Kantor Kühnhausen Und Concertmeister Simonetti Weggefährten Der Bach-Familie?
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Kantor Kühnhausen und Concertmeister Simonetti Weggefährten derBach-Familie? VonHansJoachimSchulze (Leipzig) AlsBachStadtist Cellebis heuteumstritten. Anleitungenfür Pilgerreisen aufden Spuren Johann SebastianBachs sowieAbhandlungenübereinschlä- gige Orgeln sparen dieseitlangemzuNiedersachsengehörende Stadtvor sichtshalberaus.Anlaß zu derartiger Zurückhaltunggeben neuere Auffassun- genübereinemehrdeutigformulierte Passage im sogenanntenNekrolog von 1750/51, dieBachs Lüneburger Schulzeitbetrifft: Auch hatte er vonhieraus Gelegenheit, sich durchöftereAnhörungeiner damals be- rühmtenCapelle,welcheder Hertzogvon Zelleunterhielt,und diemehrentheilsaus Frantzosen bestand, im FrantzösischenGeschmacke,welcher,indasigen Landen,in derZeitwas ganz Neues war, fest zu setzen.1 Daßdie Begegnungenmit derals neugeltenden Spielweise derFranzosen in Cellestattgefunden hätten, behauptetder Nekrolog nicht, schließt es aller dingsauchnicht aus. Ob Johann SebastianBachsichgegenüber Familieund Freunden jemals definitiv zu dieser Fragegeäußerthat,wissenwir nicht. Johann Adam HillersNeufassungdes Nekrologsbewahrt 1784 jedenfalls noch dievageFormulierungseinerVorlage,2 während es 1790 in ErnstLudwig GerbersTonkünstlerLexikon bereitsheißt: Zugleich lernte er durchfleißigesAnhören derHerzogl.Kapelle zu Celle, welche gröstentheilsaus Franzosenbestand,den damaligenfranzösischen Geschmackals etwasNeues,kennen.3 ÄhnlichäußertsichFriedrich Carl GottlobHirsching 1794 in seinem Histo- risch-literarischen Handbuch berühmterund denkwürdiger Personen: Insbesonderebildete er sich zu Zelle, beyder herzoglichen Capelle, diegrößtentheils aus Franzosenbestand.4 EinenvorläufigenSchlußpunkt setzt Johann NikolausForkel 1802 in seiner Programmschrift UeberJohannSebastian BachsLeben, Kunstund Kunst- werke,indem er ohne Umschweife behauptet: 1 DokIII Nr.666 (S.82). 2 DokIII Nr.895 (S.397). 3 DokIII Nr.948 (S.466). 4 DokIII Nr.987. 258 Hans-Joachim Schulze In dieser Absicht [aktuelleEntwicklungenaufzunehmen] reiseteerals Schülervon Lüneburg ausnicht nurmehrere MahlenachHamburg,[…] sondernauchbisweilen nach Celle, um diedortige,meistensaus FranzosenbestehendeKapelle,und denfran- zösischenGeschmack, derdamahls in diesen Gegenden noch etwasNeues war, kennen zu lernen.5 ZunehmendeUngenauigkeit hat so dieursprüngliche bloße Andeutungin denRangeiner definitiven Feststellung erhoben,ander dieBachBiographik seithernahezuzweiJahrhundertelangfestgehaltenhat.Zweifel an derRich tigkeitdes Behaupteten meldeteerstder russischeMusikforscher Michail S. Druskin(1905–1991) im Blickauf diebeträchtlicheWegstreckezwischen Lüneburg undCelle an.6 Diedamit eingeleitete Suchenacheinem näherge legenenOrt derBegegnung führte zunächstnachDannenberg/Elbe, wo der Hofdes HerzogsGeorg Wilhelmvon BraunschweigLüneburg sich desöfteren zurSommerszeitaufhielt,7 wenigspäter jedoch zurück nach Lüneburg.Mitt- lerweile hat dieForschung sich aufdas alsNebenresidenz fungierendeStadt- schloß in Lüneburg8 geeinigt9 undauf diedaraus resultierendeChance, daß derjunge Bach seinemusikalische WeiterbildungohneSchulversäumnisse hätte