Plenarprotokoll 12/39

Deutscher

Stenographischer Bericht

39. Sitzung

Bonn, Freitag, den 6. September 1991

Inhalt:

Erweiterung der Tagesordnung 3243 A Zusatztagesordnungspunkt 2: Zusätzliche Überweisung eines Entschlie- Beratung des Antrags der Fraktionen der ßungsantrages an den Haushaltsausschuß 3271 B CDU/CSU und FDP: Verträge zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Zusätzliche Überweisung eines Gesetzent der Republik Polen über die Bestäti- wurfes an den Ausschuß für Wirtschaft . . 3297 D gung der zwischen ihnen bestehenden Grenze sowie über gute Nachbarschaft Tagesordnungspunkt 3: und freundschaftliche Zusammenarbeit a) Abgabe einer Erklärung der Bundesre- (Drucksache 12/1107) gierung zu den deutsch-polnischen Ver- Dr. , Bundeskanzler 3243 D trägen SPD b) Erste Beratung des von den Fraktionen 3249 C der CDU/CSU und FDP eingebrachten CDU/CSU 3253 A Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag SPD 3255 C vom 17. Juni 1991 zwischen der Bundes- republik Deutschland und der Repu- Hans-Dietrich Genscher, Bundesminister blik Polen über gute Nachbarschaft AA 3256A und freundschaftliche Zusammenarbeit - Gerd Poppe Bündnis 90/GRÜNE (Drucksache 12/1103) 3258 C c) Erste Beratung des von den Fraktionen Dr. PDS/Linke Liste . . . 3260 A der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ortwin Lowack fraktionslos 3261 B Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 14. November 1990 zwischen der Hartmut Koschyk CDU/CSU 3262 B Bundesrepublik Deutschland und der SPD 3264 C Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenzen Ulrich Irmer FDP 3266 B (Drucksache 12/1104) Margitta Terborg SPD 3267 D in Verbindung mit Dr. Karl-Heinz Hornhues CDU/CSU . . 3269 B Zusatztagesordnungspunkt 1: Hans Koschnick SPD 3270 D Beratung des Antrags der Fraktion der Tagesordnungspunkt 4: SPD: Verträge zwischen der Bundesre- publik Deutschland und der Republik Erste Beratung des von den Fraktionen Polen über die Bestätigung der zwischen der CDU/CSU und FDP eingebrachten ihnen bestehenden Grenze sowie über Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung gute Nachbarschaft und freundschaft- des Außenwirtschaftsgesetzes und der liche Zusammenarbeit (Drucksache 12/ Strafprozeßordnung und anderer Ge- 1105) setze (Drucksache 12/899) in Verbindung mit in Verbindung mit II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991

Zusatztagesordnungspunkt 3: Tagesordnungspunkt 6: Erste Beratung des von der Fraktion der Erste Beratung des von der Bundesregie- SPD eingebrachten Entwurfs eines Ge- rung eingebrachten Entwurfs eines Ge- setzes zur Änderung des Außenwirt- setzes zur Beschleunigung der Planun- schaftsgesetzes, des Strafgesetzbuches gen für Verkehrswege in den neuen Län- und anderer Gesetze (Drucksache 12/ dern sowie im Land Berlin (Verkehrs- 765) wegeplanungsbeschleunigungsgesetz) (Drucksache 12/1092) Peter Kittelmann CDU/CSU 3271 D Hermann Bachmaier SPD 3273 B in Verbindung mit Dr. Heinrich L. Kolb FDP . . . . 3275A, 3279 D Johannes Singer SPD 3275 D Zusatztagesordnungspunkt 4: Andrea Lederer PDS/Linke Liste 3276 B Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Klaus-Dieter Feige und der Gruppe CDU/CSU 3277 A BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Verbesse- Hermann Bachmaier SPD . . . 3277 C, 3281 D rung der Verkehrsinfrastruktur in den Dr. Hans de With SPD 3278 A neuen Bundesländern (Drucksache 12/ 1118) Vera Wollenberger Bündnis 90/GRÜNE 3278 C Ernst Schwanhold SPD 3280 A Dr. Günther Krause, Bundesminister BMV 3287 C Peter Kittelmann CDU/CSU 3280 B Harald B. Schäfer (Offenburg) SPD . . . 3287 D Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär Dr. SPD 3289 A BMWi 3281 B Helmut Rode (Wietzen) CDU/CSU . . 3291A Tagesordnungspunkt 5: Ekkehard G ries FDP 3292 A Erste Beratung des von der Abgeordne- ten , weiterer Abgeordneter PDS/Linke Liste 3293 D und der Fraktion der CDU/CSU sowie Horst Gibtner CDU/CSU 3294 C der Abgeordneten Dr. Margret Funke- Schmitt-Rink, weiterer Abgeordneter Dr. Klaus-Dieter Feige Bündnis 90/GRÜNE 3295 D und der Fraktion der FDP eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zur Dirk Fischer () CDU/CSU . . . 3296 D Änderung adoptionsrechtlicher Fristen (AdoptFristG) (Drucksache 12/1106) Nächste Sitzung 3297 D Dr. Michael Luther CDU/CSU 3283 A Margot von Renesse SPD 3283 D Anlage 1 Sabine Leutheusser-Schnarrenberger FDP 3284 B Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 3299* A Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste . . . . 3284 D Hannelore Rönsch (Wiesbaden) CDU/CSU 3285 C Anlage 2 Konrad Weiß (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE 3285 D Dr. , Bundesminister BMJ . . 3286 B Amtliche Mitteilungen 3299* D Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991 3243

39. Sitzung

Bonn, den 6. September 1991

