Dossier Deutsche Verteidigungspolitik

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 2

Einleitung

Soldatenstiefel in einer Reihe (© picture-alliance/dpa) Vor mehr als 60 Jahren standen erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg wieder deutsche Soldaten unter Waffen: Mit der Gründung der Bundeswehr 1955 wurde eine Armee geschaffen, die anders als ihre Vorläufer auf Demokratie und Rechtsstaat verpflichtet war und als NATO-Partner an vorderster Front des Kalten Krieges stand. Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes wurde die Bundeswehr auch zu einem außenpolitischen Instrument. Ihr Einsatz in internationalen Konflikten ist bis heute Gegenstand gesellschaftlicher und politischer Debatten. Mit der Neuausrichtung der Bundeswehr, ihrem Wandel von der Wehrpflicht- zur Freiwilligenarmee und den Erfahrungen der Auslandseinsätze haben die Streitkräfte mit neuen Herausforderungen zu kämpfen.

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Inhaltsverzeichnis

1. Auslandseinsätze 5

1.1 Die Mandatierung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr 6

1.2 Legalität und Legitimität von Auslandseinsätzen 10

1.3 Auslandseinsätze der Bundeswehr 17

1.4 Der Bundeswehreinsatz in Afghanistan 25

2. Geschichte der Bundeswehr 34

2.1 Die Tradition der Bundeswehr 35

2.2 Die Politik der Wiederbewaffnung 41

2.3 Die Wehrpflicht. Eine historische Betrachtung 48

2.4 Die Bundeswehr im Kalten Krieg 55

2.5 Die Nationale Volksarmee der DDR 60

2.6 "Armee der Einheit" 67

3. Grundlagen der Verteidigungspolitik 74

3.1 Die NATO 75

3.2 Das Rahmennationenkonzept 82

3.3 Europäische Verteidigungspolitik 88

3.4 Ausnahmefall Deutschland – Die Debatte um einen Einsatz der Bundeswehr im Innern 98

3.5 Das Weißbuch 2016 und deutsche Verteidigungspolitik 104

3.6 Der Verteidigungshaushalt – Trendwende bei den Verteidigungsausgaben? 113

3.7 Demokratie und Wehrsystem 119

3.8 Rechtliche Grundlagen deutscher Verteidigungspolitik 126

4. Militär und Gesellschaft 134

4.1 Militär und Zivilgesellschaft - ein schwieriges Verhältnis 135

4.2 Soldatenbilder im Wandel 141

4.3 Einsatzrückkehrer und Veteranen 150

4.4 Wehrgerechtigkeit 155

4.5 Kriegsdienstverweigerung und Zivildienst 159

5. Redaktion 166

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Auslandseinsätze

1.1.2019

Seit den 1990er-Jahren nimmt die Bundeswehr immer häufiger auch an bewaffneten Auslandseinsätzen teil. Wo war und ist die Bundeswehr im Einsatz? Wie werden die Einsätze politisch und gesellschaftlich diskutiert? Und wer entscheidet darüber, wo und wie die Soldatinnen und Soldaten eingesetzt werden?

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Die Mandatierung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr Themengrafik zu den Akteuren der Verteidigungspolitik

Von Markus Kaim 26.5.2015 Markus Kaim, PD Dr. habil, ist Politikwissenschaftler und Historiker. Er ist Senior Fellow der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP ) und lehrt an der Universität Zürich und an der Hertie School of Governance, Berlin. Er forscht und publiziert u.a. zu Grundfragen der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik und zu politischen Rahmenbedingungen multinationaler Militäreinsätze.

An verteidigungspolitischen Entscheidungen sind in Deutschland mehrere innenpolitische Akteure beteiligt. Auch die internationale Politik spielt dabei oft eine Rolle. Nirgends wird das deutlicher als bei der Entsendung von Soldaten in Auslandseinsätze.

Themengrafik: Akteure und Prozess der Mandatierung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Sie können die Grafik hier herunterladen (PDF, 1,02 MB) (http://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/Verteidigungspolitik_Auslandseinsaetze_Grafik. pdf). Eine Version der Grafik inklusive Erklärtext können Sie hier herunterladen (PDF, 1,46 MB) (http://www.bpb.de/ system/files/dokument_pdf/Verteidigungspolitik_Auslandseinsaetze_Grafik_Text_neu.pdf). (bpb) Lizenz: cc by-nc- nd/3.0/de/

Die deutsche Verteidigungspolitik ist von einem umfassenden Sicherheitsansatz geprägt. Ein komplexes innenpolitisches Verfahren ist dabei in das internationale System multilateral eingegliedert.

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Innenpolitische Akteure

Innenpolitisch wirken die drei Gewalten Exekutive, Legislative und Judikative zusammen, wobei die Exekutive, also die Regierung, im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik eine Vorrangstellung einnimmt. Während das Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) federführend für die Militärpolitik ist und der Minister/ die Ministerin in Friedenszeiten die Befehls- und Kommandogewalt inne hat, spielen in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Bundesrepublik auch andere Ressorts eine Rolle. Das Auswärtige Amt (AA) ist allgemein zuständig für Außenpolitik und damit auch für die Sicherheitspolitik; seine Zuständigkeiten wirken in die Verteidigungspolitik mit hinein. Auf Grund der politischen Bedeutung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik tritt koordinierend das Bundeskanzleramt hinzu, nicht zuletzt, da der/die Kanzler/in im Verteidigungsfall die Befehls- und Kommandogewalt innehat.

Der Deutsche Bundestag hat indirekte Gestaltungsrechte über das Haushaltsrecht, womit er den Finanzrahmen der Ministerien und die Beschaffungen der Bundeswehr bestimmen kann. Zudem hat er ein Mitwirkungsrecht an verteidigungspolitischen Entschlüssen. Dieses ist jedoch grundlegend darauf beschränkt, Anträgen und Initiativen der Exekutive zuzustimmen oder diese abzulehnen.

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) als juristische Aufsichtsinstanz deutscher Sicherheits- und Verteidigungspolitik nimmt durch seine Auslegungen des Grundgesetzes einen wesentlichen Einfluss auf die Entscheidungen und Regelungsprozesse der deutschen Verteidigungspolitik.

Voraussetzungen und Zusammenwirken der Akteure im Fall des Auslandseinsatzes der Bundeswehr

Friedenserhaltende bzw. friedenssichernde Auslandseinsätze der Bundeswehr im Sinne der Charta der Vereinten Nationen (VN) waren vierzig Jahre lang weder denkbar noch notwendig. Sie sind im Grundgesetz auch nicht erwähnt. Dort wird in Artikel 87a lediglich die "Verteidigung" als Begründung für die Aufstellung von Streitkräften genannt. Erst nach dem Ende des Ost-West-Konflikts sah sich die Bundesrepublik mit größeren Erwartungen konfrontiert, sich auch militärisch am internationalen Konfliktmanagement zu beteiligen.

Die Entscheidungsprozesse bei einem Auslandseinsatz der Bundeswehr veranschaulichen das komplexe Zusammenspiel zwischen den beteiligten innenpolitischen Akteuren sowie denjenigen der internationalen Politik. Sie werden angeleitet von den drei "Leitplanken" für die Auslandseinsätze der Bundeswehr, wie sie das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil im Jahr 1994 festgelegt hat. Wichtig ist an dieser Stelle, dass diese Voraussetzungen nicht im Falle der Landesverteidigung oder eines Einsatzes im Rahmen der Bündnisverteidigung wie dem NATO-"Bündnisfall" zum Tragen kommen.

Die erste Voraussetzung ist die Vorlage eines Mandates (Resolution) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Die Beteiligung der Bundeswehr am Kosovo-Krieg, für den ein solches Mandat fehlte, gilt bis heute als Ausnahmefall. Ausgelöst werden die politischen und militärischen Planungen eines Auslandseinsatzes in der Regel durch die Einschätzung in den Vereinten Nationen, der Europäischen Union oder der NATO, dass ein bewaffneter Konflikt in einem Land oder zwischen zwei Staaten eine Bedrohung des internationalen Friedens im Sinne der Charta der Vereinten Nationen (Kapitel VII) darstelle und daher ein Eingreifen der internationalen Gemeinschaft notwendig sei. Dieser Prozess folgt keinen kohärenten Regeln, sondern ist durch die spezifischen politischen Interessen und Beschränkungen der beteiligten Staaten geprägt. Dies erklärt, warum sich in einem Krisenfall ein Staat am internationalen Krisenmanagement beteiligt, in einem anderen, ähnlich gelagerten, aber möglicherweise nicht.

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Zeitgleich zu den Beratungen im VN-Sicherheitsrat über die Autorisierung einer Militäroperation und deren genauem Mandat finden bereits informelle Gespräche darüber statt, ob die VN selbst oder eine der Regionalorganisationen der internationalen Politik wie z.B. die EU oder die NATO diese Mission führen könnten. Auslandseinsätze der Bundeswehr haben in der Vergangenheit in all diesen Foren stattgefunden. Ziel dabei ist, in enger Abstimmung der beteiligten Regierungen sicherzustellen, dass die Autorisierung eines internationalen Militäreinsatzes unmittelbar einhergeht mit der Bereitstellung der notwendigen militärischen Fähigkeiten, also Soldaten, Waffen und Fahrzeuge. Dieser multilaterale Handlungsrahmen ist die zweite notwendige Voraussetzung für Auslandseinsätze der Bundeswehr. Nationale Alleingänge sind für die Bundesrepublik im internationalen Krisenmanagement nicht möglich.

Die dritte konstitutive Voraussetzung ist der sogenannte Parlamentsvorbehalt, der den Einsatz militärischer Gewalt im Sinne einer "Parlamentsarmee" an die Zustimmung des Souveräns koppelt, also das Volk, vertreten durch den Deutschen Bundestag. Dies gilt für Einsätze mit der erwartbaren Beteiligung deutscher Soldaten an der bewaffneten Konfliktaustragung. Bislang hat der Bundestag jeden ihm zur Abstimmung vorgelegten Auslandseinsatz gebilligt.

Mandatierung von Bundeswehreinsätzen

Die Details zur Entsendung deutscher Soldaten in Auslandseinsätze durch ein Mandat des Bundestages regelt seit 2005 das sog. Parlamentsbeteiligungsgesetz (ParlBG).

Gemäß diesem liegt das Initiativrecht bei der Bundesregierung, federführend beim Bundesverteidigungsministerium, das das Mandat in enger Abstimmung mit dem Bundeskanzleramt und dem Auswärtigen Amt formuliert. Vor der Einbringung ins Parlament bedarf es eines Kabinettsbeschlusses über Ziel, Umfang und Kosten der Beteiligung der Bundeswehr an dem internationalen Militäreinsatz.

Gemäß dem ParlBG erhält der Bundestag daraufhin die Möglichkeit, diesem Einsatz zuzustimmen oder ihn abzulehnen. Eine Änderung an dem geplanten Mandat kann er nicht vornehmen, die eingeräumte Zustimmung jedoch ggf. widerrufen. In gleicher Weise bedarf eine Änderung oder Verlängerung eines Einsatzes einer Mandatierung durch den Bundestag. In der Sache bestimmen die Fachpolitiker der Fraktionen im Auswärtigen Ausschuss bzw. dem Verteidigungsausschuss die Debatte.

Maßnahmen zu humanitären Hilfsleistungen ohne die Gefahr von Kampfhandlungen benötigen keine parlamentarische Zustimmung. Um welche Art des Einsatzes es sich handelt bzw. ob ein Einsatz mandatiert werden muss, befindet das Bundeskabinett auf Vorschlag des Verteidigungsministeriums. Bei Einsätzen von "geringer Intensität und Tragweite" findet ein vereinfachtes Entscheidungsverfahren statt unter Beteiligung der Vorsitzenden aller Fraktionen, der Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses und des Verteidigungsausschusses sowie der Fraktionsobleute. Bei Gefahr im Verzug ist ein Einsatz ohne vorangegangenen Parlamentsbeschluss möglich, nachträglich muss dann aber die Zustimmung durch den Bundestag beschlossen werden. Lehnt der Bundestag den Antrag ab, ist der Einsatz zu beenden.

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Parlamentsbeteiligungsgesetz: http://www.gesetze-im-internet.de/parlbg (http://www.gesetze-im-internet.de/parlbg)

Zum Urteil des Bundesverfassungsgerichtes: Hintergrund aktuell (10.7.2014): 20 Jahre Urteil zu Auslandseinsätzen (http://www.bpb.de/politik/ hintergrund-aktuell/188072/urteil-zu-auslandseinsaetzen)

Download: Sie können die Grafik in zwei Versionen herunterladen: als einfache Grafik (http://www. bpb.de/system/files/dokument_pdf/Verteidigungspolitik_Auslandseinsaetze_Grafik.pdf) (PDF, 1,02 MB) und als Grafik inklusive Erklärtext (http://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/ Verteidigungspolitik_Auslandseinsaetze_Grafik_Text_neu.pdf) (PDF, 1,46 MB).

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Markus Kaim für bpb.de

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Legalität und Legitimität von Auslandseinsätzen

Von Matthias Dembinski, Thorsten Gromes 29.6.2018 Dr. Matthias Dembinski ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektleiter im Bereich "Internationale Institutionen" der Hesssichen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) in Frankfurt/Main. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Europäische Außen- und Sicherheitspolitik, Transatlantische Beziehungen und die NATO.

Dr. Thorsten Gromes ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektleiter im Bereich "Innerstaatliche Konflikte" der Hesssichen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) in Frankfurt/Main. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Friedenskonsolidierung, humanitäre militärische Interventionen und ethnische Konflikte.

Wann sind Auslandseinsätze legal, wann legitim? Und lässt sich ihr Erfolg messen? Matthias Dembinski und Thorsten Gromes geben einen Überblick über Voraussetzungen und Kriterien für eine politische Bewertung von militärischen Interventionen.

Bundeswehrssoldaten der UN-Mission MINUSMA stehen am 5. April 2016 im Camp Castor in Gao (Mali) vor ihren Fahrzeugen. Die Soldaten tragen hellblaue Barette und Helme - das Kennzeichen der Vereinten Nationen bei Friedensmissionen. (© picture-alliance/dpa)

Ende Mai 2018 befanden sich fast 4.000 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr im Auslandseinsatz (https://www.bundeswehr.de/resource/resource/RXlsZGtaQ0FYYU43d2dFZFo2UkdhNmZLNkprd3lD­ c3EvNlV2R0JwMTNscDFjclFYSTI0SkhRSlVaYjVRR3RpZVZhME5TS2Rta0Q5Ym1heUsvd3RlVFV5­ RUpHUVF5c1QvbEdQOTF0UWNpVFk9/UdO_21_18.pdf), die meisten in Afghanistan, Mali, Syrien/ Irak und Kosovo. Seit Anfang der 1990er Jahre war die Bundeswehr an mehr als 50 Auslandseinsätzen beteiligt. 108 Soldaten und eine Soldatin kamen bei den bisherigen Missionen ums Leben (https:// www.bundeswehr.de/portal/a/bwde/start/gedenken/todesfaelle_im_einsatz), mehr als die Hälfte von

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 11 ihnen in Afghanistan. Nach Angaben des Bundesverteidigungsministeriums verursachten die Auslandseinsätze bis August 2017 Zusatzausgaben von fast 21 Milliarden Euro. Am teuersten war das Engagement in Afghanistan.

Was sind eigentlich "Auslandseinsätze"?

Das Stichwort "Auslandseinsätze" erfasst ein breites Spektrum von Operationen: von der Bereitstellung humanitärer Hilfe über Ausbildungs- oder friedenserhaltende Missionen bis hin zu Kampfeinsätzen jenseits der eigenen Landes- und Bündnisgrenzen. Die meisten friedenserhaltenden Missionen (peacekeeping) haben den Auftrag, nach einem Waffenstillstands- oder Friedensabkommen das Wiederaufflammen eines bewaffneten Konflikts zu verhindern. Seltener sind friedenserhaltende Einsätze mit dem Ziel, im Vorhinein einen Gewaltausbruch abzuwenden. Hingegen sollen friedenserzwingende Missionen (peace enforcement) einen noch laufenden Gewaltkonflikt stoppen. Damit fallen sie in die breitere Kategorie sogenannter humanitärer militärischer Interventionen, die mit der erklärten Absicht erfolgen, die Bürgerinnen und Bürger eines anderen Staates zu schützen. Umstritten sind vor allem Auslandseinsätze mit einem Mandat zur Gewaltanwendung und Stationierungen in laufenden Gewaltkonflikten. Sie stehen im Folgenden im Zentrum.

Die politische Bewertung von Auslandseinsätzen kreist um zwei Begriffe: legal und legitim. Dass diese in Spannung zueinander stehen können, unterstreicht eine Aussage im Abschlussbericht der Independent International Commission on Kosovo (https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/ resources/F62789D9FCC56FB3C1256C1700303E3B-thekosovoreport.htm): Die NATO-Intervention im Kosovo sei nicht legal, aber legitim gewesen.

Wann ist ein Auslandseinsatz legal?

Die Legalität, also Rechtmäßigkeit von Auslandseinsätzen hat eine verfassungs- und eine völkerrechtliche Seite. Verfassungsrechtlich hat das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil vom 12. Juli 1994 (http://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/188072/urteil-zu-auslandseinsaetzen) die Weichen gestellt. Demnach kann sich Deutschland gemäß Artikel 24, Absatz 2 des Grundgesetzes Systemen kollektiver Sicherheit anschließen und sich daraus ergebende Pflichten wie militärische Einsätze "out of area", d.h. außerhalb der eigenen Landes- und Bündnisgrenzen übernehmen. Weil das Verfassungsgericht auch Bündnisse kollektiver Verteidigung als Systeme kollektiver Sicherheit auffasste, bildet dieses Urteil eine weitreichende verfassungsrechtliche Grundlage für Auslandseinsätze. Einschränkend schuf das Urteil den Parlamentsvorbehalt, demnach der Bundestag dem Einsatz bewaffneter Streitkräfte zustimmen muss. "Ein Einsatz bewaffneter Streitkräfte liegt vor, wenn Soldatinnen oder Soldaten der Bundeswehr in bewaffnete Unternehmungen einbezogen sind oder eine Einbeziehung in eine bewaffnete Unternehmung zu erwarten ist", bestimmt das Parlamentsbeteiligungsgesetz (§ 2.1) (https://www.gesetze-im-internet.de/parlbg/__2.html).

System kollektiver Sicherheit

(2) Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen; er wird hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern.

Im Völkerrecht sind Interventionen nach verbreiteter Auffassung allenfalls dann zulässig, wenn sie entweder vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen nach Kapitel VII, Artikel 42 der UN-Charta (https:// www.unric.org/de/charta#kapitel7) autorisiert sind oder auf Einladung der Regierung des betroffenen Landes erfolgen und damit nach Artikel 51 der UN-Charta unter das Recht auf kollektive Selbstverteidigung fallen. Die Interpretation dieser Bestimmungen wandelt sich und ist in zentralen Aspekten auch heute noch umstritten. Die UN-Charta war mit Blick auf die Vermeidung

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 12 zwischenstaatlicher Kriege geschrieben worden, das Gewaltgeschehen nach 1990 dominieren aber innerstaatliche Kriege. Auf diese Spannung reagierte die Staatengemeinschaft mit einer Neuinterpretation rechtlicher Bestimmungen. Der Sicherheitsrat stützte die sich herausbildende Praxis zwangsbewehrter Interventionen in innerstaatliche Konflikte, indem er auch Bürgerkriege und verbreitete innerstaatliche Gewalt als Bedrohung des internationalen Friedens bezeichnete. Den Ton setzte der Sicherheitsrat mit der Resolution 733 (http://www.un.org/en/ga/search/view_doc.asp? symbol=S/RES/733(1992)) vom 23. Januar 1992, die den großen Verlust von Menschenleben und die materiellen Schäden in Somalia als Bedrohung des internationalen Friedens und der Sicherheit bezeichnete. Mit dieser Begründung autorisierte der Sicherheitsrat auch den Einsatz US- amerikanischer Streitkräfte.

Eine zusätzliche Rechtsgrundlage für Interventionen könnte mit der internationalen Schutzverantwortung (responsibility to protect) entstehen, die in das Abschlussdokument des UN- Weltgipfels von 2005 einging. Die beteiligten Staats- und Regierungschefs erklärten darin ihre Bereitschaft, militärisch einzugreifen, wenn die Regierung eines Landes daran scheitert, ihre Bevölkerung vor Völkermord, "ethnischen Säuberungen", Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen (United Nations General Assembly 2005 (http://www.un.org/en/ development/desa/population/migration/generalassembly/docs/globalcompact/A_RES_60_1.pdf): 30). Die politische Bedeutung dieser Erklärung ist bis heute umstritten.

Ebenfalls strittig sind zum einen die Spielräume bei der Umsetzung eines Mandats des Sicherheitsrats. In vielen Fällen autorisierte er eine Koalition von Staaten, mit militärischem Zwang ein Mandat durchzusetzen. Dabei nahm er in Kauf, dass die Koalition das Mandat weit auslegte oder, wie bei der Intervention in Libyen, sogar überdehnte. Die Resolution 1973 (http://www.un.org/en/ga/search/ view_doc.asp?symbol=S/RES/1973(2011)) vom 17. März 2011 autorisierte den Gewalteinsatz zur Durchsetzung einer Flugverbotszone und zum Schutz von Zivilistinnen und Zivilisten in unmittelbarer Not. Deutschland enthielt sich dabei ebenso der Stimme wie Russland und China und beteiligte sich nicht an dem folgenden militärischen Einsatz. Die Koalition von elf Staaten, darunter die USA, Großbritannien, Frankreich und weitere europäische NATO-Staaten sowie Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate nutzte diese Grundlage zum Sturz der libyschen Regierung.

Strittig ist zum anderen die Reichweite des Rechts auf Verteidigung nach Art. 51 der UN-Charta. Das betrifft die Frage, ob die Regierung eines von inneren Gewaltkonflikten betroffenen Landes zur Intervention auffordern darf. Zweifel werden besonders dann vorgetragen, wenn die Regierung, wie in Syrien, die Kontrolle über große Teile des Staatsgebiets verloren hat oder es vor Beginn des innerstaatlichen Konflikts kein Beistandsversprechen des Eingreifenden gab. Umstritten ist auch, ob das Recht auf Selbstverteidigung militärische Einsätze gegen grenzüberschreitend agierende terroristische Organisationen wie Al Qaida oder den Islamischen Staat auf dem Territorium dritter Staaten abdeckt. Dass dem so sei, meinte die Bundesregierung in ihrer Begründung des aktuellen Bundeswehreinsatzes in Syrien und Irak (http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/19/010/1901093.pdf) (Deutscher Bundestag 2018).

Einsätze der Vereinten Nationen erfolgen stets mit Mandat des UN-Sicherheitsrats; auch die friedenserhaltenden Einsätze regionaler Organisationen wie etwa der Afrikanischen Union verfügen oft über eine solche Autorisierung oder geschehen auf Einladung des Ziellands. Selbst von den politisch besonders umstrittenen humanitären militärischen Interventionen waren fast zwei Drittel vollständig durch den Sicherheitsrat mandatiert. Das zeigt ein noch unveröffentlichter Datensatz, der an der Hessischen Stiftung für Frieden und Konfliktforschung (HSFK) erstellt wurde (Dembinski/Gromes 2017: 25-26).

[An dieser Stelle befindet sich ein eingebettetes Objekt, das wir in der PDF-/EPUB-Version nicht ausspielen können. Das Objekt können Sie sich in der Online-Version des Beitrags anschauen: http:// www.bpb.de/politik/grundfragen/deutsche-verteidigungspolitik/269191/legitimitaet-von-auslandseinsaetzen]

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Wann ist ein Auslandseinsatz legitim?

Selbst wenn ein Einsatz verfassungs- und völkerrechtlich zulässig erscheint, muss er nicht legitim, also zustimmungswürdig sein. Hier kommen moralische Erwägungen ins Spiel. Besonders bekannt ist die Lehre vom "Gerechten Krieg" (Walzer 1977). Sie will die Gewaltanwendung durch hohe Rechtfertigungshürden begrenzen und fordert eine rechte Absicht und rechtmäßige Autorität, den Gewalteinsatz als letztes Mittel, Verhältnismäßigkeit und eine Aussicht auf Erfolg.

Als rechte Absicht wird in der deutschen Debatte fast ausschließlich die Solidarität mit Verbündeten und das humanitäre Motiv für zulässig erklärt. Als rechtmäßige Autorität gilt der UN-Sicherheitsrat. Da alle fünf Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates per Veto eine Mandatierung blockieren können, wie 1999 Russland bei der NATO-Intervention im Kosovo, diskutieren einige Autoren alternative Autorisierungen und verweisen dafür auf die Generalversammlung der Vereinten Nationen oder auf regionale Organisationen (ICISS 2001: 53).

Das Kriterium der "ultima ratio", des letzten Mittels, verlangt, dass das Militär erst dann zum Einsatz kommt, wenn sich eine gravierende Notlage mit anderen Mitteln nicht abwenden oder beenden lässt. Dieses Kriterium ist nicht im Sinne eines zeitlich letzten, sondern eines äußersten Mittels zu interpretieren. Im konkreten Fall fällt aber die Einschätzung schwer, ob sich eine Notlage nicht durch Vermittlung, Sanktionen oder andere Mittel unterhalb der Schwelle der militärischen Gewaltanwendung abwenden lässt. Zu diesem Problem trägt bei, dass sich Notlagen schnell zuspitzen können, die Entsendung von Truppen lange dauert und womöglich ein frühzeitiger Einsatz am ehesten Erfolg verspricht.

Verhältnismäßigkeit der Mittel bedeutet zum einen, nicht mehr Zwang einzusetzen als nötig, um die Notlage zu beenden, zum anderen die begründete Erwartung, eine Intervention werde mehr Gutes bewirken (z.B. Menschenleben retten) als Schaden anrichten (Tesón 2017: 100). Die Aussicht auf Erfolg ist wichtig, da ohne sie selbst eine rechtmäßig autorisierte Intervention, die mit rechten Absichten das Militär als letztes Mittel einsetzt, abzulehnen wäre.

Woran lässt sich der Erfolg eines Auslandseinsatzes ablesen?

Um den Erfolg von Auslandseinsätzen einzuschätzen, kann man auf die Entwicklungen im Zielland schauen. Bei friedenserhaltenden Missionen liegt die Frage nahe, ob ein Gewaltkonflikt (erneut) ausbricht. Wie eine in der Fachwelt oft zitierte Studie zeigt, verringern Friedensmissionen nach Bürgerkriegen die Wahrscheinlichkeit des Wiederausbruchs um 60 bis 85 Prozent (Fortna 2008: 116).

Bei Interventionen in laufende Konflikte lässt sich der Erfolg daran ablesen, ob die Gewalt, auf die der Einsatz reagiert, innerhalb eines bestimmten Zeitraumes aufhört oder zumindest zurückgeht, ob die Gewalt später wieder aufflammt und wie sich die Intervention auf Nachbarländer auswirkt. Wie Abbildung 2 zeigt, dauerte bei mehr als zwei Dritteln der humanitären militärischen Interventionen die Gewalt auch ein Jahr nach Beginn des Einsatzes an.

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Wie sich die tödliche Gewalt während der humanitären militärischen Intervention im Vergleich zum Zeitraum vor dem Einsatz entwickelt hat, zeigt Abbildung 3. In der großen Mehrheit der auswertbaren Fälle sank die Todesrate deutlich. Ein neuer Gewaltkonflikt trat in mehr als einem Drittel derjenigen Fälle auf, in denen nach Ende der humanitären militärischen Intervention mindestens fünf Jahre verstrichen sind. Bei fast jeder fünften humanitären militärischen Intervention fanden sich Hinweise darauf, dass sie die Lage in Nachbarländern verschlimmert hat (Dembinski/Gromes 2017: 32).

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Die Erfolgskriterien können in derselben Intervention in unterschiedliche Richtungen weisen. So folgte auf die Intervention im Kosovo ein rasches Ende des Gewaltkonflikts, doch verstärkten sich während des Einsatzes Vertreibungen und andere Übergriffe auf die Zivilbevölkerung. Zwar kam es zu keinen Rückfall in den Krieg, allerdings gelangten Waffen und Kämpfer aus dem Kosovo in die Ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien und verschlimmerten dort die Lage.

Befürworterinnen und Befürworter wie auch Gegnerinnen und Gegner eines Einsatzes neigen dazu, die zu ihrer Ansicht passenden Entwicklungen direkt auf die Intervention zurückzuführen, andere Trends jedoch mit Faktoren jenseits des Einsatzes zu erklären. Die oben präsentierten Zahlen dokumentieren jedoch nur, was während und nach der Intervention passierte, aber weisen nicht nach, dass dies aufgrund der Intervention geschah.

Manche Bewertung von Auslandseinsätzen vergleicht die realen Ereignisse mit dem, was vermutlich ohne die Intervention geschehen wäre. Solche Gedankenspiele nach dem Muster "was wäre, wenn…" können zu sehr gegensätzlichen Befunden kommen. So behauptet eine Studie, die Intervention in Libyen 2011 habe ein Massaker verhindert und unterm Strich viele Menschen gerettet (Pape 2012: 61-63). Eine andere Analyse kommt zum gegenteiligen Schluss, ohne die Intervention hätten Tausende Menschen weniger ihr Leben verloren (Kuperman 2013: 108-123).

Gerne greift die politische Debatte Entwicklungen jenseits der Gewalt auf. Endete der Gewaltkonflikt, verweisen gerade Kritikerinnen und Kritiker der Intervention auf ungelöste politische Fragen, eine hohe Arbeitslosenrate oder verbreitete Korruption (z.B. Jöst 2009: 125-126). Dauert der Gewaltkonflikt wie etwa in Afghanistan an, so sind es oft Verfechterinnen und Verfechter eines Einsatzes, die Teilerfolge unter Verweis auf die Zahl neuer Krankenhäuser oder eingeschulter Mädchen betonen (z.B. Deutscher Bundestag 2014: 7270–7280).

Weitere Kriterien der Bewertung von Auslandseinsätzen

Wie der Fall der UN-Mission in Somalia zeigt, können unabhängig von den sonstigen Trends die eigenen Verluste über die Bewertung und damit über die Fortsetzung eines Auslandseinsatzes entscheiden. Nach dem Tod von 18 ihrer Soldaten in der Hauptstadt Mogadischu im Oktober 1993 beendete die US-Regierung ihre Teilnahme an einen Einsatz, der vielen Beobachterinnen und Beobachtern erfolgreich schien (Johnson/Tierney 2006: 205-241). Was als nicht mehr vertretbare Verluste gilt, hängt von der Stärke der Interessen des Eingreifenden ab, weshalb die Einsätze in Afghanistan und im Irak im Rahmen des erklärten Krieges gegen den Terror trotz Tausender Opfer auf Seiten der Interventen fortdauern.

In die politische Bewertung eines Einsatzes fließt auch eine grundsätzliche Position zum Gebrauch militärischer Mittel ein. Gerade im linken und liberalen Spektrum gibt es Bedenken, mit Auslandseinsätzen militärische Konfliktaustragung und hohe Rüstungsausgaben zu rechtfertigen. Dabei wird auf die oft enormen Kosten eines Auslandseinsatzes verwiesen: Mittel, die viel mehr Menschen helfen könnten, wenn sie Impfprogrammen oder humanitärer Nothilfe zugutekämen (Valentino 2011: 67-70). Hingegen beruhen Vorbehalte in konservativen und rechten Kreisen vor allem auf der Sorge, Auslandseinsätze stellten internationale über nationale Verantwortung und dienten eher fremden als deutschen Interessen.

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 15 Die Potenziale einer konstruktiven Debatte nutzen

Der Streit über Auslandseinsätze wird weitergehen, erstens weil das weltweite Aufkommen von Gewaltkonflikten auf absehbare Zeit hoch bleibt und so Deutschland immer wieder vor die Entscheidung stellt, ob es an einer Mission teilnimmt. Zweitens drängen Verbündete wie Frankreich, aber auch die Ungewissheit über die weitere Politik der USA die Bundesrepublik zu einem größeren militärischen Engagement. Drittens betont die Bundesregierung schon seit geraumer Zeit, was auch der Koalitionsvertrag der neuen Großen Koalition festhält: "Deutschland will mehr Verantwortung für Frieden und Sicherheit übernehmen" (Ein neuer Aufbruch 2018: 147).

Kontroversen über Auslandseinsätze stehen einer Demokratie gut an. Fehlentscheidungen über das Ob und Wie eines Auslandseinsatzes werden unwahrscheinlicher, wenn sich Bundesregierung und Bundestag durch eine differenzierte öffentliche Debatte dazu gedrängt sehen, möglichst genau zu begründen, welche Ziele der Einsatz verfolgt und wie die eingeplanten Mittel diese Ziele erreichen sollen. Je mehr sich die Debatte nicht auf die immer wieder gleichen allgemeinen, vom Fall abgehobenen Argumente beschränkt, sondern auf den konkret anliegenden Einsatz fokussiert, desto eher kommen Lücken in der Begründung, überoptimistische Erwartungen oder andere problematische Annahmen ans Licht. Eine sorgfältige, ergebnisoffene Auswertung früherer Einsätze kann zeigen, unter welchen Umständen sie mit einer Zunahme oder einem Rückgang der Gewalt im Zielland einhergingen. Damit verspricht eine solche Evaluation, aktuelle Entscheidungen auf eine bessere Grundlage zu stellen (Dembinski/Gromes 2016).

Literatur

Bothe, Michael (2004): Friedenssicherung und Kriegsrecht, in: Wolfgang Graf Vitzthum (Hg.) Völkerrecht, Berlin: de Gruyter, 589-667.

Dembinski, Matthias/Gromes, Thorsten (2016): Auslandseinsätze evaluieren. Wie lässt sich Orientierungswissen zu humanitären Interventionen gewinnen?, HSFK-Report 8/2016, Frankfurt am Main. Online verfügbar unter: https://www.hsfk.de/fileadmin/HSFK/hsfk_publikationen/report0816.pdf (https://www.hsfk.de/fileadmin/HSFK/hsfk_publikationen/report0816.pdf).

Dembinski, Matthias/Gromes, Thorsten (2017): Ein Datensatz der humanitären militärischen Interventionen nach dem Zweiten Weltkrieg, Forschung DSF 44, Osnabrück. Online verfügbar unter: https://bundesstiftung-friedensforschung.de/wp-content/uploads/2017/09/Forschungsbericht-44.pdf (https:// bundesstiftung-friedensforschung.de/wp-content/uploads/2017/09/Forschungsbericht-44.pdf).

Deutscher Bundestag (2014): Stenografischer Bericht 76. Sitzung, Plenarprotokoll 18/76, Berlin. Online verfügbar unter: http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/18/18076.pdf (http://dipbt.bundestag.de/doc/ btp/18/18076.pdf).

Deutscher Bundestag (2015): Antrag der Bundesregierung, Drucksache 18/6866. Online verfügbar unter: http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/068/1806866.pdf (http://dip21.bundestag.de/dip21/ btd/18/068/1806866.pdf).

Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 19. Legislaturperiode. Online verfügbar unter: https://www.bundesregierung.de/Content/DE/_Anlagen/2018/03/2018-03-14-koalitionsvertrag. pdf (https://www.bundesregierung.de/Content/DE/_Anlagen/2018/03/2018-03-14-koalitionsvertrag. pdf)

Fortna, Virginia Page (2008): Does Peacekeeping Work? Shaping Belligerents’ Choices after Civil War, Princeton, NJ: Princeton University Press.

ICISS (2001): The Responsibility to Protect. Report of the International Commission on Intervention

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 16 and State Sovereignty, Ottawa: International Development Research Centre.

Jöst, Lena (2009): Kosovo – Vorgeschichte und Folgen des NATO-Krieges, in: Ruf, Werner/dies./ Strutynski, Peter/Zollet, Nadine: Militärinterventionen: verheerend und völkerrechtswidrig. Möglichkeiten friedlicher Konfliktlösung, Berlin: Karl Dietz Verlag, 101-132.

Johnson, Dominic D.P./Tierney, Dominic (2006): Failing to Win. Perceptions of Victory and Defeat in International Politics, Cambridge und London: Harvard University Press.

Kuperman, Alan J. (2013): A Model Humanitarian Intervention? Reassessing NATO’s Libya Campaign, in: International Security, 38: 1, 105-136.

Rudolf, Peter (2017): Zur Legitimität militärischer Gewalt (http://www.bpb.de/shop/buecher/ schriftenreihe/255550/zur-legitimitaet-militaerischer-gewalt), Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.

Pape, Robert A. (2012): When Duty Calls. A Pragmatic Standard of Humanitarian Intervention, in: International Security, 37: 1, 41-80.

Tesón, Fernando R. (2017): A Defense of Humanitarian Intervention, in: Ders./Van der Vossen, Bas: Debating Humanitarian Intervention. Should We Try to Save Strangers?, New York, NY: Oxford University Press, 23-150.

United Nations General Assembly (2005): 2005 World Summit Outcome, A/RES/60/1. Online verfügbar unter: http://www.un.org/en/development/desa/population/migration/generalassembly/docs/globalcompact/ A_RES_60_1.pdf (http://www.un.org/en/development/desa/population/migration/generalassembly/ docs/globalcompact/A_RES_60_1.pdf).

Valentino, Benjamin A. (2011): The True Costs of Humanitarian Intervention. The Hard Truth About a Noble Notion, in: Foreign Affairs, 90: 6, 60-73.

Walzer, Michael (1977): Gibt es den Gerechten Krieg, Stuttgart: Klett-Cotta.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autoren: Matthias Dembinski, Thorsten Gromes für bpb.de

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Auslandseinsätze der Bundeswehr Interaktive Weltkarte

9.8.2018

Wo war und ist die Bundeswehr überall im Einsatz? Wie lange schon und was kostet das eigentlich? Die interaktive Weltkarte bietet einen Überblick über laufende und abgeschlossene Auslandseinsätze der Bundeswehr.

Hier kommen Sie zur großen Ansicht der Weltkarte (https://www.bpb.de/fsd/karte- auslandseinsaetzebundeswehr) (für mobile Endgeräte geeignet)

13 Auslandseinsätze bestreitet die Bundeswehr derzeit. Von Afghanistan bis Westsahara sind dafür fast 3.500 Soldatinnen und Soldaten im Einsatz. Nach Angaben der Bundeswehr sind seit 1992 in Auslandseinsätzen 108 Soldatinnen und Soldaten ums Leben gekommen. Bis Ende 2015 sind für Auslandseinsätze etwa 19 Milliarden Euro an einsatzbedingten Zusatzausgaben angefallen.

Die interaktive Karte gibt einen Überblick über die wichtigsten Fakten zu den aktuellen Auslandseinsätzen und verweist auf zentrale Dokumente sowie weiterführende Inhalte. Die Daten wurden in öffentlich zugänglichen Quellen recherchiert. Diese Quellen finden Sie jeweils verlinkt bei den Einsätzen und in der Quellenliste unter diesem Beitrag.

An folgenden Einsätzen ist die Bundeswehr derzeit beteiligt:

Ausgewählte Daten zu laufenden Auslandseinsätzen Inhaltlicher Stand: 09.08.2018 * Die Kosten liegen bislang nur bis Ende 2015 vor.

Personal- Kosten* Einsatz Beginn Personal Obergrenze (Mio. Euro)

Kosovo Force 1999 367 800 3.400 (NATO)

United Nations Interim Forces in 2006 126 300 396 Lebanon (UNIFIL)

United Nations African Union Hybrid 2007 7 50 3,3 Mission in Darfur (UNAMID)

EU NAVFOR Somalia (Operation 2008 18 600 450 Atalanta) / Horn von Afrika

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United Nations Mission in the 2011 14 50 4,1 Republic of South Sudan (UNMISS)

EU-Trainingsmission 2013 139 300 43,8 in Mali

Multidimensional Integrated 2013 877 1.100 35,4 Stabilization Mission in Mali (MINUSMA)

United Nations Mission for the Referendum in 2013 3 4 0,2 Western Sahara (MINURSO)

Resolute Support 2015 1.193 1.300 315 (NATO) / Afghanistan

EU NAVFOR MED (Operation Sophia) / 2015 98 950 7,4 Mittelmeer

NATO-Mission Sea Guardian / 2016 204 650 noch keine bekannt Mittelmeer

United Nations Support Mission in März 2018 2 keine Obergrenze noch keine bekannt Libya (UNSMIL)

Kampf gegen den "Islamischen Staat" April 2018 408 800 noch keine bekannt (NATO) / Syrien - Irak

Nicht in der Weltkarte dargestellt sind (den Auslandseinsätzen ähnliche) sogenannte "einsatzgleiche Verpfllichtungen". In diesem Rahmen beteiligt sich die Bundeswehr derzeit z.B. an den NATO-Einsätzen "Enhanced Forward Presence" in Litauen (http://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/243279/nato- einsatz) und an einem Marineverband in der Ägäis (http://www.eurotopics.net/de/153591/nato-schickt- schiffe-in-die-aegaeis).

An folgenden ausgewählten Einsätzen war die Bundeswehr seit 1991 beteiligt:

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Ausgewählte Daten zu abgeschlossenen Auslandseinsätzen Inhaltlicher Stand: 09.08.2018 * Die Kosten liegen nur bis Ende 2015 vor. Bei einigen Einsätzen lassen sich keine Kosten mehr ermitteln.

Personal Kosten* Einsatz Beginn Dauer (max. eingesetzt) (Mio. Euro)

United Nations 5 Jahre und 2 Special Commission 1991 37 45,1 Monate (UNSCOM) / Irak

United Nations Advance Mission in 1991 5 Monate 15 x Cambodia (UNAMIC)

United Nations Transitional Authority 1 Jahr und 1992 150 16,1 in Cambodia 5 Monate (UNTAC)

Sharp Guard / Deny Flight (NATO) / 3 Jahre und 11 1992 2.000 145,4 Adria – Bosnien- Monate Hergegowina

United Nations Operation in Somalia 1993 6 Monate 2.420 179,8 (UNOSOM II)

United Nations 15 Jahre und 3 Observer Mission in 1994 20 6,1 Monate Georgia (UNOMIG)

United Nations Assistance Mission 1994 5 Monate 30 1,2 for Ruanda (UNAMIR)

United Nations Protection Force (UNPROFOR) / 1995 4 Monate 1.700 19,9 Bosnien- Herzegowina

Implementation Force (IFOR) (NATO) 1995 1 Jahr 4.000 341,7 / Bosnien- Herzegowina

Stabilization Force (SFOR I + II) (NATO) 7 Jahre und 11 1996 3.300 1.173 / Bosnien- Monate Herzegowina

Operation Libelle (Evakuierungsoperation 1997 1 Tag 323 x der Bundeswehr) / Albanien

Standing Extraction Force EXFOR 1998 6 Monate 250 5,4 (Extraction Force) (NATO) /

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Mazedonien

Allied Force in 1998 7 Monate 500 37,3 Jugoslavia (NATO)

Albanian Force (AFOR) / 1999 3 Monate 1.000 36,7 Allied Harbour (NATO)

International Force for East-Timor 1999 4 Monate 100 4,3 (INTERFET) (UN)

Essential Harvest / Amber Fox / Allied 1 Jahr und Harmony 2001 600 151,6 7 Monate (NATO) / Mazedonien

Operation Enduring Freedom (OEF) (USA und 8 Jahre und 6 2001 3.900 1.076,6 Verbündete) / Horn Monate von Afrika – Afghanistan – Kuwait

International Security Assistance Force 2001 13 Jahre 5.350 8.900 (ISAF) (NATO) / Afghanistan

EUFOR Concordia 2003 8 Monate 70 2,8 (EU) / Mazedonien

Operation Artemis (EU) / Kongo 2003 2 Monate 97 5,4 (Demokratische Republik)

United Nations Assistance Mission 13 Jahre und 7 2004 1 0,2 in Afghanistan Monate (UNAMA)

United Nations 4 Jahre und 9 Mission in Ethiopia 2004 2 1,2 Monate and Eritrea (UNMEE)

EUFOR ALTHEA 7 Jahre und 11 (EU) / Bosnien- 2004 3.000 230,9 Monate Herzegowina

African Union Mission in Sudan 2004 3 Jahre 200 2,3 (AMIS) (EU)

United Nations 6 Jahre und 2 Mission in Sudan 2005 75 8,7 Monate (UNMIS)

Aceh Monitoring Mission (AMM) (EU) / 2005 6 Monate 4 x Indonesien

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European Force 2006 4 Monate 780 43,7 (EUFOR RD Congo)

OSZE-Mission in 2008 9 Monate 15 x Georgien

Operation Active 5 Jahre und 8 Endeavour (OAE) 2010 578 11,2 Monate (NATO) / Mittelmeer

Active Fence Turkey 2 Jahre und 2012 400 49,9 (AF TUR) (NATO) 11 Monate

African-led International Support 2013 4 Monate 150 11,3 Mission in Mali (AFISMA)

Maritime Escort Mission (MEM OPCW) zur 2014 5 Monate 300 1,8 Vernichtung syrischer Chemiewaffen (UN)

European Union Force République 2014 10 Monate 80 8,8 Centrafricaine (EUFOR RCA)

EU-Trainingsmission 2014 4 Jahre 20 11,3 für Somalia

United Nations 1 Jahr und Mission in Liberia 2015 5 0,1 7 Monate (UNMIL)

Ausbildungsunterstü­ 3 Jahre und 2015 150 29,5 tzung im Nordirak 3 Monate

Kampf gegen den "Islamischen Staat" 2 Jahre und 2015 320 0,1 (NATO) / Syrien - 3 Monate Irak

In folgenden Einsätzen sind Soldaten/-innen der Bundeswehr ums Leben gekommen:

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Todesfälle* in Auslandseinsätzen der Bundeswehr Inhaltlicher Stand: 13.12.2017 * Durch Fremdeinwirkung und sonstige Umstände

Einsatz Land Todesfälle

International Security Assistance Afghanistan 55 Force (ISAF)

Kosovo Force (KFOR) Kosovo 27

Stabilization Force (SFOR I + II) Bosnien-Herzegowina 19

Multidimensional Integrated Stabilization Mission in Mali Mali 2 (MINUSMA)

Resolute Support Afghanistan 1

Ausbildungsunterstützung im Irak 1 Nordirak

Sharp Guard Adria/Bosnien-Herzegowina 1

United Nations Observer Mission in Georgien 1 Georgia (UNOMIG)

United Nations Transitional Authority Kambodscha 1 in Cambodia (UNTAC)

Fragen und Antworten

Welche Auslandseinsätze werden gezeigt?

Die Karte zeigt abgeschlossene und laufende Auslandseinsätze der Bundeswehr seit 1991. Informationen zu früheren Auslandseinsätzen der Bundeswehr (v.a. in den 1990er-Jahren und davor) sind häufig nur unvollständig zu bekommen. Um die Einsätze miteinander vergleichen zu können, haben wir uns für die Darstellung von Einsätzen entschieden, zu denen ausreichend vollständige und überprüfbare Daten vorlagen. Es kann also sein, dass Einsätze fehlen.

Nicht dargestellt sind sogenannte "einsatzgleiche Verpflichtungen". Sie gelten rechtlich nicht als Auslandseinsätze und müssen dem Deutschen Bundestag nicht vorgelegt werden. In diesem Rahmen beteiligt sich die Bundeswehr derzeit z.B. an den NATO-Einsätzen Enhanced Forward Presence in Litauen und an einem Marineverband in der Ägäis.

Warum werden nur Auslandseinsätze ab 1991 gezeigt?

Vor 1990 war die Bundeswehr vor allem im Rahmen der humanitären und Katastrophenhilfe im Ausland im Einsatz – in der Regel unbewaffnet (eine Übersicht findet sich z.B. hier (http://www.mgfa.de/html/ einsatzunterstuetzung/auslandseinsaetzederbundeswehr)). Für diese Einsätze liegen in der Regel nur unvollständige oder gar keine vergleichbaren Daten vor. Seitdem der Deutsche Bundestag regelmäßig an Entscheidungen über bewaffnete Auslandseinsätze beteiligt werden muss (Mitte der 1990er-Jahre), ist die Datenlage besser, da die Einsätze besser dokumentiert und Informationen öffentlich zugänglich gemacht werden.

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Woher stammen die Daten?

Wir haben die Zahlen und Informationen für dieses Angebot in öffentlich zugänglichen Quellen recherchiert, v.a. in offiziellen Dokumenten der Bundesregierung und des Deutschen Bundestags wie Regierungsanträgen und Plenarprotokollen. Diese Quellen finden Sie jeweils verlinkt bei den Einsätzen. Weitere wichtige Quellen finden Sie unter diesem Beitrag in der Quellenliste.

Warum sind manche Daten nicht aktuell?

Die Daten geben den Recherche-Stand zum 9. August 2018 wieder. Es kann sein, dass sich zwischenzeitlich z.B. aktuelle Personalstärken (Stand vom 01.08.2018), Kosten und Einsatzdauer einzelner Einsätze verändert haben. Zudem liegen nicht für alle Einsätze vollständige Daten vor. Wir werden die Karte in Abständen aktualisieren (z.B. wenn Mandate fortgesetzt, beendet oder neue Einsätze beschlossen werden). Tagesaktualität können wir leider nicht gewährleisten.

Welche Kosten sind bei den Auslandseinsätzen angegeben?

Bei den Kosten handelt es sich um die sogenannten einsatzbedingten Zusatzkosten, die bei Auslandseinsätzen anfallen. Darin enthalten sind z.B. Auslandsverwendungszuschläge, aber auch Material, das extra für den Einsatz angeschafft wurde. Nicht enthalten sind bspw. der Grundsold der Soldaten/-innen und Kosten für unabhängig vom Einsatz beschafftes Material (wie Waffen, Fahrzeuge und anderes Gerät).

Warum sind die Kosten nur bis Ende 2015 angegeben?

Die Recherche der Daten wurde 2016 begonnen und im August 2018 vorläufig abgeschlossen. Für das Haushaltsjahr 2016 und 2017 lagen bislang noch keine aufgeschlüsselten Ausgaben zu den einzelnen Auslandseinsätzen vor. Sobald diese Ausgaben veröffentlicht sind, werden wir sie nachtragen.

Warum sind manchmal mehr Soldaten/-innen im Einsatz, als das Mandat erlaubt?

Während eines Kontingentwechsels – also dem Zeitraum, in dem die Soldaten/-innen, die sich im Einsatz befinden, wechseln – kann es passieren, dass zwischenzeitlich die Personalobergrenze überschritten wird, also mehr Soldaten/-innen im Einsatzland sind, als das Mandat vorsieht. Meistens handelt es sich dabei nur um kleinere, kurzeitige Abweichungen, die in den Mandaten üblicherweise mitgedacht und explizit erlaubt sind.

Wie läuft eine Mandatierung eines Auslandseinsatzes ab?

Die Bundesregierung bringt einen Antrag im Bundestag ein, der das Ziel, den Umfang, die Dauer und die Kosten des Einsatzes beschreibt. Dieser Antrag durchläuft dann die zuständigen Ausschüsse im Bundestag. Der Auswärtige Ausschuss gibt schließlich eine sogenannte Beschlussempfehlung ab. Der Bundestag entscheidet dann nach bis zu drei Beratungen ("Lesungen") in einer namentlichen Abstimmung über den Antrag. Wie die Mandatierung im Detail abläuft, erklären wir in unserer Themengrafik.

Ich habe einen Hinweis/Fehler entdeckt/technische Probleme oder Fragen. An wen kann ich mich

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 24 wenden?

Schreiben Sie uns einfach eine E-Mail an [email protected]. Wir freuen uns auf Ihr Feedback!

Verwendete und weiterführende Quellen

• Sachstände des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages zu den laufenden Auslandseinsätzen der Bundeswehr (WD 2 - 3000 - 037/16, Stand März 2016) (https://www. bundestag.de/blob/419342/463358451cfc91bcf7dc3919b76072d9/wd-2-037-16-pdf-data.pdf)

• Übersicht des Deutschen Bundestages zu aktuellen Mandaten (https://www.bundestag.de/ ausschuesse/ausschuesse18/a12/auslandseinsaetze/auslandseinsaetze/auslandseinsaetze/200032)

• Übersicht der Bundeswehr zu den aktuell im Ausland eingesetzten Soldaten/-innen (https://www. bundeswehr.de/portal/a/bwde/!ut/p/c4/04_SB8K8xLLM9MSSzPy8xBz9CP3I5EyrpHK9pPKUVL3­ UzLzixNSSqlS90tSk1KKknMzkbL2qxIyc1Dz9gmxHRQDYLHC-/)

• Übersicht der Bundeswehr zu in Auslandseinsätzen zu Tode gekommenen Soldaten/-innen (https://www.bundeswehr.de/portal/a/bwde/start/gedenken/todesfaelle_im_einsatz)

• "Unterrichtungen der Öffentlichkeit" der Bundeswehr zur aktuellen Lage in den Einsatzgebieten (https://www.bundeswehr.de/portal/a/bwde/start/einsaetze/ueberblick/lage)

• Chronologische Übersicht des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (http://www.mgfa.de/html/einsatzunterstuetzung/auslandseinsaetzederbundeswehr)

• Themengrafik und Erklärtext zur Mandatierung von Auslandseinsätzen

• Dossier Innerstaaltliche Konflikte auf bpb.de mit Länderporträts und Grundlagentexten (http:// www.bpb.de/internationales/weltweit/innerstaatliche-konflikte/)

• Informationsportal Krieg und Frieden mit interaktiven Weltkarten und Hintergrundtexten: sicherheitspolitik.bpb.de (http://sicherheitspolitik.bpb.de)

• Newsletter Sicherheitspolitische Presseschau der bpb (http://www.bpb.de/internationales/ weltweit/sicherheitspolitische-presseschau/)

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Der Bundeswehreinsatz in Afghanistan Ein Beitrag anlässlich 15 Jahren Auslandseinsatz der Bundeswehr

Von Thomas Wiegold 15.12.2016 Thomas Wiegold ist Journalist und Blogger (augengeradeaus.net(http://augengeradeaus.net)) in Berlin und hat seit Somalia 1993 von allen deutschen Auslandseinsätzen berichtet – zunächst als Korrespondent für Associated Press und das Magazin Focus und später als freiberuflicher Journalist u.a. für Spiegel, Zeit Online und den NDR. Er schreibt vor allem über Sicherheits- und Verteidigungspolitik, Militär und Bundeswehr.

Seit Ende 2001 sind deutsche Soldaten in Afghanistan. Was als sechsmonatige Friedensmission begann, wurde für die Bundeswehr zum langjährigen Kampfeinsatz – mit Verwundeten und Gefallenen. Ein schnelles Ende des Einsatzes ist nicht in Sicht.

Die Bundeswehr wird voraussichtlich im August 2021 aus Afghanistan abgezogen. Damit soll der Einsatz nach 20 Jahren enden. Mehr dazu bei Hintergrund aktuell. (http://www.bpb.de/politik/ hintergrund-aktuell/334345/nach-20-jahren-nato-truppenabzug-aus-afghanistan)

Soldaten der Bundeswehr in Baghlan am 19. Oktober 2012: Der Außenposten in Nordafghanistan galt lange als gefährlichstes Einsatzgebiet der Bundeswehr. (© picture-alliance, JOKER)

Zwei Tage vor Weihnachten beschließt der Deutsche Bundestag im Jahr 2001 eine der längsten und blutigsten Missionen, in die die Bundesrepublik Deutschland ihre Streitkräfte schickte. "Wir entscheiden in einer Situation, in der der Frieden in Afghanistan (http://www.bpb.de/internationales/weltweit/ innerstaatliche-konflikte/155323/afghanistan) wirklich näher gerückt ist", ruft Bundeskanzler Gerhard

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 26

Schröder am 22. Dezember 2001 den Abgeordneten im Berliner Reichstag zu. Und gleichzeitig verspricht er, wie es der Ansicht im Regierungslager entspricht, einen kurzen, gezielten Einsatz der Bundeswehr. Auf sechs Monate ist diese Mission zunächst angelegt: "Es handelt sich um ein von den Aufgaben her, vom Einsatzort her und von der Zeit her begrenztes Mandat."

Die Abstimmung (http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/14/14210.pdf) fällt eindeutig aus: Von 581 Abgeordneten befürworten 538 den Einsatz, getragen von der damaligen Regierungskoalition aus SPD und Grünen ebenso wie von der Union und der FDP. Die 35 Gegenstimmen kommen überwiegend aus der PDS (heute Die Linke), aber auch von einigen Abgeordneten aus FDP, Union und SPD. Acht Abgeordnete enthalten sich der Stimme. Die breite Mehrheit hält sich auch in den folgenden Jahren im Parlament, während die Bevölkerung den Einsatz in Afghanistan zunehmend kritisch beurteilt[1].

15 Jahre nach der Abstimmung stehen noch immer deutsche Soldaten in Afghanistan. 56 von ihnen verloren am Hindukusch ihr Leben (https://www.bundeswehr.de/portal/a/bwde/start/gedenken/ todesfaelle_im_einsatz/!ut/p/z1/04_Sj9CPykssy0xPLMnMz0vMAfIjo8zinSx8QnyMLI2MfEKcnQ0czU­ yNXLwtgwwMPI31wwkpiAJKG-AAjgb6wSmp-pFAM8xxmuFoph-sH6UflZVYllihV5BfVJKTWqKXmAx­ yoX5kRmJeSk5qQH6yI0SgIDei3KDcUREAm984Xg!!/dz/d5/L2dBISEvZ0FBIS9nQSEh/#par4), der überwiegende Teil durch Sprengfallen der Taliban oder in Gefechten mit den Aufständischen. Ob das Land auf Dauer stabil bleibt oder die Gegner der Regierung in Kabul wieder an Macht gewinnen, kann derzeit niemand voraussagen.

[An dieser Stelle befindet sich ein eingebettetes Objekt, das wir in der PDF-/EPUB-Version nicht ausspielen können. Das Objekt können Sie sich in der Online-Version des Beitrags anschauen: http:// www.bpb.de/politik/grundfragen/deutsche-verteidigungspolitik/238332/afghanistan-einsatz]

"Uneingeschränkte Solidarität"

Das scheint im Dezember 2001 noch ganz anders. Die deutsche Beteiligung an der International Security Assistance Force (ISAF) gilt als wenig kriegerischer Schritt. Schon im November hatte der Bundestag einige Soldaten auf den Weg geschickt: Im Rahmen der "uneingeschränkten Solidarität", die Kanzler Schröder den USA nach den Anschlägen (http://www.bpb.de/politik/hintergrund- aktuell/233675/vor-15-jahren-terroranschlaege-in-den-usa-9-11) in New York und Washington am 11. September zugesichert hatte (http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/14/14186.pdf), war ein kleines Kontingent deutscher Spezialkräfte zusammen mit US-Truppen zur Terrorbekämpfung in Afghanistan eingesetzt. Enduring Freedom (OEF), Dauerhafte Freiheit, hieß die Operation unter US-Kommando. Der Einsatz war innerhalb der rot-grünen Regierung so umstritten, dass sich Bundeskanzler Schröder gezwungen sah, für die Zustimmung die Vertrauensfrage im Bundestag zu stellen.

ISAF aber soll eine ganz andere Mission werden: Die Soldaten sollen nicht in erster Linie den Terror bekämpfen, sondern den neu eingesetzten afghanischen Übergangspräsidenten Hamid Karzai unterstützen und das Land stabilisieren. Auf Grundlage der UN-Resolution 1386 (http://www.un.org/ depts/german/sr/sr_01-02/sr1386.pdf) und eines Militärisch-Technischen Abkommens (http:// webarchive.nationalarchives.gov.uk/+/http:/www.operations.mod.uk/isafmta.pdf) mit der Übergangsregierung in Kabul beginnen einzelne Staaten, Truppenkontingente zu entsenden; die Führung dieses Einsatzes übernehmen zuerst die Briten.

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Am 14. Januar 2002 patrouillieren erstmals Soldaten der Bundeswehr durch Kabul. Sie fahren noch in ungepanzerten Fahrzeugen, tragen Barett statt Helm und haben keine Waffen im Anschlag. (© picture-alliance/dpa)

Erst Kabul, dann Kundus

Das erste Jahr nach dem Einsatzbeginn im Januar 2002 ist geprägt vom Bild einer Friedensarmee. In offenen Geländewagen patrouillieren die Bundeswehrsoldaten durch die afghanische Hauptstadt Kabul, Politiker und Journalisten auf Besuch – werden in örtlich angemieteten Bussen durch die Gegend gefahren. ISAF konzentriert sich auf Kabul und die unmittelbare Umgebung; einen Auftrag, die Unterstützung der Karzai-Regierung auf das ganze Land auszudehnen, sehen die beteiligten Staaten nicht – in den Provinzen kümmern sich doch die USA und einige Verbündete unter dem Dach der Operation Enduring Freedom um den Kampf gegen die Taliban.

Das ändert sich im Frühjahr 2003. Das von Kanzler Schröder angekündigte halbe Jahr ist längst verstrichen. Langsam ist auch in Deutschland klar, dass Afghanistan eine sehr langfristige Aufgabe wird. Nahezu gleichzeitig ereignen sich verschiedene Dinge, die den Kurs setzen für die kommenden Jahre: Nachdem anfangs der Oberbefehl und die Steuerung der ISAF-Truppen zwischen mehreren Nationen wechselte, übernimmt die NATO dauerhaft die Führung der Mission. Und die ISAF-Nationen beschließen, ihr Operationsgebiet auf ganz Afghanistan auszuweiten (http://www.un.org/Depts/ german/sr/sr_03-04/sr1510.pdfX). Dabei müssen sie auch ein abnehmendes Interesse der USA ausgleichen: Deren Truppen sind inzwischen im Irak (http://www.bpb.de/internationales/weltweit/ innerstaatliche-konflikte/54603/irak) im Einsatz, Afghanistan ist an die zweite Stelle gerückt.

Nach Gesprächen zwischen den damaligen Verteidigungsministern Peter Struck (Deutschland, SPD) und Donald Rumsfeld (USA, Republikanische Partei) übernehmen die Deutschen bei dieser Ausweitung eine Vorreiterrolle: Das Regionale Wiederaufbauteam (PRT, Provincial Reconstruction Team) in der nordafghanischen Provinz Kundus, das die Bundeswehr im Herbst 2003 von den US- Amerikanern übernommen hatte, wird die erste ISAF-Station außerhalb Kabuls und gilt als vergleichsweise friedlich.

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 28 Gezielte Anschläge und erste Verluste

Vor der Übernahme des PRT Kundus hatte die Bundeswehr allerdings in Kabul erleben müssen, wie verwundbar die internationale Truppe ist. Auf dem Weg zum Flughafen, den Rückflug in die Heimat vor Augen, sterben im Juni 2003 vier deutsche Soldaten bei einem Sprengstoffanschlag auf ihren Bus – das dünne Blech des Fahrzeugs bot keinerlei Schutz. 29 Soldaten werden verwundet, einige von ihnen schwer. Es ist der erste Anschlag in Afghanistan, der sich gezielt gegen die Deutschen richtet.

