kosten würde, gab Außenminister Fischer bekannt, dass er eine Historikerkommission berufen und dieser den Auftrag erteilt habe, »die Geschichte des Auswärtigen Dienstes in der Zeit des Nationalsozialismus, den Umgang mit dieser Vergangenheit nach der Wiedergründung des Aus- wärtigen Amts 1951 und die Frage personeller Kontinuität nach 1945 aufzu- arbeiten«.64 Es war ein vergiftetes Abschiedsgeschenk für sein Ressort. Schon die Auf- nahme der zwei Worte »personelle Kontinuität« in diesem »Auftrag« musste nicht allein jedem der »Auftragnehmer« klar machen, was im Mittelpunkt ste- hen sollte. Nicht der Bruch mit dem Nationalsozialismus nach 1945 und der überwiegend erstaunlich gelungene Neuaufbau, sondern die Kontinuität, sein mögliches Fort- und Hineinwirken in die Bundesrepublik, in jene Zeit also, als der Aufstieg der jetzigen »Mumien« über die NS-Zeit hinaus fortgesetzt worden war. Es ging überhaupt nicht um deutsche Außenpolitik, oder allenfalls nur am Rande. Es ging um die für den Minister und viele aus dem rot-grünen Milieu, dem Milieu der grünen Jakobiner problematisch-peinliche, ja sogar ge- fährliche deutsche Elitenkontinuität. Obwohl vom AA finanziert, versicherte Fischer sogleich treuherzig, unterliege die Kommission keinerlei Weisungen, weshalb sie eigens und fortan stets Unabhängige Historikerkommission ge- nannt werden solle – ein »Mantra«, das die Kommission nach Veröffentlichung ihres Berichts unablässig vor sich hertragen und betonen wird. Zu Mitgliedern der aus international renommierten Forschern und Histo- rikern zusammengesetzten Kommission wurden letztlich neben den bereits Genannten Eckart Conze, Norbert Frei und Klaus Hildebrand noch Moshe Zimmermann von der Hebrew University Jerusalem und Peter Hayes von der Northwestern University Evanston/Illinois berufen. Hayes folgte dabei auf den bereits kurz nach seiner Nominierung aus gesundheitlichen Gründen aus- geschiedenen Henry A. Turner von der Yale University in New Haven/Con- necticut. Hildebrand schied auf Grund eines schweren Schlaganfalls Anfang 2008 aus diesem Kreise aus. Für die Schwerpunktsetzung der Kommissions- arbeit sollte die Berufung von Moshe Zimmermann folgenreich sein. Er war 1943 in Jerusalem geboren worden und hatte sich zwar nicht mit deutscher Außenpolitik, jedoch intensiv mit dem spannungsvollen Verhältnis zwischen Festlegung auf einen einzigen Schwerpunkt: Holocaust 211

Deutschen und Juden nicht zuletzt in den Jahren zwischen 1938 und 1945 beschäftigt. Er schlug wohl vor, was bei den übrigen Kommissionsmitglieder und auch ihrem Auftraggeber nicht auf Einwände stieß: Die Verstrickung des AA in den Völkermord sollte im Mittelpunkt stehen, die Vertuschungs- und Entlastungsstrategien der schwer Verstrickten in der Nachkriegszeit aufgedeckt werden. Enthüllungshistoriker waren gefordert. Enthüllungshistoriker sollten und wollten sie sein. Die Kommission legte jedenfalls daraufhin sehr rasch ihren zentralen For- schungsschwerpunkt auf die Verstrickung des AA in den Holocaust und den Umgang mit dieser »Vergangenheit« nach dem Krieg. Denn alle Beteiligten wollten die nachhaltige und möglichst internationale öffentliche Aufmerk- samkeit und diese sichert man sich eher mit diesem einen Thema, nicht mit der Auffächerung von Personalangelegenheiten. Die Schlüsselfrage für die Kommission lautete daher fortan: »Welchen Anteil hatten deutsche Diploma- ten seit 1933 an der Verfolgung und Ermordung der deutschen und europäi- schen Juden« 65 und wie hat diese vorgebliche Elite nach 1945 ihren Anteil an der Menschenjagd in der NS-Zeit vertuscht, sich zugleich weiterhin in ein- flussreichen Positionen gehalten? Dieser Thematik eine hohe Priorität einzuräumen, macht durchaus Sinn, denn der deutsche Völkermord führt in einen Kernbereich des Dritten Rei- ches. Ihn allerdings zum alleinigen zentralen Aspekt zu machen, mutet seltsam an, denn das Auswärtige Amt war im Dienste und Auftrag Hitlers für die Au- ßenpolitik des deutschen Reiches zuständig und nicht in erster Linie für Ju- denfragen. Die Hauptverantwortung dafür lag in Händen anderer Ressorts, in der mörderischen Endphase der Entwicklung besonders in Händen des Reichssicherheitshauptamtes und der SS. Doch schon bald gab es die Kommission nicht mehr. Fortan gab es fünf Arbeitsgruppen, die unter der Leitung eines der jeweiligen Professoren neben- einander und parallel zu forschen, zu recherchieren und zu schreiben began- nen. Jede Gruppe war autark und arbeitete für sich. In Wahrheit gab es also nicht die eine Kommission, sondern fünf Kommissionen. Die erste Gruppe unter der Führung von Klaus Hildebrand war klein. Sie bestand im Wesentlichen aus Lars Lüdicke, der sich für seine Dissertation in- tensiv mit Constantin von Neurath beschäftigt hatte und mit der Entwicklung des AA in den Jahren von 1933 bis 1939 vertraut war. Hildebrand hatte mit Lüdicke als »Aufblender«, als Eröffnungstext den 30. Januar 1933 verabredet, weil damit die »neue« Phase in der Geschichte des Deutschen Reiches begann. Nach seinem Schlaganfall war Hildebrand eine weitere Mitwirkung am Pro- 212 »Operation Hinkelstein«: Nachrufkrise und Kommissionsfindung jekt nicht möglich – und Lüdicke folglich ohne professorale Rückendeckung in der Kommission. Die verbleibenden vier Kommissionsmitglieder änderten sogleich den Ansatz des »Aufblenders« und legten fest, dass mit dem Terror und der Judenverfolgung im Vorfeld des April-Boykotts begonnen werden müsse. Nicht Hitlers Machtübernahme, Notverordnungen und das Ermäch- tigungsgesetz, sondern deren Folgen und die überwiegend kooperierende, kal- mierende Begleitmusik des diplomatischen Korps sollten den Auftakt bilden. Ob Hildebrand das mitgemacht hätte, wäre er im Vollbesitz seiner Kräfte ge- wesen? Hätte er die Konfrontation gesucht, sich gegen die weitgehende Kon- zentration auf das Thema der Judenverfolgung gewendet? Hätte er vielleicht sogar die Kommission deshalb verlassen? Das bleibt alles Spekulation. Aber höchstwahrscheinlich wäre doch ein etwas anderes Buch herausgekommen. In der zweiten Gruppe bearbeiteten unter der Regie von Moshe Zimmer- mann Irin Dublon-Knebel und Jan-Erik Schulte die Phase von 1939 bis 1945. Etwas später, als noch Lücken zu schliessen waren, kam Jochen Böhler hinzu. Die Übergänge zwischen Teil I und Teil II waren locker. Lüdicke hatte seinen »Nachfolgern« eine Liste mit Namen übermittelt, von denen er empfahl, dass sie auch im weiteren Verlauf des Buches auftauchen sollten. Ähnlich wird es auch anschließend gewesen sein. Peter Hayes »amerikanisches« Team – es waren insgesamt 10 amerikanische Wissenschaftler hier beschäftigt mit Nor- man Goda, William Grey, Thomas Maulucci und Katrin Paehler an der Spitze – widmete sich der Phase von 1945 bis 1949/50, also der unmittelbaren Nach- kriegszeit bis zur Wiederbegründung des Auswärtigen Amtes. Eckart Conze führte Regie für die Zeit ab 1951, für ihn schrieben und recherchierten Andrea Wiegeshoff und Daniel Stahl. Die Problematik der Vergangenheitspolitik lag in den Händen von Norbert Frei, ihm zur Seite stand Annette Weinke. Es dominierte eine hierarchische Struktur. Entscheidend war, was die vier Kommissionsmitglieder verabredeten. Die Kommissionsmitarbeiter hatten zu liefern. Die im Band vor dem Inhaltsverzeichnis genannten zwölf Wissenschaft- ler erledigten – unterstützt von einer Vielzahl weiterer ungenanter Helfer – für die verbliebenen vier Professoren maßgebliche Teile der Recherche und Nie- derschrift, während diese im Ausland teilweise an anderen Projekten arbeiteten und andere Bücher schrieben. Eckart Conze verfasste in dieser Zeit seine über 1000 Seiten umfassende Studie Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis zur Gegenwart, die 2009 erschien. Norbert Frei verfasste zusammen mit Ralf Ahrens, Jörg Osterloh und Tim Scha- netzky den ebenfalls monumentalen, fast 1000 Seiten umfassenden Band über Flick. Der Konzern, die Familie, die Macht, der gleichfalls 2009 herauskam. Aus fünf Kommissionsmitgliedern werden vier 213

Diese Entstehungsgeschichte blieb nicht ohne Folgen für den Kommissi- onsbericht. Seine vielen Disparitäten werden so verständlicher. Während in einem Teil erklärt wird, die Parteizugehörigkeit sei als Bewertungskriterium wenig aussagekräftig, wird im nächsten Teil emsig die Zählung von Parteimit- gliedschaften und Zugehörigkeiten zu Parteiorganisationen betrieben und daraus eine Kontamination des Amtes abgeleitet. Vermutlich ist das den Kom - mis sionsmitgliedern, die in Wahrheit wohl eher als Herausgeber zu betrachten sind, selbst aufgefallen. Jedenfalls gewannen sie den versierten Lektor Thomas Karlauf für eine alles in allem die Stoßrichtung noch stärker zuspitzende End- redaktion, die allerdings auch die gröbsten Abstimmungsprobleme beseitigte und überreichten im Oktober 2010 nach fünf Jahren ihren Abschlussbericht. Was aber wurde aus den beiden Hauptfiguren dieses Kapitels, aus Joschka Fischer und Erwin Wickert? Joschka Fischer verlor nach der Bundestagswahl von 2005 sein Amt und schied aus der Politik aus. Selbst Jubiläumsparteitagen der Grünen blieb er fortan fern. Sein Weg führte ihn zunächst unter tätiger Vermittlung und Mithilfe von Fritz Stern – in die Wissenschaft. Bereits wenige Monate nach seinem Abschied fand sich auf der Homepage der renommierten Princeton University in New Jersey bei New York folgende sensationelle An- kündigung: »Wilson School names Germany’s Joschka Fischer visiting lecturer: The Woodrow Wilson School of Public and International Affairs has announced that Joschka Fischer, Germany’s minister of foreign affairs from 1998 to 2005 and a member of the German national parliament, will join the school’s faculty for a one-year appointment beginning in September 2006 as the Frederick H. Schultz Class of 1951 Professor of International Econo- mic Policy, with the rank of lecturer of public and international affairs. This fall Fischer, 58, is scheduled to teach the undergraduate course ›International Crisis Diplomacy‹ with Wilson School lecturer Wolfgang Danspeckgruber. In spring 2007 Fischer is scheduled to co-teach with Wilson School Diplo- mat-in-Residence Ambassador Robert Hutchings and Princeton University politics Professor Andrew Moravcsik an international relations graduate se- minar on Europe, America and future policy challenges facing the transat- lantic alliance. In addition to his teaching responsibilities, Fischer will serve as a senior fellow at the Wilson School’s Liechtenstein Institute on Self-De- termination and as a fellow at Princeton’s European Union Program. More information is available in a Wilson School online release!« Was für ein Schritt! Fischer, der einstige Rebell, ging jetzt in die USA an eine der alt-ehrwürdigen Universitäten aus der »Ivy League«, jener acht ältesten 214 »Operation Hinkelstein«: Nachrufkrise und Kommissionsfindung amerikanischen Hochschulen, an deren imposantem Gemäuer sich ebenso wie in Harvard oder Yale schon seit Jahrhunderten das Efeu hochrankte. An jene Universität, an der einst Hannah Arendt über viele Jahre gelehrt hatte. Und würde dort junge Studenten an seinem Schatz außenpolitischer Erfah- rungen teilhaben lassen. Aber natürlich ging es nicht nur um die Studenten. Es ging auch um Fischer selbst, ging darum, das in den Jahren im Außenressort zunächst fein gewobene internationale Netzwerk fester zu knüpfen, um später auch ökonomisch-pekuniär die Früchte ernten zu können. Zentral und besonders hilfreich für diese Entwicklung sollte jedoch nicht Fritz Stern, sondern vor allem Clintons ehemalige Außenministerin Madeleine Albright werden. Sie war die erste Frau an der Spitze des U. S. State Depart- ment gewesen, war wie Henry Kissinger im Ausland geboren – am 15. Mai 1937 in Prag als Marie Jana Korbolová –, war eine Immigrantin in ihrer neuen Heimat jenseits des Atlantiks. Erst nach dem Tod der Eltern hatte sie mit neunundfünfzig Jahren von ihren jüdischen Wurzeln in der tschechischen Heimat und von der Ermordung fast aller Verwandten in den deutschen Ver- nichtungslagern erfahren. Erst jetzt lernte sie einschätzen, dass der Umzug des Vaters, eines tschechischen Diplomaten, mit der ganzen Familie nach London und seine Arbeit für die dortige Exilregierung ihnen allen das Leben gerettet hatte. Ihr Verständnis für die Beneš-Dekrete, die unmittelbar nach dem Krieg in der Tschechoslowakei die brutale Vertreibung der deutschen Minderheiten, der Sudetendeutschen vor allem in Gang setzten und legitimierten, das sie bis ins hohe Alter hinein äußerte, mag daher rühren. Auch ihr vehementes Ein- treten als US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen für eine militärische Intervention der NATO in Bosnien in den neunziger Jahren, das sie in New York und Washington – nicht zuletzt auch gegenüber Colin Powell, dem zu- tiefst skeptischen und vom Vietnam-Trauma geprägten General und Chef der Vereinigten Stabschefs – ebenso energisch wie unbeirrt verfocht. Joschka Fischer hatte die Notwendigkeit der militärischen Intervention da- mals ganz ähnlich gesehen. Es gab überhaupt eine Reihe von Berührungs- punkten zwischen beiden. Auch sie, die kleine, temperamentvolle Frau, hatte sich gegen viele Widerstände durchboxen und um Anerkennung ringen müs- sen. Und hatte es am Ende geschafft, als der Senat sie nach ihrer Nominierung durch Clinton 1997 einstimmig – was selten vorkommt – bestätigte. Beide waren fast zeitgleich ins Außenressort gekommen, hatten sich in diesem »Job« näher kennen und gegenseitig schätzen gelernt. Allerdings war sie bereits 2001 aus der Regierung ausgeschieden, stand der neuen Bush-Administration – auch das verbindet sie mit Fischer – mehr als distanziert gegenüber und ging Madeleine Albright und der Beginn einer wunderbaren Freundschaft 215 in die Politikberatung, gründete dazu ein rasch sehr erfolgreich operierendes eigenes Unternehmen. Mit ihrer Firma, mit der »Albright Stonebridge Group« ging Fischer bald schon nach seinem eigenen Abschied vom Werderschen Markt eine enge Ge- schäftsverbindung ein. Im Jahr 2009 war es soweit, da ließ er die »JF&C« (Joschka Fischer&Company GmbH) unter der Nummer 120879 B ins Ber- liner Handelsregister eintragen. Geschäftszweck? »Erbringung von Beratungs- leistungen mit den Schwerpunkten strategischer Beratung zur Flankierung unternehmerischer und politischer Entscheidungsprozesse, PR- und Image- beratung«. Werbend wies die junge Gesellschaft des Ex-Rebellen, der zum Lobby isten geworden war, auf ihre »herausragende Beratungskompetenz« hin und vor allem – auf die »enge Kooperation mit der Albright Stonebridge Group«. Lukrative Aufträge von BMW, Siemens und RWE – in Verbindung mit dem später gestoppten Nabucco-Pipelineprojekt – waren die Folge. Und ein wichtiger Preis, mit dem sich unser Kreis zu schließen beginnt: die Leo- Baeck-Medaille in Erinnerung an den bedeutenden, mutigen Rabbiner Leo Baeck, der das KZ Theresienstadt schwer misshandelt überlebt hatte und hoch betagt 1956 in London verstorben war. Jedenfalls vermeldeten amerikanische Zeitungen wie die New York Times und deren europäische Tochter, The Inter- national Herald Tribune unter dem Datum des 19. November 2009: »The former German foreign minister (1998–2005), Joschka Fischer, was awarded with the Leo Baeck Medal at a ceremony at the Waldorf-Astoria in New York on Thursday, November 19. The award was presented to Mr. Fischer by the Honorary Co-Chairmen of the Leo Baeck Institute, Dr. Henry A. Kissinger and James D. Wolfensohn. Consul General Horst Frei- tag gave a speech at the gala award ceremony, in which he highlighted the unique contribution of the Leo Baeck Institute to safeguard and promote the memory of German-speaking Jewry. The award ceremony was opened by the Executive Director of the Leo Baeck Institute, Mrs. Carol Kahn- Strauss. Together with Consul General Freitag, Roger Cohen, columnist for and The International Herald Tribune, gave in- troductory remarks about the significance of the Leo Baeck Institute and this year’s recipient. Mr. Fischer is a promoter of understanding between Germany, Jewish communities and the world. He is also a longtime friend and sponsor of the Leo Baeck Institute. The award was presented to him by the former President of the World Bank, Mr. Wolfensohn and the for- mer Secretary of State, Dr. Kissinger. Founded in 1955, the Leo Baeck In- stitute was named for the rabbi who was the leader of German Jewry during 216 »Operation Hinkelstein«: Nachrufkrise und Kommissionsfindung

its darkest years. Rabbi Baeck, who survived the concentration camp of Theresienstadt, became the first international president of the institute. The Leo Baeck Institute is devoted to studying the history of German-spea- king Jewry from its origins to its tragic destruction by the Nazis and to pre- serving its culture. Dating back almost 2000 years, when Jews first settled along the Rhine, the Jewish communities of Germany, Austria, and other German-speaking areas of Europe had a history marked by individual as well as collective accomplishments in communal organization and welfare, commerce, industry and politics, the arts and sciences, and in literature, philosophy and theology. To appreciate the impact of German-speaking Jewry in modern times, one need only recall such names as Martin Buber, Albert Einstein, Franz Kafka and Karl Marx. Former recipients of the Leo Baeck Medal include Axel Springer, founder of the Axel Springer publishing house; the former President of the World Jewish Council, Edgar Bronfman; the former President of the Federal Republic of Germany, Dr. Johannes Rau; and the former Ambassador of Germany to the United States, Wolf- gang Ischinger.« War das nicht seltsam? Neben dem mächtigen Interessenvertreter und langjäh- rigen Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses, Edgar Bronfman und dem deutschen Bundespräsidenten Johannes Rau sowie Wolfgang Ischinger, Fischers erstem Staatssekretär im Auswärtigen Amt, hatte diesen Preis noch jemand be- kommen? Ja, tatsächlich: Axel Springer. Und nach ihm auch noch Mathias Döpfner, sein späterer Nachfolger an der Spitze des Springer-Konzerns. Mit der Blockade des Verlagshauses, in welchem einst in Frankfurt Springers für Fischer und viele der rebellierenden Studenten verhasste BILD-Zeitung ge- druckt worden war, hatte 1967/68 sein Weg in die APO, in den Studenten- protest und bald schon in die militante Rebellion begonnen, der ihn beinah in den Linksterrorismus hätte abgleiten lassen. Damals war Fischer nach Syrien gefahren, hatte sein Herz noch für die bedrängten, unterdrückten Palästinenser geschlagen. Vier Jahrzehnte später nahm Fischer im Smoking einen Preis ent- gegen, der dreißig Jahre zuvor, 1978, bereits Axel Springer überreicht worden war. Nahm ihn entgegen in New York, von einer Organisation, die enge Ver- bindungen zu Israel hat. Manchmal sind die Zeitläufte wirklich rätselhaft. Erwin Wickert hat diese Entwicklung nicht mehr erlebt. Der Meister der Mumien war wie Nüßlein und Krapf mit 93 Jahren im Frühjahr 2008 in Oberwinter bei Bonn verstorben. Sein Weg war weniger bizarr gewesen als der - jenige von Joschka Fischer. Aber ein ehrendes Gedenken im AA-Blatt wurde ihm dennoch nicht zuteil. Karriereherbst an der »Ivy League« 217

»Former German Foreign Minister/Vice Chancellor Joschka Fischer holds up the Leo Baeck Medal that was presented to him by Gala Co-Chairman James D. Wolfensohn and former US Secretary of State, Henry A. Kissinger during a ceremony in New York, USA, 19 November 2009.« (New York Times, International Herald Tribune, 19. November 2009.

Allerdings war das Rundschreiben, mit dem die Mitarbeiter im Hause über seinen Tod unterrichtet wurden, von einem mittlerweile merkwürdigen Um- gang mit der Vergangenheit geprägt. Die politische Biographie dieses Verstor- benen begann für die für den Text Verantwortlichen im Amt ganz ähnlich wie bei Nüßlein – 1955. Die Zeit davor war komplett ausgespart worden. Wie das jetzt bei allen Nachruf-Viten der Fall sein sollte – sie begannen sämtlich nach 1949 mit dem Beruf des Verstorbenen. Bei Wickert wurde also auch seine Zeit im Auswärtigen Amt während des Zweiten Weltkrieges in Tokio au s ge - blendet oder gestrichen. So, als ob er und das Amt mit ihm – im Jahr 2008 – etwas zu verbergen gehabt hätten. Es war tatsächlich für alle, die etwas von der Sache verstanden, nur noch peinlich. Dazu passte, dass Frank-Walter Steinmeier (SPD), Joschka Fischers Nachfolger, bald darauf die Leistung der Unab hängigen Historikerkommission über den grünen Klee lobte, seinen Vor-Vorgänger Willy Brandt (gleichfalls SPD) dagegen tadelte für seine Entscheidung als Au- ßenminister wie als Kanzler mit ehemaligen Pg im Amt vertrauensvoll zusam- mengearbeitet und manchen von ihnen wie Georg Ferdi nand Duckwitz sogar 218 »Operation Hinkelstein«: Nachrufkrise und Kommissionsfindung

noch zum Staatssekretär befördert zu haben. Kritische Stimmen gegenüber dieser seltsamen Entwicklung wurden kaum laut – weder an den Äußerungen von Steinmeier noch am Umgang mit Wickerts Vita. Bei dieser Diplomaten- jagd wurden auch manche getroffen, die es wirklich überhaupt nicht verdient hatten. 219

Fallstudien

Ermächtigungsgesetze

Im Kommissionsbericht werden die Wünsche und Vorstellungen der Spitzen- diplomaten zu Beginn der deutschen Diktatur wie folgt zusammengefasst: »Das liberaldemokratische System, das sie geschlossen ablehnten, sollte durch eine autoritäre Staatsform ersetzt werden, ein Ziel, das Reichspräsident Hindenburg ›Projekt der nationalen Erneuerung und Einigung‹ nannte. Be- ruhigend dabei wirkte, dass Hitler auf legalem Wege ins Amt gekommen war und dass er im Kabinett von den alten Eliten ›eingerahmt‹ wurde, aus deren Reihen die übergroße Mehrheit der Minister kam. Für den Bereich der Außenpolitik galt überdies die von Neurath verkörperte und von Hin- denburg garantierte personelle Kontinuität … Nicht zuletzt gründete die Zuversicht der Diplomaten auf der Überzeugung, als loyale Staatsdiener mit einer weit zurückliegenden Tradition unentbehrlich zu sein.« 66 Eine zentrale Rolle für die Diplomaten und deutschen Beamten bei Hitlers legalem, bzw. pseudo-legalem Weg zur Macht spielte neben den Notverord- nungen der ersten Wochen vor allem das Ermächtigungsgesetz vom 23. März 1933 – das im Kommissionsbericht erstaunlicherweise keine Rolle spielt –, zusammen mit seinen Vorläufern, den übrigen Ermächtigungsgesetzen. Denn es gab seit 1914 mindestens fünf. Deren Geschichte spielte in die Entschei- dung vom März 1933 mit hinein, bei der Abstimmung über jenes Gesetz, mit welchem Hitler weitere hohe Hürden vor der Etablierung seiner charismatisch unterfütterten Führerdiktatur aus dem Weg räumte, die ein Jahr später nach Hindenburgs Tod im August 1934 vollständig ausgebildet sein sollte. Fortan war eine Mitwirkung von Reichstag und Reichspräsident an der Gesetzgebung nicht mehr erforderlich und die Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Le- gislative gänzlich aufgehoben. Die deutsche Bürokratie bis hin zu den deut- schen Diplomaten verband mit dem Instrument »Ermächtigungsgesetz« durchaus positive Erfahrungen, denn es war bereits 1914, wie auch in der Wei- marer Republik mehrfach angewandt worden und hatte zur Stabilisierung schwieriger Situationen beigetragen. Im Kommissionsbericht wird dieser Hin- 220 Fallstudie: Ermächtigungsgesetze tergrund nicht be- oder ausgeleuchtet, weshalb dies im vorliegenden Kapitel geschehen soll. Unter denjenigen, die im Reichstag Hitler ermöglichten, legal die Schalt- hebel des Staatsapparates in Richtung einer absolutistisch-dikatorischen Herr- schaft umzulegen, waren übrigens mindestens drei, die in der Geschichte des Auswärtigen Amtes und mithin auch im Kommissionsbericht eine Rolle spie- len sollten. Zu nennen ist Wilhelm Keppler, der es im Amt bis zum »Staats- sekretär für besondere Aufgaben« von 1938 bis 1945 bringen und nach dem Krieg im Wilhelmstraßenprozess – zusammen mit Ernst von Weizsäcker und anderen – zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt, aber wie Weizsäcker im Früh- jahr 1951 vom Hochkommissar McCloy begnadigt und entlassen werden sollte. Ferner Hanns Ludin, der das Dritte Reich im Krieg in der Slowakei vertreten und nach dem Krieg nicht zuletzt wegen seiner massiven Mitwirkung an der mörderischen antisemitischen Politik des Rassenwahns in Bratislava gehenkt werden würde. Und schließlich Josias Erbprinz zu Waldeck und Pyr- mont. Eine durchaus repräsentative Mischung. Der Erbprinz hatte als Adjutant von Sepp Dietrich und Vertrauter Himm- lers in der kleinen SS schon eine beachtliche Karriere gemacht, war bereits 1932 zum SS-Gruppenführer (i.e. ) ernannt und bei der Reichstagswahl im März 1933 als alter Kämpfer – seit November 1929 Mit- glied der Partei und der SS – mit einem sicheren NSDAP-Mandat »belohnt« worden. Doch der Reichstag war nicht des Erbprinzen Welt. Unmittelbar nach der Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz vom 23./24.März wechselte er zum 1. April ins Auswärtige Amt, weil Himmler mit seiner Hilfe hoffte, seinen Einflussbereich auch auf dieses Ressort und auf das Gebiet der deut- schen Außenpolitik auszudehnen. Der Versuch sollte scheitern, das Amt war noch nicht aufnahmebereit für braune Quereinsteiger ohne jegliche geeignete Qualifikation. Das Amt war noch von einem adlig unterfütterten Korpsgeist durchzogen, der die Allermeisten verächtlich auf solch erklärte Sendboten des noch keineswegs sonderlich beeindruckenden SS-Führers herabblicken ließ. Ja, mit den antisemitischen Grundströmungen der neuen Mächtigen mochte mancher sympathisieren, mit den allzu offensichtlich und hochnäsig als Ab- gesandte und Stellvertreter der neuen Herren sich präsentierenden »Implan- taten« dagegen nicht. Da half es dem Erbprinzen auch wenig, dass er über Manieren und adlige Verbindungen verfügte. Himmler, dessen Aufstieg im Regime erst mit der vor allem von der SS vorangetriebenen blutigen Staats- mordserie im Gefolge des sogenannten »Röhm-Putsches« 1934 massiven Auftrieb erhielt, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht in einer so ehrfurchtge- Instrument zur Rettung, Instrument zur Zerstörung 221 bietenden Position, als dass seine Helfer, seine »Entsandten« tatsächlich ge- fürchtet und respektiert wurden. Im Amt ließ man den Erbprinzen, für dessen Aufnahme ins deutsche di- plomatische Korps sich auch Göring – über Paul Körner, den Staatssekretär im preußischen Ministerium des Innern – und am Ende sogar Hitler selbst eingesetzt hatte und der mit dem Rang eines Legationsrates als »Außerge- wöhnliche Aushilfe im Referentendienst des Auswärtigen Amtes« eingestellt worden war, am ausgestreckten Arm verhungern. Daran änderte nichts, dass er bereits zum 1. Mai »aus politischen Gründen« – wie das Auswärtige Amt dem für die Besoldungsfragen zuständigen Finanzministerium mitteilte – in ein unbefristetes Beschäftigungsverhältnis übernommen wurde. Wenn sich Außenminister von Neurath erhofft hatte, dass die Übernahme einiger we- niger »Sendboten« aus dem neuen Zentrum der braunen Machthaber seine Konzessions- und Kooperationsbereitschaft unter Beweis stellen würde, so ging sein Kalkül in diesem Fall nicht auf. Denn es war der Erbprinz selber, der bereits ein knappes Jahr später, sozial isoliert, resignierte und um seinen Abschied nachsuchte – wie man übrigens im Amt-Band (S.56f.) nachlesen kann. Er kehrte in die SS-Spitze zurück, war als Adjutant Himmlers bereits wenige Wochen später beteiligt an den bereits erwähnten Staatsmorden an Röhm und Konsorten, an der Liquidierung der SA-Spitze, aber auch an der Ermordung der Generäle Kurt von Schleicher – dem letzten Reichskanzler vor Hitler – und Ferdinand von Bredow sowie anderer potentieller Regime- kritiker oder alter Hitler-Gegner, die mit der SA nicht das Geringste zu tun hatten. Aber es gab eben, wie erwähnt, nicht nur dieses eine Ermächtigungsgesetz. Es gab mehrere. Sie waren nach 1918 ein probates Mittel gewesen, um einen Staat wie Weimar zu retten. Richtig: zu retten! Erst am Ende ging es um seine Zerstörung. Mit dem gleichen Instrument. Einem Ermächtigungsgesetz. Und jene, die im März 1933 ab- und zustimmten aus dem bürgerlichen Lager, die nicht der NSDAP oder der »Kampffront Schwarz-Weiss-Rot« – so nannte sich die DNVP ja jetzt, der Begriff »Partei« war inzwischen einfach zu negativ be- setzt, man wollte Kampffront, wollte Massenbewegung sein wie die braunen Scharen Adolf Hilters – angehörten und mit Bauchschmerzen und Skrupeln zustimmten, Hitler und seinen Paladinen zur verfassungsändernden Zweidrit- telmehrheit verhalfen, wussten noch, was zehn Jahre vorher geschehen war. Bauten neben der Schutzfunktion durch den Reichspräsidenten wohl auch darauf, hofften zumindest auf jene Erfahrung aus der schweren Krise der Re- publik 1923/24, die heute gänzlich versunken und vergessen ist. Damals war 222 Fallstudie: Ermächtigungsgesetze die Republik mit Ermächtigungsgesetzen tatsächlich aus einer schweren Exis- tenzkrise gerettet und keineswegs zerstört worden. Ermächtigungsgesetze sind immer Persilscheine für die Exekutive. Mögen deren Vorlagen und Gesetze auch schmutzig sein, Teile der Grundrechte oder gar Kernelemente der Verfassung aushebeln, sie müssen vor Inkraftsetzung nicht mehr durch den parlamentarischen Waschgang, werden in keinem Aus- schuss durchgeschleudert, können sofort ausgehängt werden. Die Legislative dankt ab, macht Pause, nimmt sich vollständig zurück. Die Gewaltenteilung ist aufgehoben. Alle Gewalt geht nur noch von einer Instanz aus – von der Re- gierung. Ermächtigungsgesetze sind deshalb höchst gefährlich, was alle Betei- ligten schon vor ihrer Verabschiedung wissen. Sie sind daher trotz allem extrem seltene politische Phänomene und immer befristet. Vor ihrer Verabschiedung durch das Parlament, dessen Mitgliedern von vornherein und damit schon zu Beginn der Debatte völlig klar ist, dass mit diesem Tagesordnungspunkt in Wahrheit zugleich zu ihrer »Selbstentmachtung« und »Selbstabdankung« auf- gerufen wird, steht nicht von ungefähr stets die hohe Hürde einer verfassungs- ändernden Zweidrittelmehrheit. Ermächtigungsgesetze dürfen deshalb nur angewendet werden, wenn die eine, die seltene Stunde schlägt: die Stunde des Notstands, der höchsten staatlichen Gefahr. Und die parlamentarischen Me- chanismen noch irgendwie funktionieren, das Parlament überhaupt zusam- mentreten kann. Ist das nicht der Fall, schlägt ohnehin immer die Stunde der Exekutive, wie es Innenminister Gerhard Schröder (CDU) Anfang der sechzi- ger Jahre in der erbitterten, bisweilen gar hysterischen Debatte über die Not- standsgesetze der Bundesrepublik Deutschland ebenso kühl wie richtig anmerkte. In diesem Fall von Krieg und Chaos ist alles zurückgeworfen auf die Restbestände staatlicher Macht, die dann noch vorhanden sind. Ermächtigungsgesetze sind alt. Schon die Antike kennt sie. In der römi- schen Republik, also in der Zeit vor dem Kaiserreich, vor dem Imperator Au- gustus und vor Christus – die beide diese Rechtsfigur nicht benötigten, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen – wurde in ausgemacht kritischen Situa- tionen vom Senat ein Diktator ernannt und befristet auf sechs Monate mit der ganzen, ungeteilten staatlichen »potestas« ausgestattet, etwa um einen überra- schend ausgebrochenen Krieg zu führen, den in Italien einfallenden Invasor Hannibal mit seinen Elefanten zu vertreiben oder inneren Aufruhr niederzu- schlagen – die sakralen Ernennungsgründe, etwa das Einschlagen des heiligen Nagels am Jupitertempel, können hier außer Betracht bleiben. In Rom jeden- falls war dieser Diktator – der Begriff ist damals positiv besetzt, ganz anders als bei uns heute – mit seinen unbeschränkten Vollmachten für eine klar bemes- Die Stunde der Exekutive 223 sene, bisweilen verlängerte Frist wirklich eine Art Gott, war etwa von jeglicher Rechtsverfolgung ausgenommen, konnte herrschen und entscheiden über Leben und Tod. In diesem kleinen, auf die »antiken Verhältnisse« gemünzten Satz sind schon die Stichworte genannt, auf den das kleine Kapitel hier hinaus- laufen wird: »Diktator« – »unbeschränkte Vollmacht« – »Herrscher über Leben und Tod« – »von jeder Rechtsverfolgung ausgenommen«. Das ist der Kern des Ermächtigungsgesetzes vom 23. März 1933. Doch das erste Ermächtigungsgesetz brachte im 20. Jahhrundert nicht Hitler vor ein deutsches Parlament, sondern – Kaiser Wilhelm II., durch seinen Kanzler Bethmann-Hollweg, seine Reichsregierung. Es wurde am 4. August 1914 vom Reichstag verabschiedet und trug den Titel »Gesetz über die Ermächtigung von Bundesrat und Reichsregierung zu wirtschaftlichen Maßnahmen im Falle kriegerischer Ereignisse«. Klingt harmlos. War aber außerordentlich weitrei- chend. Denn das ist der Präzedenzfall und damit die Mutter aller deutschen Ermächtigungsgesetze. In die deutsche Verfassungsgeschichte wird hier im August 1914 ein gänz- lich neues Prinzip eingeführt – wie schon Ernst Rudolf Huber erkannte. Das neue Prinzip hieß kurz und knapp: Legaler Verfassungsdurchbruch mit Billi- gung, mit Einverständnis aller beteiligten Verfassungsorgane. Und zugleich: freiwillige Selbstbeschränkung des ohnehin nicht sonderlich starken Reichs- tages, denn eine parlamentarische Monarchie war dieses Kaiserreich ja noch nicht, lediglich eine konstitutionelle. Hier fand nun quasi eine Verfassungs- änderung ohne Änderung der Verfassung statt. Das war damals völlig neu. Der Kriegsbeginn machte es möglich. Die Handlungsvollmachten für die Reichsregierung sollten bewusst ausgeweitet werden. Auf der Basis dieses »Freibriefs« und unter dem Druck der unmittelbaren Kriegsvorbereitung traf die Reichsregierung eine ganze Reihe von Maßnahmen. Die wichtigste war die Aufhebung der Golddeckung für die Reichsmark, war mithin die Genehmigung zum lockereren Gelddrucken zur Kriegsfinanzierung. Denn das Zeichnen deutscher Staatsanleihen und die Spendenwilligkeit der deutschen Frauen – Gold gab ich für Eisen – reichten für die Kriegsfinanzierung nicht aus, zu der der Reichstag ohnehin immer neue Kriegskredite bewilligen musste – worüber die SPD im Krieg zerbrechen und sich in Mehrheits- und Unabhängige Sozialdemokraten aufspalten sollte, aus denen wiederum 1918/19 die KPD hervorgehen wird. Tatsächlich führt auf unheimliche Weise exakt von 1914 sowohl verfassungsrechtlich wie politisch eine direkte Linie zu den nächsten Ermächtigungsgesetzen von 1923 und zu Hitler. 1923: Das ist die wichtige, heute gänzlich vergessene Zwischenstation in 224 Fallstudie: Ermächtigungsgesetze der Geschichte dieses Gesetzes. Die Aufhebung des Goldstandards von 1914 und der verlorene Krieg führten 1922/23 zur für Deutschland bis in die Ge- genwart traumatischen Hyperinflation und zusammen mit dem Ruhrein- marsch der Franzosen, putschenden Separatisten im Rheinland, rot-roten, sich militarisierenden Regierungen in Sachsen und Thüringen, meuternden baye- rischen Reichswehrtruppen und einem vom Marsch auf Berlin schwadronie- renden, im Bürgerbräukeller in die Decke schießenden Hitler zur bis dahin schwersten Krise der jungen, ungeliebten Weimarer Republik. Bürgerkrieg und Zerfall der staatlichen Einheit waren zutiefst reale Bedrohungen. Dagegen befindet sich das heutige Griechenland noch in den Sommerferien. Die Weimarer Republik ist zahlungsunfähig, gänzlich bankrott – und sie hat keine ausländischen Gönner. Der Ruhrkampf verschlingt die letzten Re- serven. Rentnern, Sparern, den kleinen Leuten, Kleinunternehmern wie den Eltern Ludwig Erhards zerrinnt ihr Vermögen, ihre Altersversorgung in wenigen Monaten unter den Händen, als ein Ei Milliarden kostet und Papiergeld allen- falls zum Heizen taugt. Millionen verarmen rasch und brutal – und werden politisch aufgeladen. Sie werden anfällig und aufnahmebereit für die Parolen des Ressentiments gegen die Reichen, darunter viele Juden, aber auch die ver- heißungsvollen Zukunftsvisionen von Adolf H., besonders, nachdem bald noch ein zweiter Schlag, die Weltwirtschaftskrise in Verbindung mit Brünings, die Krise weiter verschärfender Finanzpolitik über sie hereinbrechen sollte. In diesem Herbst 1923 ist für wenige Monate die wohl größte politische Potenz der Weimarer Zeit Reichskanzler: Gustav Stresemann. Seine kleine li- berale Partei ist zerstritten und unbeliebt – aber er, oder besser: die schwere, epochale Staatskrise fügt die erste Große Koalition der deutschen Parlaments- geschichte zusammen. Die Sozialdemokraten, von Reichspräsident Ebert ge- drängt, machen mit für einige, allerdings entscheidende Wochen und Monate. Eines der wichtigsten Mittel zur Stabilisierung der verteufelt schwierigen Si- tuation: Das »Stresemannsche Ermächtigungsgesetz« vom Oktober 1923. Ihm wird wenig später im Dezember – weil Anfang November die SPD die Koali- tion schon wieder verlassen hatte, die ohnehin die Opposition mehr schätzte als die Bürde und Verantwortung der Macht – ein zweites, gleichfalls auf knapp sechs Monate befristetes Ermächtigungsgesetz folgen, das von den So- zialdemokraten toleriert, also mitgetragen wird. Bald danach allerdings haben sie Stresemann mit einem Misstrauensantrag gestürzt, weil er in der Krise mehr als acht Stunden arbeiten lassen wollte und gegen die rot-roten Regierungen, nicht aber gegen Bayern Reichswehrtruppen in Marsch gesetzt hatte. Die Nachfolge übernimmt der Zentrumspolitiker Wilhelm Marx. Mit den beiden 1923 – Existenzkrise der Republik 225

Ermächtigungsgesetzen jedoch wurde die Republik gerettet. Auf ihrer Basis wurde die erste Währungsreform in Deutschland vollzogen, wurde mit der Rentenmark eine neue Währung eingeführt. Auf Basis dieser Ermächtigungsgesetze wird zugleich zur Niederschlagung des inneren Aufruhrs von rechts und links ein Diktator installiert. Dieser »Dik- tator« hieß allerdings nicht Hitler. Er trug jedoch auch Uniform, war ein General mit Monokel, hieß Hans von Seeckt, ein ziemlich rechter, aber hoch- intelligenter Knochen, der noch beim Kapp-Putsch als Chef des Truppenamtes Neutralität wahren wollte und erklärt hatte: » schießt nicht auf Reichswehr«. Dennoch übertragen Ebert, Stresemann und Marx ihm vom 8. November 1923 bis zum 28. Februar – die römische Republik lässt grüßen – die Exekutivgewalt über das gesamte Deutsche Reich. Eine gewaltige Macht- fülle. Seeckt verbietet sogleich KPD und NSDAP und die ihr nahestehende Tarnorganisation wie die Deutschvölkische Freiheitspartei, geht gegen die Put- schisten in Bayern vor. Seine Machtfülle nutzt er, aber er nutzt sie nicht aus. Obwohl er dieser seltsamen Republik distanziert gegenüber steht, gibt er die Macht wieder ab, nachdem sein Auftrag erfüllt und der Staat stabilisiert ist. Er und die anderen politisch Verantwortlichen sind sich 1923 alle einig: Die Republik wollen wir retten, die Einheit des Reiches erhalten. Mit Hilfe von Ermächtigungsgesetzen ist das möglich. Also setzen wir sie ein. 1926 und 1927 werden für zwei sechsmonatige Amtspausen des Reichstages und die in diese Zeit fallende Inkraftsetzung von Wirtschaftsabkommen zwei weitere »Er- mächtigungsgesetze« verabschiedet, die für uns nur deshalb wichtig sind, weil sie das »Instrument« weiter »normalisieren«. Jene, die 1933 abstimmen müssen und abstimmen werden über dieses allein noch bekannte Ermächtigungsge- setz, wissen das. Heute ist das Wissen darum gänzlich verloren gegangen. 1932 ist die braune Diktatur kein wirklich bedeutendes Schreckgespenst. Schreckgespenst ist der Bürgerkrieg, der jetzt noch wesentlich erbitterter als zehn Jahre zuvor auf Deutschlands Straßen tobt und Hunderte von Toten for- dert. Schreckgespenst ist ein Sieg der moskau- und stalintreuen KPD. Hitler erscheint demgegenüber als das kleinere Übel. Das antidemokratische Denken ist weit verbreitet, der Republik sind die Verteidiger abhanden gekommen. »Die Demokratie ist der Krebsschaden«, stellt der konservative Diplomat Ernst von Weizsäcker im Frühjahr 1932 fest. Diese Republik ist zum Untergang ver- urteilt, glauben mit ihm viele der politisch Interessierten. Einen Masterplan hat Hitler nicht. Aber drei Forderungen. Die Kanzler- schaft. Baldige Neuwahlen, um die absolute Mehrheit aus der Regierungspo- sition heraus für sich zu sichern. Und eben – ein Ermächtigungsgesetz. Nach 226 Fallstudie: Ermächtigungsgesetze den abermals von der NSDAP mit fast 38 Prozent gewonnenen Juliwahlen 1932 ist es fast soweit – die absolute Mehrheit wird Hitlers Partei erst errei- chen, als alle Gegner ausgeschaltet sind und er seine absolutistische, charis- matisch unterfütterte Führerherrschaft immer wieder in Plebisziten absegnen lässt, mit Prozentzahlen, wie sie später auch Ulbricht und Honecker erzielen. Goebbels notiert bereits unter dem 7. August 1932: »Ein Kabinett von Männern. Wenn der Reichstag das Ermächtigungsgesetz ablehnt, wird er nach Hause geschickt. Hindenburg will mit einem natio- nalen Kabinett sterben. Wir werden die Macht niemals wieder aufgeben, man muss uns als Leichen heraustragen …« Wie wahr, wie schrecklich wahr das alles. Und am 12. August heißt es: »Ohne große Vollmacht kann Hitler die Lage nicht meistern. Bekommt er die Vollmacht nicht, dann muss er ablehnen. Lehnt er ab, dann wird eine gewaltige Depression in Bewegung und Wählerschaft die Folge sein …« Doch es ist der Reichspräsident, der im August ablehnt. Hindenburg – das ist jetzt der letzte schwache Schutzpatron, den die Republik noch hat – kann sich nicht überwinden, den böhmischen Gefreiten zu ernennen, ihm den deutschen Staat auszuliefern. Im Januar 1933 ist es aber soweit. Papen, der seinen einstigen Mentor und Kanzler-Nachfolger Kurt von Schleicher ver- nichten und den braunen »Führer« dazu instrumentalisieren will, ebnet Hitler bei Hindenburg den Weg. Was geschehen soll, ist klar. Kampf gegen die KPD – ohne den allgemein gefürchteten Generalstreik zu riskieren – und eben: ein Ermächtigungsgesetz. Darum geht es schon in der ersten Kabinetts- sitzung am Abend des 30. Januar ab 17.00 Uhr. Vielleicht zum Anfangen ein klitzekleines Ermächtigungsgesetz, ein »Ermächtigungsgesetzlein«, »nur zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit« – das bräuchte bloß eine einfache Mehrheit, wie Staatssekretär Otto Meissner anmerkt? Nein. Ein großes Ermächtigungs- gesetz. Ein letztes. Aber diesmal nicht um die Republik zu retten. Ganz im Gegenteil. Um mit diesem grässlichen Parlamentarismus aufzuräumen, ein- für-alle-mal. Um den autoritären Führerstaat, das Führerprinzip zu etablieren. Es ist bezeichnend, dass im Kabinett die Koalitionspartner, also Papen, der Vizekanzler und für Preußen und Wirtschaftsminister Hu- genberg sich diese Forderung bereits zu Eigen gemacht haben, sie ganz oben auf der gemeinsamen Prioritätenliste steht. Nein, sie wissen wirklich nicht, was sie tun. Und vor allem nicht, mit wem sie es zu tun haben. Gemeinsam wollen sie die Zustimmung des Zentrums gewinnen, denn man hat ja noch keine eigene parlamentarische Mehrheit. Es ist ein weiteres Minderheitskabinett, das wir vor uns haben an diesem Januarabend. Bis zur Der Griff nach der großen Vollmacht 227 nächsten Wahl im März. Die aber dann wirklich die allerletzte sein soll. »Es sei am besten, schon jetzt festzulegen, dass die kommende Wahl zum Reichstag die letzte sein soll und eine Rückkehr zum parlamentarischen System für immer zu vermeiden sei«, sagt – in der zweiten Kabinettssitzung am 31. Januar 1933, Sitzung folgt jetzt auf Sitzung – nicht Hitler. Sondern: Papen! Aber Hitler greift das sofort auf und gibt eines seiner fürchterlichen Ver- sprechen, die er leider meistens hält bis zur Vernichtung ganzer Volksgruppen: »Der Reichskanzler gibt das folgende Versprechen: Die bevorstehende Wahl zum Reichstag soll die letzte sein. Eine Rückkehr zum parlamentarischen Sys- tem ist unbedingt zu vermeiden«. Wie hätten die Wähler am 5. März 1933 wohl abgestimmt, hätten sie das gewusst, was da von ihrer neuen Reichsre- gierung offen und einvernehmlich am Kabinettstisch verabredet wurde? In diesen Sitzungsprotokollen, aus denen uns Hitler entgegentritt als versierter Kanzler, der ruhig und sachlich die Diskussion leitet, als wirklich beschlagener, unbestrittener Führer des Kabinetts, der bündelt, nachfragt, immer die Zügel in der Hand behält. Der Weg zu diesem letzten Ermächtigungsgesetz ist mit Notverordnungen gepflastert. Über 130 sind seit 1919 eingesetzt worden, natürlich auch schon vor der Reichskanzlerschaft Heinrich Brünings und seiner Minderheitskabi- nette, also vor 1930. Eben 1920 im Umfeld des Kapp-Putsches und 1923, 1924. In den großen Krisen jener Zeit. Zwei ganz besonders bedeutsame Not- verordnungen stehen aber jetzt am Schluss. Eigentlich sind diese beiden Not- verordnungen das Grundgesetz des Dritten Reiches und der ersten deutschen »Führerdiktatur«, wie schon Ernst Fraenkel sagte. Sie bereiten dem Maßnah- menstaat den Boden, höhlen den Normenstaat von BGB und Weimarer Reichsverfassung bereits entscheidend aus, setzen die zentralen Grund- und Menschenrechte von der Versammlungsfreiheit bis zum Postgeheimnis außer Kraft und unterstreichen scheinbar die Legalität der entscheidenden Schritte auf dem Weg in die Diktatur. Da ist die »Verordnung vom 4. Februar zum Schutze des deutschen Volkes« – vor der Wahrnehmung seiner demokratischen Rechte, hätte der wahre, der vollständige Titel lauten müssen. Sowie die fürch- terliche Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar. Die Nazis haben den Reichstag nicht angezündet, sondern Marinus van der Lubbe, der »woutende« holländische Radikalist und kommunistische Wirrkopf, der schon beim Wohlfahrtsamt Neuköln und am Berliner Schloss gezündelt hatte und nun im Reichstag den Volltreffer landet, als er seine mit- gebrachten Kohleanzünder unter anderem im Plenarsaal in der riesigen getä- felten Holz-Regalwand mit den Abgeordnetenpapieren anzündete, hier der 228 Fallstudie: Ermächtigungsgesetze

Kamineffekt sich sogleich einstellte, als die Reichstagskuppel platzte. Wer das nicht weiß, für den steht fest: Die Nazis haben den Reichstag angezündet. Sie kamen durch den Tunnel, der das von Göring genutzte Reichspräsidentenpa- lais mit dem Reichstag verbindet. Marinus van der Lubbe war für diese Über- zeugten nur zufällig am Tatort, hat sich – mit bloßem Oberkörper, er war beim schnellen Verteilen der Brandzünder ins Schwitzen geraten, hatte auch mit Kleidungsstücken gezündelt – festnehmen, verhören lassen und seine Mit- täter verschwiegen, obwohl ihm das den Kopf, den Hals hätte retten können, vermutlich, weil er debil war oder die Gestapo ihn unter Drogen setzte. Gut gemeinte Volkspädagogik, diese Legendenmärchen, die einfach nicht tot - zukriegen sind. Mehr nicht. Die Nazis haben den Reichstag nicht angezündet. Aber sie nutzen ihre un- erwartete Chance. Ziehen jetzt das Instrument der Notverordnung dem ur- sprünglich und bis zum Brand eindeutig favorisierten Instrument des Ermächtigungsgesetzes – siehe Goebbels Notiz vom 7. August 1932, es gibt noch weitere dazu – deutlich vor und beschleunigen alles noch zusätzlich. Für Hitler und seine Entourage steht bereits am 28. Februar 1933 der Schuldige fest: Die »Kommune«, die Kommunisten – den einzigen Gegner, den Hitler noch fürchtet, weil hinter ihm 6 Millionen Wähler stehen. Auch wenn die preußische Polizei bei der gerade erfolgten Durchsuchung der Parteizentrale im Karl-Liebknecht-Haus kaum belastendes Material gefunden hat und der Aufruf der KPD zum Generalstreik ungehört verhallt, weil die Arbeitslosigkeit, die verbreitete Not einfach zu groß, die Republik zu unbeliebt ist. Die KPD wird sogleich verboten, die Länder werden gleichgeschaltet, bru- tale Menschenjagden auf die nunmehr amtlich-offiziell so etikettierten Reichs- feinde, die Feinde der neu proklamierten Volksgemeinschaft – Kommunisten, Sozialdemokraten, Juden, Homosexuelle – beginnen, während die neue Reichsregierung die Wahlen am 5. März »gewinnt«, die NSDAP allein aller- dings die absolute Mehrheit verfehlt, nur mit Hilfe der »Kampffront Schwarz- Weiss-Rot« die Hürde der absoluten Mehrheit nimmt. Die ersten »wilden« Staatsmorde erfolgen, die ersten »wilden« KZ werden errichtet und das erste »reguläre« KZ in Dachau vom gerade ernannten Münchner Polizeipräsidenten und bayerischen SS-Führer, Heinrich Himmler, am 20. März beiläufig auf einer lokalen Pressekonferenz ankündigt. Deutschland wird diesen Mann noch kennenlernen. Und Millionen werden später in jenen Lagern, wo kein Richter, kein Staatsanwalt, kein Polizist – und Journalisten nur, wenn ihnen eine fal- sche heile Welt vorgegaukelt werden soll – je einen Fuß hineinsetzen dürfen, wo die SS absolut herrscht, geschunden und ermordet werden. Reichstagsbrand und Reichstagsbrandverordnung 229

Aber Hitlers junge Herrschaft stützt sich keineswegs allein auf Gewalt und Staatsterror. Sie ist zugleich verführerisch für Millionen, spricht die Massen in geschickten Inszenierungen an. Eine solche ist der »Tag von Potsdam«, Goebbels erste Meisterleistung als Reichspropagandaminister, die inszenierte »Versöhnung« der jungen braunen Bewegung und ihres Führers mit den alten Trägern der Macht, symbolisiert durch den »Diener« Hitlers im großbürger- lichen Cut vor Hindenburg über dem Grab der Preußenkönige vor der Garnisonkirche. Verführung und Gewalt. Das ist das Wechselbad, in das die jenigen Reichstagsabgeordneten gestürzt werden, die am 23. März über das »Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich«, über das Ermächtigungs- gesetz abstimmen, ihm zu einer Zweidrittelmehrheit verhelfen sollen, ohne den Regierungsparteien NSDAP und DNVP anzugehören oder der SPD, die nicht zustimmen würde. Die Regierung kann demnach fortan Gesetze erlas- sen, kann Verträge schließen, ohne den Reichstag befragen zu müssen, sofern sie die Stellung des Reichspräsidenten und Reichstages nicht tangieren. Hitler lockt und stellt dem katholischen Zentrum um Brüning und Kaas ein großzüges Reichskonkordat sowie einen Kontrollausschuss in Aussicht, der das Procedere später überwachen soll. Was auch das letzte Resthäuflein der fünf im Parlament verbliebenen Liberalen um Theodor Heuss und Ernst Lemmer überzeugen, zur Zustimmung bewegen wird. Heute, in der Zeit der Damnatio memoriae, wäre eine bundespolitische Karriere von Heuss wie von Lemmer vermutlich gänzlich unmöglich. Sie haben dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt. Sie haben Hitler in den Sattel gehoben. Sie haben den deutschen Staat diesem »Führer« und seinen Paladinen ausgeliefert. Sie haben das Tor nach Auschwitz aufgestoßen – so würde die Argumentationskette heute lauten. Und Heuss kann froh sein, dass sie in seiner Biographie, die Peter Merseburger mit über 86 Jahren 2012 vorgelegt hat, nicht so gelautet hat, weil der Autor anders als die Verfasser des Kommissionberichtes die Zeiten noch selber kannte und auch die Erfahrungen mit den früheren Ermächtigungsgesetzen noch in Rechnung stellt, zumindest an der einen oder anderen Stelle in seinem Band aufscheinen lässt. Und weil Merseburger durchweg Heuss lautere Absichten unterstellt, was heute keineswegs mehr selbstverständlich ist, wie der Kommis- sionsbericht belegt. Nein, die Damnatio memoriae hätte heute auch den Libe- ralen Heuss erfasst, verurteilt, vernichtet. Tatsächlich wurde Heuss, wurden ja alle, die auf Hitlers Seriosität gesetzt und mit der Kontrollkraft Hindenburgs, aber auch derjenigen von Reichsbü- rokratie, Reichsrat und Reichsgericht gerechnet hatten, von diesem »Führer« düpiert und über den Abstimmungstisch gezogen. Sicher, das Konkordat wird 230 Fallstudie: Ermächtigungsgesetze kommen, aber der von ihm zugesagte Kontrollausschuss wird niemals einge- setzt. Verfahrenstricks, die Änderung der Geschäftsordnung, die es Göring als Parlamentspräsident erlaubt, die Zahl der Abwesenden, teilweise schon Ver- hafteten je nach Bedarf zu zählen oder wegzulassen, um in jedem Fall das Quorum für eine Zweidrittelmehrheit zu erreichen, gehören zum Instrumen- tarium. Die Tricksereien sollten sich am Ende als unnötig erweisen, denn während die Kroll-Oper – der Reichstag ist ja abgebrannt – von Maschinen- gewehrposten umstellt ist und im mit Hakenkreuzfahnen geschmückten Haus Schwerbewaffnete patrouillieren, kommt die erforderliche Mehrheit zustande. War es das Gefühl, dass die alte Republik tatsächlich ans Ende gekommen, dass eine – möglichst gewaltarme – Revolution unvermeidlich war? Oder war es im bürgerlichen Lager Resignation, war es nationales Pflichtgefühl, an das Hitler schon seit Wochen unaufhörlich appellierte, war es die Hoffnung auf späteres Entgegenkommen für die jetzt gezeigte Kooperationsbereitschaft? Es war von vielem etwas und alles zusammen. Der Reichstag hatte jedenfalls seiner Selbstentmachtung zugestimmt. Carl Schmitt, der kurz nach der Abstimmung in die NSDAP eintreten und die Mitgliedsnummer 2.089.860 erhalten sollte, stellte fest: »In Wahrheit ist dieses Ermächtigungsgesetz ein vorläufiges Verfassungsgesetz des neuen Deutsch land … Die deutsche Revolution war legal, d.h. gemäß der früheren Weimarer Verfassung formell korrekt.« Dieses zunächst auf vier Jahre befristete verfassungsaufhebende Gesetz – gebt mir vier Jahre Zeit, hatte Hitler ja seit Januar 1933 immer wieder gefordert – wurde 1937 verlängert und blieb bis zum Ende von Hitlers Herrschaft in Kraft. Zusammen mit den oben genannten Februar-Notverordnungen und der bald folgenden, immer weiter ausgewei- teten, für viele tödlichen »Heimtückeverordnung« sowie den »Volksschäd- lingsverordnungen« bildete das Ermächtigungsgesetz die »formalrechtliche« Basis für diese erste deutsche Diktatur, die verfassungsrechtlich fortan nur noch einen einzigen Zustand kennen sollte: den Ausnahmezustand. Und der sollte ab 1939 ein wichtiger »Exportartikel« dieses Regimes wer- den, sollte auch all jene Gebiete erfassen, die von deutschen Truppen besetzt, erobert worden waren und wo gemeinsam mit dem Ausnahmezustand die Po- litik des Rassenwahns um- und durchgesetzt wurde, bei der deutsche Diplo- maten sich als Helfershelfer zur Verfügung stellten. Unter diesen gab es einige wenige Ausnahmen, die den neuen Machthabern trotz deren legalistischem Vorgehen nicht dienen mochten. Etwa den deutschen Gesandten in Washing- ton, Friedrich Wilhelm von Prittwitz und Gaffron, einen Stresemann-Vertrau- ten, der bereits unmittelbar nach den Märzwahlen und zwölf Tage vor der Drohkulisse und Abstimmungsmanipulationen 231

Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz am 11. März 1933 Außenminister Constantin Freiherr von Neurath hatte wissen lassen, dass seine »Einstellung in dem Boden einer freiheitlichen Staatsauffassung und den Grundprinzipien des demokratischen Deutschlands« wurzele und er »sowohl aus Gründen des persönlichen Anstandes wie solchen der sachlichen Aufgaben hier in Washing- ton nicht mehr mit Erfolg wirken« könne. Er artikulierte seinen Protest aus einer gut abgesicherten Position heraus, denn er war schon lange auf Posten gewesen und sein finanzielles Auskommen im Falle seines Abschieds sicher- gestellt. Zum 25. März, also einen Tag nach Inkrafttreten des Ermächtigungs- gesetzes, wurde seine von Reichspräsident Hindenburg genehmigte Versetzung in den einstweiligen Ruhestand »mit dem gesetzlichen Wartegeld« wirksam – samt Kinderzuschlag etwa 1.200 Reichsmark, einem Drittel der Bezüge des Reichskanzlers. In Bayern bei Tutzing hat Prittwitz, der als Wirtschaftberater tätig werden durfte, das Dritte Reich und auch den Krieg überlebt, war vor seinem Tode 1955 noch Abgeordneter der CSU im bayerischen Landtag. »Seine Reaktion auf die Machtergreifung«, so der Historiker Peter Grupp, »war das Radikalste, was im diplomatisch-temperierten Milieu des Auswärti- gen Amtes zu diesem Zeitpunkt überhaupt erhofft werden konnte.« 67 Auch wenn diese Entscheidung durch die komfortablen Ruhebezüge sicherlich er- leichtert worden war, hatte der Botschafter Zivilcourage bewiesen – und Hell- sicht. Die allermeisten Deutschen benötigten die Jahre bis 1945, um die tiefdunklen Schattenseiten von Hitler und seiner Diktatur zu erkennen, man- che sogar noch länger. Einen Hauptschuldigen für das Desaster haben die Deutschen nach 1945 aber rasch ausgemacht neben dem Staatsrechtsopportunismus eines Carl Schmitt, der der neuen autoritären Staatsführung argumentativ den Boden mit bereiten sollte: die Weimarer Verfassung. Grässlich, eine Fehlkonstruktion, zum Untergang verdammt, völlig unpraktikabel, in der Geschichte gescheitert, mit Schuld am Debakel der ersten Republik, wird später jeder halbwegs ge- bildete Deutsche zu diesem Thema sagen. Aber, muss man kühl erwidern, das ist leider ziemlicher Unsinn. Denn auch diese Verfassung konnte man zum Guten und zum Schlechten auslegen, das hing – wie eben gezeigt – ganz von den handelnden Personen und deren Intentionen ab. Sicher, die Weimarer Verfassung, die von Hitler und Konsorten zwar weitgehend ausgehöhlt und ausgeschält, aber niemals formal abgeschafft wurde, die erst 1945 gänzlich ver- schwand, als Anfang Juni die vier Siegermächte Deutschland als Völkerrechts- subjekt auslöschten, eine neue zweite Diktatur, eine Besatzungs- und allerdings auch Befreiungsdiktatur errichteten – und eine dritte Diktatur, die von Ulb- 232 Fallstudie: Ermächtigungsgesetze richt, Honecker und Co. auf einem Teilgebiet, der SBZ, sehr bald schon ener- gisch vorbereitet wurde – diese Weimarer Verfassung also hatte nach dem Un- tergang 1945 wirklich keine gute Presse, schon gar nicht in Deutschland. Sie wurde nicht zuletzt im Verfassungskonvent von Herrenchiemsee, den Anton Pfeiffer, der Leiter der bayerischen Staatskanzlei, mustergültig gesteuert hat und der die Rohfassung des Grundgesetzes nahezu perfekt vorbereiten wird, wie dann auch kurz darauf im Parlamentarischen Rat als völlig missglücktes Produkt verworfen, allenfalls als abschreckende Negativfolie für eben dieses neue Grundgesetz herangezogen. Dabei hat das Ermächtigungsgesetz von 1933 natürlich im Bunde mit den erwähnten zwei zentralen Notverordnungen machtvoll gewirkt, hat vor allem nachhaltig hineingewirkt in den deutschen Beamtenapparat, ins Auswärtige Amt und alle anderen Verwaltungen, weil diese im Zuge des damals herrschen- den Rechtspositivismus – wie schon der Ulmer Reichswehrprozess im Herbst 1930 gezeigt hatte – zur wirksamen Bekämpfung der Feinde der Demokratie nicht fähig waren, sich vielmehr sagten: Dieser Hitler herrscht ja im Rahmen der Legalität, diese von seiner Regierung vorgenommene Aushebelung, diese Aushöhlung der Weimarer Verfassung ist auf legalem Wege zustande gekom- men, der Reichspräsident hat sie abgezeichnet. Das Ermächtigungsgesetz ist »rechtens«, kein deutscher Beamter handelt rechtswidrig, wenn er dieses Ge- setz und vor allem die Folgegesetze und Verordnungen, die auf seiner Basis erlassen werden sollten, einhält und befolgte. Wir haben zum Glück jetzt einen rechtlichen Rahmen für die deutsche Revolution, für die Hitler-Diktatur. Sie ist »rechtmäßig« zustandegekommen und daher ist auch eine Zuarbeit für das neue Regime, eine Mitarbeit in diesem neuen Regierungsapparat »rechtmä- ßig«, auch wenn er jüdische und andere Mitbürger verfolgt, brutal ausgrenzt, aus den Verwaltungsapparaten entfernt. Dieser nicht zuletzt auch für die Beurteilung des Wirkens der deutschen Diplomaten nach 1933 bedeutsame Aspekt wird im Kommissionsbericht al- lenfalls angedeutet. Doch gerade für bürgerlich, ja großbürgerlich geprägte Beamte in einem Ministerium wie dem Auswärtigen Amt waren derlei Ge- sichtspunkte natürlich bedeutsam und erleichterten ihnen die willfährige Selbstgleichschaltung. Die entscheidende Schlussfolgerung liegt auf der Hand: Wenn eine Regimeänderung »legal« zustande gekommen ist, dann ist der Wi- derstand gegen dieselbe »illegal«, folglich nicht gestattet, strafbar und mit dem deutschen Beamtenethos unvereinbar. Das Ermächtigungsgesetz von 1933 hat dem mörderischen Maßnahmenstaat Hitler, Himmler, Heydrichs und Kon- sorten den Boden bereitet, indem es ihm einen normenstaatlichen Mantel »Legale« Regimeänderung befördert willfährige Selbstgleichschaltung 233 umzuhängen ermöglichte. Hinzu kam der Eid auf den »Führer und Reichs- kanzler«, den die Allermeisten der Beamten und eben auch der Diplomaten lange als rechtlich bindend betrachteten. Dass Hitler selbst die ethischen Grundlagen für diesen Eid vernichtete etwa durch die zutiefst unethischen Rassengesetze oder die Staatsmorde im Zuge der Niederschlagung des angeb- lichen »Röhm-Putsches« und überdies jegliche rechtliche Kontrolle seines Tuns ablehnte, erkannten die wenigsten – manche mochten es sogar bis 1945 nicht erkennen. Zwei Anmerkungen zum Schluss: Am Ende von Hitlers Herrschaft, als diese wirklich unterging, als nämlich ihr Wirtschaftssystem, das System, der staatlichen Zuteilungen, der Bewirtschaftung und der durch das NS-Regime abermals nach 1923 bis zur weitgehenden Wertlosigkeit inflationierten Wäh- rung in Deutschland im Sommer 1948 beseitigt wurde, stand abermals – ein Ermächtigungsgesetz. Das »Leitsätzegesetz«, jenes in Deutschland heute völlig unbekannte Grundgesetz der Sozialen Marktwirtschaft, mit welchem Ludwig Erhard, der Direktor der Verwaltung für Wirtschaft beim Frankfurter Wirt- schaftsrat in enger Abstimmung mit dem amerikanischen Militärgouverneur Lucius D. Clay und parallel zur Währungsreform, zur Einführung der D- Mark sich ausdrücklich vom Wirtschaftsparlament hatte ermächtigen lassen, die allermeisten der über 400 geltenden Bewirtschaftungsgesetze und noch viel zahlreicheren Reglementierungen und Verordnungen aufzuheben. Vertre- ter der oppositionellen SPD nannten es sogleich empört: ein Ermächtigungs- gesetz. Und Ludwig Erhard selbst widersprach keineswegs, sondern sagte ganz offen: Ja, das sei ein solches Gesetz – und er werde von der Ermächtigung weidlich Gebrauch machen, ohne das Parlament noch einmal zu befragen. Er werde das entschlossen tun, um der wirtschaftlichen Vernunft in Deutschland zum Durchbruch zu verhelfen. Die Deutschen seien politisch, aber auch öko- nomisch verwirrt; anders seien die Grundlagen für die wirtschaftliche Erho- lung in Deutschland, zumindest in den drei westlichen Zonen, in Trizonesien nicht zu legen – in jenen drei Zonen, aus denen binnen Jahresfrist die Bun- desrepublik Deutschland hervorgehen sollte, deren Grundgesetz sich auf fun- damentale Weise von der Weimarer Verfassung absetzte und unterschied und denen das Erhardsche Ermächtigungsgesetz die Tür zu einem damals kaum vorstellbaren Wohlstandsschub aufstieß. Dennoch hat die Weimarer Verfassung überlebt. Präziser: Sie ist wieder auf- erstanden. Es gab tatsächlich einen Politiker, der sie schon wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg als Vorlage wieder entdeckt und in seinem Lande bis heute fest etabliert hat: Charles de Gaulle. Er suchte damals eine Präsidialver- 234 Fallstudie: Ermächtigungsgesetze fassung mit einem starken Präsidenten, so stark wie ein Monarch, ein König auf Zeit. Da schieden die allermeisten europäischen demokratischen Verfas- sungen tatsächlich aus, kamen als Modell nicht in Frage. Denn sie hegten die Macht ein, für de Gaulles Geschmack viel zu weit, waren sämtlich zu sehr von der Furcht vor Übergriffen und Missbrauch »Marke 1933« geleitet. Er selbst war 1958 in großer staatlicher Notlage während der eskalierenden Algerien- wirren zurückgerufen worden nach Paris aus dem freiwilligen lothringischen Exil, war – die römische Republik lässt einmal mehr grüßen – zum Diktator auf Zeit ernannt worden durch eine panische Nationalversammlung. Wodurch? Durch nichts anderes als ein Ermächtigungsgesetz. Er trat an unter der Bedin- gung, eine neue Verfassung etablieren zu können, die ihm, den Wahlerfolg im Plebiszit vorausgesetzt, eine mächtige Position auf Jahre sicherte – und er wählte dazu? Das Modell »Weimar«. Das hat er, mit leichten Modifikationen, tatsäch- lich etabliert, haltbar, praktikabel bis heute. Diese Verfassung der V. Republik kann nunmehr allerdings nur noch geändert oder außer Kraft gesetzt werden durch ein erfolgreiches Plebiszit in Verbindung mit der Unterschrift des Präsi- denten. Ermächtigungsgesetze schloss de Gaulle für alle Zeit aus. 235

Deutsch-sowjetische Beutepartnerschaft: Der Pakt zwischen Hitler und Stalin

Im Sommer und Herbst 1939 wurde das Auswärtige Amt von Hitler ein letztes Mal für sein eigentliches Kerngeschäft herangezogen. Ein letztes Mal spielte eine seiner wichtigsten Auslandsvertretungen, diejenige in Moskau, eine be- deutsame Mittler-Rolle – die klassische Kernaufgabe der Diplomatie – von der Zeit der Anbahnung bis weit in die Zeit der neu zustande gekommenen Beutepartnerschaft mit Stalin hinein. Im Kommissionsbericht kommt die Diplomatiegeschichte im herkömmli- chen Sinne kaum und diese Episode überhaupt nicht vor – im Zentrum steht nahezu allein die Verwicklung in den Massenmord. Dieser für die Geschichte des Auswärtigen Amtes im Dritten Reich durchaus bedeutsame Zeitabschnitt soll daher, gestützt auf die vorliegenden Archivalien, in diesem Kapitel im Mittelpunkt stehen. Es geht dabei nicht darum, den Anteil Hitlers und der deutschen Führungs- stäbe an der Auslösung des Zweiten Weltkrieges zu relativieren. Hitler wollte diesen Krieg – während alle anderen Staatsmänner Europas einschließlich Stalin ihn im Frühjahr und Sommer 1939 hinauszuschieben und zu verzögern trach- teten. Hitler wollte ihn schon lange und arbeitete beharrlich darauf hin, seitdem ihm von Hindenburg im Januar 1933 mit dem Amt des Reichskanzlers die Schlüsselposition im Deutschen Reich übertragen worden war. Bereits am 3. Februar jenes Jahres hatte er im Hause des Chefs der Heeresleitung, Kurt von Hammerstein-Equord, vor den versammelten Befehlshabern des Heeres und der Marine erklärt, wie uns die Liebmann-Aufzeichnung überliefert: »Aufbau der Wehrmacht wichtigste Voraussetzung für Erreichung des Ziels: Wiedergewinnung der pol. Macht. Allg. Wehrpflicht muss wieder kom- men. Zuvor aber muss Staatsführung dafür sorgen, dass die Wehrpflichtigen vor Eintritt nicht schon durch Pazifismus, Marxismus, Bolschewismus ver- giftet werden oder nach Dienstzeit diesem Gifte verfallen. Wie soll pol. Macht, wenn sie gewonnen ist, gebraucht werden? Jetzt noch nicht zu sagen. Vielleicht Erkämpfung neuer Export-Mögl., vielleicht – und wohl besser – 236 Fallstudie: Deutsch-sowjetische Beutepartnerschaft

Eroberung neuen Lebensraums im Osten u. dessen rücksichtslose Germa- nisierung …« Im Rückblick wissen wir, das war zu diesem frühen Zeitpunkt erstaunlich offen. Die Spitze der Armee konnte sich ihren Reim darauf machen. Ähnlich wie beim Auswärtigen Amt sind nennenswerte Zahlen von Abschiedsgesuchen nicht übermittelt. Neben dem Kampf um Lebensraum und dem fanatischen Rassenantisemitismus – der an diesem Februar-Abend 1933 keine Rolle spielt, alle Anwesenden wissen jedoch, dass er zum »Markenkern« von Hitler und seiner Bewegung gehört – ist auch der brutale Antibolschewismus integraler Bestandteil seiner Ideologie, die den Keim zum Massenmord bereits in sich trägt. Stalin, der wohl sogar bereits Mein Kampf gelesen hatte, erfuhr jedenfalls schnell von diesen Worten, denn die Töchter Hammersteins sympathisierten mit dem Kommunismus und gaben die Botschaft des neuen Reichskanzlers an sowjetische Agenten weiter. Aber der Herrscher im Kreml reagierte prag- matisch und verlängerte bald darauf den Berliner Vertrag von 1926 mit dem Deutschen Reich. Nach außen hin blieb der Antifaschismus aber die wich- tigste internationale Tarnkappe von Stalin und der Komintern. Er verbarg und legitimierte zugleich die Menschheitsverbrechen des sowjetischen kommunis- tischen Regimes. Nur zwischen dem 23. August 1939 und dem 22. Juni 1941, der Zeit zwischen dem Hitler-Stalin-Pakt und dem deutschen Überfall auf die UdSSR, wurde diese wirkungsmächtige Tarnkappe im Kreml beiseite gelegt, während Hitler seinerseits die »Internationale« anstimmte. In diesen seltsamen 22 Monaten war plötzlich das Gegenteil von allem zuvor Propagierten politisch richtig, gewollt und angemessen und wurde von der Komintern auch international verkündet und vertreten. Das ging soweit, dass im Sommer 1940 Vertreter der französischen Kommunisten beim deut- schen Besatzungsbotschafter Abetz nachfragten, unter welchen Umständen das Parteiblatt L’Humanité im besetzten Frankreich weiter erscheinen könne. Diese 22 Monate sollten wir fortan die Zeit der deutsch-sowjetischen Beute- partnerschaft nennen, denn dieser bislang noch niemals zuvor verwandte Begriff beschreibt exakt das Kernelement jener Phase, für deren Zustande- kommen Ribbentrop und das Auswärtige Amt, insbesondere der Stab der deutschen Gesandtschaft in Moskau, noch einmal, ein letztes Mal, intensiv von Hitler benutzt, instrumentalisiert und herangezogen werden sollten. Diese kurze Phase sollte Europa nachhaltig verändern und bis 1991 tiefenwirksam fortwirken, um anschließend um so nachhaltiger und entschlossener tabuisiert zu werden. Am Anfang steht der Schock 237

Am Anfang steht der tiefe Schock – der Pakt zwischen den ideologischen Todfeinden. Die Plötzlichkeit der Wendung erschreckt alle politisch Interes- sierten. Jedem wird am 24. August 1939 klar, dass die Tür zum zweiten großen Krieg in Europa nach nur 21 Jahren wieder weit aufgestoßen worden ist. Goebbels hat nicht umsonst in seinem Tagebuch notiert: »23. August 1939 – Die Ankündigung des Nichtangriffspaktes mit Moskau ist die ganz große Weltsensation. Das ganze europäische Kräftebild ist damit verschoben. London und Paris sind fassungslos, Warschau spielt den Halb- starken, aber das wirkt nur noch lächerlich. Der Führer hat einen wirklich genialen Schachzug getan. Es muss sich nun zeigen, wie die Welt darauf reagiert. (…) Die Telefonate bezüglich Ausrichtung der Auslandspropa- ganda ergeben ein Bild absoluter Verzweiflung auf der Gegenseite … – 24. August. Endlich nachts um 1h Durchgabe des Communiqués aus Mos- kau: vollkommener Akkord. Nichtangriffs- und Konsultationspakt auf 10 Jahre. Ein Vertrag auf sehr weite Sicht und sogleich in Kraft tretend. Ein weltgeschichtliches Ereignis von unübersehbaren Konsequenzen. Der Füh- rer und wir alle sind sehr glücklich.« Andere überzeugte Nationalsozialisten waren allerdings zutiefst empört und aufgebracht über diesen Schritt. Auch für viele altgediente Sozialisten und überzeugte Kommunisten ist es schlichtweg Verrat, den vor allem Stalin be- geht. Hans Werner Richter, der nach dem Krieg die »Gruppe 47« ins Leben rufen wird und 1930 in die KPD eingetreten, aber bald schon als Trotzkist ausgeschlossen worden war, hatte dennoch 1933 für die nach dem Reichstags- brand verbotene KP eine Widerstandsgruppe ins Leben gerufen. Jetzt gräbt er noch in der Nacht voller Wut und Enttäuschung die versteckten Partei - bücher seiner illegalen Ortsgruppe aus und verbrennt sie kurzentschlossen. Jürgen Kuczynski allerdings kauft sich im Londoner Exil eine dicke Zigarre »zur Feier des Paktes, der die UdSSR aus einem möglichen Krieg heraushalten kann«, wie er sich später erinnert. Dass die beiden Diktatoren in einem geheimen Zusatzprotokoll einen An- griffsvertrag gegen Polen geschlossen und die Aufteilung Osteuropas unter sich »geregelt« hatten, sollte und durfte die Welt allerdings lange nicht wissen. Als Alfred Seidl, der deutsche Verteidiger von Hans Frank und Rudolf Heß, im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess 1946 das ihm vermutlich von ame rikanischer Seite zugespielte streng geheime Zusatzprotokoll als nachhal- tiges Entlastungsdokument in den Prozess einführen will – beim Anklage- punkt »Eröffnung eines Angriffskrieges« wäre plötzlich die sowjetische Sieger- macht mit in den Fokus und sogar mit auf die Anklagebank gerückt –, droht 238 Fallstudie: Deutsch-sowjetische Beutepartnerschaft Zwei große Verbrecher des Zwanzigsten Jahrhunderts 239

Hitler und Stalin haben sich nie getroffen, auch wenn sie im Winter 1913 zeitgleich im Park von Schloss Schönbrunn spazieren gingen, wie Florian Illies herausgefunden hat. Aber sie hatten Respekt vor dem jeweils anderen, vor der Brutalität und Durchsetzungsfähigkeit – und den politischen »Erfolgen«. 240 Fallstudie: Deutsch-sowjetische Beutepartnerschaft der sowjetische Anklagevertreter, General Rudenko sogleich, den Prozess voll- ständig platzen zu lassen. Wenn diese »Fälschung« tatsächlich Eingang in die Prozessakten finden und im Prozessverlauf öffentlich als Entlastungsdokument der Verteidigung vorgetragen werden würde, erklärt er kühl, müssten und würden die sowjetischen Verfahrensbeteiligten unverzüglich das Tribunal verlassen. Dazu will man es auf westlicher Seite nicht kommen lassen. Die brüchige Allianz der Sieger soll halten – noch. Die Verwendung der entspre- chenden Aktenstücke wird Seidl daher untersagt, denn natürlich ist es – bei aller Berechtigung – nicht nur ein juristisches Verfahren, sondern zugleich ein hochpolitischer Prozess, der in Nürnberg stattfindet. Die Verteidigung von Admiral Raeder versuchte dann nochmals, gewisser- maßen durch die Hintertür, am 21. Mai 1946 mit Hilfe ihres Entlastungs- zeugen Ernst von Weizsäcker, das geheime Zusatzprotokoll in den Prozess einzuführen. Seidl, der so etwas wie der deutsche Schlüsselverteidiger in den Nürnberger Prozessen gewesen ist – im Wilhelmstraßenprozess wird er Ver- teidiger des ehemaligen Reichsministers und Chefs der Reichskanzlei Hans Heinrich Lammers, im Prozess gegen das SS-Wirtschaftungs- und Verwal- tungshauptamt wird er SS-Gruppenführer Oswald Pohl vertreten, im Ärzte- Prozess Fritz Fischer, Karl Gebhardt und Herta Oberheuser, im IG-Farben- Prozess schließlich Walter Dürrfeld und später, in den fünfziger Jahren im Augsburger Buchenwald-Prozess Ilse Koch, die gefürchtete KZ-Aufseherin und Frau des Lagerkommandanten von Buchenwald – springt dabei seinem Kollegen Walter Siemers zur Seite. Seidl trägt dem Gericht treuherzig seine Absicht vor, »zur Unterstützung des Gedächtnisses des Zeugen Weizsäcker im Zuge der Zeugenvernehmung diesen Text zu verlesen und im Anschluss daran den Zeugen zu fragen, ob nach seiner Erinnerung in diesem Schriftstück diese geheimen Abmachungen [zwischen dem Deutschen Reich und der UdSSR; D.K.] vom August 1939 richtig wiedergegeben sind.« Eine Szene, deren Dra- matik sich den damaligen Prozessbeobachtern natürlich nicht wirklich er- schloss – denn von den Kämpfen hinter den Kulissen um die Preisgabe der Details des Grundlagenvertrages der deutsch-sowjetischen Beutepartnerschaft ahnte ja damals kaum jemand etwas. General R. A. Rudenko interveniert denn auch sofort und erklärt, »wir behandeln hier erstens den Fall der deutschen Hauptkriegsverbrecher und nicht die Außenpolitik von anderen Staaten. Zweitens wurde das Dokument, das Dr. Seidl dem Zeugen vorzulegen ver- sucht, bereits vom Gericht abgewiesen, da es eigentlich ein gefälschtes Doku- ment ist und deshalb keinerlei Beweiswert haben kann …« Nach einer kurzen Intervention des amerikanischen Richters Thomas J. Das geheime Zusatzprotokoll in Nürnberg 241

Dodd wird es Weizsäcker jetzt aber doch gestattet, kurz den Inhalt des Ge- heimen Zusatzprotokolls zu umreißen, von dem er erklärt, »eine Kopie oder vielleicht auch das Original« wiederholt in der Hand gehabt und eine Photo- kopie davon in seinem persönlichen Safe eingeschlossen zu haben: »Es handelte sich um ein sehr einschneidendes und sehr weitgreifendes ge- heimes Zusatzabkommen zu dem damals geschlossenen Nichtangriffspakt. Die Tragweite dieses Dokuments war deswegen sehr groß, weil es eine In- teressensphäreneinteilung betraf, die eine Grenze zog zwischen denjenigen Gebieten, die unter gegebenen Umständen der sowjetrussischen und den- jenigen, die in einem solchen Falle der deutschen Sphäre angehören sollten. Zur sowjetischen Sphäre sollten gehören Finnland, Estland, Lettland, ein östlicher Teil von Polen und meiner Erinnerung nach auch gewisse Gebiete Rumäniens. Was wesentlich westlich von den eben genannten Gebieten lag, sollte zur deutschen Interessensphäre gehören …« Das war das erste Mal, dass die Welt Konkretes über den Beginn der Beute- partnerschaft erfuhr – ein bedeutender Beitrag zur Zeitgeschichte von Ernst von Weizsäcker, der fast allen seiner Biographen bislang entgangen ist. Das Gericht vertagte sich anschließend kurz – General Rudenko muss hinter den Kulissen wohl ordentlich über die angeblich plumpe Fälschung getobt haben – und ließ dann das Dokument abermals als Beweismittel nicht zu. Aber jetzt war es zumindest als Spurenelement in der Welt. Zwei Tage nach dieser Szene in Nürnberg ist es dann eine kleine Zeitung aus – welch seltsamer Zufall – Präsident Trumans Heimatstaat Missouri, die Saint-Louis Post-Dispatch, die am 23. Mai 1946, also mitten im laufenden Ver- fahren gegen die NS-Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Mili- tärtribunal (IMT) in Nürnberg, erstmals das geheime Zusatzprotokoll in seinem vollständigen Wortlaut publiziert. In den sowjetischen Archiven werden allerdings die Spuren verwischt. Das Original des geheimen Zusatzprotokolls bleibt in Moskau für immer verschol- len. Heute, da von manchen russischen Historikern in einer bizarren Neuauf- lage der Vorwürfe Molotows aus dem Herbst 1939 abermals den intransigen- ten, wenig kompromissbereiten Polen die Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs gegeben wird und man Stalin in jüngsten Umfragen als den be- deutendsten Staatsmann des Landes im 20. Jahrhundert feiert, wird die Erin- nerung an jene 22 Monate der Beutepartnerschaft mit den Nazis in Russland neuerlich zum weißen Fleck.68 Das war nicht immer so. Man kann in der vorzüglichen Edition von Chris- tian Haas zum 23. August 1939 die Erklärungen nachlesen, die der Gorba- 242 Fallstudie: Deutsch-sowjetische Beutepartnerschaft

Der Eingang zur deutschen Botschaft in Moskau in den dreißiger Jahren

tschow-Vertraute Alexander Jakowlew im Dezember 1989 vor dem Kongress der Volksdeputierten der UdSSR abgegeben hat, wo er erstmals öffentlich ein- räumt: »Das geheime Zusatzprotokoll vom 23. August 1939 hat existiert. Die daraus folgenden Ereignisse haben sich zudem ›protokollgemäß‹ entwickelt«. Es war ein schmerzliches Eingeständnis nach fünf Jahrzehnten offiziellen Leug- nens. Für Jakowlew ist das »Geheimprotokoll eine der gefährlichsten Verzöge - rungsminen auf dem uns vom Stalinismus als Erbe hinterlassenen Minenfeld«. Dieses Minenfeld ist noch immer nicht geräumt. Die im Folgenden aufschei- nenden Quellenstücke sind im heutigen Russland tabu, können derzeit nicht durch dortige Archivstücke »gespiegelt« werden. Blenden wir also zurück in die Zwischenkriegszeit. Bereits in seiner Denk- schrift vom Januar 1934 hatte Rudolf Nadolny, nachdem ihn Hitler als Leiter Wettlauf nach Moskau 243 der deutschen Abrüstungsdelegation in Genf kurz vor dem Verlassen derselben und dem Austritt aus dem Völkerbund im Zuge einer umfassenden Heraus- lösung Deutschlands aus möglichst allen internationalen, multilateralen Ko- operationsformen abberufen hatte und er als Botschafter des Reiches nach Moskau geschickt worden war, ein politisches Programm skizziert, dem wohl viele im Auswärtigen Amt damals zugestimmt hätten: »1. Ein Deutschland von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt, 2. ein Mitteleuropa unter Deutschlands Führung und 3. eine Welt, in der Deutschland eine gleichberechtigte Großmacht ist«. Mit wessen Hilfe aber sollte dieses Programm, das ja vor allem französische und polnische Sicherheitsinteressen massiv tangierte und bedrohte, realisiert werden? Mit Hilfe der Sowjetunion, der Hilfe von Stalin – riet Botschafter Nadolny Hitler damals schon. Aber noch setzte der Reichskanzler andere Prio- ritäten. Erst nachdem das angestrebte Bündnis mit England nicht zustande gekommen war, begann ein allmähliches Umdenken, das auch dadurch be- fördert wurde, dass im Auswärtigen Amt Männer wie Weizsäcker einer solchen Wendung das Wort zu reden begannen. Erst fünf Jahre später war Hitler be- reit, auf Nadolnys Anregung konkret einzugehen. Die internationale Konstel- lation hatte sich inzwischen tiefgreifend verändert. Zwischen den Westmächten und Hitler hatte mittlerweile ein seltsamer Wettlauf nach Moskau begonnen – förmliche Verhandlungen waren am 21. März 1939 zwischen London, Paris, Warschau und Moskau eröffnet, am 11. August war zudem eine französisch-britische Militärdelegation nach Moskau entsandt worden. In diesem Wettlauf soll für uns vor allem die deutschen Seite im Mittelpunkt stehen. Nachdem sich Staatssekretär von Weizsäcker schon seit Herbst 1938 wiederholt mit dem sowjetischen Geschäftsträger getroffen hatte, um Möglichkeiten einer Annäherung zu ventilieren, hielt Alfred Rosen - berg, der »Ost-Experte« des NS-Regimes, bereits am 7. Februar 1939 einen Vor trag vor dem diplomatischen Korps und der Auslandspresse mit dem Titel »Müssen weltanschauliche Kämpfe zwangsläufig staatliche Feindschaften er- geben?« Derlei darf man im Rückblick getrost als erste zarte Signale werten, mit denen das merkwürdige deutsch-sowjetische Ping-Pong beginnt, das ein halbes Jahr später in den Nichtangriffspakt und das Geheime Zusatzprotokoll münden wird. Stalin »antwortet« einen Monat nach Rosenberg am 10. März vor dem 18. Kongreß der KPdSU mit seiner »Kastanienrede«, wo er die bür- gerlich-kapitalistischen Westmächte England und Frankreich aller Appease- ment-Signale zum Trotz bezichtigt, die »faschistischen Mächte« Japan und Deutschland in einen Krieg mit der Sowjetunion hineintreiben zu wollen und 244 Fallstudie: Deutsch-sowjetische Beutepartnerschaft erklärt, die UdSSR, die es im Übrigen für nützlich und wünschenswert halte, mit Deutschland zu einem besseren Verhältnis zu gelangen (!), werde für die Kapitalisten nicht die Kastanien aus dem Feuer holen. War das so falsch? Hätte nicht die UdSSR schon 1939 die Hauptlast eines Krieges gegen Nazi-Deutsch- land zu tragen gehabt, so wie sie es nach 1941 tatsächlich tat? Hitler lässt unmittelbar darauf die »Resttschechei« besetzen, greift erstmals auf Territorien über, die nicht von beträchtlichen deutschen Bevölkerungs- gruppen bewohnt sind. England und in seinem Schlepptau Frankreich, wenn auch widerwillig und über »la gouvernante anglaise« murrend – »mourir pour Danzig?« ist nicht nur in Paris eine wenig verlockende Vorstellung – garantie- ren daraufhin die Existenz Polens, was Hitler zum Vorwand nehmen wird, um den deutsch-polnischen Nichtangriffsvertrag von 1934 aufzukündigen, den Druck auf Polen zu erhöhen. In Warschau setzt man aber auf die West- mächte, pokert hoch, bleibt in der Danzig- und Korridorfrage unnachgiebig, ordnet bereits zum 23. März 1939 – und damit eine Woche vor der offiziellen britischen Garantieerklärung – die Teilmobilmachung an, verwirft alle Offer- ten des »Führers«, sich mit ihm, mit den Deutschen gegen den in Polen ja durchaus gefürchteten Bolschewismus, die sowjetischen Revanchegelüste für die Niederlage 1920 zusammenzutun. Im unmittelbaren Angesicht des Krieges wird England am 25. August 1939 tatsächlich zum ersten Mal in seiner Geschichte nach der Garantieerklärung aus dem Frühjahr sogar einen förmlichen Bündnis- und Beistandspakt mit einem osteuropäischen Staat, mit Polen, abschließen. Hitler stoppt deshalb – und weil Mussolini plötzlich nicht mittun will – seinen Angriffsbefehl für das Wochenende. Wie bei fast allen seinen Coups hat er auch diesmal ursprüng- lich für die Eröffnung des Krieges ein Wochenende gewählt, weil dann die Apparate der Gegenseiten Pause machen, die Reaktionsfristen sich automa- tisch zu seinem Vorteil verlängern. Aber die Verachtung für die Westmächte und ihre »schwächlichen Führer« Chamberlain und Daladier, die ihm nicht nur in München überaus konzessionsbereit begegnet waren, gewinnt bald wie- der die Oberhand. Er rechnet nicht mit einer britischen Kriegserklärung nach einem deutschen Angriff auf Polen, schon gar nicht mit einer britischen Of- fensive – und mit Letzterem sollte er sogar Recht behalten. Als Göring in Ge- genwart von Staatssekretär Ernst von Weizsäcker jedoch warnend meint, man solle hier nicht »Vabanque spielen«, lautet Hitlers bezeichnende Antwort: »Ich habe immer Vabanque gespielt«. Dass die förmliche und formvollendete bri- tische Kriegserklärung – Außenminister Halifax wird sie traditionsbewusst trotz allem mit »your obedient servant« (»Ihr gehorsamer Diener«) unterzeich- »Ich habe immer Vabanque gespielt« 245 nen – am 3. September eintrifft, ist für Hitler und seine Entourage ein erster Dämpfer. Allerdings bleibt sie zunächst folgenlos, denn abgesehen von der Verhängung einer Seeblockade setzen weder England noch Frankreich Trup- pen gegen Deutschland an der westlichen Front in Marsch. »Vabanque« spielt Hitler auch gegenüber Stalin. Während die Westmächte im Sommer 1939 eher halbherzig mit dem sowjetischen Diktator verhandeln, Polen und Rumänen im Bündnisfall der Roten Armee kein Durchmarschrecht einräumen wollen, weil sie eine dauerhafte sowjetische Besatzung fürchten, kon zediert Hitler im Herbst 1939 Stalin, was die Westmächte nicht – noch nicht – konzedieren können: Gewaltigen Land- und Menschengewinn. Hitler tut dies in der Überzeugung, die dadurch halbierte polnische »Beute« leichter einstreichen und zugleich später einmal alle an Stalin abgetretenen Gebiete wieder einkassieren zu können, wenn es an den für ihn zentralen und eigent- lichen Krieg geht, den großen Rasse- und Lebensraumkrieg im Osten gegen die riesige Sowjetunion, die er bei aller Bewunderung für die Härte und Bru- talität des »wirklichen Revolutionärs« im Kreml für schwach hält und reif für den Zusammenbruch. Sie war für ihn und seine Stäbe allenfalls ein Luftballon, in den man nur hineinzustechen brauche, um ihm alle jüdisch-bolschewisti- sche Luft entweichen zu lassen, wie es damals in Berlin hieß. Stalin wiederum greift bei Hitlers Offerte entschlossen zu – das von Lenin einst hochgehaltene Selbstbestimmungsrecht der Völker zählt jetzt ebenso wenig wie die Erklärung des Obersten Sowjet von 1930, dass die Sowjetunion als friedliebende Macht keinerlei Territorialansprüche geltend mache. Beide Diktatoren gewinnen zudem durch die überraschende gemeinsame Allianz einen der wichtigsten politischen Rohstoffe überhaupt: Zeit. Zeit für weitere Aufrüstung, Zeit für die Restrukturierung einer durch die vieltausend- fachen Hinrichtungen im Offizierskorps teilweise enthaupteten Roten Armee. Zeit bis zum Krieg gegeneinander, den Hitler will und Stalin wohl auch er- wartet, allerdings – anders als Hitler – wohl erst in einer fernen Zukunft. Hit- ler hat von Anfang an die Absicht, auch diesen Vertrag zu brechen, wie schon die früheren vertraglichen Vereinbarungen bezüglich der Tschechoslowakei oder mit Polen. Seinen Generälen hat er in einer großen, in unterschiedlichen Versionen festgehaltenen Ansprache im Vorfeld des Polenfeldzuges schon am 22. August 1939 in schonungsloser Offenheit den weiteren Weg gewiesen und kühl erklärt: »Ich habe den Befehl gegeben – und ich lasse jeden füsilieren, der auch nur ein Wort der Kritik äußert –, dass das Kriegsziel nicht im Erreichen von bestimmten Linien, sondern in der physischen Vernichtung des Gegners 246 Fallstudie: Deutsch-sowjetische Beutepartnerschaft

besteht. So habe ich, einstweilen nur im Osten, meine Totenkopfverbände bereitgestellt mit dem Befehl, unbarmherzig und mitleidslos Mann, Weib und Kind polnischer Abstammung und Sprache in den Tod zu schicken. Nur so gewinnen wir den Lebensraum, den wir brauchen. (…) Dagegen [gegen Großbritannien/Frankreich; D.K.] haben wir unsere Autarkie und die russischen Rohstoffe. Polen wird entvölkert und mit Deutschen besie- delt. Mein Polenpakt [mit Stalin; D.K.] ist nur als Zeitgewinn gedacht. Und im übrigen, meine Herren, ereignet sich mit Russland dann nur das- selbe, was ich mit Polen durchexerziert habe. Nach Stalins Tod, er ist ein schwerkranker Mann, zerbrechen wir die Sowjetunion. Dann dämmert die deutsche Erdherrschaft herauf«.69 Das war die Abfolge, die Hitler schon im August 1939, noch bevor die Papiere über die Besiegelung der Beutepartnerschaft überhaupt unterzeichnet worden waren, klar vor Augen stand. Die Abfolge sollte sich bis zum Überfall auf die Sowjetunion erfüllen, mit schrecklichen Konsequenzen für alle. Für Polen, die Sowjetunion, das Deutsche Reich – für ganz Europa. Zunächst bringt der Pakt beiden Seiten jedoch erhebliche Vorteile. Beide Diktatoren schützen sich jeweils vor einem Zweifrontenkrieg. Hitler bekommt nach dem erwartet kurzen Polenfeldzug und der nach dem Bündnis mit Stalin zwangsläufigen polnischen Niederlage – wie sollte die polnische Armee ge- genüber dieser doppelten Übermacht bestehen können, auch wenn ihre mili- tärischen Möglichkeiten zu Beginn des Feldzuges im deutschen Generalstab noch weit überschätzt worden waren? – die Armeen frei für den möglichen Westfeldzug. Stalin verschiebt durch die Vereinbarungen mit dem deutschen Diktator sein »Glacis« weit nach Westen und muss ihn – das wiegt die neue gemeinsame deutsch-sowjetische Grenze bei Weitem auf – erst einmal nicht mehr fürchten. Dass am 20. August 1939 an der mandschurisch-mongolischen Ostgrenze der Sowjetunion eine der ersten großen Panzerschlachten der Moderne be- gonnen hat – die gegen Japan am Ende siegreichen sowjetischen Verbände kommandiert übrigens mit General Georgi Konstantinowitsch Schukow aus- gerechnet jener Mann, der sie wenige Jahre später siegreich über Stalingrad nach Berlin führen wird –, hat man im Westen damals wie so vieles aus dem Roten Reich kaum wahrgenommen. Es spielt aber naturgemäß eine beträcht- liche Rolle für den Diktator im Kreml und seine engsten Berater Wjatscheslaw Michailowitsch Molotow, Verteidigungskommissar Kliment Jefremowitsch Woroschilow, und Militärs wie Generalstabschef Boris Michailowitsch Scha- poschnikow, den Stellvertretenden Volkskommissar für Verteidigung, Grigori Der wichtigste politische Rohstoff: Zeit 247

»Wie lange werden die Flitterwochen dauern?«, fragt am 9. Oktober 1939 ein Karikaturist in den USA.

Iwanowitsch Kulik oder den Leiter der Politischen Abteilung der Roten Armee, Lew Sacharowitsch Mechlis, einen engen Vertrauten Stalins, im Krieg verant- wortlich für über 157.000 Todesurteile in über einer Million Kriegsgerichts- verfahren und auch an den Staatsmorden von Katyn maßgeblich beteiligt. Stalin selbst bekleidete damals kein Regierungsamt. Den Vorsitz im Rat der Volkskommissare als Nachfolger Molotows – dieser bleibt weiterhin Au- ßenkommissar – wird er erst im Sommer 1941 übernehmen. Noch bezieht er all seine erhebliche Machtfülle aus der Position des Sekretärs der KPdSU, hat als solcher die Weichen im Frühjahr 1939 auf Kooperation mit Hitler gestellt. Entscheidendes Signal in Richtung Berlin ist Anfang Mai die überraschende Ablösung Litwinows als Volkskommissar des Auswärtigen. Nicht allein, weil der verbindliche Litwinow Jude war und als Verfechter eines Konzepts der Westorientierung und »kollektiven Sicherheit« galt, maßgeblich etwa 1934 den Eintritt der UdSSR in den Völkerbund und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu den USA eingefädelt hatte. Sondern auch, weil Litwinow mit einer Engländerin verheiratet war. 248 Fallstudie: Deutsch-sowjetische Beutepartnerschaft Die vierte polnische Teilung 249

Im Geheimen Zusatzprotokoll, dem Schlüsseldokument der deutsch-sowjetischen Beutepartnerschaft, von dessen Existenz auf beiden Seiten nur eine kleine Gruppe um Hitler und Stalin Kenntnis hatte, werden 1939 die Grenzen der 4. polnischen Teilung festgelegt. Die Karte oben zeigt: Nazi-Deutschland holt den Westen (»Warthegau«) Polens und Danzig »heim ins Reich«. Im sogenannten »General-Gouvernement« dürfen Polen und Juden unter einem Terrorregime – zunächst – überleben. Der Ostteil fällt nach dem Hit- ler-Stalin Pakt an die UdSSR. Die polnische Ostgrenze nach 1945 entspricht trotz kleiner Korrekturen (Bia- lystok) dem Grenzverlauf des Hitler-Stalin-Pakts, aber auch dem vor den polnischen Eroberungen in Sow jet russland 1920.

