Deutscher 77. Sitzung

Bonn, den 1. Dezember 1966

Inhalt:

Schreiben des Bundespräsidenten betr. Rücktritt des Bundeskanzlers Dr. Erhard 3539 A

Wahl des Bundeskanzlers 3539 B Ergebnis 3540 A Ministerpräsident Dr. h c Kiesinger nimmt die Wahl an 3540 A

Eidesleistung des Bundeskanzlers . . . 3540 B

Bekanntgabe der Bildung der Bundesregie- rung 3540 D

Eidesleistung der Bundesminister . . . 3541 B

Würdigung des Wirkens des Bundeskanz- lers Dr. Erhard sowie der Bundesminister Dr.-Ing. Seebohm und Dr. Krone . . . 3542 C

Würdigung des Wirkens des Vizepräsiden ten Dr. Schmid 3544 B

Nächste Sitzung 3544 D

Anlage 3545

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Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Dezember 1966 3539

77. Sitzung

Bonn, den 1. Dezember 1966

Stenographischer Bericht Aus alter Erfahrung weiß ich, daß gelegentlich auch der Name des vorgeschlagenen Kandidaten auf dem Stimmzettel steht. Ich unterstelle, daß das Haus Beginn: 10.01 Uhr auch heute damit einverstanden ist, daß solche Stimmkarten als gültig angesehen werden. Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Meine Damen Unbeschriebene Karten gelten hingegen als Stimm- und Herren! Die Sitzung ist eröffnet. enthaltung. Die Stimmkarten und die dazu gehören- Vor Eintritt in die Tagesordnung gebe ich ein den Umschläge finden Sie in Ihren Pulten. Schreiben des Herrn Bundespräsidenten bekannt: Unsere Berliner Mitglieder sind weiterhin — was ich lebhaft bedauere — einem Sonderstatus unter- Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident! worfen, der ihnen das volle Stimmrecht vorenthält. Der Bundeskanzler, Herr Professor Dr. Ludwig Das hat zur Folge, daß auch bei dieser Bundes- Erhard, hat mir mit Schreiben vom 30. No- kanzlerwahl die Stimmen der Berliner Mitglieder vember 1966 seinen Rücktritt erklärt. Ich habe des Hauses nicht berücksichtigt werden können. seinen Rücktritt angenommen und ihm die Ur- (Abg. Mattick: Hört! Hört!) kunde, durch die sein Amtsverhältnis beendigt mDem seitherigen Brauche folgend, werden ihre Sti wird, heute um neun Uhr ausgehändigt. men jedoch gesondert gezählt. Ich muß unsere Ber- Mit vorzüglicher Hochachtung liner Kolleginnen und Kollegen deshalb bitten, ihre Lübke Stimmkarten in die links von mir stehende, kleinere Urne zu werfen, die die Aufschrift „Berliner Abge- ordnete" trägt. Meine Damen und Herren, damit treten wir in die Tagesordnung ein. Ich rufe Punkt 1 der Tages- Die Schriftführer werden die Namen nach dem ordnung auf: Alphabet aufrufen. Auf Ihren Plätzen, meine Damen und Herren, liegt eine Namensliste. Ich bitte Sie, an Wahl des Bundeskanzlers Hand dieser Liste die Abstimmung zu verfolgen und Ich gebe dem Hause von folgendem weiterem sich an die Urne zu bemühen, sobald Sie an der Schreiben des Herrn Bundespräsidenten Kenntnis: Reihe sind. Vier Schriftführer bitte ich, sich an die Urnen zu Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident! begeben. — Vier Schriftführer sind da. Gemäß Artikel 63 Absatz 1 des Grundgesetzes Damit eröffne ich die Abstimmung. Ich bitte den schlage ich dem Bundestag vor, Herrn Minister- Schriftführer zu meiner Rechten, mit dem Namens- präsidenten Dr. h. c. aufruf zu beginnen. zum Bundeskanzler zu wählen. (Namensaufruf und Wahl.) Mit vorzüglicher Hochachtung Meine Damen und Herren, ich frage, ob alle Lübke Namen aufgerufen sind. Ist noch jemand im Saal, der seine Stimmkarte nicht abgegeben hat? — Meine Damen und Herren, nach § 4 der Geschäfts- ordnung dieses Hauses wird der Bundeskanzler mit Ich frage zum zweiten Male: Sind alle Namen verdeckten Stimmzetteln gewählt. Zur Wahl steht aufgerufen? — nur der von dem Herrn Bundespräsidenten vorge- Zum dritten und letzten Male: Hat jedes Mitglied schlagene Kandidat. Stimmkarten, die mit- anderen des Hauses seine Stimmkarte abgegeben? — Ich Namen beschrieben werden, sind ungültig. höre nichts Gegenteiliges; die Abstimmung ist ge- schlossen. Ich darf Sie bitten, meine Damen und Herren, die weißen Stimmkarten zu benutzen und darauf ent- Meine Damen und Herren, ich unterbreche die weder „Ja" oder „Nein" zu schreiben. Wer dem Vor- Sitzung bis 11 Uhr. schlag des Herrn Bundespräsidenten zustimmt, (Unterbrechung der Sitzung von 10.44 Uhr schreibt „Ja", wer ihn ablehnt, schreibt „Nein". bis 11.04 Uhr.) 3540 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Dezember 1966

Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Meine Damen Dr. h. c. Kiesinger, Bundeskanzler: Ich schwöre, und Herren, die unterbrochene Sitzung ist wieder daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Vol- eröffnet. kes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von Ich gebe das Ergebnis der Bundeskanzlerwahl ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des bekannt. Zahl der abgegebenen Stimmkarten: 473 Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten und 22 von Berliner Abgeordneten, insgesamt also gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jeder- 495; eine ungültige Stimmkarte. Mit Ja haben ge- mann üben werde. So wahr mir Gott helfe. stimmt 340 und 16 Berliner Abgeordnete, insgesamt also 356 Mitglieder des Hauses. Mit Nein haben ge- Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Meine Damen stimmt 109 und 3 Berliner Abgeordnete, insgesamt und Herren, ich stelle fest, daß der Herr Bundes- also 112 Mitglieder des Hauses. Weiße Stimmkarten kanzler den nach der Verfassung vorgeschriebenen haben abgegeben 23 und 3 Berliner Abgeordnete, Eid vor dem Bundestag geleistet hat. Herr Bundes- insgesamt 26 Mitglieder des Hauses. Mithin sind für kanzler, ich spreche Ihnen die Glückwünsche des Herrn Dr. Kiesinger, wenn ich die Berliner Stimmen Hauses für Ihre Amtsführung aus. mitzähle, 356 Stimmkarten abgegeben worden. Auch (Lebhafter, anhaltender Beifall bei der CDU/ wenn man die Berliner Stimmen wegläßt, ändert CSU und der SPD. — Abg. Dr. Erhard be- das an dem Ergebnis der Wahl insofern nichts, als gibt sich zu Bundeskanzler Dr. h. c. Kiesin- die Zahl von 340 Stimmen das Quorum von 249 ger und beglückwünscht ihn. — Erneuter Stimmen ebenfalls weit übersteigt. Beifall bei der CDU/CSU und der SPD.) Gewählt ist nach Art. 63 des Grundgesetzes und Die Bekanntgabe der Bildung der Bundesregie- § 4 der Geschäftsordnung, wer die Stimmen der rung und die Eidesleistung der Bundesminister sol- Mehrheit der Mitglieder des Bundestages erhält. len noch heute vor dem Hause stattfinden. Ich unter- Die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages be- breche deshalb die Sitzung bis 16 Uhr. trägt 249 Stimmen. Herr Dr. h. c. Kiesinger ist ge- wählt. Herr Ministerpräsident, ich frage Sie, ob Sie Die Präsenzpflicht für morgen, Freitag, hebe ich diese Wahl annehmen. auf. Die Sitzung ist unterbrochen. Dr. h. c. Kiesinger, Ministerpräsident des Lan- (Unterbrechung der Sitzung von 12.35 Uhr des Baden-Wüttemberg: Ich nehme die Wahl an. bis 16.02 Uhr.) (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der SPD.) Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Meine Damen und Herren, ich bitte, Platz zu nehmen. Ich rufe auf — — Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Herr Dr. Kie- singer, ich danke Ihnen. Ich werde dem Herrn (Im hinteren Teil des Plenarsaals stehen Bundespräsidenten von dem Ergebnis dieser Wahl Personen, die nicht Abgeordnete sind.) unverzüglich Mitteilung machen. -- Einen Augenblick! Das Forum des Bundestages darf nicht betreten werden. Ich bitte die Diener, Ich unterbreche die Sitzung bis 12.30 Uhr. Die darauf zu achten. Sitzung ist unterbrochen. (Unterbrechung der Sitzung von 11.07 bis Ich rufe Punkt 3 der Tagesordnung auf: 12.32 Uhr.) Bekanntgabe der Bildung der Bundesregierung

Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Die unter- Der Herr Bundespräsident hat mir folgendes brochene Sitzung ist wieder eröffnet. Schreiben übersandt: Der Herr Bundespräsident hat mir mitgeteilt, daß Gemäß Artikel 64 Absatz 1 des Grundgesetzes er nach Art. 63 des Grundgesetzes den heute vom habe ich auf Vorschlag des Herrn Bundeskanz- Bundestag gewählten Herrn Dr. Kurt Georg Kiesin- lers zu Bundesministern ernannt: ger zum Bundeskanzler ernannt hat. Herrn zum Bundesminister des Herr Bundeskanzler, ich darf Sie bitten, zur Auswärtigen Herrn Paul Lücke zum Bundesminister des Eidesleistung Innern zu mir heranzutreten. Herrn Dr. Dr. zum Bun- (Die Abgeordneten erheben sich.)- desminister der Justiz Herrn Dr. h. c. Franz Josef Strauß zum Bun- Herr Bundeskanzler, nach Art. 64 des Grundge- desminister der Finanzen setzes leistet der Bundeskanzler bei der Amtsüber- nahme vor dem Bundestag den in Art. 56 des Grund- Herrn Prof. Dr. zum Bundes- gesetzes festgelegten Eid. Ich überreiche Ihnen hier- minister für Wirtschaft mit das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutsch- Herrn Hermann Höcherl zum Bundesmini land und bitte, den Eid zu sprechen. ster für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Dezember 1966 3541

Präsident D. Dr. Gerstenmaier Herrn Hans Katzer zum Bundesminister für Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Der Bundes- Arbeit und Sozialordnung minister des Innern, Herr Paul Lücke. Herrn Dr. Gerhard Schröder zum Bundes- minister der Verteidigung Lücke, Bundesminister des Innern: Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe. Herrn zum Bundesminister für Verkehr Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Der Herr Herrn Dr. zum Bundes- Bundesminister der Justiz. minister für das Post- und Fernmeldewesen Herrn Dr. zum Bundes- Dr. Dr. Heinemann, Bundesminister der Justiz: minister für Wohnungswesen und Städtebau Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe. Herrn Kai-Uwe von Hassel zum Bundesmini- ster für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsge- Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Der Herr schädigte Bundesminister der Finanzen, Dr. Franz Josef Herrn zum Bundesminister Strauß. für gesamtdeutsche Fragen Herrn Prof. Dr. Carlo Schmid zum Bundes- Dr. h. c. Strauß, Bundesminister der Finanzen: minister für Angelegenheiten des Bundesrates Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe. und der Länder Herrn Dr. zum Bundesminister Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Der Bundes- für Familie und Jugend minister für Wirtschaft, Herr Professor Dr. Schiller. Herrn Dr. Gerhard St o l t e n b er g zum Bun desminister für wissenschaftliche Forschung Dr. Schiller, Bundesminister für Wirtschaft: Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe. Herrn Kurt Schmücker zum Bundesschatz- minister Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Der Herr Herrn Hans-Jürgen Wischnewski zum Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Bundesminister für wirtschaftliche Zusammen- Forsten. arbeit