Beginn: 9.00 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Meine Damen und Deutschland und der Republik Polen über die Herren, die Sitzung ist eröffnet. Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenzen Interfraktionell wurde vereinbart, die heutige Ta- gesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ih- — Drucksache 12/1104 — nen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt: Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß (federführend) 1. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Verträge zwi- Innenausschuß schen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehen- ZP1 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD den Grenze sowie über gute Nachbarschaft und freund- Verträge zwischen der Bundesrepublik schaftliche Zusammenarbeit — Drucksache 12/1105 — Deutschland und der Republik Polen über die 2. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden FDP: Verträge zwischen der Bundesrepublik Deutschland Grenze sowie über gute Nachbarschaft und und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze sowie über gute Nachbarschaft freundschaftliche Zusammenarbeit und freundschaftliche Zusammenarbeit — Drucksache — Drucksache 12/1105 — 12/1107 — Überweisungsvorschlag: 3. Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Auswärtiger Ausschuß (federführend) Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Außenwirt- Innenausschuß schaftsgesetzes, des Strafgesetzbuches und anderer Ge- setze — Drucksache 12/765 — ZP2 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und FDP 4. Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Klaus-Dieter Feige und der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN: Verbes- Verträge zwischen der Bundesrepublik serung der Verkehrsinfrastruktur in den neuen Bundeslän- Deutschland und der Republik Polen über die dern — Drucksache 12/1118 — Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Sind Sie damit einverstanden? — Das ist der Fall; kein Grenze sowie über gute Nachbarschaft und Widerspruch. - freundschaftliche Zusammenarbeit — Drucksache 12/1107 — Ich rufe Punkt 3 der Tagesordnung und die Zusatz- punkte 1 und 2 auf: Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß (federführend) 3. a) Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung Innenausschuß zu den deutsch-polnischen Verträgen Zur Regierungserklärung liegt ein Entschließungs- antrag der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN vor. b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs ei- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für nes Gesetzes zu dem Vertrag vom 17. Juni die gemeinsame Aussprache nach der Regierungser- 1991 zwischen der Bundesrepublik Deutsch- klärung zwei Stunden vorgesehen. — Auch dazu sehe land und der Republik Polen über gute Nach- ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. barschaft und freundschaftliche Zusammen- Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung arbeit hat der Herr Bundeskanzler. — Drucksache 12/1103 —

Überweisungsvorschlag: Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler: Frau Präsidentin! Auswärtiger Ausschuß (federführend) Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir stehen Innenausschuß am Anfang der parlamentarischen Beratung über den c) Erste Beratung des von den Fraktionen der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs ei- und der Republik Polen über die Bestätigung der zwi nes Gesetzes zu dem Vertrag vom 14. Novem- schen ihnen bestehenden Grenze und über den Ver ber 1990 zwischen der Bundesrepublik trag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und 3244 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl der Republik Polen über gute Nachbarschaft und Freiheit und Selbständigkeit und Deutschland in wie- freundschaftliche Zusammenarbeit. dergewonnener Einheit und Freiheit die Hand zum Beide Verträge bilden ein einheitliches Ganzes. Frieden und zu guter Nachbarschaft reichen. Dies wird bei uns und zeitgleich auch im polnischen Wer bedenkt, meine Damen und Herren, wie we- Sejm durch die gemeinsame parlamentarische Bera- nige Jahre ihrer langen Geschichte Deutsche und Po- tung unterstrichen. Beide Verträge werden gemein- len gemeinsam und gleichzeitig unter freiheitlich-de- sam ratifiziert und damit auch gleichzeitig internatio- mokratischen Verfassungen zusammengelebt haben, nal in Kraft gesetzt. kann den Rang des uns heute vorliegenden Vertrags- werks ermessen. Mit diesen Verträgen liegt uns ein deutsch-polni- sches Vertragswerk vor, das Marksteine in der Ge- Dieses Vertragswerk krönt eine intensive Phase schichte unserer beiden Länder und Völker setzt und deutsch-polnischer Beziehungen, die 1989, im Jahre das damit einen notwendigen Beitrag zu einer neuen der großen europäischen Freiheitsrevolutionen, einen Ordnung des Friedens, der Stabilität und der Zusam- ersten Höhepunkt erlebte. menarbeit in Europa leistet. Ich bitte Sie namens der Polens erneuter Kampf um Freiheit und Selbstän- Bundesregierung, diesem Vertragswerk Ihre Zustim- digkeit hatte bereits 1980 auf der Danziger Leninwerft mung zu geben. begonnen. 