Stalins Schritt, ausgerechnet jetzt Litwinow durch seinen engen Vertrauten Molotow zu ersetzen, verstand Hitler sofort. »Das war das Zeichen, dass Stalin es ernst mit uns meinte«, wird er später zu Goebbels sagen. Dass Molotow in einer seiner ersten Reden als Außenminister – vor dem Obersten Sowjet am 31. Mai – gleichfalls von einer wünschenswerten Verbesserung der Beziehun- gen zu Berlin sprach, verstärkte das Signal zusätzlich. Dass Staatssekretär von Weizsäcker in den vergangenen Monaten still und unbemerkt den Kontakt und Meinungsaustausch mit den sowjetischen Geschäftsträgern, vor allem mit Georgi Alexandrowitsch Astachow gepflegt hatte, zahlte sich jetzt über- raschend schnell aus. Es folgen jedenfalls sofort umfangreiche diskrete Han- dels- und Kreditvereinbarungen, von Karl Schnurre aus dem AA ausgehandelt und bereits mit geheimen Zusätzen versehen, die den sofortigen Rücktransfer 250 Fallstudie: Deutsch-sowjetische Beutepartnerschaft eines Teils der offiziell vereinbarten sowjetischen Zinsen auf russische Son- derkonten in Berlin vorsehen. Es sind – trotz Antikominternpakt – die ersten heimlichen Werbegeschenke eines ungeduldig aufs Losschlagen drängenden Hitler an Moskau, von denen in Europa kaum jemand etwas ahnt. Es folgt Ribbentrops Verhandlungsnacht im Kreml vom 23. auf den 24. August. Im vom Leiter der Rechtsabteilung des AA, Gaus, entworfenen geheimen Zu- satzprotokoll wird »für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung Osteuropas« – eine verlogene Umschreibung für den unmittelbar bevorste- henden Krieg, im Kreml kennt man Hitlers Angriffsbefehle, den Operations- plan »Fall Weiss« nur zu genau – die Grenze zwischen der deutschen und der sowjetischen Interessensphäre festgelegt. Für Polen soll sie entlang der Flüsse Narew, Weichsel, San verlaufen. Das Baltikum mit Ausnahme Litauens – das wird erst am 28. September 1939 in einem neuerlichen Geheimen Zusatz- protokoll von Hitler an Stalin ausgeliefert – soll ebenso wie Finnland in die sowjetische »Sphäre« fallen. Was bedeutet das alles? Es bedeutet kalte Großmachtpolitik hinter dem Rücken und auf Kosten abwesender Drittstaaten mit Millionen von Men- schen, bedeutet, dass München sich in Moskau in potenzierter Form wieder- holt. Bedeutet die vierte Teilung Polens. Stalin bekommt die Chance, jene territorialen Verluste wieder wettzumachen, die im Diktatfrieden von Brest- Litowsk – die deutschen Armeen hatten das zaristische Russland besiegt, diese »Erfahrung« lebt im deutschen Generalstab durchaus noch fort –, in Versailles und im Frieden von Riga 1921 verloren gegangen waren, nachdem der Vor- stoß der Roten Armee nach Westen bei Warschau gestoppt worden war. Doch zurück in den Herbst 1939. Die Moskauer Dokumente werden sig- niert. In der Sowjetunion wird auf deutschen Wunsch ein rasanter Ratifizie- rungsprozess in Gang gesetzt – die Delegierten des Obersten Sowjet müssen eilends aus allen Landesteilen nach Moskau beordert werden, während Hitler seit dem Ermächtigungsgesetz vom März 1933 derlei Verfahren nicht mehr benötigt, alleinverantwortlich völkerrechtliche Vereinbaungen »ratifizieren« kann. Auf deutscher Seite müssen aber alle Beamten und Angestellten, die vom »Geheimen Zusatzprotokoll« Kenntnis erhalten haben, eine besondere, strenge Geheimhaltungsverpflichtung abzeichnen. Hitler vollzieht nun, was er am 22. August – mit dem unmittelbar bevorstehenden Paktschluss als Trumpf- karte – seiner versammelten Generalität angekündigt hatte: »Ich werde propagandistischen Anlass zur Auslösung des Krieges geben, gleichgültig, ob glaubhaft. Der Sieger wird später nicht gefragt, ob er die Wahrheit gesagt hat oder nicht. Herz verschließen gegen Mitleid. Brutales »Herz verschließen gegen Mitleid. Brutales Vorgehen« 251

Vorgehen. 80 Millionen Menschen müssen ihr Recht bekommen. Ihre Exis- tenz muss gesichert werden. Der Stärkere hat das Recht. Größte Härte …« Diese vom Rassen- und Raumwahn bestimmten Äußerungen Hitlers verweisen bereits auf den enthemmten Charakter des Krieges, der mit dem Einmarsch der deutschen Truppen in Polen am Freitag, dem 1. September beginnt und für den der durch Heydrichs SS unter dem zynischen Codenamen »Konser- vendose« mit KZ-Häftlingsleichen in polnischen Uniformen fingierte »polni- sche« Überfall auf den Sender Gleiwitz den angekündigten »Anlass« liefern wird. Hinter den Kulissen nimmt sofort und parallel dazu eine erstaunlich in- tensive und reibungslose deutsch-sowjetische Kooperation ihren Anfang. Hit- ler erklärt Goebbels, man knüpfe darin an die Bismarckzeit an. Das war nicht einmal ganz falsch. Jedenfalls wird im AA und in der deutschen Botschaft in Moskau in diesen Wochen und Monaten immer wieder Bismarcks Satz zu- stimmend zitiert, den Ribbentrop nach seiner Rückkehr aus Moskau in seinem Kommuniqué verwendet hatte, bzw. der ihm hineingeschrieben worden war: »Deutschland und Russland ist es früher immer schlecht gegangen, wenn sie Feinde waren, aber gut, wenn sie Freunde waren.« In der kleinen deutschen Mannschaft an der Botschaft in Moskau ist diese Einschätzung weit verbreitet, ergänzt um die »Rapallo-Tradition«. Lange waren Hitler diese Überlegungen fremd und fern. 1934, als der damalige Bot- schafter des Deutschen Reiches in Moskau, Rudolf Nadolny, ihm freimütig und unverblümt rät, sich mit dem bolschewistischen Russland zu verständi- gen, wird er ihn noch anbrüllen: »Mit diesen Schweinen paktiere ich nicht!« Nadolny, der in Groß-Stürlack bei Lötzen geboren und auf dem elterlichen Gutshof aufgewachsen war, antwortete kühl und selbstbewusst: »Ich bin der Sohn eines Landwirts und halte Schweine für überaus nützliche Tiere« – wie Jörg von Uthmann in seinem Band Die Diplomaten erzählt. Nadolny schied bald darauf freiwillig aus dem diplomatischen Dienst aus, weil er mit der antisowjetischen Ausrichtung der deutschen Außenpolitik unter Hitler nicht einverstanden war und diese nicht mehr mittragen mochte und wurde – Land- wirt auf Gut Briesen im Kreis Templin in der Uckermark und auf dem Obstgut Katharinenhof bei Gransee, wo er den Krieg überlebte. Die deutsch-sowjeti- sche Verständigung trieb ihn um bis an sein Lebensende 1953, als er in Rhön- dorf bei Bonn starb. Den 1939 in Moskau tätigen Botschafter Friedrich Werner Graf von der Schulenburg – er war zusammen mit von Hassell einer der ersten aus dem illustren Kreis der hohen Beamten des AA gewesen, der in die NSDAP einge- treten war und wird nach dem 20. Juli 1944 ebenso wie von Hassell als Mann 252 Fallstudie: Deutsch-sowjetische Beutepartnerschaft des Widerstands hingerichtet werden – verbindet eine klare Kontinuitätslinie mit seinen Vorgängern von Brockdorff-Rantzau, von Dirksen und Nadolny. Auch ihn treibt die Verbesserung der Beziehungen um. Das gilt ebenfalls für seine engsten Mitarbeiter Gustav Hilger, der als versierter Dolmetscher bei allen Verhandlungen Ribbentrops mit Stalin und Molotow dabei ist, für Hans- Heinrich Herwarth von Bittenfeld und Militärattché Ernst Köstring. Sie alle stehen in dieser Tradition, bewerten Stalins Wirken ambivalent und nicht aus- schließlich kritisch. Vom millionenfachen Mord an den Kulaken wissen sie wenig, die Gulag-Welten sind ihnen weitgehend verborgen geblieben, aber das Grauen der tausendfachen Schauprozesse und Todesurteile ist ihnen trotz aller raffinierter sowjetischer Presselenkung und Steuerung der öffentlichen Meinung nur zu präsent. Dennoch sehen und würdigen sie die Leistungen und Fortschritte der Stalin-Zeit, halten deren Schattenseiten, gerade weil sie ihre Ausmaße nicht wirklich einschätzen können, für die brutalen, aber un- vermeidlichen Begleiterscheinungen einer entschlossenen Modernisierung. Daneben gibt es in der Botschaft noch Männer wie den stellvertretenden Leiter der handelspolitischen Abteilung, Gerhard Kegel, der offiziell Mitglied der NSDAP, insgeheim aber auch der verbotenen KPD gewesen ist und für den Diktator in Moskau spionierte. Kegel, 1941 in die Zentrale nach Berlin zurückbeordert und von Hitler zum Legationssekretär befördert, sollte als SED-Mitglied in der Anfangsphase der DDR maßgeblich am Aufbau des Mi- nisteriums für Auswärtige Angelegenheiten mitwirken. Von 1955 bis 1972 war er außenpolitischer Berater Walter Ulbrichts im ZK der SED, von 1973 bis 1976 DDR-Botschafter bei der UNO in Genf. Eine bemerkenswerte deut- sche Diplomaten-Karriere, die aber nicht nach Bonn, sondern nach Ost-Berlin führt – und für die man sich im Umfeld der Historikerkommission kaum in- teressierte. Das ist bei einem weiteren Mitglied der Botschaft ganz anders. Herwarth, als »jüdischer Mischling zweiten Grades« ein nicht durchweg »arischer« deut- scher Diplomat im Sinne der Nürnberger Rassegesetze, wird durch die Amts- leitung in Berlin geschützt und im diplomatischen Dienst be- und gehalten. Noch dazu auf dem damals besonders wichtigen Posten – in Moskau. Er hat zweimal, 1938 und 1939 – kurz vor Beginn des Krieges – den Kontakt zu sei- nen amerikanischen Kollegen, u.a. zu Chip Bohlen gesucht, um diese vor Hit- lers Expansionsgelüsten zu warnen. Man könnte ihn sogar als bedeutsamen Top-Spion bezeichnen, denn er ist es, der Bohlen sogleich nach Abschluss des Paktes den Inhalt des Geheimen Zusatzprotokolls übermittelt und damit die brutalen Details der deutsch-sowjetischen Beutepartnerschaft frühzeitig ge- Zwischen Hitler und Stalin: Die letzte Stunde der Diplomaten 253 genüber den USA enthüllt. Seit der Edition der amerikanischen Akten ist das bekannt, worüber weder Bohlen noch Herwarth selbst bis ins hohe Alter hi- nein viel Aufhebens gemacht haben. Nach Kriegsbeginn wird Herwarth bald eingezogen und ab 1943 als politischer Offizier im Stabe des Ostheeres unter Köstring eingesetzt, dem er sich seit der Moskauer Zeit verbunden fühlt – und er wird zum Umfeld der militärischen Verschwörer des 20. Juli gehören. Le- diglich durch die Tapferkeit und Verschwiegenheit seiner verhafteten Freunde wird er selbst vor Verhaftung und Hinrichtung bewahrt. Über die bayerische Staatskanzlei und das Bundeskanzleramt wird er Anfang der fünfziger Jahre zunächst als Protokollchef wieder ins Auswärtige Amt kommen – unterbro- chen von einem vierjährigen Abstecher ins Bundespräsidialamt als Heinrich Lübkes erster Staatssekretär. Weil er sich intern gegen eine zweite Amtszeit die- ses gesundheitlich angeschlagenen Präsidenten ausspricht, kehrt er 1964 wieder in den diplomatischen Dienst zurück, wird Botschafter in Rom und anschlie- ßend von 1971 bis 1977 Präsident des Goethe-Instituts. Er hat über sein wech- selvolles Leben zwei Bücher geschrieben – Zwischen Hitler und Stalin und Von Adenauer zu Brandt, denen diese Hinweise entnommen sind. Herwarth steht gänzlich verquer zum »Raster« der Historikerkommission. Ihm wird die dor- tige, seltsam hämische Darstellung überhaupt nicht gerecht. Doch zurück zu unserem Kernthema hier: Die beiden Diktatoren, die sich persönlich nie begegnen und kennenlernen sollten, auch wenn sie, wie Florian Illies jüngst hervorgehoben hat, im Januar 1913 womöglich zur selben Zeit im Garten von Schloss Schönbrunn spazieren gingen, benötigen jetzt die in- tensiven Vermittlerdienste ihrer Diplomaten – zum letzten Mal, denn je länger der Krieg dauert, desto geringer wird die Bedeutung der Diplomatie, nicht zuletzt und gerade der deutschen, die bald auf Handreichungen bei der mör- derischen europaweiten Judenjagd herabsinken wird, von den zentralen Ent- scheidungen und Weichenstellungen dagegen zunehmend ausgeschlossen bleibt. Hitler hat keinen Bedarf mehr für die verachteten Diplomaten, die ihm wie die Juristen eigentlich ohnehin überwiegend als lästige Bedenkenträ- ger und Bremser erscheinen, allenfalls nützlich, solange sie daran mitwirkten, das Ausland zu beschwichtigen, in Sicherheit zu wiegen und über die gewaltige deutsche Aufrüstung und seine geheimen Kriegspläne zu täuschen. Im Herbst 1939 profitiert er allerdings von der intensiven diplomatischen Aktivität der deutschen Gesandtschaft in Moskau. Tatsächlich gibt TASS auf geheime deutsche Bitte am 30. August bekannt – Polen hat inzwischen die Generalmobilmachung ausgerufen –, dass die UdSSR keineswegs 200.000 bis 300.000 Mann zur Verstärkung der fernöstlichen Grenzen abgezogen, sondern 254 Fallstudie: Deutsch-sowjetische Beutepartnerschaft im Gegenteil »das sowjetische Kommando beschlossen habe, den zahlenmä- ßigen Bestand der Garnisonen an den westlichen Grenzen der UdSSR zu ver- stärken«. Das erinnerte tatsächlich stark an die russische »Hilfe« für Bismarck während der Einigungskriege. Zufrieden kann Schulenburg schon am 6. Sep- tember nach Berlin telegrafieren: »Presse hier wie umgewandelt. Angriffe auf Haltung Deutschlands haben nicht nur völlig aufgehört, sondern auch Darstellung außenpolitischer Vor- gänge fußt vorwiegend auf deutschen Nachrichtenquellen, aus Buchhandel wird antideutsche Literatur entfernt u.a.« Bei der militärischen Zusammenarbeit wird angeknüpft an die geheime Kooperation zwischen Reichswehr und Roter Armee, die einst Anfang der zwanziger Jahre von Hans von Seeckt eingeleitet worden war, um die Entwaff- nungsbestimmungen des Versailler Vertrages umgehen und die neue, verbotene deutsche Luft- und Panzerwaffe aufbauen und testen zu können. Erst Hitler hatte diese geheime Kooperation einschlafen lassen. Schlüsselfigur auf deut- scher Seite ist der in Moskau geborene, in Russland aufgewachsene, Russisch wie seine Muttersprache beherrschende Militärattaché in Moskau, der auf sowjetischer Seite hoch angesehene General Ernst Köstring, der einst Seeckts Adjutant und dann der Nachfolger Oskar Ritter von Niedermayers als Verbindungsoffizier zur Roten Armee gewesen war. Im Mai 1941, in jenem Frühjahr zwei Jahre später, als die Worte von Hitler in den deutschen Füh- rungsstäben in Berlin und auch an der deutschen Botschaft in Moskau kur- sierten, die Sowjetunion sei lediglich ein Koloss auf tönernen Füßen, wird er sich, höchst alarmiert, zusammen mit Botschafter Schulenburg, Botschaftsrat Gustav Hilger und dem stellvertretenden Botschaftsrat Kurt von Tippelskirch in einem Memorandum entschieden gegen einen Krieg mit der Sowjetunion aussprechen – vergeblich, wie wir heute wissen. Köstring ist eine der Schlüsselfiguren, über welche die nach dem Paktschluss rasch intensivierte deutsch-sowjetische Kooperation abläuft. Er ist es, der am 31. August 1939 die Bitte des Chefs des Generalstabs der deutschen Luftwaffe, Generalleutnant Martini, an das Volkskommissariat für Telegraphie weiterlei- tet, dass der Sender Minsk den deutschen Flugzeugen für ihre Angriffe auf Polen in den Nacht- und frühen Morgenstunden Navigationshilfen gibt, wäh- rend Goebbels und vermutlich auch die polnische Seite Anweisung gegeben haben, einen Teil der eigenen Sender aus militärischen Gründen abzuschalten. Die bezeichnende Antwort aus Moskau lautet: »Sowjetregierung ist gerne bereit, Wünschen dergestalt entgegenzukom- men, dass Rundfunksender Minsk im Laufe des Programms, das zu diesem Die UdSSR: ein Koloss auf tönernen Füßen 255

Zweck um zwei Stunden verlängert werden könnte, möglichst oft das Wort ›Minsk‹ sendet. Sie bittet anzugeben, ob hierfür bestimmte Zeiten beson- ders erwünscht sind. Darüber hinausgehende Rufzeichen möchte Sowjet- regierung jedoch unterlassen, um Aufsehen zu vermeiden.« Die deutsch-sowjetische Beutepartnerschaft hat an diesem 1. September 1939 begonnen – die Aktensammlungen des Auswärtigen Amtes sind übervoll von bizarren Spurenelementen und Belegstücken dafür, denn in dieser Phase sind die Vermittlerdienste der Diplomaten noch einmal für kurze Zeit gefragt – als Boten, Zwischenträger und Mittler zwischen den beiden Diktatoren und deren militärischen Stäben. Auch die Sowjetunion bereitet sich jetzt – wenn auch eher überstürzt und hektisch – auf den Einmarsch in Polen vor, führt an diesem Tag bereits die allgemeine Wehrpflicht ein, wird innerhalb von knapp drei Wochen rund drei Millionen Soldaten und Offiziere zu den Waffen rufen, beginnt, die eigenen Aufmarschpläne festzulegen, den großen, schwerfälligen militärischen Apparat in Bewegung zu setzen. Stalin schickt zudem sogleich eine geheime hochrangige Militärdelegation nach Berlin, angeführt von General Maxim Alexejewitsch Purkajew, einem alt- gedienten, loyalen Offizier, im russischen Bürgerkrieg Bataillonschef, der in der Zeit der sowjetischen Staatsmorde 1938 zum Chef des Stabes des Weiß- russischen Militärbezirks aufgestiegen war. Diese Delegation, die die Wege für die streng geheime militärische Zusammenarbeit mit der deutschen Seite fixie - ren soll, wird in Schweden am 1. September von einer Maschine der Luftwaffe abgeholt – Hitler selbst ordnet für ihren Empfang in Berlin eine Ehrenkom- panie an. Vorsorglich lässt Molotow – über die deutsche Botschaft in Moskau – am 2. September allerdings wissen, »dass Sowjetregierung ankündigende Notiz in deutscher Presse über Ankunft der Sowjetoffiziere in Berlin aus Gründen von deren Sicherheit nicht für zweckmäßig hält«. Nein, zuviel Aufsehen soll diese ebenso überraschende wie zügig immer enger ausgestaltete Kooperation zwischen den beiden totalitären Regimen denn doch nicht erregen – die restliche Welt braucht davon wirklich nichts zu wissen. Ribbentrop, mit Sicherheit nicht in alle Details der militärischen Kooperation eingeweiht, beauftragt am 3. September Schulenburg in Moskau, bei Molotow darauf zu drängen, »dass russische Streitkräfte sich zur gegebenen Zeit gegen polnische Streitkräfte in Bewegung setzen und das Gebiet ihrerseits in Besitz nehmen«. Überdies will er wissen, »ob wir diese Sache mit hier an- gekommenen Offizieren besprechen können und wie deren Stellung über- haupt von der Sowjetregierung gedacht ist?« Molotow antwortet einen Tag später, dass Purkajew ebenso wie der Nachfolger Astachows, der gerade neu 256 Fallstudie: Deutsch-sowjetische Beutepartnerschaft ernannte Sowjetbotschafter A. A. Schkvartzev mindestens »in großen Zügen in das Wesen der deutsch-sowjetischen Abmachungen eingeweiht« sei. Trotz- dem bitte er, alle wichtigen Fragen nach wie vor nur mit ihm an der Urquelle zu behandeln.« Ein wichtiger Hinweis. Das Geheime Zusatzprotokoll war ver- mutlich selbst in Moskau wirklich nur ganz wenigen bekannt. Dem deutschen Drängen auf einen raschen Einmarsch in Polen, der deut- sche Verluste minimieren helfen könnte – die polnische Armee galt ja als eine der besten Europas, das Land hatte in den dreißiger Jahren bis zu 50 Prozent seines Etats für Rüstung investiert, wenn auch mit wenig nachhaltiger Wir- kung, wie sich bald zeigen sollte – setzen Molotow und Stalin entgegen, der »Zeitpunkt« für den sowjetischen Einmarsch sei leider noch nicht »herange- reift«. Im Kreml spielt man notgedrungen noch etwas auf Zeit. Der deutsche Angriff war für die Spitzen der Roten Armee schlichtweg zwei Wochen zu früh erfolgt. Die Einsatzpläne für die über 620.000 Soldaten, rund 4.700 Pan- zer und etwa 3.300 Kampfflugzeuge der Sowjetarmee – das entsprach etwa der Hälfte der deutschen Truppenstärke – liegen nicht fertig in den Schubla- den. Sie müssen jetzt erst sehr rasch ausgearbeitet werden, Improvisation ist gefragt. Hinzu kommt: Je stärker die Wehrmacht die polnische Armee bis zum eigenen Einmarsch schwächt, desto besser natürlich für die nachziehende Rote Armee. Allerdings rücken die deutschen Truppen unerwartet schnell vor. Das wiederum ist nicht gut. Würde Hitler überhaupt noch die Beute teilen, wenn sie schon vollständig durch seine Truppen erobert worden wäre? Im Kreml ist man darüber durchaus besorgt. Und macht beim neuen Part- ner durch Signale der Bewunderung »gut Wetter«. Nachdem er am 9. Septem- ber erfahren hatte, dass deutsche Truppen bereits den Stadtrand von Warschau erreicht hatten – bis zur Kapitulation der Stadt nach erbitterten Kämpfen und großen Verwüstungen durch deutsche Luftangriffe sollte es noch bis zum 28. September dauern – lässt Molotow nach Berlin mitteilen: »Übermitteln Sie der Reichsregierung meine Glückwünsche und Grüße!« Ein knappes Jahr spä- ter, nach dem deutschen Einmarsch in Paris wird Molotow am 18. Juni 1940 abermals über Botschafter Schulenburg »wärmste Glückwünsche der Sowjet- regierung zu dem glänzenden Erfolg der deutschen Wehrmacht« nach Berlin übermitteln lassen. An solche Telegramme mag sich nach 1941, bzw. 1945 auf sowjetischer Seite niemand mehr erinnern, aber es hat sie tatsächlich gegeben. Doch zurück zum ersten Monat des Zweiten Weltkrieges. Einen Tag nach den Moskauer Glückwünschen kommt es zu einer entscheidenden Unterre- dung zwischen Molotow und dem deutschen Botschafter. Der sowjetische Au- ßenminister räumt ein, dass die »Sowjetregierung durch unerwartet schnelle Sowjetischer Einmarsch in Polen ohne britisch-französische Kriegserklärung 257 deutsche militärische Erfolge völlig überrumpelt« worden sei und die eigenen Militärs dadurch in eine schwierige Lage gebracht worden wären, weil sie ei- gentlich zur logistischen Vorbereitung des eigenen Angriffs noch »etwa 2–3 Wochen brauchten«. Schulenburg drängt aber weisungsgemäß weiter auf »schnelles Handeln der Roten Armee«. Anschließend wird erstaunlich offen und freimütig über die politische Be- gründung und (Schein-)Legitimation für den sowjetischen Einmarsch gespro- chen. Wie soll man ihn der Weltöffentlichkeit, den in Moskau versammelten Gesandten, aber auch Journalisten aus aller Herren Ländern erklären, begreif- lich machen? Im Kreml will man nicht zu offen an die Seite der Deutschen treten, will diese aber auch nicht verletzen. Eine schwierige Gratwanderung, zumal man auf sowjetischer Seite eine bemerkenswerte Variante für die Be- gründung ausbaldowert hat. Molotow erklärt Schulenburg ungeniert, seine Regierung beabsichtige, »das weitere Vordringen deutscher Truppen zum An- lass zu nehmen, um zu erklären, dass Polen auseinanderfalle und Sowjetregie- rung infolgedessen genötigt sei, den von Deutschland ›bedrohten‹ Ukrainern und Weißrussen zu Hilfe zu kommen. Mit dieser Begründung solle den (in- ternationalen) Massen und der internationalen Presse das Eingreifen der Sow- jetunion plausibel gemacht und gleichzeitig vermieden werden, dass Sowjetunion als Angreifer erscheint.« In jedem Fall dürfe Deutschland aber keinesfalls einen raschen Waffenstillstand mit Polen schließen – weil »die Sow- jetunion nicht einen neuen Krieg beginnen« und sozusagen nach dem Waf- fenstillstand noch den eigenen Überfall einleiten könne. Ein tolles Beispiel für sowjetische Dialektik: Insgeheim ist man bereits aufs Engste mit dem deutschen Angreifer verbündet, stimmt sich ab, kooperiert – und nimmt gleichzeitig den deutschen Angriff zum Vorwand für die eigene Intervention. Begründet alles obendrein – darin Hitler kopierend – mit Pro- blemen von Minderheiten, um die man sich wenige Wochen und Monate zuvor noch keinen Deut gekümmert hat. Dann bittet man auch noch insge- heim die Deutschen, mit dem »Endsieg« in Polen zu warten, damit die Rote Armee nicht einmarschieren muss, wenn die deutsche Besatzungsmacht schon fest etabliert ist und der Einmarsch damit viel stärker auffällt. Das alles ist schon eine schier unglaubliche Geschichte. Bereits am 14. September signalisiert Molotow, dass die Marschbereitschaft der Roten Armee nun tatsächlich wesentlich früher als ursprünglich angenom- men habe erreicht werden können. Allerdings solle der Einmarsch-Befehl mit Blick auf die politische Begründung erst dann erfolgen, wenn das Regierungs- zentrum Polens gefallen ist – »Molotow bat daher, ihm so annähernd genau 258 Fallstudie: Deutsch-sowjetische Beutepartnerschaft wie möglich mitzuteilen, wann mit Einnahme Warschaus zu rechnen ist«, be- richtet Schulenburg nach Berlin. Doch diese Forderung ist bald vom Tisch. Ribbentrop zeigt sich in seiner Antwort zufrieden, dass die »Sowjetregierung endlich im Begriff ist, ihre Aktion jetzt einzuleiten. Wir begrüßen das. Sowjet - regierung enthebt uns damit der Notwendigkeit, die Reste der polnischen Armee durch Verfolgung bis an die russische Grenze zu vernichten.« Allerdings ist man in Berlin, wen wunderts, nicht einverstanden mit der Begründung – »eine Bedrohung der ukrainischen und weißrussischen Bevölkerung durch Deutschland« als Vorwand zu nehmen, sei schlichtweg »unmöglich«; das würde »im Gegensatz zu dem beiderseitigen Wunsch nach Herstellung freund- schaftlicher Beziehungen Deutschland und die UdSSR vor der Welt unmit- telbar als Gegner in Erscheinung treten lassen«. Das genau war aber der Kern des raffinierten sowjetischen Verschleierungsmanövers. Molotow hatte nicht ohne Grund Schulenburg gegenüber am 16. September eingeräumt, dass diese Begründungskette, die in einer Note Polen und allen in Moskau akkreditierten Diplomaten vorgetragen werden sollte, »für das deutsche Empfinden einen kleinen Schatten enthalte, bat aber im Hinblick auf die schwierige Lage der Sowjetregierung, über diesen Strohhalm nicht zu stolpern«. Am 17. September wird Schulenburg um zwei Uhr Nachts zu Stalin in den Kreml gerufen. Im Beisein von Molotow und Woroschilow eröffnet der Dik- tator dem deutschen Botschafter, dass die Rote Armee vier Stunden später die Grenze zu Polen auf der Linie von Polozk bis Kamenec-Podolsk überschreiten werde. Er bittet dringend, dass Flugzeuge der deutschen Luftwaffe die Linie Bialystok-Brest-Litowsk-Lemberg nicht mehr überfliegen, signalisiert, dass eine sowjetische Militärkommission zur Feinabstimmung mit den deutschen Stäben bereits am nächsten, spätestens übernächsten Tag in Bialystok eintref- fen werde, regt überdies an, alle unmittelbar auftauchenden militärischen Fra- gen zukünftig auf oberster Ebene zwischen Woroschilow und Generalleutnant Köstring zu regeln. Schließlich ändert Stalin auch noch auf Einwände Schu- lenburgs hin in der offiziellen sowjetischen Note an die diplomatischen Ver- tretungen »drei für uns unangenehme Stellen bereitwilligst« ab und stellt die Herausgabe eines gemeinsamen deutsch-sowjetische Kommuniqués in einigen Tagen in Aussicht. Hinter den Kulissen herrscht also weiter nationalsozialis- tisch-sowjetischer Honeymoon. Zur propagandistischen »Legitimation« des Einmarsches, bei dem er sich kalt über den eigenen sowjetischen Nichtangriffspakt mit Polen hinwegsetzt, präsentiert Stalin dem diplomatischen Korps und den Pressevertretern in einer Note das zuvor mit dem deutschen Geschäftsträger abgestimmte Argumenta- Winston Churchill: Territorialgewinne »by force and fraud« 259 tionspaket, das Goebbels in seinem Tagebuch voll professioneller Bewunde- rung »sehr originell« nennen wird. Stalin operiert weiter mit dem für die Sow- jetunion bedrohlichen Zerfall des Nachbarstaates – dass der polnische Staatspräsident Moscicki und die polnische Regierung an diesem 17. Septem- ber nach Rumänien flüchten, kommt ihm dabei durchaus zupass – und mit der Schutzbedürftigkeit der »blutsmäßig verwandten Ukrainer und Weißrus- sen«, die nunmehr zwar nicht der »Willkür der Deutschen«, sondern der »Willkür des Schicksals« wehrlos ausgeliefert seien und behauptet ansonsten in einer unfassbar dreisten Lüge die »volle Wahrung der Neutralität im gegen- wärtigen Konflikt«. Die Note schließt mit einer Wendung, die an Zynismus kaum zu überbieten ist: »Gleichzeitig beabsichtigt die Sowjetregierung alle Maßnahmen zu treffen, um das polnische Volk aus dem unglückseligen Krieg herauszuführen, in den es durch seine unvernünftigen Führer gestürzt wurde und ihm die Möglichkeit zu geben, sein friedliches Leben wieder aufzunehmen«. Es ist der gleiche Zynismus, mit dem Stalin im Sommer 1944 die Rote Armee vor Warschau halten lässt, um zuzusehen, wie die polnischen Aufständischen von Wehrmacht und SS niedergemacht werden, weil dem sowjetischen Dik- tator nicht an Befreiung, sondern an anhaltender Schwächung der Polen ge- legen ist. Der sowjetische Einmarsch im Herbst 1939 in Ostpolen war dennoch eine gewagte Operation. Um ein Haar nur, betonte Jakowlew in seiner bereits er- wähnten Rede 1989, sei die UdSSR damals einem »Aufeinanderprallen« mit England und Frankreich entgangen. Um ein Haar – und umso wichtiger war die Begründung für den Einmarsch gewesen. Tatsächlich muss man fragen, weshalb England nicht auch der Sowjetunion unverzüglich den Krieg erklärte wie Deutschland vierzehn Tage zuvor? Weshalb der internationale Protest jetzt überhaupt überaus schwach und halbherzig, ja eigentlich kaum vernehmlich ausfällt, die UdSSR erst im Dezember 1939 nach dem Überfall Finnlands als Aggressor verurteilt und aus dem Völkerbund ausgeschlossen wird? Weil Stalin seine Truppen im Windschatten Deutschlands oder besser hinter dem Eiser- nen Vorhang von Wehrmacht und SS operieren ließ – und weil die geschickt gewählten, tarnenden Begründungen offensichtlich verfingen, weil sie den In- teressen der Westmächte massiv entgegenkamen. Winston Churchill hat das Spiel durchschaut. In seiner epochalen Welt- kriegsgeschichte, die ihm 1953 den Literaturnobelpreis eintragen sollte, be- merkt er, die Sowjets hätten sich 1939 ihre osteuropäischen Territorialgewinne angeeignet »by force and fraud« (mit Gewalt und Betrug). Allerdings blieb für 260 Fallstudie: Deutsch-sowjetische Beutepartnerschaft ihn, der mit Kriegsbeginn ins britische Kabinett eintreten, nach Beginn des deutschen Angriffs im Westen im Mai 1940 britischer Premier werden wird, Hitler und Nazi-Deutschland stets der Hauptfeind – »the main immediate enemy«. Auch noch der UdSSR nach deren Einmarsch den Krieg zu erklären, überstieg selbst die britischen Kräfte bei weitem, während in Frankreich für die starke Linke die Sowjetunion trotz des überraschenden Paktes mit Hitler per se durchweg eine »gute Macht« war und blieb, ganz anders als Nazi- Deutschland. Außerdem entsprach die am 22. September offiziell vorgesellte deutsch-sowjetische Demarkationslinie – die insgeheim ja schon am 23. August verabredet worden war – in etwa jener Linie, die eine Kommission unter Lord Curzon 1919 als ethnisch angemessene Ostgrenze Polens bezeichnet hatte. Churchill setzte daher auf die Hoffnung, die unnatürliche deutsch-sowje- tische Allianz werde nicht von Dauer sein. Irgendwann würde und müsste es England gelingen, die Sowjetunion als Verbündeten zu gewinnen und ins ei- gene Lager herüberzuziehen. Dass er, als es soweit war, Stalins »Beute« in Polen und im Baltikum garantierte, dass er sogar noch weitere Teile Mittel- und Ost- europas der sowjetischen Hegemonialsphäre zuschlagen und damit über Jahr- zehnte hinweg der kommunistischen Verarmungsdiktatur ausliefern sollte, steht auf einem andern Blatt. Der sowjetische Einmarsch war dennoch für alle politisch Interessierten der zweite Schock nach dem Hitler-Stalin-Pakt. Das Geheimnis des Zusatz- protokolls kannten selbst im deutschen OKW nur wenige. Als General Jodl mitgeteilt wurde, die Rote Armee habe mit ihrem Vormarsch begonnen, fragte er ganz konsterniert: »Gegen wen denn?« Roman Frister und andere vor den deutschen Truppen nach Ostpolen geflohene Juden haben von ihrem tiefen Entsetzen berichtet, als sich herausstellte, dass die Soldaten der Roten Armee nicht als die ersehnten Befreier und Beschützer, sondern als brutale Besatzer und Verbündete der Wehrmacht einrückten, die ihre Panzer auf die Reste der polnischen Armee feuern ließen. Am 18. September kommt es abermals zu einer nächtlichen Unterredung zwischen Stalin und Schulenburg im Kreml, wo erneut über gemeinsame mi- litärische Kommissionen in Bialystok und gemeinsame Presseerklärungen be- raten wird. Bei dieser Gelegenheit äußert Stalin seine Sorge, ob die deutschen Truppen sich tatsächlich an die vereinbarten neuen Grenzen halten würden, weil es »eine bekannte Tatsache« sei, »dass alle Militärs eroberte Territorien nicht gern räumten« – eine bittere Erfahrung, die die Staaten Osteuropas mit der Roten Armee ab 1945 noch machen sollten. Aber im Falle der Wehrmacht trafen diese Befürchtungen nicht zu. Hitler hielt sich bis zum 22. Juni 1941 »Es war ganz wie unter Parteigenossen« 261

»Es war ganz wie unter Parteigenossen ...«: Außenminister von Ribbentrop signiert am 28. September 1939 deutsch-sowjetische Zusatzvereinbarungen zur Beutepartnerschaft – im Hintergrund sein sowjeti- scher Amtskollege Molotow und Stalin. 262 Fallstudie: Deutsch-sowjetische Beutepartnerschaft präzise an die Vereinbarungen. Die Beutepartnerschaft wird in einem gehei- men Militärprotokoll fixiert, das Woroschilow und Köstring am 21. Septem- ber in Moskau unterzeichnen und wo es in Paragraf fünf heißt: »Falls deutsche Vertreter beim Kommando der Roten Armee Hilfeleistun- gen anfordern zwecks Vernichtung polnischer Truppenteile oder Banden, wird das Kommando der Roten Armee erforderlichenfalls die zur Vernich- tung der Widerstände nötigen Kräfte zur Verfügung stellen.« An diesem Tag nahmen die beiden Panzergeneräle Guderian und Kriwoschein in Brest-Litowsk die erste gemeinsame deutsch-sowjetische Militärparade in Polen ab. Feierlich wurden Hakenkreuzfahne und Rote Fahne ausgetauscht und ganz selbstverständlich wurden versprengte, bzw. verwundete, zwischen- zeitlich von sowjetischen Ärzten versorgte Wehrmachtsoldaten übergeben. Die junge Allianz wird am 28. Sepember, nachdem die polnische Nieder- lage feststeht, um einen deutsch-sowjetischen »Grenz- und Freundschaftsver- trag« und zwei weitere streng geheime Zusatzvereinbarungen ergänzt, die u.a. eine geheimdienstliche Kooperation zur Ausschaltung der polnischen Agita- tion fixieren. Litauen fällt jetzt nach kurzer telefonischer Rücksprache mit Hitler – Stalin dazu: »Hitler versteht sein Handwerk« – an die UdSSR, die am gleichen Tage noch im Baltikum erste Schritte einleitet, etwa die estnische Regierung zwingt, die Stationierung sowjetischer Truppen zuzulassen. Binnen Jahresfrist werden Estland, Lettland und Litauen Sowjetrepubliken sein, Bes- sarabien und die Bukowina von der Roten Armee besetzt, einem Schicksal, dem Finnland nur mit knapper Not und um den Preis eines blutigen Winter- krieges entkommt. Hitler erhält im Gegenzug des territorialen Geschachers die Woiwodschaften Lublin und Warschau. Ribbentrop ist für den neuerlichen Vertragsabschluss eigens wieder nach Moskau gereist. Die Stimmung im Kreml ist ausgelassen, das abendliche Diner im prächtigen Andrejewski-Saal umfasst 24 Gänge. Es servieren jene Kellner aus dem berühmten Hotel Monopol, die nur wenige Jahre später, im Februar 1945, auch Churchill und Roosevelt in Jalta bedienen werden. Der rote Dik- tator bringt, Molotow zuzwinkernd, einen Toast aus: »Trinken wir auf den Komintern-Gegner Stalin«. Anschließend fordert er Ribbentrop auf, sein Glas auf Kaganowitsch, den stellvertretenden Vorsitzenden im Rat der Volkskom- missare zu erheben – einen Juden. Ein »Spaß« so ganz nach Stalins Gusto. Aber Ribbentrop macht mit und will sich im Übrigen in diesem Kreise durchaus wohl gefühlt haben. Als er nach seiner Rückkehr nach Berlin von Hitlers En- tourage gefragt wird, wie es denn bei seinem zweiten Besuch im Kreml gewesen sei, antwortet er sichtlich vergnügt: »Es war ganz wie unter Parteigenossen«. Mörderisches »Molotow-Ribbentrop-Europa« 263

Die Folgen des engen Zusammenwirkens der beiden europäischen Mas- senmordsysteme sind weitreichend – und für die Betroffenen in den neuen Be satzungsgebieten gleichermaßen fatal. Jörg Baberowski und Anselm Doe ring- Manteuffel haben in ihrem klugen kleinen Band Ordnung durch Terror – Ge- waltexzesse und Vernichtung im nationalsozialistischen und im stalinistischen Imperium bereits 2006 darauf hingewiesen. Und Timothy Snyder hat 2010 mit Bloodlands – Europa zwischen Hitler und Stalin ein eigenes großes Buch vorgelegt, hat, ohne allerdings detailliert auf die heimliche Anbahnung und Stabilisierung der Beutepartnerschaft im »Molotow-Ribbentrop-Europa« ein- zugehen, sehr sorgfältig über deren Auswirkungen, über das Martyrium der osteuropäischen Bevölkerung berichtet, als Truppen im Zeichen zweier un- terschiedlicher Weltanschauungen, die beide das Leben der Menschen zum Besseren zu wenden versprachen, sich massenmörderisch auf dem usurpierten Territorium zu entfalten begannen. Snyder hat etwa aufgezeigt, dass die nicht- jüdischen Polen unter der deutschen Besatzung im gleichen Maße litten wie unter der sowjetischen, ja, dass es aus Sicht der millionenfachen Opfer schreck- licherweise nicht entscheidend ist, von wem sie mit welcher ideologischen Rechtfertigung oder Begründung drangsaliert, massakriert, getötet werden – ob durch Hunger und Schwäche, die Kugel, die Eisenstange, den Strick, oder den Gipfel der Perfidie, das Gas. Entscheidend ist, dass ihnen die höchsten Güter von diesen – hier: deutschen wie sowjetischen – Tätern gleichermaßen genommen werden: die Freiheit und das Leben. Aus Sicht der Opfer, der millionenfach Geschundenen und Ermordeten und ihrer Angehörigen sind alle die ideologischen »Differenzierungen« letzt- lich ebenso zweitrangig wie die vielfältigen Mittel des Mordens – das gilt nicht nur für Osteuropa in Zeiten der deutsch-sowjetischen Beutepartnerschaft, das gilt für alle Zeiten und überall auf der Welt. Rafael Seligmann hat in diesem Zusammenhang schon vor Jahren klug und mitfühlend darauf hingewiesen, dass es keine Hierarchisierung der Opfer je nach Tötungsart geben kann und geben darf. Jedes Opfer ist ein Opfer zu viel und ist zu betrauern. Bereits am 6. September 1986 hatte Joachim Fest in diesem Zusammenhang festgestellt und gefragt: »Gewiss bedeuten die Gaskammern eine besonders abscheuerregende Form des Massenmords. Aber lässt sich tatsächlich sagen, dass jene Massenliqui- dierung durch Genickschuss, wie sie während des Roten Terrors über Jahre hin üblich waren, wirklich etwas qualitativ vollkommen anderes waren? Ist nicht, bei allen Unterschieden in der Technik des Mordens, das Vergleich- bare doch stärker?« 264 Fallstudie: Deutsch-sowjetische Beutepartnerschaft

Der Tag, an dem die Beutepartnerschaft endete und zugleich der Tag des letzten großen Auftritts des Reichsaußenministers Ribbentrop im Krieg: 22. Juni 1941. Nach der Verkündung vor der internationalen Presse (3.v.l.: Staatssekretär Ernst von Weizsäcker, in der Bildmitte am Tisch stehend: Ribbentrop, in sei- nem Rücken deutsche Diplomaten und Personal des AA, überwiegend in Zivil und nicht in SS-Uniform), dass sich das Deutsche Reich mit der UdSSR im »Kriegszustand« befinde, versinkt das Amt in der Bedeu- tungslosigkeit.

Diese Überlegungen durchziehen auch das Buch von Snyder. Allerdings rückt selbst bei ihm nicht vollumfänglich in den Blick, wie eng, wie »kooperativ« diese Beutepartnerschaft in der Anfangsphase ausgestaltet und diplomatisch- propagandistisch unterfüttert worden ist. Nach außen hin unterstützt die Sowjet union die nach dem Polenfeldzug einsetzenden Friedensbemühungen Hitlers massiv, erklärt – man reibt sich wirklich verblüfft die Augen, wenn man die Reden der sowjetischen Funktionäre aus dem Spätherbst 1939 nach- liest – Briten und Franzosen zu den eigentlichen und unermüdlichen Aggres- soren, weil sie tatsächlich für eine Fortsetzung des Krieges plädieren und nicht einlenken, keinesfalls auf der Basis der Eroberungen mit dem friedensbereiten Dritten Reich zu einer Verständigung kommen wollen. Molotow ruft am 31. Oktober 1939 vor dem Obersten Sowjet wörtlich aus, es sei von beiden West- mächten »nicht nur sinnlos, sondern auch verbrecherisch, einen Krieg zur ›Vernichtung des Hitlerismus‹ zu führen, getarnt als Kampf für die Demokra- tie«. Nach 1941, nach 1945 hätte man in Moskau solche Texte – und es gibt Kooperation der Terrororgane und geheime Flottenstützpunkte 265 noch zahlreiche weitere ähnliche Reden – am liebsten gelöscht, sie sind ja dann auch kaum je zitiert worden. Hinter dem im Nachhinein verblüffenden Propagandavorhang wird ab Ok- tober 1939 die militärische und geheimdienstliche Kooperation zwischen den beiden Diktaturen stark intensiviert. In den nächsten Monaten wird die Kriegsmarine von sowjetischer Seite geheime Flottenstützpunkte, etwa in der Nähe von Murmansk und Wladiwostok, eingeräumt bekommen und über sowjetische Versorgungsschiffe Betriebsstoffe für Kreuzer und U-Boote erhal- ten sowie die Möglichkeit zur permanenten Stationierung von deutschen »Werkstattschiffen«. Ein Jahr später wird sich die deutsche Kriegsmarine in aller Form für diese Hilfe bedanken, als sie den weit entfernten Stützpunkt Murmansk aufgibt, weil ihre Kriegsschiffe jetzt näher gelegene Häfen im mitt- lerweile besetzten Norwegen ansteuern können. Botschafter Schulenburg drahtet am 9. September 1940 entsprechend nach Berlin: »Auftrag ausgeführt. Molotow sprach seine Befriedigung aus, dass die Zurverfügungstellung« des »Stützpunktes für uns sehr nützlich gewesen sei«. Gestapo und NKWD beginnen gleichfalls auf schreckliche Weise zusam- menzuarbeiten. Die konkreten Verhandlungen über eine Rückführung von in der UdSSR befindlichen Reichsdeutschen, von Menschen, die vor Hitler und der Gestapo geflüchtet waren, beginnen bereits am 5. September 1939 mit Gesprächen zwischen dem deutschen Gesandtschaftsrat Schwinner, der schon bald einen direkten Draht zum NKWD-Funktionär Sobolew knüpfen und ausbauen wird und dem Leiter der Zentraleuropäischen Abteilung im Volks- kommissariat für Auswärtige Angelegenheiten, A. M. Alexandrow. Zwei Tage später wird über diese Thematik – wie Hans Schafranek in seiner Studie über die Auslieferung österreichischer Emigranten durch die Sowjetunion heraus- gearbeitet hat – auf einer noch etwas höheren Ebene beraten zwischen Botschaftsrat Werner von Tippelskirch und dem stellvertretenden Volkskom- missar des Äußeren, Wladimir Petrowitsch Potemkin. Am 14. Oktober 1939 wird dann Molotow in aller Form und ganz offiziell Schulenburg zusichern, dass die deutschen Forderungen auf Rücküberstellung prinzipiell vorbehaltlos und entgegenkommend behandelt würden. Bei dieser Gelegenheit wird eine erste Liste mit rund 480 Namen von deutscher Seite vorgelegt. Darüber hinaus werden bis Dezember 1939 bereits die Komman- deure von SiPO und SD in Warschau und Krakau durch das Reichssicher- heitshauptamt (RSHA) in Berlin angewiesen, sich mit den Vertretern des NKWD in Brest-Litowsk und Przemysl in Verbindung zu setzen, abzustim- men und einen reibungslosen Ablauf der »Transfers« sicherzustellen. Mehrere 266 Fallstudie: Deutsch-sowjetische Beutepartnerschaft hundert deutsche und österreichische Kommunisten werden von Stalin an Hitler ausgeliefert – KZ und Tod erwartet sie. Margarete Buber-Neumann, die als eine von ganz wenigen sowohl das stalinistische Gulag wie das NS-KZ durchleiden und überleben sollte, hat darüber nach dem Krieg in einem be- rührenden Band berichtet. Übergabepunkt ist immer Brest-Litowsk. Hier werden Menschen ebenso ausgetauscht wie die endlosen Warenmengen gemäß den immer weiter verfeinerten wechselseitigen Lieferverpflichtungen. Die Sowjetunion liefert bis zum 22. Juni 1941 verlässlich rüstungswichtige Rohstoffe, die sie zuvor teilweise selbst – so bedeutsam ist Stalin die Koope- ration mit Hitler – gegen wertvolle Devisen hat erwerben müssen. Vom Reich kommen Industriegüter, Baupläne für Produktionsanlagen, auch einige Rüs- tungsmaterialien. Zugleich drängt Stalin die Türkei, den Bosporus offenzu- halten, damit das Reich die britische Seeblockade leichter umgehen kann, während Hitler in Tokio im sowjetisch-japanischen Konflikt vermittelt. Die Beutepartnerschaft, die von Hitler eher notgedrungen eingegangen wurde und allenfalls von begrenzter Dauer sein sollte, erscheint Stalin als ziem- lich ideale Konstellation. Er überhört dabei allerdings so manchen Hilferuf aus Nazi-Deutschland, besonders denjenigen des seit März 1933 im KZ Bu- chenwald einsitzenden KPD-Führers Ernst Thälmann, der in Briefen aus der Haft immer verzweifelter auf den Austausch drängte. Stalin und der Komin- tern lag an »Teddy« Thälmanns Freilassung nichts, an seiner Rolle als Märtyrer dagegen umso mehr. Stalin überhört aber auch alle Warnungen seiner diversen Agenten und Spione vor einem deutschen Angriff, so substantiiert und präzise sie auch über die Pläne und den Aufmarsch deutscher Verbände an der ge- meinsamen Demarkationslinie, so detailgesättigt sie über die Entscheidungs- abläufe im fernen Berlin berichten mochten. Stalin verweist alles bis in den Sommer 1941 hinein in den Bereich der Fabel, hält, ständig Konspirationen witternd, selbst als die deutschen Geschütze bereits zu donnern beginnen, alles für ein gigantisches Täuschungsmanöver der Westalliierten, die ihn aus dieser Beutepartnerschaft mit Hitler herauslösen und in ihr Lager herüberziehen möchten. Als die Gewissheit eines deutschen Angriffs selbst im Kreml unum- stößlich feststeht, bekommt er einen Nervenzusammenbruch. Er wird krank, zieht sich über Tage hinweg aus der Öffentlichkeit zurück, lässt die Zügel zum Entsetzen seiner engsten Vertrauten kurzzeitig fahren. Die Kooperation mit Hitler war wohl einfach zu verlockend. Zu »erfolg- reich«. Sowohl in den deutschen Besatzungsgebieten – in den neuen »Reichs- gauen« Wartheland und Danzig-Westpreußen und im dem Reich nicht unmittelbar angeschlossen Generalgouvernement – wie in der sowjetisch be- Zwei Kulturen des Hasses und der Xenophobie 267 setzten Zone setzten im Zuge von »Germanisierung«, bzw. »Bolschewisierung« gewaltige Menschenjagden und -verschiebungen ein. Viehwaggons kommen hier wie dort zum Einsatz. Sowohl von deutscher wie von sowjetischer Seite werden Geistliche, Offiziere, Adlige, Intellektuelle verschleppt oder ermordet, um Polen im Kern zu vernichten. Beide Seiten begründen ihre Maßnahmen als unerlässlich notwendig für das Wohl und den Erhalt ihrer jeweiligen eige- nen Bevölkerung. Himmler wird Anfang Oktober von Hitler auf eigene Initiative zum »Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums« ernannt. Sogleich beginnt er mit der Umsetzung mörderischer »Nah- und Fernpläne«, wischt zaghafte Einwände der Wehrmacht, etwa die mahnende Denkschrift von Ge- neraloberst Johannes Blaskowitz beiseite, kann sich dabei auf die überwiegend von der SS gestellten Chefs der neuen »Ziviliverwaltungen« stützen. Als Schalt- zentrale fungiert das am Ende des Polenfeldzugs neu geschaffene Reichssicher- heitshauptamt (RSHA) unter Heydrichs Leitung, wo im Referat IVB4 Ju den referent Adolf Eichmann bald schon die ersten, für viele mörderischen »Umsiedlungen« von Juden nach Nisko am San veranlasst. Reichsrecht gilt in den Besatzungsgebieten nicht mehr. Polen, Juden, Roma und Sinti sind als An- gehörige »minderwertiger Bevölkerungsgruppen« der Willkür der ersten Ein- satzgruppen der Sicherheitspolizei und des Rasse- und Siedlungshauptamtes wehrlos ausgeliefert, werden bereits vieltausendfach ermordet oder ghettoisiert. Aber auch die Bolschewiki exportieren eine Kultur des Hasses und der Xe- nophobie. Der sowjetische Himmler heißt: Sergei Nikititsch Chruschtschow. Der spätere Generalsekretär der KPdSU setzt als Erster Sekretär der Ukraine zusammen mit NKWD-Chef Iwan Alexandrowitsch Serow und Simon Ti- moschenko, dem Kommandeur für den Militärbezirk Kiew, eine schreckliche Verfolgungsmaschinerie in Gang. In mehreren Wellen werden bis zum No- vember 1940 1,2 Millionen Unschuldige – darunter auch 60.000 Juden – de- portiert, ein Drittel wird dabei umkommen, 60.000 Personen werden inhaftiert, 50.000 als »Todfeinde der Sowjetmacht« sofort erschossen. Über das Schicksal der rund 14.736 gefangenen »ehemaligen« polnischen Offiziere, Grundbesitzer, Polizisten und 11.000 »Konterrevolutionäre« aus den drei großen »Speziallagern« Ostaschkow, Kosielsk und Starobielsk entscheidet die Staatsspitze, aber nicht das gesamte Politbüro im Kreml am 5. März 1940: Tod ohne Vorladung, Anhörung oder Gerichtsverfahren für diese »Saboteure und Spione«, Deportation all ihrer Angehörigen – Stalin setzt als Erster seinen Namen unter die Verfügung, Kliment Woroschilow, Wjatscheslaw Molotow und Anastas Mikojan folgen. Die Zustimmung von Lasar Kaganowitsch und 268 Fallstudie: Deutsch-sowjetische Beutepartnerschaft

Michail Kalinin wurde mit dem Wort »Dafür« vermerkt. Der Name des da- maligen Volkskommissars des Inneren, Lwarenti Berija, der Anfang März Sta- lin und dem ZK der KPdSU die vierseitige Beschlussvorlage übermittelt hatte, wurde gestrichen, bzw. durch den Namen seines Stellvertreters Bogdan Ko- bulow ersetzt. Unter strengster Geheimhaltung beginnen die Vorbereitungen für diesen sowjetischen Staatsmassenmord im Zeichen von Hammer und Sichel. Ab dem 3. April werden die Gefangenen, denen zuvor teilweise die Ent- lassung vorgegaukelt worden war, um sie in Sicherheit zu wiegen, in Viehwag- gons zu den unterschiedlichen Hinrichtungsplätzen gebracht. Dort waren bereits in den Nächten zuvor unter strenger Geheimhaltung von Baggern Gru- ben ausgehoben worden. Mehr als zwei Wochen lang werden daraufhin etwa im Lager von Ostaschkow in Hütten mit schalldichten Innenwänden von dem NKWD-Tschekisten V. M. Blochin und seinen Helfern in ledernen Schlach- terschürzen, wie Simon Montefiore berichtet, täglich 250 der todgeweihten Polen erschossen. Zur Verdeckung der Spuren benutzte man, sofern die Opfer nicht mit Ba- jonetten erstochen wurden, ausschließlich deutsche Walther-Pistolen und 7,75 Millimeter-Patronen der deutschen Firma Genschow aus Karlsruhe-Durlach, die seit 1928 im Zuge der geheimen deutsch-sowjetischen Rüstungskoopera- tionen in großen Mengen in die UdSSR importiert worden waren. Eine perfide »Vorsichtsmaßnahme«. Sie sollte wohl, falls jemals entsprechende Ver- dächtigungen geäußert werden würden, von wem auch immer, vor allem aber wohl von den polnischen Angehörigen der Opfer, die Spuren verwischen, sollte den Eindruck erwecken, die deutsche Seite sei schuld an diesen Massa- kern – Grundlage für die sowjetische Leugnungsstrategie bis weit in die Ära Gorbatschow hinein. Die Akten der Ermordeten wurden vernichtet, ver- brannt, viele tausende Leichen an verschiedenen Stellen vergraben, ein Teil blieb verschwunden für immer. 4.500 Opfer aus dem Lager Kosielsk ver- scharrte man im Wald von Katyn. Diese allerdings kamen durch eine Kette seltsamer Zufälle doch wieder zum Vorschein. Der Ortsname »Katyn« sollte bald schon zu einer wichtigen Chiffre in der Schreckensgeschichte des Massenmordens und Tötens werden, zu einer Me- tapher für die Komplizenschaft des Bösen im 20. Jahrhundert, die die Reiche Stalins und Hitlers verbindet. Denn hier, an dieser Stelle berührten sich beide Systeme im Morden unmittelbar. Die sowjetischen Täter erschossen die pol- nischen Offiziere mit deutschen Patronen aus politisch-ideologischen Erwä- gungen, um die polnische Armee und zugleich die bürgerliche Führungsschicht des Landes zu »enthaupten«. »Katyn« war für Stalin und seine Gefolgsleute Das Massaker von Katyn 269 im Kreml eine unvermeidliche Etappe des »Klassenmordes«. Aber auch für die deutsche Seite wurden die polnischen Toten im Birkenwäldchen von Katyn bedeutsam. Auch sie instrumentalisierte diese Toten, angestachelt von der Pro- pagandamaschinerie eines Joseph Goebbels. Allerdings vergingen einige Mo- nate, bis es soweit war. Ein gutes Jahr nach den Massakern, rund einen Monat nach dem von Hit- ler befohlenen Angriff auf die Sowjetunion und dem damit verbundenen ab- rupten Ende der Beutepartnerschaft, eroberte die deutsche Heeresgruppe Mitte Ende Juli 1941 Smolensk. Es waren polnische Zwangsarbeiter der der Wehrmacht folgenden NS-Organisation Todt, die zufällig im Wald von Katyn auf Menschenknochen und polnische Uniformteile stießen – und deshalb ei- nige Leichen auszugraben begannen, um sie anschließend zu bestatten. Sie er- richteten ein großes Birkenkreuz an der Fundstelle und zogen weiter. Als im November 1941 das Nachrichtenregiment 537 in die Region ein- rückte, erfuhren einige deutsche Soldaten von Einheimischen von dem Ge- rücht, Vertreter der Roten Armee, vielleicht sogar des NKWD, hätten in der Zeit der Beutepartnerschaft im Wäldchen auf dem Ziegenberg Menschen er- schossen – wie man in Gerd Kaisers sorgfältiger Recherche Katyn seit 2002 nachlesen kann. Diese Gerüchte wurden dem Stab gemeldet, aber von diesem nicht weiter verfolgt, vermutlich weil sie als reine Gräuelpropaganda abgetan wurden. Im Januar 1943 stieß Friedrich Ahrens beim von den polnischen Zwangsarbeitern errichteten Birkenkreuz abermals auf Menschen- knochen, die wahrscheinlich von Tieren ausgegraben worden waren und ver- mutete ein unbekanntes Kriegergrab. Er wartete auf Tauwetter und suchte dann den Rat eines der bekanntesten deutschen Gerichtsmediziner – Gerhard Buhtz. Eine von diesem am 29. März veranlasste großflächige Grabung för- derte eine größere Zahl von Gebeinen und Leichen zu Tage – im April wurden die Grabungen durch sowjetische Kriegsgefangene und zwangsverpflichtete Dorfbewohner ausgeweitet und das führte jetzt plötzlich zur Entdeckung von vielen Hunderten von Toten. Man hatte ein Massengrab entdeckt. Davon erfuhr Propagandaminister Goebbels und schaltete sich jetzt so- gleich ein. Er suchte die neue, durch Hitlers Überfall vom Juni 1941 formierte, gegen Deutschland gerichtete Allianz zwischen Polen und der UdSSR zu tor- pedieren, jene Allianz, die Hitler selbst herbei gezwungen hatte und die sich formierte, obwohl die Sowjets in den Jahren zuvor etwa eine halbe Million Polen massakriert und Hunderttausende in sowjetischen Gefängnissen, Ar- beits- und Speziallagern eingesperrt hatten, die sie nun überwiegend frei lie- ßen, um mit ihnen eine neue polnische Armee aufzubauen. Goebbels ließ 270 Fallstudie: Deutsch-sowjetische Beutepartnerschaft

Auschwitz (Bild oben) steht für den End- und Tiefpunkt des nationalsozialistisch-deutschen Rassenwahns, den millionenfach arbeitsteilig vollzogenen Massenmord. Katyn steht für den sowjet-kommunistischen Klassenmord. Das Bild auf S. 271 zeigt, wie russische Zwangsarbeiter und deutsche Soldaten am 13. April 1943 die Leichname von polnischen Offizieren exhumieren, die 1940 im Wald von Katyn vom sowjetischen Geheimdienst NKWD im Auftrag von Stalin und seinen Volkskommissaren ermordet worden waren. deshalb über eigene polnische Gefangene, die den Fundort bei Katyn hatten besichtigen dürfen, die polnische Exilregierung in London unterrichten und er zog schon bald das Internationale Rote Kreuz hinzu, das aber eine Mitwir- kung ablehnte, weil die Sowjetunion sich als angeschuldigte Macht nicht mit einer »neutralen« Untersuchung einverstanden erklärt hatte. Um die deutsche Unschuld an diesen Massakern trotz der Absage des IRK international bestätigen zu lassen, beauftragte Goebbels zwölf renommierte Pathologen aus Staaten, die sämtlich – bis auf die Schweiz – mit Deutschland verbündet, bzw. von ihm besetzt und zweifelsohne abhängig waren. Sie er- stellten dennoch einen professionell-nüchternen Prüfbericht, der in seiner fachlichen Kompetenz und sachlichen Argumentation später – außer von der sowjetischen Seite – zu keinem Zeitpunkt mehr angezweifelt worden ist. In ihrem Abschlussbericht, den die Kommission bereits am 4. Mai an Reichsge- sundheitsführer Leonardo Conti übermittelte, wird auf der Basis von Aussagen der Bewohner von Katyn und des Verwesungszustandes von bis dahin 925 ex- humierten Leichen, den Resten ihrer Winterkleidung und einer Fülle weiterer Konstante Leugnung trotz erdrückender Beweislage 271

Aus Sicht der millionenfachen Opfer ist es nie entscheidend, von wem sie mit welcher ideologischen Rechtfertigung oder Begründung drangsaliert, massakriert, getötet werden – ob durch Hunger und Schwäche, die Kugel, die Eisenstange, den Strick, oder den Gipfel der Perfidie, das Gas. Entscheidend ist, dass ihnen die höchsten Güter von diesen, in unserem Fall – deutschen wie sowjetischen – Tätern gleichermaßen genommen werden: die Freiheit und das Leben.

Indizien bis zu den Jahresringen der kleinen Bäumchen auf den Massengrä- bern festgestellt: »Es ergibt sich aus alledem, dass die Erschießungen in den Monaten März und April 1940 stattgefunden haben müssen.« Da die Sowjet - union das Gebiet damals militärisch besetzt hatte, sei zweifelsfrei die sowjeti- sche Geheimpolizei GPU, bzw. der NKWD für das Massaker verantwortlich zu machen. Vertreter des polnischen Roten Kreuzes durften den Fundort be- sichtigen, die Dokumentation überprüfen – und sie bestätigten den Bericht. Doch die UdSSR bestritt jede Tatbeteiligung energisch und zog einen machtvollen Vorhang der Gegenpropaganda vor das Geschehen. Allerdings verzichtete sie nach dem Krieg – anders als im Falle des eingangs erwähnten Geheimen Zusatzprotokolls – in Nürnberg darauf, mittels ultimativen Drucks und der Drohung, den Prozess zum Platzen zu bringen, jegliche Behandlung des Themas »Katyn« zu unterbinden. Vermutlich, weil man sich im Kreml ziemlich sicher fühlte, ließ man es zu, dass vor dem Internationalen Militär- tribunal das Thema »Katyn« tatsächlich kurz aufscheinen konnte. Gegen den Protest der sowjetischen Vertreter, die auf einer deutschen Täterschaft bestan- 272 Fallstudie: Deutsch-sowjetische Beutepartnerschaft den, wertete der Internationale Militärgerichtshof die vorliegende Beweislage immerhin als unklar und erlaubte in diesem Punkt die Vernehmung von je- weils drei Zeugen für die Verteidigung und die Anklage. Da die Verhandlun- gen und Verhöre am 1. und 2. Juli 1946 massive Zweifel an einer deutschen Beteiligung, bzw. Verantwortung untermauerten und eine sowjetische Täter- schaft zumindest nahelegten, wurde der Anklagepunkt »Katyn« vom Gericht aus Mangel an Beweisen fallengelassen und der gesamte Komplex im späteren Urteil nicht mehr erwähnt. Für die Vertreter der UdSSR galt allerdings wei- terhin die deutsche Täterschaft als unzweifelhaft und gesichert – und zwar bis weit in die Ära Gorbatschow hinein. Mit der »Chiffre« Katyn schließt sich unser Kreis. Was für die geheimen Vereinbarungen Stalins mit Hitler und die Ausgestaltung der Beutepartner- schaft im Anschluss an die so folgenreichen Geheimverträge vom August und September 1939 gilt, trifft auch für »Katyn« zu. Es wurde ein überaus mäch- tiges Tabu im russischen Geschichtsbild. Bis zur Ära Gorbatschow suchte man in der Sowjetunion den Massenmord nach seiner zufälligen, allerdings nur partiellen Entdeckung im Jahre 1943 den Deutschen in die Schuhe zu schie- ben. Seit man von Hitler wieder gewaltsam und ungewollt unter die Tarn- kappe des Antifaschismus gedrängt worden war, verbaten sich alle sowjetischen Regierungen bis zu Gorbatschow entsprechend anderslautende Verdächtigun- gen. Dem kurzen Eingeständnis von 1989/90 – am 13. April 1990 übergab Gorbatschow anlässlich eines Staatsbesuches des polnischen Staatschefs Jaru - zelski diesem die Originale der erhalten gebliebenen Exekutionslisten des NKWD und erklärte laut ITAR-TASS: »Die sowjetische Seite bringt ihr tief empfundenes Beileid im Zusammenhang mit der Katyner Tragödie zum Aus- druck. Es handelt sich um eines der schwersten Verbrechen des Stalinismus« – ist mittlerweile in der Russischen Föderation wieder eine Phase neuerlicher Tabuisierung gefolgt. Der Antifaschismus gehört zum Gründungsmythos des neuen Russland und trägt dazu bei, die stalinistischen Verbrechen und Mas- senmorde zu verdecken. Der Antifaschismus ist zugleich auch die Tarnkappe für die modernen Kommunisten in anderen Ländern, das die eigenen totali- tären Bestrebungen verdeckt. Das gilt auch für die zweite deutsche Republik. Auch in Deutschland gibt es in Verbindung mit dem gerade behandelten intensiven nationalsozialistisch- stalinistischen Zusammenwirken in der Zeit der Beutepartnerschaft ein mäch- tiges Tabu. Den Vertretern kommunistischer Ideologie ist es in diesem Land, das nicht zuletzt als Folge der Wiedervereinigung sein gesamtes politisches Koordinatensystem immer weiter nach links zu verschieben begonnen hat und Die Tarnkappe des Antifaschismus 273

Feinde der Demokratie allenfalls noch auf dem rechten Flügel des politischen Spektrums auszumachen vermag, längst gelungen, sich wieder unter die »na- türlichen Gegner« des Nationalsozialismus einzureihen, bzw. im öffentlichen Diskurs gänzlich unreflektiert unter diese Gegner eingereiht zu werden und jene kurze Phase zwischen 1939 und 1941 vergessen zu machen, als alles ganz anders war. Noch 2012/2013 erklärte Sina Doughan, die Sprecherin der Grü- nen Jugend, nachdem sie ebenso wie die Juso-Vorsitzende Franziska Drohsel wegen ihrer Mitgliedschaft in der linksextremen »Roten Hilfe« in die Kritik geraten war, freimütig »Ich bin linksextrem« und fügte erklärend hinzu: »Weil ich durch mein Engagement gegen Nazis und für Demokratie dazu gemacht wurde!« 70 Da war sie wieder, die überaus hilfreiche Tarnkappe des Antifaschis- mus. Der Kampf gegen Nazis legitimiert und schützt Linksextremismus bis in die unmittelbare Gegenwart hinein. Und macht vergessen, welche Opfer in Namen dieser Ideologie zu verzeichnen sind. Ebenso vergessen macht er den Anteil der Kommunisten am deutschen Bürgerkrieg in der Zwischenkriegszeit und – daraus folgend – am Untergang der Weimarer Republik. Ähnlich wie dieser mittlerweile medial nahezu vollständig verdrängt und vergessen ist, wird heute auch die brutale Beutepartnerschaft zwischen den beiden mörderischen Diktatoren Hitler und Stalin verdrängt, vergessen und machtvoll beschwiegen. In unserem Lande darf man keinesfalls wie Francois Furet im Nachbarland Frankreich in seinem letzen Buch Das Ende der Illusion feststellen: »Hitler und Stalin haben den Zweiten Weltkrieg gemeinsam begonnen.« 274

Ernst von Weizsäcker – eine Schlüsselfigur

In dem Buch Das Amt ist der Mittelteil über die unmittelbare Nachkriegszeit und den Wilhelmstraßenprozess der wichtige Scharnierteil. Für das Autoren- team hat er eine zentrale Brückenfunktion inne: Das alte Amt aus der NS- Zeit wird hier mit dem neuen, 1951 unter Konrad Adenauer wieder aufgebauten verknüpft, zugleich aber auch – so eine der zentralen Kernthesen des Buches – nachhaltig kontaminiert und weiter aufgeladen mit brauner Tra- dition. Eine ganze Reihe der Schwankenden Gestalten (so der Titel der berühm- ten Artikelserie in der Frankfurter Rundschau des jungen Michael Mansfeld) kamen, so die weitere These, wieder ins Amt zurück, weil es ihnen zusammen mit den Verteidigern im Wilhelmstraßenprozess in der unmittelbaren Nach- kriegszeit gelang, das Amt zu einem Hort des Widerstandes zu stilisieren, wo die verbrecherische NS-Rassenpolitik lediglich von einem kleinen Häuflein fanatischer und erst spät ins Amt gekommenen brauner Funktionäre energisch unterstützt, bzw. exekutiert worden sei. Der beamtete Staatssekretär des Res- sorts unter Ribbentrop, Ernst von Weizsäcker, wurde dabei zu einem »Seher«, zu einer Schlüsselfigur des Widerstands stilisiert, darin Wilhelm Canaris, Lud- wig Beck oder Henning von Tresckow vergleichbar. Für die Kommission, die sich dezidiert in die »aufklärerische« Tradition der 68er stellt, war das eine fa- tale Strategie, die allerdings breite mediale Unterstützung erfahren hat. Eckart Conze hat zum Erscheinen des Buches dem Kölner Stadtanzeiger am 27. Ok- tober 2010 ein langes Interview gegeben, in dem er in diesem Zusammen- hang – wir verzichten hier auf Wiedergabe der kurzen Zwischenfragen – ausführte: »Man darf nicht vergessen, dass in der Frühzeit, in den ersten beiden Jahr- zehnten der BRD, die alten, die belasteten Eliten auch eine erhebliche Un- terstützung aus dem medialen Umfeld erhielten. DER SPIEGEL mit Rudolf Augstein ist hier ein Beispiel. Aber auch Marion Gräfin Dönhoff von der ZEIT hat über Jahrzehnte daran mitgewirkt, die traditionelle nationalkon- servative, adlig-bürgerliche deutsche Oberschicht zu entlasten und sie – Mann des Widerstands oder willfähriger Handlanger Hitlers? 275

Ein schwerer Gang: Ernst von Weizsäcker als Angeklagter im Wilhelmstraßenprozess in Nürnberg 1948.

mehr oder weniger – mit dem Widerstand des 20. Juli zu identifizieren. Die flächendeckende Kooperation der Eliten mit dem Nationalsozialismus wurde so marginalisiert. Ernst von Weizsäcker, der Vater des späteren Bun- despräsidenten Richard von Weizsäcker … steht wie kein Zweiter für die traditionellen deutschen Eliten, für die traditionellen Oberschichten, und ihre Kooperation mit dem Nationalsozialismus. Deshalb gibt es bis heute ein so großes Interesse an seiner Person. Die Entwicklungen begannen be- reits in der unmittelbaren Nachkriegszeit im Zusammenhang mit dem Wil- helmstraßen-Prozess, bisweilen auch Weizsäcker-Prozess genannt, in dem der frühere Staatssekretär des AA 1948/49 in Nürnberg vor Gericht stand. Und dort tat man in seinem Umfeld alles, um ihn zu entlasten, zum Teil deutlich über prozessuale Erfordernisse hinaus. Denn je mehr es gelingen würde, Weizsäcker zu entlasten, desto mehr hätte man auch die soziale Gruppe, der er entstammte und die er repräsentierte, insgesamt entlastet. 276 Fallstudie: Ernst von Weizsäcker – Eine Schlüsselfigur

Im Gerichtssaal: Der Hauptangeklagte Ernst von Weizsäcker auf der Anklagebank links vorne in der ersten Reihe. Zwei Reihen vor ihm links neben dem stehenden Anklagevertreter der versierte Koordinator der Verteidigung, der Kressbronner Anwalt Hellmut Becker.

Auch aus diesem Grunde ist von Weizsäcker eine paradigmatische Figur. Es gab Geschichtsklitterungen. Es gab regelrechte Kampagnen, Schmier- kampagnen, Hetzkampagnen, etwa gegen die Anklagevertreter in Nürn- berg. Bei dem Chefankläger in Nürnberg, Robert Kempner, schreckte man selbst vor antisemitischen Vorwürfen nicht zurück. Doch diese schlimmen Kampagnen, gehören in einen Zusammenhang mit Geschichtslegenden und Mythen, die sich als erstaunlich langlebig erwiesen haben. Weizsäcker plädierte am Ende des Prozesses für ›nicht schuldig‹. In seinem Prozess wurde als Teil der Verteidigungsstrategie die Argumentation entwi- ckelt, die Beteiligung am Judenmord sei im Grunde genommen das Werk einer kleinen Gruppe, einer Abteilung, des ›Judenreferats‹, innerhalb des AA gewesen. Der große Rest des Apparates sei hingegen ›anständig‹ geblieben, sei ›im Kern gesund‹, wie es nach 1945 hieß. Mit diesen Diplomaten, so geht das Argument weiter, konnte man dann einen neuen Auswärtigen Dienst aufbauen. Ein schwankendes Charakterbild 277

Dabei waren die 6.000 Mitarbeiter des Amtes in der einen oder anderen Weise am Judenmord beteiligt. Der Holocaust war das zentrale Projekt des Dritten Reiches. Vor diesem Hintergrund scheint es mir nachvollziehbar zu sein, dass jede Institution des Reiches – und eben nicht nur die SS – am Holocaust ihren Anteil hatte und daran mitwirkte, damit sich die ›Endlö- sung‹ so effizient vollziehen konnte, wie es dann auch geschah. Genau in diesen Kontext des reibungslosen bürokratischen Vollzuges gehören auch die Diplomaten des auswärtigen Dienstes, die vor Ort mitwirkten, zum Beispiel bei der Erfassung der Juden zur Deportation. Aber auch diejenigen, die in der Kultur- oder Propaganda-Abteilung in Berlin saßen und antise- mitische Propaganda-Feldzüge vorbereiteten, hatten ja eine Funktion in diesem Räderwerk des Mordes und der Verbrechen. Es gab eine Dynamik der vorauseilenden Kooperation. In den Jahren ab 1939 wurde das beson- ders sichtbar. Es gab seit Kriegsbeginn keine klassische Außenpolitik oder Diplomatie mehr. Auf der Suche nach einer neuen Existenzberechtigung gewann das zentrale Projekt des Dritten Reiches eine neue Bedeutung als Aufgabenfeld der Diplomaten: die ›Endlösung der Judenfrage‹, der millio- nenfache Mord an den Juden.« Das ist eine knappe Zusammenfassung der Stoßrichtung im Kommissionsbe- richt. Sehen wir uns daher die genannte Schlüsselfigur, Ernst von Weizsäcker, etwas genauer an – genauer als es im Kommissionsbericht geschieht, der an biographischen Nuancen und individuellen Motivlagen wenig Interesse zeigt und zugleich stark an die Aussagekraft von »Personalakten« glaubt, eine nicht allein in der Diktatur, dort aber besonders labile, in jedem Fall nicht in toto belastbare Grundlage. Weizsäcker jedenfalls wurde schon früh ganz unter- schiedlich charakterisiert und beurteilt – woran sich bis heute nichts geändert hat. Die einen stilisierten ihn nach 1945 zum Mann des Widerstands, zum stillen, aber unermüdlichen Kämpfer gegen Unrecht, Staatsterror und Krieg. Die anderen erblickten und erblicken in ihm einen willfährigen Handlanger Hitlers, ein opportunistisches Werkzeug des nationalsozialistischen Unrechts- regimes. Beide Betrachtungsweisen werden dem Wesen und Wirken Ernst von Weizsäckers nicht gerecht, das sich in vielerlei Hinsicht pauschalen Zuord- nungen und Wertungen entzieht und gerade deshalb zu einer historisierenden Beschreibung herausfordert. Rasche, rigide moralisierende Urteile, wie sie die Kommission in ihrem Bericht en suite fällt, verbieten sich. Es gilt viel mehr, auch und gerade diesen Mann in seine Zeit zu stellen, seine Handlungsweisen und Motive aus ihrer Zeitgebundenheit heraus zu erklären und damit ver- ständlich zu machen. Das lohnt sich, denn Ernst von Weizsäcker gehört zu 278 Fallstudie: Ernst von Weizsäcker – Eine Schlüsselfigur den oft unterschätzten Gestalten der deutschen Diplomatie- und Zeitge- schichte, mischen sich doch in seinen Aufzeichnungen und Handlungen Hell- sicht und Blindheit gegenüber deutschen Lockungen und Gefahren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf exemplarische Weise. Wir wissen aus seinen Erinnerungen, aus seinen umfangreichen, von Leo- nidas E. Hill edierten Papieren und nicht zuletzt aus den voluminösen Akten und Protokollen des Wilhelmstraßenprozesses viel über ihn, viel mehr als über die allermeisten anderen Handlungsträger im Dritten Reich. Weizsäcker war kein glühender, überzeugter Nationalsozialist und doch schon bald verstrickt in die Machenschaften des NS-Regimes. Damit stellt sich die alte Frage nach den grundlegenden Mechanismen, nach Mentalität und Selbstrechtfertigung konservativer Beamter im NS-Staat auch in seinem Falle. Skizzieren wir also seine Karriere, eine deutsche Karriere, exemplarisch in ihren Brüchen und – ihrem Scheitern. Denn das steht am Ende, lange bevor es Verhaftung und Ge- fängnis nach außen hervortreten lassen. Am Anfang deutete nichts auf das bittere Scheitern hin, im Gegenteil. Dem jungen Mann, der 1882 in Stuttgart geboren wurde, als Sohn des königlich- württembergischen Ministerpräsidenten und Außenministers aufwuchs, schien eine glänzende Zukunft offen zu stehen. Sie schien auf dem Wasser zu liegen. Denn dieser Schwabensohn fasste den keineswegs erstaunlichen Ent- schluss, zur kaiserlichen Marine zu gehen. Der Ehrgeiz dieses jungen Mannes – 1916 wurde der Vater, 1897 persönlich nobilitiert, in den erblichen Freiher- renstand erhoben – wurde durch die Modernität der gerade neu aufgebauten kaiserlichen Flotte geweckt, die den deutschen Großmachtanspruch nach- drücklich symbolisierte. Einsatzbereitschaft, ein klarer Blick für die Erforder- nisse einer geschickten Karriereplanung und wohlwollende Vorgesetzte bringen ihn rasch auf immer einflussreichere Posten. Mit knapp 27 Jahren wird er Flaggleutnant bei Admiral von Holtzendorff, der soeben das Kommando über die deutsche Hochseeflotte übernommen hat. Im Herbst 1912 erfolgt seine Versetzung in die Reichshauptstadt, in das von Admiral Georg Alexander von Müller geleitete Marinekabinett. Hier sitzt er in der eigentlichen Schaltzentrale der Marineleitung, wo über Personalien, Stellenbesetzungen, Karrieren ent- schieden wird, knüpft weitere wertvolle Kontakte, erhält freilich auch tieferen Einblick in das Funktionieren des militärtechnischen wie militärpolitischen Apparats im Wilhelminischen Reich.71 Im Sommer 1914 rechnet Ernst von Weizsäcker lange nicht mit einem gro- ßen Krieg. Aber als es so weit ist, erfasst auch ihn die Welle der nationalen Begeisterung. Von der »schönen Zeit moralischer Regeneration«, von Hoch- Karrierebeginn als Marine-Offizier 279 achtung gegenüber den Briten, dem »ebenbürtigen Gegner«, und zugleich, nachdem der älteste Bruder in den Vogesen gefallen war, von der Hoffnung, sich gegenüber Frankreich »für künftige Generationen Ruhe zu verschaffen«, ist in seinen Briefen jetzt die Rede.72 Die Franzosen bleiben der »Erbfeind« für ihn, da gibt es eine Kontinuitätslinie bis 1939/40, doch ansonsten ist Weizsä- cker kein nationalistischer Hitzkopf. Für die in den Kriegsjahren mehr oder minder offen diskutierten, umfassenden deutschen Kriegsziele und Annexions- pläne kann er sich immer weniger erwärmen. Im Frühjahr 1915 hält er zwar eine dauerhafte Annexion Belgiens, wenn nicht für nötig, so doch noch für »angenehm«. Aber im Herbst 1918 wettert er dann »über diese Narren und Verbrecher von Alldeutschen«, die »uns an dem status-quo-ante-Frieden so oft gehindert haben«.73 Da ist er bereits bei der neu gebildeten Seekriegsleitung der dritten OHL unter Generalstabschef Paul von Hindenburg und Generalquar- tiermeister Erich Ludendorff, dort, wo sich das militärische, aber auch das po- litische Schicksal des Kaiserreichs in der Endphase des Krieges entschied und die erste deutsche Militärdiktatur zusammen mit den Monarchien rasant dem chaotischen Untergang entgegen schreitet. Ludendorff wird darüber, statt Ver- antwortung zu übernehmen, nach den von ihm Ende September überstürzt und ultimativ eingeleiteten Waffenstillstandsverhandlungen, demissionieren, als »Ernst Lindström« in ein schwedisches Sanatorium entschwinden. Mitte Oktober 1918 sagt Weizsäcker massive politische Unruhen voraus, rechnet aber nicht mit einer Bolschewiki-Herrschaft. Anfang November hält er es für das Wichtigste, das Land vor dem Terror zu bewahren, und stellt fest: »Wir müssen Zugeständnisse machen. Es sitzt zu tief im Volk, dass die Militärs und Alldeutschen das Volk ins Unglück gestürzt haben.« 74 Von Dolchstoß-Legende bei ihm keine Spur, dazu hat er die militärischen Entscheidungsabläufe zu genau registriert. Allerdings trifft ihn der Aufruhr, der Umsturz ganz unmittelbar, nicht allein, weil sein Vater als einer der ersten darüber am 8. November 1918 zurücktritt, kaum dass die Rote Fahne vom Stuttgarter Schloss weht. Der schnelle Zusammenbruch des Kaiserreichs, das blamable, wenig souveräne Verhalten Wilhelms II. in den letzten Kriegstagen, das alles war für Weizsäcker ein Schock, wie für viele andere auch. In diesem letztlich doch erstaunlich kurzlebigen deutschen Kaiserreich ist er aufgewach- sen, die Monarchie hat ihn geprägt, auch wenn er die Hohenzollern mit schwäbisch-kritischen Augen betrachtete. Umso verständlicher, dass, noch bevor die Waffenstillstandsbedingungen publik gemacht werden, Weizsäcker in sein Tagebuch notiert: »Es ist ja ganz egal, welcher Friede uns jetzt auferlegt wird. Ist er zu drückend, kommt automatisch die Revision«.75 280 Fallstudie: Ernst von Weizsäcker – Eine Schlüsselfigur

Revision, ein Schlüsselbegriff für sein weiteres Wirken – und ein Verlangen, das bald die überwältigende Mehrheit aller politisch interessierten Deutschen mit ihm teilen sollte. Als Weizsäcker am 9. November die Waffenstillstands- bedingungen erfährt, vermerkt er dazu durchaus hellsichtig, ein Grundgefühl nicht allein der Weimarer Classe politique in Worte fassend: »Sie sind so nie- derziehend, dass mein erster Gedanke ist: Hieraus entsteht ein neuer Krieg. Unsere Kinder werden ihn ausfechten müssen«.76 Die Zukunft Deutschlands lag im Dunkeln – ebenso wie Weizsäckers be- rufliches Schicksal. Vorübergehend kommt er in der Versorgungsstelle für See- offiziere beim Reichsmarineamt in Berlin unter. Aber das ist nichts auf lange Sicht. In Momenten der Trostlosigkeit und Depression will er sich als Hand- langer, Schreiber, Sekretär, Dorflehrer oder Hotelportier durchschlagen, so den Unterhalt für seine Frau und die drei Kinder bestreiten. Dahinter verbirgt sich die Schreckensvision eines sozialen Abstiegs, wie er für viele damals Wirk- lichkeit werden wird, ihm und der Familie jedoch langfristig trotz aller Ent- behrungen erspart bleibt. Allerdings gelingt es nicht, trotz weiterbestehender Verbindungen, sofort eine dauerhafte neue Anstellung zu finden. Auch die politische Orientierung fällt ihm – wie so vielen – schwer. Weiz- säcker, im nationalen, monarchischen, liberalkonservativen Geist erzogen, ist unschlüssig, für welche Partei er sich bei der Wahl zur Nationalversammlung entscheiden soll. Die Konservativen sind ihm »die Hornochsen von ehedem«; das Zentrum ist für den überzeugt protestantischen Schwaben wegen der kon- fessionell-katholischen Prägung wenig attraktiv; die SPD sieht er in der Ge- fahr, sich radikalen Kräften auszuliefern.77 Als er am 16. Januar 1919 von einem ehemaligen Kameraden, Kapitänleutnant von Pflugk-Hartung, »gegen die Verpflichtung absoluter Geheimhaltung« erfährt, dass dieser bei der Über- führung Karl Liebknechts ins Gefängnis eine Autopanne fingiert und den So- zialisten und Mitbegründer der KPD dabei erschossen hat, (auch Rosa Luxemburg wird von den Männern der Garde-Kavallerie-Schützen-Division unter Waldemar Papst umgebracht, während der gleichfalls festgenommene Wilhelm Pieck entkommt) – rät Weizsäcker seinerseits Pflugk-Hartung un- terzutauchen, zu fliehen.78 Im Zweifel für die Kameraderie der Offiziere, ja sogar für den politischen Mord – und gegen Linkssozialisten, Kommunisten? Ist das seine Entscheidung? Bei aller Distanz zu den , die er sonst zu wahren versteht, hier begegnet uns Weizsäcker als Patriot im Zwielicht. Was sollte er persönlich tun, wo anpacken? »In dubio abstine«, hatte er in der Schule gelernt – doch bei der Marine war den jungen Kadetten beige- bracht worden: »Handeln Sie! Falsch handeln ist immer noch besser, als gar Die »Clique der hochgeschraubten Nichtskönner« im AA 281 nichts tun.« 79 Im Spannungsfeld dieser widerstreitenden Grundsätze scheint er ein Leben lang gestanden zu haben. Im Februar 1919 traf er jedoch eine wichtige Entscheidung, bei der die Hoffnung auf eine neue, zweite Karriere ebenso eine Rolle spielte wie sein außenpolitisches Interesse: Er bewarb sich beim Auswärtigen Amt. Tatsächlich wurde er dort ein Jahr darauf eingestellt und in die Konsularabteilung eingewiesen. Die Konsularabteilung rangiert hinter dem diplomatischen Dienst, es war also kein sonderlich fulminanter beruflicher Neubeginn. Aber er besaß einen großen Vorteil: Er konnte die Tür zum diplomatischen Dienst öffnen. Denn es fehlte Ernst von Weizsäcker so manches für einen Aufstieg oder auch den direkten Einstieg in den diploma- tischen Dienst: Parteikontakte, eine akademische Ausbildung, profunde Kenntnisse anderer europäischer Sprachen. Aber dieser Seiteneinsteiger war ehrgeizig und selbstbewusst. Bereits vor seiner Einstellung hatte er sich in Briefen an seine Eltern über die »Clique von hochgeschraubten Nichtskönnern« im Auswärtigen Amt mokiert, bald darauf seinem Wunsch Ausdruck verliehen, »im wiedererstarkten Deutschland später noch einmal ein Wort mitzusprechen«.80 Zunächst war es aber weder mit dem wiedererstarkten Deutschland noch mit den eigenen Mitsprachemöglichkeiten weit her. Auf Außenposten in Basel und Kopenhagen – mittlerweile allerdings im diplomatischen Dienst – wird Weizsäcker Zeuge der Demütigungen Deutschlands durch die Folgewirkungen des Versailler Vertrages, durch Re- parationsforderungen, außenpolitische Diskriminierungen, Entwaffnungsbe- stimmungen. Die Unterzeichnung des Versailler »Schandvertrags« war für ihn »das Fegefeuer«, dem jedoch keine Erlösung folgte.81 Sein Zorn über die fortwährende Erpressung der Deutschen auf den zahl- reichen Nachkriegskonferenzen, aber auch über die deutsche Konzessionsbe- reitschaft durchzieht seine Aufzeichnungen aus den zwanziger Jahren. Dadurch waren ihm Parlamentarismus, Demokratie, Republik – ohnehin un- auflöslich mit der Niederlage verknüpft – zusätzlich diskreditiert. »Der Ekel am Parlamentarismus ist allwärts festzustellen«, registriert er im Herbst 1923, als die Weimarer Republik gerade ihre bislang dramatischste Belastungsprobe erlebte und zwischen Ruhrbesetzung, Hyperinflation und Putschversuchen von rechts und links zerrieben zu werden drohte. Am 29. Oktober lässt er die Eltern wissen: »Reue empfinde ich nur, dass ich Euch nicht den Völkischen Beobachter be- stellt habe. Ich lernte ihn auf der Reise erst kennen, finde ihn außenpoli- tisch gefährlich, aber eine Erlösung ist es doch, so wacker schimpfen zu hören«.82 282 Fallstudie: Ernst von Weizsäcker – Eine Schlüsselfigur

Dass der Verfasser dieser Zeilen der Republik von Weimar ehrlich gedient haben soll, wie sein Sohn Carl Friedrich von Weizsäcker einmal schrieb, mag man kaum glauben.83 Am Staat von Weimar hing er nicht, wie sollte er auch? Im Flaggenstreit hisst er nicht von ungefähr statt schwarz-rot-gold lieber schwarz-weiß-rot oder – in dubio abstine – die Farben Württembergs.84 Zen- trale außenpolitische Weichenstellungen betrachtet er mit Skepsis oder Ab- lehnung. Den Dawes-Plan, die erste etwas realistischere Reparationsregelung, nennt Weizsäcker »eine Selbsttäuschung«. Über das Vertragswerk von Locarno mag er »nicht überschwänglich denken«; die deutschen Zugeständnisse gehen ihm zu weit, weil Gegenleistungen ausbleiben. Den Völkerbund nennt der aufstrebende Diplomat schon am 21. September 1927 eine »internationale Schwindlerbande« – man dürfe »ihm nur angehören, um ihn von innen an- zubohren«.85 Weizsäcker, seit Februar 1927 wieder in der Berliner Zentrale, war allerdings zu diesem Zeitpunkt selbst verantwortlich für das Völkerbund - referat des Auswärtigen Amtes. Gemeinsam mit dem Vortragenden Lega tions - rat Bernhard von Bülow hegte er ein tiefes Misstrauen gegenüber jenem Kurs, den Stresemann und sein Staatssekretär Carl von Schubert steuerten. Nicht durch Konzessionen gegenüber Frankreich, sondern durch ein Zusammenge- hen mit England sollte nach Auffassung von Weizsäcker und Bülow das Sys- tem von Versailles ausgehöhlt und am Ende zerstört werden.86 An Stresemann hat Weizsäcker auch auszusetzen, dass er dem Amt »fremd« blieb, »nur wenige Beamte kannte«, lediglich am Vormittag ins Büro kam; den Nachmittag benötige »für die Innenpolitik und um sich zu halten«.87 Der per- manente Kampf um Mehrheiten, das zeit- und kräfteraubende Ringen um Un- terstützung in Parlament und Presse, all das, was zum politischen Alltag der Republik gehörte, stieß Weizsäcker ab. Den Tod des Außenministers im Ok- tober 1929, den andere wie Harry Graf Kessler als immensen Verlust für den Staat von Weimar werten, nimmt er kühl zur Kenntnis. Das von den rechtsra- dikalen Kräften um Hitler, Hugenberg und den Stahlhelm initiierte »Volksbe- gehren gegen den Young-Plan«, gegen die neue, von Stresemann mit letzten Kräften durchgesetzte Reparationsregelung, nennt er »doch eine gesunde Re- aktion gegen die kreditunwürdigen Regierungsmethoden heutzutage«.88 Zwischen Berlin, Genf und Oslo – dort übernimmt er im Sommer 1931 die Gesandtschaft – hin und her pendelnd, erlebt Weizsäcker die letzten Jahre der Republik. Jenes antidemokratische Denken, das sich nun immer massiver Bahn bricht, hinterlässt auch in seinen Texten Spuren. Dass das demokratische System zur Bewältigung der tiefgreifenden ökonomisch-politisch-sozialen Krise nicht mehr in der Lage sei, dass vor allem die öffentliche Meinung einen »Die Demokratie ist der Krebsschaden« 283 unheilvollen Einfluss ausübe, diese Auffassung verfestigt sich auch bei ihm. »Die Demokratie ist der Krebsschaden«, schreibt er im April 1932 an die Mut- ter.89 Die Republik von Weimar hatte keine Chance mehr, wenn selbst gemä- ßigte Konservative wie Weizsäcker so dachten. Nun setzte dieser deutsche Diplomat wie viele andere, die ebenfalls wegen des Anstiegs der KPD-Stim- men einen kommunistischen Umsturz fürchteten, seine Hoffnungen auf den greisen Reichspräsidenten und darauf, dass es irgendwie gelänge, »die Nazisten einzufangen«.90 Damit überschätzte er Hindenburg, unterschätzte er, Papen nicht unähnlich, Hitler und seine Paladine auf fatale Weise. Gegen die fun- damentalen Grundirrtümer, Fehleinschätzungen und Illusionen seiner Zeit war er nicht gefeit. Immerhin, Weizsäcker erkennt rasch, dass am 30. Januar 1933 kein kon- ventioneller Regierungswechsel vollzogen worden war – und er reagiert darauf im Gegensatz zu vielen Deutschen nicht mit Euphorie. »Nun tauchen wieder die von 1918/19 gewohnten Probleme auf: Kann man da eigentlich mitma- chen? Wie sichert man dem noch intakten Teil der Bürokratie den nötigen Einfluss? Wie bringt man die richtige ›measure‹ in das neue System?« fragt er in einem Brief am 22. Februar.91 Weizsäcker schwankt in der Einschätzung des neuen Regimes. Einerseits registriert er besorgt die revolutionären Exzesse, die die »Staatsumwälzung« begleiten, andererseits stellt er am 13. März nach einem Besuch in Berlin fest: »Im AA habe ich von keiner außenpolitischen Aktion der Regierung gehört, die zu beanstanden wäre. Hitlers Reden vor allem sehr abgewogen und gut (…). Dass im AA große Personalveränderungen kommen, nehme ich nicht an«.92 Außenminister Neurath und – wichtiger noch – auch Bülow, inzwischen Staatssekretär, blieben auf ihren Posten – Hin- denburg hatte sich Mitsprachemöglichkeiten im Bereich der Außenpolitik vorbehalten und das alles schien ein beruhigendes Maß an Kontinuität zu ge- währleisten. Aus Protest gegen die Hitler-Regierung hatten im Frühjahr 1933 nur Fried- rich Wilhelm von Prittwitz, Botschafter in Washington, sowie Paul Schwarz, der deutsche Konsul in New York, ihren Dienst quittiert – die übrigen 92 Spitzenbeamten und -diplomaten blieben an ihren Schreibtischen.93 Vermut- lich werden manche so gedacht haben wie Weizsäcker, der am 23. März 1933, dem Tag der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes, in einem Brief feststellt: »Eine einfache Wahrheit ist doch, dass man dieses Regime nicht umschmei- ßen darf. Denn welches Negativ käme hinter ihm? Man muss ihm alle Hilfe und Erfahrung angedeihen lassen und mit dafür sorgen, dass die jetzt ein- 284 Fallstudie: Ernst von Weizsäcker – Eine Schlüsselfigur

setzende Etappe der neuen Revolution eine ernsthaft konstruktive wird … Eben hörte ich die Reichstagsrede Hitlers gegen die Sozialdemokraten. Eine Referentenrede ist das ja nicht. Ich spüre darin aber doch einen Grundton der Mäßigung und der Versöhnung (…).« 94 Tatsächlich war dieser Grundton nur schwer zu entdecken, selbst wenn die Notiz von Goebbels in seinem Tagebuch, Hitler habe dem Sozialdemokraten Otto Wels eine Antwort gegeben, »dass die Fetzen fliegen; man sah niemals, dass einer so zu Boden geworfen und erledigt wurde wie hier« 95, eine deutliche Übertreibung darstellt. Nein, Weizsäcker beschwichtigt sich selbst, nachdem er seiner Grundüberzeugung Ausdruck verliehen hat. In der chaotischen revo- lutionären Übergangszeit galt es, die Stabilität von Regierung und Verwaltung sicherzustellen, weil sonst Bürgerkrieg, ein kommunistischer Umsturz drohten. War das nicht schon 1918/19 geglückt? Darauf stützte sich das Selbstvertrauen der traditionsbewussten alten Eliten, für die Weizsäcker mit gewissen Ein- schränkungen als repräsentativ gelten darf: Auch Hitler würde nicht auf ihre Sachkenntnis, ihr Herrschaftswissen verzichten können. Außerdem würden Konzessionen des Auslands jetzt gewiss leichter zu erreichen sein, zumal der neue Reichskanzler, der die Uniform in den Schrank gehängt und gegen den dunklen Anzug eingetauscht hatte, sich durchaus maßvoll und friedfertig gab. So hoffte und spekulierte wohl der deutsche Gesandte in Oslo, der nun be- gann, sich intensiver mit dem Nationalsozialismus zu befassen. Er liest Mein Kampf, findet das Buch etwas »veraltet« und hofft weiterhin auf die »zweite, stille, konstruktive Etappe« der nationalsozialistischen Revolution.96 Diese Erwartung erfüllte sich nicht, jedenfalls nicht sogleich. Nachrichten über Terror und Willkür der SA, über die massive Propaganda gegen die Kir- chen und natürlich über den Boykott gegen die Juden erreichten Oslo, beun- ruhigten und beschäftigten den Gesandten. Er muss erläutern, Vorwürfe abwehren. »Die antijüdische Aktion zu begreifen, fällt dem Ausland besonders schwer, denn es hat diese Judenüberschwemmung eben nicht am eigenen Leib verspürt«, bemerkt er am 22. April 1933. Am 25. April heißt es: »Methodisch muss auch das Deutschtum in Norwegen noch an die neue Zeit gewöhnt wer- den, von der man durch Radio und Judenhetzberichte eine nicht eindeutige Meinung erhalten hat …« 97 Weizsäcker hatte für den radikalen Rassenantisemitismus der Nationalso- zialisten nichts übrig. Aber jene in Deutschland tief verwurzelten, von Sozial- und Bildungsneid unterfütterten antisemitischen und zugleich auch antide- mokratischen Vorurteile und Denkmuster schimmern durchaus in seinen persönlichen Notizen durch. Männer wie Albert Ballin oder Max Warburg Bürgerlicher Salon-Antisemitismus 285 waren auch für ihn nicht in erster Linie Deutsche, sondern Juden und damit Angehörige einer besonderen sozialen Gruppe, der man mit äußerst ambiva- lenten Gefühlen gegenüberstand. Mit dieser Haltung stand er gerade auf der konservativen bürgerlichen Seite der deutschen Gesellschaft nicht allein – aber eben nicht nur dort.98 In der ersten Fassung seiner unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg ver- fassten Erinnerungen findet sich in einem knappen Rückblick auf die Weimarer Republik eine aufschlussreiche Passage zum psychologischen Grundtenor jener Zeit, die Leonidas E.Hill zitiert und die recht präzise erläutert, was Weizsäcker mit dem Begriff »Judenüberschwemmung« gemeint hat: »Schwarz-rot-gold, Zwangsdemokratie und Judentum waren Begriffe, die damals in einem Atem genannt zu werden pflegten. Anfang der 20er Jahre hatten wir im Osten die Grenzen zu weit aufgemacht. Die Inflation hatte viele Juden angezogen. Als später die Währung in Frankreich einem ähnli- chen Schicksal zuneigte, sagte man: Die Juden stehen 10 Kilometer vor Paris. Bei uns aber blieben sie tatsächlich hängen und entwickelten sich zu einer Großmacht. In den 20er Jahren waren Banken, Presse, Theater, Kunsthandel, Musik, Anwaltsberufe, großenteils auch Universitäten, Ärz- teschaft und Krankenhäuser so sehr unter jüdischer Kontrolle, dass es nach- denklichen Juden selbst unheimlich wurde. Im Auswärtigen Amt gab es ein Referat für jüdische Angelegenheiten …« 99 Aber auch für diese Stelle gilt: Vorsicht mit vorschnellen Urteilen! Am 2. Mai 1919, als die blutig-terroristische Phase der kommunistischen Münchner Rä- terepublik noch blutiger durch Reichswehr und Freikorps beendet wurde, no- tierte sich Thomas Mann in seinem Tagebuch: »Wir sprachen vom Typus des russischen Juden, des Führers der Weltbe- wegung, dieser sprengstoffhaften Mischung aus jüdischem Intellektual-Ra- dikalismus und slawischer Christusschwärmerei. Eine Welt, die noch Selbsterhaltungsinstinkt besitzt, muss mit aller aufbietbaren Energie und standrechtlicher Kürze gegen diesen Menschenschlag vorgehen …« 100 Der hochbetagte, damals 82 Jahre alte renommierte Historiker Friedrich Meinecke, der sich in der NS-Zeit von allen Ämtern zurückzog, hat 1945/46 – als Weizsäcker seine Erinnerungen verfasste – in seinem Buch Die deutsche Katastrophe über die Schwächen der Weimarer Republik ähnliches formuliert: »Zu denen, die den Becher der ihnen zugefallenen Macht gar zu rasch und gierig an den Mund führten, gehörten auch viele Juden. Nun erschienen sie allen antisemitisch Gesinnten als Nutznießer der deutschen Niederlage und Revolution. Die Hand der Siegermächte lag in diesen beginnenden 286 Fallstudie: Ernst von Weizsäcker – Eine Schlüsselfigur

Zwanziger Jahren noch furchtbar schwer auf uns … Jede Privatexistenz wurde jetzt erschüttert durch die alle Einkommen und Ersparnisse zerrüt- tende Inflation der Währung …«.101 Ein ganz ähnlicher Erzählzusammenhang wie bei Weizsäcker. Kein Lektor, kein Leser fand 1946/47 diese Passage irgendwie anstößig. Meinecke wurde 1948 in Berlin zum ersten Rektor, später zum Ehrenrektor der neu gegründe- ten Freien Universität gewählt. Doch zurück zu Weizsäcker: Die antisemitische Hetzkampagne vom April 1933 missbilligt er als deutscher Diplomat, weil er Gewalt und Terror ablehnt, aber auch weil das Bild des neuen Regimes im Ausland nachhaltig beeinträchtigt wird, das auf ausländische Finanzhilfe an- gewiesen bleibt. Jetzt liest er im Familienkreis, ausgerechnet jetzt, Jud Süß von Wilhelm Hauff, will offenbar den historischen Zusammenhängen, den Wur- zeln des gesellschaftlichen Antisemitismus in Deutschland nachspüren. Zu- gleich ist diese Kampagne für ihn wie manches andere eine unerfreuliche Begleiterscheinung jener revolutionären Übergangszeit, die es abzumildern und abzukürzen gilt.102 Im Frühsommer 1933 schien sich ihm ganz persönlich dazu eine Gelegenheit zu eröffnen. Weizsäcker willigte ein, für einige Monate die Personalabteilung des Amtes zu leiten – eine Schlüsselposition. In jener Phase, als mit der Zerschlagung der Länder, Parteien, Gewerkschaften der Pro- zess der »Gleichschaltung« schon weit fortgeschritten war, suchte man sich im Amt gegenüber allzu massiven nationalsozialistischen Interventionsversuchen so gut wie möglich abzuschotten, zugleich aber auch als »regimetreu« zu prä- sentieren. Dazu mussten die Geschlossenheit im Innern erhöht und alle partei- politisch motivierten Personalveränderungswünsche so dilatorisch, wie es eben ging, behandelt werden. Beide Aufgaben erfüllte Weizsäcker, dem übrigens Brü- ning selbst noch nachdrücklich geraten haben soll, im Amt zu bleiben.103 In zahlreichen Einzelgesprächen fasste der amtierende Personalchef »jeden einzelnen am Schlips der Ehre« und erklärte, es sei »sogar unsere patriotische Pflicht, gerade jetzt mit letzter Hartnäckigkeit unsere Stellungen zu verteidi- gen, um dadurch Schlimmeres zu verhüten«.104 Gleichzeitig war er bemüht, über den SS-Gruppenführer Josias Erbprinz zu Waldeck und Pyrmont, einem Duzfreund Himmlers, den Hitler dem Amt als Kontrolleur in Personalange- legenheiten aufgenötigt hatte (vgl. hierzu im Kapitel »Ermächtigungsgesetzte« S. 220 f.), bei der Partei um Vertrauen zu werben. Etwa fünf Prozent, bzw. 26 der 500 Beamten im AA waren, wie der Kommissionsbericht registriert, vor 1933 bereits in die Partei eingetreten. Bis zum Ende des Jahres hatte sich die Zahl mehr als verdoppelt und lag jetzt bei etwas mehr als dreizehn Prozent oder 66 Mitgliedschaften – Weizsäcker nennt sie spöttisch »1933er Spätlese«. »1933er Spätlese« 287

Die Wertung im Kommissionsbericht erstaunt nicht allein ob dieser Zah- len: »Die Selbstgleichschaltung des AA schritt zügig voran, ohne dass von Außen besonderer Druck aufgebaut werden musste. Seinen sinnfälligen Aus- druck fand dieser Prozess im Dezember 1933, als die Erweisung des ›deutschen Grußes‹ zur verpflichtenden Grußform unter Diplomaten erhoben wurde. Auch wenn dies eine Anweisung des Reichsinnenministers Frick war, fügte sie sich dennoch ein in den Prozess der Selbstgleichschaltung des Auswärtigen Amtes, das gegen diese Anweisung in keiner Weise Vorbehalte anmeldete«. Ein typisches Beispiel für die intentionalistische Geschichtsschreibung des Kommissionsberichts. Wie sollten ernstlich Vorbehalte angemeldet werden gegen diesen Erlass von Frick vom 27. November 1933, der sich ausdrücklich an alle Reichsminister und Ressorts gerichtet hatte? Der Prozess der »Selbst- gleichschaltung«, von dem im entsprechenden Kapitel breit die Rede ist, verlief in Wahrheit zunächst wohl doch eher schleppend.105 Massive Eingriffe in die Personalstruktur des Amtes blieben bis 1937/38 zudem aus. Die konkurrierenden Parteiorganisationen wie das Außenpoliti- sche Amt und die Auslandsorganisation (AO) der NSDAP sowie die Dienst- stelle Ribbentrop blieben noch außen vor. Hitler benötigte die intakte Fassade des Amtes, um die Welt vorerst beschwichtigen und leichter über seine Kriegs- pläne hinwegtäuschen zu können. Und die deutschen Diplomaten lieferten ihm die benötigte Fassade, wie im Kommissionsbericht ausführlich geschildert wird. Allerdings – und das fehlt im Bericht – werden die wenigsten sich da- rüber im Klaren gewesen sein, wie entschlossen und »unabänderlich« Hitler auf den großen Krieg zusteuerte.106 Die neuen Machthaber, auch den Reichskanzler selbst, lernt Weizsäcker im Sommer 1933 persönlich kennen. Nach einer Begegnung anlässlich seiner Verabschiedung – Weizsäcker übernimmt nach dem kurzen Gastspiel in der Wilhelmstraße, wo er kommissarisch über sieben Wochen hinweg die Perso- nalabteilung geleitet hat, die deutsche Gesandtschaft in der Schweiz – scheint er die Reichskanzlei nicht unbeeindruckt verlassen zu haben, wie eine Tage- buchnotiz vom August andeutet: »Hitler sehr ernst und fest in sich gekehrt, überragt die anderen ohne Frage weit. Es ist etwas wie eine metaphysische Einstellung an ihm, die ihm den Vorsprung wahrt.« 107 Die Tätigkeit in der Schweiz gestaltet sich schwierig und spannungsvoll. Man fürchtet dort das Regime in Deutschland, fühlt sich auf bedrohliche Weise eingekreist von der nördlichen und der südlichen, der italienischen Dik- tatur. Zugleich kommentiert die eidgenössische Presse die Vorgänge im Reich durchaus kritisch, spart keineswegs mit Ratschlägen. Das alles macht Weiz s - 288 Fallstudie: Ernst von Weizsäcker – Eine Schlüsselfigur

äcker zu schaffen. Er, der von Journalisten ohnehin nicht viel hält, reagiert mit Erbitterung auf das, was er als unerlaubte Einmischungsversuche empfin- det: »Die Schweizer Presse ist mein cauchemar (…) Diese wohlweise Lobprei- sung der wahren Demokratie hängt mir zum Halse heraus und die Pressefreiheit soll der Teufel holen, wenn sie die Gefühle vergiftet«, schimpft er am 17. Dezember 1933. Von seiner Mentalität her eher ein Mann des 19. Jahrhunderts, glaubt er an die Geheimdiplomatie, an das Geschäft des stillen Vermittelns, des diskreten Interessenausgleichs. Jedes öffentliche Aufsehen scheint ihm kontraproduktiv, zumal er rasch feststellt, dass gerade Diktaturen darauf mit Verhärtung und gesteigerter Unnachgiebigkeit reagieren. Nach der Entführung des jüdischen Pazifisten Berthold Jacob durch Gestapo-Agenten sowie nach der Ermordung von Wilhelm Gustloff, dem Leiter der schweize- rischen NS-Landesgruppe, durch den jugoslawischen Juden David Frankfurter im Februar 1936 gelingt es dem Gesandten nur unter Aufbietung seines gan- zen Geschicks, erfolgreich zu vermitteln und eine Eskalation der Spannungen zu verhindern. Denunziationen und Zweifel an seiner nationalsozialistischen Gesinnung sind die Folge, aber Staatssekretär Bülow und andere Freunde in Berlin stützen Weizsäcker.108 Trotz allem will er, wie er im Juli 1936 zu Papier bringt, im Auswärtigen Dienst den braunen Machthabern durchaus weiter dienen, »solange angenom- men werden kann, dass 1) zum nationalen und sozialen Gedanken im III. Reich sich noch ein allgemeines religiöses und kulturelles Ethos gesellen, 2) das Reich – im nationalen und internationalen Rahmen – eine rechtlich be- gründete Friedensordnung anstrebt und 3) der im Auswärtigen Dienst Be- findliche den Weg zu 1) und 2) ebnen helfen kann«.109 Das wirkt heute seltsam blauäugig, naiv, ja nachgerade illusionär. Die Frage stellt sich, wie Weizsäcker damals das Regime wirklich einschätzte? Aus den überlieferten Papieren lässt sich das immer schwerer herauslesen. Die Familie vereinbarte als Schutzmaßnahme gegenüber der Zensur eine Art Code. Hitler heißt in Privatbriefen »Pfeiffer«, Göring »Geyer«, Ribbentrop wenig später »Peter«.110 In den amtlichen Mitteilungen musste selbstverständlich der na- tionalsozialistische Jargon Verwendung finden. Aber auch diese Texte sind manchmal doppeldeutig. Wenn Weizsäcker beispielsweise empfahl, eine Aus- wanderung deutscher Juden nicht allein nach Palästina zu fördern, »da eine Zersplitterung des Weltjudentums für Deutschland ungefährlicher ist«, dann klingt das wie aus dem Wörterbuch des Unmenschen, kann aber auch als Aufforderung gedeutet werden, verfolgte Juden unbeschränkt ausreisen zu lassen.111 »Wiedereintritt in den Kreis der Großmächte« 289

Insgesamt darf man annehmen, dass auch Weizsäcker jenes Wechselbad von Bejahung und Verneinung, von Hoffen und Bedenken, von Staunen über die Erfolge und Erschrecken gegenüber dem Terror und den Verbrechen durchlebte, das die Erfahrung vieler Deutscher im Dritten Reich kennzeich- net. Während ihn die Staatsmorde am 30. Juni 1934 verstören, billigt er wohl die zentralen außenpolitischen Entscheidungen bis 1936/37. Das Herauslösen Deutschlands aus dem Völkerbund findet seine Zustimmung – ebenso wie die von Millionen anderer Deutscher, die sie in Plebisziten dokumentieren. Vom deutsch-polnischen Nichtangriffsabkommen wird er zwar überrascht, aber er heißt im Gegensatz zum Gros der deutschen Diplomaten diese gegen das französische Bündnissystem in Osteuropa gerichtete Maßnahme gut, begrüßt auch das Flottenabkommen mit England sowie die ersten Aufrüs- tungsschritte und die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht.112 Deutsch- land besaß einen legitimen Anspruch auf den Status einer Groß- macht, so dachte Weizsäcker schon 1914/18, und so dachte er auch 1936. Die Revision des entwürdigenden Versailler Vertrages und der »Wiedereintritt des Reiches in den Kreis der Großmächte« war weiterhin sein Ziel – ein Ziel je- doch, das mit den Mitteln der Diplomatie und wohl auch gestützt auf mili- tärische Potenz erreicht werden sollte, aber nicht über einen neuen Krieg.113 Umso besorgter beobachtete er den Einmarsch in das entmilitarisierte Rheinland – bei dem im Gegensatz zur Mehrzahl der außenpolitischen und militärischen (!) Berater Ribbentrop Hitler energisch zugeraten hatte – und den damit verbundenen Bruch des Locarno-Vertrages, ist auch über die sich abzeichnende deutsche Intervention im Spanischen Bürgerkrieg und die gleich- zeitig festzustellende Ausschaltung des Auswärtigen Amtes tief beunruhigt.114 Hitler schien, das zeigte auch die rasch vollzogene Annäherung an Japan, nach- dem alle deutschen Avancen, die über das Flottenabkommen hinausgingen, von London abschlägig beschieden worden waren, bei seiner nun immer ris- kanteren Politik auf eine außenpolitische Planungszentrale kaum mehr zurück- greifen zu wollen. Diese war zudem ausgerechnet jetzt durch den Abschied einiger Ministerialdirektoren (Köpke, Meyer, von Grünau) aus – verdeckten – politischen, bzw. gesundheitlichen Gründen und mehr noch durch den fast gleichzeitigen Tod Bülows mit 51 Jahren sowie der wichtigen Botschafter von Hoesch (London) und Köster (Paris) noch zusätzlich personell geschwächt. Besonders der Tod Bülows löste unter den höheren Beamten des Amtes tiefe Beunruhigung aus, denn er war eine weithin akzeptierte Leitfigur gewesen.115 In dieser schwierigen Situation wurde Weizsäcker Mitte August 1936 nach Berlin zurückbeordert und zunächst zum kommissarischen Leiter der Politi- 290 Fallstudie: Ernst von Weizsäcker – Eine Schlüsselfigur schen Abteilung ernannt. Er freut sich über die neue Aufgabe – »bei mir dauert es ja immer ziemlich lang, bis ich im Sattel bin, bei der Marine dauerte es 10 Jahre, im AA auch«, schreibt er am 4. August 116 –, ist aber bald enttäuscht über den inneren Zustand des Außenministeriums: »Allerdings ist der Apparat des AA … im Begriff, geistig zu zerfallen. Da ihm der Lebensnerv, nämlich die eigene Verantwortung für die wichtigeren politischen Fragen je länger je mehr entzogen und seine Zuständigkeit immer mehr in Frage gestellt wird, wird das Denken und Handeln des AA tastend, inkonsequent und schwäch- lich (…) Die Wiedereinsetzung des Amtes in seine Funktionen muss erkämpft werden durch schrittweises Zurückdrängen der Konkurrenz auf sachlichem Gebiet«, resümiert er in einer Aufzeichnung vom Januar 1937.117 Ein Stück Innenansicht des Dritten Reiches – wie sie im Kommissionsbericht an keiner Stelle aufscheint. Weizsäcker traut sich durchaus zu, in diesem Kampf gegen »nationalsozialistisches Amateurtum«, gegen die Polykratie der Ressorts von der Dienststelle Ribbentrop bis zur Auslandsorganisation der Partei unter Ernst Wilhelm Bohle eine gute Rolle zu spielen, liebäugelt sogar bereits jetzt mit dem Posten des Staatssekretärs. Aber Außenminister von Neurath beruft lieber seinen Schwiegersohn, Georg Viktor von Mackensen, den Sohn des kaiserlichen Generalfeldmar- schalls, der seit 1934 Mitglied der NSDAP ist, als überzeugter Anhänger Hit- lers gilt und über Kontakte zu Himmler verfügt, was ihm bereits Ende 1937 die Ernennung zum SS-Oberführer eintragen wird. Dank der Unterstützung durch von Mackensen erhält Weizsäcker allerdings am 18. Mai 1937 definitiv den Posten des Leiters der Politischen Abteilung. In einer Denkschrift vom Januar 1937 hat er bereits umrissen, welches Ziel die deutsche Außenpolitik ansteuern müsse: »Ein föderatives Großdeutschland, das Ostpreußen (durch den bisherigen Korridor) mit Deutschland wieder direkt verbände, Österreich und das Sudetendeutschtum nahe an uns anschlösse und gewisse Grenzkor- rekturen in Oberschlesien aufweise«, hatte aber auch angemahnt, dass diese weitreichenden Ziele nur verwirklicht werden könnten, wenn das Reich – eine verschlüsselte Warnung – »den Ruf der Stärke, der Stabilität, Verlässlichkeit und Würde« besitze.118 Mit Genugtuung registriert er in dieser Zeit des persönlichen Aufstiegs 1936/37 eine Reihe von Signalen, die auf eine evolutionäre Entwicklung und gegen eine Eskalation der Gewalt hinzudeuten scheinen. An der Ernennung von Carl J. Burckhardt zum neuen Völkerbundskommissar in Danzig konnte er dabei ebenso persönlich mitwirken wie an der öffentlichen Garantie der schweizerischen Neutralität durch Hitler, an den Ausgleichsverhandlungen »Der Lebensnerv gezogen, die Zuständigkeiten in Frage gestellt« 291

Gebäude des Auswärtigen Amtes, Wilhelmstraße 75/76, mit Hakenkreuz-Fahnen um 1935 – die zahlreichen Nebengebäude des Amtes im Dritten Reich sind nicht auf einem Bild zu erfassen. mit Österreich oder am Vertrag mit Belgien. Die Vereinbarungen mit Polen über die Behandlung von Minderheiten, Hitlers Verzichtserklärung in Bezug auf Elsass-Lothringen schlagen für Weizsäcker gleichfalls zu Buche. Die Be- deutung des deutsch-japanischen Antikominternpakts vom November 1936 veranschlagt er dagegen nicht hoch, auch nicht den Beitritt Italiens ein Jahr später. Von Mussolini, dessen Besuch in Berlin im September 1937 er mit vor- bereitet, ist er zwar persönlich durchaus angetan, aber er warnt doch vor zu großem italienischem Einfluss auf die deutsche Außenpolitik, votiert statt des- sen weiterhin für ein enges Zusammengehen mit Großbritannien.119 Hätte Weizsäcker von jener Besprechung gewusst, die am 5. November 1937 in der Reichskanzlei stattfand, wo Hitler seine Entschlossenheit ent- hüllte, »zur Lösung der deutschen Frage« im Kampf um »Autarkie« und »Le- bensraum« den »Weg der Gewalt« zu beschreiten 120, er hätte dem Jahr 1938 mit größerer Besorgnis entgegen geblickt. Aber auch dann wäre er wohl ent- schlossen gewesen, wie er rückblickend betonte, im Amt auszuharren und gegen »die spielerische, dilettantische Außenpolitik« des unkalkulierbaren Ri- sikos, gegen den großen Krieg zu arbeiten.121 292 Fallstudie: Ernst von Weizsäcker – Eine Schlüsselfigur

War das aber nicht doch ein gänzlich aussichtsloses Unterfangen? Hitler hatte nach jenem tiefgreifenden Revirement im Februar 1938, bei dem Kriegs- minister von Blomberg, der Oberbefehlshaber des Heeres von Fritsch und Au- ßenminister von Neurath ihre Posten verloren hatten, selbst die unmittelbare Befehlsgewalt über die Wehrmacht übernommen und mit Joachim von Rib- bentrop einen Außenminister berufen, der als ergebener Vollstreckungsgehilfe seiner Politik gelten durfte. Doch gerade diese Personalentscheidung stimmte Weizsäcker optimistisch. Er hoffte, über den neuen Minister den Einfluss des Amtes auf Hitler und die nationalsozialistische Außenpolitik intensivieren, kurz, »den Leerlaufmotor des AA wieder an die Staatsmaschine ankuppeln« zu können.122 Diese Hoffnung erhielt am 5. März 1938 neue Nahrung. Weiz- säcker notiert in seinem Tagebuch über das erste längere Gespräch mit Rib bentrop: »R. fragt mich, ob ich sein Staatssekretär werden wolle. Nennt gewisse Vo- raussetzungen: Volles Vertrauensverhältnis, das auch in Momenten der Baisse standhalten müsse (…) Grundsätzliche Übereinstimmung mit der Politik des Führers. ›Großes Programm‹, das nicht ohne Schwert zu erfüllen, aber noch 3–4 Jahre Vorbereitung nötig. Wo und wofür zu fechten, bleibt späterer Erörterung vorbehalten. Österreich möglichst noch 1938 zu liqui- dieren (…) Meine Antwort lautet: Dank für das Vertrauen (…) Wenn Ribbentrop und Führer mich haben wollen, folge ich als Soldat (…) Ich habe diese Antwort gegeben, ohne das politische Programm zu vertiefen. Eine Aussprache über die letzten Ziele unserer Politik hätte vielleicht Meinungsverschiedenheit und Trennung ergeben. Ich halte die Ansichten von R. für beeinflussbar. Gerade die Wandelbarkeit der Ansichten von R. scheint mir den Spielraum zu lassen, um die Aufgabe – wohl die einzige, um deretwillen ich dieses Kreuz auf mich nehme – für erfüllbar zu halten: die Verhinderung des Krie- ges, welcher nicht nur das Ende des III. Reiches, sondern auch Finis Ger- maniae wäre.« 123 Wieso verfiel der selbstgefällige, geltungssüchtig-ehrgeizige Ribbentrop aus- gerechnet auf den Gedanken, Weizsäcker zu seinem Staatssekretär zu machen, nachdem Mackensen um seine Versetzung nach Rom gebeten hatte? Gewiss, Weizsäcker war ihm und auch Rudolf Heß durch Albrecht Haushofer, dem kurzzeitig im AA beschäftigten Sohn des berühmten Geopolitikers Karl Haus- hofer, nachdrücklich empfohlen worden. Und Erich Kordt, den Ribbentrop zum Chef seines Ministerbüros bestellte, hatte ihm versichert: »Es gibt keine bessere Wahl. Er wird kein einfacher Untergebener sein, aber er war Offizier Verhinderung des großen Krieges, der ein »Finis Germaniae« wäre 293 und kann gehorchen«.124 Für Haushofer und Kordt war dabei wohl entschei- dend gewesen, dass der beherrscht-zurückhaltende Weizsäcker die Interna des Amtes genau kannte, das Vertrauen der meisten Beamten genoss und Distanz zur Partei hielt. Vielleicht machte gerade das ihn auch für Ribbentrop inte- ressant, der sich durch die Ernennung eines prominenten Nationalsozialisten einen potentiellen Rivalen ins Nest gesetzt hätte. Weizsäcker gelangte jedenfalls durch seine Beförderung Anfang April, wie er selbst empfand, »an die Lötstelle zwischen Dilettantismus und Sachver- stand«, zwischen den »Zünftigen« aus dem Amt und den »Amateuren« aus der Partei, wähnte sich auch dem Ausland gegenüber in einer Schlüsselstel- lung. Das hatte seinen Preis. »Hinterher werde es so aussehen, als sei man dabei gewesen und als habe man mitgemacht«, darüber war er sich im Klaren, aber dieses Odium wollte er auf sich nehmen.125 Denn mit dem Posten des Staatssekretärs war für ihn der Eintritt in die NSDAP verbunden, der unter der Mitgliedsnummer 4.814.617 zum 1. April 1938 erfolgte – und die Auf- nahme in die SS. Auf ausdrücklichen Wunsch Ribbentrops, einem der weni- gen Duzfreunde Himmlers, dem offenbar an einer engen personellen Verzahnung des AA mit der gefährlichsten und mächtigsten Institution des Regimes gelegen war, wurde Weizsäcker am 20. April – Hitlers Geburtstag – mit dem Rang eines Oberführers (das entspricht einem Rang zwischen und Generalmajor) in die SS aufgenommen und am 26. Mai durch Personal- verfügung Himmlers dessen persönlichem Stab zugeteilt. Am 9. November, dem 15. Jahrestag des im Feuer der bayerischen Polizei kläglich gescheiterten Marsches auf die Münchner Feldherrnhalle, wurde er als SS-Führer feierlich auf Adolf Hitler vereidigt. Hätte Weizsäcker ablehnen, den schwarzen Rock zurückweisen, den be- sonderen Treueeid auf Hitler verweigern sollen? Dann wäre er nur wenige Wo- chen Staatssekretär des AA geblieben, schließlich bekleideten die beiden anderen, ihm nachgeordneten Staatssekretäre im AA, Ernst Wilhelm Bohle, der Chef der Auslandsorganisation der NSDAP, und der gerade ernannte Wil- helm Keppler wie der Minister selbst bereits höhere SS-Ränge, wurde das Amt jetzt zunehmend mit Beamten in SS- und SA-Rängen durchsetzt. Weizsäcker wird von Himmler den SS-Ehrendegen, den SS-Totenkopfring erhalten, die Jul-Kerze zum Beginn eines jeden neuen Jahres, wird sich in auffallend kurzen, knappen Briefen bedanken oder den Erhalt bestätigen, bzw. »melden«, gele- gentlich kleine Spenden wie etwa am 16. Dezember 1941 100 Reichsmark – Schwaben sind seit eh und je sparsam – für Gefallene der Waffen-SS anweisen lassen und wird an einem weiteren symbolischen Datum, am 30. Januar 1942, 294 Fallstudie: Ernst von Weizsäcker – Eine Schlüsselfigur zum SS-Brigadeführer (=Generalmajor) ernannt werden. Die SS-Uniform trug Weizsäcker bei offiziellen Anlässen, aber auch im Amt gelegentlich, was im Nachhinein manchem wie Botschafter Werner von Hentig als »unnötiges Zugeständnis an die Partei« erscheinen mochte. Selbst ein überaus kritischer Historiker wie Hans Jürgen Döscher vermag aus alledem aber »keine Identi- fikation mit der SS« ableiten. Tatsächlich ist den Personalunterlagen eine »reservierte Anpassungsbereitschaft«, nicht jedoch »vermeintliche oder tat- sächliche Überzeugungstreue« zu entnehmen.126 Der Kommissionsbericht legt auf derlei Differenzierungen allerdings wenig Wert. Es war aber ein gefährlicher Weg, den Weizsäcker beschritt. Er besaß als Staatssekretär kein Vortragsrecht bei Hitler. Was sollte er tun, wenn sich seine Erwartung, über Ribbentrop die Entscheidungen in der Reichskanzlei zu be- einflussen, als illusionär erwies? Wenn er den Einfluss und die Bedeutung Rib- bentrops auf und für Hitler überschätzte? Am Ostersonntag, dem 17. April 1938, einen Monat nach dem von Weizsäcker in Wien voller Anteilnahme miterlebten »Anschluss« Österreichs 127, eröffnet Ribbentrop auf seinem Gut Freienwalde dem Staatssekretär seine weitreichenden Pläne: Nach außen hin solle man weiterhin Russland als Hauptfeind angehen, tatsächlich jedoch einen Stoß gegen England vorbereiten, das eine Verwirklichung des umfas- senden deutschen Expansionskonzepts niemals zulassen werde. Weizsäcker ist entsetzt über diese »Visionen« einer »wirren Romantik«, die er »in der Welt des Irrealen« entschwinden sieht und die mit seinen Vorstellungen einer Re- vision von Versailles nur noch wenig zu tun haben.128 Durch gutes Zureden, aber auch in heftigen Auseinandersetzungen sucht er dem Minister die Ge- fährlichkeit seiner Pläne vor Augen zu führen – dass Hitler noch ganz andere Ziele anstreben, dass in der Reichskanzlei der große Rasse- und Lebensraum- krieg vorbereitet werden könnte, dieser Gedanke kommt Weizsäcker anschei- nend nicht, noch lange nicht. »Wer das Deutsche Reich und den Führer lieb hat, kann nicht zum Krieg raten«, will er Ribbentrop am 22. Mai auf dem Flughafen Tempelhof nach einer längeren, angeblich sogar heftigen Debatte gemahnt haben.129 Der Außenminister wollte in dieser Zeit der sogenannten »Wochenend- krise« gegen die Tschechoslowakei losschlagen, der dortigen Mobilmachung und allen internationalen Konsequenzen zum Trotz. Auch Hitler neigte be- kanntlich dazu, ließ sich aber in allerletzter Minute davon abbringen. Dass die nach dem 1. Weltkrieg entstandene ČSR ein artifizielles, daher kurzlebiges Gebilde sei und man in Berlin durchaus territoriale Forderungen an Prag rich- ten dürfe, glaubte auch Weizsäcker. Insgesamt schwebte ihm ein Großdeutsch- Die Internationale der Diplomaten 295 land vor, das unter Einschluss Österreichs, Südtirols, Danzigs und des »Kor- ridors« die unangefochtene Vormachtstellung auf dem Kontinent innehaben sollte. Aber er war unbedingt gegen ein militärisches Vorgehen, gegen das, was er eine »mechanische Lösung« nannte, weil dadurch England und Frankreich gegen das Reich mobil machen würden und der große Krieg die Folge wäre, an dessen Ende er früh schon ein »Finis Germaniae« sich abzeichnen sah. Weizsäcker votierte stattdessen, übrigens gemeinsam mit Göring, für eine »chemische Lösung«. Durch wirtschaftliche Pressionen, das Schüren des Ge- gensatzes zwischen Tschechen und Slowaken, das Pochen auf dem Selbstbe- stimmungsrecht der Sudetendeutschen über die Sudetendeutsche Partei Konrad Heinleins, auch durch Förderung der polnischen Revisionswünsche sollte die ČSR geschwächt, zersetzt, ihr von Weizsäcker verachteter Führer Beneš entmachtet werden. Doch die Realisierung dieser Alternative setzte etwas voraus, das Hitler, der seine gesamte Politik seiner eigenen Lebenspla- nung und -erwartung unterordnete, nicht besaß: Geduld.130 Als Weizsäcker aus Gesprächen mit General Halder, Admiral Canaris und Generalstabschef Beck von der Entschlossenheit Hitlers erfährt, die »tsche- chische Frage« rasch und notfalls auch mit Gewalt zu lösen, als er überdies erkennen muss, wie wenig er mit seinen Mahnungen, Warnungen und gele- gentlich vorgebrachten Entlassungsgesuchen bei Ribbentrop – ihn und nicht Hitler hält er neben Himmler trotz allem bis weit in das Jahr 1939 hinein für den eigentlichen Kriegstreiber – ausrichten kann, entschließt er sich mit an- deren Mitteln und nicht mehr allein auf dem Dienstweg Front zu machen gegen den großen Krieg. Er sucht den Kontakt zu Parteifunktionären aus der Umgebung Hitlers, will über den befreundeten italienischen Botschafter At- tolico den Duce in Rom zur Kriegsverhütung bewegen, über den britischen Geschäftsträger in Berlin, Sir Neville Henderson, London mobilisieren. Mit Hilfe von Erich Kordt und dessen in der deutschen Botschaft an der Themse beschäftigtem Bruder Theo versorgt er die britische Regierung obendrein mit detaillierten Hintergrundinformationen über Hitlers Absichten und Schritte – soweit sie ihm bekannt werden.131 Damit erreichte er sein Ziel. Jener Text, den Mussolini am 29. September 1938 in München aus der Tasche zog und der die Grundlage bildete für das brutale Abkommen, mit dem die Zerstückelung der hilflosen Tschechoslowa- kei über deren Kopf hinweg besiegelt, zugleich der Kriegsbeginn jedoch ver- hindert wurde – er war kurz zuvor in Berlin hinter dem Rücken Ribbentrops von Weizsäcker, Göring und Neurath entworfen, eventuell auch noch mit Heß abgestimmt und anschließend nach Rom übermittelt worden.132 Die »ge- 296 Fallstudie: Ernst von Weizsäcker – Eine Schlüsselfigur räuschloseste aller Internationalen, die Internationale der Diplomaten« 133 – so Margret Boveri – hatte gegen Hitler gewonnen, zum letzten Mal. Denn das Münchner Abkommen sollte sich als Pyrrhus-Sieg erweisen, mit dem der Krieg lediglich für einige Monate aufgeschoben worden war. Hitlers Wut richtete sich nun noch stärker gegen die seit langem verachte- ten, mutlosen Zauderer im AA und besonders gegen dessen Staatssekretär, diesen »Weizensack«, wie er gewettert haben soll.134 Weizsäckers Stellung wurde jetzt schwieriger und dubioser zugleich. Er hofft weiterhin, seine Bemühungen um eine friedliche Revision der Versailler Ordnung würden letztlich von Erfolg gekrönt sein. Aber darf er daran noch guten Gewissens glauben nach all den Erfahrungen mit der Führungsspitze des Regimes? Gewiss, er fühlt sich wie in einem Irrenhaus – und verstrickt sich doch immer tiefer in jenem Netz aus Größenwahn, Kriegstreiberei und Unrechtstaten. Nicht ohne Grund hat er später betont, der »Tag von München« sei der »letzte glückliche Tag« in seinem Leben gewesen.135 Er übernimmt den Vorsitz in jener internationalen Kom- mission, die die neuen Grenzen der ČSR festlegen soll, kann aber unter Hitlers Druck eine »Grenzziehung auf dem Vergewaltigungswege« nicht verhindern. Gleichzeitig wird er mehr und mehr eingebunden in die Kriegsvorbereitungen, laufen die immer präziseren Handlungsanweisungen für die Auslandsmissio- nen zur Mobilmachung über seinen Schreibtisch.136 An jenem erbärmlichen Menschenschacher zwischen Warschau und Berlin im Spätherbst 1938, als beide Regierungen Juden zu Tausenden ausbürgern und in den jeweils anderen Staat abschieben wollten, ist er ebenfalls beteiligt. Als der inzwischen staatenlose deutsch-polnische Jude Herschel Grynszpan aus Protest gegen diese Aktion in Paris ein Attentat auf den deutschen Diplo- maten Ernst Eduard vom Rath verübt, hält Weizsäcker dort die Trauerrede auf den Ermordeten, schließt mit den Worten: »Deutschland erwartet Dich«, was in der NS-Presse zu einem »Deutschland erwache« wird.137 Nach außen tritt er damit sehr deutlich und prononciert als Funktionsträger des braunen Regimes in Erscheinung. Hinter den Kulissen hat er amerikanische Proteste gegen die Behandlung der Juden und die nach dem Novemberpogrom weiter verschärfte antijüdische Gesetzgebung, besonders gegen die »Verordnung zur Ausschließung der Juden aus dem Wirtschaftsleben« zu beantworten, er hat das umfangreiche Rechtfertigungsschreiben vom 27. Dezember 1938 abge- zeichnet.138 Im Januar 1939 notiert der elf Monate zuvor als Botschafter in Rom abgelöste Ulrich von Hassell, den mit Weizsäcker eine spannungsvoll- freundschaftliche Beziehung verbindet, denn auch, der Staatssekretär scheine ihm »immer mehr entmarkt« zu werden.139 »Jeder tue, was ihm sein Gewissen vorschreibt« 297

