Die Beste Reportage Egon-Erwin-Kisch-Preis
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Henri-Nannen-Preis 2011 Shortlist: Die beste Reportage Egon-Erwin-Kisch-Preis © Reporter Forum e.V. Inhaltsverzeichnis Klaus Brinkbäumer (Spiegel) Der Bote aus dem Jenseits 3 Constanze v. Bullion (SZ) Eine Familie in Deutschland 12 Uwe Ebbinghaus (FAZ) Der Zugnomade 20 H. Gertz / A. Gorkow (SZ) Respekt 27 Holger Gertz (SZ) Zettels Traum 36 Matthias Geyer (Spiegel) Müllers verdammtes Leben 42 Guiseppe di Grazia (stern) Ein Leben in Trümmern 59 Kerstin Greiner (SZ Magazin) Die Ausputzerin 71 Florian Hanig (GEO) Die entsorgten Kinder 77 Malte Henk (GEOkompakt) Im Herz der Finsternis 88 Thomas Hüetlin (Spiegel) Mike und die Hurensöhne 104 Frauke Hunfeld (stern) Der Unfall 115 Sönke Iwersen (Handelsblatt) Der Extremist 123 Marcus Jauer (FAZ) Herr Hennig 133 Uta Keseling (Berliner Morgenpost) Auf der Suche nach Gisela B. 138 Erwin Koch (ZEITmagazin) Die Stadt, die Liebe und der Tod 151 Ulrich Ladurner (Zeit) Die Stadt und ihre Mörder 161 Susanne Leinemann (ZEITmagazin) Der Überfall 174 D. V. Versendaal / S. Luxat (stern) Der Knochenjob 183 Renate Meinhof (SZ) Die Linkshaberin 196 Guido Mongels (Das Magazin) Du sollst töten 203 Alexander Osang (Spiegel) Das gefesselte Kapital 211 Alexander Osang (Spiegel) Wer hat Angst vorm Nikolaus 222 René Pfister (Spiegel) Am Stellpult 232 Reto U. Schneider (NZZ Folio) Bea geht 238 Christian Schüle (Zeit) Kein Bock 256 Tanjev Schultz (SZ) Zeugnistage 266 Sandra Schulz (Spiegel) Die Mathematik der Trümmer 272 Waltraud Schwab (taz) Ein Leben, das am Faden hängt 280 Karin Steinberger (SZ) Dancing.Auschwitz@YouTube 292 Michael Streck (stern) Junkie, Drücker, Millionär 299 Wolfgang Uchatius (Zeit) Der Goldhamster 313 2 Der Bote aus dem Jenseits Früher kam ein Brief, heute kommt Bruce Corum. Wenn in Bagdad oder Kabul amerikanische Soldaten gestorben sind, schickt die U. S. Army den Captain aus Kalifornien, um einer Mutter oder einer Ehefrau die schlimmste aller Nachrichten zu überbringen. Klaus Brinkbäumer, Spiegel, 04.01.2010 Es klopft an der Tür, irgendwo in Amerika. Meistens klopfen sie morgens, aber niemand weiß, wann sie kommen, und diesmal ist es Samstagabend, 19.30 Uhr. Die Männer dort draußen, heute zu dritt, hatten Angst vor dem eigenen Klopfen, man gewöhnt sich nicht daran, auch nach drei Jahren nicht, weder an das Klopfen noch an die Furcht vor den Minuten danach. Werden sie einen Fehler machen, den niemand verzeihen kann? Wird dort drinnen gleich eine Tochter auf dem Boden sitzen, vielleicht mit einem Playmobil-Soldaten in der Hand, wird die Tochter aufblicken und "Wann kommt Daddy heim?" fragen? Wird eine Verlobte zusammenbrechen, wird eine Mutter spucken? Alles hat es schon gegeben, auch Messerattacken, meist aber gibt es Verständnis und einen seltsamen Rollentausch: "Es ist sicherlich furchtbar für Sie, uns so etwas sagen zu müssen", mit diesen Worten reagieren viele Witwen. Die drei Männer haben es geprobt, alle Szenarien. Sie haben Erfahrung. Sie wissen auch, dass es nicht hilft, noch einmal umzukehren, eine Runde um den Block zu drehen. Klopfen müssen sie am Ende doch. Sie haben ein paar hundert Meter entfernt geparkt, damit sie nicht von drinnen beim Kämmen und Krawattenzupfen beobachtet werden können, aber die