1989 geschah der Durchbruch. Er wurde Ich glaube, wir erfüllen damit auch einen Teil des von den Parteien und den gesellschaftlichen Gruppen politischen Vermächtnisses von Konrad Adenauer. am Runden Tisch vorbereitet. Nach den Juni-Wahlen Am Beginn des Bestehens der Bundesrepublik wurde Tadeusz Mazowiecki erster nichtkommunisti- Deutschland wies er in der ersten Regierungserklä- scher Ministerpräsident. Er wies Polen den Weg zur rung auf die politische Aufgabe und die moralische Demokratie, zum Pluralismus und zur Marktwirt- Verpflichtung hin, die Aussöhnung mit den ehemali- schaft. Wir, die Bundesrepublik Deutschland, haben gen Kriegsgegnern, namentlich, wie er sagte, mit ihn dabei von Anfang an nachhaltig unterstützt; denn Frankreich und Polen, zu suchen und die Verständi- wir waren der gemeinsamen Überzeugung, daß der gung mit dem Staat Israel und die Aussöhnung mit Weg der Freiheit, der Weg der politischen, wirtschaft- den Juden in aller Welt zu erstreben. lichen und sozialen Reformen in anderen Teilen Euro- Mit dem deutsch-polnischen Vertragswerk wollen pas nur dann eine Chance haben würde, wenn er in Polen gelänge. wir nach leidvollen Kapiteln in der langen Geschichte unserer Länder und Völker nunmehr an die guten Der polnische wie auch der ungarische Weg zu Frei- Traditionen des friedlichen Zusammenlebens, des heit und Selbständigkeit wurde 1989 zum Hoffnungs- fruchtbaren kulturellen und wirtschaftlichen Aus- zeichen auch für die Menschen in der früheren DDR. tauschs und der Begegnung der Menschen anknüp- Am Abend des 9. November 1989, des Tages, an dem fen. die Mauer fiel, sprach ich bei meinem offiziellen Be- such in Polen mit dem heutigen Staatspräsidenten Meine Damen und Herren, weder Kriege noch Völ- Lech Walesa. Ich werde dieses Gespräch nie verges- kermord, weder Verfolgung noch Vertreibung, weder sen; denn wir waren uns vor allem auch einig, daß die rassische Überheblichkeit noch ideologische Verblen- deutsche Einheit jetzt sehr rasch kommen werde. Er dung haben diese Tradition auslöschen können; denn hat mir damals zugesagt, den Weg der Deutschen zur hinter dieser Tradition stand die verbindende Idee der Einheit in freier Selbstbestimmung nachhaltig zu un- gemeinsamen Freiheit. terstützen. Vor 200 Jahren gab sich Polen die erste geschrie- Ich erinnere in dieser Stunde daran, daß Polen zu bene freiheitliche Verfassung Europas. Sie wurde den den ersten Ländern gehörte, die entschieden für die mächtigen Nachbarn Polens zum Vorwand für die zweite polnische Teilung. Aber sie entfachte bei den Mitgliedschaft des vereinten Deutschland im Nord- atlantischen Bündnis eingetreten sind. Dies lag im Völkern Europas, die nach Freiheit und verfassungs- Interesse der deutschen, der polnischen und der mäßigen Ordnungen drängten, ein Fanal. Dies galt gesamteuropäischen Sicherheit. vor allem in den Staaten des zersplitterten Deutsch- land, in denen die Ideen von Freiheit und nationaler (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Einheit im Bewußtsein der Bürger immer stärker wur- bei Abgeordneten der SPD) den. Meine Damen und Herren, untrennbar mit unserem Damals wurde — wir sollten dies nie vergessen — Weg zur Einheit verbunden war auch die Bestätigung der Grundstock der Freundschaft zwischen Polen und der Grenzen des vereinten Deutschland. Der Deut- Deutschen aus dem Geist gemeinsamer Freiheit ge- sche Bundestag und die damals schon frei gewählte legt. In dieser Tradition stand das Hambacher Fest Volkskammer der DDR haben in ihren Entschließun- 1832. In einer besonders schweren Stunde der polni- gen vom 21. und 22. Juni 1990 ihrem Willen Ausdruck schen Geschichte fanden sich deutsche, polnische gegeben, daß der Verlauf der Grenze zwischen dem und französische Patrioten unter dem Wort zusam- vereinten Deutschland und der Republik Polen durch men: einen völkerrechtlichen Vertrag endgültig bekräftigt werden sollte. Dieses Votum entsprach dem Willen Ohne Polens Freiheit keine deutsche Freiheit, der großen Mehrheit unseres Volkes, ausgedrückt ohne Polens Freiheit kein dauerhafter Friede, durch seine frei gewählten Parlamente. Es fand in kein Heil für die europäischen Völker. zwei völkerrechtlichen Verträgen seinen Ausdruck: Es ist eine bewegende Erfüllung dieser Worte von im ersten Artikel des Vertrages über die abschlie- Hambach, daß sich heute Polen in wiedererrungener ßende Regelung in bezug auf Deutschland, des soge- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991 3245

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl nannten Zwei-plus-Vier-Vertrages vom 14. Septem- diesem Weg möglichst rasch zu vergleichbaren Ver- ber 1990, und in dem nach Vollzug der deutschen Ein- hältnissen an Oder und Neiße zu kommen. Wir haben heit mit der polnischen Regierung ausgehandelten deshalb vorgeschlagen, in einer deutsch-polnischen und am 14. November 1990 in Warschau unterzeich- Kommission für regionale und grenznahe Zusam- neten Vertrag über die Bestätigung der zwischen ih- menarbeit vieles von dem, was wir uns in diesem nen bestehenden Grenze. Zusammenhang wünschen, endlich zu realisieren. Diese Verträge waren unabdingbare Voraussetzun- Eine entsprechende Vereinbarung wurde im Juni die- gen dafür, daß wir Deutsche unseren Weg zur Einheit ses Jahres unterzeichnet. in Frieden und Freiheit im Einvernehmen mit allen Aufgabe der Kommission, die ihre Arbeit bereits Partnern, insbesondere mit allen Nachbarn, vollenden aufgenommen hat, muß es sein, die grenzüberschrei- konnten. Aber nicht nur dies: Beide Vertragspartner tende Zusammenarbeit der Regionen, der Städte und im Gesamtvertrag waren entschlossen, zugleich ihrer Gemeinden und der Bürger — kurzum: die grenz- europäischen Friedensverantwortung im Geist des überwindende Initiative „von unten" — zur selbstver- eben erwähnten Hambacher Festes von 1832 gerecht ständlichen Normalität zu machen. zu werden. Meine Damen und Herren, es ist für die Geschicke Ich begrüße in diesem Zusammenhang das ganz besondere Engagement unserer neuen grenznahen und die friedliche Entwicklung unseres Kontinents von entscheidender Bedeutung, daß Deutsche und Bundesländer für diese Zusammenarbeit. Ich würdige Polen in der Mitte Europas die bestehenden Grenzen an dieser Stelle insbesondere den großen persönli- achten, Brücken der Begegnung bauen und den f ried- chen Einsatz von Ministerpräsident Gomolka als Po- lichen Austausch verstärken. lenbeauftragter der Bundesländer sowie der Minister- präsidenten Stolpe und Biedenkopf. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem Bündnis 90/GRÜNE — Zustimmung des Dies ist zugleich eine Botschaft an andere Völker Abg. Markus Meckel [SPD]) unseres Kontinents, die aufgerufen sind, eine leidvolle Vergangenheit durch friedlichen Ausgleich zu über- Meine Damen und Herren, in diesem Zusammen- winden und gemeinsam eine Zukunft, gegründet auf hang will ich auf eine besonders dringende Aufgabe Vertrauen und gute Nachbarschaft, aufzubauen. hinweisen, nämlich auf das Thema grenzüberschrei- Als Teil unserer europäischen Friedensverantwor- tender Umweltschutz. Wer sich die extrem hohen Um- tung und damit auch als Teil unserer Botschaft an weltbelastungen im oberschlesischen Industriegebiet andere Völker unseres Kontinents bekennen wir uns oder in den Grenzgewässern vor Augen führt, kann auch dazu, daß Grenzen nicht nur trennen, sondern sich eine Vorstellung davon machen, wie groß diese endlich auch verbinden sollen. Wir wollen, daß die Aufgabe ist. Mit der Gründung eines Umweltrates mit Menschen dies auch praktisch erfahren. Wir wollen Polen, wie es ihn sonst nur mit unserem Nachbarn dies vor allem auch an jener Grenze, die Deutschland Frankreich gibt, haben wir ein Instrument geschaffen, und Polen trennt. um gemeinsam mit unseren polnischen Partnern diese Aufgabe zu lösen. (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Verbindet!) Ich bin deshalb mit Nachdruck dafür eingetreten, Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, am im deutsch-polnischen Reiseverkehr die Sichtver- 17. Juni dieses Jahres habe ich mit Ministerpräsident merkspflicht abzuschaffen. Wir haben nach schwieri- Bielecki den Vertrag über gute Nachbarschaft und gen Verhandlungen unsere Partner im sogenannten freundschaftliche Zusammenarbeit unterzeichnet. Er Schengener Abkommen für diese Politik gewonnen gründet auf der gemeinsamen Erklärung, die ich mit und konnten im April dieses Jahres den visumfreien Ministerpräsident Mazowiecki am 14. November 1989 Reiseverkehr verwirklichen. in Warschau unterzeichnet hatte. Bereits mit dieser alle Bereiche der Beziehungen umfassenden Erklä- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — rung wurde das deutsch-polnische Verhältnis auf eine Zustimmung des Abg. Markus Meckel neue Grundlage gestellt. Mit dem Vertrag, der Ihnen [SPD]) heute vorliegt, werden die politischen Willenserklä- Ich freue mich, daß trotz bedauerlicher Anfangs- rungen von 1989 in den Bereich vertraglicher Ver- schwierigkeiten — diese sind nicht zu leugnen — jetzt pflichtungen erhoben. Der Vertrag ist damit Grund- Deutsche und Polen diese neue Möglichkeit zum Aus- lage und Handlungsrahmen für eine umfassende Zu- tausch und zur Begegnung umfassend nutzen. Der sammenarbeit und zukunftsgewandte Nachbarschaft Reiseverkehr zwischen unseren Ländern hat sich seit beider Länder und Völker in einem zusammenwach- Öffnung der Grenze vervielfacht. senden Europa. Mit diesem Vertrag setzen wir auf eine dynamische Vorwärtsbewegung zwischen unse- In europäischer Verantwortung setzen wir auch al- ren Völkern. Sie soll vor allem den Menschen in unse- les daran, zu verhindern, daß die politisch überwun- ren Ländern zugute kommen. dene Grenze sich nunmehr als eine Art Wohlstands- grenze verfestigt. Aufblühende Grenzregionen und Wir werden und wollen verstärkt zusammenarbei- gutnachbarschaftliche Zusammenarbeit über die ten in der Politik einschließlich der Sicherheitspolitik, Grenze hinweg — dies ist unser Ziel. Nach dem Vor- in Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie, im kul- bild und nach den Erfahrungen, die wir in über turellen Austausch, im Bereich der humanitären Fra- 40 Jahren vor allem an der Westgrenze unseres Lan- gen und nicht zuletzt bei der Begegnung der Men- des gewonnen haben, sollten wir alles tun, um auf schen, vor allem der jungen Generation. 3246 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl Wir knüpfen für die Zukunft ein dichtes Netz der aussetzungen gegeben sind, der Europäischen Ge- politischen Konsultationen. Dazu gehört, daß sich die meinschaft beizutreten. Auch mit diesen Ländern wol- Regierungschefs jährlich treffen und im übrigen in len wir dann in einer größeren Europäischen Union unmittelbarem persönlichen Kontakt stehen. Diese zusammenleben. Es muß Ziel vernünftiger deutscher Verabredung hat sich gerade angesichts der jüngsten Politik sein, daß die zukünftige wirtschaftliche und Ereignisse in der Sowjetunion in den letzten Wochen politische Union Europas nicht an den Ostgrenzen bereits sehr bewährt. Deutschlands endet, sondern daß wir darüber hinaus Mit dem deutsch-polnischen Nachbarschaftsver- unsere östlichen und südöstlichen Nachbarn einbe- ziehen. trag stellen wir unsere