Als Weizsäcker im Februar 1939 von der für März geplanten »Zerschlagung der Rest-Tschechei« Kenntnis erhält, rät er in einer Denkschrift dazu, statt dessen »den im Inland populärsten, dem Ausland verständlichsten Akt der deutschen Außenpolitik« zu vollziehen: den »Erwerb Memels und Danzigs sowie einer breiten und festen Landbrücke nach Ostpreußen«. Seine Prognose: »Polen hätte dabei wenig Sympathien und kaum irgendwelche Hilfe Dritter zu gewärtigen. In unserer Hand läge es, Polen auf das uns genehme Größen- maß als Puffer gegen Russland zu reduzieren«.140 Es kam anders. Hitler ging es nicht um Grenzkorrekturen, Pufferstaaten und dergleichen. Er ließ zur Vorbereitung seines Eroberungskrieges im Osten am 15. März deutsche Soldaten nach Prag marschieren. England und Frank- reich garantierten nach diesem Gewaltakt am 31. März die Unabhängigkeit Polens, begannen bekanntlich mit dem Kreml Verhandlungen über eine Anti- Hitler-Koalition. Weizsäcker ist gegen die Bildung einer neuen Triple-Entente, begrüßt daher die Aufnahme von Gesprächen zwischen Berlin und Moskau und intensiviert im Auftrag Ribbentrops den Kontakt zum sowjetischen Ge- schäftsträger Astachow. Das Ziel des Staatssekretärs: eine »Schwebelage«, Zeitgewinn, um die Mög- lichkeiten für eine friedliche Grenzrevision im Osten verbessern und gleich- zeitig dem deutschen Diktator klarmachen zu können, dass entgegen den großspurigen Versprechungen seines Außenministers die Briten und Franzosen tatsächlich für Polen zu den Waffen greifen würden. Wieder benutzt er seine stillen Kanäle, um die Verantwortlichen in London gegenüber Hitler zu Sig- nalen der Härte und Entschlossenheit zu drängen und zugleich dazu zu be- wegen, auf die bisweilen forschen, provokanten Polen mäßigend einzuwirken, sie zu territorialen Konzessionen zu bewegen.141 Diesmal jedoch scheiterten Weizsäckers Bemühungen. Er hatte vor allem die Entschlossenheit Stalins unterschätzt, mit Hitler schnell handelseinig zu werden, daher bis in den August hinein nicht mit dem raschen Abschluss eines deutsch-sowjetischen Paktes gerechnet, außerdem lange an Hitlers Willen zum Krieg gezweifelt, weil er vielfach Zeuge seines Schwankens geworden war und daher fälschlicherweise in Ribbentrop den eigentlichen Kriegstreiber vermu- tete. In der Nacht vom 30. auf den 31. August schwankt Hitler jedoch nicht mehr. Weizsäcker ist bei jenem nächtlichen Gespräch zwischen dem Diktator und Ribbentrop dabei, aber die mit zwei Kugeln geladene Pistole in seiner Ta- sche benutzt er nicht. »Ich bedauere, es hat in meiner Erziehung nicht gelegen, einen Menschen zu töten«, soll er kurz darauf zu Erich Kordt gesagt haben.142 Am 1. September meidet er Reichstag und Hitlerrede, bleibt im Amt, wo er 298 Fallstudie: Ernst von Weizsäcker – Eine Schlüsselfigur in der Morgensitzung den Beamten kurz seine Tages-Parole mitteilt: »Jeder tue, was ihm sein Gewissen vorschreibt«.143 Die Parole eines Gescheiterten. Resignation durchzieht jetzt seine Tagebuch- notizen, nicht allein am 5. September 1939: »Nun sind wir im Kampf. Gebe Gott, dass nicht alles, was gut und wertvoll ist, dabei zu Grunde geht …«144 An einen positiven Ausgang dieses Krieges vermag er, der ehemalige Marine- offizier und hervorragend über die internationale Lage, das internationale Kräfteverhältnis informierte Staatssekretär von Anfang an nicht zu glauben. Aber Weizsäcker, zunehmend von Frustration und, ja, wohl auch Verzweiflung gezeichnet, die der ohnehin eher introvertierte Mann aber vor allem in sich einkapselt und allenfalls bruchstückhaft seinem Tagebuch anzuvertrauen ver- mag, bleibt auf seinem Posten. Aus Pflichtgefühl. In der Hoffnung, Schlim- meres verhüten zu können, insbesondere eine Ausweitung und Verlängerung des Krieges, ab 1940 dann in allererster Linie einen Angriff auf die Sowjet- union. Er ist zugleich wie die überwältigende Mehrheit der Deutschen kei- neswegs unbeeindruckt von den militärischen Erfolgen der ersten Kriegsjahre, hofft dann doch wieder auf einen raschen Friedensschluss, noch bevor das ganze Land zerstört und zur Verhandlungsmasse degradiert ist, hofft immer wieder, die Ausweitung des Krieges verhindern zu können, hofft auf eine Ak- tion der Militärs gegen Hitler. Er klammert sich an Illusionen, versucht gleich- zeitig zusammen mit seinen Mitarbeitern Kessel und Nostitz, Menschen zu helfen, wo er kann, und Kontakt zu oppositionellen Kräften zu halten, ohne sich selbst lebensbedrohlich zu kompromittieren.145 Insgesamt war seine Lage, wie sich Ulrich von Hassell im April 1940 no- tierte, »in jeder Hinsicht abscheulich; im Grunde hat er nichts zu sagen, wird aber mit verantwortlich gemacht«.146 Ein Schlüsselsatz – beide verband eine durchaus spannungsreiche Beziehung, aber hier beschreibt Hassell hellsichtig und klar die Situation seines Widerparts. Und zwar nicht nur 1940, sondern auch in den Folgejahren bis zu Weizsäckers Wechsel in Frühjahr 1943 nach Rom, zum Vatikan. Und darüber hinaus, bis zum Prozess, bis zur Endphase seines Lebens. Vielleicht selbst noch darüber hinaus, als die Nachgeborenen mit der Arroganz und Ignoranz der späten Geburt ihn posthum verantwortlich machten, ohne die erste Hälfte von Hassells Diktum zu berücksichtigen – sei- nen Hinweis auf die alles in allem doch begrenzten Einflussmöglichkeiten eines Staatssekretärs des AA im Zweiten Weltkrieg, in jenen Zeiten, als der deutsche Staat von Hitlers ausgeprägtem »Führerabsolutismus« dominiert wurde und jede Form von Widerspruch, noch dazu von ziviler Seite, sich rasch existenzbedrohend auswirken konnte. »Er hat im Grunde nichts zu sagen, wird aber mit verantwortlich gemacht« 299

Weizsäcker flüchtet sich jedenfalls, so hat es den Anschein, regelrecht in Arbeit. Je mehr das Amt im Krieg trotz wachsender Mitarbeiterzahlen auf der subalternen Ebene an Bedeutung einbüßt, je weniger Ribbentrop im Amt prä- sent ist, je mehr er anderen wie Friedrich Gaus, der »Hure des A. A.« (so höhnt Schellenberg) 147 sein Vertrauen schenkt und zugleich den Draht zu Hitler nicht gänzlich abreißen lassen will, dem »Führer« in die diversen Hauptquartiere im Sonderzug nachreist, desto verbissener harrt der Staatssekretär in der Wil- helmstraße 74 aus. Er kommt weiterhin immer pünktlich morgens um acht ins Amt, leitet die Routinebesprechungen, hält Kontakt zu den anderen Ressorts und zum klei- ner werdenden diplomatischen Korps, denn die Zahl der Länder, die noch Beziehungen zum Deutschen Reich unterhalten, wird ab 1939 zusehends ge- ringer, umfasst bald von dem italienischen und japanischen Verbündeten und den Satellitenstaaten abgesehen lediglich noch Posten in Bern, Dublin, Lissa- bon, Madrid und Stockholm. Oft bleibt Weizsäcker bis gegen Mitternacht, übernimmt in vielen Kriegsnächten sogar höchstpersönlich den »Notdienst«, vielleicht auch, weil er den Aufenthalt in seiner noblen neuen Dienstvilla im Tiergarten nicht wirklich schätzt, ist das Palais in der Admiral-Schroeder- Straße – bis 1933 hieß sie Kaiserin-Augusta-Straße, nach 1947 und bis heute Köbis-Straße – doch Ende November 1938 vom Reich dem jüdischen Bankier Hans Fürstenberg, dem Chef der Berliner Handelsgesellschaft, einer der größ- ten deutschen Geschäftsbanken, vor dessen Emigration für 350.000 Reichs- mark abgezwungen worden. Nach deren Zerstörung durch einen schweren Bombenangriff wird er – inzwischen selber in Rom – der Mutter schreiben: »Auf dem Haus in der Admiral-Schroeder-Straße lag kein Segen. Wir zogen ungern ein. Kaum ein Tag dort war ohne schwere Sorgen … Beruflich kam kein guter Tag mehr dort.« 148 Im AA hält ihn der Kampf gegen Übergriffe konkurrierender Institutionen, aber auch der Dauerkonflikt mit Goebbels in Atem. Bei abnehmendem Ein- fluss nahm der Konkurrenz- und Kompetenzneid kontinuierlich zu – »we- nigstens 60 Prozent seiner Zeit« habe er mit »törichten Rivalitätskonflikten hingebracht«, sagte er rückblickend nicht von ungefähr. Und mit der weiter wachsenden Bürokratie des Amtes natürlich, die gleichfalls allen Bedeutungs- verlusten zum Trotz erfolgte. Vor 1938 umfasste der Auswärtige Dienst etwa 2.665 Bedienstete, davon rund 430 höhere Beamte. Unter Ribbentrop, der den Zustrom von Seiteneinsteigern aus seiner »Dienststelle Ribbentrop«, aus der NSDAP-Auslandsorganisation (AO), der Partei, der SS und SA nach Kräf- ten befördert hat, stieg die Zahl bis 1942 auf 6.458 Mitarbeiter an, davon 300 Fallstudie: Ernst von Weizsäcker – Eine Schlüsselfigur noch etwa 668 Diplomaten.149 Immer neue Räumlichkeiten wurden benötigt, 1943 hatte das AA neben der Wilhelmstraße noch 16 weitere Gebäude mit Beschlag belegt (die Weizsäcker allerdings nie betreten hat) die im Kommis- sionsbericht nicht vorkommen.150 In einem davon, in der Rauchstraße 11 im Tiergarten, residierte jene Deutschlandabteilung, die in der Ära Stresemann gerade aus einem Beamten bestanden hatte, 1940/41 aber deren 200 beschäftigte und unter der Leitung von Unterstaatssekretär Martin Luther, einem ebenso machthungrigen wie skrupellosen ehemaligen Spediteur und Steuerberater, in engster Abstimmung mit dem Reichssicherheitshauptamt (RSHA) nun auch »Judenfragen« bear- beitete. Hier, in diesem Referat D III liegt auch die unmittelbare Schnittstelle des AA zu Adolf Eichmann und seinem Referat IV B4 im RSHA, das verant- wortlich war für die Koordination des staatlichen Massenmordes, der schon mit dem Einfall in Polen beginnt. In dieser Deutschlandabteilung, im von Franz Rademacher geleiteten Referat D III, entstand im Juli 1940 der soge- nannte »Madagaskar-Plan«, der, »um die Judenfrage in Europa zu lösen«, vor- sah, alle europäischen Juden auf die zum französischen Kolonialreich gehörende Insel Madagaskar zu transportieren – einem keinesfalls für das Überleben von Millionen von Menschen geeigneten Ort. Dieser im RSHA zustimmend aufgenommene Plan – dort arbeitete man an entsprechenden Pa- rallelplänen – ließ sich allerdings nicht verwirklichen. Wegen der Kriegslage, vor allem der britischen Seeherrschaft, blieben die Transportprobleme – es ging schließlich um Millionen von Menschen – unüberwindlich.151 Davon wusste der Staatssekretär vermutlich wenig. Für die Reichsführung SS galt er durchweg als »Mann ohne Verantwortung«, der »nichts auf die ei- gene Kappe« nahm. Ein Zauderer und Bedenkenträger, nicht wirklich aufge- laden mit jener brutal-skrupellosen Energie, die sich – zum »Wohle der Volksgemeinschaft« – über alle bürgerlichen Normen und Rechtsgrundsätze hinwegzusetzen bereit war wie die jüngeren überzeugten Nationalsozialisten aus der Generation des Unbedingten.152 So wird auch nicht Weizsäcker, sondern der von ihm verachtete Luther, »das Reptil«, durch Reinhard Heydrich, den Chef der Sicherheitspolizei und des SD, zu jener Besprechung am 20. Januar 1942 eingeladen, die später als »Wannsee-Konferenz« traurige Berühmtheit erlangen sollte. Aber Weizsäcker wird von Luther über die Ergebnisse dieser Besprechung hochrangiger Ressortvertreter zur »Koordination der Endlösung der Juden- frage« unterrichtet, bekommt später dann die Protokolle der beiden Folge- konferenzen vom 6. März und 27. Oktober 1942 zu Gesicht, die alle ebenfalls Mitwirkung bei Rassenwahn und Massenmord 301 den höchsten Geheimhaltungsstempel »Geheime Reichssache« tragen und gleichfalls mit »Besprechung zur Endlösung der Judenfrage« überschrieben sind. Auf den beiden Folgekonferenzen wird vor allem das Problem diskutiert werden, wie jüdische »Mischlinge« zu behandeln sind, denn zu diesem Zeit- punkt ist der industriell-seriell organisierte Massenmord in den Vernichtungs- lagern, insbesondere in Auschwitz, schon in vollem Gange.153 Auch Weizsäcker kommt damit in Berührung. »Vom außenpolitischen Gesichtspunkt dürfte es gleichgültig sein, ob die Mischlinge nach Osten abgeschoben oder sterilisiert und in Deutschland belassen werden«, formuliert er im Juni 1942.154 Vom au- ßenpolitischen Standpunkt gleichgültig, möglicherweise. Aber vom mensch- lichen Standpunkt keinesfalls. »Mischlinge«, »abschieben«, »sterilisieren«, »in Deutschland belassen« – das Wörterbuch des Unmenschen hat auch dieser Staatssekretär aufgeschlagen und reichlich benutzt, hat verdrängt, welch schreckliche Menschenschicksale sich hinter diesen bürokratischen Termini verbargen. Weizsäcker wird zu diesem Zeitpunkt schon geahnt, nein: gewusst haben, dass er 1938 die grundfalsche Entscheidung getroffen hatte, als er, Rib- bentrops Auffor derung entsprechend, »erster« Staatssekretär im Amt geworden war. Es war ein Scheitern auf Raten gewesen. Jetzt, im Sommer 1942, war der Tiefpunkt erreicht. Noch einmal greift er am 12. September in diese streng geheime Diskussion über das Schicksal von jüdisch-deutschen »Mischlingen« ein, als er auf dem Dienstweg über die Unterstaatssekretäre Gaus, Woermann und Luther dem Referat D III und damit Rademacher – er wird ab April 1943 durch Eberhard von Thadden ersetzt werden – und seinen Mitarbeitern und Funktionären der Endlösung, wie Horst Wagner und Fritz Gebhardt von Hahn in der Rauch- straße mitteilt: »Zu einem sachlichen Urteil über die hier geplanten gesetzgeberischen Maß- nahmen scheinen mir im Auswärtigen Amt die Unterlagen und Vorkennt- nisse zu fehlen. Ich glaube, wir sollten uns daher auf die allgemeine Fest- stellung beschränken, dass die jeweils mildere der zur Diskussion stehenden Lösungen vom außenpolitischen Gesichtspunkt aus den Vorzug verdient, um a) der Gegenpropaganda Ansatzpunkte zu entziehen, b) das Mitgehen der zu interessierenden anderen europäischen Staaten zu erleichtern.«155 Eine für Weizsäcker durchaus typische Stellungnahme. Im Kommissionsbe- richt findet sie keine Berücksichtigung. Sie passt nicht wirklich in das Klischee von der »Verbrecherhöhle«. Jedenfalls suchte Weizsäcker in Verbindung mit dieser grauenvollen Thematik hier ganz unstrittig und unter Hinweis auf au- ßenpolitische Gesichtspunkte abzumildern, abzuschwächen. So suchte er auch 302 Fallstudie: Ernst von Weizsäcker – Eine Schlüsselfigur zu helfen, diskret, von Fall zu Fall, aus dem System heraus. Ein Schritt wie der seines Nachfolgers Steengracht, der bei der Übermittlung einer Ausreise- genehmigung Hitlers für 400 ungarische Juden nach Schweden eine Null hinzufügte, so 3600 Menschen rettete, wäre Weizsäcker fremd, wäre Urkun- denfälschung, für ihn als deutschen Beamten etwas Unmögliches gewesen. Selbst einem skrupellosen System gegenüber bewahrte er seine Skrupel, wirkte daher oft im Kern hilflos und überfordert.156 Von den Deportationen wusste Weizsäcker – und dafür wurde er in Nürn- berg verurteilt. Am 9. und 11. März 1942 hatte Eichmann, der Leiter des Re- ferats IV B4 (Judenangelegenheiten, Räumungsangelegenheiten) im RSHA, in zwei Schreiben an Rademacher, den Leiter des Referats D III, um Zustim- mung zur Deportation von insgesamt 6.000 Juden gebeten, die in Frankreich im Rahmen von »Sühnemaßnahmen« nach Anschlägen gegen die deutsche Be- satzungsmacht verhaftet worden waren, bzw. in anderer Weise »sicherheitspo- litisch in Erscheinung getreten seien«. Rademacher legte daraufhin Weizsäcker den Entwurf für ein vollumfänglich zustimmendes Antwortschreiben vor, worin stand: »Seitens des AA bestehen keine Bedenken gegen die geplante Ab- schiebung von insgesamt 6.000 Juden französischer Staatsangehörigkeit, bzw. staatenloser Juden nach dem Konzentrationslager Auschwitz«. Weizsäcker er- setzte »keine Bedenken« durch »keinen Einspruch« und fügte noch eine weitere, bedeutsamere Abänderung hinzu: Er beschränkte die einspruchlose Duldung ausdrücklich auf »die Abscheibung von insgesamt 6.000 polizeilich näher cha- rakterisierten Juden«. Michael Mayer hat in diesem Zusammenhang ganz rich- tig und in klarem Gegensatz zum Komissionsbericht differenzierend festgestellt: »Während die Abteilung Deutschland völlig im Einklang mit dem RSHA die Deportation von Juden befürwortete, wollte Weizsäcker die Maßnahme auf eine bestimmte Anzahl von Juden begrenzen – Juden, die durch krimi- nelles Verhalten aufgefallen waren. Der verbrecherische Charakter allein dieser Deportation steht außer Frage, Weizsäckers Intervention belegt den verbreiteten Antisemitismus der alten Eliten. Dennoch zeigt sich an diesem Punkt, dass es zwischen Weizsäcker und der Abteilung Deutschland einen qualitativen Unterschied in der ›Judenfrage‹ gab. Die Singularität des Holocaust besteht ja gerade darin, dass ausnahmeslos alle Juden ermordet werden sollten. Die traditionelle Judenfeinschaft in Europa dagegen ›diffe- renzierte‹ zwischen ›guten‹ nationalen und ›schlechten‹ ausländischen Juden, ›linken‹ oder ›kriminellen‹ Juden. (…) Die moralische Indifferenz Weizsäckers deckte sich im Übrigen mit der Haltung der Vichy-Adminis- tration, die der Auslieferung an Deutschland gleichfalls bedenkenlos zuge- Der Staatssekretär und die Deportation der französischen Juden 303

stimmt hatte. Hier jedoch eine Zielidentität zwischen Eichmann und Lu- ther einerseits sowie Weizsäcker, bzw. der französischen Regierung ande- rerseits zu konstruieren, wie es im Kommissionsbericht geschieht, würde die Komplexität der Judenverfolgung unterschätzen und die Verantwort- lichkeiten verwischen.«157 Am 27. März verließ der erste Zug voll Deportierter Compiègne in Richtung Auschwitz. Im Juni fragte Eichmann nochmals – und zum letzten Mal – an, ob das AA Einspruch einlege, wenn jetzt in Sonderzügen zu 1.000 Personen je rund 40.000 Juden aus Frankreich und aus den Niederlanden sowie 10.000 aus Belgien »zum Arbeitseinsatz in das Lager Auschwitz abbefördert« würden. In einem von Weizsäcker und Woermann, dem Leiter der Politischen Abteilung, abgezeichneten Schnellbrief teilte Luther am 29. Juli 1942 Eichmann mit, dass »gegen die geplante Verschickung der angegebenen Anzahl von Juden … keine Bedenken seitens des Auswärtigen Amtes bestehen«.158 Das war noch nicht alles. Weizsäcker wurde von Luther auch – wie dessen umfangreiches Memorandum Zur Entwicklung der deutschen Judenpolitik im Krieg vom 21. August 1942 belegt – in anderen Abschiebungsfällen einbezo- gen. Der Staatssekretär hatte die deutsche Anfrage bei deren rumänischen, kro - atischen und slowakischen Satellitenregierungen gebilligt, ob diese »ihre Juden in angemessener Frist aus Deutschland abberufen oder ihrer Abschiebung in die Ghettos im Osten zustimmen wollten«. Er hatte erfahren, wie etwa die slo- wakische Regierung »sich mit dem Abtransport aller Juden ohne jeden deut- schen Druck einverstanden« erklärt und sogar noch eingewilligt hatte, »für jeden evakuierten Juden als Unkostenbeitrag RM 500.– zu zahlen«. Daraufhin wurden 52.000 Juden aus der Slowakei »fortgeschafft«, 35.000 aber hatten, wie Luther monierte, »bedingt durch kirchliche Einflüsse und Korruption ein- zelner Beamter Sonderlegitimationen erhalten«. Von Weizsäcker war daraufhin die deutsche Erklärung gegenüber dem slo- wakischen Präsidenten Tiso mitgezeichnet worden, in der stand, »die Aus- schließung der 35.000 Juden [aus den geplanten Deportationen; D.K.] würde in Deutschland überraschen, um so mehr, als die bisherige Mitwirkung der Slowakei bei der Judenfrage hier sehr gewürdigt worden« sei, was im Wilhelm- straßenprozess 1948 noch eine Rolle spielen sollte. Bei der Abschiebung ita- lienischer Juden machte der Staatssekretär allerdings wesentlich entschiedener Bedenken geltend, drängte auf Rücksprache mit der Botschaft in Rom, wehrte sich überhaupt gegen die automatische Einbeziehung ausländischer, vor allem amerikanischer Juden, forderte ein Gutachten der Rechtsabteilung des AA, spielte in diesem Fall hinhaltend auf Zeit, möglicherweise, weil ihm immer 304 Fallstudie: Ernst von Weizsäcker – Eine Schlüsselfigur genauer bewusst geworden war, welch bitteres Schicksal die Deportierten am Ende der Transporte erwartete.159 Im Zuge des durch Luthers Intrigen – er hatte im Zusammenspiel mit Himmler und Schellenberg versucht, Ribbentrop zu stürzen, war aber damit gescheitert und im KZ Sachsenhausen gelandet – ausgelösten Personal-Revire- ments im AA Anfang 1943 hatte Weizsäcker seine Versetzung zum Vatikan er- reicht, dem neben Bern letzten verbliebenen bedeutenderen Auslandsposten des Dritten Reiches in Europa. Ribbentrop schreibt dazu in den von seiner Frau posthum veröffentlichten Erinnerungen Zwischen London und Moskau, er habe Weizsäcker damals nach Rom geschickt, »weil ich in Berlin einen Staatssekretär brauchte, der besser mit der Partei verhandeln konnte«.160 Ein kleiner Hinweis darauf, dass Weizsäcker tatsächlich auf der Führungsebene des Regimes nicht als überzeugter, aufgeladener und bis in den Untergang fanatischer Nationalso- zialist galt und er deshalb die angeschlagene Position Ribbentrops auch nicht verbessern oder die Bedeutung des Amtes für Hitler und seine engsten Paladine wieder zu steigern vermocht hätte. Deshalb entsprach Ribbentrop seinem Wun- sche nach einer Versetzung, deshalb legte ihr Hitler keine Steine in den Weg. Auch in Rom wirkte Weizsäcker diskret, setzte sich für bedrängte italieni- sche Juden ein, besaß einen guten Draht zu Papst Pius XII., den er wohl schon seit dessen Berliner Zeit als Nuntius kannte, wo Eugenio Pacelli von 1925 bis 1929 residiert hatte, bevor er als Kardinalstaatssekretär wichtigster politischer Berater seines Vorgängers, Papst Pius XI., geworden war. Ulrich von Hassell allerdings ist enttäuscht von seinem langjährigen Gesprächspartner im Amt, als er sich Mitte 1943 notiert: »Weizsäcker hat im Vatikan einen Posten, der sehr wichtig sein könnte, aber es unter diesem Regime nicht ist. Es ist die üb- liche falsche Etikette für die Nazis, zu der er sich einmal mehr hergibt«. Bereits kurz zuvor hatte von Hassell nach einer Unterredung mit Otto von Hentig, dem Vertreter des Auswärtigen Amts beim Oberkommando der 11. Armee auf der Krim, wo dieser 1941 und 1942 Zeuge von Massenexekutionen geworden war und entsprechend empört darüber berichtete hatte, sich aufge- schrieben: »Hentig (viel zu wenige im Widerstand) sehr scharf über Weizsä- cker. Merkwürdig, wie oft man bei Schwaben beim tieferen Bohren auf Mangel an Festigkeit des Charakters und eine durch Bonhomie verdeckte Bau- erngerissenheit stößt; vgl. Kiderlen, Neurath, Weizsäcker.« Und im Dezember 1943, also einige Monate später, hält von Hassell nach einem Besuch von Frau von Weizsäcker – die lange als überzeugte »Nazisse« und enthusiasmierte Hitler-Bewunderin galt – und deren Begleiter, dem Weiz- säcker-Vertrauten Albrecht »Teddy« von Kessel, fest: »Ihr Begleiter [v. Kessel; Im Vatikan bei Pius XII. 305

D.K.] behauptet aber, sein Chef dränge mit äußerster Schärfe auf Aktion. Das ist vom Vatikan aus bequem! Vorher hat er sich doch nicht allzu tief ein- gelassen …«161 Nein, mit dem Widerstand hatte sich Weizsäcker nicht wirklich tief einge- lassen. Die Bitterkeit darüber spricht aus Hassells Zeilen. Während dieser nach dem 20.Juli 1944 verhaftet und hingerichtet werden sollte, überlebte Weizsä- cker. Sein Sohn Carl Friedrich rückte ihn dennoch näher an die Männer des Widerstands heran, indem er noch 1987 in der ZEIT versicherte: »Wäre mein Vater nach dem 20.Juli 1944 nicht in Rom schon unerreichbar für die natio- nalsozialistische Justiz gewesen, so hätte man ihn vermutlich verhaftet und hingerichtet«.162 Das allerdings geht deutlich zu weit. Diese apologetische Aus- sage ist außerdem ahistorisch und schon durch die Zeitumstände leicht zu wi- derlegen. Hitler kannte bei Verwicklungen in den Widerstand keine Gnade. Seine Rachsucht war beträchtlich. Nicht umsonst ließ er sich Filme der Hin- richtungen vorführen. Wäre Weizsäcker auf den Radarschirm der Gestapo ge- raten und hätte sich geweigert, nach Berlin zurückzukehren, wären die dem deutschen Zugriff ausgesetzten Familienmitglieder unverzüglich als Geiseln herangezogen worden. Diese aber blieben gänzlich unbehelligt. Carl Friedrich etwa lehrte weiter Physik an der Reichsuniversität in Straßburg und sein Bru- der Richard kämpfte an der Ostfront. Nach Mussolinis Sturz und dem deutschen Einmarsch in Italien im Sommer 1943 suchte Weizsäcker hinter den Kulissen die Kirchenpolitik Pius XII. der diskreten Rettung von Verfolgten, auch von verfolgten Juden, zu unterstützen. Im amtlichen Schriftverkehr findet sich dazu – begreiflicherweise – nichts. Ganz im Gegenteil. Als im Oktober 1943 8.000 römische Juden deportiert werden sollten – tatsächlich wurden 1.007 Juden nach Auschwitz deportiert, während es mehr als 7.000 Juden gelingen sollte, sich zu verstecken – berichtete der deutsche Botschafter beim Vatikan, der Papst habe sich »obwohl dem Ve- nehmen nach von verschiedenen Seiten bestürmt, zu keiner demonstrativen Äußerung gegen den Abtransport der Juden in Rom hinreißen lassen … In dieser heiklen Frage hat er alles getan, um das Verhältnis zu der deutschen Re- gierung und den in Rom befindlichen deutschen Stellen nicht zu belasten. Da hier in Rom weitere deutsche Aktionen in der Judenfrage nicht mehr durch- zuführen sein dürften, kann also damit gerechnet werden, dass diese für das deutsch-vatikanische Verhältnis unangenehme Frage liquidiert ist«.163 Das sind Sätze aus dem Wörterbuch des Unmenschen. Nicht eine »unan- genehme Frage« wurde liquidiert – sondern Menschen. Aber während die Judenreferenten im AA, Horst Wagner und Eberhard von Thadden, Gestapo- 306 Fallstudie: Ernst von Weizsäcker – Eine Schlüsselfigur

Chef Müller im RSHA zu stärkeren Kontrollen im italienischen Apparat durch das SS-Einsatzkommando Italien drängten, um die Deportationen sicherzu- stellen und so de facto Beihilfe zur Ermordung der italienischen Juden leisteten – an dieser Stelle verschwammen tatsächlich die Unterschiede zwischen RSHA und AA, wie der Kommissionsbericht feststellt 164 – ging Weizsäcker eigene Wege. Dieser entlastende Aspekt fehlt nun wiederum im Kommissionsbericht. Während die Judenreferenten des AA mit dem RSHA eng zusammenarbeite- ten, konterkarierte der Botschafter diese Kooperation zumindest partiell und trug vermutlich sogar dazu bei, dass viele italienische Juden sich erfolgreich dem Zugriff der SS entziehen und den diversen Verhaftungsaktionen entgehen konnten. Weizsäcker hielt nämlich enge Fühlung zum päpstlichen Beauftragten, Monsignore Hugh O’Flaherty, den er verschiedentlich vor bevorstehenden Razzien, Durchsuchungen und Verhaftungen warnte durch den mächtigsten und gefährlichsten Gegner der Kirche in Rom, SS-Obersturmbannführer Her- bert Kappler, den Befehlshaber der SiPo und des SD, der nicht zuletzt auch für die Geiselerschießungen in den Ardeatinischen Höhlen verantwortlich war. Nach dem Einmarsch der Alliierten im Juni 1944 in Rom wurde Kappler verhaftet und bald darauf zu lebenslanger Haft verurteilt. 1959 konvertierte er zum Katholizismus und wurde von niemand anderem getauft als von sei- nem einst wichtigsten Gegenspieler im Vatikan – von O’Flaherty! Die Ge- schichte und Nachgeschichte des Dritten Reiches ist voll von derartigen Seltsamkeiten, die das Leben »schreibt«. Im Kommissionsbericht tauchen sie allesamt nicht auf. 1977 flüchtete Kappler übrigens, krebskrank, mit Hilfe eines katholischen Geistlichen aus einem italienischen Krankenhaus nach Deutschland, wo er wenig später starb.165 Doch zurück zu Weizsäcker. Er betreibt auch im Vatikan, auf dieser seltsa- men Insel des Friedens und der Sicherheit, noch in der letzten Kriegsphase großdeutsche Außenpolitik. Seine Hoffnung: Im Bündnis mit den Westmäch- ten den ausgreifenden Bolschewismus zurückdrängen, den Westalliierten mit- hin klar machen, dass sie Deutschland als Partner und Puffer gegen Stalins Hegemonialanspruch unbedingt benötigten. Die »Weizsäcker-Papiere« ent- halten dazu eine ganze Reihe von Dokumenten über vertrauliche Gespräche zwischen ihm und Domenico Tardini, dem Sekretär der Kurienabteilung für Außerordentliche Kirchliche Angelegenheiten, die er im Auftrag von Ribben- trop führt. In einer Notiz aus dem Februar 1945 heißt es etwa dazu: »1. Westmächte und Vatikan müssen wissen, dass nur nat.soz. Deutschland Europa und sie selbst retten kann. Demokratie völlig hilflos. (…) 3. Nach Konspiration zur Rettung römischer Juden 307

Abwehr bolschewistischer Welle ist D. mit Bundesgenossen, besonders mit Japan bereit, im dargelegten Sinne an Friedensregelung mitzuarbeiten. Na- tionalsozialismus bleibt, übt aber, wie dargetan, Toleranz. 4. Hält Deutsch- land nicht stand, Folgen katastrophal für England und USA. 5. Lenken Westmächte nicht ein und müsste D. zurückweichen, so würde dt. Führung Bolschewisierung lieber selbst herbeiführen und Übergang abkürzen … Entweder Bolschewisierung Deutschlands, Europas, Chaos, oder: allmäh- liche Einstellung des Westkriegs (und Luftkriegs), Abwehr des Bolschewis- mus von Europa und USA, Verhandlungsfriede, Gleichgewichtslösung, kein III. Weltkrieg. Militärisch sind wir zuversichtlich«.166 Hier mischte sich auf erstaunliche Weise ein hohes Maß an Realitätsblindheit mit Hellsicht. Der Nationalsozialismus musste doch in toto hinweggefegt werden, daran konnte kein Zweifel sein. Er war ein durch und durch verbre- cherisches System. Dementsprechend unrealistisch war jegliche deutsche Hoffnung auf einen Separatfrieden im Westen, die aus diesen Zeilen spricht, nicht allein wegen der Casablanca-Formel der Alliierten von der »bedingungs- losen Kapitulation«, sondern auch wegen der deutschen Staatsverbrechen – Auschwitz war zu diesem Zeitpunkt bereits von der Roten Armee befreit, die deutschen Völkerverbrechen enthüllten sich mehr und mehr der entsetzten Weltöffentlichkeit, und Weizsäcker selbst wusste inzwischen davon, kannte ja überdies schon lange die Einsatzgruppenberichte. Der weiterhin starke an- tidemokratische Reflex, der aus dieser Passage spricht, war ebenfalls nicht mehr zeitgemäß, hatte bei den Westalliierten keine Chance. Dennoch sollte sich zumindest für den westlichen Teil Deutschlands binnen weniger Jahre bewahrheiten, was Weizsäcker anregte: Im Bündnis mit den Westmächten, vor allem mit den USA dem Hegemonialanspruch der Sowjetunion entge- gentreten. Für kenntnisreiche Beobachter der außenpolitischen Szenerie wie Weizsäcker hatte der Kalte Krieg begonnen, bevor die Siegermächte in Berlin eingezogen waren. Zu unnatürlich, widersprüchlich und heterogen war dieses Bündnis, als dass es hätte von Dauer sein können. Im Kreis der Sieger war man aber noch nicht soweit. Bis zum endgültigen Bruch sollten noch etliche Flaschen Wodka und Whisky in den militärischen Stäben gemeinsam geleert werden. Als das Deutsche Reich kapituliert und bald darauf als Völkerrechtssubjekt aufgehört hatte zu existieren – am 5. Juni 1945 übernahmen die Siegermächte die Regierungsgewalt in Deutschland und erklärten alle deutsche Staatlichkeit und Souveränität für beendet – und die Sieger in Rom all jene deutschen Funktionäre, derer sie habhaft werden konnten, verhafteten und internierten, 308 Fallstudie: Ernst von Weizsäcker – Eine Schlüsselfigur suchte Weizsäcker im Vatikan um politisches Asyl nach. Das wurde ihm von Pius XII., der ihm wohlgesinnt war, sogleich gewährt. Der amerikanischen Aufforderung, sich vor dem 20. November 1945 in einem »interrogation camp« einzufinden und einer intensiven Befragung zu unterziehen, kam Weiz- säcker nicht nach, sondern blieb anderthalb Jahre in der Obhut und unter dem Schutz des Heiligen Vaters. Diesen Aufenthalt unterbrach er lediglich einmal kurz im April 1946, als er – unter der Zusage freien Geleits – nach Frankfurt flog, um als Entlastungs- zeuge in Nürnberg im Verfahren gegen Admiral Erich Raeder auszusagen. Im Kreuzverhör durch die Verteidiger Siemers und Seidl sollte er dort – wie im Kapitel über die Beutepartnerschaft bereits erwähnt – am 21.Mai der Welt erstmals trotz massiven sowjetischen Protests den Inhalt des Geheimen Zu- satzprotokolls zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom August 1939 enthüllen. Anschließend wieder nach Rom zurückgekehrt, erfuhr er, dass Ge- neral Marie-Pierre Koenig, Militärgouverneur der französischen Zone, ihm für die Rückkehr nach Lindau gleichfalls freies Geleit zugesichert hatte. Des- halb kehrte er Ende August 1946 zu seiner Familie nach Deutschland zurück, schrieb an seinen »Erinnerungen«, wirkte bei der Bewirtschaftung des Guts- hofes seiner schon über 90jährigen Mutter mit, die vor allem mit Hilfe der kleinen Hühnerfarm das Überleben der Familie sicherte. Im März 1947 wurde er als »freiwilliger Zeuge« für die anstehenden Folgeprozesse gegen NS-Täter und Verstrickte geladen und wiederholt verhört. Am 25.Juli erfolgte dann im Justizpalast von Nürnberg seine Verhaftung. Er muss das wohl geahnt haben, denn bereits zu Beginn der Vernehmungen war ihm vom Anklagevertreter Robert Kempner geraten worden, sich rasch einen Anwalt zu nehmen.167 Ursprünglich hatte Weizsäcker nicht im Fokus der Anklage gestanden. Auch das AA war vom Internationalen Militärtribunal (IMT) in Nürnberg 1945/46 nicht als »verbrecherische Organisation« bewertet worden, ebenso- wenig wie die Reichsregierung insgesamt oder der Generalstab, das Oberkom- mando der Wehrmacht und NSDAP oder SA. Wer dem AA angehörte, war mithin für die Alliierten kein »Zugehörigkeitstäter« und wurde nicht »auto- matisch« angeklagt. Dazu musste eine individuelle Schuld vorliegen. Diese rückte bei Angehörigen des AA im vorletzten und elften Prozess jener zwölf Nürnberger Nachfolgeprozesse in den Mittelpunkt, bei denen sich insgesamt etwa 200 Vertreter der unterschiedlichsten Gruppen von Parteifunktionären über Ärzte, Juristen, Militärs, Diplomaten und Ministerialbeamte bis zu In- dustriellen wegen ihrer Verstrickung in die NS-Eroberungs-, Rassen- und Ver- nichtungspolitik verantworten mussten. Hauptangeklagter im Wilhelmstraßenprozess 309

Jetzt hatten sich die vier Reichsminister Richard Walter Darré (Ernährung und Landwirtschaft), Hans Heinrich Lammers (als Chef der Reichskanzlei), Otto Meissner (als Chef der Präsidialkanzlei, der auch schon Ebert und Hin- denburg »gedient« hatte), und Lutz Schwerin von Krosigk (Finanzen) auf der Anklagebank versammelt. Neben ihnen wurden in diesem etwas irreführend »Wilhelmstraßenprozess« betitelten Verfahren fünf Staats- oder Unterstaats- sekretäre aus dem AA angeklagt, nämlich Ernst von Weizsäcker, Gustav Adolf Steengracht von Moyland, Wilhelm Keppler, Ernst Wilhelm Bohle sowie Ernst Woermann (als Leiter der Politischen Abteilung). Hinzu kamen der Staatssekretär aus dem Innenministerium, Wilhelm Stuckart, Otto Dietrich aus dem Propagandaministerium sowie der Vorstandssprecher der Dresdner Bank, Karl Rasche und der Chef des SS-Hauptamtes, Obergruppenführer Gottlob Berger, dazu Walter Schellenberg aus dem RSHA. Es war ein Verfahren, bei dem erstmals überwiegend Vertreter der alten, bürgerlichen Ministerial- bürokratie, mithin hohe Staatsdiener sich neben NS-Tätern wie Schellenberg vor Gericht verantworten mussten.168 Der Kreis der Angeklagten für das Verfahren, den das bei der amerikani- schen Militäradministration OMGUS (Office of the Military Government of the United States) für die Verfahren zuständige »Office of Chief of Counsel for War Crimes« zunächst »The Ministries Case« getauft hatte, war eher diffus zusammengesetzt, so dass in der deutschen Presse schon zu Beginn das sar- kastische Etikett vom »Omnibusprozess« auftauchte. Die Anklage umfasste auf Basis der im Londoner Statut fixierten Tatbestände acht Anklagepunkte: 1. Verbrechen des Angriffskrieges, bzw. Verbrechen gegen den Frieden, 2. ge- meinsame Verschwörung zur Begehung von Verbrechen gegen den Frieden, 3. Kriegsverbrechen, 4. und 5. Verbrechen gegen die Menschlichkeit zwischen 1933 und 1938 und 1939 bis 1945, 6. Raub und Plünderung, 7. Sklavenarbeit und 8. Mitgliedschaft in verbrecherischen Organisationen wie der SS. Die Angeklagten mussten sich vom 6. Januar bis zum 18. November 1948 vor einem Richterkollegium verantworten, das aus drei vom amerikanischen Militärgouverneur eingesetzten ehemaligen US-Bundesrichtern bestand. Den Vorsitz führte William C. Christianson aus Minnesota, Robert T. Maguire aus Oregon und Leon W. Powers aus Iowa waren seine Beisitzer. Das Urteil wurde am 11. April 1949 verkündet. Mit 169 Verhandlungstagen und einer Dauer von – inklusive Revisionsverfahren – rund 2 Jahren war es der längste und größte aller Nürnberger Folgeprozesse. Allein die Protokolle umfassen am Ende mehr als 29.000 Seiten, in welchen sich auch die Aussagen von 323 Zeu- gen – zwei Drittel davon Zeugen der Verteidigung – wiederfinden. Dass die 310 Fallstudie: Ernst von Weizsäcker – Eine Schlüsselfigur

Ernst von Weizsäcker im Zeugenstand. Gerichtssprache war Englisch. Da die deutschen Angeklagten diese Sprache nicht durchweg beherrschten, musste alles simultan übersetzt werden, Kopfhörer waren Pflicht.

Amerikaner aus Kostengründen bei der Zusammenstellung der Angeklagten- Liste darauf verzichteten, schwer belastete und tief verstrickte Funktionäre aus niedrigeren Verwaltungsebenen wie Franz Rademacher, Eberhard von Thadden oder Horst Wagner aus dem AA anzuklagen, steht auf einem anderen Blatt.169 Als 1947 die Unterlagen der Deutschland-Abteilung, der ominöse »Ordner D«, das »Wannsee-Protokoll« und eine Vielzahl weiterer deprimierender Do- kumente aus dem Auswärtigen Amt den Amerikanern in die Hände fielen, stand für Robert Kempner, den stellvertretenden Hauptankläger der Nürn- berger Prozesse, ähnlich wie später für Eckart Conze fest: »Das Auswärtige Amt war eine Mörderbande«, eine »Verbrecherhöhle«.170 Da der Minister Ribbentrop im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess verurteilt und anschließend gehenkt worden war, konzentrierte sich das Inte- resse Kempners bald auf den zweiten Mann der Behörde, auf den ersten Staats- sekretär – und das Rubrum des Wilhelmstraßenprozesses änderte sich. Fortan wurde er unter dem Titel »United States of America against Ernst von Weiz- säcker et al.« geführt. In der Anklageschrift, die am 15. November 1947 in der Die »alten« politischen Eliten und die nationalsozialistischen Verbrechen 311

Das Gericht: In der Mitte der Vorsitzende William C. Christianson aus Minnesota, an seiner Seite Robert T. Maguire aus Oregon (l.) und Leon W. Powers aus Iowa (r.).

überarbeiteten Fassung dem Gericht und den Angeklagten zugestellt wurde, stand denn auch, dass große Teile der »alten« politischen Eliten für die natio- nalsozialistischen Verbrechen mitverantwortlich gewesen wären, die Verbre- chen nicht allein das Werk führender Nationalsozialisten gewesen waren, die das Internationale Militärtribunal bereits abgeurteilt hatte. Diese Eliten hätten, so führte Jacksons Nachfolger, der amerikanische Chefankläger Telford Taylor in seinem Eröffnungsplädoyer aus, das »eigentliche Zentrum der Macht« in Hitlers Staat gebildet, sie wären in der Lage gewesen, Hitlers Pläne zu beför- dern oder extrem zu behindern, sie sogar ganz unmöglich zu machen – eine Sichtweise, die sich mit derjenigen im Kommissionsbericht durchaus deckt.171 Kempner, der wichtigste Vertreter der Anklage, war ein erbitterter Gegner der Angeklagten, die ihn ihrerseits mit Verachtung straften und in den inter- nen Korrespondenzen unter dem Spitznamen »Dr. Sixtus Beckmesser« auf- treten ließen und in der Flüsterpropaganda auch gelegentlich »Kempner- Freisler« titulierten.172 Als gefährlichen Zeugen der Anklage, dem dafür Straf- freiheit zugesichert worden war, gewann Kempner mit Friedrich Gaus einen 312 Fallstudie: Ernst von Weizsäcker – Eine Schlüsselfigur

Hellmut Becker, der junge, engagierte und geschickte Verteidiger Ernst von Weizsäckers Hellmut Becker und Robert M. W. Kempner 313

Robert Kempner (r.), der Vertreter der Anklage der opportunistischen Berater im AA, der als führender Rechtsexperte und Leiter der Rechtsabteilung vom Locarno-Vertrag über das Münchner Abkom- men bis zum Hitler-Stalin-Pakt und dem geheimen Zusatzprotokoll 1939 maßgeblich verantwortlich für die Formulierung wichtiger Vertragstexte ge- wesen war und sich im Frühjahr 1947 ihm und dem amerikanischen Chefan- kläger Taylor als Belastungszeuge und sachverständige Schlüsselfigur anbot. Ob Kempner zuvor Druck auf ihn ausgeübt, Gaus etwa mit der Auslieferung an die sowjetische Besatzungsmacht gedroht hatte, wie die Verteidigung im Verfahren behauptete, kann heute nicht mehr mit Gewissheit geklärt werden. 314 Fallstudie: Ernst von Weizsäcker – Eine Schlüsselfigur

In jedem Fall brachte die Mitwirkung von Gaus der Anklageseite einen er- heblichen Zugewinn an Sachkenntnis, was die Abläufe, die Analyse der Do- kumente und deren Paraphierung anlangte. Ähnlich informativ waren für Kempner auch die Aussagen des ehemaligen Leiters der Personalabteilung, Hans Schroeder, die dieser während seiner In- ternierung in den Vernehmungen zu Protokoll gab. Als Zeuge der Anklage hatte sich schließlich auch Wolfgang Gans Edler zu Putlitz zur Verfügung ge- stellt, der als Diplomat – und Pg sowie Mitglied der SS – sich in den dreißiger Jahren vom britischen Geheimdienst als Agent hatte anwerben lassen und auf Posten in London und Holland Hitlers Aufrüstungs- und Aufmarschpläne enthüllte, soweit sie ihm bekannt geworden waren. Seiner Festnahme durch die Gestapo hatte er sich im Oktober 1939 durch Flucht über Jamaica und Haiti in die USA entzogen. Nach dem Krieg nahm er 1948 die britische Staatsbürgerschaft an, doch er wurde weder in England noch in der Bizone heimisch, wo man ihm seinen »Verrat« und sein Wirken als »Zeuge der An- klage« übelnahm. Nachdem all seine Versuche gescheitert waren, beruflich im Westen Deutschlands Fuß zu fassen, siedelte er im Januar 1952 in die DDR über, wo er enttäuscht und verbittert erleben musste, wie sich die Teilung ver- tiefte und zugleich in seiner neuen Heimat immer massiver die Verfestigung einer zweiten deutschen Diktatur abzeichnete. Dennoch blieb er bis zu seinem Tode 1975 in Potsdam wohnen. Auch Robert Kempner hatte ein wechselvolles Schicksal durchlebt. Kemp- ner, ein deutscher Jude, Sozialdemokrat und preußischer Beamter, war in der Endphase der Weimarer Republik zum Justitiar der preußischen Polizei be- fördert worden. Nach einer kurzen Verhaftung emigrierte er 1935 in die USA. Im Stab des amerikanischen Chefanklägers Robert Jackson kehrte er nach der deutschen Kapitulation nach Deutschland zurück und sollte vor dem Nürn- berger Militärtribunal die Anklage gegen Wilhelm Frick vertreten. Für ihn muss Weizsäcker eine Art Prototyp des willfährigen NS-Mittäters gewesen sein. Das galt umso mehr, als Dokumente bald belegten, dass die Bemerkung von Weizsäckers Frau vor Prozessbeginn nicht in die richtige Richtung gewie- sen hatte: »Sehen Sie sich die Hände meines Mannes an. Es ist ausgeschlossen, dass diese Finger so etwas unterzeichnet haben.«174 Weizsäcker selbst korrigierte das vor Gericht: »Ich habe in dieser entsetzli- chen und traurigen Judenfrage manche Dinge durch meine Hände gehen las- sen müssen, auf höhere Weisung, die mir konträr waren (…), grundsätzlich war ich nur Briefträger in diesen schauerlichen Angelegenheiten«.175 Nur Brief- träger? Weitgehend einfluss- und machtlos? Welch deprimierende Aussage für Auschwitz: »Ein Lager, wo Arbeitsmänner interniert waren …«? 315 einen Mann, der, nicht ohne persönlichen Ehrgeiz, lange an staatliche Macht und Verantwortung, an das Ethos des deutschen Beamten geglaubt, auf eigene Einflussmöglichkeiten gesetzt hatte! Nun stand für ihn fest, »dass der eigent- liche Widerstand in der Judenfrage nur in einem zentralen Akt, nämlich der Beseitigung Hitlers« hätte bestehen können.176 Allerdings habe er, Weizsäcker, bis zu seinem Wechsel im Sommer 1943 von Berlin nach Rom, an die Botschaft beim Vatikan, »nicht gewusst, was der Terminus ›Endlösung‹, ›Gesamtlösung‹, ›Totallösung für Europa‹ wirklich be- deutet« hätte, obwohl er tatsächlich »über die Konferenzen, in denen die End- lösung besonders erörtert wurde, in Berichten unterrichtet« worden sei. »Ich habe die Worte ›Endlösung‹, ›Gesamtlösung‹ usw. mit wechselnder Bedeutung vielfach gelesen. Wann sie mir zum ersten Mal begegneten, das weiß ich nicht … Ich habe Auschwitz, solange ich Staatssekretär war, für ein Lager gehalten, wo Arbeitsmänner interniert waren. Von den Scheußlichkeiten habe ich erst im Vatikan erfahren, und wenn ich Daten bringen soll, dann wäre mir die Vertrauenswürdigkeit dieser Information klar geworden … im Winter 1945/46«.177 So spät? Erstaunlich spät? War das Naivität? Oder sagte der An- geklagte hier die Unwahrheit, weil es für ihn selbst jetzt um Leben und Tod ging? Zweifel bleiben, denn Weizsäcker kannte, wie bereits mehrfach erwähnt, die Berichte der Einsatzgruppen von SS und SD in Russland, die Heydrich ab November 1941 dem AA hatte übermitteln lassen. Weizsäcker hatte den Bericht Nr. 6 mit seinem braunen Stift paraphiert, in dem unter anderem wörtlich stand: »Die Lösung der Judenfrage wurde insbesondere im Raum ostwärts des Dnjepr seitens der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD ener- gisch in Angriff genommen. Die von den Kommandos neu besetzten Räume wurden judenfrei gemacht. Dabei wurden 4.891 Juden liquidiert«.178 War der Staatssekretär nicht fähig gewesen, von diesen Berichten auf die tat- sächliche, schreckliche Qualität der Vernichtungslager zu schließen? Drängte sich ein solcher Gedankensprung nicht doch auf? Spätestens Ende 1941, An- fang 1942 hätte Weizsäcker erkennen müssen, dass er auf verlorenem Posten stand, hätte den Dienst an der Spitze des Auswärtigen Amtes quittieren müs- sen, so mühsam das gewesen wäre, weil neue Vorschriften Entlassungs- und Versetzungsgesuche von Spitzenbeamten mittlerweile kaum noch zuließen, diese nur in seltenen Fällen bewilligt wurden. Dass Weizsäcker als vollumfas- send Gescheiterter vor Gericht stand, war nicht nur ihm selbst bewusst. Was sein Sohn Richard, der spätere Bundespräsident, rückblickend feststellte, trifft vermutlich zu: 316 Fallstudie: Ernst von Weizsäcker – Eine Schlüsselfigur

»Mein Vater war sich vollkommen bewusst, dass er das Odium auf sich ge- nommen hatte, im Amt eines verruchten Systems geblieben zu sein. Er hat die große Anzahl einzelner Menschenschicksale, bei denen er selbst in Ber- lin und später in Rom beschützend und lebensrettend helfen konnte und die alle öffentlich bezeugt sind, nie als eine Rechtfertigung für sein Verblei- ben im Amt betrachtet, genau so wenig wie er umgekehrt eine Chance dafür gesehen hatte, schwerste Verbrechen vor allem gegen Juden zu verhindern, die im Prozess zur Sprache kamen, Verbrechen, von denen er wusste oder zumindest eine Ahnung haben konnte. Sein einziger Grund, im Amt aus- zuharren, war der Versuch in den Gang der Außenpolitik wirklich einzu- greifen, um den Ausbruch und danach die Erweiterung und Verlängerung des Krieges, in allererster Linie den Angriff auf die Sowjetunion zu verhin- dern. Niemand hat schärfer gesehen und tiefer empfunden als er selbst, dass er gescheitert war.«179 Dass er trotz des – in seinem Falle bemerkenswert – hohen Verfolgungs- druckes der Anklage vergleichsweise milde bestraft wurde, hing sicherlich auch mit der geschickt aufgebauten Verteidigung zusammen, die von den befreun- deten Schweizer Familien Schwarzenbach und Wille finanziert und von Hell- mut Becker maßgeblich und wirkungsvoll organisiert wurde. Der damals 34 Jahre alten Sohn des bedeutenden preußischen Kultusministers Carl Heinrich Becker, ein junger, in Strafsachen weitgehend unerfahrener, aber hoch intelli- genter Anwalt aus Kressbronn war ein Freund der Familie aus Berliner und Straßburger Tagen an der Reichsuniversität, wo Becker als Mitarbeiter von Ernst Rudolf Huber zusammen mit Carl Friedrich von Weizsäcker die Woh- nung geteilt und diesen zum Patenonkel seines ältesten, im November 1944 geborenen Sohnes Carl Heinrich Michael Becker bestimmt hatte. Becker mochte für die Verstrickungen Weizsäckers auch deshalb ein gewisses Ver- ständnis aufbringen, weil er zum 1.April 1937 selbst in die NSDAP eingetre- ten war, vermutlich, um seiner wissenschaftlichen Karriere als Assistent von Huber in Leipzig einen zusätzlichen Schub zu verleihen, mindestens aber ihr keine Steine in den Weg zu legen. Diese Mitgliedschaft war nicht von großem, weiterem Engagement für die Partei begleitet, schon die Zahlung der Mit- gliedsbeiträge wird bald eingestellt. Aber es hat sie gegeben und sie wurde nach dem Krieg, als Becker sich, so Ulrich Raulff, »in der Welt der Bildungsreform, sexuellen Befreiung, Psychoanalyse und Aufklärung im Kreis der Frankfurter Schule bewegte«, verschämt und konsequent beschwiegen.180 Becker machte daher den Fall Weizsäcker mindestens partiell auch zu sei- nem Fall. Er verteidigte anschließend auch noch Martin Sandberger, den Füh- Europäisches Netzwerk zur Unterstützung des Angeklagten 317 rer des Einsatzkommandos Ia, das als Teil der Einsatzgruppe A im Winter 1941/42 Estland »judenfrei« gemacht, dort also vieltausendfach gemordet hatte, im Revisionsverfahren und erreichte, dass diesem Delinquenten der Galgen erspart blieb und er mithin später, 1958, sogar als einer der letzten Landsberger Häftlinge entlassen werden konnte. Becker verstand es meister- haft, auf der Klaviatur der veröffentlichten Meinung zu spielen und einen für Weizsäcker vorteilhaften Grundton zu erzeugen, wie er in jenem Schreiben an seinen einstigen Mentor Huber nicht ohne berechtigten Stolz im Sommer 1948 mitteilt, das Raulff zitiert: »Am besten ist es eigentlich in Presse und Rundfunk gelungen. Es ist wirk- lich, jedenfalls in den Leitartikeln in Deutschland und in der Schweiz ge- lungen, eine ganz einheitliche öffentliche Meinung für Herrn von Weizsäcker zu schaffen, ein in der heutigen Zeit ganz ungewöhnlicher Vor- gang …«181 In dem Bemühen, Weizsäcker zur Hauptfigur einer geheimen Widerstands- gruppe im AA zu stilisieren – was dieser nicht gewesen war –, um ihm so den Kopf zu retten, standen Hellmut Becker zur Seite der juristisch ausgebildete Sohn des Angeklagten, Richard von Weizsäcker, als Hilfsverteidiger sowie der Diplomat Sigismund von Braun – sein Bruder war der berühmte Raketen- bauer und Vater der Mondlandung, Wernher von Braun –, der wie Albrecht von Kessel zusammen mit dem Angeklagten beim Einmarsch der Amerikaner in Rom im Sommer 1944 im Vatikan um politisches Asyl nachgesucht hatte. Hinzu kam der amerikanische Anwalt Warren E. Magee, der mit den Feinhei - ten des amerikanischen Prozessrechts vertraut war und über die Besatzungs- zonen hinaus volle Bewegungsfreiheit besaß, also auch im Ausland nach Entlastungszeugen und entsprechenden schriftlichen Aussagen, sogenannten Affidavits zu suchen vermochte.182 Die Liste derjenigen, die sich zu Gunsten von Weizsäcker verwenden wer- den, ist ebenso umfangreich und eindrucksvoll wie das von Hellmut Becker und seinen Mitstreitern mobilisierte Netzwerk. Beides umfasst hohe kirchliche Würdenträger wie Bischof Eivid Berggrav aus Oslo, Männer des Widerstands wie Fabian von Schlabrendorff, ja sogar Winston Churchill und Lord Halifax. Besonders nachdrücklich formulierte Hilfe kommt aus dem kleinen Nach- barland, der Schweiz. Karl Barth, Carl Jacob Burckhardt, Hans Frick, Clara Emilia von Erlach, Ulrich Wille – die Schweiz kannte im 20. Jahrhundert nur zwei Generäle, eben Ulrich Wille, mit dessen Familie Ernst von Weizsäcker verschwägert ist, im Ersten und General Henri Guisan im Zweiten Weltkrieg – sowie der langjährige Botschafter in Berlin, Hans Fröhlicher, werden sich 318 Fallstudie: Ernst von Weizsäcker – Eine Schlüsselfigur positiv über sein Wirken auslassen.183 Dass die Schwiegertochter Gundalena, die Ehefrau von Carl-Friedrich von Weizsäcker, die Enkelin eben jenes Gene- rals Wille ist und bei Carl Jacob Burckhardt promoviert hat, spielt jetzt eine Rolle, ebenso wie die – wie Paul Stauffer eindrucksvoll herausgearbeitet hat – etwas gar zu schön arrangierten und zur Entlastung zurechtgebastelten ge- schickt »redigierten« Aufzeichnungen Burckhardts, die von der Verteidigung in den Prozess eingeführt wurden.184 Kurz vor Eröffnung des Hauptverfahrens wird sich am 2. Oktober 1947 Alfred Zehnder, von 1943 bis 1945 Legationsrat und Handelsbeauftragter in Berlin, ab 1946 dann Leiter der Politischen Abteilung im Politischen Depar- tement in Bern, schriftlich an Bundesrat Max Petitpierre wenden und ihm mitteilen, dass es, jedenfalls nach seiner Auffassung, »unvereinbar ist mit der Ehre der Schweiz, nicht wenigstens eine kleine Anstrengung (»un petit effort«) zu seinen Gunsten« zu unternehmen, etwa mittels eines Briefes an den Anwalt von Herrn Weizsäcker, um »les bonnes éxperiences que nous avons faites avec ce personnage important de l’administration allemande« festzuhalten. Auch wenn der Bundesrat Zeugenauftritte seiner Diplomaten vor den Schranken des fremden Nürnberger Gerichts nicht gestatten wird, ist das »offizielle«, in amtlichen Schreiben dokumentierte Eintreten von Bundespräsident Philipp Etter oder von Peter Anton Feldscher, der im Krieg in Berlin in der Schweizer Gesandtschaft die wichtige »Abteilung für Schutzmachtangelegenheiten« ge- leitet und mit Weizsäcker allein schon deshalb einen intensiven Kontakt hatte pflegen müssen, für einen Deutschen unmittelbar nach dem Krieg bemer- kenswert. Natürlich kommt es im Kommissionsbericht nicht vor. In Bern hatte man naturgemäß kein gesteigertes Interesse daran, die eigene lange – man wird sogar sagen müssen: viel zu lange, viel zu vertrauensvolle – Koope- ration mit der Hitler-Regierung vor Gerichtsschranken ausgebreitet zu sehen. Aber man ließ Weizsäcker jetzt auch nicht fallen wie eine heiße Kartoffel, was man jederzeit und unbemerkt hätte tun können.185 Das ist tatsächlich höchst bemerkenswert. Noch bemerkenswerter ist eine ebenso geheime wie bizarre Verbindung, die hinter den Kulissen aktiviert wurde, um Weizsäcker zu helfen und die auf den homoerotisch aufgeladenen Kreis um den Dichter Stefan George zurück- geht, den sowohl Ernst von Weizsäcker und sein Sohn Carl Friedrich wie auch Carl Heinrich Becker, aber auch der Germanist und spätere Reichspropagan- daminister Goebbels verehrten. Als George 1933 im Tessin starb, hatte der Gesandte von Weizsäcker den Auftrag erhalten, am Grab einen Kranz nieder- zulegen und sich am 12. Dezember notiert: »Am meisten bleibt mir mein Be- »Les bonnes expériences avec ce personnage important« 319

Ernst von Weizsäcker mit seinem Sohn Richard, der im Stab der Verteidigung mitarbeitete. such in Locarno in Erinnerung, wo ich am Grab von Stefan George einen Kranz niederzulegen hatte. Es bedeutete mir etwas, dorthin zu diesem Akt zu reisen und in Freundschaft dabei Herrn Boehringer, dem Universalerben und Vermächtnisverwalter, die Hand zu drücken«.186 Robert Boehringer kannte Ernst von Weizsäcker schon aus den frühen zwanziger Jahren aus seiner Zeit als deutscher Konsul in Basel und als deut- scher Vertreter in Genf bei Völkerbunds- und Abrüstungskonferenzen, wo Bo- ehringer in leitender Position für das Internationale Rote Kreuz arbeitete. Beide waren Schwaben, in etwa gleich alt und hatten während Weizsäckers Zeit in der Schweiz eine enge Freundschaft entwickelt. Diese Freundschaft wurde jetzt plötzlich bedeutsam. Denn Robert Boehringer war als enges Mit- glied des Dichter-Kreises mit Georges »Leibarzt« und dessen Lebensgefährtin Clotilde Schlayer gut befreundet und pflegte einen beständigen Briefwechsel mit ihnen. Der Leibarzt Georges hieß – welch seltsamer Zufall – Walter Kempner. Und war, Zufälle sind das Salz des Lebens, tatsächlich der Bruder des Anklägers Robert Kempner. Über diese Verbindung spielte jedenfalls Bo- ehringer, der auch die Kosten für die Pressearbeit mitzutragen bereit war, jetzt seine entlastenden Aussagen für Weizsäcker dem Ankläger zu, in der Hoff- 320 Fallstudie: Ernst von Weizsäcker – Eine Schlüsselfigur nung, ihn von dessen anti-nationalsozialistischer Grundhaltung überzeugen zu können. Bedeutsamer und wirkungsvoller als das verborgene Manöver war jedoch die Tatsache, dass Hellmut Becker den renommierten Völkerrechtler Erich Kaufmann als Zeugen, bzw. Gutachter der Verteidigung aufbieten konnte. Dass diese wichtige Personalie im Buch Das Amt und die Vergangenheit auf den über 70 Seiten, die »vor Gericht« spielen, unberücksichtigt bleibt, ist wenig überraschend. Denn nicht wie dort unterstellt wird – die von Becker lancierte Legendenbildung, die Weizsäcker zu einem verkannten Heroen der Widerstandsbewegung stilisieren sollte, war für den einigermaßen glimpfli- chen Prozesserlauf mitentscheidend, sondern der Auftritt von Kaufmann, dem Margret Boveri in ihrer langen Prozessreportage nicht von ungefähr viel Platz einräumt. Kaufmann war protestantisch getaufter deutscher Jude, der als an- erkannter Völkerrechtler verschiedentlich in den Weimarer Jahren die Reichs- regierung, die Freie Stadt Danzig und Österreich vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag vertreten hatte. Unter anderem hatte er 1931 – und letztlich gegen Frankreichs massives Veto vergeblich – die von Deutschland wie Österreich angestrebte Zollunion verteidigt. Auch als Berater von Justiz, Finanzministerium und Reichsbank war er in Erscheinung getreten. Die Ab- läufe im AA kannte er genau. Aus Berlin, aus dem Amt, aus der »Verbrecher- höhle« wird ihm nach seiner Flucht aus Deutschland bis 1941 unauffällig die Beamtenpension weiter nach Holland überwiesen, von wo er wegen seiner »Mischehe« nicht deportiert werden wird. 1947 hatte er das schmale Buch Deutschlands Rechtslage unter der Besatzung publiziert und war trotz seiner Ver- folgung durch die Nazis und ihnen nahestehender Juristen wie seinen Schüler Carl Schmitt sogleich wieder für deutsche Belange eingetreten. Hochbetagt, aber völlig klar und präzis in seinen Ausführungen trat der Professor aus Mün- chen jetzt vor die Schranken des Gerichts: »Ich stehe in meinem 80. Semester als akademischer Lehrer, in meinem 100. als akademischer Bürger und in mei- nem 71. als ordentlicher Professor«.187 Er spricht nicht über Personen, sondern über die Handlungsabläufe in Institutionen, die abgestimmten Formen der Verwaltungspraxis, den Unter- schied zwischen Beratungsverantwortlichkeit und Entscheidungsverantwort- lichkeit. Er erläutert dem Gericht, dass der Staatssekretär nicht das Recht der Gegenzeichnung besaß, ihm folglich auch keine automatische Stellvertretung des Ministers möglich war. Spricht lange über den Unterschied zwischen einem federführenden Ministerium und beteiligten Ministerien und Ämtern – am Beispiel seiner eigenen langwierigen Ausbürgerung. Da sei das Ministe- Der Auftritt Erich Kaufmanns – Sternstunde der Verteidigung 321

Stehend am Pult der wichtigste Gutachter der Verteidigung, der jüdische Völkerrechtler Professor Erich Kaufmann. Rechts am Tisch folgt Verteidiger Hellmut Becker gespannt der Analyse. rium des Inneren federführend, Parteikanzlei, Finanz- und Justizministerium nur beteiligt gewesen. Allein verantwortlich sei aber das Innenministerium gewesen, obwohl die anderen drei Behörden mit unterzeichneten. Sagt, di- plomatische Dokumente seien in einer »Schlüsselsprache« abgefasst, deren Deutung eine hohe Kunst bleibe. An mehreren Beispielen arbeitete Kaufmann das eindrucksvoll heraus, betont, dass Weizsäcker in seinen Weisungen speziell auf dem – für ihn, für das AA jetzt ja besonders belastenden – Feld der Judendeportationen nicht verschärfend und aggressiv aufgetreten sei.188 Eigent - lich widerlegt Kaufmann damit nüchtern-sachlich Kernelemente der Argu- mentation im Kommissionsbericht. Nehmen wir das Beispiel, das Margret Boveri tiefen Eindruck gemacht hat. Es geht um Deportationen aus der Slowakei, einem von Deutschland abhän- gigen Satellitenstaat. Im Sommer 1942 hatte der Gesandte Hanns Ludin – gegen ihn läuft damals zeitgleich ein Prozess in Bratislava, an dessen Ende seine Hinrichtung stehen wird – dem AA mitgeteilt, »die Durchführung der Evakuierung der Juden aus der Slowakei ist auf einem toten Punkt angelangt. Bedingt durch kirchliche Einflüsse und durch Korruption einzelner Beamter haben etwa 35.000 Juden Sonderlegitimationen erhalten, auf Grund derer sie 322 Fallstudie: Ernst von Weizsäcker – Eine Schlüsselfigur nicht evakuiert zu werden brauchen. Die Judenaussiedlung ist in weiten Teilen des slowakischen Volkes sehr unpopulär. Diese Einstellung wird durch die in den letzten Tagen scharf einsetzende Gegenpropaganda noch verschärft. Mi- nisterpräsident Tuka wünscht jedoch die Judenaussiedlung fortzusetzen und bittet um Unterstützung durch scharfen diplomatischen Druck des Reiches. Erbitte Weisung, ob in dieser Richtung verfahren werden soll.« Weizsäcker hatte unter dem Datum des 29. Juni – es ist Beweisstück 5257 der Anklage- behörde – antworten lassen: »Die von Ministerpräsident Tuka erbetene Hilfe können Sie in der Weise geben, dass Sie Staatspräsident Jozef Tiso gelegentlich zum Ausdruck brin- gen, Einstellung Judenaussiedlung und insbesondere die im Drahtbericht geschilderte Ausschließung 35.000 Juden von Abschiebung würde in Deutschland überraschen, um so mehr, als bisherige Mitwirkung Slowakei in der Judenfrage hier sehr gewürdigt worden sei. Weizsäcker«.189 Für den Ankläger Kempner ist damit der Fall klar. Voll Hohn, so Margret Bo- veri, habe er Kaufmann entgegengehalten, diese Dokumente seien doch ganz eindeutig und unmissverständlich, man brauche keine höhere Mathematik zu ihrer Auslegung. Nein, stimmt Kaufmann scheinbar zu, keine höhere Mathe- matik – um dann aber die Beweisführung der Anklage eindrucksvoll Punkt für Punkt zu zerpflücken: »Lesen Sie selbst: Gebeten wurde von Ludin um einen starken diplomati- schen Druck. Darauf erwidert Weizsäckers Schriftstück: Die vom Minis- terpräsidenten Tuka erbetene Hilfe – erste Abschwächung – können sie ihm in der Weise geben – zweite Abschwächung – dass sie Staatspräsident Tuka gegenüber g e l e g e n t l i c h [Sperrung im Text; D.K.] – dritte Abschwä- chung – zum Ausdruck bringen – weitere Abschwächung – die im Draht- bericht geschilderte Ausschließung von 35.000 Juden von der Abschiebung würde in Deutschland überraschen – letzte Abschwächung.« Kaufmann fasst seine für Kempner und das Gericht offenbar gänzlich verblüf- fende Analyse zusammen: »Ich sehe von einem erbetenen Druck von Weizs - äcker und dem AA nichts, nichts weiter als die Schilderung der wohl unbestreitbaren Tatsache, dass es hier in Deutschland, nämlich bei den in Deutschland maßgebenden Persönlichkeiten, überraschen würde …– ›hier‹ kann doch nur heißen: von Hitler und Konsorten. Also, ich finde dieses Do- kument deutlich und sehe darin keinerlei Ankündigung von Unterstützung, sondern eine ins Auge springende und von Wort zu Wort sich steigernde Ab- schwächung von dem Druck, um den das AA ursprünglich durch Ludin ge- beten worden ist«.190 »Unresisting Resistance« und »Dissenting Opinion« 323

Für Kempner ist das ein rechtes Debakel, im Amt-Band wird der Brief- wechsel mit Ludin übrigens so bewertet, dass Weizsäcker für seine Antwort an Ludin eine Form gefunden habe, die »ihn selbst kaum kompromittieren konnte«.191 Zwischen Kaufmanns Interpretation und dieser Auslegung liegen in der Tat Welten. Der Rest ist rasch resümiert. Kempner, der Weizsäckers Art des Widerstands als »nicht resistent« (»unresisting resistance«) bezeichnet hatte, forderte als An- klageverteter in seinem Schlussplädoyer unter Verweis auf die 1946 im Nürn- berger Hauptkriegsverbrecherverfahren zum Tode Verurteilten die Todesstrafe. Das Urteil fiel milder aus. Gegen das Votum des Richters Leon W. Powers, der auf Freispruch entschied und sogar der Anklagevertretung vorwarf, ihr sei es in erster Linie um die kollektive Bestrafung der Bürokratie-Elite des NS- Staates gegangen, verurteilten die beiden anderen amerikanischen Richter im April 1949 Weizsäcker – ebenso wie die Angeklagten Steengracht, Woermann, Darré, Dietrich und Rasche – wegen der Mitwirkung bei der Deportation und Ermordung europäischer Juden zu sieben Jahren Haft, wobei ihm zwei Jahre Untersuchungshaft angerechnet wurden. Weit höhere Strafen erhielten Berger (25 Jahre), Veesenmayer (20 Jahre) und Lammers (20 Jahre) sowie die Vertreter der Wirtschaft, Körner, Pleiger und Kehrl (je 15 Jahre). Ernst Wil- helm Bohle kam mit fünf Jahren relativ glimpflich davon, allerdings waren bei ihm die meisten Anklagepunkte bis auf die Mitgliedschaft in einer verbre- cherischen Organisation aus Mangel an Beweisen fallen gelassen worden.192 Im Kommissionsbericht kommt Richter Powers mit seiner »Dissenting Opinion« nicht gut weg. »Er kam zu Schlussfolgerungen, deren exkulpatori- sche Qualitäten denen der Verteidigung in nichts nachstanden«, heißt es dort. Wer die umfassende, vielseitige Begründung von Powers, einem langjährigen und hohen amerikanischen Richter, gelesen hat, kann über solch ein harsches Verdikt nur staunen. Insbesondere zweifelt er – anders als der Kommissions- bericht – am Handlungsspielraum des Angeklagten, die Verfolgung und Er- mordung der NS-Opfer wirksam zu behindern oder gar aufzuhalten. Bei Powers begegnet uns Weizsäcker tatsächlich als eine Art »Briefträger«. Er nennt ihn »eine Person ohne Entscheidungs- und Gestaltungsmacht«, der »im Kampf um Gesittung und Frieden eine heldenhafte Rolle« gespielt habe.193 Im Dezember 1949 wird Weizsäckers Strafe, weil die amerikanische Besat- zungsmacht in diesem Verfahren erstmals eine Überprüfung des Urteils durch ein zweites Gericht zulässt, um zwei Jahre reduziert. Zugleich wird der – tat- sächlich groteske – Vorwurf der Beteiligung an der Zerschlagung und am Überfall auf die ČSR, an der Vorbereitung eines Angriffskrieges fallengelassen. 324 Fallstudie: Ernst von Weizsäcker – Eine Schlüsselfigur

Während die Anklagevertreter Taylor und Kempner das Strafmaß als viel zu milde empfanden – für Kempner waren die moralischen Verfehlungen dieser bürgerlich-zivilen und überwiegend älteren NS-Verstrickten höher zu bewer- ten als die der meist deutlich jüngeren SS-Verbrecher, die nach seiner Auffas- sung erst durch das NS-Terrorsystem sozialisiert und radikalisiert worden waren –, ist Weizsäcker etwa für die Redaktion der Hamburger ZEIT um Ma- rion Dönhoff ein zu Unrecht Verurteilter. Der Chefredakteur der ZEIT, Ri- chard Tüngel, bricht darüber sogar eine hässliche Fehde gegen Kempner vom Zaun, den er als »Schädling« bezeichnet, dem das Handwerk gelegt werden müsse, worauf in diesem Zusammenhang nicht weiter eingegangen zu werden braucht. Während Weizsäckers Gefängniszeit setzen sich neben Hellmut Becker und den Kordt-Brüdern nicht zuletzt auch namhafte schwäbisch-württembergische Freunde für ihn ein wie Hans Speidel, Carlo Schmid, der württembergische Landesbischof Theophil Wurm oder der Heidelberger Juristenkreis. Der nord- rhein-westfälische Ministerpräsident Karl Arnold hielt im Juli 1949 eine Rede »über geistige Freiheit, christlichen Glaube und staatliche Gewalt«. Darin sagte er, man dürfe »nicht zulassen, dass ein Mann wie der vormalige Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Ernst von Weizsäcker, unschuldig in Landsberg ge- fangengehalten wird« – und verglich ihn mit dem »gleichfalls unschuldig ver- urteilten französischen Hauptmann Dreyfus«. Damit war der eigentliche Verfasser der Rede, der Weizsäcker-Vertraute Theo Kordt, der seit Dezember 1948 in der Düsseldorfer Staatskanzlei als Re- ferent für Internationales Recht untergekommen war, zwar deutlich übers Ziel hinausgeschossen, denn Dreyfus war Jude und fiel einem Justizkomplott zum Opfer, aber es zeigte doch, wie vielfältig die Rettungsanstrengungen waren, die zu Gunsten von Weizsäcker unternommen wurden.194 Der frisch ins Amt gelangte Bundespräsident Theodor Heuss, gleichfalls ein Schwabe, nach dessen Auffassung von den US-Richtern ein krasses Fehl- urteil gefällt worden war, suchte unverzüglich nach seiner Wahl den Kontakt zum neuen Hohen Kommissar John McCloy und intervenierte wiederholt mündlich zu Gunsten von Weizsäcker. Er ließ sich auch von Erich Kordt, den dessen AA-Kollege, der lange in Moskau stationierte Hans – »Johnny« – von Herwarth, nunmehr neuer Leiter des Arbeitsstabes für das Protokoll im Bund- seskanzleramt, zu ihm geführt hatte, ausführlich über den Inhaftierten berich- ten.195 Gegenüber McCloy mag sogar das Wort von einem »Fehlurteil« gefallen sein. Der Hohe Kommissar soll darauf geantwortet haben, dass er schon ver- schiedentlich entsprechende Hinweise auf Weizsäcker erhalten habe, dass sich Begnadigungsbemühungen hinter den Kulissen 325 allerdings, jedenfalls soweit er unterrichtet sei, in den Weizsäcker-Akten »doch auch recht belastende Stücke« befänden. Noch also war für den versierten Ju- risten, Banker und Politiker McCloy offenbar die Zeit nicht reif für eine Be- gnadigung. Aber Heuss ließ nicht locker, erinnerte einige Monate später abermals und diesmal schriftlich an diesen Fall, bat nachdrücklich, »ihn indi- viduell zur guten Erledigung zu bringen«.196 Der Bundespräsident, der zusammen mit Adenauers Minister Ernst Lem- mer Hitlers Ermächtigungsgesetz am 23. März 1933 zugestimmt hatte und zeitlebens darunter litt, wusste um die »Grauzonen« der braunen Zeit und un- terzeichnete die ihm vom Bundeskanzler im Sommer 1950 übermittelte Er- nennungsurkunde für Hans Globke erst, nachdem ihm prononcierte Gegner des Hitler-Regimes wie Jakob Kaiser oder der Berliner Kardinal Konrad Graf von Preysing in Briefen versichert hatten, dieser sei – ähnlich wie Weizsäcker – tatsächlich »ein Mann des inneren Widerstands« gewesen, viele Bedrängte hätten auf seine diskrete Hilfe zählen können und nachdem dieser Befund dann in einer weiteren geheimen Prüfung durch die Hohen Kommissare be- stätigt worden war.197 Schließlich kam Weizsäcker doch noch vorfristig frei. Drei Wochen nach der letzten Intervention von Heuss war er im Oktober 1950 – der Korea- Krieg, der die Westintegration der Bundesrepublik zusätzlich mächtig be- schleunigen sollte, hatte wenige Monate zuvor begonnen – durch McCloy als einer der Ersten der im Wilhelmstraßenprozess Verurteilten begnadigt und aus dem Gefängnis Landsberg, dort, wo auch Hitler inhaftiert gewesen war, entlassen worden. Den Wagen, der ihn abholen und zur Familie fahren sollte, hatte der Freund geschickt – Robert Boehringer. Auch die anderen der im Wilhelmstraßenprozess Verurteilten werden im Zeichen der heraufziehenden Kalten Krieges bald von McCloy, der bereits im Dezember 1949 eigens eine Kommission zur Prüfung der Haftdauer und des Gesundheitszustandes der Inhaftierten eingesetzt hatte, begnadigt. Selbst Berger, Lammers und Veesen- mayer kommen schon im Dezember 1951 frei. Ein kleiner Teil jener Beamten, die unter Ribbentrop und Weizsäcker im AA dienten, kehrte nun auch in die Behörde zurück, die neu aufgebaut wird, nachdem infolge der kleinen Revi- sion des Besatzungsstatuts Vertreter der jungen Bundesrepublik das außenpo- litische Parkett wieder hatten betreten dürfen. Ernst von Weizsäcker sollte diese Entwicklung nicht mehr mitverfolgen und miterleben können. Er stirbt ein gutes Jahr nach seiner Freilassung im August 1951. Ein unspektakulärer Ausklang in der Biographie eines Mannes, der geprägt war von konservativen Denk- und Verhaltensmustern des frühen 326 Fallstudie: Ernst von Weizsäcker – Eine Schlüsselfigur

20. Jahrhunderts und viel zu spät erkannte, dass Hitler weit mehr wollte als die Revision des Versailler Systems und der sich in den Dienst eines Regimes stellte, das den Rassenwahn zur am Ende massenmörderischen Staatsdoktrin erhob. Dies war, neben der Überschätzung der Einflussmöglichkeiten eines Spitzenbeamten in der NS-Diktatur, der fundamentale Grundirrtum seines Lebens – selbst Robert Kempner nannte ihn später rückblickend in seinen Er- innerungen ganz ohne Häme deshalb auch »eine der tragischsten Figuren im ganzen Wilhelmstraßenprozess.« 198 Als Weizsäcker seinen Grundirrtum erkannte, war es zu spät, war das Deut- sche Reich ebenso ruiniert wie seine persönliche Existenz. Man sollte ihn dafür nicht anklagen, nicht verurteilen, sondern vielmehr sein Verhalten zu verste- hen suchen, weil man auf diese Weise mehr über den Charakter des Dritten Reiches erfährt, das viele verführte und verstrickte – Ernst von Weizsäcker stand nicht allein. Eine totalitäre, mörderische Diktatur, ist sie erst einmal etabliert, von innen heraus zu stürzen oder auch nur abzumildern, ist, wie wir heute wissen, sehr schwer. Daher sollte sich jeder in die Zeit des Dritten Rei- ches eintretende Leser fragen, ob er die extreme Probe jener Jahre tatsächlich und in jedem Falle selbst bestanden hätte. Es ist dies die entscheidende Frage, die sich auch bei der Lektüre des Kommissionsberichts stellt. Dort beantwor- ten sie die Kommissionsmitglieder und ihre Autoren/Autorinnen mit einem selbstgewissen, lauten »Ja«. Das ist im Rückblick jedoch leicht und wohlfeil zugleich – wie schon das Beispiel Ernst von Weizsäckers zeigt. 327

Die »Akte Franz Nüßlein«

»Eckart Conze: Willy Brandt war damals in einer sehr schwierigen Position. Ge- rade sein Verhalten zu beurteilen, ist ausgesprochen schwierig. Brandt wird vorge- worfen, er habe ab 1966 als Außenminister der Großen Koalition nicht entschlossen genug die alten Seilschaften bekämpft und keine Politik des personellen Neubeginns betrieben. Das ist freilich leichter gesagt als getan. Zum einen hatte Brandt ein Umfeld von Beratern, zu denen auch nicht wenige frühere Wilhelmstraßen-Di- plomaten gehörten. Zum anderen hatte Brandt den Vorsatz, die Rückkehr der SPD in eine deutsche Regierung nach vielen Jahrzehnten nicht gleich mit einer perso- nellen ›Säuberung‹ zu beginnen und sich dadurch den Vorwurf einzuhandeln, parteipolitische Interessen in den Vordergrund zu stellen. Der wichtigste Punkt je- doch betrifft die politischen Rahmenbedingungen: Brandt war Außenminister in einer Großen Koalition. Bundeskanzler war Kurt-Georg Kiesinger, ehemaliges NSDAP-Mitglied und in den Jahren des Krieges Angehöriger des Auswärtigen Amtes. In dem Moment, in dem Willy Brandt Diplomaten aus der Wilhelmstraße abgelöst oder in den Ruhestand geschickt hätte, hätte er doch automatisch den Bundeskanzler angegriffen, mit dem er gerade unter großen Schwierigkeiten eine historische Koalition gebildet hatte. All dies muss man einbeziehen, wenn man zu einer Bewertung der Rolle Brandts in diesen Jahren gelangen möchte. Kölner Stadtanzeiger: Willy Brandt scheint als Außenminister einen Schritt zu weit gegangen zu sein, wenn er mit belasteten Personen zusammenarbeitet und eine von ihnen wie den früheren Generalkonsul in Spanien, Franz Nüß- lein, sogar ausdrücklich belobigt. Eckart Conze: Das ist sicherlich richtig. Nüßlein war eine der ganz problematischen Figuren. Er galt im Auswärtigen Amt in den 60er Jahren wider besseres Wissens als »entlastet«. Er profitierte wie kaum ein anderer von den Entlastungskartellen in- nerhalb des Amtes. Nichtsdestoweniger erscheint die Belobigung Nüßleins durch Brandt in der Retrospektive als gespenstisch. Und sie war falsch.« (Kölner Stadtanzeiger vom 27. Oktober 2010) 328 Fallstudie: Die »Akte Franz Nüßlein«

Das Ganze musste ein Missverständnis sein. Die Handschellen. Die Verhaf- tung durch die amerikanische Militärpolizei Wochen zuvor. Und jetzt diese Fahrt. Das Ziel seiner Reise war ihm genannt worden: Prag. Beunruhigend. Aber das würde sich aufklären. Schon bald. Sicherlich »nur« eine Verwechs- lung. Harmlos das Ganze. Für ihn. Amerikanische Einheiten hatten ihn da- mals bei Pilsen aufgegriffen. Damals Anfang Mai 1945. Auf dem trotz allem, obwohl man den militärischen Aufmarsch der Roten Armee von Osten und denjenigen der Amerikaner von Westen her schon lange hatte absehen kön- nen, überhasteten, fluchtartigen Aufbruch Richtung Westen. Nachdem der Aufstand am 5. Mai losgebrochen war, nach dem es für jeden Deutschen in Prag – und nicht nur dort – bald schon lebensgefährlich wurde, weil das Ra- chebedürfnis der Tschechen gestillt werden wollte, nicht wegen der Kugeln der feindlichen Armeen, war er in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai – der Nacht der deutschen Kapitulation in Berlin-Karlshorst – zusammen mit ab- ziehenden Wehrmachteinheiten aufgebrochen. Und hatte seinen ganzen be- scheidenen Besitz zurückgelassen in seiner kleinen Einzimmerwohnung in der Lützowa 9 im Bezirk Praha II bei dieser Flucht Richtung Westen – bei der er hoffte, weder den Tschechen noch den Russen in die Hände zu fallen. Die Amerikaner hatten ihn am 10. Mai verhaftet und ins Lager Rokitzan bei Pilsen eingewiesen. Sie hatten ihn bald verhört, hatten ihn »erfasst«, ihm gesagt »We’ll check all you’ve told us« – wie die Vertreter der »Intelligence« von OMGUS es vieltausendfach damals so oder ähnlich in den Verhören von deut- schen Funktionären sagten. Tatsächlich hatten sie ihn bald schon entlassen und am 24. Mai auf einem Transport nach Bayern mitgenommen, so dass er zurückkehren konnte nach Kassel zu den Eltern, die ihn erleichtert in die Arme schlossen. Erst im Sep- tember 1946 fuhr dort ein Militärjeep vor, verhaftete ihn die US Military Po- lice abermals. Diesmal als Kriegsverbrecher. Früh war schon von Auslieferung die Rede. Weil er Generalstaatsanwalt, mindestens Staatsanwalt gewesen war, damals im von deutschen Truppen besetzten »Protektorat Böhmen und Mäh- ren«, im Reich von Reinhard Heydrich und seiner SS. Und er dort ein »An- kläger des Reiches« gewesen sein sollte. Verantwortlich für Hunderte von Todesurteilen. Aber das war er doch gar nicht. War er nie gewesen. Generalstaatsanwalt. Oberstaatsanwalt. Ankläger des Reiches. Verantwortlich für hunderte von To- desurteilen. Schon der Titel war doch ganz falsch. Meinten sie vielleicht seine Vorgesetzten, die unter ihrem Chef, Unterstaatssekretär Curt Ludwig Ehren- reich von Burgsdorff, einem ausgewiesenen Verwaltungsfachmann, agierten, Verhaftung und Auslieferung 329

Franz Nüßlein – Jurist im Protektorat Böhmen und Mähren und ab 1955 im AA der nach dem Krieg übrigens in der ČSR nicht verfolgt, sondern in Polen zu drei Jahren Haft verurteilt werden sollte? Meinten sie Ministerialrat Rudolf Bälz und ab 1940 Ministerialrat Helmut Krieser? Die aber unter dem harmlos klingenden Titel »Gruppenleiter«, bzw. ab 1942 als »Abteilungsleiter« im Amtstableau firmierten, deshalb überhaupt nicht auf den Radarschirm der Er- mittler in Prag geraten würden. Das müsse alles vor Ort geklärt werden, eben dort, in Prag, wurde ihm be- deutet. Er müsse ausgeliefert werden an die tschechischen Behörden – denn er sei von diesen zur internationalen Fahndung ausgeschrieben. Im Londoner Statut hätten sich die Siegermächte darauf verständigt, jene Täter, die von an- deren nationalen Strafverfolgungsinstanzen angefordert würden, um sie für Verbrechen im Zeichen des Hakenkreuzes zur Rechenschaft zu ziehen, an diese auszuliefern. Das gelte auch für ihn und werde mit ihm geschehen. Die Aus- lieferung, die Überstellung an die tschechische Staatspolizei. Sie erfolgte am 330 Fallstudie: Die »Akte Franz Nüßlein«

1. April 1947 – genau um 12 Uhr Mittags am Übergabepunkt an der baye- risch-tschechischen Grenze. Wenige Wochen, bevor die Auslieferungen der Westalliierten in die von Stalins Armeen okkupierten Staaten vollständig ein- gestellt wurden, weil der Kalte Krieg heraufzog. Der Gefangene kam zunächst wieder nach Pilsen, bald darauf aber nach Prag – in die Untersuchungshaft- anstalt Prag-Pankratz. Nüßlein gehörte zu den rund 4.000 Deutschen, die von den Amerikanern bis zum Frühjahr 1947 an Nachbarländer ausgeliefert wurden. Nicht dazu ge- hörte eine schwer belastete Deutsche wie Lina Heydrich, geb. von Osten, ob- wohl sie noch mit der Familie bis 1945 auf dem luxuriösen, dem jüdischen Zuckerfabrikanten Ferdinand Bloch-Bauer – seine Frau Adele hat Gustav Klimt in zwei weltberühmten Porträts verewigt – geraubten Landschloss von Jung- fern-Breschan gelebt und dort über dreißig jüdische Zwangsarbeiter, bzw. nach deren Ermordung 1944 dann 15 weibliche »Zeugen Jehovas« aus dem KZ Ra- vensbrück hart geherrscht und nicht nur einmal den Gebrauch der Peitsche angeordnet hatte. Ihre Auslieferung verweigerten die Westalliierten jedoch. Sie erstritt sich später sogar in zwei Prozessen gegen die Bundesrepublik Mitte der fünfziger Jahre die Auszahlung einer ihr zunächst von den deutschen Behörden verweigerten Generals-Witwenrente, denn ihr Mann war in Ausübung seines Dienstes umgekommen. Sie starb hochbetagt 1985, bis zuletzt unbeirrbar von der Richtigkeit des Wirkens von Hitler/Himmler/Heydrich überzeugt.199 Anders als Lina Heydrich musste Nüßlein zurück nach Prag. Wann schwante ihm, dass damit die zweite tiefe Zäsur in seinem Leben bevorstand? Dass es jetzt, Verwechslung hin oder her, um alles ging. Um seinen Kopf, sein Leben? Die erste Zäsur hatte sich 1939 angebahnt, als er als junger Gerichts- assessor vom Justizministerium zum Reichskommissar für die Preisbildung in Berlin abgeordnet wurde, einer jener staatlichen Planwirtschaftsbehörden im NS-Staat, der die Preisfestsetzung nicht den Marktkräften überlassen wollte. Von Berlin wurde Nüßlein am 1. April 1939 zur Wirtschaftsabteilung/Abt. Preisbildung beim Reichsprotektor für Böhmen und Mähren abgeordnet. Zwei Wochen zuvor, am 15./16.März 1939, war die Wehrmacht auf Hitlers Befehl in die »Resttschechei« einmarschiert und hatte sie nach der Androhung einer Bombardierung und Zerstörung Prags nahezu kampflos besetzt. Das war ein klarer Bruch des ohnehin höchst fragwürdigen, weil ohne Beteiligung des Hauptbetroffenen und -benachteiligten, eben der tschechischen Seite zustande gekommenen Münchner Abkommens. War zugleich der erste Übergriff Hit- lers auf ein Territorium, der sich keinesfalls mehr mit deutschen Wurzeln, Minderheitenschutz oder sonstigen Verbindungen legitimieren ließ. War ein Im »Reichsprotektorat Böhmen und Mähren« 331

Reinhard Heydrich besucht mit seiner Frau Lina am 26. Mai 1942, dem Vorabend des Attentats, ein Konzert im Prager Waldstein-Palast anlässlich der »Prager-Musikwoche«. klarer Wortbruch dieses »Führers«, der seine Zusage aus dem Vorjahr, keinerlei Ansprüche mehr geltend machen zu wollen, Lügen strafte. Und war ein wei- terer seiner »Wochenend-Coups«. In England spottete man damals nicht von ungefähr: »Chamberlain takes his weekends in the country. Hitler takes a Country at the weekend«.200 Das besetzte Territorium wurde geteilt – in den Satellitenstaat Slowakei und das »Reichsprotektorat Böhmen und Mähren«. In Letzterem begann eine brutale und ausbeuterische deutsche Besatzungsherrschaft. Der Reichsprotek- tor hieß in den ersten Jahren Constantin Freiherr von Neurath, einstiger Au- ßenminister im Dritten Reich, den Hitler im Februar 1938 abgesetzt, bzw. zum Präsidenten eines niemals zusammengetretenen Geheimen Kabinettsrates »befördert« und durch Ribbentrop ersetzt hatte. Auf Drängen aus dem Reichs- 332 Fallstudie: Die »Akte Franz Nüßlein« ministerium der Justiz kehrte Nüßlein schon bald »beamtentechnisch« in die- ses Ressort zurück, wechselte – in der Zwischenzeit aus beförderungsrecht - lichen Gründen am 2. Juni 1939 beim Oberlandesgericht Frankfurt/M. zum Staatsanwalt ernannt – zum 1. Oktober 1939 offiziell erneut in den Zustän- digkeitsbereich des Justizressorts, weil sich durch den von Hitler mit Stalin verabredeten Überfall auf Polen und den deutschen Einmarsch im zivilen Be- reich zwangsläufig sogleich Personalengpässe ergaben. Nüßlein war aus gesundheitlichen Gründen »uk« (unabkömmlich) gestellt und wurde in Prag belassen. Wo er als Referent von der Gruppe »Wirtschaft« zur Gruppe »Justiz« beim Reichsprotektor überwechselte, die im Jahr 1943 als »Abteilung Justiz« in das nach Heydrichs Tod errichtete »Deutsche Staatsmi- nisterium für Böhmen und Mähren« überführt wurde. In dieser Funktion war Nüßlein vor allem mit der Reichsaufsicht über das tschechische Strafrecht und Angelegenheiten des Staats- und Völkerrechts, aber auch die Übertragung des deutschen Strafrechts auf die Bedingungen in dem okkupierten Territorium befasst. Seit Dezember 1939 hatte er als Vertreter des Reichsprotektors an zwi- schenstaatlichen Verhandlungen, insbesondere beim Abschluss von Rechtshil- feverträgen in Strafsachen teilzunehmen, sofern das Protektorat davon betroffen war. Der zuvor – im September 1939 – stattgefundene Wechsel in das Justiz- referat beim Reichsprotektor in Prag war die erste tiefe und wegweisende Zäsur im Leben des Franz Nüßlein. Er war an eine Schnittstelle geraten, an welcher sich Normenstaat und Maßnahmenstaat unmittelbar begegneten.201 Nüßlein dürfen wir, nach allem, was wir über ihn mittlerweile wissen – und wir wissen viel über ihn, nicht zuletzt aus den vier Akten-Bänden im Ar- chiv des Auswärtigen Amtes, von denen der erste noch aus dem Reichsjustiz- ministerium stammt 202– dabei als Vertreter des Normenstaates bezeichnen. Der Hinweis des späteren Präsidenten des Bundesarbeitsgerichtes, Joseph Schneider, seit 1942 im Protektorat für sämtliche Sozialversicherungen zu- ständig, trifft vermutlich zu. Er schildert uns Nüßlein, mit dem er vielfach in Prag zu tun hatte, in dem internen Untersuchungsbericht des Amtes, dem so- genannten Berger-Bericht von 1960/61, als »ausgezeichneten, sehr umsichti- gen und energischen Juristen, der mit allem Nachdruck für eine rechtsstaatliche Linie eingetreten« sei und sich in einer Reihe von Verfahren, bei denen es um Wirtschaftssabotage ging, zusammen mit Schneider selbst bemüht habe, »Wege zu finden, um diese Vorgänge aus dem Bereich der Ge- stapo und der SS herauszubringen«.203 Ganz ähnlich fällt die Zeugenaussage des AA-Beamten Gustav von Schmol- ler im Berger-Bericht aus, der von 1941 bis 1945 als Oberregierungsrat in der Karriere eines deutschen Verwaltungsjuristen 333

Abteilung Wirtschaft der Behörde des Reichsprotektors tätig gewesen und vielfach mit Nüßlein in Berührung gekommen war, der »damals im Range eines Oberstaatsanwaltes das Referat Öffentliches Recht in der Abteilung Jus- tiz« leitete. Er sagte aus: »Zwischen [uns; D.K.] Beamten des Reichsprotektors hat sowohl dienstlich als auch außerdienstlich ein enger Zusammenhalt bestanden. Dienstlich habe ich mit Nüßlein zu tun gehabt, um Rechtsfragen der Abteilung Wirt- schaft zu besprechen. Auch außerdienstlich sei er viel mit ihm zusammen gewesen. Allgemein habe Nüßlein als der Typ des absolut korrekten und zuverlässigen Beamten gegolten. Zur NSDAP habe er keinerlei enge Bin- dungen gehabt, vielmehr habe er zu dem Kreis derjenigen Beamten gehört, mit denen man über die politische Situation ganz offen und rückhaltlos habe sprechen können.« 204 Solche Aussagen klingen heute wie Produkte aus der »Persilschein-Waschan- lage« – und werden uns im Amt-Band auch als solche präsentiert oder liefern dort zumindest das – nicht immer wörtlich zitierte, aber mit bedachte – Hin- tergrundmaterial für abwertende Urteile.205 Um den Vorwürfen auf den Grund zu gehen, wollen wir uns – anknüpfend an die minutiöse Recherche dieses Falles durch Heinz Schneppen 206– mit der Laufbahn von Franz Nüßlein be- schäftigen. Zu Beginn sind einige Hinweise auf den früheren Lebensweg dieses Mannes angebracht. Franz Nüßlein ist am 12. Oktober 1909 in Kassel geboren worden, hineinge - boren in ein bürgerlich-römisch-katholisches Milieu. Er bleibt ein Einzelkind. Besucht das staatlich-humanistische Wilhelms-Gymnasium, studiert Rechts- und Staatswissenschaften in München, Berlin, Göttingen – und Paris. Am 24. Februar 1933 besteht er das Referendarexamen, promoviert anschließend an der Universität Göttingen. Nach Ableistung der vorgeschriebenen Aus - bildungszeit bei den Justiz- und Verwaltungsbehörden sowie einer Anwalts- kanzlei in den Oberlandesgerichtsbezirken Kassel/Celle/Hannover und dem der nationalsozialistischen Schulung dienenden »Referendarlager« in Kerrl im Mai – wo er seinen Prüfern als introvertierter Einzelgänger begegnet –, besteht er am 9. Dezember 1936 vor dem Reichsjustizprüfungsamt in Berlin das As- sessorexamen, mit dem ihm die Befähigung zum höheren Reichsjustizdienst attestiert wird. Die guten Noten eröffnen ihm die Perspektive einer Über- nahme in den Staatsdienst. Kann man ihm zum Vorwurf machen, dass er, Mitte zwanzig, das anstrebt? Dass er nicht wie Kurt Georg Kiesinger als Re- petitor sein Geld verdienen will? Dass er jung, ehrgeizig ist – und vielleicht sogar, katholisch geprägt, in der Justiz so etwas wie einen »Rechtsraum« im 334 Fallstudie: Die »Akte Franz Nüßlein«

Unrechtsstaat der Diktatur erblickt? Einer Diktatur im Übrigen, die 1937/38 von der überwältigenden Mehrheit der Deutschen – sofern sie nicht zu den Geschundenen, Verfolgten, Ermordeten, zu den Feinden der Volksgemein- schaft gehören – begeistert mitgetragen und unterstützt wird. 1937 und 1938 ist Nüßlein als Gerichtsassessor bei den Gerichten und Staatsanwaltschaften in den Oberlandesgerichtsbezirken seiner Heimatstadt Kassel und Frankfurt am Main beschäftigt. Zum Januar 1939 erfolgt seine formelle Einberufung in das Reichsjustizministerium. Aber er wird der Rechts- abteilung beim Preiskommissar für die Preisbildung zugeordnet – nicht gerade eine Traumposition für einen jungen Juristen – und seine planmäßige Anstel- lung in der Besoldungsgruppe A2c2 nach der Weimarer Besoldungsordnung mit der Amtsbezeichnung »Staatsanwalt« verfügt. Ein wichtiges Faktum – das ihn fast das Leben kosten wird. Er trägt einen Titel, der auf die Judikative ver- weist, die staatliche Anklagebehörde. Aber er ist in einer Verwaltungsbehörde tätig, gewissermaßen »ausgeliehen« vom Justizministerium. Die Weisung, sei- nen Urlaub abzubrechen und sich unverzüglich über Berlin zum Dienstantritt in Prag zu Oberregierungsrat Dr. Rentrop, dem damaligen Leiter der Gruppe Preisbildung im Amt des Reichsprotektors zu begeben, trifft ihn im Frühjahr 1939 völlig überraschend. Er selbst kommt am 2. April in Prag an. Wohlge- merkt: zwar im Amt des Reichsprotektors, aber nicht bei der Staatsanwalt- schaft, der Anklagebehörde der Besatzungsherren.207 Das sollte auch in der Kriegszeit so bleiben. Der seit dem 20.10.1940 zum »Ersten Staatsanwalt« beförderte Franz Nüßlein wurde vom Reichsminister der Justiz am 31.10.1940 und – was die Besoldung anlangte – rückwirkend zum 1.9. in eine Planstelle der Besoldungsgruppe A2c1 für »Hilfsarbeiter bei obersten Reichsbehörden« eingewiesen – und »unbeschadet Ihrer Weiterbe- schäftigung bei dem Herren Reichsprotektor in Böhmen und Mähren der Staatsanwaltschaft bei dem deutschen Oberlandesgericht in Prag« zugeteilt. Was besagte diese etwas verklausulierte behördliche Mitteilung? Ganz einfach: Nüßlein war auch weiterhin nicht der Judikative, sondern der Verwaltung im Protektorat zugeordnet. In der Funktion eines Staatsanwaltes, eines staatlichen Anklägers oder Richters ist Nüßlein niemals und zu keinem Zeitpunkt tätig geworden, worauf Heinz Schneppen in seiner sorgfältig-präzisen Darstellung des Falles bereits explizit hingewiesen hat.208 Er kam »erst« mit diesen Urteilen in Berührung, wenn sie als Verwaltungs- akte überprüft, bzw. wenn sie über Gnadenersuche aufgehoben werden sollten und deshalb dem Reichsprotektor vorgelegt wurden. Wenn, was der Regelfall war, der jeweilige Reichsprotektor entschieden hatte, nach Rücksprache mit Aus gutbürgerlichem Hause: katholisch, jung, ehrgeizig 335 dem Büro des »Führers« von seinem »Begnadigungsrecht keinen Gebrauch zu machen«, erging die keinerlei Handlungsspielraum zulassende Weisung, diese Entscheidung an die Staatsanwaltschaft zurück zu übermitteln zusammen mit dem »Ersuchen, alles Weitere zu veranlassen«. Diese Weiterleitung oder Rück- übermittlung an die Staatsanwaltschaft, an deren Ende die Vollstreckung von Todesurteilen stand, oblag Franz Nüßlein.209 Ein »Blutrichter« war Nüßlein niemals und zu keinem Zeitpunkt. Der denunziatorische Ausruf von Fischer in der Berliner Kongresshalle »…verantwortlich für hunderte von Todesurtei- len« fällt ebenso in sich zusammen wie die früheren diesbezüglichen Vorwürfe des DDR-Braunbuches. Auch wenn die Materie kompliziert ist und die meisten Menschen Diffe- renzierungen ohnehin überfordern, muss man der Historikerkommission im Amt-Buch den Vorwurf machen, dass sie – in der Tradition des Braunbuches und im Sinne des Auftraggebers Joschka Fischer – durchweg vom »früheren NS-Staatsanwalt Nüßlein« spricht. Und von einem »Schwerbelasteten«, der auf Grund des im Amt vorhandenen Beschweigekartells und einer mittlerweile gegenüber NS-Tätern freundlich-konzilianten Gesetzgebung »problemlos auf höchste Posten gelangt«. Im Kommissionsbericht begegnet uns ja auch der konkrete Vorwurf – unter Berufung auf Publikationen des Ost-Berliner Aus- schusses für Deutsche Einheit und Publikationen des Verbandes antifaschis- tischer tschechischer Widerstandskämpfer! –, dass Nüßlein »sich während des Krieges an der Verschärfung des Strafrechts und der Vollstreckung zahlloser Todesurteile gegen tschechische Zivilisten beteiligt hatte, indem er die Ableh- nung von Gnadengesuchen empfahl«, bzw. dass er Todesurteile bestätigt habe. Das bleibt sachlich eine unpräzise, in diesem heiklen Kontext unangemessene Formulierung. Nicht nur die wirkliche Position von Nüßlein in Prag bleibt hier – zu seinem Nachteil – verborgen. Auch die Sachinformation ist irrefüh- rend. Nüßlein hatte weder die »Ablehnung von Gnadengesuchen« empfohlen noch Todesurteile bestätigt. Ganz im Gegenteil. Und das wird ihm das eigene Leben, wird ihm seinen Kopf retten. Damnatio memoriae durch unsauberes Arbeiten – das ist eine weitere interessante Variante, die uns hier einmal mehr begegnet.210 Halten wir fest: Nüßlein ist katholisch. Jung. Ehrgeizig. Kommt aus gut- bürgerlichen Verhältnissen, ist aber nicht so vermögend, dass er jederzeit aus dem Staatsdienst ausscheiden könnte. Er ist während seines Studiums Mitglied in der katholischen Studentenverbindung K.St.V.Winfridia im Kartellverband der katholischen Studentenverbindungen geworden. Die Familie wählt die Zentrumspartei. Nach dem Studium betätigt er sich weiter im katholischen 336 Fallstudie: Die »Akte Franz Nüßlein«

Akademikerverband. Er beteiligt sich an einem evangelisch-katholischen Ar- beitskreis, wie ein Oberstudiendirektor des Staatlichen Dom-Gymnasiums in Fulda nach dem Krieg bezeugen wird. Er nimmt an Fronleichnamsprozessio- nen teil, wann und wo immer er kann.211 Kurzum: Er bewegt sich in einem katholischen Netzwerk, das ihn sein weiteres Leben begleiten und ihm an der einen oder anderen Stelle helfend zur Seite treten wird. Nüßlein gehört jener Generation des Unbedingten an, die uns auch an einigen anderen Stellen in die- sem Band begegnet. Aber er ist – anders als etwa der fast gleichalte Otto Oh- lendorf, Jahrgang 1907, ein bayerischer Katholik, der dennoch bereits 1925 in die NSDAP und in die SS eingetreten war – nicht früh vom Nationalso- zialismus enthusiasmiert, befeuert, angezogen. Die Differenz zwischen dem katholischen Milieu und der braunen Partei ist bei ihm durchaus vorhanden. Er tritt 1933, nach dem Abschluss seines Studiums, nicht in die NSDAP ein, wie immerhin rund 300.000 deutsche Beamte. Aber 1937/38 ist Hitlers Herr- schaft fest etabliert – und der Druck wächst auch auf ihn, das Parteibuch zu erwerben, wenn er im öffentlichen Dienst reüssieren möchte. Wie gesagt: Er ist jung, er ist ehrgeizig. Natürlich, für die Unabhängige Historikerkommission macht ihn das verdächtig. Er hätte, weil Protestde- monstrationen gerade nicht üblich waren, zumindest rebellieren, in die USA auswandern oder sich erschießen können. Das alles tat er nicht. Er trat tat- sächlich in den Dienst einer totalitären Diktatur, die er nicht als schrecklich empfand. Und er wollte im Staatsdienst Karriere machen. Geschichtspolitische Darstellungen mögen ihn dafür denunzieren. Der Historiker sucht ihn aus dem Zeitkontext heraus zu verstehen, sucht ihn aus den Quellen zu deuten. Das erste, was Nüßlein machen muss in der Untersuchungshaft in Prag, im Frühjahr 1947 ist das, was auch eine Vielzahl anderer NS-Täter oder besser: NS-Verdächtiger hatten gleichfalls tun müssen: seinen Weg, sein Leben, seine Handlungen zusammenfassen, seine Motive und Überlegungen schildern in einem detaillierten Lebenslauf, einem langen Protokoll. Bei Rudolf Höss, dem KZ-Kommandanten von Auschwitz, der fast zeitgleich mit Nüßlein von den Briten ausgeliefert, in Polen von einem polnischen Gericht zum Tode verurteilt und am 16. April 1947 in Auschwitz vor seinem Kommandanten-Haus ge- henkt werden wird, sind es am Ende rund 100 Seiten. Sie beschreiben detail- liert die Abläufe auf der letzten Etappe der deutschen Mordmaschinerie. Wer sie kennt, wird das Grauen der Vernichtungslager nicht mehr vergessen. Bei Nüßlein sind es zwölf eng bedruckte, randvolle Seiten – und vor allem bio- graphisch interessant. Die Voraussetzung beim Abfassen dieser Niederschrift, die zentrale Bedingung kennt Nüßlein. Wird er bei einer Lüge ertappt, einer Tschechische Schnellgerichtsverfahren 337 signifikanten Falschaussage überführt, ist er des Todes. Die Aussagekraft dieses Dokumentes ist nicht zuletzt deshalb als durchaus hoch einzuschätzen. Nüß- lein schreibt in Prag buchstäblich um sein Leben. Kann sich um Kopf und Kragen schreiben – oder versuchen, sich dadurch zu retten. Mit der Wahrheit, »seiner« Wahrheit. Seine Arretierung fällt in die Übergangshase der tschechischen Retributions - gerichte, die ja 1945 auf zwei Jahre befristet worden waren und im Mai 1947 aufgelöst werden, bzw. ihre Fälle an die Zivilgerichte abgeben sollen. Mitten in diese Übergangsphase gerät Nüßlein. Während die ersten Jahre von hoher Brutalität und starkem Verfolgungsdruck gekennzeichnet waren, bleibt jetzt zwar der Verfolgungsdruck hoch, aber er mischt sich mit Spurenelementen rechtsstaatlicher Praxis und dem Willen oder der Bereitschaft zu etwas sorgfäl- tigeren Ermittlungen. Allerdings gilt weiterhin, was im Dekret 16/1945 vom 19. Juni 1945 des Präsidenten Edvard Beneš über die »Bestrafung der natio- nalsozialistischen Verbrecher, Verräter und ihrer Helfer« festgelegt worden war: »Nach unnachsichtiger Gerechtigkeit rufen die unerhörten Verbrechen, welche die Nazisten und ihre verräterischen Mitschuldigen der Tschecho- slowakei gegenüber begangen haben. Die Verknechtung des Vaterlandes, das Morden, die Versklavung, die Plünderungen und die Demütigungen (…), bei denen leider auch untreu gewordene tschechoslowakische Bürger mitgeholfen oder mitgewirkt haben (…), müssen unverzüglich die ver- diente Strafe erhalten, damit das nazistische und faschistische Übel von den Wurzeln her zerstört wird …«212 Für die Verhängung der Todesstrafe reichte aus, dass mindestens ein tschecho - slowakischer Bürger durch die Taten eines Angeklagten ums Leben gekommen war. Gegen Gestapo-Angehörige und Mitglieder der Protektoratsverwaltung wurden Todesurteile etwa bei Beteiligung an der Deportation von Juden oder wegen einer Hinrichtung von Widerstandskämpfern verhängt. Bei tschechi - schen Kollaborateuren stand die Todesstrafe etwa auf Denunziation mit Todes folge – auch, zum Beispiel, wenn jemand wegen einer Denunziation ins KZ kam und dort das Kriegende nicht erleben sollte.213 Verschärft galten diese »Regeln« dann wieder in der Phase, die nach dem kommunistischen »Takeo- ver« im Februar 1948 einsetzt. Hier werden die brutalen Schnellgerichtsver- fahren und die – kurzen – Schauprozesse nach stalinistischem Muster die Regel sein, ganz ähnlich wie unmittelbar nach Ende der Besatzungsherrschaft 1945. Eine Berufungsmöglichkeit gibt es nicht. Die Entscheidung der ersten Instanz ist zugleich die letzte in der jeweiligen »Causa«. Bei diesen Prozessen im Jahr 1948 wollten die neuen kommunistischen Machthaber das Wasser des wei- 338 Fallstudie: Die »Akte Franz Nüßlein« terhin vorhandenen massiven antideutschen Ressentiments auf die eigenen roten Mühlen lenken und zugleich »beweisen«, dass die bürgerliche Justiz zuvor »versagt« und viele deutsche Kriegsverbrecher zu milde bestraft habe.214 Auch von dieser Phase wird Nüßlein etwas mitbekommen. Insgesamt waren die sog. Retributionsprozesse selbst für tschechische His- toriker aus der heutigen Perspektive zwischen 1945 und 1948 von »sorgfältiger Arbeit weit entfernt«, mit »zahlreichen Fehlurteilen behaftet«, von persönli- chen Rache- und Entlastungsmotiven durchsetzt und von massivem psy- chischem wie physischem Druck begleitet. Mit dem Versprechen der Hafterleichterung und der Hoffnung auf milde Urteile wurde ebenso operiert wie mit Folter, Einzelhaft, Schlafentzug, um den Verhafteten Geständnisse ab- zupressen. In jedem Fall werden zwischen 1945 und 1948 in der Tschecho- slowakei etwa 33.000 Personen verurteilt, Täter und Kollaborateure, Deutsche und Tschechen. Der Anteil der Deutschen liegt bei etwas mehr als zwei Drit- teln. Es sind 819 Todesurteile darunter, davon 651 für Deutsche – so viele wie in keinem anderen europäischen Land außerhalb der Sowjetunion mit ca. 1.251 Hinrichtungen und der späteren Bundesrepublik, wo es etwa 690 Hin- richtungen von NS-Tätern geben wird.215 Was Nüßlein über sein Verhältnis zur NSDAP in Prag niederschreibt, ist daher durchaus als glaubwürdig zu betrachten: »Im Laufe des Jahres 1937 war ich vom Oberlandesgerichtspräsidenten und dem Generalstaatsanwalt in Kassel wiederholt nachdrücklich darauf hin- gewiesen worden, dass ich – wolle ich im öffentlichen Dienst verbleiben – in die NSDAP, bzw. in eine ihrer Formationen – SA oder SS – eintreten müsse. Ich bin im Besitz einer Fotokopie eines im März 1937 durch den Personalreferenten des Kasseler Oberlandesgerichtspräsidenten aufgenom- menen Aktenvermerkes über eine dieser Vorhaltungen und bitte, diese vor- legen zu können.« Tatsächlich findet sich in den Anlagen zum Lebenslauf in der Personalakte Nüßlein der auf den 31.3.1937 datierte Vermerk eines Oberlandesgerichts- rates in Kassel für den dortigen Oberlandesgerichtspräsidenten der mit einem »Wiedervorlagevermerk innert 3 Monaten« versehen ist und folgendem Wort - laut trägt: »Auftragsgemäß habe ich dem Assessor Dr. Nüßlein eröffnet, dass der Reichs minister der Justiz von ihm erwartet, dass er sich künftig in der Partei oder ihren Verbänden aktiv betätige. Ich habe ihm insbesondere geraten, seine Aufnahme in die SA zu erbitten. Dabei habe ich ihn darauf hinge- wiesen, dass unter Umständen seine Übernahme als Anwärter [im Justiz- Um Kopf und Kragen schreiben 339

dienst; D.K.] in Frage gestellt werden könne, wenn er nicht alles einsetze, um der Erwartung des Reichsministers der Justiz zu genügen.216 1937/38 war das Dritte Reich, war Hitlers Herrschaft fest etabliert. Da konnte das Regime den Druck erhöhen und bei den jüngeren Staatsdienern den Eintritt in die Partei oder eine ihrer Unterorganisationen erzwingen. An dem behördlicherseits ausgeübten Druck auf Nüßlein zum Beitritt kann nach Lektüre dieser Quelle jedenfalls nicht mehr gezweifelt werden. Er selbst hat dazu in seinem Lebenslauf von 1947 geschrieben: »Da ich den Eintritt in SS oder SA auf jeden Fall vermeiden wollte, meldete ich mich schließlich im September oder Oktober 1937 bei der Partei an. Nach län- gerer Prüfung erfolgte etwa Oktober 1938 meine Aufnahme als vorläufiges Mitglied mit einem formellen, zurück datierten Eintrittsdatum vom 1. Mai 1937. In eine Formation der Partei – SS, SA usw. – trat ich auch später nicht ein, obwohl mich meine Vorgesetzten wiederholt dazu veranlassen wollten, so insbesondere Unterstaatssekretär von Burgsdorff 1942 zum Ein- tritt in die SA. Ein Amt in der Partei habe ich nie bekleidet und auch kei- nerlei Propaganda für sie entfaltet …« 217 Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Justizbehörden in Prag diese Aussagen überprüft haben, indem sie bei den Amerikanern nachfragten, die bekannter- maßen in den Besitz der nahezu vollständigen Parteikartei der NSDAP gelangt waren. Diese Unterlagen wurden häufig zur Verifizierung oder Falsifizierung von Angaben in NS-Strafverfahren herangezogen. Zwar hatte Stalin am 4. Juli 1947 in Moskau zum tschechischen Außenminister Jan Masaryk »Njet« gesagt, als dieser ihn fragte, ob er es für eine gute Idee halte, wenn die Tschechoslo- wakei das amerikanische Angebot annehmen und sich eine Tranche der Mar- shallplan-Kredite für den Wiederaufbau des Landes sichern würde, aber das hatte erst allmählich die Fronten des Kalten Krieges verfestigt und die Spaltung Europas in zwei von den jeweiligen Hegemonialmächten USA und UdSSR kontrollierte Machtblöcken vorangetrieben. Im Sommer 1947 war davon noch nicht so viel zu merken. Noch würde OMGUS auf die Anfrage aus Prag ant- worten. Im Urteil des Außerordentlichen Volksgerichtshofs in Prag vom 5. Mai 1948 wird jedenfalls die Tatsache, dass Nüßlein »nur« der NSDAP angehörte, aber keiner weiteren Organisation, ausdrücklich als Entlastungspunkt zu seinen Gunsten verbucht – anders als von der Unabhängigen Historikerkommission sechzig Jahre später. In dem Urteil wird er zudem von dem Verdacht freige- sprochen, ein »Konfident des SD« gewesen zu sein.218 Sonst hätte er wohl nicht überlebt. Denn das Klima für deutsche Angehörige der Besatzungsmacht war 340 Fallstudie: Die »Akte Franz Nüßlein«

1947 in Prag immer noch sehr ungünstig, kaum anders als bei Kriegsende zwei Jahre zuvor. Noch dazu für einen Deutschen aus der Spitze der Protek- toratsverwaltung, zwar keinen Richter oder Staatsanwalt, aber einen »Hilfsar- beiter einer obersten Reichsbehörde«. Kurz nach Nüßleins Überstellung hatte der Staatspräsident Edvard Beneš vor dem tschechischen Nationalrat ausge- rufen: »Für unsere nationale und staatliche Freiheit gibt es keine Gefahr – außer der deutschen Gefahr.« 219 Jener Mann, dessen frühe Dekrete nach dem Krieg die ethnische Säuberung der Tschechoslowakei von allen deutschen Spu- ren vorantrieb, war noch immer von massivem Ressentiment geleitet. Das hatte Gründe. Um sie zu verstehen, müssen wir einen kurzen Blick auf das merkwürdige Gebilde werfen, das Hitler auf den Resten des tschechischen Staates nach den Abtretungen aus dem Münchner Abkommen und dem Ein- marsch der Wehrmacht-Truppen am 16. März 1939 hatte errichten lassen: das »Protektorat Böhmen und Mähren«. Es umfasste etwa 50.000 Quadrat- kilometer und 7,5 Millionen Einwohner, davon etwa 250.000 bis 300.000 »Volksdeutsche«. Reinhard Heydrich, der im September 1941 – als Ersatz für den in den Hintergrund gedrängten Constantin Freiherr von Neurath – zum Stellvertretenden Reichsprotektor ernannt werden wird, sollte es als »Herz- stück des Reiches« und als »Bollwerk des Deutschtums« bezeichnen.220 Als SS- Land. Nirgendwo sonst im Reich und in den besetzten Territorien konnte die SS sich so machtvoll entfalten und durchsetzen. Aber auch hier herrschte das im Dritten Reich konstitutive Prinzip der konkurrierenden Institutionen. In einer Zwischenphase, in den wenigen Monaten von Heydrichs Herrschaft und – nach seinem Tod im Juni 1942 – des Übergangsnachfolgers Kurt Daluege, dem Chef der Ordnungspolizei, der nach dem Attentat die Fahndung und Rache des Regimes organisieren sollte, hielt die SS beide Schlüsselpositionen in der Protektoratsverwaltung in ihren Händen. Sie besetzte jetzt sowohl die Position des Reichsprotektors (die Stellvertretung war politisch bedeutungslos und allein mit Rücksicht auf Neurath eingeführt worden, der seit Mitte 1941 dauerhaft von Hitler »beurlaubt« worden war, was ihm später u.a. in Nürnberg den Kopf retten wird) mit seiner Behörde wie auch die Position des für die Verwaltung des Protektorats gleichfalls zuständigen Staatsministers. Aber davor – unter Neurath – und danach unter Wilhelm Frick, dem von Himmler Mitte August 1943 als Reichsinnenminister abgelösten und nach dem Herzinfarkt von Daluege nach Prag abgeschobenen Rivalen, war das anders. Und irgendwie doch nicht. Denn in Prag wiederholte sich, was im Reich in den Friedensjahren bereits geschehen war. Formal war Himmler seit 1936 SS-Land: »Bollwerk des Deutschtums« 341 dem Innenminister, eben Frick, unterstellt. Aber darüber lachte er bloß, denn er besaß ja den Immediatszugang zu Hitler. Und ebenso formal war der »Deut- sche Staatsminister für Böhmen und Mähren« von der SS dem Reichsprotek- tor Frick unterstellt. Aber auch der lachte darüber bloß. Denn er besaß den Immediatszugang zu Hitler und Himmler. Der Machtkampf war tatsächlich schon lange entschieden. Zu Gunsten der SS. Sie hatte ihn haushoch gewon- nen. Neue Schlüsselfigur nach Heydrichs Tod war von 1942 bis 1945 Karl Herrmann Frank – nicht zu verwechseln mit Hans Frank, dem korrupten und mörderischen deutschen »Vizekönig« im Generalgouvernement in Krakau –, der als Staatsminister und HSSPF (Höchster SS- und Polizeiführer) in Perso- nalunion eindeutig die Schlüsselfigur der SS im Protektorat war. Himmler hatte bereits am 29. Mai 1942 – also zwei Tage nach dem Attentat auf Hey- drich – Frank, der selbst auf den Posten des Reichsprotektors gehofft und den die Ernennung von Daluege tief enttäuscht hatte, die Botschaft übermittelt, es sei »Führerwille«, dass nunmehr ein »Doppelgespann von Reichsprotektor und Höherem SS- und Polizeioffizier im Range eines den übrigen Reichsmi- nistern gleichgestellten Staatsministers« die Geschicke in Prag lenken sollten. Und da ja nun beide von der SS gestellt würden, gäbe es überhaupt keine Pro- bleme mehr. Und als Frick, der die SS immer schon vergeblich hatte einhegen und kontrollieren wollen, an Dalueges Stelle trat, war er längst zu schwach, um im Protektorat die Zügel zu ergreifen, die Karl Hermann Frank und seine Männer mittlerweile fest in der Hand hielten.221 Formal handelte es sich beim Protektorat um eine Art deutscher Kolonie mitten in Europa. Mit einer partiell »autonomen« tschechischen Regierung unter der Oberaufsicht eines deutschen Reichsprotektors und seiner Behörde – unter der Oberaufsicht der SS. Reichsprotektor wie SS-Führer waren – wie der Vizekönig in Indien der Krone in London – direkt dem Staatschef der deutschen Kolonialmacht, mithin Hitler, unterstellt. Präsident Emil Hacha war offiziell das Staatsoberhaupt, als Ministerpräsident fungierte Alois Elias, der wegen seiner Kontakte zur Exilregierung in London bereits im Herbst 1941 vom eilends nach Prag befohlenen 1. Senat des Volksgerichtshofes zu- sammen mit dem Prager Bürgermeister Otakar Klapka zum Tode verurteilt und nach dem Attentat auf Heydrich am 4. Juni 1942 hingerichtet werden sollte. Hacha wurde 1945 von der Roten Armee verhaftet und starb im Gefängnis. Das Parlament war abgeschafft. Rund 400.000 tschechische Staast- bedienstete arbeiteten unter der Aufsicht von 11.000 deutschen Zivilverwal- tungsbeamten und -angestellten. Franz Nüßlein war einer von ihnen. Diese Konstruktion gab es nirgendwo sonst im Dritten Reich. Die tschechische 342 Fallstudie: Die »Akte Franz Nüßlein«

Der Karlsbader Buchhändler Karl Hermann Frank war 1935 Abgeordneter für die Sudetendeutsche Partei im tschechoslowakischen Parlament geworden und setzte sich für den Anschluss des Sudetenlandes an das Deutsche Reich ein. Kurz vor dem Münchner Abkommen steuerte er die bewaffneten Provokationen im Sudetenland. Hitler belohnte ihn nach dem »Anschluss« und ernannte ihn zum Sudetengauleiter und bald darauf zum Staatssekretär im Protektorat. Das Bild zeigt Karl Hermann Frank an seinem Schreibtisch sitzend in der Protekoratsverwaltung in Prag.