Frau Käte Strobel zum Bundesminister für Höcherl, Bundesminister für Ernährung, Land- Gesundheitswesen. wirtschaft und Forsten: Ich schwöre es, so wahr mir Meine Damen und Herren, nach Art. 64 des Grund- Gott helfe. gesetzes leisten die Bundesminister bei der Amts- übernahme den in Art. 56 des Grundgesetzes vor- Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Der Bundes- gesehenen Eid. Ich rufe daher Punkt 4 der Tages- minister für Arbeit und Sozialordnung, Herr Katzer. ordnung auf: Eidesleistung der Bundesminister Katzer, Bundesminister für Arbeit und Sozial- Ich bitte die Bundesminister, einzeln zu mir heran- ordnung: Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe. zutreten und den nach Art. 64 in Verbindung mit Art. 56 des Grundgesetzes bei der Übernahme ihres Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Der Bundes- Amtes vorgeschriebenen Eid zu leisten. minister der Verteidigung, Herr Dr. Gerhard (Die Abgeordneten erheben sich.) Schröder. Ich werde den Eid vorsprechen und bitte die Mit- glieder der Bundesregierung, ihn mit den Worten Dr. Schröder, Bundesminister der Verteidigung: „Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe" zu be- Ich schwöre es, so wahr mit Gott helfe. kräftigen.

Der Eid lautet: Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Der Bundes- minister für Verkehr, Herr Georg Leber. Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grund- Leber, Bundesminister für Verkehr: Ich schwöre gesetz und die Gesetze des Bundes wahren und es, so wahr mir Gott helfe. verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft er- - füllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Der Bundes- werde. So wahr mir Gott helfe. minister für das Post- und Fernmeldewesen, Herr Herr Bundesminister des Auswärtigen, sind Sie Dr. Werner Dollinger. bereit, diesen Eid zu schwören? Dr. Dollinger, Bundesminister für das Post- und Brandt, Bundesminister des Auswärtigen: Ich Fernmeldewesen: Ich schwöre es, so wahr mir Gott schwöre es, so wahr mir Gott helfe. helfe. 3542 Deutscher Bundestag - 5. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Dezember 1966

Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Der Bundes- Frau Strobel, Bundesminister für Gesundheits- minister für Wohnungswesen und Städtebau, Herr wesen: Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe. Dr. Lauritzen. Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Meine Damen Dr. Lauritzen, Bundesminister für Wohnungs- und Herren, ich stelle fest, daß die Mitglieder der wesen und Städtebau: Ich schwöre es, so wahr mir Bundesregierung damit den im Grundgesetz für die Gott helfe. Übernahme ihres Amtes vorgeschriebenen Eid vor dem Bundestag geleistet haben. Ich spreche Ihnen, Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Der Bundes- Herr Bundeskanzler, und den Mitgliedern der Bun- minister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegs- desregierung die Wünsche des Hauses aus. geschädigte, Herr Kai-Uwe von Hassel. (Beifall bei den Regierungsparteien und bei Abgeordneten der FDP.) von Hassel, Bundesminister für Vertriebene, Meine Damen und Herren, dieser Glückwunsch Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte: Ich schwöre es, gehört zur Tradition des Hauses. Aber es gehört so wahr mir Gott helfe. auch zur Tradition des Hauses, den Mitgliedern der bisherigen Bundesregierung, die nicht in sie zurück- Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Der Bundes- kehren, den Dank des Hauses auszusprechen. minister für gesamtdeutsche Fragen, Herr Herbert (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) Wehner. Ich möchte das auch heute tun, und ich danke Ihnen dafür, daß Sie mich dabei unterstützen. Wehner, Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen: Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe. Ich verbinde damit den Dank des Hauses zunächst an den bisherigen Bundesverkehrsminister, Herrn Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Der Bundes- Dr. Seebohm. minister für Angelegenheiten des Bundesrates und (Beifall bei der CDU/CSU und Abgeord der Länder, Herr Professor Dr. Carlo Schmid. neten der FDP und der SPD.) Sie, Herr Dr. Seebohm, sind nächst dem scheidenden Dr. Schmid, Bundesminister für Angelegenheiten Bundeskanzler das dienstälteste Mitglied der Bun- des Bundesrates und der Länder: Ich schwöre es, desregierung. Sie haben ihr seit dem Beginn der Ar- so wahr mir Gott helfe. beit des Bundestages im Herbst 1949 ununterbrochen bis heute angehört. Wer noch etwas davon weiß, Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Der Bundes- wie es in jenen Jahren nach dem Krieg auf den deut- minister für Familie und Jugend, Herr Dr. Bruno schen Straßen aussah, der hat wenigstens eine Ah- Heck. nung davon, wieviel Fleiß, Mühe und Hingabe in der großen Leistung stecken, die Sie in diesen Dr. Heck, Bundesminister für Familie und Ju- 17 Jahren als Bundesverkehrsminister vollbracht gend: Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe. haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP.) Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Der Bundes- Erlauben Sie mir, meine Damen und Herren, daß minister für wissenschaftliche Forschung, Herr Dr. ich neben diesem dienstältesten Bundesminister hier . auch das an Jahren älteste Mitglied der bisherigen Bundesregierung namentlich erwähne, nämlich den Dr. Stoltenberg, Bundesminister für wissen- bisherigen Vorsitzenden des Bundesverteidigungs- schaftliche Forschung: Ich schwöre es, so wahr mir rates, Herrn Dr. . Gott helfe. (Allseitiger Beifall.) Ich sehe ihn zwar im Augenblick nicht, Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Der Bundes- schatzminister, Herr Kurt Schmücker. (Zuruf: Er hat Geburtstag!) aber das erklärt sich wahrscheinlich aus dem, was Schmücker, Bundesschatzminister: Ich schwöre ich gleich zu sagen habe und was ich sage, auch wenn es, so wahr mir Gott helfe. er nicht da ist. Mein lieber und verehrter