Beziehungen, die Beziehungen zwischen Deutschland und Polen, bewußt in den grö- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ßeren europäischen Rahmen, der durch die Charta Auch auf dem Gebiet der will von Paris für ein neues Europa gestaltet wird. Polen Sicherheitspolitik Polen Teil des neuen, ungeteilten Europas sein. Wir hat die „Rückkehr nach Europa" in enger Partner- schaft mit Deutschland zum Kernanliegen seiner Re- wollen dieses Bestreben unterstützen. Polen sieht, wie formpolitik gemacht. Ziel ist insbesondere die rasche auch andere Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas, im Nordatlantischen Bündnis einen unverzichtbaren Annäherung Polens an die Europäische Gemein- Stützpfeiler der europäischen Sicherheitsarchitektur. schaft. Diese mutige Reformpolitik Polens erfordert die Öffnung zur Gemeinschaft hin, erfordert aber Präsident Walesa hat dies vor kurzem bei seinem Be- such bei der auch die Abstützung durch die Gemeinschaft. NATO sehr deutlich gemacht. Er hat sich zur Wertegemeinschaft der Demokratien bekannt. Die Bundesrepublik Deutschland hat die polnische Er hat den Sicherheitsverbund zwischen Europa und Wirtschaftsreform von Anfang an mit bedeutenden Nordamerika als unerläßlich bezeichnet, um auch finanziellen Leistungen unterstützt. Insbesondere lei- Polens Sicherheit zu gewährleisten. sten wir den größten Beitrag zur Lösung des Problems der polnischen Auslandsverschuldung. Natürlich Ich begrüße diese Aussage. Wir wollen Polen wie können wir Deutsche — zusätzlich zu den Aufgaben, auch die anderen mittel-, ost- und südosteuropäischen die sich uns durch die deutsche Einheit stellen — Staaten dabei unterstützen, enge und vertrauensvolle Polen nicht allein helfen, die Folgen von über 40 Jah- Beziehungen zu unserem Bündnis zu entwickeln. ren kommunistischer Mißwirtschaft zu überwinden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Ich sage auch an dieser Stelle: Gefordert sind die Hilfe vereinzelt bei der SPD) und die Unterstützung seitens aller westlichen Indu- strieländer, vor allem auch der Europäischen Gemein- Einen weiteren Meilenstein auf dem Weg nach Eu- schaft. ropa wird Polen zurückgelegt haben, wenn es nach den ersten vollständig demokratischen Sejm-Wahlen (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der im Herbst dem Europarat beitritt. Diese erste freiheit- SPD) liche europäische Organisation verkörpert in beson- Aber wir Deutschen stehen als größter Handels- und derem Maße das kulturelle und rechtsstaatliche Erbe Wirtschaftspartner in einer besonderen Verantwor- unseres Kontinents. Mit der Ratifikation der Europäi- tung, Polen den Weg zur Europäischen Gemeinschaft schen Menschenrechtskonvention wird Polen sich zu zu erleichtern; genau dies sagen wir auch im Nach- dieser Tradition bekennen. barschaftsvertrag zu. Im Geiste des neuen Europas regelt der Nachbar- Ich freue mich, feststellen zu können, daß wir dabei schaftsvertrag auch eine Frage, die die deutsch-polni- mit unseren Partnern in der Europäischen Gemein- schen Beziehungen lange Zeit belastet hat: die Frage schaft übereinstimmen. Der Europäische Rat in Lu- der Minderheiten. Dieses für uns, die Bundesregie- xemburg und die kürzlich gefaßten Beschlüsse beim rung, bei den Verhandlungen zentrale Anliegen ist im EG-Außenministertreffen haben dieses Ziel noch ein- Nachbarschaftsvertrag zukunftsweisend und, wie ich mal unterstrichen. Dabei wurde einmütig gefordert, denke, vorbildlich geregelt. die Assoziierungsverträge mit Polen wie auch mit Wer sich an die Zwischenkriegszeit oder aber an die Ungarn und der CSFR bald, d. h. in den nächsten Zeit seit 1945 erinnert, kann ermessen, was es bedeu- Monaten, fertig zu verhandeln. Diese Reformstaaten tet, daß die deutsche Minderheit in Polen jetzt förm- erwarten zu Recht, daß die Staaten der Gemeinschaft lich anerkannt und daß ihre Entfaltung in der ange- ihnen rasch und wirksam entgegenkommen. Ange- stammten Heimat nach europäischem und internatio- sichts mancher banger Erwartungen für die nächsten nalem Rechtsstandard gewährleistet und gefördert Monate, insbesondere für den kommenden Winter, wird. Gleiche Rechte gelten selbstverständlich für die kann ich nur unterstreichen: Wer jetzt schnell hilft, bei uns wohnenden polnischen Bürger. hilft in der Tat nicht nur schnell, sondern auch dop- Zukunftsweisende Regelung nach europäischen pelt. Standard bedeutet: Erstens. Wichtige KSZE-Doku- (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der mente, vor allem das Abschlußdokument der Kopen- SPD) hagener Menschenrechtskonferenz, die ihrer Natur Meine Damen und Herren, ich begrüße ganz beson- nach politisch verbindliche Erklärungen sind, werden ders, daß die geplanten Assoziierungsabkommen im deutsch-polnischen Verhältnis in den Rang völker- rechtlicher Verpflichtungen erhoben. auch den politischen Dialog der Europäischen Ge- meinschaft mit den Reformstaaten verankern. Mit Zweitens. Die Standards aller wichtigen internatio- den Assoziierungsverträgen wollen wir ihnen zu- nalen und europäischen Menschenrechtskonventio- gleich die Perspektive eröffnen, dann, wenn die Vor- nen sind vom Vertrag mitumfaßt. Und der Vertrag Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991 3247