Wirtschaftskraft, vor allem die Waffenproduktion sollte keinesfalls durch eine (zu) brutale Besatzungsherrschaft beeinträchtigt werden. Dennoch wurde die Politik des Rassenwahns auch auf dieses Territorium übertragen. Ab dem 1. September 1941 mussten auch die Juden im Protek- torat ab dem siebten Lebensjahr einen »Judenstern« auf der Kleidung tragen. Die Hochschulen wurden nach Studentenprotesten geschlossen bis auf die »Deutsche Universität« in Prag. Der Widerstand nahm zu. Im September 1941 führten die »Wochen der langsamen Arbeit« zu einem Rückgang der indus- triellen Produktion um 18 Prozent. Parallel dazu wuchsen der Einfluss und die Bedeutung der SS. Denn nur ihre »Spezialisten« schienen in der Lage, die- sen Widerstand wirksam und entschlossen zu brechen, ohne das ganze Land in den Aufruhr zu treiben. Deshalb schickte Hitler auf Anraten Bormanns sei- nen obersten und besten Polizeifachmann in diesem September 1941 nach Prag: Reinhard Heydrich. Und Neurath in den Ruhestand. Weil Hitler sich Ausbreitung des Maßnahmenstaates im Protektorat 343 im September entschlossen hatte, der Deportation von Juden aus Berlin, Wien und Prag zuzustimmen, war Heydrich auch dafür der beste Mann. Der zum SS-Obergruppenführer Beförderte behielt die Leitung des RSHA bei und pen- delte fortan zwischen Berlin und seinem Dienstsitz auf dem Hradschin in der Stadt an der Moldau. Und er machte sich daran, wesentliche Elemente der SS-Besatzungs- und Bevölkerungspolitik umzusetzen, ohne sich – wie etwa im Generalgouvernement – mit den lästigen Einwänden widerstrebender Ver- waltungsbürokraten oder Parteivertreter auseinandersetzen zu müssen. Nachdem Heydrich am Nachmittag des 27. September 1941 auf dem Flughafen Ruzyne bei Prag gelandet war, vollzog er eine einzige Amtshand- lung: Er verhängte den Ausnahmezustand. Die Schreckenszeit des Dritten Reiches im Protektorat hatte begonnen.222 Der recht gut unterrichtete Joseph Goebbels notierte dazu bereits unter dem Datum des 1. Oktober 1941: »Heydrich arbeitet im Protektorat außerordentlich gut und umsichtig. Er führt ein scharfes Regiment, lässt nichts an die Autorität herankommen und treibt die Opposition wieder in ihre Schlupfwinkel zurück. Zwischen Opposition und Autorität steht bekanntlich immer eine bereite labile Masse, die sich dahin wenden wird, wo die stärkere Kraft festzustellen ist. Ist diese auf Seiten der Opposition, so wandert die Masse zur Opposition. Ist sie auf Seiten der Autorität, so wandert sie zur Autorität. Heydrich fasst die Sache richtig an, indem er mit der Autorität das Gefühl der Kraft ver- bindet … Die Vollstreckung einer Reihe von Todesurteilen hat sich als notwendig erwiesen. Aber das ist ja das Wirksamste und vielleicht auch das einzige, was den Tschechen auf die Dauer imponiert.« 223 Standgerichte, die ausschließlich mit Angehörigen von SD und SiPo besetzt sind, werden unverzüglich eingerichtet. Gnadenersuche sind zwecklos, deren bürokratische Bearbeitung für Heydrich reine Zeitverschwendung. Der Maß- nahmenstaat breitet sich auch im Protektorat aus, drängt Restbestände von normenstaatlichen Verfahrensweisen immer weiter zurück. Die Standgerichte verfügen von vornherein lediglich über drei Urteilskategorien: Todesstrafe, KZ (Mauthausen), Freispruch. Innerhalb der ersten drei Tage werden 92 Todes- urteile verhängt und vollstreckt. Bis Ende November sind etwa 6.000 Personen verhaftet, 404 Todesurteile vollstreckt. Das Netz der 1.841 Gestapobeamten zieht sich zusammen – die Polizeidichte ist etwa doppelt so hoch wie im Alt- reich. Ein Beamter kommt auf 5.600 Einwohner. Aber Heydrich ist ein kalter Techniker der Macht. Er geht gleichermaßen gegen die im Lande unpopulä- ren, ja verhassten Schieber, Schwarzmarkt-Profiteure und Kriegsgewinnler vor, spricht den Neidinstinkt in der Bevölkerung an, verteilt weitere Vergünsti- 344 Fallstudie: Die »Akte Franz Nüßlein«

SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich bei seiner Ankunft im Prager Schloss als stellvertretender Reichsprotektor im Herbst 1941 – an seiner Seite der Staatssekretär beim Reichsprotektor und Höhere Polizeiführer, SS-Gruppenführer Karl Hermann Frank, die rechte Hand von Neurath, Heydrich und Daluege, der ab 1943 als Reichsminister für das Protektorat die Amtsgeschäfte unter dem nominellen Protektor Frick führen sollte.

Die erste Maßnahme: Reinhard Heydrich verhängt nach seiner Ankunft im Protektorat sogleich den Aus- nahmezustand. Zu seiner Herrschaftstaktik gehörten neben dem Terror auch verschiedene Konzessionen. Reinhard Heydrich verhängt den Ausnahmezustand 345 346 Fallstudie: Die »Akte Franz Nüßlein« gungen und herrscht nach dem Prinzip von Peitsche und Zuckerbrot.224 Und schwelgt in deutschen Großmacht- und Rassenwahnphantasien. Für unseren Zusammenhang spielt dabei die Festschrift zu Himmlers 40. Geburtstag – auch er ein Angehöriger der Generation des Unbedingten –, die leicht verspätet 1941 gedruckt erscheint, eine Rolle. Genauer: der Beitrag darin von Heydrichs ehemaligem Stellvertreter und altem Rivalen, der mittlerweile an der Spitze der Zivilverwaltung im deutsch besetzten Teil Frankreichs steht: Werner Best. Er skizziert vier Archetypen von SS-Herrschaftstechniken in er- oberten, besetzten Gebieten. Nur auf der untersten Ebene, bei der »Bündnis- Verwaltung«, bei rassisch gleichwertigen Völkern wie den Dänen oder den Norwegern, ist im Zweifelsfall ein sanfter Druck über die diplomatischen Ka- näle und damit die Einbeziehung des Auswärtigen Amtes ausdrücklich sinn- voll und angebracht. Bei den anderen drei, die sich bis zur vollständigen »Kolonialverwaltung« wie im Generalgouvernement steigert, hat das Auswär- tige Amt nichts mehr verloren, ist nutzlos, es fehlt für Best ganz offenbar die Härte und NS-Aufladung, wie sie die SS garantierte.225 Am 19. Januar 1942 wird die Protektoratsregierung von Heydrich umge- bildet, aber nach außen hin die »tschechische Autonomie« nicht angetastet. Fortan gibt es nur noch sieben statt vierzehn tschechische Ministerien, die sämtlich unmittelbar dem Büro des Reichsprotektors unterstellt werden. Zu- sammen mit dem neuen Ministerpräsidenten Jaroslav Krejci sind sie nunmehr zur Gänze auf die Rolle der Befehlsempfänger von Heydrichs Gnaden redu- ziert. Außerdem setzt Heydrich einen Deutschen, SS-Oberführer Walter Bertsch, als Minister für Wirtschaft und Arbeit für die deutsch koordinierte Planwirtschaft in das Kabinett, das fortan während der Kabinettssitzungen nicht mehr auf Tschechisch konferieren kann. Bertsch wird 1945 von der tschechischen Staatspolizei verhaftet, zur lebenslangen Haft verurteilt und stirbt 1952 im Gefängnis. Zudem hebt Heydrich an diesem 19. Januar den Ausnahmezustand auf, entlässt die meisten einstmals protestierenden Studen- ten aus den KZ und verfügt eine Verwaltungsreform, die den deutschen Ver- waltungsapparat verkleinert und die Kompetenzen der zuvor 35, nunmehr 14 Oberlandräte beschränkt, indem er jedem einen SS-Führer an die Seite stellt. Die Kontrolle der deutschen Zivilverwaltung im Protektorat wird intensiver. Heydrich allerdings gelingt es, die Besatzungsherrschaft nicht allein durch Druck und Terror zu stabilisieren, sondern auch durch partielle Konzessionen und Kooperationsbereitschaft. Die tschechische Exilregierung in London er- blickt in ihm einen ihrer gefährlichsten Gegner und schickt sich an, ein Team von Agenten in die Heimat zu entsenden und mit Fallschirmen abspringen »Blutrichter« oder Beamter in einer »Oase des Rechtsempfindens«? 347 zu lassen. Mit nur einem einzigen Auftrag: Heydrich durch ein Attentat zu liquidieren. Nüßlein ist währenddessen ein Teil, ein Rädchen in der deutschen Zivil- verwaltung. Zugleich arbeitet er an einer wichtigen Schnittstelle, denn bei Heydrich im Führungsapparat des Reichsprotektors treffen der Normen- und der Maßnahmenstaat unmittelbar aufeinander. Und Nüßlein erweist sich – jedenfalls nach den vorliegenden Akten und soweit das überhaupt noch mög- lich ist – als Vertreter des Normenstaates. Die Aussage des Schweizer Botschaf- ters Huber, der von 1940 bis 1945 sein Land in Prag vertreten und mit Nüßlein vielfach zu tun bekommen hatte, ist in diesem Zusammenhang hochinteres- sant. Kein deutscher »Persilschein«. Die Aussage eines Schweizers aus einem Land, das nach dem Krieg das antideutsche Ressentiment nur mühsam zu zü- geln verstand, nachdem die Kooperation mit dem Dritten Reich fast bis in die letzte Kriegsphase hinein ausgemacht eng gewesen war. Staatssekretär Hilger van Scherpenberg, der sich 1958 ein Bild von dem neu ins Amt gekommenen Nüßlein hatte machen wollen – der ja intern umstritten war nach seiner langen Lagerhaft –, war auf Botschafter Huber zugegangen und erfuhr von diesem, er habe erlebt, »wie Nüßlein sich mehrfach in mutiger und aufopferungsvoller Weise für Fälle eingesetzt« habe, in welchen Schweizer Staatsangehörige von Nazis in lebensbedrohlicher Weise verfolgt worden waren. In dem Vermerk, den Scherpenberg unter dem Datum des 13. Mai 1958 an- legt, heißt es: »Ich habe die Tätigkeit von Herrn Nüßlein während der 5 Jahre sorgfältig beobachten können und kann ohne Vorbehalt sagen, dass Herr Nüß- lein geradezu eine Oase des Rechtsempfindens in der sonst so rechtlosen At - mos phäre des Protektorates um sich aufgebaut habe.« 226 Fischers »Blutrichter« und die »Oase des Rechtsempfindens« – wie passt das zusammen? Gar nicht. Fischer und mit ihm seine Unabhängige Historikerkommission irrten. Inte- ressant ist übrigens, was Hitler unter dem Eindruck von Heydrichs Tod Goeb- bels wissen lässt, der am der 10. Juni 1942 seinen Stenographen diktiert: »Im übrigen wird im Protektorat jetzt ordentlich aufgeräumt. Es wird hier keine Rücksicht mehr genommen und die oppositionellen Kreise werden mit harter Hand angefasst. Sie haben nichts mehr zu lachen. (…) Der Füh- rer verbindet das mit einer schärfsten Kritik an unserer Beamtenschaft und an den Juristen. Die Bürokratie in den besetzten Gebieten ist ein wahrer Krebsschaden und jeder, der dagegen angeht, erwirbt sich ein großes Ver- dienst um die Sicherheit des Reiches … Die Lage im Protektorat will der Führer noch am Abend nochmals mit mir näher besprechen … Unsere Po- litik im Protektorat muss ansonsten sehr zurückhaltend sein. Der Führer 348 Fallstudie: Die »Akte Franz Nüßlein«

ersucht mich deshalb auch, keine antitschechische Propaganda im Reichs- gebiet zu dulden …« 227 Ganz offenbar war Hitler mit der deutschen Verwaltung in den besetzten Ge- bieten nicht zufrieden. War sie ihm zu milde, zu wenig durchsetzungsfähig und hart gegenüber dem widerstandsbereiten Teil der tschechischen Bevölke- rung, während der kooperierende Teil, auf den die Deutschen angewiesen blie- ben, nicht zu brutal angefasst werden sollte? Vermutlich schon, denn die Unterdrückungsmaßnahmen steuerte jetzt die SS. Goebbels hält diesbezüglich am 20. Juni fest: »Im Protektorat werden jetzt energische Maßnahmen getroffen. Die Er - schießungen von Saboteuren gehen nun weiter und der Führer hat jetzt auch seine Zustimmung dazu gegeben, dass der ehemalige Ministerpräsi- dent Elias, den wir uns für vorkommende (Sabotage)Fälle ausgespart hat- ten, füsiliert wird. Es ist nicht zu bestreiten, dass diese drakonischen Urteilsvollstreckungen einen tiefen Eindruck auf die tschechische Bevöl- kerung machen, was ja auch der Sinn der Übung ist. Sie soll einsehen, dass Besatzungsherrschaft 349

Auch nach Heydrichs Tod bleibt die SS der Schlüsselfaktor im Protektorat. Die Bilder zeigen SS-Gruppen- führer Kurt Daluege, den neuen stellvertretenden Reichsprotektor, der links durch den tschechischen Staats- präsidenten Dr. Emil Hacha begrüßt wird. Rechts ist festgehalten, wie Daluege in Begleitung von Karl Hermann Frank (halb verdeckt), dem eigentlichen »starken Mann«, im September 1942 der tschechischen »Regierung« die deutschen Bedingungen diktiert.

sie mit dem Kurs, den bisher ein Teil ihrer Intellektuellen segeln wollte, nicht weiterkommt, sondern für diesen vielmehr sehr blutig bezahlen muss.« 228 Welche Rolle spielte Nüßlein dabei? SS- oder SD-Mitglied war er nicht. Er gehörte dem von Hitler verachteten deutschen Beamtenapparat im Protektorat an. Entlastend für Nüßlein sind ferner die Hinweise, die er in seinem Lebens- bericht vom 14. April aufscheinen lässt, als er erklärt: »Ich habe … keinerlei Tätigkeit als Richter oder Ankläger bei Gerichten der Justiz, einschl. der ›Sondergerichte bei den Landgerichten‹ sowie in ir- gendeiner Weise der Militärjustiz, irgendeines Zweiges der Polizei ein- schließlich Standgerichtsbarkeit wahrgenommen. Dafür, welcher Art die persönlichen Beziehungen zwischen der geheimen Staatspolizei und mir waren, dürfte interessant sein, dass die Stapo, als ›Wohnungskommission‹ getarnt, bei mir eine Wohnungsdurchsuchung vornahm und mich zweimal beim Chef des Ministeramtes des Staatsministers, bei Ministerialrat Dr. Gies wegen Besuches von katholischen Gottesdiensten – die Geh. Staats- polizei berichtete: von ›tschechischen Gottesdiensten‹ – denunzierte.« 229 Das gewichtige katholische Element in der Biographie von Nüßlein ist bislang noch kaum in den Blick der Wissenschaft geraten. Ob Nüßlein tatsächlich als Vertrauensmann zwischen dem tschechischen und dem deutschen Episkopat 350 Fallstudie: Die »Akte Franz Nüßlein« fungierte, bleibt bis heute Spekulation – eventuell können die Akten des Va- tikans oder auch Unterlagen des tschechischen Klerus hier später einmal Auf- schluss geben. Allerdings handelte Nüßlein in Prag in einer Zeit, da jede schriftliche Überlieferung in diesen Zusammenhängen lebensbedrohlich sein konnte.230 Die katholischen Verbindungen Nüßleins sind aber in jedem Fall im Hinterkopf zu behalten, weil sie das Bild dieses Mannes abrunden. Nach dem Attentat auf Heydrich verhaftete die deutsche Besatzungsmacht Prager Geistliche wie das Oberhaupt der orthodoxen Kirche, Bischof Matej Gorazed, sowie Pater Petrek und zwei weitere Geistliche, die den Attentätern in ihrer Kirche Zuflucht gewährt hatten, ließ sie zum Tode verurteilen und hinrichten. Es ist keineswegs ausgeschlossen, dass Nüßlein diese Geistlichen persönlich kannte. Insgesamt wurden von der Gestapo 236 Helfer jener aus London ge- schickten Fallschirmagenten und Heydrich-Attentäter verhaftet, ins KZ Maut- hausen deportiert und dort ermordet.231 In dieses Bild gehört auch die brutale Jagd nach den Attentätern, bei der dem Schlüsselzeugen Vlastimil Moravec der abgeschnittene Kopf seiner Mut- ter – sie hatte sich dem Zugriff der Polizei mittels einer Zyankalikapsel entzo- gen – in einem Glasbehälter in Formaldehyd vorgeführt wurde, um seinen Widerstand zu brechen und ihn zum Reden zu bringen. Das geschah, nach- dem die Gestapo-Beamten hinzugefügt hatten, sie würden demnächst den Kopf des gleichfalls verhafteten Vaters dazu legen. Ähnlich wurde mit dem Vater verfahren, nur diesmal sollte der Kopf des Sohnes dazu kommen. Beide, Vater und Sohn, sagten daraufhin aus. Ihre Aussagen retteten sie nicht. Sie wurden ins KZ Mauthausen deportiert und dort ermordet.232 Die Vergeltungsmaßnahmen für das Attentat erfolgten brutal und rasch. Sie sind für immer mit einem Ortsnamen verbunden: Lidice. Hitler selbst hatte in einem Gespräch mit Karl Hermann Frank am 9. Juni 1942 ange - ordnet – und dieser übermittelte die Weisung dem Chef der SiPo und des SD im Protektorat, Horst Böhme –, dass das kleine böhmische Dorf bei Kladno vollständig vernichtet und dem Erdboden gleichgemacht werden solle. Ins Vi- sier der SS-Fahnder war das Dorf geraten, weil zwei junge Männer aus ihm zur Exilregierung nach London ausgewandert waren, weil, wie Himmler ferner Hitler unterrichtete, gerüchteweise zwei abgesprungene Agenten, eventuell sogar die Attentäter selbst dort Unterschlupf gefunden hätten. An dieser Mord-Operation war eine Vielzahl hochrangiger SS-Führer be- teiligt wie der Befehlshaber der Ordnungspolizei, Generalleutnant Riege, der Leiter der Staatspolizeileitstelle Prag, SS-Standartenführer Dr. Geschke, der Leiter der Außendienststelle Kladno, SS-Hauptsturmführer Wiesmann und Vergeltung für das Heydrich-Attentat: Lidice 351 sein Stellvertreter Thomas Thomsen, Walter Jacobi, der Kommandant der SD- Gruppendienststelle in Prag, August Marwedel, der Kommandant der Schutz- polizei in Kladno sowie Paul von Böhm, der Kommandeur des 20. Polizei- regiments. Soweit man ihrer habhaft werden konnte, wurden die beteiligten deutschen hauptverantwortlichen Täter nach dem Krieg von tschechischen Gerichten angeklagt, zum Tode verurteilt und hingerichtet wie Wiesmann, Thomsen, Forster, Gehle.233 Nicht hingerichtet wurde: Max Rostock, Befehlshaber des SD in Kladno und mitverantwortlich für das Massaker von Lidice. Er wurde – ähnlich wie Rudolf Toussaint, der Wehrmachtbefehlshaber für Böhmen und Mähren – nach dem Krieg verhaftet und angeklagt, aber nicht hingerichtet. Er wurde »umgedreht« und arbeitete – wie mehrere Dutzend deutsche Täter aus der Pro- tektoratsverwaltung – nach der Freilassung und Übersiedlung in die Bundes- republik Mitte der fünfziger Jahre, nachdem er Zivilangestellter bei der Bundeswehr geworden war, unentdeckt bis zu seinem Tode 1983 als Agent für den tschechischen Geheimdienst. Dass auch Nüßlein »umgedreht« wurde und so sein Leben rettete, ist nach der bisherigen Quellenlage auszuschließen.234 Lidice wird zu einem Symbolort des von Deutschen in Europa verbreiteten Schreckens – und den Terror der SS. Goebbels registriert das weltweite Auf- sehen, das diese mörderische Vergeltungsaktion erregt, durchaus – und will entsprechende Schlüsse ziehen, als er nach dem Massaker notiert: »Es ist be- merkenswert, dass die Feindseite die Erschießungen in Lidice und die Nie- derbrennung dieses Dorfes ganz außerordentlich für eine Hetzkampagne gegen das Reich ausnutzt. Ich halte es für richtig, dass wir, wenn es nicht un- bedingt notwendig ist, solche Meldungen zukünftig nicht mehr über den Rundfunk geben …« 235 Selbst in Amerika wurde mit Plakaten für die Zeichnung von Kriegsanlei- hen geworben, auf denen zu lesen stand: »Denkt an Pearl Harbor und Lidice!« Thomas Mann kommentierte das Ereignis: »Die Nazis sind dumme Bestien. Sie wollten den Namen Lidice dem ewigen Vergessen überantworten, und sie haben ihn mit ihrer abscheulichen Tat für immer dem Gedächtnis der Men- schen eingeschrieben. Kaum jemand kannte diesen Namen, bevor sie die ge- samte Bevölkerung der Siedlung umgebracht und diese dem Erdboden gleichgemacht haben. Jetzt ist er weltberühmt«.236 Nach Lidice erklärte An- thony Eden das Münchner Abkommen offiziell für null und nichtig und ver- sicherte dem im Exil lebenden tschechischen Präsidenten Beneš, die ethnische Heterogenität werde nach dem Krieg in einem wieder errichteten tschecho- slowakischen Staat ein für alle Mal beseitigt werden. Damit öffnete er das Tor 352 Fallstudie: Die »Akte Franz Nüßlein«

Festakt der Besatzungsmacht und Propagandainszenierung: Die feierliche Umbenennung eines Teilstücks des Prager Moldau-Ufers in »Reinhard-Heydrich-Ufer« am 20. Oktober 1942 in Anwesenheit der Witwe Heydrichs. Am Rednerpult – mit dem Rücken zum Betrachter – Karl Hermann Frank.

für die Vertreibung von 2 Millionen Volksdeutschen aus dem Sudentenland und die scharfen antideutschen Beneš-Dekrete bereits zu diesem frühen Zeit- punkt bereits ein Stück weit. Die »Heydrichada«, wie die nach dem Attentat das Land überrollende Ver- haftungswelle von der tschechischen Bevölkerung bald genannt wurde, erwies sich allerdings als wirkungsvolle Abschreckung, die dem tschechischen Wi- derstand im Untergrund einen schweren Schlag zugefügt hatte und sie be- schleunigte schrecklicherweise auch die deutschen massenmörderischen Bestrebungen, denn jetzt begannen die Züge aus dem Protektorat nach Ausch- witz zu rollen. Lediglich 424 Juden der jüdischen Gemeinde von Prag über- lebten.237 In dieser Phase stieg Karl Hermann Frank zum starken Mann im Protek- torat auf, während der Reichsprotektor Frick, der ohnehin meist durch Ab- wesenheit in Prag glänzte, ab Herbst 1943 – seiner bisherigen Kompetenzen fast vollständig entkleidet – lediglich noch »als Vertreter des Führers als Staats- oberhaupt« fungierte. Frank ist als Staatsminister und gleichzeitig als SS-Ober- Karl Hermann Frank – Der starke Mann im Protektorat 353 gruppenführer, als Höherer SS- und Polizeiführer im Protektorat, seit 1944 auch im Reichsgau Sudetenland sowie als Leiter des SS-Oberabschnitts Böh- men und Mähren ab 1943 der eigentliche starke Mann im Protektorat. In diese Phase fällt auch eine Veränderung des Gnadenrechts. Gemäß eines »Führer-Erlasses« sollte zukünftig im Deutschen Staatsministerium und nicht mehr im Reichsjustizministerium, bzw. beim Reichsprotektor die jeweiligen Entscheidungen über Gnadenersuche vorbereitet werden, was, so die Anwei- sung, der Beschleunigung der Vollstreckung von Todesurteilen dienen sollte, »weil täglich neue Todesurteilssachen anfallen.« 238 Für Franz Nüßlein bedeu- tete das, dass seine Einwirkungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten bei Gna- denakten noch weiter eingeschränkt wurden als zuvor. In seinem Tätigkeitsbericht vom April 1947 hat er sich dazu entsprechend geäußert und durchaus zutreffend auf die oben geschilderte Entwicklung auf- merksam gemacht, als er seine »Hilfstätigkeit bei einer oberen Reichsbehörde« schildert, die sich auf den Bereich des Normenstaates beschränkt, die Felder des Maßnahmenstaates klar ausklammert. Tatsächlich hatte er mit dem Maß- nahmenstaat nichts zu tun und in der Verwaltung eine hierarchisch niedrige Position inne mit einer begrenzten funktionalen Kompetenz und – folglich auch – reduzierten Verantwortung. Die eigentliche Gnadenbehörde in Prag war und blieb die deutsche Staatsanwaltschaft, zu der Nüßlein zu keinem Zeit- punkt gehörte. Er selbst stellte in Verbindung mit seiner Tätigkeit fest: »c) Hilfstätigkeit bei der Entgegennahme eines Teiles der Gnadengesuche und Interventionen, die in Angelegenheiten der deutschen Ziviljustiz – also keine Polizei-, Standgerichts-, Militärgerichts-, SS- und Polizeigerichts- und Konzentrationslagersachen – von Privatpersonen, Dienststellen und im Be- richtswege an Reichsprotektor, bzw. Staatsminister herangetragen wurden. In allen Fällen konnte durch meine Tätigkeit, da das rechtskräftige Urteil bereits vorlag, natürlich nie etwas für den Verurteilten verschlechtert wer- den. Irgendeine Entscheidung lag ohnehin weder bei mir, noch überhaupt bei der Abteilung Justiz in der Protektoratsverwaltung.« 239 Was wie die Standardausrede eines NS-Täters klingen mag, war in Nüßleins Fall nicht von der Hand zu weisen. Die Einflussmöglichkeiten waren in seiner Position tatsächlich immer mehr zusammengeschmolzen, wie die Studie von René Küpper über Karl Hermann Frank, den Staatsminister im Protektorat, sehr deutlich zeigt. Exakt diese Entwicklung hat Nüßlein 1947 rückblickend zutreffend beschrieben: »Für die Zuständigkeit zur Erteilung von Gnadenerweisen im Bereiche der zivilen deutschen Strafgerichtsbarkeit sind [im Protektorat; D.K.] zwei Pha- 354 Fallstudie: Die »Akte Franz Nüßlein«

sen zu unterscheiden: 1. 1939–Herbst 1943: Das Gnadenrecht in Justizsa- chen lag – soweit nicht dem Reichsoberhaupt vorbehalten – ausschließlich beim Reichsminister der Justiz. Beim Reichsprotektor oder dessen Amt ein- gehende Gnadengesuche oder -berichte wurden daher sämtlich mit oder ohne Stellungnahme des Reichsprotektors oder seines Vertreters /Staatsse- kretärs an diesen [nach Berlin; D.K.] weitergeleitet. 2. seit Herbst 1943: Das Gnadenrecht in Justizsachen lag – wiederum, soweit nicht dem Reichs- oberhaupt vorbehalten – beim Reichsprotektor auf Vorschlag des Staats- ministers. Beim Staatsministerium eingehende Gnadengesuche, sowie in schriftlichen Vermerken niedergelegte mündliche Interventionen waren vom Leiter der Abteilung Justiz zur Vorlage oder evtl. Vortrag beim Staats- minister zum Zwecke der Antragstellung beim Reichsprotektor zu bringen. In Volksgerichtshofsachen benötigte der Reichsprotektor im Falle der Be- gnadigung des Einverständnisses des Reichsministers der Justiz.« 240 An dieser Stelle beginnt sich Nüßlein mit den konkreten Fällen auseinander- zusetzen, wo er, der angebliche »Blutrichter«, Leben gerettet hat. Was ihm das Leben retten wird. Was lange gänzlich unbekannt gewesen ist – Heinz Schnep- pen hat darauf 2012 in der ZfG quellennah hingewiesen. Jedenfalls führt Nüß- lein dazu aus: »Vorsorglich möchte ich bemerken, dass ich stets mir bekannte Gnaden- gründe schriftlich oder bei Besprechungen mit Vorgesetzten auch mündlich gewissenhaft dargelegt und auch sonst vieles zur Herbeiführung einer ver- nünftigen und menschlichen Beurteilung getan habe. Da ich keine Unter- lagen zur Hand habe, tschechische Namen für mich nicht leicht zu merken sind, vor allem aber mein Gedächtnis als Folge der seit Jahren andauernden Unterernährung stark gelitten hat, vermag ich von vielen günstig ausgelau- fenen Fällen nur einige Beispiele für meine vorstehende Behauptung anzu- führen: 1. Der junge Lers aus Brevnov: Sohn eines pensionierten Beamten aus Prag, früher Student an der Prager Techn.Hochschule, wg. aus tsche- chisch-nationaler Gesinnung im Dienste des sowjetrussischen Nachrich- tendienstes begangener Ausspähung militärischer Transporte zum Tode verurteilt. Auf Intervention seiner Eltern erwirkte ich aus rein menschlichen Gründen unter Einsetzung meiner ganzen Person, die Begnadigung zu einer Zuchthausstrafe von 10 Jahren. Entgegen der Vorschriften teilte ich – da Weihnachten vor der Tür stand – die Begnadigung sofort dem Vater mit. Dieser stattete mir einen Dankesbesuch ab …« Der Zeitpunkt des herannahenden Weihnachtsfestes wird Nüßlein geholfen haben in dieser Sache.241 Erste Hinweise auf Rettungsaktivitäten 355

Dieser erste von Nüßlein selbst genannte Fall ist in vielem symptomatisch. In den Prager Prozessakten Nüßleins findet sich ein auf den 26. Januar 1948 da- tierter Brief eines gewissen Josef Lers, der seinem Bruder berichtet, dass er sich in Prag viermal mit Nüßlein habe treffen können, nachdem sein Sohn vom Volksgerichtshof in Berlin im Mai 1942 zum Tode verurteilt worden war. Nüßleins vorsichtig-beharrliche und zugleich diskrete Interventionen müssen, davon können wir ausgehen, zum guten Ende für den jungen Lers beigetragen haben. Nüßleins Aktivitäten erfolgten in diesem Fall deutlich vor dem Deba- kel von Stalingrad und damit noch bevor sich für einen wachen Zeitgenossen die deutsche Niederlage unausweichlich abzeichnete. Eine »Vorratsinterven- tion« für die Zeit nach dem Krieg kann man Nüßlein sicher nicht unterstellen. Zumal es nicht bei einem einzigen Fall bleiben sollte.242 Es folgen noch zehn weitere Fälle, alle zusammen betreffen 14 Tschechen. Da ist der Fall des Rechtsanwalts Dr. Kriebel, der zum Tode verurteilt worden war. Seine Ehefrau, Marie Padovalová, Mitglied des tschechischen National- theaters, interveniert zweimal bei Nüßlein. Seine Anmerkung dazu: »Ich habe vorgeschlagen, dass dem Antrag auf Begnadigung entsprochen und dass Krie- bel aus der Haft entlassen werde, was auch geschah. Beweis: Aussage Marie Padovalová«. Da ist der alte Mann, der wegen unerlaubten Waffenbesitzes ver- haftet und dessen Strafe in eine »bedingte« umgewandelt wird. Da ist die Pro- fessorin Moucková aus Prag, die einen Flüchtenden »begünstigt« hat und zum Tode verurteilt worden war. Da Jaroslav Krejci – der Justizminister von 1939 bis 1945 und ab 1942 auch Ministerpräsident – eine offene Intervention für wenig erfolgversprechend hält, bittet er Nüßlein, aktiv zu werden und seinen Abteilungsleiter einzuschalten. Beide erreichen tatsächlich die Begnadigung. Da ist Kriebek, der Angehörige einer kleinen Widerstandsgruppe, der zum Tode verurteilt worden war. Auch ihn vermag Nüßlein zu retten. Er wird, als er während der NS-Haft im bayerischen Zuchthaus schwer erkrankt, mit Nüß- leins Hilfe sogar in die Heimat entlassen. Da ist der Priester Stankovsky, Dom- herr in Prag, wegen Nichtanzeige eines Flüchtlings zum Tode verurteilt – also wegen Unterlassung, nicht wegen einer eigenen aktiven Tätigkeit. Seine Hin- richtung wird aufgeschoben. Er wird begnadigt – und Nüßlein informiert un- verzüglich seine Schwester. Da ist der Prager Arzt Dr. Quido Mann. Die von Nüßlein vorgebrachten »starken Gnadengründe« werden von seinem Abtei- lungsleiter wie dem Staatsminister Frank zurückgewiesen. Er aktiviert jedoch die Frau des Reichsprotektors, Margarete Frick, die eine Begnadigung erwirkt. In ihrem Gefolge setzt Nüßlein die Begnadigung eines weiteren Verurteilten durch. Im Jahre 2011 ist es dem historisch interessierten, seit 2004 in Prag le- 356 Fallstudie: Die »Akte Franz Nüßlein« benden Rechtsanwalt Dr. Stephan Heidenhain tatsächlich noch gelungen, den mittlerweile 91 Jahre alten Dr. Mann in einem Prager Café zu treffen und zu befragen. Mann, der, lange im Todestrakt im Gefängnis Prag-Pankratz einsit- zend, die deutsche Besatzungszeit überlebt hatte, konnte sämtliche Angaben von Nüßlein für seinen Fall bestätigen. Heinz Schneppen hat diese und noch weitere »Verprobungen« in seinem Nüßlein-Aufsatz aufgeführt, die eine hohe Verlässlichkeit bei seinen Angaben aufzeigen.243 Da ist der Mitverurteilte des Schwiegersohnes des ehemaligen tschechischen Innenministers, beide wegen Sabotage zum Tode verurteilt. Staatsminister Frank will nur den prominenten Delinquenten begnadigen. Nüßlein setzt je- doch auch die Begnadigung des unbekannten Mitverurteilten durch, »der kei- nerlei Fürsprecher« hatte. Es gab den unbekannten Postbeamten aus Pilsen, der wegen Unterstützung staatspolizeilich Gesuchter zu einer mittleren Zucht- hausstrafe verurteilt worden war, die nach Intervention des Reichsstaatsanwaltes in ein Todesurteil umgewandelt werden musste. Durch ein umfangreiches Rechtsgutachten – »aus eigener Initiative«, so Nüßlein – gelingt die gnaden- weise Abänderung in eine Zuchthausstrafe von fünf Jahren. Er nennt die drei zum Tode verurteilten Anwälte Rasin, Cebe und Gerichtsrat a.D. Ferdinand Richter, auf deren Gnadengesuche Heydrich selbst beim Eingang mit Grünstift »Ausgeschlossen!« und »Kommt nicht in Frage« geschrieben hatte. Ihm gelingt es, diese Hinrichtungen zu verzögern – »auch noch nach dem Tode Heydrichs – eine für Gnadenerweise nicht günstige Zeit« – und am Ende tatsächlich die Begnadigung, die Umwandlung in Zuchthausstrafen zu erreichen. Das habe ihm Kritik aus dem Reichsjustizministeriums eingetragen – er habe sich nur mit Mühe rechtfertigen können.244 Hätte man derlei Aktenfunde nicht doch im Kommissionsbericht vermerken können, ja müssen? Oder haben wir hier die von der Kommission vielfach beschworene »Per- silschein-Waschanlage« vor uns? Wohl nicht. Für die Angaben spricht ihre hohe Plausibilität. Würde Nüßlein an dieser Stelle den Prager Vernehmungs- beamten Lügen aufgetischt haben und wäre dabei überführt worden – es hätte seinen sicheren Tod bedeutet. Daher bieten uns diese Angaben einen realisti- schen Einblick in die »Rechtssituation« im Protektorat aus der Perspektive von Nüßlein. Der Maßnahmenstaat, dessen »Rechtsgrundlage« die beiden Not- verordnungen vom Februar 1933, das Ermächtigungsgesetz vom 23. März und das immer wieder verschärfte Heimtückegesetz bildeten, hatte gesiegt. Die absolutistische, charismatisch unterfütterte, immer wieder bis 1939 durch Plebiszite, durch Volksentscheide eines überwiegend begeisterten und zustim- mungswilligen deutschen Volkes abgesicherte, durch einen »Führer-Mythos« Zu keiner Zeit »strafverschärfend« tätig 357 propagandistisch raffiniert überhöhte Herrschaft des Diktators Adolf Hitler war mittlerweile fest etabliert – und mit ihr der permanente Ausnahmezu- stand. Wichtigste Exekutivkraft im Protektorat war die SS geworden mit dem schon mehrfach erwähnten »Staatsminister« Frank an der Spitze. Der Nor- menstaat, der sich am BGB, an der unter Hitler immer weiter ausgehöhlten, aber niemals abgeschafften Weimarer Verfassung, ihrem im hinteren Teil etwas verschämt verborgenen Menschen- und Grundrechtekatalog orientierte, war allenfalls noch in rudimentären Restbeständen und sinnentleerten Verfahrens- abläufen erhalten geblieben. Nüßlein stand in Prag in seiner vom schweizerischen Diplomaten Huber beobachteten »kleinen Oase des Rechtsempfindens« auf verlorenem Posten. Aber er hat sich – im Rahmen seiner Möglichkeiten – auf den in der Diktatur einzig möglichen, zielführenden Umwegen, etwa durch Einschaltung der Frau des Reichsprotektors Frick, um Delinquenten bemüht, wo der »Dienstweg« des »Normenstaates«, die Eingabe, der Einspruch, der Hinweis auf Verfah- rensfehler wenig erfolgversprechend geworden waren und der Weg durch die Instanzen ausgeschlossen blieb. Er hat kein einziges Todesurteil verhängt. Er hat über Todesurteile und über Hinrichtungen von Gegnern des NS-Regimes überhaupt nicht entschieden. Und er hatte auch über Gnadengesuche nicht zu entscheiden. Völlig richtig weist er in seiner Aufzeichnung 1947 darauf hin, dass er daher zu keiner Zeit »strafverschärfend« tätig geworden ist, gar nicht tätig werden konnte. Die »Akten« von der Staatsanwaltschaft liefen erst über seinen Schreib- tisch, wenn die Angeklagten bereits verurteilt waren, wenn es darum ging, über Gnadenersuche ihr Leben zu retten, das bereits verwirkt war. Diese Akten, Gerichtsbeschlüsse, Gnadenbücher und -gesuche reichte er, nachdem er die »korrekte« und vollständige Zusammenstellung des »Vorgangs« kon- trolliert hatte, weiter an den Staatsminister, den Reichsprotektor, der über die Gesuche zu befinden hatte. Wir halten daher einmal mehr ausdrücklich fest: Den »Blutrichter« Nüßlein hat es allenfalls in der DDR-Propagandaschrift, im Braunbuch von Ost-Berlin gegeben. Nicht in der Realität des Protektorats in Prag. Unterfüttert wird die Darstellung Nüßleins durch die Tatsache, dass sich kurz nach Beginn des Ermittlungsverfahrens gegen ihn im Jahr 1947 in Prag ein angesehener Anwalt, Dr. Lankas, bei ihm meldete und ihm offerierte, seine Verteidigung pro bono, also kostenfrei zu übernehmen. Dieser Anwalt war bei der neuen tschechischen Regierung gut gelitten, weil er in der Besatzungs- zeit zahlreiche tschechische Widerstandskämpfer vor deutschen Gerichten 358 Fallstudie: Die »Akte Franz Nüßlein« mutig vertreten hatte. Diese Offerte ist unstrittig und in den Akten gut belegt, etwa durch die ergänzende Aussage von Staatssekretär Dr. Walther Gase, der im Range eines Ministerialrates als Vertreter des Reichsfinanzministeriums dessen Interessen beim Reichsprotektor vertrat bis zu seinem Ausscheiden aus dem öffentlichen Dienst zum 1. Januar 1941. Er sei anschließend immer wie- der nach Prag gekommen, habe Nüßlein »regelmäßig gesehen«, die Verbin- dung zu ihm nicht abreißen lassen. Gase berichtet, Nüßlein sei »niemals ein Handlanger der NSDAP-Machthaber« gewesen und habe, »um sich nach Zu- spitzung der politischen Verhältnisse dem Dienst in Prag zu entziehen, nach dem Kriegsausbruch verschiedentlich versucht, ins Reich zurückversetzt zu werden. Als diese Bemühungen erfolglos geblieben seien, habe er sich zur Wehrmacht gemeldet. Aber auch das sei wegen der bevorzugten uk-Stellung im Protektoratsgebiet erfolglos geblieben. Nach seinen persönlichen Kennt- nissen und nach den ihm zugegangenen Informationen habe sich Nüßlein niemals an Unrechtsmaßnahmen im Protektoratsgebiet beteiligt. Im Gegenteil habe er, soweit das auf seinem Posten überhaupt möglich war, mitgeholfen solche Maßnahmen zu verhindern oder zu mildern …« 245 Das mag wie der »klassische Persilschein« klingen. Aber Gase gibt auch an, dass sich der schweizerische Diplomat Huber hinter den Kulissen für Nüßlein eingesetzt habe, als er von seiner Internierung in Prag erfahren habe. Puzzlestein fügt sich zu Puzzlestein. Und er ergänzt die Hinweise Nüßleins über seinen unverhofften tschechischen Rechtsbeistand. Er gibt zu Protokoll, Anfang 1948 einen Brief von Dr. Lankas an Vater Nüßlein selbst gelesen zu haben. Die Hilfe von Dr. Lankas für Nüßlein ist deshalb bedeutsam, weil sie 1947 angesichts der für Deutsche weiterhin lebensbedrohlichen Grundstimmung in Prag Zi- vilcourage erforderte. Dr. Lankas machte sich damit bei seinen Landsleuten nicht unbedingt beliebt – und konnte für sich selbst wenig gewinnen. Dieser tschechische Verteidiger Dr. Lankas, so Gase weiter, sollte sich ver- schiedentlich sogar mit dem Vater von Nüßlein in Kassel in Verbindung ge- setzt und diesem berichtet haben, dass sich keinerlei Belastungszeugen gegen den Sohn gefunden hätten, obwohl das Bild von Nüßlein – dem möglichen »Blutrichter« – in den Prager Tageszeitungen publiziert worden sei, zusammen mit der Aufforderung an die Bevölkerung, sich zu melden und Anklagepunkte beizubringen. Ferner soll Dr. Lankas nach Kassel berichtet haben, dass auch die Ermittlungen von Untersuchungsrichter Ludwig Engelmann nichts Be- lastendes zu Tage gefördert hätten. Man dürfe also der weiteren Entwicklung beruhigt entgegensehen. Wie Dr. Lankas vorhergesagt hatte, wurde nach Ab- schluss der Ermittlungen tatsächlich keine Anklage gegen Nüßlein erhoben – Eine Art Schauprozess 359

Karl Hermann Frank nach seiner Auslieferung durch die Amerikaner als Angeklagter vor dem tschechischen Volksgerichthof. Er wurde nach einem knapp drei Monate dauernden Gerichtsverfahren insbesondere wegen seiner Verwicklung in das Massaker von Lidice zum Tode verurteilt und am 22. Mai 1946 vor den Augen von ungefähr 500 Zeugen im Prager Gefängnis gehenkt. ein weiteres Faktum zu seinen Gunsten, das der Unabhängigen Historiker- kommission entgangen ist.246 Die Sachlage änderte sich allerdings unmittelbar nach dem kommunisti- schen Putsch – auf für Nüßlein durchaus dramatische Weise. Das neu geschaf- fene außerordentliche Volksgericht entzog Dr. Lankas das Mandat, verbot ihm jeden weiteren Kontakt – und klagte Nüßlein an, der sich fortan ohne tsche- chischen Verteidiger mit den Vorwürfen auseinanderzusetzen hatte.247 Will- kommen im Stalinismus/Kommunismus. Das Gerichtsverfahren ist extrem kurz. Die Verhandlung am 5. Mai 1948 vor der XIV. Kammer des Volksgerichtshofes dauert lediglich knapp vier Stun- den. Einen Verteidiger gibt es, wie bereits erwähnt, an diesem Tage nicht. Eine förmliche Anklageschrift wird Nüßlein nicht ausgehändigt. Schauprozesse haben mit rechtsstaatlicher Rollen- und Aufgabenverteilung wenig zu tun. Selbst das Urteil wird er erst 17 Jahre später, mithin 1965, in den Händen halten. Zeugen werden kaum gehört. Ein Dolmetscher fehlt. Es gibt in den Ermittlungsakten vor allem zwei Nüßlein belastende Zeugenaussagen von den 360 Fallstudie: Die »Akte Franz Nüßlein« gleichfalls an die ČSR ausgelieferten deutschen Kollegen Erich Blackert und Dr. Kurt Blaschtowitschka, die Nüßlein wohl aus den Unterlagen von Dr. Lankas kennt und auf die sich das Volksgericht vor allem stützt. Während Bla- ckert wie Nüßlein bei der Amnestie 1954/55 frei und in die Bundesrepublik kommt, wird Blaschtowitschka trotz seines Versuches, die Verantwortung auf Nüßlein abzuwälzen – der zu keinem Zeitpunkt als Staatsanwalt operiert hatte – zum Tode verurteilt und gehenkt werden. Aber auch Blackert hatte im Ver- hör am 21. April 1947 eine Aussage gemacht, die im Prozess gegen Nüßlein eine beträchtliche Rolle spielte, weil die Ermittlungen sonst keinerlei wirklich belastende Tatbestände gegen ihn zu Tage gefördert hatten. Immerhin kom- men drei tschechische Entlastungszeugen zu Wort, die ihm das Leben retten. Das Urteil ist auf fünf eng beschriebenen Seiten formuliert. Es muss für Nüß- lein ein Schock gewesen sein, als es verkündet wurde: »Der Angeklagte ist schuldig, weil er in den Jahren von 1939 bis 1945 – also in einer Zeit erhöhter Bedrohung der Republik – in Prag die nazistische Bewegung dadurch unterstützte, dass er Dienst im Amt des Reichsprotek- tors verrichtet, wo er richtungsweisend bei verschiedenen Strafverfahren vor dem deutschen Sondergericht in Prag mitwirkte und bei Gnadengesu- chen mitentschied. Dadurch beging er ein Verbrechen gegen den Staat. Hierfür wird er für die Dauer von zwanzig Jahren zu schwerem Kerker ver- urteilt. Die Strafe wird mit einem harten Lager im Vierteljahr verschärft. Er hat die Kosten des Strafverfahrens und seines Strafvollzuges zu erstatten. Des Weiteren wird darauf erkannt, dass der Angeklagte für immer seine bürgerlichen Ehrenrechte verliert. Die gesamte Freiheitsstrafe ist in Son- der-Arbeitslagern zu verbüßen. Andererseits wird der Angeklagte davon freigesprochen, er sei 1. in der fraglichen Zeit Mitglied der Organisation der SS gewesen und habe 2. die nazistische Bewegung dadurch unterstützt, dass er Konfident des SD gewesen sei …« 248 Das Strafmaß muss Nüßlein bestürzt haben. Die dritte tiefe Zäsur in seinem Leben stand ihm bevor: das Lager. Er überhörte, dass die Vorwürfe in keinem einzigen konkreten Fall ihm eine Mitschuld, eine Mitverantwortung am Tode auch nur eines einzigen tschechischen Staatsbürgers zur Last legten. Er wurde verurteilt als Angehöriger der Besatzungsmacht »wegen Verbrechen gegen den Staat«. Also auf der Basis eines Gummiparagrafen. Von einem tschechischen Volksgerichtshof, der ihn nicht mehr freisprechen konnte, nicht mehr frei- sprechen durfte, denn die Zeit des Stalinismus war nunmehr auch in Prag machtvoll heraufgezogen. Zum Nachteil gereichte ihm die Aussage der beiden Zeugen aus dem Amt des Reichsprotektors: Verurteilung auf der Basis von Gummiparagrafen 361

»Die Aufgabe des Angeklagten bestand darin, verschiedene, beim deutschen Sondergericht in Prag anhängige Strafverfahren ›auszurichten‹, die Urteile zu bestätigen und die Hinrichtung der von diesem Sondergericht Verur- teilten anzuordnen. Außerdem hatte er Gnadengesuche zu bearbeiten und dieselben dann zur endgültigen Entscheidung Frick oder Frank vorzulegen. Der Angeklagte gehörte nach der Aussage der Zeugen Dr. Kurt Blaschto- witschka und Erich Blackert zu dem engeren Stab von K. H. Frank, dessen besonderes Vertrauen er genossen hat. Der Angeklagte bestreitet seine Schuld und verteidigt sich mit dem Vorbringen, dass die Richtlinien für das Sondergericht in Prag vom Reichsjustizministerium ausgearbeitet wur- den und dass die Abteilung ›Justiz‹ beim Reichsprotektor in Prag lediglich das Recht gehabt habe, diesem Ministerium Vorschläge in Fragen von un- tergeordneter Bedeutung zu machen wie z.B. über Dolmetscher oder die Benützung der tschechischen Sprache in Hauptverhandlungen u.a.m. Hinsichtlich der Gnadengesuche verteidigt sich der Angeklagte damit, dass darüber Frick als Reichsprotektor entschieden habe, wobei die Abteilung ›Justiz‹ keinerlei Recht gehabt habe, Vorschläge zu unterbreiten … Das Ge- richt vermag jedoch der Verteidigung des Angeklagten keinen Glauben zu schenken … Das Gericht ist deshalb zu der Überzeugung gelangt, dass der Angeklagte tatsächlich einen wesentlichen Anteil an der ›Ausrichtung‹ der Verfahren vor dem deutschen Sondergericht in Prag, an der Erledigung von Gnadengesuchen und an dem Vollzug von Todesurteilen hatte, welche durch dieses Sondergericht ergangen waren. Dazu muss berücksichtigt wer- den, dass der Angeklagte seine Funktion in der Abteilung ›Justiz‹ ununter- brochen während der ganzen Zeit des Protektorates ausübte und dass er zum engeren Kreis um K. H. Frank gehörte. Daraus ist eindeutig zu erse- hen, dass er nützliche Dienste verrichtet haben muss und dass er verlässlich war, wobei bekannt ist, dass sich K. H. Frank seine Mitarbeiter sehr sorg- fältig aussuchte. Was die Tätigkeit des deutschen Sondergerichts in Prag anbelangt, so ist allgemein bekannt, dass dieses Gericht ausschließlich zu dem Zweck errichtet worden ist, um das staatliche Bewusstsein der tsche- choslowakischen Volkes zu zerbrechen und zu zersetzen. Aus diesem Grunde hat jeder, der in irgend einer Weise Anteil an der Tätigkeit dieses Gerichts nahm, durch sein Handeln notwendigerweise die nazistische Be- wegung unterstützt …« 249 Eine wirklich handfeste Anklage sieht anders aus – auch wenn das im Stali- nismus letztlich zweitrangig blieb. Worin die »nützlichen Dienste« für das NS- Regime konkret bestanden hatten, war dem Gericht aber selbst nicht wirklich 362 Fallstudie: Die »Akte Franz Nüßlein« deutlich geworden. Blackert hat nach seiner Abschiebung in die Bundesrepu- blik in den Vernehmungen 1956 seine belastende Aussage gegen Nüßlein und die darauf basierenden »sachlichen Punkte im Urteil« selbst als »Unsinn« be- zeichnet. »Die in der Protektoratszeit vom Sondergericht bei dem deutschen Landgericht in Prag erlassenen Urteile waren sofort rechtskräftig. Sie bedurften keiner Bestätigung. Es ist daher sachlich überhaupt nicht möglich, dass Nüß- lein derartige Urteile bestätigt hat. Wenn in den Gründen des ›Urteils‹ des Tschechoslowakischen Volksgerichts gegen Dr. Nüßlein vom 5. Mai 1948 nie- dergelegt sein sollte, dass ich als Zeuge ausgesagt habe, Dr. Nüßlein habe Ur- teile des Sondergerichts bestätigt, so entspricht das nicht der Wahrheit. Ich habe niemals förmlich oder auch nur dem Inhalte nach erklärt, Dr. Nüßlein habe derartige Urteile bestätigt, wie ich überhaupt keine belastenden Angaben über Dr. Nüßlein gemacht habe«,250 heißt es in der eidesstattlichen Erklärung, die Blackert am 17. Januar 1956 unterzeichnet. Natürlich hatte Nüßlein bei seiner eigenen Rückkehr nach Deutschland die Urteilsbegründung, soweit er das, ohne den Text in Händen zu halten, tun konnte, benannt – vor allem die Namen der beiden deutschen Belastungs- zeugen. Heinz Schneppen weist in diesem Zusammenhang noch auf eine Aus- sage von Blackert hin, der später ergänzend angibt, ihm sei seine von ihm abgezeichnete Aussage in der Prager Haft 1947 lediglich in tschechischer Spra- che und niemals auf Deutsch vorgelegt worden. Er habe allerdings damals starke Zweifel gehabt, ob es ihm möglich gewesen wäre, die Unterschrift zu verweigern. Er gab ehrlich zu, dass er eine Falschaussage auch unterschrieben hätte, wenn sie ihm auf Deutsch vorgelegt worden wäre. Das ist ein mensch- lich verständliches Verhalten in einer extremen Drucksituation. Blackert suchte selber seinen Kopf zu retten.251 Als 1965 die »Zeugenaussagen« von Blackert und Blaschtowitschka zusam- men mit dem Urteilstext durch die Vermittlung eines in der Tschechoslowakei recherchierenden Journalisten des SWR den Weg von Prag über Stuttgart nach Bonn gefunden hatten und von einem Gerichtsdolmetscher übersetzt worden waren, stand allerdings fest: Blackert hatte die Wahrheit gesagt. Ihm waren Aussagen untergeschoben worden, die mit der Realität in der Protektoratsver- waltung wenig zu tun hatten und die er – der diese Realität genau kannte – niemals so »plump« zurechtgebogen hätte. Im Kern lautete seine für den Pro- zess »zurechtgebogene« Aussage – wir zitieren aus der in Prag unterschriebenen »Aussage« gegen Nüßlein aus dem Jahr 1947 – wie folgt: »Die Aufgabe des ehem. Oberstaatsanwalts beim Deutschen Staatsminis- terium in Prag, Dr. Franz Nüßlein, war die Bearbeitung von Strafsachen. Gegen Urteile der Sondergerichte ist kein Rechtsmittel zulässig 363

In dieser Funktion war er der Vorgesetzte des Deutschen Sondergerichts in Prag und arbeitete zusammen mit Ministerialrat Krieser. In welcher Ver- bindung er mit Staatsminister K. H. Frank stand, ist mir nicht bekannt. In der Justizabteilung des Deutschen Staatsministeriums wurden alle beim Sondergericht in Prag laufenden Strafverfahren geregelt (gleichgerichtet). Sämtliche Vorschläge auf Todesstrafe konnte lediglich das Staatsministe- rium einreichen, welches auch über Erteilung von Gnadengesuchen ent- schied. Alle Urteile auf Todesstrafe mussten der Justizabteilung vorgelegt werden, welche allein berechtigt war, Gnade zu erteilen und die Urteile zu bestätigen. Diese Urteile unterschrieb entweder Frank oder Frick. Die Vor- gänge wurden jedoch von der Justizabteilung eingereicht, so dass über jedes Urteil Dr. Nüßlein oder Krieser entschied. Mir ist nicht bekannt, nach wel- chem Grundsatz die Vorschläge bearbeitet wurden.« 252 Entscheidende Fehler sind hierbei: Nüßlein war nicht der »Vorgesetzte« des Sondergerichts, das über Weisungen von seiner Seite nur hohngelacht hätte. Nüßlein entschied zu keinem Zeitpunkt über die In- oder Außerkraftsetzung von Urteilen, schon gar nicht von Todesurteilen. Nüßlein bestätigte auch kei- nerlei Todesurteile, wie ihm noch die von Joschka Fischer eingesetzte Unab- hängige Historikerkommission »bescheinigte«. Diese Todesurteile wurden sofort mit der Verkündung rechtskräftig. Für eine Bestätigung blieb kein Raum, schon gar nicht durch so eine subalterne Figur innerhalb des Besat- zungsapparates wie Nüßlein. Außerdem stand in Paragraf 26 der NS-Verordnung über die Zuständigkeit der Sondergerichte vom 21. Februar 1940 explizit: »Gegen Entscheidungen der Sondergerichte ist ein Rechtsmittel unzulässig«.253 Das hieß nichts anderes, als dass es keine Revisions-, keine Appellationsinstanz mehr gab, ja dass selbst Gnadengesuche als nahezu aussichtslos anzusehen waren. Nüßlein konnte le- diglich – wie verschiedentlich geschehen – unter Verweis auf Verfahrensfehler, auf das herannahende Weihnachtsfest, die Schwangerschaft einer Delinquen- tin etc. versuchen, ein bereits mit der Urteilsverkündung in Kraft gesetztes Todesurteil abzuschwächen, dafür die Genehmigung von Frick oder Frank zu erlangen, die jedoch nur in den allerseltensten Fällen erteilt wurde. Weiterer Fehler: Nicht Nüßlein leitete die Abteilung, sondern Krieser. Er hätte also an erster Stelle bei dieser Aussage genannt werden müssen. Aber der höherrangige Krieser war den Ermittlern nicht aufgefallen. Der Titel »Ober- staatsanwalt« wurde Nüßlein also wohl zum Verhängnis. Diese »Aussage« von Blackert war wirklich zurechtgeschustert, um Nüßlein anzuschwärzen und der arme Blackert, der später auf seine mangelnden tschechi schen Sprachkennt- 364 Fallstudie: Die »Akte Franz Nüßlein« nisse verwies und erklärte, ohnehin nicht bei allen Etappen des Verfahrens wirklich mitgekommen zu sein, musste noch gute Miene zum bösen Spiel ma- chen. Hätte er das nicht getan, wäre es wohl auch sein Ende gewesen. Kann man es ihm also verdenken, dass er das ihm vorgelegte Aussageprotokoll ab- zeichnete? Unzweifelhaft waren dem Volksgerichtshof die Kompetenzverteilungen in- nerhalb der Protektoratsverwaltung komplett fremd geblieben. Damit zugleich auch die Position Nüßleins in dieser deutschen Verwaltung, die beim Reichs- protektor und nicht beim Staatsminister und der SS angesiedelt war und an- gesiedelt blieb. Dass er zu keinem Zeitpunkt die Anklage als Staatsanwalt vertreten hatte, war dem Gericht gleichfalls nie wirklich klar geworden. Was im Urteil mit der Formel »allgemein bekannt« umschrieben wird, dient selten als taugliche Urteilsbegründung. Überdies war der vermutlich zu seiner Selbst- vergewisserung vom Gericht eingefügte Hinweis, dass Nüßlein zu den Ver- trauten des Staatsministers Frank gehört hätte, schlichtweg falsch. In der von René Küpper 2010 vorgelegten umfangreichen Biographie Franks taucht Nüß- lein überhaupt nicht auf. Allerdings war eine – vom Gericht behauptete – Zu- weisung Nüßleins in das Umfeld des bereits 1946 in Prag öffentlich gehenkten Frank ein ebenso subtiles wie wirksames Mittel der Diskreditierung, konnte man doch an handfesten Vorwürfen gegen ihn wenig finden. Geradezu hilflos mutet das Argument des Gerichts am Ende seiner knappen Urteilsbegründung an, Nüßlein »die lange Dauer seiner Tätigkeit« im Protektorat strafverschär- fend zuzurechnen, denn auch hier fehlte immer noch jede konkrete Spezifi- zierung etwaiger »Straftaten«. Dem Gericht muss selber etwas mulmig zu Mute gewesen sein, auf welch insgesamt doch sehr wackeligem Grunde es operierte und letztlich auch »ver- urteilte«, denn es findet sich in der Urteilsbegründung auf der vorletzten Seite – etwas versteckt und leicht zu überlesen, wenn man nur Anfang und Ende des Urteils liest – eine mehr als verblüffende Passage: »Des weiteren beschuldigte die Staatsanwaltschaft den Angeklagten, er habe der SS angehört und sei Vertrauensmann des SD gewesen. Der Angeklagte hat jede Schuld in dieser Hinsicht zurückgewiesen. Da sich in den Akten überhaupt kein Beweis für diese erhobene Behauptung finden lässt und zwar sowohl im Amtsbereich des staatlichen Sicherheitsdienstes als auch dem des Ministeriums des Innern … konnte das Gericht in dieser Hinsicht nicht die Überzeugung einer Schuld des Angeklagten gewinnen und hat ihn deshalb hinsichtlich dieses Teils der Anklage freigesprochen. Des Wei- teren wurde durch die Zeugenschaft des Dr. Schulze, Dr. Karl Knapp und Außerordentlicher tschechischer Volksgerichtshof in Prag bescheinigt »Guttaten« 365

Dr. Franz Peroutka erwiesen, dass der Angeklagte erfolgreich wegen einer Begnadigung von Verwandten dieser Zeugen eingetreten ist. Aber im Hin- blick darauf, dass die Urteile des deutschen Sondergerichts in Prag mehrere hundert Personen tschechischer Nationalität zum Tode verurteilten und zwar in der Mehrzahl der Fälle für Handlungen, welche nach dem tsche- choslowakischen Strafrecht überhaupt nicht strafbar waren, ist das Gericht der Ansicht, dass das Unrecht/Übel, welches der Angeklagte durch seine Mitbeteiligung an der Tätigkeit dieses deutschen Sondergerichts verursacht, bei weitem die Guttaten überwog, die er in den oben angeführten, von den Zeugen bestätigten einzelnen Fällen erwies.« 254 Diese Passage aus dem Urteil wird man als nachgerade sensationell bezeichnen dürfen. Dass einem nationalsozialistischen Funktionär aus der Verwaltung der verhassten deutschen Besatzungsmacht nach dem Krieg von einem im Geiste des Stalinismus zusammengesetzten »Außerordentlichen Volksgerichtshof« ir- gendwelche »Guttaten« bescheinigt werden und dass für Nüßlein zuvor tsche- chische Zeugen ausgesagt hatten und für ihn eingetreten waren, dürfte damals in Prag überaus selten vorgekommen sein. Ein stärkeres Entlastungsmoment ist kaum vorstellbar. Natürlich stellt sich hier die Frage nach der Sorgfalt der wissenschaftlichen Recherche, wenn an einem so entscheidenden Punkt die von Joschka Fischer eingesetzte Unabhängige Historikerkommission solch gravierende Fehler ge- macht und den gesamten Fall einschließlich dieses Prager Urteils überhaupt nicht in den Blick bekommen hat. Das kann nicht damit entschuldigt wer- den, dass das Prager Urteil erst 1965 infolge der Recherche eines SWR-Jour- nalisten über Stuttgart in den Besitz des Auswärtigen Amtes gelangte und dort nicht in der Personalakte, sondern in den Akten Nüßlein/Handakten D1 abgelegt worden ist. Frau Dr. Annette Weinke, die aus dem Team der Unabhängigen Historikerkommission den »Fall Nüßlein« wohl maßgeblich zu recherchieren hatte, ist auf die komplexe Aktenlage von der Archivleitung ausdrücklich hingewiesen worden. Botschafter a.D. Heinz Schneppen hat sogar während einer Zeitzeugen-Gesprächsrunde in der Endphase der Fertig- stellung des Kommissionsberichts am 26. März 2009 sein gesamtes Nüßlein- Dossier inklusive aller Aktenzeichen dem Vorsitzenden der Unabhängigen Historikerkommission, Eckart Conze, persönlich ausgehändigt. Es half aber nichts. An einer wie auch immer gearteten, tiefer schürfenden – und unvor- eingenommenen – Beschäftigung mit dem Wirken Nüßleins scheinen weder Frau Dr. Weinke noch Prof. Conze oder die Kommission insgesamt nachhal- tig interessiert gewesen zu sein.255 366 Fallstudie: Die »Akte Franz Nüßlein«

Nüßlein wurde am 5. Mai 1948 zu 20 Jahren verschärfter Freiheitsstrafe, also unter Einschluss von schwerer Lagerarbeit verurteilt. Jegliches Rechtsmit- tel war ausgeschlossen. Eine Berufungsinstanz gab es nicht. Zunächst kam er nach Walditz bei Jitschin, später nach Pilsen-Bory und dann nach Ilawa in der Slowakei. Auf Anordnung des tschechischen Generalprokurators vom 3. Juni 1955 – wovon er erst am 29. Juni unterrichtet werden sollte – wurde die weitere Strafvollstreckung zum Zwecke der Ausweisung »unterbrochen«. Noch am gleichen Tage wurde Nüßlein bei Hof-Moschendorf über die Grenze nach Bayern in die Bundesrepublik entlassen, wo er sogleich als »Spätheim- kehrer und Vertriebener« amtlich anerkannt wurde.256 Nachdem ihm die Jus- tizverwaltung in seiner hessischen Heimat in Kassel signalisiert hatte, dass sich in absehbarer Zeit keine berufliche Perspektive für ihn eröffnen werde, bewarb Nüßlein sich – beim Auswärtigen Amt in Bonn. Und wurde als »Staatsanwalt« eingestellt und zum Legationsrat ernannt. Ministerialdirektor Hans Berger, wie Nüßlein katholisch, aber selbst zu keiner Zeit Pg, der Leiter der Rechts- abteilung, war es, der ihm damals, 1955, in Kenntnis seiner Personalakte aus dem Justizministerium den Weg in die Behörde geebnet hatte, vermutlich, um den Anteil der Katholiken im neuen Amt zu verstärken, der nach Auffas- sung des katholischen Bundeskanzlers Adenauer im Amt zunächst viel zu wenig Berücksichtigung gefunden hatte.257 Adenauer stand dem Amt ohnehin skeptisch gegenüber und hatte es im Verdacht, seine Politik der Westbindung wegen der negativen Implikationen für die deutsche Teilung, die dadurch zwangsläufig vertieft wurde, beharrlich zu hintertreiben. In Bonn kursierte deshalb in den fünfziger Jahren das Witzwort, der Kanzler kenne lediglich »drei Reichsfeinde: die Russen, die Engländer – und das Auswärtige Amt«. Der Konfessionsaspekt und -proporz spielten damals nicht allein bei der Be- setzung von Ämterstellen in Bundesbehörden, sondern bis hinein in die Zu- sammensetzung des Bundeskabinetts eine erhebliche Rolle. Heute ist an seine Stelle der »Gender«-Aspekt getreten, also die Postenverteilung zwischen Män- nern und Frauen. Vielleicht ist der konfessionelle Aspekt deshalb überhaupt nicht mehr auf dem Radarschirm der Unabhängigen Historikerkommission aufgetaucht und von ihr außer Acht gelassen worden. Nüßlein wird als erfahrener Verwaltungsjurist schon bald mit der Bearbei- tung beamtenrechtlicher Fragen, etwa der Überprüfung von Entschädigungs- ansprüchen von ehemaligen Angehörigen der Wilhelmstraße betraut. 1959 erfolgte – nach einem für Nüßlein positiven Gutachten von Staatssekretär Rolf Lahr – seine Beförderung zum Vortragenden Legationsrat 1. Klasse. Der Rang stand ihm altersmäßig und auch nach geleisteten Dienstjahren durchaus Haftentlassung und weitere Karriere im AA nach 1955 367 zu, zumal wenn man die Inhaftierung in der Tschechoslowakei als »Dienstzeit« einrechnete. Als Nüßlein 1959/60 den Antrag auf Wiedergutmachung und Wiederverwendung von Legationsrat a. D. Walter Staudacher abschlägig be- schied, einem offenbar wegen Konflikten mit der Auslandsorganisation der NSDAP im Dritten Reich entlassenen Diplomaten, der in seinem Antrag eine geringfügige Verurteilung nach dem Krieg verschwiegen hatte, erhob dieser schwere Vorwürfe gegen den amtsinternen Prüfer Nüßlein. Das setzte um- fangreiche interne Ermittlungen in Gang. Nüßlein wurde ausführlich befragt und unterstellte seinerseits Staudacher Kontakte zu östlichen Geheimdiensten, die diesen gegen ihn mit manipuliertem Material »gespickt« hätten. Er erbittet für sich in aller Form »beamtenrechtlichen Schutz«. Der Verfassungsschutz wurde daraufhin eingeschaltet und begann, den Fall zu überprüfen. Tatsächlich stellte er Kontakte von Staudacher und seiner Frau zur polnischen Militärmission in West-Berlin fest. Staudacher ließ dennoch nicht locker und wandte sich 1964 – ähnlich wie später Marga Henseler – an den Bundeskanzler, der damals Ludwig Erhard hieß. Der gab – wie später Gerhard Schröder – die Sache ans Auswärtige Amt zurück, das Nüßlein den Rücken stärkte.258 Aber wir greifen vor. Zurück ins Jahr 1960. Auch das Ma- terial, das der SDS-Aktivist Reinhard Strecker in der Ausstellung Ungesühnte Nazijustiz der Öffentlichkeit präsentierte, stammte laut Auskunft der Bonner Verfassungsschützer aus Ost-Berlin und Prag. Das alles schien nun doch eher Nüßleins Version als die Vorwürfe gegen ihn zu bestätigen – er war in den Fokus ostdeutscher Anschuldigungen geraten. In jedem Fall beauftragte Staatssekretär Hilger van Scherpenbergs ständiger Vertreter Heinrich Knappstein im Juli 1960 den mittlerweile – als Nachfolger des im April 1959 auf seinem Posten verstorbenen Gerhart Feine – in Kopen- hagen als Botschafter amtierenden Hans Berger mit der Überprüfung des Fal- les Nüßlein. Berger hatte sich allerdings, anders als es im Bericht der Historikerkommission heißt, dafür keineswegs selbst nachdrücklich angeboten oder ins Gespräch gebracht.259 Im Dezember 1961 schloss er seine Ermittlungen ab und legte seinen Bericht vor. Er hatte bereits eine stattliche Zahl von entlastenden Hinweisen versam- melt. Im Bericht der Historikerkommission heißt es dazu: »Seiner Empfehlung, den Beamten Nüßlein auch weiterhin uneingeschränkt zu beschäftigen, schloss sich die Amtsführung vorbehaltlos an. Dabei war man sich wohl bewusst, dass dies neue Proteste hervorrufen würde. Nüßleins Personalunterlagen sollten – wie die anderer belasteter Diplomaten – bis auf Weiteres im Panzerschrank im Vorzimmer des Personalchefs verbleiben« 260 368 Fallstudie: Die »Akte Franz Nüßlein«

Im Mai 2012 intensivierten die vier Kommissionsmitglieder Conze, Frei, Hayes und Zimmermann ihren Kreuzzug gegen das Politische Archiv und formulier- ten in einem langen Stück wiederum in der F.A.S. ihre förmliche Anklage noch schärfer: »Auch im Bonner Amt waren kompromittierende Unterlagen, beispiels- weise zu dem viel diskutierten Fall Nüßlein … den regulären Personalakten entnommen, in geheimen Dossiers zusammengefasst und in einem Pan- zerschrank in der Personalabteilung weggesperrt worden«.261 Das war der ominöse »Panzerschrank der Schande«, von dem die Kommission zu raunen begann, wo der skandalöse Fall Nüßlein also auch wirklich für sie hingehörte – der »Panzerschrank der Schande«, dem wir uns im übernächsten Kapitel noch zuwenden werden, als Ort der Vertuschung, Verheimlichung, Manipulation. Dabei lag die Kommission mit ihren Verdächtigungen nicht zu- letzt im Falle Nüßlein schief. Dem Amt und Nüßlein selbst hätte es vehement genutzt und eben nicht geschadet, wenn die Unterlagen, insbesondere auch das Prager Urteil wirklich gelesen, wahrgenommen und der Öffentlichkeit vorgelegt worden wären. Jegliche Vertuschung war für beide Seiten, für das Amt wie für Nüßlein, gänzlich kontraproduktiv. Heinz Schneppen hat das in einem Leser- brief an die F.A.Z. vom 12. Juni 2012 mit guten Gründen herausgestrichen: »Was den Fall Nüßlein betrifft, wäre es geradezu im politischen Interesse des Amtes gewesen, hätte man die ihn betreffenden Panzerschrankakten Nr. 13 und 14 schon vor Jahrzehnten freigegeben und ausgewertet, was je- doch zu Dienst- und Lebzeiten von Nüßlein nach der Rechtlsage, auch im Hinblick auf die Rechte Dritter, wohl problematisch gewesen wäre. In jedem Fall ist aber der Vorwurf der Kommission, das Amt hätte Nüßleins ›kompromittierende Akten‹ im Panzerschrank weggesperrt, absurd und stellt die Dinge geradezu auf den Kopf. Denn diese Akten wären sehr wohl geeignet gewesen, die gegen Nüßlein erhobenen Vorwürfe zu entkräften und in der Öffentlichkeit verbreitete Vorstellungen zu widerlegen. Hätte Außenminister Fischer 2003 diese beiden Aktenbände gelesen, wäre uns vielleicht sogar manches erspart geblieben …« Für die Kommission mit ihrem Hang zu Verschwörungstheorien belegte der Umgang im Amt mit den Akten von Nüßlein jedoch die Kernthese des Bu- ches, besser: schien – bei der angewandt oberflächlichen Betrachtung – zu be- legen, »dass die schleichende Restauration des Auswärtigen Dienstes kaum noch hörbare Proteste hervorrief«. Deshalb wird im Bericht der Historiker- kommission stark betont »die Kontinuität der Funktionseliten bei einem Thema, das bei den Opferverbänden und der politischen Linken einen Mo- Das amtsinterne »Berger-Gutachten« 369

Der amtsinterne Gutachter: Hans Berger bilisierungsschub auslöste, der sich auch in einer besseren weltweiten Vernet- zung niederschlug: ›Renazifizierung‹ wurde zu einem Topos eines transnatio- nalen Mediendiskurses«.262 Renazifizierung? Topos eines transnationalen Mediendiskurses? Also ab den sechziger Jahren offenbar – jedenfalls für die Kommission – eine Thematik, die Opferverbände und Linke zunehmend umzutreiben begann. Und wofür der arme Nüßlein einmal mehr als »Beleg« herhalten musste. Tatsächlich steht dieses Fazit am Ende der Passagen zu seinem »Fall« im Kommissionsbericht. Es ist so falsch wie die Fallschilderung selbst. Denn eine »Renazifizierung« der Bundesrepublik hat es nie und zu keinem Zeitpunkt gegeben. Derlei denun- ziatorische Passagen zur Nachkriegsentwicklung ohne wirkliche Substanz sind ein Armutszeugnis sowohl für Joschka Fischer wie für die Unabhängige His- torikerkommission. Dass sie weitgehend unwidersprochen formuliert werden konnten und von niemandem energisch zurechtgerückt worden sind, ist tat- sächlich bizarr. Allerdings gab und gibt es in den Akten zu Nüßlein einen kleinen Bestand, der auf den ersten Blick hoch kontaminiert war und dessen Existenz – so un- sere These – vermutlich auch verhinderte, dass die Amtsleitung bei all den 370 Fallstudie: Die »Akte Franz Nüßlein«

Vorwürfen, die von 1960/61 bis 1972/73 immer wieder gegen Nüßlein vor- gebracht wurden, entschlossener und offensiver auftrat und ihn öffentlich noch deutlich stärker in Schutz nahm, als das geschah. Am Ende hatte man ihn ja über Jahre als deutschen Generalkonsul im Barcelona Francos regelrecht »versteckt«. Es gibt in den Akten, die eben – anders als Marga Henseler glaubte – nicht vom Archiv »bereinigt« worden sind, einige wenige Aktenstücke, in denen all jene, die sich nicht auf das Urteil von 1948 und intensivere Nach- forschungen zu Nüßleins Wirken in Prag einlassen mochten, in der Nach- kriegszeit eine Art »nationalsozialistischen Todeskuss« erblicken mochten. Auch dieser Aktenbestand aus der Herzkammer oder besser dem Eiszen- trum der Protektoratsverwaltung, bei dem sich Heydrich und Bormann im Frühjahr 1942 mit der Karriere, dem Aufstieg des Staatsanwalts Nüßlein be- schäftigen, ist ein Quellenbestand aus dem Dritten Reich. Solche Quellenbe- stände, die die Mitarbeiter der Unabhängigen Historikerkommission in aller Regel eins zu eins übernehmen und allzu selten Deutungsschwierigkeiten zu- geben, von entlastenden Argumentationen ganz zu schweigen, sind leider nicht durchweg so klar und eindeutig, wie nicht nur Historiker sich das wün- schen würden. Heinz Schneppen hat darauf hingewiesen. Es geht dabei um die zu diesem Zeitpunkt fällige Beförderung Nüßleins vom Staatsanwalt zum Oberstaatsanwalt in seiner dem Reichsprotektor unmit- telbar unterstellten Behörde. Weil dieser »reichsunmittelbar« agierte, also ganz oben im Regime, bei Hitler nämlich, angesiedelt worden war, trat bei diesen Personalentscheidungen zwangsläufig und unvermeidlich Hitlers Sekretär in Erscheinung, denn die Partei-Kanzlei musste an ihnen beteiligt werden. Bis zu seinem Flug nach England im Mai 1941 war das Rudolf Heß, anschließend Martin Bormann. Beteiligt war auch das Reichsjustizministerium als Nüßleins eigentlicher Dienstherr und zwar in Gestalt von Roland Freisler, der nicht nur Hitlers Chefankläger und Vorsitzender des Volksgerichtshofes war, sondern auch Staatssekretär im Justizministerium. Und in Gestalt des – nach dem Tode von Franz Gürtner 1941 – kommissarischen Justizministers Franz Schlegelber- ger. Auch das Reichsinnen- und das letztlich für die Gehaltszahlungen zustän- dige Reichsfinanzministerium waren zu beteiligen. Anfang 1942 war der »Gruppe Justiz« beim Reichsprotektor in Prag ein Kontingent von drei Beförderungsstellen zugeteilt worden. Während die bei- den von der Leitungsebene benannten Kollegen anstandslos und rasch beför- dert worden waren, geschah im Falle des dritten Nominierten, Nüßlein – nichts. In Prag wurde sein unmittelbarer Vorgesetzter unruhig und fragte in Berlin im Frühjahr auf dem Dienstweg bei seinem Dienstherren im Justizmi- In den Akten: Heydrichs und Bormanns »Todeskuss« 371 nisterium – der Vorgang ist hoch angesiedelt, also bei Staatssekretär Freisler persönlich – nach. Dieser wiederum wandte sich an das die Beförderungen koordinierende Innenministerium. Von dort bekam er unter dem Datum des 29. April (mit Eingangsstempel vom 1. Mai) ein Schreiben, welches nach Prag weiter geleitet wurde. Hierin wurde erläutert, weshalb der Reichsminister des Innern – noch: Wilhelm Frick, bald Nüßleins Dienstherr in Prag als Reichs- protektor, dem in Berlin Himmler als Innenminister nachfolgen sollte – im Einvernehmen mit dem Reichsfinanzministerium bereits am 13. Januar 1942 die Ernennung von Nüßlein zum Oberstaatsanwalt abgelehnt hatte. Nüßlein war nicht nur zu jung. »Außerdem hat die Partei-Kanzlei neuerdings ihren Standpunkt in der Frage der Beförderung von jungen Beamten in A2b-Stellen dahin festgelegt, dass selbst fachlich tüchtige Beamte, die keine besonderen politischen Ver- dienste aufzuweisen haben, vor Erreichung des 35. Lebensjahres nicht in A2b-Stellen befördert werden sollen. Grundsätzlich können dafür nur fach- lich besonders tüchtige und politisch bewährte Altparteigenossen vorgese- hen werden. Im gleichen Sinne ist bereits am 4. März 1942 ein persönliches Schreiben des Staatssekretärs Frank in Prag, in dem er sich für die Ernen- nung des Dr. Nüßlein einsetzte, beantwortet worden.« 263 Das Reichsministerium des Innern hatte seine Ablehnung der Beförderung von Nüßlein bereits am 13. Januar 1942 noch offener und direkter als in dem oben zitierten Schreiben gegenüber dem Reichsminister der Justiz begründet: »Parteigenosse ist Nüßlein seit 1937, ohne sich jedoch in der Partei zu be- tätigen oder aber einer ihrer Gliederungen anzugehören. Er ist unverheira- tet. Aus diesen Gründen erscheint es durchaus gerechtfertigt, wenn seine Beförderung zurückgestellt wird.« 264 Ein »Blutrichter« war Nüßlein nicht. Und offenbar auch kein überzeugter, en- gagierter, geschweige denn fanatischer Nationalsozialist. Kein umtriebiger Par- teigenosse und obendrein noch unverheiratet. Das sprach alles nicht für eine Beförderung. Zugleich bot sich bei diesen Ablehnungsbegründungen aber nur eine einzige Chance, um Nüßlein doch noch zum Zuge kommen zu lassen. Man musste ihn als überzeugten Nationalsozialisten präsentieren. Ministeri- alrat Greuel, der Kollege aus der Protektoratsverwaltung, erläutert im amts- internen »Berger-Bericht« 1965 exakt diese Strategie: »Da die Ablehnung mit mangelnder politischer Zuverlässigkeit begründet worden war, war damit das Stichwort für die Argumentation gegeben, mit der Nüßleins Beförderung allein noch durchgesetzt werden konnte, näm- lich politische Gesichtspunkte. Die Formulierungen stammten nicht etwa 372 Fallstudie: Die »Akte Franz Nüßlein«

vom politischen Chef unserer Behörde, der den Brief unterzeichnete, son- dern von unserem Abteilungsleiter Ministerialrat Krieser, einem reinen Fachbeamten. Dieser formulierte eine reine Zwecklüge im Interesse der Er- reichung des Zieles und legte den Entwurf dem politischen Chef der Be- hörde, Staatssekretär Karl Hermann Frank [dem späteren Staatsminister; D.K.] zur Unterschrift vor. Er zeichnete ihn ab und leitete ihn weiter.« 265 Damit geriet Nüßlein plötzlich in die Akten als überzeugter Nationalsozialist. Um die skeptischen Parteiinstanzen zu überzeugen, musste Krieser kräftig in die Laute gegriffen, ein Loblied auf den Pg und »Blut-Staatsanwalt« Nüßlein angestimmt und dies sogar dem Reichsprotektor Heydrich kurz vor dem At- tentat vorgetragen haben – auch wenn dieses Schreiben nicht erhalten geblie- ben ist. Das war kurzfristig gewiss positiv für Nüßlein, jedenfalls was seine Aussichten auf eine Beförderung anbelangte. Langfristig sollte sich diese Ak- tion jedoch als schwere Belastung erweisen, denn damit war seine »Personal- akte« kontaminiert. Besonders, nachdem sich nun der Leiter der Parteikanzlei, Martin Bormann höchstselbst einschaltete und aus dem Führerhauptquartier am 21. Juni 1942 den Reichsminister des Inneren unter dem Aktenzeichen IIIP-Kw.-2191/Ju/N 1652 folgendes wissen ließ: »Der stellv. Reichsprotektor SS-Obergruppenführer Heydrich hat sich bei mir noch vor seinem Tode außerordentlich für die Beförderung des Ersten Staatsanwalts Dr. Nüßlein zum Oberstaatsanwalt eingesetzt. Er hat darauf hingewiesen, dass Dr. Nüßlein bei der Handhabung des Kriegsstrafrechts und bei der Durchführung der politischen Strafsachen besonderes Verständ- nis für die Notwendigkeit einer entschlossenen Bekämpfung der Rechts- brecher und Staatsfeinde bewiesen hat. Seine erhöhte Arbeitsleistung und seine Verantwortung im Protektorat rechtfertigen eine bevorzugte Beför- derung. Ich trete dieser Auffassung bei. Meiner Meinung nach hat Dr. Nüßlein besondere politische Verdienste, die seine Beförderung zum Ober- staatsanwalt vor Vollendung des 35. Lebensjahres rechtfertigen.« 266 Ein solches Empfehlungsschreiben Bormanns in den eigenen Personalakten – das war zunächst ein unnachahmlicher Beschleuniger für jedes Beförderungs- gesuch und später, nach dem Krieg, eine Art »Todeskuss« für den Betreffenden. Die bürokratischen Mühlen des Dritten Reiches begannen jedenfalls sogleich zu mahlen. Staatssekretär Freisler hatte noch vor dem Eingang des Bormann- Briefe am 23. Juni bei der Partei-Kanzlei nachgefragt, ob die Bedenken gegen Nüßlein aufrechterhalten würden. Antwort erhielt er einige Tage später aus dem Reichsfinanzministerium, das ihn aufforderte, die für die Ratifizierung der Beförderungsurkunde zuständige Präsidialkanzlei einzuschalten: In den bürokratischen Mühlen des Dritten Reiches 373

»Sehr geehrter Parteigenosse Freisler! Um die seitens des Reichsministers des Innern gegen eine bevorzugte Be- förderung des Ersten Staatsanwalts Dr. Nüßlein erhobenen Bedenken aus- zuräumen, hatte sich SS-Obergruppenführer Heydrich noch vor seinem Tode mit dem Leiter der Parteikanzlei persönlich in Verbindung gesetzt. Wie ich dem in beglaubigter Abschrift beigefügten Schreiben des Reichs- leiters Bormann vom 21. Juni 1942 zu entnehmen bitte, hat Reichsleiter Bormann sich der hiesigen Auffassung, dass Dr. Nüßlein besondere politi- sche Verdienste aufweise, die seine Beförderung zum Oberstaatsanwalt rechtfertigen, in vollem Umfange angeschlossen. Die Zustimmung der Par- tei-Kanzlei zur Beförderung, um die Sie nach dem Inhalt Ihres Schreibens am 23. Juni d. J. … nachgesucht haben, ist somit erteilt. Ich darf deshalb bitten, nunmehr die Beförderungsurkunde alsbald der Präsidialkanzlei zur Vollziehung zuzuleiten. Heil Hitler!« 267 Nüßlein hatte seine Beförderung nicht selbst energisch betrieben und war vor allem in keine Untergliederung der NSDAP eingetreten, um seinen berufli- chen Aufstieg zu befördern. Selbst der Volksgerichtshof in Prag sollte ihn im Frühjahr 1948 von entsprechenden Vorwürfen freisprechen. Aber diese Briefe waren fortan in den Akten – und lähmten später seine Verteidiger im Aus- wärtigen Amt. Sie lähmten vor allem zu Beginn, bevor das Urteil aus Prag in Bonn vorlag, die Bereitschaft, öffentlich für Nüßlein einzutreten. Allerdings galt er intern nicht als schwer belastet. Als der Staatsanwaltschaft Köln im Mai 1960 über die Botschaft der ČSSR in Ost-Berlin die tschechische Publikation Verbrecher in Richterroben zuging, in der die Namen von »230 nazistischen Richtern und Staatsanwälten« in der westdeutschen Justiz aufgeführt und auf Seite 105/106 auch Vorwürfe gegen Nüßlein erhoben worden waren, wurde kein Ermittlungsverfahren gegen ihn in Gang gesetzt. Denn er war im Protektorat weder als Richter noch als staat- licher Ankläger tätig gewesen und jetzt nicht mehr im Justizministerium an- gesiedelt. Die fast zeitgleich erfolgte Anzeige der »Verfolgten des Naziregimes« in Berlin führte dann aber doch zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens der Staatsanwaltschaft Köln, das nach etwas mehr als zwölf Monaten im Juni 1961 eingestellt wurde, weil sich »keine Anhaltspunkte für eine gerichtlich strafbare und verfolgbare Handlung des Beschuldigten« ergeben hätten.268 Die Vorwürfe gegen Nüßlein rissen nicht ab. Am 15. März 1965 strahlte der Südwestdeutsche Rundfunk in seinem Fernsehmagazin Report einen Beitrag aus, in welchem Nüßlein schwer belastet und den Zuschauern als Richter und Anklagevertreter in Prag während der Besatzungszeit präsentiert wurde. Damit 374 Fallstudie: Die »Akte Franz Nüßlein« war der »Blutrichter« erstmals nachdrücklich durch westdeutsche Medienver- treter auf die Bühne der Öffentlichkeit geschoben worden. Von dort sollte er bis zu Joschka Fischers Auftritt in der Berliner Kongresshalle nicht mehr ent- fernt werden können. Obwohl nach dieser Sendung von Nüßlein wie vom Auswärtigen Amt rechtliche Schritte eingeleitet und dem Intendanten des SWR eine sorgfältige Schilderung des Falles übermittelt worden war. Und In- tendant Dr. Hans Bausch im Anschluß daran an Nüßlein – und später auch an den Staatssekretär des Auswärtigen Amtes – schreiben wird: »Es tut mir leid, dass in der Sendung Behauptungen aufgestellt worden sind, die zu wi- derlegen Sie fähig sind.« 269 Auch im Auswärtigen Amt hatte man auf die fortgesetzte Kampagne rea- giert. Dessen Sprecher Jörg Kastl erklärte, von Bundesaußenminister Gerhard Schröder (CDU) autorisiert, bereits am 18. März ausdrücklich, dass »Nüßlein weder als Anklagevertreter noch als Richter in Prag, sondern als Referent im dortigen deutschen Staatsministerium« tätig gewesen sei. Der volle Text der Erklärung wurde anschließend bereits am 20. März im Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung unter der Überschrift »Unhaltbare Vorwürfe« veröffentlicht: »Das Auswärtige Amt teilt mit: Gegen Generalkonsul Franz Nüßlein wur- den vor einigen Tagen im Fernsehen mit der Behauptung, er sei Oberstaats- anwalt in Prag gewesen, Vorwürfe … erhoben. Diese jetzt vom Fernsehen gegebene Sachdarstellung wurde bereits vor einigen Jahren eingehend – auch von der zuständigen Justizbehörde – überprüft. Nüßlein war weder als Anklagevertreter noch als Richter in Prag, sondern als Referent dort im deutschen Staatsministerium tätig. Die damalige Überprüfung ergab die Unhaltbarkeit der erhobenen Beschuldigungen. Das staatsanwaltliche Er- mittlungsverfahren wurde am 6. Juni 1961 eingestellt. Diese Sachlage be- steht unverändert fort.« 270 Es half alles nichts. Franz Nüßlein war fortan für die Öffentlichkeit ein tief in den Unrechtsstaat des Dritten Reichs Verstrickter. Er war in Prag im »Protek- torat« an einem Ort und in einer Position tätig, wo er dieser Verstrickung nicht entgehen konnte. Er hatte keine Todesurteile verhängt. Er hatte keine Todesurteile in Kraft gesetzt oder bestätigt. Er hatte, wenn die Anträge auf Gnadenerweis abschlägig beschieden worden waren durch Staatsminister Frank, bzw. den Reichsprotektor Frick – was in aller Regel geschah – diese Entscheidungen weitergeleitet an die Staatsanwaltschaft. Nach der »Gnaden- entscheidung« durch den Reichsprotektor. Samt der beigefügten Verfügung des Reichsprotektors, das Verfahren nunmehr abzuschließen. Verstrickung in den mörderischen Apparat 375

Wie in dem Fall des Wenzel Janota, der »1198 kg Brotgetreide« aus seiner Ernte einbehalten hatte und dafür zum Tode verurteilt worden war. Nüßlein hatte das Gnadengesuch der Schwester des Delinquenten, die »unter Hinweis auf die mangelhafte Bildung und Unwissenheit des Verurteilten, der verschie- dene Krankheiten durchgemacht hat, um Begnadigung« gebeten hatte, in Emp- fang genommen. Das Gnadengesuch wurde daraufhin am 14. Dezember 1943 zusammen mit dem »Gnadenbericht«, dem »Gnadenheft« und den Prozess- Akten sowie mit der »vollstreckbaren beglaubigten Abschrift der Urteilsformel« vom Oberstaatsanwalt beim Deutschen Landgericht in Prag, Dr. Ludwig, »über den Herrn Generalstaatsanwalt beim Deutschen Oberlandesgericht in Prag« dem »Herren Deutschen Staatsminister« Wilhelm Frick weitergeleitet. Nüßlein spielte in diesem noch mit normenstaatlichen Versatzstücken be- hafteten Verfahren tatsächlich keine weitere Rolle. Oberstaatsanwalt Dr. Lud- wig hatte in seinem ausführlichen »Gnadenbericht« zur Vorbereitung der Entscheidung des Reichsprotektors diesem mitgeteilt, dass der Vorstand des Gefängnisses in Prag-Pankratz einen Gnadenerweis nicht befürwortet und das Sondergericht in seinem Urteil zur »Frage der Erteilung eines Gnadenerweises keine Stellung genommen habe«. Er selbst empfahl dem Reichsprotektor, »mit Rücksicht auf die außergewöhnliche Schwere des Falles (Nichterfüllung von ¾ der Ablieferungspflicht)« von dem »Gnadenrecht keinen Gebrauch zu ma- chen und der Gerechtigkeit freien Lauf zu lassen«. Daraufhin teilte Reichs- protektor Frick unter dem Datum des 10. Februar 1944 der Staatsanwaltschaft mit, dass er entsprechend der Vorlage »mit Ermächtigung des Führers« ent- schieden habe, von dem »Begnadigungsrecht keinen Gebrauch zu machen«.271 Die keinerlei Handlungsspielraum zulassende Weisung des Reichsprotek- tors, seine Entscheidung an die Staatsanwaltschaft zurück zu übermitteln zu- sammen mit dem »Ersuchen, das Weitere zu veranlassen«, oblag nunmehr – Franz Nüßlein. »Das Weitere veranlassen …« 272 hieß in die Besatzungs- und Gefängnisrealität von Prag übertragen: Wenzel Janota hinrichten zu lassen. Auf diese Weise war Nüßlein in den mörderischen Apparat der Besatzungs- herrschaft im Protektorat verstrickt. Und doch sagte der Schweizer Botschafter Huber später, Nüßleins kleines Büro in Prag sei »eine Oase der Rechtsstaatlichkeit in mitten eines Unrechts- regimes« gewesen? Weshalb? Weil dieser Jurist Franz Nüßlein im Getriebe der Besatzungsherrschaft im Rahmen seiner Möglichkeiten und manchmal auch in Überdehnung und weit gefasster Auslegung derselben vielfach bedrängten und bedrohten Tschechen ebenso wirksam wie diskret geholfen hat. Weil es seine im Urteil von 1948 erwähnten »Guttaten« tatsächlich gegeben hat. Weil 376 Fallstudie: Die »Akte Franz Nüßlein« ihm die Dünkel der SS völlig fremd waren, die in den Tschechen wie etwas weiter östlich auch in den Polen allenfalls Hilfs- und Sklavenvölker erblickte, deren »deutsch versippte« Kinder es zu rauben und im Reich umzuerziehen galt, die aber sonst auf einem niedrigen sozialen Level zu halten waren. Woher wissen wir das alles? Aus den Akten. Aber nicht allein aus ihnen. Wichtige Erkenntnisse verdanken wir auch dem Rechtsanwalt Dr. Stephan Heidenhain, der sich lange schon für die Geschichte des deutschen Protekto- rats und diejenige von Franz Nüßlein während seiner Zeit an der Moldau in der Protektoratsverwaltung im »Stabe von Heydrich, Frick und Frank« inte- ressiert und gründlich in tschechischen Archiven recherchiert hat. Heidenhain traf im Jahre 2011 einen mit 91 Jahren mittlerweile hochbetagten Mann. Fast sieben Jahrzehnte zuvor – 1943/44 – hatte dieser als knapp Zwanzigjähriger lange im Todestrakt im Gefängnis Prag-Pankratz eingesessen und überlebt wegen – Nüßlein. Dieser alte Herr, den Heidenhain in einem kleinen Café in Prag traf, war tatsächlich jener Dr. Quido Mann, den Nüßlein 1947 in seinem eigenen, im Gefängnis von – bizarrer Zufall, wiederum: – Prag-Pankratz verfassten Le- bensbericht als einen derjenigen namentlich benannt hatte, denen er in der Besatzungszeit hatte helfen können. Nun, 2011, fast siebzig Jahre später, be- stätigte Dr. Quido Mann diese Angaben von Nüßlein. Wiederholt habe der sich mit Manns Familienangehörigen getroffen, habe sich entschieden für das Überleben des zum Tode Verurteilten eingesetzt. Und am Ende Erfolg gehabt. Heidenhain hat noch weitere Belege für Nüßleins Mut und Zivilcourage in anderen Fällen gefunden, aber das Treffen mit Dr. Quido Mann sticht heraus, weil seine Informationen, seine »Erzählungen« als tschechischer Zeitzeuge auf uns wie ein Wink aus ferner Vergangenheit wirken und Nüßlein, den angeb- lichen »Blutrichter« und »mörderischen Staatsanwalt«, in unserer unmittelba- ren Gegenwart in ein ganz anderes, freundlicheres Licht tauchen, ihn sogar »posthum« rehabilitieren wollten.273 Der erfahrene, lebenskluge und nach dem Krieg über Berlin heimgekehrte Emigrant Willy Brandt lag also in den sechziger Jahren, anders als das Eckart Conze in seinem Interview-Ausschnitt zu Beginn des Kapitels und mit ihm die Autoren des Amt-Bandes unterstellen, mit seiner Belobigung für Nüßlein gar nicht so falsch. Beschweigekartelle hätte Nüßlein gar nicht gebraucht, der sich wohl nicht ganz zu Unrecht nach Barcelona abgeschoben vorkam. Ge- braucht hätte er eine sorgfältige »historische« Aufarbeitung seiner komplizier- ten Geschichte und eine vollumfassende Würdigung seines Wirkens auf der Basis aller im Amt vorliegenden Unterlagen und Akten. Aber weil diese aus- Ein zu Unrecht Verfemter 377 blieb, musste er mit einem Malus leben – mit dem »Hautgoût« des tief in die Mordmaschinerie des Protektorats Verstrickten. Und musste damit sterben. Wirklich seltsam am »Fall Nüßlein« ist jedoch, dass dieser Mann nach sei- nem Tode im Jahr 2003 in Ruf und Ansehen noch nachhaltiger als zu Lebzeiten beschädigt werden sollte und gerade bei ihm die Damnatio memoriae macht- voll ihre Wirkung entfaltete. Gerade bei ihm, bei Franz Nüßlein, der nach allem, was wir heute über ihn wissen, eben kein »furchtbarer deutscher Jurist« und mörderischer NS-Oberstaatsanwalt gewesen ist, beteiligt an etwa 900 Todesurteilen, wie Joschka Fischer noch 2011 in seinen Memoiren schrieb.274 Dass ausgerechnet nach dem Tode dieses Mannes Joschka Fischer die Nach- rufpraxis im Auswärtigen Amt fundamental verändert und die Unabhängige Historikerkommission einsetzte, ist eine seltsame »List der Geschichte«. Auch wenn Außenminister Guido Westerwelle im Februar 2010 schließlich doch entschied, die von Fischer eingeführte und von seinem Nachfolger Steinmeier beibehaltene Nachfolgeregelung zu modifizieren – fortan sollten Mitarbeiter, die 1928 oder später geboren worden waren, wieder individuelle, persönliche Würdigungen erhalten, denn sie waren bei Kriegsende noch nicht volljährig und eine etwaige Mitgliedschaft in der HJ unbeachtlich, diejenigen, die vor 1928 geboren worden waren sollten auf der Basis der Personalakten strikt über- prüft und, sofern eine Mitgliedschaft in der NSDAP oder einer Unterorgani- sation vorlag, in aller Regel keinen Nachruf mit persönlicher Würdigung erhalten – bleibt ein schaler Nachgeschmack. Denn gerade Nüßleins Fall taugt nicht als Paradebeispiel für einen angeb- lich problematischen, die Wahrheit verfälschenden und vertuschenden Um- gang des Amtes mit seinen Akten. Ganz im Gegenteil: Im Amt selbst hat man diese eigenen Akten, besonders das Prager Urteil, nicht wirklich herangezogen, bzw. zur Kenntnis genommen und die darin enthaltenen, Nüßlein massiv ent- lastenden Kernaussagen übersehen. Vielleicht weil er gar nicht aus dem Amt stammte, keinen richtigen »Stallgeruch« hatte? Weil er als Quereinsteiger aus dem Justizministerium nach Krieg und Lagerhaft in den diplomatischen Dienst gelangt war? Noch 2003 ärgerten sich jedenfalls die alten Diplomaten wie Erwin Wickert, dass er oder Otto Bräutigam, von dem später noch aus- führlich die Rede sein wird, überhaupt ins Auswärtige Amt gelangen konnte und man ihn von Amts wegen nach seinem Tode mit einem »ehrenden Ge- denken« bedacht hatte. In diesem Punkte war dem Amt übrigens die Unab- hängige Historikerkommission auf merkwürdige Weise gefolgt – indem sie die wesentlichen Informationen gleichfalls »übersah«. Nüßlein war und blieb daher ein »Blutrichter« oder mindestens ein dem Regime höriger mörderischer 378 Fallstudie: Die »Akte Franz Nüßlein«

Staatsanwalt. Was aber, wenn ihm damit Unrecht getan worden ist über den Tod hinaus? Wie steht es mit der Ehre dieses Toten, der sich nicht mehr ver- teidigen kann und für den sich kaum eine Stimme erhebt? Müsste nunmehr nicht öffentlich zurückgenommen werden, was öffentlich behauptet worden ist, weil es falsch gewesen ist und den Tatsachen nicht entspricht? Welcher Bundesaußenminister wird das veranlassen? Oder soll die Damnatio memoriae in seinem Falle tatsächlich weiter gelten bis ans Ende aller Tage? 379

Deutsche Funktionseliten im Allgemeinen und Franz Rademachers Reise nach Belgrad 1941 im Besonderen

Im Herbst 1982 fragte mich Manfred Görtemaker, der heute Neuere Ge- schichte in Potsdam lehrt, ob ich ihn ins Audimax der Freien Universität Berlin begleiten wolle. Dort sollte eine Podiumsdiskussion zum Thema NATO-Doppelbeschluss und Nachrüstung stattfinden. Es wurde eine unver- gessliche Veranstaltung in einem überfüllten Haus. Denn nur einer auf dem Podium verteidigte ruhig und norddeutsch-sachlich-beharrlich, wie es seine Art ist, die Notwendigkeit, den sowjetischen SS-20-Raketen in Europa eigene westlich-amerikanische Raketensysteme gegenüber zu stellen – Manfred Gör- temaker. Die überwältigende Mehrheit der keineswegs ausschließlich linken Studenten – Transparente und Signete heute längst untergegangener roter Gruppen und Grüppchen von der Kommunistischen Hochschulgruppe (KHG) bis zur Sozialistischen Hochschulgruppe der SEW, der Sozialistischen Einheitspartei West- dominierten keineswegs das Bild – buhte, johlte, pfiff. Die Stimmung war gereizt, aufgeladen, kochte. Hier, in West-Berlin, in der Herzkammer des Kalten Krieges, hielten inzwischen diese mehr als tausend jungen Intellektuellen die westliche »Aufrüstung« ganz offenbar für weitaus bedrohlicher als jene der östlichen, der staatssozialistischen Hegemonialmacht, obwohl sie doch ohne den Schutz der westlichen Alliierten, der westlichen Militärmacht sich niemals an diesem Ort hätten aufhalten und so frei äußern können. Das war für mich, aus Bern, aus der Schweiz stammend, doch ziem- lich verblüffend. Noch verblüffender aber war, wie unerschütterlich Manfred Görtemaker seine einsame Position vertrat – ganz ohne jene Feindseligkeit und erbitterte Schärfe, die ihm von Podiums- wie Auditoriumsseite entgegen- schlug. Ich habe ihn dafür sehr bewundert. Am Ende wird sogar der eine oder andere Zuhörer ob seiner Argumente nachdenklich geworden sein. Mir fehlten damals, das sei an dieser Stelle gleichfalls eingestanden, die Sachkompetenz und der Mut, mich aus dem Publikum heraus an seine Seite zu stellen. Fast zeitgleich – 1978 – reiste der Mitbegründer und ZK-Sekretär des KBW, des Kommunistischen Bundes Westdeutschland, Hans-Gerhart (»Joscha«) 380 Fallstudie: Funktionseliten und Rademachers Reise nach Belgrad 1941

Eine Demonstration in Frankfurt, Mitte der siebziger Jahre. Gast des Kommunistischen Bundes West- deutschland (KBW) sind Edgar Tekere (Dritter von links) aus Zimbabwe und weitere Zanu-Emissäre. KBW- ZK-Sekretär Schmierer ballt in der Bildmitte im Schafspelz die Faust des Klassenkampfes. Links außen engagiert sich Gerd Koenen.

