Die Eröffnung und erste Befahrung der Steinhuder-Meer-Bahn

(-Lippische Landeszeitung v. 22. Mai 1898)

Man kann es den betheiligten Gemeinden, den Anwohnern des Steinhuder Meeres und des Hinterlandes nachfühlen, wenn sie die Eröffnung der Eisenbahn als Festtag begingen und von diesem Tage Segen und Förderung für das Blühen und wirthschaftliche Gedeihen erwarten. Es war herzerfreuend gestern zu bemerken, wie alle Einwohner der Ortschaften, die der Eröffnungszug passirte, vom alten Mütterchen, das vielleicht die Bahn überhaupt nicht mehr benutzen wird, bis zum rothbäckigen Bübchen, der zum ersten Male dieses Verkehrsmittel der großen Welt mit neugierig kritischem Auge betrachtete, wie alle mit ersichtlichem Wohlgefallen und behaglichem Selbstbewußtsein "ihre" Bahn zum ersten Male die Flure durchbrausen sahen. Denn "ihre" Bahn ist es, von ihnen und ihren Gemeinden selbst auf ihre Kosten erbaut, von ihnen verwaltet, und für sie und ihre Interessen bestimmt. Dasselbe ruhigernste Selbstbewußtsein, mit dem der niedersächsische Bauer auf seinem Grund und Boden als "Herr im Hause" umherschreitet, spiegelte sich wieder in den Mienen der Gemeindevorsteher und Gemeinderäthe, wenn sie an der Haltestelle ihrer Gemeinde den Eröffnungszug erwarteten, die Gäste in ihrer Gemarkung begrüßten und dann den Zug zur Theilnahme an der weiteren Feier bestiegen.

Von aus wurde gestern Mittag um ¾ 2 Uhr die Fahrt angetreten. Der Aufsichtsrath der Bahn und die Vertreter der Stadt Wunstorf empfingen vor dem bekannten Hotel zum Ritter am Bahnhofswege die auswärtigen Gäste, von denen wir u. A. nennen: Oberpräsident Graf zu Stolberg-Wernigerode, Regierungspräsident von Brandenstein, Eisenbahndirektionspräsident von Reitzenstein und von der Provinzialverwaltung Landesbauinspektor Bokelberg aus Hannover. Aus Bückeburg waren als Vertreter Sr. Hochfürstl. Durchlaucht unseres Fürsten Herr Oberhofmarschall Frhr. von Ulmenstein, vom Ministerium Herr Geh. Reg.-R. von Campe und als Vertreter der Fürstlichen Forstverwaltung Herr Oberförster von Papen anwesend. Herr Assessor von Wersebe nahm als Mitglied des Bahnkomitees und stellvertretender Landrath des durchfahrenden Amtes theil. Nach dem beabsichtigten Umbau des Wunstorfer Bahnhofes wird die Meerbahn direkt in den Bahnhof einmünden, vorläufig ist die Abfahrtstelle noch auf der Bahnhofstraße vor dem Hotel Ritter, das man in etwa 8-10 Minuten vom Bahnhofe erreicht. Die funkelnagelneuen Wagen und die blitzblanke Lokomotive "Rehburg" waren festlich bekränzt, als sich der Zug in Bewegung setzte und über die Allee der Bahnhofstraße, herzlich begrüßt von den Insassen der Häuser und Villen zu beiden Seiten, in die Stadt Wunstorf fuhr. Am Seminar standen die Seminaristen und Schüler mit Fahnen aufgestellt, und grüßten mit lautem Hurrah das schnaubende Dampfroß. Hart gehts an der Corrigendenanstalt um die Ecke, eine Curve, die nur im "langsamen Schritt" von der ungeduldigen Maschine genommen werden kann, in die Anstalt hinein. Ehrenpforten, Guirlanden und Fahnenschmuck und noch mehr freundliche Gesichter an allen Fenstern und Thüren rufen "Willkommen". Auf dem Marktplatz hat sich die Schuljugend aufgestellt und jubelnd empfängt sie das neue Straßenfahrzeug, während hinter ihnen die Wunstorfer Stadtmusik den Willkommensgruß ihren Blashörnern entlockt. Am Rathskeller ist abermals eine scharfe Curve zu nehmen. Die Bahn, welche in Wunstorf die Hauptverkehrsstraße ihrer ganzen Länge nach befährt, hält innerhalb der Stadt unter fortwährendem Klingeln ein langsames Tempo inne. Als sie aber die Brücken der Westaue und die letzte Ehrenpforte passirt hat, da geräth sie in ein schnelleres Tempo und trotz nicht unerheblicher Steigung geht es in flotter Fahrt, immer auf der Chaussee, bis Kl.