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl berücksichtigt auch schon weitere europäische Ent- auch für Polen allgemein — werden sehr viel mehr wicklungen, die zu erwarten sind. Ich denke an die Deutschlehrer benötigt, als wir zur Verfügung stellen künftigen KSZE-Dokumente, die dabei von großer können. Bedeutung sein werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Drittens. Deutsche und Polen entwickeln mit ihrem des Abg. Markus Meckel [SPD]) Nachbarschaftsvertrag den europäischen Standard weiter, etwa mit dem Recht der Minderheit auf gleich- Ich glaube — wenn ich das bei dieser Gelegenheit berechtigten Zugang zu den Medien ihrer Region und hinzufügen darf — , daß wir uns sehr bald einmal auch mit der Verpflichtung der Staaten, Fördermaßnahmen im zuständigen Ausschuß des Parlaments darüber un- der jeweils anderen Seite zu ermöglichen und zu er- terhalten sollten, was wir angesichts der dramatischen leichtern. Veränderungen in Mittel-, Ost- und Südeuropa mehr für unsere Muttersprache tun können und tun wol- Viertens. Mit dem Nachbarschaftsvertrag geben wir len. der gesamteuropäischen Entwicklung der Menschen- und Minderheitenrechte einen deutlichen Impuls. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Markus Meckel [SPD]) Wir wissen uns mit alledem im Einklang mit dem besonderen Anliegen, das Papst Johannes Paul II. in Ich will jedenfalls sagen, daß ich dem gegebenen Ver- diesen Tagen in Mariapocz in Ungarn ausgesprochen sprechen bald nachkommen möchte, im Ausschuß hat. darüber mit den Kolleginnen und Kollegen zu disku- Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch tieren und zu Beschlüssen zu kommen, wenn auch Sie feststellen, meine Damen und Herren, daß der Nach- dies wünschen; ich wünsche es jedenfalls. barschaftsvertrag auf polnischer Seite wie bei uns un- (Beifall bei der CDU/CSU) mittelbar — ich unterstreiche dies: unmittelbar — in innerstaatliches Recht umgewandelt wird. Jedermann Nicht zuletzt ist in dieser Aufzählung positiver Ent- kann sich wirksamer Rechtsmittel zur Durchsetzung wicklungen zu nennen: Die deutsche Minderheit wird seiner Rechte bedienen. bei den ersten vollständig demokratischen Sejm- Wahlen im Oktober mit eigenen Kandidaten antreten Nicht zuletzt ist die Minderheitenfrage Gegenstand können und auch antreten. der vereinbarten politischen und diplomatischen Kon- sultationen. Sie steht damit — wann immer es notwen- Dies alles, meine Damen und Herren, fügt sich zu dig ist — auf der Tagesordnung der jährlichen Treffen einem Gesamtbild: Der Nachbarschaftsvertrag der Regierungschefs. schließt in der Frage der Minderheiten ein leidvolles Kapitel der Geschichte ab und spiegelt einen neuen Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, wei- Geist in den Beziehungen unserer Länder und Völker tere Verbesserungen des Status der Minderheiten wider. sind aus unserer Sicht wünschenswert. Einige werden sich im weiteren Fortgang des KSZE-Prozesses her- Meine Damen und Herren, in neuem Geiste haben ausbilden. Andere sind im Briefwechsel der Außenmi- wir auch die Türen für die Begegnung der Menschen, nister konkret angesprochen: offizielle topographi- insbesondere der jungen Generation, weit geöffnet. sche Bezeichnungen in deutscher Sprache, Mitwir- Zusammen mit dem Nachbarschaftsvertrag wurde das kung von Vertretern der Minderheiten an sie betref- Abkommen über die Errichtung des deutsch - polni- fenden Entscheidungen und Niederlassungsmöglich- schen Jugendwerkes unterzeichnet. Wir wollen damit keiten für Deutsche in Polen; hier werden sich im an die hervorragenden Erfahrungen mit dem deutsch- Zuge der Annäherung Polens an die Europäische Ge- französischen Jugendwerk anknüpfen. Wir wollen meinschaft Lösungen abzeichnen, die hilfreich sind durch vielfältige Begegnung und gemeinsame Erfah- für eine gute gemeinsame Zukunft. rungen der Jugend unserer Völker die deutsch-polni- sche Aussöhnung fest in der jungen Generation ver- Im Briefwechsel der Außenminister ist auch festge- ankern und damit — das ist entscheidend — unum- halten, daß sich der Vertrag nicht mit Fragen der kehrbar machen. Staatsangehörigkeit und nicht mit Vermögensfragen befaßt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Ich bin überzeugt, daß die in Polen lebenden Deut- bei Abgeordneten der SPD) schen — wie längst die bei uns lebenden Polen — Der Nachbarschaftsvertrag setzt im übrigen auf bereits auf der Grundlage des Vertrags umfassende breitgefächerten Austausch: in Kultur und Wissen- Möglichkeiten zur Wahrung ihrer Identität haben, schaft, in der Wirtschaft und auf dem Gebiet der beruf- Möglichkeiten, an die sie selbst noch vor kurzer Zeit lichen Aus- und Fortbildung und nicht zuletzt auch bei kaum glauben konnten. den Streitkräften. Wer hätte sich vor wenigen Jahren (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie vorstellen können, daß deutsche und polnische Solda- des Abg. Markus Meckel [SPD]) ten gemeinsam nach Lourdes pilgern und gemeinsam am Jugendtreffen in Tschenstochau teilnehmen? Jetzt gilt es, diese Chancen ganz konkret zu nutzen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Auch über diesen Vertrag hinaus beobachten wir positive Entwicklungen: So gibt es inzwischen in Po- Ich begrüße gerade auch in diesem Zusammenhang len deutschsprachige Radiosendungen, so ist die die enorme Zunahme der