Die Anschläge lassen überlebende Soldaten traumatisiert zurück. Im Film "Ausgedient" von Michael Richter berichtet einer der Busfahrer vom verheerenden Anschlag im Juni 2003. +++ Hinweis: Der Ausschnitt zeigt drastische Bilder. (http://www.bpb.de/mediathek/217271/ausgedient)

Kundus allerdings gilt als ruhige Zone, in der die Deutschen eine Insel der Stabilität errichten und ausbauen. Zunächst in einem gemieteten Gehöft mitten in der Stadt, bewacht von der Privatarmee des damaligen afghanischen Verteidigungsministers Fahim. Recht bald aber beginnt der Bau eines Feldlagers draußen am Flughafen. Auch das, so heißt es bei Baubeginn, nur als vorübergehende Maßnahme – wenn die Stabilität im Land gesichert sei, sollten die Afghanen das Gelände und die Gebäude übernehmen. Und in der Umgebung sollen die deutschen Soldaten nicht nur für Sicherheit sorgen, sondern beginnen auch eigene Projekte wie den Bau von Brunnen in abgelegenen Dörfern oder die Instandsetzung von Schulen, die das Leben der Bevölkerung verbessern sollen.

Nach einer langen, ruhigen Phase wird das alles anders. Ab dem Jahr 2006 häufen sich die Anschläge auf deutsche Patrouillen, gezielt werden aus Konvois die ungepanzerten Fahrzeuge herausgesprengt. Die Region um Kundus wandelt sich von einer Insel der Stabilität zu einem Ort der Auseinandersetzungen – auch wenn zunächst im Westen niemand so recht ernst nimmt, wovor der Think Tank "Senlis Council" in einer Studie (http://www.icosgroup.net/2006/report/afghanistan-five- years-later/index.html) warnt: Die "Rückkehr der Taliban".

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 29

Kampfeinsatz: Bundeswehrsoldaten müssen sich in Afghanistan tödlichen Gefechten stellen. Das führt zu einem Wandel des Selbstbildes der Soldaten, die sich zunehmend als professionelle Kämpfer sehen. Ein Soldat auf einer Patroullie in Nawabad hat auf seinen Helm geschrieben: "Leg dich mit den Besten an und du wirst sterben wie alle dann!" (© picture-alliance, JOKER)

Bundeswehr im Kriegseinsatz

Die Bundeswehr bekommt das am deutlichsten im Mai 2007 zu spüren. Verwaltungsbeamte der Truppe, wie üblich als Reservisten in Uniform und bewaffnet unterwegs, wollen auf dem Markt in Kundus Kühlschränke für das Feldlager kaufen. Ein Selbstmordattentäter reißt drei von ihnen in den Tod, zudem mehrere afghanische Zivilisten.

Die Mission wird zu einem Kriegseinsatz – auch wenn in Deutschland dieser Begriff vorerst vermieden wird. Für das Empfinden der Soldaten am Hindukusch aber bewegen sie sich im Kriegsgebiet, mit einem überwiegend unsichtbaren Gegner, der vor allem mit Sprengfallen operiert. Immer wieder fallen deutsche Soldaten, das PRT Kundus wird regelmäßig mit Raketen beschossen. Zu fassen sind die Angreifer nie.

In Deutschland wird das zur Kenntnis genommen, wenn der Verteidigungsminister wieder einen Todesfall verkünden muss. Bis zum September 2009. Am 4. September ordnet der damalige deutsche PRT-Kommandeur Oberst Georg Klein einen Luftangriff auf zwei von Taliban entführte Tanklaster an, die einige Kilometer vom Feldlager entfernt am Kundus-Fluss feststecken. Dabei sterben zahlreiche Zivilisten, die auf kostenlosen Brennstoff gehofft hatten.

Der Luftangriff hat gewaltige Auswirkungen in Deutschland, am Ende müssen ein Minister und der Generalinspekteur zurücktreten, ein Untersuchungsausschuss und Gerichtsverfahren folgen. In einem wesentlichen Punkt ändern die deutsche Justiz und dann auch die Politik ihre Ansicht: In Afghanistan herrsche Krieg, und das Vorgehen deutscher Soldaten richte sich nach dem Völkerrecht und nicht nach dem deutschen Strafgesetzbuch. Strafrechtlich bleibt der Befehl für Oberst Klein ohne Folgen.

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56 Soldaten der Bundeswehr sind bislang in Afghanistan gestorben. Die Gefallenen werden zur Bestattung in Luftfrachtmaschinen nach Deutschland überführt, wie hier am 21. April 2010 auf dem Flughafen Köln/Bonn. Die vier toten Soldaten waren bei einem Gefecht in der Provinz Baghlan getötet worden. (© picture-alliance/dpa)

Gefechte und Gefallene

Der Krieg rund um Kundus findet 2010 weitgehend vor der Haustür des deutschen Feldlagers statt: Wenige Kilometer westlich, im Bezirk Char Darrah. Kundus und die strategisch wichtigen Punkte Höhe 431 und Höhe 432 sind die Orte, die für Deutschland den Einsatz in Afghanistan markieren.

Dieser erreicht seinen Tiefpunkt für die Bundeswehr am Karfreitag 2010. In der Ortschaft Isa Khel geraten deutsche Soldaten in einen Hinterhalt. Es folgt ein stundenlanges Gefecht. In dem Schusswechsel fallen drei deutsche Soldaten, mehrere werden teils schwer verwundet. Für die Aufständischen ist das "Karfreitagsgefecht" ein Propagandaerfolg, für Deutschland ein Schock.

Im Vergleich zu ihren Verbündeten sind die Gefechte und Opferzahlen der Bundeswehr jedoch deutlich geringer, vor allem gegenüber denen der US-Truppen und denen der Briten. Die Aufstockung der internationalen Truppen in der folgenden Zeit, auch hier vor allem seitens der USA, spiegelt sich aber auch im deutschen Engagement wieder: Mit 5.433 Soldaten erreicht die deutsche Truppenstärke in Afghanistan im Jahr 2011 ihre höchste Zahl.

Das deutsche Engagement gilt dabei nicht nur Kundus und Umgebung, auch wenn das in der Heimat meist so wahrgenommen wird. Unter deutschem Befehl ist das ISAF-Regionalkommando Nord für ein Gebiet zuständig, das halb so groß ist wie Deutschland. Deutsche Soldaten sind weit im Osten in der unwegsamen Provinz Badakshan stationiert, im Westen kämpfen sie in der Provinz Badghis gegen die Taliban.

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Hoch gerüstet: Statt in ungepanzerten Fahrzeugen patrouillieren deutsche Soldaten im Oktober 2012 mit griffbereiter Waffe, Kampfausrüstung und mit geschützen Fahrzeugen, die über schwere Waffen verfügen. Hier bei einer Minensuche im nordafghanischen Kundus. (© picture-alliance, JOKER)

Das Ende von ISAF

Unterdessen setzt die internationale Gemeinschaft darauf, die Verantwortung für die Sicherheit in den Regionen schrittweise an die Afghanen zu übertragen, deren Sicherheitskräfte, Polizei und Militär, mit viel Ausbildungshilfe und Geld aus dem Westen aufgebaut werden. Formal funktioniert das auch. Im Oktober 2013 übergibt die Bundeswehr das Feldlager in Kundus an die Afghanen.

Im Camp Marmal, dem großen internationalen Feldlager in Masar-i-Scharif in der Nordprovinz Balkh, bleibt die Bundeswehr aber präsent – auch als die internationalen Truppen den ISAF-Einsatz zum Jahresende 2014 auslaufen lassen (http://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/197874/das-ende- der-isaf-mission-in-afghanistan-16-12-2014). Auf ihn folgt die Mission "Resolute Support". Diese soll nicht mehr mit eigenen Soldaten in die Kämpfe zwischen den afghanischen Sicherheitskräften und den Aufständischen eingreifen, sondern nur noch Polizei und Armee auf ihrem weiteren Weg begleiten: "Train, Assist, Advise" heißt die neue Aufgabe: Ausbilden, unterstützen und beraten.

Rund 1.000 deutsche Soldaten, die meisten davon in Masar-i-Scharif, sind weiterhin in Afghanistan präsent. Sie greifen zwar nicht ein, wenn die Taliban – wie 2015 und erneut in diesem Jahr – die Stadt Kundus vorübergehend unter ihre Kontrolle bringen. Aber sie sitzen mit den afghanischen Kommandeuren im Lagezentrum, um ihnen das sinnvollste Vorgehen gegen die Aufständischen zu empfehlen.

[An dieser Stelle befindet sich ein eingebettetes Objekt, das wir in der PDF-/EPUB-Version nicht ausspielen können. Das Objekt können Sie sich in der Online-Version des Beitrags anschauen: http:// www.bpb.de/politik/grundfragen/deutsche-verteidigungspolitik/238332/afghanistan-einsatz]

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 32 Bundeswehr bleibt vorerst am Hindukusch

Der Einsatz am Hindukusch bleibt damit vorerst die größte und teuerste Auslandsmission der Bundeswehr. Fast 10 Milliarden Euro hat der Einsatz in Afghanistan bis heute allein an "einsatzbedingten Zusatzausgaben" wie bspw. Einsatzzuschlägen gekostet. Und darin sind die Gehälter der Soldaten und Kosten für die Beschaffung von auch für den normalen Bundeswehr-Betrieb genutztem Material und Fahrzeugen noch gar nicht enthalten.

Eigentlich hatten sich die Bundeswehrsoldaten - wie ihre Kameraden aus anderen Nationen – darauf eingestellt, diese Präsenz im Norden des Landes demnächst zu beenden, nur noch eine Kernmannschaft sollte in Kabul bleiben. Das ist angesichts der weiterhin instabilen Lage am Hindukusch wieder in weite Ferne gerückt. Bis 2020, so die jüngsten Überlegungen der NATO (http:// www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_133171.htm?selectedLocale=en), könnte die Unterstützung für die Regierung in Kabul entscheidend bleiben, um das Land nicht wieder im Chaos versinken zu lassen.

Am 15. Dezember 2016 hat der Deutsche Bundestag der Verlängerung von "Resolute Support" um ein weiteres Jahr zugestimmt. Aus dem auf sechs Monate angelegten Einsatz wurden eineinhalb Jahrzehnte. Und es werden, so sieht es derzeit aus, noch ein paar Jahre mehr.

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Weiterführende Literatur und Links

Clair, Johannes (2012): Vier Tage im November – Mein Kampfeinsatz in Afghanistan, u.a. Ullstein Verlag, Berlin.

Glatz, Rainer L./ Tophoven, Rolf (Hrsg., 2015): Am Hindukusch – und weiter? Die Bundeswehr im Auslandseinsatz. Erfahrungen, Bilanzen, Ausblicke (http://www.bpb.de/shop/buecher/schriftenreihe/205485/ am-hindukusch-und-weiter), erschienen in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn.

Münch, Philipp (2015): Die Bundeswehr in Afghanistan – Militärische Handlungslogik in internationalen Interventionen, Rombach Verlag, Freiburg.

Seiffert, Anja/ Langer, Phil C./ Pietsch, Carsten (Hrsg. 2012): Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Sozial- und politikwissenschaftliche Perspektiven, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden.

Plenarprotokoll der Debatte und Abstimmung im Deutschen Bundestag am 22. Dezember 2001 (http:// dipbt.bundestag.de/doc/btp/14/14210.pdf)

Übersicht des Deutschen Bundestags über alle ISAF-Mandate (Anträge der Bundesregierung) (https:// www.bundestag.de/ausschuesse18/a12/auslandseinsaetze/auslandseinsaetze/isaf_bisherige_mandate/247448)

Liste der im ISAF-Einsatz durch "Feindeinwirkung" gefallenen deutschen Soldaten auf augengeradeaus.net (http://augengeradeaus.net/2014/12/zum-ende-von-isaf-die-deutschen-gefallenen- in-afghanistan/)

Chronologie auf augengeradeaus.net: Es begann als "Insel der Stabilität": Zehn Jahre Bundeswehr in Kunduz (http://augengeradeaus.net/2013/10/kundus-zehn-jahre-bundeswehr/)

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Thomas Wiegold für bpb.de

Fußnoten

1. Für eine Übersicht der Entwicklung der Einstellungen der deutschen Bevölkerung u.a. zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr siehe: Studien zum Sicherheits- und verteidigungspolitischen Meinungsklima in der Bundesrepublik Deutschland durch das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Diese sind online verfügbar unter: http://www.mgfa.de/ html/publikationen/sozialwissenschaften/forschungsbberichte (http://www.mgfa.de/html/publikationen/ sozialwissenschaften/forschungsbberichte).

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Geschichte der Bundeswehr

1.1.2019

Mit der Gründung der Bundeswehr und der Nationalen Volksarmee der DDR standen erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wieder deutsche Soldaten unter Waffen - und sich gegenüber. Die Remilitarisierung und Aufrüstung der Bundesrepublik Deutschland im Kalten Krieg war gesellschaftlich wie politisch umstritten. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und der deutschen Wiedervereinigung standen die deutschen Streitkräfte vor neuen inneren und äußeren Herausforderungen.

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Die Tradition der Bundeswehr

Von Heiko Biehl 29.6.2018 Dr. phil., geb. 1971; Leiter des Forschungsbereichs Militärsoziologie am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Zeppelinstraße 127/128, 14471 Potsdam. [email protected]

Tradition spielt nach wie vor eine große Rolle in der Bundeswehr. Sie lebt von der öffentlichen Auseinandersetzung über ihren Anspruch und ihre Gültigkeit, aber auch über ihr historisches Erbe. Ihr Verständnis ist einem stetigen Wandel ausgesetzt.

"Einigkeit Recht Freiheit" steht auf dem Koppel eines Rekruten, aufgenommen am Donnerstag (17.03.2011) auf dem Nappenplatz in Bad Salzungen bei der Vereidigung. (© picture-alliance/dpa) Im März 2018 hat Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen einen neuen Traditionserlass für die Bundeswehr in Kraft gesetzt. Dem gingen intensive Diskussionen in den Streitkräften, in Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit voraus. Anstoß hierzu war nicht zuletzt der Terrorismusverdacht gegen einen mutmaßlich rechtsextremen Bundeswehroffizier. Der Fall löste Anfang 2017 eine Debatte (https:// www.eurotopics.net/de/178956) um den Umgang mit rechtsextremen Vorfällen und Wehrmachtserinnerungen innerhalb der Bundeswehr aus.

Der neue Erlass (https://www.bmvg.de/resource/blob/23234/6a93123be919584d48e16c45a5d52c10/20180328- die-tradition-der-bundeswehr-data.pdf), der die bislang gültigen Richtlinien aus dem Jahr 1982 ersetzt, betont die zentrale Stellung der eigenen Geschichte für die Tradition der Bundeswehr. Mit dieser Schwerpunktsetzung wird jedoch kein Ende der öffentlichen Auseinandersetzungen über den Anspruch und die Gültigkeit militärischer Tradition einhergehen – im Gegenteil. Auch künftig sind Kontroversen über das historische Erbe der deutschen Streitkräfte zu erwarten.

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Definition und Funktioonen militärischer Tradition

Tradition ist Streitkräften wichtig. Dies belegen die vielfältigen Bemühungen, Vergangenes zu bewahren, und ihm Ausdruck in militärischen Bräuchen und Sitten, Ritualen und Zeremonien zu geben. Doch all diese Formen und Förmlichkeiten sind zunächst einmal äußerlich – denn Tradition ist mehr.

Die Bundeswehr versteht – laut dem neuen Erlass – Tradition als Bestandteil ihres "werteorientierten Selbstversta ndnisses", das auf der "kritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, auf den ethischen Geboten der Konzeption der Inneren Fu hrung und auf ihrer gesellschaftlichen Integration als Armee der Demokratie" fußt. Tradition ist demnach eine bewusste und wertgebundene Auswahl aus der Vergangenheit, die sich an den Werten des Grundgesetzes und den Aufgaben der Bundeswehr orientiert. Entsprechend dieses Verständnisses enthält der aktuelle Traditionserlass keinen eng umrissenen Kanon an traditionswürdigen Personen, Ereignissen und Bezügen. Vielmehr sind Traditionsstiftung und Traditionspflege "dynamisches und niemals abgeschlossenes Handeln, das sich allen Versuchen entzieht, es zentral oder dauerhaft festlegen zu wollen". Damit bietet Tradition eine wertgebundene Auseinandersetzung mit der Vielzahl und der Komplexität historischer Persönlichkeiten, Handlungen und Prozesse und gibt Auskunft über die normativen Orientierungen und Identitäten von Streitkräften.

Maßstab für das Traditionsverständnis und die Traditionspflege der Bundeswehr sind die Werteordnung des Grundgesetzes sowie ihr heutiger Auftrag. Ziel der Traditionspflege ist neben der Stärkung des inneren Zusammenhalts die Selbstvergewisserung durch Ausbildung eines demokratischen Selbstverständnisses der Soldatinnen und Soldaten. Deshalb können historische Ereignisse oder militärische Leistungen nicht nur aufgrund ihres soldatischen oder handwerklichen Stellenwertes betrachtet und bewertet werden. Militärische Professionalität und soldatisches Können alleine reichen nicht aus, um Traditionen für die Bundeswehr zu stiften. Historische Beispiele fu r soldatische Tugenden, wie Tapferkeit, Treue, und Kameradschaft, können in der Bundeswehr zwar Anerkennung erfahren. Sie sind jedoch stets in ihrem historischen Umfeld zu betrachten und in Zusammenhang mit den ihnen zugrundeliegenden Intentionen und Überzeugungen zu beurteilen.

Militärische Traditionen erfüllen mehrere Funktionen. Sie wirken gleichermaßen in die Streitkräfte und in die Gesellschaft hinein, was angesichts abweichender Interessen, Normen und Erwartungen zu Spannungen führen kann. Militärische Traditionen bewahren das kulturelle und historische Erbe, sie vermitteln den Soldaten handlungsleitende Vorstellungen und Ideen und bieten ihnen Handlungssicherheit. Zugleich kommunizieren Traditionen ein bestimmtes Selbstbild nach innen und außen und positionieren die Streitkräfte in der Öffentlichkeit. Vor allem aber ist Tradition ein entscheidendes Feld der Selbstverständigung. Sie ist Ausdruck der eigenen Identität und damit nicht nur Teil der historischen, sondern mehr noch der politischen und gesellschaftlichen Verortung des Militärs. Ziel der Traditionspflege der Bundeswehr ist es – im Einklang mit den Vorgaben der Inneren Führung –, die deutschen Streitkräfte in die Demokratie einzubinden und das Verständnis der Bundeswehrsoldaten als Staatsbürger in Uniform zu stärken.

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 37 Traditionslinien der Bundeswehr

Die deutsche Geschichte – zumal die deutsche Militärgeschichte – ist von "Brüchen und Zäsuren" geprägt. Das erschwert die Suche nach einer Tradition für die Bundeswehr. In Auseinandersetzung mit der Geschichte vor 1945 sowie mit der Geschichte der DDR und ihrer Nationaler Volksarmee (NVA) benennt der neue Traditionserlass Grenzen und Kriterien, wie sich die Bundeswehr zum widersprüchlichen Erbe deutscher Geschichte verhält. Die deutsche Streitkräfte vor 1918 werden als "stabilisierender Bestandteil einer vornehmlich kleinstaatlichen und u berwiegend dynastischen Ordnung" verstanden und die Reichswehr der Weimarer Republik als "Staat im Staate" charakterisiert. Die Wehrmacht der nationalsozialistischen Diktatur diente als Instrument einer rassenideologischen Kriegführung (http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/der-zweite-weltkrieg/199406/die- wehrmacht-struktur-entwicklung-einsatz) und kann daher nicht traditionsstiftend wirken. Ebenso wenig kann die Bundeswehr in der Tradition der NVA als "sozialistische Klassen- und Parteiarmee" der DDR stehen. Einzelne Personen, Handlungen und Ereignisse aus diesen Epochen können für die heutigen Soldatinnen und Soldaten nur dann vorbildhaft sein, wenn sie sich an den Werten und Normen des Grundgesetzes messen lassen können.

Hinsichtlich der historischen Inhalte verfügt der aktuelle Erlass eine markante Neuerung: Zentraler Bezugspunkt für die Tradition der Bundeswehr soll deren eigene Geschichte sein. Diese Fokussierung hebt sich von der Traditionspflege der letzten Jahrzehnte ab, die auf drei Säulen basierte: Neben der bundeswehreigenen Geschichte erfuhren bisher die preußischen Reformer und der militärische Widerstand explizite Anerkennung. So erinnerten Namen wie von Scharnhorst, vom Stein, von Hardenberg, von Clausewitz und von Gneisenau an die Modernisierungsanstrengungen des frühen 19. Jahrhunderts in Staat und Armee.

Preußische Reformer und militärischer Widerstand

Im neuen Traditionserlass treten zwei zuvor zentrale Traditionslinien der Bundeswehr in den Hintergrund: zum einen die sogenannten preußischen Reformer, zum anderen der deutsche Widerstand gegen den Nationalsozialismus.

Zu den preußischen Reformern zählen eine Reihe von Militärs und Staatsmännern, die Anfang des 19. Jahrunderts – nach den Befreiungskriegen gegen Napoleon – die preußische Armee reformierten. Einige der Reformideale wie die Bildungsreform, die (bedingte) Öffnung des Offizierkorps für Bürgerliche, das Leistungsprinzip oder die Erziehung zum mitdenkenden Gehorsam – ganz im Gegensatz zum Kadavergehorsam, dem blinden Befolgen von Befehlen – sind für die Bundeswehr weiterhin gültig und werden durch die Benennung von Kasernen und durch Symbole und Rituale wach gehalten – wie der Große Zapfenstreich oder das Eiserne Kreuz, das seit Beginn ein Hoheitsabzeichen der Bundeswehr ist. Der aktuelle Traditionserlass betrachtet die politisch-staatliche Verankerung der Reformer jedoch kritisch.

Zum deutschen militärischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus werden vor allem die Beteiligten des gescheiterten Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944 gezählt. Der 20. Juli nahm bislang eine zentrale Stellung im Traditionskanon der Bundeswehr ein, wird aus zweierlei Richtung aber ebenfalls kritisch betrachtet. Zum einen ist aus der historischen Forschung hinlänglich bekannt, dass die Vertreter des militärischen und zivilen Widerstandes keineswegs allesamt republikanischen und demokratischen Überzeugungen nachhingen, sondern in Teilen restaurative und reaktionäre Vorstellungen verfolgten. Zum anderen wird in Frage gestellt, inwieweit die damaligen Ereignisse und Handlungen Vorbildcharakter für die heutigen Soldatinnen und Soldaten haben können. Widerstand gegen Unrecht und Vernichtung gehört zweifelsohne zum Traditionskanon der Bundeswehr, aber die historischen Erfahrungen in einem totalitären Regime sind auf das Verhältnis von Politik und Streitkräften in einer Demokratie nur bedingt übertragbar.

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 38

Eine weitere, wenn nicht die wesentliche Säule der Traditionspflege der Bundeswehr bildete bislang der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die Öffentlichen Gelöbnisse, die jährlich am 20. Juli vor dem Reichstag und im Verteidigungsministerium in Berlin abgehalten werden, stellen die deutschen Streitkräfte öffentlichkeitswirksam in diese Tradition. Zudem ist das Verteidigungsministerium im Berliner Bendlerblock beheimatet, wo die Gedenkstätte Deutscher Widerstand u. a. an die Gruppe um Oberst Stauffenberg erinnert. Damit werden Zivilcourage, moralische Fundierung, Wertbindung und Verantwortungspflicht soldatischen Handelns sowie die Grenzen von Befehl und Gehorsam betont.

Aus der bundeswehreigenen Geschichte hebt der aktuelle Erlass die Verteidigung und den Schutz der Bundesrepublik, die Innere Führung mit der Integration der Streitkräfte in die Gesellschaft, den Dienst der Soldatinnen und Soldaten für das demokratische Staatswesen, die feste Einbindung als Bündnisarmee in die Nordatlantische Allianz und die Europäische Union und nicht zuletzt die Einsätze der deutschen Streitkräfte im Rahmen des internationalen Krisen- und Konfliktmanagements als besondere Leistungen hervor. Inwiefern es mit der Festlegung auf die eigene Geschichte als zentralen Quell der militärischen Tradition gelingt, nicht nur "Kopf und Verstand", sondern auch "Herz und Gemüt" der Soldatinnen und Soldaten zu erreichen, wie dies der Erlass explizit vorsieht, ist fraglich. Sicher ist jedoch, dass auch mit der jüngsten Festlegung die Diskussionen um das gültige historische Erbe nicht abreißen werden.

Zur Zukunft militärischer Tradition

Bereits seit geraumer Zeit sind zwar Kasernen und Einrichtungen nach bedeutenden Soldaten der Bundeswehr ebenso wie nach führenden Sicherheits- und Verteidigungspolitikern der Bundesrepublik benannt. Erwähnt seien nur die Franz-Josef-Strauß-Kaserne in Altenstadt (Schongau) oder die Helmut- Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg. Dennoch mochte es bislang so erscheinen, als fiele es der Bundeswehr im Rahmen der Traditionspflege mitunter schwer, sich der eigenen Geschichte anzunehmen.

Drei Umstände tragen zu diesem Eindruck bei: Erstens lenkt die durch den neuen Erlass angewiesene Vorrangstellung der Bundeswehrgeschichte den Blick zwangsläufig auf deren Gründungsphase und auf die, nicht nur personellen, Kontinuitäten zur Wehrmacht. Für die kommenden Jahre ist mit einer Intensivierung der Debatten über die Rolle der Gründungsväter der Bundeswehr in der Wehrmacht und im Zweiten Weltkrieg zu rechnen.

Zweitens zerfällt die Bundeswehrgeschichte in den Augen vieler Beobachter in zwei unterschiedliche Epochen: Während die alte Bundeswehr des Kalten Krieges als reine Verteidigungsarmee im Bündnis auf die Abwehr eines Angriffes des Warschauer Paktes ausgerichtet war, ist die neue Bundeswehr als Einsatzarmee seit den 1990er Jahren weltweit an der Seite von internationalen Partnern in Missionen zur Krisenreaktion und Krisenbewältigung im Einsatz. Innerhalb der Streitkräfte wie in der Forschung wird intensiv darüber diskutiert, welche Kontinuitäten zwischen beiden Phasen bestehen und welche Traditionsbestände die alte an die neue Bundeswehr, gerade angesichts der Revitalisierung der Bündnisverteidigung, weitergeben kann.

Drittens fällt auf, dass die internationalen Einsätze bislang kaum zum Traditionskanon der Bundeswehr beigetragen haben. Erinnerungsorte wie das Ehrenmal der Bundeswehr und der Wald der Erinnerung sind gewichtige Symbole, die ein Gedenken für die Opfer der Einsätze ermöglichen. Eine darüber hinausgehende, positiv konnotierte und Orientierung stiftende Tradition aus den Einsätzen heraus ist bislang jedoch allenfalls in Ansätzen zu erkennen. Gegen diese Einschätzung spricht auch nicht die – parallel zur Unterzeichnung des neuen Traditionserlasses – erfolgte Umbenennung der bisherigen Emmich-Cambrai-Kaserne in Hauptfeldwebel-Lagenstein-Kaserne. Hauptfeldwebel Tobias Lagenstein war 2011 als Personenschützer in Afghanistan einem Anschlag der Taliban zum Opfer gefallen. Seine Würdigung rückt zwar die Gefahren der Bundeswehreinsätze und die soldatische Opferbereitschaft in den Mittelpunkt. Eine explizite Bezugnahme auf die Ziele des Afghanistaneinsatzes

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 39 und dessen zugrundeliegenden Werte und Normen erfolgt damit jedoch nicht.

Keine Frage des Dienstgrades oder Geschlechts

Positiv hervorzuheben ist hingegen, dass mit der Benennung einer Kaserne nach einem Feldwebel die althergebrachte Fixierung auf militärische Führungspersönlichkeiten, auf Generale und Admirale vergangener Armeen und Kriege, weiter aufbricht. Zunehmend setzt sich die Einsicht durch, dass traditionswürdiges Verhalten keine Frage des Dienstgrades, der Verwendung oder des Geschlechts ist. Nach und nach etablieren sich Vorbilder für alle Soldatengruppen, wodurch jeder Soldat und jede Soldatin sein bzw. ihr Handeln in Bezug zu den historischen Vorbildern setzen kann. Die Feldwebel- Anton-Schmid-Kaserne und die Dr.-Dorothea-Erxleben-Kaserne (mittlerweile jedoch geschlossen) stehen paradigmatisch für einen Trend, den es fortzusetzen gilt.

Nicht zuletzt drängt sich die Frage auf, weshalb angesichts einer zunehmend internationalisierten Sicherheitspolitik und militärischer Zusammenarbeit zwischen Soldaten verschiedener Armeen alleine nationale Vorbilder gelten sollten. Mit der Lucius D. Clay-Kaserne in Osterholz-Scharmbeck und der Robert-Schuman-Kaserne in Müllheim sind erste Zeichen einer fortschreitenden Internationalisierung gesetzt. Dem neuen Traditionserlass fehlen jedoch Impulse hin zu einer konsequenten Internationalisierung militärischer Traditionen. Gerade angesichts der gebrochenen deutschen (Militär-)Geschichte böte jedoch ein solch weltoffenes Verständnis von Tradition der Bundeswehr die Chance, Vorreiter einer Entwicklung zu sein, die weder andere Armeen noch weite Teile der Gesellschaft bislang genommen haben.

Literatur:

Abenheim, Donald (1989). Bundeswehr und Tradition. Die Suche nach dem gültigen Erbe des deutschen Soldaten. München: Oldenbourg.

Abenheim, Donald/Hartmann, Uwe (Hrsg.) (i.E.): Tradition in der Bundeswehr. Perspektiven auf ein politisch brisantes Thema. Berlin: Miles-Verlag.

Biehl, Heiko & Leonhard, Nina (2012). Militär und Tradition. In: Leonhard, Nina & Werkner, Ines- Jacqueline (Hrsg.). Militärsoziologie. Eine Einführung, 2. aktualisierte und ergänzte Aufl. (S. 314-341). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Birk, Eberhard, Heinemann, Winfried & Lange, Sven (2012). Tradition für die Bundeswehr. Neue Aspekte einer alten Debatte. Berlin: Miles.

Bundesministerium der Verteidigung (2018): Die Tradition der Bundeswehr. Richtlinien zum Traditionsverständnis und zur Traditionspflege. Online verfügbar unter: https://www.bmvg.de/resource/ blob/23234/6a93123be919584d48e16c45a5d52c10/20180328-die-tradition-der-bundeswehr-data.pdf (https://www.bmvg.de/resource/blob/23234/6a93123be919584d48e16c45a5d52c10/20180328-die-tradition- der-bundeswehr-data.pdf)

Harder, Hans-Joachim & Wiggershaus, Norbert (1985). Tradition und Reform in den Aufbaujahren der Bundeswehr. Herford/Bonn: Mittler.

Heinemann, Winfried (2004). Militär und Tradition. In: Gareis, Sven Bernhard &Klein, Paul (Hrsg.). Handbuch Militär und Sozialwissenschaft (S. 409-417). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Hettling, Manfred & Echternkamp, Jörg (2008). Bedingt erinnerungsbereit. Soldatengedenken in der Berliner Republik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 40 if. Zeitschrift für Innere Führung (2018): Tradition. Woher wir kommen, wohin wir gehen, wer wir sind. Spezial. Nr. 2, 62. Jg. Berlin: Bundesministerium der Verteidigung.

Libero, Loretana de (2006). Tradition in Zeiten der Transformation. Zum Traditionsverständnis der Bundeswehr im frühen 21. Jahrhundert. Paderborn: Schöningh.

Naumann, Klaus (2000). Negative Tradition und doppelter Blick. Überlegungen zu einem reflexiven Traditionsverständnis. In: Prüfert, Andreas (Hrsg.). Bundeswehr und Tradition. Zur Debatte um das künftige Geschichts- und Traditionsverständnis in den Streitkräften (S. 46-55). Baden-Baden: Nomos.

Mack, Hans-Hubertus (2014). Vorbilder? Die Diskussion um die Namensgeber für Bundeswehr- Kasernen. Militärgeschichte Zeitschrift für historische Bildung, Nr. 4, S. 18-21.

Zentrale Dienstvorschrift 10/1 (2008). Innere Führung. Selbstverständnis und Führungskultur der Bundeswehr. Bonn: Bundesministerium der Verteidigung.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Heiko Biehl für bpb.de

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Die Politik der Wiederbewaffnung

Von Detlef Bald 1.5.2015 Dr. Detlef Bald, geb. 1941, ist Politikwissenschaftler, Militärhistoriker und Friedensforscher. Er war 1971 bis 1996 wissenschaftlicher Direktor am Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr in München und ist seit 1996 freischaffender Historiker und Publizist.

Zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde in der Bundesrepublik wieder eine Armee aufgebaut. In der neu gegründeten Bundeswehr dienten viele Veteranen der ehemaligen Wehrmacht. Gegen die Wiederbewaffnung regte sich breiter Protest in der Bevölkerung.

Neue Armee, altes Personal: Bundeskanzler Konrad Adenauer besucht am 20. Januar 1956 in Andernach Soldaten der neu aufgestellten Bundeswehr. Viele der Freiwilligen waren ehemalige Wehrmachtssoldaten. (© picture-alliance/ akg)

Die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Deutschland erfolgte in mehreren Etappen. Sie gilt als Zeugnis der Eigenständigkeit des westdeutschen Staates und zugleich als diplomatischer und politischer Erfolg des ersten deutschen Bundeskanzlers Konrad Adenauer. Ihre Voraussetzung war der Deutschlandvertrag, der als Teil der Pariser Verträge am 5. Mai 1955 in Kraft trat. Damit endete im Westen Deutschlands offiziell das Besatzungsregime der USA, Frankreichs und Großbritanniens. Der Regierung in Bonn wurde nominell die "volle Macht" eines souveränen Staates übertragen. Tatsächlich blieben in beiden deutschen Staaten Vorbehaltsrechte der vier Siegermächte des Zweiten

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Weltkrieges bis zur Einigung 1990 erhalten, abgesichert durch völkerrechtliche Verträge. Die Souveränität Deutschlands blieb damit de facto eingeschränkt. (http://www.bpb.de/apuz/29084/von- der-beschraenkten-zur-vollen-souveraenitaet-deutschlands)

Ein erstes offizielles Zeichen – und international hoch beachtet – war die Ernennung von Theodor Blank am 8. Juli 1955 zum "Bundesminister für Verteidigung", nachdem dieser zuvor das "Amt Blank" geleitet hatte, das seit Beginn der 1950er Jahre mit der Vorbereitung der Wiederbewaffnung betraut war. Die Bundesrepublik war der NATO bereits am 6. Mai 1955* beigetreten. Denkwürdige Tage wurden gewählt: hier der Tag der totalen Kapitulation von 1945, dort der offizielle Gründungstag der Bundeswehr am 12. November 1955, dem 200. Geburtstag des preußischen Generals Gerhard von Scharnhorst. Die Bundeswehr wurde so auch in die Tradition der preußischen Reformen gestellt, die Scharnhorst entscheidend mitgeprägt hatte. An diesem Tag erhielten oberste Generale wie Adolf Heusinger und Hans Speidel sowie hundert Offiziere und Unteroffiziere ihre Ernennungsurkunden als Soldaten, viele von ihnen ehemalige Soldaten in Hitlers Wehrmacht (http://www.bpb.de/geschichte/deutsche- geschichte/der-zweite-weltkrieg/199406/die-wehrmacht-struktur-entwicklung-einsatz). Dieses deutsche Militär wurde immer noch und über Jahre hinaus "neue Wehrmacht" genannt.

60 x Deutschland: Das Jahr 1955. Inkraftreten der Pariser Verträge +++ Beitritt zur NATO +++ Gründung der Bundeswehr Personelle Kontinuitäten: die "neue Wehrmacht"

Die Bundeswehr war zu Beginn eine Kaderarmee. Sie bestand also zunächst nur aus Offizieren und Unteroffizieren der ehemaligen Wehrmacht. Die ersten freiwilligen Rekruten der Bundeswehr wurden im Januar 1956 eingestellt. Organisatorisch hatte sich seit den Tagen der Wehrmacht nichts geändert. Die Teilstreitkräfte – Heer, Marine, Luftwaffe – blieben als einzelne, beinah separate Teile des Militärs erhalten. Sorgsam achteten sie auf ihre Selbständigkeit und die Unabhängigkeit des Oberbefehls ihrer Inspekteure. Der Generalinspekteur wurde erst später ernannt, ohne eigene Befugnisse gegenüber diesen Truppenteilen. Dieses Dilemma in der Hierarchie, keine einheitliche verantwortliche Spitze zu haben, hat über Jahrzehnte die militärische Führung der Bundeswehr wie auch die politische Leitung im Bundesverteidigungsministerium belastet.

Entsprechend dieser Aufsplitterung der Gliederung war es gleich zu Beginn der Wiederbewaffnung geradezu typisch, dass alle drei Teilstreitkräfte ihre Gründung getrennt feierten: Während die Luftwaffe ihre Aufstellung mit Lehrkompanien in Nörvenich begang, feierte die Marine in Wilhelmshaven. Auf dem Festakt des Heeres in Andernach am 20. Januar 1956 rief Kanzler Adenauer schließlich den "Tag der deutschen Streitkräfte" aus. Mit alten Ritualen und öffentlichem Gepränge wurde die Aufstellung einer Armee, die so bezeichnete Wiederbewaffnung Deutschlands, begangen.

Fast zwei Jahre benötigten die ersten Einheiten der Bundeswehr, ihre praktische und ideelle Kompetenz aufzubauen. Ihrem Selbstverständnis nach suchten sie ihre Rolle im Kalten Krieg an der Seite des Westens, gegenüber dem neuen alten "Feind" im Osten, der Sowjetunion. Aufgrund der persönlichen Erfahrungen im Ostfeldzug der Wehrmacht war für viele deutsche Soldaten der Begriff der "neuen Wehrmacht" leicht zu füllen.

Der Personalgutachterausschuss

In den Aufbaujahren der Bundeswehr war es schwierig, erfahrenes Ausbildungs- und Führungspersonal zu rekrutieren, das eine "unbelastete" Vergangenheit hatte. Viele der sich freiwillig Meldenden waren ehemalige Angehörige der Wehrmacht oder anderer Verbände wie der Waffen-SS.

Um sicherzustellen, dass unter den Freiwilligen keine Kriegsverbrecher oder Täter des nationalsozialistischen Regimes waren, setzte das Parlament 1955 per Gesetz den

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Personalgutachterausschuss ein. Die Mitglieder waren 25 Männer und Frauen aus dem öffentlichen Leben und 13 ehemalige Berufssoldaten der Wehrmacht.

Der Ausschuss sollte zum einen Bewerber für leitende Posten (ab dem Dienstgrad Oberst aufwärts) auf deren persönliche Eignung prüfen, und zum anderen Richtlinien bestimmen, nach denen die übrigen Freiwilligen zur Bundeswehr zugelassen werden sollten. Zu den Eignungskriterien zählten neben charakterlichen Eigenschaften, Bildungsstand und Leistungsfähigkeit vor allem die Belastung der Bewerber im nationalsozialistischen Regime und ihre Einstellung zur Widerstandsgruppe des 20. Juli 1944.

Ausgeschlossen vom Dienst in der Bundeswehr wurden ausdrücklich Kriegsverbrecher, Generale und Oberste der Waffen-SS sowie Mitglieder verfassungsfeindlicher Parteien oder Vereinigungen. Ehemalige Angehörige der SS und des SD durften nur unter "besonderen Umständen" oder mit persönlicher Genehmigung des Bundesverteidigungsministers eingestellt werden. Ebenfalls ausgeschlossen waren u.a. Mitglieder des kommunistischen "Nationalkommitees Freies Deutschland", in dem sich deutsche Kriegsgefangener und Emigranten in der Sowjetunion zusammengeschlossen hatten, und allgemein Mitglieder "politisierender Wehrverbände".

Bis zur Vorlage des Abschlussberichts im Dezember 1957 wurden dem Personalgutachterausschuss durch das Bundesministerium für Verteidigung 553 Bewerbungen zur Prüfung vorgelegt. Davon wurden 470 angenommen, 51 abgelehnt und die restlichen 32 wurden durch den Antragssteller zurückgezogen.

Weiterführende Informationen:

• Gesetz über den Personalgutachterausschuss für die Streitkräfte (http://www.bgbl.de/xaver/bgbl/ start.xav?startbk=Bundesanzeiger_BGBl&jumpTo=bgbl155s0451.pdf) vom 23. Juli 1955

• Tätigkeitsbericht des Personalgutachterausschusses (http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/03/001/0300109. pdf) vom 6. Dezember 1957

• Dokumentation des Bundesarchivs (http://www.argus.bstu.bundesarchiv.de/BW27-41699/index. htm) zum Personalgutachterausschuss

Die Redaktion, 23.06.2014

Erst nach dieser Phase der Stabilisierung der Bundeswehr und dem Rückgriff auf Personal und Traditionsbestände der Wehrmacht wurde 1956 die allgemeine Wehrpflicht wieder eingeführt. Im April 1957 wurden die ersten Wehrpflichtigen einberufen. Die militärische Dienstpflicht für junge Männer war die Voraussetzung für den angestrebten großen Umfang der Bundeswehr als Massenarmee: Der Friedensumfang der Bundeswehr bekam Konturen, bis dann um 1965 die Größenordnung von 500.000 Soldaten erreicht wurde.

60 x Deutschland: Das Jahr 1956. Erste Freiwillige bei der Bundeswehr +++ Gründung der NVA

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 44 Internationale Kontrolle und Westbindung

Vor der Wiederbewaffnung standen das Ende des NS-Regimes und die totale Kapitulation der Wehrmacht im Mai 1945. Diese Umstände hatten gewichtige Auswirkungen für die Wiederbewaffnung und die spätere Bundeswehr. Denn die Festlegung der obersten Ziele der alliierten Politik nach dem Weltkrieg erfolgte nach den historischen Erfahrungen – eine Lehre aus der Geschichte. Aus Sicht der Alliierten lag eine Ursache der europäischen Kriege des vergangenen Jahrhunderts im preußisch- deutschen Militarismus.

Die vier großen Alliierten des Krieges - die USA, die Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich – waren sich zuletzt auf der Potsdamer Konferenz im August 1945 einig darin, für die Zukunft eine "Bedrohung des Weltfriedens" durch Deutschland zu verhindern und "Nazismus und Militarismus in jeder Form" auszuschalten. Das bedeutete Entmilitarisierung und die Kontrolle der deutschen Politik. Ein Vier-Mächte-Regime wurde über Deutschland errichtet, das die Verantwortung für die Einhaltung dieser Ziele garantieren sollte.

Trotz des allmählichen Auseinanderdriftens in westliche und östliche Interessensphären und die entsprechende Gründung der beiden deutschen Staaten 1949 blieb diese gemeinsame alliierte Zuständigkeit bis 1990 erhalten. Unterhalb dieses alliierten Schirmes entwickelte sich der alte politisch- ideologische Konflikt zwischen Ost und West erneut und gab den Besatzungsmächten in ihren Zonen den Spielraum, sowohl die Bundesrepublik Deutschland als auch die DDR aufzubauen.

Die Spannungen des Kalten Krieges und der Beginn des Korea-Krieges im Sommer 1950 schufen die Voraussetzungen für die westliche Wiederbewaffnung. Sie wurde – im Sinne der Lehre aus der Geschichte – seitens der West-Alliierten als ein System der "doppelten Eindämmung" (Rolf Steininger) konzipiert: Schutz gegenüber dem Kommunismus und Sicherheit vor Deutschland. Dieses System bildet den politisch-historischen Rahmen, in dem die Wiederbewaffnung gegen vielfache Bedenken in Europa ermöglicht wurde.

Die Sicherheit vor Deutschland verlangte, das deutsche Militär einzudämmen und zu kontrollieren. Dafür wurde eine bestimmte NATO-Struktur aufgebaut, in die alle deutschen Truppen voll integriert wurden. Über Jahrzehnte hatte kein deutscher Offizier eine eigenständige Einsatzkompetenz über seine Soldaten. Die deutsche Sicherheitspolitik und die Bundeswehr unterlagen den 1955 eingerichteten „Vorbehaltsrechten“ der drei westlichen Alliierten.

Darüber hinaus wurde eine ungewöhnlich hohe Transparenz der Bundeswehr und aller militärischen Kapazitäten in der Bundesrepublik durch die Westeuropäische Union (WEU) (http://www.bpb.de/ nachschlagen/lexika/politiklexikon/18478/westeuropaeische-union-weu) hergestellt. Sie hatte weitreichende Kompetenzen, die Auflagen für die Rüstungsindustrie sowie alle Waffenbestände und Kasernen, die Depots und Geräte der Bundeswehr selbst zu kontrollieren. In Hunderten von Vor-Ort- Inspektionen wurden die deutschen Streitkräfte überprüft. Die Wiederbewaffnung war ein politischer Akt der nach Souveränität strebenden Bonner Republik, der zugleich die Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit deutlich machte.

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 45 Deutsche Initiativen zur Wiederbewaffnung

Die Wiederbewaffnung war nicht denkbar ohne deutsche Initiativen. Adenauer war von Anfang an der maßgebliche politische Förderer der Militärpolitik. Sein Denken war geprägt vom Ideal eines klassischen Nationalstaats mit Militär als Zeichen und Instrument souveräner Macht, wie er es zu Zeiten von Kanzler Bismarck im Kaiserreich verwirklicht glaubte. Spuren solcher Aktivitäten gab es schon bald nach Kriegsende; so hatten ihm seit 1947 ehemalige Wehrmachts-Generale Studien zur "Sicherheit Westeuropas" geliefert; ein Memorandum vom Juni 1948 forderte, unter US-Oberbefehl deutsche "Panzertruppen (…) anstelle von Besatzungstruppen" (Hans Speidel) aufzustellen. Darin sind bereits Elemente der späteren Wiederbewaffnung erkennbar: westeuropäische politische Bindungen und die westliche Einbindung deutscher Truppen.

Gleich nach der Gründung der Bundesrepublik im September 1949 startete der Kanzler seine Aufrüstungsinitiativen. Öffentlich behutsam und mit Bedacht bereitete er sein Konzept vor; entscheidend jedoch war die hinter den Kulissen vorangetriebene Abklärung mit den Vertretern der Besatzungsmächte, mit den Hohen Kommissaren, an deren Spitze Adenauer den US-Amerikaner und Hochkommissar John McCloy sah. Mit ihm wurden die entscheidenden Zusagen verabredet. Den durchschlagenden Erfolg verbuchte der Kanzler Anfang September 1950 mit offiziellen Noten an die Außenministerkonferenz der Westmächte in New York. In diesen Noten präsentierte der Kanzler die zwei Säulen seiner Politik: "Erlangung der Souveränität" nur "als Folge der Wiederbewaffnung" (Konrad Adenauer). Die Aufrüstung der Bundesrepublik war also ein zentrales Element der deutschen Politik der Westintegration.

Vertraulichkeit politischen Handelns war die Voraussetzung für den Erfolg dieses Konzepts. Seit Beginn des Jahres 1950 war die Kompetenz für Besprechungen mit den Alliierten auf dem Petersberg bei Bonn in den Händen des ehemaligen Generals Gerhard Detlef Graf von Schwerin gebündelt; er leitete das Militärreferat im Kanzleramt, getarnt als "Zentrale für Heimatdienst"[1]. Von hier aus arrangierte man in strikt geheimen, intensiven Besprechungen vor allem mit dem amerikanischen General George Hays die Bedingungen der Wiederbewaffnung.

Armee im Geiste der Wehrmacht

Ein wesentlicher Schritt in diese Richtung war am 6. Oktober 1950 getan. Im Eifelkloster Himmerod entwarfen deutsche Militärs die grundlegende Planung für die Bundeswehr: die "Magna Charta der deutschen Wiederbewaffnung" (Hans-Jürgen Rautenberg). Das darin erarbeitete militärische und sicherheitspolitische Konzept fügte sich in den aktuellen Ost-West-Konflikt ein, basierte aber auf den operativen Maximen des Generalstabs des Ostfeldzugs der Wehrmacht, die in der Sowjetunion einen Angriffskrieg geführt hatte. Manches klang wie eine Wiederauflage alter Kriegspläne: Es ginge in der Zukunft um eine europaweite "Gesamtverteidigung von den Dardanellen bis nach Skandinavien". Man verstand Verteidigung dabei "von vornherein offensiv" und sah die Bewaffnung mit "modernen Waffen", sprich: Atombomben, vor. Totaler Krieg ganz im Geist der Wehrmacht.

Diese "Himmeroder Denkschrift" kann als eigentliche Geburtsstunde der Bundeswehr bezeichnet werden. Sie war ambivalent gehalten: So wie sie im Selbstverständnis der Wehrmacht abgefasst war, so enthielt sie auch den Keim der Militärreform. Wolf Graf von Baudissin hatte einige Kernsätze für die Militärreform gemäß den Werten des Grundgesetzes formuliert und damit jene Ausrichtung, die später mit dem "Staatsbürger in Uniform" und dem Konzept der "Inneren Führung" bezeichnet werden sollte, gegen den Widerstand des vorherrschenden Generalsdiskurses durchgesetzt. Das bedeutete: Anerkennung des Primats der Demokratie und des Pluralismus, ebenso keine "Staat-im-Staate- Bildung" des Militärs wie zur Zeit der Weimarer Republik. Diese Art der Wiederbewaffnung erzeugte Spannungen innerhalb der Streitkräfte. Zwei "Fronten" entstanden: Traditionalisten gegen Reformer – eine Last über Jahrzehnte.

Das Problem wurde manifest, weil es den traditionalistischen Offizieren 1955 gelang, die Verwirklichung der "Inneren Führung" in den Zuständigkeitsbereich des Generalinspekteurs zu verlagern. Da er keine

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Weisungsbefugnis gegenüber den Inspekteuren der einzelnen Teilstreitkräfte erhielt, konnte er das Reformkonzept nicht "befehlen"; und jene disparate Geschichte nahm ihren Lauf, die Bundeswehr nach dem Vorbild der Wehrmacht, ihrer Doktrinen und dem althergebrachten Denken des von der Gesellschaft abgekapselten Militärs aufzubauen. Skandale und Affären der sechziger Jahre finden darin ihre Erklärung. Mit der Reformpolitik des Verteidigungsministers Helmut Schmidt nach 1969, die neben einer umfassenden Bildungsreform auch eine pluralistische Öffnung der Armee beinhaltete, verabschiedete sich die Bundeswehr spürbar von ihrer Wehrmachts-Vergangenheit, bis sie diese Traditionslinien 1982 mit dem "Traditionserlass" endgültig kappte.

Gesellschaftliche Proteste

Die Wiederbewaffnung erregte die Gemüter. Der Begriff der Remilitarisierung machte die Runde. Vehemente Proteste fanden hauptsächlich zwischen 1949 und 1955 statt; in der Phase bis 1965 stand dann vor allem die Atombewaffnung im Fokus der öffentlichen Auseinandersetzung.

Starke Persönlichkeiten waren berühmt für ihr öffentliches Eintreten gegen die deutsche Wiederbewaffnung. Martin Niemöller, Karl Kaiser, Gustav Heinemann zählten auf politischer Seite dazu, ebenso der Nobelpreisträger Albert Schweitzer, der katholische Priester Franziskus M. Stratmann oder auch der Philosoph Karl Jaspers. Aufsehen erzielte 1957 die Warnung von 18 deutschen Naturwissenschaftlern, darunter die Nobelpreisträger Otto Hahn und Werner Heisenberg und auch Carl Friedrich von Weizsäcker, die Bundeswehr mit Atomwaffen auszustatten (Göttinger Manifest). Sie alle suchten eine friedensorientierte europäische Lösung, auch der Einheit Deutschlands; sie verbindet das Ideal von Partizipation und Pazifismus, von der einzigartigen Würde des Menschen.

Große Resonanz fanden seit dem Frühsommer 1950 die Friedensaufrufe gesellschaftlicher Gruppen. Die Proteste der evangelischen Synoden und der kirchlichen Jugendverbände gegen die Aufrüstung und die Wehrpflicht wurden laut. Auch die Gewerkschaften, mit Nachdruck auf lokaler Ebene, folgten. Dann faszinierte, von England her, das Modell der Ostermarschierer; es gab die ersten Massendemos der Friedensbewegung. Die antimilitärischen Proteste spielten eine große Rolle in den Medien.

Adenauer organisierte eine massive Gegenpolitik und versuchte mit rigiden Kampagnen, Personen und Proteste zu diffamieren, dämonisiert als Gehilfen Moskaus. Beispielsweise sah Adenauer in der Evangelischen Kirche eine "Spielart der kommunistischen West-Infiltration". Der Kalte Krieg dominierte mit ideologisch eingesetzten Bedrohungsszenarien und dem Feindbild des Bolschewismus. Alte Ängste dienten als Projektionsfläche: der Feind von außen agierte zugleich als "fünfte Kolonne" im Innern. Auch wenn Adenauers Politik der Wiederbewaffnung am Ende erfolgreich war, führte sie zu beträchtlichen innenpolitischen Belastungen. Sie gelang nicht ohne Ängste und Unfreiheiten zu erzeugen.

Die Wiederbewaffnung steht für einen komplizierten Weg in der Geschichte der Bundesrepublik, schließlich ging es darum, an die Vergangenheit von vor 1945 anzuknüpfen und zugleich eine neue Richtung hin zu demokratisch-freiheitlichen Werten einzuschlagen. Die Aufstellung von Streitkräften war in dieser Form nicht ohne Risiken, da man 1955 oder 1960 nicht voraussehen konnte, dass eine dezidierte Reformpolitik nach 1969 tatsächlich eingeleitet werden würde. Ohne diese Reformen ist das Profil der Bundeswehr und der Bundesrepublik heute nicht zu denken.

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 47 Dokumentationen:

Lipp, Karl-Heinz (2010). Frieden und Friedensbewegung in Deutschland 1892-1992. Ein Lesebuch. Essen: Klartext. von Schubert, Klaus (1977/78). Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland, (2 Bde.). Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.

Steininger, Rolf (1997). Deutsche Geschichte seit 1945. Darstellung und Dokumente in vier Bänden 1948-1955. Frankfurt am Main: Fischer.

Literatur:

Bald, Detlef (2005). Die Bundeswehr. Eine kritische Geschichte. München: Beck.

Bald, Detlef & Wette, Wolfram (2010). Friedensinitiativen in der Frühzeit des Kalten Krieges 1945-1955. Essen: Klartext.

Bernhard, Patrick & Nehring, Holger (2014). Den Kalten Krieg denken. Beiträge zur sozialen Ideengeschichte seit 1945. Essen: Klartext.

Conze, Eckart (2009). Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart. München: Siedler.

Steininger, Rolf et. al. (1993). Die doppelte Eindämmung. Europäische Sicherheit und deutsche Frage in den Fünfzigern. München: v. Hase und Koehler.

Stöver, Bernd (2007). Der Kalte Krieg. Geschichte eines radikalen Zeitalters. München: Beck.

* Korrekturhinweis: Wir haben ein falsches Datum korrigiert. Der offizielle Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur NATO fand nicht am 9. Mai, sondern am 6. Mai 1955 statt, nachdem die letzte Ratifizierungsurkunde der NATO-Mitgliedstaaten in Washington hinterlegt worden war. Am 9. Mai fand das erste NATO-Ministertreffen unter deutscher Beteiligung statt. (Anm. d. Redaktion, 26. Mai 2017)

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Detlef Bald für bpb.de

Fußnoten

1. Nicht zu verwechseln mit der 1952 gegründeten Bundeszentrale für Heimatdienst (http://www. bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/geschichte-der-bpb/36421/gruendung-und-aufbau-1952-1961), der heutigen Bundeszentrale für politische Bildung.

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Die Wehrpflicht. Eine historische Betrachtung

Von Peter Steinbach 1.5.2015 Prof. Dr. Peter Steinbach (Jg. 1948) ist Historiker und Politikwissenschaftler. Er lehrte u.a. an der Freien Universität Berlin, der Universität Passau, der Technischen Universität Karlsruhe und an der Universität Mannheim. Seit 1989 ist er wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin.

2011 wurde in Deutschland die allgemeine Wehrpflicht ausgesetzt. Ihre Geschichte begann rund 200 Jahre früher: Anfangs ein Instrument gegen die Obrigkeit, ermöglichte die Wehrpflicht die Massenheere des 20. Jahrhunderts. Peter Steinbach mit einer historischen Betrachtung.

Soldaten "gleiten" durch das Gelände: Hundertausende Wehrpflichtige durchliefen bis zur Aussetzung der Wehrpflicht 2011 die Grundausbildung der Bundeswehr. (© picture-alliance/dpa)

Der Wehrpflicht kommt in einem demokratischen System eine besondere symbolische Bedeutung zu. Sie fordert von den Wehrpflichtigen die Bereitschaft, wenn nicht das eigene Leben so doch Lebenszeit für das Gemeinwesen zu opfern. In Deutschland galt die Wehrpflicht sogar als Ausdruck besonderer Verantwortung des wehrpflichtigen Bürgers für seinen Staat.

Politische Argumente spiegeln oftmals ihre Entstehungszeit. So galt seit dem 19. Jahrhundert auch in Mitteleuropa die übernommene Verpflichtung des Bürgers, seinen Staat zu verteidigen, als Bekräftigung einer engen Verbindung zwischen Bürgern und Gemeinwesen. Die allgemeine Wehrpflicht löste damals die stehenden Heere ab. Sie setzte die Identifikation des Soldaten mit seinem Staat und seiner Nation voraus. Zuvor hatte es Söldnerheere gegeben, die von Kriegsherren wie Unternehmen geführt und eingesetzt worden waren. Soldaten wie Söldner waren in der Regel in die Heere gepresst worden.

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Die Wehrpflicht in Bildern

Die Anfänge: Revolutionen und Befreiungskriege

In der Amerikanischen Revolution der 1770er-Jahre war erstmals spürbar geworden, welche Kraft in der Bewaffnung einer Bevölkerung steckte, die sich zur Volkssouveränität bekannte und sich gegen eine Obrigkeit erhob. Die Französische Revolution brachte mit der "Levée en masse" (franz. Massenaushebung) die entscheidende Wende. Die Soldaten Napoleons identifizierten sich mit ihrer Nation und verteidigten die Ziele "ihrer" Revolution gegen die alten Mächte. Sie gehorchten keinem Zwang, dem militärischen "Drill", sondern unterwarfen sich freiwillig einer militärischen Disziplin, um die Schlagkraft der Truppen zu erhöhen. Wie eine Walze fegte die französische Armee nach der Revolution über Europa hinweg – im Selbstbewusstsein, nicht nur Frankreich zu verteidigen, sondern die neuen politischen Ideale der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu verbreiten.

Bekämpft wurden die französischen Truppen, die sich Europa unterworfen hatten, in den napoleonischen Kriegen von glühenden Verteidigern der von Frankreich angegriffenen und besetzten Länder. In Spanien und in Tirol stießen französische Truppen erstmals auf Gegner, die vor allem der Wille beseelte, ihr Land gegen Eindringlinge zu verteidigen. Die "Freiheitskriege" machten deutlich: Der Wehrwille der Bevölkerung konnte ungeahnte Kräfte entfalten, wenn er durch Patriotismus gespeist wurde.

Auch in Deutschland verhalf der sogenannte "Befreiungskrieg" gegen Frankreich (1813-1814) der Vorstellung von der allgemeinen Wehrpflicht als Bürgerpflicht zu einem ersten Durchbruch, zumindest schien es im Rückblick so. Tatsächlich konnte von einer allgemeinen Volksbewaffnung keine Rede sein, denn es waren freiwillige Soldaten und Verbände in den verschiedenen deutschen Staaten, die sich aus tiefer Bindung an den entstehenden deutschen National- und Kulturstaat entschlossen, ihr Leben einzusetzen.

Der Einführung der Wehrpflicht in Deutschland

Mit der Revolution von 1848 setzte sich in den deutschen Staaten erstmals der verfassungsstaatliche Grundsatz der Volkssouveränität gegen das monarchische Prinzip durch – wenn auch nur für kurze Zeit. Mit dem Scheitern der Badischen Aufstände triumphierte 1849 letztlich das preußisch-königliche Heer über demokratisch gesonnene Aufständische und bewaffnete Bürger.

Erst mit der Reichsgründung von 1871, einer "Revolution von oben", wurde die allgemeine Wehrpflicht in der Reichsverfassung festgeschrieben. Demnach war jeder männliche Deutsche grundsätzlich wehrpflichtig und musste, wenn tauglich, ab dem 20. Lebensjahr sieben Jahre lang in den Streitkräften dienen – zunächst als aktiver Soldat, später als Reservist und in der Landwehr. In ihrer aktiven Zeit unterlagen sie entscheidenden Einschränkungen: Soldaten besaßen kein aktives Wahlrecht, waren aber selbst wählbar. So sollte die bewaffnete Macht davor bewahrt werden, in die politischen Konflikte des Kaiserreichs hineingezogen zu werden.

Zugleich wird daran deutlich, dass der deutsche Obrigkeitsstaat (http://www.bpb.de/geschichte/ deutsche-geschichte/kaiserreich/139651/obrigkeitsstaat-und-basisdemokratisierung) dem Gedanken der Volksbewaffnung misstraute. Vielleicht sogar mit einer gewissen Berechtigung: So vertrat der Revolutionstheoretiker Friedrich Engels die Meinung, die deutschen Arbeitermassen hätten in der Armee Disziplin, gleichsam revolutionäre Manneszucht gelernt und so ihr revolutionäres Potential vergrößert. Die sozialdemokratischen Wahlerfolge ließen Engels von einer revolutionären Volksarmee träumen.

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Wehrdienst heißt vor allem Leben in der Kaserne, auf engem Raum: Blick in eine leere Stube der Leopold-Kaserne am 30. Juni 2011 in Amberg (Oberpfalz). (© picture-alliance/dpa)

Erster Weltkrieg und Weimarer Republik

Dies erwies sich im Ersten Weltkrieg als Illusion, denn die Soldaten aller Nationen standen zu ihren Regierungen. Sie eilten – anfangs noch begeistert – zu den Fahnen und ertrugen einen vierjährigen Krieg mit Materialschlachten, die das Vorstellungsvermögen übertrafen (http://www.bpb.de/geschichte/ deutsche-geschichte/ersterweltkrieg/155307/soldatische-kriegserfahrungen-im-industrialisierten-krieg). Dies führte zu einer Kritik am "Waffendienst" und zur Ausbreitung pazifistischer Vorstellungen. In den letzten Kriegsmonaten kam es zu Streiks. In deren Folge erhoben sich deutsche Einheiten gegen die militärische Führung und leiteten die Novemberrevolution ein (http://www.bpb.de/geschichte/deutsche- geschichte/ersterweltkrieg/155331/das-ende-des-kaiserreichs), in der Arbeiter- und Soldatenräte eine entscheidende Rolle spielten. Pazifistische Ideen prägten seitdem ebenso manche Vorstellungen des staatlichen Zusammenlebens wie die konkurrierende Überzeugung, dass sich die Souveränität einer Nation gerade in ihrer Wehrfähigkeit niederschlage.