-Heidorn, wo die Dorfstraße wieder langsam unter Klingeln durchfahren wird. Bei der am Westende gelegenen Hulke’schen Gastwirthschaft ist die Haltestelle. Hier biegt wieder in scharfer Curve die Bahn dann links ab von der Chaussee und fährt durch das Feld auf Groß-Heidorn zu. Am Nordeingang des Dorfes unmittelbar beim alten Kruge ist die Haltestelle, nachdem kurz vorher das schaumburg-lippische Gebiet erreicht ist. Hier erwartete gestern die Gr.-Heidorner Schuljugend und zahlreiche Männer und Frauen den Zug. Herr Gemeindevorsteher Schwabe hieß die Eisenbahn und die Gäste in der Gemarkung Gr.-Heidorn und auf Schaumburg-Lippischem Boden willkommen und brachte unserm Fürsten, der so großes Interesse an der Bahn bewiesen, ein Hoch. Nachdem Herr Schwabe mit mehreren Heidorner Herren den Zug bestiegen, fuhr die Bahn an der Südseite, unmittelbar hinter den Gärten und Höfen des langgestreckten Ortes bis zur zweiten Haltestelle in der Nähe der Capelle, wo Herr Gemeinderath Wille mit einigen Collegen und Dorfgenossen den Zug erwarteten und nachdem er ein Hoch allen denen, die den Bahnbau gemacht und gefördert, gebracht, den Zug bestieg. Schon von Klein-Heidorn an sieht man die Spiegelfläche des Steinhuder Meeres sich vor dem dunklen Fichtenwalde bei Mardorf abheben. Je mehr man sich durch das Feld nähert, um so deutlicher treten die Umrisse des Meeres und der Insel Wilhelmstein hervor. In Steinhude ist der Bahnhof in der Nähe der Bleiche und der Brauerei, das Bahnhofsgebäude ist erst im Rohbau fertig, (auf allen anderen Stationen sind die beabsichtigten Gebäude überhaupt noch nicht angefangen). Hunderte von Menschen, Erwachsene und Kinder begrüßten die für Steinhude ja doppelt ersehnte Bahneröffnung. Ein neuer Wagen für die Theilnehmer aus Steinhude wird angehängt und nun gehts, immer einige Schritte östlich der Chaussee Steinhude-Altenhagen, weiter. Rechts sehen wir über die moorigen Wiesen auf das Steinhuder Meer und dahinter die Rehburger Berge und Wälder. Am Eingang von Altenhagen grüßt uns ein weiteres "Kind der Neuzeit", nämlich der hohe Bohrthurm der Gewerkschaft "Germania" die hier auf Kali bohrt, und schon beim Salze angekommen sein soll. Lang neben der Dorfstraße Altenhagen führt der Schienenweg, läßt aber bei der Kirche die Straße abbiegen, und verfolgt seinerseits die grade Richtung einige hundert Schritte ins Feld hinein, um in der Nähe des Hotels Wilhelmstein die Hauptstraße von Hagenburg wieder zu schneiden. Hier ist der Bahnhof, vorläufig nur die Stelle und die Schienenlager. Gleich hinter Hagenburg tritt der Zug in die landwirthschaftlich schönste Partie der Strecke ein. Nachdem das im saftigsten Grün prangende Hagenburger Holz passirt ist, sieht man zur Rechten stets das Meer, zur Linken über wohlbestellte Fluren den schön bewaldeten Atje- und Düdinghäuser Berg und danach den Bergkirchener Höhenrücken mit dem malerisch gelegenen Bergdorf Bergkirchen, und die ersten Häuser von Wölpinghausen. Wie Felder eines Zeichenbrettes ziehen, scharf nach Art der Bestellung abgegrenzt, die Ackerstücke den Berg hinan bis an die blühenden Obstgärten, an das stille Kirchlein auf dem Berge und an die fröhlich im Wind sich drehenden Windmühlen, ein entzückendes "Kulturidyll". An den Dörfern Schmalenbruch und Wiedenbrügge mit ihren Haltestellen führt Bahn hart vorüber und an der Winzlarer Landwehr verläßt sie das Schaumburg-Lippische Gebiet und tritt in die Gemarkung von Bad Rehburg ein. Als sollte der Eröffnungszug der Meerbahn alle Freuden und Leiden eines Eisenbahnlebens