Städtepartnerschaften, ins- Nachfrage nach Deutschunterricht in Polen sprung- besondere in den neuen Bundesländern. Ich nenne als haft gestiegen. Für die deutsche Minderheit — wie als ein besonders gutes Beispiel den kürzlich unter- 3248 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl zeichneten Partnerschaftsvertrag der beiden Haupt- Jeder, der sich die jahrhundertelange Geschichte städte Berlin und Warschau. des deutschen Ostens vor Augen hält, weiß um die schmerzvollen Gefühle, die in der tiefen Verbunden- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie heit mit der alten Heimat — in Schlesien, in Ost- und bei Abgeordneten der SPD) Westpreußen, in Pommern und Danzig — wurzeln. Deutsche und Polen haben ihren unverwechselba- Gerade in dieser Stunde gilt diesen Mitbürgern un- ren Beitrag zum kulturellen Erbe Europas geleistet. sere besondere Achtung und herzliche Verbunden- Mit einem umfassenden Kulturaustausch ohne die heit. Fesseln des vergangenen Systems, mit der Eröffnung (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der von Kulturinstituten, der Verstärkung des Sprach- SPD) unterrichts und vielem anderen mehr öffnen wir die Auch in den Präambeln der beiden Verträge ist ihrer Tore für mehr Verständnis untereinander. im Geist der Versöhnung gedacht. Wir wissen, daß dies auch eine grundlegende poli- Ich nehme erneut die Gelegenheit wahr, in dieser tische Bedeutung hat, die wir gerade angesichts der Stunde die große moralische Kraft, mit der die Hei- leidvollen deutsch-polnischen Geschichte gar nicht matvertriebenen bereits 1950 in ihrer Charta von hoch genug einschätzen können. Wer die geistigen Stuttgart auf Rache und Vergeltung verzichtet haben, und kulturellen Leistungen anderer Völker, vor allem zu würdigen. Sie sind damit schon frühzeitig einen auch der Nachbarn, kennt und achtet, ist gegen Rück- ersten großen Schritt zur Versöhnung mit unseren öst- fälle in ideologische Verblendung und nationale lichen Nachbarn vorangegangen. Überheblichkeit gefeit. Sie haben sich in dieser Charta auch zur Einigung Der Nachbarschaftsvertrag regelt ein humanitäres Europas bekannt. Es ist heute für uns eine beglük- Anliegen, das uns viele Jahrzehnte schmerzhaft be- kende Erfahrung, daß sich gerade auf dem Weg bei- wußt gewesen ist, jetzt in einem versöhnenden Geist: der Völker zum vereinten Europa Lösungen abzeich- Er stellt die Gräber, insbesondere auch alle Opfer der nen, die ein wichtiges Anliegen dieser Mitbürger der Kriege und Gewaltherrschaft, unter den Schutz der Erfüllung näherbringt: beim Wiederaufbau ihrer alten Gesetze. Er ermöglicht, daß sie gepflegt und erhalten Heimat mitwirken zu können. werden können. Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß gerade dann, wenn sich Deutsche und Polen im Ge- Dank des Nachbarschaftsvertrages sind wir zudem denken an ihre Toten zusammenfinden, Versöhnung mehr als bisher in der Lage, uns für die dort verblie- gestiftet werden kann. benen Deutschen einzusetzen. Diese Menschen ha- ben in der Kriegs- und Nachkriegszeit großes Leid Der Bundesregierung ist bewußt, daß seit Jahren im erdulden müssen. Sie können zu Recht unsere Solida- Deutschen Bundestag und in der Öffentlichkeit beider rität erwarten. Länder über ein menschliches und moralisches Anlie- gen nachgedacht wird, das in der schrecklichen Die von mir geführte Bundesregierung ist deshalb Kriegszeit wurzelt. Es geht darum, polnischen Bür- entschlossen, alles in ihren Kräften Stehende zu tun, gern, die unter nationalsozialistischen Verfolgungs- daß diesen Menschen ihr Los erleichtert wird, damit maßnahmen besonders schlimm zu leiden hatten, we- sie für sich, für ihre Kinder, für ihre eigenen Familien nigstens eine gewisse materielle Entschädigung zu in der angestammten Heimat eine lohnende Zukunft bieten. So ist die Errichtung einer eigenen Stiftung sehen. vorgeschlagen. Meine Damen und Herren, der Nachbarschaftsver- Die Bundesregierung steht hierzu mit der polni- trag ermöglicht es auch, Orte und Kulturgüter in den schen Regierung in Verbindung und wird dem Deut- Heimatgebieten, die von deutschen geschichtlichen schen Bundestag sehr bald Lösungsmöglichkeiten Ereignissen, von kulturellen und wissenschaftlichen vorschlagen. Schon jetzt möchte ich aber betonen, daß Leistungen zeugen, zu erhalten. Ja, der Vertrag ruft es dabei nur um eine Entschädigung in ausgesproche- geradezu dazu auf, auf diesem Gebiet gemeinsame nen Härtefällen gehen kann. deutschpolnische Initiativen zu ergreifen. Wir sollten uns auch dieser Aufgabe in Solidarität Ferner verweise ich darauf, daß in den Gesamtzu- intensiv widmen. Insbesondere zähle ich dabei auf sammenhang des deutsch-polnischen Vertragswerks, das Engagement der Heimatvertriebenen, sowohl bei über das wir heute beraten, auch das Abkommen über der Pflege des gemeinsamen kulturellen Erbes als soziale Sicherheit gehört. Auch dieses Abkommen auch bei den vielfältigen Aufgaben auf humanitärem schlägt auf dem wichtigen Gebiet der Renten und son- und sozialem Gebiet. stigen Sozialversicherungsleistungen den in Europa üblichen Weg ein: Jeder erhält Rente von dort, wo er Meine Damen und Herren, lassen Sie mich auch in seine Rechte erworben hat. Das Abkommen wird noch dieser Stunde und an dieser Stelle den vielen Persön- in diesem Jahr