Freund, Sie nehmen heute an Ihrem 71. Geburtstag Ab- Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Der Bundes- schied von einem Amt, das Sie mit gewissenhafter minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Herr Sorgfalt, ganz Ihrer Art entsprechend, geführt ha- Hans-Jürgen Wischnewski. ben. Sie gehören zu den wenigen Parlamentariern - des Reichstages der Weimarer Zeit, die noch unter Wischnewski, Bundesminister für wirtschaftliche uns sind. Sie haben im parlamentarischen Leben die- Zusammenarbeit: Ich schwöre, so wahr mir Gott ses Hauses viele Jahre hindurch eine bedeutende helfe. Rolle gespielt. Wir gratulieren Ihnen zu Ihrem Ge- burtstag und hoffen, daß Sie uns als der, der Sie sind, noch lange erhalten bleiben. Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Der Bundes- minister für Gesundheitswesen, Frau Käte Strobel. (Allseitiger Beifall.) Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Dezember 1966 3543 Präsident D. Dr. Gerstenmaier Der besondere Dank des Hauses gilt in dieser den Reihen Ihrer Gegner ein mitfühlendes Verständ- Stunde jedoch Ihnen, Herr Professor Erhard. nis für die Empfindungen, die Sie darüber zuweilen (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und überkommen mögen. Dankbar ist Ihnen dieses Haus der FDP.) dafür, daß Sie selber den Weg geebnet haben für die Entscheidungen, die ihm in diesen Tagen abver- Es gab Jahre, in denen uns die Führungsschicht vie- langt wurden. Und Dank sagt Ihnen das Haus für ler Völker der Welt um Sie beneidet hat. Sie galten Ihre Hingabe an diesen Staat und Ihr Wirken für und Sie gelten weit über Deutschlands Grenzen hin- den Wiederaufstieg Deutschlands. aus als der Architekt des deutschen Wirtschafts- wunders. Das Wort ist keine deutsche Erfindung, es (Anhaltender lebhafter Beifall bei der CDU/ stammt nicht von uns Deutschen. In ihm aber hat sich CSU und der FDP.) schlagwortartig das Erstaunen und da und dort wohl In diesem Hause sind viele, die Ihre politische doch auch die Bewunderung der Welt für den wirt- Leistung — wie ich glaube, zu Recht für unver- schaftlichen Wiederaufstieg des schwer geschlage- geßlich halten. Nun, dies ist nicht der Augenblick nen deutschen Volkes ausgedrückt. Ohne diesen der historischen, d. h. der nach allen Seiten hin ab- wirtschaftlichen Aufstieg wäre auch der politische gewogenen geschichtlichen Würdigung Ihrer Lei- Wiederaufstieg des freien Teiles Deutschlands kaum stung. Sie bleibt dem gewissenhaften Historiker vorstellbar gewesen. Es ist wahr, daß unser soge- überlassen. Mit diesem Augenblick hört auch die nanntes Wirtschaftswunder nicht das Werk eines politische Kritik an dem Mann und seinem Werk Einzelnen oder einer Partei war. In ihm verbanden nicht auf. Aber sie verschweigt für eine Stunde, um sich der Fleiß, die Arbeitskraft, der Leistungswille, das zu Gehör kommen zu lassen, was in der harten ja das Ingenium des deutschen Volkes, soweit es politischen Auseinandersetzung so selten hörbar, frei ist, in allen seinen Schichten und Gruppen. Ich aber dennoch auch in ihr lebendig ist, nämlich der glaube jedoch, daß nichts davon eingeschränkt wird, menschliche Respekt, das persönliche Mitgefühl und wenn man sagt, daß der zündende Funke jener ge- die kollegiale Verbundenheit. schichtlichen Leistung der Glaube an die produktive Kraft der Freiheit war. Von jener Stunde im Jahre 1948, die wohl als die Geburtsstunde der Erhardschen Marktwirtschaft be- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP.) zeichnet werden darf, bis zu diesem Augenblick Dieser Glaube ist, so scheint mir, das bestimmende spannt sich ein weiter Bogen über ein Stück deut- Charakteristikum Ihrer Persönlichkeit, soweit sie scher Geschichte. Alles in allem gehört es zwar sich im Verlauf der letzten zwanzig Jahre deutscher nicht zu den schönsten Epochen unserer