In der Weimarer Republik trat dieser Konflikt offen zu Tage. Der Versailler Friedensvertrag (http://www. bpb.de/apuz/30789/versailles-und-weimar) hatte die Wehrpflicht in Deutschland wieder abgeschafft. Das Deutsche Reich schrumpfte militärisch auf ein 100.000 Mann umfassendes Heer ohne Luftwaffe und mit einer Reichsmarine, deren größte Schiffseinheiten man Westentaschen-Panzerschiffe nannte. Im Kapp-Putsch von 1920, der ersten großen Krise der Weimarer Republik, weigerte sich die Reichswehr, in die innenpolitischen Kämpfe einzugreifen. Die Reichsregierung musste deshalb auf sogenannte Freikorps zurückgreifen. In Absprache mit der Obersten Heeresleitung (OHL) aufgestellt, setzten sich diese Freiwilligenverbände aus ehemaligen Frontsoldaten des Ersten Weltkriegs zusammen.

Unter den rund 400.000 Mitgliedern der Freikorps waren vor allem monarchistische und rechtskonservative Kräfte, die der demokratisch gewählten Reichsregierung eher ablehnend gegenüber standen. Sie wollten an die sogenannte "Befreiungszeit" (also an die napoleonischen Befreiungskriege) anknüpfen und kämpften vor allem gegen kommunistische Umsturzversuche. Die

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Armee und Regierung ließen sie gewähren. "Truppe schießt nicht auf Truppe", erklärte Seeckt, der Chef der Reichswehr, und verstärkte so die Tendenz der Abkapselung der bewaffneten Macht. Staat im Staate wollte sie sein, und wurde doch nur Spielball im Kampf um die Republik.

Hitlers Wehrmacht und militärischer Widerstand

Sieger waren letztlich die entschiedenen Gegner der Weimarer Republik, deren Republikfeindschaft von den Nationalsozialisten unter Adolf Hitler politisch artikuliert wurde. Hitler wusste, dass allein die Reichswehr seiner Herrschaft gefährlich werden konnte. Ein Jahr nach seiner Machtübernahme 1934 als Reichskanzler übernahm er auch das Amt des Reichspräsidenten. Die Soldaten der Reichswehr wurden nun nicht mehr auf die Verfassung sondern direkt auf die Person Adolf Hitlers vereidigt. Entgegen der Bestimmungen des Versailler Vertrages rüstete Hitler auf und führte 1935 die allgemeine Wehrpflicht wieder ein. Jeder deutsche Mann zwischen dem 18. und 45. Lebensjahr war wehrpflichtig, die aktive Dienstzeit betrug zunächst ein, später zwei Jahre. Die neu benannte Wehrmacht wurde zur Stütze von Hitlers Herrschaft und war Bedingung für die Umsetzung seiner Expansionsbestrebungen - der "Eroberung von Lebensraum im Osten".

Verweigerung des Dienstes mit der Waffe bedeutete in der Wehrmacht oft den Tod. Es waren nur wenige Regimegegner, die sich zum Bruch ihres Eides auf Hitler als "Befehlshaber und Führer" durchrangen und sich für die Beteiligung am militärischen Widerstand entschieden. Mit dem Kriegsende begann eine entscheidende Phase der Zivilisierung des Militärs durch die Unterstellung der bewaffneten Macht unter Politiker, die sich den Normen des Rechtsstaates und des Parlamentarismus unterstellten.

Wiederbewaffnung und Bundeswehr

Den Missbrauch der Wehrpflicht durch den NS-Staat sollte bedenken, wer sich zur Wehrpflicht als eine Art Grundlage demokratischer Ordnung bekennt. Die längste Zeit lag die Wehrpflicht vor allem im Interesse der Machthaber von Obrigkeitsstaat und der Diktatur. Erst in der Bundesrepublik Deutschland wurde die Wehrpflicht in einer deutschen Verfassung verankert (Art. 12a GG), die sich zur Gewaltenteilung und zu den Grundrechten bekannte. Die 1955 geschaffene Bundeswehr war eingebunden in die Nato und festigte rasch nach einigen Geburtswehen ein neues politisches Selbstverständnis. Im Laufe der Zeit trat in der Traditionsbildung die Bedeutung der Wehrmacht zurück. Als traditionsbildend galten seitdem die Zeit der "Befreiungskriege" und der Widerstand gegen den Nationalsozialismus.

Wehrpflicht und Ersatzdienst

(1) Männer können vom vollendeten achtzehnten Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften, im oder in einem Zivilschutzverband verpflichtet werden.

(2) Wer aus Gewissensgründen den Kriegsdienst mit der Waffe verweigert, kann zu einem Ersatzdienst verpflichtet werden. Die Dauer des Ersatzdienstes darf die Dauer des Wehrdienstes nicht übersteigen. Das Nähere regelt ein Gesetz, das die Freiheit der Gewissensentscheidung nicht beeinträchtigen darf und auch eine Möglichkeit des Ersatzdienstes vorsehen muß, die in keinem Zusammenhang mit den Verbänden der Streitkräfte und des Bundesgrenzschutzes steht.

(3) Wehrpflichtige, die nicht zu einem Dienst nach Absatz 1 oder 2 herangezogen sind, können im Verteidigungsfalle durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes zu zivilen Dienstleistungen für Zwecke der Verteidigung einschließlich des Schutzes der Zivilbevölkerung in Arbeitsverhältnisse verpflichtet werden; Verpflichtungen in öffentlich-rechtliche Dienstverhältnisse sind nur zur Wahrnehmung polizeilicher Aufgaben oder solcher hoheitlichen Aufgaben der öffentlichen Verwaltung, die nur in einem

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öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis erfüllt werden können, zulässig. Arbeitsverhältnisse nach Satz 1 können bei den Streitkräften, im Bereich ihrer Versorgung sowie bei der öffentlichen Verwaltung begründet werden; Verpflichtungen in Arbeitsverhältnisse im Bereiche der Versorgung der Zivilbevölkerung sind nur zulässig, um ihren lebensnotwendigen Bedarf zu decken oder ihren Schutz sicherzustellen.

(4) Kann im Verteidigungsfalle der Bedarf an zivilen Dienstleistungen im zivilen Sanitäts- und Heilwesen sowie in der ortsfesten militärischen Lazarettorganisation nicht auf freiwilliger Grundlage gedeckt werden, so können Frauen vom vollendeten achtzehnten bis zum vollendeten fünfundfünfzigsten Lebensjahr durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes zu derartigen Dienstleistungen herangezogen werden. Sie dürfen auf keinen Fall zum Dienst mit der Waffe verpflichtet werden.

(5) Für die Zeit vor dem Verteidigungsfalle können Verpflichtungen nach Absatz 3 nur nach Maßgabe des Artikels 80a Abs. 1 begründet werden. Zur Vorbereitung auf Dienstleistungen nach Absatz 3, für die besondere Kenntnisse oder Fertigkeiten erforderlich sind, kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes die Teilnahme an Ausbildungsveranstaltungen zur Pflicht gemacht werden. Satz 1 findet insoweit keine Anwendung.

(6) Kann im Verteidigungsfalle der Bedarf an Arbeitskräften für die in Absatz 3 Satz 2 genannten Bereiche auf freiwilliger Grundlage nicht gedeckt werden, so kann zur Sicherung dieses Bedarfs die Freiheit der Deutschen, die Ausübung eines Berufs oder den Arbeitsplatz aufzugeben, durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden. Vor Eintritt des Verteidigungsfalles gilt Absatz 5 Satz 1 entsprechend.

Die Geschichte der Bundeswehr wurde in diesem Zusammenhang stärker bestimmend für die neue, demokratische Traditionsbildung, die die Grundwerte und die freiheitliche Verfassungsordnung als Grundlage politischer Loyalität deutete.

In der Tat ist die Geschichte der Bundeswehr seit den fünfziger Jahren der Beleg für den gelungenen Aufbau einer Parlamentsarmee, die sich in vielen zivilen Einsätzen in den sechziger Jahren bei Flutkatastrophen und Erdbeben, aber auch in den europäischen Konflikten und den Auslandseinsätzen der neunziger Jahre bewährt hat. Nach dem europäischen Umbruch 1989/90 wurde diese traditionsbildende Kraft der Bundeswehr immer stärker betont. Zugleich aber wurde immer häufiger über eine Abschaffung der Wehrpflicht nachgedacht. Dies war auch eine Folge der Tatsache, dass die Bundesrepublik Deutschland ab 1990 erstmals nur von Staaten umgeben war, die ihr friedlich gesonnen waren.

Kriegsdienstverweigerung als Grundrecht

Mit der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik 1955 wurde das Recht zur Verweigerung des Kriegsdienstes in das Grundgesetz – Art. 4 Abs. 3 GG – aufgenommen. Grundsätzlich kann jeder männliche Deutsche ab dem 18. Lebensjahr zum Wehrdienst eingezogen werden. Das Recht, dies zu verweigern, war in den fünfziger und sechziger Jahren entscheidend für die Akzeptanz der Wehrpflicht. Hinzu kam ein neues politisch-militärisches Leitbild: Der Soldat galt als "Bürger in Uniform". Das neue Konzept der "inneren Führung" wurde ergänzt durch den Wehrbeauftragten, der als "Hilfsorgan des Bundestages" auch den "Schutz der Grundrechte" der Soldaten zu gewährleisten hatte (Art. 45b GG).

Kriegsdienstverweigerer hatten einen Wehrersatzdienst zu leisten. Im Laufe der Jahrzehnte ereignete sich dabei ein bemerkenswerter Wandel: Zunehmend seltener wurde der Wehrersatzdienst als "Drückebergerei" herabgewürdigt, sondern als Ausdruck derselben Verantwortung für den Staat und seine Gesellschaft empfunden wie der "Dienst an der Waffe". In dieser Hinsicht unterschied sich die Bundesrepublik Deutschland von der DDR. Im SED-Staat gab es keine Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen. Entschiedene Gegner des Waffendienstes wurden als "Bausoldaten" verpflichtet

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 53 und hatten erhebliche Nachteile, etwa beim Studium, zu gewärtigen.

Die Beispiele des Kaiserreichs, des NS-Staates und der DDR machen deutlich, dass die Wehrpflicht keineswegs eine Garantie bietet, die bewaffnete Macht zu einem Bestandteil der zivilen, demokratischen Gesellschaft werden zu lassen. Entscheidender als die zwangsweise Verpflichtung aller zum Dienst mit der Waffe sind die politischen Ziele und dienstlichen Umgangsformen. Die Führung der Bundeswehr bekannte sich zur Menschenwürde als Verpflichtung aller staatlichen Gewalt und unterstellte sich einer parlamentarisch kontrollierten politischen Führung, die den Primat des Politischen verkörperte.

Freizeitschuhe, Sportschuhe und Kampfstiefel: Die Schuhe gehören, neben der Unterwäsche, zur persönlichen Ausrüstung, die jeder Wehrdienstleistende nach seinem Dienst behalten darf. Hier die Kleiderausgabe in Amberg (Oberpfalz) am 30. Juni 2011. (© picture-alliance/dpa)

Wehrgerechtigkeit und Einsatzarmee

Seit den neunziger Jahren wurde die allgemeine Wehrpflicht immer seltener prinzipiell gerechtfertigt. Dies war eine Folge zunehmender Freistellungen vom Wehrdienst. Es wurden nicht mehr wie in den Jahrzehnten zuvor einzelne Jahrgänge fast vollständig gemustert und eingezogen. Zunehmend spiegelte die Zahl der Wehrpflichtigen vor allem den schwindenden Personalbedarf der Bundeswehr an Rekruten. Weil der Gleichheitsgrundsatz bei der Einziehung der Wehrpflichtigen gewahrt werden musste, wurde die Wehrpflicht immer stärker in Zweifel gezogen – bis vor das Bundesverfassungsgericht. Dort hatte 2004 die bis dahin geltende Praxis dennoch – knapp - Bestand.

Ein weiteres Argument gegen die Wehrpflicht gewann zunehmend an Bedeutung: In ihrer neuen Rolle als Einsatzarmee verlangte die Bundeswehr nach bestens ausgebildeten Spezialisten, die sich nicht innerhalb weniger Monate heranbilden ließen. Auch die Kosten der Wehrpflicht erwiesen sich zunehmend als zu hoch. Sparauflagen schränkten den Spielraum für Einberufungen ein. Schließlich wurde der Wehrdienst vor allem beibehalten, weil den Ersatzdienstleistenden in den Sozialsystemen große Bedeutung zukam, um dort Kosten zu senken. Irgendwann ließ sich kaum mehr bezweifeln,

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 54 dass sich der entlastende soziale Ersatzdienst nicht mehr durch die Wehrpflicht begründen oder halten lässt.

Die Aussetzung der Wehrpflicht

Zum 1. Juli 2011 wurde die Wehrpflicht in Deutschland ausgesetzt. Die Bundeswehr war damit eine Freiwilligenarmee. Der Entscheidung vorangegangen war eine jahrelang emotional geführte politische und gesellschaftliche Debatte (http://www.bpb.de/apuz/59663/wehrpflicht-und-zivildienst-bestandteile- der-politischen-kultur) über die Bedeutung der Wehrpflicht für einen demokratischen Staat. Dass die Wehrpflicht nicht bereits vorher abgeschafft wurde, lag vor allem an der Überzeugung, die Wehrpflicht schlösse die Kluft zwischen Militär und Gesellschaft. Von der Hand zu weisen ist dieses Argument nicht, in historischer Perspektive sprechen aber ebenso starke Argumente gegen die Wehrpflicht. Denn es waren Diktaturen und Obrigkeitsstaaten, die die Wehrpflicht missbraucht haben. Es war hingegen der Verfassungsstaat, der das Leitbild vom "Bürger in Uniform" durchsetzte, zum Nutzen des ganzen Gemeinwesens und seiner bewaffneten Macht.

In Zukunft wird es darauf ankommen, dass die Bundeswehr sich nicht als hochprofessionalisierte Spezialisten-Armee von der Gesellschaft isoliert, dass aber auch die Gesellschaft ihre Soldaten, die lebensgefährliche Einsätze absolvieren, weiterhin als Teil ihrer selbst anerkennt. Nur weil die Wehrpflicht abgeschafft worden ist, stellt die Bundeswehr keine Berufsgruppe dar, die vergleichbar ist mit anderen gesellschaftlichen Ordnungs- und Sicherheitskräften wie der Polizei oder der Feuerwehr. Die Bundeswehr ist eine wichtige Voraussetzung für die Stärkung und Durchsetzung nationaler Interessen. Seit der Abschaffung der Wehrpflicht stellt die politische Integration der Bundeswehr die demokratische Gesellschaft vor neue politische Aufgaben, die vielleicht von größerer Bedeutung sind als die Aussetzung der Wehrpflicht aus Haushaltszwängen.

Literatur:

Bald, Detlef (1991). Die Wehrpflicht - das legitime Kind der Demokratie? Vom Wehrrecht zur Wehrpflicht in Deutschland. München: Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr.

Foerster, Roland G. (1994). Die Wehrpflicht. Entstehung, Erscheinungsformen und politisch- militärische Wirkung. München: Oldenbourg.

Frevert, Ute (2001). Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland. München: Beck.

Opitz, Eckardt & Rödiger, Frank S. (1994). Allgemeine Wehrpflicht. Geschichte, Probleme, Perspektiven. Bremen: Ed. Temmen.

Werkner, Ines-Jacqueline (2004). Die Wehrpflicht und ihre Hintergründe. Sozialwissenschaftliche Beiträge zur aktuellen Debatte. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Werkner, Ines-Jacqueline (2006). Wehrpflicht oder Freiwilligenarmee? Wehrstrukturentscheidungen im europäischen Vergleich. Frankfurt am Main u.a.: Lang.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Peter Steinbach für bpb.de

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Die Bundeswehr im Kalten Krieg

Von Martin Rink 1.5.2015 Martin Rink (Jg. 1966), wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (bis 2013: Militärgeschichtliches Forschungsamt). Arbeits- und Forschungsthemen sind die Geschichte der Bundeswehr sowie die Geschichte asymmetrischer Konflikte seit der Frühen Neuzeit. Neueste Publikation: Martin Rink, Die Bundeswehr. 1950/55-1989/90 (= Militärgeschichte kompakt, Bd 6), geplant für 2015.

Die Wiederbewaffnung besiegelte die Westbindung der Bundesrepublik. Integriert in die Nuklearstrategie der NATO stand die Bundeswehr fast vierzig Jahre lang an der Front des Kalten Krieges, die mitten durch Deutschland verlief. Das führte auch innenpolitisch zu Spannungen.

Mit Menschenketten, Demonstrationen und einer Kundgebung im Bonner Hofgarten demonstrierten 1981 rund 400.000 Menschen aus allen Teilen des Bundesgebietes gegen die atomare Nachrüstung in Deutschland - darunter auch NATO-Soldaten. (© picture-alliance)

Der Kalte Krieg hatte seinen Schwerpunkt in Deutschland. Deshalb war hier seit Mitte der 1950er bis in die frühen 1990er-Jahre eine weltweit einzigartige Konzentration von Streitkräften stationiert. Mitte der 1980er-Jahre waren es insgesamt 1,3 bis 1,5 Millionen aktive Soldaten, davon 900.000 auf dem Gebiet der Bundesrepublik. Mit knapp 500.000 Mann (und ab 1975 einigen wenigen Frauen im Sanitätsdienst) bildete die Bundeswehr den Eckpfeiler der westlichen Bündnisverteidigung in Mitteleuropa.

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 56 Deutschland als potentielles Schlachtfeld

Ein besonderes Kennzeichen der westdeutschen Armee war ihre enge Einbindung in die NATO. Schon mit den ersten Überlegungen zu einer westdeutschen "Wiederbewaffnung" – Kritiker sprachen von "Remilitarisierung" – war der Zuwachs an Souveränitätsrechten für die Bundesrepublik verknüpft. Das betraf allgemein die Zugehörigkeit zur westlichen Wirtschaftsgemeinschaft, insbesondere aber die Außen- und Sicherheitspolitik. Das Streben nach enger Integration verknüpfte sich mit dem Interesse der Bundesrepublik, hierdurch Mitsprache im Bündnis zu erlangen. Die Einsatzszenarien der Bundeswehr waren daher eng eingebunden in die der NATO.

Als die späteren Gründerväter der Bundeswehr im Oktober 1950 über ein neues "Deutsches Kontingent" nachsannen, existierte noch keine voll ausgeplante NATO-Strategie. Die Strategieentwicklung erfolgte erst zwischen 1953 und 1957 – also zeitgleich zu den Vorplanungen und der ersten Aufstellung der Bundeswehr. Nachdem das zwischenzeitlich geplante Projekt einer eng integrierten Europa-Armee an französischen innenpolitischen Querelen gescheitert war, wurden die westdeutschen Streitkräfte nach fünfjähriger Planungsphase am 12. November 1955 offiziell aus der Taufe gehoben. Erst ab Februar 1956 existierte die offizielle Bezeichnung "Bundeswehr". Trotz ihres rasanten Personalaufwuchses in den späten 1950er-Jahren erreichte sie erst ab Mitte der 1960er- Jahre ihr Aufbauziel von zwölf gepanzerten Divisionen (zu jeweils rund 16.000 Mann). Die geplante Gesamtstärke der Bundeswehr von 495.000 Mann – bei einem Mobilisierungsumfang von 1,3 Millionen aktiven Soldaten oder Reservisten – wurde erst in den 1970er-Jahren erreicht.

Nukleare Teilhabe und die Politik der Abschreckung

Die Bundeswehr bestand mit Masse aus konventionellen Streitkräften, also Truppenteilen, die nicht auf die nukleare Kriegführung ausgerichtet waren wie z.B. das durch gepanzerte Kräfte geprägte Heer. Allein diese Teilstreitkräfte umfassten (mit Stand 1980) 345.000 Soldaten im Frieden und über eine Millionen Mann im Verteidigungsfall. Gleichwohl enthielt auch die Artillerie des Heeres eine beachtliche nuklearfähige "taktische" Komponente in Zweitfunktion. Die Luftwaffe wurde dagegen ab Ende der 1950er-Jahre zur nuklearen "Strike Force" aufgebaut, insbesondere mit dem Hochleistungsflugzeug F-104G Starfighter. Vor allem sie sollten im Ernstfall taktische US-Nuklearsprengköpfe ins Ziel bringen. Dabei befanden sich die bis zu 5.000 Nuklearsprengköpfe selbst stets in US-amerikanischer Obhut. Jede eigenständige nuklear-strategische Rolle der Bundesrepublik und ihrer Bundeswehr war von vornherein ausgeschlossen.

Jede Auseinandersetzung auf deutschem Boden musste für die Bundesrepublik verheerende Folgen haben: So konzentrierten sich die in den 1950er-Jahren entwickelten NATO-Strategien auf eine Abschreckungslogik: Schon das Ausbrechen eines Krieges sollte verhindert werden, indem jede Aggression der Sowjetunion und ihrer Bündnispartner mit einer raschen und massiven nuklearen Eskalation beantwortet worden wäre. Um die diese Strategie der Massiven Vergeltung zeitlich abzupuffern, um Raum für politische Verhandlungen zu schaffen, bedurfte es daher starker konventioneller Kräfte, die anfangs jedoch kaum bestanden. Neben der Forderung der US-Regierung unter John F. Kennedy nach einer flexibleren, abgestuften Strategie seit 1961 war also auch die Existenz der Bundeswehr selbst eine Grundlage für die Verabschiedung der NATO-Strategie der Flexiblen Antwort (Flexible response) im Jahr 1968. Es sah die "flexible" Beantwortung einer Aggression vor: Zuerst sollten konventionelle Kräfte die Verteidigung am Eisernen Vorhang übernehmen, bevor eigene Nuklearwaffen zum Einsatz kämen. Auch deren Einsatz sollte zunächst selektiv erfolgen, um der Politik zeitlichen Spielraum für eine Begrenzung und Beendigung des Konflikts zu verschaffen. Freilich blieb auch ein möglicher Verzicht auf nukleare Einsatzmittel für die Bundesrepublik problematisch: So erschien ein Krieg möglicherweise wieder führbar – mit der Folge einer umfassenden nicht-nuklearen Verwüstung, der anschließend dann doch eine nukleare Eskalation gefolgt wäre.

Hinsichtlich der Einsatzkonzeptionen bestand also die grundsätzliche Alternative zwischen konventioneller "Verteidigung" und nuklearer "Vergeltung". Diese Optionen entsprachen jeweils den unterschiedlichen Fähigkeiten und Denkgewohnheiten von Heer und Luftwaffe. Dies spiegelte das

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 57 mehrfache Dilemma der bundesdeutschen Verteidigungsplanung: Zum einen galt es, an der nuklearen Abschreckung zu partizipieren, um einen Krieg zu verhindern. Zum Zweiten musste ein dennoch möglicher Krieg mit ausreichenden Kräften militärisch erfolgreich geführt werden können. Dies aber hatte drittens so zu erfolgen, dass das zu verteidigende Land nicht zerstört wurde. Und viertens durften die zu verteidigenden Werte der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht bereits im Frieden einer Militarisierung von Staat und Gesellschaft zum Opfer fallen.

Friedensbewegungen und Nachrüstungsdebatte

Eine große Resonanz in der Öffentlichkeit auf die strategische Einbindung der Bundeswehr entfaltete sich bereits in den 1950er-Jahren. Angesichts der NATO-Nuklearstrategie, die nun auch der bundesdeutschen politischen und militärischen Führung bekannt geworden war, drängte der seit Oktober 1956 amtierende Verteidigungsminister Franz Josef Strauß auf eine radikale Umplanung der noch ganz im Aufbau befindlichen Bundeswehr. Strauß favorisierte drastische Kürzungen der Aufbauziele der Heeresstreitkräfte und fokussierte sich auf die Ausstattung der Bundeswehr mit nuklearwaffenfähiger Ausrüstung.

Angesichts dieser Planungen traten am 12. April 1957 namhafte deutsche Physiker mit einer grundsätzlichen Kritik an der Logik nuklearer Abschreckung an die Öffentlichkeit. Ihr Göttinger Manifest stellte die "lebensausrottende" Zerstörungskraft der Atomwaffen heraus. Auch der 1950 aus Protest gegen die Wiederbewaffnungspolitik aus dem CDU-Kabinett Konrad Adenauers ausgetretene Gustav Heinemann, der spätere Bundespräsident (1969-1974), engagierte sich ab April 1957 in der von ihm initiierten Bewegung Kampf dem Atomtod. Am 25. März 1958 billigte der Bundestag mit der Mehrheit der Stimmen der CDU/CSU-Fraktion die Ausrüstung der Bundeswehr mit NATO-Atomwaffen. Großangelegte Demonstrationen gegen die Nuklearbewaffnung der Bundeswehr erfolgten am 17. April 1958 mit Unterstützung aus Teilen der SPD und der Gewerkschaften; geplante Volksbefragungen wurden im Juli 1958 vom Bundesverfassungsgericht untersagt. Nach diesem Urteil flauten die großen öffentlichen Proteste zwar ab, doch blieb, etwa mit den Ostermärschen, eine Friedensbewegung aktiv, die sich Ende der 1970er-Jahre zur Massenbewegung formierte.

Speziell in den 1970er-Jahren mischten sich bisherigen Friedens- und Oppositionsbewegungen in komplexer Weise neu. Das Hervortreten der Partei Die Grünen ab 1980 zeugte von einer quer zum etablierten politischen Lagerdenken stehenden Kritik an der zivilen wie militärischen Nutzung der Atomtechnik und ihrer Risiken. Die Bundeswehr war nicht direkt involviert – schließlich zählten ihre Pershing 1A gerade noch zur Kategorie der taktischen Nuklearwaffen. Deren Ersatz stand nicht zur Debatte, betraf doch die NATO-Nachrüstung die Einführung einer neuen Generation von Mittelstreckenwaffen mit höherer Reichweite; so der in Westdeutschland stationierten US-Streitkräfte mit der Pershing II. Dennoch ging es hier um Fragen, die für die Bundesrepublik von strategischer Bedeutung waren: die Planung von militärischen Kräften auf eigenem Territorium zum Zweck der Politik; und des physischen Überlebens.

Der vom vorzeitig in den Ruhestand gegangenen Generalmajor Gert Bastian maßgeblich mitinitiierte Krefelder Appell vom 16. November 1980 stieß auf eine breite Resonanz in der Öffentlichkeit. In ihm forderte die Friedensbewegung die Bundesregierung auf, "die Zustimmung zur Stationierung von Pershing-II-Raketen und Marschflugkörpern in Mitteleuropa zurückzuziehen" (NATO-Doppelbeschluss), und drängte auf eine Ende des atomaren Wettrüstens durch die NATO. Mehr als drei Millionen Menschen unterzeichneten den Appell. Ungeachtet der breit gefächerten Friedensbewegung mit ihrer Mobilisierung von Hunderttausenden von Demonstranten war gleichzeitig der Antritt der Regierung Kohl Beleg für zahlreiche Unterstützer der bisherigen Sicherheitspolitik. Die NATO-Sicherheitspolitik polarisierte die Wählerschaft.

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 58 Der Dritte Weltkrieg als Fiktion und Realität

Die Frage um Technikbeherrschung und Technikfolgenabschätzung betraf unter anderem genau das Problem, das der Luftwaffe in der Ära Strauß (1956 bis 1962) zu ihrer besonderen Rolle verholfen hatte: Aus den Automatismen exakten militärischen Vorplanens erwuchs ein politisch-strategisches Problem grundsätzlicher Natur. Das raum-zeitliche Zusammenschrumpfen von Entscheidungsmechanismen war eine Herausforderung, die zunehmend weniger technisch-organisatorisch "bewältigbar" schien. Eine Resonanz dieser mentalen Wandlungsprozesse zeigte sich in Literatur und populärer Kultur. Literatur wie der Roman Die Physiker von Friedrich Dürrenmatt und Filme wie Stanleys Kubricks Werk über Dr. Seltsam von 1964 zeigten die Argumentationsmuster auf, die schon im Jahrzehnt zuvor die Gegner der Atombewaffnung zur Sprache gebracht hatten und die 20 Jahre später von den NATO- Nachrüstungsgegnern breite Resonanz erhielten.

In den frühen 1980er-Jahren traten dann Lieder (so die 99 Luftballons der Sängerin Nena im Jahr 1983) sowie eine ganze Reihe von negativen Utopien auf den Büchermarkt, die die Gefahr einer nuklearen Apokalypse thematisierten. Zu den Autoren zählte mit dem britischen General Sir John Hackett ein Experte, der von 1966 bis 1968 Oberbefehlshaber der Rheinarmee und des NATO-Bereichs Norddeutschland gewesen war. Sein mit anderen hochrangigen Offizieren verfasstes Buch über den fiktiven dritten Weltkrieg wurde ein in zehn Sprachen verbreiteter Bestseller. Der im August 1985 spielende Konflikt beinhaltete plausible Szenarien, die wohl so ähnlich auch als Planübungen im Bündnis durchgeführt worden waren: Ein anfängliches Vordringen der Warschauer-Pakt-Streitkräfte konnte von NATO-Kräften erst am Rhein gestoppt werden – dank der im Süden haltenden NATO- Streitkräfte und der Verstärkungen durch Luft- und Seetransporte über den Nordatlantik. Auch die seit den 1970er-Jahren verbesserte Waffentechnik, etwa die elektronische Kampfführung und die Panzerabwehrwaffen sowie die (real kaum verwirklichte) Verstärkung konventioneller Kräfte spielte in Hacketts Szenario eine Rolle für den relativ glimpflichen Ausgang dieses gedachten Dritten Weltkriegs, der weitgehend aufs Konventionelle begrenzt blieb. Der Konflikt endete nach Austausch – lediglich – zweier Atomschläge auf Birmingham und Minsk mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Deshalb blieb er führbar und letztlich wohl ein Wunschbild.

Die Forschung, die aus den derzeit verfügbaren Quellen basiert, zeichnet bezüglich der realen Planungen zum Einsatz von Nuklearwaffen ein deutlich pessimistischeres Bild. Stets blieb die Bundeswehr in dieses Bild vom möglichen Krieg eng eingebunden. Auch mit Beginn der Entspannungspolitik seit 1970 durch die Bundesregierung dominierte der Abschreckungsgedanke. Das Leitbild der Bundeswehr blieb der "Soldat für den Frieden" (Wolf Graf von Baudissin); ihr Wahlspruch: "Kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen".

Die Bundeswehr blieb eine Armee in der Integration – mit allen Möglichkeiten und Grenzen zwischen Mitsprache und enger Einbindung in die NATO. Genau dadurch konnte jedoch die anfangs angestrebte Bundeswehr-gemeinsame Ausrichtung der Teilstreitkräfte nur begrenzt verwirklicht werden: Heer, Luftwaffe und Marine blieben in sehr unterschiedlicher Weise NATO-integriert und formten somit einsatzbezogene und auch alltagskulturelle Spezifika aus. Nur das Territorialheer blieb eine – vordergründig – "nationale" bundesdeutsche Angelegenheit. Möglicherweise aber trug genau diese Ambivalenz der verschiedenen Integrationsrichtungen dazu bei, die anfänglich bei den Alliierten bestehenden Vorbehalte gegenüber ihren westdeutschen Bündnispartnern zu zerstreuen. Auch konnte die strategische Ambivalenz zwischen nuklearer Abschreckung und konventioneller Verteidigungsfähigkeit letztlich nicht aufgehoben worden. Dies war möglicherweise ein Grund dafür, dass ein "heißer Krieg" als weder angemessen planbar noch führbar schien.

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 59 Literatur:

Bremm, Klaus-Jürgen, Mack, Hans-Hubertus & Rink, Martin (2005). Entschieden für Frieden: 50 Jahre Bundeswehr. Berlin/Freiburg: Rombach.

Hackett, Sir John Winthrop et. al. (1978). The Third World War: August 1985. New York: Hutchinson.

Hammerich, Helmut R., Dieter H. Kollmer, Michael Poppe, Martin Rink & Rudolf J. Schlaffer (2006). Das Heer 1950 bis 1970. Konzeption, Organisation, Aufstellung. München: Oldenbourg.

Krüger, Dieter (2013). Am Abgrund? Das Zeitalter der Bündnisse: Nordatlantische Allianz und Warschauer Pakt 1947 bis 1991. Fulda: Parzeller.

Krüger, Dieter & Hoffenaar, Jan (2012). Blueprints for Battle. Planning for War in Central Europe, 1948-1963. Lexington: University Press of Kentucky.

Lemke, Bernd, Dieter Krüger, Heinz Rebhan & Wolfgang Schmidt (2006). Die Luftwaffe 1950 bis 1970. Konzeption, Aufbau, Integration.. München: Oldenbourg.

Möllers, Heiner & Schlaffer, Rudolf J. (2014). Sonderfall Bundeswehr? Streitkräfte in nationalen Perspektiven und im internationalen Vergleich. München: De Gruyter Oldenbourg.

Nägler, Frank (2007). Die Bundeswehr 1955 bis 2005. Rückblenden – Einsichten – Perspektiven. München: Oldenbourg.

Rink, Martin (2015). Die Bundeswehr 1950/55-1989. München: De Gruyter Oldenbourg.

Sander-Nagashima & Johannes Berthold (2006). Die Bundesmarine 1950 bis 1972. Konzeption und Aufbau.. München: Oldenbourg.

Thoß, Bruno (2006). NATO-Strategie und nationale Verteidigungsplanung. Planung und Aufbau der Bundeswehr unter den Bedingungen einer massiven atomaren Vergeltungsstrategie 1952 bis 1960. München: Oldenbourg.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Martin Rink für bpb.de

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Die Nationale Volksarmee der DDR Streitkräfte im Dienste der SED

Von Rüdiger Wenzke 31.3.2016 Dr. Rüdiger Wenzke ist Historiker und Leiter des Forschungsbereiches "Militärgeschichte nach 1945" des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam. Er forscht und veröffentlicht vor allem zur Geschichte der NVA und zur Rolle der DDR im östlichen Bündnis.

Mehr als 34 Jahre lang war die Nationale Volksarmee (NVA) das militärische Organ der DDR. Die ostdeutschen Streitkräfte sicherten den Machtanspruch der SED und waren tief in der Gesellschaft verwurzelt. Dennoch war die NVA keine Armee des Volkes.

Kampfappell zum 25. Jahrestag der Errichtung der Berliner Mauer: NVA-Soldaten marschieren am 13. August 1986 durch Ost-Berlin. (© picture-alliance/akg)

Die Nationale Volksarmee (NVA) war das bedeutendste bewaffnete Organ der DDR. Sie bildete ein unerlässliches Instrument der Herrschaftssicherung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) und zugleich den Kern der ostdeutschen Landesverteidigung (http://www.bpb.de/nachschlagen/ lexika/politiklexikon/18236/sozialistische-einheitspartei-deutschlands-sed). Die NVA wurde von der Partei geführt und handelte im Sinne der SED-Politik. "Jeder Kommandeur, jeder Vorgesetzte muss sich bewusst sein, dass er in erster Linie politischer Funktionär ist und seine Arbeit im Auftrag der Partei der Arbeiterklasse durchführt", hieß es bereits in einem Beschluss des SED-Politbüros aus dem Jahr 1958. Eine parlamentarische Kontrolle existierte ebenso wenig wie es demokratische

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Mitgestaltungsmöglichkeiten für die Soldaten in der Armee gab.

Auftrag und Personal

Der Auftrag der NVA bestand darin, eingebunden in die Militärkoalition des Warschauer Paktes (http:// www.bpb.de/nachschlagen/lexika/politiklexikon/18464/warschauer-pakt) und den Vorgaben der sowjetischen Führungsmacht folgend, die "sozialistischen Errungenschaften" gegen alle bewaffneten Angriffe von außen zu verteidigen. Die Streitkräfte der DDR sollten aber nicht nur jeden Aggressor abwehren und auf dessen Territorium zerschlagen. Sie hatten in der SED-Diktatur auch eine nach innen gerichtete systemstabilisierende und systemerhaltende Aufgabe. Dem dienten ihre Einsatzplanung gegen "Feinde des Sozialismus" im eigenen Land und der Schießbefehl in den Grenztruppen (http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-einheit/deutsche-teilung-deutsche-einheit/52462/ grenzverletzer-sind-festzunehmen-oder-zu-vernichten), die bis 1973 offizieller Bestandteil der NVA waren. Erinnert sei zudem an den Beitrag der NVA zum Mauerbau 1961 (http://www.chronik-der-mauer. de/chronik/), an die Unterstützung der sowjetischen Interventionstruppen bei der Niederschlagung des "Prager Frühlings" in der Tschechoslowakei (ČSSR) 1968 (http://www.bpb.de/politik/hintergrund- aktuell/167238/50-jahre-prager-fruehling), an ihre Drohgebärden in der polnischen Krise 1980/81, als NVA-Einheiten zur möglichen Bekämpfung der Solidarność-Bewegung in erhöhte Gefechtsbereitschaft versetzt wurden, und an die Rolle der Armee als Reservoir für Einsatzkräfte gegen Demonstranten während der Friedlichen Revolution in der DDR im Herbst 1989 (http://www.bpb.de/geschichte/ deutsche-einheit/25-jahre-deutsche-einheit/).

Die NVA verfügte in den 1980er Jahren über etwa 180.000 grundwehrdienstleistende Mannschaften, Zeit- und Berufssoldaten. Vor allem letztere waren militärisch und politisch qualifiziert. Die Offiziere wurden an Offizierschulen ausgebildet, denen in den 1970er Jahren der Hochschulstatus verliehen worden war. Etwa 4.700 NVA-Offiziere erwarben einen Abschluss an sowjetischen Militärakademien und weiteren militärischen Lehreinrichtungen der UdSSR. Einige hundert absolvierten die Generalstabsakademie der sowjetischen Streitkräfte in Moskau, die höchste Ausbildungsstätte im Warschauer Pakt. Nahezu alle NVA-Offiziere gehörten der SED an. Ein weitverzweigter Polit- und Parteiapparat sorgte in den Streitkräften für eine intensive politische und ideologische Indoktrination der Armeeangehörigen sowie für die konsequente Durchsetzung der jeweiligen SED-Politik in den Einheiten.

Selbstverständnis und Tradition

Die NVA verstand sich nicht als Nachfolger früherer deutscher Armeen. Sie wollte auch nicht deren Traditionen fortsetzen, wenngleich sich in Äußerlichkeiten durchaus Kontinuitäten zeigten. So weckten die steingraue Uniform mit ihrem charakteristischen Schnitt der Jacke mit den vier aufgesetzten Taschen und Schließhaken, die Formen der Schirm- und Feldmützen, die Paspelierung der Waffenfarben und die festen Halbschaftstiefel ("Knobelbecher") sofort Assoziationen zur früheren Wehrmachtuniform.

Die NVA sah sich als Erbin und Fortsetzerin alles Progressiven und Revolutionären in der deutschen Militärgeschichte. Ihre Traditionslinie begann bei den sogenannten Bauernhaufen im 16. Jahrhundert, zu denen sich aufständische Bauern zusammenschlossen, um gemeinsam gegen die Obrigkeit zu kämpfen. Sie führte über die preußischen Militärreformer und die badische Revolutionsarmee im 19. Jahrhundert zu den Kämpfen der Arbeiterbewegung gegen "Imperialismus, Militarismus und Krieg" und den eigenen militärischen Traditionen im Sozialismus. Den Traditionskern bildeten die "revolutionären Kämpfe der Arbeiterklasse" nach 1918 in Deutschland und der kommunistische Widerstand gegen das Nazi-Regime. Bis zum Ende der NVA wurden knapp 300 Namen von Persönlichkeiten aus dieser Traditionslinie an Kasernen, Truppenteile, Einheiten und Einrichtungen sowie an Schiffe und Boote der NVA verliehen.

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Die NVA war ihrem Auftrag entsprechend strukturiert, ausgerüstet und bewaffnet. Die Landstreitkräfte gliederten sich im Wesentlichen in zwei Panzerdivisionen mit jeweils etwa 7.000 Mann und vier Motorisierte Schützendivisionen mit jeweils rund 9.000 Mann. Die Seestreitkräfte mit einem Gesamtpersonalbestand von etwa 14.500 Mann, die seit 1960 die Bezeichnung "Volksmarine" trugen, bestanden aus drei Flottillen. Die Teilstreitkraft Luftstreitkräfte/Luftverteidigung (LSK/LV) mit ihren 35.000 Soldaten bestand aus zwei Luftverteidigungsdivisionen.

Die DDR-Volksarmee verfügte in den 1980er Jahren über mehr als 2.500 Panzer, 6.000 gepanzerte Fahrzeuge, etwa 300 Kampfflugzeuge und fast 100 Schiffe. Im Kriegsfall sollte die NVA bis auf 500.000 Mann aufwachsen. Den Kern der zusätzlich aufzustellenden Kampfverbände bildeten fünf Mobilmachungs-Divisionen der Landstreitkräfte. Die NVA besaß Kernwaffeneinsatzmittel, hatte jedoch keinen eigenen Zugriff auf nukleare Gefechtsköpfe. Letztere wurden in Friedenszeiten in sowjetischen Kernwaffendepots auf dem Territorium der DDR gelagert und wären im Ernstfall an die ostdeutschen Streitkräfte übergeben worden.

Zur NVA gehörten auch eigene Kulturensembles, Sportzentren und -klubs, Erholungs- und Ferienheime, eine eigene Handelsorganisation, ein großer Wohnungsbestand und riesige Forstflächen. Mitte der 1980er Jahre kostete die Ostdeutschen "ihre" Armee über zwölf Milliarden DDR- Mark pro Jahr. Für Verteidigung und innere Sicherheit wurden insgesamt nahezu 11 Prozent des Nationaleinkommens aufgewandt. Diese Ausgaben lagen damit deutlich über den Verteidigungs- und Sicherheitsausgaben vergleichbarer Staaten.

Von der geheimen Aufrüstung zur professionalisierten Bündnisarmee im Warschauer Pakt

Bereits Ende der 1940er Jahre hatte die SED-Führung mit Hilfe der sowjetischen Besatzungsmacht erste Schritte zur Aufrüstung und gesellschaftlichen Militarisierung unternommen. Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges baute sie erste militärische Einheiten auf. Bis zum Jahr 1952 entstanden die kasernierten Formationen der sogenannten "Hauptverwaltung für Ausbildung" sowie der See- und Luftpolizei mit einer Gesamtstärke von 55 000 Mann. Das Niveau der Ausbildung in diesen Einheiten war allerdings noch gering. Im Sommer 1952 wurde die "Kasernierte " (KVP) geschaffen. Diese als Polizei getarnte Armee war bereits mit Panzern, Flugzeugen und Schiffen ausgerüstet und verfügte über mehr als 100.000 Mann.

Der im Mai 1955 gebildete Warschauer Pakt, dessen Gründungsmitglied die DDR war, gab die künftige Entwicklung des ostdeutschen Militärs weiter vor. Im Januar 1956 wurde das Gesetz über die Schaffung der Nationalen Volksarmee (NVA) verabschiedet. Nunmehr konnte der Aufbau der Streitkräfte offen durchgeführt werden. Die NVA wurde von Anfang an als Koalitionsarmee gegliedert und ausgerüstet. Sie war in der Struktur, der Ausbildung und der Bewaffnung grundsätzlich auf die Ergänzung der sowjetischen Truppen in Mitteleuropa ausgerichtet. Für sie galten zudem die für alle Streitkräfte im Warschauer Pakt verbindlichen Prinzipien des sowjetischen Vorbilds. Dazu gehörten die Führung durch die kommunistische Partei und die "Waffenbrüderschaft" mit den sowjetischen Truppen.

Wichtige Zäsuren in der Aufstellungsphase der NVA waren der Mauerbau 1961 und die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht 1962. Danach ging es vor allem darum, den wachsenden Anforderungen im östlichen Militärbündnis gerecht zu werden. Die NVA erhielt einen Platz in der ersten strategischen Staffel der Vereinten Streitkräfte. Im Kriegsfall sollte der Feind in vorderster Front und an der Seite der Sowjetarmee abgewehrt und in einer Gegenoffensive auf seinem eigenen Territorium endgültig zerschlagen werden. Diese Aufgabe galt bis zur Einführung einer neuen Militärdoktrin des Warschauer Paktes Mitte der 1980er Jahre, die nunmehr defensivere Planungen beinhaltete. Zugleich hatte die NVA auch die Bewegungs- und Operationsfreiheit der verbündeten Armeen auf dem Gebiet der DDR zu gewährleisten. Bereits in den 1970er Jahren hatten sich die Streitkräfte weiter militärisch professionalisiert. Moderne Bewaffnung, hohe Kampf- und Einsatzbereitschaft sowie militärisches Leistungsvermögen zeichneten die NVA auf dem Höhepunkt dieser Entwicklung aus und ließen sie

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 63 zu einer zunehmend selbstbewussten Armee im östlichen Bündnis werden.

Wehrdienst, "sozialistische Soldatenpersönlichkeiten" und rigide innere Verhältnisse

War die NVA zu Beginn noch eine Freiwilligenarmee, wurde 1962 der Wehrdienst für alle jungen männlichen DDR-Bürger zur Pflicht. Über 2,5 Millionen Männer dienten seitdem in der DDR- Volksarmee. Die Dauer des Grundwehrdienstes betrug 18 Monate. Ein verfassungsmäßig garantiertes Recht zur Wehrdienstverweigerung oder auf einen Zivildienst wie in der Bundesrepublik gab es bis zum Frühjahr 1990 nicht. Allerdings bestand seit 1964 die Möglichkeit, einen waffenlosen Wehrdienst in der NVA abzuleisten. Die als Bau- oder Spatensoldaten bezeichneten, überwiegend religiös motivierten Waffendienstverweigerer verrichteten vor allem körperlich anstrengende Bauarbeiten.

Ziel der NVA-Führung war es, alle Wehrpflichtigen während ihres Wehrdienstes zu "sozialistischen Soldatenpersönlichkeiten" zu erziehen. Diese sollten allgemeine Soldatentugenden wie Mut, Tapferkeit und Gehorsam, die "unerschütterliche" Treue gegenüber der SED und den Hass auf den "Klassenfeind" in sich vereinen und ihren Dienst vorbildlich versehen.

Für die meisten Wehrpflichtigen ging es freilich darum, die Wehrdienstzeit möglichst unbeschadet zu überstehen. Ausdruck ihres wenig ausgeprägten Wehrmotivs war die "EK" (Entlassungskandidat)- Bewegung in der NVA. Grundwehrdienstleistende genossen in ihrem letzten Diensthalbjahr, also kurz vor ihrer Entlassung, informelle Privilegien, die von Vorgesetzten häufig geduldet wurden. Sie konnten sich um ungeliebte Tätigkeiten drücken und Rekruten schikanieren. Die EK bildeten eine Massenerscheinung, die durch Alkoholexzesse, Entlassungsrituale und zum Teil brutale Aktionen gegen jüngere Soldaten gekennzeichnet war. Das Idealbild der SED-Ideologen vom vorbildlichen sozialistischen Soldaten blieb oftmals eine Fiktion.

Das Leben der Armeeangehörigen in der Kaserne wurde entscheidend durch den nach sowjetischem Vorbild festgelegten hohen Grad der Gefechtsbereitschaft der Truppe bestimmt. Das bedeutete vor allem, dass 85 Prozent des Personalbestandes der Streitkräfte ständig präsent sein mussten. Diesem Ziel wurde alles andere untergeordnet. Sowohl die Soldaten als auch die Armee als Ganzes waren damit auf Dauer überfordert. So stand einer zumeist guten Pflege der Technik und Bewaffnung eine grobe Vernachlässigung der Bedürfnisse, Sorgen und Nöte der Soldaten, Unteroffiziere, Fähnriche und Offiziere gegenüber. Eine Folge waren teilweise inhumane innere Verhältnisse, die durch eine Fülle von Diensten, wenig Freizeit und restriktive Urlaubs- und Ausgangsregelungen charakterisiert waren.

Darüber hinaus wurde die militärische Disziplin und Ordnung mit großer Härte durchgesetzt. Die SED verfügte dazu mit dem militärischen Disziplinarwesen und seiner niedrigen Sanktionsschwelle, den drastischen Strafen der Militärjustiz und dem "Armeeknast" in Schwedt an der Oder über einen schlagkräftigen Apparat. Obwohl die letztgenannte Einrichtung nur eine relativ kleine Dienststelle in der NVA war, spielte sie im Gesamtsystem der Disziplinierung und Repression von Armeeangehörigen eine wichtige Rolle. Das berüchtigte Militärgefängnis hatte vor allem die Aufgabe, Angst unter den Soldaten zu verbreiten. "Dafür kommst Du nach Schwedt" war eine Drohung, die in den NVA-Kasernen Furcht und Schrecken auslöste.

Teil des Repressionsapparates in den Streitkräften war nicht zuletzt die Hauptabteilung I des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Sie sollte sowohl "Abwehrtätigkeit" gegen westliche Spionageaktivitäten leisten, als auch politisch abweichendes Verhalten von Armeeangehörigen aufdecken und verfolgen. Politische Kritiker in den Reihen der NVA wurden als Staatsfeinde abgestempelt und kriminalisiert. Über 2300 MfS-Mitarbeiter wirkten hauptamtlich, u.a. als sogenannte Verbindungsoffiziere, in der NVA. Sie verfügten Ende der 1980er Jahre über ein Netzwerk von über 12.500 Inoffiziellen Mitarbeitern (IM), die als Spitzel in allen Dienstgradgruppen wirkten. Außerhalb

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 64 dieses Unterdrückungssystems bot die politische Disziplinierung durch die Partei und die Jugendorganisation Freie Deutsche Jugend (FDJ) eine weitere Sanktionsebene.

Dennoch gab es auch in der NVA widerständiges Verhalten. Einen Höhepunkt bildeten die Proteste von Armeeangehörigen gegen die Militäraktion des Warschauer Paktes zur Niederschlagung des "Prager Frühlings" im August 1968. Vor allem aber Vertreter der zwischen 1964 und 1990 in der NVA dienenden 15.000 Bausoldaten stellten die Zustände in der Armee immer wieder offen an den Pranger.

Militär und Militarisierung in der DDR-Gesellschaft

Die Landesverteidigung bildete im Selbstverständnis der SED ein Wesensmerkmal der sozialistischen Gesellschaft in der DDR. Tatsächlich spielten die NVA und die anderen bewaffneten Organe in Ostdeutschland eine bedeutende Rolle. Nicht nur, dass am Ende der DDR etwa jeder fünfte Bürger im erwerbstätigen Alter in einer militärischen und paramilitärischen Organisation erfasst war. Hohe Militärs gehörten darüber hinaus zu den entscheidenden Führungskreisen in Partei und Staat. So war DDR-Verteidigungsminister von Anfang der 1970er Jahre bis zu seinem Tod 1985 Mitglied des SED-Politbüros. Andere Generale und Offiziere gehörten dem Zentralkomitee der Partei an.

Jugendliche der GST üben1974 in Eckartsberga bei Halle am Schießstand für den Militärischen Mehrkampf. Die GST war 1952 gegründet worden, um in der DDR-Gesellschaft die "Verteidigungsbereitschaft" zu fördern und Nachwuchs für die NVA zu rekrutieren. (© picture-alliance/dpa)

Das Militär hinterließ zudem in der DDR-Gesellschaft deutliche Spuren, so beispielsweise im Bildungssystem. Das zeigte sich an der durchgängigen Behandlung von Militärthemen, angefangen im Kindergarten bis zur Berufs- und Hochschulausbildung. Lehrer, Erzieher, Ausbilder, die FDJ und die Gesellschaft für Sport und Technik (GST) sowie andere Institutionen und Organisationen arbeiteten dabei Hand in Hand. Der gesellschaftlichen Militarisierung dienten der Wehrunterricht an den Schulen und die militärische Pflichtausbildung an den Universitäten, Hoch- und Fachschulen. Während der Wehrunterricht für Jungen und Mädchen der 9. und 10. Klasse ab 1978 verbindlich war, bestand für

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 65 alle gedienten männlichen Studierenden seit Anfang der 1970er Jahre die Pflicht zur militärischen Ausbildung, die während des 2. Studienjahres durchgeführt wurde. Obligatorischer Bestandteil des Studiums aller Studentinnen sowie der "wehrdienstuntauglichen" Studenten war die sogenannte ZV (Zivilverteidigung)-Ausbildung. Hinzu kam die Präsenz der NVA in der Öffentlichkeit in Form von Paraden und anderen Zeremoniellen. Frauen konnten freiwillig in die NVA eintreten. Sie dienten zumeist als Berufsunteroffiziere in den Rückwärtigen Diensten, z.B. im Verpflegungsdienst oder im Medizinischen Dienst. Ab 1984 durften sie in einigen Studiengängen an militärischen Ausbildungsrichtungen studieren und kamen danach zum Beispiel als Politoffiziere zum Einsatz. Anerkennung in der Bevölkerung konnte die NVA mit ihrer Einsatzbereitschaft und Unterstützung in Folge von Wetter-Katastrophen erringen. Die NVA war aber dennoch keine Armee des Volkes, weil das Volk keinen Einfluss auf sie ausüben konnte.

Ab Mitte der 1980er Jahre zeigten sich sowohl in der Gesellschaft als auch im Militär der DDR zunehmend Erscheinungen der Stagnation und der Verkrustung. Die NVA geriet gemeinsam mit dem Staat, den sie zu verteidigen hatte, und der Partei, in deren Dienst sie stand, in eine tiefe Krise. Erst im Herbst 1989 lösten sich die jahrzehntelang von der SED dominierten ostdeutschen Streitkräfte schrittweise aus der Umklammerung der Partei. Die Ende 1989 einsetzende Militärreform führte zwar zu einer Demokratisierung der Armee, so u.a. zur Bildung unabhängiger Interessenvertretungen für die Soldaten, sie blieb aber vor dem Hintergrund des sich rasch vollziehenden Prozesses der Vereinigung beider deutscher Staaten letztlich unvollendet.

Am 2. Oktober 1990, um 24.00 Uhr, wurde die NVA aufgelöst. Ihre Reste gingen in der Armee des ehemaligen Gegners auf: die Bundeswehr.

Literatur

Bröckermann, Heiner (2011): Landesverteidigung und Militarisierung. Militär- und Sicherheitspolitik der DDR in der Ära Honecker 1971 bis 1989. Hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Berlin: Christoph Links Verlag (= Militärgeschichte der DDR, Bd. 20).

Eisenfeld, Bernd/ Schicketanz, Peter (2011): Bausoldaten in der DDR. Die "Zusammenführung feindlich-negativer Kräfte" in der NVA. Berlin: Christoph Links Verlag.

Heinemann, Winfried (2011): Die DDR und ihr Militär. Hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, München: Oldenbourg (= Beiträge zur Militärgeschichte. Militärgeschichte kompakt, 3).

Kopenhagen, Wilfried/ Mehl, Hans/ Schäfer, Knut (2006): Die NVA. Land-, Luft- und Seestreitkräfte. Stuttgart: Motorbuch Verlag.

Lapp, Peter Joachim (2013): Grenzregime der DDR. Aachen: Helios Verlag.

Minow, Fritz (2011): Die NVA und Volksmarine in den Vereinten Streitkräften. Geheimnisse der Warschauer Vertragsorganisation, Friedland: Steffen Verlag.

Rogg, Matthias (2009): Armee des Volkes? Militär und Gesellschaft in der DDR. Hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, 2. erw. Aufl., Berlin: Christoph Links Verlag (= Militärgeschichte der DDR, Bd. 15).

Wenzke, Rüdiger (2013): Ab nach Schwedt! Die Geschichte des DDR-Militärstrafvollzugs. 2. durchges. Aufl., Berlin: Christoph Links Verlag.

Wenzke, Rüdiger (2013): Ulbrichts Soldaten. Die Nationale Volksarmee 1956 bis 1971. Hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Berlin: Christoph Links Verlag (= Militärgeschichte der DDR, Bd. 22)

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Wenzke, Rüdiger (2014): Nationale Volksarmee. Die Geschichte. München: Bucher Verlag.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Rüdiger Wenzke für bpb.de

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"Armee der Einheit" Die Transformation der deutschen Streitkräfte im Zuge der Wiedervereinigung

Von Rudolf Josef Schlaffer 1.5.2015 Dr. Rudolf Josef Schlaffer ist Offizier und Militärhistoriker am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) in Potsdam. Am ZMSBw leitet er den Projektbereich Einsatzgeschichte und ist Lehrbeauftragter am Historischen Seminar und im Studiengang "Military Studies" der Universität Potsdam. Er hat zahlreiche Veröffentlichungen zur deutschen Militärgeschichte vorgelegt.

Mit der deutschen Wiedervereinigung sollten nicht nur zwei Gesellschaften sondern auch zwei Armeen zusammenwachsen. Die Integration der Nationalen Volksarmee der DDR in die Bundeswehr vierlief dabei nicht ohne personelle Härten und außenpolitische Bedenken.

Altes Personal, neue Uniformen: Ein Offizier des 1. Artillerie-Regiments der DDR in Lehnitz bei Oranienburg erhält am 21. September 1990 das rote Barret seiner neuen Uniform der Bundeswehr. (© picture-alliance)

Nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht am 8. und am 9. Mai 1945 hörten das Deutsche Reich und die deutschen Streitkräfte auf zu existieren. Im Jahr 1949 traten unter Aufsicht der jeweiligen Besatzungsmächte das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) in Kraft. Nach mehreren Jahren der konzeptionellen Planung bauten beide deutsche Staaten, integriert in ihre jeweiligen politischen und militärischen Bündnisse (Nordatlantische und Warschauer Vertragsorganisation), ihre Streitkräfte auf: in der Bundesrepublik ab 1955 die Bundeswehr und in der DDR ab 1956 die Nationale Volksarmee (NVA).

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Während des Kalten Krieges blieben beide Streitkräfte fest in die NATO und den Warschauer Pakt integriert. Auf der einen Seite die NVA als Parteiarmee in einer sozialistischen Diktatur unter sowjetischer Hegemonie, auf der anderen Seite die unter der Führungsmacht USA in die NATO integrierte Bundeswehr als Streitkräfte in der Demokratie der Bundesrepublik Deutschland.

Mit dem Ende des Kalten Krieges, der Auflösung des Warschauer Pakts sowie der Sowjetunion während und in der Folge der Zäsur von 1989/90 ergab sich die historische Chance der Deutschen Wiedervereinigung. Mit dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes (GG) zum 3. Oktober 1990 musste fortan auch die NVA aufgelöst und Teile davon in die Bundeswehr integriert werden. Die politische und militärische Führung der Bundeswehr stand vor der Herausforderung, zwei unterschiedlich organisierte und ausgerüstete deutsche Streitkräfte zusammenzuführen. Die Bündnis- und Einsatzfähigkeit der Bundeswehr galt es ungemindert zu erhalten und auch den berechtigten Ängsten anderer Nationen vor einem nicht nur wirtschaftlich, sondern auch militärisch starken Deutschland zu begegnen.

Abwicklung der NVA

Wie das gesamte politische System der DDR schob auch die NVA einen beträchtlichen Reformstau in der Ausrüstung und im inneren Zustand vor sich her. Vor allem die "Ghettoisierung" der Soldaten in den Kasernen bei einem sich wandelnden gesellschaftlichen Umfeld hätte eine Reform des Dienstbetriebes erfordert. Nachhaltige Veränderungen verhinderten aber die überalterten Spitzenfunktionäre des Ministeriums für Nationale Verteidigung (MfNV). Den 69-jährigen Verteidigungsminister, Armeegeneral Heinz Kessler, ersetzte ab November 1989 der vorsichtige Reformer, Admiral Theodor Hoffmann. Die neue NVA-Führung glaubte noch Ende 1989, dass sie einige Jahre Zeit hätte, um die Streitkräfte auf einen westlichen Standard zu bringen. Damit hätte es aber weiterhin zwei deutsche Armeen und zwei Ministerien geben müssen. Diese Option war für die Bundesregierung und die Führung der Bundeswehr undenkbar.

Daher musste die DDR-Regierung unter Ministerpräsident Lothar de Maizière schneller als erwartet abrüsten. Im Jahr 1969 verfügte die NVA noch über 183.000 Soldaten. Bis zum Oktober 1990 reduzierte die neue DDR-Regierung die NVA schließlich von etwa 173.000 Anfang 1989 auf unter 90.000 Soldaten. Deutlich weniger Grundwehrpflichtige wurden einberufen, so dass etwa 50.000 dieser 90.000 Soldaten Freiwillige und Berufssoldaten blieben.

Der "2+4-Vertrag" von 1990/91 gab die Höchstgrenze von 370.000 Soldaten für das wiedervereinigte Deutschland vor. (http://www.bpb.de/nachschlagen/gesetze/zwei-plus-vier-vertrag/44115/artikel-3) Dazu mussten die Streitkräfte der Bundesrepublik um fast 130.000 Mann reduziert werden, während gleichzeitig ein Teil des Personals und Materials der NVA übernommen werden sollte.

Ein Land, zwei Armeen?

Die Option von zwei Armeen in einem Staat war vor allem außenpolitisch bedeutsam, weil Polen die Stationierung von NATO-Truppen direkt an seiner Grenze zunächst nicht zulassen wollte. Schließlich willigte die polnische Regierung vor allem aufgrund der Bestätigung der deutsch-polnischen Grenze doch ein – nicht zuletzt auch deshalb, weil ansonsten unmittelbar an der polnischen Grenze deutsche Streitkräfte weitgehend ohne internationale Kontrolle und mit einer eigenständigen Führung außerhalb der Bundeswehr gestanden hätten. Dies wäre beim "Zwei-Armeen-Modell" der Fall gewesen.

Der im April 1990 ernannte DDR-Minister für Abrüstung und Verteidigung Rainer Eppelmann strebte eine Auflösung beider Bündnisse des Kalten Krieges an. Am 20. Juli 1990, dem Jahrestag des gescheiterten Attentats auf Adolf Hitler (http://www.bpb.de/apuz/186864/widerstand), ließ er die NVA einen neuen Eid schwören, in dem weder auf den Sozialismus noch auf die Sowjetunion verwiesen wurde. Der sowjetische Staatschef Michael Gorbatschow stimmte indes einer gesamtdeutschen Mitgliedschaft in der NATO zu. Damit waren alle Spekulationen über die weitere Existenz einer

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 69 ostdeutschen Armee beendet. Die Bundeswehr der Einheit sollte nicht mehr als 370.000 Mann stark sein, gegenüber offiziell 495.000 west- und 173.000 ostdeutschen Soldaten nur zwei Jahre zuvor.