Schmierer an der Spitze einer kleinen KBW-Delegation zu einem Solidaritäts- besuch in das Kambodscha Pol Pots und der »Khmer rouge«. Noch nachdem die »Killing Fields« übersät mit Gebeinen und Totenschädeln weltweit bekannt geworden waren, schickte der ZK-Sekretär des KBW, Hans-Gerhart (»Joscha«) Schmierer wie oben erwähnt eine Huldigungsadresse an den kambodschani- schen Massenmörder Pol Pot und gratulierte ihm zur radikalen Umgestaltung seines Landes.275 Der ehemalige SDS-Funktionär Schmierer, der 1975 nach seiner Verurtei- lung ein halbes Jahr wegen schwerem Landfriedensbruch in der Justizvollzugs- anstalt Waldshut inhaftiert worden war, hatte sich später, bei allem allmählich entwickelten Pragmatismus, nie umfassend von dieser Position distanziert, sondern stets eine biographische Kontinuität zu wahren und zu betonen ge- sucht. So erklärte er etwa im TAGESSPIEGEL am 17. Februar 2001, ihm sei es immer und überall in erster Linie um Demokratie, um Volksherrschaft ge- gangen. In der Debatte um Joschka Fischers Beteiligung an gewalttätigen Demonstrationen mit lebensgefährlich verletzten Polizisten durch seine – vom Fischer überwiegend freundlich gesonnenen medialen Umfeld verharm- »Demokratie ist nun einmal kein Deckchensticken« 381 losend so genannten – »Putztruppe« sprang er dem Freunde bei. Demokratie sei nun einmal kein »Deckchensticken«, sagte er, nicht ohne hinzuzufügen, dass immer und überall bei solchen Konfrontationen die Polizei eine Mit- schuld für die Eskalation der Gewalt trage. Was Kambodscha anging, so be- merkte er noch 2013 im Feuilleton der F.A.Z., er habe ähnlich wie der schwedische Ökonom Gunnar Myrdal bei seiner Reise durch das Land in Indochina 1980 die Spuren des Massenmordens und des blutigen Terrors nicht wahrgenommen, sie seien ihm schlichtweg verborgen geblieben.276 Opportu- nismus ist eben mit Sicherheit keine Eigenschaft, die sich allein bei deutschen Diplomaten im Nationalsozialismus entdecken lässt. Fischer jedenfalls berief nach seiner Ernennung zum Außenminister, wie erwähnt, Schmierer zum Referenten im Planungsstab des Auswärtigen Amtes. Schmierer, der sich im Amt übrigens als friedlich-zurückhaltender, fast scheuer Zeitgenosse entpuppte, der sich hinter Bücherbergen verschanzte und kaum je auffiel, war einer jener Vertrauten, mit welchen sich Joschka Fischer im neuen Amt umgab und für die meisten war wie für den Minister das außen- politische Parkett zunächst ziemlich fremd. Eine Personalie, die viel aussagt über die Republik. Drehen wir das Geschehen um – das verhilft ja oft zu er- staunlichen Einsichten: Ein geläuterter ehemaliger Anhänger und einstiger Glatzkopf in Springerstiefeln aus einer der rechtsextremistischen Gruppen, vor Jahren wegen schwerem Landfriedensbruch verurteilt, der zudem 1975 der spanischen Regierung zum Ableben des Diktators Franco ein langes, mit- fühlendes Beileidstelegramm geschickt hat, wird, nachdem er sich von diesem »Milieu« gelöst hat, von einem mit ihm über Jahrzehnte befreundeten CDU- Außenminister ins Auswärtige Amt berufen. Kann er dort bleiben, nachdem seine »Vergangenheit« publik wird? Niemals. Auf keinen Fall. Der Skandal, der Medienaufschrei wäre riesig. Vermutlich müssten beide nach intensiven Entschuldigungen unverzüglich zurücktreten. Das sagt viel über das Koordi- natensystem dieser Republik aus, das sich stark nach links, in Richtung »DDR light« zu verschieben begonnen hat und immer noch weiter veschiebt. Wir sind beim Thema: Funktionseliten, Intellektuelle, Kontinuitäten, Brü- che, Auswärtiges Amt. Aber auch: Geschichtspolitik, Deutung wie Umdeu- tung von Vergangenheit, mediale Instrumentalisierung von Geschichte in unserer Republik. Die vielfältige und sachlich mehr als berechtigte Kritik aus der »Historiker-Zunft« am Buch über Das Amt und die Vergangenheit hat wenig bewirkt. Haften geblieben ist das im Band selbst nicht auftauchende zentrale Brandzeichen – das Wort von Eckart Conze von der »verbrecherischen Orga- nisation«. Diese Pauschalisierung mag verkaufsfördernd wirken, ist aber wenig 382 Fallstudie: Funktionseliten und Rademachers Reise nach Belgrad 1941 erkenntnisfördernd. Sie wird der durchaus komplexen Situation des AA in der ersten deutschen Diktatur kaum gerecht. Überdies gilt: Wenn der National- sozialismus zur ausschließlichen Metapher für das Böse wird, führt das zuneh- mend zu einer Reduktion konkreten Wissens über jene Zeit, worauf Johannes Hürter in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte mit guten Gründen hinge- wiesen hat.277 Der öffentliche »Mainstream« fließt jedoch beharrlich in Richtung des Brandzeichens »verbrecherische Organisation«.278 Das mögen einige wenige Zeitungszitate belegen. Unter der bezeichnenden Überschrift »Männer im Eli- tekampf« stellt etwa der Publizist Rudolf Walther am 30. Dezember 2010 in der taz fest: »Die Debatte erschöpft sich nicht im Streit zwischen alten und jungen Historikern. Eine junge konservative Elite im Umfeld von F.A.Z. und WELT stellt sich – gegen den Stand der Forschung – schützend vor die alte, in schwere Verbrechen verstrickte Elite. Nebenher sind alte und neue Elite dabei, die Naziverbrechen auf die gleiche Stufe zu stellen wie die Steinwürfe Joschka Fischers und anderer 68er.« Der Berthold Beitz-Biograph Joachim Käppner schlägt am 20. Dezember 2010 in der Süddeutschen Zeitung unter der Schlagzeile »Akademische Querulanz – Am Versagen der Eliten unter Hit- ler ist kein Zweifel« in die gleiche Kerbe und schreibt: »Scheinbar gilt hier als obszön, was man nicht hören will. Natürlich war das Auswärtige Amt 1933 bis 1945 eine verbrecherische Organisation. ›Das Auswärtige Amt‹, heißt es so prägnant wie treffend im Bericht der Kommission, ›repräsentierte, dachte und handelte im Namen des Regimes.« Vor Jahren meinte Johannes Gross ironisch, der Widerstand in Deutschland gegen Hitler wachse, je länger dieser »Führer« tot sei. Heute müssen wir das Diktum wohl umdrehen: Je länger Hitler tot ist, desto mehr NS-Verbrecher gab es – vor allem in der staatlichen Verwaltung. Ja, nach der Wiedervereini- gung gilt offenbar zunehmend als sicher und ausgemacht, dass die Mehrzahl aus der Generation unserer Väter und Großväter, mindestens soweit sie in NS- Bürokratie und Wehrmacht aktiv gewesen sind, allesamt Verbrecher waren – und dass sie obendrein noch die Schamlosigkeit besaßen, die Schlüsseljahre der jungen Bundesrepublik zu prägen, die damit gleichsam ebenfalls kontaminiert, mindestens moralisch vergiftet wurde. Das jedenfalls durchzieht als eine Art Leitmotiv das Amt-Buch. Verblüffend! Ein später Sieg der 68er oder der un- tergegangenen DDR, deren Braunbücher ja eben dies nicht müde wurden zu behaupten und notfalls auch zurechtzubiegen oder gar zurechtzufälschen? 279 Tatsächlich haben es jetzt, nachdem sie längst ihre Schreibtische geräumt haben, die Funktionseliten von einst schwer. Allenthalben waren und sind Große Überraschung: Im Dritten Reich gab es Nazis 383 mittlerweile Kommissionen an der Arbeit, um die NS-Vergangenheit nicht allein von Unternehmen wie der Deutschen Bank, Unternehmerfamilien wie den »Quandts«, Sportvereinen wie Hertha B.S.C. oder dem Steuerzahlerbund auszuforschen, sondern nunmehr auch von Behörden, Ministerien, ja ganzen Berufsgruppen vom AA über das Finanz-, Wirtschafts-, Landwirtschafts-, Ar- beits- und Sozialministerium über das Justizministerium bis zum Bundeskri- minalamt, dem Bundesnachrichtendienst oder den Vertriebenenverbänden und – nach fast 70 Jahren – sogar den Landtagen von Hessen, Baden-Würt- temberg und Bayern und jüngst sogar noch der Bayerischen Staatsoper. Es ist die Frage, wann diese Welle der Ermittlungen den Deutschen Bundestag er- reicht. Überall stellt man jetzt jedenfalls – nach fast 70 Jahren – plötzlich ebenso erstaunt wie erschrocken fest, dass in den ersten Administrationen, Parlamen- ten, Landtagen nach dem Krieg bis in die Mitte der sechziger Jahre hinein doch tatsächlich rund ein Drittel der Beschäftigten oder gewählten Abgeord- nete im Dritten Reich Pg gewesen waren und sogar der hessische Minister- präsident Zinn (SPD) neun Monate lang einer »SA-Wehrmannschaft« angehört hat.280 In Hannover werden 2013 über 400 Straßennamen aus der Nachkriegszeit »über prüft«, nachdem publik geworden ist, dass Hinrich Wil- helm Kopf, der überaus populäre Sozialdemokrat und langjährige Minister- präsident (von 1946 bis 1961) von Niedersachsen in der NS-Zeit an Geschäften mit arisierten jüdischen Immobilien beteiligt gewesen war. Was den Zeitgenossen nach dem Krieg, von denen unendlich viele in das alltägliche Grauen der Diktatur verwickelt gewesen sind – Hans Fallada beschreibt es großartig in seinem letzten semi-dokumentarischen Roman Jeder stirbt für sich allein –, nur ein müdes Achselzucken entlockt hätte, wird heute als kaum fass- liche schaurige Sensation präsentiert. So ändern sich die Zeiten. Die Befunde aller dieser diversen Unabhängigen Untersuchungskommis- sionen fallen dabei eigentlich immer ähnlich aus. »Reich bureaucrats seen in a new light«, titelte die New York Times am 26. Dezember 2010, als Judy Dem- sey über diese vielfältigen Aktivitäten berichtete und resümierte: »What is coming to light now – and causing a major debate in Germany – is the active involvement by ’s civil servants in the annihila- tion of Jews. For decades, bodies like the Foreign Ministry and the Finance Ministry managed to make the public believe they had been relatively ›clean‹ during the Nazi years. They pointed to their continuing efficiency as a source of pride. ›What is revealing is the way the civil service, the bureau- crats, applied the law,‹ said Professor Jane Caplan, a historian at St. Antho- 384 Fallstudie: Funktionseliten und Rademachers Reise nach Belgrad 1941

ny’s College, Oxford, and part of a commission investigating the German Finance Ministry’s past. ›They were not passive in their work. They became sources of innovation in order to make the system more efficient.‹« Leicht abgewandelt lautet so auch die These von Ian Kershaw, der davon aus- geht, die deutsche Bürokratie habe im Dritten Reich insgesamt, wie es am 21. Februar 1934 Werner Willikens, Staatssekretär im preußischen Landwirt- schaftsministerium, in seiner Rede ausdrückte, »am besten gearbeitet, indem sie sozusagen dem Führer entgegenarbeitet«.281 So verlockend solche Gesamtwertungen sein mögen, so problematisch sind sie auch. Ist es nicht so, dass uns etwa im Amt-Band die »Ergebnisse« deutlich weniger differenziert als in den »Vorstudien« von Christopher Browning, Hans- Jürgen Döscher oder Sebastian Weitkamp präsentiert werden und das Gesamt- bild dadurch leider deutlich einseitiger ausfällt? Ich werde das hier nur an einem kleinen, aber möglicherweise doch signifikanten Beispiel zu exemplifizieren versuchen. Zuvor möchte ich aber einige Merkpunkte für diese Diskussion über die Rolle der Funktionseliten auf ihrem Weg durch die erste deutsche Diktatur formulieren 282 – Funktionseliten, die sich nach 1945 hüben wie drü- ben in den Dienst ihrer neuen, ganz unterschiedlichen Herren stellen und die Grundlagen für die gesamtdeutsche Berliner Republik mit ausgestalten sollten. Um 1930 gab es in der deutschen Verwaltung rund 1,5 Millionen Reichs-, Landes- oder Kommunalbeamte. Das deutsche Berufsbeamtentum bildete zu- sammen mit der Reichswehr so etwas wie das Rückgrat des Staates. Ein großer Teil der Beamtenschaft, vielleicht einmal abgesehen von den Spitzen der Ver- waltung, stand dem Parlamentarismus der Weimarer Republik distanziert- skeptisch gegenüber. »Die Demokratie ist der Krebsschaden«, hat Ernst von Weizsäcker am 22. April 1932 festgestellt – ein gemäßigt Konservativer, wie wir in dem ihm gewidmeten gesehen haben, kein Verehrer des zur Macht drängenden »Führers« und seiner braunen Kolonnen.284 Allerdings hatte Weiz- säcker, auch darin gewiss kein Einzelfall, durchaus Verständnis für die Motive von Hitler-Anhängern. Am 22. Dezember 1932, als Hitler und seine NSDAP durch interne Krisen, Finanznöte und schlechte Wahlergebnisse von den Schalthebeln der Macht so weit entfernt schienen wie seit Monaten nicht, no- tiert er sich: »Während ich mir sonst auf der Bahn den Völkischen Beobachter kaufte, un- terbleibt das jetzt, unwillkürlich, es lohnt nicht mehr recht. Und doch bringe ich eine feindselige Stimmung gegen die Vielen nicht auf, die so gutgläubig der Bewegung anhängen. Der Westfälische Frieden hat Deutsch- land territorial zersplittert, der Versailler national u. sozial. Der National- Die Gleichschaltung des Staatsapparates beginnt 385

sozialismus ist also der richtige Gedanke für eine Einheitsbewegung. Nur ist das nicht auf dem Parteiweg zu machen, sondern ist darüber zu stellen, Ethos, nicht Pathos.« 285 Dass diese Bewegung mit ihrem »Führer« dezidiert antikommunistisch ein- gestellt war und gegenüber der Errichtung eines moskautreuen, stalinistischen Systems in Berlin als das kleinere Übel angesehen werden durfte – ein Ge- sichtspunkt, der heute kaum noch Beachtung findet – und dass sie Deutsch- land von den Fesseln und Beschränkungen des Versailler Vertrages, des Versailler Systems befreien, es zurück zum Großmachtstatus führen könnte, waren zwei wesentliche Gesichtspunkte, von welchen sich nicht allein Weiz- säcker, sondern wohl die Mehrzahl der staatlichen Funktionsträger in ihrer Beurteilung der neuen Hitler-Regierung wenige Wochen später, nach dem 30. Januar 1933, leiten ließen. Unter jenen zwei Millionen, die unmittelbar nach der Machtübertragung und -ergreifung – bis zum »Aufnahmestop« vom 19. April 1933 wegen der Überflutung mit Anträgen – die Aufnahme in die NSDAP beantragten, waren immerhin 300.000 Beamte.286 Viele sollten den richtigen »Riecher« gehabt haben. Die NSDAP war schon Ende 1933 alleinige Staatspartei, weil Hitler in Windeseile ein Einparteiensystem in Deutschland etabliert hatte, wie es dreizehn Jahre zuvor den Bolschewiki mit der KPdSU in Rußland gelungen war. Diese Funktionselite gewann im Dritten Reich überproportional an Be- deutung. Weshalb? Vor allem, weil die »normale« Gewaltenteilung der Wei- marer Republik, die »normale« Arbeitsweise von Legislative wie Exekutive, beginnend mit den Notverordnungen der Präsidialkabinette und dann durch Etablierung der »absoluten Führerdiktatur«, schon weitgehend aufgehoben oder besser: ausgehebelt worden war. Die Parlamente auf Reichs- wie Länder- ebene waren als Gesetzgebungs- und Kontrollinstanzen immer stärker, am Ende dann komplett ausgeschaltet worden. Eine wirksame Medienkontrolle durch die »Vierte Gewalt« existierte spätestens mit dem Aufbau des Goeb- bels’schen Apparates nicht mehr. Für das Regime war es 1933 noch nicht entscheidend, ob durchweg alle staatlichen Funktionsträger Mitglieder der NSDAP waren. Lediglich eine ein- zige kleine Gruppe im Staatsdienst sollte schon frühzeitig, schon 1933, nach Möglichkeit allein und ausschließlich mit überzeugten Nationalsozialisten be- setzt werden. Damit diese die Flut der Stellenneubesetzungen infolge des »Ge- setzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums«, mit dem ja in Wahrheit Juden, Sozialdemokraten und alle anderen jetzt plötzlich entdeckten »Reichs- feinde« im Staatsapparat ausgegrenzt und ausgetrieben werden sollten, im 386 Fallstudie: Funktionseliten und Rademachers Reise nach Belgrad 1941

Sinne der Partei, im Sinne Hitlers steuern und kontrollieren konnten: die für Personaleinstellungen zuständigen Beamten. Der Runderlass des Reichsinnen- ministers Frick vom 14. Juli 1933 an die obersten Reichsbehörden »Über die Besetzung der Personalreferate mit überzeugten Nationalsozialisten« war in diesem Punkt ebenso kurz wie eindeutig. Er mündete in den Satz: »Ich bitte, der Besetzung gerade dieser Stellen Ihr besonderes Augenmerk zuzuwenden und überall da, wo es noch nicht geschehen sein sollte, für Er- satz durch im nationalsozialistischen Sinne unbedingt zuverlässige Beamte sorgen zu wollen.« 287 Über die Personalabteilungen war die Zusammensetzung jeder Behörde leicht zu steuern. Es brauchten dafür nicht durchweg und überall ausschließlich Pg eingestellt zu werden. Für Frick kam es entscheidend auf die Qualifikation des Beamten an. Das durchzusetzen, war allerdings schwierig. Zuviele wollten Beamte werden, ohne tatsächlich qualifiziert zu sein. Deshalb versuchte Frick vier Jahre später festzulegen, dass nur noch nationalsozialistische Juristen Be- amte werden konnten. Aber das rief Goebbels auf den Plan, wie einige kurze Passagen aus dessen Tagebuch belegen: »17.4.1937: Fricks neuester Gesetzentwurf, dass nur Juristen Beamte werden können – ich soll im Auftrag des Führers scharfen Protest einlegen: ›Das ist geradezu idiotisch. Eine Juristifizierung des Staates. Das fehlte noch‹. Ich glaube, ich habe mir ein Verdienst erworben, dass ich den Führer darauf aufmerksam gemacht habe. Juristen sind alle im Gehirn defekt. Beamte müs- sen Diener des Volkes und nicht Knechte der Paragrafen sein …« 288 Fünf Wochen später, am 26. Mai 1937, vermerkt Goebbels: »Führer schimpft gegen Juristen und Beamte. Mit Recht. Muss abgeschafft werden. Auch die Unabsetzbarkeit der Beamten. Sie sollen etwas leisten.« 289 Am 10. Juni heißt es: »Beim Führer … Er geht wieder scharf gegen Juristen als Beamte vor.« 290 Und am 3. Juli 1937 registriert Goebbels befriedigt den Erfolg seines Vor- stoßes, der dem Ressentiment Hitlers entspricht: »Führer kehrt Fricks ›Be- amtennachwuchs-Verordnung‹ um: ›Juristen dürfen ausnahmsweise auch Beamte werden‹. Also jetzt genau umgekehrt wie Frick es plante …« 291 Natürlich blieben die Verwaltungsapparate weiterhin bedeutsam, ungeachtet der Verachtung, die Hitler – und Goebbels in seinem Schlepptau – ihnen ent- gegenbrachte. Ja, die Straße zur und durch die deutsche Diktatur war tatsäch- lich mit Verordnungen der Verwaltungen gepflastert. Ohne eine – wie Hans- Ulrich Wehler feststellte – »ebenso beflissene wie fleißige Ministerialbürokra- tie, deren Juristen jede Willensäußerung leitender NS-Politiker in Gesetzes- texte umgossen«,292 wäre das nicht gegangen. Die bürokratischen Apparate, Die Straße durch die Diktatur ist mit Verordnungen gepflastert 387 ganz besonders die Innen- und Justizverwaltungen sowie die Polizei, aber auch die Finanz- und Steuerbehörden entfalteten ein hohes Verfolgungs- und Un- terdrückungspotential im Sinne der neuen Ideologie, während das Auswärtige Amt in diesem Prozess doch eher eine Nebenrolle spielte. Dabei lösten sie sich stückweise von den herkömmlichen Verwaltungen – oder wurden herausge- löst. Gerade jene Apparate, die dem Rechtsschutz des Normenstaates eigent- lich besonders verpflichtet waren, traten ein in Zonen rechtlicher Unsicherheit und Willkür und stellten sich dezidiert in den Dienst des nationalsozialisti- schen Maßnahmenstaates.293 Die Geschichte der Nürnberger Rassengesetze – an denen auch das Auswärtige Amt mitgewirkt hat, ohne dass der Kommissi- onsbericht darüber referiert – oder des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) sind gute Beispiele dafür. Insgesamt arbeiteten diese Funktionseliten effizient bis fast in die letzten Kriegstage hinein. Sie arbeiteten effizient trotz Ämter- und Kompetenzwirrwarr, trotz der Fragmentierung der Ministerkooperation, effizient trotz der vielen Sonderbevollmächtigen, Sonderbeauftragten und Reichskommissare, trotz aller entsprechenden Rivalitäten und Reibungsverluste. Sie arbeiteten sogar effizient, obwohl der »Führer« als oberste Entscheidungsinstanz das Aktenstu- dium hasste, Kabinettssitzungen abschaffte und Beamte, Juristen, Diplomaten zutiefst verachtete, allenfalls als lästige Werkzeuge ansah – und ihnen über- wiegend misstraute, weil er sie größtenteils für laue Karrieristen und Beden- kenträger, aber eben nicht für überzeugt-fanatisch-feurige Nationalsozialisten hielt. Nicht von ungefähr erklärte Hitler vor den Reichsstatthaltern noch im November 1934, es sei »eine Tatsache, dass der Staat auch heute noch unter den Beamten zehntausende teils versteckter, teils lethargischer Gegner habe. Ein Teil der Beamten sei nunmehr von der offenen Sabotage zur passiven Re- sistenz übergegangen … (erst) in zehn bis fünfzehn Jahren werde man eine Bürokratie haben, die auch wirklich mitgehen wolle. Eine prachtvolle Jugend wachse heran, die zu den besten Hoffnungen berechtige«.294 Doch der Verwaltungsapparat wurde, das ist der vielleicht zunächst paradox anmutende Befund, durch diese Haltung und Einschätzung Hitlers und seine »charismatische Herrschaft« nicht unwichtiger. Im Gegenteil, die »Führerdik- tatur« war locker, eine flächendeckende »Durchherrschung« (Jürgen Kocka) existierte nicht. Anleitung und Kontrolle durch die Partei waren keineswegs überall möglich, Spielräume bei der Ausführung von Bestimmungen im Alltag bisweilen beträchtlich. Inwieweit wurde aber nun »dem Führer entgegen ge- arbeitet«? Inwieweit zeigte der Einzelne in den Apparaten Eigeninitiative, griff Anregungen auf, reagierte entschlossen auf vage Andeutungen von »oben«, 388 Fallstudie: Funktionseliten und Rademachers Reise nach Belgrad 1941 legte seinen Handlungsspielraum weit aus? Auf dem düsteren Feld der Staats- verbrechen finden wir »energisches Zuarbeiten« an vielen Stellen, nicht nur bei Adolf Eichmann. In anderen Bereichen fehlen uns allerdings die spezifi- schen Untersuchungen. Was das Auswärtige Amt anlangt, so sagte Norbert Frei verschiedentlich – und zugleich vorwurfsvoll –, das AA im Dritten Reich sei das AA des Dritten Reiches gewesen. Ja, was hätte es denn sonst sein können? Eine Zentrale des Widerstandes? Eine »widerständige« Bürokratie ist ein Widerspruch in sich, besonders in Deutschland mit seinen tief verwurzelten obrigkeitsstaatlichen Traditionen und seiner Staatsgläubigkeit. Ohne Bürokratie ist kein Staat, schon gar keine Diktatur zu »machen«. Eine Institution wie das Auswärtige Amt ist zudem eine Behörde, die von vornherein auf Vermittlung angelegt ist, sich dem friedlichen Ausgleich ganz unterschiedlicher Interessen verpflichten und verschreiben muss, weil sie im Krieg zwangsläufig keine große Rolle spie- len kann – und allein schon deshalb nicht wirklich prädestiniert zu sein scheint für die Position einer Schaltzentrale der Opposition. Aber derlei wird in der öffentlichen Diskussion gänzlich ausgeblendet, zugleich werden vielfach – reichlich ahistorisch – unsere heutigen Maßtäbe und Wertungen überwiegend eins zu eins auf diese komplexe, in vielem uns ja doch zunächst fremde Ver- gangenheit übertragen. Hinzu kommt zweierlei: Hitlers Regime wurde rasch und blieb trotz seiner Schattenseiten verblüffend populär – und blieb das auch bis über Stalingrad hinaus. Zugleich wurde der Minderheiten wie Juden, Sinti und Roma oder Homosexuelle und Geisteskranke brutal ausgrenzende, bald schon für alle von dieser Ausgrenzung Betroffenen existentiell bedrohliche pseudowissenschaft- liche, biologistische Rassenwahn ab Ende Januar 1933 Staatsdoktrin. Der bio- logistische Rassenwahn war – für uns heute schwer vorstellbar – von diesem Zeitpunkt an in dem »modernen« deutschen Staat tatsächlich Teil der »offi- ziellen« und erklärten Regierungspolitik geworden – zum ersten Mal in der Weltgeschichte. Und die allermeisten Deutschen waren erschreckenderweise bereit, ihrem neuen »Führer« darin willig zu folgen – oder aber diese Schattenseite des Re- gimes, wenn nicht billigend, so doch achselzuckend in Kauf zu nehmen.295 Protest wäre am Anfang etwa von Hindenburg, den Kirchen oder den kon- servativen »Koalitionspartnern« der NSDAP durchaus noch möglich gewesen. Er blieb aus, weil der Rassenwahn zu diesem Zeitpunkt bereits Teil des sozialen »mainstream« geworden war und Hitler/Himmler/Goebbels und Co. hier »an- dockten«, anschließend die Radikalisierung bis zum Massenmord in sich über- Rasante Selbstunterwerfung der Exekutive 389

Preußische Polizei unter dem Hakenkreuz: Mitglieder des Polizeisportvereins Berlin formen mit ihren Kör- pern am Boden liegend beim Hallensportfest am 24. März 1933 im Sportpalast ein riesiges Hakenkreuz – kaum ein Bild symbolisiert so treffend den Prozess der rasanten deutschen (Selbst-)Gleichschaltung und Unterwerfung unter das neue NS-Regime mit seiner »Führer-Diktatur«. lagernden Etappen und Schüben unter Mitwirkung vieler Tausender ganz un- terschiedlicher Helfer vorantreiben konnten. Bei der Umsetzung spielte – zwangsläufig und unvermeidlich – die staatli- che Bürokratie eine wesentliche Rolle und zwar auf all ihren Ebenen, in all ihren Gliederungen und Teilen. Denn auch und gerade für den Verwaltungs- apparat hatte Hitler das Tor zum Irrgarten der Rassenlogik weit aufgestoßen. Der biologistische Rassenwahn erfasste und durchdrang deshalb erschreckend rasch alle Ressorts des Staatsapparates und brach sich – zunächst begleitet und vorangetrieben von den eruptiven Verschleppungs- und Mordaktionen der nationalsozialistischen Basis – in einer anschwellenden Flut von Verordnungen Bahn. Auch das Finanzministerium war, obwohl der Minister Graf Schwerin von Krosigk nach 1934 kaum je persönlich Vortrag beim »Führer« hielt (was ihm nach 1945 den Kopf rettete), dementsprechend das Finanzministerium des Dritten Reiches, das höchst effizient den NS-Hochsteuerstaat durchsetzte und zugleich – wie die anderen staatlichen Institutionen auch – dessen Ras- senwahn als Staatsdoktrin im deutschen Alltag »implementierte«. Nicht von ungefähr wurden hier bereits Anfang 1934 Steuervergünstigungen für jüdische Warenhäuser gestrichen. Selbst die preußische Polizei, die unter SPD-Innen- minister Carl Severing bis zu Papens Preußenschlag am 20. Juli 1932 die 390 Fallstudie: Funktionseliten und Rademachers Reise nach Belgrad 1941

NSDAP-Bürgerkriegstruppen mehrheitlich energisch bekämpft hatte, lief zu den neuen Machthabern über. Ihre rasante – und darin für Deutschland ebenso symptomatische wie repräsentative – Selbstunterwerfung belegt die ungewöhnliche Aufnahme von einem Polizeisportfest am 24. März 1933 im Berliner Sportpalast. Wer in den Verwaltungen nicht zu den von der neuen »Volksgemeinschaft« Ausgegrenzten, vor allem den jüdischen Deutschen gehörte, profitierte von der schnellen Anpassung oder Unterwerfung. Ihm boten sich signifikante Auf- stiegschancen – sofern er über erkennbare Sachkompetenz und Einsatzbereit- schaft verfügte, sogar zunächst ohne in die Partei eintreten zu müssen. Denn wie Hitler selbst 1934 erklärte, sei die Verwaltung eher auf den fachlichen Könner als auf den glühenden Nationalsozialisten angewiesen. Unter seiner Ägide wurde der öffentliche Sektor kräftig ausgeweitet, nicht allein durch die neuen Ministerien wie Goebbels Propagandaministerium, Görings Behörde für den Vierjahresplan oder den rasanten Aufbau von Wehrmacht und Luft- waffe. Entsprechend stiegen zwischen 1934 und 1939 die Personalkosten in den Ressorts des Reiches erheblich an – um 170 Prozent! Dazu kam ein aufgeblähter, großzügig finanzierter Parteiapparat mit 33 Gauleitern, 827 Kreisleitern, 21.000 Ortsgruppenleitern und 1937 bereits rund 700.000 Partei leitern. Im Krieg lag die Zahl des NS-Führungskorps bei zwei Millionen. Zugleich schritt die Durchdringung der Beamtenschaft mit Parteimitgliedern rasch voran, sobald die NSDAP ab 1937 ihre Tore wieder öffnete. Ende 1937 waren in Preußen über 85 Prozent und im Reich fast 65 Prozent der Beamten in die »Staatspartei« NSDAP eingetreten, mithin Pg geworden.299 Kein Zweifel, das Dritte Reich war wie für die Mehrzahl der Deutschen auch für die meisten Mitglieder seiner Funktionseliten attraktiv – und sollte das bis weit in den Krieg hinein bleiben.300 Die Loyalität gegenüber dem neuen Staat wuchs mit jedem Friedensjahr und jedem neuen »Erfolg« von Hitler und seinem Regime. Das wurde durch das erste deutsche Wirtschaftswunder mit der kaum für möglich gehaltenen – durch gewaltige, auf Pump und über preis- gestoppte Inflation finanzierte Bau- und Aufrüstungsprojekte zustande ge- kommenen – Vollbeschäftigung wirksam unterfüttert. Diese Entwicklung ließ die krisengeschüttelte Weimarer Republik rasch und nachhaltig verblassen. Die Geburtenraten stiegen. Der Zukunftsoptimismus kehrte in weite Teile der Gesellschaft zurück. Bereits 1936, als kaum 4.000 Häftlinge in den Kon- zentrationslagern des Reiches geschunden und die meisten Lager geschlossen wurden, ging man selbst bei der Gestapo davon aus, dass »nur noch« allenfalls 0,2 Prozent von den 70 Millionen der Bevölkerung, mithin etwa 140.000 Das erste deutsche Wirtschaftswunder unterfüttert den »Führer-Mythos« 391

Menschen, Hitlers Herrschaft strikt ablehnten. Und nur eine kleine Handvoll davon mochte wie der mutige Georg Elser überhaupt an Widerstands- und Sabotageakte denken. Ein nennenswertes Bedrohungspotential für das Regime gab es nicht, von Widerstand ganz zu schweigen.301 Hitlers Herrschaft ruhte damals bereits auf einem festen Fundament und kam im Reich ohne die Mas- senhinrichtungen, -verschleppungen und -morde (nicht zuletzt an den Kula- ken) aus, wie sie Stalin im Zuge des ausufernden blutigen Terrors seiner Herrschaft in den dreißiger Jahren für unvermeidlich hielt. Erst mit Kriegs- beginn sollte sich das ändern, zeigte sich immer unverhüllter die mörderische, eliminatorische Seite des Nationalsozialismus. Jetzt begann hinter den vor - rückenden Truppen sofort das massenhafte Verhaften, Morden, aber auch die Ghettoisierung und Inhaftierung von Millionen in Lagern, die schließlich in den industriell-arbeitsteilig ablaufenden Völkermord mündete. Kurz davor, in der letzten Phase vor dem Krieg, wurde dem Regime das Heranziehen politisch überzeugter Nationalsozialisten in den Verwaltungen wichtiger – und allmählich möglich. Was das Auswärtige Amt anlangte, so hatte Rudolf Heß, der »Stellverteter des Führers«, bereits am 24. September 1935 das Vorprüfungsrecht über sämtliche Ernennungen erhalten. Die Kritik Hitlers an der Haltung und Tätigkeit der Diplomaten – die im Kommissions- bericht nicht aufscheint – hatte weiter zugenommen. Sämtliche Personalent- scheidungen wurden verlangsamt, ja blockiert, Außenminister von Neurath stellte ein Entlassungsgesuch. Von Seiten des Regimes war man von jetzt an verstärkt bemüht, die Personalstruktur des Amtes im Sinne Hitlers zu verän- dern. Die Öffnung für Ribbentrop und seine Leute und für Bohle und die Auslandsorganisation der NSDAP, die wenig später tatsächlich erfolgte, lag bereits in der Luft. Es ist auch kein Zufall, dass die neue Attaché-Ausbildung im AA, die überzeugte junge Nationalsozialisten ins Amt führen sollte und den Besuch auf dem Obersalzberg ebenso zwingend vorschrieb wie denjenigen im KZ Dachau, im Jahr 1938/39 konzipiert und für kurze Zeit eingeführt worden ist – im Krieg gab es keine Attaché-Ausbildungsjahrgänge mehr.302 Was die Zahlen über den Personalbestand des Amtes anlangt, so sind die im Kommissionsbericht genannten Angaben wie so vieles andere allerdings nur mit Vorsicht zu genießen. Der dort genannte – gigantische – und angeb- lich auf Ribbentrop zurückzuführende Zuwachs von 2.665 Stellen (davon 436 Beamte) im Jahre 1938 auf 6.458 Stellen fünf Jahre später scheint jedenfalls falsch, zu hoch und insgesamt übertrieben.303 Die im Amt-Band ohne Quel- lenangabe genannten Zahlen mögen im Wesentlichen auf nicht näher spezi- fizierte Angaben bei Hans Adolf Jacobsen zurückgehen, der sich wiederum 392 Fallstudie: Funktionseliten und Rademachers Reise nach Belgrad 1941 auf den langjährigen Archivar des Auswärtigen Amtes, Heinz Günther Sasse, bezieht. Sie sind während der Zeit des Dritten Reiches selbst aber nirgendwo vollständig erfasst, so dass wir uns ihnen auch heute noch über Schlussfolge- rungen annähern müssen. Im Archiv des Auswärtigen Amtes liegt die Zahl der Mitarbeiter im Inland für Mitte 1943 inklusive Stellenverteilungsschlüssel vor. Sie beträgt exakt 3.408 Beschäftigte – vom Reichsaußenminister (RAM), über die Staatssekretäre, Botschafter, Unterstaatssekretäre, Ministerialdirekto- ren und -dirigenten, Referatsleiter, Sonderbeauftragten, Referenten, Hilfsre- ferenten, Schriftleiter, Expedienten, Chiffreure, Buchhalter, Kuriere, Übersetzer, Dolmetscher, Lektoren, Büro- und Archivangestellte, das Technische Personal (einschließlich Funkern, Fernschreiberinnen, Telefonistinnen), Kanzlei- und Schreibkräften einschließlich derjenigen für Pässe und Sichtvermerke, Boten- meister, Pförtner bis hin zum – »Unterpersonal«.304 Im August 1939 hatte das Reich noch über 55 größere Auslandsmissionen verfügt inklusive der Generalkonsulate in Ländern ohne höherrangige diplo- matische Vertretung. Ende 1944 waren von Bern über Madrid bis nach Tokio und den Vatikan gerade einmal 16 übrig geblieben, weil das Deutsche Reich sich mit vielen Staaten in Kriegszustand befand. Ziehen wir von den im Kom- missionsbericht genannten 6.458 Mitarbeitern nunmehr die feststehenden 3.408 Beschäftigten aus der Zentrale ab, verbleiben immer noch stattliche 3.050 Mitarbeiter, die sich auf die wenigen genannten Auslandsmissionen und die besetzten Gebiete – in Budapest, der Slowakei etc. – verteilen sollen. Im Durchschnitt wären das etwa 300 pro Mission. Die Zahl ist viel zu hoch, ist ausgeschlossen. Wie sollten sie alle sinnvoll beschäftigt worden sein? Rechnen wir großzügig mit 25 bis 30 Mitarbeitern pro Mission, so wird uns im Amt- Band immer noch eine »Verbrecherhöhle« präsentiert, die reichlich »overstaf- fed« daherkommt – etwa 2.000 bis 2.500 Personen sind hier zuviel.305 Grundsätzlich muss man zudem kritisieren, dass der Leser im Kommis - sionsbericht auch nicht annähernd über Aufbau und Strukturen des AA unterrichtet wird. Die Entwicklung des im März 1933 – zeitgleich mit der Verabschiedung des Ermächtigsgesetzes – eingerichteten Deutschland-Refe- rates als Verbindungsstelle zwischen Amt und NSDAP bleibt dunkel. Zu- nächst wurde die Leitung Vicco von Bülow-Schwante, einem Vetter des Staatsekretärs Bernhard von Bülow übertragen. Im Zuge des großen Revire- ments 1938 wechselte dieser als Botschafter nach Belgien und die Referatslei- tung übernahm mit Walter Hinrichs ein Karrierebeamter. Ihm folgte Emil Schumburg. Ende 1938 war die Verbindung zur NSDAP abgetrennt und einem zusätzlichen »Sonderreferat Partei« übertragen worden, dessen Leitung Aufbau und Struktur des AA 393

Martin Luther übernahm, ein Seiteneinsteiger, der im Gefolge von Ribbentrop ins Amt kam. Im »Referat Deutschland« verblieb die Zuständigkeit für die Verbindungen zur Polizei und SS. Im Mai 1940 wurden die beiden Referate dann zur Abteilung Deutschland verschmolzen mit Unterstaatssekretär Martin Luther als Abteilungsleiter.306 Die oben bereits erwähnte, in der Rauchstraße im Tiergarten residierende Abteilung Deutschland umfasste ab Ende 1941 zehn Referate, (in Klammern die jeweiligen Leiter): D I Parteiverbindungen (Martin Luther), D II SS und Polizei (Rudolf Likus, bzw. Werner Picot), D III Judenfragen/Nationalbewe- gungen Ausland (Franz Rademacher), D IV Drucksachen (Werner Klatten), D V Auslandsreisen (Manfred Garben), D VI Sonderbauten (Martin Luther), D VII Geographischer Dienst (Heinrich von zur Mühlen), D VIII Volksdeut- sche (Helmut Triska), D IX Volksdeutsche Wirtschaft (Georg Wilhelm Groß- kopf) und D X Ausländische Arbeiter (Walter Kieser).307 Schon bei dieser Abteilung, die Christopher Browning mit guten Gründen in den Mittelpunkt seiner Studie über die »Endlösung« und das AA gestellt hat, bietet uns der Kommissionsbericht, sieht man einmal von Luther und Rademacher ab, wenig konkretes Belastungsmaterial bezüglich der weiteren Referatsleiter, sondern bewegt sich überwiegend im Bereich der insinuierenden Verdächtigungen, entweder, weil sie angeblich zum »Netzwerk« von Luther gehört hatten oder aber, weil nach dem Krieg und noch bis in die sechziger Jahre hinein – wie im Falle von Werner Picot oder Manfred Garben – Ermitt- lunsgverfahren gegen sie eröffnet worden waren. Der Name Klatten fehlt aller - dings gleich ganz, Heinrich von zur Mühlen taucht lediglich mit einem Auszug aus einem Bericht von der Ostfront auf, als er mit der 4. Panzerdivision Rich- tung Kauskasus marschiert, Großkopf stibt schon 1942. Hinzu kommt der rasch voranschreitende, ganz erhebliche Bedeutungsver- lust dieses Amtes. Obwohl Ribbentrop 1942/43 morgens, wenn er den Schlosshof der Grafen Lehndorf im ostpreußischen Steinort bei Rastenburg betrat, seinen Fahrer fast immer vernehmlich vor versammelter Entourage an- wies: »Zum Führer«, fuhr dieser ihn statt dessen anschließend meistens – in den Wald. Denn Hitler hatte kaum noch Verwendung für seinen Reichsau- ßenminister.308 Dieser Bedeutungsverlust schritt im Kriege immer weiter voran. Im Protokoll Bormanns über die fünfstündige streng geheime Führer- besprechung am 16. Juli 1941 im Führerhauptquartier bei Rastenburg, an der neben Hitler und dem Protokollanten noch Reichsminister Lammers, Feld- marschall Göring, Feldmarschall Keitel und Reichsleiter Rosenberg teilneh- men, wobei Letzterer – das ist eine der Folgen dieser Besprechung – am 394 Fallstudie: Funktionseliten und Rademachers Reise nach Belgrad 1941 nächsten Tag zum Minister für die besetzten Ostgebiete ernannt werden wird, finden sich dazu bemerkenswerte Passagen. Es geht um die Neugestaltung der von den deutschen Truppen eroberten und besetzten Gebiete, geht um das Personaltableau der Führungsspitze in diesen Gebieten, geht im Kern aber zugleich um die Neugestaltung Europas. Es geht wie so oft im Dritten Reich auch hier um die Kompetenzverteilung, wobei Rosenberg seinen Rivalen Ribbentrop noch weiter auszustechen sucht: »Rosenberg erklärt, er habe einen Brief von Ribbentrop erhalten, der die Einschaltung des Auswärtigen Amts gewünscht habe. Er bitte den Führer, festzustellen, dass die innere Gestaltung des neuen Raumes das Auswärtige Amt nichts anginge. Diese Auffassung wird vom Führer durchaus geteilt. Es genüge zunächst, wenn das Auswärtige Amt zum Reichsleiter Rosenberg einen Verbindungsmann abstellt.« Und wenig später heißt es: »Reichsleiter Rosenberg bittet [nach seiner Ernennung; D.K.] um ein ent- sprechendes Dienstgebäude. Er bittet um das Gebäude der Handelsvertre- tung der Soviet-Union in der Lietzenburgerstraße in Berlin. Das Auswärtige Amt sei zwar der Auffassung, dieses Gebäude sei exterritorial. Der Führer erwidert, das sei Unsinn; Reichsminister Lammers wird beauftragt, dem Auswärtigen Amt unverzüglich mitzuteilen, das Haus sei ohne Verhand- lungen augenblicklich an Rosenberg zu übergeben …« 309 Rosenberg bittet ferner darum, dass er ab sofort wie Ribbentrop seit 1938 mit Walther Hewel – einem Vertrauten Hitlers aus der »Kampfzeit«, seit 1940 Gesandter 1. Klasse, am Ende dann, ohne je die herkömmliche Diplomaten- ausbildung und -laufbahn durchlaufen zu haben, als Botschafter zur beson- deren Verwendung und zugleich Ehrenführer der SS im Range eines SS-Oberführers, ab 1942 dann SS-Brigadeführer – einen eigenen Verbin- dungsmann im Führerhauptquartier installieren dürfe. »Diese Aufgabe«, so Bormann im Protokoll, »solle Rosenbergs Adjutant Koeppen übernehmen. Der Führer ist damit einverstanden und erklärt, Koeppen solle die Parallel- Rolle zu Hewel übernehmen.« 310 Ribbentrop erreichte zwar ab 1943 mit der Entsendung von Franz Edler von Sonnleithner die Etablierung eines zweiten Berichterstatters im Führer- hauptquartier, aber der berichtete alternierend mit Hewel, so dass kein wirk- licher Vorsprung gegenüber dem Rivalen erreicht wurde. Walther Hewel gehörte übrigens zu den wenigen Diplomaten, die bis Kriegsende in Berlin blieben. Er beging in den Ruinen der Schultheiß-Brauerei Selbstmord. Andere, die ausgehalten hatten wie der Vortragende Legationsrat Adolf Freiherr Mar- schall von Bieberstein, der Gesandte 1. Klasse Hermann Bergmann, Konsul Epochenjahr 1939: Das Tor zur moralischen Kernschmelze wird weit aufgestoßen 395

Wilhelm Bohn oder Oberregierungsrat Kurt Flügge, wurden von der Roten Armee verhaftet und kamen im Speziallager Buchenwald oder in sowjetischen Gefängnissen um. Aber zurück zu Ribbentrop. Grundsätzlich kann, anders als im Kommissi- onsbericht unterstellt wird, von einer exklusiven Beziehung zwischen Hitler und ihm im Sommer 1941 überhaupt keine Rede mehr sein. Im Gegenteil, Rosenberg hatte, wie die kurzen Quellenpassagen belegen, bereits mächtig aufgeholt, was die Stellung bei Hitler anging. Dass in Rosenbergs und nicht in Ribbentrops »Arbeitsbereich« die Masse der neu unter deutschen Zugriff gelangten europäischen Juden sich befanden, sei hier gleichfalls angemerkt. Allerdings verfügten weder das Amt von Ribbentrop noch die Behörde von Rosenberg über polizeiliche Exekutivgewalt oder über eigene Zuständigkeiten in der Judenfrage. Weil es aber zunächst vor allem um die Deportation von Juden in den von deutschen Truppen besetzten Osten ging, wo Rosenbergs Ministerium wesentlich wichtiger war als das Auswärtige Amt, rückte er wie- der näher an Hitler und die SS heran. Mit Kriegsbeginn veränderte sich das Verwaltungsgefüge des Reiches. Die Zäsur des Epochenjahres 1939 ist auch in dieser Hinsicht tiefer als 1933. Die Zivilverwaltungen, ohnehin ausgedünnt durch Einberufungen, verloren an Kompetenzen und Bedeutung. Sie ging über auf die vermehrt eingesetzten Reichskommissare – der Bedeutendste war Himmler als Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums – sowie auf die Wehrmacht und nicht zuletzt die SS. Sie ging über auf das im ersten Kriegsmonat gegründete Reichs- sicherheitshauptamt und natürlich auf Hitlers Sekretär Martin Bormann. Hit- ler, Bormann, Himmler, Heydrich, Gestapo-Müller und die vielen Zuarbeiter wie Eichmann bildeten das Zentrum der jetzt einsetzenden moralischen Kern- schmelze im Zeichen von Rassenwahn und Staatsmorden. Deren Wellen von diesem Kernpunkt ausstrahlten bis weit ins Reich, ja sogar ganz Europa hi- naus, soweit es sich unter deutscher Herrschaft befand. Viele wurden von die- ser moralischen Kernschmelze erfasst, wirkten daran mit, vom Auswärtigen Amt bis zur Reichsbahn und Teilen der Wehrmacht. Der Normenstaat und seine Helfer waren inzwischen weit zurückgedrängt, standen auf verlorenen Posten, die Repräsentanten des Maßnahmenstaates mit Hitler/Bormann/ Himmler/Heydrich an der Spitze hatten entscheidend an Boden gewonnen, waren in diesem Prozess nicht mehr wirksam zu zügeln, es sei denn durch – ein Attentat. Die staatliche Bürokratie war auf vielfältige Weise in die Staatsverbrechen des Regimes verstrickt von der Ausgrenzung, Verfolgung und Ermordung der 396 Fallstudie: Funktionseliten und Rademachers Reise nach Belgrad 1941 politischen Gegner über den Mord an Geisteskranken, die Ausbeutung und Vernichtung der Juden, Sinti und Roma bis zu den etwa 3,5 Millionen getöte - ten sowjetischen Kriegsgefangenen. Dass diese Verbrechen höchst »arbeitsteilig« vollzogen wurden, dass der Rassenwahn als Staatsdoktrin pseudowissenschaft - lich-biologistisch mit Begriffen wie »Blut«, »Bakterien«, »Inkubation« usw. operierte – heute würde man von »genetischen Defekten« sprechen –, was die mentale »Abspaltung« bei vielen Tätern erleichterte, weil sie die Opfer für sich »entmenschlichen«, als auszurottende Bakterien, Bazillen, Volksschädlinge de- finieren konnten, wissen wir inzwischen. Allerdings erfolgte die Verstrickung der jeweiligen Institutionen in ganz unterschiedlichen Abstufungen. Auch im Herrschaftsgefüge des Dritten Reiches gab es in unterschiedlicher Intensität Täter, Mittäter, Mitwisser, Helfer – oder auch nur ganz am Rande Beteiligte wie jene Putzfrauen, die in Frankreich vor der Deportation Leibesvisitationen an Jüdinnen vornahmen. Hans-Ulrich Wehler spricht allerdings mit guten Gründen von »beflissener Beihilfe« der Bürokratien bei der kumulativen Ra- dikalisierung der Verfolgung.311 Zur Differenzierung gehört im Falle des AA auch die Bemerkung, dass dort Seiteneinsteiger bei der Verfolgung der Juden, bei der energischen Umsetzung jener Politik des Rassenwahns eindeutig dominieren. 34 von ihnen standen sechs »normale« Laufbahnbeamte gegenüber, kleinere Chargen wie Schumburg, Benzler, Schönberg, Klingenfuß. Die Namen, die im Zusammenhang mit diesen Schandtaten immer wieder fallen und fallen müssen wie Luther, Abetz, Rademacher, Veesenmayer, Steengracht, Six sind allesamt Seiteneinsteiger. Ich halte es für ausgemacht fragwürdig, solche fanatisch-ehrgeizigen Nationalso- zialisten wie Luther, Ludin, Veesenmayer, Best, Bohle und andere, die ohne jede diplomatische Schulung, geschweige denn eine langjährige Attaché-Aus- bildung nur für ein paar Jahre einen diplomatischen Rang samt Diplomaten- pass besaßen, durchweg dem AA zuzurechnen wie es im Kommissionsbericht allenthalben geschieht. Für den mit der Materie und den Akteuren nicht oder nur wenig vertrauten Leser entsteht so das Bild einer gänzlich homogenen Be- hörde, die unterschiedslos in gleicher Intensität dem Rassenmassenmord »zu- arbeitete«, was nicht der historischen Realität entspricht. Nun will ich an einem einzigen kleinen Beispiel die problematische Ar- beitsweise der »Fischer-Kommission« näher beleuchten. Ich beginne mit einem Zitat aus der Einleitung zum Band Das Amt: »Im Oktober 1941 entsandte das Auswärtige Amt seinen ›Judenreferenten‹ Franz Rademacher – den Mann, der ein Jahr zuvor an den Planungen be- teiligt gewesen war, alle europäischen Juden nach Madagaskar zu vertreiben, Dominanz der Seiteneinsteiger bei der Verfolgung von Juden 397

nach Belgrad, um dort mit Vertretern anderer deutscher Behörden, darun- ter dem Reichssicherheitshauptamt, die Behandlung der serbischen Juden zu koordinieren. Worum es ging, verrät nicht ein Geheimdokument, son- dern die Reisekostenabrechnung, die Rademacher nach seiner Rückkehr in Berlin einreichte. Jeder Buchhalter in der Reisekostenstelle des AA konnte es lesen: Reisezweck war die ›Liquidation von Juden in Belgrad‹«.312 Diese kleine Passage soll dabei unsere Einstiegsluke in den dunklen Brunnen der Geschichte sein. Sie ist bezeichnend für die Machart des Buches und seine Vermarktung. Heute scheint bei jedem einigermaßen sachkundigen Leser bei einer Quelle aus dem NS-Machtapparat aus dem Jahre 1941 hinter dem Wort »Behandlung« in Verbindung mit dem Wort »Juden« der massen- und millio- nenfache Mord auf. Die zitierte Passage baut darauf auf. Und führt zugleich in die Irre. Es ging bei der Reisekostenabrechnung, soviel sei hier schon fest- gehalten, überhaupt nicht um die »Behandlung« der serbischen Juden, son- dern um eine begrenzte Zahl, ging auch nicht um jüdische Frauen und Kinder, noch nicht. Es ging auch nicht um den Massenmord durch die Einsatzgrup- pen von SiPo und SD oder die Tötung durch Gas in den Vernichtungslagern. Dennoch »schaffte« es Franz Rademachers berüchtigte, schon in der zitier- ten Einleitung besonders avisierte Reisekostenabrechung vom 25. Oktober 1941, auf der als »Reisezweck« von ihm tatsächlich »Liquidation von Juden« vermerkt worden war, als Faksimile im Herbst 2010 auf die Titelseite oder zu- mindest den Innenteil fast sämtlicher größeren deutschen Zeitungen, nach- dem die F.A.S. sie beinahe exakt 69 Jahre nach ihrer Entstehung am 24. Oktober auf der Frontseite als optischen Aufmacher für ihre vielseitige Wür- digung des Amt-Buches verwendet hatte. Dabei wurde von allen Zeitungen nicht erwähnt, dass dieses kleine, jetzt als Sensationsfund vermarktete Quel- lenstück schon seit den fünfziger Jahren bekannt gewesen ist.313 Und, weit ge- wichtiger, es wurde – ganz im Sinne der Kommission – durchweg in einem falschen Zusammenhang präsentiert. Steigen wir also an dieser Stelle hinab in den dunklen Brunnen und folgen wir den Spuren von Franz Rademacher und seinen Gesprächs- und Verhand- lungspartnern in jenen Wochen im Herbst 1941 ein kleines Stückchen. Rademacher war kein Diplomat klassischer Schule. Er hatte nie eine Auf - nahme prüfung absolvieren, keine Attachéausbildung durchlaufen und keine diplomatisch-konsularische Prüfung ablegen müssen. Anders als die meisten Diplomaten hatte Redamacher sich, wie das Regime es wünschte, vom Chris- tentum ab- und der »Gottgläubigkeit« zugewandt, nachdem er 1932 in die SA und am 1. März 1933 – als klassischer »Märzgefallener« – in die NSDAP 398 Fallstudie: Funktionseliten und Rademachers Reise nach Belgrad 1941 eingetreten war und sein Jurastudium abgeschlossen hatte. Diese Schritte hat- ten ihm im November 1933 die Aufnahme in das mecklenburgerisch-schwe- rinische Staatsministerium ermöglicht, das Parteigenossen den Einstieg in den Staatsdienst massiv erleichterte. Von dort war er 1937 als Regierungsrat in das AA delegiert worden. Im neuen Ressort leitete er von 1940 bis 1943 als enger Vertrauter von Unterstaatssekretär Martin Luther im Range eines Legations- rates das »Judenreferat«, bzw. das Referat D III der Abteilung Deutschland im AA. Alle übrigen Mitarbeiter der Abteilung Deutschland waren vor ihrem Eintritt ins Ministerium entweder in der Dienststelle Ribbentrop oder in NS- Organisationen hauptamtlich tätig gewesen. Fünf der zwölf Mitarbeiter in Rademachers Abteilung bezeichneten sich als gottgläubig. Sämtliche der zwi- schen 27 und 38 Jahre alten, damit ungewöhnlich jungen Mitarbeiter in die- sem »Sonderreferat« waren – außer Georg Wilhelm Grosskopf – vor 1933 in die NSDAP oder die SA eingetreten. Bei Kriegsbeginn waren alle in der SA oder SS. Keiner entstammte der klassischen Ministerialbürokratie. Alle Be- rufskarrieren hatten 1933 begonnen. Diese Details trafen auf nahezu alle Son- derreferate des AA zu.314 Weshalb die Kommission diese beträchtlichen Unterschiede nicht viel deut- licher herausgearbeitet hat, die eine Folge der Ernennung von Ribbentrop zum Reichsaußenminister gewesen sind, hat sich schon Michael Mayer ge- fragt. Denn das AA war nach 1938 viel weniger homogen als der Kommissi- onsbericht zu suggerieren sucht. Nicht von ungefähr stellt er in seinem Fazit völlig richtig fest: »Bis 1939 gab es innerhalb des Ministeriums einen Konsens hinsichtlich des Umgangs mit der jüdischen Bevölkerung. Die Position des AA ent- sprach dabei cum grano salis der Haltung der deutschen Ministerialbüro- kratie. Der eigentliche Bruch innerhalb des Ministeriums fand nach dem Ministerwechsel von Neurath zu Ribbentrop statt. Damit endete die rela- tive personelle Homogenität des Amtes, aber auch der Konsens in Bezug auf Sachfragem, etwa in der ›Judenpolitik‹. Danach wurde die Dichotomie zwischen den traditionellen ›alten‹ und den stärker nationalsozialistisch auf- geladenen ›neuen‹ Diplomaten und Arbeitseinheiten des AA immer klarer. Der Bruch nach dem Ministerwechsel macht sich vor allem in den neu ge- schaffenen, bzw. umgewandelten Arbeitseinheiten wie den Sonderreferaten bemerkbar.« 315 Rademacher war tatsächlich maßgeblich an der Entwicklung des Madagas- kar-Planes des AA zur Deportation der europäischen Juden beteiligt und stand in ständigem engem Kontakt mit Adolf Eichmann und seinem, die Deporta- Das Referat D III der Deutschlandabteilung 399 tionen in die Vernichtung koordinierenden Referat IV B4 im RSHA, wo man bald schon das Madagaskar-Projekt an sich zog. Nach dem Krieg tauchte Ra- demacher – ebenso wie Eichmann – unter und wurde erst 1952 angeklagt und wegen seiner Beihilfe zum Totschlag an jugoslawischen Juden durch deutsche Besatzungstruppen in Belgrad zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Der vollen Verbüßung der Strafe entzog er sich durch Flucht nach Syrien.316 Doch zurück zu Rademachers ominöser Reisekostenabrechnung. Im Jahr 2010 wurde dieses winzige Quellenstück von sämtlichen Journalisten unisono so bewertet, wie von Lorenz Maroldt im TAGESSPIEGEL vom 27. Oktober 2010. Er hatte nach dem Erscheinen des Kommissionsberichts in seinem durch wenig Fachkenntis getrübten Kommentar unter der Überschrift »Nazis im Auswärtigen Amt – Die Sehnsucht nach einer untadeligen Elite« u.a. ge- schrieben: »Enttäuscht, schockiert, überrascht. Das waren die Reaktionen auf die Nazis im Auswärtigen Amt. Enttäuschend, schockierend, überraschend ist aber vor allem, wie intensiv in Deutschland festgehalten wurde an der Wunschvorstellung einer zumindest im Herzen guten Elite. Der frühere Außenminister Frank-Walter Steinmeier ist enttäuscht, der Historiker Eck- art Conze ist schockiert, Ex-Bundespräsident Richard von Weizsäcker über- rascht. Seit der Abschlussbericht einer Historikerkommission über das Wirken des Auswärtigen Amts während der Nazizeit bekannt geworden ist, hat das große Staunen eingesetzt. So viele Nazis, ausgerechnet bei denen? Die Diplomaten und Beamten wussten vom Holocaust? Und manche haben sogar mitgemacht? Ist ja kaum zu glauben, das hätten wir nicht ge- dacht. Oder doch? Die Historiker haben Belege dafür gefunden, dass Mit- arbeiter des Amtes an der Judenvernichtung beteiligt waren, und da sie als gute deutsche Beamte ihre Dienstreisen ordentlich abgerechnet und be- gründet haben, zum Beispiel ›Liquidation von Juden in Budapest‹, ist jetzt auch klar, dass alle Bescheid wussten, bis hin zum Buchhalter. Befremdlich daran ist eigentlich nur, dass es so lange gedauert hat, bis diese Belege aus den Archiven ans Licht geholt wurden, und dass die Illusion, es könnte dort, in diesem Amt, alles anders sein, nicht vorher schon geplatzt ist.« Für Maroldt, aber auch F.A.Z.-Herausgeber Frank Schirrmacher war der Befund aus diesem Dokument des Schreckens eindeutig und unzweifelhaft. Dieses kleine Quellenstück bewies, dass die NS-Staatsverbrechen und Massenmorde für die Funktionseliten in den, dem RSHA und der SS zu - arbeitenden, nachgeordneten bürokratischen Apparaten wie dem AA kein Staatsgeheimnis, sondern eine – zumindest intern – offen kommunizierte Tat- 400 Fallstudie: Funktionseliten und Rademachers Reise nach Belgrad 1941 sache sein mussten. Sie waren für den Geschäftsgang der Ministerialbürokratie jener Zeit augenscheinlich so »normal«, dass sie als Reisezweck auf eine einfa- che Reisekostenabrechnung gekritzelt werden konnten. Weitere Schlussfolge- rung: Der Kreis der beteiligten, wissenden – und mitverantwortlichen – Täter musste viel weiter gezogen werden, war viel umfangreicher als bislang an - genommen. Doch das Umfeld dieser scheinbar »offenen« und »unverhüllten« Reise-Be- gründung von Rademacher ist ein gänzlich anderer gewesen, als wir heute an- nehmen und die »Medien« im Herbst 2010 verbreitet haben. Zunächst einmal: Rademacher verfasste diese Reisekostenabrechnung nicht 1941 oder 1942, sondern erst im Frühjahr 1943, als er nach dem gescheiterten Putsch seines vertrauten Vorgesetzten, Unterstaatssekretär Martin Luther – der ver- haftet und ins KZ Sachsenhausen eingeliefert wurde – von dem »Sieger« Rib- bentrop gleichfalls seines Postens enthoben worden war.317 Rademacher wurde daraufhin im Frühjahr 1943 aufgefordert, vor dem Verlassen des Amtes alle noch offene Reisekostenabrechnungen nunmehr endlich bei der Rechnungs- stelle einzureichen, damit die Vorgänge buchhalterisch abgeschlossen werden könnten. Die hier präsentierte Reisekostenabrechnungen lasen – anders als die Jour- nalisten 2010 annahmen – im Amt damals nur zwei Mitarbeiter: der Sachbe- arbeiter in der Reisekostenstelle und der Mann in der Registratur, der sie zu den Akten nahm. Von großer Verbreitung keine Spur. Daraus zu schließen, dass der Massenmord zumindest in deutschen Behördenapparaten zu diesem Zeitpunkt bereits »Allgemeingut« gewesen sei, erlaubt diese Quelle de facto nicht. Es ist im Übrigen in dem ganzen riesigen Berg von Reisekostenabrech- nungen im Auswärtigen Amt die einzige, auf der das Wort »Liquidation« von Menschen auftaucht. Es gibt keine weitere. Es gibt auch nur noch eine einzige mit einem hochproblematischen, für uns heute sofort schwer kontaminierten Reiseziel, abermals aus der ominösen Deutschland-Abteilung. Kurze Zeit nach Rademachers Abgang reist Eberhard von Thadden nach – Theresienstadt. Wei- tere Hinweise auf das Zentrum der Staatsmorde gibt es auf Reisekostenab- rechnungen im Amt nicht. Die hier knapp referierten Gesichtspunkte scheinen allerdings im Amt-Band an keiner Stelle auf. Was hatte Rademacher zur »Angabe« seiner expliziten Reisegründe bewo- gen? War es die Alkoholbegleitung, von der Christopher Browning berichtet, mit der er sich über die Strafversetzung an die Front hinwegtrösten wollte und unter deren Einfluss er diese Belege am 17. April 1943 hergestellt hat? Wollte er dem Amt, das er nun verließ, um seinen Dienst als Marineoffizier anzu treten, Dienstreise-Antrag 1941: »Abschiebung von 8.000 Juden« 401

Der Antrag Rademachers für seine Dienstreise nach Belgrad vom 15. Oktober 1941, auf dem als Reisezweck vermerkt wird »Abschiebung von 8.000 Juden«. Zu diesem Zeitpunkt war das dort noch kein verbreche- rischer Euphemismus für die »Endlösung« gewesen, denn es ging in Belgrad noch nicht um Erschießungen durch die Einsatzgruppen oder Deportationen in die Todesfabriken. Rademacher allerdings fuhr nach Bel- grad, um – im Sinne seines Vorgesetzten Luther und auch von Adolf Eichmann im RSHA – die Abschiebung der 8.000 serbischen Juden zu konterkarieren und sie als Geiseln erschießen, bzw. »liquidieren« zu lassen. Dies war nicht durch eine Anweisung des Staatssekretärs von Weizsäcker gedeckt, sondern eine Kompe- tenzüberschreitung, die beiden eine Rüge eintrug (PA AA, Personalakte 11623 – Rademacher, Franz). 402 Fallstudie: Funktionseliten und Rademachers Reise nach Belgrad 1941

Faksimile der nachgereichten Reisekostenabrechnung von Franz Rademacher, bevor er, zur Marine straf- versetzt, im Frühjahr 1943 das AA verlassen musste. Kaum lesbar hatte er auf der zweiten Seite unten in der Rubrik »Art oder Gegenstand des Dienstgeschäfts« eingetragen: »Liquidation von Juden in Belgrad«. Dienstreise-Abrechnung 1943: »Liquidation von Juden in Belgrad« 403 404 Fallstudie: Funktionseliten und Rademachers Reise nach Belgrad 1941 ein vergiftetes Abschiedsgeschenk hinterlassen? War er, der nun wirklich prä- zise Kenntnis von allem hatte, was im RSHA von Eichmann und Co. an mas- senmörderischen Initiativen entfaltet wurde, schlicht schon so abgestumpft, dass er keine Hemmungen mehr kannte, weil die Staatsverbrechen ihm mitt- lerweile völlig »normal« erschienen? Das wissen wir nicht. Allerdings war Ra- demacher ein deutscher Beamter. Die »serielle« Ermordung der »deutschen Volksfeinde«, der Juden, Sinti und Roma, der Behinderten, der Homosexuel- len und – soweit sie ins Gas gehen mussten – auch der sowjetischen Kriegs- gefangenen lief, sofern sie in den Vernichtungslagern stattfand, ab Ende 1941 unter dem Siegel »Geheime Reichssache«, war also nicht ohne weiteres offen »auszuplaudern«, ohne sich in Gefahr zu bringen. Rademacher, der damals ge- rade selbst höchst gefährdet war, das Schicksal von Luther zu teilen, konnte an irgendwelchen Provokationen der bürokratischen Apparate, denen er nun gezwungenermaßen den Rücken kehren musste, überhaupt kein Interesse haben, Alkoholgenuss hin oder her. Weshalb war es dennoch nicht ungeschickt von ihm, noch 1943 auf eine zwei Jahre früher »wirksame« Reisekostenabrech- nung als Reisezweck »Liquidation von Juden« anzugeben? Und weshalb konnte er sicher sein, damit nicht gegen etwaige Geheimhaltungsvorschriften zu ver- stoßen? Rademacher wusste etwas, was die zeitgeschichtlichen Bearbeiter im 21. Jahrhundert nicht mehr so deutlich vor Augen stand, weder im Team der Unabhängigen Historikerkommission noch in den Redaktionsstuben, die al- lesamt diese Abrechnung als »Bild« und »Beweis« für die Gesamtthematik und die tiefe Verstrickung der ganzen Behörde heranzogen. Eigentlich war es einfach: Im Oktober 1941 gab es noch keine Deporta- tionen ins Gas. Es ging damals – man muss das wirklich wiederholen – im von deutschen Truppen besetzten Serbien nicht um die Liquidation von Juden durch Gas. Es ging in Belgrad auch nicht um die Liquidation durch Einsatz- gruppen, denn diese wüteten dort nicht. Es ging – in einer seltsamen Verkeh- rung der späteren Frontstellung – damals um Deportation, die Leben bedeutete oder Liquidation von Juden als Geiseln, die Tod bedeutete. Hätten die kommentierenden Journalisten und das Kommissions-Team Christopher Browning sorgfältig gelesen, hätte diese kleine – schon seit den frühen fünf- ziger Jahren durch F.A.Z. und SPIEGEL bekannt gemachte – Quelle nicht der deutschen Öffentlichkeit im Jahre 2010 als »bedeutsamer Überraschungs- fund« präsentiert werden können. Die Quelle steht für eine wichtige Etappe auf dem Weg nach Auschwitz, aber nicht für das schreckliche Endziel selbst. Und aus ihr lässt sich gerade nicht die angeblich weit verbreitete Kenntnis vom Völkermord als »halböffentliches Geheimnis« ableiten oder belegen. Fehldeutung von Quellen 405

»Die wahre Gefahr für Juden«, schreibt Christopher Browning in unserem Zusammenhang, »bestand zu diesem Zeitpunkt im Herbst 1941 in Jugosla- wien darin, sich in militärischen Kampfgebieten und damit zugleich Partisa- nen-Gebieten aufzuhalten, wo Wehrmacht und SD-Einheiten Juden als Geiseln oder unter dem Vorwand von Anti-Partisanen-Aktivitäten verhaften und erschießen konnten«.318 Feldmarschall Keitel hatte wegen der intensiven Partisanentätigkeit bereits am 19. September 1941 den Befehl erlassen, für jeden deutschen Soldaten, der von Partisanen getötet wurde, 50 bis 100 Kommunisten zu erschießen. Am 2. Oktober hatten Partisanen eine Gruppe deutscher Soldaten aus dem Hinterhalt überfallen und 21 von ihnen getötet und verstümmelt. Zwei Tage später befahl der Wehrmachtbefehlshaber in Serbien, Franz Böhme, Vergel- tungsmaßnahmen mit einer Quote von 1:100. Daraufhin wurden 2.100 Häft- linge aus den KZ Sabac und Belgrad, davon 50 Kommunisten und 2.050 Juden, erschossen. Rund 8.000 jüdische Männer waren zu diesem Zeitpunkt in Serbien registriert, ein Teil von ihnen bereits in Lagern interniert. Am 10. Oktober weitete Böhme, vom 16. September bis 2. Dezember 1941 Bevoll- mächtigter Kommandierender General in Serbien, den Befehl aus – ein kleines Beispiel für Radikalisierungsschübe durch lokale, regionale Entscheidungsträ- ger. Jetzt sollten auch für jeden verwundeten deutschen Soldaten 50 Geiseln erschossen werden. Nicht nur numerisch, auch inhaltlich weitete Böhme mit- hin Keitels Befehl aus, der sich ursprünglich explizit gegen Kommunisten ge- richtet hatte. Er begann jetzt damit, inhaftierte männliche Juden massiv mit in die Geisel-Erschießungen einzubeziehen.319 Hätte der Legationsrat Rademacher 1943 auf seine Abrechnung gekritzelt, was er ursprünglich als »Reisezweck« auf den Antrag für seine Dienstreise am 15. Oktober 1941 notiert hatte – »Abschiebung von 8.000 Juden« – oder hätte er noch etwas offener und deutlicher formuliert »Liquidation von Geiseln in Belgrad«, vielleicht sogar noch konkreter »Liquidation von jüdischen Geiseln zur Partisanenbekämpfung«, keine deutsche Zeitung hätte im Herbst 2010 diese Quelle als Faksimile gedruckt, schon gar nicht auf ihrer Titelseite. Sie hätte dann ja auch verdeutlichen müssen, dass die Episode der 8.000 männ- lichen Juden aus Serbien komplizierter war – und dass hinter den Kulissen ein seltsamer Kampf um das Schicksal dieser Menschen entbrannt war. Ausgerechnet der Leiter der deutschen Militärverwaltung in Serbien, Dr. Harald Turner, zugleich SS-Gruppenführer, versuchte dem Wehrmachtbe- fehlshaber Böhme in den Arm zu fallen und die 8.000 Juden durch Abschie- bung nach Rumänien vor der Geiselerschießung zu bewahren. Weil Rumänien 406 Fallstudie: Funktionseliten und Rademachers Reise nach Belgrad 1941

damals außerhalb der deutschen Kontrolle lag, setzte er sich mit den beiden Bevollmächtigten des Reichsaußenministers Ribbentrop vor Ort, mit Felix Benzler und Edmund Veesenmayer in Verbindung – Legationsrat Feine blieb außen vor. Beide votierten zwar »für rasche und drakonische Erledigung ser- bischer Judenfrage« und erbaten »von Herrn RAM entsprechende Weisung, um beim Militärbefehlshaber Serbien mit äußerstem Nachdruck wirken zu können«.320 Benzler, ein Karrierediplomat, war nach dem Ausbruch des hefti- gen Partisanenkrieges 1941 der Auffassung, der Kampf gegen serbische Na- tionalisten müsse dem Kampf gegen Kommunisten untergeordnet werden. Nicht der Rassenwahn motivierte Benzler im Übrigen, sondern die enge Ko- operation von Kommunisten, Juden und bei Patisanenangriffen lautlos mit dem Messer tötenden »Zigeunern« im Kampf gegen die deutschen Besatzer. Veesenmayer und er telegraphieren deshalb nach Berlin: »Nachweislich haben sich bei zahlreichen Sabotage- und Aufruhrakten Juden als Mittäter herausgestellt. Es ist daher dringend geboten, nunmehr beschleunigt für Sicherstellung und Entfernung zumindest aller männli- chen Juden zu sorgen. Die hierfür in Frage kommende Zahl dürfte etwa 8.000 betragen. Als Sofortmaßnahme habe ich schärfstes Vorgehen gegen ergriffene Kommunisten sowie allgemein gegen Juden und Zigeuner ge- fordert, die einwandfrei mit Kommunisten zusammenarbeiten. Erbitte hierzu Entscheidung, ob Abtransport der Juden donauabwärts oder nach dem Generalgouvernement erfolgen kann«.321 Schärfste drakonische Maßnahmen bedeuteten für Benzler allerdings zu die- Die partielle Kooperation zwischen RSHA und AA nimmt Formen an 407

Täter, die im Auswärtigen Amt zusammenwirkten: der Gesandte Edmund Veesenmayer, Unterstaats - se kretär Martin Luther und Legationsrat Franz Rade macher (v.l.n.r.). sem Zeitpunkt noch nicht unverzügliche Ermordung, weder durch Erschießen noch durch Deportation in die Todesfabriken, die es im Übrigen damals noch nicht gab. Doch im AA war man uneins, wie man konkret mit den 8.000 inhaftierten serbischen Juden verfahren solle. Nicht zuletzt mit Blick auf die Auswirkungen auf die deutsch-rumänischen Beziehungen hielten manche wie Luther diese Deportation der serbischen Juden nach Rumänien nicht für opportun. Rib- bentrop beauftragte ihn allerdings, in Abstimmung mit Himmler und der SS zu prüfen, ob die Juden nicht an einen anderen Ort geschickt werden könn - ten.322 Luther nimmt Kontakt zu Heydrich auf und lässt Rademacher in sei- nem Beisein mit Eichmann telefonieren, der barsch erklärt, »dass die Militärs für Ordnung in Serbien verantwortlich seien und aufständische Juden eben erschießen müssten« 323 – eine brutale Einstellung, die Luther im Gegensatz zu Ribbentrop, Benzler und Veesenmayer zu diesem Zeitpunkt bereits teilt. Daraufhin bekommt Rademacher von Luther den Auftrag, nach Belgrad zu reisen und – wie er später resümierte – »an Ort und Stelle zu prüfen, ob nicht das Problem der 8.000 jüdischen Hetzer, deren Abschiebung von der Gesandtschaft gefordert wurde, an Ort und Stelle erledigt werden könne«.324 Mit anderen Worten: Er sollte dort die Liquidation der Juden als Geiseln durchsetzen, um den »lästigen« amtsinternen Disput zu beenden. Eine Wei- sung, die Luther eigenmächtig erteilt hatte und die – so jedenfalls Browning – »in Widerspruch zu den Richtlinien seines Vorgesetzten und der Empfeh- lung der Vertreter des Auswärtigen Amtes vor Ort standen«.325 Rademacher 408 Fallstudie: Funktionseliten und Rademachers Reise nach Belgrad 1941 macht sich in Begleitung von SS-Untersturmführer (i.e. Leutnant) Franz Stuschka und SS-Sturmbannführer (i.e. Major) Friedrich Suhr aus dem RSHA, die beide den ursprünglich für die Reise vorgesehenen Eichmann ver- treten sollen, auf den Weg. Schon bald kann er noch aus Belgrad ganz im Sinne seines unmittelbaren Vorgesetzten Luther – und im Sinne Eichmanns – nach Berlin berichten: »Die männlichen Juden sind Ende dieser Woche er- schossen, damit ist das in dem Bericht der Gesandtschaft angeschnittene Pro- blem erledigt«.326 Turner hatte resigniert. Himmler ersetzte ihn durch den Höheren SS- und Polizei-Führer August Edler von Meyszner. Die 20.000 jü- dischen Frauen, Kinder und Alten – die die vier Einsatzgruppen hinter der Ostfront längst schon auf Anweisung Himmlers zu ermorden begonnen hatten – wurden in Serbien damals noch verschont. Sie wurden erst später, in der ersten Jahreshälfte 1942, von SS-Einsatzkommandos erschossen. Ein in der Tat komplexer Sachverhalt mit teilweise ungewöhnlicher Front- stellung enthüllt sich, von einem monolithisch geschlossen handelnden AA keine Spur. Vom Ablauf her schwer zu verknappen, schwer zu präsentieren. Eine auch nur annähernd differenzierte Darstellung hätte im Jahre 2010 die Mehrzahl deutscher Journalisten und Zeitungsleser vermutlich überfordert. Sie hat aber offenbar auch die Historikerkommission überfordert. Turner be- gegnet uns dort ausschließlich als Hauptverantwortlicher für eine »mit größter Brutalität geführte Partisanenbekämpfung«. Benzlers Aktivitäten werden – völlig konträr zu Browning, aber passend zum Duktus des Kommissionsbe- richts, der vielfach Vertreter des AA als Antreiber der mörderischen Entwick- lung bis zum Holocaust präsentiert – als diejenigen eines Mannes vorgestellt, der zwar wenig zu sagen hat, aber »das Thema als Vorwand nimmt, um in Berlin auf die Durchführung antijüdischer Maßnahmen zu drängen«.327 Und im Amt-Band folgt unmittelbar im Anschluss an den oben auszugsweise zitier - ten Rademacher-Bericht die weit übers Ziel hinausschießende Wertung: »Es kann also kein Zweifel bestehen, dass die Konturen der ›Endlösung‹ bereits vor der Wannsee-Konferenz im AA bekannt waren«.328 Fundamental anders und völlig konträr zum Kommissionsbericht bewertet Browning das Ge schehen: »Die Massaker von Belgrad waren noch kein zwingender Beweis für das AA, dass es ein Rassenvernichtungsprogramm gab. Sie markierten allerdings einen Wendepunkt für das Amt. Fast ein Jahr lang hatte die SS ihre eigene Judenpolitik betrieben und das AA fast vollständig umgangen, selbst wenn dies zu außenpolitischen Komplikationen führte. Auch wenn der Ausschluss des AA zum Teil daran lag, dass Luther und Heydrich sich persönlich nicht verstanden, waren die wichtigsten Ursachen andere: SS-Mitglieder im Keine Spur von einem homogenen Auswärtigen Amt 409

RSHA waren der Ansicht, dem AA fehle es an der nötigen nationalsozia- listischen ›Härte‹ und sie waren traditionell nicht gewillt, irgendwelche Zu- ständigkeiten abzugeben. In Serbien war die SS jedoch nicht mächtig genug, um die ›Judenfrage‹ selbständig zu lösen. Als Luther dann tatsächlich endlich die nötige Härte erkennen ließ und unaufgefordert direkt zu Hey- drich ging und um Unterstützung bat, das Militär zur Erschießung der ser- bischen Juden zu zwingen, entstand in der ›Judenfrage‹ ein Band der Zusammenarbeit zwischen SS/RSHA und AA. Luthers Entscheidung hatte weitreichende Folgen. Von unten hatte Benzler nur darauf gedrängt, die Juden aus Serbien zu deportieren. Von oben hatte Ribbentrop Luther ge- beten, mit der SS Kontakt aufzunehmen und zu prüfen, ob die Juden nicht an einen anderen Ort geschickt werden könnten. Luther erlag jedoch nicht dem Druck von anderen, sondern gestaltete eine Politik in Widerspruch zu den Richtlinien seines unmittelbaren Vorgesetzten und der Empfehlung des Vertreters des AA vor Ort«. Luther und über ihm auch Benzler erhielten deshalb eine förmliche Rüge von Weizsäcker. Der Staatssekretär ließ beide unmissverständlich wissen, »es gehe über ihre Aufgabe oder Zuständigkeit hinaus, sich aktiv darin einzumischen, wie die zuständigen militärischen und inneren Behörden mit der Judenfrage innerhalb der Grenzen Serbiens fertig würden«.329 Der Befund ist komplex. Anders als der Kommissionsbericht nahelegt, findet sich keine Spur eines ho- mogen agierenden AA. Von einer einheitlichen Vorreiterrolle der Behörde in der antisemitischen Verfolgungspolitik kann tatsächlich keine Rede sein.330 Sicher, das ist nur ein winziger, rudimentärer Ausschnitt aus dem kom - plexen Alltag der Kompetenzkämpfe, des Rassenwahns und der darin verzahn- ten Reichs- und Militärbürokratien, der uns hier entgegentritt. Zugleich ist es ein kleines Beispiel für die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung hin zum Massenmord. Während im Osten die Massaker der Einsatzgruppen an jüdi- schen Männern, Frauen und Kindern schon seit mehreren Monaten stattfan- den, wurde in Serbien intern auf deutscher Seite noch über die Deportation jüdischer Männer oder ihre Erschießung als Geiseln »verhandelt«, bzw. ge- stritten. Die letzte Etappe bis zum umfassenden Massenmord war hier noch nicht erreicht. Allerdings ist die Erschießung von Juden als Geiseln neben der Euthanasie-T-4-Aktion eine weitere – bislang kaum wahrgenommene – Brücke in den Massenmord. Auch in Frankreich steht am Anfang der Staatsmassen- morde im März 1942 die Deportation von 1.000 Juden als Geiseln nach Auschwitz – eben jene »polizeilich behandelten«, d.h. also nicht »normalen« Juden, bei denen Eichmann – wie wir im Weizsäcker-Kapitel gesehen haben – 410 Fallstudie: Funktionseliten und Rademachers Reise nach Belgrad 1941 noch beim Auswärtigen Amt ausdrücklich nachfragt, ob gegen ihren Transport nach Auschwitz Einwände vorgebracht würden. Zu diesem Zeitpunkt lagen im Amt, jedenfalls in der Spitze, präzise Kenntnisse über den längst schon be- gonnenen Massenmord durch die Einsatzgruppen vor. Das war aber im Ok- tober 1941 noch nicht der Fall gewesen. Weshalb hätte Ribbentrop sonst Luther beauftragt, zusammen mit der SS zu prüfen, ob die serbischen Juden nicht an einen anderen Ort geschickt werden könnten, wenn Rumänien dafür nicht in Betracht komme? 331 Allein durch dieses kleine Detail wird die zentrale Behauptung aus dem Kommissionsbericht widerlegt, das Amt sei »von Anfang an über die deut- schen Verbrechen in dem 1939 begonnenen Eroberungs- und Vernichtungs- krieg umfassend informiert« gewesen und habe in dem gesamten Prozess eine wesentliche, die massenmörderische Entwicklung energisch vorantreibende Rolle gespielt. Die Schlüsselpassage dazu, die uns ohne jeden Quellenbeleg vorgetragen wird, lautet im Kommissionsbericht: »An der Entscheidung über die ›Endlösung‹ war die Spitze des Auswärtigen Amtes direkt beteiligt. Das Schicksal der deutschen Juden wurde am 17. September 1941 besiegelt: An diesem Tag fand ein Treffen Hitlers mit Rib- bentrop statt. Dem Treffen unmittelbar voraus ging Hitlers Anordnung, die soeben durch den Judenstern gekennzeichneten deutschen Juden in den Osten zu deportieren. Was im Zusammenhang mit dem Madagaskar-Plan bereits erkennbar gewesen war, setzte sich nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 fort: Das Auswärtige Amt ergriff die Ini- tiative zur Lösung der ›Judenfrage‹ auf europäischer Ebene.« 332 Weshalb sollte Ribbentrop gemeinsam mit Hitler das tödliche Schicksal der deutschen Juden Mitte September 1941 »besiegeln«, um vier Wochen später serbische Juden vor der Erschießung als Geiseln bewahren zu wollen? Weshalb sollte Ribbentrop das Schicksal der europäischen Juden besiegeln, das doch auf Territorien im Osten »besiegelt« wurde, wo das Auswärtige Amt kaum über nennenswerte Einfluss- und Mitwirkungsmöglichkeiten verfügte? Nein, diese »These« des Berichts wird durch die Quellen nicht gedeckt.333 Von den Massenerschießungen durch die Einsatzgruppen jedoch hatte Rib- bentrop zweifelsfrei Kenntnis erhalten. Aber das ist zugleich ein weiteres wich- tiges Quellen-Indiz, das gegen die in Das Amt verbreitete Version spricht: Nicht bereits nach dem angeblichen, für den Holocaust »entscheidenden Spit- zen-Treffen« zwischen Hitler und Ribbentrop am 17. September, sondern erst nach der oben ausführlich beschriebenen Annäherung zwischen Luther und Heydrich, also volle sieben Wochen später – im November 1941 – erhielten Eine Verabredung Hitlers mit Ribbentop zum Massenmord gab es nicht 411 der Reichsaußenminister und die Spitze das AA unzweifelhafte Belege über den sich seit Juni 1941 hinter der Ostfront immer weiter ausbreitenden Mas- senmord.334 Erst jetzt und eben nicht von Anfang an wurde das AA in den Verteiler des RSHA einbezogen, dessen Berichte unzweideutig die hundert- tausendfachen Massenerschießungen der Einsatzgruppen belegten. Dieser Befund wird gestützt durch die weitere Quellenlage – die dem Team der Kommission allerdings offenbar nachhaltig verborgen geblieben ist, nach- dem man sich einmal auf die These von der »Hauptmitverantwortung« des Auswärtigen Amtes an den deutschen Staatsmorden festgelegt hatte und seit- her offenbar – über das Erscheinen der Taschenbuchausgabe 2012 hinaus – unbeirrt daran festzuhalten gedenkt. Andreas Hillgruber hat schon 1965 in seinem Band Hitlers Strategie ein durchaus hilfreiches Itinerar über die Besprechungs-Termine Hitlers mit der militärischen und politischen Führung zwischen dem 1. September 1939 und dem 31. Dezember 1941 zusammengestellt. Tatsächlich wird in dieser Ter- minübersicht für den 17. September 1941 ein Treffen Hitlers mit Ribbentrop aufgeführt. Allerdings – anders als uns die Autoren im Amt-Band glauben machen wollen – nicht mit Ribbentrop allein. Denn für diesen Nachmittag im Führerhauptquartier vermerkt der Kalender: »Raeder, Keitel, Jodl, Dönitz, Ribbentrop«.335 In exakt dieser Reihenfolge, die – da die alphabetische Abfolge bewusst aufgelöst wurde – als Rangfolge zu werten und zu lesen ist. Der Reichsaußenminister wird erst ganz am Schluss genannt. Diese »Reihenfolge« entspricht der Bedeutung der Beteiligten für die in dieser »Führerbesprechung« zu behandelnde Thematik. Raeder, verantwortlich für die Kriegsmarine, steht an erster Stelle. Ribbentrop steht an der letzten. Vor ihm rangiert sogar noch Dönitz, rangmäßig als Vizeadmiral unter dem Minister stehend, aber zuständig für die U-Boot-Waffe. Es ging an diesem Nachmittag überhaupt nicht um die Ermordung der europäischen Juden, um die »Verabredung der Endlösung« zwischen Hitler und Ribbentrop. Worum es tatsächlich ging, können wir dem Bericht Werner Koeppens aus dem Füh- rerhauptquartier an den abwesenden Minister für die besetzten Ostgebiete, Alfred Rosenberg, entnehmen. Rosenberg war ein langjähriger Rivale Ribben- trops und verfolgte jeden Schritt seines Konkurrenten voll Misstrauen. Koep- pen war bekanntlich als sein »Beobachter« im Führerhauptquartier abgestellt und hatte klare Anweisung, ihn über die Schachzüge des verachteten Neben- buhlers bei Hitler zu unterrichten. Er vermeldet für den 17. September 1941: »Nachmittags war der Reichsaußenminister mit Großadmiral Raeder und dem Chef der U-Bootwaffe Dönitz beim Führer, um die durch die ameri- 412 Fallstudie: Funktionseliten und Rademachers Reise nach Belgrad 1941

kanische Erklärung über den bewaffneten Geleitschutz nach Island ent- standene Lage und sich daraus ergebende Folgerungen für den Krieg im Atlantik zu besprechen. Abendtafel: 17.9. – Gäste: Chef der U-Bootwaffe Dönitz. Infolge der großen Zahl der Gäste von der Marine im Führerhaupt- quartier war ich während des Abendessens für Raum 2 eingeteilt«.336 Tatsächlich dürfte sich wegen dieser Quellenbelege eine der Kern-Thesen der Kommission in Luft auflösen. Tatsächlich wurde Hitler an diesem 17. Sep- tember von einer ganz anderen Frage als der Ermordung der europäischen oder der deutschen Juden »umgetrieben«: Von der Frage, wie damit umzuge- hen war, dass die deutsche U-Boot-Waffe bei der Verfolgung und Torpedierung alliierter Geleitzüge vor Island nach der Ablösung der Briten durch die Ame- rikaner zunehmend Gefahr lief, amerikanische Schiffe zu versenken – ohne dass sich das Reich mit den Vereinigten Staaten im Kriegszustand befand. Es drohte entweder eine Ausweitung des Krieges zum »Weltkrieg«, an der Hitler zu diesem Zeitpunkt noch kein Interesse hatte oder diplomatische Verwick- lungen, weshalb Ribbentrop hinzugezogen worden war. Der anschließend aber nicht zum Abendessen mit dem »Führer« hinzu gebeten wurde. Das war, wie Koeppen »seinen« Minister Rosenberg wissen lässt, nur beim Hauptbeteilig- ten, bei Dönitz der Fall gewesen. Deshalb war es auch nicht so gravierend, dass Koeppen in »Raum 2« und nicht in der Führer-Runde in »Raum 1« essen und Hitlers Tischgespräche folglich nicht unmittelbar folgen und sie hinterher wiedergeben konnte. Der »Rivale« Ribbentrop war ja schon wieder weg. Es ist kein Ruhmesblatt für die Zunft der deutschen Historiker, dass all das, was hier wiedergegeben wurde, weder den vier Professoren und ihrem Autoren- team noch den Fachkollegen aufgefallen ist, sondern es ein Außenseiter wie Stephan Scheil in seiner im Frühjahr 2013 vorgelegten Studie »Ribbentrop – oder: Die Verlockung des nationalen Aufbruchs« war, der diese Puzzlesteine als Erster aus bereits seit langem in gedruckter Form vorliegenden Dokumen- ten zusammengefügt hat.337 Die Quellenlage unterfüttert wirksam unsere oben dargelegte Position: Erst nachdem Teile des Amtes sich als verlässlich und kooperativ erwiesen hatten in der hier geschilderten Episode, die so etwas wie ein Testlauf gewesen war, hatte unter dem Datum vom 30. Oktober Heydrich Gestapo-Chef Müller den Befehl erteilt, die ersten fünf Tätigkeits- und Lageberichte der Einsatzgrup- pen der Sicherheitspolizei und des SD in der UdSSR an Ribbentrop übermitteln zu lassen. Erst am 11. November lagen sie den Mitarbeitern des Reichsaußen- ministers vor, welche sie auf dem Postwege an die in die Rauchstraße ausge- lagerte Abteilung D III weiterleiteten. Luther zeichnete den Eingang am 17. Erst ab Ende November 1941 kursieren die Einsatzgruppenberichte 413

November ab, Rademacher am folgenden Tage. Luther selbst erstellte anschlie- ßend eine korrekte Zusammenfassung der Hinrichtungs- und Tötungszahlen, die zunächst noch Partisanen, Kommunisten, Juden und »Zigeuner« ver- mischte und leitete diese – vermutlich ging es ihm dabei mehr um Rücken- deckung für seine Position als um eine Kontaminierung des gesamten Amtes – an Staatssekretär von Weizsäcker weiter, der sie abzeichnete und Ribbentrop übermittelte.338 Erst von diesem Zeitpunkt also kann man, gestützt auf die Quellen, von einer beginnenden Unterrichtung sprechen. Das Auswärtige Amt war eben nicht der »von Anfang an vollumfänglich informierte« Motor der Endlösungsmaschinerie,339 sondern ein Seitenwagen, den die SS erst jetzt anzukoppeln begann und dann auch bald schon wieder links liegen lassen würde. Besser gesagt: Er wurde immer dann wieder angekoppelt, wenn es für das RSHA »Sinn« machte, etwa im Falle der Slowakei oder noch später 1944, im Fall der letzten großen Deportationswelle der ungarischen Juden durch das Sonderkommando Eichmann in Budapest. Seit Ende November 1941 kursierten die Einsatzgruppenberichte über einen größeren Verteiler im Amt; es soll bis zu 100 Abschriften gegeben haben. Mit Beginn dieser Übermittlung ab Mitte November 1941 erhielt damit min- destens die Gruppe der Führungselite im AA, angefangen von Ribbentrop über Staatssekretär von Weizsäcker und 14 Abteilungsleiter bis hin zur Rund- funk- und Propagandaabteilung unzweifelhafte Kenntnis von den Massener- schießungen im Osten, während die letzte Phase der »Endlösung«, die Deportation in die Todeslager und Gasfabriken tatsächlich mit »größerer Ge- heimhaltung behandelt werden« sollte.340 Wie verhielten sich die deutschen Diplomaten, die zumindest rudimentäre Kenntnisse von dem massenmörderischen Geschehen hatten? Im Kommissi- onsbericht steht dazu wörtlich: »Obwohl die meisten Diplomaten über ein Wissen und eine Weitsicht ver- fügten, die unter humanitären Gesichtspunkten die Niederlegung ihres Amtes nahegelegt hätten, harrten sie ausnahmslos auf ihren Posten aus, bis sie entweder abgelöst wurden, zur Flucht gezwungen waren oder aber in Ge- fangenschaft gerieten. Es war auch diese pervertierte Pflichterfüllung, die den Fortbestand der meisten deutschen Besatzungsverwaltungen bis zum Kriegs- ende sicherte und der Verfolgung und Ermordung der einheimischen Bevöl- kerung, darunter Millionen Juden, bis zuletzt Vorschub leistete.« 341 Diese kleine Passage ist ein Musterbeispiel für denunziatorische und inquisi- torische Geschichtsschreibung, denn sie enthält eine Fülle von unbewiesenen Behauptungen, Anschuldigungen und Unterstellungen. Wieso verfügten die 414 Fallstudie: Funktionseliten und Rademachers Reise nach Belgrad 1941 deutschen Diplomaten über besondere Weitsicht, wie sie ihnen hier pauschal und unisono zugesprochen wird? Die Kommission schliesst immer wieder aus dem Wissen und der Information Einzelner oder auch einer Führungsgruppe auf allgemeines, kollektives Wissen des gesamten Amtes, ohne dafür Belege zu liefern. Geheimhaltungsbestimmungen erscheinen ebenso bedeutungslos wie die unerbittliche Verfolgung und die drakonischen Strafen für Geheim- nisverrat durch Gestapo und Gerichte. Der »Völkermord im Osten« war »Ge- heime Reichssache«. Wer darüber sprach, konnte wegen »Gräuelpropaganda« oder »Volksverhetzung« ins Zuchthaus kommen, ins KZ geworfen oder zum Tode verurteilt werden. Es gab eine ganze Reihe von Führer-Erlassen, die sich der Behandlung von »Verschluss-Sachen« widmeten und die Wahrung von Staatsgeheimnissen eindringlich vorschrieben.342 Aus der Übermittlung eines als »Geheim« klassifizierten Dokumentes an einen Angehörigen im Amt kann daher – anders als es der Kommissionsbericht insinuiert – nicht von vornhe- rein und automatisch auf die Kenntnis der ganzen Abteilung oder Unterab- teilung geschlossen werden. Aber bleiben wir bei der zitierten Passage: Wieso werden die Diplomaten plötzlich zu entscheidenden Stützen der Besatzungsherrschaft gemacht? Waren nicht die Wehrmacht, die SS um ein Vielfaches bedeutsamer, entscheidender? Was hier verachtungsvoll »pervertierte Pflichterfüllung« genannt wird, stellte überdies für viele in jener Zeit ein tragisches Dilemma dar: Ihr Land befand sich im Krieg, den die von Goebbels gelenkte Propaganda als »Verteidigungs- krieg«, als präventiven Verteidigungskrieg »verkaufte« und sie dienten einer Führung, die sich immer stärker als verbrecherisch enthüllte. Rücktritte, die im Kommissionsbericht leichthin gefordert werden, waren von Hitler in den letzten Kriegsjahren nicht ohne Grund ausdrücklich verboten und Versetzungs- gesuche massiv erschwert worden. Überdies: Wieso gehen die Verfasser davon aus, dass Rücktritte, noch dazu kollektive Rücktritte, ohne jede Konsequenz bleiben und nicht doch vom Regime hart sanktioniert werden würden? Hinzu kommt, dass sich der Status der deutschen Diplomaten in den Kriegsjahren weiter zum Negativen hin entwickelt hatte.Von einer Machtelite konnte keine Rede mehr sein und von einer traditionellen gesellschaftlichen Elite auch nicht. Dem Amt war der »Lebensnerv« gezogen, die »eigentliche Verantwortung für die wichtigeren politischen Fragen«, wie Ernst von Weizsäcker schon 1938 fest- gestellt hatte. Nein, die deutschen Diplomaten haben nicht zum Krieg getrie- ben und gedrängt. Aber sie haben daran mitgewirkt, dass Hitler die Möglichkeit eröffnet wurde, den Krieg vorzubereiten und ihn zu entfesseln. Und viele von ihnen waren darüber hinaus verstrickt in die Verbrechen des Regimes.343 Widerstand im AA: »Und ihrer aller wartete der Strick …« 415

Mit dem Weihwasser des Opportunismus, nicht mit dem der Zivilcourage oder des Heldenmutes werden Diplomaten bei Dienstantritt getauft – weltweit, nicht allein in Deutschland. Die Vertreter der Kirchen haben demgegenüber größere Zivilcourage bewiesen und einen größeren Blutzoll entrichtet. Allein in Dachau starben nach amerikanischen Quellen – worauf schon Hans Roth- fels kurz nach dem Krieg hingewiesen hat – 800 katholische Priester und 300 bis 400 evangelische Geistliche.344 Allerdings sind in keiner anderen Behörde des Reiches in der Endphase des Krieges so viele als Gegner des Regimes ver- haftet, gefoltert, vor den Volksgerichtshof gezerrt, verurteilt worden, haben als Schlüsselfiguren des nicht-militärischen Widerstands ihr Leben verloren wie im AA – zu erinnern ist noch einmal an Albrecht Graf von Bernstorff, Eduard Brücklmeier, Herbert Gollnow, Hans Bernd von Haeften, Ulrich von Hassell, Otto Kiep, Richard Kuenzer, Hans Litter, Rudolf von Scheliha, Fried- rich-Werner Graf von der Schulenburg, Herbert Mumm von Schwarzenstein (und mit ihm Nikolaus von Halem) oder Adam von Trott zu Solz. Sechs der Hingerichteten waren Pg gewesen, was die geringe Aussagekraft der Partei- mitgliedschaft als Bewertungskriterium unterstreicht. Gewiss, die Liste umfasst auch Namen von Männern, die nur kurz im Amt Dienst taten wie Hans Litter. Oder die wie Richard Kuenzer oder Albrecht Graf von Bernstorff das Amt schon 1926, bzw. 1933 verlassen hatten. Aber die Liste ist immer noch unvollständig. Ilse Stöbe, die Sekretärin Rudolf von Schelihas beispielsweise, die mit ihm 1942 zum Tode verurteilt und hinge- richtet worden ist, hat – bislang – keine Aufnahme gefunden, vermutlich weil sie für Stalins UdSSR, den anderen totalitären Diktator und dessen kommu- nistisches Regime, spioniert hatte. Die Liste der Verhafteten aus diesem »Amt« ist weit länger – und auch die Liste derjenigen, die an den verschiedensten Orten wie Theodor Auer, Gerhart Feine, Franz Josef Furtwängler, Reinhard Henschel, Albrecht von Kessel, Fritz Kolbe, Erich und Theo Kordt, Otto von Strahl oder Johannes Ullrich der rassenmörderischen ersten deutschen Dik - tatur mindestens Hindernisse in den Weg zu legen versucht hatten. Hans Bernd von Haeften war es, dessen in seinem Mut, seiner Zivilcourage im Rückblick kaum fasslicher Ausruf vor Freislers Gerichtshof am 15. August 1944, der »Führer ist für mich die Vollstreckung des Bösen in der Geschichte« in der Spitze des Regimes einschlug wie eine Bombe – im Goebbels-Tagebuch tau- chen die Worte, wie bereits erwähnt, mehrfach auf.345 Der selbst zum Tode verurteilte Albrecht Haushofer, der lange Monate in Berlin-Moabit im Zellengefängnis Lehrter Straße eingekerkert und kurz vor Kriegsende im April 1945 beim Marsch zum Prinz-Albrecht-Palais von SS- 416 Fallstudie: Funktionseliten und Rademachers Reise nach Belgrad 1941

Männern erschossen worden war, hatte in seiner Manteltasche 80 Gedichte dabei, die unmittelbar nach Kriegsende in einem kleinen Büchlein als »Moa- biter Sonette« publiziert worden sind. In dem »Gefährten« betitelten heißt es: »Als ich in dumpfes Träumen heut versank, / sah ich die ganze Schar vorü- berziehn: / Die Yorck und Moltke, Schulenburg, Schwerin, / die Hassell, Popitz, Helfferich und Planck. / Nicht einer, der des eignen Vorteils dachte, / nicht einer, der gefühlten Pflichten bar, / in Glanz und Macht, in tödlicher Gefahr, / nicht um des Volkes Leben sorgend wachte. / Den Weggefährten gilt ein langer Blick: / Sie hatten alle Geist und Rang und Namen, / die gleichen Ziels in diese Zelle kamen – / und ihrer aller wartete der Strick. / Es gibt wohl Zeiten, die der Irrsinn lenkt, / dann sind’s die besten Köpfe, die man henkt.« Die Zeit, in welcher diese Zeilen zu Papier gebracht wurden, scheint im Kom- missionsbericht nicht auf. Aber auch der Blick auf die Nachkriegszeit und die neu entstehende Bundesrepublik wirkt seltsam eingetrübt. Lothar Gall hat 2004 in seinem Vortrag über Deutsche Eliten und deren Verstrickungen im Dritten Reich am Beispiel von Hermann Josef Abs und Theodor Schieder die These vertreten, dass gerade das Wissen um die eigene Schuld bei allem Verschweigen und Verdrängen nach außen hin eine umso festere Basis für die westdeutsche Nachkriegsdemokratie abgegeben habe.346 Von einer solchen Betrachtung sind Joschka Fischer, die Kommissionsmitglieder und ihre Autoren des Amt-Bandes meilenweit entfernt. Dort wird von einer »schleichenden Restauration des Auswärtigen Dienstes« gesprochen.347 Es wird so getan, als ob nach 1945 na- tionalistisch aufgeladene, schwer belastete Seilschaften das neue Auswärtige Amt der Bundesrepublik usurpiert und ihre ganz spezielle »Elitenkontinuität« gesichert hätten.348 Da wabert es von Rechtsruck, wofür der Aufstieg der NPD und die – das ist den Autoren offenbar entgangen – von östlichen Geheim- diensten initiierten Hakenkreuzschmierereien als Belege herhalten müssen.349 Eigentlich alle für die Außenpolitik der Bundesrepublik Verantwortlichen vom Pg Carstens über den Pg Scheel und den Pg Genscher bis hin zu Willy Brandt und Egon Bahr werden »abgewatscht«, weil sie in ihrem Laden nicht ordent- lich Remedur geschaffen und Leute wie Franz Nüßlein oder den – großartig- aufrecht-knorrigen – Erwin Wickert nicht für alle Zeiten aus dem heiligen Arkanum der deutschen Außenpolitik verbannt haben. Auch wenn es im Band »pro forma« abgestritten wird, Pg ist in ihm fast durchweg, zumindest unterschwellig, ein vergiftetes Etikett. Die wichtige Dif- ferenzierung zwischen Zugehörigkeitstäterschaft und Verhaltenstäterschaft bleibt den Autoren gänzlich fremd. Vor Joschka Fischer und der rot-grünen Nach 1945: Elitenkontinuität Ja, aber keine ideologische Kontinuität 417

Von den Nationalsozialisten ermordet: Albrecht Haushofer (1903–1945)

Bundesregierung gab es keine Regierung, die wirklich konsequent gegen den alten Geist im AA durchgegriffen hat? Diesen Schluss legen die Autoren jedem mit der Materie wenig vertrauten Leser nahe. Soviel »Eliten-Bashing« mit me- dialer Trompetenbegleitung war selten im Lande vor dieser Diplomatenjagd. Sieht man einmal von der Politik ab, hat es tatsächlich nach 1945 in den drei westlichen Besatzungszonen und der frühen Bundesrepublik – wohl fast zwangsläufig, aus Mangel an Alternativen, weil hier, anders als in der SBZ, wo ein tiefgreifender, durchaus gewaltsam-blutiger Wechsel der Machteliten stattfand – eine nicht unbeträchtliche personelle Kontinuität auf vielen Ebe- nen der Funktionseliten gegeben. Im Bereich der öffentlichen Verwaltungen, im Justiz- und Wissenschaftsbereich gab es Seilschaften, Persilscheine, Netz- werke, Ver- und Beschweigekartelle, war die Elitenkontinuität ausgeprägt.350 Aber: Sieht man von Herbert Müller-Roschach ab, der für wenige Monate Rademachers Assistent gewesen war, bevor er sich an die Front versetzen ließ, schaffte es keiner der im AA mit Judenfragen Befassten nach 1950/51 ins neue Amt, auch nicht Karl Klingenfuß, obwohl der 1943 um seine Versetzung ge- beten hatte, als er erkannte, welch mörderischem Apparat im RSHA sein Re- ferat D III zuarbeitete. Dass diese Episode und Klingenfuß’ Versetzung im Amt-Buch fehlt, versteht sich fast von selbst, denn in diesem Band dominiert Geschichtspolitik die Wissenschaft. 418 Fallstudie: Funktionseliten und Rademachers Reise nach Belgrad 1941

Eine ideologische Kontinuität hat es nach 1945 nicht gegeben. Die NS- Weltanschauung war mit dem Reich untergegangen, sieht man einmal von der marginalen, dennoch Anfang der fünfziger Jahre verbotenen SRP Otto Ernst Remers und ideologischen Versatzstücken innerhalb der ebenfalls mehr oder minder marginalen NPD ab. Dazu war das Erschrecken über das Schei- tern der ersten Republik und den Zivilisationsbruch im Dritten Reich zu tief, zu nachhaltig. Die doppelte Verneinung des »Nie wieder Weimar, nie wieder Hitler« ist tief eingraviert worden in die Statik der Bundesrepublik und gilt weiter für diese Republik. Erschrecken und Scham über die – in graduellen Abstufungen vom Wegschauen und dem »Geschehenlassen« über kleine Hand - reichungen und Helfershelferdienste bis zur aktiven Mittäterschaft, – erfolgte vielfältige Mitwirkung an den deutschen Staatsverbrechen ist gleichfalls in diese Statik unauflöslich eingewoben. Wir sollten daher unseren Funktions - eliten insgesamt das Recht zugestehen, aus schweren politischen Fehlern ge- lernt zu haben – und sollten über das nach 1945, nach 1989/90 Erreichte und neu Aufgebaute eher staunen als lamentieren. Viele vor 1945 »Verstrickte« haben sich später um dieses Land nachhaltig verdient gemacht und die Vo- raussetzungen für seine friedliche Wiedervereinigung mit geschaffen, nicht zuletzt auch und gerade im Auswärtigen Amt. 419

Hexerjäger: Der Panzerschrank der Schande

Der amerikanische Schriftsteller William T. Vollman publizierte in Deutsch- land 2013 seinen Roman Europe Central, in dessen Mittelpunkt die Zeitge- schichte des 20. Jahrhunderts, besonders die seltsamen Verbindungslinien zwischen Hitler und Stalin und einer Vielzahl weiterer Haupt- und Nebenfi- guren mit ihren teilweise schrecklichen Schicksalen stehen. In einem seiner Interviews erzählte er dazu: »Als ich vor zehn Jahren an der American Academy in Berlin war und über Andrei Andrejewitsch Wlassow recherchierte, den sowjetischen General- leutnant, der in deutsche Gefangenschaft geriet, die Russische Befreiungs- armee aufbaute und mit ihr an der Seite von Hitler gegen Stalin kämpfte, sich Amerikanern ergab, von diesen an den Kreml-Herrn ausgeliefert und 1946 in Moskau gehenkt wurde, sagte mir eine Russin, die ich dort traf: Sie können doch nicht Wlassow rehabilitieren wollen! Sie war wirklich sehr zornig. Ich antwortete: Ich will ihn nicht rehabilitieren. Ich will nur ver- stehen, was er getan hat«.351 Verstehen, was er getan hat. Verstehen, was sie getan haben. Ein guter Ansatz. Darum geht es auch in diesem Buch. Geht es darum auch im Amt-Band? Lei- der nein. Es war der Cambridge-Historiker Richard J. Evans, der das, trotz seiner partiellen Zustimmung zu manchen Bestandteilen, in einer großen Be- sprechung 2011 als Erster pointiert, treffend und kritisch zugleich herausge- arbeitet hat: »… Es ist keine ›aus den Quellen und der verstreuten Forschungsliteratur gearbeitete systematische und integrierende Gesamtdarstellung der Ge- schichte des Auswärtigen Amtes von 1938 bis zum Ende des 20. Jahrhun- derts‹, wie die vier verantwortlichen Herausgeber behaupten. Sowohl die unmittelbaren Begleitumstände, unter welchen der damalige Außenminis- ter Joschka Fischer die Kommission ins Leben rief, wie auch der Rahmen, den er dabei vorzugeben entschlossen war, legten den Schwerpunkt der Fra- gestellung darauf, inwieweit und wie stark das Auswärtige Amt und seine 420 Hexerjäger: Der Panzerschrank der Schande