Geschichte; Geschichte entfaltet und zur Darstellung gebracht aber es darf doch wohl zu ihren kräftigsten gezählt hat. Bei einem Mann, der so wie Sie durchdrungen werden. Das große Wagnis der Erhardschen Markt- ist von diesem Glauben an die produktive Kraft der wirtschaft mußte sich früh bewähren. Es hielt der Freiheit, legt es sich nahe, daß er eine Abneigung Korea-Krise stand. Die Bundesrepublik kam, um dagegen hat, durch Staatszwang herbeizuführen, was mit den Worten eines Ihrer Schüler zu sprechen, der Wohlmeinende — vielleicht etwas zu opti- „besser durch die Wirren dieser Jahre als jedes mistisch — von der freien Einsicht verständiger Mit- vergleichbare Land". Seit 1952 haben Sie die Wirt- bürger glaubt erwarten zu können. Mit der ganzen schaft der Bundesrepublik konsequent in die Welt- Kraft Ihrer Beredsamkeit haben Sie diese freie Ein- wirtschaft eingegliedert. Schrittweise, aber mutig sicht Ihrer Mitbürger zu mobilisieren versucht. haben Sie die Liberalisierung des Außenhandels Das war der Sinn, der staatsbürgerliche und poli- durchgeführt und damit die deutschen Unternehmen tische Sinn Ihrer sogenannten Maßhalteappelle. Sie bewußt jenem starken außenwirtschaftlichen Wett. haben sich deshalb nicht selten karikieren lassen bewerb ausgesetzt, den Deutschlands Wirtschaft so müssen. Aber Sie haben damit doch nur auf die gut bestanden hat, daß wir heute zu den führenden Prämissen gesetzt, die unserer Staatsordnung zu- Industrie- und Handelsnationen der Welt gehören. grunde liegen. Unsere parlamentarische Demokratie Die steigenden Verteidigungslasten sind ohne die steht und fällt mit der Entscheidungsfreiheit des Gefahr der Inflation bewältigt worden. Die innere stimmberechtigten Mitbürgers. Sie setzt damit die Wettbewerbsordnung wurde durch das Kartellge- Entscheidungsfähigkeit ihrer Bürger voraus, und das setz geregelt und eine Bundesbank gegründet, heißt doch wohl auch die Bereitschaft zur Einsicht deren Wert und Unabhängigkeit wir aus staats- in zwingende Notwendigkeiten. politischen Notwendigkeiten auch dann würdigen müssen, wenn ihre Maßnahmen einmal unbequem Sie, Herr Dr. Erhard, haben unentwegt darauf ge- sind. Zur gleichen Zeit haben Sie die Deutsche Mark hofft und dafür gearbeitet, daß man sich in allen frei konvertibel gemacht und damit die so lange Gruppen und Parteien rechtzeitig dazu entschließen entbehrte Bewegungsfreiheit dem größeren Teil des werde, aus freien Stücken auch unbequeme Konse- deutschen Volkes voll zurückgegeben. quenzen aus solchen Einsichten zu ziehen. Wenn ich recht sehe, ist die Mobilmachung der Einsicht in die Bei der Gründung der Europäischen Wirtschafts- Erfordernisse der Stunde im deutschen Volk weithin gemeinschaft sind Sie, Ihrer ganzen Orientierung geglückt. Für Sie mag es nicht ohne Bitternis sein, entsprechend, weltoffen gegen Isolation und Autar- daß es Ihnen versagt blieb, die Früchte aus dieser kie in die Schranken getreten, und als Regierungs- Einsicht selber zu ziehen. Offenbar ist das heute nur chef haben Sie besonders schwer an den Schwierig- in einer neuen Zusammenordnung starker politischer keiten getragen, die sich der Einigung der europäi- Kräfte möglich. Dieses Haus hat indessen auch in schen Völker entgegenstellten. 3544 Deutscher Bundestag — 5. Wahlperiode — 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Dezember 1966 Präsident D. Dr. Gerstenmaier Es war nicht Ihre Schuld, sondern die Folge welt- Geist auch in dem glanzlosen Alltag der Politik be- politischer Wandlungen, daß Ihnen und uns allen währen und zur Darstellung zu bringen vermag. der Wind der Weltpolitik in den letzten Jahren (Allseitiger Beifall.) mehr und mehr in das Gesicht blies. Sie haben sich Zusammen mit nicht wenigen anderen Mitgliedern Mühe gegeben, Deutschland für die Belastungen des Hauses hat der Vizepräsident des