bewerkstelligenkönnen. Allerdings kollidiert dieseallzu plausible Interpretation mitder Formulierung „von hier aus“imTextdes Nekrologs. Somit sollte biszur Auffindung neuerBelegezumindest dieMöglichkeit offen- gelassen werden,daß Bach doch vonLüneburg ausdie etwa zwei Tagereisen entfernteResidenzstadt Celleaufgesuchthaben könnte. Im Blick aufBezugspersonen, dieBachden Wegzur „Anhörung“ derHof kapellegeebnet haben könnten, hat dieForschung unterschiedliche Hypo thesen entwickelt.Diese sollen hier nicht referiertoderdiskutiertwerden.Viel- mehr gilt es eine Person etwasnäher zu beleuchten,die in denbisherigen Überlegungenkeine Rollegespielthat:JohannGeorg Kühnhausen,von 1661 5 A. a. O.,S.5;Dok VII, S. 18. 6 MündlicheMitteilung, später auch übernommeninders., Iogann Sebast’janBach, Moskau 1982,S.21f.Vgl.H.J. Schulze, DerfranzösischeEinflußimInstrumental- werk J. S. Bachs,in: DerEinfluß derfranzösischenMusik aufdie Komponistender ersten Hälftedes 18.Jahrhunderts.Konferenzberichtder IX.Wiss. Arbeitstagung Blankenburg/Harz, 26.Junibis 28.Juni1981, Blankenburg/Michaelstein 1982 (Stu- dien zurAufführungspraxisund Interpretation vonInstrumentalmusikdes 18.Jahr- hunderts.Heft16.), S. 57–63, hier S. 58 und62. 7 Ebenda, S. 58 und62(Hinweis vonC.Wolff). 8 BJ 1985,S.107 (C.Wolff). 9 Vgl. etwa K. Küster, Derjunge Bach,Stuttgart 1996,S.114 f.,M.Geck, Bach. Leben und Werk,Reinbek 2000,S.55f., A. Forchert, Johann SebastianBachund seine Zeit,Laaber2002, S. 59,C.Wolff, Johann SebastianBach,Frankfurt/M.2000,ak- tualisierteNeuausgabe2005, S. 71 f. Kantor Kühnhausen und Concertmeister Simonetti 259 an 53 Jahreals StadtkantorinCelle tätigund 1714 dortverstorben(begraben 25.August).10 DaßJohann GeorgKühnhausennochnie alsmöglicher Vermittler berück sichtigt worden ist, hat wohl hauptsächlichmit demFehlenbiographischer Anknüpfungspunktezutun.Die bislanggreifbarenDaten umschließenden Zeitraum von1660bis 1714,enthalten jedoch keinen Hinweis aufHerkunft undAusbildungKühnhausens.Dieser läßt sich ab Oktober1660als Mit wirkender in derHofkapellenachweisen,deren Dienstherr zu jenerZeit Herzog ChristianLudwigvon BraunschweigLüneburg(1622–1665) war, der 1648 zurRegierung gelangte ältesteSohnvon Herzog Georg (1583–1641).11 Am 2. Januar 1661 wurde Kühnhausen alsHofmusicusund Sängerfestan- gestellt,bat jedoch bereitsam17. Juli desselben Jahres um dieErlaubnis, zusätzlich alsKantorander Lateinschule tätigwerden zu dürfen,dader bis herige Amtsinhaberzum Konrektoravanciert sei. Nach derGenehmigung dieses Antrags12 wandteKühnhausensichoffenbar mehr undmehrseiner neuenAufgabe zu,während dieNachweiseüberseine Tätigkeitinder Hof- kapelle1663enden.13 Dievon Herzog Georg Wilhelm(1624–1705) bald nach 1665 eingeleitete Neuausrichtungdes Ensemblesdurch dasEngagement französischerMusiker hat Kühnhausen somitnicht mehr mitvollzogen.Da gegenkam es unterseinerÄgide im Zusammenwirken vonSchülerchor, Stadtorganist und1676neugegründeterRatsmusikzueiner Blüteder Kirchen- musik, wieCelle sievordemnicht erlebthatte undauchdanachnicht wieder erfahren sollte.Indieser PeriodekönnteauchKühnhausens Passionsmusik nach Matthäus14 entstanden sein,die demKomponisten einenangemessenen Platzinder Musikgeschichte gesicherthat. 