Nachbarn haben sie gesehen und nicht aus den Augen gelassen, all die Menschen in den Häusern, in denen das Leben einfach weitergehen wird; zu welchem Haus werden die Männer in Uniform gehen, das ist ja immer die Frage, die jede Stadt sich stellt, wenn die Männer auftauchen. Und in dem Haus, das sie ansteuern, sitzt eine amerikanische Familie vor den Computern, oder sie frühstückt, oder die Familie erwacht gerade, oder sie geht schlafen, und manchmal sprechen sie dort drinnen genau in diesem Moment von dem Sohn oder Ehemann in der Ferne, weshalb sie das Klopfen später als Schicksal deuten werden, diesmal aber nicht, denn Glenda Hyde ist allein daheim und sieht fern. 3 Andrea, die Tochter, studiert in San Francisco. Brian, der Ehemann, fährt durchs Land und berät alte Menschen, die ihr Geld der Luther-Kirche Missouri vererben wollen. Daniel, der Sohn, ist seit einem halben Jahr im Irak. Die drei Männer haben die Namen auswendig gelernt, die Worte einstudiert: "Sind Sie die Eltern von First Lieutenant Daniel Hyde?" Sie haben mit flacher Hand die Uniform geglättet, all das haben sie getan, was nun keine Rolle mehr spielt. Nun klopfen sie. Schnell, dreimal. Bruce Corum sagt, die Mütter und Ehefrauen wüssten, was er sagen wird. Sie sehen ihn durch ein Fenster oder den Spion dort draußen stehen, ihn und den Priester und manchmal noch einen Kollegen, und natürlich hoffen sie, dass er nur von einer schweren Verletzung reden wird, aber eigentlich muss er nichts sagen, er müsste nur dastehen und den Blick senken. Glenda Hyde hatte nicht viel Kontakt zu ihrem Sohn in den vergangenen Monaten. Alle paar Tage kam eine Mail, "ich bin okay, aber sehr, sehr beschäftigt, grüß bitte alle". Vor vier Tagen hatten sie sich endlich in Ruhe hingesetzt und hin- und zurückgeschrieben, es hatte sich nicht wie ein Abschied angefühlt. Heute ist der Tag, an dem es klopft. Laut, scharf, dreimal. Sie ahnt nicht, was kommen wird, sie denkt kurz an Einbrecher, wer sonst klopft so laut, dann lächelt sie, seit wann klopfen Einbrecher, sie summt ein Lied. Sie blickt durchs Guckloch und sieht drei Soldaten in grüner Uniform. Sie hat einen schnellen Gedanken, wie ein Blitz, so beschreibt sie es später: "O Gott, das ist das, was passiert, wenn sie dir sagen, dass deinem Kind etwas passiert ist." Sie will nicht öffnen, ganz gerade stehen die Soldaten dort, ernst und etwas ängstlich sehen sie aus, dann dreht sie den Schlüssel, drückt gegen die Tür, und später wird Glenda Hyde sagen, in diesem Moment wollte sie schreien. Geht fort. Zerstört eine andere Familie. Ihr habt euch im Haus geirrt. Mein Sohn lebt, er weiß doch, was er tut, er hat doch ein sicheres Fahrzeug. Aber es ging nicht, sie konnte nicht schreien, weil dies der Moment war, mit dem sie verstummte, der Moment, mit dem der Nebel kam. Der Moment, von dem an sie erst 4 einmal gar nichts mehr wahrnahm und dann, Wochen später, alles durch diesen Dunst, den Bruce Corum den "Nebel des Trauerns" nennt und der auch Monate später noch da ist. Dass die Mütter und Ehefrauen wissen, was geschehen wird, macht es nicht einfacher für Bruce Corum, er muss die Worte zu Ende bringen, weil er seine Regeln und Befehle hat, und er weiß, dass er einen Auftrag ausführen muss, eine "mission", wie es im Soldatenenglisch heißt; er ist nicht der Freund, nicht der