Entlassungswelle und Stasi-Aufarbeitung

Die Offiziere und Unteroffiziere der NVA sahen sich spätestens seit Sommer 1990 gezwungen, sich mit einer Zukunft im zivilen Berufsleben auseinanderzusetzen. Politische Unterstützung für ihre Lage erhielten sie kaum, denn die DDR regierten nunmehr hauptsächlich ehemalige Oppositionelle, welche die NVA als einen wichtigen Teil des Unterdrückungsstaates ablehnten. Die ehemalige Sozialistische Einheitspartei (SED) sicherte sich eine Rolle im vereinigten Deutschland als Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) und nahm fortan eine radikal pazifistische Position ein. Auch das Ansehen der NVA-Offiziere und Unteroffiziere in der Mehrheit der Bevölkerung erwies sich als sehr gering, waren doch 99 Prozent der Offiziere auch Mitglieder der SED gewesen.

Die Personalabteilungen der Bundeswehr entließen alle Frauen, Generale und Berufssoldaten der NVA im Alter von über 55 Jahren. Den Bundeswehrsoldaten sollte nicht zugemutet werden, dass ehemalige führende Angehörige der NVA nunmehr als Offiziere in der Bundeswehr dienen sollten. Weiterhin legten die Personalfachleute Kategorien fest, nach denen weder Offiziere der ehemaligen Grenztruppen noch Politoffiziere übernommen werden konnten. Angehörige der Verwaltung Aufklärung, des Auslandsgeheimdienstes der DDR, fanden genauso wenig eine Berücksichtigung wie diejenigen, die als hauptamtliche oder informelle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) tätig waren.

Viele dieser Stasi-Akten blieben erhalten und konnten im Hinblick auf die persönliche Verstrickung in das DDR-System ausgewertet werden. Dennoch hofften etliche, dass ihre Rolle im Spitzelsystem folgenlos bleiben würde. Für die Bundeswehr brachte diese schrittweise Überprüfung manche Probleme mit sich. In den folgenden Jahren mussten daher nicht wenige Offiziere und Unteroffiziere plötzlich aus dem Dienst entlassen werden, weil ihre Stasi-Tätigkeit aufgedeckt wurde. Insgesamt entfernte die Personalführung der Bundeswehr so mehr als 1.500 ehemalige NVA-Soldaten aus dem aktiven Dienst.

Degradierung und Übernahme

Ein zusätzliches Problem stellte die unterschiedliche Dienstgradstruktur dar. Die NVA beförderte Offiziere sehr schnell, die Offiziere der Bundeswehr dagegen unterlagen einer strikten Rangfolge nach Dienstalter. Die Bundeswehr kannte dagegen der Militärtradition vor 1945 folgend ein eigenständiges Unteroffizierkorps, das auch Führungsverantwortung übertragen bekommen hatte. Die NVA verfügte jedoch nur über wenige Spezialisten als Unteroffiziere, so dass viele weniger qualifizierte Tätigkeiten in der NVA von Offizieren erledigt wurden. Daher behielten viele ehemalige NVA-Offiziere ihren Dienstgrad in der Bundeswehr nicht. Diesen bot man daher eine Laufbahn als Unteroffizier an. Eine zusätzliche Alternative bestand in der Laufbahn der Fachdienstoffiziere, die höchstens mit dem Dienstgrad Stabshauptmann abschloss.

Viele betroffene NVA-Soldaten empfanden diese Verfahrensweise als Degradierung und Deklassierung. Aufgrund des Einigungsvertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR verloren alle NVA-Offiziere ihren Dienstgrad. Mit dem Übernahmeangebot akzeptierten sie den Dienstgrad, den sie ihrem Dienstalter entsprechend bei einer regulären Laufbahn in der Bundeswehr erreicht hätten.

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 70 Rund 18.000 NVA-Soldaten werden weiterbeschäftigt

Für den Rest des Jahres 1990 wurden die ehemaligen NVA-Angehörigen mit einem speziellen Status weiterbeschäftigt, um in dieser Zeit geeignete Bewerber auszuwählen. Rund 1.000 Soldaten versetzte die Personalführung mit Lohnfortzahlung in den Wartestand, während die anderen 50.000 Berufssoldaten ihren aktiven Dienststatus behielten. 51.000 konnten somit zur Bewerbung für den weiteren Dienst in der Bundeswehr zugelassen werden. Etwa 11.700 bewarben sich für eine Offizierslaufbahn, etwa 12.300 als Unteroffiziere und rund 1.000 wollten in der Mannschaftslaufbahn dienen. Während von den Unteroffiziers- und Mannschaftsdienstgraden mehr als 90 bzw. 80 Prozent der Bewerber übernommen wurden, erhielt nur knapp die Hälfte der Offiziersbewerber ein Übernahmeangebot. Der Rest verließ Ende Dezember 1990 die Bundeswehr.

2.650 Offiziere wurden von einem speziellen Beratungsgremium vergleichbar dem Personalgutachterausschuss (PGA) untersucht. Während der Aufbaujahre der Bundeswehr in den 1950er Jahren hatte der PGA ehemalige Angehörige der Wehrmacht für eine Verwendung in den Spitzenpositionen geprüft. Lediglich in 35 Fällen erhielten die NVA-Angehörigen eine Ablehnung von dem Beratungsgremium.

Der Personalgutachterausschuss

In den Aufbaujahren der Bundeswehr war es schwierig, erfahrenes Ausbildungs- und Führungspersonal zu rekrutieren, das eine "unbelastete" Vergangenheit hatte. Viele der sich freiwillig Meldenden waren ehemalige Angehörige der Wehrmacht oder anderer Verbände wie der Waffen-SS.

Um sicherzustellen, dass unter den Freiwilligen keine Kriegsverbrecher oder Täter des nationalsozialistischen Regimes waren, setzte das Parlament 1955 per Gesetz den Personalgutachterausschuss ein. Die Mitglieder waren 25 Männer und Frauen aus dem öffentlichen Leben und 13 ehemalige Berufssoldaten der Wehrmacht.

Der Ausschuss sollte zum einen Bewerber für leitende Posten (ab dem Dienstgrad Oberst aufwärts) auf deren persönliche Eignung prüfen, und zum anderen Richtlinien bestimmen, nach denen die übrigen Freiwilligen zur Bundeswehr zugelassen werden sollten. Zu den Eignungskriterien zählten neben charakterlichen Eigenschaften, Bildungsstand und Leistungsfähigkeit vor allem die Belastung der Bewerber im nationalsozialistischen Regime und ihre Einstellung zur Widerstandsgruppe des 20. Juli 1944.

Ausgeschlossen vom Dienst in der Bundeswehr wurden ausdrücklich Kriegsverbrecher, Generale und Oberste der Waffen-SS sowie Mitglieder verfassungsfeindlicher Parteien oder Vereinigungen. Ehemalige Angehörige der SS und des SD durften nur unter "besonderen Umständen" oder mit persönlicher Genehmigung des Bundesverteidigungsministers eingestellt werden. Ebenfalls ausgeschlossen waren u.a. Mitglieder des kommunistischen "Nationalkommitees Freies Deutschland", in dem sich deutsche Kriegsgefangener und Emigranten in der Sowjetunion zusammengeschlossen hatten, und allgemein Mitglieder "politisierender Wehrverbände".

Bis zur Vorlage des Abschlussberichts im Dezember 1957 wurden dem Personalgutachterausschuss durch das Bundesministerium für Verteidigung 553 Bewerbungen zur Prüfung vorgelegt. Davon wurden 470 angenommen, 51 abgelehnt und die restlichen 32 wurden durch den Antragssteller zurückgezogen.

Weiterführende Informationen:

• Gesetz über den Personalgutachterausschuss für die Streitkräfte (http://www.bgbl.de/xaver/bgbl/ start.xav?startbk=Bundesanzeiger_BGBl&jumpTo=bgbl155s0451.pdf) vom 23. Juli 1955

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 71

• Tätigkeitsbericht des Personalgutachterausschusses (http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/03/001/0300109. pdf) vom 6. Dezember 1957

• Dokumentation des Bundesarchivs (http://www.argus.bstu.bundesarchiv.de/BW27-41699/index. htm) zum Personalgutachterausschuss

Die Redaktion, 23.06.2014

Die rund 18.000 Soldaten der ehemaligen NVA – etwa 6.000 Offiziere, 11.000 Unteroffiziere und 800 Manschaftssoldaten – wurden zunächst als Zeitsoldaten mit einer Verpflichtungsdauer von zwei Jahren in die Bundeswehr übernommen. Sie erhielten die Option entweder mit Übergangsbeihilfe auszuscheiden oder eine Weiterverpflichtung mit einer späteren Übernahme in das Dienstverhältnis als Berufssoldaten anzustreben. Von 1990 bis zum Jahr 1996 liefen vielfältige Um- und Weiterbildungen für NVA-Offiziere und Unteroffiziere. So mussten sie beispielsweise noch den Offizierslehrgang absolvieren bzw. den Stabsoffiziersgrundlehrgang bestehen.

Bis Ende 1998 reduzierte sich die Zahl der ehemaligen NVA-Angehörigen in der Bundeswehr auf noch 9.300 Soldaten. Von Bedeutung war für die Bundeswehr weniger der relativ geringe Anteil von ehemaligen NVA-Soldaten. Vielmehr rekrutierte sich inzwischen ein beträchtlicher Prozentsatz des Nachwuchses der Streitkräfte aus den neuen Bundesländern. Ehemalige NVA-Offiziere schafften es, die Zulassung für den Generalstabsdienst der Bundeswehr zu erhalten und somit bis in die Spitzenpositionen der militärischen Führung aufzurücken. Als ersten ehemaligen NVA-Offizier beförderte Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen im Januar 2014 Gert Gawellek zum Brigadegeneral.

Nur wenig Militärgerät wird übernommen

Neben dem Personal übernahm die Bundeswehr auch Material. Doch nur wenige Handwaffen und Waffensysteme der NVA konnten in den Streitkräften weiterbenutzt werden. Ein erheblicher Teil des Geräts entsprach nicht den Sicherheitsbestimmungen. Das Sturmgewehr der NVA, das AK-47, verschoss ein Kaliber, das nicht den NATO-Standards entsprach, so dass es ausgesondert werden musste. Die Jagdflugzeuge vom Typ MiG 29 flogen dagegen bis zum Jahr 2004 beim Jagdgeschwader 73 "Steinhoff" in Laage bei Rostock.

Eine geregelte Materialübergabe von der NVA zur Bundeswehr gab es nicht. Vielerorts übernahm die Bundeswehr Waffen, Ausrüstung und Fahrzeuge so wie sie diese vorgefunden hatte. Die Abwicklung des nicht gebrauchten/unbrauchbaren Materials übernahmen zuerst staatliche Organisationen, ab dem Jahr 1995 dann private Unternehmen. Die Treuhandanstalt veräußerte die VEB-Kombinate und damit auch die ehemaligen Rüstungsbetriebe der DDR.

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 72 Neues Personal, neue Aufgaben

Bis zum Sommer 1990 hatte sich die Bundeswehrführung nicht ernsthaft mit der Integration von Personal und Material in die Bundeswehr befasst. Es standen somit mehrere Herausforderungen gleichzeitig an: Die "alte" Bundeswehr musste stark reduziert werden, um die international vereinbarte Stärke von 370.000 Soldaten zu erreichen, die NVA aufgelöst und teilweise integriert werden. Zudem verlegte die Bundeswehr - neben der umfangreichen Unterstützung des Abzugs der verbliebenen russischen Truppen aus den neuen Bundesländern bis 1994 - immer mehr Truppen ins Ausland, zuerst in die Türkei während des Irakkrieges von 1991 und später nach Bosnien-Herzegowina, dann in das Kosovo, nach Afghanistan oder in den Kongo.

Mit dem Beitritt der DDR in den Geltungsbereich des Grundgesetzes sollte eine Reform der Wehrverfassung nicht notwendig werden. Somit blieb mit der Bundeswehr über das historisch bedeutsame Jahr 1990 hinaus eine deutsche "Armee der Einheit" bestehen. Jedoch veränderte die Integration von Personal und Material der NVA, die Einberufung von Grundwehrpflichtigen aus den neuen Bundesländern bis zur Aussetzung der Allgemeinen Wehrpflicht im Jahr 2011 auch das innere Gefüge der Bundeswehr.

Katalysator der "inneren Einheit"

Die Innere Führung als Organisations- und Führungsphilosophie der Bundeswehr, die den in einer freiheitlich-demokratischen Ordnung lebenden Staatsbürger in Uniform erforderte, erwies sich als derart elastisch, dass auch ehemalige auf den Sozialismus eingeschworene Soldaten sich erfolgreich integrieren konnten. Mit der Praxis, die (Grund-)Wehrpflichtigen aus den neuen in den alten Bundesländern und umgekehrt einzuberufen sowie Bundeswehreinheiten und Wehrverwaltungen in den neuen Bundesländern flächendeckend zu stationieren, wirkte die neue Bundeswehr in den Jahren nach der deutschen Wiedervereinigung auch als einer der vielen Katalysatoren, um den Prozess der inneren Einheit der Bundesrepublik (http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-einheit/deutsche-teilung- deutsche-einheit/43787/probleme-der-inneren-einigung) voranzubringen.

Seit die Auslandseinsätze der Bundeswehr immer mehr in das öffentliche Bewusstsein der Deutschen gelangten, wurden die Streitkräfte eher als "Armee im Einsatz" und immer weniger als "Armee der Einheit" rezipiert. Damit setzte sich eine öffentliche, aber auch bundeswehrinterne Wahrnehmungsänderung aufgrund der sicherheitspolitischen Veränderungen ab dem Jahr 1990 und den damit verbundenen Einsätzen der Bundeswehr durch.

"Armee der Einheit" beschreibt aber nicht das Selbstverständnis einer geeinten Armee, die durch eine gleichberechtigte Synthese zweier deutscher Streitkräfte entstanden war. Die Bundeswehr integrierte vielmehr DDR-Bürger – anteilig auch ehemalige NVA-Soldaten – in ein bereits bestehendes System. Der Schutzbereich der Bundeswehr erweiterte sich damit lediglich auf die neuen Bundesländer. Die NVA wurde vollständig aufgelöst und die Bundeswehr konnte infrastrukturell in den neuen Bundesländern aufgebaut werden. Der Begriff "Armee der Einheit" umschreibt als Terminus die ersten gesamtdeutschen Streitkräfte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges von 1990 bis zur Gegenwart.

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 73 Literatur:

Schlaffer, Rudolf J. (2009). Die Bedeutung des Balkans als strategisch-operativer Raum für die Bundeswehr. In: Bernhard Chiari & Gerhard P. Groß (Hrsg.). Am Rande Europas? Der Balkan – Raum und Bevölkerung als Wirkungsfelder militärischer Gewalt (S. 347-363). München: Oldenbourg.

Schlaffer, Rudolf J. (2010). Die Bundeswehr nach 1990: Armee der Einheit und im Auslandseinsatz. Militärgeschichte. Zeitschrift für Historische Bildung, 2010 (3), S. 16-21.

Schlaffer, Rudolf J. (o.J.). Die Bundeswehr nach 1990: Armee der Einheit und im Auslandeinsatz. In: Dokumentation der zweiten Sitzung des deutsch-koreanischen Konsultationsgremiums zu Vereinigungsfragen (S. 743-755). o.O.

Sieg, Dirk (2000). Armee der Einheit 1990-2000. Bundesministerium der Verteidigung. Verfügbar unter: http://www.bmvg.de/resource/resource/MzEzNTM4MmUzMzMyMmUzMTM1MzMyZTM2MzEzM... (http:// www.bmvg.de/resource/resource/MzEzNTM4MmUzMzMyMmUzMTM1MzMyZTM2MzEzMDMwMzA­ zMDMwMzAzMDY3NmE2ODMyNmMzMzc0NjMyMDIwMjAyMDIw/ARMEE_DER_EINHEIT.PDF)

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Rudolf Josef Schlaffer für bpb.de

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Grundlagen der Verteidigungspolitik

1.1.2019

Welche Funktion sollen Streitkräfte erfüllen? Wer entscheidet über Ihren Einsatz? Und wie vertragen sich Militär und Demokratie? Die Verteidigungspolitik in Deutschland unterliegt der parlamentarischen Kontrolle und ist verfassungsrechtlich geregelt. Verteidigungspolitische Entscheidungen werden aber nicht nur von innenpolitischen Akteuren getroffen. Sie sind häufig in internationale Zusammenhänge eingebunden.

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Die NATO Deutschland im Bündnis

Von Sven Morgen 5.7.2019 Sven Morgen ist Politikwissenschaftler und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Internationale Beziehungen der Universität Jena. Er lehrt und forscht vor allem zu deutscher Außen- und Sicherheitspolitik, Auslandseinsätzen und dem deutschen Engagement in der NATO.

Die NATO ist für Deutschland das wichtigste sicherheitspolitische Bündnis. Seit dem Ende des Kalten Krieges hat sie mehrere Wandel durchlaufen. Ihre Zukunft hängt auch davon ab, wie die europäischen Mitglieder ihre eigene Sicherheit organisieren.

Gegründet wurde der Nordatlantik-Pakt (North Atlantic Treaty Organization, NATO) im Jahr 1949 durch zwölf europäische und nordamerikanische Staaten (http://www.bpb.de/politik/hintergrund- aktuell/288560/70-jahre-nato). Als System kollektiver Verteidigung richtete sich das Bündnis gegen die Sowjetunion. Diese stellte mit ihren Expansionsbestrebungen insbesondere für die europäischen Staaten eine unmittelbare Bedrohung dar und trat vor dem Hintergrund des sich anbahnenden Kalten Krieges in eine direkte Konkurrenz zu den USA um die politische und wirtschaftliche Vormachtstellung in der Welt.

"Keep the Soviet Union out, the Americans in, and the Germans down" – so soll ihr erster Generalsekretär Lord Hastings Ismay den Sinn und Zweck der NATO einmal zusammengefasst haben (https://www.nato.int/cps/en/natohq/declassified_137930.htm). Allerdings war die Bundesrepublik Deutschland – kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges – nicht unter den Gründungsstaaten der NATO. Das geteilte Deutschland entwickelte sich aber bald zum zentralen Schauplatz des Ost-West- Konfliktes. Die Westalliierten stimmten schließlich 1955 der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik und ihrem NATO-Beitritt zu, um sie dauerhaft an die westliche Militärallianz zu binden. Als Frontstaat im Kalten Krieg war die Bundesrepublik ein Eckpfeiler der Bündnisverteidigung in Mitteleuropa.

Wandel zum System kollektiver Sicherheit

Spätestens mit dem Ende des Kalten Krieges – durch den Wegfall des Hauptgegners Sowjetunion und die Auflösung des Warschauer Paktes (http://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/223801/1991- ende-warschauer-pakt) – verlor die Verteidigungsdimension des Bündnisses an Bedeutung. Die NATO vollzog eine Transformation von einem System kollektiver Verteidigung hin zu einem System kollektiver Sicherheit. Systeme kollektiver Sicherheit wirken nicht nur nach außen, sondern auch nach innen und befrieden die Beziehungen der Mitglieder untereinander. Das zeigte sich auch schon vor 1989: So kann beispielsweise angenommen werden, dass die konfliktträchtige Beziehung zwischen der Türkei und Griechenland (http://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/185876/der-zypernkonflikt) (beide Mitglieder seit 1952) durch die Mitgliedschaft in der NATO entschärft und deswegen mit politischen statt mit militärischen Mitteln ausgetragen wurde.

In den 1990er Jahren wurde der Ansatz der kollektiven Sicherheit für die Allianz zu einem bestimmenden Merkmal (auch für Deutschland) und außerdem zur Grundlage für die Osterweiterung der NATO (http:// www.bpb.de/izpb/209690/zwischen-verteidigungsallianz-und-weltpolizei-die-nato). Durch den in Aussicht gestellten Beitritt bot die NATO den ehemaligen Staaten des Warschauer Paktes eine attraktive Perspektive, die die Entwicklung der jungen Demokratien im ost- und mitteleuropäischen Raum in Richtung liberaler Demokratiemodelle und einer politischen Stabilisierung förderte. 1999

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 76 traten Polen, Tschechien und Ungarn der NATO bei, 2004 folgten Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei und Slowenien. Damit wurde das Bündnisgebiet bis an die Grenzen der Russischen Föderation erweitert. Die Motivation der ost- und mitteleuropäischen Staaten, die für die NATO-Mitgliedschaft notwendigen kostspieligen und herausfordernden politischen und militärischen Transformationen zu vollziehen, lag wiederum in der Attraktivität des Systems der kollektiven Verteidigung gegenüber der (historisch bedingten) wahrgenommenen Bedrohung durch Russland.

Deutschland konnte in den 1990er Jahren mithilfe der NATO als System kollektiver Sicherheit seine geostrategische Position verbessern. Durch die NATO-Osterweiterung und die damit verbundene Stabilisierung Mittel- und Osteuropas wäre Deutschland im Falle eines militärischen Konfliktes nicht mehr Frontstaat, sondern nimmt nun im Herzen Europas eine relativ sichere geopolitische Position ein und ist vollständig von "Freunden" umgeben.

Die (geo-)strategischen Perspektiven und Handlungsfelder

Bis 1990 waren Abschreckung und potentielle Abwehr gegenüber der Sowjetunion die dominierende geostrategische Perspektive der NATO. Die Landesverteidigung in Europa bzw. des nordatlantischen Raumes war die Hauptaufgabe des Bündnisses. Dementsprechend waren die NATO und die Streitkräfte ihrer Mitglieder ausgerichtet.

Von 1990 bis 1999 stand das Streben nach Selbsterhaltung und der damit notwendigen Transformation der NATO als Organisation und Bündnis im Vordergrund. Um diese Aufgabe zu bewältigen, richtete die NATO in ihrem strategischen Konzept von 1991 den Fokus auch auf nicht-traditionelle Sicherheitsbedrohungen und schuf so neue Aufgabenfelder für die Allianz. Als Ausdruck eines erweiterten Sicherheitsverständnisses und im Sinne einer nicht mehr nur bedrohungs- sondern eher risikoorientierten und damit proaktiveren Sicherheitspolitik wurde das Aufgabenfeld der NATO auf Krisenprävention und Krisenmanagement ausgeweitet (http://www.bpb.de/izpb/209690/zwischen- verteidigungsallianz-und-weltpolizei-die-nato).

Mit der neuen strategischen Perspektive spielten nicht mehr nur unmittelbare bzw. territoriale Sicherheitsbedrohungen eine Rolle. Stattdessen rückten regionale und globale Entwicklungen und deren mittelbare Auswirkungen auf NATO-Mitgliedstaaten in den Mittelpunkt. Nicht-traditionelle Sicherheitsbedrohungen wie innerstaatliche Konflikte (z.B. Bürgerkriege) und transnationale Phänomene wie Terrorismus oder die Unterbindung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen (Proliferation) standen nun auch auf der Agenda der NATO. Diese Transformation hat die NATO als Akteurin teilweise selbst aktiv vorangetrieben, teilweise haben auch die Mitgliedstaaten die Allianz als ein geeignetes Instrument gesehen, um neue sicherheitspolitische Herausforderungen anzugehen.

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Ein Tornado-Kampfflugzeug startet am 23. März 1999 von Italien aus zu einem Aufklärungsflug. Deutschland beteiligte sich damals an den NATO-Luftangriffen auf Serbien. Der Einsatz im Rahmen des Kosovokriegs ist bis heute völkerrechtlich umstritten. (© picture-alliance/dpa) Dieser strategische Perspektivwandel äußerte sich in den 1990er Jahren insbesondere in den ersten Out-of-area-Einsätzen der NATO in Bosnien und Herzegowina (IFOR) und im Kosovo (Operation Allied Force und KFOR). Wie sehr die NATO der Logik des erweiterten Sicherheitsbegriffs als handlungsleitenden Maßstab verinnerlicht hatte, zeigte sich auch daran, dass die NATO-Luftangriffe zur Beendigung des Kosovokrieges trotz fehlendem Mandat des UN-Sicherheitsrates (http://www.bpb. de/internationales/weltweit/vereinte-nationen/48583/sicherheitsrat) und damit ohne völkerrechtliche Grundlage durchgeführt wurden. Stattdessen wurde stark auf die moralische Legitimität verwiesen, da mit dem Einsatz die anhaltenden massiven Menschenrechtsverletzungen Serbiens im Kosovo beendet werden sollten.

Gleichzeitig fungierte die NATO in den 1990er Jahren – neben der Europäischen Gemeinschaft – auch als "Sozialisierungsagentur" für die ehemaligen Staaten des Warschauer Paktes, die ein Teil der westlichen Staatengemeinschaft werden wollten. Die Partnerschaftsprogramme und die Beitrittsprozesse integrierten die osteuropäischen Staaten in die NATO und dann später die Europäische Union. Hier war die strategische Perspektive eher nach innen gerichtet.

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 78 Neuausrichtung auf Auslandseinsätze

Die erfolgreiche Konsolidierung und Neuausrichtung der NATO fand ihren Ausdruck im strategischen Konzept von 1999. Mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 (http://www.bpb.de/politik/ hintergrund-aktuell/168712/9-11-und-die-politischen-folgen-11-09-2013) und der darauffolgenden erstmaligen Ausrufung des NATO-Bündnisfalls erfuhr die Out-of-area-Ausrichtung eine Entgrenzung. Wurde dieser Ansatz in den 1990er Jahren im Bündnis noch regional verstanden und auf die Peripherie des Bündnisgebiets bezogen, so wurde "out of area" in den 2000er Jahren auch global gedacht. Daraus wurde ein weltweiter Handlungsanspruch abgeleitet, wann immer die Interessen der Mitgliedstaaten durch Bedrohungen im Sinne eines erweiterten Sicherheitsbegriffs gefährdet waren.

Diese Entwicklung war jedoch auch durch teils heftige interne Auseinandersetzungen über die Ausrichtung und den Einsatz der NATO gekennzeichnet. Da die potentiellen Out-of-area-Einsätze (beispielsweise im Irak 2002/03) für die Mehrheit der Mitglieder oft eher nachrangig ("second order concerns") waren und deswegen die unmittelbare Notwendigkeit für deren Durchführung den eigenen Bevölkerungen nur schwer zu vermitteln war, konnte nicht immer ein Konsens über das gemeinsame Vorgehen hergestellt werden. Dies führte dazu, dass neben der NATO neue Kooperationsformen (z. B. die Koalition der Willigen – "coalition of the willing" – im Irakkrieg) entstanden und damit der Zusammenhalt und die Bedeutung des Bündnisses geschwächt wurden.

Afghanistan als Belastungsprobe

Der Afghanistaneinsatz sorgte für eine weitere Belastungsprobe innerhalb der NATO. Deutschland beteiligte sich von Beginn an am Afghanistaneinsatz, wurde aber für die eher zurückhaltende Ausgestaltung des Einsatzes und die strikten Einsatzvorbehalte ("caveats") von den Bündnispartnern kritisiert. Diese hätten negative Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit der deutschen Truppen im Einsatz und damit auch auf das Handeln der NATO insgesamt gehabt. Das führte zu teils scharfen Diskussionen und dem Vorwurf der mangelnden Bündnissolidarität Deutschlands durch die Verbündeten.

Die 2000er Jahre waren für die NATO und insbesondere auch für Deutschland sicherheitspolitisch eine große Herausforderung, da die Neuausrichtung auf neue Bedrohungslagen eine Anpassung der militärischen Fähigkeiten erforderte. Die Streitkräfte der meisten Mitgliedstaaten waren strukturell noch auf Landes- und Bündnisverteidigung in Zentral- bzw. Osteuropa ausgerichtet. Globales Krisenmanagement erforderte jedoch eine Neukomposition der Streitkräfte, die mit großen Reformbemühungen und hohen finanziellen Belastungen einherging. Auch in Deutschland wurden mehrere Strukturreformen der Bundeswehr auf den Weg gebracht (http://www.bpb.de/apuz/170817/ neuausrichtung-ohne-regierungskunst). So wurde die Gesamtzahl der Soldatinnen und Soldaten stetig verringert, aber dafür z.B. bei Ausrüstung und Fahrzeugen stärker das Augenmerk auf die globale Einsatzfähigkeit gelegt. Somit wurde versucht, den neuen Realitäten und Aufgaben gerecht zu werden.

Trotz diverser interner Auseinandersetzungen hat die NATO auch in den 2000er Jahren nicht an Bedeutung verloren. Ganz im Gegenteil führte die NATO immer neue Operationen und Einsätze durch, an denen sich Deutschland – trotz fehlender unmittelbarer Bedrohung – beteiligte und so mit dem Bündnis solidarisch zeigte (z.B. bei Einsätzen in Mazedonien, am Horn von Afrika, in der Türkei oder im Mittelmeer). Dass Bundesregierung und Bundestag die Beteiligung an einem größeren NATO- Einsatz verweigerten, war trotz der zunehmend ablehnenden Einstellung der öffentlichen Meinung in Deutschland bislang die Ausnahme (Libyen-Einsatz 2011).

Diese Phase wurde im strategischen Konzept von 2010 (http://www.nato.int/lisbon2010/strategic- concept-2010-eng.pdf) fortgeschrieben. Mit diesem Konzept wurden die Entwicklungen in den 2000er Jahren aufgegriffen und die im Zuge der Osterweiterung hinzu gekommenen Mitgliedstaaten bei der Ausrichtung der NATO mit einbezogen. Die NATO betonte drei gleichrangige Aufgaben:

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1. kollektive Verteidigung nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrages (Bündnisfall),

2. politisches und militärisches Krisenmanagement und

3. kooperative Sicherheit mit Drittstaaten.

Krim-Annexion als Wendepunkt

Mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland (http://www.bpb.de/politik/hintergrund- aktuell/287565/krim-annexion) im Frühjahr 2014 wurde erneut ein Wechsel der strategischen Ausrichtung der NATO erforderlich. Was sich bereits 2008 im Georgien-Krieg angedeutet hatte, hat sich 2014 bestätigt: Russland ist bereit, in seiner Außenpolitik und zur Durchsetzung seiner geopolitischen Interessen auch auf militärisch-aggressive Mittel zurückzugreifen, bestehende völkerrechtliche Verträge und Abkommen zu missachten und somit die europäische Friedensordnung zu untergraben.

Damit wurde seitens der NATO-Staaten im Sinne der Abschreckung eine stärkere Betonung der Territorialverteidigung in Europa notwendig, die auf den NATO-Gipfeln in Wales (2014) und Warschau (2016) beschlossen wurde. Diese Entwicklung machte die sehr ressourcenintensive und herausfordernde Umstrukturierung zu weltweit einsetzbaren Streitkräften in den 2000er Jahren ein Stück weit hinfällig. Die zuvor abgebauten Fähigkeiten wurden wieder gebraucht und mussten dementsprechend neu aufgebaut oder modernisiert werden.

Deutsche Kampfpanzer werden am 27. Juli 2018 auf Bahnschienen verladen. Sie sind Teil eines Batallions der Bundeswehr, das im Rahmen der "Enhanced Forward Presence" der NATO in Litauen stationiert ist. (© picture-alliance/ dpa)

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 80 Mehr Verteidigungsausgaben

Das russische Vorgehen erforderte aus Perspektive insbesondere der osteuropäischen NATO-Staaten eine (teilweise) Rückkehr zur Bündnisverteidigung, in der durch Abschreckung der russischen Außenpolitik Einhalt geboten werden soll. Deswegen wurde 2014 in Wales, neben konkreten Maßnahmen wie der Stationierung von (auch deutschen) NATO-Truppen in den baltischen Staaten (http://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/243279/nato-einsatz) ("Enhanced Forward Presence"), auch ein Ziel für die Erhöhung der Verteidigungsausgaben der einzelnen NATO-Staaten beschlossen: Jährlich sollen mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Streitkräfte ausgegeben werden. Damit soll eine wirksame Abschreckung gegenüber Russland aufrechterhalten werden.

In Deutschland wird das Zwei-Prozent-Ziel politisch kontrovers diskutiert. Obwohl der damalige deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier den Beschluss mitausgehandelt und bestätigt hatte, war spätestens im Wahlkampf zur Bundestagswahl 2017 eine Diskussion darüber ausgebrochen, ob die Erhöhung der Verteidigungsausgaben und die Belastung der deutschen Staatsfinanzen verhältnismäßig sei. Mittlerweile hat sich die Debatte um das Zwei-Prozent-Ziel auch international emotionalisiert, da dieses von mancher Seite als Indikator für die Bereitschaft zur Bündnissolidarität herangezogen wird. Das äußert sich nicht zuletzt auch in den Forderungen des amtierenden US- Präsidenten Donald Trump. Trump hat mehrfach mit einem Rückzug der USA gedroht, sollten die NATO-Mitgliedstaaten – allen voran Deutschland – nicht stärker zu den gemeinsamen militärischen und Rüstungsausgaben beitragen.

Perspektiven und Kontroversen

Die in diesem Text dargestellte Entwicklung der NATO ist stark aus deutscher Perspektive wiedergegeben. Nimmt man eine globale Perspektive ein, ergibt sich ein breiteres Bild an Herausforderungen und Probleme für die NATO, die die Zukunft des Bündnisses bestimmen könnten.

Eine strukturelle Herausforderung sind die mittlerweile weit auseinandergehenden Bedrohungswahrnehmungen der NATO-Staaten. Hier lässt sich ein klares Gefälle zwischen Nord- und Osteuropa auf der einen und Südeuropa auf der anderen Seite ausmachen. Insbesondere Polen und die baltischen Staaten, aber auch Deutschland, Norwegen und die NATO-Partnerstaaten Schweden und Finnland, blicken seit 2014 verstärkt in Richtung Osten und verstehen Russland als Bedrohung für die territoriale Integrität des NATO-Bündnisgebietes. Die ans Mittelmeer angrenzenden Mitgliedstaaten wie Frankreich, Spanien und Italien sehen sich eher durch Bedrohungen im Sinne eines erweiterten Sicherheitsbegriffs wie Terrorismus und Migration gefährdet. Diese unterschiedlichen Bedrohungswahrnehmungen führen zu abweichenden Prioritätssetzungen und damit einhergehenden strategischen Ausrichtungen der Streitkräfte in den einzelnen Mitgliedstaaten. Das könnte zukünftig auch zu Problemen oder Unklarheiten bei der Bündnissolidarität führen, wenn es darum geht, wo, wie und warum NATO- Streitkräfte eingesetzt werden sollen.

Auf globaler Ebene wird die Konkurrenz zwischen den USA und China die internationale Politik der kommenden Jahrzehnte prägen. Die Volksrepublik China stellt mit ihrem wirtschaftlichen und damit verbundenen politischen Aufstieg immer mehr die hegemoniale Vormachtstellung der USA in Frage. Darauf haben die USA bereits schon unter Präsident Barack Obama mit dem "Pivot to Asia" reagiert und mehr Aufmerksamkeit und Streitkräfte nach Asien verlagert. Damit ist jedoch zwangsläufig eine schrittweise Abkehr der USA von Europa verbunden. Diese Entwicklung wird sich in dem Maße verstärken, in dem Russland von den USA nur noch als eine regionale Herausforderung und nicht als globaler Akteur gesehen wird. In der Folge droht den Europäern, dass die USA sie immer weniger bei der Bewältigung ihrer regionalen Sicherheitsherausforderungen unterstützen können bzw. wollen.

Das bleibt in Europa nicht unbemerkt. Längst läuft eine politische Debatte, ob und wie die europäischen Staaten militärisch eigenständiger werden können, um auch ohne oder nur mit wenig Unterstützung der USA sicherheitspolitisch handlungsfähig zu sein. Inwieweit eine eigene europäische Armee eine sinnvolle Alternative oder Ergänzung zur NATO darstellen könnte oder ob es auf eine engere

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Zusammenarbeit der nationalen Streitkräfte im Rahmen europäischer Institutionen hinausläuft, ist bislang offen. In einer Situation, in der eine neue Konkurrenzsituation zwischen dem liberal- demokratischen Westen und autokratischen Akteuren wie China und Russland absehbar ist, könnten die NATO sowie der Partner USA jedoch weiterhin das Mittel der Wahl bleiben, um europäische Sicherheitsinteressen regional und global zu gewährleisten.

Quellen und Literaturhinweise

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Dettke, Dieter (2009): Deutschland als europäische Macht und Bündnispartner (http://www.bpb.de/ apuz/32070/deutschland-als-europaeische-macht-und-buendnispartner), in: Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 15-16/2009, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, S. 41-46.

Galeotti, Mark (2016): Heavy Metal Diplomacy: Russia’s Political Use of ist Military in Europe since 2014, European Council on Foreign Relations. Online verfügbar unter: https://www.ecfr.eu/publications/ summary/heavy_metal_diplomacy_russias_political_use_of_its_military_in_europe_since (https://www. ecfr.eu/publications/summary/heavy_metal_diplomacy_russias_political_use_of_its_military_in_europe_since).

Giegerich, Bastian (2012): NATO im Einsatz – Determinanten multilateraler Strategiefähigkeit, in: Seiffert Anja / Langer, Phil C. / Pietsch, Carsten (Hrsg.): Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan, Springer VS, Wiesbaden, S. 65-78.

Górka-Winter, Beata und Madej, Marek (2010): NATO Member States and the New Strategic Concept: An Overview, The Polish Institute of International Affairs, Warschau. Online verfügbar unter: https:// www.files.ethz.ch/isn/116768/PISM_Report_NATO_ENG.pdf (https://www.files.ethz.ch/isn/116768/ PISM_Report_NATO_ENG.pdf).

Mader, Matthias (2016): Öffentlichen Meinung zu Auslandeinsätzen der Bundeswehr. Zwischen Antimilitarismus und transatlantischer Orientierung, Springer VS, Wiesbaden.

Meiers, Franz-Josef (2017): Bundeswehr am Wendepunkt. Perspektiven deutscher Außen- und Sicherheitspolitik, Springer VS, Wiesbaden.

Morgen, Sven (2015): Parlamentsvorbehalt und deutsche Bündnissolidarität in der NATO, in: Kneuer, Marianne / Masala, Carlo (Hrsg.): Solidarität. Politikwissenschaftliche Zugänge zu einem vielschichtigen Begriff, Sonderband der Zeitschrift für Politikwissenschaft, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2015, S. 198-229.

Naumann, Klaus (2010): Einsatz ohne Ziel? Die Politikbedürftigkeit des Militärischen, Sonderausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/4.0/ deed.de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/4.0/deed.de/ Autor: Sven Morgen für bpb.de

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Das Rahmennationenkonzept

Von Björn Müller 2.5.2019 Björn Müller ist Politikwissenschaftler und freiberuflich als Fachjournalist für verschiedene Medien tätig. Er recherchiert und veröffentlicht v.a. zu Themen der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

Das Rahmennationenkonzept der NATO ist Deutschlands militärpolitische Strategie, um eine "Armee der Europäer" zu schaffen. Trotzdem ist es in der Öffentlichkeit kaum bekannt. Eine Einführung.

Die Zusammenarbeit mit europäischen Armeen hat in der Bundeswehr Tradition, am engsten ist sie mit den Niederlanden: Soldaten des 1995 aufgestellten Deutsch-Niederländischen Korps bei einer Militärparade in Münster. (© picture-alliance/dpa) Das Rahmennationenkonzept beschreibt – allgemein gesagt – eine Form der militärischen Zusammenarbeit Deutschlands mit europäischen Ländern innerhalb der NATO. Die Kernidee des Konzepts: Die Bundeswehr bietet vor allem kleineren europäischen Streitkräften einen Rahmen, in dem militärische Ressourcen zusammengeführt, gemeinsam geplant und beschafft werden. Zudem sollen die Partner mit Einheiten ihrer Streitkräfte in die Bundeswehr eingebunden werden können, um gemeinsame Großverbände zu bilden. So soll langfristig ein schlagkräftiger Verbund europäischer Armeen entstehen.

Deutschland stellte das Vorhaben 2013 bei der NATO vor. Ein Jahr später, auf dem Gipfel der Militärallianz in Wales, wurde das Rahmennationenkonzept verabschiedet; meist genannt unter seiner englischen Bezeichnung "Framework Nations Concept" – kurz FNC. Waren zu Beginn zehn Staaten an der deutschen FNC-Gruppe beteiligt, sind es inzwischen 21 – darunter auch EU-Staaten, die nicht

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 83

Mitglied der NATO sind. Neben Deutschland verfolgen auch Großbritannien und Italien eigene Rahmennationenkonzepte. Diese unterscheiden sich jedoch deutlich in Zielsetzung und Maßnahmen von der deutschen Initiative.

[An dieser Stelle befindet sich ein eingebettetes Objekt, das wir in der PDF-/EPUB-Version nicht ausspielen können. Das Objekt können Sie sich in der Online-Version des Beitrags anschauen: http:// www.bpb.de/politik/grundfragen/deutsche-verteidigungspolitik/290423/rahmennationenkonzept]

Sinkende Wehretats führen zu mehr Zusammenarbeit

Den Impuls für die Militärplaner der Bundeswehr, das "Framework Nations Concept" zu entwickeln, gab der Rückgang der Militärausgaben in Europa. Nach dem Ende des Kalten Krieges senkten die Europäer ihre Verteidigungsausgaben stetig ab. Die Auswirkungen: Große Länder wie Deutschland behielten zwar ein breites Spektrum an militärischen Fähigkeiten von Infanterie bis hin zu Lufttransport und Raketenabwehr, dünnten diese aber dafür immer weiter aus. Das deutsche Heer schrumpfte von zehn auf heute drei Divisionen und verlor damit an militärischer Schlagkraft. Dieses Vorgehen wird in der Bundeswehr als "Breite vor Tiefe" bezeichnet. Kleinere Staaten gaben ganze Fähigkeiten auf: So verzichten die Niederlande seit 2011 auf eine eigene Panzertruppe. Bei den neuen NATO-Mitgliedern in Mittel- und Osteuropa wie Polen blieb die Modernisierung der Streitkräfte auf NATO-Standards Stückwerk.

Hinzu kam: Die knappen Finanzmittel wurden zunehmend in Fähigkeiten investiert, die zur Bewältigung der Friedens- und Stabilisierungseinsätze benötigt wurden, an denen sich seit den 1990er Jahren auch die Bundeswehr beteiligt. Dafür wurden vor allem mobile und flexibel einsetzbare "leichte" Infanterieeinheiten eingesetzt. An Investitionen in aufwendige und teure Fähigkeiten wie militärische Logistik und schwere Waffen wie Panzer wurde dagegen gespart. In der Folge wurden die Lücken und Ungleichgewichte im militärischen Portfolio der NATO-Staaten immer größer.

Um handlungsfähig zu bleiben, arbeiteten die europäischen Armeen zunehmend zusammen. Schon vor der Einführung des Rahmennationenkonzeptes wurden in der Bundeswehr und in anderen europäischen Streitkräften Strukturen geschaffen, um Einheiten anderer Armeen für Einsätze aufnehmen zu können. Um das zu koordinieren, entstanden Krisenreaktionshauptquartiere der NATO – die meisten als Kooperation einer "Rahmennation" mit kleineren Partnern. Die größeren Armeen stellten in solchen Fällen das meiste Personal, übernahmen einen Großteil der Unterhaltskosten und führten den Einsatz. Ein Beispiel dafür ist die Führungsrolle der Bundeswehr im Regionalkommando Nord während des NATO-Einsatzes ISAF in Afghanistan (2001-2014).

Auch militärische Fähigkeitslücken wurden mittels dieses Rahmennationen-Ansatzes angegangen. 2004 stieß die Bundeswehr den Aufbau eines gemeinsamen Programms für den strategischen Lufttransport von NATO- und EU-Staaten an, genannt SALIS (Strategic Airlift International Solution). Ein Notbehelf. Da die Europäer nicht über ausreichend Großraumtransportflugzeuge für lange Strecken verfügen, chartern sie solche Maschinen bis heute über private Anbieter. So können sie zügig Material und Truppen in entfernte Einsatzgebiete wie Afghanistan bringen. Die Bundeswehr nimmt den Mammutanteil an Flugstunden ab und garantiert so günstige Preise für kleinere SALIS-Partner wie Norwegen, die nur Mini-Kontingente abrufen.

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 84 Das Rahmennationenkonzept soll Fähigkeitslücken schließen

Doch das Kernproblem der europäischen Streitkräfte blieb bestehen: ihre stetig schwindende militärische Substanz durch schrumpfende Wehrbudgets, verstärkt durch die Finanzkrise ab 2008. Diese Kardinalschwäche will Deutschland mit seinem Rahmennationenkonzept angehen. Die entstandenen Fähigkeitslücken sollen geschlossen werden. Dazu nimmt die Bundeswehr die NATO- Planungsziele als Maßstab. In diesen legen die Mitgliedstaaten gemeinsam fest, welche militärischen Fähigkeiten die NATO braucht, und teilen die Beiträge untereinander auf.

So soll die Allianz ihr militärisches "Level of Ambition" umsetzen, das zuletzt 2006 definiert wurde. Zusätzlich zur Verteidigung des Bündnisgebietes will die NATO gleichzeitig zwei große sowie bis zu sechs kleinere Militäroperationen bewältigen können. Bisher versuchten die Staaten vor allem alleine und in unkoordinierten Kooperationen die Rüstungsziele zu erreichen. Das liegt auch an den nationalen Interessen, bevorzugt die eigene Industrie zu bedienen. Europäische Armeen nutzen derzeit zum Beispiel 17 unterschiedliche Kampfpanzer-Modelle. Allgemein verbindliche Regeln zur Rüstung über die NATO festzulegen, scheiterte stets daran, dass die Staaten ihre Souveränität in diesem Punkt nicht einschränken wollen.

Das Rahmennationenkonzept setzt deswegen auf "Koalitionen von Willigen", die sie sich verständigen, NATO-Planungsziele über gemeinsame Rüstungsprojekte zu erreichen. So sollen Fähigkeitslücken nach und nach geschlossen werden. Inzwischen gibt es 24 solcher FNC-Cluster. In jenen arbeiten Länder zusammen an Fähigkeiten, an denen sie besonderes Interesse haben, wie U-Bootbekämpfung, Logistik oder Medizinische Versorgung. Eine supranationale Steuerung über die NATO oder Sanktionsmechanismen gegen Teilnehmer, die Zugesagtes nicht erfüllen, gibt es nicht. Die Einzelstaaten behalten die Hoheit über ihr Engagement im FNC. Zudem ist nicht für alle Cluster öffentlich bekannt, welche konkreten Projekte sich dahinter verbergen und welche Länder sich wie beteiligen.

Die Projekte zur Entwicklung und Beschaffung gemeinsamen Materials soll der Aufbau militärischer Großverbände der Cluster-Staaten erleichtern. Auch hierfür dient die Bundeswehr als Rahmen. So gibt es zwischen dem deutschen Heer und den Landstreitkräften der Tschechischen Republik und Rumäniens so genannte "Affiliationsabkommen". Der sperrige Begriff bedeutet so viel wie "Annäherung". Beide Armeen gliedern einzelne Brigaden (circa 5.000 Soldaten) in Bundeswehr- Divisionen (bis zu 20.000 Soldaten) ein, behalten aber das Kommando über ihre eingebundenen Truppen. Die Einbindung dient der gemeinsamen Ausbildung und der Vereinheitlichung von Einsatzkonzepten. Bundeswehr- und Partnereinheiten sollen nahtlos zusammenarbeiten können oder wie es im Militärsprech heißt: "interoperabel" werden.

Am weitesten ist diese Verzahnung der Bundeswehr mit den Streitkräften der Niederlande fortgeschritten. Seit 1995 gibt es bereits ein Deutsch-Niederländisches Korps. Zuletzt haben beide Staaten sich wechselseitig z.B. Panzereinheiten und Panzergrenadiereinheiten unterstellt und arbeiten daran, ihre Marine-Infanterie interoperabel zumachen. Solche Kooperationen sollen bewirken, dass sich die Anforderungen der Partner an die verwendeten Waffensysteme angleichen, und das Bilden von Fähigkeitsclustern erleichtern. Das heißt beispielsweise: Im "Pionier-Cluster" des FNC zielt eine Kooperation auf die Anschaffung eines amphibischen Brückensystems. Damit können Panzer und Nachschub Flüsse überqueren. NATO-Einheiten wären so in der Lage, flexibler in Osteuropa zu operieren, was wichtig ist, um die gewünschte glaubhafte Abschreckung gegen Russland zu erzielen. Abgestimmte Heerestruppen würden es erleichtern, sich auf ein Brückensystem zu einigen. Über das Verbinden solcher Einzelprojekte soll ein gut abgestimmter Verbund europäischer Streitkräfte entstehen.

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 85 Sowohl Deutschland als auch kleinere Staaten profitieren

Diese Perspektive – eine "Armee der Europäer" – hat erst mit der Krim-Annexion Russlands 2014 echtes Potenzial zur Verwirklichung erhalten. Seit Kriegsbeginn in der Ukraine messen Europas Staaten konventionellen Streitkräften, die über umfassende Fähigkeiten zur Landes- und Bündnisverteidigung verfügen, wieder mehr Bedeutung zu. Es gibt in der Folge einen gesteigerten politischen Willen, wieder in das Militär zu investieren. Vor allem mit Blick auf Osteuropa ist das Rahmennationenkonzept für Deutschland wichtig. Polen und die baltischen Staaten fordern gegen Russland eine glaubhafte militärische Rückendeckung Deutschlands.

Dafür ist das FNC aus deutscher Sicht der geeignete Ansatz und entspricht dem klassischen Führungskonzept in der europäischen Politik, als "Erster unter Gleichen" Interessen zu koordinieren und zusammenzuführen. Das Rahmennationenkonzept ergänzt Deutschlands Anspruch als wirtschaftliche Führungsmacht Europas um einen militärpolitischen Pfeiler. Damit könnte Deutschland vor allem in Osteuropa punkten. Die meisten FNC-Staaten kommen von dort. In wichtigen Politikfeldern wie Migration und Energieversorgung – Stichwort Nordstream 2 – sind sie oft entschiedene Gegner Deutschlands und verweigern sich dessen Politik. Für die Bundesrepublik ein schwerwiegendes Problem: Denn das schwächt seine traditionelle politische Führungsrolle in dieser Region. Ein überzeugender Auftritt als militärische Anlehnungsmacht gegen Russland über das FNC wäre ein Hebel für verstärkte politische Einflussnahme in Osteuropa und hätte das Potenzial, dortige Schwierigkeiten auf anderen Politikfeldern auszubalancieren. Liefert Deutschland dagegen keinen militärischen Beitrag, der als Rückendeckung gegen Russland überzeugt, wird das seine Führungsrolle in Osteuropa weiter schwächen.

Gelingt es Berlin, diese Führungsrolle einzunehmen, könnte das auch die Gemeinsame Verteidigungspolitik der EU stärken. Denn Deutschland will das FNC mit den Militärmaßnahmen bei der EU verweben. Seit 2016 ist das Vorhaben auch für Nicht-NATO-Staaten und Organisationen geöffnet. Deutschland zielt darauf ab, die FNC-Cluster mit Projekten der ständigen strukturierten Militär- Zusammenarbeit der EU (PESCO) zu verbinden. Laut dem Verteidigungsministerium haben vier PESCO-Projekte in deutscher Koordinationsverantwortung gemeinsame Elemente mit FNC-Projekten. Zudem läuft die Arbeitskommunikation der FNC-Staaten seit 2017 über den FNC Digital Workspace – eine Datenbank, die von der Europäischen Verteidigungsagentur stammt.

Potenziale des Rahmennationen-Konzepts

Generell bietet das Rahmennationenkonzept sowohl politische als auch wirtschaftliche Vorteile für Deutschland. In einem dadurch entstehenden europäischen Militärnetzwerk wäre es ein entscheidender Koordinator, dessen politisches Gewicht zunehmen wird. Ein gutes Beispiel dafür ist das geplante Logistik-Kommando der NATO in Ulm. Nur größere Armeen wie die Bundeswehr können das notwendige militärische Fachpersonal für solche aufwendigen Militär-Organisationen bereitstellen und eine Führungsrolle übernehmen. Durch das FNC entsteht zudem ein günstiges Geschäftsumfeld für die deutsche Rüstungsindustrie. Zumal jene vor allen in den Bereichen stark aufgestellt ist, in denen die osteuropäischen FNC-Partner großen Modernisierungsbedarf haben – z.B. bei Panzern.

Die kleineren Teilnehmer am FNC wie Finnland bis Rumänien sehen den Vorteil, über die Fähigkeitscluster an modernste Waffensysteme zu kommen, die sie sich alleine nicht leisten könnten. Das Andocken an FNC-Vorhaben ermöglicht ihnen, sich beim laufenden Ausbau der NATO-Strukturen einzubringen und militärpolitisch mitzureden. Speziell für die Osteuropäer bietet das FNC eine Möglichkeit, die verschleppte Modernisierung ihrer Armeen umzusetzen, die in Masse noch mit Material aus Zeiten des Ostblocks gerüstet sind.

Kurzfristig möchten die Partner vom militärischen Know-how der Bundeswehr profitieren, um rasch die eigene Kampfkraft zu erhöhen. So kooperiert Polens Panzertruppe mit jener des deutschen Heeres. Die Polen wollen ihr Wissen zum Einsatz ihres modernsten Kampfpanzers verbessern – des deutschen Leopard 2. Für die Rumänen dürfte interessant sein, wie die Bundeswehr Drohnen zur präzisen Leitung

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 86 von Artilleriefeuer nutzt. Eine wichtige Fähigkeit heutiger Kriegsführung, die der rumänischen Armee noch fehlt.

Nationale Interessen und Finanzierung gefährden Umsetzung

Das Rahmennationenkonzept hat zwar großes Potenzial, um Europa militärisch besser aufzustellen; seine Umsetzung ist jedoch gefährdet. Ein Problem: Frankreich, Deutschlands engster Partner für die Gestaltung europäischer Sicherheitspolitik, betrachtet das FNC mit Argwohn. Bei der ersten Militärmacht des Kontinents wird befürchtet, dass durch die FNC-Cluster vor allem die deutsche Wehrindustrie profitiert und ihre Stellung im europäischen Rüstungsmarkt auf Kosten der französischen Konkurrenz ausbaut. Bis zuletzt versuchte Paris 2014 die Implementierung des FNC bei der NATO zu hintertreiben. Der wichtigste FNC-Partner in Osteuropa, Polen, verfolgt dagegen einen militärpolitischen Kurs eigener Stärke. Es ist ungewiss, ob das Land schlussendlich bereit sein wird, sich in von Deutschland dominierte Strukturen dauerhaft einzubinden.

Generell ist die hohe Flexibilität des FNC Stärke und Schwäche zugleich. Für Staaten ist es attraktiv, erst einmal mitzumachen, da sie völlig frei jene Cluster wählen können, die ihren ureigenen Interessen entsprechen. Verbindlichkeit gibt es dagegen nicht. Ändert sich das Einzelinteresse, ist ein Rückzug einfach.

Die größte Hürde für das Gelingen des FNC ist jedoch dessen Finanzierung. Das Konzept basiert auf dem Ansatz geringerer Kosten für jeden durch Lastenteilung. Doch mit weiter schrumpfenden oder stagnierenden Verteidigungshaushalten lässt es sich nicht umsetzen. Die Teilnehmer müssen nachhaltig und langfristig verlässlich in ihre Streitkräfte investieren. Ein Blick auf die Teilnehmerstaaten des FNC und ihre Etatplanungen ergibt ein gemischtes Bild. Nur die baltischen Staaten und Polen investieren aus Sicht der NATO ausreichend in ihre Wehretats und erreichen das Ziel von zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Andere Länder heben die Ausgaben nur leicht an, wie die Tschechische Republik, oder sparen bei der Verteidigung, wie Finnland.

Auch Deutschland ist in diesem Punkt angreifbar: Nach Angaben der NATO lag der Anteil der deutschen Verteidigungsausgaben 2018 bei 1,23 Prozent des BIP – auch wenn die absoluten Ausgaben erneut gestiegen sind auf 42 Mrd. Euro. Das Verteidigungsministerium veranschlagt einen Aufwuchs des Budgets auf 1,5 Prozent des BIP bis 2024 als erste Zielmarke. Doch diese Umsetzung ist in der Bundesregierung umstritten und in der mittelfristigen Finanzplanung nicht abgebildet.

Dabei hat sich Deutschland ganz dem Rahmennationen-Konzept verschrieben. Laut der Konzeption der Bundeswehr von 2018 soll multinationale Fähigkeitsplanung künftig der Standard für die deutschen Streitkräfte sein. Das ebenfalls 2018 erlassene neue Fähigkeitsprofil sieht ausdrücklich vor, die Bundeswehr bis 2031 zur Rahmenarmee im Sinne des Konzepts zu ertüchtigen. Es bleibt fraglich, ob Deutschland die darin vorgesehene Führungsrolle auch finanziell erfüllen kann.

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 87 Quellen und Literaturhinweise

Bundesministerium der Verteidigung (2018): Neues Fähigkeitsprofil komplettiert Konzept zur Modernisierung der Bundeswehr. Online verfügbar unter: https://www.bmvg.de/de/aktuelles/neues- faehigkeitsprofil-der-bundeswehr-27550 (https://www.bmvg.de/de/aktuelles/neues-faehigkeitsprofil- der-bundeswehr-27550)

Bundesministerium der Verteidigung (2016): Das Weißbuch 2016 zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr. Online verfügbar unter: https://www.bmvg.de/portal/a/bmvg/start/weissbuch/ downloads/ (https://www.bmvg.de/resource/resource/UlRvcjZYSW1RcEVHaUd4cklzQU4yNWFvejh­ LbjVyYnR1OCt3ZlU1N09FVkZoYmR4Sjljb1E2UW9BdC9qQ3U1bmVEck9CbDgvcUFZaUhSL1dSSF­ A0alRxelpqQ3dyK1E3LzB4N0lXQ0lhcHM9/Weissbuch2016_barrierefrei.pdf)

Bundesministerium der Verteidigung (2013): Konzeption der Bundeswehr. Online verfügbar unter: http://www.planungsamt.bundeswehr.de/portal/a/plgabw/start/grundlagen/konzeption_der_bundeswehr/ (http://www.planungsamt.bundeswehr.de/resource/resource/UlRvcjZYSW1RcEVHaUd4cklzQU4yNW­ FvejhLbjVyYnR1OCt3ZlU1N09FV3pqL2ZEQzFXVTdqakJCcWcvd1gxQXRGejZKQXROYzN4VUxoc­ DFRNTBxR0gzSnJDd3dLdUlDVVpHM21KTG5jNVU9/130701%20-%20Konzeption%20der%20Bundeswehr. pdf)

Glatz, Rainer L. & Zapfe, Martin (2017): Das Rahmennationenkonzept der Nato, in: CSS Analysen zur Sicherheitspolitik Nr. 218 (http://www.css.ethz.ch/content/dam/ethz/special-interest/gess/cis/center- for-securities-studies/pdfs/CSSAnalyse218-DE.pdf), ETH Zürich.

Major, Claudia & Mölling, Christian (2014): Das Rahmennationenkonzept. Deutschlands Beitrag , damit Europa verteidigungsfähig bleibt, in: SWP-Aktuell 67 (https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/ products/aktuell/2014A67_mjr_mlg.pdf), SWP Berlin.

Ruiz Palmer, Diego A. (2016): The Framework Nations' Concept and NATO: Game-Changer for a New Strategic Era or Missed Opportunity?, in: Research Paper Nr. 132 (http://www.ndc.nato.int/download/ downloads.php?icode=495), NATO Defense College Rome.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/4.0/ deed.de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/4.0/deed.de/ Autor: Björn Müller für bpb.de

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Europäische Verteidigungspolitik

Von Annegret Bendiek 21.9.2018 Dr. Annegret Bendiek ist Politikwissenschaftlerin und stellvertretende Leiterin der Forschungsgruppe "EU/Europa" bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Sie forscht und publiziert unter anderem zu den Themen Außenbeziehungen und Sicherheitspolitik der EU (GASP & GSVP).

Seit mehr als 60 Jahren ringt Europa um eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik – auch abseits der Nato. Zuletzt haben die europäische Staaten ihre militärische Zusammenarbeit verstärkt. Wird die EU zur Verteidigungsunion?

Das "Europa der Sicherheit" als integrationspolitisches Narrativ

"Die Zeiten in denen wir uns auf andere völlig verlassen können, die sind ein Stück vorbei", so hat die Bundeskanzlerin Angela Merkel den europäischen Geist in einer Wahlkampfrede im Sommer 2017 beschworen. Reagiert hat sie damit auf die zunehmenden Signale aus den USA, dass Europa zukünftig selbst für seine Sicherheit aufkommen müsse. Die Idee eines "sicheren Europas" hat nicht zuletzt hierdurch an Bedeutung gewonnen und schlägt sich nun sowohl im mehrjährigen Finanzplan der Europäischen Union (http://www.consilium.europa.eu/de/policies/multiannual-financial-framework/) (EU) als auch in den Reformvorschlägen zur Zukunft der EU nieder, wie sie der französische Präsident Emmanuel Macron formuliert hat (https://de.ambafrance.org/Initiative-fur-Europa-Die-Rede-von- Staatsprasident-Macron-im-Wortlaut). In den Worten von Macrons soll "une Europe qui protège" ("Ein Europa, das schützt") einschließlich einer gemeinsamen Verteidigung als Chance für die europäische Integration begriffen werden. Jean-Claude Juncker, Präsident der Europäischen Kommission, wurde noch konkreter und forderte in seiner Rede über die Lage der Union (https://ec.europa.eu/commission/ priorities/state-union-speeches/state-union-2017_de) im September 2017 eine "funktionierende Europäische Verteidigungsunion" bis 2025. Die europäischen Planungsstäbe der Außen- und Verteidigungsminister arbeiten seither mit Hochdruck daran, Europas "strategische Autonomie" konzeptionell zu unterfüttern.

Die Ambitionen, die mit diesem Ziel verbunden sind, gehen weit auseinander, auch deshalb, weil der allererste Versuch zur Gründung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (http://www.bpb.de/ nachschlagen/lexika/das-europalexikon/176907/europaeische-verteidigungsgemeinschaft-evg) (EVG) in den 1950er Jahren kläglich scheiterte. Nach dem sogenannten Pleven-Plan (http://www.bpb.de/ nachschlagen/lexika/das-europalexikon/177193/pleven-plan) sollte eine Verteidigungsgemeinschaft inklusive einer europäischen Armee mit einheitlicher Ausbildung und Ausrüstung unter Kommando eines europäischen Verteidigungsministers gegründet werden. Mit Deutschlands Beitritt sollte der Besatzungsstatus Deutschlands beendet und die Wiederbewaffnung des Landes nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgen. Die Vorstellung, französische Soldaten unter einen deutschen Oberbefehlshaber zu stellen, wie im Pleven-Plan vorgesehen, war kurz nach Kriegsende des Zweiten Weltkrieges in Frankreich innenpolitisch nicht durchsetzbar. Die EVG scheiterte an der französischen Nationalversammlung. Es kam schließlich anders: Deutschland wurde Mitglied der NATO (http://www. bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/206006/60-jahre-nato-mitgliedschaft) und gründete die Bundeswehr. Bis heute ist die NATO der entscheidende Pfeiler der Europäischen Verteidigung.