Bediensteten in die nationalsozialistischen Verbrechen verstrickt, ja für diese verantwortlich waren und inwieweit diese Verstrickten, ja Verantwortlichen im nach 1950 wieder errichteten Auswärtigen Amt auftauchten, bzw. wie man im Amt selbst mit der Verstrickung in die NS-Vergangenheit umging. Auch wenn die Herangehensweise der Rechercheure und Autoren zunächst nicht zwangsläufig selektiv gewesen sein mag, wurzelte doch ihr Auftrag in moralischen Wertungen und Fragestellungen, die von der unmittelbaren Gegenwart bestimmt wurden und nicht durch akademisch-historische Fra- gen, die eine strikt akademische Herangehensweise nach sich gezogen hät- ten. Die von Minister Fischer gewollte und bewirkte moralische Aufladung der Kommissionsarbeit musste unweigerlich ihre Wirkungen entfalten bei der gesamten Recherche und bei der Niederschrift des Buches. Wenn man auf den politischen Effekt aus ist, ist das keine schlechte Sache. Allerdings kann kein Zweifel daran bestehen, dass dadurch das Buch in sei- nem wissenschaftlichen Gehalt beschädigt worden ist. Schon die Recherche ist nicht vollständig eingebettet gewesen in das breite Umfeld der Sekun- därliteratur; das Vernachlässigen des neuesten Forschungsstandes bei einer ganzen Reihe von »Items« führt zu Irrtümern und Fehlinterpretationen. Auffällig ist die durchweg zu beobachtende Tendenz, die Verstrickung und aktive Mitwirkung des Auswärtigen Amtes in die zahlreichen verbrecheri- schen Aktivitäten der Nationalsozialisten zu überzeichnen. Zugleich ist der Ausschnitt, der behandelt wird, viel zu klein. Dadurch ist etwa die Frage, welchen Anteil das Amt beispielsweise am Kriegsausbruch hatte – ein As- pekt, der in den Nürnberger Verfahren eine nicht ganz unwichtige Rolle spielte – völlig außer Betracht geblieben … Andere Belastungsmomente wie die Verwicklung in die Ausplünderung und Zerstörung Europas rücken gleichfalls fast gänzlich in den Hintergrund. Die nahezu exklusive Konzen- tration auf den Holocaust mag dem Faktum entgegenkommen, wie das NS-Regime vor allem von jüngeren Historikern betrachtet werden mag, möglicherweise auch der Sicht der Öffentlichkeit entsprechen, trägt aber wenig zu einem tieferen Verständnis des Nationalsozialismus, seiner Wir- kungsweisen und seiner Arbeitsmechanismen bei. Gewiss, dieses Buch war nötig … Aber die Bedeutung der Thematik hätte Besseres verdient. Die Schuld dafür liegt eindeutig bei den Herausgebern. Wenn man Doktoranden für Forschungsaufgaben einsetzt, dann gehört es zu den Aufgaben der Historiker, in deren Händen die Leitung des gesamten Unternehmens liegt, deren Arbeit gründlich zu prüfen und überprüfen, um sicherzustellen, dass auf die Sekundärliteratur angemessen Bezug ge- »Eine in ihrem wissenschaftlichen Gehalt beschädigte Studie« 421

nommen wurde, übertriebene Interpretationen vermieden wurden, und insgesamt ein angemessenes Gleichgewicht zwischen den verschiedenen be- handelten Themenkomplexen besteht. Dieser Verpflichtung sind die He - raus geber nicht nachgekommen. Inzwischen sind weitere Ressortgeschichten in Auftrag gegeben worden, insbesondere die des Justiz-, des Finanzminis- teriums und des Geheimdienstes. Man kann nur hoffen, dass die Forschung und Darstellung hier mit mehr Sorgfalt durchgeführt werden wird und dass dabei die Schwächen des vorliegenden Werks vermieden werden. Bei Un- ternehmen dieser Art müssen Historiker gerecht und genau sein. Dem Buch der Kommission über das Auswärtige Amt ist mehr als ein Hauch von Hexenjagd eigen, so als ob die Autoren es für ihre Aufgabe gehalten hätten, die Diplomaten und Beamten der Komplizenschaft mit dem Ho- locaust zu überführen und die schwerwiegendsten Anklagen, die sie über- haupt nur finden konnten, gegen diese zu erheben. Selbst im Hinblick auf ihren Auftrag, den sie auszuführen hatten, hätten sie sich daran erinnern sollen, dass Historiker keine Staatsanwälte sind, und die Geschichte kein Gerichtssaal ist. Und selbst wenn sie ein Gerichtssaal wäre, bliebe die Not- wendigkeit bestehen, differenziert zu urteilen, auf Genauigkeit zu achten und pauschale Verallgemeinerungen zu vermeiden …« 352 In diesem Urteil eines alten, erfahrenen Professors aus Cambridge, der gegen- über dem Wirken der Deutschen im 20. Jahrhundert keineswegs unkritisch eingestellt ist, steckt sehr viel Wahres. Seine knappe Wertung trifft den Nagel auf den Kopf. Natürlich, von »Hexenjagd« kann man nicht sprechen. Aber um so mehr von »Hexerjagd«, denn das Auswärtige Amt war und ist bis heute eine der letzten, vom Gendermainstream noch nicht hinweg gespülten Män- nerdomänen. Insgesamt decken sich die Betrachtungen von Evans mit den eingangs zitierten Bemerkungen von Bernhard Schlink, ergänzen dessen Wort von der »denunziatorischen Geschichtsschreibung«, fügen die wichtige »in- quisitorische Komponente« hinzu. Darum geht es. Einer der Professoren, Eckart Conze, hatte in seinem Zwi- schenbericht für die Presse im Februar 2008 ja bereits »programmatisch« zu- sammengefasst, mit welch »vernichtenden Resultaten« der Kommissionsarbeit zu rechnen sein würde und damit das Leitmotiv für die Zeit nach der Publi- kation und Präsentation des Kommissionsberichts früh vorgegeben: »Das Aus- wärtige Amt war als Institution tief in die Verbrechen der Nationalsozialisten verstrickt«. Nach dem Krieg, das sei ganz »evident«, sind von diesen »alten Wilhelmstraßen-Leuten nach Wiederbegründung des Amtes 1951 eine ganze Reihe von belasteten Diplomaten in den Höheren Dienst gelangt«. Davon 422 Hexerjäger: Der Panzerschrank der Schande seien »etliche schwer, manche sogar sehr schwer belastet gewesen«. Zur »Spitze des Eisbergs« hätten Leute wie der spätere Konsul in Spanien, Franz Nüßlein, gehört. »Er war in der Nazizeit zum Vertreter des Reichsprotektors für Böh- men und Mähren und Oberstaatsanwalt am Landgericht Prag aufgestiegen und soll an mehr als 900 Hinrichtungen beteiligt gewesen sein. Trotz seiner Verurteilung zu 20 Jahren Haft in der Tschechoslowakei wurde er 1955 nach Deutschland abgeschoben und dort ins Auswärtige Amt übernommen …« 353 Wer das Kapitel über Nüßlein in diesem Band gelesen hat, vermag einzu- schätzen, wie schief und überzogen die diesbezügliche Aussage von Conze aus- gefallen war. Eine mögliche Erklärung für seine Fehleinschätzung liegt in der Tatsache begründet, dass Conze selber bis zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich intensiv in die Erforschung der Materie eingestiegen sein konnte, jedenfalls wenn man den biographischen Angaben auf der Website seiner Heimatuni- versität Marburg Glauben schenken darf. Für 2006 war dort eine Gastprofes- sur in Bologna (Italien) verzeichnet, 2007 war er als Gastwissenschaftler am renommierten Deutschen Historischen Institut in London tätig gewesen und anschließend an die gleichfalls hoch renommierte Universität Cambridge ge- wechselt, an der auch Richard J. Evans lehrte. Tatsache ist, dass Conze das Archiv des Auswärtigen Amtes selbst nicht intensiv genutzt und frequentiert hat, ja dass er sich lediglich für einige Stun- den dort aufgehalten hat und sich 30 Minuten lang das Procedere erläutern ließ. Darauf hat der »Magaziner« Frank Walter, ein auch vor Professorenthro- nen unerschrockener Berliner und »Eisern-Union-Fan« des kleinen proleta- rischen Fußballklubs im Südosten der Hauptstadt bei der Präsentation des Kommissionsberichtes im Europasaal des Auswärtigen Amtes im Oktober 2010 coram publico in einem kurzen Statement hingewiesen, nachdem die Historikerkommission der Leitung des Politischen Archivs, ohne auf Wider- spruch der Amtsleitung zu stoßen, schwere Vorwürfe über ihre angeblich mangelhafte Hilfe und Hilfsbereitschaft gemacht hatte. Diesen Hinweis Frank Walters auf »des Kaisers neue Kleider« mussten die Professoren als schweren Affront empfinden, der noch gesteigert wurde, nachdem der »mu- tige Magaziner« zwölf Monate später dafür sogar mit dem »Spezialpreis Zi- vilcourage« des Deutschen Beamtenbundes ausgezeichnet worden war. Die Wut der Vier kommt noch in ihrem F.A.Z.-Artikel aus dem Mai 2012 deut- lich zum Ausdruck, als hinter dem couragierten Auftritt von Frank Walter eine fein abgestimmte subversive Strategie des Archivs zur Verteidigung seiner – gegenüber den anderen Bundesministerien – privilegierten Stellung ver- mutet, bzw. unterstellt wurde.354 Ein mutiger Magaziner ohne Furcht vor Professorenthronen 423

Am Faktum selbst war jedoch nicht zu deuteln. Conze hatte die Archivar- beit seinem großen Team überlassen. Das hatten die anderen Kommissions- mitglieder, nicht zuletzt auch der zweite deutsche Historiker Norbert Frei ähnlich gehalten. Er war in der Entstehungszeit des Kommissionsberichtes wie Conze mit einer Vielzahl anderweitiger Verpflichtungen belastet gewesen. Im Jahre 2007 und 2008 hat er als Geschäftsführender Direktor das Histori- sche Institut der Friedrich-Schiller-Universität in Jena geleitet, was bei den beträchtlichen bürokratischen Anforderungen im heutigen bundesdeutschen Wissenschaftsbetrieb gewiss keine vergnügungssteuerpflichtige Tätigkeit ge- wesen sein wird. 2008/2009 war Frei in die Vereinigten Staaten gegangen als Member of the Institute for Advanced Study nach Princeton, N. J., in die Stadt, wo Joschka Fischer nach seinem Abschied aus dem Amt seine ersten akademischen Meriten verdient und amerikanische Studenten mit den Rätseln der Internationalen Politik vertraut gemacht hat. 2010/2011 wechselte Frei dann als »Theodor-Heuss-Professor« nur einige Meilen über die Staatsgrenze und ging an die New School for Social Research nach New York. Auch Frei war, wie die übrigen Professoren, nicht selbst tief in die Archivarbeit eingestiegen. In der Ordinarien-Welt der Universitäten sind immer noch Restbestände der antiken Sklavenhaltergesellschaft vorhanden – immerhin ist aber in diesem Fall die breite Zuarbeit vieler Helferinnen und Helfer, Schreiberinnen und Schreiber am Anfang des Buches offengelegt wor- den. Dennoch hat Richard J. Evans nicht ganz ohne Grund festgestellt, dass die Kommissionsmitglieder mit der Koordination ihres großen Teams viel- leicht doch etwas überfordert gewesen sein mögen. Die Zu- und Mitarbeiter der Kommission im Archiv lassen sich in zwei Kategorien einteilen. Da waren die sogenannten »Rechercheure« oder »Scouts«, Studenten in höheren Semestern oder Doktoranden, die in großer Zahl die Akten »wälzten«. Im Durchschnitt bearbeiteten sie 15 Akten pro Tag, während das übliche Ausleihemaximum im Politischen Archiv des Auswärti- gen Amtes bei 10 Aktenbänden liegt. Ihre Erkenntnisse und Funde übertrugen sie in eine Datenbank mit Regesten, also der Zusammenfassung der jeweiligen Quellenstücke und vor allem ihrer »Funde«. Mit der Formulierung der Text- passagen und den Aussagen des Bandes hatten sie nichts zu tun. Dafür waren die zwölf neben dem Inhaltsverzeichnis namentlich aufgeführten Historike- rinnen und Historiker unterschiedlichen Qualifikationsgrades zuständig. Sie bildeten die Gruppe der Schreiber/innen, waren, wie man heute in den USA sagen würde, überwiegend »Postdocs«, also auf dem Weg zur Habilitation oder Junior professoren/innen. Oder sie waren wie Lars Lüdicke und Andrea Wie- 424 Hexerjäger: Der Panzerschrank der Schande geshoff, zwei von den auf deutscher Seite Beteiligten, zum damaligen Zeit- punkt Doktoranden. Lüdicke war zudem der Einzige aus der Gruppe, der be- reits über intensive Rechercheerfahrung im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes verfügte, denn er hatte dort schon länger für seine umfangreiche Neu- rath-Biographie geforscht. Die anderen, wie etwa Irith Dublon-Knebel, An- nette Weinke oder Jan-Erik Schulte verfügten sicherlich über ausreichend Archiverfahrung – aber sie waren mit den Mechanismen und dem nicht ganz simplen Aufbau des Politischen Archivs überhaupt nicht vertraut. Gewiss, die- sen Mangel sollte man nicht gleich zu hoch veranschlagen, obwohl diploma- tisches Schriftgut, noch dazu in Verbindung mit einem komplexen Ablagesystem durchaus besondere Anforderungen an den Benutzer stellen mag. Aber jeder angehende Historiker, jede junge Historikerin muss mit der Archivarbeit irgendwann anfangen, sich einarbeiten. Und oftmals kommen beachtliche Werke dabei zustande. Der Hauptfehler der hier beschriebenen Konstruktion lag wohl in der fehlenden kontinuierlichen Feinabstimmung mit den Professoren und der mangelnden Kommunikation innerhalb der Kommission. Das ist nicht sonderlich verblüffend, wenn die verantwortlichen Professoren sämtlich im Ausland weilen und immer wieder dort gesucht wer- den müssen, weil sie offenbar andere Tätigkeiten und Verpflichtungen für wichtiger hielten. Eine zusätzliche Schwierigkeit kommt jedoch noch erschwerend hinzu. Es mag merkwürdig klingen, aber auf der Archivseite gewann man ziemlich bald, nachdem das Kommissionsteam 2007 seine Arbeit aufgenommen hatte, den Eindruck, als ob die Ressentiments, die am Anfang Pate gestanden hatten bei Außenminister Joschka Fischer, als er das Projekt »Hinkelstein« aus der Taufe hob, auch die Grundeinstellung des Teams gegenüber dem Archiv bestimm- ten, als ob so etwas wie eine grundsätzliche Skepsis, ein grundsätzliches Miss- trauen gegenüber dem Archiv auch im Team selbst vorhanden und tief verwurzelt wäre. So als ob man im Team annehmen würde, dass die alten Seil- schaften noch immer wirkungsmächtig wären und die Archivleitung mithin die entscheidenden, die wirklich belastenden Dokumente vor den Augen der Rechercheure weiterhin zu verbergen trachten würde. Eine wirklich vertrau- ensvolle Kooperation zwischen den Archivaren und dem Team wurde dadurch entscheidend behindert – zum Nachteil des gesamten Projekts. Dabei mag eine Rolle gespielt haben, dass Norbert Frei den Soupçon Fischers gegenüber den alten Seilschaften durchaus teilte und mindestens auf seiner Seite von Be- ginn an ein gewisser Argwohn gegenüber der Archivstruktur und den Archi- varen im Amt existiert haben mag. Misstrauen gegenüber dem Politischen Archiv 425

Über seine wichtigste Vertraute, Annette Weinke, floss diese Haltung min- destens unterschwellig ein in die Arbeitsweise der Kommission. Vielleicht traf auf Annette Weinke sogar am meisten zu, was Heinz Schneppen in Verbin- dung mit der Kommissionsarbeit den »Jagdtrieb historischer Ermittler« genannt hat.355 Sie war in den neunziger Jahren Mitarbeiterin in der »Arbeits- gruppe Regierungskriminalität« der Staatsanwaltschaft II beim Landgericht Berlin gewesen, bevor sie 2001 bei Christoph Kleßmann in Potsdam über das Thema NS-Strafverfolgung und Vergangenheitspolitik – Die deutsch-deutschen Ermittlungen gegen NS-Täter zwischen innerdeutscher Konfrontation und außen- politischer Notwendigkeit 1949-1969 promoviert hatte. Vor ihrer Tätigkeit für die Historikerkommission war sie 2006 bei Prof. Dr. Klaus-Michael Mallmann Mitarbeiterin der Forschungsstelle Ludwigsburg geworden, die an die 1958 gegründete Zentrale Stelle Ludwigsburg anknüpft. Diese an der Universität Stuttgart angesiedelte Forschungsstelle widmet sich – wie ihre Vorgängerin – unter ihrem Direktor Wolfram Pyta seit der Gründung 2001 der Aufklärung von NS-Verbrechen. Eine ihrer wichtigsten Aufgaben ist, wie schon bei der Vorgängerin, die Akten der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen zu sichern und für die historische Forschung nutzbar zu machen. Eine gewisse Rollenprägung mag durch diesen Berufsweg bei Annette Weinke stattgefunden haben. Sie entsprach dem Anforderungs- profil der Historikerkommission nahezu perfekt, vereinte sie doch die Rolle der staatsanwaltlichen Ermittlerin mit der der Geschichtspolitikerin, war wohl zugleich von einem gewissen Misstrauen gegenüber dem offiziellen Umgang mit bürokratischem Material, mit amtlichen Aufzeichnungen und Akten er- füllt. Nach Abschluss der Kommissionsarbeit ging sie konsequenterweise zu Norbert Frei nach Jena an die Friedrich- Schiller-Universität. Zunächst war von fundamentalem Misstrauen bei der Archivarbeit der von den Professoren beauftragten abhängigen Historikerkommission der Mitar- beiter wenig zu spüren gewesen. Die von der Amtsspitze geforderten Zwi- schenberichte der Kommission über ihre Arbeitsleistungen und -fortschritte vom Februar 2007, März 2008 und September 2009 waren alle völlig nichts- sagend ausgefallen und allenfalls zwischen zweieinhalb und vier Seiten lang gewesen, also reichlich kurz und knapp geraten. Doch die oben zitierte Pres- semitteilung von Conze vom Februar 2008 hatte die Archivleitung auf den Plan gerufen. Conze hatte dort vernehmlich mitgeteilt, dass die Arbeit der Kommission vor dem Abschluss stehe und auch die gute Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt hervorgehoben. »Außenminister Frank-Walter Stein- meier habe großes Interesse an der Aufklärung der Vergangenheit seiner Be- 426 Hexerjäger: Der Panzerschrank der Schande hörde gezeigt. Befürchtungen, die ›alten Seilschaften‹ könnten die Arbeit der Wissenschaftler behindern, hätten sich nicht bestätigt. Alle unsere Mitarbeiter konnten das sehen, was sie wollten«, so Conze.356 Im Anschluss an diese Verlautbarungen wies die Archivleitung nun jedoch darauf hin, dass ihrer Ansicht nach die Arbeit der Kommission noch keines- wegs getan sei – und noch eine ganze Reihe gewichtiger Aktenkonvolute bislang unbeachtet geblieben wären. Insbesondere betraf der Hinweis die D1-Hand- akten, 34 Bände, die auch für die Thematik, die Annette Weinke bearbeitete und in die beispielsweise der »Fall Nüßlein« fiel, durchaus von Bedeutung sein konnten. In dem diesbezüglichen Vermerk aus dem Archiv heißt es explizit: »Anlässlich zweier Zeitungsartikel über die Fortschritte der Arbeiten der Unabhängigen Historikerkommission habe ich deren Mitarbeiterin Frau Dr. Weinke auf den im Politischen Archiv verwahrten Bestand der Sonder- akten der Leiter der Zentralabteilung hingewiesen. Ich machte meinen Hin- weis fest an dem im Artikel des TAGESSPIEGEL erwähnten Fall Franz Nüßlein, zu dem es in dem genannten Aktenbestand Unterlagen gibt. Ich begründete den Hinweis damit, dass es nicht im Sinne des Politischen Ar- chivs oder des AA sei, wenn nach Abschluss der Kommission der Eindruck entstehen könnte, dieser seien nicht alle verfügbaren Dokumente zugäng- lich gemacht worden.« 357 Die Kommission verstand diese Hinweise der Archivleitung seltsamerweise als »Kriegserklärung«. Sie erblickte darin einen Beweis für ihren lange schon intern gehegten Verdacht, dass die Jagdaufseher des Amtes mit Hilfe des Ar- chivs die Jagd, bzw. die Recherche sabotieren, die schrecklichen Wahrheiten allenfalls häppchenweise preisgeben, am liebsten jedoch weiterhin unter der Decke halten, vertuschen und eine »gezielte Desinformationstechnik« prakti- zieren wollten.358 Verschwörungstheorien sind immer reizvoll. Die Herausgeber taten, was schon Marga Henseler getan hatte. Sie schrieben Außenminister Steinmeier (SPD) einen Brief und beschwerten sich. Der Minister reagierte unverzüg- lich – im Sinne der vier Herausgeber. Bedauerlicherweise muss man daraus schließen, dass der Minister seiner ei- genen Behörde und insbesondere »seinem« Archiv nicht vertraute. Jedenfalls wurde die Zuständigkeit für die Kommission der Kulturabteilung entzogen und im Planungsstab ein Spiegelreferat dieser Abteilung geschaffen, in dem die Zuständigkeit für die Kommission zukünftig angesiedelt war. Außenminister Westerwelle trat nach der Übergabe des Kommissionsberichtes in die Fußstap- fen seines Vorgängers, und beauftragte 2011 eine Arbeitsgruppe aus dem Fach- Minister Westerwelle setzt eine Unabhängige Archivarinnenkommission ein 427 bereich Informationswissenschaften der Fachhochschule Potsdam mit der Eva- luation, der Überprüfung der Archivpraxis in seinem Ministerium. Auch Wes- terwelle vertraute seinen Archivaren im Politischen Archiv nicht. Auch er sagte sich, vielleicht stimmte ja, was die Historikerkommission geschrieben und be- klagt hatten? Ein rundes Jahr lang »evaluierten« daraufhin drei Mitarbeiterin- nen unter der Leitung von Frau Prof. Dr. Karin Schwarz, einer Spezialistin für Archivische Erschließung und Bewertung, Records Management, Digitale Archi- vierung und Archivrecht, das Archiv des Auswärtigen Amtes – und stellten die- sem am Ende überraschenderweise ein mehr als hervorragendes Zeugnis aus. Sämtliche Nutzer aus dem In- und Ausland waren mittels elektronisch ver- schickter Fragebögen befragt worden, etwas weniger als die Hälfte – was eine hervorragende Rücklaufquote ist – hatte geantwortet und die Allermeisten von ihnen hatten das Loblied auf das Amtsarchiv mehr als vernehmlich gesungen. Doch davon konnte man 2008 noch nichts wissen, als der Klagebrief der vier Kommissionsmitglieder formuliert und abgeschickt worden war. Im Juli 2008 kam es daraufhin zu einem Gipfeltreffen zwischen allen beteiligten Professoren, Mitarbeitern und Archivaren und man ging in dem Eindruck aus einander, dass alle Missverständnisse, Kommunikationshindernisse und wechselseitigen Fehleinschätzungen ausgeräumt worden wären. Aber dieser Friede war offenbar trügerisch und hielt nicht lange vor. Nach der Veröffentlichung des Kommissionsberichts und nachdem rasch von einigen Fachhistorikern, ehemaligen Diplomaten wie Botschafter a.D. Heinz Schneppen und von Archivaren wie Dr. Hans Jochen Pretsch, von 1996 bis 2003 Leiter des Politischen Archivs, teilweise harsche Kritik an der Vorge- hensweise der Kommission geäußert worden war,359 holten die vier Professoren zum Gegenschlag gegen das Archiv aus und publizierten am 5. Mai 2012 unter der Überschrift Das Archiv des Auswärtigen Amtes: Panzerschrank der Schande einen Artikel in der F.A.Z., der mit recht erstaunlichen Vorwürfen aufwartete, die sich schon im Untertitel angekündigt hatten: »Vernichtete Akten, verschwundene Dokumente und zuletzt ein Persil- schein für die Erschwerung des Zugangs zu Unterlagen – Wie das Politische Archiv des Auswärtigen Amtes Forschungsarbeit behindert«. Tatsächlich gipfelte das Stück in dem schlimmst möglichen Vorwurf für Ar- chivleiter Ludwig Biewer und seine Mitarbeiter – dem Vorwurf der Aktenver- nichtung! Damnatio memoriae also auch für das Politische Archiv des Auswärtigen Amtes? Es sah ganz danach aus. Protokolle der »Morgenandach- ten« im Amt, also der Direktorenrunden – jener Besprechungen der Amtsleiter mit den Abteilungsleitern – seien anlässlich des Umzugs von Bonn nach Berlin 428 Hexerjäger: Der Panzerschrank der Schande vernichtet worden – vermutlich vom Politischen Archiv, so unterstellten Conze, Frei, Hayes und Zimmermann. Wahrscheinlich, so unterstellten sie weiter, um belastende Aussagen beiseite zu schaffen. Aber worum handelte es sich bei diesen »Protokollen«? Um handschriftlich geführte Notizkladden, in denen ein Mitarbeiter aus dem »Büro Staatssekretäre« in Stichworten die be- sprochenen Themen festhielt. Dabei ging es überwiegend um die große Politik, um die zentralen und je- weils aktuellen außenpolitischen Fragen und Themen. Bisweilen ging es aber auch um persönliche »Verhältnisse« der Diplomaten, um deren Alltagsleben, Alltagssorgen, Liaisons und Scheidungen. Diese handschriftlichen Notizen wurden nicht vervielfältigt und in den Geschäftsgang gegeben. Sie dienten als reine Gedächtnisstütze, natürlich auch als Kontrollmittel, um sicherstellen zu können, dass Abgesprochenes auch tatsächlich erledigt worden war und wur- den im Panzerschrank des »Büros Staatssekretäre« verwahrt. Dass diese Klad- den anlässlich des Regierungsumzuges von Bonn nach Berlin während der Amtszeit von Joschka Fischer 1999 vernichtet worden waren, mag man be- dauern. Da – was die vier Historiker bewusst oder aus Unkenntnis außer Be- tracht ließen – das Politische Archiv aber über kein eigenes Zugriffsrecht auf die Akten des Hauses verfügte, sondern nehmen musste, was »kommt«, konnte man es schwerlich für diese Entscheidung haftbar machen oder zur Verantwortung ziehen und ihm schon gar nicht manipulativ-kriminelle Ver- tuschungsenergien unterstellen.360 Denn in den Zugriffsbereich des Archivs waren diese Unterlagen zu keinem Zeitpunkt gelangt. Allerdings wurden in dem Artikel über den deutschen »Panzerschrank der Schande« weitere massive und grundsätzliche Vorwürfe gegen die Archivleitung erhoben: »Es dauerte eine Zeit, bis der Kommission und ihren im Politischen Archiv recherchierenden Mitarbeitern bewusst wurde, wie sie in ihrer Forschung nicht nur nicht unterstützt, sondern zum Teil sogar behindert wurden. Ge- wiss, Zeichen persönlicher Hilfsbereitschaft einzelner Archivmitarbeiter ge- genüber der Kommission und ihrem Anliegen hat es immer wieder gegeben: Hinweise auf Findmittel oder Bestandsübersichten zum Beispiel, von denen in den Besprechungen der Kommission mit der Archivleitung nicht die Rede gewesen war. Aber gerade diese punktuellen Begebenheiten ließen im Laufe der Zeit nur das Unbehagen wachsen und den immer stär- ker werdenden Eindruck entstehen, nicht aktiv und umfassend von der Ar- chivspitze unterstützt zu werden. Das gilt beispielsweise für den Hinweis der Archivleitung, es sei aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes nicht möglich, der Kommission Personalakten von Personen vorzulegen, die noch Wachsendes Unbehagen 429

nicht oder vor weniger als 30 Jahren verstorben seien. Dabei enthalten die einschlägigen Bestimmungen des Bundesarchivgesetzes eine Regelung, die es ermöglicht, Sperrfristen zu verkürzen, wenn es um das ›Amtshandeln‹ von Personen handelt oder um ›Persönlichkeiten der Zeitgeschichte‹. Hier existieren Ermessensspielräume, die von den Archivaren genutzt werden können, oder eben nicht … In dem Maße, in dem die Mitarbeiter der Kommission sich mit den – von der Archivleitung immer wieder als ›unergiebig‹ charakterisierten – Perso- nalakten vertraut machen konnten, verdichteten sich die Hinweise, dass es auch im Auswärtigen Amt jahrzehntelang eine Praxis der Aktenführung ge- geben hatte, wie sie in Italien in den neunziger Jahren unter dem Stichwort ›Schrank der Schande‹ aufgeflogen ist. Dort waren Akten über deutsche Kriegsverbrechen drei Jahrzehnte lang in einem Schrank weggeschlossen und damit der Benutzung entzogen worden. Auch im Bonner Amt waren kompromittierende Unterlagen, beispielsweise zu dem viel diskutierten Fall Nüßlein, dessen geschönter Nachruf die Beschwerden Marga Henselers ausgelöst hatte, den regulären Personalakten entnommen, in geheimen Dossiers zusammengefasst und in einem Panzerschrank der Personalabtei- lung weggesperrt worden. Was immer die Motive hinter dieser Praxis ge- wesen sein mögen, und in Zeiten des Kalten Krieges mag auch der Schutz vor Erpressungen und nachrichtendienstlichen Anwerbungsrisiken eine Rolle gespielt haben: Statt die erkennbaren Lücken und kryptischen Noti- zen in den regulären Personalakten nach bestem Gewissen zu erklären, be- stritt die Archivleitung zunächst die Existenz solcher Sonderakten. Später behauptete man, die Unterlagen seien vernichtet worden«.361 Das waren gewichtige Anschuldigungen, gegen die das Archiv als Teil einer Bundesbehörde sich kaum öffentlich zur Wehr setzen konnte, wenn die Amts- leitung in Person des Ministers Guido Westerwelle keine entsprechenden Schritte zu seiner Verteidigung ergreifen mochte. Die Enttäuschung unter den Archivmitarbeitern und in der Archivspitze war allerdings groß, als man diesen F.A.Z.-Artikel las. Ihre Großzügigkeit und Hilfsbereitschaft gegenüber dem Forschungsteam der Junghistoriker in den vergangenen Jahren war darin ins glatte Gegenteil verkehrt worden. Das war schwer zu fassen. Und noch schwe- rer still und wortlos zu ertragen. Es war für die Beteiligten nur ein schwacher Trost, dass sich bald schon vier Zuarbeiter aus dem Historikerteam in aller Form bei Angehörigen des Politischen Archivs für den diffamierenden Grund- tenor und die abwertenden Kernaussagen der Professoren in Artikel und Kom- missionsbericht entschuldigten. 430 Hexerjäger: Der Panzerschrank der Schande

Das änderte aber nichts daran, dass selbst bei ruhiger Betrachtung die er- hobenen Vorwürfe ziemlich ungeheuerlich waren. Die rechtlichen Rahmen- bedingungen für die Einsicht in Personalakten war von der Archivleitung bis an die Grenze des Rechtsbruchs zum Nutzen der Kommissionsrecherche aus- geweitet worden. Praktisch jeder Konsulatssekretär war von Archivseite zu einer »Person der Zeitgeschichte« erklärt worden, damit seine Akten unver- züglich eingesehen und ausgewertet werden konnten. Die gesetzliche Sperrfrist von 30 Jahren hatte in keinem einzigen Fall mehr Beachtung gefunden. Nach dem Tode eines Diplomaten wurden sofort sämtliche Personalunterlagen zu- gänglich gemacht. Makaberer Zufall: Der erste, dem dieses Schicksal post mor- tem wiederfuhr, war – Erwin Wickert. Mit ihm hatte ja alles angefangen. Unmittelbar nach seinem Tode erhielt Annette Weinke, die darauf schon lang gedrängt hatte, umfassende Akteneinsicht in seine Personalakten. Den vier Kommissionsmitgliedern wird dieses Entgegenkommen der Archiv- leitung trotz aller räumlichen Distanz zwischen ihren diversen internationalen Arbeitsplätzen und Berlin schwerlich verborgen geblieben sein. Umso befremd- licher mutet ihre der ahnungslosen Öffentlichkeit präsentierte Version an. Dass in dem F.A.Z.-Stück von »Besprechungen der Kommission mit der Archivlei- tung« die Rede war, fand man im Archiv gleichfalls seltsam, hatte es doch, ab- gesehen von dem erwähnten »Gipfeltreffen«, nur eine einzige kurze Besprechung mit den zwei Professoren Conze und Frei gegeben. Jene zwanzig bis dreißig Mi- nuten währende kleine Runde unmittelbar vor der Vertragsunterzeichnung für den Forschungsauftrag. Intensivere Arbeitsbesprechungen hatte es überhaupt nur mit den wichtigsten Kommissionsmitarbeitern – also hauptsächlich Lars Lüdicke, Annette Weinke und Andrea Wiegeshoff – gegeben. Ähnlich dubios sind die Bemerkungen zu dem Bestand der »Handakten D1« mit seinen 34 Bänden. Alle Bände enthalten Hinweise zu privaten und privatesten Details einzelner Diplomaten, etwa über deren Homosexualität – deren »Enttarnung« in früheren Zeiten eine Bedrohung mit erheblichem Er- pressungspotential darstellen konnte, weil nicht jeder so souverän wie der alte Fuchs Adenauer reagierte, als diesem gerüchteweise von homosexuellen Kon- takten eines seiner Minister berichtet wurde und er den »Berichterstatter« le- diglich kühl fragte: »Woher wissen Se dat? Waren Se dabei?« Dass nur der Direktor der Zentralabteilung diese Akten mit den diffizilen Angaben zum Personalbestand nutzen und benutzen sollte und daher in seinem Panzer- schrank verwahrte, musste eigentlich selbst für jemanden verständlich sein, der mit einer misstrauischen Grundhaltung an die Sache heranging wie Conze, Frei, Weinke und Co. 1967 wurden diese ominösen Akten, die auch den Fall Das Politische Archiv als »Vertuschungsmaschinerie«? 431

Annette Weinke war wohl die wichtigste Mitarbei- terin im Kommissionsteam. Ihr großes Engagement war allerdings von einem gewissen Soupçon gegen- über den deutschen Diplomaten und dem Politi- schen Archiv begleitet. Dieser Soupçon zeigte sich nicht zuletzt auch in jenem Aufsatz, den sie 2010 zusammen mit Norbert Frei in den Blättern für In- ternationale Politik unter dem Titel »Warum es um die ›Mumien‹ einsam wird – Das Ende der Legende vom ›anständig‹ gebliebenen Auswärtigen Amt« publizierte.

Nüßlein enthalten, übrigens dem Archiv übergeben und sind mittlerweile über das im Lesesaal vorhandene Findbuch zu erschließen. Auf die Bedeutung der Sonderakten D 1 für den Fall Nüßlein ist die Bearbeiterin, wie oben er- wähnt, von Archivseite hingewiesen worden. Dennoch fällte die Kommission am Ende ihres Artikels ein vernichtendes Verdikt: »Das Politische Archiv hat bei der Vertuschung der NS-Vergangenheit des Auswärtigen Amtes und vieler seiner Angehörigen nach 1945 eine entschei- dende Rolle gespielt … Das Politische Archiv hat kritische Forschung über die NS-Vergangenheit des Amtes und den Umgang mit dieser Vergangen- heit nach 1945 behindert, und die Archivleitung hat dies im Zusammen- hang mit der Arbeit der Unabhängigen Historikerkommission noch einmal versucht. Das Potsdamer Gutachten zur Evaluation der Archivarbeit sollte vor diesem Hintergrund entlastend wirken, kritische Stimmen und belas- tende Informationen waren deshalb nicht gefragt. Der Begutachtungsauf- trag, den das Politische Archiv erteilte und mit dem sich seine Leitung und seine publizistischen Hilfstruppen jetzt brüsten, steht, so betrachtet, in der Tradition jener ›Persilscheine‹ aus der Zeit nach 1945, die sich in den dort verwalteten Akten so zahlreich finden – und an deren geschichts- und ver- gangenheitspolitischer Instrumentalisierung die Archivleitung über Jahr- zehnte hinweg tatkräftig beteiligt war.« 362 Wie diese »Vertuschung« allerdings konkret stattgefunden haben soll, verraten 432 Hexerjäger: Der Panzerschrank der Schande die vier Kommissionsmitglieder uns nicht. Heinz Schneppen ist der Sache im Archiv nachgegangen und schreibt dazu: »Nichts kann den Blick in die Quellen ersetzen. Ich habe die 34 Bände, die im Panzerschrank des Leiters der Personalabteilung lagerten und von diesem 1967 dem Politischen Archiv übergeben wurden, zügig durchgesehen. Sie ste- hen jedem offen, nachdem das Politische Archiv die Kommission im Februar 2008 auf diese Akten aufmerksam machte. Was den Inhalt des Panzerschranks und seine angeblich ›kompromittierenden‹ Akten betrifft, ist zu sagen, dass von den 34 Bänden 26 überhaupt keinen NS-Bezug besitzen. Sie enthalten Handakten verschiedener Personalchefs bis 1967 sowie administrative Interna auch späterer Jahre. Das Interesse, diese Akten teil- und zeitweise gesondert aufzubewahren, ist durchaus nachvollziehbar. Aber auch die übrigen Akten enthalten nichts, was eine spezielle Behandlung erforderlich gemacht hätte, sieht man einmal davon ab, dass nach Archivrecht und Datenschutz per- sonenbezogene Akten überall einem gesonderten Regime unterliegen.« 363 Die angebliche Vertuschung ist schon deshalb in den Anfangsjahren der Re- publik schwer durchzuführen gewesen, weil dem Politischen Archiv sein wich- tigstes »Mittel« dazu fehlte. Durch Bombentreffer war 1943 eine Vielzahl von Unterlagen zu den Beschäftigten, an welchen die von den Professoren einge- setzte abhängige Historikerkommission der Rechercheure ab 2007 ganz be- sonders stark interessiert war, vernichtet worden. Die Überlieferung setzt 1944 wieder ein. Doch diese Personalakten wie auch die allermeisten Sachakten des Auswärtigen Amtes, die in der Endphase des Krieges aus Berlin ausgelagert worden waren, damit sie nicht gleichfalls durch Bomben oder Feuer zerstört oder beschädigt werden konnten, fielen 1945 den Siegermächten – genauer gesagt: den Amerikanern – in die Hände. Diese lagerten sie später, nach der Durchforschung, nach London aus, denn dort waren sie leichter zu erreichen und zu nutzen als in Washington. Was taten die Siegermächte damit? Sie freuten sich, sie den rasch umerzogenen und vom Nationalsozialismus befreiten Deutschen umgehend wieder auszu- händigen? Damit dann von diesen sogleich fleißig vertuscht und »bereinigt« werden konnte, wie die vier Professoren so wortmächtig unterstellten? Nein: Die Akten wurden nach ihrer Überführung nach England kodiert, kopiert, registriert. Das Vorhandensein eines solchen »Kontrollbestandes« macht jede spätere Vertuschung schwierig, ist sie doch nachgerade töricht, weil das Ent- deckungsrisiko so hoch ist. Aber lassen wir das hier beiseite. Was man als Historiker tatsächlich bedau- ern mag, ist die Vernichtung der rund 6.000 Bewerberakten all derjenigen, Akten, über die man nicht verfügt, kann man schwer fälschen 433 die sich zu Beginn der fünfziger Jahre um eine Stelle im neu aufzubauenden diplomatischen Dienst bewarben und denen dabei kein Erfolg beschieden war, weil sie durch das Raster fielen. Diese Unterlagen hielt man damals nicht für interessant und nicht »aufbewahrenswert«. Sie wurden daher Ende 1951 ver- nichtet. Das Politische Archiv hatte damit aber wenig zu tun, hatte diese Ent- scheidung nicht zu verantworten, erst recht nicht das Politische Archiv des 21. Jahrhunderts. Was die sonstigen Aktenbestände anlangt, so begann deren Rückführung nach Deutschland erst 1958. Vollständig abgeschlossen war sie erst drei Jahre später, 1961. Vertuschung ohne Mittel zur Vertuschung ist ge- wiss ein ganz besonderes Kunststück, hat aber mit der historischen Realität und der Geschichte des Politischen Archivs wenig zu tun. NS-Tätern konnte man mit Hilfe von Archivalien aus dem Amt frühestens ab 1960, nach Rückübertragung der Sachakten, auf die Spur kommen. Umso verblüffender bleibt, dass, anders als der Kommissionsbericht Glauben macht, wenige echte Fehlgriffe vorgekommen sind und die am schwersten belasteten Kooperateure des RSHA wie Rademacher, Thadden, Wagner und andere eben nicht wieder ins Amt zurückgekehrt sind. Eine Auflage der Siegermächte bei der Rückgabe der Aktenbestände war im Übrigen gewesen, diese unverzüglich der internationalen Forschung zur Verfügung zu stellen. Das geschah. Das »Wannseeprotokoll« vom 20. Januar 1942, jenes Dokument, das die Verstrickung der deutschen Behörden in den von Hitler über Himmler und Heydrich angeordneten Massenmord unzwei- felhaft belegt und dessen einzig erhalten gebliebene Ausfertigung von den Nürnberger Ermittlern in den beschlagnahmten Beständen des Archivs des Auswärtigen Amtes entdeckt worden war, konnte man lange Zeit nach der Rückgabe im neuen Politischen Archiv im Original einsehen und benutzen, bis es – aus Schutzzwecken – nur noch als Kopie zugänglich gemacht wurde. Zudem machte sich eine Historikerkommission sogleich an die Edition der Akten, die 1995 abgeschlossen wurde und am Ende 75 Bände umfassen sollte. Als Folgeprojekt wurde die Arbeit an einem auf fünf Bände angelegten »Bio- graphischen Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes« in Angriff ge- nommen, von dem die ersten vier Bände einschließlich des Buchstabens »S« mittlerweile vorliegen. Für alle, die sich mit der Diplomatie-Geschichte jener Jahre beschäftigen wollen, entstand ein unentbehrliches Hilfsmittel – für den Kommissionsbericht ist es nicht herangezogen worden. Die Zugehörigkeit zu einer politischen Partei ist bei jedem Diplomaten vermerkt, auch sein Eintritt und Ausscheiden, seine Funktionen im Amt. Das hilfreiche Handbuch zeigt, dass die Mehrzahl der Mitarbeiter des diplomatischen Dienstes zwischen 1933 434 Hexerjäger: Der Panzerschrank der Schande

Herbert Blankenhorn (1903–1991) und 1945 Mitglieder der NSDAP, der SA oder der SS gewesen sind. Von Ver- tuschung keine Spur. Was das Thema »Innuendo« anlangt, wollen wir hier ein einziges eigenes kleines Exempel dafür aufzeigen neben den vielen, die Heinz Schneppen mi- nutiös recherchiert und vorgestellt hat.364 Wir zitieren jenen Ausschnitt, in wel- chem dem Leser im Kommissionsbericht erstmals Herbert Blankenhorn begegnet, der im Buch erst Erwähnung findet, als das Dritte Reich schon in Trümmern liegt und über dessen etwaige Verstrickungen in dasselbe wir bis dato kein Sterbenswörtchen erfahren haben. Also, Vorhang auf, Bühne frei für Blankenhorn: »Je intensiver die Verhöre von Vertretern der Siegermächte durchgeführt wurden, desto mehr Vorteile konnten die Angehörigen des Auswärtigen Amtes für sich daraus ziehen, konnten sie doch ihre Gesprächspartner durch vielfältigen Kenntnisreichtum beeindrucken und sich als potentielle Zeugen empfehlen. Damit rückte für die meisten von ihnen die Gefahr, selber als Kriegsverbrecher angeklagt zu werden, zunehmend in den Hin- tergrund. Ein in diesem Sinne interessanter Fall war Herbert Blankenhorn. Des Kanzlers wichtigster Helfer: Herbert Blankenhorn 435

Der Legationsrat 1. Klasse, zuletzt in der Protokollabteilung tätig, war seit 2. April 1945 in amerikanischem Gewahrsam. Knapp drei Wochen später befragte ihn das OSS … Anschließend brachte man ihn nach Paris, wo ein weiteres, sehr eingehendes Verhör stattfand. Jetzt ging es den Geheimdienst- leuten vor allem um die vier Jahre, die Blankenhorn bis August 1939 als Botschaftsattaché in Washington gearbeitet hatte. Das Verhör gab ihm reichlich Gelegenheit, sich ins Licht des Widerstands zu stellen und daraus den Anspruch abzuleiten, unter antikommunistischen Vorzeichen an der Zukunft Deutschlands mitzuarbeiten. Zu diesem Zeitpunkt war Blankenhorn im State Department freilich schon Chefsache geworden, Außenminister Edward Stettinius erinnerte sich des Mannes als eines aktiven Nazis und aggressiven Propagandisten – und warnte nach dem ersten Verhör davor, einem Hochstapler aufzusitzen. We- niger gutgläubig als viele der in Europa tätigen Angehörigen des OSS, ver- langte Stettinius, Blankenhorns Behauptungen eingehend zu prüfen. Der aber beeindruckte seine Gesprächspartner weiterhin nicht nur im Dialog, sondern zusätzlich mit einer Autobiographie, die seine Verbindungen zu den Attentätern des 20. Juli betonte und in scheinbarer Offenheit sogar einräumt, von Regierungsrat Rudolf Kröning im RSHA von Vergasungen erfahren zu haben. Und nicht weniger gut dürfte es von den Amerikanern aufgenommen worden sein, dass ein Mann, der sich für seine Zeit in Bern eines mindestens indirekten Kontakts zu Allen Dulles rühmte, überdies einräumte: ›Wir waren selber daran schuld, dass wir uns einer solchen Re- gierung unterwarfen.‹ Blankenhorns Rechnung ging auf … Damit schien der Beweis für seine politische Zuverlässigkeit erbracht; im September 1945 wurde Blankenhorn in die britische Besatzungszone entlassen.« 365 Herbert Blankenhorn war also ein interessanter »Fall«? Er gab sich – so wurde ihm hier unterstellt – gegenüber den alliierten, weltweit als gutgläubig be- kannten amerikanischen Verhörspezialisten gesprächsbereit, war raffiniert, heuchelte Schuldbewusstsein, um der Anklage als Kriegsverbrecher zu entge- hen. Besonders auskunftsfreudig hieß jetzt mithin: besonders verdächtig. Täuschte Kontakte zum amerikanischen Geheimdienstchef Allen Dulles in Bern, zu den Männern vom 20. Juli vor. Ließ sich seine Auskünfte durch Hans Bernd Gisevius oder Gero von Schulze-Gaevernitz bestätigen, nutzte also die im Kommissionsbericht immer wieder »enttarnte«, »aufgedeckte«, »enthüllte« Technik zahlreicher Angehöriger dieser Behörde, sich durch übertriebene Nähe zum Widerstand gegen Hitler selbst zu exkulpieren. Betonte zudem, von der diesbezüglichen Offenheit der OSS-Offiziere profitierend, die – hier überaus 436 Hexerjäger: Der Panzerschrank der Schande hellsichtig – den kalten Krieg im Sommer 1945 schon so früh wie kaum je- mand sonst heraufziehen sahen, die eigene antikommunistische Grundhal- tung, um sich eine gute Startposition für den Neuanfang zu sichern – und um zu verbergen, was er als Legationsrat 1. Klasse als Botschaftsattaché in Wa- shington oder in der Protokollabteilung des Amtes getan hatte? Ja, aber was hatte Blankenhorn denn nun wirklich getan? Er hatte in Wa- shington vor dem Krieg als junger Diplomat die Politik des Dritten Reiches mit Verve verteidigt. Aber außer dem Hinweis darauf und auf entsprechend warnende Hinweise von Edward Stettinius hat uns der Bericht an dieser Stelle überhaupt nichts Substantielles zu bieten. Und bei Stettinius jr., Roosevelts Außenminister in der letzten Phase seiner Präsidentschaft – der Manager bei General Motors und US Steel, war 1943 zunächst Vize-Außenminister, nach der Erkrankung von Cordell Hull im Dezember 1944 dann Außenminister geworden – verschweigen die Autoren, dass er ähnlich wie Morgenthau von einem sehr negativen Bild der Deutschen geprägt war und nicht zuletzt des- halb Truman ihn bereits im Zuge der Versenkung des Morgenthau-Plans in den Papierkorb im April 1945 abgelöst und durch den wesentlich konzilian- teren James F. Byrnes ersetzt hatte. Das durchweg dominierende Innuendo im Kommissionsbericht tritt uns hier einmal mehr in Vollendung entgegen. Der Ausschnitt kann »pars pro toto« gelesen und genommen werden für den Band. Blankenhorn selbst wird bald schon nach seiner Entlassung dank seiner britischen Bekannten und einer geschickten Anwendung der eigenen diplo- matischen Fähigkeiten in Hamburg stellvertretender Generalsekretär des Zo- nenbeirates in der britischen Zone, jener von den Engländern früh installierten Notablenversammlung, in welcher die Deutschen nach der Hitler-Diktatur wieder an politische Partizipationsmöglichkeiten »gewöhnt« werden sollten. Schon bald wurde er zum Ministerialdirigenten befördert, machte eine regel- rechte Blitzkarriere. Wäre er ein tief Verstrickter gewesen, hätten ihn die bri- tische Besatzungsmacht schwerlich so rasch aufsteigen lassen und so früh ihm eine solche Vertrauensposition eingeräumt. Sie bietet ihm reichhaltige Kon- taktmöglichkeiten innerhalb der britischen Zone. Sehr bald lernt er so die auf deutscher Seite – zumindest hinter den Kulissen – neben Kurt Schumacher einflussreichste politische Persönlichkeit in der britischen Zone kennen: Kon- rad Adenauer. Der alte Menschenfänger erkennt sogleich die Qualitäten dieses jungen ehemaligen Diplomaten und umwirbt ihn ähnlich intensiv und erfolgreich, wie er fast gleichzeitig Ludwig Erhard umwirbt, der mit seiner Konzeption Der Menschenfänger Konrad Adenauer 437

Konrad Adenauer und sein wichtigster Mitarbeiter Herbert Blankenhorn nach dem Antrittsbesuch bei den Hohen Kommissaren auf dem Petersberg im Herbst 1949. Blankenhorn trägt unter dem Arm das dem Kanzler von den drei westlichen Siegermächten überreichte und in Packpapier eingeschlagene Besat- zungsstatut, das die Souveränität der jungen Republik weiterhin massiv beschränkte. Es war Adenauers Ziel, das Land von diesen Beschränkungen zu befreien und die Souveränität – soweit irgend möglich und so rasch wie möglich – zurückzuerhalten. Im Hintegrund links Jakob Kaiser, rechts Ludwig Erhard. Die Minister sollten den Kanzler nie wieder begleiten. Der exklusive Kontakt zu den Hohen Kommissaren war eine zu wertvolle Basis seines Herrschaftswissens. der Marktwirtschaft den Staats- und Planwirtschaftsplänen der Linken ein überraschend attraktives Gegenmodell gegenüberstellt. Mit Erhard wird Adenauer die erste Bundestagswahl gegen Kurt Schumacher und die SPD knapp gewinnen. Mit Blankenhorn wird er den neuen Staat aufbauen. Denn dieser wird, nachdem er 1948 zu Adenauer nach Köln gewechselt und an sei- ner Seite Generalsekretär der CDU in der britischen Zone geworden ist – eine CDU auf Bundesebene gibt es damals noch gar nicht, ihr Gründungsparteitag wird erst 1950 in Goslar stattfinden – der wichtigste Helfer des Rhöndorfer Patriarchen. Ja, Blankenhorn ist eine der zentralen Schlüsselfiguren beim Neuaufbau der Republik. Schlägt man ihn, trifft man den Kanzler gleich mit. Ein altes Muster linker Geschichtspolitik. Aber leider eignet er sich nicht wirklich als Ansatzpunkt für derlei Attacken, wie sie der Kommissionsbericht einmal mehr 438 Hexerjäger: Der Panzerschrank der Schande versucht. Blankenhorn, Jahrgang 1904, war 1928 in Bremen in eine Zweig- stelle des Auswärtigen Amtes für Außenhandel geraten, ein Jahr später in den Auswärtigen Dienst eingetreten, hatte 1932 die Prüfung für den diplomatisch- konsularischen Dienst bestanden und war sogleich Mitglied der deutschen Delegation beim Völkerbund in Genf geworden, war als Legationssekretär neben den drei Jahren in Washington auf der deutschen Mission in Athen, in Helsinki und – dort als Gesandtschaftsrat – in Bern tätig gewesen, ab 1943 dann in der Zentrale beim Protokoll. Dort war er bald schon als Legationsrat 1. Klasse unter anderem für Ausländische und Deutsche Orden zuständig, hatte am Ende im April 1945 noch die Leitung der Dienststelle des Protokolls in Bad Gastein, wohin Teile des Amtes ausgelagert worden waren, inne. Am 1. Dezember 1938 – also nach Aufhebung der Mitgliedersperre – war Blan- kenhorn in die NSDAP eingetreten. Er war im Dritten Reich zweimal ver- heiratet, aus den Ehen waren bis dahin drei Kinder hervorgegangen. Soll man ihm den Parteieintritt zum entscheidenden Vorwurf machen? Das wäre lächerlich. Ein vom NS-Maßnahmenstaat tief kontaminierte Diplo - matenkarriere sieht jedenfalls anders aus. Die nicht wirklich von Entschei- dungs- und Einwirkungsmöglichkeiten begleitete Position beim Protokoll in der Endphase eines sich radikalisierenden und brutalisierenden Regimes war zweifelsohne eine Nische, die ein so tatendurstiger und ehrgeiziger Mann wie Blankenhorn bewusst angestrebt und besetzt hatte. Ein »neutralerer« Ort ließ sich im ganzen Amt für einen Legationsrat 1. Klasse wie ihn schwerlich finden. Aber auf solche Differenzierungen kommt es Fischers »Jägern« jedoch nicht an. Hier geht es um Pauschalverdächtigungen und Pauschalverurteilungen, geht es um inquisitorische Geschichtsschreibung. Dafür ist die Methode des Innuendo wahrlich immer gut. Beim Neuaufbau der Partei, aber auch beim Neuaufbau des nach dem Krieg von den Briten neu geschaffenen Bundeslandes Nordrhein-Westfalen lernten sich Adenauer und Blankenhorn rasch intensiv kennen. Sie waren beide Ju- risten, waren beide Verwaltungsfachmänner. Und mit Rechts- und Verwal- tungsfragen hatten sie jetzt täglich zu tun. Im neuen, großen Land wie in der Partei mussten Verwaltungsstrukturen gänzlich neu geschaffen werden – das bot vielen aus den Beamtenapparaten des Dritten Reiches die Möglichkeit zu einem Neustart. Über diesen fast täglichen Austausch entwickelte sich sehr rasch ein für Adenauer ungewöhnlich enges Vertrauensverhältnis. Blankenhorn wurde sein wichtigster Helfer in der Gründungsphase der Re- publik. Sein »Troubleshooter«, sein »Mann für alle Fälle«, diskret, verlässlich, klug. Sein Mann für die reibungslose Verbindung mit den Alliierten, mit den Innuendo, Innuendo 439

Siegermächten, mit den Hohen Kommissaren.366 Das alles war Blankenhorn, den uns der Kommissionsbericht als »Fall«, als unterschwellig Verstrickten präsentiert, ohne dafür Belege beizubringen. Natürlich gehört Blankenhorn zum Thema. Ganz massiv sogar. Beim Neuaufbau des Auswärtigen Amtes spielte er nämlich eine beträchtliche Rolle. Bevor wir uns dieser Rolle zuwen- den, müssen wir in diesem Zusammenhang auf eine der vielen Merkwürdig- keiten im Kommissionsbericht hinweisen. Dort heißt es: »Nicht Bonn, sondern ›Pankow‹ ernannte den ersten deutschen Außenmi- nister der Nachkriegszeit: Georg Dertinger von der Ost-CDU [im Spät- herbst 1949; D.K.]. Auch wenn der Spielraum für die ostdeutsche Diplo matie begrenzt war, geriet die Adenauer-Regierung damit auf außen- politischem Gebiet ins Hintertreffen. Aus der Sicht der Alliierten ent - wickelte sich die politische Kultur der frühen Bundesrepublik teilweise so unerfreulich, dass sie keinen Anlass für Konzessionen auf außenpolitischem Gebiet sahen. Alle im Bundestag vertretenen Parteien wetterten in mitunter schrillen Tönen, gegen die Demontage deutscher Industrieanlagen …« 367 Die Technik des Innunedo kommt nicht allein bei Personen, sondern auch bei der Darstellung der Republikgeschichte zur Anwendung. Was für eine selt- same »Beweiskette« wird uns hier präsentiert? Die DDR als Vorbild? Deren Außenministerium war doch bis 1972/73 ein rechter Witz, war eigentlich kaum vorhanden, auf Osteuropa und jene wenigen Staaten darüber hinaus beschränkt, die sich über die Bonner Hallstein-Doktrin hinwegsetzten und für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit dem SED-Staat in Kauf nahmen, dass man das am Rhein als unfreundlichen Akt verstand, den eigenen Botschafter abberief. Erst 1972/73 änderte sich an der für DDR qualvollen internationalen Isolation etwas. Jetzt konnten in Ost-Berlin die Früchte der Brandtschen Entspannungspolitik geerntet werden, wurde ein größeres eigenes diplomatisches Korps benötigt, das sogar bald schon eine eigene ostdeutsche UNO-Mission umfassen würde. Ähnlicher Unfug ist die Behauptung, wegen des scharfen Protests der bun- desdeutschen Seite gegen die fortlaufenden Demontagen und der insgesamt unerfreulichen Entwicklung der politischen Kultur – Innuendo, Innuendo, denn was sollte damit gemeint sein, die Revitalisierung des Nationalismus etwa? – seien die westlichen Siegermächte zurückhaltend mit ihren Konzes- sionen gewesen. Wie hätten denn nach Meinung der Kommissionsschreiber die Westdeutschen, allen voran Kurt Schumacher, die Sozialdemokraten und Gewerkschaften auf die Demontagen reagieren sollen? Hätten sie erfreut »Danke, Danke« sagen sollen? Für den Modernisierungsschub, der sich bald 440 Hexerjäger: Der Panzerschrank der Schande einstellen sollte, weil neue Maschinen konstruiert und angeschafft werden mussten? Oder glauben die Verfasser des Kommissionsberichtes 2009/10 schlichtweg, dass es schon damals, 1948/49 verwerflich gewesen ist, eigene, nationale, deutsche Interessen zu vertreten und geltend zu machen gegenüber den Siegermächten? Die Interessen der arbeitenden Bevölkerung übrigens, welcher durch die Demontagen ganz schlicht der Arbeitsplatz genommen, die eigene Existenzsicherung gefährdet wurde. In jedem Fall zeichneten sich schon bald auch im Westen Schritte ab in Richtung auf eine Vertretung deutscher Interessen im Ausland. Adenauer setzte dabei Blankenhorn von Anfang an ein, übertrug ihm eine Vielzahl organisato- rischer Aufgaben, beginnend mit der Leitung der Verbindungsstelle zur Alli- ierten Hohen Kommission im Kanzleramt, nachdem diese im Zuge der Weststaatsgründung ihren Dienstsitz von Berlin auf den Petersberg bei Bonn verlagert hatte und beim Aufbau und der Zusammensetzung der für die Au- ßenpolitik zuständigen Dienststelle im Kanzleramt, die aus dem in Stuttgart angesiedelten »Büro für Friedensfragen« hervorging. Dessen letzten Leiter Peter Pfeiffer, einen ehemaligen Generalkonsul, der 1925 ins AA und 1940 in die NSDAP eingetreten war, den die Amerikaner 1942 in Algier interniert und 1944 ausgetauscht hatten und der nach 1945 als »Entlastet« eingestuft worden war, beauftragte Adenauer mit der Ausbildung der künftigen Auslandsbeamten. Pfeiffer wählte dazu eine Art Internat in Speyer, wo die angehenden Diploma- ten in einer ehemaligen Lehrerakademie untergebracht wurden. Hauptaugen- merk legte er darauf, die zukünftigen Vertreter der jungen Republik zu Repräsentanten eines neuen Deutschland zu machen. Dass hier einem neuen Nationalismus und Revanchismus der Boden bereitet worden wäre, vermag nicht einmal der Kommissionsbericht zu behaupten. Allerdings wurde der Nachwuchs zunächst nur höchst unzureichend vorbereitet auf das, was bald schon zum Berufsalltag gehören sollte: der Umgang mit und innerhalb inter- nationaler Organisationen. Doch das war 1950/51 noch Zukunftsmusik.368 Nachdem die Außenminister der westlichen Siegermächte – Dean Acheson, Ernest Bevin und Robert Schuman – sich am 10. und 11. November 1949 auf ein Minimalprogramm zur Eingliederung der Bundesrepublik in das west- liche Staatenbündnis verständigt hatten, wurde mit dem Bundeskanzler am 22. November auf dem Petersberg ein Ausführungsprogramm verabredet. Im Kanzleramt wurde ein »Organisationsbüro für die konsularisch-wirtschaftli- chen Vertretungen im Ausland« eingerichtet und zu dessen Leiter Wilhelm Haas bestimmt – das war der Beginn der zaghaften westdeutschen Rückkehr in die Außenpolitik. Die Alliierten wünschten jedoch, die Fäden in der Hand »Ihr naht Euch wieder, schwankende Gestalten« 441 und – was im Kommissionsbericht weitgehend außen vor bleibt – bei allen wesentlichen Personalvorschlägen, auch bei der Besetzung der Auslandsver- tretungen, das letzte Wort zu behalten. Im September 1950 – unter dem Eindruck des gerade in Asien ausgebro- chenen Korea-Krieges – einigten sich die drei Westmächte auf eine Revision des Besatzungsstatutes. Wenn die junge Bundesrepublik die Schulden des Rei- ches zu übernehmen und zu regeln sowie einen Beitrag zur westlichen Vertei- digungsgemeinschaft zu leisten bereit war, sollte ihr die Errichtung eines Außenministeriums und die Aufnahme eigener Beziehungen zu ausländischen Staaten gestattet werden. Nachdem bis zum 6. März 1951 eine auch für Deutschland akzeptable Schuldenregelung ausgehandelt worden war, wurde eine Woche später das Auswärtige Amt wieder errichtet. Der stellvertretende französische Hochkommissar Armand Bérard, ein So- zialist und den Deutschen gegenüber von tiefem Misstrauen erfüllt wie über- haupt das Gros der französischen Administration, wusste bereits im September 1950 nach Paris zu berichten, dass in dieser Dienststelle im Kanzleramt etwa die Hälfte einst unter Hitler und Ribbentrop als Pg gedient hätten, an ihrer Spitze Blankenhorn selber. Ein Jahr später meldete Bérard, dass 62 von 100 Beamten oder Angestellten im mittlerweile neu aufgebauten Auswärtigen Dienst von den amerikanischen oder deutschen Spruchkammern in den Jah- ren zuvor in die Kategorien 3 oder 4 – als »Mitläufer« oder »Minderbelastete« – eingestuft worden waren.369 Außerdem zählte er 43 ehemalige SS-Mitglieder und 17 frühere Mitglieder des SD. Das war die Personalsituation, als das Auswärtige Amt wieder seine Pforten öffnen durfte. Im Herbst 1951, vom 1. bis zum 6. September, publizierte da- raufhin der junge Michael Mansfeld unter dem Titel Ihr naht Euch wieder (schwankende Gestalten) in der Frankfurter Rundschau seine von Robert Kemp- ner inspirierte, mit einer Vielzahl substantieller Informationen gespickte fünf- teilige Serie über die enge Personalverflechtung zwischen dem alten und dem neuen Auswärtigen Amt, das offenbar neben dem Namen auch gleich einen Großteil des alten Personals behalten hatte. Konrad Adenauer, der die Ent- wicklung selbst mit Skepsis und voller Misstrauen gegenüber den Karrieredi- plomaten verfolgte, sah sich deshalb kontinuierlichen Angriffen der Presse und der SPD-Opposition ausgesetzt. Einer der ersten Untersuchungsausschüsse des Bundestages untersuchte da- raufhin über ein Jahr lang die Personalpolitik und überprüfte 21 Personalent- scheidungen für den höheren Dienst im neuen Amt. Die allermeisten dieser Entscheidungen waren nach damaligen Maßstäben unproblematisch gewesen, 442 Hexerjäger: Der Panzerschrank der Schande zudem waren eine ganze Reihe von kritischen Kandidaten nicht eingestellt worden. In drei Fällen (von Bargen, Dittmann, von Grundherr) votierte der Ausschuss allerdings gegen eine Weiterverwendung im diplomatischen Dienst. Fünf der Überprüften hielt der Ausschuss für uneingeschränkt geeignet (Blan- kenhorn, von Etzdorf, von Kessel, Theo Kordt und von Nostitz-Drzewiecki), in weiteren fünf Fällen hatte der Ausschuss keine Bedenken (Herwarth von Bittenfeld, von Kamphoevener, von Keller, von Marchtaler und Susanne Simonis). Gegen die Weiterverwendung der leitenden Beamten Haas, Melchers und Schwarz erhob der Ausschuss keinerlei Einwände, sprach sich aber gegen ihre Verwendung in der Personalabteilung aus. Im Falle von Haas, der den Perso- nalaufbau maßgeblich mitgestaltet hatte, war das nicht ohne Pikanterie. In drei Fällen (Peter Pfeiffer, Schwarzmann und Tichy) wurde empfohlen, auf eine Entsendung ins Ausland zu verzichten. Gegen eine Beschäftigung Trützschler von Falkensteins gab es keine Bedenken, allerdings sollte zunächst von einer Beförderung Abstand genommen werden.370 Konrad Adenauer, der als Außenminister im AA mit als Staatssekretär und Herbert Blankenhorn als Leiter der Politischen Abteilung zwei enge Vertraute positioniert hatte, sollte im April 1952 in einem seiner geheimnisumwobenen »Teegespräche« mit Bonner Journalisten zu dieser Pro- blematik Stellung nehmen und bei dieser Gelegenheit eines seiner berühmten »geflügelten Worte« prägen, als er sagte: »Ich bin nicht gerade glücklich über die Zusammensetzung des Auswärtigen Amtes, keineswegs, aber – verstehen Sie das bitte jetzt nicht falsch – es gibt ein rheinisches Wort, das besagt: ›Man schüttet kein dreckiges Wasser weg, wenn man kein reines hat!‹ Deswegen will ich jetzt nicht sagen, dass es ein dreckiges Wasser ist, aber ich möchte damit sagen, dass ich natürlich ein Instrument brauche, um die Arbeit zu tun und dass ich, solange ich kein besseres Instrument habe, mich eben eines Instrumentes bedienen muss, so wie es da ist …« 371 Für diesen Pragmatismus hat die Historikerkommission in ihrem Bericht sech- zig Jahre später nur Verachtung übrig. Da ist von »Entlastungsfabrik« die Rede und davon, dass »die Entnazifizierung des Auswärtigen Dienstes das Ergebnis eines gigantischen Entlastungswerkes«, mithin kollektiver Täuschungs- und Vertuschungsmaßnahmen gewesen sei.372 Das Urteil des Bundestagsuntersu- chungsausschusses, der lediglich sechs der 21 Überprüften für belastet hält, zählt wenig für die Kommission. Der Kommissionsbericht unterstellt statt dessen – Innuendo, Innuendo – eine »Unterwanderung« der jungen Republik »Man schüttet kein dreckiges Wasser weg, wenn man kein reines hat« 443 durch ehemalige Nazis, obwohl im Band selbst eingeräumt wird, dass deren Anteil rasch und durchaus signifikant zurückgeht. 1951 gab es im Amt 137 Angehörige des höheren Dienstes – davon 61 aus der ehemaligen Wilhelm- straße. Ihr Anteil verringerte sich schnell, Anfang 1952 lag er bereits unter einem Drittel, Ende 1954 bei 23 Prozent. Die meisten waren nach damaligen Maßstäben unproblematisch.373 Dennoch wird verschiedentlich an anderer Stelle im Kommissionsbericht von der »für das AA typischen Dimension der Elitenkontinuität« gesprochen, von der die Öffentlichkeit »erstmals« während des Frankfurter Diplomatenprozesses gegen Franz Rademacher 1967/68 Kenntnis erhalten habe.374 Kann man ab 1954 – bei einem Viertel »Ehemali- ger« – aber tatsächlich von »AA typischer Elitenkontinuität« sprechen? Auch die Besetzung der Leitungsposition der für den Neuaufbau wichtigen Personalabteilung gibt für solche Verdächtigungen und Unterstellungen wenig her. Nach Wilhelm Haas wurde 1951 Herbert Dittmann ernannt, der aber als ehemaliger Pg und wegen seines missglückten Auftritts im Untersuchungs- ausschuss Nr. 47 rasch wieder abgelöst wurde. Auf ihn folgte 1952 Peter Pfeif- fer, wie seine beiden Vorgänger ein Karrierediplomat aus der Wilhelmstraße. 1953 übernahm für fünf Jahre mit Josef Löns ein Außenseiter – und Aden- auer-Vertrauter – den Posten. Nach einem knapp einjährigen Zwischenspiel unter Georg von Broich-Oppert, einem der Mitbegründer der Berliner CDU, wurde von 1959 bis 1961 der Jurist Alexander Hopmann Personalchef. Auch wenn Adenauer 1955 das Außenamt an Heinrich von Brentano abgegeben hatte, war es für Hopmann gewiss von Vorteil, dass er einst ein Mitarbeiter des Kanzlers in der erwähnten Verbindungsstelle zur Alliierten Kommission gewesen war. All diese Personalien bieten keinerlei Anhaltspunkte für die im Kommissionsbericht unterstellte braune Unterwanderung des Amtes nach dem Zweiten Weltkrieg. Zudem wird dort ein simpler historischer Tatbestand weitgehend vergessen oder ausgeblendet. Die Bundesrepublik war 1951/52 noch nicht souverän, auch wenn das heute manchem kaum mehr vorstellbar erscheinen mag. Es gab eine Alliierte Hohe Kommission. Es gab auf dem Petersberg die drei Hohen Kommissare und einen beträchtlichen Mitarbeiterstab, die die junge Bundesrepublik bei ihrem rasanten Neuaufbau begleiteten, aber eben auch überwachten und kontrollierten. Gewiss, sie waren bald schon – nach dem Beginn der Berliner Blockade 1948/49, denn damit begann der Kalte Krieg erst wirklich in den Fokus der Beteiligten in den westlichen Administrationen zu rücken – an einem verlässlichen neuen, antikommunistisch ausgerichteten Verbündeten und immer weniger an der »Aufarbeitung der braunen Vergan- 444 Hexerjäger: Der Panzerschrank der Schande genheit« interessiert, denn der gemeinsame Gegner herrschte von Moskau aus und wurde als durchaus bedrohlich eingeschätzt. Im Kommissionsbericht wird diese eine Karte des Antikommunismus als Übertünchungsmittel für braune Verstrickungen weit über Gebühr ausgereizt. Was dabei ausgeblendet wird: Die sich allmählich verbreitende und Sieger wie Besiegte verbindende antikommu- nistische Grundhaltung machte die Hohe Kommission nicht völlig »blind« für deutsche Hypotheken aus der Vergangenheit. Im Kommissionsbericht wird deshalb ein ganz einfacher, aber wesentlicher Sachverhalt beiseite geschoben: Jede, aber auch wirklich jede Personalentschei- dung für die höheren Positionen in der neuen bundesdeutschen Administra- tion und keinesfalls nur Globke oder Wickert allein wurde ab 1949 und bis 1955 – Kalter Krieg, Antikommunismus hin oder her – von den Hohen Kom- missaren und ihrem nicht umsonst personell gut ausgestatteten Mitarbeiter- stab gecheckt, geprüft, musste nach einem längeren Verfahren genehmigt werden. Dieses »Screening«, bzw. die Anfrage beim Berlin-Document-Center, wo keineswegs nur die zentrale NS-Mitgliederkartei mit ihren 10,7 Millionen Karteikarten aufbewahrt wurde, war eine unvermeidliche Regelanfrage. Ihre Spuren finden sich in nahezu jeder Personalakte aus dieser Zeit. Bevor Globke 1950 als Ministerialdirigent in das kleine Büro unter das Dach des beengten Kanzleramtes einzog, wurde er von der Hohen Kommission überprüft. Diese signalisierte anschließend ausdrücklich ihre Zustimmung zu dieser Personal- entscheidung. Theodor Heuss bedankt sich dafür ausdrücklich bei McCloy, bevor er die Ernennungsurkunde unterschreibt und teilt es auch am 29. Juli 1950 in einem Schreiben Erich Ollenhauer von der oppositionellen SPD mit. Möglicherweise ist noch eine weitere Prüfung Globkes erfolgt, als er auf nach- drücklichen Wunsch von Adenauer im Herbst 1953 nach der von der Union gewonnenen Bundestagswahl die Nachfolge von Otto Lenz als Staatssekretär des Bundeskanzleramtes antrat.375 Was damals kaum jemand wusste: Die Amerikaner verfügten zusätzlich zur NSDAP-Mitgliederkartei über eine recht eindrucksvolle Datenbasis, etwa über Akten zu 62.000 SS-Führern, 600.000 SS-Personalakten (etwa 60 Prozent des Gesamtbestandes), 500.000 Akten aus dem Rasse- und Siedlungshauptamt, darunter eine Vielzahl von NS-Fragebögen, mehr als 100.000 Personalakten der SA, des NS-Lehrerbundes und weiterer NS-Untergruppen, sowie Perso- nalakten der Reichskulturkammer, des Volksgerichtshofes und der Gestapo. Das Netz der Alliierten war also keineswegs so löchrig, wie man annehmen mag und so mancher einstmals tiefbraune Fisch blieb in ihm hängen. Auch die Franzosen machten von den gebotenen Möglichkeiten Gebrauch und lie- »Übereifer im Kampf gegen die Gespenster der Vergangenheit« 445

ßen sämtliche für den diplomatischen Dienst in ihrem Lande, für die neue Botschaft in Paris vorgesehenen deutschen Diplomaten überprüfen. Was die personelle Zusammensetzung des Auswärtigen Amtes anlangt, so sahen die Hohen Kommissare – ganz anders als die Historikerkommission sechzig Jahre später – die Sache übrigens ähnlich wie Bundeskanzler Adenauer. Also ziemlich pragmatisch. Als dem englischen Hochkommissar Sir Ivone Kirkpatrick – er hatte wie sein Kollege François-Poncet schon vor dem Krieg in Berlin Dienst getan – der Bericht des Bundestagsuntersuchungsausschusses vorgelegt wurde, bekundete er Verblüffendes. Zunächst Sympathie mit eini- gen der durch den Ausschuss Belasteten. Um dann zu betonen – dass derlei im Untersuchungsbericht der Historikerkommission fehlt, sollte uns jetzt nicht mehr erstaunen –, »dass auf erfahrene ehemalige Ribbentrop-Mitarbei- ter kaum verzichtet werden könne, wolle das Auswärtige Amt effizient arbei- ten«! Um – man reibt sich nach der Lektüre des Amt-Bandes wirklich verblüfft die Augen, weil es einfach unfassbar scheint – tatsächlich noch London mit- zuteilen: »Es ist nicht an uns, den Eifer zu kritisieren, den die Deutschen dabei gezeigt haben, den Geist der Nazi-Zeit zu bannen. Unserer Auffassung nach droht ein tendenzieller Übereifer im Kampf gegen die Gespenster der Vergangenheit …« 376 Ähnlich verhielt es sich inzwischen auf amerikanischer Seite. Als der Hohe Kommissar John McCloy in dieser Phase ein kritisches Memorandum über die Zusammensetzung des Auswärtigen Amtes aus der Feder des demokrati- schen Abgeordneten und Senators Jacob Javits aus New York erhielt, in wel- chem auch über eine entsprechend besorgte Stellungnahme des American Jewish Congress berichtet wurde, reichte er dieses Schreiben kommentarlos weiter – an wen? An Walter Hallstein, den Staatssekretär des neuen Auswär- tigen Amtes in Bonn, der in seiner Antwort die »tendenziöse, übertriebene« Berichterstattung in der amerikanischen Presse für die Einschätzungen ver- antwortlich machte und auf die Überprüfungsarbeit des Untersuchungsaus- schusses verwies. Kommentarlos leitete McCloy die deutsche Antwort dann wieder zurück an Javits.377 Von irgendwelcher Besorgnis über gefährliche Tendenzen im Auswärtigen Amt war bei Briten und Amerikanern zu diesem Zeitpunkt keine Spur mehr vorhanden. Lediglich der französische Hohe Kommissar François-Poncet, der vor dem Krieg lange Jahre aus Berlin nach Paris berichtet hatte und mit den deutschen Verhältnissen gut vertraut war, befürchtete im März 1952, im Amt könne eine neue »Brutstätte des Nationalismus« entstehen, allerdings nicht eine neue Brutstätte des »Nationalsozialismus«.378 Aber diese Sorge trieb sämt- 446 Hexerjäger: Der Panzerschrank der Schande liche Franzosen im Regierungsapparat damals um, gehörte noch über viele Jahre hinweg zur intellektuellen Grundausstattung der französischen Admi- nistration. Im Kreis der Hohen Kommissare stand François-Poncet mit seinen Besorgnissen allerdings mittlerweile weitgehend allein. Er selbst hatte im Herbst 1951 noch ganz ähnlich wie seine beiden Kollegen geurteilt: »Wenn man sich in Erinnerung ruft, dass 90 Prozent der Deutschen Hitler gefolgt sind, dann muss man sich fragen, ob es möglich wäre, ein diplo- matisches Corps nur aus denjenigen zu rekrutieren, die in der Opposition gestanden haben«. Dass die Antwort auf diese Frage selbst für ihn nur »Non« lauten konnte, war eindeutig. Und die Parteizugehörigkeit der deutschen Diplomaten, von denen François-Poncet eine Vielzahl persönlich kannte, hielt er selbst für eher no- minell und für kein wirklich brauchbares »Ausschlusskriterium«.379 Das alles wusste der erste Kanzler der Bundesrepublik, dem in der Gründungskrise des Auswärtigen Amtes nach dem großen Krieg die Kommissare den Rücken stärkten, weil sie diese Personalquerelen in keiner Weise mit Besorgnis erfüll- ten. Eine der zentralen und großen Leistungen der Regierung Adenauer sollte die rasche Integration vieler Pg beim Neuaufbau des Staates darstellen – ohne dadurch die demokratische Substanz der jungen Republik zu beschädigen! Diese Leistung der Gründergroßväter und Gründerväter wird im Kommis- sionsbericht auf verblüffende Weise ziemlich ahistorisch in ihr genaues Ge- genteil verkehrt und zum schweren Malus der Republik stilisiert – der insgeheim in ihr fortgewirkt haben soll bis zu jenem Tage, als Joschka Fischer seine Unabhängige Historikerkommission berief und ihr für die »Operation Hinkelstein« den Auftrag zur Diplomatenjagd erteilte. Adenauer hätte darü- ber nur den Kopf geschüttelt. Und er hätte all das wohl ähnlich abschätzig kommentiert wie den anhaltenden Disput über die Zusammensetzung des Auswärtigen Amtes in jenen Anfangsjahren der Republik: »Viel Geschrei – und nur wenig Worte.« 380 447

Die Stimme der Toten

Unter dem Einfluss von Pallas Athene, die für Gerechtigkeit, Ausgleich und Aus- söhnung wirbt und in der Orestie des Aischylos den Muttermörder Orestes wieder aufnimmt in die Gesellschaft, verwandeln sich die Erinyen, die antiken Rache- göttinnen, in Eumeniden, in Wohlgesinnte. Sie legen Gram, Hass und Rachsucht ab und loben die Weisheit der Pallas Athene. »Nie Rachgier, wechselmordender Schuld lüstern, blutig zerrütten die Stadt! Freude belohnen, gemeinsam. Gleiches mit allen zu lieben, allen gleich zu hassen auch, das heilt vielen Gram der Sterb- lichen«, rufen sie am Ende aus.

»Die Toten interessieren sich nicht im Geringsten für die Lebenden. Wir be- greifen sie nicht. Wir können uns einfach nicht vorstellen, wie das war. Wir können uns einfach nicht vorstellen, wie erschreckend Diktatur und Krieg ist – und wie normal es wird. Können es nicht verstehen und es uns nicht vor- stellen. Die Toten haben keine Stimme«, schreibt Susan Sontag in ihrem Essay Die Leiden anderer betrachten. Susan Sontag hat Recht. Die Toten interessieren sich nicht für die Leben- den. Die Toten haben keine Stimme. Sie können nicht mehr für sich und nicht mehr zu uns sprechen. Sie können nichts mehr erklären, nichts mehr verständlich machen. All dies können sie jetzt allenfalls noch mittelbar tun. Sie benötigen dazu, wenn überhaupt, was alle Diplomaten in ihrem schwie- rigen Geschäft alltäglich heranziehen und nutzen: Dolmetscher. Die wichtigs- ten Dolmetscher für die Toten sind – Historiker. Ist das nicht ihre wichtigste Aufgabe? Den Toten eine Stimme geben. Im Falle der Zeitgeschichte nicht um sie reinzuwaschen von schwerer Schuld. Aber um etwas mehr Verständnis für die Generation der Väter und Mütter, der Großmütter und Großväter zu wecken bei den Lebenden. Um eben nicht nach dem Leitsatz der denunziatorischen Geschichtsschreibung zu verfahren, den Francis Bacon im frühen 17. Jahrhundert formulierte – »Audacter calumniare, semper aliquid haeret« (»Verleumde keck, es bleibt immer etwas hängen«). 448 Die Stimme der Toten

Um die Damnatio memoriae zu bekämpfen. Durch Nachdenklichkeit. Durch das fortwährende Stellen der Kernfrage, die den Subtext für dieses Buch bildet: Wie hätten wir gehandelt in jener Zeit der Verlockung und Gewalt? Hätten wir die Probe bestanden? Hätten wir widerstanden? Widerstanden unter Ein- satz des eigenen Lebens, unter Opferung der Familie, von Frau und Kindern? Hätten wir diese Probe wirklich bestanden? Die Stimme der Toten. Nach dem am 29. November 2010 in Auszügen in der F.A.S. veröffentlichten Gespräch mit Frank Schirrmacher erhielt ich eine Vielzahl von Briefen – nicht zuletzt eine ganze Reihe aus jenem Amt, um das sich in den vorangegangenen Kapiteln alles drehte. Von aktiven, aber auch von nicht mehr im Dienst sich befindenden Beamten. Die meisten mündeten in die Aufforderung, von dem Thema nicht abzulassen. Die wichtigste Zuschrift stammte zweifellos aus der Feder von Michael Libal und kam vom Helgoländer Ufer in Berlin. Sein Vater war Wolfgang Libal, der 1912 in Prag das Licht der Welt erblickt hatte, als das Habsburger Reich noch nicht untergegangen war. Als gebürtiger Österreicher war er 1940 ins Auswär- tige Amt gekommen. Nach dem Krieg und der Gefangenschaft wurde er Jour- nalist, berichtete als dpa-Korrespondent und Balkan-Experte unter anderem aus Jugoslawien. 2008 starb er mit über 95 Jahren hochbetagt in Wien. Sein Sohn Michael, mein unerwarteter Korrespondenzpartner, gelangte, von der Fa- miliengeschichte zweifellos stark geprägt, 1971 gleichfalls ins Auswärtige Amt. 1977 war er deutscher Interims-Geschäftsträger in – Mogadischu. Dort erlebte er vor Ort die dramatische Befreiung der von Terroristen entführten Lufthan- samaschine »Landshut« durch die deutsche GSG9-Einheit unter dem Kom- mando von Oberst Ulrich Wegener unmittelbar mit, war an der Seite von Hans-Jürgen Wischnewski an den ebenso umfangreichen wie hektischen Vor- bereitungen für diesen ersten »militärischen« Auslandseinsatz der Bundesrepu- blik auf dem Boden eines anderen souveränen Staates intensiv beteiligt. Als er 2005 in den Ruhestand trat, war er Botschafter in Prag gewesen. Michael Libals vielseitige und grundlegende Mitteilung verdient, hier zumindest in einigen längeren Auszügen wiedergegeben zu werden: »Dass man glaubt, den in den letzten 20 Jahren sozialisierten Attachés des AA noch besonderen Nachhilfeunterricht in Sachen Drittes Reich geben zu müssen, scheint mir denn doch kurios. Insgesamt erfüllt das Buch zwei- fellos eine notwendige und nützliche Funktion, zumal es eine Reihe bisher nicht bekannter und recht niederschmetternder Einzelheiten bringt. Um die wissenschaftliche Leistung geht es mir aber nicht in erster Linie. Es geht darum, dass diese Leistung von Joschka Fischer zu seinem eigenen Ruhme Michael Libal schreibt einen Brief 449 mit dem Trompetenschall einer angeblich alles Bisherige umstürzenden, politisch auch jetzt noch hoch relevanten Neuigkeit auf dem Jahrmarkt der bundesdeutschen Eitelkeiten ausgestellt wird. Es geht um diese Joschka-Fi- scher-Show, in der er als Ritter auf dem weißen Pferd gegen die finsteren und greisen Weisen von der Wilhelmstraße antritt, die bis heute die Köpfe ganzer Generationen von elitären, insbesondere aristokratischen, in jedem Fall ignoranten oder lernunwilligen Mitgliedern des AA vergiftet haben sol- len. Fischers politischer Amoklauf gegen das heutige Amt hat die Studie der vier beteiligten Historikerherausgeber und all ihrer zahlreichen Helfer nachdrücklich herabgewürdigt zur Auftragsarbeit für die Fehde eines aus- rangierten Politikers gegen eine Gruppe ebenso ausrangierter älterer Herren und sie wird trotz ihrer partiellen Verdienste diesen Geruch schwerlich wie- der loswerden. Der Triumphalismus von Joschka Fischer, dem die Medien in dieser Sache aus der Hand fressen – man lasse sich nur die Devotheit, mit der die F.A.S. vom 24. Oktober das Interview mit ihm führte, auf der Zunge zergehen –, ist alles andere als eine gute Sache. Von der Debatte, von der Frank Schirrmacher in dem Gespräch mit Ihnen am Ende spricht, kann keine Rede sein. Wer debattiert denn hier mit wem? Vielmehr hat Joschka Fischer mit Hilfe des Buches und assistiert von sei- nem Nachfolger Steinmeier einen Pappkameraden aufgebaut, den es schon seit Jahrzehnten nicht mehr gab und der jetzt unter riesigem öffentlichem Beifall abgeschossen wird: Das Bild von einem sich selbst rekrutierenden, junkerlichen AA, das sich bis heute, nicht zuletzt in der Attachéausbildung immer wieder neu einen strahlend weißen Persilschein ausstellt und sich als Hort des Widerstandes ausgibt. Ich glaube nicht, dass unter all jenen, die mit mir 1971 oder später ins Amt eingetreten sind, noch irgendjemand an einen solchen Mythos geglaubt hat, den man uns wohlweislich auch gar nicht mehr auftischte. Inwieweit manche der älteren Kollegen, die schon vor 1945 im Amt tätig gewesen waren, aus einem pervertierten moralischen Selbstschutz meinten, daran glauben zu müssen, vermag ich nicht zu beurteilen … Wenn man die ak- tuelle Diskussion verfolgt, fragt man sich in der Tat, was bei dem vorgeb- lichen massenmörderischen Eifer des Auswärtigen Amtes denn dann überhaupt noch SS, Gestapo und RSHA zu tun hatten? Dass es sich beim Dritten Reich um eine mörderische Diktatur handelte, die für Zivilcourage wahrlich nicht viel Platz ließ, ist derzeit – auch medial – kaum einer flüch- tigen Erwähnung wert. Dafür betrachten Joschka Fischer und seine vier Historiker die Tschechoslowakei nach 1945 offenbar als unanfechtbaren 450 Die Stimme der Toten

Rechtsstaat wie der Umgang mit dem Prager Urteil zu Nüßlein beweist … Fischer und Steinmeier bauen mit den vier Historiker-Professoren darauf, dass die Wenigsten der Versuchung zu wohlfeilen Pauschalurteilen wider- stehen können. Also wird der Hass des deutschen Spießers auf ›Eliten‹ – möglichst noch in Verbindung mit dem Adjektiv ›reich‹, was sich hier aber leider nicht wirklich gut machen lässt – wie einst in den Zeiten des Natio- nalsozialismus energisch angefacht. Die jungen Beamten im heutigen AA werden mit Erstaunen vernehmen, dass ihre vornehmste Aufgabe darin bestehen soll, im Auftrag von mächti- gen ›Mumien‹ die Kontinuität der Eliten vom Kaiserreich bis in die Ge- genwart aufrecht zu erhalten! Einträchtig haben die beiden Exminister Fischer und Steinmeier den Boden dafür bereitet, dass sich die altbekannte, scheinheilige Mischung aus Häme, Neid und Verachtung über das Auswär- tige Amt ergießen kann, als ob die jetzt dort Tätigen – die Ältesten gehören dem Jahrgang 1946 an – in irgend einer Kontinuität mit den vor 70 Jahren dort Arbeitenden stünden. Die kläglichen, wenig sachkundigen Kommen- tare von Jost Müller-Neuhoff und Lorenz Maroldt am 26. und 27. Oktober im TAGESSPIEGEL stehen hier für nur zu viele ähnlich lautende andere.381 Das ist der Dank von zwei Ex-Ministern für die – auch bei Fischer im Gro- ßen und Ganzen loyale und effiziente – Unter stützung, die sie vom Amt und im Amt erhalten haben! ›Niederträchtig‹ dürfte wohl die angemessenste Bezeichnung für ein solches Verhalten sein …« Diese einprägsame Botschaft blieb mir in Erinnerung. Kaum jemand sonst hatte so offen und direkt angesprochen, wo die fundamentalen Schwierigkei- ten des Kommissionsberichts lagen – und liegen. Eine erste Stimme für die Toten. Etwas später, im Frühjahr 2011, erreichten mich abermals Zeilen von Michael Libal. Jetzt schrieb er mir etwas resigniert: »Ich habe natürlich Ihre Kritik und diejenige Ihrer Fachkollegen – vor allem Richard J. Evans und jetzt gerade Johannes Hürter in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte – an dem Buch weiter verfolgt, soweit mir das möglich war. Ich glaube, dass ich zusammen mit Ihnen und einigen wenigen His- torikerkollegen der Erste war, der sich etwas polemisch, aber vergebens, gegen die ungeheuerliche, von den Medien höchst beifällig aufgenommene Propaganda Fischers gewandt hat. Und zum Abschluss meiner Beschäfti- gung mit dem fragwürdigen Werk habe ich mir jetzt schlussendlich doch noch den persönlichen Luxus einer Art ›Privatrezension‹ geleistet, die aber wohl kaum jemals irgendwo gedruckt und gelesen werden wird. Ich schicke sie Ihnen heute aber dennoch zu …« »Eine scheinheilige Mischung aus Häme, Neid und Verachtung« 451

Libals lange, zehn engzeilig beschriebene Blätter umfassende Betrachtung ist bemerkenswert. Sie ist sachlicher ausgefallen als sein erster Brief, unterfütterte und untermauerte seine damaligen Feststellungen argumentativ. Es ist anzu- nehmen, dass sie als kleiner Trostspender in den Netzwerken der aktiven und ehemaligen Diplomaten kursierte, von denen kaum ein anderer – mit Aus- nahme von Heinz Schneppen – den offenen Kampf gegen die mediale Über- flutung im Gefolge des Kommissionsberichts aufgenommen und sich so intensiv mit den vorgetragenen Sachverhalten auseinandersetzt hatte wie Libal das tat. Die meisten Diplomaten schwiegen – ob verbittert oder resigniert, wer mochte das entscheiden? Ich telefonierte mit Libal, fragte ihn, ob ich ihm bei der Suche nach einer Publikationsmöglichkeit helfen dürfe, helfen solle? Er winkte ab. Keine Redaktion habe Interesse gezeigt. Der Text sei wohl auch zu lang. Der Sachverhalt zu kompliziert. Der mediale Mahlstrom zu mächtig. Ich könne mit dem Essay machen, was immer ich wolle. Er selber habe mit der insgesamt überaus ärgerlichen und unerfreulichen Sache inzwischen ab- geschlossen. Nur wenige Monate später, im November 2012, erreichte mich die Nachricht, dass Michael Libal im Alter von 71 Jahren verstorben war. Ich hatte ihn als aufrechten, klaren Mann kennengelernt und war traurig. Als sich die Reali- sierung dieses Buches abzeichnete, stand für mich fest, dass seine Ausführun- gen in ihm auftauchen würden. Daher wird in diesem letzten Kapitel, der Überschrift entsprechend, seinen resümierenden Worten Platz eingeräumt, damit sie fortan als eine Art Vermächtnis, mindestens partiell, in der Welt sind und von Interessierten wahrgenommen werden können. Er spricht zu uns als ein Mann, der sich schon als Student der Zeitgeschichte verschrieben und über Die japanische Außenpolitik 1940/41 promoviert hatte, später im diplo- matischen Dienst 1995–96 als Fellow ans Center for International Affairs an die Harvard University ging, der also sowohl das Amt und den Beruf des Di- plomaten wie auch das Handwerkszeug des Historikers genau kannte. Er stellte zum Kommissionsbericht fest: »Das Buch bringt eine Fülle interessanter Einzelheiten, vor allem für den nicht mit der Literatur und der Thematik Vertrauten. Das gilt vor allem für die Personalpolitik der dreißiger Jahre in den ersten drei Kapiteln, sowie die personalpolitischen Auseinandersetzungen der 50er und 60er Jahre, ein- schließlich der kleinlichen, wenn nicht beschämenden Behandlung von Emigranten und Widerständlern durch das Amt … Nicht zu übersehen ist aber die Unfähigkeit der Kommissionsmitglieder, das Material systematisch zu organisieren und daraus ein klares Bild für den Leser zu entwickeln. Als 452 Die Stimme der Toten

ein Beispiel für die schlechte Organisation des Stoffes mag die über mehrere Kapitel verstreute Behandlung der Zentralen Rechtsschutzstelle dienen, über die man gerade im Lichte der Themenstellung des Buches gerne mehr er- fahren hätte. Statt dessen wird man mit Erzählungen über mehr oder minder relevante Personalquerelen abgespeist und mit der massiven Beschuldigung konfrontiert, der ›Rechtsschutz‹ sei einer Vielzahl von NS-Verbrechern zu- gute gekommen – ohne jeden Beleg und ohne eine akzeptable Anzahl von Beispielen. Auf Seite 665 ff. wird über (Vor)Ermittlungen gegen eine Anzahl von Diplomaten berichtet, deren Namen teilweise erstmals auftauchen. Man hätte gern Näheres über diese Personen und die gegen sie gerichteten Vor- würfe sowie die Ergebnisse der Ermittlungen erfahren. An Stelle einer überschaubar strukturierten Darstellung werden in hinge- streuten Bemerkungen und suggestiven Nebensätzen immer wieder An- schuldigungen allgemeinster Natur ausgesprochen. So dient eine höchst selektive Darstellung der Entwicklung des AA nach dem Kriege allein dazu, dem Amt immer wieder einen ›Primatsanspruch‹, bzw. ein ›Sonderbewusst- sein‹ und die Bewahrung eines ›Korpsgeistes‹ unter den Angehörigen vor- zuwerfen, als ob dies alles höchst verwerfliche Dinge und nicht etwa Aspekte eines sehr speziellen Berufes mit ungewöhnlichen Anforderungen und Belastungen sind, die sich im Übrigen in allen anderen europäischen Staaten gleichfalls finden lassen. Im Misstrauen gegen traditionelle Eliten gehen die Professoren und Autoren auf verblüffende Weise völlig konform mit dem kleinbürgerlichen Ressentiment der Nazis. Ferner machen sie in einem für um vorgeblich politische Neutralität bemühte Wissenschaftler erstaunlichen Ausmaß keinen Hehl daraus, dass ihre Sympathie allein Joschka Fischer, bzw. der rot-grünen Koalition von 1998 und keiner Re- gierung, keinem Außenminister in den nahezu 50 Jahren zuvor gilt. Nichts wurde in den letzten Jahrzehnten ›vertuscht‹. Sensationell oder bri- sant ist das Werk der Kommission in keinem Falle – und es ist nur noch von sehr begrenzter Relevanz für unsere heutige Situation. Wer etwas an- deres behauptet, muss sich immer die Frage gefallen lassen, ob er das Projekt für eigene politische Zwecke instrumentalisieren will. Steht ein neuer Fa- schismus vor der Tür? Müssen die jungen deutschen Diplomaten damit rechnen, wieder in Verbrechen verstrickt zu werden? Müssen noch irgend- welche Väter oder Großväter entlarvt werden? Muss man unseren Nach- wuchsdiplomaten auf diese Weise Zivilcourage beibringen? Wissen die deutschen Diplomaten nicht schon seit Wiederbegründung des Amtes 1951/52, dass, wenn sie im Ausland für Deutschland sprechen, sie im Kopf Verspäteter Prozess gegen frühere Angehörige der Behörde 453 haben müssen, was im deutschen Namen alles geschah? Haben sie das nicht nahezu alle stets auf überzeugende Weise getan? Wo hat es je nach dem Krieg Beispiele für deutsche Großmannssucht und deutschen Größenwahn gegeben? Mit aller Gewalt wird aber in diesem ›Bericht‹ versucht, eine Ver- bindung zu ziehen zwischen der alten ›braunen‹ Wilhelmstraße und den jüngeren, nach dem Krieg eingetretenen Diplomatenjahrgängen. Man kann aus prinzipiellen Gründen die Auffassung vertreten, kein Mit- glied aus Gliederungen des NS hätte nach dem Krieg wieder ins Amt ein- gestellt werden dürfen, ganz unabhängig davon, ob es persönlich an Verbrechen beteiligt gewesen war oder nicht. Ohne dies deutlich zu sagen, scheinen die Herausgeber und Autoren dieser Auffassung zuzuneigen. Sie ist legitim – aber auch eine a-priori-Entscheidung, die keiner weiteren wis- senschaftlichen Begründung bedarf, schon gar nicht auf 800 Seiten. Zudem haben die Herausgeber und Autoren im Sinne und Interesse ihres Auftraggebers Joschka Fischer entschieden, individuelle Fälle aufzurollen. Hier geht es um Angehörige des Amtes, die in den allermeisten Fällen be- reits verstorben sind, deren guter – oder jetzt vielfach sehr fragwürdiger – Ruf jedoch von Bedeutung für ihre Nachkommen, Verwandten, Freunde und durchaus auch für ihre ehemaligen Kollegen im Amt ist. Aus deren Sicht trägt Das Amt zwangsläufig den Charakter eines verspäteten Prozesses gegen frühere Angehörige der Behörde. Das Buch wirkt durchweg wie eine als Gerichtsurteil verkleidete Anklage- schrift. Wie alle Prozesse hätte auch dieser dann aber sorgfältig, unter Be- rücksichtigung der Unschuldsvermutung für die Angeklagten, geführt werden müssen. Die Fülle der Fehler und Ungenauigkeiten, die man in einem historischen Werk über das 18. und 19. Jahrhundert vielleicht mit einer kritischen Fußnote registrieren würde, können in diesem Buch nicht so einfach hingenommen werden. Hier steht das professionelle Ansehen der sich zu einem Urteil berufen fühlenden Historiker gegen den Ruf und das Ansehen der von ihnen Angeklagten über deren Tod hinaus. Man hat nicht den Eindruck, dass sich Herausgeber und Autoren des Erns- tes dieser Auseinandersetzung und der daraus resultierenden hohen wissen- schaftlichen und moralischen Verpflichtung und Verantwortung bewusst waren. Im Gegenteil: Die verständliche Forderung nach möglichst eindeu- tigen Belegen haben die Herausgeber mit dem Hinweis abgelehnt, sie seien ›nicht an die Grundsätze einer juristischen Beweisführung gebunden‹ (so Moshe Zimmermann auf einer Podiumsdiskussion am 27. Januar 2011 in Berlin) oder sie haben entsprechende Forderungen verächtlich als ›Quel- 454 Die Stimme der Toten

lenpositivismus‹ abgetan (wie Norbert Frei in München, vgl. F.A.Z. vom 13. Januar 2011). So wird aus der Mitwirkung des AA an der Vernichtung der Juden auf eine kollektive Mitschuld aller Angehörigen des Amtes ge- schlossen, vor allem, falls sie Mitglieder der Partei, der SS oder SA gewesen sind, ohne dass man sich in den meisten Fällen die Mühe macht, ihre in- dividuelle Schuld zu beweisen und zu gewichten. Es wird nicht sauber zwi- schen mindestens drei Kategorien unterschieden: 1. Personen, gegen die nichts weiter vorliegt als ihre formelle Mitgliedschaft in Partei, SA, SS, SD. 2. Personen, die als Mitwisser oder Berichterstatter die Verbrechen beglei- teten, ohne selbst aktiv in diese verwickelt zu sein. 3. Personen, die aktiv oder sogar initiativ an den Verbrechen mitwirkten. Man kann dem Buch allenfalls zugute halten, dass es im Nachhinein be- legt, wie abstoßend das Verhalten vieler Angehöriger aller drei Kategorien nach dem Kriege war und zwar weniger wegen der Leugnung einer ohne- hin häufig schwer beweisbaren Mittäterschaft, sondern wegen der teilweise erbärmlichen Versuche, wider besseres Wissen überhaupt jegliche Mitwis- serschaft abzustreiten. In diesem Zusammenhang kommt den im Amt breit gestreuten Berichten der Einsatzgruppen zweifellos entscheidende Bedeutung zu. Aber aus der Lektüre dieser Berichte zu schließen, sie seien ein ›wichtiger Bestandteil der alltäglichen Aktivitäten des Amtes‹ gewor- den, ohne zu belegen, worin denn diese Aktivitäten fern vom eigentlichen Schauplatz des grauenvollen Geschehens in den von deutschen Truppen besetzten Ostgebieten bestanden haben sollen, fällt wie so vieles andere in die Rubrik ›pauschale und unbewiesene Anklage‹. Ähnliches gilt für die Deutung eines aggressiven antisemitischen Informationsrundschreibens an die Auslandsvertretungen als ›Aufforderung‹ des AA (an wen eigentlich: die SS? Hitler? Himmler?), zu einer ›Gesamtlösung der Judenfrage‹ in Form eines ›Reservates‹ oder durch physische Vernichtung zu schreiten (S.174). Offenbar soll der Leser den Eindruck erhalten, das Amt habe noch vor Hit- ler und Himmler die Vernichtung der Juden als operatives Ziel in die deut- sche Politik eingeführt. Dem entspricht die pauschale Behauptung (S.178), im Auswärtigen Amt seien antisemitische Stereotypen und Einstellungen stark ausgeprägt gewesen und deswegen habe man mit der Auswanderungs- politik auf Dauer nicht zufrieden sein können und nach Alternativen gesucht – jeder Leser ›weiß‹ heute, welche Alternativen gemeint sind: mör - de rische! Der deutsche Diplomat dieser Jahre als Mischung aus Julius Strei- cher und Reinhard Heydrich. Ganz auf dieser Linie liegen die nicht weiter Abstoßendes Verhalten vieler Angehöriger des AA 455 begründeten Behauptungen (S.183 ff.), das Amt habe nach Kriegsausbruch eine ›leitende‹, bzw. ›tragende Rolle‹ in der Judenpolitik gespielt. Diese Darstellung ist wohl in erster Linie für die Medien und den uninfor- mierten und daher um so schockierteren Leser bestimmt, während der etwas kenntnisreichere Leser (S. 189) mit der wissenschaftlich viel weniger angreifbaren Feststellung ruhig gestellt wird, dass deutsche Diplomaten sich ›nur‹ als willige Helfer des RSHA erwiesen hätten. Ein durchaus interessantes Ziel des ›Projekts‹ hätte sein können, den My- thos von der Existenz zweier Auswärtiger Ämter zu entlarven, nämlich eines ›guten‹ der traditionellen Diplomaten und eines ›bösen‹, das sich aus von Ribbentrop protegierten Nazi-Chargen zusammensetzte und allein für die Beteiligung an den Untaten des braunen Regimes verantwortlich gewesen sein soll. Abgesehen davon, dass ich im Amt dem oben erwähnten Mythos nie begegnet bin, stellte ich bei genauerer Lektüre überrascht fest, dass das Buch seinem Anspruch nicht gerecht wird und sich teilweise selbst wider- spricht: Während etwa auf Seite 129 behauptet wird, in personeller Hin- sicht sei der Wechsel von Neurath zu Ribbentrop keine Zäsur gewesen, unterstreicht man auf Seite 153 ff. ganz richtig die mit dem Einrücken der Ribbentrop-Seiteneinsteiger in zentrale Funktionen verbundene Auflösung der Homogenität des Diplomatenkorps. Die zentrale These des Buches wird dann aber flugs auf Seite 155 wiederhergestellt, mit der Bemerkung, die ›klassischen Aufgaben‹ seien weiterhin fest in der Hand der Traditions- diplomaten geblieben – ohne jedoch einen Gedanken darauf zu verschwen- den, worin denn nach dem Frühjahr 1939, bzw. nach dem Abschluss des Hitler-Stalin-Paktes die ›klassischen Aufgaben‹ überhaupt noch hätten be- stehen können. Viel wichtiger: Das Buch belegt selbst eindeutig die zahlenmäßig absolut dominierende Stellung der politischen Seiteneinsteiger bei der Verfolgung der Juden bis hin zur physischen Vernichtung. Von den in diesem Zusam- menhang erwähnten Personen (vom Rang eines Staatssekretärs abwärts) las- sen sich 34 als derartige NS-Seiteneinsteiger identifizieren und nur sechs als normale Laufbahnbeamte! Allerdings hat das Amt nach dem Krieg zur Ver- wischung der Unterschiede selbst beigetragen, indem es tatsächlich einige wenige dieser Seiteneinsteiger wieder in seine Reihen aufgenommen hat. In jedem Fall sind die Namen, die in der Darstellung der Judenpolitik am häufigsten fallen, wie beispielsweise Luther, Abetz, Rademacher, Veesenmayer, Steengracht, Six solche von Seiteneinsteigern – die wenigen Ausnahmen sind Schumburg, Benzler und Schönberg. Natürlich ist das Auswärtige 456 Die Stimme der Toten

Amt, juristisch gesehen, immer eine Einheit geblieben, aber, wie das Buch selbst beweist, hat sich sein Charakter ab Mitte der 30er Jahre deutlich ver- ändert bis hin zu dem in hohem Maße ›nazifizierten‹ Amt der Kriegszeit. NS-Größen wie Luther, Ludin, Veesenmayer, Bene, Best und andere schreckliche Judenjäger in den besetzten Gebieten und abhängigen Staaten einfach als ›Diplomaten‹ zu bezeichnen und sie damit zu Vorläufern zahl- loser späterer Diplomatenjahrgänge zu stilisieren, nur weil sie einige Jahre einen Diplomatenpass und einen diplomatischen Rang erhielten, ist nicht nur fragwürdig. Es ist tatsächlich infam. Und man kann ihre Äußerungen und Handlungen nicht einfach pauschal dem Auswärtigen Amt zuschrei- ben, wenn man nicht vorher klargestellt hat, von was für einem ›Auswärti- gen Amt‹ eigentlich die Rede ist. Von der alten Wilhelmstraße jedenfalls nicht mehr. Wer das, wie die Kommission, zu suggerieren versucht, gerät in den Verdacht, mit allen, auch den fragwürdigsten Mitteln eine Identität zwischen dem Amt von jeweils 1933, 1938, 1944 und dem der 50er Jahre herstellen zu wollen … Die Methode ist immer die gleiche – und es ist wirklich Methode, keine bloße Schlamperei: Erwähnt wird vor allem die formelle Zugehörigkeit der betreffenden Beamten des Amtes zu Nazi-Organisationen als Beleg für eine, dann aber meist ziemlich nebulös bleibende ›NS-Biographie‹. Semper ali- quid haeret. Nur keine Einzelheiten, die im Nachhinein als positiv bewertet werden könnten! Die Herausgeber haben diese geradezu gezielt unvollstän- dige Darstellung wichtiger Biographien mit dem Argument verteidigt, man habe keine Sammlung von Einzelbiographien vorlegen wollen. Aber für den einen Bereich gilt dieser Grundsatz eben nicht: Jede, auch die kleinste ideologische und/oder organisatorische Verstrickung von Amtsangehörigen in den Nationalsozialismus und die abscheuliche Judenverfolgung wird akribisch aufgespießt. Einen solchen hoch selektiven Umgang mit Tatbe- ständen dürfte sich nach deutschem Strafprozessrecht nicht einmal ein Staatsanwalt leisten. Überhaupt beschleicht einen mehr und mehr das Gefühl, dass viele, wenn nicht die meisten Mitarbeiter des Projektes keine oder nur sehr geringe Kenntnis der Voraussetzungen mitgebracht oder sich angeeignet haben, unter denen sich die von ihnen beschriebenen Ereignisse abgespielt und die von ihnen ja zumeist negativ beurteilten Protagonisten sich bewegt und gehandelt haben. Aber eine möglichst genaue Kenntnis des jeweiligen Um- felds, in diesem Falle also der Geschichte des Dritten Reiches und der darin herrschenden, durchaus komplexen Zustände und Abhängigkeiten ist eine Semper aliquid haeret 457 unerlässliche Bedingung für das Gelingen jeder Spezialuntersuchung. Recht enthüllend verlief in dieser Hinsicht das Gespräch einer Mitarbeiterin an dem Buch mit einem älteren, schon pensionierten Kollegen. Diese Histo- rikerin hatte nicht das geringste Verständnis für die selbstkritische Unsi- cherheit des Kollegen, wie er selbst sich in einem siegreichen Dritten Reich verhalten hätte. Sie hatte nicht den geringsten Zweifel, dass sie selbst im Dritten Reich zum Widerstand gestoßen und sogleich entschlossen Wider- stand geleistet hätte. O sancta simplicitas! Man kann sich vorstellen, mit welcher Naivität und Selbstgerechtigkeit sie an ihre Arbeit gegangen sein dürfte. Es überrascht kaum, dass nirgendwo, nicht einmal flüchtig und bei- läufig, erwähnt wird, dass es sich beim Dritten Reich um eine mörderische Diktatur gehandelt hat, die für Akte der Zivilcourage wenig Raum ließ, ohne dabei sogleich das eigene Leben oder das der engsten Familienange- hörigen aufs Spiel zu setzen … Im Grunde ist mit dem vorgelegten Kommissionsbericht einer potentiell guten Sache ein denkbar schlechter Dienst erwiesen worden, und zwar aus mehreren Gründen. Zum einen als Folge der Propagandakampagne zur Diffamierung des Auswärtigen Amtes der letzten Jahrzehnte, mit der das Buch vorgestellt wurde. Diese demagogische Meisterleistung von Joschka Fischer hat zwar das Buch zu einem Bestseller gemacht. Sie hat aber viele vor den Kopf gestoßen, die sich zu Recht diffamiert fühlen, aber aus dienst- rechtlichen Gründen schweigen müssen. Zum Zweiten haben sich die vier Herausgeber nicht von dieser politischen Kampagne distanziert, sondern sie haben sie, wieder mit Hilfe einiger Me- dien, fortgeführt und noch gesteigert. Als Antwort auf offenbar schwer zu widerlegende professionelle Kritik von Historikerkollegen wurden von den Herausgebern ungeheuerliche Vorwürfe erhoben: die Kritiker wollten die Nürnberger Prozesse revidieren, seien von antisemitischen Motiven geleitet, würden sogar Rechtsradikalen zuarbeiten. Das sind in Deutschland letale Vorwürfe, mit denen man jede sachliche Diskussion abtöten und kritische Stimmen konkurrierender Wissenschaftler dauerhaft mundtot machen kann. Sie erinnern an den denunziatorischen Vorwurf einer ›nationalpoli- tischen Apologetik‹, mit dem Jürgen Habermas einst den Historikerstreit eröffnete. Drittens haben die Herausgeber allzu deutlich erkennen lassen, dass sie und ihre Autoren sich an die gemeinhin üblichen Grundsätze wissenschaftlicher Beweisführung nicht gebunden erachten, sondern sich stattdessen berech- tigt fühlen, die Evidenz nach eigenem Gutdünken auszuwählen und zu in- 458 Die Stimme der Toten

terpretieren. Das hat sich dann fast zwangsläufig immer wieder in einem Stil voller Parteilichkeit, Unterstellungen und Auslassungen entlastender Momente niedergeschlagen. Man wünschte sich wirklich, dass jemand das Buch noch einmal schreiben würde, dann aber ein Historiker mit einer guten Kenntnis der Zustände und Handlungsspielräume im Dritten Reich und seinen Institutionen, die den hier beteiligten Wissenschaftlern gänzlich fremd geblieben sind, ein Historiker, in dessen Umgang mit den Quellen man begründetes Vertrauen setzen könnte. Pflichtlektüre für deutsche Diplomaten zu sein, hat das vor- gelegte Werk leider nur aus einem Grunde verdient: als abschreckendes Bei- spiel dafür, dass man es sich mit der deutschen Vergangenheit nicht zu leicht machen sollte.« Die Stimme eines Toten. Ein Vermächtnis, in dem die ehrabschneidende Wir- kung des Kommissionsberichtes, die der Verfasser mit guten Gründen als un- angemessen und infam empfand, nüchtern analysiert wird. Denn die Kommission ist an ihrer Aufgabe gescheitert und hat versagt. Von Weisheit und Gerechtigkeit keine Spur, wie Libal völlig richtig angemerkt hat. Das Kom- missionsteam ist in seinem »Jagdtrieb historischer Ermittler« (Schneppen) über weite Strecken der Gefahr selektiver Wahrnehmung erlegen, die mit einer po- litisierten Zeitgeschichte fast zwangsläufig einhergehen muss und hat bei seiner Diplomatenjagd nahezu alles ausgeblendet, was erforderlich gewesen wäre, um zu einer »gerechten« Wertung zu gelangen. Wir wollen das an einem allerletzten Beispiel abschließend verdeutlichen. Es handelt sich um den »Fall Otto Bräu- tigam«, die Geschichte eines Diplomaten, der 1920 ins Amt gekommen und es bis 1939 zu einem der qualifiziertesten Ostexperten gebracht hatte. Er war also im Krieg ausgerechnet Experte für ein Gebiet, wo deutscher Rassenwahn bis hin zum staatlich organisierten Massenmord bald schon die Geschicke von Millionen bestimmen sollte. Im Sommer 1941 wurde Bräuti- gam von Alfred Rosenberg, Reichsminister für die besetzten Ostgebiete und einer der Gegenspieler Ribbentrops, angefordert. Staatssekretär Ernst von Weizsäcker entsprach dieser Bitte nur zu gern, weil er Wert darauf legte, im konkurrierenden Ostministerium durch einen Mann seines Vertrauens über die wesentlichen Schritte und Entscheidungen unterrichtet zu werden. Zeit- weise war Bräutigam zugleich als Hauptmann der Reserve auch Vertreter des Ministeriums beim OKW und beim Generalquartiermeister des Oberkom- mandos des Heeres und der Heeresgruppe A. Noch vor Kriegsende kehrte er dann wieder ins Auswärtige Amt zurück. 1952 bewarb er sich erneut bei dieser Behörde, wurde 1953 wieder ins Amt berufen und mit der Leitung der Un- Otto Bräutigam und das Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete 459

Dr. Otto Bräutigam

terabteilung Ost betraut. 1956 begann ein aufwändiges Untersuchungsver- fahren gegen ihn wegen seiner Tätigkeit in Rosenbergs Ostministerium (RMfdbO). Während dieser Zeit wurde er beurlaubt. Nach Abschluss der Un- tersuchung wurde Bräutigam 1958 zum Generalkonsul in Hongkong ernannt. 1960 reichte er – wie mit der Amtsführung, mit Außenminister Heinrich von Brentano abgesprochen – sofort mit Erreichen der Altersgrenze ein Gesuch für die Versetzung in den Ruhestand ein, dem der Minister entsprach. 1992 starb er, beinahe hundert Jahre alt, in Coesfeld.383 Dieser Mann, dem Heinz Schneppen eine seiner minutiös recherchierten Studien gewidmet hat, auf die wir uns hier stützen dürfen, begegnet uns im Kommissionsbericht verschiedentlich unter problematischen Etikettierungen. Entweder wird er uns als »Rosenberg-Intimus« oder als »alter Kamerad« Ro- senbergs präsentiert, in jedem Fall als ein Vertrauter – obwohl die persönlichen Beziehungen lediglich auf eine kurze Begegnung Anfang der zwanziger Jahre zurückreichten.384 1956 publiziert der »Ausschuss für deutsche Einheit« im Rahmen der DDR-Kampagne gegen Bräutigam sein privates Tagebuch unter dem Titel Aus dem Tagebuch eines Judenmörders (Juni 1941 bis 30. Januar 1943). 460 Die Stimme der Toten