Deutschen und Gefahren, die sich damit anzukündigen began- Bundestages, Carlo Schmid, ohne Worte das nichts- nen, so krisenfest und standkräftig als möglich zu nutzige Schema widerlegt, das da und dort noch im- machen. Sie haben diesem Haus Gesetze vorgelegt, mer in unserem Volk herumgeistert, demzufolge die dieser Aufgabe mit Vorrang dienen sollten. sich die Selbstachtung des Geistes und seine schöp- Diese Entwürfe werden dieses Haus mit Ernst be- ferische Leistung nicht wirklich vereinen und ver- schäftigen. binden lassen sollen mit dem Mandat des Politikers und dem Handwerk des Parlamentariers. Ich könnte mir vorstellen, daß Sie, verehrter Herr Dr. Erhard, bei weitem nicht der einzige sind, der Nun, 17 Jahre lang haben Sie, mein verehrter sich in diesen Tagen an den resignierten Satz erin- Freund und Kollege, in diesem Hause zu denen ge- nert: Die Politik kennt keinen Dank! Nun, dem Prä- zählt, die zwar, wie es sich für Politiker gehört, Ver- sidenten dieses Hauses ist es in dieser Stunde eine ständnis für die taktischen Notwendigkeiten des Freude und eine Ehre, jener Resignation zu wider- Tages haben, die darüber aber dennoch ihrer eige- sprechen. Weil wir groß denken von dem, was Sie nen Gesamtorientierung treu blieben. Es hat seinen zum Wiederaufstieg Deutschlands beigetragen ha- Sinn, daß Sie diese Ihre große orientierende Kraft, ben, und weil wir groß denken von Ihrer Redlich- Ihre profunde Bildung und Ihre hohe Gelehrsamkeit keit, deshalb darf ich Ihnen, Herr Bundeskanzler der neuen Bundesregierung dienstbar machen. Aber a. D. Dr. Erhard, in dieser Stunde den Dank des erlauben Sie mir, Ihnen hier vor dem ganzen Hause Deutschen Bundestages aussprechen. zu sagen, wie ungern wir Sie dennoch aus dem Prä- sidium des Hauses scheiden sehen, und erlauben Sie (Anhaltender lebhafter Beifall bei der mir, hinzuzufügen, daß ich für das ganze Haus CDU/CSU und bei der FDP.) spreche, wenn ich Ihnen in dieser Stunde für das danke, was Sie — einer der Väter unserer Verfas- Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir, zum sung — für die Selbstgestaltung und Darstellung des Schluß noch einem anderen Dank zu sagen. Er gilt Deutschen Bundestages in den vergangenen 17 Jah- dem bisherigen Vizepräsidenten des Deutschen Bun- ren getan haben. destages, Herrn Professor Carlo Schmid. Seit der Damit, meine Damen und Herren, sind wir am ersten Sitzung des 1. Bundestages am 7. September Schlusse dieser Sitzung angelangt. 1949 gehörte unser Kollege Carlo Schmid zum Prä- Die nächste Plenarsitzung findet voraussichtlich sidium dieses Hauses. Er stand meinen Vorgängern am Donnerstag, dem 8. Dezember, um 9 Uhr statt. in diesem Amte zur Seite und er hat mich selber Der Mittwoch, der 7. Dezember, soll den Ausschüs- freundschaftlich und hilfreich vor mehr als zwölf sen und den Arbeitskreisen gehören. Jahren in dieses Amt eingeführt. Er war in all die- sen Jahren ein Vorbild parlamentarischen Wirkens Meine Damen und Herren, die Sitzung ist ge- und Sichverhaltens. Er hat damit zugleich ein über- schlossen. zeugendes Beispiel geliefert, wie sich ein glänzender (Schluß der Sitzung: 16.26 Uhr.) Deutscher Bundestag - 5. Wahlperiode 77. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Dezember 1966 3545

Anlage zum Stenographischen Bericht

Liste der beurlaubten Abgeordneten

Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich

Beurlaubungen Prinz von Bayern 5. 12. Blachstein 15. 12. Dr. Eckhardt 2. 12. Erler 31. 12. Hahn (Bielefeld) * 2. 12. Frau Kalinke 2. 12. Kiep 2. 12. Frau Dr. Krips 31. 12. Lenz (Trossingen) 31. 12. Lücker (München) * 2. 12. Mauk * 2. 12. Dr. h. c. Menne (Frankfurt) 2. 12. Paul 31. 12. Frau Pitz-Savelsberg 2. 12. Dr. Schober 2. 12. Struve 17. 12. Dr. Verbeek 2. 12. Weigl 1. 3. 1967

*) Für die Teilnahme an einer Sitzung des Europäischen Parlaments