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 89 Neue Maßnahmen für die Europäische Verteidigung

60 Jahre europäische Integration später soll nun ein neuer Anlauf unternommen werden: Für das neue "Europa der Sicherheit und Selbstbehauptung" (Juncker) haben sich im Dezember 2017 die Verteidigungsministerinnen und –minister der EU auf mehrere Projekte zur Zusammenarbeit in der europäischen Außen, Sicherheits- und Verteidigungspolitik geeinigt:

• die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (https://eeas.europa.eu/headquarters/headquarters- homepage/35781/st%C3%A4ndige-strukturierte-zusammenarbeit-%E2%80%93-ssz_de) (Permanent Structured Cooperation, PESCO), die gemeinsame Prioritäten der 25 EU-Staaten definiert und mehr gemeinsame Rüstungsprojekte fördern soll,

• die Coordinated Annual Review on Defence (https://www.eda.europa.eu/what-we-do/our-current- priorities/coordinated-annual-review-on-defence-(card)) (CARD), ein jährlicher Bericht über die europäische Verteidigungslandschaft, der auch Empfehlungen für nationale Rüstungsvorhaben enthalten soll, und

• der Europäische Verteidigungsfonds (http://europa.eu/rapid/press-release_MEMO-17-1476_de. htm), ein Fördertopf der Kommission, aus dem gemeinsame Rüstungsforschung finanziert werden soll.

Den politischen Ambitionen einer Vergemeinschaftung der Verteidigungspolitik stehen allerdings rechtliche Hürden entgegen, die sich nur mit einer Änderung der Europäischen Verträge überwinden ließen. Während in der Globalen Strategie der EU (https://europa.eu/globalstrategy/sites/ globalstrategy/files/eugs_de_0.pdf) (EUGS) vom Juni 2016 festgehalten wurde, dass die "Verteidigungszusammenarbeit" der EU die "Norm werden soll", sieht der Vertrag von Lissabon (https:// eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=CELEX:12007L/TXT) (2009) nur das Ziel "der schrittweisen Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik der Union" vor.

Aber auch abseits der EU tut sich etwas: Im Juni 2018 unterzeichneten neun europäische Länder eine Absichtserklärung (https://www.defense.gouv.fr/content/download/535740/9215739/file/LOI_IEI%2025% 20JUN%202018.pdf) zur Gründung der sogenannten "Europäischen Interventionsinitiative" (EI2) – eine Idee des französischen Präsidenten Macron. Zu den Unterzeichnern gehören neben Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Belgien, Dänemark, Estland, Portugal, die Niederlande und Spanien. "EI2 beinhaltet nicht die Schaffung einer neuen schnellen Eingreiftruppe", sondern sei eine Initiative, um ein "flexibles, unverbindliches Forum" von Staaten zu schaffen, die "bereit und fähig" seien, wenn nötig europäische Sicherheitsinteressen zu verteidigen, heißt es in der Absichtserklärung. Zur multilateralen Einbindung könne man im Rahmen von EU, Nato, UN oder in "Ad-hoc-Koalitionen" aktiv werden. Für Staaten wie Italien und andere Verbündete soll die Tür der EI2 offen bleiben.

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Die Infografik als PDF herunterladen (http://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/180921_S.PDF). Lizenz: cc by- nc-nd/3.0/de/ (bpb) Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik in der EU

Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (http://www.bpb.de/internationales/europa/ europaeische-union/42923/grafik-esvp-strategie) (GSVP, bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon: ESVP) ist seit 1999 ein eigenes Politik- und Handlungsfeld innerhalb der EU. Sie wird als integraler Bestandteil der Zusammenarbeit in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (http:// www.bpb.de/internationales/europa/europaeische-union/42920/grafik-gasp-strukturen) (GASP) nach wie vor durch die einzelnen Mitgliedstaaten gestaltet (Art. 42 bis 46 des Vertrags über die Europäische Union, EUV (https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=celex%3A12012M%2FTXT)). Durch Krisenbewältigungsmaßnahmen soll die GSVP zum Erreichen der Ziele der GASP beitragen. Ihr Mandat ist begrenzt: Der Auftrag der Landesverteidigung ist nicht vorgesehen, denn die GSVP kann nur außerhalb des Unionsgebiets bemüht bzw. eingesetzt werden. Ein Einsatz im Innern der EU ist sogar vertraglich ausgeschlossen. In Art. 42 Absatz 1 EUV heißt es:

"[Die GSVP] sichert der Union eine auf zivile und militärische Mittel gestützte Operationsfähigkeit. Auf diese kann die Union bei Missionen außerhalb der Union zur Friedenssicherung, Konfliktverhütung und Stärkung der internationalen Sicherheit in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen zurückgreifen. Sie erfüllt diese Aufgaben mit Hilfe der Fähigkeiten, die von den Mitgliedstaaten bereitgestellt werden."

Faktisch hat die EU seit 2003 mehr als 30 zivile und militärische GSVP-Missionen (https://eeas.europa. eu/topics/military-and-civilian-missions-and-operations/430/military-and-civilian-missions-and-operations_en) in Europa, Asien und Afrika eingeleitet und durchgeführt.

Der Vertrag (Art. 42 Absatz 7 EUV) führt darüber hinaus für den Fall eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats eine Beistandsklausel ein. Frankreich hat nach den Terroranschlägen von Paris im November 2015 erstmalig von dieser Klausel Gebrauch gemacht (https://www.eurotopics.net/de/151778/frankreich-ruft-eu-buendnisfall-aus). Sie entspricht in etwa der

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Verpflichtung aus Artikel 5 des Nato-Vertrags (https://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_17120. htm?selectedLocale=de), der für die EU-Mitgliedstaaten, die auch Mitglied der Nato sind, weiter Vorrang hat. Mitgliedstaaten können auf freiwilliger Basis dem betroffenen Land beistehen – auch aber nicht zwingend mit militärischen Maßnahmen.

Im Juni 2014 fasste der Europäische Rat (ER) einen Beschluss, militärische Mittel nur als letzte Option und unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips sowie in Übereinstimmung mit den nationalen verfassungsrechtlichen Vorgaben, wie z.B. dem deutschen Parlamentsvorbehalt, und dem Verbot eines Einsatzes von Militär im Innern einzusetzen. Die demokratische Legitimität im Bereich der GSVP wird zwar derzeit auf EU-Ebene durch eine Interparlamentarische Konferenz gewährleistet.[1] Sie besteht aus Vertretern der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlaments und dient als Forum des Meinungs- und Erfahrungsaustausches, hat allerdings keinerlei Entscheidungsbefugnisse. Inwiefern eine solche parlamentarische Kontrolle in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik ernsthaft zur Legitimation solcher Eingriffe beitragen kann, bleibt ein zentrales Thema für die Reformdebatte zur Zukunft der Europäischen Union.

Strategische Differenzen, gemeinsame Ziele

Die anhaltenden strategischen Differenzen der EU-Mitglieder und ihre unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Traditionen in zentralen außen- und sicherheitspolitischen Teilaspekten bleiben weiterhin dominant. Das zeigt sich beispielhaft an der Energieaußenpolitik gegenüber Russland (https://www.eurotopics.net/de/205151/usa-wollen-nord-stream-2-verhindern) aber auch im Ringen um eine gemeinsame Position zum zukünftigen Verhältnis Europas mit den USA (https://www. eurotopics.net/de/199565/buendnis-mit-den-usa-steht-europa-bald-alleine-da). Umso mehr werden Reformen angestrebt, die sich unterhalb der Schwelle einer Vertragsänderung bewegen und ein "Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten" in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik vorantreiben. Denn in puncto Sicherheit, wie es in der Erklärung von Rom im März 2017 anlässlich des 60-jährigen Bestehens der Römischen Verträge deutlich wurde, sind sich die EU-Staaten grundsätzlich einig.[2]

Durch den 2009 in Kraft getretenen Vertrag von Lissabon wurde ermöglicht, im Rahmen der GSVP eine rechtsverbindliche (militärische) Zusammenarbeit innerhalb der EU-Strukturen zu verfolgen, wie sie 25 Mitgliedstaaten im Dezember 2017 mit der PESCO beschlossen haben. Die damit konkret vereinbarten Projekte (http://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2018/03/06/defence- cooperation-council-adopts-an-implementation-roadmap-for-the-permanent-structured-cooperation-pesco/) reichen von der Entwicklung einer logistischen Drehscheibe, über die Cyberabwehr bis hin zu einem Sanitätsverband . Großbritannien, Malta und Dänemark bleiben bei PESCO außen vor. Um auch Nicht- EU-Mitglieder in die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik einbinden zu können, bleibt die PESCO für eine Kooperation mit Partnerstaaten und Verbündeten offen. Auch, weil die EU auf den Beitrag der USA, aber auch Großbritanniens nach dem Brexit zur gemeinsamen Sicherheit bislang nicht verzichten kann.

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Multinational: In der EU-Mission Atalanta zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias arbeiten die Marinen verschiedener EU-Mitgliedstaaten zusammen. Das Foto zeigt italienische und spanische Schiffe bei einer gemeinsamen Fahrt am 23. Oktober 2015. Lizenz: cc by-nc-nd/2.0/de (CC, EU Naval Force (EU NAVFOR) Somalia - Operation Atalanta via flickr.com (https://www.flickr.com/photos/eunavfor/22494187095/in/photostream/)) "Globale Strategie" der EU

Die Europäische Union hatte am 28. Juni 2016 eine neue "Globale Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik der EU" (https://europa.eu/globalstrategy/sites/globalstrategy/files/eugs_de_0.pdf) (EUGS) beschlossen. Sie bildet den normativen Rahmen für die zukünftige Ausrichtung der GASP. Das Autorenteam rund um die heutige Direktorin des Instituto Affari Internazionali (IAI), Nathalie Tocci, erklärt den Aufbau von Resilienz, also die Erhöhung der Widerstandsfähigkeit der EU gegenüber inneren und äußeren Bedrohungen, zum übergeordneten Ziel (http://www.iai.it/sites/default/files/ iaiwp1614.pdf). Das rechtlich unverbindliche Dokument soll die Europäische Sicherheitsstrategie von 2003 ablösen.

Unter dem Begriff "Strategie" versteht man im allgemeinen Sprachgebrauch ein planvolles Streben nach einem bestimmten Ziel oder eine planvolle Verwirklichung eines bestimmten längerfristigen Interesses. Die drei Merkmale, also eine klar definierte Zielsetzung, ein festgelegter (längerfristiger) Zeithorizont und ein methodisches Vorgehen erfüllt das vorgelegte Papier allerdings kaum. So werden zwar Ziele und Prioritäten beschrieben – z.B., dass die EU ihre Verteidigungsfähigkeit im Rahmen der GASP erhöhen und insbesondere die Stabilität ihrer südlichen und östlichen Nachbarn stärken will – ohne dass aber klare Schritte oder Maßnahmen benannt werden, mit denen diese Ziele erreicht werden sollen.

Mit der "Globalen Strategie" versucht die EU auf grundlegende weltweite politische Veränderungen zu reagieren: zerfallende Staaten in direkter Nachbarschaft, der internationale Terrorismus, die zunehmende Aggressivität Russlands in Osteuropa und die wachsenden diesbezüglichen Befürchtungen Polens und des Baltikums, dass Maßnahmen der "hybriden" Kriegsführung die Gesellschaften Europas destabilisieren. Hybride Bedrohungen zeichnen sich durch eine Mischung von Zwang, Unterwanderung sowie konventionellen und unkonventionellen Methoden seitens staatlicher und nicht-staatlicher Akteure aus, ohne dass die Schwelle zu einem offiziell erklärten Krieg

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überschritten wird. Parallel zu diesen Trends wird die EU aus ihrem Innern heraus als zeitgemäße Ebene politischen Handelns zunehmend in Frage gestellt. Nicht zuletzt die greifbare Wahrscheinlichkeit, dass sich Großbritannien mit dem Austritt aus der EU aus den gemeinsamen Verteidigungs- und Rüstungsanstrengungen der EU verabschieden könnte, wirft die Frage auf, wie die EU für Widerstandskraft in und um Europa sorgen kann.

In der "Globalen Strategie" ist deshalb ein großer Teil den transatlantischen Beziehungen und der wieder gewachsenen Bedeutung der Nato für Europa gewidmet. Dort ist die Rede von einer "Vertiefung des transatlantischen Bandes" (S. 4), davon, dass die Nato das "wichtigste Rahmenwerk für die meisten Mitgliedstaaten bleibt" (S. 20), und dass die mitgliedstaatliche Verteidigungsplanung "in voller Kohärenz" (S. 46) mit den Planungsprozessen in der Nato erfolgen solle. Unter diesem Blickwinkel verliert der Begriff der Resilienz sehr schnell seine scheinbar wegweisende Relevanz für die Grundorientierung der "Globalen Strategie". Er muss stattdessen eher als Ausdruck einer neuen Arbeitsteilung zwischen Nato und GASP/GSVP verstanden werden. Demnach bindet sich Europa nach wie vor an die Nato und konzentriert seine Verteidigungsanstrengungen als europäischer Pfeiler der Allianz . Damit stellt die EU die Weichen für die "Verteidigungsunion" Europas neu: Für die zivile Resilienz ist sie selbst zuständig, während die Nato den Überbau für die militärische Widerstandskraft der Union schafft. Die Nato-Verbündeten fordern (https://www.eurotopics.net/de/202574/nato-gipfel- steht-europa-in-der-schuld) als Gegenleistung eine kontinuierliche Steigerung der europäischen Rüstungsausgaben und Verteidigungskooperationen.

Zusammenarbeit zwischen EU und Nato

Angesichts der anhaltenden strategischen Uneinigkeit und gestützt auf die Überzeugung, dass eine verstärkte Einbindung der USA in die europäische Sicherheitspolitik unerlässlich ist, ist es deshalb nicht verwunderlich, dass auf dem Nato-Gipfel am 8./9. Juli 2016 in Warschau eine Vertiefung der Zusammenarbeit zwischen der Nato und der EU beschlossen wurde. Das Kooperationsvorhaben knüpft an die sogenannte Berlin-Plus-Vereinbarung von 2003 (http://www.europarl.europa.eu/ meetdocs/2004_2009/documents/dv/berlinplus_/berlinplus_en.pdf) an und zielt auf eine Stärkung des europäischen Pfeilers in der Allianz. Gemäß dem Rahmenabkommen vom März 2003 (Berlin Plus), die die bisherige Grundlage für das gemeinsame militärische Handeln zwischen EU und Nato bildet, darf die EU bei militärischen Operationen auf Mittel und Fähigkeiten der Nato zurückgreifen. Auch die gemeinsamen (https://www.nato.int/cps/ra/natohq/official_texts_133163.htm) Erklärungen (https:// www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_138829.htm) der beiden Organisationen von Juli und Dezember 2016 spiegeln die Leitidee der globalen Strategie wider, dass sich das Gebiet der Union nur durch eine enge Zusammenarbeit zwischen EU und Nato wirkungsvoll verteidigen lasse.

Während des Warschauer Nato-Gipfels 2016 wurde durch die Verteidigungsminister der am Rahmennationenkonzept (siehe Kasten) teilnehmenden Mitgliedstaaten die Bereitschaft zur Öffnung dieser Initiative für Kooperationen mit Partnerstaaten und bestehenden multinationalen Institutionen einschließlich der Europäischen Verteidigungsagentur (EDA) beschlossen. Diese Öffnungsklausel ermöglicht in Zukunft auch eine Kooperation mit EU-Staaten, die keine Nato-Mitgliedstaaten sind. Für die enge Zusammenarbeit mit der Nato spricht, dass die GSVP allein nach außen gerichtet, eine Territorialverteidigung nicht vorgesehen und ein Einsatz im Innern der EU vertraglich ausgeschlossen ist. Gleichwohl bildet die Landesverteidigung eine Kernaufgabe für die Nato als Verteidigungsbündnis.

Rahmennationen-Konzept

Das Rahmennationen-Konzept ist ein wichtiger Vorschlag in der europäischen Debatte darüber, wie verschiedene NATO-Staaten militärisch besser zusammenarbeiten können:

Es soll erlauben, europäische Fähigkeiten, wie etwa Luftabwehr oder eine Transportflugzeugflotte, dadurch zu erhalten, dass Staaten dauerhaft zusammenarbeiten. Denn allein schaffen es viele

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 94 europäische Staaten nicht mehr, militärisch relevante Größen von Verbänden bereitzustellen.

Dem Konzept zufolge sollen die europäischen Staaten Cluster bilden: Gruppen aus kleineren und größeren Staaten sollen sich künftig intensiver darüber absprechen, wer dauerhaft welche Geräte (Flugzeuge, Panzer etc.) und Truppen bereithält. Die Führung des Clusters übernimmt jeweils die "Rahmennation". Diese bringt vor allem die militärische Grundausstattung in die Kooperation ein, z. B. die Logistik und Führungseinrichtungen. An dieses Rückgrat docken die kleineren Armeen ihre Spezialfähigkeiten an, etwa Luftabwehr oder Pioniere. So müssten dann nicht mehr alle Staaten alles vorhalten und bezahlen. Folglich wäre mehr Geld vorhanden, um das zu beschaffen, was die Gruppe benötigt.

Mehr Informationen: Das Rahmennationenkonzept, Beitrag von Björn Müller (http://www.bpb.de/politik/ grundfragen/deutsche-verteidigungspolitik/290423/rahmennationenkonzept)

Umsetzungsplan für Sicherheit und Verteidigung

Zum ersten Mal hatte sich der Europäische Rat (ER) im Jahr 2008 mit dem Thema Sicherheit und Verteidigung beschäftigt. Es hat seither viele Anläufe gegeben, um in diese Bereiche der GSVP neuen Schwung zu bringen. Ohne den Konsens aller EU-Institutionen, einschließlich des Europäischen Parlaments (EP), versandeten diese Bemühungen jedoch.

In seinem Bericht vom November 2016 (http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-// EP//TEXT+REPORT+A8-2016-0360+0+DOC+XML+V0//DE) über die künftige militärische Zusammenarbeit der EU forderte das Europäische Parlament, dass eine neu zu schaffende Verteidigungsunion die engere Verzahnung nationaler Truppen ermöglichen und die seit 2007 existierenden, aber noch nie eingesetzten, Battlegroups (http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/das-europalexikon/176703/battlegroups- kampfgruppen-der-eu) in stehende, also dauerhaft einsatzbereite, Einheiten umwandeln solle. Zudem sollen die Mitgliedstaaten intensiver bei der Beschaffung von Rüstungsgütern zusammenarbeiten, die derzeit noch zu ungefähr 80 Prozent über rein nationale Märkte stattfinde. Der Kommission zufolge verursacht diese Praxis jährliche zusätzliche Kosten von bis zu 100 Milliarden Euro. Während seiner Ansprache zur Lage der Union im September 2016 (https://ec.europa.eu/commission/priorities/state- union-speeches/state-union-2016_de) ermahnte Kommissionspräsident Juncker die Mitgliedstaaten, ihre Verteidigungsanstrengungen stärker miteinander zu koordinieren. Die bisher überwiegend politischen Erklärungen der Mitgliedstaaten sind ab diesem Zeitpunkt rechtsverbindlicher geworden und das unterscheidet sich von vergangenen Initiativen in der Verteidigungspolitik.

EU-Battlegroups

Seit 2007 verfügt die Europäische Union über voll einsatzfähige, sogenannte Battlegroups. Das sind militärische Verbände, die in Krisen- und Konfliktfällen schnell eingreifen können sollen - und das weltweit.

Jede der bislang aufgestellten 20 Battlegroups setzt sich aus mindestens 1.500 Soldatinnen und Soldaten zusammen. Die meisten Battlegroups sind multinational, bestehen also aus Streitkräften mehrerer EU-Mitgliedstaaten. Beispiele sind die "Nordic Battlegroup" (Schweden, Finnland, Estland, Lettland, Litauen, Irland, Norwegen) oder die "Weimar Battlegroup" (Deutschland, Frankreich, Polen).

Durchgängig sind zwei Battlegroups einsatzbereit, alle sechs Monate werden die Verbände ausgetauscht. Die Battlegroups sollen in der Lage sein, selbstständig Einsätze von 30 bis zu 120 Tagen durchzuführen.

Bis heute (Stand: September 2018) kam noch nie eine EU-Battlegroup zum Einsatz.

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Mehr Informationen: Factsheet der European External Action zu EU-Battlegroups (https://eeas.europa. eu/headquarters/headquarters-Homepage/33557/eu-battlegroups_en) (englisch)

Am 14. November 2016 hatte der Rat zur Umsetzung der EUGS im Bereich der Sicherheit und Verteidigung Zielvorgaben formuliert (http://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2016/11/14/ conclusions-eu-global-strategy-security-defence/). Hiermit wurden die sicherheitspolitischen Ambitionen der EU präzisiert, das sogenannte Level of Ambition (LoA) wurde festgelegt (Krisenmanagement, Kapazitätsaufbau bei Partnern, Schutz des Territoriums der EU und ihrer Bürger). Ende November 2016 legte dann die Europäische Kommission den Europäischen Verteidigungs- Aktionsplan (http://europa.eu/rapid/press-release_IP-16-4088_de.htm) (EDAP) vor. Mit dem Europäischen Aktionsplan und dem Europäischen Verteidigungsfonds ist die Kommission faktisch zum sicherheits- und verteidigungspolitischen Akteur avanciert.

Im Dezember 2016 billigte der ER den Umsetzungsplan für Sicherheit und Verteidigung und beschloss konkrete Maßnahmen: eine koordinierte jährliche Überprüfung der Verteidigung, die Einführung der PESCO, die Einrichtung eines militärischen Planungs- und Durchführungsstabs (MPCC) für Ausbildungsmissionen wie EUTM Mali und EUTM Somalia und die Verstärkung des EU- Krisenreaktionsinstrumentariums.

Im Dezember 2017 wurden dann im Rahmen der PESCO vorläufig 17 Projekte im Bereich Ausbildung, Fähigkeitsentwicklung und operative Einsatzbereitschaft beschlossen. Noch weitreichender sind die Finanzierungspläne im Bereich der Sicherheit und Verteidigung. Sollten diese alle umgesetzt werden, würde die EU zum größten Investor in kollektiver Verteidigungsforschung und –Technologie in Europa werden. Zu diesem Zweck will die Kommission die Europäischen Struktur- und Investitionsfonds sowie die Europäische Investitionsbank (EIB) dabei unterstützen, die Entwicklung von Gütern und Technologien mit doppeltem Verwendungszweck (dual use) zu finanzieren. Ferner sollen die allgemeinen Richtlinien zur Vergabe öffentlicher Aufträge auf den Verteidigungs- und Sicherheitsbereich ausgedehnt werden. Auf diese Weise soll die grenzüberschreitende Zusammenarbeit befördert und die Entwicklung gemeinsamer Industrienormen vorangetrieben werden.

Nicht zuletzt entwickelt die Kommission abgeleitet aus der EUGS Pläne zur Umsetzung des "Integrierten Ansatzes", das heißt der kohärenten Nutzung militärischer, ziviler und wirtschaftlicher Instrumente, ebenso einer stärkeren Vernetzung innerer und äußerer Sicherheit. Darüber hinaus haben Kommission und EAD Vorschläge unterbreitet, wie die Resilienz der EU-Nachbarstaaten gestärkt werden soll. Die dahinter liegende Idee ist, dass Europa nur sicherer werden kann, wenn die Nachbarstaaten selbst stabiler werden, um für die EU eine Pufferzone bilden zu können.

Europäisches Weißbuch als Lackmustest

Selbst wenn mit diesen Reformen wichtige Schritte hin zu einer Verteidigungsunion unternommen wurden, sind die Europäer aufgrund ihrer divergierenden strategischen Interessen noch weit entfernt von einer "Armee der Europäer" (Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen). "Die EU kann die Nato nicht ersetzen" und "die EU kann sich nicht allein verteidigen" so die Schlussfolgerungen vom Nato-Generalsekretär, Jens Stoltenberg (https://www.nato.int/cps/en/natohq/opinions_152209.htm? selectedLocale=en). Die EU wird daher nicht umhinkommen, sich mit Grundsatzfragen zur außen- und sicherheitspolitischen Weichenstellung und Interessensdefinition der anvisierten Verteidigungsunion zu befassen, die wie einige Politiker fordern, Eingang in ein "Europäisches Weißbuch zur Sicherheit und Verteidigung" finden sollten. Denn die angepeilte "Verteidigungsunion" ist durchaus ambivalent zu betrachten.

Entwickelt sich die "strategische Autonomie" tatsächlich zu einem neuen Kernelement des Integrationsprozesses, kann dies eine normative Gewichtsverlagerung der Union bedeuten, weg vom

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 96 kosmopolitischen Anspruch der Marktintegration und hin zu einem protektionistischen Integrationsprojekt. Es sollte vermieden werden, dass mit einem Europa der Sicherheit und Verteidigung alte Konfrontationsmuster, Sicherheitsdilemmata und ein womöglich erneuter Rüstungswettlauf zurückkehren.

Weiterführende Literatur

Bartels, Hans-Peter et al. (Hg.) (2017): Strategic Autonomy and the Defence of Europa. On the Road to a European Army?, Dietz Verlag, Bonn.

Bendiek, Annegret (i.E.): Europa verteidigen. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union, Kohlhammer Verlag, Stuttgart. Erscheint voraussichtlich im Oktober 2018.

Bendiek, Annegret (2017): Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU: Von der Transformation zur Resilienz, SWP-Studie 2017/S 19, Berlin. Online verfügbar unter: https://www.swp-berlin.org/ publikation/eu-gemeinsame-aussen-und-sicherheitspolitik/ (https://www.swp-berlin.org/publikation/ eu-gemeinsame-aussen-und-sicherheitspolitik/).

Europäische Kommission (2016): Europäischer Verteidigungsaktionsplan. Online verfügbar unter: https://ec.europa.eu/docsroom/documents/20372/attachments/2/translations/de/renditions/native (https:// ec.europa.eu/docsroom/documents/20372/attachments/2/translations/de/renditions/native).

Europäische Kommission (2017): Weißbuch zur Zukunft Europas. Online verfügbar unter: https://ec. europa.eu/commission/sites/betapolitical/files/weissbuch_zur_zukunft_europas_de.pdf (https://ec.europa. eu/commission/sites/betapolitical/files/weissbuch_zur_zukunft_europas_de.pdf).

Europäische Union (2016): Gemeinsame Vision, gemeinsames Handeln: Ein stärkeres Europa - Eine Globale Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union. Online verfügbar unter: https://europa.eu/globalstrategy/sites/globalstrategy/files/eugs_de_0.pdf (https://europa.eu/ globalstrategy/sites/globalstrategy/files/eugs_de_0.pdf).

Wagner, Ringo und Schaprian, Hans-Joachim (Hg.) (2018): Handlungsfähigkeit stärken – Stabilität schaffen. Überlegungen zur Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion, Friedrich Ebert Stiftung Sachsen-Anhalt, Magdeburg.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/4.0/ deed.de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/4.0/deed.de/ Autor: Annegret Bendiek für bpb.de

Fußnoten

1. Die Interparlamentarische Konferenz wurde 2012 im Geiste des Vertrags von Lissabon, d.h. im Sinne einer Stärkung der parlamentarischen Dimension innerhalb der EU-Kooperation, geschaffen. Delegationen der nationalen Parlamente der EU-Mitgliedstaaten (jeweils sechs) und des Europäischen Parlaments (insgesamt 16) bilden die Mitglieder der Konferenz, die sich halbjährig treffen. Ein Beobachterstatus ist ebenso vorgesehen. Vgl.: Geschäftsordnung der Interparlamentarischen Konferenz zur GASP und GSVP (2012) (https://www.bundestag.de/ blob/194578/30577157c6fbeaa5ec06b97f464b87e5/geschaeftsordnung-data.pdf). 2. Anlässlich des 60. Jahrestages der Römischen Verträge, mit welchen die Grundlagen für die heutige Europäische Union geschaffen wurden, legte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker beim Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs in Rom am 25. März 2017 das

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Europäische Weißbuch über die Zukunft Europas vor. Das Weißbuch setzt sich mit den größten Herausforderungen und Chancen für Europa in den nächsten zehn Jahren, d.h. bis 2025 auseinander und skizziert fünf Szenarien für die zukünftige Ausrichtung der EU: "Weiter wie bisher", "Schwerpunkt Binnenmarkt", "Wer mehr will, tut mehr", "Weniger, aber effizienter" sowie "Viel mehr gemeinsames Handeln". Vgl.: Europäische Kommission (2017): Weißbuch zur Zukunft Europas (https://ec.europa.eu/commission/sites/betapolitical/files/weissbuch_zur_zukunft_europas_de.pdf).

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Ausnahmefall Deutschland – Die Debatte um einen Einsatz der Bundeswehr im Innern

Von Thomas Wiegold 11.8.2017 Thomas Wiegold ist Journalist und Blogger (augengeradeaus.net(http://augengeradeaus.net)) in Berlin und hat seit Somalia 1993 von allen deutschen Auslandseinsätzen berichtet – zunächst als Korrespondent für Associated Press und das Magazin Focus und später als freiberuflicher Journalist u.a. für Spiegel, Zeit Online und den NDR. Er schreibt vor allem über Sicherheits- und Verteidigungspolitik, Militär und Bundeswehr.

Das Grundgesetz setzt dem Einsatz des Militärs im Inland enge Grenzen. Angesichts der terroristischen Bedrohung wird jedoch immer wieder darüber diskutiert, ob und unter welchen Umständen die Bundeswehr im Innern eingesetzt werden darf.

Dieser Artikel erschien zuerst in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 32-33/2017) (http://www.bpb. de/apuz/253596/innere-sicherheit)

Ein Soldat und eine Polizistin bei der gemeinsamen Anti-Terror-Übung "GETEX" in Bayern. In mehreren Bundesländern wurde im März 2017 die Zusammenarbeit von Bundeswehr und Polizei im Rahmen der Terrorabwehr erprobt. (© picture-alliance/dpa)

Nach jeder Terrorwarnung im europäischen Ausland bestimmen Soldaten das Bild der staatlichen Reaktion in den Medien: Im Kampfanzug und mit dem Sturmgewehr stehen sie vor dem Eiffelturm in Paris, sichern die Grand Place in Brüssel oder das Kolosseum in Rom. In Deutschland dagegen wird die Bundeswehr zur militärischen Absicherung von Großereignissen, zur Bewachung von Einrichtungen oder zur Terrorbekämpfung nicht eingesetzt – auch wenn seit Jahren die innenpolitische

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Debatte darüber läuft, ob und unter welchen Umständen die Bundeswehr, mehr als bisher schon, im Inland eingesetzt werden darf.

Das Grundgesetz (GG) gibt dafür einen Rechtsrahmen vor, der sich von jenem in fast allen anderen Ländern unterscheidet: "Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt", bestimmt die Verfassung in Artikel 87a, Absatz 2. Der Grund dafür liegt in der deutschen Geschichte – und dabei nicht nur in der Zeit des Nationalsozialismus. Schon in Preußen und im Deutschen Kaiserreich wurde das Militär immer wieder dazu genutzt, im Inland staatliche Gewalt durchzusetzen – auch und gerade gegen politische Demonstrationen. "Gegen Demokraten helfen nur Soldaten", schrieb der preußische König Friedrich Wilhelm IV. 1849.[1] In der Weimarer Republik ließ der SPD-Politiker Gustav Noske als Reichswehrminister den Einsatz der Truppe gegen lokale Aufstände und zur Niederschlagung des Spartakusaufstandes 1919 zu. Berühmt wurde der Satz, den er dazu in seinen Memoiren zitierte: "Einer muss den Bluthund machen."[2]

Nun ist die Bundesrepublik nicht das Deutsche Reich, und das Verhältnis der Bevölkerung zu den Streitkräften hat sich ebenso gewandelt wie die politische Situation. Das ist auch das Kernargument derjenigen, die immer wieder darauf pochen, dass in einem demokratischen Rechtsstaat die Sicherheit in bestimmten Fällen auch im Inland durch die Streitkräfte gewährleistet werden müsste.

Zäsur 9/11

Die Debatte nahm vor allem nach den Angriffen mit entführten Zivilflugzeugen auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington am 11. September 2001 an Fahrt auf. Diese Art terroristischer Angriffe müsse zu einer Neubewertung des Einsatzes von Militär im Inland führen, lautete die Forderung.

Im Luftraum schien das zunächst nicht nur unstrittig, sondern geradezu zwingend: Allein die Bundeswehr verfügt über Flugzeuge und Raketen zur Flugabwehr, die einen entführten Airliner stoppen können. Das Luftsicherheitsgesetz von 2005, mit dem das geregelt wurde, erfuhr allerdings recht bald eine Einschränkung durch das Bundesverfassungsgericht: Der Abschuss einer solchen Maschine, in der auch Unbeteiligte sitzen und eben nicht nur Terroristen, sei nicht mit dem Grundgesetz vereinbar.[3]

Die Alarmrotten der Luftwaffe, die innerhalb von Minuten aufsteigen, um ein verdächtiges Flugzeug zu überprüfen, dürfen deshalb auch eine entführte Passagiermaschine nur abdrängen, aber weiterhin nicht abschießen. Offen bleibt jedoch, ob sich ein Bundeswehrpilot wirklich strafbar macht, wenn er durch einen Abschuss eines Flugzeugs zum Beispiel dessen gezielten Absturz über einem voll besetzten Fußballstadion verhindert. Auch die Politik hat darauf keine abschließenden Antworten gefunden: Der frühere Verteidigungsminister Peter Struck (SPD) erwog öffentlich, in einem solchen Fall den Abschussbefehl zu geben und dann seinen Rücktritt zu erklären. Sein Nachfolger Franz-Josef Jung (CDU) dachte darüber nach, für dieses Szenario den Verteidigungsfall anzuwenden – was aber nie rechtlich umgesetzt wurde.

An den Differenzen zwischen Union und SPD über den Einsatz der Bundeswehr im Innern scheiterte auch der Plan, nach dem Luftsicherheits- ein Seesicherheitsgesetz zu verabschieden: Auch auf See, zum Beispiel vor der Elbmündung, hat nur die Bundeswehr mit den Mitteln der Marine die nötigen Fähigkeiten, einen als Terrorwaffe gekaperten Tanker zu stoppen. Eine entsprechende rechtliche Regelung war zwischen den beiden Parteien schon weitgehend vereinbart, der Kompromiss scheiterte aber dennoch im letzten Moment.

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 100 Rahmen des Möglichen

Das heißt allerdings keineswegs, dass die Bundeswehr – jenseits eines Krieges oder einer kriegerischen Bedrohung im sogenannten Verteidigungsfall – im Inland nicht eingesetzt werden dürfte. Das Grundgesetz sieht dazu einige Regelungen vor, die wiederum durch Urteile des Bundesverfassungsgerichts präzisiert und, nach Ansicht vor allem der Unionsparteien, auch ausgeweitet wurden.

Auf der niedrigsten Ebene besteht das Recht von Landesbehörden, die Bundeswehr zur – technischen – Amtshilfe anzufordern. Das betrifft die bekannten Beispiele der Soldaten, die bei einem Hochwasser Sandsäcke stapeln, oder der Hubschrauber von Heer und Luftwaffe, die bei Naturkatastrophen Rettungskräfte einfliegen oder in Not geratene Personen bergen. Eine solche Anforderung war zwar 1962 rechtlich umstritten, als der damalige Hamburger Innensenator Helmut Schmidt bei der schweren Sturmflut in der Hansestadt Bundeswehr-Hubschrauber anforderte und einsetzte; inzwischen ist das aber rechtlich wie praktisch kein Problem mehr.

Ebenso weitgehend unstrittig, aber auch eher theoretisch, ist der Einsatz der Soldaten beim sogenannten "inneren Notstand" – und dann auch mit dem Einsatz "militärischer Mittel", im Klartext: militärypische Waffen. Artikel 87a GG, der den Einsatz der Streitkräfte begrenzt, legt in Absatz 4 fest: "Zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes kann die Bundesregierung, wenn die Voraussetzungen des Artikels 91 Absatz 2 vorliegen und die Polizeikräfte sowie der Bundesgrenzschutz nicht ausreichen, Streitkräfte zur Unterstützung der Polizei und des Bundesgrenzschutzes beim Schutze von zivilen Objekten und bei der Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer einsetzen." [4]

Gretchenfrage Terrorbekämpfung

Doch die aktuellen Bedrohungen sind aus Sicht der für die innere Sicherheit zuständigen Politiker und Beamten nicht "organisierte und militärisch bewaffnete Aufständische", auch nicht eine "drohende Gefahr für den Bestand der freiheitlichen demokratischen Grundordnung" – sondern Anschläge von Terroristen, gezielt an einem oder mehreren Orten. Darf die Bundeswehr eingesetzt werden, um solche Anschläge zu stoppen?

Kernpunkt dieser Überlegungen ist ein Satz in Artikel 35 GG: "Zur Hilfe bei einer Naturkatastrophe oder bei einem besonders schweren Unglücksfall kann ein Land Polizeikräfte anderer Länder, Kräfte und Einrichtungen anderer Verwaltungen sowie des Bundesgrenzschutzes und der Streitkräfte anfordern." Die Befugnisse, die die Bundeswehr in einem solchen Fall bekommt, werden seit einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Juli 2012 unter anderen Vorzeichen diskutiert. In einer seiner seltenen Plenarentscheidungen, also einem gemeinsamen Beschluss beider Senate, verkündete das Gericht abweichend von früheren Entscheidungen eine neue Interpretation, die nach Auffassung vor allem der Union mehr Möglichkeiten für einen Einsatz der Bundeswehr im Inland eröffnet: Bei besonders schweren Unglücksfällen "katastrophischen" Ausmaßes dürften die Streitkräfte auch im Inland "spezifisch militärische Mittel" einsetzen – und im Unterschied zur technischen Amtshilfe auch hoheitliche Aufgaben übernehmen.[5]

Zu solchen Unglücksfällen werden von der Großen Koalition auch Terrorangriffe gerechnet. Mit dieser Entscheidung aus Karlsruhe wurde in Einzelfällen erlaubt, was der Bundeswehr im Inland bislang verwehrt war: Schon das Sperren einer Straße mussten die Soldaten sonst der Polizei überlassen; ein bewaffneter Objektschutz zum Beispiel vor einem als mögliches Terrorziel eingeschätzten Kernkraftwerk kam nicht infrage.

Allerdings muss in solchen Katastrophensituationen die vorhandene oder befürchtete Gefährdung weit über eine gewöhnliche Gefahrensituation hinausgehen. Allein die Befürchtung, dass die Polizei überfordert sein könnte, reicht nicht aus. Auch den Einsatz der Bundeswehr gegen gewalttätige

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Demonstranten schloss das Verfassungsgericht aus: In solchen Fällen sei entscheidend, ob die beim inneren Notstand geltende Erlaubnis für die Bekämpfung von Aufständischen, die die freiheitlich- demokratische Grundordnung gefährden, angewandt werden könne.

Für einen Einsatz der Bundeswehr mit hoheitlichen Befugnissen und notfalls auch mit militärischen Waffen muss deshalb eine "terroristische Großlage" in der Tat so weitgehend sein, dass eine ungewöhnliche Ausnahmesituation anzunehmen ist. Die wird dann allerdings durch die Bundesregierung und die Länder definiert. Entscheidend ist dabei, dass die Bundeswehr in solchen Fällen nicht eigenständig handeln kann – sondern immer nur auf Anforderung und damit auch unter dem Befehl des jeweiligen Bundeslandes (oder mehrerer Länder), das die Streitkräfte zur Unterstützung anfordert. Was Soldaten konkret tun sollen, entscheidet also nicht ein militärischer Kommandeur, sondern der zivile Einsatzleiter der Polizei oder des Landesinnenministeriums.

Bei der Erstellung des "Weißbuches zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr", das sicherheitspolitische Grundlagendokument der Bundesregierung aus dem Jahr 2016, hatte die Union diese Bestimmungen ausweiten und den Einsatz der Streitkräfte zur Terrorbekämpfung leichter ermöglichen wollen. Das scheiterte jedoch am Koalitionspartner SPD. Im Weißbuch wurde dann als Kompromissformulierung vereinbart: "Ausdrücklich zugelassen in Artikel 35 Absatz 2 Satz 2 und Absatz 3 des Grundgesetzes ist der Einsatz der Streitkräfte im Innern zur Hilfe bei Naturkatastrophen und besonders schweren Unglücksfällen (Katastrophennotstand) auf Anforderung eines Landes oder auf Anordnung der Bundesregierung. Das Vorliegen eines besonders schweren Unglücksfalls kommt auch bei terroristischen Großlagen in Betracht. Durch das Bundesverfassungsgericht wurde dabei bestätigt, dass die Streitkräfte zur Unterstützung der Polizeikräfte bei der wirksamen Bekämpfung des Unglücksfalls unter engen Voraussetzungen auch hoheitliche Aufgaben unter Inanspruchnahme von Eingriffs- und Zwangsbefugnissen wahrnehmen können."[6] Erlaubtes will geübt sein

Die Möglichkeiten, die Bundeswehr bei Katastrophen, vor allem bei Terroranschlägen, innerhalb Deutschlands einzusetzen, sollen also nicht ausgeweitet werden. Aber was bereits jetzt erlaubt ist, soll auch geübt werden – denn aufseiten der Länder und der Polizei, aber auch aufseiten der Bundeswehr, herrscht ziemliche Unklarheit, was möglich ist und was nicht. Auch die Kommunikations- und Entscheidungsstrukturen sind nicht eingespielt.

Eine erste solche Übung unter dem Namen GETEX (Gemeinsame Terrorismusabwehr-Exercise) fand im Februar 2017 statt. Mehrere sowohl unions- als auch SPD-regierte Bundesländer probten das Zusammenspiel mit der Bundeswehr in einem Szenario, bei dem die Polizei durch zeitgleiche Terrorangriffe in mehreren Städten an ihre Grenzen kam. Die Übung fand nur in den Lagezentren und am Computer statt, es wurden – bis auf kleinere Tests vor Ort – weder Polizisten noch Soldaten in Marsch gesetzt.

Allerdings, so zeigte sich bei dieser Übung, bestand der Bedarf der Länder an Hilfe der Bundeswehr vor allem in herkömmlicher technischer Amtshilfe. Nach Angaben von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen wurde die Bundeswehr 46 mal um Unterstützung gebeten – davon in 30 Fällen um rechtlich unstrittige Hilfe wie den Transport von Verletzten oder die Entschärfung von Sprengsätzen; in 16 Fällen um einen Einsatz von Soldaten für hoheitliche Aufgaben. Die Bundeswehr habe etliche dieser Anträge ablehnen müssen: Baden-Württemberg hatte den Einsatz des Bundeswehr- Kommandos Spezialkräfte (KSK) für eine Geiselbefreiung angefordert, obwohl ein Sondereinsatzkommando der Polizei das übernehmen konnte. Auch die Anfrage Bayerns, Soldaten für den Objektschutz vor Konsulaten bereitzustellen, wurde aus rechtlichen Gründen abgelehnt.[7]

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 102 Ausblick

Der Einsatz bewaffneter Soldaten im Inland ist zwar seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 2012 wahrscheinlicher geworden, und angesichts der terroristischen Bedrohung stellt sich die Politik auch darauf ein, auf diese Möglichkeit zurückzugreifen. Doch in Deutschland werden wir auch auf absehbare Zeit nicht wie in Frankreich und anderen europäischen Ländern Soldaten in Tarnuniform und mit Sturmgewehr durch die Straßen der Großstädte patrouillieren sehen, und vor dem Reichstagsgebäude wird so schnell keine Fallschirmjägerkompanie zur Sicherung aufziehen. Die öffentliche Haltung dazu, vor allem aber die rechtlichen Grenzen, bleiben hierzulande andere als in unseren Nachbarstaaten.

Hinzu kommt: Der Bundeswehreinsatz im Innern wird nicht allein durch Recht und Grundgesetz begrenzt. Die deutschen Streitkräfte sind in den vergangenen Jahren weiter reduziert worden. Allein seit dem Großeinsatz der Soldaten beim Hochwasser an der Elbe 2013 ist die Truppe um 15.000 Männer und Frauen geschrumpft. Und auch die Zahl der Standorte ist deutlich verringert worden. Als Verteidigungsministerin von der Leyen beim Amoklauf in München 2016 vorsorglich Bundeswehrsoldaten in Alarmbereitschaft versetzte, richteten sich einige von ihnen auf einen langen Anmarsch ein: Von Stetten am kalten Markt in Baden-Württemberg wären die Soldaten mehr als 200 Kilometer unterwegs gewesen.

Dennoch wird die Debatte über den Bundeswehreinsatz im Innern weitergehen – und der Verlauf wird nicht zuletzt vom Ausgang der Bundestagswahl 2017 abhängen. Bereits im Januar 2017, noch vor der Prüfung der Zusammenarbeit von Bundeswehr und Polizei im Rahmen der GETEX-Übung, hatte die Bayerische Staatsregierung einen erneuten Vorstoß zur Änderung des Grundgesetzes erwogen: Der Einsatz der Streitkräfte im Innern sollte ausdrücklich zur Terrorbekämpfung erlaubt werden. Solche Pläne stoßen derzeit nicht zuletzt beim Koalitionspartner SPD auf Widerstand. Nach GETEX wandte sich zum Beispiel der sozialdemokratische Innensenator Bremens, Ulrich Mäurer, ausdrücklich gegen eine Übung, bei der Soldaten auch praktisch den Einsatz unter den geltenden rechtlichen Bestimmungen erproben sollten: "Es ist nicht unsere Aufgabe, die Bevölkerung zu verunsichern."[8] Nach der Wahl könnte eine Neuauflage der Großen Koalition bei einer stärkeren Union die Mehrheitsverhältnisse zugunsten der Befürworter einer Ausweitung der Möglichkeiten für einen Bundeswehreinsatz im Inland verschieben. Andererseits würde sowohl eine Koalition aus Union und FDP ebenso wie eine Regierung unter Beteiligung der Grünen und Linken nach deren öffentlichen Aussagen kaum dazu neigen, die Befugnisse der Streitkräfte im Inland auszuweiten.

Allerdings dürfte die politische Debatte auch davon abhängen, wie die Terrorgefahr in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Deutschland ist trotz des Anschlags mit einem Lastwagen auf dem Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016 von größeren und vor allem zeitgleichen verteilten Terrorangriffen bislang verschont geblieben. Wenn solche Terrorakte nach dem Vorbild der Anschläge in Paris oder in Brüssel auch hierzulande stattfinden, könnte diese Wahrnehmung sich grundlegend verändern – und auch die Voraussetzungen für eine Ausweitung des Rahmens für Bundeswehreinsätze im Inland schaffen.

Dieser Artikel erschien zuerst in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 32-33/2017) (http://www.bpb. de/apuz/253596/innere-sicherheit)

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Thomas Wiegold für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

Fußnoten

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1. Zit. nach Wolfram Siemann, Die deutsche Revolution von 1848/49, Frankfurt/M. 1985, S. 203. 2. Gustav Noske, Von Kiel bis Kapp. Zur Geschichte der deutschen Revolution, Berlin 1920, S. 68. 3. Vgl. BVerfGE (Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts) 115, 118 (Luftsicherheitsgesetz) (http://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2006/02/rs20060215_1bvr035705. html), 15.2.2006. 4. Artikel 91 Absatz 2 GG erlaubt "zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes" den Einsatz von anderen Länderpolizeien und der Bundespolizei. 5. Vgl. BVerfGE 132, 1 (Luftsicherheitsgesetz) (http://www.bundesverfassungsgericht.de/ SharedDocs/Entscheidungen/DE/2012/07/up20120703_2pbvu000111.html), 12.7.2012. 6. Bundesregierung, Weißbuch 2016 zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr, Berlin 2016, (http://www.baks.bund.de/sites/baks010/files/weissbuch2016_barrierefrei_0.pdf), S. 110. 7. Vgl. Thomas Wiegold, Parteiübergreifendes Lob der Innen-Ressortchefs für GETEX: Gut, dass wir geübt haben, 9.3.2017, augengeradeaus.net/2017/03/parteiuebergreifendes-lob-der-innen- ressortchefs-fuer-getex-gut-dass-wir-geuebt-haben (http://augengeradeaus.net/2017/03/parteiuebergreifendes- lob-der-innen-ressortchefs-fuer-getex-gut-dass-wir-geuebt-haben). 8. Zit. nach ebd.

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Das Weißbuch 2016 und deutsche Verteidigungspolitik

Von Claudia Major , Christian Mölling 16.6.2017 ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Projektleiterin in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. [email protected]

ist stellvertretender Direktor des Forschungsinstituts der DGAP (Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V.). Zu seinen Fachgebieten gehören die Verteidigungsindustrie und die Sicherheits- und Verteidigungspolitik Deutschlands, der EU und der NATO. [email protected]

Das Weißbuch ist das zentrale Dokument der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. 2016 ist das neue Weißbuch erschienen. Mit der Bündnis- und Landesverteidigung stellt es eine alte Aufgabe wieder in den Mittelpunkt der Ausrichtung der Bundeswehr.

Am 13. Juli 2016 wurde das Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands vorgestellt. Es ist ein Leitfaden für die Sicherheitspolitik der Bundesregierung und hat vor allem Einfluss auf die Aufgaben und die Stärke der Bundeswehr. (© picture-alliance/dpa)

Kurz & Knapp: Weißbuch

• Das Weißbuch ist das wichtigste sicherheits- und verteidigungspolitische

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Regierungsdokument. Es definiert Herausforderungen und Ziele für die nächsten zehn Jahre, bleibt aber an vielen Stellen vage.

• Bislang hatten Weißbücher einen starken militärischen Bezug. Das ist diesmal anders: Im Mittelpunkt steht die Sicherheitsvorsorge als gesamtstaatliche und gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

• Im militärischen Bereich liegt der Fokus des Weißbuchs 2016 wieder stärker auf der Bündnis- und Landesverteidigung.

• Das Weißbuch 2016 ist als Download verfügbar (https://www.bmvg.de/resource/resource/ UlRvcjZYSW1RcEVHaUd4cklzQU4yNWFvejhLbjVyYnR1OCt3ZlU1N09FVkZoYmR4Sjljb1E2­ UW9BdC9qQ3U1bmVEck9CbDgvcUFZaUhSL1dSSFA0alRxelpqQ3dyK1E3LzB4N0lXQ0lhcHM9/ Weissbuch2016_barrierefrei.pdf).

Im Juli 2016 erschien das neue Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr. Der wichtigste verteidigungspolitische Aspekt ist der neue Fokus auf eine alte Aufgabe: Während im Weißbuch von 2006 und den Verteidigungspolitischen Richtlinien von 2011 die Rede davon war, dass sich die Bundeswehr auf Stabilisierungseinsätze und Krisenmanagement wie etwa in Afghanistan ausrichten sollte, steht jetzt klar die traditionelle Landes- und Bündnisverteidigung im Zentrum. Damit kommt eine Aufgabe aus dem Kalten Krieg zurück, die die Bundeswehr jedoch in einem tiefgreifend veränderten Umfeld ausführen muss.

Was ist ein Weißbuch?

Das Weißbuch ist das wichtigste sicherheits- und verteidigungspolitische Dokument der Regierung. Aus ihm werden viele andere Dokumente entwickelt und Entscheidungen werden mit ihm begründet. Weißbücher vermitteln vordergründig den Eindruck, sie wären Planungsdokumente: Sie werfen einen Blick in die Zukunft, definieren sicherheitsrelevante Risiken. Diesen Risiken stellen sie die Interessen und Ziele des Staates gegenüber und leiten daraus Instrumente und Mittel ab, um die Ziele zu erreichen. Doch Weißbücher sind vor allem Regierungsdokumente: Sie bieten üblicherweise eine Sammlung und positive Bilanz der Regierungsarbeit, begründen Umstrukturierungen, Kürzungen und auch zukünftige Rüstungsprojekte. Schließlich rechtfertigen sie politische Konzepte und Schwerpunkte der Regierungsarbeit in der Zukunft.

Damit repräsentiert ein Weißbuch aber nur einen sicherheitspolitischen Akteur: Es reflektiert nicht die Positionen des Parlaments oder der Länderregierungen. Doch weil es relativ selten erscheint, und mit erheblicher Arbeit einhergeht, gibt ein Weißbuch einen tiefgreifenden Blick in die sicherheits- und verteidigungspolitischen Positionen der Bundesregierung. Internationale Partner, die Zivilgesellschaft und auch die Industrie haben großes Interesse an diesen Dokumenten und weisen ihnen erhebliche Bedeutung zu.

Die Bindewirkung eines Weißbuchs für die Regierung ist jedoch gering, vor allem wenn es um konkrete Aussagen geht, z.B. den tatsächlichen Bedarf an Flugzeugen oder Panzern. Gleichzeitig beschreiben Weißbücher oft nur die Realität und schreiben sie dann fort. So sah das deutsche Weißbuch 2006 erstmals Auslandseinsätze als wesentlichen Trend und begründete damit die Neuausrichtung der Bundeswehr auf Stabilisierungseinsätze. Das war im fünften Jahr des Afghanistan-Einsatzes, also erst, als der Trend schon Realität war. Deshalb sind Weißbücher weitgehend "blind" für Trendwenden

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 106 oder Überraschungen wie die Terrorangriffe 2001 (http://www.bpb.de/politik/hintergrund- aktuell/233675/vor-15-jahren-terroranschlaege-in-den-usa-9-11), den Arabischen Frühling 2008 (http://www.bpb.de/internationales/afrika/arabischer-fruehling/) oder die russische Annexion der Krim 2014 (http://www.bpb.de/internationales/europa/russland/analysen/206617/russland-und-die-krim-08-05-2015).

Das Weißbuch 2016 ähnelt in diesen Punkten seinen Vorgängern: Es liefert im Wesentlichen eine Bestandsaufnahme dessen, wie die Regierung die Sicherheitslage einschätzt und zu den Themen, die aus heutiger Sicht in einem Horizont von zehn Jahren relevant erscheinen – es basiert nicht auf einer systematischen sicherheitspolitischen Vorausschau.

Weißbücher zur Sicherheitspolitik gibt es auch in anderen Ländern. Ihre Bindungswirkung und Reichweite ist dabei sehr unterschiedlich. Viele Länder, etwa die USA, Frankreich, Großbritannien oder Spanien formulieren mittlerweile umfassende Sicherheitsstrategien, die über den engen militärischen Bereich hinausgehen. Deutsche Weißbücher hatten bislang immer einen starken militärischen Bezug.

Wie entstand das neue Weißbuch?

Das Weißbuch entstand federführend im Bundesministerium der Verteidigung (BMVg). Zum ersten Mal hat das BMVg in der Vorphase in großem Umfang Experten/-innen, internationale Partner und die Zivilgesellschaft eingebunden. Die Kontrolle über das Dokument behielten jedoch die beteiligten Ministerien (https://www.bmvg.de/portal/a/bmvg/start/weissbuch) (u.a. Auswärtiges Amt) und vor allem das Verteidigungsministerium. Sie haben die sogenannte Partizipationsphase vor allem genutzt, um ihre Ideen mit den teilnehmenden Experten zu diskutieren und zu testen.

Das Weißbuch ist als regierungspolitisches Konsensdokument zu lesen: Starke Aussagen sind nur dort möglich, wo sich Regierungspartner einig und die Kompetenzen unter den Ministerien unstrittig sind. Im Umkehrschluss werden die Herausforderungen für die Politik und kommende Debatten dadurch sichtbar, dass das Weißbuch bei schon heute bekannten Baustellen oder bei den Antworten auf seine eigene Problemanalyse vage bleibt. So ist das Dokument gefüllt mit Allgemeinplätzen der Ministerialbürokratie, Unklarheiten und Leerstellen, wo kein Konsens unter den Ministerien oder Parteien herrschte, und programmatischen Pflöcken, die womöglich aber nur bis zur nächsten Bundestagswahl (September 2017) Bestand haben, sollte es zu einem Regierungswechsel kommen.

Dennoch wird das Weißbuch Referenzpunkt der sicherheitspolitischen Diskussion in Deutschland und im Ausland sein, da es eine wichtige Momentaufnahme davon ist, vor welchen größeren Herausforderungen sich Deutschland im nächsten Jahrzehnt sieht und wie es diesen begegnen will.

Neuerungen und Grenzen

Das im Jahr 2016 veröffentlichte Weißbuch ist in zweierlei Hinsicht ein Novum für Deutschland. Erstens wurden zum ersten Mal externe Experten eingebunden (Partizipationsphase). Zweitens vereint das Weißbuch erstmals Sicherheits- und Militärstrategie (siehe Kasten). Das zeigt sich schon an der Gliederung: Der erste Teil des Weißbuchs ("Zur Sicherheitspolitik") kann als Versuch gelesen werden, eine Sicherheitsstrategie zu entwickeln. Die wesentlichen Impulse des aktuellen Weißbuchs liegen in diesem Bereich. Das ist neu, denn normalerweise bilden militärische Aspekte den Schwerpunkt. Mit diesen klassischen Themen befasst sich nun der zweite Teil des Weißbuchs ("Zur Zukunft der Bundeswehr").

Sicherheits- und Militärstrategie, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik

Hier erklären wir zentrale Begriffe aus dem Weißbuch:

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 107

Sicherheitsstrategie: Der Begriff Strategie stammt aus dem Griechischen und bedeutet Heeresführung. Ein Stratege war im antiken Griechenland ein gewählter Heerführer (stratos = Heer, agein = führen). Heute steht Strategie für ein zielorientiertes Vorgehen im Sinne eines langfristigen Plans. Strategie legt einen grundsätzlichen und zielorientierten Handlungsrahmen fest, um ein Ziel zu erreichen (Sicherheit des Staates), und orientiert sich dabei an einem langfristigen Zeitrahmen. In der Sicherheitspolitik beschreibt Strategie die Festlegung von sicherheitspolitischen Zielen und ordnet dann diesen Zielen Mittel zu (Ressourcen), die man braucht, um die Ziele zu erreichen. Damit Strategie praktisch relevant bleibt, muss sie jedoch nicht nur umgesetzt werden, also die Mittel zum Erreichen der Ziele eingesetzt werden. Strategie muss auch regelmäßig an sich verändernde Bedingungen angepasst werden.

Militärstrategie beschreibt den zielgerichteten Einsatz von (militärischer) Gewalt oder die zielgerichtete Gewaltandrohung zu politischen Zwecken, um die vorher festgelegten Ziele zu erreichen. Sie steht damit zwischen den Ebenen der Politik und der Operationsführung: Auf der strategischen Ebene entscheidet man darüber, was auf der militärischen Ebene gemacht wird.

Verteidigungspolitik umfasst die Behandlung aller für die Öffentlichkeit relevanten Fragen und Probleme, die dadurch entstehen, dass ein Land, seine Sicherheit militärisch schützt. Das Ziel von Verteidigungspolitik ist traditionell der Schutz des Territoriums, der Bevölkerung und des Funktionieren des Staates. Hinzu tritt aber auch die Verantwortung für die Sicherheit anderer – etwa in Bündnissystemen wie der NATO. Die Verteidigungspolitik ist folglich Teil der Sicherheitspolitik.

Sicherheitspolitik umfasst die Behandlung aller für die Öffentlichkeit relevanten Fragen und Probleme, die dadurch entstehen, dass ein Land, seine Sicherheit herstellt. Welche Mittel dabei im Zentrum stehen, ist sehr unterschiedlich. Sicherheitspolitik ist deshalb sehr breit definiert und behandelt alle Bemühungen, um die Sicherheit eines Staates, seiner Strukturen und seiner Bevölkerung zu gewährleisten. Sicherheitspolitik geht über militärische Aspekte hinaus und umfasst auch zivile Mittel. Im engeren Sinne betrifft Sicherheitspolitik Bereiche wie Friedenserhaltung, Konfliktverhütung, Krisenbewältigung und Kriegsführung. Im Sinne eines erweiterten Sicherheitsbegriffes werden auch ökonomische, ökologische und kulturelle Aspekte der Sicherheit erfasst. Zudem geht es heute nicht mehr nur allein um die Sicherheit von Staaten sondern auch von Gesellschaften oder Minderheiten.

Im Gegensatz zu früheren Weißbüchern hat man auf die detaillierte Ableitung der organisatorischen Konsequenzen für die Teilstreitkräfte aus den militärstrategischen Grundsätzen verzichtet. Im Ergebnis steht die Bundeswehr keineswegs im Mittelpunkt der sicherheitspolitischen Instrumentarien. Doch lässt das Weißbuch keinen Zweifel daran, dass die militärische Komponente unverzichtbar bleibt. Weiterhin wird im Weißbuch Russland ausdrücklich als Herausforderung für die Sicherheit in Europa benannt. Hintergrund sind der Ukraine-Konflikt und die Erhöhung der militärischen Aktivitäten Russlands an den Außengrenzen der EU und der NATO. Daraus leitet sich die Rückbesinnung auf die Landes- und Bündnisverteidigung ab, die wieder zur Hauptaufgabe der Bundeswehr wird.

Die zentrale sicherheitspolitische Großbaustelle ist der Umgang mit gesamtstaatlichen Herausforderungen in der Sicherheitspolitik: Zwar zeigt das Weißbuch zutreffend die Risiken und Herausforderungen an der Schnittstelle von innerer und äußerer Sicherheit – Terrorismus, Angriffe aus und auf den "Cyber- und Informationsraum", Angriffe auf andere kritische Infrastrukturen wie Rohstoff- und Energieversorgung sowie die Herausforderungen der aktuellen Migrationsbewegungen. Doch da kein Konsens unter Parteien und Ministerien hinsichtlich der konzeptionellen Antworten und institutionellen Zuständigkeiten besteht, enthält das Weißbuch keine konkreten Vorschläge, wie diesen gesamtstaatlichen Herausforderungen begegnet werden soll.