In dem Text des Tagebuchs selbst lassen sich allerdings an keiner Stelle zu- stimmende Äußerungen zur Judenvernichtung entdecken, aber die Staatsan- waltschaft Hannover nimmt dennoch Ermittlungen auf. Sie wendet sich unter anderem an Robert Kempner, der Bräutigam im August 1948 zur Vorberei- tung des OKW-Prozesses ausführlich verhört hatte. Kempner antwortet am 16. Januar 1956, dass er bei der Durchsicht der alten Vernehmungsprotokolle festgestellt habe, dass damals »das aufrichtige Verhalten Dr. Bräutigams bei der Vernehmung die Anklagebehörde angenehm berührt« habe. Wiederum fünf Jahre später lässt Kempner die Staatsanwaltschaft in einem anderen Ver- fahren wissen, ihm sei aus den Akten bekannt, dass Bräutigam gegen das NS- Regime »scharf opponiert« habe. Zusammen mit seinem unmittelbaren Vorgesetzten Georg Leibbrandt wurde Bräutigam dennoch von der Staatsan- waltschaft der Beihilfe zum Mord beschuldigt. Im Bericht der Kommission werden all diese Details entweder ausgeblendet oder einmal mehr in Verbindung mit der bekannten Innuendo-Technik prä- sentiert. Tatsächlich hatte das Landgericht Nürnberg/Fürth bereits mehr als fünf Jahre zuvor – 1950 – nicht allein »aus Mangel an Beweisen ein Strafver- fahren gegen Dr. Otto Bräutigam eingestellt«, wie es im Kommissionsbericht heißt,385 sondern in seinem Beschluss explizit festgehalten, »dass Dr. Bräutigam die Judenvernichtung nicht billigte, dagegen tat, was in seiner Macht stand und dass er der SS verdächtig genug war, um überwacht zu werden. Zusam- mengefasst ergibt sich, dass die bisherigen Ermittlungen keinen Beweis dafür erbracht haben, dass der Angeschuldigte zur Ausrottung der Juden in den be- setzten Ostgebieten durch Rat und Tat wissentlich Beihilfe geleistet oder als Vorgesetzter strafbare Handlungen seiner Untergebenen wissentlich geduldet habe. (…) In der Hauptverhandlung ist daher zu erwarten, dass der Ange- klagte nicht verurteilt werde«.386 Deshalb wurde der Staatsanwaltschaft vom Gericht empfohlen, das Ver- fahren einzustellen; die Kosten sollte die Staatskasse tragen. Warum das nicht im Kommissionsbericht auftaucht, muss nach den letzten Kapiteln nicht mehr gefragt werden. Die Empfehlung des Gerichts ist deshalb bemerkenswert, weil die Kammer zu diesem Zeitpunkt bereits ein von Bräutigam unterzeichnetes Schreiben an Reichskommissar Hinrich Lohse in Riga vom 18. Dezember 1941 kannte, in dem es heißt, dass »in der Judenfrage inzwischen durch mündliche Besprechungen Klarheit geschaffen« worden sein dürfte. Den komplexen Sachverhalt, in den dieser Brief eingeordnet werden sollte, hat Heinz Schneppen in seiner umfangreichen Darstellung des Falles zusammen- gefasst: Kontext des Grauens 461

»Das Schreiben bildet den Abschluss eines mehrteiligen Vorgangs, der durch Judenerschießungen in Libau ausgelöst wurde, gegen die Reichskom- missar Lohse, in der Annahme über eigene polizeiliche Zuständigkeiten zu verfügen, eingeschritten war. Dies wiederum führte zu einer entsprechen- den Beschwerde von Einsatzgruppe und RSHA, was wiederum Lohse ver- anlasste, sich mit der Bitte um endgültige Klärung an das Ostministerium zu wenden. Lohses Anfrage vom 15.11.1941 wurde nicht schriftlich beant- wortet, da dieser inzwischen mündlich von Rosenberg und HSSPF Fried- rich Jecklen über die angestrebte ›Endlösung‹/Ermordung unterrichtet und darauf hingewiesen worden war, dass die von ihm vorgebrachten Gesichts- punkte unerheblich seien. Da Lohses Brief aber formal noch nicht beant- wortet war, mahnte das in Riga routinemäßig die Erledigung an. Die von Bräutigam verfasste Antwort, war somit die büro- mässige Erledigung eines in tatsächlicher Hinsicht bereits geregelten Vor- gangs, an dem Bräutigam selbst ursächlich nicht beteiligt war. Dennoch wird der Text dieses Schreibens bis heute in der Literatur gegen Bräutigam verwandt und ohne Berücksichtigung des Kontextes als dessen ›Auftrag zur Fortsetzung der Greueltaten‹ missverstanden.« 387 Als Mitte der fünfziger Jahre die Angriffe gegen Bräutigam, aus der DDR mu- nitioniert, an Intensität zunahmen, wird Oberstleutnant i.R. und Ministeri- aldirektor a.D. Detlev von Stechow, der von Freislers Volksgerichtshof zu einer Haftstrafe verurteilt worden war, gegenüber dem Untersuchungsführer sein tiefes Erstaunen darüber äußern, dass »ein Mann wie Dr. Bräutigam, der in seinem Kampf gegen unmenschliche Maßnahmen bis an die Grenze des Mög- lichen gegangen ist, lediglich aufgrund einer nachweislich falschen Interpre- tation eines Schreibens aus dem Jahre 1941 von der Presse als Mann dargestellt wird, der die Judenverfolgung begünstigt, ja angeordnet hat, ohne dass gegen die Verunglimpfungen eingeschritten wird.« 388 Entscheidend war einmal mehr in diesem Kontext des Grauens die SS. Sie verfügte über das entscheidende Anweisungs- und Durchsetzungsmonopol. Ganz entscheidend war dabei zweifellos Himmler. Seine Ausführungen sind in diesem Fall von besonderem Interesse. Er beschwerte sich tatsächlich per- sönlich und schriftlich am 16. Juni 1943 bei Rosenberg – über Bräutigam: »Es ist mir berichtet worden, dass der vom Auswärtigen Amt zu Ihnen ab- geordnete Generalkonsul Dr. Bräutigam eine Ostpolitik vertritt, die ich nicht anders als Gefühlsduselei bezeichnen kann … Generalfeldmarschall von Kleist hat dem Führer gegenüber geltend gemacht, dass der von ihm unterzeichnete Befehl der Heeresgruppe A maßgeblich auf Herrn Bräuti- 462 Die Stimme der Toten

gam persönlich zurückzuführen sei. Dieser Befehl enthält zahlreiche Vor- schriften über die milde Behandlung in den von dem Heer besetzten Ge bieten der Ukraine. Hier kann man schon wirklich von einem Buhlen um die Gunst der Bevölkerung sprechen, wo doch nach Ansicht des Füh- rers, die ich voll und ganz meinen Maßnahmen zugrunde gelegt habe, wir doch ausschließlich als Herrenmenschen aufzutreten haben.« 389 Himmler war so erbost über die »Humanitätsduselei« im Ostministerium, dass er nicht nur Bräutigam – für ihn wohl eine eher subalterne Gestalt – massiv rügte, sondern überdies die Absetzung von Bräutigams Vorgesetztem Leib- brandt erzwang, der durch einen seiner engsten Vertrauten, SS-Obergruppen- führer Gottlob Berger aus dem SS-Hauptamt, ersetzt wurde. Noch Anfang 1945 zog Bräutigam abermals den Zorn Himmlers auf sich. Kurzfristig soll man in der SS-Spitze die Verhaftung von Bräutigam in Erwägung gezogen haben, denn die »Störaktionen« aus dem Ostministerium hatten sich, jedenfalls nach Himmlers Auffassung, einfach nicht unterbinden lassen. In einem Ver- merk über eine SS-Führerbesprechung zwischen Himmler, SS-Oberführer Kroeger und SS-Standartenführer Brandt vom 8. Januar 1945 heißt es: »Für den Hauptschuldigen an den laufenden Störaktionen hält der Reichs- führer-SS den Ministerialdirigenten Bräutigam, der laufend und nicht ohne besondere Hintergedanken Zwietracht gesät hat.« 390 Darf, nein muss man es nicht einen Skandal nennen, wie die Kommission vielfach und eben keineswegs nur in wenigen Einzelfällen mit den Quellen umgegangen ist? Mark Twain hatte einst empfohlen: »Sammle erst die Fakten, dann kannst du sie verdrehen, wie es dir passt«. Aber selbst dieser Ratschlag wurde hier missachtet. Entweder wird in Zweifel gezogen, herabgewürdigt, in Abrede gestellt, werden Verteidigungsargumente als durchweg dubios wegge- wischt. Oder es werden einmal mehr, wie in diesem Falle, die Bräutigam mas- siv entlastenden Hinweise aus den Quellen gleich ganz weggelassen, nein: unterschlagen. Das ist denunziatorische Geschichtsschreibung »at it’s best«. Diese »Politik der Auslassungen« zum Nachteil der »Angeklagten« hat das For- schungsprojekt schwer und nachhaltig beschädigt. Denn die Quellenstücke mit den Himmler-Zitaten sind selbst für Doktoranden nicht unmöglich auf- zufinden gewesen. Sie hätten gar nicht weit reisen, bzw. in mehr als dreißig Archiven suchen müssen. Die Quellen sind im Politischen Archiv des Aus- wärtigen Amtes vorhanden und wären dort auszuwerten gewesen. Während der Untersuchungsführer, OLG-Präsident Heinrich Lingemann, 1957 nach der Einvernahme von über 50 Zeugen – die bis auf eine Ausnahme alle zu Gunsten von Bräutigam aussagen – feststellt: »Dr. Bräutigam war an »Sammle erst die Fakten, dann kannst Du sie verdrehen …« 463 der Judenverfolgung im Dritten Reich in keiner Weise beteiligt und hat statt dessen alles getan, um verfolgten Juden zu helfen«, heißt es im Kommissions- bericht: »Bräutigam war in die Vernichtungspolitik gegen die Juden, die sow- jetischen Kommissare und andere Bevölkerungsgruppen im Reichkommissariat Ostland eingeweiht. Nach dem Krieg behauptete er, die nationalsozialistische Besatzungspolitik als kontraproduktiv angesehen und soweit wie möglich un- terminiert zu haben.« 391 Heinz Schneppen weist zu Recht daraufhin, dass Bräutigam nie bestritten hat, über die deutsche Vernichtungspolitik in den Ostgebieten unterrichtet gewesen zu sein. Indem im Kommissionsbericht aber in diesem Zusammen- hang das Wort »eingeweiht« verwendet wird, suggeriert man bewusst und ge- zielt was? Komplizenschaft. Aber nicht nur gegenüber der SS ist Bräutigam als Mann mit Zivilcourage auffällig geworden. In den Dokumenten des Nürnberger Militärtribunals ist ein Brief von Rosenberg an Keitel als Chef des OKW vom 28. Februar 1942 überliefert, der aus der Feder von Bräutigam stammt und in dem die men- schenunwürdige Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener durch die Deut- schen scharf verurteilt worden ist. Die Aufzeichnung umfasst sechs Seiten. Dort steht etwa: »Das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen in Deutschland ist eine Tragödie größten Ausmaßes. Von den 3,6 Millionen sind heute nur noch einige hunderttausend arbeitsfähig. Ein großer Teil ist verhungert oder durch die Unbilden der Witterung umgekommen … An die Spitze der For- derungen ist daher zu stellen, dass die Behandlung der Kriegsgefangenen nach den Gesetzen der Menschlichkeit und entsprechend der Würde des Reiches zu erfolgen hat …« 392 Man reibt sich die Augen über diesen Zeilen. Es sind Spurenelemente jener seltenen »Oasen des Rechtsempfindens« innerhalb der braunen Diktatur in ihrer letzten, mörderischsten Phase, die in dieser Quellenpassage aufscheinen. Bräutigam war übrigens schon früher gegen die unmenschliche Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen aufgetreten, deren millionenfacher Tod in der Gefangenschaft ein bis heute weitgehend verdrängtes Kapitel im schwarzen Buch des deutschen Massenmordens darstellt. Schon Heinz Schneppen ist aufgefallen, dass die Darstellung von Bräuti- gams persönlichem Wirken im Kommissionsbericht schillert und schwankt. Im ersten ihm gewidmeten und von Jochen Böhler verfassten Textbaustein gibt es noch so etwas wie eine andeutungsweise positive Bewertung von Bräu- tigams Interventionen und es wird völlig richtig auf die untergeordnete Stel- 464 Die Stimme der Toten lung von Auswärtigem Amt (und RMfdbO) mit den – gegenüber der SS – entsprechend reduzierten Einflussmöglichkeiten hingewiesen. Thomas Maul- ucci zeichnet demgegenüber schon ein negativeres Bild. Er trägt vor, dass ge- rade am »Fall Bräutigam« sich nachdrücklich exemplifizieren lasse, dass man die eigene Entnazifizierung nach 1945 einfach möglichst lange habe hinaus- zögern müssen, um zu einem möglichst milden Spruch zu gelangen. Das sug- geriert zweifellos, dass wir es im Falle von Bräutigam mit einem zugleich schwer belasteten wie hochgradig raffinierten Verstrickten zu tun haben. Annette Weinke schließlich stellt fest, dass man sich auf Seiten der Sozialde- mokratie durch eine Aufzeichnung der Personalabteilung »zu Bräutigams an- geblichen Widerstandsaktivitäten« habe »blenden« lassen. Die letzten beiden »Textbausteinlieferanten« waren, das verraten ihre Wer- tungen, mit dem »Fall Bräutigam« nicht wirklich vertraut und hatten ihn sich ganz offenbar nicht sonderlich sorgfältig angeschaut.393 Immerhin zitiert An- nette Weinke, auch wenn sie das anschließend sogleich wieder relativiert, aus dem Abschlussbericht des OLG-Präsidenten Heinrich Lingemann vom 3. Juni 1957 den einen Halbsatz, dass »Dr. Bräutigam an der Judenverfolgung im Dritten Reich in keiner Weise beteiligt gewesen sei und stattdessen alles getan habe, um verfolgten Juden zu helfen«. Tatsächlich lautete die entscheidende und für Bräutigam noch wesentlich »vorteilhaftere« Passage aus dem Bericht: »Es kann abschließend festgestellt werden, dass die umfangreichen und nicht ganz einfachen Ermittlungen in der Sache Dr. Bräutigam keinerlei Anhaltspunkt ergeben haben, die auch nur im geringsten eine Schuld Dr. Bräutigams haben erkennen lassen. Die Ermittlungen haben vielmehr ganz einwandfrei erwiesen, dass die gegen Dr. Bräutigam erhobenen Beschuldi- gungen unzutreffend sind und dass Dr. Bräutigam, was auch seiner ganzen Persönlichkeit entspricht, alles in seiner Macht stehende getan hat, um die Verfolgten des Dritten Reiches und auch Juden zu schützen. Dr. Bräutigam war nach Kräften bestrebt, anderen Menschen zu helfen …« 394 Bräutigam war durch das Verfahren eigentlich eindrucksvoll entlastet worden. Aber im Auswärtigen Amt tat man sich dennoch schwer mit ihm. Schon mit Bräutigams Einstellung 1953 hatte man es sich wegen seiner Tätigkeit in Ro- senbergs kontaminiertem Ostministerium nicht leicht gemacht, zumal mit Eugen Gerstenmaier ein namhaftes Mitglied des Auswärtigen Ausschusses – er hatte zum »Kreisauer Kreises« gehört und war nach dem 20. Juli vor Freislers Volksgerichtshof nur knapp einem Todesurteil entronnen – Bedenken ange- meldet hatte, die erst nach einer längeren internen Überprüfung hatten ausgeräumt werden können. Trotz des für Bräutigam vorteilhaften Abschluss- Opportunismus als Grundeigenschaft des Diplomaten 465 berichts zeigte man sich auch jetzt – 1956/57 – im Amt in dieser Causa nicht sonderlich couragiert und stellte sich eher zögerlich vor den Beamten, der wei- terhin von einer keineswegs allein durch DDR-Medien lancierten Pressekam- pagne massiv bedrängt wurde. Ja, Mut vor der Macht der Medien gehörte schon damals nicht zur Kernausstattung der Amtsführung, positive Gutach- terergebnisse hin oder her. Bereits Ende 1957 zeichnete sich eine Lösung ab, die für die in die Gebäu- destatik des Auswärtigen Amtes wohl von Anfang an einzementierte oppor- tunistische Grundhaltung typisch ist. Personalchef Heinrich Löns gewann am 8. November 1957 Minister Heinrich von Brentano rasch für seinen Verfah- rensvorschlag: Der Minister solle Dr. Bräutigam nach seiner Beurlaubung nun- mehr ins Amt zurückholen, ihm seine vollständige Rehabilitierung mitteilen und – um ihn aus der Schusslinie zu nehmen – ihm eine Auslandsverwendung anbieten, ihm bei dieser Gelegenheit zugleich nahelegen, so früh wie möglich, also möglichst noch vor Erreichen der Altersgrenze, einen Antrag auf Verset- zung in den Ruhestand zu stellen. Entsprechend verfuhr der Minister. Den Antrag auf Versetzung in den vorzeitigen Ruhestand stellte Bräutigam aller- dings nicht. Er ging bis zum Abschluss seiner Karriere als Generalkonsul nach Hongkong und nahm mit 65 Jahren im Jahre 1960 seinen Abschied. Er sah sich wohl insgesamt als Mann, dem wie Nüßlein nach dem Krieg Unrecht wi- derfahren war. Dass man allein dadurch, dass man in Hitlers Behörden tätig gewesen war, die mit den deutschen Staatsverbrechen zwangsläufig in Berüh- rung gekommen waren und diese tätig begleitet hatten, für das neue Amt nach dem Krieg eine Belastung darstellen konnte, erkannte er nicht. Umgekehrt war man in der Amtsspitze auch bei Bräutigam ganz ähnlich wie bei Nüßlein nicht bereit, sich offensiv vor den eigenen Beamten zu stellen. In allen Phasen in der Geschichte des Amtes treffen wir eben auf beträchtliche Ausformungen von Opportunismus. Noch 2005 sind die meisten Pensionäre im Amt davon überzeugt, dass ein Mann wie Bräutigam am besten überhaupt nicht hätte nach dem Krieg wieder ins neue Amt aufgenommen werden dür- fen. Aus dem Ostministerium konnte man doch unbeschädigt gar nicht he- rauskommen, noch dazu, wenn man wusste und eingestanden hatte, dass Gaswagen als Mittel zum Massenmord eingesetzt worden waren, überhaupt die deutsche Vernichtungspolitik zumindest in ihren großen und schrecklichen Auswirkungen sich entfalten gesehen hatte. In der Tat sind die Parallelen zu Nüßlein auffällig. Bei Letzterem, überdies einem Seiteneinsteiger aus dem Justizministerium, waren die Allermeisten der »Mumien« noch 2005 der Auffassung, dass dieser Mann nach seinem Tode 466 Die Stimme der Toten

überhaupt kein ehrendes Gedenken verdient hatte. Erwin Wickert hatte dies- bezüglich vorgebracht, dass überhaupt nur die »bedauerliche amtsinterne Eh- rung« für Nüßlein Außenminister Joschka Fischer in die Lage versetzt habe, »die ganze alte Generation der Amtsangehörigen pauschal zu verdächtigen, die sich nach 1945 um die Wiederherstellung des deutschen Ansehens in der Welt verdient gemacht« hätten.395 Rainer Blasius hat denn auch mit gutem Grund über den Kommissionsbericht angemerkt: »Opportunisten von heute schreiben über Opportunisten von gestern und sind fest davon überzeugt, dass sie selbst keine Opportunisten gewesen wären, wenn sie gestern gelebt hätten.« 396 467

Fazit

Was man bei allem ausgeprägten Opportunismus im Amt selbst ebenso wie Michael Libal bei der Niederschrift seines Vermächtnisses noch nicht wissen konnte, war allerdings dies: Dass es der implizite Auftrag an die Kommission gewesen war, eine Verbindungslinie von der braunen Zeit bis in die Gegenwart zu ziehen und auf jeden Fall heraus zu präparieren, um das Amt bis in die jüngste Vergangenheit hinein zu diskreditieren, zu beschädigen und zu kon- taminieren. Joschka Fischer hatte 2005 genau mit dieser Absicht die »Operation Hin- kelstein« ins Leben gerufen und die Unabhängige Historikerkommission mit der Erforschung der Geschichte des Auswärtigen Amtes beauftragt. Er tat dies eben nicht zieloffen und aus Interesse an der Geschichte jener Institution, der er als Minister zum Zeitpunkt der Auftragserteilung schon seit sieben Jahren vorstand. Ihm ging es vielmehr und von vornherein in allererster Linie um eine Strafaktion. Geschichte sollte denunziatorisch und diffamierend instrumenta- lisiert werden und als Waffe gegen jene eingesetzt werden, die ihm – angefangen mit Erwin Wickert – im Amt Paroli geboten und sich ihm widersetzt hatten. Geschichtspolitik mit unmittelbarem Gegenwartsbezug. Im Hintergrund soll- ten auch jene getroffen werden, die erst nach dem Untergang des Dritten Rei- ches aktiv geworden waren. Auch wenn es vordergründig um die anderen ging, um jene Diplomaten, die Fischer mit dem verächtlichen Etikett »Generation 1938« umschrieb, jene also, die in jungen Jahren bereits im Dritten Reich tätig gewesen und überwiegend in die Partei, eine ganze Reihe von ihnen zugleich auch in die SA oder die mächtigste Institution des Dritten Reiches, die SS, ein- getreten waren. Von ihnen war nach dem Krieg tatsächlich eine ganze Reihe im Zuge des Wiederaufbaus ins neue Auswärtige Amt zurückgekehrt. Erst durch die Verknüpfung der alten Wilhelmstraße mit dem neuen Auswärtigen Amt erfüllte die »Studie« für den Auftraggeber jedoch ihren wirklichen Zweck. Dass die Verstrickten, diese zum Teil zumindest Belasteten aus der Wil- helmstraße nach dem Krieg und ihrer Rückkehr ins Amt nicht einer Revita- 468 Fazit lisierung des Nationalsozialismus das Wort geredet oder gar NS-Rassen- und Größenwahn wieder zum Durchbruch verholfen hatten, wusste Fischer nur zu gut. Er wusste auch, dass sie sich in ihren Aussagen vor den diversen Spruchkammern und Gerichten zwar nach 1945 vielfach abgestimmt, dabei Beschweige- oder Vertuschungskartelle gebildet und sich vielfach fälschlich zu potentiellen Widerstandskämpfern stilisiert hatten, überdies im heraufzie- henden Kalten Krieg ihren Antikommunismus geschickt hinüber zu transfe- rieren bestrebt gewesen waren in die neue Zeit. Aber – und auch das wusste Fischer ganz genau – all das geschah, ohne dass sie gegen die neue junge Re- publik zu konspirieren begannen und ohne dass sie deren neue, grundlegende Westorientierung in Frage stellten. Das geschah alles, ohne dass sie sich zu Wortführern von nationalen Rache- und Revanchegelüsten gemacht hätten, etwa die 1945 verlorenen Ostgebiete wieder hätten à tout prix zurückholen wollen. Auch dass die freundschaftliche Verbindung zu Israel gerade im Aus- wärtigen Amt bald schon, in den sechziger Jahren, mit einer besonderen Sen- sibilität aufgebaut und begleitet wurde, wusste Fischer nur zu gut. Tatsächlich stellten sich alle Diplomaten sehr rasch auf den neuen Boden des Grundgesetzes, wurden zu seinen entschiedenen Verteidigern, stellten sich uneingeschränkt in den Dienst des neuen jungen Staates, dessen Ansehen sie von Anfang an nahezu überall zu mehren begannen, wo sie auftraten, als sich die Welt ihnen gegenüber wieder öffnete. Taten es und wussten um die Gele- genheit einer »zweiten Chance«, die ihnen die Geschichte unerwartet rasch eingeräumt hatte. Die entschieden zu nutzen sie fest entschlossen waren – wie die Allermeisten ihrer Landsleute auch. Ihre Mitwirkung im Dritten Reich, ihre Verstrickungen bis hin zur Zuarbeit an den Staatsverbrechen beschwiegen sie machtvoll, vertuschten und verdrängten sie, manche schamvoll, manche selbstgerecht und ohne Mitgefühl und Trauer um die vielen qualvoll gemor- deten Opfer – wie die Allermeisten ihrer Landsleute auch. Ein Zurück in die Diktatur wollte kein Einziger von ihnen. Den Wert der Freiheit hatten sie alle schätzen gelernt, hatten erkannt, wie hoch der Preis gewesen war, um sie über- haupt nur zurückzugewinnen – wie die Allermeisten ihrer Landsleute auch. Hatten ihre Schlüsse gezogen, hatten sich eingesetzt für die zweite deutsche Republik. Aber in einer geradezu verblüffenden pseudomoralischen Rigidität, Schärfe und Unerbittlichkeit billigte Joschka Fischer dieser Gruppe nicht zu, was er sich selbst zubilligte und von dem er verlangte, dass es auch seinen Gefährten aus dem linken und linksradikalen, ja terroristischen Umfeld zugebilligt wer- den müsse – das Menschenrecht auf fundamentalen politischen Irrtum. Wenn »Generation 1938« gegen »Generation 1968« 469 keine individuell begangenen Verbrechen vorliegen, muss dieses Menschen- recht auf politischen Irrtum aber für jeden gelten. Damit die Möglichkeit, aus eigenen Fehlern zu lernen, entschieden korrigierende Konsequenzen zu ziehen, sich politisch gänzlich neu zu orientieren und für eine neue, bessere Sache ein- zutreten und zu wirken. Dieses Grundrecht sprach Joschka Fischer der »Ge- neration 1938« jedoch ab. Während es für die Verirrten aus der »Generation 1968« selbstverständlich gelten sollte. Der moralische Hochmut in Verbin- dung mit verachtungsvollem Ressentiment ist aber eine gefährliche Haltung und zeugt nicht von politischer Weisheit, nicht einmal von Klugheit und ver- söhnlicher Humanität. Es war aber diese Haltung, die am Anfang des Forschungsauftrags als ent- scheidender Impulsgeber vorhanden war und alles Weitere prägte. Um das von Anfang an erstrebte negative, ja über den Tod hinaus für die Betroffenen und deren Nachkommen vernichtende Ergebnis auch ganz gewisslich sicherzustel- len, erfolgte daher früh und inspiriert von Joschka Fischer eine von den vier Kommissionsmitgliedern mit Blick auf die mediale Breitenwirkung nur zu willig aufgegriffene Fokussierung der »Ermittlungen« auf einen einzigen, wenn auch zentralen Aspekt des Dritten Reiches: auf den Weg zum staatlich orga- nisierten, industriell vollzogenen Massenmord an den europäischen Juden und die Mitwirkung des Amtes, seiner mehr als viertausend Beamten, Angestellten und Mitarbei ter. Dass auch Angehörige anderer Gruppen wie sowjetische Kriegsgefangene, Sinti und Roma, Bibelforscher oder Homosexuelle ganz überwiegend ohne jegliche Beteiligung des Auswärtigen Amtes ermordet und ins Gas geschickt wurden, trat hierbei bereits in den Hintergrund. Indem ein- zig die Verbindung zwischen den Diplomaten und dem am höchsten konta- minierten Kernbereich des Dritten Reiches, dem Zentralort der moralischen Kernschmelze, für den die Chiffre »Auschwitz« steht, vor allem anderen he- rausgearbeitet werden sollte, war sichergestellt, dass eine Vernichtung jeglicher Reputation sich nahezu zwangsläufig manifestieren und öffentlich einprägen würde. Joschka Fischer, der die wissenschaftliche Literatur zu dieser Frage, ins- besondere das Buch von Hans-Jürgen Döscher über Das Auswärtige Amt im Dritten Reich bereits vor Vergabe des Auftrages an die Unabhängige Histori- kerkommission genau kannte, wusste, was er tat. Und er wusste, was er wollte. Vor allem aber wusste er von Anfang an, was er bekommen würde – die Dam- natio memoriae für die betroffenen Diplomaten und deren ehrabschneidendes Weiterwirken bis in die unmittelbare Gegenwart. Dabei kannte die Antike bereits die Bedeutung, den hohen Rang der Ver- söhnung nicht allein nach großen blutig-mörderischen Kriegen, worüber der 470 Fazit

Althistoriker Christian Meier ein erstaunliches Buch geschrieben hat.397 Das berühmteste Beispiel ist womöglich das Wirken von Pallas Athene am Ende der Orestie des Aischylos, jener Göttin, die für Weisheit, für Handwerk und Kunst steht – und für Gerechtigkeit. Nicht umsonst beendet ihr Eingreifen das mörderische Geschehen. Sie stellt die Ordnung wieder her am Ende jenes fürchterlichen Mordens im Geschlecht der Atriden, bei der Orest den Vater Agamemnon rächt, den die Mutter Klytaimnestra nach der siegreichen Rück- kehr aus Troja mit dem Opferbeil zerteilt, weil er die gemeinsame Tochter Iphigenie den Göttern vor Beginn des Feldzuges geopfert hatte – und nun mit Kassandra als Konkubine heimgekehrt war in sein Königreich Mykene. Pallas Athene schützt Orest, der doch die eigene Mutter erschlug und rettet ihn vor den rachedurstigen Erinyen – denn ihre Kugel, die weiße, die die Göttin als letzte in die Urne wirft, gibt den Ausschlag zu seinen Gunsten. Pallas Athenes Wille zu einem gerechten Urteil – für einen Muttermörder – und ihre Bereit- schaft, dies auch gegenüber den tobenden Erinyen durchzusetzen, geht der Historikerkommission ab. Denn der Kommissionsbericht ist ein Buch des Ressentiments geworden. Nicht ein Buch der Klarheit, der Weisheit und des abgewogenen, differen- zierten, um Gerechtigkeit und um Versöhnung sich bemühenden Urteils – wie Michael Libal in seinem Kommentar eindrucksvoll herauspräpariert hat. Ursprünglich kommt, zumindest in der Wissenschaft, erst die Forschung, dann die Erkenntnis und dann die Moral. Hier steht das Moralisieren vor aller Erkenntnis. Die Kommission fällt zudem hinter fundamentale Prinzipien des Rechtsstaats zurück, indem sie die für ihn konstitutive Unschuldsvermutung umkehrt. Für die Kommission gilt die prinzipielle Schuldbehauptung, unab- hängig von individuellem Handeln. Das Nichtberücksichtigen entlastender Hinweise gehört dabei ebenso zum »Handwerkszeug« wie das gering ausge- prägte Verständnis für die Vielschichtigkeit der ersten deutschen Diktatur, aber auch deren Grausamkeit, Unerbittlichkeit, und spießige Neidstruktur. Überdies hatten der Auftraggeber Fischer wie auch die Unabhängige Kom- mission und deren großes Rechercheteam völlig ignoriert, was bereits mehr als ein Jahrzehnt vor der Auftragsvergabe in der »offiziellen Geschichte« des Auswärtigen Amtes gestanden hatte über dessen Verstrickungen in der brau- nen Zeit: »Einige Diplomaten waren aktive Widerstandskämpfer gegen das NS-Re- gime und mussten dafür mit dem Leben bezahlen. (…) Die geringe Zahl der aktiven Widerstandskämpfer aus dem Amt zeigt jedoch auch, dass das Auswärtige Amt zwischen 1933 und 1945 kein Hort des Widerstandes Wenige Gegner, einige fanatische Anhänger, viele Mitläufer 471

gegen die braune Tyrannei war. Aber es war genau so wenig eine von der SS beherrschte nationalsozialistische Behörde. Die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte. Es gab einige wenige überzeugte Gegner des Nationalsozialis - mus und einige fanatische Anhänger dieser Ideologie unter den deutschen Diplomaten, daneben aber eben auch eine erhebliche Zahl von Mitläufern und Gleichgültigen, vielfach auch Menschen, die sich irgendwie – um selbst zu überleben – arrangieren wollten und mussten. Der Auswärtige Dienst war in dieser Hinsicht nicht besser und nicht schlechter als die übrigen Deutschen«.398 Das hatte der von den vier Professoren später in ihrem Stück über den »Pan- zerschrank der Schande« heftig attackierte Ludwig Biewer, der langjährige Lei- ter des Politischen Archivs im Auswärtigen Amt, bereits 1995 geschrieben, anlässlich des 125. Jubiläums des Auswärtigen Amtes im Januar diesen Jahres. Also genau fünfzehn Jahre bevor die von Joschka Fischer berufene Unabhän- gige Historikerkommission ihren Bericht vorlegte. Zwischen dieser abgewo- genen Beurteilung Biewers und der Kampagnenschrift der Kommission liegen Welten. Dass Norbert Frei und Annette Weinke in ihrem gemeinsamen Artikel Warum es um die »Mumien« einsam wird – Das Ende der Legende vom »anstän- dig« gebliebenen Auswärtigen Amt – er dürfte wohl den Tiefpunkt der gesamten Debatte markieren – kurz und abschätzig auf diesen Text eingehen, der even- tuell erst nach Fertigstellung des Kommissionsberichts vom Team wahrge- nommen worden ist, macht die Sache nicht besser.399 Ganz ähnlich wie Biewer hat Heinz Schneppen das Ressort im Dritten Reich aufgefächert: »Das Spektrum des Auswärtigen Dienstes bewegte sich spätestens in den Jahren des Krieges vom aktiven und passiven Widerstand bis zur aktiven oder passiven Beteiligung an Verbrechen. Zwischen diesen beiden Polen bewegte sich die Masse des Auswärtigen Dienstes, die sich weder in der einen noch der anderen Richtung exponierte. Manches hing von den Um- ständen, manches vom Charakter der Beteiligten ab … Unter den Bedin- gungen einer Terrordiktatur wurde auch im Auswärtigen Dienst Anpassung zur Lebensregel der Mehrheit. Aber nicht nur sie allein. Als man Abbé Sieyès nach der französischen Revolution, die er Anfangs begeistert begrüßt und unterstützt hatte, fragte, was er denn in den Jahren des mörderischen ›Terreurs‹ der Jakobinerherrschaft eigentlich getan habe, erklärte er kurz: ›J’ai survécu‹. Ich habe überlebt. Das gilt wohl für die Mehrheit des Auswärtigen Dienstes. Heldische Gesinnung ist kein Attribut des Diplo- matenberufes, so wie auch Zivilcourage nicht zu den Laufbahnvoraussetzun - gen eines Beamten zählt«.400 472 Fazit

Wie klug, wie wahr, wie richtig. Auch zwischen diesen Hinweisen Heinz Schneppens und dem Kommissionsbericht liegen – Welten. Aber unsere po- litischen Journalisten und unsere Classe politique haben es zugelassen, dass die These des Amt-Buches bislang nahezu kritiklos Verbreitung findet, dass Verbrecher die Bundesrepublik nach 1945, nach 1949 maßgeblich mit aufge- baut und ihre Außenpolitik bis in die Gegenwart hinein geprägt hätten. Der Bannstrahl der Damnatio memoriae traf damit auch jene, die wie Hans-Die- trich Genscher oder Walter Scheel als Schlüsselfiguren den erfolgreichen Neu- aufbau über Jahre und Jahrzehnte maßgeblich begleitet und im Bündnis mit unzähligen Anderen in vollem Krafteinsatz für diese zweite deutsche Republik gewirkt haben. In diesem Zusammenhang wird die – von Fischer inspirierte – Auffassung der Kommission landauf, landab medial verbreitet, dass der Ho- locaust tatsächlich zur Kernkompetenz, zum Kerngeschäft des Auswärtigen Amtes gehört hätte. Man kann nur staunen. Dabei hätte die Kommission eigentlich eine ganz andere zentrale Frage in den Mittelpunkt rücken und beantworten sollen: Wie konnte es geschehen, dass mit vielfach identischem Personal nach 1945 eine ganz andere Republik aufgebaut worden ist und zumindest im westlichen Teil des Landes keine neue Diktatur entstand. Die Diktatur im Ostteil wurde auf den sowjetischen Bajo- netten errichtet – hätten die Deutschen dort frei entscheiden dürfen, sie hätten sich dem westlichen Modell schon Jahrzehnte früher angeschlossen. Wie also konnte das Experiment Bundesrepublik gelingen? Denn dass es misslungen ist, werden wohl selbst die vier Professoren und ihr Team nicht behaupten wollen. Tatsächlich ist die gegenwärtige Situation überaus seltsam. Traf die Dam- natio memoriae nach 1945 vor allem Hitler, wurden all seine Büsten, seine Insignien – und diejenigen seiner Paladine und seiner Partei – vollständig aus dem Reich entfernt, gelöscht, zerstört – so ist diese Entwicklung mittlerweile vorbei. Heute ist Hitler als »Supermonster« im öffentlichen Raum wieder so präsent, als ob er kürzlich erst gestorben wäre. Er garantiert hohe Auflagen von Zeitschriften und Büchern bis hin zum Beststeller Er ist wieder da. Hitler ist heute zugleich ein Garant für hohe Einschaltquoten bei Fernsehdokumen- tationen geworden. Selbst mit Speer, mit Goebbels wurde und wird viel Geld verdient, nicht zuletzt auch international. Jetzt trifft der Jagdeifer der historischen Ermittler mit erheblicher zeitlicher Verzögerung und um so größerer Wucht jene, die als Zuarbeiter der ersten deutschen Diktatur in welcher Form auch immer in Lohn und Brot gestanden waren und nach einer kurzen Karenzzeit schon sehr bald in den Aufbaujahren »J’ai survécu!« 473

Diese Titelseite zeigt nur einen winzigen Ausschnitt der medialen Wirkung, die Hitler seit seinem Selbst- mord im Führerbunker im Frühling 1945 weltweit entfaltet. Allein DER SPIEGEL hat ihm inzwischen mehr als 100 Titelgeschichten gewidmet – im Schnitt zwei bis drei pro Jahr. Zahlen, die von keiner anderen Figur auch nur annähernd erreicht werden. 474 Fazit der Bundesrepublik wieder in Amt und Würden oder die ökonomischen Schaltzentralen gelangten, ohne dass sich damals ein Aufschrei der Empörung breit gemacht hätte. Umso lauter erklingt er heute, wo die Betreffenden na- hezu alle tot sind und sich nicht mehr wehren und nicht mehr erklären kön- nen. Die Unerbittlichkeit der Enkel, die moralische Rigorosität der Urenkel verblüfft, wo einst die Söhne noch mit einem gewissen Verständnis auf die Sünden der Väter geblickt hatten. Dabei gerät gänzlich aus dem Blick, was einst Willy Brandt zu unserem Kernthema »Umgang mit personellen Kontinuitäten seit 1933« formuliert hat. Er knüpfte an Kurt Schumacher an, der schon Anfang der fünfziger Jahre gemeint hatte, es sei Aufgabe aller Deutschen, selbst höchst belastete Täter von der SS in das Nachkriegsdeutschland zu integrieren. Brandt, der unter den persönlichen Diffamierungen Adenauers schwer zu leiden gehabt hatte, formulierte 1976 in seiner Bewertung des ersten Kanzlers der Bundesrepublik: »Dieser Punkt wiegt schwer, wobei ich jetzt, durch den zeitlichen Abstand, zu einer positiven Beurteilung neige: Die große innenpolitische Realisie- rung und Leistung Adenauers lag darin, Abstand zu schaffen zu dem, was vorher war, Zeit zu gewinnen für den neuen Staat: durch bewussten Op- portunismus, durch das bewusste nicht so harte Maßstäbe anlegen an die- jenigen, die im Dritten Reich engagiert gewesen waren; er war dabei in diesem Fall gar nicht so weit von Kurt Schumacher entfernt. Man konnte ein Volk nicht mitten durch spalten und es damit über die Runden der Er- eignisse jener zwölf Jahre bringen wollen … Damit hat er ein großes Stück Stabilität in den ›Laden‹ gebracht. Das war letztlich doch sehr positiv.« 401 Letztlich doch sehr positiv… Von einer solchen Sicht der Dinge sind Joschka Fischer und seine Unabhängige Historikerkommission Lichtjahre entfernt. Die Arroganz und Ignoranz der späten Geburt, aber auch die Voreingenom- menheit ihrer intentionalistischen Geschichtsschreibung stehen einer solchen Einschätzung im Wege. Bernhard Schlinks Kritik über die »denunziatorische Geschichtsschreibung« der Kommission gipfelt nicht von ungefähr in der Mahnung und Warnung: »Man lernt aus der Geschichte nicht, indem man auf sie blickt und über sie urteilt, als sei sie die Gegenwart. Man lernt Zivilcourage gegenüber to- talitären Vereinnahmungen nicht, wenn sie präsentiert wird, als habe sie nach 1933 nicht mehr gekostet, als heute ein Aufbegehren gegenüber staat- lichen oder gesellschaftlichen Institutionen kostet. Man lernt nicht, sich auch noch als Getriebener seiner Verantwortung bewusst zu sein, wenn man um das Verständnis für das Getrieben- und zugleich Verantwortlich- Willy Brandt: »Die Integration der Pg war letztlich doch sehr positiv.« 475

sein anderer gebracht wird. Man lernt Widerständigkeit nicht, indem man einübt, sich vom Mainstream moralischer Selbstgewissheit und -gerechtig- keit tragen zu lassen …« 402 Tatsächlich liegt darin die größte Schwäche des Kommissionsberichts. Er über- zieht in seinem »Aufklärungsfuror«. Es gibt nicht einmal Spurenelemente von Verständnis den Handelnden gegenüber. Keinerlei Versuch, ihr Handeln in die Zeit zu stellen – und dadurch, nein, nicht zu rechtfertigen, aber doch zu erklä- ren und einzuordnen. Unerbittlichkeit ersetzt hier Erklärung. Die Zeit der Dik- tatur scheint allenfalls als diffuses Zerrbild auf. Dabei wird dem Auswärtigen Amt im Kernbereich der Untersuchung, bei der Verwicklung in den Rassen- massenmord, ein Alleinstellungsmerkmal zugeschrieben, das der historischen Realität nicht entspricht. Der verbrecherische Rassenwahn hat als Staatsdoktrin schrecklicherweise die gesamte deutsche Administration, die gesamte deutsche Gesellschaft erfasst von den Sportverbänden bis hin zur Wehrmacht, die etwa Hilfsdienste leistete bei den Massenmorden der Einsatzgruppen. Viel zu wenige haben entschieden Widerstand geleistet – und diesen viel zu oft mit ihrem Leben bezahlt. Viel zu viele haben kooperiert und mitgewirkt in diesem Prozess – aber eben nicht allein und exklusiv die deutschen Diplomaten. Das Auswär- tige Amt war nie und zu keinem Zeitpunkt die Speerspitze des Rassenwahns und es war auch keine »Verbrecherhöhle«, die den Massenmord ausbrütete und exekutierte. Durch eine solche Darstellung und Wertung, wie sie im Bericht von Joschka Fischers Historikerkommission vorgenommen und in der media- len Begleitung des Bandes verbreitet wurde, werden die eigentlichen Linien der Verantwortung verwischt bis hin zur Irreführung des zeitgeschichtlich interes- sierten Lesers. Unstrittig ist: Entsetzliche Hilfsdienste bei der Menschenjagd des NS-Sys- tems wurden auch im Auswärtigen Amt geleistet. Es gab Treiber bei dieser Jagd auch in der Wilhelmstraße. Aber in der Wilhelmstraße beginnt nicht der Weg nach Auschwitz, auch wenn der Kommissionsbericht genau dies wort- mächtig vorträgt: »Auf dem Weg zur ›Endlösung‹ der Judenfrage markiert Bülows Weisung vom 13. März 1933, statistisches Material zum überproportio - nalen ›Vordringen der Juden‹ im öffentlichen Leben zu sammeln, den An- fang.« 403 Die Weisung des Staatsekretärs von Bülow markiert schon deshalb keinen Anfang, weil es 1933 noch keinerlei Vorstellungen über die massenweise physische Vernichtung von Juden gab oder weil die »statistische Material - sammlung«, zu der Bülow seine Behörde aufruft, an die gleichfalls antisemi- tisch aufgeladene »Judenzählung« aus dem Ersten Weltkrieg anknüpfte, also im administrativen Apparat des Reiches kein Novum darstellte. 476 Fazit

Viel wichtiger ist jedoch, dass das Auswärtige Amt zu keinem Zeitpunkt zen- tral am Entscheidungsprozess in Richtung eines staatlichen Völker- und Mas- senmordes an den europäischen Juden beteiligt gewesen ist oder vom Regime beteiligt wurde. Hitler, Himmler, Heydrich, Goebbels und Co. hätten es für nachgerade absurd gehalten, die großbürgerlichen und adligen Bedenkenträger aus der Wilhelmstraße mit dieser »Aufgabe« zu betrauen, erblickten sie in ihnen doch allenfalls weiche Opportunisten und nützliche Toren, aber keinesfalls be- dingungslos aufgeladene und zum »Schutze der Volksgemeinschaft« zu allem, eben auch zum Morden entschlossene Nationalsozialisten. Auch deshalb ist die Behauptung Unfug, Hitler habe mit Ribbentrop die Endlösung verabredet. Ja, Abteilungen aus dem AA waren an diesem Prozess, an den am Ende mörderischen Radikalisierungsschüben des Rassenwahns beteiligt, etwa durch Gutachten, Stellungnahmen, Zirkulardepeschen, einen Deportationsplan nach Madagaskar, die Mitwirkung an Deportationen in die Todesfabriken in einem Teil der von deutschen Truppen besetzten Gebiete. Auch an den Nürnberger Rassegesetzen – die im Kommissionsbericht kaum aufscheinen – wurde mit- gewirkt, mitgearbeitet. Aber das Auswärtige Amt hat diesem Prozess – obwohl in Teilen wie die deutsche Gesellschaft jener Zeit antisemitisch aufgeladen – selbst weder im In- noch im Ausland intensiv den Boden bereitet und ihn schon gar nicht als eigenes zentrales Tätigkeits- und Aufgabenfeld verstanden oder für sich reklamiert, wie der Kommissionsbericht in seinem nahezu aus- schließlich dieser Thematik gewidmeten ersten Teil nahelegt. Es hat ferner aus dem Amt heraus nicht immer wieder Initiativen gegeben, die die Entwicklung in Richtung auf den staatlichen Völker- und Massenmord entscheidend vorangetrieben hätten, wie der Kommissionsbericht unterstellt. Dort heißt es etwa in Verbindung mit der »Wannsee-Konferenz« von 1942 wörtlich: »Die deutschen Diplomaten waren nicht nur zu jedem Zeitpunkt über die Judenpolitik im Bilde, sie waren aktiv an ihr beteiligt.« 404 So wird aus der Teilnahme von einer Handvoll Beamter an dieser und den beiden Folgekonferenzen, die sich ausschließlich der am Ende unlösbaren Mischlingsproblematik widmeten, auf die umfassende Kenntnis aller im AA Beschäftigten – mehr als 4000 Personen – und zugleich auf deren aktive Be- teiligung an der verbrecherischen Judenpolitik geschlossen und damit im his- torischen Jagdeifer weit übers Ziel hinausgeschossen. Derlei undifferenzierte Kollektivschuld-Thesen durchziehen den gesamten Bericht. So schrecklich und verabscheuenswürdig das Verhalten vieler Diplomaten oder auch der zeitweise ins Amt gelangten Quereinsteiger im Dritten Reich gewesen ist, nir- gendwo und zu keiner Zeit erfolgte die Ingangsetzung des Vernichtungs - Kein Verhältnis auf Augenhöhe mit dem RSHA 477 apparates »unter maßgeblicher Beteiligung des Auswärtigen Amtes«, auch nicht am Ende in Ungarn 1944, wo Veesenmayer tatsächlich eine schreckliche Rolle spielte.405 Und schließlich: Es hat in den Jahren der sich beschleunigenden Radikali- sierung im Krieg zwar eine enge Kooperation gegeben zwischen dem RSHA und Teilen des AA – aber es war zu keinem Zeitpunkt ein Verhältnis auf Au- genhöhe. Im RSHA hat man vielmehr jederzeit die Fäden in der Hand behal- ten, den beteiligten Referaten des AA allenfalls die Rolle zuarbeitender Stellen zugewiesen. Im RSHA und in der SS saßen die Vollstrecker, im AA teilweise sehr willige Vollstreckungsgehilfen. Im höchst arbeitsteilig vollzogenen Prozess der Deportation ausländischer Juden aus Frankreich und weiterer europäischer Staaten bis zu Ungarn 1944 hat das AA auf unterschiedliche Weise mitgewirkt wie andere beteiligte Institutionen, etwa die örtlichen Polizeiverwaltungen oder die Reichsbahn auch – aber an der Planung, Einrichtung und dem Betrieb von KZ oder Vernichtungslagern war das Amt zu keinem Zeitpunkt beteiligt gewesen.406 Auch das Wissen um die Staatsverbrechen war keineswegs Kantinenge- spräch im Auswärtigen Amt, wie man nach der Lektüre des Kommissionsbe- richts glauben könnte. Von den massenmörderischen Aktivitäten der Einsatz- gruppen kursierten zwar mindestens auf der Leitungsebene ziemlich präzise Informationen, was sich von den Vernichtungslagern selbst jedoch bislang nicht sagen und – für den Historiker nicht ganz unwichtig – noch weniger belegen lässt. Ganz grundsätzlich wird – worauf schon Johannes Hürter hin- gewiesen hat – im Kommissionsbericht vielfach allzu rasch eine Verbindungs- linie zwischen Mitwisserschaft und Mittäterschaft gezogen und auf die wichtige Differenzierung zwischen Zugehörigkeitstäterschaft, Beratungs-, bzw. Zuar- beitungsverantwortung einerseits, Entscheidungsverantwortlichkeit und Ver- haltenstäterschaft andererseits gleich ganz verzichtet.407 Dies alles ist der gegenwärtige Stand der Forschung. Was die Zeit des Drit- ten Reichs anlangt, wird von der Fachwelt als bleibendes Verdienst der Arbeit von Fischers Unabhängiger Historikerkommission anerkannt, aufgezeigt zu haben, wie ausgeprägt die Anpassungsbereitschaft gegenüber einem immer verbrecherischeren, ja mörderischeren Regime gewesen ist und wie weitgehend die Politik des Rassenwahns selbst in einer Behörde wie dem Auswärtigen Amt ihre Spuren hinterlassen hat. Allerdings hat die wissenschaftliche Diskussion inzwischen auch die fundamentalen Schwächen des Kommissionsberichts in den Blick genommen und die krassesten Fehlinterpretationen zurechtgerückt. Michael Mayer hat im Juni 2013 am Ende der Tagung in der Politischen Aka- 478 Fazit demie in Tutzing das Ergebnis der Fachdebatte kurz und präzise zusammen- gefasst, indem er drei zentrale Fragen gestellt und beantwortet hat. Seine erste Frage lautete: »War das AA zentral am Entscheidungsprozess für den Holo- caust beteiligt?« Die Antwort: »Nein, das AA war [anders als im Kommissions - bericht dargestellt, D.K.] zu keinem Zeitpunkt zentral am Entscheidungs- prozess zum Holocaust beteiligt.« Seine zweite Frage hieß: »Hat es Initiativen des AA gegeben, die die Entwicklung in Richtung auf den Holocaust ent- scheidend vorangetrieben haben?« Die Antwort: »Nein, es hat [anders als im Kommissionsbericht dargestellt, D.K.] bei allen Zuarbeiten in Teilen des AA für das RSHA keine Initiativen aus dem Auswärtigen Amt gegeben, die die Entwicklung in Richtung auf den Holocaust entscheidend vorangetrieben haben.« Und seine dritte und letzte Frage war: »Bestand in den für die Ras- senmorde zentralen Jahren ab 1941/42 zwischen dem AA und dem RSHA ein Verhältnis auf Augenhöhe?« Seine Antwort dazu: »Nein, es gab [anders als im Kommissionsbericht dargestellt, D.K.] zu keinem Zeitpunkt und erst Recht nicht ab 1941/42 ein Verhältnis auf Augenhöhe zwischen dem AA und dem RSHA.« Soweit der aktuelle, wenn auch von den Kommissionsmitgliedern nur widerstrebend akzeptierte Stand der wissenschaftlichen Forschung. In die öffentliche Debatte ist dieser Forschungskonsens allerdings noch nicht einge- flossen, denn Fachdebatten finden kaum mediale Aufmerksamkeit. Dort steht der Kommissionsbericht weiterhin als Fischers unverrückbarer Hinkelstein. Hinzu kommt, dass weder in der Fachwelt noch in der Öffentlichkeit bislang der zweite Teil des Berichts mit seiner schiefen Betrachtung der Nachkriegszeit, seiner, auf das in Ost-Berlin 1965 publizierte Braunbuch gestützten, verzer- renden Präsentation einer Vielzahl von Biographien von Herbert Blankenhorn über Franz Nüßlein bis Erwin Wickert überhaupt in den Fokus der kritischen Analyse gerückt ist. Denn gerade bei der Schilderung der Nachkriegsaktivitä- ten wird noch stärker überzeichnet. Sie gerät der Kommission vollends zum Zerrbild. Der Lebensleistung der deutschen Diplomaten bei der mühsamen Rückkehr der Bundesrepublik in die internationale Politik und eine Vielzahl supranationaler Institutionen wird sie in keiner Weise gerecht. Im Auswärtigen Amt reagierte man auf die mediale Wucht der Diploma- tenjagd auf der Leitungsebene mit dem amtsüblichen Opportunismus, auf der Arbeitsebene mit stillem Zorn und wachsender Resignation. Von der Leitungs- ebene erging die Weisung, keinerlei öffentliche Stellungnahmen zu dieser The- matik mehr abzugeben. Durch niemanden – keinen Botschafter, keinen Referenten, keinen Archivar. »In dubio abstine«. Im Zweifel schweigen, den Im Amt: Opportunismus, stiller Zorn und Resignation 479

Sturm vorüberziehen lassen, auf den weißen Ritter hoffen – aber nur ja nicht selber neues Öl ins Feuer gießen, etwas zurechtrücken, erklären, erläutern wollen. Auf der Arbeitsebene allerdings blieb Bitterkeit. Intern suchte man Trost in den stillen Netzwerken. Vor allem aber klammerte man sich an das Wort, das schon bald nach Erscheinen des Kommissionsberichts unter den deutschen Diplomaten die Runde machte. Es war das geheime Wort eines der früheren Ressortchefs: »Das Amt, wie es in dem Band aufscheint, ist nicht das Amt, dem ich die Ehre hatte, vorzustehen.« Dem ist nichts hinzuzufügen.

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A propos Das Amt Ein Essay von Alfred Grosser

Es geht mir in diesem Beitrag nicht darum, mich an der Fachdiskussion der Historiker um das Buch Das Amt und die Vergangenheit zu beteiligen. Als je- mand, der sich seit nunmehr sieben Jahrzehnten mit Fragen der deutschen »Vergangenheitsbewältigung« beschäftigt, habe ich bestimmte Argumentati- onsmuster immer wieder erlebt. Vor diesem Hintergrund möchte ich lediglich einige persönliche Hinweise zu dem Buch formulieren. Für mich ist dabei zweierlei klar: Das Amt hätte nie die Diplomaten, die unter Hitler weiter ge- dient oder neu gedient haben, als Kollektiv darstellen und verurteilen sollen. Und auch mit der im Buch behaupteten Kontinuität der bundesdeutschen Außenpolitik durch »Ehemalige« ist es nicht weit her. Die Kontroverse um Das Amt ist gewiss nicht die erste dieser Art. Schon in früheren Debatten ist mir aufgefallen, dass sich zwei Grundmuster wiederho- len: Erstens heißt es alle zehn Jahre: »Es ist das erste Mal, dass …« und zu- gleich: »Vorher ist leider so etwas nicht da gewesen …«. Wie schön war etwa die Rede von Richard von Weizsäcker zum 8. Mai 1985 und wie neu! Aber genau zehn Jahre früher war die Rede des Bundespräsidenten Walter Scheel noch schöner, noch ergreifender in der Selbstanklage gewesen. Zweitens liegen die – notwendige – Selbstanklage und Selbsterforschung und der Masochis- mus eng beieinander. Auch dafür ein Beispiel: Dass Daniel Goldhagen unaufrichtig und entstel- lend gearbeitet hat, hätte man spätestens wissen können als Ruth Bettina Birn, die lange als Chefhistorikerin der »Sektion für Kriegsverbrechen und Verbre- chen gegen die Menschlichkeit« im kanadischen Justizministeriums tätig ge- wesen ist, 1997 zusammen mit Norman Finkelstein seine schludrige, ja die Aussagen der Quellen entstellende Arbeitsweise angeprangert hat. Seine ver- quere These, die Deutschen seien seit Jahrhunderten auf Judenmord erpicht gewesen, weckte in Deutschland mediale Begeisterung und stieß allenfalls auf zahme Kritik der eingeschüchterten Historiker! Weder dass israelische Experten ihre Verachtung für Goldhagen ausdrückten, noch dass ihm in Harvard der 482 A propos Das Amt schon versprochene Lehrstuhl verweigert wurde, ist anschließend in Deutsch- land besonders wahrgenommen worden. Anders als Goldhagen brandmarkt und verurteilt Das Amt nur eine einzelne kleine gesellschaftliche Gruppe, die Diplomaten, nicht ein ganzes Volk. Prinzipiell wird darin aber ähnlich pau- schalierend geurteilt und schludrig mit Quellen um gegangen. Pauschale Verurteilungen sind immer falsch und ich habe mich immer gegen sie gewandt, egal ob sie von Links oder von Rechts vorgetragen wurden. So wie ich heute die pauschalen Urteile in Das Amt kritisiere, habe ich etwa früher den Radikalenerlass und dessen Auswirkungen kritisiert. Dass es in Westdeutschland nach dem Krieg eine Tendenz zur Restauration gegeben hat, will und kann ich nicht bestreiten, sei es nur, weil die letzten Seiten meines ersten Deutschlandbuches L’Allemagne de l’Occident 1945–1952, (im Januar 1953 erschienen), dieses Thema ganz im Sinne meiner Herausge- ber-Freunde der Frankfurter Hefte behandelten. Von den beiden nennt Das Amt nur Eugen Kogon, in der Tat ein ehemaliger KZ-Häftling, der – neben David Rousset – das ergreifendste Buch, Der SS-Staat, über Buchenwald geschrieben hat. Aber warum keine Erwähnung von Walter Dirks, der doch für uns alle ein intellektuell-geistiges Vorbild war? Wahrscheinlich, weil er während der Hit- ler-Zeit in Nischen gelebt hatte, zunächst bei der Frankfurter Zeitung (FZ), dann, nach dem Berufsverbot, beim Herder-Verlag tätig gewesen ist. So ähn- lich hat auch Theodor Heuss überlebt. Benno Reifenberg hat über die FZ nach dem Krieg sachlich und nüchtern berichtet. Ich habe in meinem Buch von 1959 Hitler: la presse et la naissance d’une dictature (Hitler: die Presse und die Geburt einer Diktatur) der FZ ein Sonderkapitel gewidmet. Bis zu ihrem endgültigen Verbot ist sie Goebbels ein Dorn im Auge gewesen, weil sie auch über für das Regime Anstößiges berich- tete und nicht den vorgeschriebenen Ton anschlug. Vielleicht bin ich in mei- ner Schilderung der Geschichte der FZ etwas nachsichtig gewesen, weil sie im Februar 1934 viel Mut gezeigt hatte mit dem Nachruf auf meinen emigrierten jüdischen Vater: »Am 7. Februar starb in Paris der bekannte Frankfurter Kinderarzt Prof. Dr. Paul Grosser … Er hatte während der ganzen Dauer des Weltkrieges als Kriegsteilnehmer im Felde gestanden und das EK 1 erworben. In den fol- genden Jahren war er einer der erfolgreichsten Kinderärzte Frankfurts … Seine organisatorischen Fähigkeiten waren groß, und seine menschlichen Eigenschaften haben ihm ungewöhnliches Vertrauen unter den Ärzten und in der übrigen Bevölkerung der Stadt verschafft.« Der Vorwurf der Kollektivschuld sollte nie erhoben werden 483

Aber wie hätte ich anders urteilen sollen? Was hätten die betroffenen Journa- listen tun können? Hätte die ganze Redaktion 1933 emigrieren sollen? Welche Schuld soll man den in Deutschland Gebliebenen zurechnen? Als jemand, der die Zeit selbst erlebt hat, weiß ich – anders als manche vorschnell moralisch Urteilenden von heute – um die Schwierigkeiten und Bedrohungen in der da- maligen Zeit. Werden solche Zurechnungen in Das Amt nicht viel zu schnell und einseitig vorgebracht, was das Buch eben doch zu einer Art Anklageschrift macht? Die heutige Härte von Nachgeborenen in der Verurteilung ihrer Vorfahren ist wohlfeil. Wenn es um den Mut geht, der notwendig war, um in der natio- nalsozialistischen Diktatur Widerstand zu leisten, sei es durch Reden oder durch Taten (wobei doch viele nicht-jüdische Deutsche verfolgten Juden unter großem persönlichem Risiko geholfen haben, insbesondere durch Verstecken, z.B. Charlotte Knobloch oder Inge Deutschkron, Hans Rosenthal, Michael Degen und vielen anderen), so bin ich nicht sicher, dass alle, die heute wäh- nen, sie hätten sich damals, würden sie gelebt haben, heldenhaft benommen, doch nicht wie viele damals auch gesagt hätten: »Lieber Gott, mach mich stumm, dass ich nicht nach Dachau kumm!« Der Vorwurf einer Kollektivschuld sollte eigentlich nie erhoben werden. Aus verschiedenen Gründen. Das Urteil von Nürnberg ist in diesem Punkt recht klar. Organisationen können als solche als verbrecherisch dargestellt und verurteilt werden (das Auswärtige Amt als Institution traf dieses Verdikt in Nürnberg übrigens ausdrücklich nicht), aber jedes ihrer Mitglieder ist erst dann wirklich schuldig, wenn ihm persönliche Verbrechen nachgewiesen wer- den konnten. Nur Frankreich hat davon eine Ausnahme gemacht. Ein von deutscher Seite »Lex Oradour« benanntes Gesetz von 1948 besagte, dass jeder, der in ein NS- Verbrechen involviert gewesen war, als persönlich schuldig betrachtet werden müsse, insofern er nicht seine Unschuld beweisen konnte – was einen funda- mentalen rechtsstaatlichen Grundsatz auf den Kopf stellte. 1953 kam es in Bor- deaux zum Prozess gegen 21 Soldaten aus jener verbrecherischen Einheit – es war die 3. Kompanie des Panzergrenadier-Regiments »Der Führer« der 2. SS- Panzerdivision »Das Reich« –, die am 10. Juni 1944 das Kriegsverbrechen in Oradour-sur-Glane in Zentralfrankreich nahe bei Limoges verübt und 642 Zivilisten ermordet hatte. Man entdeckte mit Entsetzen, dass ein Großteil, mithin 13 der Angeklagten aus der mörderischen Truppe, aus zwangsverpflich- teten Elsässern bestand und nur ein Elsässer sich freiwillig gemeldet hatte. Dafür wurde er zunächst zusammen mit einem Deutschen zum Tode verur- 484 A propos Das Amt teilt. Doch dann veränderte man das Gesetz, die Elsässer wurden bald begna- digt, die zwei verhängten Todesurteile in Haftstrafen umgewandelt. Dauerhaft ignoriert wurde jedoch die Tatsache, dass auch viele der anderen 900.000 Waf- fen-SS-Soldaten nicht aus freiem Willen dazu gehört hatten – besonders in den späteren Kriegsjahren Verpflichtete. Solche Beispiele zeigen, weshalb die pauschale Verurteilung auch einer ein- zelnen Berufsgruppe wie der Diplomaten vermieden werden sollte. Für mich gibt es dafür jedoch noch einen weiteren, viel prinzipielleren Grund: Obwohl ein Teil meiner Familie in Auschwitz ermordet wurde, habe ich sowohl das Konzept der Kollektivschuld als auch jede Verallgemeinerung in dieser Rich- tung immer abgelehnt: Es gibt weder »die« Juden, noch »die« Franzosen oder »die« Deutschen – und eben auch nicht »die« Diplomaten. Ich habe nicht nur im Herbst 1944, wo ich in Marseille mit gefälschten Papieren untergetaucht war, hautnah erlebt, wie unterschiedlich das Verhalten meiner Mitbürger in Frankreich der Besatzungsmacht gegenüber oder in ihrem Verhältnis zu den verfolgten Juden gewesen ist. Daraus habe ich als Überlebender eine Mitverantwortung für die demo- kratische Zukunft Nachkriegsdeutschlands abgeleitet und versucht, diese, zu- sammen mit den deutschen Überlebenden des Widerstands wahrzunehmen. Zu diesen zählte z.B. der Oberbürgermeister meiner Geburtsstadt Frankfurt, dem ich 1947 mit Ehrfurcht begegnete, oder Eugen Kogon, 1949 unser erster deutscher Redner an der Sorbonne. Dass Widerstand von Links zugunsten des 20. Juli in der öffentlichen Wahrnehmung zunehmend vernachlässigt wird, stört mich. Ganz besonders fiel mir das 2010 in der Berliner Ausstellung Hitler und die Deutschen auf, was ich in einem längeren Leserbrief an die F.A.Z. hef- tig kritisiert habe. Vieles wird dort einfach weggelassen, u.a. die für die NSDAP schlechten Wahlresultate vom November 1932 oder das Verfehlen der absoluten Mehrheit für Hitler und »seine« NSDAP noch am 5. März 1933. Jemanden wie Kurt Schumacher, der über Jahre im KZ geschunden und gequält wurde, musste man auf einem kleinen Monitor mühsam suchen; er war eigentlich nicht mehr existent. Pauschalurteile verstellen auch oft den Blick auf die eigentlich wesentlichen Einzelschicksale und die Bandbreite inidividueller Verhaltensweisen. Man kann nicht von jedem verlangen, so zu sein wie die Heldin der schönsten Novelle zum Thema, nämlich Das Brandopfer von Albrecht Goes, 1954 er- schienen. Die Metzgerfrau weiht sich dem Tode, weil sie ihrem Gatten keine zweite Frage auf seine Antwort gestellt hat. Am 9. November 1938 hat die Synagoge gebrannt. Der Mann war bei der freiwilligen Feuerwehr. »Warum Vorsicht mit pauschalen Wertungen – nicht nur im Falle Kiesinger 485 habt Ihr nicht gelöscht?« fragte sie hinterher. »Man hat uns kein Wasser neh- men lassen.« Ein anderes Beispiel: Wie soll man z.B. Otto Dibelius beurteilen? In seiner Potsdamer Predigt in der Nikolaikirche hat er am »Tag der nationalen Erhe- bung«, am 21. März 1933, zwei Tage vor der Verabschiedung des Ermächti- gungsgesetzes, als zuständiger Generalsuperintendent die Festpredigt gehalten. Er sagte unter anderem: »Durch Nord und Süd, durch Ost und West geht ein neuer Wille zum deutschen Staat, eine Sehnsucht, nicht länger, um mit Treitschke zu reden, einer der erhabensten Empfindungen im Leben eines Mannes‹ zu entbehren, nämlich den begeisterten Aufblick zum eigenen Staat.« Und er sagte: »Wir haben von Dr. Martin Luther gelernt, dass die Kirche der rechtmäßigen staatlichen Gewalt nicht in den Arm fallen darf, wenn sie tut, wozu sie berufen ist. Auch dann nicht, wenn sie hart und rücksichtslos schal- tet. Wir kennen die furchtbaren Worte, mit denen Luther im Bauernkrieg die Obrigkeit aufgefordert hat, schonungslos vorzugehen…« Und noch nach dem Boykott der jüdischen Geschäfte durch die SA im Frühjahr 1933 stellte er sich hinter den neuen Hitlerstaat und erklärte, schließlich habe sich die Regierung »genötigt gesehen, den Boykott jüdischer Geschäfte zu organisieren in der richtigen Erkenntnis, dass durch die internationalen Verbindungen des Ju- dentums die Auslandshetze dann am ehesten aufhören wird, wenn sie dem deutschen Judentum wirtschaftlich gefährlich wird. Das Ergebnis dieser gan- zen Vorgänge wird ohne Zweifel eine Zurückdämmung des jüdischen Ein- flusses im öffentlichen Leben Deutschlands sein. Dagegen wird niemand im Ernst etwas einwenden können.« Schon im Oktober 1933 wurde er dennoch amtsenthoben. Aus dem Sympathisanten für den NS-Staat wurde bald schon einer seiner entschiedensten Gegner und nach dem Krieg dann sogar noch ein bewunderungswürdig großer Mann der EKD. Von Kurt Georg Kiesinger ist in Das Amt viel – und eher negativ – die Rede. Nichts weist darauf hin, dass er während des Dritten Reichs über Jahre hinweg als gefragter Repetitor Jura-Studenten im alten, liberalen Recht ausgebildet hat und auch in den Augen von SPD-Größen der späteren Bundesrepublik wie dem Fraktionsgeschäftsführer und bedeutenden Juristen Adolf Arndt bereits 1951 ein Vorbild demokratischen Verhaltens geworden war. Während seiner Tätigkeit im Krieg im Amt in der »Propaganda-Abteilung« (Rundfunk Aus- land) wurde er denunziert, u.a. »antijüdische Aktionen« im Bereich der deut- schen Propaganda in den USA gebremst, ja »behindert« zu haben. Vorsicht mit pauschalen Wertungen gilt generell – nicht nur im Fall Kie- singer – bei der Frage der Zugehörigkeit zur Partei und ihren Zweigorganisa- 486 A propos Das Amt tionen. »NSDAP« konnte viele Bedeutungen haben, zum Beispiel: »Na, suchst du auch Pöstchen« oder – im Elsass –: »Nous Sommes Des Allemands Provi- soires«! Dem Lehrer, dem Beamten war es schwer, nicht in die Partei einzu- treten. Nach dem Krieg gab es das Wortspiel »Pg = Parteigenosse, bzw. Prisonnier de guerre (der Franzosen) = Pech gehabt!« Adenauer war klug genug, die »ehemaligen« NSDAP-Mitglieder in die CDU aufgenommen zu haben, um sie zu demokratisieren, was doch wirklich weitgehend gelungen ist. Wäh- rend 1990 die SPD den enormen Fehler begangen hat, sich in der sterbenden DDR gegen ehemalige SED-Leute abzuschirmen. Es gibt keine Kollektivschuld, aber es sollte in den ersten Zeiten nach dem Krieg wie es Theodor Heuss bereits 1949 vor dem Parlamentarischen Rat for- mulierte, eine Kollektivscham geben. Es bleibt eine Haftung, eine Last. Schü- lern und Studenten empfehle ich immer, nach Warschau zu fahren und das kleine Monument zu sehen, dass dem großen Ghetto-Monument gegenüber steht. Es zeigt den Kniefall von Willy Brandt, der als junger linker Sozialist bereits 1933 aus Deutschland fliehen musste und wirklich nicht die leiseste Schuld an den Verbrechen trug. Als Kanzler der Bundesrepublik nahm er die Last der Vergangenheit auf seine Schultern. Nachfolger der damals Schwei- genden haben ihre Haftung in Worten Ausdruck gegeben, die deutschen ka- tholischen Bischöfe haben 1975, aus Anlass der gemeinsamen Synode der Bistümer in Würzburg, feierlich bekannt: »Wir waren in dieser Zeit des Nationalsozialismus, trotz beispielhaften Ver- haltens einzelner Personen und Gruppen, aufs Ganze gesehen doch eine kirchliche Gemeinschaft, die zu sehr mit dem Rücken zum Schicksal des verfolgten jüdischen Volkes weiterlebte und deren Blick sich zu stark von der Bedrohung ihrer eigenen Institution fixieren ließ.« Im Oktober 1998 feierte die Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde in Dresden ihren 50. Jahrestag. Im großen Saal des Theaters organisierte sie eine Veranstaltung der Erinnerung an alle verjagten, verfolgten und ermordeten Kinderärzte der Nazizeit. Eine längere Erklärung des Bedauerns des damaligen Wegsehens der nicht-jüdischen Kollegen wurde einstimmig angenommen. Die Hauptreden wurden von zwei Söhnen jüdischer Kinderärzte gehalten, Paul Oestreicher und Alfred Grosser. (Die jüdische Gemeinde bedauerte diese Aus- wahl. Oestreicher war Anglikanischer Priester geworden. Als Dekan der Ka- thedrale von Coventry hatte er die Partnerschaft der ersten von der Luftwaffe zerstörten britischen Stadt mit dem noch furchtbarer zerstörten Dresden ins Leben gerufen. Der andere Redner war ein bekennender Atheist.) Bischöfe und Kinderärzte haben sich also gewissermaßen zu der Enthaltungsschuld ihres Man kann sich bekehren und echt bereuen 487

Standes bekannt. Wäre es in den jüngsten Jahrzehnten nicht möglich gewesen, dass die Mitglieder des Auswärtigen Amtes einen ähnlichen Text hervorbrin- gen, was kein Bekenntnis zu einer Kollektivschuld bedeuten würde, sondern das Bewusstsein einer kollektiven Verpflichtung zur ehrlichen Erinnerung? Schuld und Unschuld der Einzelnen war eine Frage, die sich nach Kriegs- ende in ganz Europa stellte oder hätte stellen sollen, insbesondere für die Be- amten, die weiter gedient hatten. In Holland ist die Sache erst vor wenigen Jahren aufgearbeitet worden, in Belgien ist die Diskussion im Februar 2013 neu entflammt. Wie schwierig es ist, zu klaren Antworten zu kommen, hat ein Kolloquium gezeigt, das in Paris im Februar 2013 stattgefunden hat und von Präsident François Hollande eröffnet wurde. Thema: »Die Beamten im Europa der Diktaturen 1933–1948«. In Deutschland herrschte nach Kriegs- ende große Unordnung, weil die Besatzungsmächte versuchten, ehemalige Nazis für sich gegen die Sowjetunion oder auch andersherum gegen die USA zu gewinnen. Niemand hat diese moralische Verwirrung besser beschrieben als Hans Habe in seinem 1955 erschienenen Off limits – Roman der Besatzung Deutschlands. Diplomaten waren viel weniger nützlich als Geheimdienst-Männer. Sind Ein- zelschicksale von Rehabilitierten wirklich im Rückblick als echte Skandale zu beschreiben? Dass jemand sich bekehren und echt bereuen kann, zeigt das Bei- spiel des viel und zu Recht geehrten Lew Kopelew, der 1981 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, mit Marion Dönhoff als Laudatorin. In sei- nem Buch Und schuf mir einen Götzen. Lehrjahre eines Kommunisten schildert er seinen Einsatz beim Hungermassenmord in der Ukraine. Er schreibt: »Meine Beteiligung an jener verhängnisvollen Getreideablieferungskampagne ist unent- schuldbar und unverzeihlich. Von einer solchen Sünde betet man sich durch nichts frei (…) Man kann nur versuchen, ehrlich mit ihr zu leben. Für mich heißt dies: nichts zu vergessen, nichts zu verschweigen …« Wenige der in Das Amt angeklagte Diplomaten haben Ähnliches direkt verbrochen. Aber auch we- nige haben sich später reumütig zu einer Beteiligung bekannt. Das Buch Das Amt schiebt manches beiseite oder will es nicht wissen. Mein direktes Erlebnis ist das der ersten deutschen Nachkriegsvertretung in Paris. Der von Adenauer entsandte Botschafter Wilhelm Hausenstein war kein Be- rufsdiplomat, sondern Kunsthistoriker und wurde deswegen nicht wirklich gewürdigt, obwohl er eine wunderbar aufbauende Rolle gespielt hat, unter der Mitwirkung seiner Frau, die sich als belgische Jüdin hatte überwinden müssen, um an der Seite ihres Gatten der neuen deutschen Bundesrepublik zu dienen. 488 A propos Das Amt

Der politische Berater, der Botschaftsrat Paul Frank, kam auch nicht aus der Diplomatie. Er hatte an einer Schweizer Universität, in Fribourg, promoviert. Er war schnell bei den französischen Ministerien und Parteien bekannt und beliebt. Für mich wurde er ein Freund, war dann auch 1975 als Staatssekretär im Bundespräsidialamt mein Laudator für den Friedenspreis. Von den Gewerk- schaften wurde Jakob Moneta an die deutsche Vertretung geschickt. Er ist mit 97 am 3. März 2012 gestorben und die Zeitschrift Metall der IG Metall, dessen Chefredakteur er lange gewesen war, hat ihm einen schönen Nachruf gewid- met. Sohn einer jüdisch-orthodoxen Familie, war er 1933 nach Palästina ge- flohen und »suchte in einem Kibbuz den Sozialismus«. Wir sind, nach seiner Pariser Zeit, Jahrzehnte in freundschaftlicher Verbindung geblieben. Um die sozialen Fragen kümmerte sich die junge Renate Osiander, später Leiterin der Abteilung Osteuropa des Auswärtigen Amtes und Botschafterin in Brüssel. Auch sie eine oft in Bonn aufgesuchte Freundin. Wo war bei alledem das Res- taurative der Ehemaligen, das Das Amt nachdrücklich behauptet? Zwei weitere Mängel sind mir in Das Amt noch aufgefallen. Das eine sind persönlich herabsetzende Urteile. Wieder sei mir ein Beispiel gestattet: Als ich 1950/51 stellvertretender Leiter des UNESCO-Büros in Wiesbaden war, be- auftragt, ein internationales Jugendzentrum in der Bundesrepublik vorzube- reiten, kam ich öfters mit Rudolf Salat zusammen, Leiter der Kulturabteilung des formal noch nicht wiederhergestellten Auswärtigen Amtes. In Das Amt wird er ziemlich verächtlich und herablassend behandelt, sei es anscheinend nur, weil dieser Katholik »vormals Geschäftsführer von Pax Humana« gewesen war, also wirklich kein »Ehemaliger«. Ich habe ihn als besonnen und tatkräftig gekannt. Und es fehlen mir Nachkriegsdiplomaten wie ein anderer Freund, Edgar von Schmidt-Pauli. Er wurde 1915 geboren, wurde also direkt vom Ar- beitsdienst zur Wehrmacht geschickt und kam erst nach langer russischer Ge- fangenschaft 1952 nach Deutschland zurück und begann ein Studium, das ihn dann zum Auswärtigen Amt führte, wo er u.a. Chef des Protokolls und Botschafter in Norwegen wurde. Wie oft hat er mir erzählt, wie sehr das durch Hitlers Schuld Erlittene ihn dazu gebracht hatte, seinen Beruf als eine mora- lische Aufgabe zu betrachten! Ein negativer Einfluss der Ehemaligen war weder bei ihm, noch bei den vielen anderen, die ich getroffen und kennengelernt habe, zu verspüren. Es steht ja auch in Das Amt, dass »der diplomatische Dienst, der sich nach 1945 in Westdeutschland entwickelte, von Anfang an in das demokratische System eingebunden war«. (S.622) Dies war angesichts der hohen personellen Kontinuität zwischen altem und neuem Amt nicht selbstverständlich. Falsche bis fatale Verallgemeinerungen 489

Aber es wird zugleich in Das Amt eben doch überwiegend unterstellt, es habe eine Kontinuität im politischen Gedankengut gegeben. Ich muss daher am Ende mein Bedauern darüber zum Ausdruck bringen, dass der mit mir seit langem befreundete Joschka Fischer einen Forschungsauftrag vergeben hat, der notwendigerweise zu falschen Verallgemeinerungen führen musste.

491

Anmerkungen

Einleitung

1 Joschka Fischer: I am not convinced. Der Irak-Krieg und die rot-grünen Jahre, Köln 2011, S. 331. 2 Malte Herwig: Die Flakhelfer. Wie aus Hitlers jüngsten Parteimitgliedern Deutschlands führende Demokraten wurden, Stuttgart 2013, beschreibt auf abgewogen-nuancierte Weise diese Problematik. Herwig beklagt zugleich die »Unnachgiebigkeit, mit der wir Deutsche moralische Urteile fällen«. Sein Buch hebt sich vom Kommissionsbericht wohltuend ab. Dass das ZDF 2013, nachdem Tapperts Kriegszeit in der Waffen-SS nach dessen Tod durch einen Zufallsfund ans Licht gekommen war, erklärte, auf Wiederholungen der beliebten Krimi-Serie »Derrick« – in der Tappert über Jahrzehnte die Hauptrolle gespielt hatte – ver- zichten zu wollen und auch im Ausland, etwa in Belgien, die Serie abgesetzt wurde, zeigt die bizarren Züge der »Damnatio memoriae« in der modernen Medienwelt. 3 Walter Scheel in Auswärtiges Amt: AA intern, Mai 2011. 4 Eckart Conze, Sprecher der Unabhängigen Historikerkommission, hat diese medial willig aufgegriffene Etikettierung im Oktober 2010 vielfach verwandt (u. a. in der ARD, im ZDF, DER SPIEGEL, DER TAGESSPIEGEL vom 25.10.2010 oder Kölner Stadt-Anzeiger vom 27.10.2011, S. 10). 5 Egon Bahr im Gespräch mit Thomas Schmid und Jacques Schuster: »Wir hatten ein biss- chen was Anderes zu tun«. In DIE WELT vom 29.10.2010.

Hitlers willige Diplomaten und Fischers willige Historiker

6 Bernhard Schlink: Die Kultur des Denunziatorischen. In MERKUR 6, 2011, S. 473 ff. 7 Das Dokument war in den frühen fünfziger Jahren bereits mehrfach abgedruckt und kom- mentiert worden, etwa in der F.A.Z. vom 8.9.1951, vgl. dazu ausführlich Rainer Blasius: »Unfassbare Realität: Die wiederentdeckte Reisekostenabrechnung zur ›Liquidation von Juden‹« in der F.A.Z. vom 12.11.2010 sowie ders.: »Braunbuch und Schnellbrief« in der F.A.Z. vom 13.1.2011. Der Kontext dieser Reisekostenabrechnung wird im Kapitel über die Funktionseliten in diesem Band ausführlich erläutert und aufgeschlüsselt. Die taz druckte das Dokument am 24.10.2010 als optischen Aufmacher für ihren Artikel »Aktiv an der Judenvernichtung beteiligt« gleichfalls ab. DER TAGESSPIEGEL folgte am 26.10.2010 mit einem Abdruck auf der Titelseite unter der Überschrift »Liquidation im Dienst«. 8 Pikanterweise war es Rainer Blasius, der in der F.A.Z. vom 12.11.2010 darauf hinwies, dass schon »ein einziger Blick in das digitalisierte Archiv der Frankfurter Allgemeinen Zeitung 492 Anmerkungen

– Suchbegriff ›Franz Rademacher‹ – jeden Nutzer schnell darüber belehrt« hätte, dass die F.A.Z. vom 8.9.1951 bereits einen Abdruck gebracht und sogar am 18.3.1952 ein weiteres Stück zu Rademacher publiziert hatte. Von einem unbekanntem Sensationsfund konnte mithin tatsächlich keine Rede sein. 9 Auf der Tagung in der Akademie für Politische Bildung in Tutzing über »Das Auswärtige Amt in der NS-Diktatur« hat Michael Mayer am 23.6.2013 genau diese drei Zentralfragen angesprochen. 10 Rainer Blasius hatte als Erster am 26.10.2010 in der F.A.Z. auf einen entsprechenden »hüb- schen Quellenfund, ein Amtsmirakel« hingewiesen in seinem Stück »Der Generalkonsul und das Auswärtige Amt« und in der Unterzeile scheinheilig gefragt: »Wurde Minister Fi- scher während der Nachrufaffäre über Franz Nüßlein falsch informiert?« 11 Vgl. Udo Wengst: »Der ›Fall Theodor Eschenburg‹«. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 3/2013, S. 413. 12 Martin Sabrow/Christian Mentel (Hg.): Das Auswärtige Amt und seine umstrittene Ver- gangenheit. Eine deutsche Debatte, Frankfurt am Main 2013, versammelt all diese und noch viel mehr der kritischen Stimmen. 13 Alan Posener: »All dies ist eine Kampagne«. In DIE WELT vom 4.4.2011. 14 Die Debatte gut und ausgewogen in zwei umfangreichen ins Internet gestellten Teilen zu- sammengefasst hat Christian Mentel: »Mit Zorn und Eifer. Die Debatte um ›Das Amt und die Vergangenheit‹. Teil 1: Die Pressedebatte.« In: Zeitgeschichte-online, März 2011 (über- arb. September 2011), http://www.zeitgeschichte-online.de/thema/mit-zorn-und-eifer-die- debatte-um-das-amt-und-die-vergangenheit-pressedebatte sowie »Teil 2: Die Fachdebatte«. In: Zeitgeschichte-online, September 2011 (überarb. Februar 2012), http://www.zeitge- schichte-online.de/thema/mit-zorn-und-eifer-die-debatte-um-das-amt-und-die-vergangen- heit-fachdebatte.

Damnatio memoriae?

15 Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Ver- gangenheit, München 1999, S. 55 f. 16 Der Wilhelmstraßenprozess wird im Weizsäcker-Kapitel in diesem Band ausführlich be- handelt werden. 17 Die Zahl nennt übrigens Karl Dietrich Erdmann: Die Zeit der Weltkriege, in: Bruno Geb- hradt: Handbuch zur Deutschen Geschichte, Bd. 4, Stuttgart 1976, S.648 ff. 18 Diese Zahlen hat Andreas Eichmüller in seinem Aufsatz »Die Strafverfolgung von NS-Ver- brechen durch westdeutsche Justizbehörden seit 1945. Eine Zahlenbilanz« in Vierteljahrs- hefte für Zeitgeschichte (VfZ) 4/2008, S. 621 ff. aufbereitet. 19 Zitiert nach Hans-Jürgen Döscher: Das Auswärtige Amt im Dritten Reich, Berlin 1987, S. 86. 20 Die Auszüge aus dem Tagebuch von Joseph Goebbels sind der von Elke Fröhlich und dem Münchner Institut für Zeitgeschichte edierten Fassung der Tagebücher entnommen. Über die beigefügte Datenangabe sind die Fundstellen leicht aufzufinden. 21 Gemeint ist die »Deutsche Informationsstelle« (DIS), die formal nicht zum AA gehörte. Zur Geschichte der DIS I: Im Frühjahr 1937 wurde in Berlin das »Deutsche Institut für Außenpolitische Forschung« (DIAF) als Stiftung öffentlichen Rechts gegründet. Vorstand der Stiftung war der Außerordentliche und Bevollmächtigte Botschafter von Ribbentrop, der auch das Stiftungsvermögen von 5000 RM zur Verfügung stellte. Das Institut über- Anmerkungen 493

nahm offiziell die Aufgaben der »Deutschen Zentralstelle zum Studium der Internationalen Beziehungen«. Vor allem aber war sie dazu bestimmt, das linksliberal ausgerichtete, 1929 unter Leitung des Völkerrechtlers Mendelssohn-Bartholdy als Stiftung gegründete Ham- burger »Institut für Auswärtige Politik« (IAP) zu übernehmen und in den Dienst des NS- Staats zu stellen. Die entsprechende Übereinkunft, mit der das IAP nach Berlin verlegt wurde, ist zwischen dem NS-Reichsstatthalter in Hamburg, Kaufmann, und Ribbentrop geschlossen worden. Präsident des DIAF war Ribbentrop, Präsident des IAP Kaufmann; Direktor beider Institute, die einen gemeinsamen Briefkopf »Deutsches Institut für Au- ßenpolitische Forschung und Hamburger Institut für Auswärtige Politik« führten, war der Staatsrechtler Friedrich Berber. Dieser war seit 1934 Berater des damaligen außenpolitischen Hauptberaters Hitlers, Ribbentrop, gewesen. Das DIAF bezog im Rechnungsjahr 1939 einen Kostenzuschuss von 120 800 RM aus dem Haushalt des Auswärtigen Amts. Wohl bei Kriegsausbruch wurde 1939 die DIS zunächst als Unterabteilung des DIAF gegründet. Am 22. Februar 1940 wurde sie in eine selbstständige Stiftung umgewandelt. Auch dieses Stiftungsvermögen von 5 000 RM wurde vom Reichsminister des Auswärtigen zur Verfü- gung gestellt, der der Stiftung vorstand. Leiter der DIS war wiederum Friedrich Berber. Er wurde 1939 durch Mobilmachungsbefehl zum Leiter der DIS bestellt, die in seiner Perso- nalakte auch als »Deutsche Informationsstelle im Auswärtigen Amt« bezeichnet wird. Auf- gabe der DIS war die Durchführung der Auslandspropaganda. Die DIS wurde im September 1940 in 2 Abteilungen geteilt, und Berber übernahm die Leitung der »Deut- schen Informationsstelle I«. DIS und DIAF bildeten de facto eine Dienststelle. Für das Ge- schäftsjahr 1942/43 legten DIAF und DIS I angesichts der Tatsache, dass sie »infolge der gleichen Arbeitsaufträge, der gleichen Mitarbeiter, des gleichen Leiters mehr und mehr fak- tisch in eine einzige Dienststelle wissenschaftlicher Art zusammenwuchsen«, einen gemein- samen Tätigkeitsbericht vor. Der DIS I stand »laut Bewilligung des Auswärtigen Amtes für das Geschäftsjahr 1942/43 ein Betrag von 360 000 Reichsmark zu«, dem DIAF waren da- neben 100800 RM bewilligt worden. Mindestens seit 1942 war geplant, die DIS I ganz auf das DIAF übergehen zu lassen; es ist jedoch wohl nie zu der rechtlichen Konsequenz aus der tatsächlichen Sachlage gekommen. In dem Tätigkeitsbericht heißt es, die Aufgabe der Institute sei »die Herausgabe von wissenschaftlichem Material zur Unterstützung der deutschen Außenpolitik«. 1946 kehrte das »Institut für Auswärtige Politik« nach Hamburg zurück und wurde 1973 mit der 1946 gegründeten »Forschungsstelle für Völkerrecht und ausländisches öffentliches Recht« zum »Institut für Internationale Angelegenheiten« der Universität Hamburg (InstIA) vereinigt. 22 Nachzulesen bei Ursula Laack-Michel: Albrecht Haushofer und der Nationalsozialismus. Ein Beitrag zur Zeitgeschichte. In: Kieler historische Studien, Band 15, Stuttgart 1974, S. 362 f. 23 Dem »Fall Nüßlein« ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Dort, aber auch im Kapitel über den »Panzerschrank der Schande«, wird die komplizierte Überlieferung der Dokumente in sei- nem Fall beleuchtet, die an unterschiedlichen Stellen abgelegt sind. 24 Jürgen Kocka, 1945: »Neubeginn oder Restauration?«. In: Carola Stern/Heinrich-August Winkler (Hg.), Wendepunkte deutscher Geschichte 1948–1945, Frankfurt am Main 1980, S. 141 ff. Kocka nennt eine ganze Reihe von Gründen, weshalb es unsinnig ist, 1945 von einer Restauration in Deutschland zu sprechen. So sei 1.) die adlige bevorrechtigte, reform- feindlich-antidemokratische Großgrundbesitzerklasse Ostelbiens (»Junker«) nicht mehr vorhanden – sei es, weil sie im Widerstand gegen Hitler ermordet oder unmittelbar an- schließend von den Kommunisten enteignet und ebenfalls ermordet oder vertrieben worden 494 Anmerkungen

war. Graf Dohna baute mit seiner Familie eine Wäscherei in Basel auf. Weil 2.) der seit 1870/71 dominante Militarismus (»Staat im Staate«) überwunden wurde. Es gab 3.) keine Elitenkontinuität auf vielen Feldern: Spitzenpositionen in Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Verbänden, Kultur »alles in allem« wurden gründlicher neu besetzt als 1918/19 und 1933 – am wenigsten in Kirchen, Hochschulen, Polizei, am stärksten bei Politik, Parlament und Regierung. Ein Rückgriff auf Führungspersonal von vor 1933 sei auch bei den Gewerk- schaften, Diplomaten(!) und der SPD stark ausgeprägt gewesen. Dadurch sei 4.) erstmalig eine »nivellierte Mittelstandsgesellschaft« entstanden: Kleinbürgertum, Angestellte und Ar- beiter konnten für die Demokratie gewonnen werden, indem der Wirtschaftsaufschwung gemeinsam mit Gewerkschaften organisiert wurde. Dieser neue Mittelstand zeigte sich nicht mehr anfällig für nationalistische rechte Sirenenklänge/Lockungen. Zudem habe sich mit der Lockerung der zuvor wesentlich starreren deutschen Sozialstruktur 5.) der konfes- sionelle Gegensatz abgeschliffen. Dabei komme 6.) dem Grundgesetz als »bedeutsamem Neuanfang« hohes Gewicht zu – denn es habe sich als offen erwiesen für tiefgreifenden Wandel und dennoch Stabilität vermittelt. Obendrein erwies sich die Deutsche Teilung als tiefer Bruch mit historischen Kontinuitäten, ohne dass der Verlust der nationalen Einheit eine Eskalation nationalistisch-revanchistischer Agitation bewirkt hätte. Das »Alleinstel- lungsmerkmal« der nationalen Teilung wurde zudem bis 1990 zumindest im Westen immer weniger als Hypothek betrachtet. Schließlich habe 7.) eine kapitalistische Restauration im Westen nicht stattfinden können, da die privatwirtschaftlichen Strukturen dort zwischen 1933 und 1945 in Hitlers Mischform aus staatlichem Dirigismus und kapitalistischer Wirt- schaftsform nicht zerstört oder fundamental verändert worden waren.

»Operation Hinkelstein«: Auftakt im Verborgenen

25 Joschka Fischer/Fritz Stern: Gegen den Strom. Ein Gespräch über Geschichte und Politik, München 2013, S. 50. 26 Im Spiegel-Gespräch mit René Pfister: »Grüne Ideologie« in DER SPIEGEL 12/2005 im Rahmen der Titelgeschichte des Heftes »Der lange Abschied von rot-grün«. 27 Vgl. »Auswärtiges Amt: Mitarbeiter rebellieren gegen Fischer« in DER SPIEGEL 13 vom 28.3.2005.

»Operation Hinkelstein«: Der »Meister der Mumien« meldet sich zu Wort

28 Vgl. Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/Moshe Zimmermann: Das Amt und die Ver- gangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 2010, S. 698 f. 29 Joschka Fischer/Fritz Stern: Gegen den Strom. Ein Gespräch über Geschichte und Politik, München 2013, S. 49. 30 Evelyn Roll: Die Kanzlerin. Angela Merkels Weg zur Macht, Berlin 2009, S. 46 f. 31 Jochen Staadt: »Nicht unter 200 Anschlägen pro Minute – Hans-Gerhart Schmierer und der ›Kommunistische Bund Westdeutschland‹«. In der F.A.Z. vom 31.1.2001, S. 10. 32 Der Münchner Herbert Ruoff, Jahrgang 1912, war ähnlich wie Nüßlein ein in Bayern aus- gebildeter Jurist, seit 1934 im Justiz- und Verwaltungsdienst. Zum 1.5.1933 war er in die SA eingetreten und zum 1.5.1937 – mit 25 Jahren – in die NSDAP. 1940 wurde er in die Rechtsabteilung des AA abgeordnet, arbeitete im Referat IV/Militärrecht, ab Herbst 1943 dann im Referat XIII/Deutsche Zivilinternierte im feindlichen Ausland/feindliche Zivil- Anmerkungen 495

internierte im Inland. Im Herbst 1944 wurde er kurzzeitig eingezogen, von Juni 1945 bis Juni 1946 von den Amerikanern interniert. Ab 1948 war er tätig beim bayerischen Staats- ministerium für Wirtschaft, ab 1949 persönlicher Referent des Ministers. Im November 1951 erfolgte seine Einberufung in den neu aufgebauten Auswärtigen Dienst in die Abt. V Recht, Ref. I. Völkerrecht. Ab 25.3.1952 war er in der Abt. I Personal und Verwaltung beschäftigt. Er beendete seine lange Karriere im AA 1977 als Botschaftsrat I Kl. und verstarb 2005 in Bonn. Er hätte ein »ehrendes Gedenken« verdient, aber Fischers Anweisung von 2003 verhinderte das. Zu den Personalangaben vgl. Auswärtiges Amt (Hg.): Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871–1945, Paderborn 2008, S. 747 f. 33 Auswärtiges Amt: Politisches Archiv des Auswärtigen Amts (PA AA), Personalakte Wickert, Gutachten des Berlin Document Center, IV/3 Ü 1448/55 E vom 3.8.1954, eingegangen im AA am 8.8.1954. 34 Vgl. Nicola Hille: »Das Kunsthistorische Institut der Universität Tübingen und die Beru- fung von Hubert Schrade zum Ordinarius im Jahr 1954«. In: Kunst und Politik. Jahrbuch der Guernica-Gesellschaft, Göttingen 2006, S. 171–195, hier S. 183. 35 Gerd Koenen: Das rote Jahrzehnt 1967–1977, Köln 2001. 36 Eric Chauvistré: »George W. Bush – der Obergrüne«. In: taz vom 12.5.2003. 37 Zitiert nach Erwin Wickert: Das muss ich Ihnen schreiben. Beim Blättern in unvergessenen Briefen, hg. von Ulrich Lappenküper, München 2005, S. 368 ff. 38 Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergan- genheit, a. a. O., S. 702 ff.

»Operation Hinkelstein«: »Political animal«

39 Joschka Fischer: »I am not convinced«. Der Irak-Krieg und die rot-grünen Jahre, a. a. O., S. 133. 40 Vgl. Joschka Fischer/Fritz Stern: Gegen den Strom. Ein Gespräch über Geschichte und Politik, München 2013, S. 119. 41 Alle Zitate sind in der Reportage von Arno Luik: »Was war da los?« in STERN Nr. 15 vom 4.4.2013, S. 44 ff. nachzulesen. 42 Vgl. Jochen Bölsche: »Die verlorene Ehre der APO« in DER SPIEGEL 5/2001 sowie »Zur Wahrheit verpflichtet« im FOCUS 3/2001. 43 Joschka Fischer – zu seiner Vergangenheit; zitiert u. a. bei http://wahljahr2013.wordpress .com/2012/07/15/gruen-ist-das-neue-schwarz. 44 Joschka Fischer/Fritz Stern: Gegen den Strom. Ein Gespräch über Geschichte und Politik, a. a. O., S. 34. 45 A. a. O., S. 92 f.

»Operation Hinkelstein«: Nachrufkrise und Kommissionsfindung

46 Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergan- genheit, a. a. O., S. 706. 47 A. a. O., S. 707. 48 A. a. O., S. 707. 49 Joschka Fischer: »I am not convinced«. Der Irak-Krieg und die rot-grünen Jahre, Köln 2011, S. 322 f. 50 A. a. O., S. 322 ff. 496 Anmerkungen

51 Hans-Jürgen Döscher: Seilschaften. Die verdrängte Vergangenheit des Auswärtigen Amts, München 2005, S. 82 ff. 52 »Fischers Gedenkpraxis« in der F.A.Z. vom 9.2.2005, S. 2. 53 Joschka Fischer: »I am not convinced«. Der Irak-Krieg und die rot-grünen Jahre, a. a. O., S. 326 f. 54 A. a. O., S. 328 f. 55 Zitiert nach Rainer Blasius: »Der Generalkonsul und das Auswärtige Amt« in der F.A.Z. vom 26.10.2010. 56 Joschka Fischer/Fritz Stern: Gegen den Strom. Ein Gespräch über Geschichte und Politik, a. a. O., S. 50. 57 Zitiert nach Rainer Blasius: »Aktenvernichtung in der Amtszeit Fischers« in der F.A.Z. vom 31.05.2010, S. 10. 58 Joschka Fischer/Fritz Stern: Gegen den Strom. Ein Gespräch über Geschichte und Politik, a. a. O., S. 51. 59 Joschka Fischer: »I am not convinced«... a. a. O., S. 331. 60 Das Interview ist erschienen in DIE WELT vom 24.4.2005. 61 Joschka Fischer/Fritz Stern: Gegen den Strom. Ein Gespräch über Geschichte und Politik, a. a. O., S. 95. 62 Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Ver- gangenheit, München 1999, S. 178. 63 A. a. O., S. 194. 64 Vgl. Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/Moshe Zimmermann: Das Amt und die Ver- gangenheit, a. a. O., S. 11. Dort wird der »Forschungsauftrag« resümiert, wie er in dem Vertrag zwischen Amt und Kommission festgeschrieben worden ist. 65 A. a. O., S. 13 – so lautet eine der Schlüsselfragen in der Einleitung zum Kommissionsbe- richt.

Fallstudie: Ermächtigungsgesetze

66 A. a. O., S. 69. 67 Vgl. hierzu ausführlich Rainer Blasius: »Ein Aufrechter allein auf weiter Flur« in der F.A.Z. vom 16.3.2013.

Fallstudie: Deutsch-sowjetische Beutepartnerschaft

68 Vgl. dazu etwa den Beitrag »Eiserne Ration« im Feuilleton der F.A.Z. vom 30.6.2009. 69 Die beiden, sich in Nuancen unterscheidenden Versionen sind ebenso wie die zitierte Passa- ge nachzulesen in: Archiv des auswärtigen Amts: Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918–1945. Aus dem Archiv des auswärtigen Amts. Serie D. 1937–1941. Band VII: 9. Au- gust bis 3. September 1939: Die letzten Wochen vor Kriegsausbruch, S. 171 f. 70 Justus Bender: »Dasselbe in Grün« in der F.A.Z. vom 13.4.2013, S. 4.

Fallstudie: Ernst von Weizsäcker – Eine Schlüsselfigur

71 Zu diesem Abschnitt Martin Wein: Die Weizsäckers. Porträt einer deutschen Familie, Stutt- gart 1988, S. 207–219. 72 Leonidas E. Hill (Hg.): Die Weizsäcker-Papiere 1900–1932, Berlin 1982, S. 148–150. Anmerkungen 497

73 A. a. O., S. 297. 74 A. a. O., S. 313 f. 75 A. a. O., S. 316. 76 A. a. O., S. 317. 77 A. a. O., S. 325. 78 A. a. O., S. 325; zum Hintergrund vgl. Martin Wein: Die Weizsäckers. Porträt einer deut- schen Familie, a. a. O., S. 230. 79 Ernst von Weizsäcker: Erinnerungen. Hg. von Richard von Weizsäcker, München/Leipzig/ Freiburg 1950, S. 13 f. 80 Leonidas E. Hill (Hg.): Die Weizsäcker-Papiere 1900–1932, a. a. O., S. 239, 344, 348 81 A. a. O., S. 334. 82 A. a. O., S. 361 f. 83 Carl Friedrich von Weizsäcker: »Der Vater und das Jahrhundert«. In: DIE ZEIT vom 5.5.1987, S. 7. 84 Leonidas E. Hill (Hg.): Die Weizsäcker-Papiere 1900–1932, a. a. O., S. 376. 85 A. a. O., S. 381. 86 Dazu Theodor Heuss: Profile. Tübingen 1964, S. 282 f. sowie Peter Krüger: »Man läßt sein Land nicht im Stich … Die Diplomaten und die Eskalation der Gewalt«. In: Martin Bros- zat/Klaus Schwabe (Hg.): Die deutschen Eliten und der Weg in den Zweiten Weltkrieg, München 1989, S. 200 ff. 87 Ernst von Weizsäcker: Erinnerungen. Hg. von Richard von Weizsäcker, a. a. O., S. 80 f. 88 Leonidas E. Hill (Hg.): Die Weizsäcker-Papiere 1900–1932, a. a. O., S. 393, 401 sowie Harry Graf Kessler: Tagebücher 1918–37, Frankfurt am Main 1961, S. 595 ff. 89 Leonidas E. Hill (Hg.): Die Weizsäcker-Papiere 1900–1932, a. a. O., S. 436. 90 A. a. O., S. 437 91 Leonidas E. Hill (Hg.): Die Weizsäcker-Papiere 1933–1950, Berlin 1974, S. 60. 92 A. a. O., S. 61 f. 93 Hans-Jürgen Döscher: Das Auswärtige Amt im Dritten Reich. Diplomatie im Schatten der »Endlösung«, Berlin 1987, S. 67 ff. 94 Leonidas E. Hill (Hg.): Die Weizsäcker-Papiere 1933–1950, a. a. O., S. 70. 95 Vgl. Josef Goebbels: Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei, Berlin 1934, S. 287. 96 Leonidas E. Hill (Hg.): Die Weizsäcker-Papiere 1933–1950, a. a. O., S. 70. 97 A. a. O., S. 71. 98 Vgl. Leonidas E. Hill (Hg.): Die Weizsäcker-Papiere 1900–1932, a. a. O., S. 44 (hier vor allem der Kommentar), S. 135, 329. 99 Zitiert bei Lorenz Jäger: »Das Monstrum kam aus der Mitte der Gesellschaft«. In: F.A.Z. vom 12.10.2013, S. 31. 100 Leonidas E. Hill (Hg.): Die Weizsäcker-Papiere 1900–1932, a. a. O., S. 44. 101 Friedrich Meinecke: Die deutsche Katastrophe, Wiesbaden 1946, S. 53; vgl. zu dieser The- matik ausführlich Götz Aly: Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800–1933. Frankfurt am Main 2012, S. 295 ff., der noch weitere ent- sprechende Belegstellen von Meinecke u. a. anführt. 102 Leonidas E. Hill (Hg.): Die Weizsäcker-Papiere 1933–1950, a. a. O., Eintragung vom 22.4.1933, S. 71. 103 Ernst von Weizsäcker: Erinnerungen. a. a. O., S. 106 f. sowie Hans-Adolf Jacobsen: Na- tionalsozialistische Außenpolitik 1933–1938, Berlin 1968, S. 34 ff. und Peter Krüger: »Man läßt sein Land nicht im Stich … Die Diplomaten und die Eskalation der Gewalt«. In: Mar- 498 Anmerkungen

tin Broszat/Klaus Schwabe (Hg.): Die deutschen Eliten …, a. a. O., S. 204. 104 Zitiert nach Hans-Jürgen Döscher: Das Auswärtige Amt im Dritten Reich. Diplomatie im Schatten der »Endlösung«, a. a. O., S. 68. 105 Vgl. Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/Moshe Zimmermann: Das Amt und die Ver- gangenheit, a. a. O., S. 64 ff. und speziell S. 67 f. Der Prozess der »Selbstgleichschaltung«, von dem im entsprechenden Kapitel des Kommissionsberichts die Rede ist, verlief vermut- lich zunächst trotz allem doch eher schleppend, auch wenn der »Aufnahmestopp« vom Frühjahr 1933 für Angehörige des AA aufgehoben wurde und die Parteieintritte sich häuf- ten – Opportunismus ist für den Diplomaten eine wichtige Berufseingenschaft. 106 Leonidas E. Hill (Hg.): Die Weizsäcker-Papiere 1933–1950, a. a. O., S. 74 und Ernst von Weizsäcker: Erinnerungen. Hg. von Richard von Weizsäcker, München/Leipzig/Frei- burg 1950, S. 107. 107 Leonidas E. Hill (Hg.): Die Weizsäcker-Papiere 1933–1950, a. a. O., S. 75. Ernst von Weizsäcker: Erinnerungen. a. a. O., S. 109 f. schreibt dagegen, die Begegnung habe ihn er nüchtert. 108 Leonidas E. Hill (Hg.): Die Weizsäcker-Papiere 1933–1950, a. a. O., S. 87, 90, 92. Zum Hintergrund zugleich auch Martin Wein: Die Weizsäckers. Porträt einer deutschen Familie, Stuttgart 1988, S. 253 ff. 109 Leonidas E. Hill (Hg.): Die Weizsäcker-Papiere 1933–1950, a. a. O., S. 96 ff. 110 Martin Wein: Die Weizsäckers. Porträt einer deutschen Familie, Stuttgart 1988, S. 256 und Leonidas E. Hill (Hg.): Die Weizsäcker-Papiere 1933–1950, a. a. O., S. 144, Anm. 143. 111 Zitat bei Martin Wein: Die Weizsäckers. Porträt einer deutschen Familie, a. a. O., S. 262, dort allerdings ohne Quellennachweis. 112 Informationen aus einem Gespräch mit Richard von Weizsäcker vom 28. Januar 1989. 113 Leonidas E. Hill (Hg.): Die Weizsäcker-Papiere 1933–1950, a. a. O., S. 78, 88 ff.: vom Wiedereintritt des Reiches in den Kreis der Großmächte ist auf S. 96 in der Aufzeichnung von Juli 1936 die Rede. 114 Vor dem Reichsverteidigungsausschuss sagte Weizsäcker in seinem Vortrag am 26. Januar 1936: »Wenn wir Frieden behalten, arbeitet die Zeit für uns (…)«, vgl. a. a. O., S. 100 f. 115 A. a. O., S. 96 ff., vgl. auch Peter Krüger, »Man lässt sein Land nicht im Stich, weil es eine schlechte Regierung hat«. In: Martin Broszat/Klaus Schwabe (Hg.): Die Diplomaten und die Eskalation der Gewalt. Die deutschen Eliten und der Weg in den Zweiten Weltkrieg, München 1989, S. 217 f. 116 A. a. O., S. 218 f. 117 Leonidas E. Hill (Hg.): Die Weizsäcker-Papiere 1933–1950, a. a. O., S. 98. 118 A. a. O., S. 110. 119 A. a. O., S. 111. Zum Hintergrund Rainer A. Blasius: »Ein konservativer Patriot im Dienste Hitlers – Ernst von Weizsäcker«. In: Werner Filmer/Heribert Schwan, (Hg.): Richard von Weizsäcker. Profile eines Mannes, Düsseldorf 1984, S. 217 f. 120 Leonidas E. Hill (Hg.): Die Weizsäcker-Papiere 1933–1950, a. a. O., S. 112–119 und Ernst von Weizsäcker: Erinnerungen. a. a. O., S. 134–142. 121 Archiv des auswärtigen Amts: Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918–1945. Aus dem Archiv des auswärtigen Amts. Serie D. 1937–1941, September 1937 bis September 1938: Von Neurath zu Ribbentrop, Baden-Baden 1950, S. 25–32. 122 Ernst von Weizsäcker: Erinnerungen. a. a. O., S. 147. 123 Leonidas E. Hill (Hg.): Die Weizsäcker-Papiere 1933–1950, a. a. O., S. 121. Dagegen Anmerkungen 499

Ernst von Weizsäcker: Erinnerungen. a. a. O., S. 144 ganz anders über Hitler, daher ganz eindeutig eine Feststellung »ex post«, mithin aus der Nachkriegszeit. 124 Leonidas E. Hill (Hg.): Die Weizsäcker-Papiere 1933–1950, a. a. O., S. 121 f. 125 Erich Kordt: Nicht aus den Akten, Stuttgart 1950, S. 199 und Rainer A. Blasius: Für Groß- deutschland – gegen den großen Krieg. Ernst von Weizsäcker in den Krisen um die Tsche- choslowakei und Polen, a. a. O., S. 25 f. 126 Ernst von Weizsäcker: Erinnerungen. a. a. O., S. 144 f., 126 f. Das Datum für die Ernen- nung Weizsäckers ist bis heute umstritten. Vgl. Hans-Jürgen Döscher: Das Auswärtige Amt im Dritten Reich. Diplomatie im Schatten der »Endlösung«, a. a. O., S. 185 und Martin Wein: Die Weizsäckers. Porträt einer deutschen Familie, Stuttgart 1988, S. 264 f. Rolf Lindner: Freiherr Ernst Heinrich von Weizsäcker, Staatssekretär Ribbentrops von 1938– 1943, Darmstadt o. J., hat in seinem Anhang S. 22 ff. eine ganze Reihe von Schreiben be- züglich SS-Ernennung und SS-Auszeichnungen als Faksimile versammelt. 127 Hans-Jürgen Döscher: Das Auswärtige Amt im Dritten Reich. Diplomatie im Schatten der »Endlösung«, a. a. O., S. 157–196 sowie Hans-Adolf Jacobsen: »Zur Struktur der NS- Außenpolitik«. In: Manfred Funke (Hg.): Hitler, Deutschland und die Mächte. Materialien zur Außenpolitik des Dritten Reiches, Düsseldorf 1978, S. 140–146. 128 Ernst von Weizsäcker: Erinnerungen. a. a. O., S. 150 und Leonidas E. Hill (Hg.): Die Weizsäcker-Papiere 1933–1950, a. a. O., S. 123 f. 129 Leonidas E. Hill (Hg.): Die Weizsäcker-Papiere 1933–1950, a. a. O., S. 126 und Ernst von Weizsäcker: Erinnerungen. a. a. O., S. 154 f. Vgl. außerdem in diesem Zusammenhang Wolfgang Michalka: Ribbentrop und die deutsche Weltpolitik 1933–1940, München 1980, S. 247 ff. 130 Leonidas E. Hill (Hg.): Die Weizsäcker-Papiere 1933–1950, a. a. O., S. 128 sowie Hans- Jürgen Döscher: Das Auswärtige Amt im Dritten Reich. a. a. O., S. 185 ff. 131 Ernst von Weizsäcker: Erinnerungen. a. a. O., S. 162 ff. sowie Rainer Blasius: »Ein kon- servativer Patriot im Dienste Hitlers – Ernst von Weizsäcker«. In: Werner Filmer/Heribert Schwan, (Hg.): Richard von Weizsäcker. Profile eines Mannes, Düsseldorf 1984, S. 32 f. und ders.: Für Großdeutschland – gegen den großen Krieg. Ernst von Weizsäcker in den Krisen um die Tschechoslowakei und Polen, a. a. O., S. 43–63; außerdem Marion Thie- lenhaus: Zwischen Anpassung und Widerstand. Deutsche Diplomaten 1938–1941, Pader- born 1984, S. 67 ff. 132 Rainer A. Blasius: Für Großdeutschland – gegen den großen Krieg. Ernst von Weizsäcker in den Krisen um die Tschechoslowakei und Polen, a. a. O., S. 68 ff. 133 Margret Boveri: Der Diplomat vor Gericht, München 1949, S. 42. 134 Leonidas E. Hill (Hg.): Die Weizsäcker-Papiere 1933–1950, a. a. O., S. 508, Anm. 149. 135 Robert M. W. Kempner: Das Dritte Reich im Kreuzverhör. Aus den unveröffentlichten Vernehmungsprotokollen des Anklägers Robert M. W. Kempner, München-Esslingen, 1969. Düsseldorf 1984, S. 228. 136 Leonidas E. Hill (Hg.): Die Weizsäcker-Papiere 1933–1950, a. a. O., S. 146. Vgl. außerdem Institut für Zeitgeschichte (IfZ) München: Nürnberger Prozessakten NG 3929. 137 Margret Boveri: Der Diplomat vor Gericht, München 1949, S. 15. 138 Institut für Zeitgeschichte (IfZ) München: NG 1413, Ordner »Büro St.S. – Behandlung amerikanischer Staatsbürger in Bezug auf die Judengesetzgebung«. 139 Ulrich von Hassell: Die Hassell-Tagebücher 1938–1944. Aufzeichnungen vom andern Deutschland, Berlin 1988, S. 79. 500 Anmerkungen

140 Leonidas E. Hill (Hg.): Die Weizsäcker-Papiere 1933–1950, a. a. O., S. 150. 141 Ernst von Weizsäcker: Erinnerungen. a. a. O., S. 232 f. und Marion Thielenhaus: Zwi- schen Anpassung und Widerstand. Deutsche Diplomaten 1938–1941, Paderborn 1984, S. 115 sowie Rainer A. Blasius: Für Großdeutschland – gegen den großen Krieg. Ernst von Weizsäcker in den Krisen um die Tschechoslowakei und Polen, Köln 1981, S. 92–138. 142 Erich Kordt: Nicht aus den Akten, a. a. O., S. 370 und Martin Wein: Die Weizsäckers. Porträt einer deutschen Familie, a. a. O., S. 283. 143 Ernst von Weizsäcker: Erinnerungen. a. a. O., S. 262. 144 Marion Thielenhaus: Zwischen Anpassung und Widerstand. Deutsche Diplomaten 1938– 1941, a. a. O., S. 153–206. 145 Richard von Weizsäcker hat in seinen Erinnerungen »Vier Zeiten«, Berlin 1997, S. 121 ff., die Motivlage seines Vaters und seine überwiegend resignativ-verzweifelte Gemütsverfas- sung in diesen Kriegsjahren durchaus differenziert und glaubwürdig geschildert. 146 Ulrich von Hassell: Die Hassell-Tagebücher 1938–1944. Aufzeichnungen vom andern Deutschland. Hg. von Friedrich Freiherr Hiller von Gaertringen, Berlin 1988, S. 184 f. 147 Zitiert nach Martin Broszat: Der Staat Hitlers: Grundlegung und Entwicklung seiner in- neren Verfassung, München 1981, S. 367. Gaus kam bereits 1907 ins AA, diente als Rechts- experte unterschiedlichen Herren und stellte sich nach 1945 in Nürnberg als Zeuge der Anklage zur Verfügung – ob freiwillig oder unter Druck gesetzt, ist bis heute nicht geklärt. Gerhard Stuby hat Gaus, der sich vom »Kronjuristen« zum »Kronzeugen« wandelte, 2008 erstmals in den Mittelpunkt einer fundierten zeitgeschichtlichen Studie gerückt. 148 Institut für Zeitgeschichte (IfZ) München: NBG-Protokoll, S. 7387 ff. (Aussage Kordt u.a.) sowie Leonidas E. Hill (Hg.): Die Weizsäcker-Papiere 1933–1950, a. a. O., S. 360. Zur Geschichte des Hauses in der Admiral-Schroeder-Straße vgl. ausführlich Bauhausarchiv Berlin (Hg.): Berliner Lebenswelten der Zwanziger Jahre. Bilder einer untergegangenen Kultur, Berlin 1996, S. 50 ff. 149 Zu den Zahlen gibt es sehr unterschiedliche Angaben. Wir folgen hier Heinz Schneppen: »Vom Jagdtrieb historischer Ermittler«. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG) 7/8 2011, S. 608. 150 Margret Boveri: Der Diplomat vor Gericht, a. a. O., S. 40 ff. sowie Leonidas E. Hill (Hg.): Die Weizsäcker-Papiere 1933–1950, a. a. O., S. 338. Der Hinweis auf die »60 Prozent seiner Zeit« findet sich bei Joachim C. Fest: Das Gesicht des Dritten Reiches. Profile einer totalitären Herrschaft, a. a. O., S. 253. Die Personalstruktur des AA im Dritten Reich und das unterschiedliche Zusammenwirken von Diplomaten und zahlreichen Quereinsteigern aus der Dienststelle Ribbentrop, der Auslandsorganisation (AO) der NSDAP, der SS und SA hat ausführlich analysiert Johannes Hürter: »Das Auswärtige Amt, die NS-Diktatur und der Holocaust« in Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 2/2011, S. 167 ff. Vgl. für unseren Zusammenhang besonders S. 174, 181 f. 151 Vgl. Institut für Zeitgeschichte (IfZ) München: NG 2586 und Hans-Jürgen Döscher: Das Auswärtige Amt im Dritten Reich. Diplomatie im Schatten der »Endlösung«, a. a. O., S. 217 ff. 152 Hans-Jürgen Döscher: Das Auswärtige Amt im Dritten Reich. Diplomatie im Schatten der »Endlösung«, Berlin 1987, S. 224. Michael Wildt: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002, S. 41–142, hat ein- drucksvoll diese »Aufladung« der Generation der um 1900 Geborenen durch Weltkrieg und Niederlage herausgearbeitet, von denen auffällig viele in ganz jungen Jahren zur NSDAP, zu Hitler stießen und mit ihm wie Himmler und Heydrich sehr jung in Füh- Anmerkungen 501

rungs- und Schlüsselpositionen aufstiegen. Weizsäcker gehörte eindeutig nicht zu dieser für das Regime wichtigen Gruppe von »überzeugten«, ja kalt-fanatischen Nationalsozialis- ten. Er war im Kern ein Mann des von den »braunen Revolutionären« zutiefst verachteten »alten Systems«. Diese hielten eine radikale Umgestaltung der Gesellschaft für unbedingt erforderlich. Das tat Ernst von Weizsäcker keinesfalls. Obwohl selbst von »sozialem Anti- semitismus« keineswegs frei, war ihm dessen Steigerungsform, der biologistische, bis zum Massenmord gesteigerte antisemitische Rassenwahn fremd. Noch fremder war ihm, diesen Rassenmord als zwar grausame, aber für den Erhalt der »Volksgemeinschaft« unbedingt notwendige »Medizin« im deutschen Herrschaftsgebiet anwenden zu müssen, wie es Hit- ler/Himmler/Eichmann und Co. taten, die sich darauf ja auch sehr viel zu Gute hielten. 153 Ernst von Weizsäcker: Erinnerungen. a. a. O., S. 339. 154 Institut für Zeitgeschichte (IfZ) München: NG 2586 enthält diese Protokolle. Ebd. Auf- zeichnung Rademachers v. 11. Juni 1942. 155 a. a. O., Schreiben Weizsäckers vom 12.9.1942. Zum Referat D III vgl. ausführlich und überzeugend Sebastian Weitkamp: Braune Diplomaten. Horst Wagner und Eberhard von Thadden als Funktionäre der Endlösung, Bonn 2008. 156 Dazu Margret Boveri: Der Diplomat vor Gericht, a. a. O., S. 44. 157 Vgl. Michael Mayer: »Das Auswärtige Amt im Dritten Reich – eine Binnendifferenzie- rung«. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 4/2011, S. 523. 158 Zitiert nach Hans-Jürgen Döscher: Das Auswärtige Amt im Dritten Reich. a. a. O., S. 239 ff. 159 Institut für Zeitgeschichte (IfZ) München: NG 2586-J, Aufz. Luther vom 21. August 1942, S. 5–14. 160 Joachim von Ribbentrop: Zwischen London und Moskau. Hg. von Annelies von Ribben- trop, Starnberg 1953, S. 278. 161 Alle Hassell-Zitate wiedergegeben nach Rolf Lindner: Freiherr Ernst Heinrich von Weiz- säcker – Staatssekretär Ribbentrops von 1938–1943, a. a. O., S. 359 f. Lindner hat durch Quellenvergleiche die Vermutung erhärtet, dass nach 1945 bei der Edition der Hassell-Ta- gebücher leichte Korrekturen vorgenommen worden sind, die Ernst von Weizsäcker in einem deutlich positiveren Licht erscheinen lassen. Vgl. demgegenüber Ulrich von Hassell: Die Hassell-Tagebücher 1938–1944. Aufzeichnungen vom andern Deutschland. Hg. von Friedrich Freiherr Hiller von Gaertringen, Berlin 1988, S. 363 f., – dort sind für Weizsäcker nachteilige Einschübe entfernt worden. 162 Rolf Lindner: Freiherr Ernst Heinrich von Weizsäcker – Staatssekretär Ribbentrops von 1938–1943, a. a. O., S. 373 f., Lindner verweist mit ähnlichen Argumenten die Behaup- tung von Carl Friedrich von Weizsäcker in den Bereich der Fabel und Hagiographie, mithin der Verklärung des Vaterbildes. 163 Zitiert nach Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergangenheit, a. a. O., S. 272. 164 A. a. O., ebd. 165 Zur Kooperation mit O’Flaherty vgl. etwa jüngst Thorsten Hinz: Der Weizsäcker-Komplex. Eine politische Archäologie, Berlin 2012, besonders S. 200 ff. bezüglich der Verhaftung der Juden in Rom ab Oktober 1943 und der diskreten Warnungen des Botschafters an O’Flaherty. 166 Zitiert bei Leonidas E. Hill (Hg.): Die Weizsäcker-Papiere 1933–1950, a. a. O., S.393f., vgl. dazu auch Rolf Lindner: Freiherr Ernst Heinrich von Weizsäcker – Staatssekretär Rib- bentrops von 1938–1943, Darmstadt 1997, S. 273. 502 Anmerkungen

167 Hierzu Rolf Lindner: Freiherr Ernst Heinrich von Weizsäcker – Staatssekretär Ribbentrops von 1938–1943, a. a. O., S. 395 ff. 168 Vgl. hierzu Dirk Pöppmann: »Robert M. W. Kempner und Ernst von Weizsäcker im Wil- helmstraßenprozess. Zur Diskussion über die Beteiligung der deutschen Funktionselite an den NS-Verbrechen«. In: Irmtrud Wojak/Susanne Meinl im Auftrag des Fritz Bauer Insti- tuts (Hg.): Im Labyrinth der Schuld. Täter, Opfer, Ankläger (= Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust 2003), Frankfurt am Main 2003, S. 163 ff. 169 Vgl. a. a. O., zum Begriff »Omnibusprozess« S. 171 f. 170 Robert M. W. Kempner: Ankläger einer Epoche. Lebenserinnerungen, a. a. O., S. 316 und 325. Das Wannsee-Protokoll hatte bereits vor dem Fall XI, dem Wilhelmstraßenpro- zess, im Fall VIII, im Verfahren gegen das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS eine wich- tige Rolle als Beweisstück gespielt. Dieser Prozess war aber in der Öffentlichkeit nicht mit solcher Aufmerksamkeit verfolgt worden wie das letzte große Gerichtsverfahren gegen NS- Täter und Verstrickte der unmittelbaren Nachkriegszeit. Zur Geschichte des Protokolls vgl. Norbert Kampe/Peter Klein (Hg.): Die Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942, Köln 2013. Darin besonders Christian Mentel: »Das Protokoll der Wannsee-Konferenz. Über- lieferungen, Veröffentlichung und revisionistische Infragestellung«, S. 116–138. 171 Zitiert nach Dirk Pöppmann: »Robert M. W. Kempner und Ernst von Weizsäcker im Wil- helmstraßenprozess. Zur Diskussion über die Beteiligung der deutschen Funktionselite an den NS-Verbrechen«. In: Irmtrud Wojak/Susanne Meinl im Auftrag des Fritz Bauer Insti- tuts (Hg.): Im Labyrinth der Schuld, a. a. O., S. 175. 172 Norbert Frei: Vergangenheitspolitik, a. a. O., S. 177 sowie Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergangenheit, a. a. O., S. 428. 173 Vgl. Dirk Pöppmann: »Robert M. W. Kempner und Ernst von Weizsäcker im Wilhelm- straßenprozess. Zur Diskussion über die Beteiligung der deutschen Funktionselite an den NS-Verbrechen«. In: Irmtrud Wojak/Susanne Meinl im Auftrag des Fritz Bauer Instituts (Hg.): Im Labyrinth der Schuld, a. a. O., S. 174 f. 174 A. a. O., S. 319. 175 Institut für Zeitgeschichte (IfZ) München: NBG-Protokoll, Verhör Weizsäcker, S. 9278 f. 176 A. a. O., S. 9269 f. 177 A. a. O., S. 9400. 178 Zitiert nach Hans-Jürgen Döscher: Das Auswärtige Amt im Dritten Reich. Diplomatie im Schatten der »Endlösung«, Berlin 1987, S. 284. Vgl. außerdem Prozessunterlagen aus Nu- ernberg Military Tribunals: Trials of the War Criminals before the Nuernberg Military Tri- bunals, Nürnberg 1946 ff., Bd. 13, Washington 1952, S. 207 ff. 179 Richard von Weizsäcker: Vier Zeiten. Erinnerungen, Berlin 1997, S. 121. 180 Ulrich Raulff: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 2009, S. 402. 181 A. a. O., S. 387. 182 Vgl. Dirk Pöppmann: »Robert M. W. Kempner und Ernst von Weizsäcker im Wilhelm- straßenprozess. Zur Diskussion über die Beteiligung der deutschen Funktionselite an den NS-Verbrechen«. In: Irmtrud Wojak/Susanne Meinl im Auftrag des Fritz Bauer Instituts (Hg.): Im Labyrinth der Schuld, a. a. O., S. 176 f. 183 Vgl. Paul Stauffer: Zwischen Hofmannsthal und Hitler. Carl J. Burckhardt – Facetten einer aussergewöhnlichen Existenz, Zürich 1991, S. 262 ff. Die Verteidigung durfte nur Doku- mente vorlegen, die vor dem 8.5.1945 entstanden waren. Möglicherweise erhöhte das den Druck auf Burckhardt, seine Aufzeichnungen an einer ganzen Reihe von Stellen zu »kor- rigieren«, bzw. die für Weizsäcker entlastende Akzentuierung durch Rückdatierungen zu Anmerkungen 503

verstärken. 184 Stephan Schwarz: Ernst Freiherr von Weizsäckers Beziehungen zur Schweiz (1933–1945), Bern 2007, S. 574 ff. hat den interessanten Hintergrund der schweizerischen Unterstützung für Ernst von Weizsäcker sorgfältig ausgeleuchtet. 185 A. a. O., ebd. 186 Vgl. Leonidas E. Hill (Hg.): Die Weizsäcker-Papiere 1933–1950, a. a. O., S. 77 unter dem Datum des 10.12.1933. 187 Margret Boveri: Der Diplomat vor Gericht, a. a. O., S. 21 188 Vgl. Dirk Pöppmann: »Robert M. W. Kempner und Ernst von Weizsäcker im Wilhelm- straßenprozess«. In: Irmtrud Wojak/Susanne Meinl im Auftrag des Fritz Bauer Instituts (Hg.): Im Labyrinth der Schuld, a. a. O., S. 179 f., Pöppmann setzt sich mit dem Auftritt von Kaufmann gleichfalls ausführlich auseinander, so dass es wirklich sehr überrascht, dass dieser im Band der unabhängigen Historikerkommission überhaupt nicht wahrgenommen worden ist. 189 Margret Boveri: Der Diplomat vor Gericht, a. a. O., S. 16 und 24. 190 A. a. O., ebd. 191 Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergan- genheit, a. a. O., S. 275. 192 Vgl. dazu Dirk Pöppmann: »Robert M. W. Kempner und Ernst von Weizsäcker im Wil- helmstraßenprozess.« In: Irmtrud Wojak/Susanne Meinl im Auftrag des Fritz Bauer Instituts (Hg.): Im Labyrinth der Schuld, a. a. O., S. 182. 193 Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergan- genheit, a. a. O., S. 395 ff. 194 Norbert Frei: Vergangenheitspolitik, a. a. O., S. 176 f. 195 Erich Kordt, der vor dem Krieg in England alles unternommen hatte, um die Briten vor Hitlers Expansionsdrang zu warnen, wurde Adenauer immer wieder für höhere Aufgaben empfohlen. Doch dessen abschätziger Kommentar blieb stets: »Der hat doch schon einmal seinen Chef verraten …« – zitiert von Rainer Blasius am 21.6.2013 auf der Tagung »Das Auswärtige Amt in der NS-Diktatur« in der Akademie von Tutzing. 196 Vgl. Peter Merseburger: Theodor Heuss. Der Bürger als Präsident, München 2012, S. 563. 197 A. a. O., S. 564 sowie Norbert Frei: Vergangenheitspolitik, a. a. O., S. 180 f. 198 Robert M. W. Kempner: Ankläger einer Epoche. Lebenserinnerungen, a. a. O., S. 317.