10 DasfolgendenachW.Wolffheim, Mitteilungen zurGeschichte derHofmusik in Celle(1635–1706) undüberArnoldM.Brunckhorst,in: Festschriftzum 90.Ge- burtstage[von] Rochus Freiherrnvon Liliencron, Leipzig1910, S. 421–429; G. Lin- nemann, Celler Musikgeschichte bis zumBeginndes 19.Jahrhunderts,Celle 1935, besondersS.137–144;H.Müller, Biographisch-bibliographisches LexikonCeller Musiker,Celle 2003 (CellerBeiträgezur Landes undKulturgeschichte.31.). 11 Nachfolger Herzog Georgs warzunächstdessenälterer Bruder Friedrich (1574bis 1648), derohneleiblicheNachkommenverstarb. 12 Eine Probelektion in derSchulefandam30. August 1661 statt, dieKantoratsprobe folgte am 2. September. 13 Am 30.April 1663 heirateteKühnhausen;nachdem TodseinerFraufolgte am 2. Mai1678einezweiteHeirat. 14 Zu dieser vgl. A. Adrio, DieMatthäus-Passion vonJ.G.Kühnhausen (Celleum 1700),in: FestschriftArnoldScheringzum sechzigstenGeburtstag, Berlin 1937, S. 24–35; W. Braun, DiemitteldeutscheChoralpassionimachtzehnten Jahrhun- dert,Berlin 1960,sowie Linnemann (wie Fußnote10). 260 Hans-Joachim Schulze AlsKantoraneiner Lateinschule hätte Kühnhausen vonRechtswegen ein Universitätsstudiumnachweisen müssen;ein entsprechender Matrikeleintrag hätte Rückschlüsse aufAlter undHerkunftermöglicht. Da dieSuche in ein- schlägigen Veröffentlichungen15 erfolglosverlief,mußte „KommissarZufall“ helfen.Die NOVA | LITERARIA | GERMANIÆ |[…] | ANNI MDCCIV.| CollectaHAMBURGI.|[…] | Lipsiæ &Francofurti | apud CHRISTIANUM LIEBEZEIT.enthalten aufS.156 ff.einen Cellæ überschriebenen Abschnitt, in demesauf S. 160heißt: Io.Georg Kühnhausen.Vargula Erfordensis,Cantor,vocatus 1661.natus 1636.d.26. Sept. Kühnhausen istalso eingebürtigerThüringer;die Angabe „Vargula Erforden- sis“ weistauf dasheutige Großvargulabei Langensalza,das alsEnklavezu Erfurtgehörte.Seine Geburt in dertraditionsreichen Gemeinde16 fiel in das Pestjahr 1636,indem einGroßteilder Einwohnerschaft derSeuchezum Opfer fiel. Dervorstehende Nachweis erlaubt drei Mutmaßungen: 1. AlsBewohnerder zu Erfurtgehörigen EnklaveVargula dürfte J. G. Kühn- hausen Verbindungenindie Stadtunterhalten,vielleichtauchseine Ausbil- dung ganz oder teilweisedortgenossen haben.IndiesemZusammenhang könnte es zu Kontaktenmit ErfurterAngehörigender „musicalischBachi- schenFamilie“17 gekommen sein. 2. Wenn Johann SebastianBachinseinerLüneburgerZeit1700–1702 tatsäch- lich nach Cellegewandert sein sollte,könnteeraufder Basislandsmannschaft- licher Unterstützungbei Kühnhausen einUnterkommen gefunden,18 durchdie- senvielleichtauchnochandereFörderung erfahren haben. 3. KühnhausensPassionsmusiknachMatthäuswäreimBlick aufmögliche ThüringerWurzeln zu untersuchen. Einpositives Ergebnis würde dieEinbe- ziehungdes Werkes in Werner Brauns Studie über die„Mitteldeutsche Choral- passion“ zusätzlichrechtfertigen.19 * 15 Matrikeln derUniversitäten Altdorf, Erfurt,Frankfurt/O., Helmstedt, Jena,Leipzig, Wittenberg. 16 ZurGeschichtevon Großvargulavgl.Zedler,Bd. 46 (1745),Sp. 576–593. 17 Vgl. zu diesen H. Brück, DieBrüderJohann, Christophund Heinrich Bach und die„ErffurthischemusicalischeCompagnie“,BJ1990, S. 71–77, sowiedies., Die Erfurter Bach-Familienvon 1635 bis 1805,BJ1996, S. 101–131. 18 ZurWohnungssituation derCellerMusiker vgl. C. MeyerRasch, Kleine Chronikder Kalandgasse,Celle