Stattdessen ist "Resilienz" der weitläufig im Dokument genutzte Formelkompromiss, der den Mangel an konkreten Vorschlägen verschleiert. Mit Resilienz wird allgemein die Widerstandsfähigkeit

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 108 bezeichnet, also die Fähigkeit, Krisen zu bewältigen. Im sicherheitspolitischen Bereich bedeutet es, dass die zivilen Strukturen unserer Gesellschaften (etwa Wasser- oder Stromnetze, aber auch unsere Demokratie) widerstandsfähiger und belastbarer werden gegen Versuche, ihre Verwundbarkeiten auszunutzen. Resilienz meint aber auch die Fähigkeit, sich im Falle eines Angriffs rasch wieder zu erholen. Wird dieser Begriff in Zukunft ausbuchstabiert, dürften Deutschland erhebliche politische Debatten bevorstehen, weil damit u. a. die historisch gewachsene, scharfe und politisch- gesellschaftlich weithin akzeptierte Trennung zwischen Akteuren innerer und äußerer Sicherheit in Frage gestellt wird. Wie etwa reagiert die Regierung, und welcher Teil der Regierung, wenn die Stromversorgung in einer Stadt gezielt lahm gelegt wird und ausländische Kräfte dahinter vermutet werden? Innere und äußere Sicherheit müssen auch gemeinsam gedacht werden, wenn es darum geht, mit Menschen umzugehen, die für den "Islamischen Staat" gekämpft haben und nach Deutschland zurückkehren. Eine weitere Herausforderung wird die notwendige Zusammenarbeit der Regierung mit privaten Akteuren (Wirtschaft) und der Zivilgesellschaft darstellen.

Die europäische und internationale Perspektive Deutschlands im Verteidigungsbereich, die das Weißbuch betont, wird vor allem in der NATO zum Tragen kommen. In Hinblick auf Verteidigungspolitik und Fähigkeitsentwicklung (also die Bereitstellung von Material, wie einem Panzer, und dem dazu notwendigen Personal, also etwa einem ausgebildetem Fahrer) will Berlin seine politische Energie auf den europäischen Pfeiler in der NATO konzentrieren, um so einen Beitrag zur transatlantischen Lastenteilung zu leisten. Bei der Lastenteilung geht es darum, dass nicht ein NATO-Mitglied, wie die USA, deutlich mehr (finanzielle) Lasten trägt als die anderen NATO-Staaten, sondern sich alle nach besten Kräften einbringen.

Der Fokus auf die NATO stellt eine Veränderung dar: Während im ersten, sicherheitspolitischen Teil des Weißbuchs EU und NATO noch in einem Atemzug genannt werden, steht im zweiten, verteidigungspolitischen Kapitel eindeutig die NATO im Zentrum. Die EU spielt keine eigenständige Rolle im Verteidigungsbereich. Deutschland ist bei der militärischen Fähigkeitsentwicklung mit den Ausführungen zum Rahmennationenkonzept im Weißbuch eine sehr starke Verpflichtung gegenüber seinen Partnern eingegangen. Auch dieses Portfolio soll über die NATO-Verteidigungsplanung vorangerieben werden. Die Passagen zur EU hingegen verfolgen überwiegend institutionelle Ziele oder fokussieren auf einen Mehrwert der EU, der sich über seinen Beitrag zur NATO definiert.

Rahmennationen-Konzept

Das Rahmennationen-Konzept ist ein wichtiger Vorschlag in der europäischen Debatte darüber, wie verschiedene NATO-Staaten militärisch besser zusammenarbeiten können:

Es soll erlauben, europäische Fähigkeiten, wie etwa Luftabwehr oder eine Transportflugzeugflotte, dadurch zu erhalten, dass Staaten dauerhaft zusammenarbeiten. Denn allein schaffen es viele europäische Staaten nicht mehr, militärisch relevante Größen von Verbänden bereitzustellen.

Dem Konzept zufolge sollen die europäischen Staaten Cluster bilden: Gruppen aus kleineren und größeren Staaten sollen sich künftig intensiver darüber absprechen, wer dauerhaft welche Geräte (Flugzeuge, Panzer etc.) und Truppen bereithält. Die Führung des Clusters übernimmt jeweils die "Rahmennation". Diese bringt vor allem die militärische Grundausstattung in die Kooperation ein, z. B. die Logistik und Führungseinrichtungen. An dieses Rückgrat docken die kleineren Armeen ihre Spezialfähigkeiten an, etwa Luftabwehr oder Pioniere. So müssten dann nicht mehr alle Staaten alles vorhalten und bezahlen. Folglich wäre mehr Geld vorhanden, um das zu beschaffen, was die Gruppe benötigt.

Mehr Informationen: Das Rahmennationenkonzept, Beitrag von Björn Müller (http://www.bpb.de/politik/ grundfragen/deutsche-verteidigungspolitik/290423/rahmennationenkonzept)

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Auftrag und Aufgaben im Wandel

Das Grundgesetz umreißt allgemein die Aufgaben der Bundeswehr: Gemäß Art. 87a hat der Bund den Auftrag, Streitkräfte zur Verteidigung aufzustellen. Ein Weißbuch soll den Auftrag und die Aufgaben der Bundeswehr hingegen genauer definieren: Darin legt die jeweilige Bundesregierung dar, wie sie den im Grundgesetz verankerten Auftrag vor dem Hintergrund der absehbaren Sicherheitslage interpretiert und welche Aufgaben sich daraus für die Bundeswehr ergeben.

Im Kalten Krieg stand die Landes- und Bündnisverteidigung im Mittelpunkt. Dies veränderte sich erheblich in den 1990er Jahren, als Auslandseinsätze (etwa auf dem Balkan) als wesentliche Aufgabe hinzukamen. Im aktuellen Weißbuch schwingt dieses Pendel wieder zurück: Unter dem starken Eindruck der russischen Annexion der Krim 2014 und der Beteiligung Russlands am andauernden Krieg in der Ostukraine soll aus der Einsatzarmee wieder eine Armee werden, die vor allem zur Abschreckung und Landesverteidigung beitragen kann. So wird Landes- und Bündnisverteidigung (wieder) die wichtigste Aufgabe der Bundeswehr. Die Tragweite dieser Veränderung wird umso greifbarer, wenn man bedenkt, dass Landes- und Bündnisverteidigung im Weißbuch von 2006 gar nicht enthalten war. Es verwies lediglich auf die Unterstützung der NATO-Partner.

Nach der Landes- und Bündnisverteidigung folgt im Weißbuch 2016 sofort der Punkt Heimatschutz und sogenannte subsidiäre Unterstützungsleistungen – also der Einsatz der Bundeswehr im Inneren. Im Weißbuch 2006 hatte dieser Punkt noch die geringste Priorität. Für die Bundeswehrreform seit 2010 wurde sogar festgelegt, dass dieser Punkt keinen Einfluss auf die Planungen der Bundeswehr für den Katastropheneinsatz haben sollte. Somit hätte dieser Punkt eigentlich aus dem Weißbuch 2016 verschwinden müssen. Doch partei- und innenpolitische Entwicklungen haben diesen Punkt nicht nur im Weißbuch gehalten, sondern ihn sogar zur zweitwichtigsten Aufgabe gemacht. Gleichzeitig haben sich die gesetzlichen Rahmenbedingungen für den Einsatz der Bundeswehr im Inneren nicht verändert. Diese setzen wesentliche Grenzen für den Einsatz der Bundeswehr im Inneren.

Obwohl das aktuelle Weißbuch Terrorismus als sicherheitspolitische Herausforderung benennt, definiert es überraschender Weise keinen Beitrag der Bundeswehr zur Terrorismusbekämpfung. Dies stand 2006 noch im Zentrum, als Teil der Auslandseinsätze. Terrorismusbekämpfung ist zudem heute die bestimmende Realität der Einsätze: So sind die Einsätze der Bundeswehr im Nordirak, in Mali und die Unterstützung der Anti-IS Koalition in den Mandaten mit Terrorismusbekämpfung begründet und wurden erst kürzlich verlängert und sogar erweitert.

Hinzu gekommen sind neue Aufgaben, die die Bundeswehr in Zusammenarbeit mit anderen Ministerien oder Akteuren, wie der Industrie, erfüllen soll: Das Weißbuch 2016 weitet zum ersten Mal die Aufgaben der Bundeswehr im Rüstungsbereich und bei der Cybersicherheit aus. So ist es in Zukunft eine Aufgabe der Bundeswehr, die Entwicklung neuer Technologien und Produkte in diesem Bereich zu unterstützen und dabei auf "nationale Schlüsseltechnologien" zu setzen.

Cyber- und Informationsraum

Das Weißbuch 2016 beschreibt den sogenannten Cyber- und Informationsraum wie folgt:

"Informationen, ihre Verteilung, Wahrnehmung und Interpretation sind kritische Faktoren und Ressourcen in der Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts. Der Informationsraum ist der Raum, in dem Informationen generiert, verarbeitet, verbreitet, diskutiert und gespeichert werden. Der Cyberraum ist der virtuelle Raum aller weltweit auf Datenebene vernetzten bzw. vernetzbaren informationstechnischen Systeme. Dem Cyberraum liegt als öffentlich zugängliches Verbindungsnetz das Internet zugrunde, welches durch beliebige andere Datennetze erweitert werden kann." (Weißbuch

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2016, S. 36)

Zudem sollen neben defensiven Fähigkeiten, Angriffe aus dem "Cyberraum" abzuwehren, auch die Fähigkeit ausgebildet werden, darauf offensiv reagieren zu können. Dafür will die Bundeswehr für IT- Spezialisten ein attraktiverer Arbeitgeber werden. Praktisch sichtbar wird das im neuen Kommando Cyber- und Informationsraum, dass die Verteidigungsministerin im April 2017 eröffnet hat. Der neue Bereich soll das IT-Systems der Bundeswehr sowohl im Inland als auch im Einsatz (im Ausland) schützen und den normalen Betrieb gewährleisten. Außerdem, sollen sie Instrumente stärken und entwickeln, um im Cyber- und Informationsraum nicht nur defensiv, sondern auch offensiv handeln und wirken zu können.

Perspektiven der Umsetzung

Das Weißbuch ist eine Analyse, aber kein konkretes Umsetzungsdokument. Wie die neuen und alten Aufgaben praktisch in der Bundeswehr umgesetzt werden sollen, will das BMVg im Laufe dieses Jahres erläutern: mit einer neuen "Konzeption der Bundeswehr" (KDB). Sie stellt das Gesamtkonzept der militärischen Verteidigung Deutschlands dar und beschreibt, wie die Bundeswehr ihre Aufträge und Aufgaben erfüllt. Das BMVg will die KDB noch im Sommer 2017 vorlegen. Die letzte KDB wurde 2013 erlassen. (http://www.planungsamt.bundeswehr.de/resource/resource/UlRvcjZYSW1RcEVHaUd4ck­ lzQU4yNWFvejhLbjVyYnR1OCt3ZlU1N09FV3pqL2ZEQzFXVTdqakJCcWcvd1gxQXRGejZKQXROY­ zN4VUxocDFRNTBxR0gzSnJDd3dLdUlDVVpHM21KTG5jNVU9/130701%20-%20Konzeption%20der% 20Bundeswehr.pdf)

Der Lackmustest kommt jedoch erst danach, wenn es an die Umsetzung der KDB geht. Dann treffen die militärischen Planungen und politischen Vorstellungen von KDB und Weißbuch auf die politische und militärische Realität. Drei Bereiche dürften dabei die größten Herausforderungen markieren:

Europäisierung der Fähigkeiten

Das Rahmennationenkonzept (siehe Kasten oben) strebt eine sehr enge Kooperation und die Organisation gegenseitiger Abhängigkeit europäischer Streitkräfte an. Berlin muss selbst bereit sein, die Folgen engerer Kooperation zu tragen – und die eigenen Streitkräfte vom Sinn dieses Zieles überzeugen. Die Bundeswehr braucht europäische Partner, wenn sie ihren Auftrag aus dem Weißbuch ausführen will – allein ist sie dazu nicht in der Lage. So legen bspw. bereits das deutsche und niederländische Heer Teile ihre Truppen zusammen – und sind so gemeinsam stärker und können länger in den Einsatz gehen.

Umfang der Modernisierung der Streitkräfte

Militärisch bedeuten die deutschen Verpflichtungen einen langfristigen Mehrbedarf an Personal, Ausrüstung und Übungstätigkeit. Die angedachten Budgeterhöhungen werden nicht ausreichen, um das Fähigkeitsprofil über das nächste Jahrzehnt stabil zu halten oder sogar zu steigern. Dazu wären zusätzliche rund drei bis fünf Milliarden Euro pro Jahr im deutschen Verteidigungshaushalt erforderlich. Die NATO Staaten haben sich auf dem Gipfeltreffen in Wales 2014 darauf geeinigt, ihre Verteidigungsausgaben nicht weiter zu senken (http://www.nato.int/cps/de/natohq/official_texts_112964. htm), sondern wieder zu steigern. Bis 2024 sollen die Staaten mindestens zwei Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes (BIP) für Verteidigung ausgeben. 20 Prozent dieser Aufwendungen sollen für Investitionen ausgegeben (Neuanschaffungen, Forschung und Entwicklung) werden. Der deutsche Verteidigungshaushalt (https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2016/09/2016-09-07-etat- bmvg.html) liegt 2017 bei rund 1,2 Prozent des BIP.

Rüstung als militärische und politische Ressource verstehen und einsetzen

Rüstung gilt als das "Schmuddelkind" deutscher Sicherheitspolitik, da das Thema in der öffentlichen

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Debatte unbeliebt ist und Rüstungspolitik als moralisch zweifelhaft, ja geradezu verrufen gilt. Gleichzeitig benötigen Streitkräfte kontinuierlich die Unterstützung der Industrie, um einsatzbereit zu sein. Rüstung ist deshalb Teil des "Gesamtsystems" Militär. Sie kann zugleich wesentliches Kooperationsinstrument der Politik sein, weil es gemeinsame Bedürfnisse unter NATO-Verbündeten bei der Rüstung gibt. Auch darüber hinaus kann Rüstungsexport ein Mittel für politischen Einfluss auf Partner sein, wenn dieser Einfluss durch Deutschland gewollt ist und genutzt wird.

Deutschland soll nach dem Willen der Bundesregierung und internationaler Partner mehr außen- und sicherheitspolitische Verantwortung übernehmen. (http://www.bpb.de/apuz/230567/deutsche- aussenpolitik) Das Weißbuch trägt diesen Forderungen Rechnung, bleibt aber in vielen Punkten vage. Die notwendige Debatte über deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist mit dem neuen Weißbuch daher nicht beendet – sie hat gerade erst begonnen.

Quellen und Literaturhinweise

Bundesministerium der Verteidigung (2016): Das Weißbuch 2016 zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr. Online verfügbar unter: https://www.bmvg.de/portal/a/bmvg/start/weissbuch/ downloads/ (https://www.bmvg.de/resource/resource/UlRvcjZYSW1RcEVHaUd4cklzQU4yNWFvejh­ LbjVyYnR1OCt3ZlU1N09FVkZoYmR4Sjljb1E2UW9BdC9qQ3U1bmVEck9CbDgvcUFZaUhSL1dSSF­ A0alRxelpqQ3dyK1E3LzB4N0lXQ0lhcHM9/Weissbuch2016_barrierefrei.pdf)

Bundesministerium der Verteidigung (2013): Konzeption der Bundeswehr. Online verfügbar unter: http://www.planungsamt.bundeswehr.de/portal/a/plgabw/start/grundlagen/konzeption_der_bundeswehr/ (http://www.planungsamt.bundeswehr.de/resource/resource/UlRvcjZYSW1RcEVHaUd4cklzQU4yNW­ FvejhLbjVyYnR1OCt3ZlU1N09FV3pqL2ZEQzFXVTdqakJCcWcvd1gxQXRGejZKQXROYzN4VUxoc­ DFRNTBxR0gzSnJDd3dLdUlDVVpHM21KTG5jNVU9/130701%20-%20Konzeption%20der%20Bundeswehr. pdf)

Bundesministerium der Verteidigung (2011): Verteidigungspolitische Richtlinien. Online verfügbar unter: https://www.bmvg.de/portal/a/bmvg/start/sicherheitspolitik/angebote/dokumente/ verteidigungspolitische_richtlinien/ (https://www.bmvg.de/resource/resource/ UlRvcjZYSW1RcEVHaUd4cklzQU4yNWFvejhLbjVyYnR1OCt3ZlU1N09FVXFpZ21UK2RwSWNmeG­ U5ZVZLQTZVUG9nUyszVy8xUnRSZXROUlNXUlRqZDhFcFFUbWZFank0bUZhakNINHdPKzQ9/Wei% C3%9Fbuch%202006.pdf)

Bundesministerium der Verteidigung (2006): Das Weißbuch 2006 zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr. Online verfügbar unter: https://www.bmvg.de/portal/a/bmvg/start/ weissbuch/downloads/ (https://www.bmvg.de/resource/resource/UlRvcjZYSW1RcEVHaUd4cklzQU­ 4yNWFvejhLbjVyYnR1OCt3ZlU1N09FVXFpZ21UK2RwSWNmeGU5ZVZLQTZVUG9nUyszVy8xUnR­ SZXROUlNXUlRqZDhFcFFUbWZFank0bUZhakNINHdPKzQ9/Wei%C3%9Fbuch%202006.pdf)

Giegerich, Bastian & Jonas, Alexandra (2012): Auf der Suche nach best practice? Die Entstehung nationaler Sicherheitsstrategien im internationalen Vergleich, in: Sicherheit und Frieden 3/2012 (http:// www.sicherheit-und-frieden.nomos.de/fileadmin/suf/doc/Aufsatz_SuF_12_03.pdf).

Major, Claudia & Mölling, Christian (2016): Von Libyen nach Syrien. Die Rolle des Militärs in einer neuen deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (28-29/2016) (http://www.bpb.de/apuz/230579/das-militaer-in-einer-neuen-deutschen-sicherheits-und-verteidigungspolitik).

Major, Claudia & Mölling, Christian (2014): Das Rahmennationenkonzept. Deutschlands Beitrag , damit Europa verteidigungsfähig bleibt, in: SWP-Aktuell 67 (https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/ products/aktuell/2014A67_mjr_mlg.pdf).

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/4.0/ deed.de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/4.0/deed.de/ Autoren: Claudia Major, Christian Mölling für bpb.de

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Der Verteidigungshaushalt – Trendwende bei den Verteidigungsausgaben?

Von Stefan Bayer 16.6.2017 Professor Dr. Stefan Bayer, Fachbereich Politik und Gesellschaftswissenschaften, Führungsakademie der Bundeswehr und Helmut-Schmidt-Universität, Universität der Bundeswehr Hamburg Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät

Die Ausgaben für Verteidigung sind 2017 erneut gestiegen. Zuvor hatte der Verteidigungsetat jahrelang stagniert, die Bundeswehr sollte sparen. Wie haben sich die Verteidigungsausgaben entwickelt? Und wie steht Deutschland im internationalen Vergleich da?

2017 sind die Verteidigungsausgaben in Deutschland erneut gestiegen. Der Verteidigungshaushalt ist der zweitgrößte Posten im Bundeshaushalt. (© picture-alliance)

Kurz & Knapp: Verteidigungshaushalt

• 2017 ist der Verteidigungshaushalt erneut gestiegen: auf 37 Milliarden Euro. Er ist der zweitgrößte Posten im Bundeshaushalt.

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 114

• Bis vor wenigen Jahren waren die Verteidigungsausgaben zurückgegangen oder hatten stagniert. Das Militär hatte nach dem Kalten Krieg an politischer Bedeutung verloren.

• Deutschland liegt deutlich unter dem NATO-Ziel, zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Verteidigung auszugeben - ist damit aber nicht allein.

Am 22. November 2016 beschloss der Deutsche Bundestag in dritter Lesung den Haushalt für das Jahr 2017. In Kraft trat das Gesetz mit der Verkündigung im Bundesgesetzblatt (BGBl I, S. 3016) am 20. Dezember 2016. Insgesamt plant der Bundesfinanzminister im Jahr 2017 Ausgaben in Höhe von 329,1 Mrd. Euro. Das sind 12,2 Milliarden Euro mehr als noch 2016 – ein Anstieg von 3,85 Prozent.

Ein Blick auf die Zahlen

Der Verteidigungshaushalt (Einzelplan 14) weist in 2017 ein Volumen von 37 Mrd. Euro auf. Die Ausgaben für Verteidigung bleiben damit auch im Jahre 2017 nach den Sozialausgaben der zweithöchste Einzelposten im Bundeshaushalt. Sie entsprechen einem Bruttoanteil an den gesamten Ausgaben des Bundes von 11,2 Prozent. Zieht man davon die Zahlungen an ausgeschiedenes (ziviles und militärisches) Personal in Höhe von 5,76 Mrd. Euro ab (v.a. Pensionsausgaben), verbleiben 31,24 Mrd. Euro für aktive verteidigungspolitische Zwecke. Dieser "Nettoanteil" der Verteidigungsausgaben entspricht einem Anteil von 9,5 Prozent an den gesamten Bundesausgaben.

In einer Bruttobetrachtung wächst der Ausgabenanteil der Bundeswehr im Vergleich zu 2016 um 2,7 Mrd. Euro (das entspricht 7,9 Prozent) – wenn die Pensionsausgaben herausgerechnet werden, steigt der Nettobetrag der verfügbaren Ausgaben um 2,62 Mrd. Euro (und somit prozentual um 9,2 Prozent). Der Verteidigungshaushalt ist in einer Nettobetrachtung also stärker gestiegen als der Bundeshaushalt insgesamt.

Wie setzt sich der Verteidigungshaushalt zusammen?

Wofür die Bundeswehr Geld ausgibt und wie sich welche Ausgaben über die Jahrzehnte entwickelt haben, hat der Autor Stefan Bayer in seinem Text zum Verteidigungshaushalt 2014 analysiert (http:// www.bpb.de/politik/grundfragen/deutsche-verteidigungspolitik/199282/haushalt-2015). Sein Fazit: Seit der Aufstellung der Bundeswehr 1955 bis 2014 hat es einen Wandel bei der Zusammensetzung des Verteidigungshaushalts gegeben – weg von verteidigungsinvestiven Ausgaben (Waffen, Material, Fahrzeuge) hin zu den Betriebsausgaben und insbesondere Personalausgaben. Weiterlesen... (http:// www.bpb.de/politik/grundfragen/deutsche-verteidigungspolitik/199282/haushalt-2015)

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 115 Trendumkehr in der Verteidigungspolitik?

Verteidigungs- und Haushaltspolitiker sehen in diesem Ausgabenanstieg eine Trendumkehr in der Verteidigungspolitik der Bundesrepublik, die seit dem Ende des Kalten Krieges eher auf Sparen und Verkleinern ausgerichtet war. Dies wird auch im Finanzplan des Bundes bestätigt, in dem die Bundesregierung bis 2020 beabsichtigt, insgesamt 10,2 Mrd. Euro zusätzlich im Verteidigungshaushalt zu verausgaben – wohlgemerkt handelt es sich hierbei um kumulierte Zahlen bis zum Ende der derzeit gültigen (unverbindlichen) Finanzplanung des Bundes im Jahre 2020. Hauptsächlich soll damit dem gestiegenen Bedarf insbesondere im verteidigungsinvestiven Bereich (Entwicklung und Beschaffung) Rechnung getragen werden. Für die einzelnen Kalenderjahre sieht der Finanzplan des Bundes folgende Steigerungen im Vergleich zum Finanzplan aus dem Jahre 2016 vor: Im Jahr 2017 sollen dem Verteidigungshaushalt 1,7 Mrd. Euro zusätzlich zur Verfügung stehen, 2018 1,8 Mrd. Euro, 2019 2,7 Mrd. Euro und schließlich in 2020 vier Mrd. Euro zusätzlich.

Die Nagelprobe steht allerdings noch aus: Der Finanzplan des Bundes hat keinen verpflichtenden Charakter und kann mit der nächsten Überarbeitung in diesem Kalenderjahr so bestätigt werden. In der Regel finden allerdings nach politischen Erwägungen Änderungen statt. Darüber hinaus muss festgehalten werden, dass der Anstieg im Einzelplan 14 noch unter den im Finanzplan des Bundes anvisierten Ausgabensteigerungen in anderen Bereichen liegt: Die Ausgaben im Bereich der Investitionen, dem Bereich des Auswärtigen und der Entwicklungszusammenarbeit, dem Bildungs- und Forschungsbereich und dem ohnehin sehr hohen Posten der Sozialausgaben sollen stärker steigen als die Verteidigungsausgaben. Die endgültige Beurteilung, ob 2017 eine Trendumkehr für den Verteidigungshaushalt vorliegt, muss deshalb in die Zukunft verschoben werden.

Mit Blick auf die Vergangenheit kann demgegenüber bereits jetzt konstatiert werden, dass die nominalen, also nicht inflationsbereinigten Ausgaben für Verteidigung seit der Wiedervereinigung im Jahre 1990 allenfalls konstant gehalten wurden und erst in den letzten fünf Jahren wieder gestiegen sind. In realen (also inflationsbereinigten) Größen sinkt der Trend seither und hat sich in letzter Zeit bei rund 9,5 Prozent des Bundeshaushalts eingependelt – was anhand der nachfolgenden Abbildung 1 verdeutlicht werden kann.

[An dieser Stelle befindet sich ein eingebettetes Objekt, das wir in der PDF-/EPUB-Version nicht ausspielen können. Das Objekt können Sie sich in der Online-Version des Beitrags anschauen: http:// www.bpb.de/politik/grundfragen/deutsche-verteidigungspolitik/249290/verteidigungsausgaben]

Abgetragen wird hier die Entwicklung des Einzelplans 14 seit der Wiederaufstellung der Bundeswehr im Jahre 1955 bis zum Kalenderjahr 2017. Die blaue Linie symbolisiert die nominalen Ausgaben, die im Einzelplan 14 verausgabt werden konnten.[1] Die rote Linie bildet dagegen das Verhältnis von Ausgaben im Einzelplan 14 zu den gesamten Ausgaben des Bundes ab. Dieser Anteil kann als Indikator für die politische Bedeutsamkeit des Verteidigungshaushaltes interpretiert werden – ein Ansteigen des Anteils impliziert eine politische Bedeutungszunahme des Verteidigungshaushaltes, während dessen Absinken einen Bedeutungsrückgang nahe legt. Und für die jüngere Vergangenheit zeigt die Entwicklung der roten Linie des relativen Anteils der Verteidigungsausgaben an den gesamten Bundesausgaben, dass Verteidigung seit Mitte der 1960er-Jahre gegenüber anderen Staatsaufgaben und -ausgaben durchgängig an relativer politischer Bedeutung verlor – mit einzelnen Ausnahmen.

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 116 Entwicklung der Verteidigungsausgaben

Um den Verteidigungshaushalt gesamtwirtschaftlich (und gesamtpolitisch) beurteilen zu können, stellt nachfolgende Abbildung 2 die Verteidigungsausgaben ins Verhältnis zu den konkurrierenden vier weiteren großen Ausgabenpositionen des Bundes: Soziale Sicherung, Bildung, Verkehr- und Nachrichtenwesen sowie Zinsendienst.[2]

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Interessant ist hierbei die sich seit 1970 entwickelnde Dominanz der Sozialen Sicherheit in der Bundesrepublik: Zu Beginn der 1970er-Jahre lagen die politischen Prioritäten in der Bundesrepublik für Soziales (schwarze Linie) und äußere Sicherheit (olivgrüne Linie) fast gleichauf bei etwa 30 Prozent der Gesamtausgaben des Bundes. Dies stellt sich Mitte der 2010er-Jahre deutlich anders dar, denn die Ausgaben für die Soziale Sicherung dominieren alle anderen Bundesausgaben (und mithin auch die damit verbundenen Staatsaufgaben). Die Verteidigungsausgaben pendeln seit Mitte der 1990er- Jahre um die 10 Prozent-Marke – im Gegensatz zum relativen Bedeutungsverlust der zusätzlichen Verteidigungsausgaben zeigt sich eine Priorität in der jüngeren Vergangenheit bei den Investitionen in Infrastruktur (blaue Linie) – die öffentlichen Debatten über marode Brücken und Straßen hatten offensichtlich einen deutlich sichtbareren Niederschlag in den Finanzplänen des Bundes als die zunehmenden unklaren Bedrohungssituationen, die mit Hilfe auch der Bundeswehr zu bearbeiten sein könnten.

Verteidigungsausgaben im internationalen Vergleich

Für internationale Vergleiche von Verteidigungsausgaben einzelner Länder eignet sich das eben geschilderte Verhältnis zwischen Verteidigungsausgaben und Gesamtausgaben eines Landes nicht, weil Länder sich sehr unterschiedliche Finanzverfassungen gegeben haben. Trotzdem wird auch dies verlangt – und mit Hilfe eines Bezuges zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) gelöst: Mit Beginn der Amtszeit von NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen 2009 und nochmals verstärkt seit Beginn 2017, der Anfangszeit der Präsidentschaft von Donald J. Trump in den Vereinigten Staaten von Amerika, wird in NATO-Kreisen eine stärkere finanzielle Beteiligung Europas für die Aufrechterhaltung der Verteidigungsfähigkeit des NATO-Bündnisses diskutiert.

Seit 2002 hatte sich das Bündnis darauf verständigt, dass alle Mitgliedstaaten mindestens zwei Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt) für Verteidigungszwecke ausgeben sollen. Ziel dieser Vereinbarung ist es, den Anreiz zu unterbinden, der durch das Bereitstellen des Gutes "Äußere Sicherheit" für alle Mitgliedsländer realisierbar wäre, ohne sich an den Kosten der Bereitstellung dieses Gutes zu beteiligen ("Freifahren"). Die Realität ist derzeit jedoch weit entfernt von der Erfüllung dieses Mindestkriteriums: Stand Juli 2016 geben gerade einmal fünf der 28 Mitgliedsländer zwei oder mehr Prozent ihres BIP für Verteidigung aus (USA, Griechenland, Großbritannien, Estland und Polen). Alle anderen Mitgliedsländer liegen teilweise deutlich darunter, die Bundesrepublik etwa mit 1,2 Prozent oder Frankreich mit knapp 1,8 Prozent.

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Auf dem NATO-Gipfel in Warschau (2016) wurde eine kontroverse Debatte um die Erreichung des Zwei-Prozent-Kriteriums geführt. Mitgliedsländer, die deutlich unter dieser Marke rangieren, sind anscheinend dazu bereit, sich mittelfristig dieser Marke zu nähern – so erklären sich teilweise auch die Erhöhungen der deutschen Verteidigungsausgaben mit dieser Debatte. Aus ökonomischer Perspektive muss jedoch die Sinnfrage nach dieser rein auf Verteidigungsausgaben basierenden

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Betrachtung gestellt werden: Aus Fairnessgründen ergibt eine solche freiwillige Verpflichtung zur Überwindung der oben geschilderten Freifahrersituation Sinn. Allerdings verfehlt diese Regel ihren Zweck, wenn etwa zur Erfüllung des gemeinsamen Zwei-Prozent-Ziels Ausgaben in den Verteidigungsbudgets der Mitgliedsländer vorgenommen werden, die keinerlei Verteidigungsleistungen zur Folge haben.

Nehmen wir z.B. an, die Verteidigungsministerien einzelner NATO-Mitgliedsländer würden Bleistifte in riesiger Zahl anschaffen. Auch dieses fiktive Beispiel würde in der bisherigen NATO-Logik helfen, die Ausgaben zu steigern und das Zwei-Prozent-Ziel zu erreichen, ohne jedoch einen relevanten Beitrag zur Verteidigungsfähigkeit zu leisten. Insofern sollte in zukünftigen Reformplänen auf NATO-Ebene nicht nur darüber nachgedacht werden, die rein inputseitige Norm zu erfüllen – also zu schauen, wie viel Geld für das Militär ausgebeben wird. Vielmehr sollte auch über andere Kriterien zur Messung von Verteidigungsleistungen nachgedacht werden. Ökonomen plädieren hierbei seit Jahren für die Orientierung an den Ergebnissen, die eine Konsequenz der Ausgaben für Verteidigung darstellen. Diese zu ermitteln und gegebenenfalls auch zu quantifizieren ist aber nicht trivial und erfordert weitere Forschung.

Was ist der Gesellschaft Verteidigung wert?

Das Grundproblem bei der Ausweitung von Verteidigungsbudgets in Friedenszeiten besteht in letzter Konsequenz immer darin, dass eine abstrakte Bedrohungssituation von den Bürgern einzelner Länder nicht in dem Maße wahrgenommen wird, wie es der tatsächlichen Bedrohungssituation entspricht: Subjektive und objektive Wahrscheinlichkeiten weichen in dieser Situation voneinander ab. Die präventiven Leistungen auch von Streitkräften stehen deshalb immer im Spannungsfeld mit kurzfristig anstehenden politischen Steuerungsproblemen wie etwa der maroden Verkehrsinfrastruktur in Deutschland. Und damit steht eine abstrakte Leistung in der Zukunft (in diesem Falle die Landesverteidigung) in direkter Konkurrenz der Haushaltsmittel zu einem heute in breiten gesellschaftlichen Schichten wahrnehmbaren Problem – eine politische Priorisierung ist in dieser Situation schnell vorgenommen. Die zweite Seite der gleichen Medaille – eine eventuell reduzierte Verteidigungsfähigkeit in der Zukunft – wäre dann die politische Konsequenz.

Inwieweit die Ausweitung des Verteidigungshaushaltes in der Bundesrepublik Deutschland im Kalenderjahr 2017 und im Finanzplan des Bundes also eine bewusste Entscheidung für mehr Verteidigung in der Zukunft oder nur der derzeitigen komfortablen Situation geschuldet ist, dass die öffentlichen Hand aktuell über den Steuerschätzungen liegende Einnahmenüberschüsse verzeichnet, wird die Zukunft weisen.

Weiterführende Literatur und Quellen

Bayer, Stefan (2013): Theoretische Bestimmungsgründe und praktische Ausgestaltung des Bundeshaushaltes am Beispiel des Einzelplans 14. In: Wiesner, Ina (Hrsg.): Deutsche Verteidigungspolitik, Baden Baden: Nomos, S. 239-262.

Bayer, Stefan (2015): Der Verteidigungshaushalt (http://www.bpb.de/politik/grundfragen/deutsche- verteidigungspolitik/199282/haushalt-2015), online verfügbar unter: https://www.bpb.de/politik/ grundfragen/deutsche-verteidigungspolitik/199282/haushalt (https://www.bpb.de/politik/grundfragen/ deutsche-verteidigungspolitik/199282/haushalt).

Bundesministerium der Finanzen (BMF) (2016a): Auch in den nächsten Jahren: Keine neuen Schulden! Regierungsentwurf des Bundeshaushalts 2017 und Finanzplan 2016 bis 2020, online verfügbar unter: http://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/ Downloads/Abt_2/2016-07-06-PM-zahlen-und-fakten.pdf (http://www.bundesfinanzministerium.de/ Content/DE/ Downloads/Abt_2/2016-07-06-PM-zahlen-und-fakten.pdf).

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Bundesministerium der Finanzen (BMF) (2016b): Finanzbericht 2017. Stand und voraussichtliche Entwicklung der Finanzwirtschaft im gesamtwirtschaftlichen Zusammenhang, Berlin.

Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) (2017): Verteidigungshaushalt 2017, online verfügbar unter: https://www.bmvg.de/portal/a/bmvg/start/ministerium/verteidigungshaushalt (https://www.bmvg. de/portal/a/bmvg/start/ministerium/verteidigungshaushalt/).

Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) (2016): Weißbuch 2016 zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr, online verfügbar unter: https://www.bmvg.de/portal/a/bmvg/start/weissbuch/ downloads (https://www.bmvg.de/portal/a/bmvg/start/weissbuch/ downloads/).

Gesetz über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 2017 (Bundeshaushaltsgesetz 2017) vom 20. Dezember 2016 (BGBl I S. 3016), online verfügbar unter: https://www.bundeshaushalt-info.de/fileadmin/de.bundeshaushalt/content_de/dokumente/2017/soll/ Gesamt_Haushalt_2017_mit_HG.pdf (https://www.bundeshaushalt-info.de/fileadmin/de.bundeshaushalt/ content_de/dokumente/2017/soll/Gesamt_Haushalt_2017_mit_HG.pdf).

Mölling, Christian (2014): Die Zwei-Prozent-Illusion der Nato. Deutschland sollte das Bündnis zu mehr Effizienz anregen, SWP-Aktuell 54, online verfügbar unter: https://www.swp-berlin.org/fileadmin/ contents/products/aktuell/2014A54_mlg.pdf (https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/ aktuell/2014A54_mlg.pdf).

NATO (2016): Defence Expenditures of NATO Countries (2009-2016), Communique PR/CP(2017) 045, online verfügbar unter: http://www.nato.int/nato_static_fl2014/assets/pdf/pdf_2017_03/20170313_170313- pr2017-045.pdf (http://www.nato.int/nato_static_fl2014/assets/pdf/pdf_2017_03/20170313_170313- pr2017-045.pdf).

Fußnoten

1. Der Leser sei darauf hingewiesen, dass die absoluten Ausgabenvolumina in Abbildung 1 um die Zahlungen für Pensionsleistungen bereinigt abgetragen werden, um eine ungefähre Vergleichbarkeit mit früheren Zahlen herbeizuführen. 2. Im Gegensatz zu den Bemerkungen in Fußnote eins (Abbildung 1) sei der Leser in Abbildung 2 darauf hingewiesen, dass hier Bruttoausgaben abgetragen werden – also ohne Bereinigung um die Pensionsausgaben im Einzelplan 14 –, die dem Finanzbericht des Bundes entnommen wurden. Vgl. BMF (2016), Tabelle 3, S. 241-248.

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Demokratie und Wehrsystem

Von Franz Kernic 31.5.2016 Dr. habil. Franz Kernic ist seit 2008 Professor für Soziologie an der Schwedischen Verteidigungsuniversität (SEDU), beurlaubt, und seit 2013 Dozent für Führung und Kommunikation an der MILAK an der ETH Zürich. Prof. Kernic war 2009 Gastprofessor an der University of Minnesota (USA), 2005 sowie 2007 - 08 an der Carleton University (Kanada) und 2004 an der Katholischen Universität in Santiago de Chile. Habilitationen an der Universität Innsbruck (2001) und an der Universität der Bundeswehr München (2004). Promotion an der Universität Wien (1987).

Der Vorrang des Politischen vor dem Militärischen ist ein Wesensmerkmal der modernen Demokratie. Wie ein Gemeinwesen sein Militär organisiert und welche militärischen Plichten es seinen Mitgliedern auferlegt, hängt von seinen politischen und gesellschaftlichen Überzeugungen ab.

"Staatsbürger in Uniform" sollen am politischen Leben der Bundesrepublik teilhaben: Soldaten folgen am 2. Juli 2014 einer Rede von Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen im Deutschen Bundestag. (© picture-alliance/ dpa)

In Deutschland und in anderen Staaten Europas wird gegenwärtig über die Rolle des Militärs gestritten: Welche Funktionen und Aufgaben haben Streitkräfte heute? Wie sind sie für ihre Einsätze gerüstet? Und wie sollen Soldatinnen und Soldaten für die Armee rekrutiert werden? Das alles sind Fragen, die das Wehrsystem eines Landes betreffen. Welches Wehr- bzw. Militärsystem dem jeweiligen politisch- gesellschaftlichen System entspricht, hängt davon ab, welchen Begriff des Politischen und welches Verständnis von Demokratie und Staatlichkeit man daran anlegt. Denn Gesellschaft, Staat und Militär sind in vielfältiger Weise miteinander verbunden.

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Wehrverfassung, Wehrsystem und Militärsystem

Der Begriff Militär (militaire), der im deutschen und französischen Sprachgebrauch erst seit dem 17. Jahrhundert verwendet wird, entstammt dem lateinischen Wort militaris. Er verweist in seiner Bedeutung auf die Organisation von Streitkräften, in der Soldaten (miles) ihren Dienst leisten. Der Begriff betont dabei den organisatorisch-institutionellen Aspekt kollektiver Gewalt innerhalb eines staatlich organisierten Gemeinwesens. Mit der Entstehung des internationalen Systems von Nationalstaaten nach dem Westfälischen Frieden 1648 und der Entwicklung eines neuen absolutistischen Staatsverständnisses veränderten sich gleichzeitig auch die Funktionen sowie die politische Stellung der Heere in ganz Europa. Während zuvor vor allem Söldnerheere eingesetzt wurden, prägten ab dem 17. Jahrhundert stehende Heere, die einen engen Bezug zum Herrscher sowie zur herrschenden Gesellschaftsschicht aufwiesen, das Bild des Militärs in Europa. Gleichzeitig beflügelte das neuzeitliche Staatsverständnis die Monopolisierung der bewaffneten Mächte in den Händen des Staates bzw. Herrschers. Das staatliche Gewaltmonopol war geboren. Die politischen Veränderungen der Neuzeit rückten damit die Frage nach der konkreten Gestaltung der Beziehungen zwischen Nationalstaat und Militär ins Zentrum staatstheoretischer Überlegungen.

Die Begriffe Wehrverfassung, Wehrsystem und Militärsystem werden heute häufig synonym verwendet. Dabei gibt es eine Reihe unterschiedlicher Definitionen und sozialwissenschaftlicher Differenzierungen. Allgemein bezieht sich der Begriff des "Wehrens" auf alle Maßnahmen einer Gemeinschaft bzw. eines Staates, die ergriffen werden, um gewaltsame Angriffe auf die eigene Existenz zu verhindern oder erfolgreich abzuwehren. Der Begriff Wehrverfassung beschreibt damit in einem weit gefassten Sinn die "Gesamtverfasstheit" einer Gesellschaft im Hinblick auf ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber äußeren und inneren Existenzbedrohungen. In einem engeren Sinne verweist er auf die politischen und sozialen Grundlagen der rechtsstaatlich organisierten Gesellschaft, insbesondere auf die Verfassung und die Grundrechte und die darin verankerten Leitbilder und Normen eines kollektiven Sich-Wehrens gegen Existenzbedrohungen.

Der Begriff Wehrsystem bezieht sich auf die konkrete politische Ausgestaltung des kollektiv organisierten Sich-Wehrens. Ihre Grundlage sind die in der Wehrverfassung verankerten Grundregeln und Normen über die Organisation, Funktion und Führung der Streitkräfte (insbesondere Bestimmungen hinsichtlich der Befehlsgewalt, des Auftrages und Einsatzes der Streitkräfte sowie Regelungen der Zuständigkeiten und Kompetenzen einzelner Staatsorgane). Politisch gestaltet werden der Aufbau der Organisation (Strukturen) sowie Verfahren und Abläufe der Organisationstätigkeit (Prozesse). Im Mittelpunkt steht dabei die Frage nach der Form der Rekrutierung.

Die Politik hat bei der Gestaltung des Wehrsystems einen großen Handlungsspielraum. Entscheidend aus demokratiepolitischer Perspektive ist, dass die jeweiligen politischen Beschlüsse zur Gestaltung bzw. Umgestaltung des Wehrsystems im Einklang mit den demokratischen Spielregeln und verfassungsrechtlichen Bestimmungen stehen. Dieser Handlungsspielraum erklärt zugleich, warum sich bei einem Vergleich der Wehrsysteme der Staaten Europas heute so gravierende Unterschiede zeigen.

Bei der Gestaltung des Wehrsystems spielen grundsätzlich militärische wie nicht-militärische Elemente (z.B. Alternativ- und Zivildienste; Rettungsdienste, Feuerwehr, Polizei und private Sicherheitsorganisationen; Schutzanlagen etc.) eine wichtige Rolle. Im Verlauf der Geschichte lässt sich jedoch eine Dominanz des Militärs feststellen.

Das Militärsystem eines Staates kann deshalb als jener Teil des Wehrsystems aufgefasst werden, der sich auf die Strukturen und Prozesse der Organisation des Militärs bezieht. Nach diesem Verständnis fallen Wehr- und Militärsystem nur dann zusammen, wenn eine Gesellschaft ihr Sich-Wehren ausschließlich auf eine militärische (bewaffnete) Komponente abstützt.

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Zusätzlich darf in diesem Zusammenhang auf keinen Fall übersehen werden: Jedes Militär vermag immer auch über diesen unmittelbaren Bereich des "Sich-Wehrens" hinauszugehen und sich zu einem Angriffsinstrument zu wandeln, das in der Lage ist, sowohl innerhalb der Gesellschaft wie nach außen gerichtet kriegerische Handlungen auszuführen. Auffallend dabei ist, dass im politischen Alltag ein solches kriegerisch-offensives Vorgehen häufig als ein Akt des Sich-Wehrens bzw. einer Verteidigung gerechtfertigt wird.

Politik, Staat und Militär

In der historischen Perspektive zeigt sich eine enge Verflechtung von Politik und Militär. Das abendländische politische Denken steht seit der Antike im Banne des Krieges. Bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Völkern und Gesellschaften erscheinen als eine Art Naturzustand (status naturalis); der Frieden wiederum als etwas, das es erst mühsam herzustellen, zu stiften und dann zu erhalten gilt. Die Unterscheidungen zwischen Freund und Feind, zwischen Innen und Außen, werden zu wesentlichen Kategorien gesellschaftlich-politischen Denkens.

Zwei unterschiedliche Denkrichtungen (Ideen) entfalteten dabei besondere Wirkkraft: Die erste Denkrichtung geht davon aus, dass das Kriegerische bzw. Militärische und die unmittelbare Erfahrung militärischer Gewalt zwar seit eh und je menschliche Gesellschaften prägen, dieser Zustand aber überwunden werden kann, und zwar durch die Entwicklung des eigentlich Politischen. Dieses Politische wird dahingehend bestimmt, dass innerhalb eines Gemeinwesens (z.B. des griechischen Stadtstaates, der polis) eine friedliche soziale Interaktion bzw. Kooperation zwischen den einzelnen Gesellschaftsmitgliedern ermöglicht werden soll, indem bestimmte Verfahren und Grundregeln eines sozialen Interessensausgleichs etabliert werden. Gleichzeitig wird jegliches kriegerische Handeln auf den Bereich außerhalb der Polis verbannt. Das Politische in diesem Sinne ist der Versuch, eine Gemeinschaft von der dominanten Orientierung am Kriegerischen und Militärischen zu lösen.

Die andere Denkrichtung betrachtet das Kriegerische als den eigentlichen Kern jeglichen politischen Handels. Die einfachen binären Codes bzw. Unterscheidungen wie Freund/Feind, Eigene/Fremde, Innen/Außen erscheinen in ihr als Grundbedingungen für politischen Erfolg. Mit anderen Worten: Die Selbstbehauptung einer Gesellschaft oder politischen Gemeinschaft - in einem grundsätzlich immer kriegerisch-konkurrierenden Umfeld - ist nur auf dem Fundament kollektiv organisierter staatlich- militärischer Macht möglich. Politik ist demzufolge nach dem Modell des Militärs und unter Aufbau und Nutzung eines starken militärischen Instruments zu strukturieren (z.B. Hierarchien, eindeutige Feind/ Freund-Unterscheidungen, klare Befehlskette). In dieser Denkrichtung bilden Politik und Militär eine Einheit (Militarismus, Bellizismus); die Armee wird zur wichtigsten Repräsentantin des Staates. Beide Denkrichtungen haben die abendländische Geschichte bis in unsere Tage geprägt, sie sind auch in den heutigen politischen Diskussionen immer noch präsent.

Die enge Verflechtung von Staat und Militär in der Neuzeit zeigt sich bei einer Vielzahl von politisch- kulturellen Gegebenheiten, Handlungen und Sprechakten. Im Absolutismus repräsentiert der Herrscher beides in gleichsam reiner Form: Staat und Heer. Er ist damit zugleich Herrscher über Krieg und Frieden. Politik wird als die "Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln" (Clausewitz) gesehen, das Militär als eines von mehreren "Instrumenten" in den Händen des Herrschers, um bestimmte politische Ziele zu verwirklichen. Der Verweis auf den instrumentellen Charakter des Militärs bestimmt bis in die heutige Zeit unser Denken über das Verhältnis von Politik, Staat und Militär, auch wenn sich die unmittelbare Anbindung an die Person des Herrschers aufgelöst hat und sich die Funktionen des Militärs gewandelt haben. Die Bestimmung des Militärs als staatliches Organ, dem bestimmte hoheitliche Aufgaben übertragen werden, ist charakteristisch für die politischen Systeme der Gegenwart.

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 122 Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und zivil-militärisches Verhältnis

Die Aufklärung brachte eine radikale Kritik am Absolutismus und dem damit verbundenen System der stehenden Heere. So wandte sich beispielsweise der Philosoph Immanuel Kant (1724 - 1804) in seiner 1795 veröffentlichten Schrift "Zum ewigen Frieden" gegen den Gebrauch von Menschen (Soldaten) als bloße Maschinen und Werkzeuge in der Hand des Fürsten bzw. Staates und forderte ein Ende der stehenden Heere. Kant verknüpfte den Friedensgedanken mit der Idee einer republikanischen Verfassung sowie Ideen einer Milizarmee mit defensivem Charakter, aufbauend auf dem Prinzip der Freiwilligkeit. Zahlreiche im späten 18. Jahrhundert und zu Beginn des 19. Jahrhunderts öffentlich diskutierte Ideen zur Umgestaltung und Reform der Heere strebten keineswegs primär die Schaffung eines effektiveren Instruments zur Kriegsführung an, sondern zielten im Gegenteil vor allem auf den Frieden.

Auch wenn diese Zielsetzung im Verlauf des 19. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kläglich scheiterte, wurden mit den im Zuge der Aufklärung entwickelten politischen Leitbildern und erhobenen Forderungen neue Akzente gesetzt, die fortan die Diskussion über die Gestaltung des Verhältnisses von Gesellschaft und Militär prägten. Drei Entwicklungslinien, an denen sich der permanente Wandel im Verhältnis von Gesellschaft, Staat und Militär zeigt, sind für die gegenwärtige Situation von besonderer Bedeutung:

1. Das politische Erstarken des Bürgertums im 19. Jahrhundert beflügelte unter anderem die Ideen von Bürger- und Milizarmeen und bewirkte die Öffnung des Offiziersberufes für Angehörige bürgerlicher Kreise. Mit dem schrittweisen Übergang zur allgemeinen Wehrpflicht in den europäischen Staaten (verstanden als Militärdienstpflicht) begann sich gleichzeitig die Sozialstruktur der Armeen radikal zu verändern. Von hier aus wird auch verständlich, warum so manche Kreise in der allgemeinen Wehrpflicht das "legitime Kind der Demokratie" (Theodor Heuss) erblickten. Die Wehrpflicht erschien als Bürgerpflicht und zugleich als Chance, durch den Zugang zur bewaffneten Macht des Staates (einschließlich des Zugangs zu Kommandopositionen innerhalb der Streitkräfte) an politischem Gewicht und gesellschaftlichem Ansehen zu gewinnen. Die allgemeine Wehrpflicht (durchwegs auch im Zusammenhang mit der Idee eines allgemeinen Wahlrechts) wurde zunächst vornehmlich aus einer Emanzipations- und Machtperspektive betrachtet, die die Gefahr weitgehend ausblendete, dass das neue Militär zu einer "Kriegsmaschine der Massen" werden könnte. Der Glaube, dass ein "wahrhaft freies Volk" (Kant) wohl kaum beschließen würde, sich in einen Krieg zu stürzen, fand mit dem Kriegsausbruch 1914 sein jähes Ende. Mit der Demokratisierung der politischen Systeme Europas in der Nachkriegszeit vollzog sich nicht nur die schrittweise Öffnung des Militärs für alle Gesellschafsschichten (zunächst noch auf die männliche Bevölkerung beschränkt; die Öffnung für Frauen wurde erst viel später eingeleitet), sondern ebenso eine Anbindung der Entscheidungsgewalt über die Anwendung militärischer Gewalt an die jeweilige demokratische Verfasstheit der Staaten.

2. Indem sich der moderne Staat als Rechtsstaat konstituierte, wurde die Unterwerfung der militärischen Gewalt unter die internationale wie staatliche Rechtsordnung zu einem wichtigen gesellschaftspolitischen Anliegen. Der moderne demokratische Staat bemüht sich deshalb intensiv darum, die Institution Militär in die bestehenden Rechtsordnungen einzugliedern. Die Grundprinzipien mit Bezug auf das Militär werden verfassungsrechtlich verankert (Wehrverfassung), sämtliche weitere Belange werden durch Gesetze und Verordnungen geregelt. Zudem sind auch die Normen des Völkerrechts und internationalen Rechts für den militärischen Bereich der Staaten von besonderer Bedeutung (z.B. allgemeines Gewaltverbot). Die Frage der Gestaltung des Wehr- bzw. Militärsystems ist aus diesem Grund in den heutigen Demokratien nicht nur eine politische und soziale Frage, sondern auch eine Frage des Rechts. Deshalb gehören öffentliche Diskussionen zur Legitimität und Legalität militärischer Gewalt zum Alltag demokratisch- pluralistischer Gesellschaften.

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3. In den modernen Demokratien kommt der Gestaltung des zivil-militärischen Verhältnisses besondere Bedeutung zu. Als wichtigster Grundsatz gilt dabei das Konzept des Primats der Politik, d.h. der Vorrang ziviler Entscheidungsgewalt und eine klare Unterordnung des Militärs unter die zivile Exekutive. In dieser Hinsicht kommen sowohl bestimmten staatlichen Institutionen (z.B. Parlament, Gerichte, Rechnungshof) wie auch einer Reihe von zivilgesellschaftlichen Organisationen (z.B. Friedens- und Bürgerrechtsbewegungen, Medien, Kirchen und Religionsgemeinschaften) Kontrollfunktionen zu, um über die Einhaltung des Primats der Politik zu wachen. Die Mechanismen und Instrumente "ziviler Kontrolle" des Militärs sind hinsichtlich ihrer Aufgaben, Kompetenzen und Wirkungsmöglichkeiten in den einzelnen demokratischen Staaten oftmals ganz unterschiedlich gestaltet (z.B. parlamentarische Kontrollrechte; Entscheidungsbefugnisse über Kriegserklärungen; Funktionen eines Ombudsmannes, Wehrbeauftragten oder Volksanwalts) und innerhalb des jeweiligen politischen Systems und Rechtssystems in unterschiedlicher Weise verankert.

Demokratie und Wehr- bzw. Militärsystem

Jeder, der über das Wehr- und Militärsystem eines Gemeinwesens nachdenkt, muss zunächst die Grundkonzeptionen und Ideen des politischen Systems und die vorherrschenden gesellschaftlichen Grundüberzeugungen in den Blick nehmen. Die enorme Bandbreite von Demokratieverständnissen, die unseren modernen Gesellschaften zugrunde liegen, führt dazu, dass die Antwort auf die Frage, welches konkrete Wehr- und Militärsystem nun am besten einem demokratischen Politik- und Staatsverständnis entspreche, völlig unterschiedlich ausfallen kann. Abweichende Antworten und unterschiedliche Praktiken können durchweg als Ausdruck eines demokratisch-pluralistischen gesellschaftlichen Diskurses gewertet werden. Ein allgemeiner Vergleich der aktuell etablierten Wehr- und Militärsysteme in den demokratisch-pluralistischen Staaten der Welt lässt sehr rasch gravierende Unterschiede erkennen. Die Bandbreite reicht von straff organisierten Berufsheeren (z.B. USA, Großbritannien), die primär auf einen militärischen Einsatz irgendwo auf der Welt ausgerichtet sind, bis hin zu Wehrpflichtarmeen (z.B. Österreich, Schweiz), die strukturell gar nicht in der Lage sind, ausserhalb des eigenen Territoriums größere Kampfeinsätze zu führen.

Für die Frage nach dem Zusammenhang von Demokratie und Wehrsystem kann die Unterscheidung zwischen etatistischer und sozial-liberaler Staatsauffassung hilfreich sein: Die Rolle des Bürgers im Hinblick auf die Aufgabe gemeinsamer Verteidigung lässt sich dann entweder als die eines wehrpflichtigen Untertanen oder eines wehrberechtigten Bürgers definieren. Je nach Grad der bürgerlichen Mitbestimmung ergibt sich daraus die konkrete Ausgestaltung des Wehrsystems. Entsprechend dem etatistischen Prinzip lenkt und formt der Staat die Gesellschaft durch Gesetze (Interventionismus), nimmt den Bürger gleichsam in seine Pflicht. Auf der Grundlage einer sozial- liberalen Staatsauffassung erscheinen Staat und Gesellschaft als funktional einander zugeordnet und dem Bürger wird lediglich ein Recht zur Verteidigung zugesprochen.

In der öffentlichen Diskussion in den modernen westlich-demokratischen Gesellschaften wurde diese Thematik zumeist auf die Frage verkürzt, ob die Mitglieder der Gemeinschaft – im erweiterten Sinne männlichen wie weiblichen Geschlechts – zu einem Wehr- bzw. Militärdienst staatlich verpflichtet (d. h. gezwungen) werden sollen oder nicht. Die Antworten auf diese Frage fielen in den Staaten Europas sehr unterschiedlich aus. Während einige Länder an der Beibehaltung einer Wehrpflicht festhielten (z. B. die Schweiz und Österreich), entschieden sich zahlreiche andere demokratisch verfasste Gesellschaften für eine Aussetzung oder Abschaffung der traditionellen Wehrpflicht und die Umstellung der Streitkräfte auf eine Rekrutierung nach dem Prinzip der Freiwilligkeit (z.B. Deutschland, Schweden, Belgien, Niederlande und Frankreich).

Entscheidend für die Wahl eines bestimmten Wehr- bzw. Militärsystems in einer Demokratie sind letztlich die gesellschaftlichen Werthaltungen und politischen Grundüberzeugungen und Zielvorgaben

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 124 des Gemeinwesens. Die wesentlichsten Kennzeichnen für die demokratische Verfasstheit des Gemeinwesens müssen dabei die eindeutige Vorrangstellung des Politischen vor jeglichem Militärischen und Kriegerischen und eine Orientierung am Prinzip des friedlichen Interessensausgleichs sein. Über das konkrete Wehrsystem hat das jeweilige Volk selbst zu entscheiden.

Grenzen und Herausforderungen

Das Primat der Politik sieht sich jedoch auch in demokratisch verfassten Staaten häufig herausgefordert. Zum Beispiel dann, wenn unterschiedliche politische oder soziale Interessen und Vorstellungen über Funktionen und Kompetenzen des Militärs verhandelt werden müssen. Vor allem die Aspekte der Kompetenzfestlegung sowie der Funktions- bzw. Kompetenzabgrenzung der Streitkräfte gegenüber anderen Institutionen spielen dabei eine wesentliche Rolle. Betrachtet man die Frage, welche zivilen Autoritäten und Instanzen in welchen konkreten Situationen dazu befugt sind, militärische Hilfeleistungen bzw. Einsätze anzuordnen, fallen die Antworten in den modernen Demokratien oft sehr unterschiedlich aus. Selbst die strikte Trennung zwischen innerer und äußerer Sicherheit, also zwischen Polizei und Militär, wird in den pluralistisch-demokratischen Staaten völlig unterschiedlich bewertet.

Während die Bundesrepublik Deutschland aus den Erfahrungen der Vergangenheit heraus über Jahrzehnte an einer strikten Trennung zwischen Militär und Polizei festhielt und einen Einsatz der Bundeswehr im Inneren als grundsätzlich unzulässig erachtete, sahen andere Staaten sehr wohl diese Möglichkeit vor. Manche etablierten sogar polizeiliche Spezialeinheiten, die dem Verteidigungsministerium bzw. den Streitkräften unterstellt wurden (z.B. die italienischen Carabinieri).

Allgemein lässt sich in der jüngsten Vergangenheit beobachten, dass eine strikte Trennung von Militär und Polizei vor allem im Rahmen von demokratischen Reformen im Sicherheitsbereich (Security- Sector-Reform) in verschiedenen Ländern thematisiert wird. Gleichzeitig weichen Länder wie die Bundesrepublik ihr traditionelles Trennungspostulat schrittweise auf - auch wenn weiterhin strenge Restriktionen vorgesehen sind, um das Militär nicht zu einem Machtmittel im Inneren werden zu lassen. Beispielsweise urteilte das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2012 , dass der Einsatz der Streitkräfte und "militärischer Kampfmittel" im Innern zwar zulässig sei, allerdings ausschließlich in "ungewöhnlichen Ausnahmesituationen katastrophischen Ausmaßes" und im Rahmen der engen Voraussetzungen des Grundgesetzes.

Auch konkurrierende Entscheidungs- und Handlungslogiken, z.B. durch Verflechtungen zwischen Politik, Militär und Wirtschaft ("militärisch-industrieller Komplex"), können für das Verhältnis von Demokratie und Militär problematisch sein. Das Primat der Politik sieht auch im Feld des militärischen Rüstungs- und Beschaffungswesens einen klaren Vorrang politischer Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse vor, doch die politische Praxis (Lobbying) gibt gerade hier oftmals Anlass zu berechtigtem Zweifel. Eine Dominanz militärisch-industrieller Partikularinteressen in Gesellschaft und Politik wäre demokratiepolitisch genauso problematisch wie eine Militarisierung der Politik, da das Militärische den demokratischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen in beiden Fällen ein Stück weit entzogen wäre.

Eine zentrale Aufgabe der Politik in pluralistisch-freiheitlichen Demokratien ist deshalb die Wahrung der Sphäre des Politischen sowie der Handlungs- und Entscheidungsfreiräume all ihrer Akteure - auch und gerade im Verhältnis moderner Demokratien zu ihrem Militär.

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 125 Literatur:

Croissant, Aurel/Kühn, David (2011): Militär und zivile Politik, München: Oldenbourg.

Gareis, Sven Bernhard/Klein, Paul (Hg.) (2004): Handbuch Militär und Sozialwissenschaften, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Kant, Immanuel (1795 bzw. 1953): Zum ewigen Frieden, Stuttgart: Reclam.

Kernic, Franz (1997): Demokratie und Wehrsystem, Frankfurt/Main: Peter Lang.

Kernic, Franz (2003): Kritik der militärischen Gewalt, Frankfurt/Main: Peter Lang.

Leonhard, Nina/Werkner, Ines-Jacqueline (Hg.) (2005): Militärsoziologie – Eine Einführung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Werkner, Ines-Jacqueline (Hg.) (2004): Die Wehrpflicht und ihre Hintergründe. Sozialwissenschaftliche Beiträge zur aktuellen Debatte, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Franz Kernic für bpb.de

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 126

Rechtliche Grundlagen deutscher Verteidigungspolitik

Von Dieter Weingärtner 1.5.2015 Dr. Dieter Weingärtner, Jg. 1953, Leiter der Rechtsabteilung des Bundesministeriums der Verteidigung, zuvor in verschiedenen Funktionen im Bundesministerium der Justiz, in der Verwaltung des Deutschen Bundestages und im Umweltministerium Baden- Württemberg tätig. Verfasser und Herausgeber juristischer Fachpublikationen mit Schwerpunkten im Verfassungsrecht, Völkerrecht und Wehrrecht.

Die Aufstellung, die Kontrolle und der Einsatz von Streitkräften sind in Deutschland im Grundgesetz verankert. Innerhalb dieser "Wehrverfassung" regeln diverse Gesetze, wer zum Wehrdienst eingezogen werden kann und welche Rechte und Pflichten Soldaten haben.