Verwandte derer, deren Leben er mit seiner Botschaft für immer verändert, nicht ihr Seelsorger, aber auch die Distanz macht es nicht einfacher. Sie stürzen. Und er würde gern mit ihnen stürzen, aber er ist ja nicht einmal neutral, ein Gesandter von der anderen Seite. Er weiß, dass immer auch Verrat im Spiel ist: Er erlebt die, die die Tür öffnen, in ihrem verletzlichsten Moment. Sie vertrauen ihm, er will ihr Vertrauen. Aber er weiß bereits, und sie wissen es nicht, dass er wieder verschwinden wird aus ihrem Leben, da er weitergehen muss zur nächsten Tür wie ein Vertreter des Todes. "Sei offen und anteilnehmend, aber nicht zu emotional", sagt Corum, "anders geht es nicht." Sie wollen Antworten. Und er hat keine Antworten, es ist zu früh für Details. Die Nachricht kam gerade erst aus Bagdad oder Kabul, vor zwei, drei Stunden; und dann arbeitet die Maschine der U. S. Army wie immer, wenn es wichtig ist: Es gibt keine Intrigen und selten Pannen an Tagen wie diesem, jeder weiß, was er zu tun hat, und jeder tut es. In Kabul oder Bagdad wird sofort die elektronische Kommunikation im Camp des Gefallenen ausgeschaltet, kein Telefon und kein Computer findet mehr eine Verbindung, damit nicht einer der Kameraden eine Ich-weiß-was-Mail in die USA schickt. Dann der Anruf beim "CAC", dem "Casualty Assistance Center". Danach die Sammlung der Informationen: Ist der Tote definitiv identifiziert? Wann ist er wo gestorben? Wen hat der Soldat benannt, wer ist zu benachrichtigen? Minuten vergehen, das alles ist eingespielt durch tausendfache Wiederholung, dann geht der Befehl hinaus an Bruce Corum und die Kollegen, an einen der neun kalifornischen Todesboten, und jene, die nahe am Zielort sind und nicht gerade anderswo klopfen, brechen auf. So schnell wie nur eben möglich sollen sie bei den Angehörigen sein, "asap", was für "as soon as possible" steht, das ist die Vorgabe; manchmal aber sind die Angehörigen verreist, manchmal die Familien zersplittert und verstreut, ohne Ummeldung verzogen, dann braucht es einen Plan B und die ganze logistische Kraft der stärksten Armee der Welt. Vier Stunden nach dem Tod des Soldaten haben die Kuriere an die Tür zu klopfen, dann sind sie gut, und eine ihrer Regeln ist, dass sie auf keinen Fall eine falsche Information weitergeben dürfen, keine Vermutung, sie dürfen nicht sagen, dass Daniel Hyde nicht gelitten habe, wenn Daniel Hyde mit durchtrennten Arterien 45 5 Minuten lang im Staub lag, sie dürfen nichts sagen, was sie später womöglich wieder einkassieren müssen. Es ist ein einsamer Job während der langen Fahrten, einsam auch nach einer Benachrichtigung, wenn die Tür sich wieder geschlossen hat und der Bote draußen steht, und besonders einsam nachts im Motel. Und wie soll man Freunden erzählen, wie das nach dem Klopfen ist? Es hilft Bruce Corum, dass er nicht an Amerikas Kriegen zweifelt und nicht am Sinn des Soldatenberufs. Er glaubt, dass die Gefahr durch den Terror echt ist und der Krieg dagegen gewonnen werden muss, er spricht von "Herausforderungen", denen der Mensch ausweichen könne. Oder der Mensch nimmt die Herausforderungen an. Es geht um Mut oder Feigheit für Corum, er hat sich entschieden. Es hilft den Todesboten, dass sie sich als Auserwählte begreifen und die Aufgabe als militärische Operation, Blitzschlag und Belagerung.