gleich kennen lernen, wird ihm hier noch kurz vor dem Ziel eine kleine Entgleisung beschieden. Das Lager der Achse eines Wagens war erhitzt, gerieth in Brand und die beiden vorderen Räder des vorletzten Wagens sprangen aus den Schienen. Der Zug hielt sofort, die beiden letzten Wagen wurden abgekuppelt, die Insassen stiegen in die vorderen Wagen mit ein, und der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Die stehenbleibenden Wagen wurden, nachdem die Räder wieder auf die Schienen gebracht, bald darauf nachgeholt. [ Wort unleserlich] 300 Meter vor Bad Rehburg, im Walde neben der Chaussee, Herr Bürgermeister Meßwarb begrüßt Namens der Einwohner die Gäste. Hier sollen später die Stationsgebäude errichtet werden, augenblicklich präsentirt sich der Bahnhof als eine Sandkuhle, in der das "Fortkommen" nicht leicht ist. Die Bahn wird später hier umsetzen, und, zunächst etwas zurückfahrend dann im Bogen um den Rehburger Berg nach Stadt Rehburg und Loccum weitergeführt. Gestern hatte in Bad R., wie der eröffnete Betrieb überhaupt vorläufig, die Fahrt, die in einem warmen Sonnenschein gemacht werden konnte, ihr Ende und die Gäste und Theilnehmer begaben sich, mittlerweile auf weit über 100 Köpfe angewachsen, ins Hotel Menke und streckten die Hände aus zum köstlich bereiteten Festmahle und gesellten dem lecker gekochte Sohne des Rheines aus dem edlen Geschlechte der Salmoniden die gut nördlich gekühlte Tochter der Rebenhügel seiner Heimath bei, oder auch die übermüthig sprudelnde kalkgeborene Maid der Champagne. Gute Speisen und Getränke erfreuen nicht nur des Menschen Herz, sie lösen ihm auch die Zunge sowohl zu traulicher Zwiesprache mit dem freundwilligen Nachbar als zu gesetzter Allgemeinsprache an das versammelte Volk der Seeprovinzler und Genossen. Manch trefflich Wörtlein in ernster und heiterer Tonart entfloh dem Zaume der Zähne und laut zustimmend tönte am jedesmaligen Schlusse der Hochruf der schienenbefahrenen Mannen, die [ Wort unleserlich] und treu, heiter und hoffnungsvoll das Zeitalter des Dampfrosses begannen. Nur einmal ergriff Wehmuth die zukunftsfrohen Gemüther, als die "letzte Post" nach Rehburg mit vier Pferden bespannt, mit drei Vorreitern, Sachen und Personen bekränzt und in Gala den Ort durchfuhr, und der Postillon den ganzen Herzensschmerz einer verflossenen Größe in den langgezogenen Tönen der lieblichen Maiennacht ausklingen ließ. Bald aber war die Wehmut verflogen, das Lebende behält [ Wort unleserlich] stets Recht, und schon beim nächsten Hoch – ich glaube es war der Damentoast – war auch der letzte Postillon von Rehburg zu den übrigen gelegt. Den Inhalt der Toaste können wir hier heute nur kurz andeuten. Es brachte das Kaiserhoch der Oberpräsident Graf Stolberg, das Hoch auf unseren Fürsten Landrath von Woyna, Geh. R.-R. von Campe widmete sein Glas den preußischen Behörden, die bei der Bahn mitgewirkt, Landrath Heye den Gästen aus Hannover und Bückeburg. Präsident Reitzenstein begrüßte die junge Schwesterbahn und ließ ihr sein Hoch erklingen, und namentlich dem eifrigsten Förderer derselben Landrath von Woyna. Nachdem Landesbauinspektor Bockelberg in gebundener Rede der Damen gedacht, toastete Sanitätsrath Michaelis-Rehburg auf den Vorsitzenden des Aufsichtsrathes Landrat Heye-Stolzenau und zum Schluß Justizrath Elbers-Hannover auf Aufsichtsrath und Vorstand der Bahn. Um 6 Uhr 20 Min. führte ein Zug die Gäste, die über Wunstorf nach Bückeburg zu fahren gedachten, zurück. Die übrige Gesellschaft blieb noch ein gutes halbes Stündchen beisammen, bis gegen 7 Uhr der Aufbruch erfolgen mußte, damit die Gäste aus Hannover den Anschluß in Wunstorf erreichten.