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts entschied am 12. Juli 1994 in Karlsruhe über die Verfassungsmäßigkeit von Auslandseinsätzen der Bundeswehr: (v.l.n.r.) Paul Kirchhof, die Senatsvorsitzende Jutta Limbach, Hans Hugo Klein, Konrad Kruis und Berthold Sommer. (© picture-alliance/dpa)

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 127 Die Wehrverfassung

Als das Grundgesetz (GG) (http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/politiklexikon/17584/grundgesetz- gg) im Mai 1949 in Kraft trat, erschien es kaum vorstellbar, dass die neu gegründete Bundesrepublik Deutschland in absehbarer Zeit über eigene Streitkräfte verfügen würde. Zu nah waren der Zweite Weltkrieg und die Kapitulation des Deutschen Reiches. So enthielt das Grundgesetz zunächst keine Bestimmungen über eine Armee. Doch angesichts zunehmender Spannungen zwischen Ost und West und des entstehenden "Kalten Krieges" gewann – nach heftigen innenpolitischen Debatten – die Überzeugung Oberhand, dass eine Wiederbewaffnung Deutschlands unumgänglich sei. Die Aufstellung der Bundeswehr begann und das Grundgesetz wurde im Jahr 1956 um eine "Wehrverfassung" ergänzt.

Die Wehrverfassung bildet allerdings im Grundgesetz keinen eigenen Abschnitt. Die Bestimmungen, die die Bundeswehr betreffen, verteilen sich vielmehr auf verschiedene Artikel, die fast über den gesamten Verfassungstext verstreut sind. Im Jahr 1968 kam die "Notstandsverfassung" hinzu, die unter anderem die Rolle der Streitkräfte in Notsituationen im Inland regelt. Hiervon abgesehen ist die Wehrverfassung seit dem Jahr 1956 praktisch unverändert geblieben.

Zentrale Norm ist dabei Art. 87a GG mit seinem ersten Satz: "Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf". Damit ist zum einen klar gestellt, dass der Bund für die Armee verantwortlich ist und nicht die Länder. Zum anderen wird als Hauptaufgabe der Bundeswehr die Verteidigung definiert. Diese umfasst sowohl die Verteidigung Deutschlands (Landesverteidigung) als auch die Bündnisverteidigung auf der Grundlage des NATO-Vertrages. Jedenfalls ist die Bundeswehr defensiv auszurichten. Denn Art. 26 GG erklärt bereits die Vorbereitung eines Angriffskrieges für verfassungswidrig.

Aufstellung und Einsatz der Streitkräfte

(1) Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf. Ihre zahlenmäßige Stärke und die Grundzüge ihrer Organisation müssen sich aus dem Haushaltsplan ergeben.

(2) Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zuläßt.

(3) Die Streitkräfte haben im Verteidigungsfalle und im Spannungsfalle die Befugnis, zivile Objekte zu schützen und Aufgaben der Verkehrsregelung wahrzunehmen, soweit dies zur Erfüllung ihres Verteidigungsauftrages erforderlich ist. Außerdem kann den Streitkräften im Verteidigungsfalle und im Spannungsfalle der Schutz ziviler Objekte auch zur Unterstützung polizeilicher Maßnahmen übertragen werden; die Streitkräfte wirken dabei mit den zuständigen Behörden zusammen.

(4) Zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes kann die Bundesregierung, wenn die Voraussetzungen des Artikels 91 Abs. 2 vorliegen und die Polizeikräfte sowie der Bundesgrenzschutz nicht ausreichen, Streitkräfte zur Unterstützung der Polizei und des Bundesgrenzschutzes beim Schutze von zivilen Objekten und bei der Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer einsetzen. Der Einsatz von Streitkräften ist einzustellen, wenn der Bundestag oder der Bundesrat es verlangen.

Die deutschen Streitkräfte stehen unter ziviler und nicht unter militärischer Führung. Der Bundesminister der Verteidigung hat – so Art. 65a GG – die Befehls- und Kommandogewalt. Diese geht nach Art. 115b GG mit der Verkündung des Verteidigungsfalles – der Feststellung des Bundestages, dass das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar bevorsteht – auf den Bundeskanzler über.[1]

Die Bundeswehr besteht aus einem militärischen Teil, den Streitkräften, und der zivilen

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Bundeswehrverwaltung. Art. 87b GG überträgt der Bundeswehrverwaltung die "Aufgaben des Personalwesens und der unmittelbaren Deckung des Sachbedarfs der Streitkräfte". Zum Sachbedarf zählen beispielsweise Unterkünfte für die Soldaten und Rüstungsgüter. Damit zusammen hängende Aufgaben erfüllt vorrangig ziviles und nicht militärisches Personal, auch wenn in jüngerer Zeit in einem "bundeswehrgemeinsamen Ansatz" zunehmend Beamtinnen und Beamte in militärischen Bereichen und Soldatinnen und Soldaten in der Bundeswehrverwaltung tätig sind.

Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte – so bestimmt es Art. 87a Absatz 2 – nur eingesetzt werden, soweit das Grundgesetz es ausdrücklich zulässt. Solche expliziten Ermächtigungen eines Einsatzes der Bundeswehr enthält das Grundgesetz nur für:

• den Verteidigungsfall und den Spannungsfall (Art. 87a Abs. 3 GG), also einen akuten oder drohenden bewaffneten Angriff auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland,

• für den inneren Notstand (Art. 87a Abs. 4 GG), z.B. bei den Bestand der Bundesrepublik gefährdenden bewaffneten Aufständen,

• und für den Katastrophenfall (Art. 35 Abs. 2 und 3 GG), z.B. bei Naturkatastrophen wie Hochwassern oder Erdbeben.

Das Grundgesetz befasst sich mit den Streitkräften zudem in Art. 12a Abs. 1, der es ermöglicht, die Wehrpflicht einzuführen, also eine Verpflichtung von Männern zum Dienst in den Streitkräften. Art. 96a Abs. 2 eröffnet die Option, besondere Wehrstrafgerichte für die Streitkräfte zu bilden (was bislang nicht geschehen ist).

Demokratische Kontrolle der Streitkräfte

Aus dem Text des Grundgesetzes spricht deutliches Misstrauen gegenüber militärischer Macht, was angesichts der Erfahrungen aus Zeiten der Diktatur und des Krieges nicht überrascht. Neben der zivilen Führung und den begrenzten Einsatzbefugnissen kommt dies vor allem in der ausgeprägten parlamentarischen Kontrolle der Streitkräfte zum Ausdruck. Deren zahlenmäßige Stärke und die Grundzüge ihrer Organisation müssen sich aus dem Haushaltsplan ergeben, den das Parlament beschließt (Art. 87a Abs. 1 Satz 2 GG).

Der Bundestag bestellt laut Art. 45a GG einen Verteidigungsausschuss, dem die Kontrolle der Bundeswehr aufgetragen ist. Dieser Ausschuss hat als einziger Parlamentsausschuss das Recht - und auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder die Pflicht -, sich selbst zu einem Untersuchungsausschuss zu bestellen. Dann kann er Vorgänge im Verteidigungsbereich mit den Mitteln des Untersuchungsausschusses überprüfen, also Zeugen vernehmen und Unterlagen beschlagnahmen. Derartige Untersuchungen führte der Verteidigungsausschuss beispielsweise in den achtziger Jahren zur "Kießling-Affäre" und in jüngerer Zeit zu dem Bomben-Abwurf in Kunduz/ Afghanistan und zum Scheitern des Drohnen-Projektes EURO HAWK durch.

Zum Schutz der Grundrechte der Soldaten und als Hilfsorgan des Bundestages bei der Ausübung der parlamentarischen Kontrolle sieht Art. 45b GG die Berufung eines Wehrbeauftragten des Bundestages vor. An diesen kann sich nach dem Wehrbeauftragtengesetz (http://www.gesetze-im-internet.de/ wehrbbtg/) jeder Soldat ohne Einhaltung des Dienstweges und unabhängig von einer dienstlichen Beschwerde wenden, wenn er sich in seinen Rechten verletzt fühlt. Dem Wehrbeauftragten stehen zur Erfüllung seiner Aufgaben weit reichende Amtsbefugnisse gegenüber der Bundeswehr zu. Er erstattet dem Bundestag jährlich einen Bericht. Dieser Bericht widmet sich regelmäßig nicht nur Einzelfällen des Fehlverhaltens von Vorgesetzten, sondern auch allgemeinen Problemen von Soldaten wie ihrer sozialen Lage oder der Qualität ihrer Ausrüstung.

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Einsatz der Bundeswehr im Inland

Mit der abschließenden Aufzählung der Situationen, in denen die Bundeswehr innerhalb des Bundesgebietes eingesetzt werden darf, will die Verfassung verhindern, dass die Streitkräfte zum Machtfaktor innenpolitischer Auseinandersetzungen werden. Innere Sicherheit soll Aufgabe der Polizei sein. Die Bundeswehr darf allerdings im Wege der "Amtshilfe" Unterstützung leisten (Art. 35 Abs. 1 GG). Sie kann beispielsweise der Polizei Transport- oder Unterkunftsmöglichkeiten bieten. Solche Hilfe ist kein "Einsatz" der Bundeswehr. Amtshilfe erlaubt aber kein hoheitliches Handeln, keine Durchsetzung staatlicher Befugnisse mit Zwangsmitteln. Auch schon der Eindruck militärischer Machtausübung darf bei Betroffenen nicht erweckt werden.

Situationen des Verteidigungs- und Spannungsfalles und des inneren Notstand, in denen ein Inlandseinsatz der Streitkräfte zulässig ist, erscheinen heutzutage eher unrealistisch. Anders ist dies für schwere Unglücks- und Katastrophenfälle im Sinne des Art. 35 Abs. 2 und 3 GG. Unter den dort genannten Voraussetzungen können die Streitkräfte etwa im Fall einer Hochwasserkatastrophe nicht nur technische Amtshilfe durch Verstärken von Schutzdämmen leisten, sondern auch hoheitlich, zum Beispiel zur Verkehrsregelung, tätig werden.

Eine Sonderregelung für den Streitkräfteeinsatz im Innern wollte das Luftsicherheitsgesetz (http://www. gesetze-im-internet.de/luftsig/) für den Fall eines terroristischen Angriffs mit Flugzeugen treffen. Auslöser hierfür waren die Angriffe in den USA im September 2001. Allerdings erklärte das Bundesverfassungsgericht diejenigen Gesetzesbestimmungen für verfassungswidrig, die eine Gewalteinwirkung gegen mit Unschuldigen besetzte Luftfahrzeuge zuließen. Hierdurch werde die Menschenwürde dieser Personen verletzt. Ein ausschließlich mit Terroristen besetztes Flugzeug dürfte die Luftwaffe hingegen bekämpfen. Denn auch ein unmittelbar bevorstehender Terroranschlag stellt nach Ansicht des Gerichts einen besonders schweren Unglücksfall im Sinne von Art. 35 Abs. 3 GG dar, der einen Bundeswehreinsatz rechtfertigen kann. Dieser müsste jedoch vorab von der Bundesregierung gebilligt werden.

Eigenschutz der Bundeswehr

Das Grundgesetz gewährleistet die Bundeswehr als staatliche Institution. Damit verbunden ist die Befugnis, eigenes Personal und eigene Einrichtungen vor rechtswidrigen Eingriffen zu schützen. Diesem Zweck dient das Gesetz über die Anwendung unmittelbaren Zwangs durch Soldaten der Bundeswehr (http://www.gesetze-im-internet.de/uzwbwg/index.html). Es regelt die Befugnisse bei der Ausübung militärischer Wach- und Sicherheitsaufgaben. Das Gesetz sieht zudem die Einrichtung und Absicherung militärischer Sicherheitsbereiche vor, deren Betreten Unbefugten verboten ist.

Die Bundeswehr zu schützen ist auch Aufgabe des Militärischen Abschirmdienstes (MAD). Der MAD ist einer der drei deutschen Nachrichtendienste. Seine normative Grundlage bildet das Gesetz über den Militärischen Abschirmdienst (http://www.gesetze-im-internet.de/madg/). Schwerpunkt der Arbeit des MAD ist die Abwehr von Spionage und von extremistischen Bestrebungen. Seine nachrichtendienstlichen Befugnisse kann der MAD gegen Innentäter, also Angehörige der Bundeswehr, einsetzen. In bestimmten Fällen darf er auch gegenüber anderen Personen, die die Sicherheit der Bundeswehr gefährden, tätig werden.

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 130 Einsatz der Bundeswehr im Ausland

Der Einsatz im Ausland zur Konfliktverhütung und Krisenbewältigung ist seit der deutschen Einheit im Jahr 1990 praktisch zur Hauptaufgabe der Streitkräfte geworden. Die Bundeswehr hat sich seither an Dutzenden internationaler Missionen beteiligt, auf dem Balkan, im Nahen und Mittleren Osten, in Afrika, auf der Hohen See. Umso mehr verwundert es, dass das Grundgesetz diese Auslandseinsätze noch heute an keiner Stelle auch nur erwähnt. Deren verfassungsrechtliche Grundlage stellt vielmehr nach wie vor eine Leitentscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1994 dar.

Anfang der neunziger Jahre hatte die Bundeswehr an Militäraktionen der NATO gegen das damalige Jugoslawien und an einem Einsatz der Vereinten Nationen in Somalia teilgenommen. Zwei Fraktionen des Bundestages beantragten darauf hin beim Bundesverfassungsgericht festzustellen, dass die Bundesregierung durch die Mitwirkung an diesen Aktionen gegen das Grundgesetz verstoßen habe. In seinem Urteil vom 12. Juli 1994 bezeichnete das Bundesverfassungsgericht die Vorschrift des Art. 24 Abs. 2 GG als ausdrückliche Ermächtigung für Streitkräfteeinsätze im Ausland. Art. 24 Abs. 2 GG bestimmt, dass sich der Bund zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit anschließen kann. Ein solcher Beitritt schließt – so das höchste deutsche Gericht – auch eine Verwendung der Bundeswehr zu Einsätzen ein, die im Rahmen und nach den Regeln dieses Systems stattfinden. Ein Auslandseinsatz der Bundeswehr ist damit im Rahmen der Vereinten Nationen (VN), der NATO und der Europäischen Union (EU) zulässig.

Handelt es sich dabei um einen Einsatz bewaffneter Streitkräfte, bedarf dieser laut Bundesverfassungsgericht der Zustimmung des Bundestages. Den "Parlamentsvorbehalt" leitet das Gericht zum einen aus der deutschen Verfassungstradition und zum anderen aus der umfassenden parlamentarischen Kontrolle der Streitkräfte ab. In Umsetzung dieses Urteils wurde im Jahr 2005 das Parlamentsbeteiligungsgesetz (http://www.gesetze-im-internet.de/parlbg/BJNR077500005.html) beschlossen. Dieses regelt das Verfahren vom Antrag der Bundesregierung über seine Behandlung im Bundestag bis hin zur Möglichkeit einer nachträglichen Zustimmung in akuten Gefahrensituationen. Das alles entspricht inzwischen parlamentarischer Routine. Bei Bedarf trifft der Bundestag seine Entscheidungen auch sehr kurzfristig. Diskussionen gibt es indes mitunter über die Frage, ob eine Verwendung der Bundeswehr im Ausland einen "bewaffneten Einsatz" darstellt oder als humanitäre Hilfeleistung keiner Billigung durch den Bundestag bedarf.

Die Handlungsbefugnisse, über die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr im Auslandseinsatz verfügen, leiten sich aus dem internationalen Mandat der VN, der NATO oder der EU und aus dem Bundestagsbeschluss ab. Sie werden in Einsatzregeln (Rules of Engagement, ROE) konkretisiert, die militärische Befehle darstellen. Wie diese Regeln ausgestaltet werden, hängt auch davon ab, ob es sich um einen Einsatz im Frieden oder im Krieg handelt. In einem "bewaffneten Konflikt", der internationaler oder (wie in Afghanistan) nicht-internationaler Art (Bürgerkrieg) sein kann, sind die Genfer Konventionen von 1949 und ihre Zusatzprotokolle zu beachten, die Schutzrechte und Pflichten für Kämpfende und Zivilisten im Konfliktfall begründen.

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 131 Die Wehrpflicht

Von der Möglichkeit, die Wehrpflicht einzuführen, hat der Gesetzgeber bereits bald nach Gründung der Bundeswehr Gebrauch gemacht. Im Jahr 1956 trat das Wehrpflichtgesetz in Kraft (http://www.bpb. de/politik/hintergrund-aktuell/231388/1956-wehrpflichtgesetz-20-07-2015) und bereits zum 1. April 1957 erfolgten die ersten Einberufungen junger Männer zum Grundwehrdienst. Dieser war in den folgenden Jahrzehnten - abhängig von der politischen Lage - von unterschiedlicher Dauer. Er war aber zunehmend damit belastet, dass aufgrund von Kapazitäts- und Finanzproblemen ein immer geringerer Anteil tauglicher Wehrpflichtiger tatsächlich Wehrdienst leisten musste. Die Wehrungerechtigkeit nahm zu und führte schließlich dazu, dass im Jahr 2011 die verpflichtende Einberufung zum Grundwehrdienst ausgesetzt wurde.

Das Wehrpflichtgesetz (http://www.gesetze-im-internet.de/wehrpflg/) in der Fassung von 2011 geht zwar weiterhin von einer grundsätzlichen Wehrpflicht deutscher Männer vom vollendeten 18. Lebensjahr an aus, beschränkt aber die hieraus resultierenden Folgen – die Pflicht zur Ableistung des Wehrdienstes - auf den Spannungs- oder Verteidigungsfall. Damit entfiel auch die bis dahin bestehende Pflicht von Kriegsdienstverweigerern zur Ableistung eines Ersatzdienstes. Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Art. 4 Abs. 3 GG hat allerdings weiterhin Bedeutung. Auch aktive Soldatinnen und Soldaten können aus Gewissensgründen den Kriegsdienst mit der Waffe verweigern. Werden sie nach dem Kriegsdienstverweigerungsgesetz (http://www.gesetze-im-internet.de/ kdvg_2003/index.html) als Kriegsdienstverweigerer anerkannt, scheiden sie aus der Bundeswehr aus.

Wehrpflicht und Ersatzdienst

(1) Männer können vom vollendeten achtzehnten Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften, im Bundesgrenzschutz oder in einem Zivilschutzverband verpflichtet werden.

(2) Wer aus Gewissensgründen den Kriegsdienst mit der Waffe verweigert, kann zu einem Ersatzdienst verpflichtet werden. Die Dauer des Ersatzdienstes darf die Dauer des Wehrdienstes nicht übersteigen. Das Nähere regelt ein Gesetz, das die Freiheit der Gewissensentscheidung nicht beeinträchtigen darf und auch eine Möglichkeit des Ersatzdienstes vorsehen muß, die in keinem Zusammenhang mit den Verbänden der Streitkräfte und des Bundesgrenzschutzes steht.

(3) Wehrpflichtige, die nicht zu einem Dienst nach Absatz 1 oder 2 herangezogen sind, können im Verteidigungsfalle durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes zu zivilen Dienstleistungen für Zwecke der Verteidigung einschließlich des Schutzes der Zivilbevölkerung in Arbeitsverhältnisse verpflichtet werden; Verpflichtungen in öffentlich-rechtliche Dienstverhältnisse sind nur zur Wahrnehmung polizeilicher Aufgaben oder solcher hoheitlichen Aufgaben der öffentlichen Verwaltung, die nur in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis erfüllt werden können, zulässig. Arbeitsverhältnisse nach Satz 1 können bei den Streitkräften, im Bereich ihrer Versorgung sowie bei der öffentlichen Verwaltung begründet werden; Verpflichtungen in Arbeitsverhältnisse im Bereiche der Versorgung der Zivilbevölkerung sind nur zulässig, um ihren lebensnotwendigen Bedarf zu decken oder ihren Schutz sicherzustellen.

(4) Kann im Verteidigungsfalle der Bedarf an zivilen Dienstleistungen im zivilen Sanitäts- und Heilwesen sowie in der ortsfesten militärischen Lazarettorganisation nicht auf freiwilliger Grundlage gedeckt werden, so können Frauen vom vollendeten achtzehnten bis zum vollendeten fünfundfünfzigsten Lebensjahr durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes zu derartigen Dienstleistungen herangezogen werden. Sie dürfen auf keinen Fall zum Dienst mit der Waffe verpflichtet werden.

(5) Für die Zeit vor dem Verteidigungsfalle können Verpflichtungen nach Absatz 3 nur nach Maßgabe des Artikels 80a Abs. 1 begründet werden. Zur Vorbereitung auf Dienstleistungen nach Absatz 3, für die besondere Kenntnisse oder Fertigkeiten erforderlich sind, kann durch Gesetz oder auf Grund eines

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Gesetzes die Teilnahme an Ausbildungsveranstaltungen zur Pflicht gemacht werden. Satz 1 findet insoweit keine Anwendung.

(6) Kann im Verteidigungsfalle der Bedarf an Arbeitskräften für die in Absatz 3 Satz 2 genannten Bereiche auf freiwilliger Grundlage nicht gedeckt werden, so kann zur Sicherung dieses Bedarfs die Freiheit der Deutschen, die Ausübung eines Berufs oder den Arbeitsplatz aufzugeben, durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden. Vor Eintritt des Verteidigungsfalles gilt Absatz 5 Satz 1 entsprechend.

Pflichten und Rechte von Soldaten

Die Rechtsstellung von Soldatinnen und Soldaten – Berufssoldaten, Soldaten auf Zeit, freiwilligen Wehrdienst Leistenden - regelt das Soldatengesetz. Das Soldatengesetz (http://www.gesetze-im- internet.de/sg/) führt die Möglichkeiten zur Begründung und zur Beendigung eines Dienstverhältnisses als Soldat auf. Näheres, wie die verschiedenen Laufbahngruppen (Mannschaften, Unteroffiziere, Offiziere), regelt die Soldatenlaufbahnverordnung (http://www.gesetze-im-internet.de/slv_2002/index. html). Seit einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs stehen sämtliche Laufbahnen inzwischen auch Frauen offen.

Das Soldatengesetz versteht den Soldaten als "Staatsbürger in Uniform", mit besonderen Rechten, aber auch Pflichten. Er hat gemäß dem Eid, den er zu leisten hat, die Grundpflicht, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen. Zudem verpflichtet das Soldatengesetz den Soldaten zum Eintreten für die freiheitliche demokratische Grundordnung und zum Gehorsam gegenüber Vorgesetzten. Wer Vorgesetzter eines Soldaten ist, bestimmt die Vorgesetztenverordnung (http://www.gesetze-im-internet.de/svorgesv/index.html). Die Gehorsamspflicht gilt jedoch nicht gegenüber Befehlen, die zu nicht dienstlichen Zwecken ergehen, die die Menschenwürde verletzen oder gar gegen Strafvorschriften verstoßen.

Zu den weiteren Soldatenpflichten zählen die Kameradschaftspflicht, die Wahrheitspflicht in dienstlichen Angelegenheiten, die Verschwiegenheitspflicht und die allgemeine Pflicht zu angemessenem Verhalten in und außerhalb des Dienstes. Ein Verstoß gegen diese Pflichten ist ein Dienstvergehen, das mit einer Disziplinarmaßnahme nach der Wehrdisziplinarordnung (http://www. gesetze-im-internet.de/wdo_2002/) geahndet werden kann.

Diese besonderen Soldatenpflichten schränken Grundrechte wie das Recht auf freie Meinungsäußerung und staatsbürgerliche Rechte wie das Recht auf politische Betätigung ein. Die gesetzlichen Beschränkungen dürfen aber nur so weit gehen, wie es der militärische Dienst unbedingt erfordert. So gilt die Wahrheitspflicht ausschließlich in dienstlichen Angelegenheiten und die Verschwiegenheitspflicht dort nicht, wo dienstliche Mitteilungen geboten sind. Auch ist der Einsatz für eine bestimmte politische Richtung dem Soldaten nur während des Dienstes untersagt.

Auf der anderen Seite stehen dem Soldaten Rechte wie das Recht auf die Fürsorge seines Dienstherrn zu. Hierunter fallen Ansprüche auf Gehaltszahlung und auf Sachleistungen wie die Dienstkleidung, auf Urlaub und auf unentgeltliche truppenärztliche Versorgung. Die Wehrbeschwerdeordnung (http:// www.gesetze-im-internet.de/wbo/index.html) gestaltet das Recht des Soldaten aus, sich zu beschweren. Nach dem Ausscheiden aus dem Dienst stehen dem Soldaten Leistungen nach dem Soldatenversorgungsgesetz (http://www.gesetze-im-internet.de/svg/) zu. Und bei der Dienstgestaltung mitwirken kann er nach dem Soldatenbeteiligungsgesetz (http://www.gesetze-im-internet.de/sbg/ index.html) über Vertrauensleute und Personalvertretungen.

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 133 Wehrstrafrecht und Wehrgerichtsbarkeit

Für das Handeln von Soldaten gilt, und zwar auch bei dienstlichem Aufenthalt im Ausland, das allgemeine deutsche Strafrecht. Darüber hinaus kennt das Wehrstrafgesetz (http://www.gesetze-im- internet.de/wstrg/BJNR002980957.html) spezielle soldatische Straftaten wie die Fahnenflucht, die Gehorsamsverweigerung oder den tätlichen Angriff auf einen Vorgesetzten. Besonders geregelt sind auch die Straftaten, die sich auf die Verletzung von Vorgesetztenpflichten beziehen. Auf Handlungen im Rahmen eines bewaffneten Konfliktes (Krieges) findet zusätzlich das Völkerstrafgesetzbuch (http:// www.gesetze-im-internet.de/vstgb/) Anwendung. Es ahndet Verletzungen des humanitären Völkerrechts wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen.

In Unterschied zu anderen Staaten kennt Deutschland bisher keine Militärstrafgerichte. Straftaten von Soldatinnen und Soldaten werden durch zivile Staatsanwaltschaften verfolgt und durch zivile Gerichte geahndet. Im Jahr 2013 wurde für Straftaten im Rahmen von Auslandseinsätzen der Streitkräfte ein einheitlicher besonderer Gerichtsstand in der Stadt Kempten geschaffen. Bei Straftaten nach dem Völkerstrafgesetzbuch ermittelt allerdings weiterhin der Generalbundesanwalt. Dieser – und nicht eine militärische Staatsanwaltschaft – hat auch die Umstände des Bombenabwurfs bei Kunduz/Afghanistan im September 2009 strafrechtlich untersucht. Im Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung existieren lediglich Wehrdisziplinaranwaltschaften und Truppendienstgerichte, die in Disziplinar- und Beschwerdeangelegenheiten zu entscheiden haben.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Dieter Weingärtner für bpb.de

Fußnoten

1. Der Text des Grundgesetztes kennt nur männliche Amtsbezeichnungen

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 134

Militär und Gesellschaft

1.1.2019

Die Wehrpflichtarmee war einer der Stützpfeiler der deutschen Verteidigungspolitik. Der "Staatsbürger in Uniform" gilt noch heute als ihr Ideal. Mit der Aussetzung der Wehrpflicht wird das Verhältnis von Militär und Gesellschaft neu bestimmt. Wie ist die Bundeswehr in der Gesellschaft verankert? Welches Soldatenbild braucht eine demokratische Gesellschaft? Und wer wird heute noch Soldat?

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 135

Militär und Zivilgesellschaft - ein schwieriges Verhältnis - Essay -

Von Ute Frevert 9.5.2016 Prof. Dr. Ute Frevert ist Historikerin und Direktorin des Forschungsbereichs "Geschichte der Gefühle" am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin(https://www.mpib-berlin.mpg.de/de/mitarbeiter/ute-frevert). Sie forscht, lehrt und veröffentlicht u.a. zur Sozial-, Kultur- und Politikgeschichte der Moderne.

Militärische Gewalt ist aus unserem zivilen Alltag weitgehend ausgeschlossen. Mit dem Wehrdienst bricht sie jedoch unweigerlich wieder darin ein. Was bedeutet die Aussetzung der Wehrpflicht für das Verhältnis von Militär und Zivilgesellschaft?

Mit dem Wehrdienst bricht die Gewalt in das eigene Leben ein: Wehrpflichtige in der Grundausbildung laden auf einem Truppenübungsplatz die Magazine ihrer Waffen mit Übungsmunition auf. (© picture-alliance/dpa)

Die Wehrpflicht ist nicht mehr. Am 15. Dezember 2010 beschloss das Bundeskabinett ihre Aussetzung zum 1. Juli 2011. Damit wurde eine der langlebigsten Institutionen der modernen Gesellschaft, die zugleich ein wichtiges Scharnier im Verhältnis zwischen Militär und Zivilgesellschaft war, für unbestimmte Zeit auf Eis gelegt.

Funktional sah sich die Wehrpflicht schon länger außer Dienst gestellt. Mit dem Ende des Ost-West- Konflikts hatte sich die Idee der Landesverteidigung durch große Wehrpflichtarmeen überlebt. Das

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 136 neue Konzept des Krieges als Auslandseinsatz mit kleinen, hochtechnisierten Kampftruppen braucht gut trainierte und qualifizierte Spezialisten, deren Ausbildung länger dauert als ein paar Monate. Mit Wehrpflichtigen lassen sich solche Kriege nicht mehr führen.

Wehrpflicht und demokratische Gesellschaft

Dass man trotzdem so lange an der Wehrpflicht festhielt und um ihre Abschaffung bzw. Aussetzung heftig stritt, liegt daran, dass mit ihr vier für unsere Gesellschaft grundlegende Probleme und Selbstverständnisse verhandelt wurden:

1. Das demokratische Selbstverständnis, wonach Bürger ihre wohlerworbenen Rechte und ihre staatliche Verfassung selber verteidigen dürfen, sollen und müssen. In diesem Zusammenhang sprach der erste Bundespräsident Theodor Heuss 1949 von der Wehrpflicht als einem "legitime [n] Kind der Demokratie". Für ihn war sie eine demokratische Errungenschaft erster Güte.

2. Mit diesem Selbstverständnis geht die Vorstellung einher, dass zum Bürger-Sein auch Bürgerpflichten und Bürgerdienste gehören. Für die Aufforderung, sich für das eigene Gemeinwesen aktiv zu engagieren, steht der seit den 1990er Jahren so beliebte Begriff der Zivilgesellschaft. In ihm schwingen Partizipation, Selbstverpflichtung und Selbstorganisation mit, die Bürger-Sein (citizenship) nicht auf die Verfolgung individueller Zwecke und das Einklagen persönlicher Rechte reduzieren. Wehr- und Zivildienst gelten hier als Ausdruck von bürgerschaftlichem Engagement und damit zugleich als Ausweis und Medium sozialer Integration und Zugehörigkeit.

3. Im Streit um die Wehrpflicht bündeln sich zudem geschlechterpolitische Konfliktlinien. Das Militär ist traditionell eine weitgehend frauenfreie Institution. Das Grundgesetz schrieb seit 1956 erneut fest, dass Frauen keinen "Dienst an der Waffe" leisten dürften. Seit 1975 konnten Frauen allerdings ins Sanitäts- und Musikkorps der Bundeswehr eintreten, zunächst nur auf Offiziersebene, seit 1991 auch als Mannschaften und Unteroffiziere. Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes befand 2000, dass der Ausschluss vom Waffendienst gegen den Gleichberechtigungsgrundsatz verstoße; seit 2001 musste die Bundeswehr alle Berufslaufbahnen für Frauen öffnen. Nicht gerüttelt wurde dagegen am Prinzip, dass die Wehrpflicht nur für Männer gilt, wie das Bundesverfassungsgericht in seinen Urteilen immer wieder bestätigt hat. Dagegen liefen manche Feministinnen Sturm, eine radikale Forderung nach Gleichberechtigung in der Wehrpflicht fand jedoch gesamtgesellschaftlich kaum Resonanz. Das Spannungsfeld freilich blieb: Die nur für Männer geltende Wehrpflicht passte nicht mehr ins Gehäuse der modernen Staats- und Gesellschaftsarchitektur, aus der Geschlechterstereotypen allmählich hinausgedrängt werden.

4. Ein weiteres Dilemma, das die Diskussionen um die Wehrpflicht durchzog, war das Verhältnis zur Gewalt. Wer von Zivilgesellschaft spricht, betont das Zivile, den diskursfähigen, gewaltfreien Umgang der Bürger miteinander. Dass es daneben mit dem Militär eine Institution gibt, deren Mitglieder auf den militärischen Ernstfall vorbereitet werden, stellt die Zivilgesellschaft noch nicht in Frage. Wenn aber alle Bürger qua Wehrpflicht in jene gewaltsame Institution einbezogen werden, wirft das Probleme auf: Die Wehrpflicht erinnerte jede Familie mit Söhnen daran, dass Krieg und Gewalt eine reale Größe waren. Sich mitten im Frieden auf den Krieg vorzubereiten, hieß auch, das Töten und Getötetwerden mitzudenken, selbst wenn es im normalen Alltag weitgehend ausgeschlossen und tabuisiert war. Die Wehrpflicht riss die Grenze zwischen ziviler Gesellschaft und der vom Staat monopolisierten Gewaltausübung ein, trug also die Gewalt in die Gesellschaft zurück.

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 137 Die Vergesellschaftung des Krieges

Jahrhundertelang war diese Grenze stabil gewesen. Die stehenden Heere der Frühen Neuzeit hatten sich vorwiegend aus Söldnern und gedungenen Soldaten rekrutiert. Das änderte sich seit dem späten 18. Jahrhundert, als mit der levée en masse (Masseneinberufung), wie sie 1793 in Frankreich anbefohlen wurde, eine neue Epoche der Kriegführung anbrach. Dabei ging es zum einen darum, die gesamte Bevölkerung einzubeziehen – die wehrfähigen jungen Männer wurden zum Kriegsdienst und die nicht-wehrfähige Bevölkerung zur Versorgung und moralischen Unterstützung herangezogen. Um diese gesamtgesellschaftliche Mobilisierung zu erreichen, mussten Kriege politisch popularisiert und gerechtfertigt werden. Die Kriegspropaganda wurde zum zentralen Mobilisierungsinstrument und entwarf scharf konturierte Feindbilder, die nach innen Gemeinschaft schufen und nach außen klare Fronten markierten.

Zum anderen waren die Kriegsziele und auch die militärische Taktik so definiert, dass sie die Aufstellung von Massenarmeen notwendig machten. Die europäische Geopolitik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts verfolgte territoriale Expansionsinteressen, die sich nicht mehr mit den relativ kleinen Truppenverbänden des 17. und 18. Jahrhunderts durchsetzen ließen. Sie erforderten große, flexibel einsetzbare Heere, deren Soldaten man aus der eigenen Bevölkerung rekrutierte. Massenarmee und Wehrpflicht waren zwei Seiten derselben Münze.

Das wusste bereits Napoleon, der mit einem bis zu 600.000 Mann starken, multinationalen Massenheer fast den gesamten europäischen Kontinent eroberte und das hatten auch die preußischen Militärpolitiker und Reformer erkannt, die 1813 erfolgreich den nationalen Widerstand gegen Frankreich organisierten.

Standesdünkel und politische Widerstände

Nach dem Ende der Befreiungskriege behielt man die eingeführte allgemeine Wehrpflicht in Preußen bei, trotz massiver Widerstände aus der Bevölkerung. Im Kampf gegen Napoleon hatten sich junge Kaufmannssöhne und angehende Staatsdiener zwar durchaus aus patriotischer Begeisterung zur Armee gemeldet; einen dauerhaften Kriegsdienst in Friedenszeiten aber lehnten sie ab. "Adieu Kultur, Adieu Finanzen", kommentierte der Finanzexperte und Althistoriker Barthold Georg Niebuhr bereits 1808 die preußischen Wehrpflichtpläne. Auch die Zumutung, Seite an Seite mit "dummen Bauernsöhnen" auf dem Exerzierplatz stehen zu müssen, empfanden bürgerliche Schichten als unerträglich. Die Antipathie beruhte auf Gegenseitigkeit, und "Bauernsöhne" nutzten gleichfalls jedes Mittel – Simulation von Krankheit, Selbstverstümmelung, Reklamationen -, um dem ungeliebten Militärdienst zu entgehen.

Ungeliebt war der Wehrdienst auch bei seinen frühliberalen und sozialistischen Kritikern. Ihnen missfiel nicht die Idee des waffenfähigen Bürgers und der Wehrpflicht als solche. Friedrich Engels lobte sie 1865 gar als "notwendige und natürliche Ergänzung des allgemeinen Stimmrechts". Wohl aber stießen sich viele Kritiker an der Organisation der Wehrpflicht in stehenden Heeren. Ihnen wären Bürgermilizen mit zivilen Strukturen lieber gewesen, und sie wurden nicht müde, die "Zivilisierung" des Militärs zu fordern, durch parlamentarische Kontrolle, Beschwerderechte und die Abschaffung des Militärstrafrechts. Von einer Abschaffung des Militärs aber war nirgendwo die Rede; radikalpazifistische Strömungen tauchten in nennenswertem Umfang erst in der Hochrüstungsphase des frühen 20. Jahrhunderts auf.

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 138 Militarismus und sozialer Status

Obwohl die Beschwerden über Soldatenmisshandlungen und Offiziersdünkel im 19. Jahrhundert nicht abebbten, lernten die Rekruten mit der Zeit, dem Militärdienst auch positive Seiten abzugewinnen. Viele junge Bürgersöhne bemühten sich um das Privileg, bei freiwilliger Meldung nur ein Jahr dienen zu müssen – obwohl sie selbst für Unterhalt und Ausrüstung aufkommen mussten. Als Einjährig- Freiwillige durften sie sich das Regiment selber aussuchen und konnten sich zum Reserveoffizier qualifizieren. Damit verband sich ein nicht unbeträchtliches soziales Prestige, das in dem Maße wuchs, wie das Militär an Strahlkraft gewann. Vor allem nach den Kriegen in den 1860er und Anfang der 1870er Jahre, die zur Gründung des Deutschen Kaiserreichs führten, erhob das Militär den Anspruch, die "Schule der Nation" zu sein und in der Gesellschaft den Ton anzugeben. Der preußische Leutnant ging damals, wie sich der Historiker Friedrich Meinecke erinnerte, "als junger Gott, der bürgerliche Reserveleutnant wenigstens als Halbgott durch die Welt".

Allerdings darf der Nutz- und Attraktionswert des Militärischen auch nicht überschätzt werden. Selbst im Kaiserreich drängten sich längst nicht alle jungen Männer von Besitz und Bildung nach einer militärischen Nebenkarriere. Weniger als ein Drittel der zum einjährigen Dienst Berechtigten trat tatsächlich in die Armee ein, die meisten wurden als dienstunfähig ausgemustert. Von denjenigen, die ihr Militärjahr ableisteten, erwarb nur jeder zweite die Qualifikation zum Reserveoffizier. Solche Zahlen wecken Skepsis an der landläufigen Vorstellung, dass dem wilhelminischen Bürger nichts so wichtig gewesen sei wie sein Rang als Reserveoffizier. Die große Mehrheit bürgerlicher Männer kam ohne diesen Rang aus.

Gleichwohl besaß er einen sozialen Markierungswert, und das vor allem aus der Sicht jener, die ihn nicht erwerben konnten. Der Wunsch zahlreicher jüdischer Männer, wenn nicht Berufsoffizier, so doch wenigstens Reserveoffizier zu werden, scheiterte regelmäßig am Antisemitismus des preußischen Offizierskorps. In gleicher Weise hatten in den 1830er und 1840er Jahren jüdische Gemeinden in Preußen gegen Pläne mobil gemacht, Juden vom Militärdienst freizustellen. Aus der Position der Ausgeschlossenen erschien der Militärdienst als gesellschaftliches Eintrittsticket und als staatsbürgerliche Ehre.

Dies wiederholte sich, ungleich dramatischer, nach 1935. Als die Nationalsozialisten die nach dem Ersten Weltkrieg auf Druck der Siegermächte abgeschaffte Wehrpflicht wieder einführten, schlossen sie Juden davon aus. Die Proteste des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten gegen die aus seiner Sicht besonders schmerzhafte Entrechtung und Entpflichtung verhallten ungehört.

Missbrauch und Wiederbewaffnung

Demgegenüber begrüßten besonders konservative Kreise das neue Wehrgesetz der Nationalsozialisten als Ausdruck von politischer Stärke und Ordnungswillen. In der ländlichen Bevölkerung, aber auch unter Arbeitern wurde Zufriedenheit laut, dass nun auch die "jungen Leute richtig in Zucht" kämen und "Disziplin und Ordnung" lernten. Zugleich aber fürchteten viele Ältere zu Recht, dass die Wehrpflicht mit Aufrüstung einhergehen und einen neuen Krieg nach sich ziehen würde. Eben das war das Kalkül der nationalsozialistischen Reichsführung. Um die Ergebnisse des letzten Krieges zu revidieren, politische Macht zurückzugewinnen und für territoriale Eroberungen zu nutzen, bedurfte es einer starken, schlagkräftigen Armee. Ein Freiwilligenheer hätte nie die Größenordnungen erreicht, die Hitler für die Umsetzung seiner gigantischen Expansionspläne brauchte, die schließlich in den Zweiten Weltkrieg mündeten. Zwischen 1939 und 1945 dienten in der Wehrmacht insgesamt mehr als 17 Millionen Soldaten (http://www.bpb.de/geschichte/deutsche- geschichte/der-zweite-weltkrieg/199406/die-wehrmacht-struktur-entwicklung-einsatz).

Größenordnungen spielten auch zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Auflösung der Wehrmacht wieder eine Rolle: Ermuntert und unterstützt von den jeweiligen Siegermächten in Ost und West stellten die beiden deutschen Nachfolgestaaten des ‚Dritten Reichs‘ wieder jeweils eigene nationale Streitkräfte auf. Die Bundesrepublik wollte möglichst rasch ein bis zu 500.000 Mann starkes

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 139

Heer schaffen, um damit das eigene außenpolitische Gewicht zu erhöhen. Deshalb stellte die konservative Parlamentsmehrheit 1956 erneut die Weichen für eine Wehrpflichtarmee. Die DDR folgte sechs Jahre später, nach dem Mauerbau, machte den zeitlichen Rückstand aber sogleich durch eine stärkere Einberufungsquote wett. Beide Staaten beriefen sich dabei auf die gleichen politischen Traditionen: die preußischen Heeresreformen des frühen 19. Jahrhunderts. Die autoritäre Geschichte der Wehrpflicht und ihre Instrumentalisierung in zwei Weltkriegen wurden von den Regierenden in beiden Staaten ausgeblendet.

Institution einer demokratischen Gesellschaft?

Vor dem Hintergrund der autoritären Geschichte der Wehrpflicht mutet die anfangs zitierte These von Theodor Heuss, die Wehrpflicht sei demokratischen Ursprungs, abwegig an. Aus historischer Perspektive war sie falsch. Als politischer Appell und Vorgriff auf die Zukunft hingegen ermunterte sie zu einem für Deutschland innovativen Experiment: dem Auf- und Umbau des Militärs zu einer Institution der demokratischen Gesellschaft. Eben damit wurde die Remilitarisierung in den 1950er Jahren begründet: Um die Zustimmung der Bevölkerung zu gewinnen und die weit verbreiteten politischen Widerstände zu überwinden, verwies die Bundesregierung einerseits auf die akute Bedrohungssituation im Kalten Krieg und die Notwendigkeit einer starken Landesverteidigung. Zum anderen betonte sie das Ziel, Militär und Zivilgesellschaft miteinander zu versöhnen. Diesem Zweck dient das bis heute in der Bundeswehr geltende Konzept der Inneren Führung, das alte Vorstellungen von der "Zivilisierung" des Militärs aufnahm und sich dem Leitbild des "Bürgers in Uniform" verpflichtet sieht.

Zweifellos wurden bei der Umsetzung des Konzepts große Fortschritte erzielt. Die Bundeswehr war von Anfang an eine Parlamentsarmee und gilt heute keineswegs mehr als "Schule der Nation" oder "der Männlichkeit". Dennoch lassen sich militärische Umgangsformen nur bedingt "zivilisieren". Das gilt nicht nur für das Prinzip von Befehl und Gehorsam, sondern auch und vor allem für den Umgang mit Gewalt. Gewalt, die aus den zivilen Verhältnissen der Bürger ausgeschlossen ist, findet im Militär ihren legitimen Ort. Im Militär bündelt sich das Gewaltmonopol des Staates, und an dieser frühneuzeitlichen Konstruktion wurde auch in der Moderne nicht gerüttelt. Die Erfahrungen mit Paramilitarismus in der Weimarer Republik, nicht zuletzt auch die aktuellen Entgrenzungen kriegerischer Gewalt durch selbsternannte Warlords und andere nicht-staatliche Akteure in Kriegs- und Krisengebieten weltweit zeigen, welche Gefahren eine Aufkündigung des staatlichen Gewaltmonopols birgt.

Trennung von Militär und Zivilgesellschaft

So wenig auf das staatliche Gewaltmonopol und seine Institutionalisierung verzichtet werden kann, so problematisch ist die Vergesellschaftung der Gewalt in Form der Wehrpflicht. Dass das dahinterstehende Denkmodell in Deutschland nicht mehr mehrheitsfähig war, zeigte die zunehmende Zahl jener jungen Männer, die, statt im Militär zu dienen, lieber einen (längeren) zivilen Ersatzdienst leisteten. Der Schritt zur Berufs- bzw. Freiwilligenarmee löste den Konflikt zwischen einer zivilen Gesellschaft, die ihre Bürger zu gewaltloser Aktivität anhält, und dem Militär mit einem klaren Schnitt. Auch die neue Bundeswehr ist ein notwendiger Teil unserer Gesellschaft, ebenso wie andere staatliche Institutionen. Polizei, Justiz und Verwaltung zwingen den Bürger nicht zur aktiven Mitwirkung. Mit der Aussetzung der Wehrpflicht hat auch das Militär aufgehört, diesen Zwang auszuüben.

Damit ist unsere Gesellschaft endgültig modern geworden – modern im Sinne einer Ausdifferenzierung von Teilsystemen und Institutionen, die parallel zueinander bestehen und sich nicht hierarchisch zueinander verhalten. Am Anfang der Moderne stand demgemäß ein folgenschweres Missverständnis: die revolutionäre Neuerung, die Sphären des Krieges und des Friedens, der Gewalt und der Deliberation, des Soldaten und des Bürgers miteinander zu vermischen. Die Aussetzung der allgemeinen Wehrpflicht nach zweihundert Jahren bereitete diesem Missverständnis vorläufig ein Ende. Das heißt nicht, dass unsere Gesellschaft damit tatsächlich ziviler, verhandlungsbereiter und

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 140 friedfertiger würde. Aber kategorial und vom Prinzip her ist es sauberer und folgerichtig, die Trennung von Militär und Zivilgesellschaft zu markieren. Und politisch eröffnet es die Chance, Gewalt in zivilen Beziehungen umso schärfer und kompromissloser zu ächten und zu bekämpfen.

Literatur:

Aus Politik und Zeitgeschichte (2011): Wehrpflicht und Zivildienst. Bundeszentrale für politische Bildung. Online abrufbar unter http://www.bpb.de/59647 (http://www.bpb.de/shop/zeitschriften/ apuz/59647/wehrpflicht-und-zivildienst).

Frevert, Ute (2001): Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland. München: Beck.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Ute Frevert für bpb.de

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Soldatenbilder im Wandel Innere Führung, Staatsbürger in Uniform und der "hybride" Soldat

Von Nina Leonhard 9.5.2016 Dr. habil. Nina Leonhard ist Politikwissenschaftlerin und Soziologin und Projektleiterin(http://www.mgfa.de/html/ zms_mitarbeiter_einzeln.php?do=display&ident=570b9a680c898&PHPSESSID=79f361eecb8ded65ba06326ee23bc0de)im Forschungsbereich Militärsoziologie am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam. Sie forscht, lehrt und veröffentlicht vor allem zu Militärsoziologie und Erinnerungskultur.

Ein Job wie jeder andere? Soldatische Berufsbilder vermitteln Vorstellungen über die Haltung und das Verhalten von Soldaten. Was als richtig oder typisch für Soldaten angesehen wird, wird von Staat, Gesellschaft und von den Soldatinnen und Soldaten selbst unterschiedlich bewertet.

Soldatenbilder sind ständig im Wandel: Die aus Beton gefertigte Skulptur "Metamorphose" von Rainer Stiefvater vor dem Kreiswehrersatzamt in Freiburg stellt symbolisch den Wechsel vom Zivilbürger zum Soldaten als "Staatsbürger in Uniform" und wieder zum Bürger dar. (© picture-alliance/dpa)

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 142 Was ist eigentlich ein Soldat?

Unter Soldaten[1] versteht man Angehörige regulärer bewaffneter Streitkräfte, die ihre Zugehörigkeit nicht nur äußerlich, durch das Tragen von Uniform, kenntlich machen, sondern die sich durch ein besonderes Treueverhältnis gegenüber dem Staat als obersten Dienstherr auszeichnen.[2] Dadurch unterscheiden sie sich sowohl von Söldnern, die als bewaffnete "Lohnarbeiter" ihre Dienste unterschiedlichen Auftraggebern gegen Geld anbieten, als auch von Mitgliedern bewaffneter Gruppen wie Partisanen oder Freischärlern, die im Namen einer politischen Bewegung oder Partei handeln.

Eine solche Definition des Soldatseins sagt allerdings wenig über das Verhältnis zwischen Soldat, Militär, Politik und Gesellschaft aus. Soldatische Berufsbilder, wie sie offiziell vertreten werden und innerhalb der Streitkräfte informell zirkulieren, füllen diese Lücke. Sie transportieren Vorstellungen über Haltung und Verhalten, an denen sich die Soldaten selbst, aber auch alle anderen Akteure in Politik und Gesellschaft orientieren können, und dienen dazu, das Handeln von Soldaten in seinen Eigenheiten zu charakterisieren und zu legitimieren.[3] Deshalb sind soldatische Berufsbilder häufig umstritten und können zum Gegenstand politischer Auseinandersetzungen werden – innerhalb der Streitkräfte sowie in der politischen Öffentlichkeit. Denn was als "richtig" oder "typisch" für Soldaten angesehen wird, ist erstens wandelbar und daher je nach zeitlichem Kontext neu zu bestimmen. Zweitens gibt es nicht nur eine, sondern mehrere, sich überschneidende, voneinander abweichende oder sogar sich widersprechende Vorstellungen vom Soldatsein, die gleichzeitig bestehen und miteinander konkurrieren.

Dies gilt gerade für die Bundesrepublik. Seit Gründung der Bundeswehr 1955 hat man sich wiederholt mit der Frage nach dem "richtigen" Soldatenbild auseinandergesetzt – vor allem dann, wenn sich der militärische Auftrag und seine gesellschaftliche Wahrnehmung änderten: etwa in den 1950er-Jahren vor dem Hintergrund der Debatte um die westdeutsche Wiederbewaffnung[4] oder Ende der 1970er- und Anfang der 1980er-Jahre angesichts der aufkommenden Friedensbewegung und der Proteste gegen den sogenannten NATO-Doppelbeschluss.[5] Auch heute, seit den Auslandseinsätzen der Bundeswehr vor allem in Afghanistan, wird über das Berufsbild des Soldaten intensiv debattiert.[6] Die Diskussionen lassen mindestens drei verschiedene Zugänge zu der Frage, was das "richtige" Soldatenbild ist und was den Soldatenberuf und das Soldatsein ausmacht, erkennen:[7]

• Aus einer präskriptiven (Normen vorgebenden) Perspektive geben Soldatenbilder Auskunft darüber, wie Soldaten sein sollen. Im Fall der Bundeswehr stellt der "Staatsbürger in Uniform" als zentraler Bestandteil der "Inneren Führung" das offizielle Leitbild dar, das nach außen wie innen Gültigkeit beansprucht.

• Aus einer deskriptiven (beschreibenden) Perspektive charakterisieren soldatische Berufsbilder, wie Soldaten "sind" und was ihre Tätigkeit typischerweise umfasst. Unter sozialwissenschaftlichen Gesichtspunkten steht hier insbesondere die analytische Erfassung des Wandels der Aufgaben westlicher Streitkräfte mit seinen Folgen für den Soldatenberuf im Vordergrund.

• Aus einer subjektiven Perspektive beschreiben Soldatenbilder, wie Soldaten sich selbst und ihren Beruf sehen und welche Bedeutung sie offiziellen Leitbildern gegebenenfalls beimessen.

Soldatische Leit-, Berufs- und Selbstbilder heben also, auch wenn sie in einem Wechselverhältnis zueinander stehen, auf unterschiedliche Aspekte soldatischer Wirklichkeit ab. Diese verschiedenen Perspektiven sollen im Folgenden am Beispiel der Bundeswehr veranschaulicht werden.

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Soldatenbild in der DDR

Auch in der DDR gab es normative Vorstellungen über Haltung und Verhalten von Soldaten. Maßgeblich für die Nationale Volksarmee (NVA) war das Bild der "sozialistischen Soldatenpersönlichkeit", das die SED vorgab. Der Soldat der NVA zeichnete sich demnach durch ein ausgeprägtes politisches Bewusstsein und das Bekenntnis zu den sozialischen Werten und Normen aus. Nach Ansicht der SED war dies die Voraussetzung für eine optimale Beherrschung militärischer Fertigkeiten und begründete die Überlegenheit und die Unbesiegbarkeit des sozialistischen Soldaten in Abgrenzung zum Soldaten des "Klassenfeindes". Dieses Soldatenbild blieb jedoch oftmals Fiktion, wie Rüdiger Wenzke in seinem Text zur NVA (http://www.bpb.de/politik/grundfragen/deutsche-verteidigungspolitik/223787/militaer- der-ddr) schreibt.

Soldatenbilder im Vergleich

Das Leitbild des Staatsbürgers in Uniform

Die Aufstellung westdeutscher Streitkräfte 1955 war seitens der damaligen Bundesregierung nicht nur mit dem Ziel verbunden, politische Souveränität wiederzuerlangen. Es ging auch darum, eine in Abgrenzung zu den deutschen Vorgängerarmeen neue Form von Militär zu schaffen. Dieses Militär sollte von Grund auf kompatibel mit der durch das Grundgesetz geschaffenen freiheitlich- demokratischen Gesellschaftsordnung sein. Hierfür steht die Konzeption der Inneren Führung als "Organisations- und Unternehmenskultur"[8] der Bundeswehr. Sie beschreibt, wie sich Angehörige der Bundeswehr im Dienst am Heimatstandort wie im Einsatz verhalten und an welchen Werten sie sich dabei orientieren sollen. Ihr zentrales Leitbild ist der Staatsbürger in Uniform. Es soll die Spannungen und Widersprüche, die sich aus den individuellen Rechten von Staatsbürgern und den soldatischen Pflichten ergeben, verringern und so eine umfassende demokratische Einbindung der Streitkräfte in die Gesellschaft ermöglichen.[9]

Der Staatsbürger in Uniform als Leitbild umfasst politische, soziale und ethische Aspekte: Es garantiert die Teilhabe an staatsbürgerlichen Rechten (z.B. das Wahlrecht), die parlamentarische Kontrolle des militärischen Einsatzes und das individuelle Beschwerderecht von Soldaten durch die unabhängige Institution des Wehrbeauftragten. Darüber hinaus wird soldatisches Handeln vor allem als wertorientiert konzipiert. Soldaten sind aus Sicht der Inneren Führung mündige Staatsbürger, die von ihren Vorgesetzten auch als solche zu behandeln sind. Den Wert und die Funktion der freiheitlich- demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik sollen sie auch und gerade im Militär erfahren und deshalb in der Lage sein, sich für die Verteidigung von Recht und Freiheit einzusetzen. Gemäß der Vorgaben der Inneren Führung üben Soldaten als Staatsbürger in Uniform ihre Tätigkeit nicht primär gegen Entlohnung, sondern im Bewusstsein ihres Auftrags und der zugehörigen Wertvorstellungen aus. Sie verstehen demnach ihren Beruf als einen Beruf "wie jeder andere", mit dem kein privilegierter sozialer Status verknüpft ist. Das Ziel soldatischen Handelns ist laut Innerer Führung die Herstellung beziehungsweise Sicherung von Frieden – unter Androhung und Anwendung von Gewalt. Der Einsatz von Gewalt ist aus diesem Verständnis als Mittel zur Erreichung friedlicher Zwecke zu verstehen und nicht als Ziel oder Selbstzweck soldatischen Handelns an und für sich.

Wie die institutionelle Verankerung der Inneren Führung war die Einführung und Etablierung des Leitbilds vom Staatsbürger in Uniform ein von Kontroversen begleiteter Prozess, der von der Herausgabe eines ersten Handbuches zur Inneren Führung (1957) über die Verabschiedung einer entsprechenden Vorschrift und ihrer Überarbeitung in den Jahren 1972 und 1993 bis zur bis heute gültigen Neufassung der sogenannten Zentralen Dienstvorschrift (ZDv) 10/1 von 2008 (http://www. kommando.streitkraeftebasis.de/resource/resource/MzEzNTM4MmUzMzMyMmUzMTM1MzMyZTM­ 2MzIzMDMwMzAzMDMwMzAzMDY4NzQzNTY1MzYzNDc0NjMyMDIwMjAyMDIw/Zentrale%20Dienstvorschrift% 20Innere%20F%C3%BChrung%20Selbstverst%C3%A4ndnis%20und%20F%C3%BChrungskultur.pdf) reicht.[10]

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Mit der Entwicklung der Bundeswehr weg von einer reinen Verteidigungsarmee hin zu einer Armee im (Auslands)Einsatz ist sowohl aus den Reihen der Soldaten als auch der Wissenschaft Kritik am offiziellen Leitbild des Staatsbürgers in Uniform laut geworden: Einerseits sei fraglich, ob die historisch bedingte, auf Kriegsvermeidung und Friedenssicherung abzielende Grundausrichtung der Streitkräfte die aktuelle Realität asymmetrischer Konflikt- und Einsatzlagen noch abzubilden vermag.[11] Zum anderen bestehe mit Blick auf die Aussetzung der allgemeinen Wehrpflicht und die Umwandlung der Bundeswehr in eine international eingesetzte Freiwilligenarmee das Risiko einer Aushöhlung der zivilgesellschaftlichen Integration der Streitkräfte und einer Schwächung des demokratischen Bewusstseins der Soldaten: Auf der einen Seite kämen immer weniger Bürger in ihrem Leben direkt mit der Bundeswehr in Kontakt und beschäftigten sich mit militärbezogenen Themen. Auf der anderen Seite konzentrierten sich die Soldaten angesichts des Wegfalls des einst klaren Verteidigungsauftrags zunehmend auf den professionellen Wesenskern des Militärs zu Lasten einer Reflexion über die übergeordnete politische Bedeutung ihres Handelns. Die Innere Führung müsse daher in dieser Hinsicht weiterentwickelt werden.[12]

Von dieser normativen Beschäftigung mit dem Leitbild des Staatsbürgers in Uniform sind Ansätze zu unterscheiden, die zentrale Merkmale des Soldatenberufs im Wandel der Zeit analytisch erfassen und anhand von Berufsbildern systematisieren.

Das Berufsbild des Soldaten vor dem Hintergrund sich wandelnder Einsatzbedingungen

In der deutschen wie internationalen Militärsoziologie ist man sich weitgehend einig, dass sich mit dem Ende des Kalten Krieges der Auftrag westlicher Streitkräfte und damit auch das berufliche Anforderungsprofil von Soldaten grundlegend gewandelt haben.[13] Stand bis 1989/90 die Landesverteidigung im Vordergrund, kamen seit den 1990er-Jahren sogenannte friedensschaffende sowie friedenssichernde Einsätze in innerstaatlichen oder grenzüberschreitenden Konflikten als "neue", zusätzliche Aufgaben für das Militär hinzu. Damit hat sich auch das Berufsbild des Soldaten verändert: Prägte in den "großen" zwischenstaatlichen Kriegen der Vergangenheit das Bild vom Soldaten als "Kämpfer und mitreißender Truppenführer" und unter den Bedingungen nuklearer Abschreckung der "Manager und Techniker" die Wahrnehmung, gilt für die hochkomplexen Einsatzszenarien der Gegenwart der "diplomatisch, politisch [und] akademisch" gebildete Soldat als militärischer Prototyp. Er erfüllt gleichermaßen militärische und polizeiliche Aufgaben und verbindet – als Diplomat, Helfer, Schützer oder sogar Sozialarbeiter – somit ganz unterschiedliche Rollen und wird zu einer Art Hybrid, einem soldatischen Mischwesen.[14]

Offen bleibt, inwieweit Soldaten in der Lage sein können, mit diesen vielfältigen Anforderungen zurechtzukommen – insbesondere mit Widersprüchen wie etwa der Konfrontation mit Gewalt im Einsatzland, die im krassen Kontrast zum zivilgesellschaftlichen Gewaltverbot im Heimatland steht.[15] Mit Blick auf die oben dargestellte "Hybridisierung der Streitkräfte"[16] bzw. des Soldatseins ist zu fragen, ob die geforderte Rollenvielfalt letztlich nicht zu einer funktionalen Überforderung der Soldaten führt, die eine Konzentration aufs Kämpfen bedingt, wenn nicht sogar erforderlich macht.[17] Inwieweit dies der Fall ist, darüber können Studien Auskunft geben, die sich mit dem soldatischen Selbstverständnis befassen, das im nächsten Abschnitt betrachtet wird.

Soldatische Selbstbilder

In der Forschung gibt es verschiedene Annäherungen an die subjektive Sicht des Soldatseins, die zu übereinstimmenden wie abweichenden Ergebnissen kommen. Im Rahmen einer in den 2000er-Jahren durchgeführten qualitativen Befragung unter jungen Soldaten aus Ost- und Westdeutschland, die sich längerfristig bei der Bundeswehr verpflichtet hatten, wurde auf der Basis vier unterschiedlicher Dimensionen (Tätigkeit, Status, Tugenden, Auftrag) ein Modell soldatischer Identität entwickelt. Es umfasst vier Typen soldatischen Selbstverständnisses:[18]

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• Für Soldaten des ersten Typus stellt die Tätigkeit bei der Bundeswehr in erster Linie eine "Alternative zum Zivilberuf" dar. Von ihnen werden die Parallelen zwischen einer Arbeit beim Militär und bei einem zivilen Arbeitgeber hervorgehoben. Die Auslandseinsätze der Bundeswehr werden unter politischen Gesichtspunkten thematisiert und sind für diesen Typus in erster Linie als Teil der konkreten Arbeitsbedingungen von Bedeutung.

• Soldaten des zweiten Typus ("Soldatsein als Karriere") zeichnen sich durch eine ausgeprägte Aufstiegs- und Statusorientierung aus. Für sie stehen materielle Anreize sowie die Qualifizierungs- und beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten einer militärischen Laufbahn im Vordergrund. Die Aufgaben der Bundeswehr, namentlich die Auslandseinsätze, werden in erster Linie unter funktionalen Gesichtspunkten, mit Blick auf die eigene Karriere, thematisiert und entsprechend bewertet.