Fallstudie: Die »Akte Franz Nüßlein«

199 Vgl. dazu Robert Gerwarth: Reinhard Heydrich. Biographie, München 2011, S. 350 f. 200 »›Wir wussten nur, es wird schlimm«‹ – Der jüdische Historiker Edgar Feuchtwanger er- innert sich«. In: DIE WELTWOCHE Nr. 12/2013, S. 45. 201 Diese Darstellung stützt sich auf die Rekonstruktion des Falles Nüßlein durch Heinz Schneppen: »Der Fall des Generalkonsuls a. D. Franz Nüßlein« in der Zeitschrift für Ge- schichtswissenschaft (ZfG) 12/2012, S. 1007–1037. Schneppen hat dafür sowohl die Akten im Politischen Archiv PA AA 54512, 54513, die Sonderakten D 1 Bd. 13 und 14 sowie einschlägige Akten des Beauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR ausgewertet. Er hat darüber hinaus auch die Nüßlein-Akte des Bezirks- archivs Prag benutzen können. 202 Vgl. Heinz Schneppen: Der Fall des Generalkonsuls a. D. Franz Nüßlein, a. a. O., S. 1010. 203 Archiv des Auswärtigen Amts: Bericht über die Anschuldigungen gegen den Vortragenden 504 Anmerkungen

Legationsrat I. Klasse, Dr. Franz Nüßlein, Abschnitt Zeugenaussagen, S. 19. 204 A. a. O., S. 21. 205 Vgl. Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/Moshe Zimmermann: Das Amt und die Ver gangenheit, a. a. O., S. 583. In diesem Zusammenhang etwa die abwertende Präsentation der – nicht wörtlich zitierten – Benennung Nüßleins durch Schmoller als einen (so der Satz davor) »Schwerbelasteten«. Der neutrale Leser, der mit der Materie nicht vertraut ist, muss zwangsläufig denken, Nüßlein war ein Verbrecher – und alle, die ihm halfen, waren das auch. 206 Heinz Schneppen: »Der Fall des Generalkonsuls a. D. Franz Nüßlein«. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG) 12/2012, S. 1007–1037 207 A. a. O., S. 1011 f. 208 Die Darstellung stützt sich auf den Lebenslauf Nüßleins vom 14. April 1947, Personalakte (PA) Nüßlein, S. 1 ff. – vgl. hierzu auch Heinz Schneppen: »Der Fall des Generalkonsuls a. D. Franz Nüßlein«. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG) 12/2012, S. 1012 f. 209 Heinz Schneppen: Der Fall des Generalkonsuls a. D. Franz Nüßlein, a. a. O., S. 1027 f., hat den komplizierten Ablauf innerhalb der deutschen Verwaltungsbehörden im Protektorat an diesem einen Fall minutiös rekonstruiert. 210 Vgl. Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/Moshe Zimmermann: Das Amt und die Ver gangenheit, a. a. O., S. 10, 383 f. Auf Seite 10 heißt es explizit, Nüßlein sei »für die Bestä- tigung zahlreicher Todesurteile gegen tschechische Bürger verantwortlich gewesen«. Warum er dann nicht 1948 hingerichtet worden ist, hat sich offenbar von den Verfassern dieser Formulierung in der Einleitung kein Einziger gefragt. Es ist immer wieder erstaunlich, wie schwer es nicht nur Historikern fällt, sich in die Zeiten der Diktatur – von Hitler und Stalin bis zu Ulbricht und Honecker hineinzuversetzen. In diesem Zusammenhang grund- legend Heinz Schneppen: »Der Fall des Generalkonsuls a. D. Franz Nüßlein«. In: Zeit- schrift für Geschichtswissenschaft (ZfG) 12/2012, S. 1024. 211 Die Informationen hier stützen sich auf den Lebensbericht Nüßleins in Prag 1947 sowie die diversen Zeugenaussagen in seinem Fall im umfangreichen internen Ermittlungsbericht des Auswärtigen Amts, der am 7.Dezember 1961 abgeschlossen wird, vgl. Auswärtiges Amt: Bericht über die Anschuldigungen gegen den Vortragenden Legationsrat I. Klasse, Dr. Franz Nüßlein, Abschnitt Zeugenaussagen, S. 17 f. 212 Zitiert nach Thomas Kirschner: »Gegen Kriegsverbrechen und Kollaboration – die Retri- butionsprozesse 1945–1947«, Sendemanuskript Radio Praha, 3.2.2007, S. 1. 213 A. a. O., ebd. 214 Vgl. in diesem Zusammenhang die Ausführungen von Jiří Plachý: »Instrumentalisierung von NS-Kriegsverbrechern durch die tschechoslowakische Staatssicherheit nach 1945«. In: Pavel Žaček/Bernd Faulenbach/Ulrich Mählert (Hg.): Die Tschechoslowakei 1945/48– 1989. Studien zu kommunistischer Repression, Leipzig 2008, S. 154 f. 215 Vgl. ebd., S. 174 ff. Bislang sind die europaweiten Hinrichtungszahlen von NS-Tätern noch nicht vollständig erfasst. Hinzuzurechnen wären auch die Suizide und die in den Spe- ziallagern und in den GULAG Umgekommenen, etwa in Workuta, wo der Großteil der zu »lebenslänglich« verurteilten NS-Täter, aber auch die 23 Wehrmachtgeneräle/SS-Offi- ziere, die von Oktober bis Dezember 1947 in der UdSSR vor Gericht gestellt worden waren, bald darauf schon gestorben sind. Allerdings sind diese vergleichsweise hohen Hinrich- tungszahlen in der Bevölkerung der heutigen Bundesrepublik ohnehin kaum bekannt. Die Mehrzahl der politisch Interessierten wird lediglich die 17 Todesurteile aus dem Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess im Hinterkopf haben und meinen, es habe keine wirklich Anmerkungen 505

Verfolgung der NS-Täter gegeben. Das ist falsch. Unmittelbar nach dem Krieg war der Verfolgungsdruck in ganz Europa hoch. Eine so hohe Zahl von Todesurteilen gegen Ver- treter eines besiegten Staates hat es in der modernen Geschichte nirgendwo sonst gegeben – sie erklärt sich aus den massenmörderischen Staatsverbrechen des deutschen Regimes, die nach der Niederlage 1945 aller Welt vor Augen geführt worden waren. Nicht von un- gefähr werden im ersten der von den Alliierten durchgeführten NS-Prozesse, dem »Ber- gen-Belsen-Prozess«, im September 1945(!) durch ein britisches Gericht in der Turnhalle von Lüneburg gegen die KZ-Wachmannschaften elf Todesurteile verhängt und vollstreckt. Drei SS-Männer waren zuvor auf der Flucht erschossen, 17 Inhaftierte durch Typhus um- gekommen, ein Wachmann hatte sich in der Haft das Leben genommen. Beim kurz darauf, im Dezember 1945 von den Amerikanern abgehaltenen Dachauer Prozess war Otto Moll, der Leiter des Nebenlagers in Auschwitz (zugleich auch zuständig für das jüdische Sonder- kommando, welches die Gaskammern reinigen und die Leichen verbrennen musste), zu- sammen mit 27 weiteren NS-Tätern zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. Heinz Schneppen: »Der Fall des Generalkonsuls a. D. Franz Nüßlein«. In: Zeitschrift für Ge- schichtswissenschaft (ZfG) 12/2012, nennt bezüglich der Todesurteile in der Tschechoslo- wakei nach 1945 etwas niedrigere Zahlen. Er spricht auf S. 1019 von 456 Todesurteilen, die an Deutschen in Prag vollstreckt worden sind. 216 Auswärtiges Amt: 54513, PA Nüßlein, Anlage zum Lebenslauf, Vermerk vom 31.3.1937. 217 Auswärtiges Amt: 54513, PA Nüßlein, Lebenslauf Prag 1947, S. 1 f. 218 Auswärtiges Amt: 54513, PA Nüßlein, Urteil vom 5.5.1948, S. 1 f. 219 Edvard Beneš: Odsun Němců z Československa, Prag 1986, S. 19. 220 Robert Gerwarth: Reinhard Heydrich, a. a. O., S. 170. 221 Vgl. ausführlich René Küpper: Karl Hermann Frank (1898–1946). Politische Biographie eines sudetendeutschen Nationalsozialisten, München 2010, S. 261 ff. 222 Vgl. Robert Gerwarth: Reinhard Heydrich, a. a. O., S. 269 ff. 223 Elke Fröhlich (Hg.): Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil II Diktate 1941–1945, Bd. 2: Okt.–Dez. 1941, München 1996, S. 31. 224 A. a. O., S. 278 ff. 225 A. a. O., S. 282. 226 Auswärtiges Amt: 54513, PA Nüßlein, vgl. in diesem Zusammenhang auch Heinz Schnep- pen: »Der Fall des Generalkonsuls a. D. Franz Nüßlein«. In: Zeitschrift für Geschichtswis- senschaft (ZfG) 12/2012, S. 1014. 227 Elke Fröhlich (Hg.): Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil II Diktate 1941–1945, Bd. 4: April–Juni 1942, a. a. O., S. 482 ff. 228 A. a. O., S. 561. 229 Auswärtiges Amt: 54513, PA Nüßlein, Lebenslauf vom 14.7.1947, S. 4. 230 Heinz Schneppen am 14.3.2013 in einer Mitteilung an den Verfasser. 231 Robert Gerwarth: Reinhard Heydrich. Biographie, München 2011, S. 344. 232 A. a. O., S. 343. 233 Vgl. Jiří Plachý: »Instrumentalisierung von NS-Kriegsverbrechern durch die tschechoslo- wakische Staatssicherheit nach 1945«. In: Pavel Žaček/Bernd Faulenbach/Ulrich Mählert (Hg.): Die Tschechoslowakei 1945/48–1989. Studien zu kommunistischer Repression, Leipzig 2008, S. 154 ff. 234 Vgl. Jiří Basta: »Deutsche Kriegsverbrecher als Auslandsspione für den tschechischen Ge- heimdienst«. In: Pavel Žaček/Bernd Faulenbach/Ulrich Mählert (Hg.): Die Tschechoslo- wakei 1945/48–1989. Studien zu kommunistischer Repression, Leipzig 2008, 171 ff. 506 Anmerkungen

235 Elke Fröhlich (Hg.): Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil II Diktate 1941–1945, Bd. 4: April–Juni 1942, a. a. O., S. 523. 236 Robert Gerwarth: Reinhard Heydrich. Biographie, München 2011, S. 341 f. 237 A. a. O., S. 347. 238 Vgl. René Küpper: Karl Hermann Frank (1898–1946). Politische Biographie eines sude- tendeutschen Nationalsozialisten, München 2010, S. 313 ff. – Küpper zitiert auf S. 314 Goebbels, der seinem Stenographen am 23.9.1943 diktiert: »K. H. Frank soll jetzt praktisch das Protektorat regieren. Er ist auch der geeignete Mann dafür. Jedenfalls bringt er in kri- tischen Augenblicken die Härte auf, die dazu nötig ist. Die Männer aus dem österrei- chischen Raum eignen sich überhaupt gut zur Verwaltung besetzter Gebiete und unterworfener Völkerschaften mit. Das Verwalten und Führen liegt ihnen sozusagen im Blut.« Parteistellen um Bormann verfolgen Franks Wirken mit dem im NS üblichen kon- kurrierenden Misstrauen, unterstellen ihm eine Art »sudetendeutschen Separatismus« (S. 315). Es ist zugleich das Misstrauen gegenüber Himmlers zweitem Mann in führender Po- sition im Prager Protektorat. Ganz kurz vor Ende des Krieges wird er tatsächlich noch ent- machtet und auf den dann gleichfalls leeren Titel eines »Staatsministers ohne Entscheidungsgewalt« zurückverwiesen werden. Ab Mitte April 1945 überträgt Hitler Ge- neralfeldmarschall Ferdinand Schörner und SS-Obergruppenführer Richard Hildebrandt die Macht im Protektorat (S. 377 ff.). Frank wird nach dem Krieg in Prag zum Tode ver- urteilt und am 22.Mai 1946 öffentlich hingerichtet. 239 Auswärtiges Amt: 54513, PA Nüßlein, Tätigkeitsbericht vom 14.4.1947, S. 7. 240 A. a. O., S. 8. 241 A. a. O., S. 9. 242 Vgl. Heinz Schneppen: »Der Fall des Generalkonsuls a. D. Franz Nüßlein«. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG) 12/2012, S. 1029 ff. 243 A. a. O., S. 1033. Stephan Heidenhain hat in der Prager Zeitung vom 26.1.2011, S. 15, unter der Überschrift »Ein Jurist im Protektorat« von dieser Begegnung berichtet. 244 Auswärtiges Amt: 54513, PA Nüßlein, Tätigkeitsbericht vom 14.4.1947, S. 10–12. 245 Auswärtiges Amt: Bericht über die Anschuldigungen gegen den Vortragenden Legationsrat I. Klasse, Dr. Franz Nüßlein, Abschnitt Zeugenaussagen, S. 21 f. – in diesem Zusammen- hang weiterhin wichtig Heinz Schneppen: »Der Fall des Generalkonsuls a. D. Franz Nüß- lein«. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG) 12/2012, S. 1015 f. 246 Auswärtiges Amt: Bericht über die Anschuldigungen …, a. a. O., S. 22 f. 247 Heinz Schneppen: »Der Fall des Generalkonsuls a. D. Franz Nüßlein«. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG) 12/2012, S. 1015 f. 248 Auswärtiges Amt: 54513, PA Nüßlein, Urteil vom 5.5.1948, Außerordentlicher Volksge- richtshof, S. 1. 249 A. a. O., S. 2 ff. 250 Auswärtiges Amt: PA AA, Handakten D 1, Bd. 14. 251 Heinz Schneppen: »Der Fall des Generalkonsuls a. D. Franz Nüßlein«. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG) 12/2012, S. 1020. 252 Auswärtiges Amt: PA AA, Handakten D 1, Bd. 14. 253 Zitiert bei Heinz Schneppen: »Der Fall des Generalkonsuls a. D. Franz Nüßlein«. In: Zeit- schrift für Geschichtswissenschaft (ZfG) 12/2012, S. 1024. 254 A. a. O., S. 4 f. 255 Diese Darstellung stützt sich, was die Sachinformationen anbelangt, auf Hintergrundge- spräche mit Mitarbeitern des Hauses. Anmerkungen 507

256 Die Angaben sind entnommen Auswärtiges Amt: 54513, PA Nüßlein, Lebenslauf vom 23.8.1955, S. 4. 257 Heinz Schneppen: »Der Fall des Generalkonsuls a. D. Franz Nüßlein«. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG) 12/2012, S. 1035 äußert gleichfalls diese Vermutung, hält sie aber – anders als der Verfasser – nicht wirklich für zentral und stichhaltig. 258 Auswärtiges Amt: PA AA, Handakten der Leiter der Zentralabteilung, Aufz. d. Abt. Z vom 18.3.1965 für Min./Staatssekretär. 259 Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergan- genheit, a. a. O., S. 582 f. 260 A. a. O., S. 584 f. 261 Eckart Conze/Norbert Frei/Moshe Zimmermann/Peter Hayes: »Der Panzerschrank der Schande«. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 6.5.2012. 262 Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergan- genheit, a. a. O., S. 586 und 587. 263 Auswärtiges Amt: PA AA, 54512. 264 Auswärtiges Amt: PA AA, 54512. 265 Auswärtiges Amt: PA AA, Handakten D1, Bd. 14. 266 Auswärtiges Amt: PA AA, Sonderakte D 1, Bd. 14. 267 Auswärtiges Amt: PA AA, Sonderakte D 1, Bd. 14. 268 Vgl. Heinz Schneppen: »Der Fall des Generalkonsuls a. D. Franz Nüßlein«. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG) 12/2012, S. 1021. 269 Auswärtiges Amt: PA AA, Handakten D1, Bd. 14. 270 Bulletin des Presse- und Informationsamtes Nr. 50 vom 20.3.1965, S. 402 271 Heinz Schneppen: »Der Fall des Generalkonsuls a. D. Franz Nüßlein«. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG) 12/2012, S. 1027 f. hat die komplizierten Ablauf innerhalb der deutschen Verwaltungsbehörden im Protektorat an diesem einen Fall minutiös rekon- struiert. 272 A. a. O., S. 1028. 273 Zitiert bei bei Heinz Schneppen, a. a. O., S. 1033. Die verblüffenden Rechercheergebnisse von Heidenhain im »Fall Nüßlein« sind in Prag in den dortigen Zeitungen referiert worden, haben es aber bis nach Deutschland nicht geschafft. Man kann sie leicht im Internet fin- den. 274 Joschka Fischer: I am not convinced, a. a. O., S. 323.

Fallstudie: Funktionseliten und Rademachers Reise nach Belgrad 1941

275 Die Grußbotschaft an Pol Pot lautete damals: »Durch seinen langanhaltenden Befreiungs- kampf gegen den US-Imperialismus, der durch den Sieg vom 17. April gekrönt wurde, durch die Erfolge beim Wiederaufbau des Landes und beim Aufbau des Sozialismus in Kampuchea hat das kampucheanische Volk bereits große Beiträge zur Sache der interna- tionalen Arbeiterklasse und der Völker der Welt geleistet. Durch seinen jetzigen Wider- standskrieg leistet das Volk von Kampuchea erneut einen entscheidenden Beitrag für die Sache der internationalen Arbeiterklasse und der Völker der Welt. Durch diesen Kampf verteidigt es seine nationale Existenz, sein Land und seine Unabhängigkeit. Dieser Kampf durchkreuzt das weitere Vordringen der Sowjetunion in Südostasien und verteidigt damit auch die Unabhängigkeit der Völker Südostasiens und der Welt«. Joscha Schmierer in: Kommunistische Volkszeitung Nr. 17 vom 21. April 1980, S. 3. 508 Anmerkungen

276 Joscha Schmierer: »Unbeschreibliche Brutalität, verblüffende Inkompetenz«. In: F.A.Z. vom 1.7.2013, S. 28. 277 Darauf hat schon Johannes Hürter hingewiesen in seinem fundiert-kritischen Aufsatz über »Das Auswärtige Amt, die NS-Diktatur und der Holocaust« in: Vierteljahrshefte für Zeit- geschichte (VfZ) 2/2011, S. 188 ff. 278 Im Kommissionsbericht selbst wird der Vorwurf lediglich implizit transportiert. Allerdings hat Co-Herausgeber Eckart Conze im SPIEGEL-Interview »Verbrecherische Organisation« (25.10.2010) gesagt: »Das Ministerium hat an den nationalsozialistischen Gewaltverbre- chen bis hin zur Ermordung der Juden als Institution mitgewirkt. Insofern kann man sagen: Das Auswärtige Amt war eine verbrecherische Organisation.« Seither wird diese Äußerung als im medialen Diskurs als entscheidendes »Label« verwendet. 279 Albert Norden, Politbüromitglied und von 1958 bis 1981 im ZK der SED für Agitation und Propaganda zuständig, notierte sich jedenfalls im Oktober 1960 nach der Entführung Adolf Eichmanns nach Israel vor dem Beginn des weltweit mit großer Aufmerksamkeit verfolgten Prozesses nach einem Gespräch mit SED-Generalsekretär Walter Ulbricht: »Wir bemühen uns, den Fall Eichmann maximal gegen das Bonner Regime zuzuspitzen.« Wie das geschehen sollte, darüber gibt eine Notiz Nordens wenige Wochen später Aufschluss: »Sprach mit Genossen Gotsche (einem der engsten Vertrauten Ulbrichts, D. K.) bereits darüber, dass in Zusammenarbeit mit Mielke bestimmte Materialien besorgt, bzw. herge- stellt werden sollten. Wir brauchen unbedingt ein Dokument, das in irgend einer Form die direkte Zusammenarbeit Eichmanns mit Globke beweist …«; vgl. hierzu ausführlich Michael Lemke, SED-Kampagnen gegen Bonn 1960–1963 in VfZ 2, 1993, S. 163 ff. 280 Vgl. etwa »Stuttgart folgt Wiesbadens Beispiel: Aufarbeitung der NS-Geschichte. FDP: Keine Hexenjagd« in: F.A.Z. vom 23.2.2013, S. 4: Besonders engagiert treten Vertreter der Grünen für diese »Aufarbeitung« ein. Joschka Fischers Vorbild macht fleißig Schule, überall sehen wir plötzlich »Unabhängige Historikerkommissionen« am Werk. Gegen eine solide historische Aufarbeitung ist selbstverständlich nichts einzuwenden. Aber wenn die Projekte primär geschichtspolitisch angelegt sind und ein undifferenziertes Bild ohne Berücksichti- gung der Zeitumstände in einer totalitären Diktatur zeichnen, werden sie fragwürdig. 281 Ian Kershaw: Hitler. 1889–1936 Hubris, Stuttgart 1998, S. 665. 282 Grundlegend zum Verhalten der Funktionseliten bis heute Hans Mommsen: Beamtentum im Dritten Reich. Mit ausgewählten Quellen zur nationalsozialistischen Beamtenpolitik, Stuttgart 1966 sowie Dieter Rebentisch: Führerstaat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg. Verfassungsentwicklung und Verwaltungspolitik 1939–1945, Stuttgart 1989 und Michael Wildt: Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002. 283 Vgl. hierzu ausführlich den anregenden Beitrag von Christiane Kuller: »Kämpferische Ver- waltung. Bürokratie im NS-Staat«. In: Dietmar Süß/Winfried Süß (Hg.): Das Dritte Reich. Eine Einführung, München 2008, S. 227 ff., für diese Passage S. 234 ff. 284 Leonidas E. Hill (Hg.): Die Weizsäcker-Papiere 1900–1932, Berlin 1982, S. 436. 285 A. a. O., S. 438. 286 Christiane Kuller: »Kämpferische Verwaltung. Bürokratie im NS-Staat«. In: Dietmar Süß/Winfried Süß (Hg.): Das Dritte Reich, a. a. O., S. 235. 287 Zitiert bei Hans Mommsen: Beamtentum im Dritten Reich. Mit ausgewählten Quellen zur nationalsozialistischen Beamtenpolitik, Stuttgart 1966, S. 166. 288 Elke Fröhlich (Hg.): Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil I Aufzeichnungen 1923– 1941, Bd. 4: März-November 1937, München 2000, S. 99. Anmerkungen 509

289 A. a. O., S. 151. 290 A. a. O., S. 166. 291 A. a. O., S. 208. 292 Hans-Ulrich Wehler: Der Nationalsozialismus: Bewegung, Führerschaft, Verbrechen; Mün- chen 2009, S. 73. 293 Vgl. Ernst Fraenkel: Der Doppelstaat. Recht und Justiz im Dritten Reich, Frankfurt am Main 1984, bes. S. 25–59. 294 Zitiert nach Wolfgang Michalka (Hg.): Das Dritte Reich. Dokumente zur Innen- und Au- ßenpolitk, Bd. 1: »Volksgemeinschaft« und Großmachtpolitik 1933–1939, München 1985, S. 56 f. 295 Cornelia Esser: Die Nürnberger Gesetze oder Die Verwaltung des Rassenwahns 1933– 1945, Paderborn 2002, S. 21 ff. vermisst den »Irrgarten« von Rassenlogik und Rassenwahn. 296 Christiane Kuller: »Kämpferische Verwaltung. Bürokratie im NS-Staat«. In: Dietmar Süß/ Winfried Süß (Hg.): Das Dritte Reich, a. a. O., S. 236 f. vgl. dazu auch noch ausführlicher dies.: Bürokratie und Verbrechen. Antisemitische Finanzpolitik und Verwaltungspraxis in nationalsozialistischen Deutschland, München 2013. 297 Ein Fundstück aus dem riesigen Bildarchiv des Hauses Ullstein, das noch eine Fülle unge- hobener »Schätze« beherbergt. erstmals abgedruckt bei Daniel Koerfer: Hertha unter dem Hakenkreuz, Göttingen 2009, S. 27. Neuabdruck mit freundlicher Genehmigung des Ull- stein-Verlages. 298 Die Liebe zum Staat hat vor allem auf Seiten der Linken Tradition, wie Jan Fleischhauer in DER SPIEGEL Anfang Mai 2013 ganz richtig feststellt: »Keine Generation hat sich so bedingungslos in die Arme des Staates geworfen wie ausgerechnet die Achtundsechziger, die Gründungsgeneration der Grünen. Tatsächlich hat sich der Öffentliche Dienst in Deutschland nie wiederso rasant entwickelt wie zwischen 1969 und 1978: Innerhalb eines Jahrzehnts kletterte die Zahl der staatlichen Angestellten von 944.000 auf 1.323.000, ein Anstieg von mehr als 40 Prozent.« 299 Zur NS-Zeit vgl. Christiane Kuller: »Kämpferische Verwaltung. Bürokratie im NS-Staat«. In: Dietmar Süß/Winfried Süß (Hg.): Das Dritte Reich, a. a. O., S. 236. Zur Entwicklung der Bundesrepublik besonders in den Jahren 1970–1974 siehe Gérard Bökenkamp: Das Ende des Wirtschaftswunders. Geschichte der Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitik in der Bundesrepublik 1969–1998, Frankfurt am Main 1983, S. 10 ff. und S. 53. 300 Der Zerfall der Zustimmung zum Regime wird breit untersucht Ian Kershaw: Das Ende. Kampf bis in den Untergang. NS-Deutschland 1944/45, München 2011, passim. 301 Alfons Kenkmann: »Zwischen Nonkonformität und Widerstand. Abweichendes Verhalten unter nationalsozialistischer Herrschaft«. In: Dietmar Süß/Winfried Süß (Hg.): Das Dritte Reich, a. a. O., S. 151. Zu den Zahlen der KZ-Inhaftierten vgl. Ulrich Herbert/Karin Orth/Christoph Dieckmann: Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur, Bd. 1, Frankfurt am Main 2002, S. 26 f. 302 Vgl. Peter Krüger, »Man lässt sein Land nicht im Stich, weil es eine schlechte Regierung hat. Die Diplomaten und die Eskalation der Gewalt«. In: Martin Broszat/Klaus Schwabe (Hg.), Die deutschen Eliten …, a. a. O., S. 216 ff. 303 Vgl. Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/Moshe Zimmermann: Das Amt und die Ver- gangenheit, a. a. O., S. 128, wo es wörtlich heißt: »Da Ribbentrop den Personalbestand des Auswärtigen Amtes von 2.665 Mitarbeitern (1938) auf 6.458 Stellen (1943) aufstockte, stellten die ins Amt übernommenen Referenten seiner ehemaligen Dienststelle höchstens einen Anteil von etwa 5 Prozent am Gesamtpersonal des höheren Dienstes.« Die Personal- 510 Anmerkungen

aufblähung wird damit – und das ist keineswegs falsch – als Maßnahme von Ribbentrop gedeutet, um leichter/weniger auffällig seine Mitarbeiter aus der »Dienststelle Ribbentrop« ins Amt zu befördern, in den Staatsdienst also, sie mithin auch beamtenrechtlich abzusi- cherun und in Lohn und Brot zu bringen. Allerdings widerspricht diese Darstellung der Kernthese des Bandes, dass das Amt auch ohne die nationalsozialistischen Seiteneinsteiger eine »Verbrecherhöhle« voll mit Hitlers willigen Vollstreckern gewesen sei, denn implizit wird hier eingestanden, dass der Schub der »Ribbentrop-Leute« den Charakter des AA zu verändern begonnen hat. 304 Auswärtiges Amt: R 54409. Diese Tabelle hat – da sie nicht unmittelbar mit dem Holocaust und der »Verbrecherhöhle« zu tun hat – offenbar niemand aus dem großen Team der Un- abhängigen Historikerkommission angeschaut. 305 Zahlen nach Johannes Hürter: »Das Auswärtige Amt, die NS-Diktatur und der Holocaust« in Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ) (2011), S. 172. 306 Vgl. Michael Mayer: »Das Auswärtige Amt im Dritten Reich – eine Binnendifferenzie- rung«. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 4/2011, S. 511 ff. 307 Der Aufbau des AA ist noch wesentlich detaillierter abgebildet bei Christopher Browning: Die »Endlösung« und das Auswärtige Amt. Das Referat D III der Abteilung Deutschland 1940–1943, Darmstadt 2010, S. 262 ff. 308 Marie-Louise, genannt »Puppi« Sarre, 1904–1999, im Krieg Sekretärin im Stab der Hee- resgruppe Mitte, Mitglied des Solf-Kreises mit guten Kontakten zu Ulrich von Hassell sowie Hans Bernd Gisevius und Eduard »Edi« Waetjen (den ihre Schwester heiratete) und anderen Mitgliedern des Widerstands wie Johannes Popitz und Carl Langbehn, geriet 1943 in Schutzhaft und anschließend ins KZ Ravensbrück. Zellennachbarn waren dort unter anderem Helmuth James Graf von Moltke und Albrecht Graf von Bernstorff. Sie berichtete dem Verfasser auf einem Familientreffen 1989 von der entsprechenden Aussage von Rib- bentrops Fahrer, einem Freund aus jenen Tagen in Ostpreußen. 309 Sonderarchiv Moskau: Aktenvermerk Bormann, Führerhauptquartier, vom 16.7.1941, S. 5. 310 A. a. O., Protokoll vom 16.7.1941, S. 1. 311 Hans-Ulrich Wehler: Der Nationalsozialismus: Bewegung – Führerschaft – Verbrechen, München 2009, S. 135. 312 Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergan- genheit, a. a. O., S. 15. 313 Etwa in der F.A.Z. vom 18.3.1952. Vgl. dazu ausführlich Rainer Blasius: »Seit 1952 be- kannt. Unfassbare Realität: die wiederentdeckte Reisekostenabrechnung zur ›Liquidation von Juden‹« in der F.A.Z. vom 12.11.2010 und »Schnellbrief und Braunbuch. Die ›Un- abhängige Historikerkommission‹ des Auswärtigen Amts verletzt wissenschaftliche Stan- dards und pflegt Vorurteile«in der F.A.Z. vom 13.1.2011. 314 Hierzu ausführlich Michael Mayer: »Akteure, Verbrechen und Kontinuitäten. Das Aus- wärtige Amt im Dritten Reich – eine Binnendifferenzierung«. In: Vierteljahrshefte für Zeit- geschichte (VfZ) 4/2011, S. 512 ff. 315 A. a. O., S. 531. 316 Rademacher wurde 1943 im Zuge der gescheiterten Lutherschen Intrige als dessen engster Vertrauter degradiert, tauchte nach dem Kriegsende unter, wurde aber 1947 von den Ame- rikanern verhaftet, ohne im Wilhelmstraßenprozess – wie ursprünglich geplant – angeklagt zu werden, vermutlich, weil man in ihm noch keinen wirklichen NS-Täter erblickte. Nach zwischenzeitlicher Freilassung wieder verhaftet, wurde er am 17.3.1952 wegen Beihilfe zum Anmerkungen 511

Totschlag an 1300 Juden vom Landgericht Nürnberg-Fürth zu 3 Jahren und 5 Monaten Haft verurteilt. Aus dieser Haft wurde er im Juli – unter Anrechnung seiner 29 Monate Untersuchungshaft – vorläufig entlassen. Der vollen Strafverbüßung entzog er sich durch Flucht nach Syrien, wo er 1963 als angeblicher NATO-Spion, bzw. als BND-Agent inhaf- tiert wurde. Völlig mittellos kehrte er 1966 in die Bundesrepublik zurück, wo er abermals vor Gericht gestellt und zu fünfeinhalb Jahren verurteilt wurde. Der Haftantritt wurde ihm erlassen, weil man die bereits verbüßten Gefängnisjahre anrechnete. Im Januar 1971 hob der Bundesgerichtshof in Karlsruhe dieses Urteil auf und ordnete ein neuerliches Verfahren an. Darüber starb Rademacher 1973. Vgl. Robert Wistrich: Wer war wer im Dritten Reich?, Frankfurt am Main 1987, S. 272 f. 317 Goebbels diktiert seinen Stenographen am 30.3,1943 über Luthers Putschversuch Folgen- des – und man merkt ihm die Häme an: »Ribbentrop hat … Aufschluss über den Fall Lu- ther gegeben. Luther hat sich demnach nicht gerade loyal seinem Herren und Meister ge- genüber benommen. Er hat eine Eingabe an den SD gemacht mit der Bitte, diese Eingabe über Himmler dem Führer vorzulegen. Diese Eingabe stellt eine ziemlich barsche und brüske Kritik an der gesamten deutschen Außenpolitik im allgemeinen und an Ribbentrop im besonderen dar. U. a. wird Ribbentrop in der Eingabe als Geisteskranker bezeichnet. Luther ist daraufhin auf Befehl des Führers verhaftet worden. Allerdings hat sich ein großer Teil der nationalsozialistischen Beamten des Außenministers mit ihm solidarisiert. Man kann sich vorstellen, wie außerordentlich peinlich dieser Fall für Ribbentrop und seine Amtsführung insgesamt ist. Ribbentrop ist demgemäß auch ziemlich geknickt. Er sieht seinen ganzen Mitarbeiterstab zusammenbrechen und muss sich jetzt wieder im wesentli- chen auf die alte Diplomatie stützen. Es ist sehr bedauerlich, dass mitten im Kriege so ein Vorgang verzeichnet werden muss. (…) Luther ist vorläufig in ein KZ übergeführt worden; Ribbentrop hat aufgrund der wiederholten Anschuldigungen Luthers, die er auch bei den Vernehmungen der Politischen Polizei wiederholt hat, abgelehnt, ihn für die Front freizu- geben … Immerhin kann man daraus erkennen, dass im Bereich der Außenpolitik durchaus die autoritäre, zielstrebige Führung fehlt. Ribbentrop ist zu lange von seinem Amt entfernt. Was hat er im Führerhauptquartier zu suchen! Er soll an Ort und Stelle seinen Dienstge- schäften obliegen. im Übrigen fehlt es ihm auch an einer klaren Konzeption …« Joseph Goebbes, Tagebücher. Bearb. v. Elke Fröhlich, Teil II, Bd. 7, Januar–März 1943, a. a. O., S. 668 f. 318 Christopher Browning: Die »Endlösung« und das Auswärtige Amt. Das Referat III der Ab- teilung Deutschland 1940–1943, a. a. O., S. 80. 319 Geiselerschießungen im Partisanenkampf – also gegen einen Gegner, der als militärischer Kombattant ohne Uniform etc. nicht zu erkennen ist und »verdeckt« kämpft – galten nach damaligem Kriegsrecht nicht als gänzlich unzulässig. Tatsächlich haben nach der Haager Landkriegsordnung (HLKO) von 1907 Partisanen keinen Kombattantenstatus und bei ihrer Bekämpfung, heißt es dort recht unpräzise, seien in besonderen Fällen Repressalien gegen die Zivilbevölkerung gerechtfertigt. Der Begriff »Geisel« selbst taucht in ihr nicht auf. Für die rechtliche Bewertung grundlegend sind die Ausführungen der Richter im VII. Nürnberger Nachfolgeprozess gegen 25 »Generäle in Südosteuropa«, dem sog. »Geisel- mord-Prozess« von 1948. Die Richter verurteilten Geiselerschießungen zwar als »Gräuel«, akzeptierten jedoch das Recht zur Geiselnahme und Geiseltötung unter genau fixierten Voraussetzungen (etwa dem Verbot, Geiseln aus Rache oder militärischer Zweckmäßigkeit zu töten, bzw. als letztes militärisches Mittel, wenn zuvor alle anderen Möglichkeiten zur Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung erschöpft waren). Obwohl die allermeisten der 512 Anmerkungen

vom Gericht formulierten Bedingungen in den deutschen Fällen in Jugoslawien/Serbien, Alabanien, Griechenland nicht gegeben waren, fielen die Urteile 1948 milde aus. 1953 wurde der letzte dieser Verurteilten aus der Haft entlassen. Vgl. Gerd R. Ueberschär (Hg.): Der Nationalsozialismus vor Gericht. Die alliierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943–1952, Frankfurt am Main 1999, S. 147 ff. 320 Christopher Browning: Die »Endlösung« und das Auswärtige Amt. Das Referat III der Ab- teilung Deutschland 1940–1943, a. a. O., S. 79. 321 A. a. O., S. 82 sowie Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundes- republik, München 2010, S. 253. 322 A. a. O., S. 89. 323 A. a. O., S. 81. 324 A. a. O., ebd. 325 A. a. O., S. 89. 326 A. a. O., S. 86. 327 Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergan- genheit, a. a. O., S. 252. Turner wird uns hier zugleich auch als »SS-Obersturmführer« (i. e. Oberleutnant) präsentiert, was zeigt, dass Vertrautheit mit SS-Rängen weder beim Lektorat noch beim zuständigen Autor und seinem Bearbeiter vorausgesetzt werden kann, denn dieser Rang wäre geradezu grotesk niedrig für den Chef einer deutschen Militärver- waltung gewesen. Tatsächlich besaß Turner den SS-Rang eines »Gruppenführers« (i. e. Ge- neralleutnant). Dieser Rang war angemessen. 328 A. a. O., ebd. 329 Christopher Browning: Die »Endlösung« und das Auswärtige Amt. Das Referat III der Ab- teilung Deutschland 1940–1943, Darmstadt 2010, S. 15 und S. 89. 330 Die Darstellung im Kommissionsbericht, S. 252–254 verkürzt, ja entstellt die Zusammen- hänge. Sie muss jeden auch nur halbwegs mit der Materie vertrauten Leser zutiefst verwirrt zurücklassen. Von Weizsäckers Rüge für Benzler – und Luther – findet sich keine Spur. Er- gänzend sei auf Hermann Neubacher verwiesen, den Adolf Hitler im August 1943 zum Sonderbevollmächtigten des AA für den Südosten ernannte und insbesondere mit der Par- tisanenbekämpfung im Balkanraum betraute. Er war zu Verhandlungen mit den Partisanen befugt. Obwohl er im Dezember 1943 den Militärbefehlshabern vor Ort die Entscheidung über Geiselerschießungen übertrug, wirkte er insgesamt mäßigend auf die in der Partisa- nenbekämpfung eingesetzten Einheiten und verhinderte im September 1943 sogar eine Geiselerschießung. Deshalb wurde er 1951 in Belgrad auch nicht zum Tode verurteilt, son- dern zu zwanzig Jahren Haft – und wegen einer schweren Erkrankung bereits anderthalb Jahre später nach Österreich entlassen – siehe hierzu Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergangenheit, a. a. O., S. 258 ff. Neuba- chers Schicksal erinnert – was das Strafmaß und die Begnadigung anbelangt – an Franz Nüßlein. 331 Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergan- genheit, a. a. O., ebd. 332 A. a. O., S. 185. 333 Stefan Scheil: Ribbentrop. Oder: Die Verlockung des nationalen Aufbruchs – eine politische Biographie, Berlin 2013, S. 321 f. 334 Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergan- genheit, a. a. O., S. 186, wo zu lesen steht: »Die Praxis des systematischen Judenmordens Anmerkungen 513

war für das Auswärtige Amt von Beginn an kein Geheimnis«. Für das ganze Auswärtige Amt? Tatsächlich für alle rund 5.000 Staatsdiener? Von Beginn an? Sicherlich nicht, denn sonst wären die Einsatzgruppenberichte von Anfang an vom RSHA weitergeleitet worden, mindestens in die Abteilung D in der Rauchstraße im Tiergarten. 335 Andreas Hillgruber: Hitlers Strategie. Politik und Kriegführung 1940–1941, Frankfurt am Main 1965, S. 694. 336 Martin Vogt (Hg.): Herbst 1941 im »Führerhauptquartier«. Berichte Werner Koeppens an seinen Minister Alfred Rosenberg, Koblenz 2002, S. 20 f. 337 Vgl. auch dazu ausführlich Stefan Scheil: Ribbentrop, a. a. O., S. 319 f. 338 Christopher Browning: Die »Endlösung« und das Auswärtige Amt. Das Referat III der Ab- teilung Deutschland 1940–1943, a. a. O., S. 98 ff. 339 Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergan- genheit, a. a. O., S. 185 f. 340 A. a. O., S. 102. 341 A. a. O., S. 221. 342 Vgl. dazu etwa Martin Moll: »Führer-Erlasse« 1939–1945, Stuttgart 1997, passim. 343 Peter Krüger, »Man lässt sein Land nicht im Stich, weil es eine schlechte Regierung hat. Die Diplomaten und die Eskalation der Gewalt«. In: Martin Broszat/Klaus Schwabe (Hg.), Die deutschen Eliten …, a. a. O., S. 222 ff. 344 Hans Rothfels: Die deutsche Opposition gegen Hitler. Eine Würdigung, Krefeld 1949, S. 53. 345 Unter dem Datum des 16.8.1944 diktierte Goebbels über den Prozess gegen Haeften und Trott zu Solz (sowie Wolf-Heinrich von Helldorf, Bernhard und Hans Georg Klamroth und Egbert Hayessen): »Zur selben Zeit tagt der Prozess gegen zwei Legationssekretäre, bzw. -räte des Auswärtigen Amtes und gegen Helldorf … Helldorf sticht auf das Beste von den Legationssekretären und Legationsräten des AA ab, die den deprimierendsten Eindruck machen. Es handelt sich um ausgesprochene Defaitisten und Internationalisten, die in Eng- land erzogen worden sind und aus der Feindschaft gegen den Führer überhaupt kein Hehl machen. Einer von ihnen betont sogar in seinem Schlusswort, dass der Führer die Inkar- nation des bösen Weltprinzips sei. Dafür wird ihm denn auch zwei Stunden später der Strick um den Hals gelegt …«, zitiert nach Elke Fröhlich (Hg.): Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil II Diktate 1941–1945, Bd. 13: Juli–September 1944, München 2002, S. 245. 346 Lothar Gall: »Elitenkontinuität in Wirtschaft und Wissenschaft: Hindernis oder Bedingung für den Neuanfang nach 1945? Hermann Josef Abs und Theodor Schieder«. In: Historische Zeitschrift (HZ) 279/2004, S. 659–676. 347 Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergan- genheit, a. a. O., S. 586. 348 A. a. O., S. 672. 349 A. a. O., S. 632: »Durch das rasche Erstarken der 1964 gegründeten NPD in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre wurde die Vertrauens- und Glaubwürdigkeit der Deutschen in- ternational besonders in Frage gestellt«; auf S. 668 wird allen Ernstes abermals »von Zeichen des erstarkenden parlamentarischen Rechtsradikalismus« gesprochen – eine absurde Be- hauptung, denn selbst wenn die NPD in Baden-Württemberg 1968 bei den Landtagswah- len 9,8% der Wählerstimmen erhielt und bei der Bundestagswahl 1969 4,3%, konnte doch von einem erstarkenden Rechtsradikalismus überhaupt keine Rede sein – v. a. im Vergleich zu dem, was zeitgleich in anderen europäischen Ländern geschah – und von einer Beschä- 514 Anmerkungen

digung bundesdeutschen Ansehens im Ausland erst recht nicht. Zu den Hakenkreuz- Schmierereien vgl. S. 594 f. 350 Vgl.dazu bis heute differenziert und klug Jürgen Kocka: »1945 – Neubeginn oder Restau- ration?«. In: Carola Stern/Heinrich August Winkler (Hg.): Wendepunkte deutscher Ge- schichte 1848–1945, Frankfurt am Main 1979, S. 141–168, in unserem Zusammenhang besonders S. 155 ff.

Hexerjäger: Der Panzerschrank der Schande

351 F.A.Z.-Interview, 16.4.2013, S. 29. 352 Richard J. Evans: »The German Foreign Office and the Nazi Past«. In: Neue Politische Li- teratur Jg. 56 (2011), S. 182 ff. Der Text wurde vom Verf. ins Deutsche übersetzt. 353 Vgl. »Tief in die Nazi-Verbrechen verstrickt – Erste Ergebnisse der Historikerkommission zum Auswärtigen Amt. In: DER TAGESSPIEGEL vom 25.2.2008, S. 4. 354 Vgl. »Panzerschrank der Schande«, F.A.Z. vom 5.5.2012. Dort schreiben Conze, Frei, Hayes und Zimmermann: »Die Kommission hat ihre schwierigen Erfahrungen mit dem Politi- schen Archiv im Nachwort ihres Buches nur angedeutet. Aber sie hat auf die »Defizite der Erschließung der Bestände« und die im AA-Archiv herrschenden eingeschliffenen struk- turellen Sonderbedingungen« hingewiesen. Die Kritik blieb nicht ohne Wirkung. Zumin- dest für einen Moment entstand in der interessierten Öffentlichkeit eine Diskussion darüber, ob es nicht besser wäre, die Akten des Auswärtigen Amtes – so wie die aller an- deren Bundesministerien – in die Obhut des Bundesarchivs zu geben. Solchermaßen unter Druck, entschloss sich das Politische Archiv zum Handeln: Ein Magazinarbeiter wurde vorgeschickt, der bei der Präsentation des Buches im überfüllten Saal des Auswärtigen Amtes der Kommission das Recht zur Kritik am Politischen Archiv absprach. Die Herren Conze und Frei seien doch nur einen Tag im Archiv gewesen. Dieser Inszenierung vom Oktober 2010 folgte zwölf Monate später ein weiteres Rührstück (Hervorhebungen durch den Verf.). Aus Anlass des 2011 erstmals vergebenen »Innovationspreises« des Deutschen Beamtenbundes erfand man rasch noch einen »Spezialpreis Zivilcourage«. Der Preis ging an jenen »mutigen Magaziner«, der es gewagt hatte, gegen die beiden Großordinarien das Wort zu erheben. Wie gut, dass Zivilcourage im Deutschland der Gegenwart so einfach ist …« 355 Heinz Schneppen: »Vom Jagdtrieb historischer Ermittler. Der Bericht der ›Unabhängigen Historikerkommission‹ zur Vergangenheit des Auswärtigen Amtes«. In: Zeitschrift für Ge- schichtswissenschaft (ZfG) 7–8/2011, S. 593–620. 356 »Tief in die Nazi-Verbrechen verstrickt – Erste Ergebnisse der Historikerkommission zum Auswärtigen Amt.« In: DER TAGESSPIEGEL vom 25.2.2008, S. 4. 357 Auswärtiges Amt: PA, Vermerk 117–251.24 AA vom 26.2.2008. 358 In ihrem Beitrag »Das Archiv des Auswärtigen Amtes – Panzerschrank der Schande« in der F.A.Z. vom 5.5.2012 sprechen Conze, Frei, Hayes und Zimmermann von den »Hinweisen auf gezielte Desinformation des Politischen Archivs, die sie im Frühjahr 2008 erhalten hät- ten« – ohne allerdings zu verraten, von wem. 359 Eine sehr gute Zusammenfassung der breit gefächerten Kritik bietet Christian Mentel: Mit Zorn und Eifer: Die Debatte um »Das Amt und die Vergangenheit«, Teil 1 Pressedebatte und Teil 2 Die Fachdebatte, im Internet nachzulesen unter www.zeitgeschichte-online .de/md=Mentel-Debatte-Auswaertiges Amt. 360 Vgl. dazu Rainer Blasius: »Aktenvernichtung in der Amtszeit Fischers – Die Historiker- Anmerkungen 515

kommission setzt ihren Kreuzzug gegen das Archiv des Auswärtigen Amtes fort«. In: F.A.Z. vom 31.05.2012, S. 10. 361 Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/Moshe Zimmermann: »Panzerschrank der Schan- de«. In: F.A.Z. vom 5.5.2012. 362 A. a. O., ebd. 363 Heinz Schneppen: »Unhaltbare Vorwürfe der Historikerkommission«. In: F.A.Z. vom 12.06. 2012, S. 6. 364 Vgl. etwa Heinz Schneppen: »Vom Jagdtrieb historischer Ermittler – Der Bericht der ›Un- abhängigen Historikerkommission‹ zur Vergangenheit des Auswärtigen Amtes«. In: Zeit- schrift für Geschichtswissenschaft (ZfG) 7–8/2011, S. 593–620 sowie ders.: »Generalkonsul a. D. Dr. Otto Bräutigam: Widerstand und Verstrickung. Eine quellenkritische Untersu- chung«. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG) 12/2012, S. 1007–1037. 365 Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergan- genheit, a. a. O., S. 337 f. 366 Henning Köhler: Adenauer. Eine politische Biographie, Berlin 1994, zeichnet etwa ein vollständig anderes, wesentlich differenzierteres Bild von Blankenhorn, als dies der Kom- missionsbericht tut, vgl. dazu etwa S. 479 f oder 490 f. 367 Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergan- genheit, a. a. O., S. 443. 368 Vgl. hierzu die von Andrea Wiegeshoff abgewogen formulierten Passagen in Eckart Conze/ Norbert Frei/Peter Hayes/Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergangenheit, a. a. O., S. 527 ff. 369 In den Entnazifizierungsverfahren nach dem Krieg waren fünf Stufen gebräuchlich, um das Ausmaß der Verstrickung zu bewerten: 1. Hauptschuldige (Kriegsverbrecher), 2. Belaste - te (Aktivisten, Militaristen, Nutznießer), 3. Minderbelastete, 4. Mitläufer, 5. Entlastete. 370 Vgl. ausführlich zu diesem Themenkomplex Hans-Jürgen Döscher: Seilschaften. Die ver- drängte Vergangenheit des Auswärtigen Amtes, Berlin 2005, S. S. 161 ff., hier S. 238 f. 371 Konrad Adenauer: Teegespräche 1950–1954, bearbeitet von Hanns Jürgen Küsters, Berlin 1984, S. 245. Der Kreis der Journalisten, die zu diesen Hintergrundgesprächen hinzu ge- beten wurden, variierte. Natürlich war die Zusammensetzung der Gästeliste für den Kanzler ein bedeutendes Herrschaftsinstrument, wie schon bei der Einladung vom 20.August 1949 in sein Haus nach Rhöndorf, die am Anfang seiner Kanzlerschaft stand und die Granden der CDU – mit dem jungen Franz Josef Strauß von der CSU – auf die Kanzlerschaft eines bereits über 73 Jahre alten »Wundergreises« (Sebastian Haffner) ebenso festlegte wie auf die »bürgerliche Koalition« mit der FDP und DP. Einer der prononciertesten Anhänger einer Großen Koalition mit der SPD, die zu diesem Zeitpunkt auf Länderebene das gängige Regierungsmodell darstellte, war innerhalb der Union damals Karl Arnold, der Minister- präsident von Nordrhein-Westfalen, jenem von den Briten neu geschaffenen Bundesland, in welchem Konrad Adenauer wohnte und das er mit aufgebaut hatte. Arnold war von Adenauer ganz bewusst nicht an jenem entscheidenden Sonntag im Herbst 1949 eingeladen worden. Was die Teegespräche anlangt, so blieben sie auch deshalb geheimnisumwittert, weil nicht mitgeschrieben und nicht direkt aus ihnen zitiert werden durfte. Jeder, der nicht dabei war, fühlte sich ausgeschlossen. Wer eingeladen wurde als Journalist, fühlte sich ex- klusiv wahrgenommen und aufgewertet. 372 Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergan- genheit, a. a. O., S. 342 ff. und 353 f. 373 A. a. O., S. 490. 516 Anmerkungen

374 A. a. O., S. 672. 375 Vgl. Peter Merseburger: Theodor Heuss. Der Bürger als Präsident, München 2012, S. 562 ff. – hier bes. S. 564. 376 Vgl. Ulrich Brochhagen: Nach Nürnberg. Vergangenheitsbewältigung und Westintegration in der Ära Adenauer, Berlin 1999, S. 224. 377 A. a. O., S. 224 f. 378 A. a. O., ebd. 379 A. a. O., S. 223. 380 A. a. O., S. 223 ff.

Die Stimme der Toten

381 Lorenz Maroldt: »Nazis im Auswärtigen Amt – Die Sehnsucht nach einer untadeligen Elite«. In: DER TAGESPIEGEL vom 27.10.2010: »Als Jahrzehnte später der damalige Au- ßenminister Joschka Fischer anordnete, dass Nachrufe »im ehrenden Gedenken« an frühere Mitarbeiter des Amts nicht mehr im hausinternen Mitteilungsblatt erscheinen sollten, weil darin auch hochrangiger Nazis gedacht und eine Historikerkommission mit der Aufarbei- tung der Geschichte des Amtes beauftragt wurde, war die damalige Opposition empört. Werner Hoyer, Erfinder des elitären FDP-Slogans »Partei der Besserverdienenden«, heute Staatsminister bei Guido Westerwelle, warf Fischer vor, er habe das Amt »zutiefst in seiner Seele verletzt«. Friedbert Pflüger, einst enger Mitarbeiter Richard von Weizsäckers, erklärte, verdiente Diplomaten gerieten so unter Generalverdacht; es habe doch auch NSDAP-Mit- glieder gegeben, die im Widerstand waren und sich später als Demokraten bewiesen hätten. Sicher, die gab es – auch. Die Unionsparteien lehnten die Historikerkommission ab; Angela Merkel sagte, sie würde es sich im Einzelnen anschauen. Die große Sorge: Bloß keinem Herrenreiter Unrecht tun, bloß nicht die Illusion zerstören, dass es über den Barbaren eine Elite gab und gibt und geben muss; und dass man doch eigentlich dazugehört, bitteschön, irgendwie. Außenminister Willy Brandt hatte sich damals nicht an die alten Nazis in seinem Amt rangetraut und hatte auch andere Sorgen, worüber heute Steinmeier enttäuscht ist, dem aber auch nichts weiter auffiel. Scheel und Genscher waren selbst in der NSDAP. Wes- terwelle will den Bericht jetzt zu einer »festen Größe« in der Diplomatenausbildung ma- chen. Fischers Nachrufverbot wurde aber schon mal wieder aufgeweicht. Die Rolle als Symbol des tragischen Schicksals von Wohlgesinnten hat einstweilen Tom Cruise über- nommen, in Vertretung von Graf Stauffenberg. Auch mit guten Manieren kann man schlimme Dinge tun? Ach, wenn schon schlimme Dinge tun, dann wenigstens mit guten Manieren.« 382 Die Zentrale Rechtsschutzstelle (Abkürzung: ZRS) war eine deutsche Behörde, die von 1950 bis 1970 bestand. Offizielle Aufgabe der ZRS war die Organisation des Rechtsschutzes für Deutsche, die für Taten im Zweiten Weltkrieg im Ausland angeklagt oder verurteilt wurden. Ihr Leiter war Hans Gawlik. Die ZRS war ab Gründung Teil des Bundesjustizmi- nisteriums, dann von 1953 bis zur Auflösung Teil des Auswärtigen Amtes. Kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs gab es in den drei Besatzungszonen der Westalliierten verschiedene halbstaatliche Stellen, die sich um das Schicksal der deutschen Kriegsgefangenen im Aus- land kümmerten. Besonders die Interimsorganisationen des Deutschen Roten Kreuzes mit seinem DRK-Suchdienst, der Deutsche Caritasverband und das Evangelische Hilfswerk waren hier ab 1945 aktiv. Am 1. Dezember 1949 beschloss der knapp drei Monate vorher konstituierte Bundestag die Gründung einer Zentralen Rechtsschutzstelle, um »den staat- Anmerkungen 517

lichen Rechtsschutz auch für diejenigen Deutschen sicherzustellen, die in Auswirkung des Krieges im Ausland festgehalten« wurden. Die Bundestagsdebatte zur Gründung der Zen- tralen Rechtsschutzstelle wurde von dem CDU-Abgeordneten Eugen Gerstenmaier eröff- net, der als Leiter des Evangelischen Hilfswerks mit der Sachlage vertraut war. Zugleich stand Gerstenmaier, der im Bendlerblock den 20.7.1944 erlebt und überlebt hatte, wie die anderen beteiligten Bundestagsabgeordneten nicht in dem Verdacht, eine Schutzorganisa- tion für ehemalige Nationalsozialisten aufbauen zu wollen. 383 Vgl. Heinz Schneppen: »Generalkonsul a. D. Dr. Otto Bräutigam: Widerstand und Ver- strickung. Eine quellenkritische Untersuchung«. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG) 60/2012, Heft 4, S. 302. 384 Vgl. Heinz Schneppen, a. a. O., S. 303 sowie Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/ Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergangenheit, a. a. O., S. 201, 202 und 588. 385 Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergan- genheit, a. a. O., S. 352. 386 Zitiert bei Heinz Schneppen: »Generalkonsul a. D. Dr. Otto Bräutigam: Widerstand und Verstrickung. Eine quellenkritische Untersuchung«. In: Zeitschrift für Geschichtswissen- schaft (ZfG) 60/2012, Heft 4, S. 306. 387 A. a. O., S. 305. 388 A. a. O., S. 308. 389 Auswärtiges Amt: Politisches Archiv AA, 46239. 390 Auswärtiges Amt: Politisches Archiv AA, 46242. 391 Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergan- genheit, a. a. O., S. 352. 392 Nuernberg Military Tribunals: Trials of the War Criminals before the Nuernberg Military Tribunals, Bd. 13, Nürnberg 1946, Washington 1952, S. 162. 393 Heinz Schneppen: »Generalkonsul a. D. Dr. Otto Bräutigam: Widerstand und Verstri- ckung. Eine quellenkritische Untersuchung«. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG) 60/2012, Heft 4, S. 313 sowie Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/Moshe Zim- mermann: Das Amt und die Vergangenheit, a. a. O., S. 204 f., S. 351 f. und S. 590. 394 Auswärtiges Amt: Politisches Archiv AA, 46243. 395 Vgl. Rainer Blasius: »Joseph Fischer und die Nachrufaffäre Nüßlein. Der Generalkonsul und das Auswärtige Amt«. In: F.A.Z. vom 26.10.2010. 396 Die Äußerung ist in Königswinter auf der Tagung am 25.2.2012 bei der »Forschungsge- meinschaft 20. Juli« vor etwa 100 Teilnehmern gefallen.

Fazit

397 Christian Meier: Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom öf- fentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit, München 2010. 398 Auswärtiges Amt (Hg.): »125 Jahre Auswärtiges Amt. Ein Überblick«. In: 125 Jahre Aus- wärtiges Amt. Festschrift, Bonn 1995, S. 96. 399 Norbert Frei/Annette Weinke: »Warum es um die ›Mumien‹ einsam wird – Das Ende der Legende vom ›anständig‹ gebliebenen Auswärtigen Amt«. In: Bätter für deutsche und In- ternationale Politik 12/2010, S. 75. 400 Heinz Schneppen: »Vom Jagdtrieb historischer Ermittler«. In: Zeitschrift für Geschichts- wissenschaft (ZfG) 7/8 2011, S. 600 f. 401 Aus: Helmut Kohl (Hg.): Konrad Adenauer 1876–1976, Stuttgart 1976, S. 58 f. 518 Anmerkungen

402 Bernhard Schlink: »Die Kultur des Denunziatorischen«. In: MERKUR 745, Juni 2011, S. 473 ff. 403 Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergan- genheit, a. a. O., S. 46. 404 A. a. O., S. 168. 405 A. a. O., S. 263. 406 Auf der Tagung in der Akademie für Politische Bildung in Tutzing über »Das Auswärtige Amt in der NS-Diktatur« hat Michael Mayer am 23.6.2013 genau diese Zentralfragen an- gesprochen – und ähnlich beantwortet. 407 Vgl. Johannes Hürter: »Das Auswärtige Amt, die NS-Diktatur und der Holocaust« in Vier- teljahrshefte für Zeitgeschichte (VfZ) 2/2011, S. 167, 179. 519

Literaturverzeichnis

Quellen

Akten

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Personenregister

A Barg, Anatoli 131 Abetz, Otto 60, 98, 236, 396, 455 Bargen, Werner von 78, 442 Abs, Hermann Josef 416 Baring, Arnulf 20 Acheson, Dean 440 Barth, Karl 317 Adenauer, Konrad 23, 106, 109, 110, 110, Bartsch, Jürgen 165 112, 119 f., 207, 253, 274, 325, 366, Bauche, Helmut 127 430, 436, 437, 437–446, 474, 486 f. Bausch, Hans 374 Adorno, Theodor Wiesengrund 161 Beck, Hermann 60 Ahlers, Conrad 114, 203 Beck, Ludwig 274 Ahrens, Friedrich 269 Becker, Carl Heinrich 101, 316, 318 Ahrens, Ralf 212 Becker, Carl Heinrich Michael 316 Albertz, Heinrich 185 Becker, Hellmut 36, 100, 150, 207, 209, Albright, Madeleine 214 f. 276, 312, 316 f., 320, 321, 324 Alexandrow, Alexander M. 265 Beckerle, Adolf-Heinz 99 Aly, Götz 51 Begin, Menachem 115 Andersen, Hans Christian 201 Beisheim, Otto 81 Arendt, Hannah 73, 214 Beitz, Berthold 382 Arndt, Adolf 482 Bene, Otto 98, 456 Arnold, Karl 324 Beneš, Edvard 33, 214, 295, 337, 340, Astachow, Georgi Alexandrowitsch 249, 351 f. 255, 297 Benjamin, Hilde 77 Attolico, Bernardo 295 Benzler, Felix 36, 396, 406–409, 455 Aubin, Hermann 154 Bérard, Armand 441 Auer, Theodor 415 Berger, Gottlob 309, 323, 325, 462 Augstein, Rudolf 160, 274 Berger, Hans 332, 366 f., 369, 371 Augustus 15, 222 Berggrav, Eivid 101, 317 Averesch, Sigrid 128 Bergmann, Hermann 394 Awerbuch, Marianne 59 Berija, Lwarenti 268 Bernstorff, Albrecht Graf von 80, 415 B Bertsch, Walter 346 Baader, Andreas 164, 167 Best, Werner 38, 84, 187, 346, 456 Baberowski, Jörg 263 Bethmann-Hollweg, Theobald 223 Baeck, Leo 209, 215 f., 217 Bevin, Ernest 440 Bälz, Rudolf 329 Bieberstein, Adolf Freiherr von 394 Bahr, Egon 22 ff., 112, 121, 152, 416 Biewer, Ludwig 197 f., 427, 471 Ballin, Albert 284 Birn, Ruth Bettina 481 532 Personenregister

Bismarck, Otto von 251, 254 Brücklmeier, Eduard 80, 187, 415 Blackert, Erich 360 ff. Brüning, Heinrich 224, 227, 229, 286 Blankenhorn, Herbert 109, 151, 434, Brunner, Otto 154 434 ff., 437, 437–442, 478 Bruns, Tissy 17 Blasius, Rainer 21, 40 ff., 186, 190 ff., 194, Buback, Siegfried 139, 145, 167 197, 205, 466 Buber, Martin 217 Blaskowitz, Johannes 267 Buber-Neumann, Margarete 266 Blastowitschka, Kurt 360ff. Bülles, Egbert 132 Bloch-Bauer, Adele 330 Bülow, Bernhard von 282 f., 288 f., 392, Bloch-Bauer, Ferdinand 330 475 Blochin, Wassili Michailowitsch 268 Bülow-Schwante, Vicco von 392 Blumenthal, Michael 209 Buhtz, Gerhard 269 Böhler, Jochen 212, 463 Burckhardt, Carl Jacob 101, 290, 317 f. Böhm, Paul von 351 Burgsdorff, Curt Ludwig Ehrenreich von Böhme, Franz 405 328, 339 Böhme, Horst 350 Bury, Hans Martin 123 Boehringer, Robert 101, 319 f., 325 Bush, George W. 122, 135, 153, 155, 170 f., Börner, Holger 169 214 Böse, Wilfried 137 Byrnes, James F. 436 Bohle, Ernst Wilhelm 82, 89, 95–97, 290, 293, 309, 323, 391, 396 C Bohlen, Charles (»Chip« ) 252 f. Canaris, Wilhelm 274, 295 Bohn, Wilhelm 395 Caplan, Jane 383 Bonhoeffer, Dietrich 81 Carstens, Karl 46, 109, 416 Bonhoeffer, Klaus 91 Cebe, Jaroslav 356 Bormann, Martin 17, 98, 104, 175, 180, Chamberlain, Neville 244, 331 342, 370, 372 f., 393ff. Christianson, William C. 309, 311 Bouhler, Philipp 70 Chrobog, Jürgen 123, 179 Boveri, Margret 101 f., 296, 320ff. Chruschtschow, Sergei Nikititsch 267 Brackmann, Albert 154 Churchill, Winston 47, 259 f., 262, 317 Bräutigam, Otto 200, 377, 458 f., 459, Clay, Lucius D. 233 459–465 Clinton, Bill 214 Brandt, Karl 70 Cohen, Roger 215 Brandt, Willy 19, 22 f., 46, 112 f., 121, 130, Cohn-Bendit, Daniel 139, 155, 180, 195 152, 166, 170, 187, 217, 253, 327, Conti, Leonardo 270 376, 416, 439, 474, 483 Conze, Eckart 16, 17, 22, 29, 39, 42, 54, Brandt, Rudolf 462 97, 116, 153 f., 182, 206, 209 f., 212, Braun, Sigismund von 101, 317 274, 310, 327, 365, 368, 376, 381, Braun, Wernher von 317 399, 421 ff., 425 f., 428, 430 Bredow, Ferdinand von 221 Conze, Werner 153 f. Brentano, Heinrich von 46, 152, 443, 459, Curzon, George Nathaniel Lord 260 465 Brockdorff-Rantzau, Ulrich von 252 D Broich-Oppert, Georg von 443 Daerr, Hans-Joachim 130 Bronfman, Edgar 216 Dajan, Moshe 115 Browning, Christopher 29, 32, 46, 68, 75, Daladier, Édouard 244 78, 384, 393, 400, 404 f., 407 f. Daluege, Kurt 340 f., 344, 349 Personenregister 533

Dannecker, Theodor 105 367, 436 f., 437 Danspeckgruber, Wolfgang 213 Erlach, Clara Emilia von 317 Darré, Richard Walther 309, 323 Erler, Fritz 47 f. Degen, Michael 483 Eschenburg, Theodor 19 Delon, Alain 62 Etter, Philipp 318 Demsey, Judy 383 Etzdorf, Hasso von 101, 191, 442 Dertinger, Georg 439 Evans, Richard J. 41 f., 419, 421 ff., 450 Deutschkron, Inge 480 Dibelius, Otto 485 F Dick, Georg 134 Fallada, Hans 383 Dietrich, Otto 309, 323 Feine, Gerhart 35, 35 f., 37, 73 f., 80 f., Dietrich, Josef (»Sepp«) 220 111 f., 113, 367, 406, 415 Dirks, Walter 482 Feldscher, Peter Anton 318 Dirksen, Herbert von 251 Fest, Joachim 92, 98 f., 109, 263 Dittmann, Herbert 442 f. Filbinger, Hans 104 Dodd, Thomas J. 241 Finkelstein, Norman 481 Dönhoff, Marion Gräfin von 101, 274, 324, Fis, Damir 128 487 Fischer, Fritz 240 Dönitz, Karl 94, 411 f. Fischer, Joschka 16–19, 17–18, 20–22, 25, Döpfner, Mathias 216 28, 30–33, 35, 40–44, 48, 50 f., 79, 84, Doering-Manteuffel, Anselm 263 91, 95, 99, 102 f., 107, 113, 116–119, Döscher, Hans-Jürgen 29, 32, 46, 82 f., 92, 120, 120 f., 122, 122–135, 136, 136 ff., 107, 133, 184, 294, 384, 469 140 f., 143 f., 146 f., 153–158, 159, Domitian 15 159 f., 161, 161–166, 163, 168–172, Doughan, Sina 273 177, 177–184, 186 f., 190 f., 193–204, Dreyfus, Alfred 324 205, 205–211, 214 ff., 217, 217, 335, Drohsel, Franziska 273 347, 363, 365, 368 f., 374, 377, 380 ff., Dublon-Knebel, Irith 213, 424 396, 416, 419 f., 423 f., 428, 438, 446, Duckwitz, Georg Ferdinand 22, 187, 200, 448 ff., 452 f., 457, 466–472, 474 f., 218 477 f., 489 Dürrfeld, Walter 240 Flügge, Kurt 395 Dulles, Allen 435 Forster, Walter 351 Dutschke, Rudi 153, 162f Fraenkel, Ernst 67, 71, 227 Franco, Francisco 370, 381 E François-Poncet, André 445 f. Ebert, Friedrich 134, 224 f., 309 Frank, Hans 237, 341 Eichmann, Adolf 35, 61, 63, 63, 65 f., 68, Frank, Karl Hermann 175, 341, 342, 344, 73 f., 91, 105 f., 267, 300, 302 f., 388, 349, 350, 352 f., 352, 355 f., 359, 372 395, 398 f., 401, 404, 407 ff., 413 Frank, Paul 488 Einstein, Albert 54, 216 Frankfurter, David 288 Elbe, Frank 190, 198 Frei, Norbert 16, 17, 39, 42, 48, 97, 116, Elias, Alois 341, 348 206–210, 212, 368, 388, 423 ff., 428, Elser, Georg 391 430 f., 431, 454, 471 Engel, Gerhard 83 Freisler, Roland 34, 71, 81, 103, 311, Engelmann, Ludwig 358 370–373, 415, 461, 464 Ensslin, Gudrun 164, 167 Freitag, Horst 215 Erhard, Ludwig 39, 115, 152, 224, 233, Frick, Hans 317 534 Personenregister

Frick, Margarete 355 Goldhagen, Daniel 31, 43, 51, 99, 481 f. Frick, Wilhelm 68, 110, 175, 287, 314, Gollnow, Herbert 80, 187, 415 340 f., 344, 352, 357, 361, 363, 371, Gorazed, Matej 350 374 ff., 386 Gorbatschow, Michail 268, 272 Frister, Roman 260 Gottfriedsen, Bernd 93 Fritsch, Werner Freiherr von 292 Graevenitz, Fritz von 75 Fröhlicher, Hans 318 Grass, Günter 19 Funke, Manfred 31 Greser, Achim 205 Furet, François 273 Grisebach, August 150 Furtwängler, Franz Josef 415 Gromyko, Andrej Andrejewitsch 121 Fürstenberg, Hans 299 Gross, Johannes 382 Grosser, Alfred 481, 486 G Grosser, Paul 482 Galen, Clemens August Graf von 70 Grosskopf, Georg Wilhelm 398 Gall, Lothar 416 Grünau, Freiherr Werner von 289 Garben, Manfred 393 Grundherr, Werner von 442 Gase, Walther 358 Grupp, Peter 231 Gassert, Philipp 114 Guderian, Heinz 262 Gaulle, Charles de 206, 233 f. Gürtner, Franz 370 Gaus, Bettina 117 Guggenheim, Manfred 147 f. Gaus, Friedrich 250, 299, 301, 311, 313 f. Guisan, Henri 317 Gebhardt, Fritz 301 Gustloff, Wilhelm 288 Gebhardt, Karl 240 Grynszpan, Herschel 296 Gehle, Otto 351 Genscher, Hans-Dietrich 19–22, 46, 109, H 121, 153, 179, 185, 198, 416, 472 Haas, Christian 241 Genschow, Gustav 268 Haas, Wilhelm 36, 79, 111, 188, 201, 440, George, Stefan 99, 133, 318 f. 443 Gerhardt, Wolfgang 158, 194 Haas, Wilhelm jr. 188 Gerlach, Johann Wilhelm 138 Habe, Hans 487 Gerstenmaier, Eugen 464 Habermas, Jürgen 161 f., 457 Geschke, Hans-Ulrich 350 Hacha, Emil 341, 349 Gies, Robert 349 Hacke, Christian 34, 41 ff., 109 Giscard d´Estaing, Valéry 170 Haeften, Hans Bernd von 80 f., 88, 90, 415 Gisevius, Hans Bernd 435 Haeften, Jan von 81 Globke, Hans 23, 110, 110 f., 325, 444 Haeften, Werner von 81 Goda, Norman 213 Hahn, Fritz Gebhardt von 301 Goebbels, Joseph 81 ff., 85–90, 93, 97, 226, Halder, Franz 295 228 f., 237, 249, 251, 254, 259, 269 f., Halem, Nikolaus von 415 284, 299, 318, 343, 347 f., 351, 385 f., Halifax, Edward Wood Lord 244, 317 388, 390, 414 f., 472, 476, 482 Hallstein, Walter 114, 152, 439, 442, 445 Goerdeler, Carl Friedrich 92 Hammerstein-Equord, Kurt von 82, 235 f. Göring, Hermann 71 f., 82, 221, 228, 230, Hannibal 222 244, 288, 295, 390, 393 Hansen, Niels 115, 188 Görtemaker, Manfred 379 Hassell, Ulrich von 62, 80 f., 100, 187, 251, Goes, Albrecht 484 296, 298, 304 f., 415 Goethe, Johann Wolfgang von 253 Hauff, Wilhelm 286 Personenregister 535

Hausenstein, Wilhelm 484 235, 279, 283, 309, 388 Haushofer, Albrecht 90 ff., 97, 292 f., 415, Hinrichs, Walter 392 417 Hirohito, Tenno von Japan 151 Haushofer, Karl 91, 292 Hitler, Adolf 15, 20, 22, 25 f., 28–32, 34, Hayes, Peter 16, 17, 39, 42, 97, 116, 210, 43, 48–53, 56–62, 66–68, 69, 70 f., 73, 212, 368, 428 80–85, 89 f., 91–95, 97–101, 106, Hedtoft, Hans 187 108–111, 113, 115, 145, 151, 157, Helfferich, Emil 416 168, 175, 180, 183, 185 f., 191 f., 195, Helldorf, Wolf Heinrich Graf von 87 f. 206, 211 f., 219–233, 235 f., 239, Heidenhain, Stephan 356, 376 242–247, 249, 249–257, 260, 262–269, Heinersdorff, Gertrud 150 272 f., 277, 282–284, 286–299, 302, Heinersdorff, Gottfried 150 304 f., 311, 313 ff., 318, 322, 325, Henderson, Neville Sir 295 330–332, 336, 339–342, 342, 347–350, Henschel, Reinhard 78, 415 357 f., 370, 373, 382, 384–391, Henseler, Marga 16 f., 32, 143, 176 ff., 177, 393–395, 410–412, 414 f., 418 f., 433, 180, 188, 367, 370, 426, 429 435 f., 441, 446, 454 f., 465, 472, 473, Hentig, Otto von 62, 304 476, 481 f., 484 f., 488 Hentig, Werner von 294, 304 Hodscha, Enver 140 Henze, Hans Werner 19 Höppner, Ulrich 132 Herbert, Ulrich 36, 38 Hoesch, Leopold von 289 Herwarth von Bittenfeld, Hans-Heinrich Höss, Rudolf 336 (»Johnny«) 252 f., 324, 442 Hohmann, Martin 136 Heß, Rudolf 82, 91 f., 95, 106, 237, 292, Hollande, François 484 295, 370, 391 Holtzendorff, Henning Rudolf Adolf Karl Heuss, Theodor 106, 193 f., 229, 324 f., von 278 423, 444, 482, 486 Honecker, Erich 226, 232 Hewel, Walther 394 Honka, Fritz 165 Heyden, Wilhelm-Günther von 186, Hopmann, Alexander 443 192 ff., 193 Horthy, Miklos 90, 160 Heydrich, Lina 330, 331, 352 Hoßbach, Friedrich 85 Heydrich, Reinhard 17, 25, 66, 68, 71 f., 72, Huber, Albert 347, 357 f., 375 78, 91, 102, 104 f., 107, 175, 180, 232, Huber, Dietmar 202 251, 267, 300, 315, 328, 330, 331, 332, Huber, Ernst Rudolf 150, 223, 316 f., 340–343, 344, 345, 346 f., 349, 350, Hülbrock, Klaus 139 352, 356, 370–373, 376, 395, 407–410, Hürter, Johannes 41, 382, 450, 477 412, 433, 454, 476 Hugenberg, Alfred 226, 282 Hildebrand, Klaus 31, 205, 208–212 Hull, Cordell 436 Hilger, Gustav 252, 254 Hutchings, Robert 213 Hill, Leonidas E. 278, 285 Hillgruber, Andreas 31, 411 I Himmler, Heinrich 25, 49, 66, 68, 70 f., 73, Illies, Florian 239, 253 79, 84, 86, 91, 95, 107 f., 220 f., 228, Ischinger, Wolfgang 122, 123, 131, 216 232, 267, 286, 290, 293, 295, 304, 330, 340 f., 346, 350, 371, 388, 395, 407 f., J 433, 454, 461 f., 476 Jackson, Robert 311, 314 Hindenburg, Oskar von 94 Jacob, Berthold 288 Hindenburg, Paul von 219, 226, 229, 231, Jacobi, Walter 351 536 Personenregister

Jacobsen, Hans Adolf 31, 391 Kieser, Walter 393 Jakowlew, Alexander 242, 259 Kiesinger, Kurt Georg 22, 112 ff., 150, 327, Janota, Wenzel 375 333, 485 Jaspers, Karl 150 Killinger, Manfred Freiherr von 88, 98 Javits, Jacob 445 Kinkel, Klaus 20, 121 f., 124, 130 Jecklen, Friedrich 461 Kirkpatrick, Ivone 445 Jens, Walter 19 Kisch, Uwe 136 Jesus Christus 222 Kissinger, Henry A. 209, 214 f., 217 Jodl, Alfred 260, 411 Klapka, Otakar 341 Johannes Paul II. 171 Klarsfeld, Beate 114 Jaruzelski, Wojciech 272 Klatten, Werner 393 Jünger, Ernst 65 Klee, Ernst 51 Klein, Hans-Joachim 137 K Kleist, Ewald von 461 Kaas, Ludwig 229 Klemperer, Victor 58 Käppner, Joachim 382 Kleßmann, Christoph 425 Kafka, Franz 216 Klingenfuß, Karl 75 f., 78, 396, 417 Kaganowitsch, Lasar 262, 267 Knapp, Karl 364 Kahn-Strauss, Carol 215 Knappstein, Heinrich 367 Kaiser, Gerd 269 Knobloch, Charlotte 480 Kaiser, Jakob 325, 437 Kobler, Martin 179 Kalinin, Michail 268 Kobulow, Bogdan 268 Kaltenbrunner, Ernst 66, 78, 90, 94 f., 105 Koch, Ilse 240 Kamphoevener, Kurt von 442 Koch, Roland 124 Kanther, Manfred 169 Kocka, Jürgen 108, 387 Kapp, Wolfgang 225, 227 Koenen, Gerd 155, 380 Kappler, Herbert 306 Köpke, Gerhard 289 Karlauf, Thomas 116, 133, 213 Koeppen, Werner 394, 411 f. Kasche, Siegfried 98 Körner, Paul 221, 323 Kastl, Jörg 374 Köster, Roland 289 Kastrup, Dieter 199 f. Köstring, Ernst-August 252 ff., 258, 262 Kaufmann, Erich 52 f., 320–323, 321 Kogon, Eugen 482, 484 Kegel, Gerhard 252 Kohl, Helmut 29, 124, 130, 160, 202 Kehrl, Hans 323 Kohlhaas, Irene 130 Keitel, Wilhelm 393, 405, 411, 463 Kohut, Pavel 103 Keller, Ruprecht von 442 Kolbe, Fritz 73, 80, 415 Kempner, Robert Max Wassili 53, 67, 76, Kopelew, Lew 487 97, 99, 206, 276, 308, 310 f., 313, Kopf, Hinrich Wilhelm 383 313 f., 319, 322–326, 441, 460 Korbolová, Marie Jana 214 Keppler, Wilhelm 74, 98, 220, 293, 309 Kordt, Erich 101, 151, 185, 292 f., 295, Kershaw, Ian 384 297, 324, 415 Kessel, Albrecht von (»Teddy«) 62, 101, Kordt, Theodor 101, 295, 324, 415, 442 298, 304, 317, 415, 442 Koselleck, Reinhart 154 Kessler, Harry Graf von 282 Krahl, Hans-Jürgen 162 Kiderlen-Waechter, Alfred von 304 Krapf, Franz 40, 107, 151, 182, 183–188, Kiefer, Anselm 209 190–194, 197, 199 ff., 216 Kiep, Otto 80, 415 Krejci, Jaroslav 346, 355 Personenregister 537

Kriebek 355 Ludwig, Franz 375 Kriebel, Hermann 98, 151, 355 Lübke, Heinrich 253 Krieser, Helmut 329, 362 f., 372 Lüdicke, Lars 116, 211 f., 423 f. Kriwoschein, Semjon Moissejewitsch 262 Luther, Martin Franz Julius 29, 62, 68, Kroeger, Erhard 462 72 f., 78, 86, 91, 98, 300 f., 303 f., Kröning, Rudolf 435 392 f., 396, 398, 400, 401, 404, 407, Krosigk, Johann Ludwig Graf Schwerin von 407–410, 412 f., 455 f. 309, 389 Luther, Martin 485 Krüger, Peter 31 Lutz, Carl 35, 73 f., 80, 111 Kuczynski, Jürgen 237 Luxemburg, Rosa 280 Kuenzer, Richard 80, 415 Küpper, René 353, 364 M Kuhn, Fritz 180, 202 Mackensen, Georg Viktor von 290, 292 Kulik, Grigori Iwanowitsch 246 f. Magee, Warren E. 317 Kurras, Karl-Heinz 162 Maguire, Robert T. 309, 311 Mallmann, Klaus-Michael 425 L Mann, Heinrich 56 Laden, Osama Bin 153 Mann, Quido 355, 376 Lafontaine, Oskar 121, 170 Mann, Thomas 53 f., 55, 56, 285, 351 Lahr, Rolf 366 Mansfeld, Michael 274, 441 Lambsdorff, Hagen Graf von 130 Mao Zedong 155, 162 Lammers, Hans Heinrich 240, 309, 323, Marchtaler, Hans Ulrich von 442 325, 393 f. Maroldt, Lorenz 399 f., 450 Lankas, Anwalt (Prag) 357–360 Martini, Wolfgang 254 Lautenschlager, Hans Werner 200 Marwedel, August 351 Leber, Georg 185 Marx, Karl 216 Leibbrandt, Georg 460, 462 Marx, Wilhelm 224 Lemmer, Ernst 229, 325 Masaryk, Jan 339 Lenin, Wladimir Ilitsch 245 Masur, Kurt 209 Lenz, Heribert 205 Mayer, Michael 302, 398, 477 Lenz, Otto 110, 444 Maulucci, Thomas 464 Lenz, Siegfried 19 McCloy, John Jay 74, 220, 324 f., 444 f. Lers, Josef 355 Mechlis, Lew Sacharowitsch 247 Libal, Michael 448, 450 f., 458, 467, 470 Meinecke, Friedrich 285 f. Libeskind, Daniel 209 Meinhof, Ulrike 135, 164 ff. Liebknecht, Karl 228, 280 Meisinger, Josef 183 f. Liebmann, Curt 235 Meissner, Otto 227, 309 Likus, Rudolf 98, 393 Melchers, Wilhelm 90, 101, 442 Lindner, Walter 179 Mentel, Christian 41 Lingemann, Heinrich 462, 464 Merkel, Angela 137, 158, 170, 196, 204, Litter, Hans 80, 187, 415 209 Litwinow, Maxim Maximowitsch 247, 249 Merseburger, Peter 229 Löns, Josef 443, 465 Meyer, Richard 289 Lohse, Hinrich 460 f. Michaelis, Andreas 122 Lubbe, Marinus van der 227 f. Michalka, Wolfgang 31 Ludendorff, Erich 279 Mikojan, Anastas 267 Ludin, Hanns 62, 98, 220, 321 ff., 396, 456 Möller, Horst 41, 192, 205 538 Personenregister

Molotow, Wjatscheslaw Michailowitsch Oserovic, Ehepaar 36 241, 246 f., 248, 249, 252, 255–258, Osiander, Renate 488 261, 262–265, 267 Ossietzky, Carl von 54 Moltke, Helmuth James von 81, 416 Osterloh, Jörg 212 Mommsen, Hans 26, 34, 41, 52, 71 Otte, Romanus 201 Moneta, Jakob 488 Montefiore, Simon 268 P Moravcsik, Andrew 213 Pacelli, Eugenio 304 Moscicki, Ignacy 259 Padovalová, Marie 355 Mosse, George L. 209 Pahlenberg, Horst 134 Moucková, Professorin 355 Papen, Franz von 49, 94, 99, 226 f., 283, 389 Mühlen, Heinrich von zur 393 Pauls, Rolf Friedemann 114 f. Müller, Adolf 54, 56 Paulus, Julius 100 Müller, Georg Alexander von 278 Penck, Albrecht 91 Müller, Heinrich 66, 105, 306, 395, 412 Peroutka, Franz 365 Müller, Hermann 112 Petrek, Vladimir 350 Müller, Kerstin 123, 178 f. Pfeiffer, Anton 111, 232 Müller-Neuhoff, Jost 450 Pfeiffer, Peter 440, 442 f. Müller-Roschach, Herbert 105 f., 417 Pflugk-Hartung, Horst von 280 Mussolini, Benito 48, 82, 244, 291, 295, 305 Picot, Werner 393 Myrdal, Gunnar 381 Pieck, Wilhelm 280 Pietrzuch, Konrad 60 N Pius XI. 304 Nadolny, Rudolf 192, 242 f., 251 f. Pius XII. 304 f., 308 Negt, Oskar 161 Planck. Emil 416 Nero 15, 28 Pleiger, Paul 323 Neurath, Constantin Freiherr von 53, 82 f., Pleuger, Günter 123, 202 98, 108, 175, 211, 219, 221, 231, 283, Ploetz, Hans-Friedrich von 123, 131 290, 292, 295, 304, 331, 340, 342, 344, Pohl, Oswald 240 391, 398, 424, 455 Pol Pot 135, 140, 145, 154 f., 195, 380 Niedermayer, Oskar von 254 Ponto, Jürgen 167 Nostitz, Siegfried 101, 298 Popitz, Johannes 416 Nostitz(-Drzewiecki), Gottfried von 442 Posener, Alan 42 Nüßlein, Franz 17, 32 ff., 40, 102–105, 154, Potemkin, Wladimir Petrowitsch 265 172 f., 175–178, 180 f., 183–185 199, Powell, Colin 214 206, 216 f., 327, 329, 330, 332–341, Powers, Leon W. 101, 309, 311, 323 347, 349–360, 362–378, 416, 422, 426, Pretsch, Hans Jochen 427 429, 431, 450, 465 f., 478 Prittwitz und Gaffron, Friedrich Wilhelm von 230 f., 283 O Purkajew, Maxim Alexejewitsch 255 Oberheuser, Herta 240 Putlitz, Wolfgang Gans Edler Herr zu 314 Oeri, Albert 101 Pyta, Wolfram 425 Oestreicher, Paul 486 O’Flaherty, Hugh 306 Q Ohlendorf, Otto 336 Quandt, Günther 383 Ohnesorg, Benno 161 f., 185 Quandt, Harald 383 Ollenhauer, Erich 444 Quandt, Herbert 383 Personenregister 539

R S Rademacher, Franz 29 f., 62, 75, 300 ff., Sabrow, Martin 41 310, 379, 393, 396–400, 401 f., 404 f., Sahm, Ulrich 22 406, 407 f., 413, 433, 443, 455 Saint-Just, Louis Antoine de 199 Raeder, Erich 240, 308, 411 Salat, Rudolf 488 Rasche, Karl 309, 323 Sanchez, Illich Ramirez 137 Rasin, Ladislav 356 Sandberger, Martin 316 Raspe, Jan-Carl 167 Sasse, Heinz Günther 392 Rath, Ernst Eduard von 296 Schafranek, Hans 265 Rau, Johannes 216 Schanetzky, Tim 213 Raulff, Ulrich 316 f. Schaposchnikow, Boris Michailowitsch 246 Rauschning, Hermann 82 Scharioth, Klaus 122, 123 f., 179 ff., 190 f., Reifenberg, Benno 482 196, 199, 204 f., 209 Remers, Otto Ernst 418 Scheel, Hans Dieter 130 Rentrop, Wilhelm 334 Scheel, Walter 19–22, 43 f., 46, 109, 121, Rheinbaben, Werner Freiherr von 192 166, 416, 472, 481 Ribbentrop, Joachim von 22, 29, 34, 49, Scheil, Stephan 412 61, 68, 71, 73, 82, 85 f., 87, 87–89, Scheliha, Rudolf von 78, 80, 415 91 ff., 93, 94 f., 97–100, 105–108, 110, Schellenberg, Walter 68, 299, 304, 309 114, 191, 201, 236, 250 ff., 255, 258, Scherpenberg, Hilger van 347, 367 261, 262 f., 264, 274, 287–290, 292–295, Schieder, Theodor 154, 416 297, 299, 301, 304, 306, 310, 325, 331, Schiller, Friedrich 423, 425 391, 393 ff., 398, 400, 406 f., 409–413, Schiller, Karl 19 441, 445, 455, 458, 476 Schilling, Wolfgang 130 Richter, Ferdinand 356 Schily, Otto 127, 209 Richter, Heimo 127 Simonis, Susanne 442 Richter, Hans Werner 237 Schirrmacher, Frank 34, 36, 38 f., 46–118, Riechmann, Udo 164 f. 399, 448 f. Riege, Paul 350 Schkvartzev, A.A. 256 Robespierre, Maximilien de 199 Schlabrendorff, Fabian von 317 Röhl, Bettina 135 Schlauch, Rezzo 160, 180 Röhm, Ernst 220 f., 223 Schlayer, Clotilde 319 Roll, Evelyn 137 Schlegelberger, Franz 370 Roosevelt, Franklin D. 262 Schleicher, Kurt von 192, 221, 226 Rose, Klaus 190, 191, 194 Schleyer, Hanns Martin 139, 145, 167 Rosenberg, Alfred 243, 393 ff., 411 f., Schlink, Bernhard 26, 421, 474 458 f., 461, 463 f. Schmid, Carlo 324 Rosenthal, Hans 480 Schmid, Helga 179, 181 Rostock, Max 351 Schmid, Thomas 22 Roth, Claudia 126, 135 Schmidt, Helmut 110, 143, 153, 159, 390 Rothfels, Hans 415 Schmidt-Pauli, Edgar von 485 Rothmund, Heinrich 49 Schmitt, Carl 230 f., 320 Rousset, David 482 Schmierer, Hans-Gerhart 135, 138 ff., Rudenko, Roman Andrejewitsch 240 f. 144 f., 153–156, 179, 186 f., 380, 380 f. Ruoff, Herbert 147 f. Schmillen, Joachim 135 Schmoller, Gustav von 332 Schneider, Joseph 332 540 Personenregister

Schneppen, Heinz 41, 43 f., 76, 90, 186 ff., Serow, Iwan Alexandrowitsch 267 190, 197, 333 f., 354, 356, 362, 368, Severin, Carl 389 370, 425, 427, 432, 434, 451, 458 ff., Siebeck, Christian 130 463, 471 f. Siemers, Walter 240, 308 Schnurre, Karl 249 Sieyès, Emmanuel Joseph 471 Schöllgen, Gregor 41, 109 f., 205 Six, Alfred 98 Schönberg, Fritz 396, 455 Sobolew, Dimitri Alexejewitsch 265 Scholl, Hans 103 Sonnenfeldt, Helmut 210 Scholl, Sophie 103 Sonnleithner, Franz Edler von 394 Schrade, Hubert 150 Sontag, Susan 447 Schröder, Gerhard (SPD) 17, 120, 120 f., Sorge, Richard 151 136, 152, 160, 170 f., 177, 177 f., 196, Speer, Albert 472 203, 234, 367 Speidel, Hans 324 Schröder, Gerhard (CDU) 109, 152, 222, Snyder, Timothy 263 f. 374 Springer, Axel Cäsar 163, 216 Schroeder, Hans 75, 101, 314 Staadt, Jochen 138–140, 144 Schroeder, Klaus 138 Stabreit, Immo 130 Schröder, Richard 199 Staden, Berndt von 200 Schubert, Carl von 282 Stahl, Daniel 212 Schütz, Klaus 115, 185 Stahlecker, Walter 98 Schukow, Georgi Konstantinowitsch 246 Stalin, Josef Wissarionowitsch 48, 58, 85, Schulenburg, Friedrich-Werner Graf von der 151, 165, 235–237, 239, 241 ff., 80, 187, 251, 254–258, 260, 265, 415 f. 245–247, 249, 249 f., 252 f., 255 f., Schulte, Jan-Erik 212, 424 258–260, 261, 262, 266–268, 270, Schulze, Entlastungszeuge im Prozess gegen 272 f., 297, 306, 313, 330, 332, 339, Franz Nüßlein 364 391, 415, 419, 455 Schulze-Gaevernitz, Gero von 435 Stankovsky, Priester 355 Schumacher, Kurt 436 f., 439, 474, 484 Staudacher, Walter 367 Schumburg, Emil 59, 392, 396, 455 Stauffenberg, Claus Graf von 81 Schwarz, Hans-Peter 192 Stauffer, Paul 318 Schwarz, Karin 427 Stechow, Detlev von 461 Schwarz, Paul 283 Steengracht von Moyland, Gustav Adolf 98, Schwarz, Stephan 54 101, 302, 309, 323, 396, 455 Schwarzenbach, Alfred Emil 101, 316 Steinmeier, Frank-Walter 16, 50, 112, 171, Schwarzenbach-Wille, Renée 101, 316 204, 217 f., 377, 399, 425 f., 449 f. Schwarzenbach, Annemarie 101, 316 Stern, Fritz 119, 121, 132 f., 135, 157, Schwarzmann, Hans 442 161 f., 163, 168 f., 197, 203, 209, 213 f. Schwarzenstein, Herbert Mumm von 80, Stettinius, Edward 435 415 Stöbe, Ilse 415 Schwelien, Michael 165 f. Strahl, Otto von 415 Schwerin von Schwanenfeld, Ulrich-Wilhelm Strauß, Franz-Josef 22, 117, 160, 203 Graf von 416 Strecker, Reinhard 367 Schwinner, Alfred 265 Streicher, Julius 454 Seeckt, Hans von 225 Stresemann, Gustav 35, 36, 37, 74, 87, Seidl, Alfred 237, 240, 308 111 f., 192, 224 f., 230, 282, 300 Seitz, Volker 130 Stuckart, Wilhelm 309 Seligmann, Rafael 263 Studnitz, Ernst-Jörg von 128 f., 129, 130 Personenregister 541

Stüdemann, Dietmar 130 W Stürmer, Michael 206 Waldeck und Pyrmont, Josias Erbprinz zu Stuschka, Franz 408 220, 286 Suhr, Friedrich 408 Wagner, Horst 46, 98, 106, 301, 305, 310 Walser, Martin 19 T Walter, Frank 422 Tappert, Horst 19 Walther, Rudolf 382 Tardini, Domenico 306 Warburg, Max 284 Taylor, Telford 311, 313, 323 Wassiltschikow, Marie (»Missie«) 29 Tekere, Edgar 380 Weber, Hans-Joachim 179 Thadden, Albrecht von 91 Weber, Jürgen 165 f. Thadden, Eberhard von 46 f., 98, 106, 301, Wegener, Ulrich 448 305, 310, 400, 433 Wehler, Hans-Ulrich 109, 386, 396 Thälmann, Ernst (»Teddy«) 266 Wehner, Herbert 22, 112 f., 152, 160 Theweleit, Klaus 183 Weinke, Annette 116, 177, 212, 365, Thomsen, Thomas 351 424 ff., 430 f., 464, 471 Tichy, Alois 442 Weitkamp, Sebastian 29, 32, 46, 106 Timoschenko, Simon 267 Weizsäcker, Carl Friedrich 282, 305, 318 Tippelskirch, Kurt von 254, 265 Weizsäcker, Ernst von 36, 39, 41 ff., 50, Tiso, Jozef 303, 322 53 f., 55, 56, 58, 61 f., 65, 82, 85, 91, Titus 15 94, 98–102, 105, 108, 175, 191, 193, Toussaint, Rudolf 351 207, 220, 225, 240f. 243 f., 249, 264, Tresckow, Henning von 274 274 ff., 275 f., 277–310, 310, 310, 312, Triska, Helmut 393 314–318, 319, 319–326, 384 f., 401, Trittin, Jürgen 154 f. 409, 413 f., 458 Trott zu Solz, Adam von 80 f., 187, 191, 415 Weizsäcker, Gundalena 317 Trützschler von Falkenstein, Adam von 442 Weizsäcker, Richard von 319, 399, 481 Truman, Harry S. 241, 436 Welck, Wolfgang von 78 Tüngel, Richard 101, 324 Welczeck, Johannes Graf von 56 Tuka, Vojtech 322 Wellershoff, Dieter 19 Turner, Harald 405, 408 Wengst, Udo 38 f. Turner, Henry A. 211 Westerwelle, Guido 16, 29, 30, 42, 50, 109, Twain, Mark 462 377, 426 f., 429 Twardowski, Fritz 79 f. Wickert, Erwin 46, 109 f., 138, 141, 143–148, 149, 150 f., 152, 152–157, U 172, 179, 185 f., 188, 190, 195, 201, Ulbricht, Walter 168, 226, 252 213, 216 ff., 377, 416, 430, 44, 466 f., Ullrich, Johannes 415 478 Wickert, Ulrich 141, 153 V Wieck, Hans-Georg 129, 192 Valentin, Karl 160 Wiegeshoff, Andrea 116, 212, 430 Veesenmayer, Edmund 74, 74, 98, 323, 325, Wiegrefe, Klaus 34, 41 396, 406 f., 407, 455 f., 477 Wildt, Michael 91, 183 Verheugen, Günter 123, 131 Wilhelm II. 223 Vespasian 15 Wille, Ulrich 316ff. Vollman, William T. 419 Willikens, Werner 384 Volmer, Ludger 123, 125 f., 130 f., 202 Winkelmann, Horst 130 542 Personenregister

Wirth, Christian 71 Y Wischnewski, Hans-Jürgen 448 Yorck von Wartenburg, Peter Graf 416 Wisliceny, Dieter 105 Wlassow, Andrei Andrejewitsch 419 Z Woermann, Ernst 301, 303, 309, 323 Zehnder, Alfred 318 Wolf, Markus 105 Zickerick, Michael 130 Wolfensohn, James D. 209, 215, 217 Zimmermann, Moshe 16, 17, 24, 26, 39, Wolff, Karl 84 42, 47, 80, 97, 116, 183 f., 210, 212, Wolffsohn, Michael 28 368, 428, 453 Woroschilow, Kliment Jefremowitsch 246, Zinn, Georg August 383 258, 262, 267 Zöpel, Christoph 131 Wüster, Walther 98 Wulff, Christian 203 Wurm, Theophil 101, 324 Dank 543

»Der Erfolg hat viele Väter, nur der Misserfolg ist immer ein Waisenkind«, sagte einst Bundes- kanzler Konrad Adenauer zu seinem langjährigen Mitarbeiter Wilhelm G. Grewe, als er ihn 1962 als Bot schafter aus Washington abberief, weil er einen Sündenbock, ein Bauernopfer für ein – von ihm selbst, dem Kanzler, initiiertes – »Leak« in Bonn benötigte. Für dieses Buch gilt das natürlich auch. Es hat viele Väter und Mütter – und über seinen Erfolg wird am Ende der Leser entscheiden. An dieser Stelle soll es daher um die vielen gehen, die mehr als nur eine hel- fende Hand angelegt haben. Ihnen, den Vätern und Müttern hinter diesem Buch, gilt es aus vollem Herzen und mit einem Seufzer der Erleichterung zu danken. Frank Schirrmacher war der Erste, der sich viel Zeit genommen hat, um gemeinsam Unterlagen anzuschauen, die kom- plizierte Thematik über viele Stunden hinweg im »Konklave« in Sacrow, nahezu gänzlich unge- stört von Telefonaten und Mails, zu wägen und zu diskutieren. Dabei war er offen für ihm zunächst ferne Positionen, ließ Argumente auf sich wirken und war bereit, eigene Positionen daraufhin zu modifizieren. Das war ungewöhnlich, erfreulich und ermutigend zugleich. Jürgen Strauss, der Verleger und Netzwerker aus Potsdam, Sohn des Pfarrers an der inner- deutschen Grenze, der »Grenzgemeinden« von Sacrow und Nikolskoe, der einst noch im Kalten Krieg mit seinem Vater in einem kleinen Motorboot zwischen diesen beiden Gemeinden ge- pendelt war, bis 1961 die »Mauer« auch das Wasser teilte, nahm sich dann der Sache an, ermu- tigte mich über fast zwei Jahre hinweg, das Buch zu schreiben. Seine Frau Katharina hat es optisch gestaltet, was Außendarstellung und Bildgestaltung anlangt. Andy Kern hat es in mü- hevoller Kleinarbeit trotz des hohen Zeitdrucks ruhig und besonnen Zeile für Zeile geformt und »gesetzt«. Klaus Dermutz hat das hoch komplizierte Namensregister – trotz seiner österrei- chischen Grundschule – in Tag- und Nachtarbeit so fehlerfrei wie nur irgend möglich erstellt und fast alle Vornamen auch noch der entlegensten Personen ermittelt, die Schreibweisen »ver- einheitlicht«. Cay-Uwe Dähn – im Team frei nach Forrest Gump nur »Leutnant Dähn« getauft – hat mit großer Akribie bei der Bildersuche mitgeholfen und Korrektur gelesen zusammen mit Kathrin und Henning Köhler. Greser & Lenz haben, nach wenigen Hinweisen über das »Fi- scher-Kapitel«, ihre großartige Karikatur »Ich habe die Bombe« diesem Band geschenkt. Alfred Grosser, der mir vor bald dreißig Jahren einen Brief zum Kampf ums Kanzleramt sandte, hat einen ruhig-klugen Essay beigesteuert, der den Band beschließt. Geholfen haben na- türlich auch die vielen unbekannten Diplomaten – keineswegs nur »Lao Lang« – und Beamten aus dem behandelten Ressort, die aus verständlichen Gründen ungenannt bleiben müssen. Bot- schafter a.D. Heinz Schneppen hat, nachdem uns der Zufall im Berliner Haus der Kulturen zu- sammenführte, seit jenem Herbst 2010 vielfach geduldig geholfen und korrigiert – als wichtiger Spiritus rector des Projekts. Mein Dank gilt auch denjenigen aus dem Team der Unabhängigen Historikerkommission, die mir ihre Arbeitsweise anschaulich erklärt und erläutert haben. Und mein Dank gilt: Dirk Rumberg! Ohne ihn hätte es dieses Buch so nicht gegeben, vom sprechen- den Inhaltsverzeichnis bis zu den lebenden Kolumnentiteln über jeder Seite. Es ist für mich immer noch unfassbar, was er geleistet hat. Das nächste Buch, lieber Dirk, werden wir einem unpolitischen Thema widmen. Vielleicht »Ayurveda für Hamster im Laufrad des Lebens«. Es wird im »Säusel-Verlag« erscheinen. Versprochen.

Daniel Koerfer Berlin, im November 2013 544

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