• Soldaten des dritten Typus stechen durch eine ausgeprägte Identifikation mit dem Militär und der Institution "Bundeswehr" hervor ("Soldatsein als Lebenswelt"). Für sie stehen "Dienst" und "Kameradschaft" an erste Stelle. Die eigene Stellung innerhalb der Militärhierarchie wie auch die von anderen wird am Dienstgrad und den gezeigten Führungsqualitäten festgemacht. Der politische Auftrag der Bundeswehr im Allgemeinen wie auch die Auslandseinsätze im Besonderen werden als politisch vorgegeben akzeptiert. Für die Beurteilung der Einsätze im Einzelfall stehen Fragen der militärischen Machbarkeit im Zentrum.

• Soldaten des vierten Typus lassen sich durch eine starke Identifikation mit dem Auftrag charakterisieren ("Soldatsein als Mission"). Dies setzt eine umfassende Auseinandersetzung mit den der Bundeswehr übertragenen Aufgaben und dem eigenen Beitrag dazu voraus, der für die Einschätzung des eigenen Status wie auch für die allgemeine Berufszufriedenheit von entscheidender Bedeutung ist.

Zusammenfassend lassen die skizzierten soldatischen Selbstbilder nicht nur unterschiedliche Berufsmotive, sondern auch unterschiedliche Sichtweisen auf das Verhältnis zur Militärorganisation wie zu den Aufgaben der Bundeswehr erkennen. Daran zeigt sich, dass soldatisches berufliches Handeln unterschiedlichen Logiken folgt, die sich teils mehr, teils weniger mit dem offiziellen Leitbild decken[19] – auch wenn die Innere Führung als normativer Bezugspunkt grundsätzlich anerkannt wird.[20]

Wie stabil diese Logiken über die Zeit hinweg sind und durch (Gewalt)Erfahrungen während eines Auslandseinsatzes gegebenenfalls beeinflusst werden, dazu liegen bislang nur vereinzelte Erkenntnisse vor. Anja Seiffert[21] konstatierte mit Blick auf die Ergebnisse ihrer Untersuchung zum Bosnien-Einsatz der Bundeswehr Ende der 1990er-Jahre eine Verschiebung soldatischer Legitimationsvorstellungen: Übergeordnete politischer Erwägungen zu Einsatzzielen wie beispielsweise Demokratisierung verloren gegenüber funktionalen und utilitaristischen Überlegungen, die auf organisationsbezogene oder individuelle (Eigen)Interessen abhoben, an Bedeutung. Neuere Studien zeigen dagegen, dass sich kaum Unterschiede bei den Einflussfaktoren für soldatische Motivation zwischen Stabilisierungs- und Kampfeinsätzen feststellen lassen.[22] Dass speziell die während des Afghanistan-Einsatzes gemachten Gefechtserfahrungen allerdings im Selbstverständnis der davon betroffenen Soldaten zu einem höheren Maß an militärischer Professionalität und professionellem Selbstbewusstsein geführt haben, verdeutlicht die Untersuchung von Maren Tomforde.[23] Tomforde warnt in diesem Zusammenhang davor, den soldatischen Umgang mit Gewalt ausschließlich unter psychopathologischen Gesichtspunkten zu thematisieren und plädiert stattdessen dafür, soldatische Gewalterfahrungen in ihren destruktiven wie konstruktiven Auswirkungen und somit sowohl als Erfahrungen von Leid und Zerstörung als auch von professionellem Können und

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Selbstbewährung ernst zu nehmen.[24]

Fazit

Die Frage des soldatischen Umgangs mit Gewalt stellt letztlich den Dreh- und Angelpunkt der Beschäftigung mit soldatischen Leit-, Berufs- und Selbstbildern dar: Die Aufgabe von Soldaten als Angehörige von Streitkräften ist die organisierte Anwendung oder Androhung bewaffneter Gewalt im Auftrag des Staates. Als Repräsentanten des staatlichen Gewaltmonopols verfügen Soldaten über Handlungsoptionen, die allen anderen Bürgern untersagt sind. Zugleich unterliegen Soldaten in ihrem Handeln besonderen Zwängen, da staatliche Gewalt kontrolliert werden muss, um als legitim gelten zu können.

Soldatenbilder – ob normativ kodiert, analytisch konstruiert oder durch alltägliche Praxis konstituiert – liefern Lösungsangebote für dieses Spannungsfeld, das aufgrund der jedem Gewalthandeln innewohnenden Dynamiken nie ganz aufgelöst werden kann.[25] Soldatenbilder bündeln die normativen und funktionalen ebenso wie die politischen, organisationsbezogenen und individuellen Parameter, die das Soldatsein und den Soldatenberuf kennzeichnen. So, wie die Gewichtung dieser Parameter unterschiedlich ausfallen kann, so können die Vorstellungen voneinander abweichen, die in Militär, Politik und Gesellschaft über "den" Soldaten oder "die" Soldatin bestehen. Für pluralistische Gesellschaften ist eine solche Vielfalt weder ungewöhnlich noch problematisch. Wichtig erscheint vielmehr, dass Militär, Politik und Gesellschaft öffentlich und transparent darüber in Dialog treten und sich die Soldatinnen und Soldaten selbst, mit ihren eigenen Erfahrungen, Vorstellungen und Standpunkten, in dieser Debatte wiederfinden und mit einbringen können.

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Nina Leonhard für bpb.de

Fußnoten

1. Zugunsten der besseren Lesbarkeit wurde in diesem Text darauf verzichtet, die männlichen wie weiblichen Angehörigen der Streitkräfte jeweils gesondert zu benennen. Desgleichen wurde aus Platzgründen auf eine Differenzierung zwischen geschlechtsspezifischen Vorstellungen des Soldatseins verzichtet – wohlwissend, dass nach wie vor Unterschiede zwischen Soldaten- und Soldatinnenbildern bestehen. 2. Dies spiegelt sich beispielweise im Eid wider, den Soldaten der Bundeswehr bei der Übernahme als Zeit- und Berufssoldat ablegen: "Ich schwöre, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen." 3. Zu den Funktionen soldatischer Berufsbilder im Einzelnen siehe Vogt (1987: 100). 4. Siehe hierzu zum Beispiel Geyer (2001). 5. Siehe hierzu zum Beispiel Vogt (1986) sowie Dörfler-Dierken (2010). 6. Siehe hierzu beispielsweise die Beiträge von Neitzel (2013), Biehl (2014/15) und Naumann (2014/15) mit weiterführenden Literaturhinweisen in der Zeitschrift Mittelweg 36. 7. Vgl. hierzu und im Folgenden Franke (2012: 376 ff.).

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8. Wiesendahl (2007b: 22 et passim). 9. Für eine ausführliche Rekonstruktion der Leitgedanken von Wolf Graf von Baudissin, auf den die Ideen der Inneren Führung maßgeblich zurückgehen, siehe Dörfler-Dierken (2005); für eine Zusammenfassung dieser Ideen mit Blick auf das Leitbild des Staatsbürgers in Uniform siehe von Rosen (2006). 10. ZDv 10/1 = Zentrale Dienstvorschrift 10/1 "Innere Führung. Selbstverständnis und Führungskultur der Bundeswehr". Diese Vorschrift firmiert mittlerweile unter der Bezeichnung A2600/1 "Innere Führung. Selbstverständnis und Führungskultur". 11. Siehe hierzu etwa die Kritik von Hellmann (2011, 2013). 12. So z. B. Franke (2015); siehe hierzu auch die Beiträge in Wiesendahl (2007a). 13. Exemplarisch hierfür: Moskos/Williams/Segal (2000); speziell für die Bundeswehr: Biehl (2008). 14. Die entsprechenden Formulierungen stammen von v. Bredow (2006: 315). 15. So z. B. Apelt (2012). 16. Kümmel (2012). 17. So z. B. Warburg (2010). 18. Siehe hierzu und im Folgenden Leonhard/Biehl (2012: 416 ff.) sowie Leonhard (2007: Kap. 4). 19. Siehe hierzu auch die Untersuchung von Tomforde (2005). 20. Darauf deuten auch die Ergebnisse der Studie von Bake (2010) hin, die gleichzeitig deutlich machen, dass die Innere Führung von Soldaten in erste Linie mit guter Menschenführung und den Prinzipien des Führens mit Auftrag ("Auftragstaktik") verbunden wird. Vgl. hierzu auch Biehl/ Leonhard (2012: 418 f.). 21. Seiffert (2004). 22. Vgl. Pietzsch (2012); siehe hierzu auch Biehl (2014/15: 59 f.). 23. Tomforde (2015). 24. Zum ambivalenten Charakter von Gewalt siehe auch Stümke (2013). 25. Leonhard/Franke (2015: 5).

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Einsatzrückkehrer und Veteranen

Von Michael Daxner 9.5.2016 Prof. Dr. Dr. hc Michael Daxner ist Sozialwissenschaftler und Konfliktforscher. Er ist derzeit Teilprojektleiter im Sonderforschungsbereich "Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit" der Freien Universität Berlin. Zuvor war Daxner Präsident und Professor für Soziologie an der Universität Oldenburg. Er war mehrfach beratend für die österreichische Bundesregierung und internationale Organisationen tätig. Daxner forscht und veröffentlicht v.a. zu Interventionen und Friedenseinsätzen.

Die Einsätze der Bundeswehr in Afghanistan und auf dem Balkan haben viele Rückkehrer hervorgebracht. Dennoch haben Veteranen bisher keinen festen Platz in unserer Gesellschaft. Wer als Veteran gilt, ist in Deutschland immer noch umstritten.

Bundeswehrsoldaten steigen am 22. Dezember 2012 im Camp Marmal in Masar-i-Scharif, Afghanistan, in eine C160 Transall-Transportmaschine, um nach Deutschland zurück zu fliegen. (© picture-alliance/dpa)

Sie haben noch keinen festen Platz in unserer Gesellschaft: Wenn wir Veteranen sagen, denken viele noch an die Heimkehrer aus dem zweiten Weltkrieg. Oder sie schalten schnell auf die Gegenwart um und erkennen die Einsatzrückkehrer der Bundeswehr aus dem Kosovo und vor allem aus Afghanistan. Manche wehren sich gegen den Begriff Veteranen, weil ihm eine unangenehme militärische Aura anhängt, und wollen ihn durch "Einsatzrückkehrer" ersetzen; andere haben sich im Bund deutscher Veteranen oder bei den Combat Veterans organisiert und streiten darüber, wer ein echter Veteran sein kann und darf. Nachfolgend werden beide Begriffe synonym verwendet.

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 151 120.000 Veteranen – und ihre Zahl wächst

Traditionell versteht man unter Veteranen Heimkehrer aus dem Krieg. Sie brechen in das soziale Gefüge der Nachkriegszeit ein, wie nach dem Ersten Weltkrieg. Sie beanspruchen besondere soziale Vergünstigungen, weil sie sich für das Vaterland verdient gemacht haben, sie fordern Dank und Respekt. In manchen Ländern genießen Veteranen dauernde gesellschaftliche Achtung, ihr Status wird fast zu einem Namenszusatz, wie in den USA.

In Deutschland gibt es bis heute keine offizielle Definition, wer Veteran ist und welche Rechte und Pflichten damit verbunden sein sollen. 2013 lieferte der damalige Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière eine erste Beschreibung: Veteran oder Veteranin sei, "wer ehrenhaft aus dem aktiven Dienst in der Bundeswehr ausgeschieden ist und als Angehöriger der Bundeswehr im Ausland an mindestens einem Einsatz oder einer besonderen Verwendung im Rahmen von humanitären, friedenserhaltenden oder friedensschaffenden Maßnahmen teilgenommen hat." Nach dieser Definition gibt es mittlerweile mehr als 120.000 Veteranen in Deutschland. Und ihre Zahl wird wachsen, weil bereits neue Mandate für Auslandseinsätze durch den Bundestag beschlossen wurden.

Seit de Maizières Vorstoß stockt die Debatte – auch wenn das Bundesverteidigungsministerium an einem neuen Veteranenkonzept arbeitet. Viele Fragen sind offen: Können auch aktive Soldaten mit Einsatzerfahrung Veteranen sein? Muss man "Feindberührung" gehabt haben, um als Veteran gelten zu dürfen? Und kann der Veteranenstatus auch jenen zugebilligt werden, die einfach als Soldaten der Bundeswehr gedient haben und ehrenhaft entlassen wurden?

Keinem Land fällt es so schwer wie Deutschland, Einsatzrückkehrer als Erscheinung der neuen deutschen Rolle in der globalen Sicherheitspolitik wahrzunehmen und "einzuordnen". Dies ist keineswegs eine Aufgabe, die allein den Militärs zusteht, denn hier geht es auch um Angehörige, Hinterbliebene, um Fragen des Alltags und der Sozialversicherung, und vor allem um Anerkennung und die Stellung der Veteranen im politischen und gesellschaftlichen Machtgefüge unserer Republik.

Worum geht es also, wenn wir sagen, die Veteranen haben noch keinen festen Platz in unserer Gesellschaft?

Veteranenforschung: Was wir wissen (müssen)

Systematisch beschäftigt sich die Wissenschaft erst wieder mit den Veteranen, seitdem die Bundeswehr in Auslandseinsätzen tätig ist. Vor allem Afghanistan, aber auch schon die Einsätze auf dem Balkan in den 1990er Jahren, haben viele Rückkehrer hervorgebracht, die sich zunehmend bemerkbar machen: Sie wollen speziell versorgt werden, erwarten und fordern ihre Reintegration in die Bundeswehr bzw. in die zivile Gesellschaft außerhalb des Militärs. Ihre Nostalgie nach dem Einsatz und ihre gestörten privaten Beziehungen sind gleichermaßen auffällig und werden vielfach in den Medien thematisiert. Filme, TV-Serien und eine Vielzahl von Büchern stellen nicht nur die Position der Einsatzrückkehrer dar, sondern erklären den Menschen den Krieg, aus dem sie kommen.

Die Forschung auf diesem Gebiet ist schwierig, da die Bundeswehr sehr zurückhaltend mit der Freigabe wichtiger Strukturdaten ist und weil jede Forschungsdisziplin und jedes Politikfeld ein eigenes Interesse und Zugangsverfahren für Statistiken, Definitionen und Interpretationen dieser Daten anmeldet. Dabei können jedoch einige Vorannahmen hilfreich sein, um Alltagserfahrung mit Rückkehrern und wissenschaftliche Erkenntnisse zu verbinden: Zunächst – kein Mensch wird als Veteran geboren. Doch einmal Veteran bleibt er es ein Leben lang. Sein Soldatsein hingegen ist nur ein Lebensabschnitt – in der Soziologie spricht man von einer sozialen Statuspassage. Einsatzrückkehrer bleiben auch nach ihrer aktiven militärischen Laufbahn Veteranen, selbst wenn sie zurück im zivilen Leben andere und zusätzliche Positionen einnehmen.

Wie Veteranen von der Gesellschaft wahrgenommen werden, unterscheidet sich zum Teil erheblich: Der aktive Kämpfer und auch der Verwundete können ganz anders wahrgenommen werden als der

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 152 heimgekehrte, von PTBS (post-traumatische Belastungsstörung) geplagte, entwurzelte oder seine Erlebnisse verdrängende Veteran: der eine als vermeintlicher "Held", der sein Leben für das Vaterland riskiert hat, der andere möglicherweise als "Opfer", das eine Belastung für sein soziales Umfeld darstellt. Das hängt auch davon ab, welchen gesellschaftlichen und politischen Rückhalt die Auslandseinsätze und der Soldatenberuf genießen. Von der Wertschätzung der Bundeswehr in der Bevölkerung lässt sich aber nicht zwangsläufig auf die Achtung und den respektvollen Umgang mit Veteranen in Öffentlichkeit und Alltag schließen.

Auslandseinsätze sind nicht nur eine körperliche, sondern auch eine psychische Belastung: Bundeswehrsoldaten ruhen sich am 20. August 2011 nach einer anstrengenden Nacht im Distrikt von Charrah Darreh nahe Kundus in Afghanistan aus. (© picture-alliance/dpa)

(Über)Leben nach dem Einsatz

Was wir über Veteranen wissen, kommt nicht immer unverzerrt und gradlinig bei der Öffentlichkeit und den Medien an. Für alle Veteranen gilt, dass der Einsatz im Ausland, im Rahmen von militärischen Interventionen oder humanitären Einsätzen, das weitere Leben beeinflusst. Oft gilt, dass Kampferfahrung dem Leben nach dem Einsatz eine entscheidende Wende gibt, nicht immer in die gleiche Richtung: Viele Einsatzrückkehrer verlieren ihren sozialen Halt, ihre Bindungsfähigkeit an Familie und Umwelt, und ihre reflektierte Identität; andere wiederrum reifen und gewinnen eine neue, selbstbewusstere Persönlichkeit, ohne deshalb zu Militaristen oder Kämpfernaturen zu werden. Es gibt hier sehr viele Faktoren, die genau erforscht werden müssen.

Kameradschaft und Angst um die Anerkennung durch andere ebenso wie Todesangst in Extremsituationen sind wesentliche Bestandteile, die das künftige Leben nach dem Einsatz beeinflussen. Hier hat sich die Wissenschaft aufgemacht, genaueres zu erkunden, was nicht einfach ist, weil viele Rückkehrer, ihre Familien und Vorgesetzten, vor allem aber viele Kameraden abblocken, wenn es um die tieferen Schichten der Einsatzerfahrung geht. Wir wissen auch, dass bei vielen Veteranen die Tatsache, dass sie überlebt haben, wichtig für ihre Selbstwahrnehmung ist: Unbewusst konkurrieren sie damit mit den Toten, nunmehr unangreifbaren Kameraden, oder mit den "Helden" der

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Einsätze.

Keine einheitliche soziale Gruppe

Gerade in diesem Punkt muss neben der Wissenschaft auch die politische Bildung ansetzen: Was müssen die Öffentlichkeit und die Medien, aber auch Familienangehörige, Freunde und Kollegen, Kameraden und Mitrückkehrer, von den Veteranen wissen? Von einer sozialen Gruppe, die Teil dieser Gesellschaft ist, und doch irgendwie außerhalb steht, manchmal stehen will. Es vermischen sich verschiedene Haltungen und Interessen, die keine einheitliche soziale Gruppe sichtbar werden lassen.

Generell lassen sich zwei Haltungen bei Veteranen unterscheiden: Die eine setzt auf Deutungshoheit, d.h. sie erklärt ihrer Umwelt, wie der Krieg (= Einsatz, Kamperfahrung) wirklich ist und war, und dass sie, die Rückkehrer, berufen sind, ihn zu bewerten, zu kritisieren und oft politisch oder moralisch zu verallgemeinern. Die andere Haltung schließt sich ab von der Öffentlichkeit und meint, nur wer selbst die Einsatzerfahrung gemacht hat, kann die Erzählung vom Krieg verstehen und würdigen. Beide Haltungstypen gehen auch in Interessenpolitik ein: Viele Rückkehrer wollen eine besondere Versorgung und Unterstützung bei der Reintegration in die Gesellschaft, der sie sich oft nach kurzer Zeit entfremdet fühlen, auch wenn der Einsatz nur sechs Monate gedauert haben sollte.

Eine besondere Gruppe sind die Einsatznostalgiker, die die Kameradschaft und die Gefahr, oder beides, vermissen und so oft es geht in den Einsatz ("an die Front"?) zurückkehren wollen, nicht selten dann auch für private Sicherheitsdienste und nicht mehr "für Deutschlands Sicherheit/Freiheit", wie die Einsätze oft begründet wurden. Eine kleine Gruppe argumentiert nach dem Einsatz ausdrücklich politikkritisch. Dabei finden sich alle Variationen, von neu erwachtem Pazifismus bis zu der Forderung nach mehr militärischer Stärke und Einsatzbereitschaft.

Dies bleibt natürlich den Medien und der Politik nicht verborgen. Nun ist es schwierig für die bewussten Nachkriegsdemokraten, die neuen Formen von Kriegs- und Kampferinnerung aus der Tradition zu entlassen; für viele aber sind die Veteranen willkommener Anlass, die demokratische Bundeswehr und den Kampfauftrag der Deutschen neu zu definieren, mit einem Wort, den "Staatsbürger in Uniform" für überholt zu erklären.

Eine Gesellschaft muss lernen, mit ihren Veteranen umzugehen

Wir wissen also eine Menge über Veteranen. Schwierig bleibt es, an die psychische Verfassung und an den "Körper" der Veteranen heranzukommen. Einige Studien (siehe Literaturhinweise) beschreiben, wie die Rückkehr in Familie und an den Standort aufgefasst wird. Die Heimkehrer-Literatur, aber auch journalistische Einzelfall-Recherchen geben hier ein meist negativeres Bild ab als die zusammenfassenden Studien. Die Körperstudien werden oft "literarisch" verarbeitet. Aber dieser Körper spielt natürlich eine große Rolle: Er wird im Kampf riskiert, verletzt, geschunden; er wird tätowiert, versteckt, bebildert und er spielt nach der Rückkehr aus dem Einsatz einen wichtigen Part bei der Integration in Familie und Gesellschaft. Damit wird auch verständlich, warum bisher nur vom Veteranen, dem männlichen Subjekt also, die Rede ist. Es wird sich ändern, immer mehr Veteraninnen kehren aus dem Einsatz zurück und werden das Bild dieser neuen sozialen Gruppe prägen. Dann wird sich auch die maskuline Rede von den Veteranen verändern müssen, überhaupt, wenn die Bundeswehr weitere Soldat*innen rekrutieren muss, um Auslandseinsätze bestehen zu können.

Tabuthemen, wie Sexualität im und nach dem Einsatz, Treue und Heimweh, Partnerbeziehungen und Ersatzhandlungen, die über Kameradschaft begründet werden, sind oft nur Symptome für eine Gesellschaft, die nicht gelernt hat, mit ihren Einsatzrückkehrern umzugehen. Das gilt im Übrigen auch für Rückkehrer*innen, die aus zivilen Zusammenhängen wieder nach Deutschland kommen. Werden sie nicht offen und nachhaltig integriert, entwickeln beide Gruppen auffällige Verhaltensweisen, die die Gefahr von Konflikten in der Gesellschaft in sich bergen. Dabei geht es nicht nur um Verhalten, sondern auch um Werte, Normen und Tugenden.

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Literatur:

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Daxner, Michael (2014a). Gefallene und Veteranen - die Wiederkehr. In: Daxner, Michael (Hrsg.). Deutschland in Afghanistan (S. 249-259). Oldenburg: BIS-Verlag.

Daxner, Michael (2014b). Veteranen. Wissenschaft und Frieden, 2014 (4), 24-26.

Daxner, Michael & Neumann, Hannah (2012). Heimatdiskurs. Wie die Auslandseinsätze der Bundeswehr Deutschland verändern. Bielefeld: Transcript.

Hanisch, Anja (2013). Globale Einsatzerfahrung als Ressource. Zentrum für Internationale Friedenseinsätze. Verfügbar unter: http://www.zif-berlin.org/fileadmin/uploads/analyse/dokumente/ veroeffentlichungen /ZIF_In_Mission_Globale_Einsatzerfahrung.pdf (http://www.zif-berlin.org/fileadmin/ uploads/analyse/dokumente/veroeffentlichungen/ZIF_In_Mission_Globale_Einsatzerfahrung.pdf)

Kollmann, Anja (2015). Die Reintegration von Expatriates. Empirische Studie zur Rückkehrerfahrung von Expatriates. Hamburg: Diplomica.

Mann, Robert Clifford (2014). German Warriors. In: Daxner, Michael (Hrsg.). Deutschland in Afghanistan. Oldenburg: BIS-Verlag.

Minssen, Heiner (2009). Bindung und Entgrenzung: Eine Soziologie international tätiger Manager. Mering: Hampp.

Moosmüller, Alois (2007). Lebenswelten von ‚Expatriates‘. In: Straub, Jürgen, Weidemann, Arne & Weidemann, Doris (Hrsg.). Handbuch Interkulturelle Kommunikation und interkulturelle Kompetenz. Grundbegriffe – Theorien – Anwendungsfelder (S. 480-488). Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler.

Näser-Lather, Marion (2011). Bundeswehrfamilien, Baden-Baden: Nomos.

Schugk, Michael (2014). Interkulturelle Kommunikation in der Wirtschaft. Grundlagen und Interkulturelle Kompetenz für Marketing und Vertrieb (2. Aufl.). München: Franz Vahlen.

Seiffert, Langer, Pietsch (2012). Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Seiffert und Hess (2014). Afghanistanrückkehrer. Potsdam: ZMS.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Michael Daxner für bpb.de

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Wehrgerechtigkeit

Von Patrick Bernhard 9.5.2016 Dr. Patrick Bernhard ist Historiker und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZFF) in Potsdam. Er forscht, lehrt und publiziert u.a. zu westdeutscher Gesellschaftsgeschichte, Kalter Krieg und Konsumkultur.

Bis 2011 galt in Deutschland die Wehrpflicht. Doch seit der Gründung der Bundeswehr gab es immer mehr wehrfähige Männer, als für die Armee benötigt wurden. Die Folge: Nicht jeder musste den Dienst an der Waffe antreten. Das wurde vielfach als ungerecht empfunden.

Millionen junger Männer haben sie zu Zeiten der Wehrpflicht durchlaufen: die Musterung. Doch nicht jeder, der sich für den Wehrdienst als tauglich erwies, musste den Dienst an der Waffe auch antreten. (© picture-alliance/dpa)

Zwischen 1956 und 2011 bestand in der Bundesrepublik die allgemeine Wehrpflicht. Diese sah vor, dass grundsätzlich alle Männer im wehrfähigen Alter auf bestimmte Zeit einen Dienst in der Bundeswehr zu absolvieren hatten. Dieses Gleichheitspostulat bezeichnet man als Wehrgerechtigkeit. In der Praxis schaffte es die Bundeswehr jedoch Zeit ihres Bestehens nicht, diesem Anspruch gerecht zu werden und wirklich alle verfügbaren Männer zum Wehrdienst einzuziehen. Vielmehr bestand über Jahre ein erhebliches Maß an Wehrungerechtigkeit. Dieser Missstand wurde schließlich im Jahr 2011 als ein Argument dafür benutzt, die Wehrpflicht auszusetzen.

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 156 Das Grundproblem: Babyboom und Bundeswehr

Das Grundproblem für die Bundeswehr bestand darin, dass ihr immer mehr Wehrpflichtige zur Verfügung standen als sie Personal benötigte. Das galt selbst für die Hochzeit des Kalten Kriegs, als die westdeutschen Streitkräfte einen Umfang von rund 500.000 Mann aufwiesen. Ein Grund für dieses "Überangebot" waren zunächst die geburtenstarken Jahrgänge. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kam es zum sogenannten Baby Boom: Zwischen 1946 und 1965 stieg die Zahl der jährlichen Geburten in Westdeutschland von etwa 700.000 auf über 1 Million an. Von diesen waren rund die Hälfte Frauen, dazu kamen die als untauglich Gemusterten, Kriegsdienstverweigerer und etwa Geistliche, die grundsätzlich vom Wehrdienst befreit waren. Unter dem Strich gab es jedoch deutlich mehr taugliche Dienstpflichtige als die Bundeswehr aufnehmen konnte. Nach offiziellen Angaben bewegte sich der personelle Überhang zwischen 50.000 und 100.000 Mann jedes Jahr. Überspitzt formuliert: Babyboom und Wehrgerechtigkeit gingen nicht zusammen.

Erste Lösungsversuche: Allgemeine Dienstpflicht und Auswahlwehrpflicht

Politik und Militär waren sich dessen früh bewusst und stellten erste Überlegungen zur Lösung des Problems an. So dachte die Regierung Konrad Adenauer zunächst daran, eine allgemeine Dienstpflicht einzuführen, die für Männer wie Frauen gelten sollte. Die Idee war, dass dadurch diejenigen jungen Menschen, die die Bundeswehr nicht brauchte, ebenfalls zu einem Dienst an der Allgemeinheit herangezogen werden könnten.

Hintergrund war der Kalte Krieg: Mit einer allgemeinen Dienstpflicht wollte die Regierung in Bonn den zu erwartenden Großnotständen nach einem Atomschlag des Ostblocks begegnen. Einen solchen allumfassenden Dienst verbot jedoch das Grundgesetz. Juristische Vorprüfungen ergaben, dass der Plan einen Verstoß gegen das Verbot der Zwangsarbeit bedeuten würde.

Die Bundesregierung ging deshalb zu einem Lotterieverfahren über. Per Los bestimmte die Bundeswehrverwaltung diejenigen Wehrpflichtigen, die zur personellen Bedarfsdeckung der Armee über das notwendige Maß an Zeit- und Berufssoldaten hinaus gebraucht wurden. In den Anfangsjahren der Bundeswehr waren das nur 30 bis 40 Prozent aller Wehrdienstpflichtigen. So entließ die Bundeswehr etwa Tausende Akademiker stillschweigend aus ihrer Wehrpflicht. Wer in den 1950er und 1960er Jahren gleich nach dem Abitur ein Studium aufnahm, hatte große Chancen, gar nicht mehr "gezogen" zu werden. Die Förderung der Ausbildung hatte zunächst offiziell Vorrang, war der Betreffende dann 25 Jahre alt, verzichtete der Staat ganz auf die Einberufung zur Bundeswehr.

Viele Betroffene empfanden das bis 1965 gültige Lotteriesystem als ungerecht, weil in ihren Augen allein der Zufall über Dienen und Nichtdienen entschied. Tatsächlich ließ sich gegenüber der Öffentlichkeit nur schwer verdecken, dass die Bundeswehr zu einer Auswahlwehrpflicht übergegangen war. Ein hochrangiger Vertreter des Verteidigungsministeriums sprach 1968 in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel (http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-45997477.html) ganz offen darüber, dass "nur die Dummen" Dienst leisteten, während die Klügeren sich um den Dienst drückten. Neue Lösungsvorschläge, wie etwa eine von allen Nichtdienenden zu leistende finanzielle Abgabe, erwiesen sich jedoch als nicht praktikabel.

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 157 Die wahren Drückeberger? Wehrdienstverweigerer als Sündenböcke

Ende der Sechzigerjahre kam Bewegung in die Diskussion über die Wehrgerechtigkeit. Damals stieg die Zahl der Wehrdienstverweigerer spürbar an: Hatten sich zuvor nur wenige Tausend pro Jahr auf ihr grundgesetzlich verbrieftes Recht berufen, den Dienst an der Waffe aus Gewissensgründen zu verweigern, so lag die Zahl 1968 erstmals über 10.000 und stieg in den Folgejahren kontinuierlich an.

Parteiübergreifend musste diese ohnehin schon gesellschaftlich diskriminierte Minderheit nun als Sündenbock herhalten. So behauptete beispielsweise der damalige sozialdemokratische Verteidigungsminister Helmut Schmidt, die meisten Wehrpflichtigen verweigerten nur, weil sie sich um jede Art von Dienst herumdrücken wollten. Sie rechneten sich große Chancen aus, dass der damals noch kleine Zivildienst bald aus allen Nähten platzen werde und sie gar nicht einberufen würden. Vor der Wehrstrukturkommission sprach Schmidt etwa 1971 davon, dass sich Kriegsdienstverweigerer noch "davonschlängeln" wollten.

Der SPD-Spitzenpolitiker unterstellte damit nicht nur, dass die meisten Kriegsdienstverweigerer keine lauteren Motive besäßen, was eine stigmatisierende Missbrauchsdiskussion zur Folge hatte. Vor allem verschwieg Schmidt auch, dass Wehrdienstverweigerer nur einen kleinen Teil des Gesamtproblems ausmachten: Ihre Zahl lag Anfang der Siebzigerjahre bei wenigen Zehntausend, während die Bundeswehr bis dahin mehrere Hunderttausend Wehrpflichtige aufgrund der demographischen Entwicklung nicht hatte einziehen können.

Kampf der "Wehrungerechtigkeit": Die Regierung Willy Brandt

Die Regierung Willy Brandt machte die Beseitigung der Wehrungerechtigkeit zu einem Schwerpunkt ihrer Reformpolitik in den Siebzigerjahren. Im Mittelpunkt standen zwei Maßnahmen: Zum einen senkte die Bundeswehr die Dauer des Wehrdienstes von 18 auf zunächst 15 Monate ab. Dadurch war es möglich, dass mehr Wehrpflichtige jedes Jahr die Bundeswehr durchliefen. Zum anderen baute die Regierung den Zivildienst massiv aus: Neue Stellen wurden insbesondere in der Pflege und in der ambulanten Versorgung geschaffen. Erst in dieser Zeit wurde der Zivildienst zu einer großen bundesdeutschen Institution, die das bestehende Sozialsystem stützte und ergänzte. Allerdings erfüllte sich die Hoffnung der Regierung nicht, durch den Ausbau des Zivildienstes die Zahl der Kriegsdienstverweigerer zu senken. Viele verweigerten den Wehrdienst, obwohl sie einen alternativen Dienst zu leisten hatten. Der Vorwurf der Drückebergerei widerlegte sich somit schlicht.

Neue Wehrungerechtigkeiten: Die langfristigen Folgen der Reformen

Auch ihr angestrebtes Ziel, die Wehrungerechtigkeit insgesamt zu beseitigen, erreichte die Regierung Brandt nicht. Zwar schaffte sie es, deutlich mehr Verweigerer zum Zivildienst einzuberufen. Jedoch war sie damit so erfolgreich, dass sie zugleich neue Wehrungerechtigkeiten schuf: Prozentual wurden zum Zivildienst nämlich nun deutlich mehr junge Männer einberufen als zur Bundeswehr. Das Problem der Wehrungerechtigkeit stellte sich nun unter umgekehrten Vorzeichen, wie der damalige Verteidigungsminister Georg Leber intern festhielt. Entsprechend sprach die Regierung Brandt nur mehr von einer relativen Wehrgerechtigkeit.

Auch den nachfolgenden Regierungen gelang es bis zur Aussetzung der Wehrpflicht im Jahr 2011 nicht, für mehr Wehrgerechtigkeit zu sorgen. Im Gegenteil verschärfte sich das Problem noch einmal. Nach dem Ende des Kalten Kriegs wurde die Bundeswehr personell stark verkleinert. Sie benötigte deshalb immer weniger Rekruten. Selbst die seit 1965 sinkenden Geburtenzahlen konnten dieses Grundproblem nicht lösen. Die Bundeswehr behalf sich zwar damit, dass sie zum einen die Tauglichkeitskriterien verschärfte: So musterte die Bundeswehrverwaltung nun deutlich mehr junge Männer als dienstunfähig aus. Zum anderen senkte der Staat die Wehrdienstdauer schrittweise weiter ab: von 15 Monaten im Jahr 1990 auf nur mehr sechs Monate im Jahr 2011. Doch standen über Jahre weiterhin zu viele taugliche Wehrpflichtige zur Verfügung. Noch Gravierender war für viele Beobachter,

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 158 dass die Bundesregierung überhaupt Gerechtigkeitsvorstellungen dem Bedarf der Bundeswehr unterordnete.

Die seit den 2000er Jahren nicht mehr verstummende Diskussion über die Aussetzung bzw. Abschaffung der Wehrpflicht war dann auch bestimmt vom Problem der Wehrungerechtigkeit. FDP, GRÜNE und LINKE plädierten für die Abschaffung der Wehrpflicht und erklärten, dass ein so weitreichender Eingriff in die individuelle Freiheit wie die Pflicht zur Ableistung des Wehrdienstes nicht mehr gerechtfertigt sei. Innerhalb der SPD war man unentschlossen und plädierte für ein Modell der "freiwilligen Wehrpflicht". CDU und CSU dagegen votierten lediglich für die Aussetzung des Wehrdienstes. Außerdem spielten Gerechtigkeitserwägungen in der Argumentation der Christdemokraten zunächst keine herausragende Rolle.

Diese Haltung änderte sich jedoch bald. So erklärten etwa Vertreter der CSU im Jahr 2010 gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung: "Mit der Wehrungerechtigkeit kann es nicht so weitergehen." Auch wenn für die Regierung Merkel wohl vor allem fiskalische Motive ausschlaggebend waren, die teure Wehrpflicht auszusetzen, so hatte die vorangegangene Diskussion um die Wehrgerechtigkeit dieser Entscheidung den Boden bereitet. Die Wehrpflicht fiel zum Schluss ohne große Widerstände – obwohl es sich bei der Idee des Staatsbürgers in Uniform, der das demokratische Gemeinwesen verteidigt, um einen Kern bundesrepublikanischen Staatsverständnisses handelte. Der Verzicht auf die Wehrpflicht ließ sich letztlich nur rechtfertigen, weil man in Berlin darauf verweisen konnte, dass ein noch zentraleres Gut, nämlich die Gleichbehandlung aller Bürger, nicht mehr gewährleistet war.

Literatur:

Bald, Detlef (2005): Die Bundeswehr. Eine kritische Geschichte 1955 - 2005. München: Beck.

Bernhard, Patrick (2005): Zivildienst zwischen Reform und Revolte. Eine bundesdeutsche Institution im gesellschaftlichen Wandel 1961-1982. München: Oldenbourg.

Bernhard, Patrick & Nehring, Holger (2014): Den Kalten Krieg denken. Beiträge zur sozialen Ideengeschichte seit 1945. Essen: Klartext.

Longhirst, Kerry (2006): Resisting Change. The Politics of Conscription in Contemporary Germany. In: Joenniemi, Pertti (Hrsg.). The Changing Face of European Conscription (S. 83-99), Aldershot: Ashgate.

Nägler, Frank (2010): Der gewollte Soldat und sein Wandel: Personelle Rüstung und Innere Führung in den Aufbaujahren der Bundeswehr 1956 bis 1964/65. München: Oldenbourg.

Wittmann, Klaus (2010): Für den Erhalt der Allgemeinen Wehrpflicht. In: Hammerich, Helmut R. et. al. (Hrsg.). Die Grenzen des Militärischen (S. 21-33), Berlin: Miles.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/ de/ (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/) Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc- nd/3.0/de/ Autor: Patrick Bernhard für bpb.de

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Kriegsdienstverweigerung und Zivildienst

Von Patrick Bernhard 9.5.2016 Dr. Patrick Bernhard ist Historiker und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZFF) in Potsdam. Er forscht, lehrt und publiziert u.a. zu westdeutscher Gesellschaftsgeschichte, Kalter Krieg und Konsumkultur.

Kriegsdienstverweigerung ist in Deutschland seit 1949 ein Grundrecht. Doch wer den Dienst an der Waffe verweigerte, wurde lange als "Drückeberger" geächtet und musste einen zivilen Ersatzdienst leisten. Dieser entwickelte sich zu einer Stütze des deutschen Sozialsystems.

Von Beginn an umstritten: Menschen demonstrieren gegen Wiederaufrüstung und Wehrdienst am 24. März 1956 in München, veranstaltet von der "Internationale der Kriegsdienstgegner". (© picture-alliance)

Mit der Aussetzung der Wehrpflicht im Jahr 2011 kam auch der Zivildienst an sein Ende. Mehr als 2,5 Millionen junge Männer, die den Wehrdienst in der Bundeswehr aus Gewissensgründen verweigert hatten, arbeiteten als Zivildienstleistende ersatzweise in Krankenhäusern, Altenheimen und anderen Sozialeinrichtungen. Lange als "Drückeberger" angefeindet, wurden Wehrdienstverweigerer erst ab den 1970er Jahren allmählich von der bundesdeutschen Politik und Gesellschaft akzeptiert. Auch am Umgang mit ihnen zeigte sich, dass es die viel bemühte "Stunde Null" des Pazifismus in Deutschland nach der nationalsozialistischen Diktatur und dem Zweiten Weltkrieg nie gegeben hat. Vielmehr brauchte es Jahre, bis sich die Einstellungen zu Krieg, Militär und Gewaltfreiheit in Westdeutschland zu wandeln begannen.

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Kriegsdienstverweigerung in der DDR

Im Gegensatz zur Bundesrepublik gab es in der DDR bis zum Frühjahr 1990 kein verfassungsmäßig garantiertes Recht auf Kriegsdienstverweigerung oder einen entsprechenden Wehrersatzdienst. 1962 war der 18-monatige Wehrdienst für alle männlichen DDR-Bürger zur Pflicht geworden. Seit 1964 hatten sie zwar die Möglichkeit, den Dienst an der Waffe zu verweigern, sie blieben jedoch Soldaten: Als sogenannte Bau- oder Spatensoldaten mussten sie vor allem körperlich anstrengende Arbeiten verrichten, wie Rüdiger Wenzke in seinem Text zur NVA (http://www.bpb.de/politik/grundfragen/ deutsche-verteidigungspolitik/223787/militaer-der-ddr) schreibt.

Die Schmuddelkinder der Bonner Republik: Kriegsdienstverweigerer vor 1968

Bis 1968 war Wehrdienstverweigerung ein völlig randständiges gesellschaftspolitisches Thema. Für die meisten jungen Männer war es die Norm, ihren Dienst in der neu aufgebauten Bundeswehr zu leisten. Die wenigen Tausend, die jedes Jahr ihr grundgesetzlich verbrieftes Recht auf Kriegsdienstverweigerung in Anspruch nahmen und lieber Zivildienst leisten wollten, galten dagegen als gesellschaftliche Außenseiter.

Wehrpflicht und Ersatzdienst

(1) Männer können vom vollendeten achtzehnten Lebensjahr an zum Dienst in den Streitkräften, im Bundesgrenzschutz oder in einem Zivilschutzverband verpflichtet werden.

(2) Wer aus Gewissensgründen den Kriegsdienst mit der Waffe verweigert, kann zu einem Ersatzdienst verpflichtet werden. Die Dauer des Ersatzdienstes darf die Dauer des Wehrdienstes nicht übersteigen. Das Nähere regelt ein Gesetz, das die Freiheit der Gewissensentscheidung nicht beeinträchtigen darf und auch eine Möglichkeit des Ersatzdienstes vorsehen muß, die in keinem Zusammenhang mit den Verbänden der Streitkräfte und des Bundesgrenzschutzes steht.

(3) Wehrpflichtige, die nicht zu einem Dienst nach Absatz 1 oder 2 herangezogen sind, können im Verteidigungsfalle durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes zu zivilen Dienstleistungen für Zwecke der Verteidigung einschließlich des Schutzes der Zivilbevölkerung in Arbeitsverhältnisse verpflichtet werden; Verpflichtungen in öffentlich-rechtliche Dienstverhältnisse sind nur zur Wahrnehmung polizeilicher Aufgaben oder solcher hoheitlichen Aufgaben der öffentlichen Verwaltung, die nur in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis erfüllt werden können, zulässig. Arbeitsverhältnisse nach Satz 1 können bei den Streitkräften, im Bereich ihrer Versorgung sowie bei der öffentlichen Verwaltung begründet werden; Verpflichtungen in Arbeitsverhältnisse im Bereiche der Versorgung der Zivilbevölkerung sind nur zulässig, um ihren lebensnotwendigen Bedarf zu decken oder ihren Schutz sicherzustellen.

(4) Kann im Verteidigungsfalle der Bedarf an zivilen Dienstleistungen im zivilen Sanitäts- und Heilwesen sowie in der ortsfesten militärischen Lazarettorganisation nicht auf freiwilliger Grundlage gedeckt werden, so können Frauen vom vollendeten achtzehnten bis zum vollendeten fünfundfünfzigsten Lebensjahr durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes zu derartigen Dienstleistungen herangezogen werden. Sie dürfen auf keinen Fall zum Dienst mit der Waffe verpflichtet werden.

(5) Für die Zeit vor dem Verteidigungsfalle können Verpflichtungen nach Absatz 3 nur nach Maßgabe des Artikels 80a Abs. 1 begründet werden. Zur Vorbereitung auf Dienstleistungen nach Absatz 3, für die besondere Kenntnisse oder Fertigkeiten erforderlich sind, kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes die Teilnahme an Ausbildungsveranstaltungen zur Pflicht gemacht werden. Satz 1 findet insoweit keine Anwendung.

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(6) Kann im Verteidigungsfalle der Bedarf an Arbeitskräften für die in Absatz 3 Satz 2 genannten Bereiche auf freiwilliger Grundlage nicht gedeckt werden, so kann zur Sicherung dieses Bedarfs die Freiheit der Deutschen, die Ausübung eines Berufs oder den Arbeitsplatz aufzugeben, durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden. Vor Eintritt des Verteidigungsfalles gilt Absatz 5 Satz 1 entsprechend.

Damit hatte nach den heftigen Auseinandersetzungen um die Wiederbewaffnung kaum jemand in Bonn gerechnet. Doch dass nur so wenige der Bundeswehr den Rücken kehrten, hatte triftige Gründe. Das lag nicht nur daran, dass die Kriegsdienstverweigerung damals eines der unbekanntesten Grundrechte war. Hinzu kam, dass das Militär in weiten Teilen der Bevölkerung trotz Weltkrieg und Nationalsozialismus nicht in dem Umfang an Prestige eingebüßt hatte, wie das gemeinhin angenommen wird. Im Gegenteil: Der "Bund" galt selbst unter jungen Menschen nach wie vor als wertvolle Erziehungseinrichtung zur Vermittlung bürgerlicher Werte wie Disziplin, Ordnung und Gehorsam, für die das Militär seit dem 19. Jahrhundert stand.

Außerdem empfanden es nicht wenige junge Männer als zutiefst "unmännlich", im Zivildienst Arbeiten zu verrichten, die als klassische Frauenaufgaben galten, wie etwa die Pflege kranker Menschen. Das zeigen etwa Aufsätze, die Schüler im Rahmen des Ethik- und Religionsunterrichts verfasst hatten. Traditionelle Vorstellungen von Geschlechterrollen waren in der Nachkriegszeit also noch keineswegs in Auflösung begriffen. Umgekehrt haftete Verweigerern nach 1945 noch immer das Odium der feigen "Drückebergerei" an. Das war ein bereits im 19. Jahrhundert bekanntes Stereotyp, das von der nationalsozialistischen Propaganda noch einmal ganz erheblich befeuert worden war. Mehr als 30.000 Soldaten waren wegen Fahnenflucht und Verweigerung zum Tode oder zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Politik und Justiz zementieren nach 1945 das Drückeberger-Klischee noch, indem sie die Deserteure der Wehrmacht nicht rehabilitierten - das passierte endgültig erst im Jahr 2009. Eine außerordentlich wichtige Rolle spielte in diesem Kontext schließlich der Kalte Krieg. Unter dem Eindruck der Bedrohung durch die Staaten des Warschauer Paktes fiel es leicht, Verweigerer als "fünfte Kolonne Moskaus" zu stigmatisieren.

Die Rehabilitierung der Kriegsdienstverweigerer der Wehrmacht

Mit der Änderung des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege (NS-AufhG) vom 24. September 2009 wurden auch Deserteure und Kriegsdienstverweigerer der Wehrmacht offiziell und vollumfänglich rehabilitiert.

"§ 1 Durch dieses Gesetz werden verurteilende strafgerichtliche Entscheidungen, die unter Verstoß gegen elementare Gedanken der Gerechtigkeit nach dem 30. Januar 1933 zur Durchsetzung oder Aufrechterhaltung des nationalsozialistischen Unrechtsregimes aus politischen, militärischen, rassischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen ergangen sind, aufgehoben. Die den Entscheidungen zugrunde liegenden Verfahren werden eingestellt."

Quelle: Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege (NS- AufhG) (http://www.gesetze-im-internet.de/ns-aufhg/BJNR250110998.html)

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 162 "Gewissensinquisition" und militärischer Zivildienst

Auch die staatlichen Prüfungskommissionen, denen sich Wehrdienstverweigerer zu stellen hatten, schreckten viele ab. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes (http://www.bpb.de/geschichte/ deutsche-geschichte/grundgesetz-und-parlamentarischer-rat/39043/biografien) hatten 1949 entschieden, dass nur sogenannte Grundsatzpazifisten, die den Dienst an der Waffe als absolut unvereinbar mit ihrem Gewissen ablehnten, Anerkennung finden sollten. Um das sicherzustellen, baute die Bundeswehrbürokratie einen eigenen gerichtsähnlichen Prüfapparat auf. Vor staatlichen Kommissionen hatte der Verweigernde schlüssig zu erklären, warum er den Waffendienst nicht mit seinen Grundauffassungen von Gut und Böse vereinbaren konnte. Die Beweislast lag damit nicht beim Staat, sondern beim Antragsteller. Den nahmen die staatlichen Prüfer häufig regelrecht ins Kreuzverhör; Kritiker sprachen damals von einer Gewissensinquisition. Vor allem für Jugendliche aus bildungsfernen Schichten bedeutete die mündliche Anhörung eine riesige psychologische Hürde.

Ausgesprochen abschreckend wirkte auch der Anfang der 1960er Jahre ins Leben gerufene Zivildienst. Das war durchaus gewollt, denn die Regierung Konrad Adenauers hatte von Beginn an das Ziel, den Zivildienst möglichst unattraktiv auszugestalten und damit Wehrpflichtige im Interesse der Bundeswehr von einer Verweigerung abzuhalten. Er werde schon "dafür sorgen, dass den Verweigerern die Lust zu diesem Dienst außerhalb der Streitkräfte versalzen" werde, versprach beispielsweise der für den Zivildienst anfangs zuständige Bundesinnenminister Robert Lehr in einem vertraulichen Vermerk. Die Institution geriet damit zu einer wichtigen Stellschraube, mit der die Regierung die personelle Situation der Streitkräfte steuern wollte. Tatsächlich wurden Kriegsdienstverweigerer im Zivildienst geschlossen untergebracht und unterlagen einer relativ strikten Disziplin und Kontrolle nach dem Vorbild der Bundeswehr.

Dass der Zivildienst lange ein ungeliebtes Kind der Bonner Republik war, zeigt sich vor allem daran, dass er in der Anfangszeit schlecht administriert wurde. Das begann bereits beim Prüfungsverfahren. Vielfältige Missstände führten zum einen dazu, dass die Anerkennungsverfahren mit durchschnittlich zwei Jahren sehr lange dauerten. Zum anderen konnten aufgrund personeller Engpässe bis 1967 nicht alle Zivildienstpflichtigen auch tatsächlich einberufen werden. Das hatte fatale Folgen für das Image von Verweigerern: Weil sie oftmals überhaupt keinen Dienst ableisteten, galten sie einmal mehr als Drückeberger. Ungeachtet dieser Probleme wollte man in Bonn am Zivildienst jedoch nichts Grundlegendes ändern.

Das Prüfungsverfahren

Zwischen 1956 und 1984 mussten alle Wehrdienstverweigerer ein mehrstufiges Prüfverfahren durchlaufen.

Zunächst hatte der Antragsteller schlüssig in Form eines schriftlichen Antrags zu begründen, warum er aus Gewissensgründen keinen Dienst an der Waffe leisten könnte. Es folgte eine mündliche Anhörung und Befragung durch eine Prüfkommission. Wurde der Antrag dort abgelehnt, ging der Fall vor eine Prüfkammer. Beide Instanzen waren der zuständigen Wehrbereichsverwaltung und damit der Bundeswehr zugeordnet. Wurde der Antrag auch von der Prüfkammer abgelehnt, blieb dem Antragssteller nur der Gang vor ein ordentliches Verwaltungsgericht.

Erst mit der Novelle des Kriegsdienstverweigerungsgesetzes 1984 wurde das Prüfverfahren für "ungediente Wehrpflichtige" durch ein vereinfachtes Anerkennungsverfahren ersetzt. Mündliche Anhörungen gab es nur noch bei begründeten Zweifelsfällen. Bei aktiven Soldaten galt hingegen weiterhin das bisherige Prüfungsverfahren.

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 163 Vielfältiger Wandel: Der Zivildienst in den turbulenten Sechzigerjahren

Bewegung kam erst in die Situation, als sich im Jahr 1968 so ziemlich alles zu ändern schien. Zum einen entdeckte der radikale Teil der Studentenbewegung sowohl die Bundeswehr als auch den Zivildienst als probate Agitationsfelder. Um das bundesdeutsche Wehrsystem zu unterminieren, rief die Außerparlamentarische Opposition (APO) zu massenhafter Verweigerung auf. Der Bundeswehr wollte man so die benötigten Rekruten entziehen und den Zivildienst, der ohnehin schon unter organisatorischen Problemen litt, durch einen großen Ansturm vollständig zum Kollabieren bringen. Zudem sollte Unruhe in beide Institutionen getragen werden. Tatsächlich geriet auf diese Weise auch der Zivildienst zum Schauplatz der "68er"-Revolte (http://www.bpb.de/geschichte/deutsche- geschichte/68er-bewegung/51790/jahre-der-rebellion). Wie an den Universitäten kam es auch in westdeutschen Krankenhäusern und Altenheimen zu Sit-ins, Hausbesetzungen und Demonstrationen.

Zum anderen stieg die Zahl der Verweigerer an – weniger als Ergebnis der Studentenproteste als vielmehr infolge eines ungleich breiteren gesellschaftlichen Wandels, durch den nun immer mehr junge Menschen der Bundeswehr den Rücken kehrten. Waren es zuvor nur wenige Tausende pro Jahr gewesen, die vor allem aus religiösen Gründen keinen Dienst an der Waffe leisten wollten, so stieg deren Zahl seit dem Ende der Sechzigerjahre stetig an. Die Motive der Verweigerer waren unterschiedlich, wie soziologische Umfragen, Selbstaussagen von Verweigerern und geheime Erhebungen des Verteidigungsministeriums ergaben. Für viele war das atomare Wettrüsten im Zeichen des Kalten Kriegs ausschlaggebend. Mit den sozialliberalen Entspannungsbemühungen gewann dieses Motiv noch einmal deutlich an Gewicht. Nun, da die eigene Regierung mit der Sowjetunion über Verständigung und Frieden verhandelte, sahen es etliche nicht mehr ein, noch zur Bundeswehr zu gehen. Andere hatten primär soziale Beweggründe. Sie entschieden sich nicht mehr allein aus Gewissensgründen gegen den Dienst an der Waffe, sondern auch aus gesellschaftlicher Verantwortung für den Zivildienst.

Dieses verstärkte soziale Engagement hing ohne Zweifel mit dem beispiellosen Wirtschaftswachstum nach 1945 und der dadurch möglich gewordenen Ausweitung des bundesdeutschen Sozialstaats ab den späten 1960er Jahren zusammen. Gestiegener Wohlstand im Zeichen des Wirtschaftswunders und die staatlichen Bemühungen um die kollektive Daseinsfürsorge förderten nicht nur eine Anspruchshaltung des Einzelnen gegenüber dem Staat, sondern ließen auch ein neues Bewusstsein für die eigene soziale Verantwortung in der Gesellschaft entstehen. Wiederum andere entschieden sich aus eher privaten Gründen für den Zivildienst. Gegen die Bundeswehr sprachen etwa das Kasernenleben, der tägliche Drill und die ausgeprägten, von Befehl und Gehorsam getragenen hierarchischen Strukturen.

Dass immer mehr Jugendliche nicht mehr in die "Schule der Männlichkeit" gehen wollten, sondern im Zivildienst lieber Arbeiten verrichteten, die als klassische Frauentätigkeiten galten, verweist schließlich auf das sich allmählich verändernde Geschlechterverständnis seit Ende der 1960er Jahre. Zumindest sahen immer mehr junge Männer durch Arbeiten wie den Pflegedienst das eigene Rollenbild nicht mehr in Frage gestellt.

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 164 Den gesellschaftlichen Wandel verhindern: Restriktive Reformen nach 1969

Diesen vielschichtigen Wandel nahmen Politik und Militär als Bedrohung wahr. Die äußere Sicherheit der Bundeswehr sei gefährdet, erklärte etwa der christdemokratische Verteidigungspolitiker Manfred Wörner 1977 im Bundestag. Das Land falle letztlich der NATO in den Rücken, die von der sowjetischen Aufrüstung immer mehr bedroht werde. Aber mehr noch: Für viele gefährdeten steigende Verweigererzahlen nicht nur die militärische Sicherheit des Landes. Die seit 1969 amtierende sozialliberale Regierung sah darin gar das Zeichen einer viel umfassenderen gesellschaftlichen Krise. Willy Brandt verstand darunter die "innere Abwendung" eines größeren Teils der Jugend von den "Pflichten, die ihnen von Staat und Gesellschaft abverlangt werden", wie er in seiner Erklärung zur Sicherheitspolitik im März 1971 im Bundestag ausführte. Für den Bundeskanzler war damit der Wehrdienst nach wie vor die Norm und seine Verweigerung ein Ausdruck mangelnder staatsbürgerlicher Loyalität – eine Auffassung, in der er sich mit vielen Christdemokraten einig wusste.

Entsprechend technokratisch bis restriktiv war die Zivildienstpolitik der Bundesregierungen in den folgenden zwei Jahrzehnten. Um die Zahl der Verweigerer wieder nach unten zu drücken, verlängerte Bonn den Zivildienst zeitlich gegenüber dem Wehrdienst. Ab 1973 mussten Zivildienstleistende einen Monat, Mitte der 1980er Jahre zeitweise sogar bis zu fünf Monate länger dienen als Wehrdienstleistende. Erst 2004 wurde die Dienstzeit wieder angeglichen. Im Gegenzug zur Dienstzeiterhöhung ersetzte 1984 die Regierung Kohl für die Mehrzahl der Verweigerer das bisherige Prüfungsverfahren durch ein einfaches schriftliches Feststellungsverfahren. Das geschah allerdings nicht aus Rücksicht auf die Wehrdienstverweigerer. Es ging vielmehr darum, die staatliche Verwaltung von dem schwerfälligen und ineffizienten Prüfungsverfahren zu entlasten.

Das sozialpolitische Arrangement und seine unerwarteten Nebenwirkungen

Aufhalten ließ sich der gesellschaftliche Wandel dennoch nicht. Ganz im Gegenteil: Die Zahl der Kriegsdienstverweigerer stieg auch in den folgenden Jahren kontinuierlich an und lag schließlich 2001 bei nicht weniger als 180.000. Parallel hierzu wuchs auch das Ansehen dieser Gruppe in der bundesdeutschen Gesellschaft. Wie Umfragen zeigen, verflüchtigte sich das Drückeberger-Klischee binnen kurzem und machte mehrheitlich einer sehr positiven Beurteilung der Kriegsdienstverweigerer Platz. "Zivis", wie die jungen Männer ohne Waffen ab den 1980er Jahren fast liebevoll genannt wurden, gerieten zu den eigentlichen "Helden des Alltags", galten sie doch als inzwischen unverzichtbare Hilfe im in der Bundesrepublik herrschenden "Pflegenotstand".

Es dauerte ziemlich lange, bis sich die Politik mit dieser Entwicklung arrangierte. Erst Ende der 1970er Jahre setzte ein Umdenken ein, hinter dem allerdings reine Nützlichkeitserwägungen standen: Weil die Regierung inzwischen erkannt hatte, dass sie die Verweigererzahlen nicht nach unten drücken konnte, nutzte sie die zivile Alternative zum Wehrdienst als Steuerungsinstrument im Wohlfahrtsbereich. Soziale Problemlagen sollten mit Hilfe von Kriegsdienstverweigerern abgemildert werden. Über diese Institution versuchte der Staat einen grundlegenden Umbau des Sozialsystems einzuleiten: Primär aus Kostengründen – Hintergrund war die 1974 einsetzende Weltwirtschaftskrise – sollte die teure stationäre durch die billigere ambulante Versorgung ersetzt werden. Der kostengünstige Einsatz von angelernten Zivildienstleistenden schien sich hierfür besonders anzubieten. Tatsächlich bauten die Wohlfahrtsverbände und kommunalen Sozialträger ab Ende der 1970er Jahre Serviceangebote wie "Essen auf Rädern" auf, die zum überwiegenden Teil auf der Arbeit von Kriegsdienstverweigerern basierten.

Zugleich begaben sich die Sozialverbände damit jedoch in eine starke Abhängigkeit. Dieses Problem hat durch die Aussetzung der Wehrpflicht im Jahr 2011 eine erhebliche Dringlichkeit erhalten, ist durch diese Entscheidung doch auch der Zivildienst fortgefallen. Noch gibt es keine wissenschaftlichen Erkenntnisse über die langfristigen Auswirkungen für das Sozial- und Gesundheitswesen. Es bleibt

bpb.de Dossier: Deutsche Verteidigungspolitik (Erstellt am 11.06.2021) 165 daher abzuwarten, ob der deutlich kleinere Bundesfreiwilligendienst, der an die Stelle des Zivildiensts getreten ist (http://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/68778/bundesfreiwilligendienst-01-07-2011), die entstehenden Lücken in der Sozialarbeit schließen kann. Eines hat die historische Rückschau allemal gezeigt: Der sich am Ende der 1960er Jahre in den steigenden Verweigererzahlen so eindrucksvoll manifestierende gesellschaftliche Wandel hat langfristig erhebliche Rückwirkungen auf das Sozialsystem und damit auf einen Kernbereich des bundesdeutschen Staates.

Dokumentationen:

Birckenbach, Hanne-Margret (1985): Mit schlechtem Gewissen – Wehrdienstbereitschaft von Jugendlichen. Zur Empirie der psychosozialen Vermittlung von Militär und Gesellschaft. Baden-Baden.

Lipp, Karl-Heinz u.a. (Hrsg.) (2010): Frieden und Friedensbewegung in Deutschland 1892-1992. Ein Lesebuch. Essen.

Nagel, Ernst J. & Starkulla, Heinz W. (1977): Einstellungen von Wehrdienstverweigerern und Soldaten. Eine empirische Untersuchung. München.

Literatur:

Bald, Detlef (2005): Die Bundeswehr. Eine kritische Geschichte 1955 - 2005. München: Beck.

Bernhard, Patrick & Nehring, Holger (2014): Den Kalten Krieg denken. Beiträge zur sozialen Ideengeschichte seit 1945. Essen: Klartext.

Bernhard, Patrick (2005): Zivildienst zwischen Reform und Revolte. Eine bundesdeutsche Institution im gesellschaftlichen Wandel 1961-1982. München: Oldenbourg.

Bernhard, Patrick (2006): An der "Friedensfront: Die APO, der Zivildienst und der gesellschaftliche Aufbruch der sechziger Jahre. In: von Hodenberg, Christina & Siegfried, Detlef (Hrsg.). Wo "1968" liegt. Reform und Revolte in der Geschichte der Bundesrepublik (S. 164-200), Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht.

Echternkamp, Jörg (2014): Soldaten im Nachkrieg. Historische Deutungskonflikte und westdeutsche Demokratisierung 1945–1955. München: De Gruyter Oldenbourg.

Frevert, Ute (2001): Die Kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland. München: Beck.

Geyer, Michael (2001): Der Kalte Krieg, die Deutschen und die Angst. Die westdeutsche Opposition gegen Wiederbewaffnung und Kernwaffen. In: Naumann, Klaus (Hrsg.). Nachkrieg in Deutschland (S. 267-318), Hamburg: Hamburger Edition.

Plowman, Andrew (2009): Deserters from the Bundeswehr on Page and Screen. Shifting Cultural Meanings of an Act between Desertion from the Wehrmacht and Conscientious Objection. In: German Studies Review, 32, S. 377-396.

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1.1.2020

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