in Kraft treten. lichkeiten, Gruppen und Organisationen danken, die sich in schwierigen Jahren angesichts zunächst un- Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die überwindlich scheinender politischer und psychologi- Bundesregierung ist sich bewußt, daß das deutsch- scher Barrieren dafür eingesetzt haben, den Teufels- polnische Vertragswerk, das wir heute beraten, von kreis von Unrecht, Rache und Gewalt zu durchbre- nicht wenigen unserer Landsleute nicht leichten Her- chen und die deutsch-polnische Verständigung und zens akzeptiert wird. Dies gilt insbesondere für dieje- Versöhnung auf einen guten Weg zu bringen. nigen, die durch Flucht und durch Vertreibung ihre Heimat jenseits von Oder und Neiße verloren ha- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie ben. bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991 3249

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl Ich stehe nicht an und möchte die Gelegenheit nut- einstimmige Votum, mit dem sich der deutsche Bun- zen, Ihnen, Herr Kollege Brandt, dabei meinen beson- destag am 16. November 1989 die deutsch-polnische deren Respekt zu bezeugen. Gemeinsame Erklärung zu eigen gemacht hat. (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, aus dem und dem Bündnis 90/GRÜNE) Geist dieser Gemeinsamkeit heraus zu einem mög- lichst einmütigen Votum über das vorliegende Ver- Unser besonderer Dank gehört auch dem Beitrag, tragswerk zu kommen. Eine solche Entscheidung den die beider Länder zur Versöhnung gelei- Kirchen würde weit über den Tag hinaus unseren parteiüber- stet haben. Unvergessen bleibt das bewegende greifenden Konsens in einer Grundsatzfrage bekun- Schreiben, das die katholischen Bischöfe Polens beim den, an der hierzulande und auch weltweit der politi- II. Vatikanischen Konzil 1965 an ihre deutschen Amts- sche Wille und die moralische Statur des vereinten brüder gerichtet haben — ich zitiere —: Deutschlands gemessen wird: an unserem Verhältnis Im allerchristlichsten und zugleich sehr mensch- zum Nachbarn Polen. lichen Geist strecken wir unsere Hände zu Ihnen (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD hin: Wir gewähren Vergebung und bitten um und dem Bündnis 90/GRÜNE) Vergebung. Und die deutschen Bischöfe antworteten: Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Jetzt hat der Abge- Eine Aufrechnung von Leid und Unrecht kann ordnete Hans Koschnick das Wort. uns freilich nicht weiterhelfen.... Wir bitten um Verzeihung. Hans Koschnick (SPD): Frau Präsidentin! Meine Im gleichen Jahr erleichterte die Evangelische Kir- sehr verehrten Damen und Herren! Die heute zur Be- che mit ihrer Denkschrift den Weg zur Versöhnung ratung anstehenden Verträge zwischen der Bundesre- der Menschen und zur politischen Verständigung der publik Deutschland und der Republik Polen über die Staaten. Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Gren- Unvergessen bleibt auch der Friedensgottesdienst zen sowie über gute Nachbarschaft und freundschaft- in Kreisau am 12. November 1989 und die ernste Mah- liche Zusammenarbeit geben mir die Möglichkeit, nung des Oppelner Bischofs Nossol zur wahren Ver- für die Fraktion der Sozialdemokratischen Partei im gebung, zum gegenseitigen Verzeihen, und zwar aus Deutschen Bundestag einige grundsätzliche Anmer- freier Entscheidung christlicher Nächstenliebe. kungen zu machen und Ihnen zugleich die Zustim- mung zu unserem eingebrachten Entschließungsan- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie trag zu empfehlen. bei Abgeordneten der SPD) Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, Ich danke auch den vielen Bürgern — — erinnern wir uns in dieser Stunde an die Ansätze einer (Horst Sielaff [SPD]: Sie dürfen dann auch neuen Politik gegenüber den im Warschauer Pakt die Kirchen nicht vergessen! — Zuruf von der vereinten Staaten Mittel-, Südost- und Osteuropas. Es SPD: Das hat er doch gesagt!) war der Außenminister in der großen Koalition, , der bereits damals im Einvernehmen mit dem — Entschuldigung, Herr Kollege, ich habe das doch gerade gesagt. Bundeskabinett die Kurskorrektur des westlichen Bündnisses auf der NATO-Tagung in Reykjavik an- (Zuruf von der CDU/CSU: Sie müssen auf regte, eine Kurskorrektur, die im Harmel-Bericht ihre passen!) strukturelle Begründung fand. — Das ist ein Teil unseres Problems im Haus.- Es war ein geradliniger Weg, der — wenngleich Ich danke auch den vielen Bürgern, die in den jetzt von der sozialliberalen Koalition vorangetrie- schwierigen Jahren des Kriegsrechts bis heute ganz ben — über die Verträge von Moskau und Warschau, praktisch tätige Nächstenliebe bewiesen haben. Budapest und Prag sowie über den nicht minder be- deutsamen Grundlagenvertrag mit der DDR zu einer Deutsch-polnische Versöhnung kann nicht durch Auflösung der Eiszeit zwischen Ost und West führte Regierungen verordnet oder durch Vertragspflichten (Beifall bei der SPD) begründet werden. Im Gegenteil, das Werk der Ver- söhnung kann nur gelingen, wenn unsere beiden Völ- und zukunftsgerecht auf der KSZE-Konferenz in Hel- ker sich dazu bekennen, wenn jeder Deutsche und sinki mit der Schlußakte vom 1. August 1975 zum jeder Pole es auch als seine persönliche Aufgabe an- Grundstein des nun allmählich folgenden Abbaus des nimmt. Mit dem Vertragswerk haben die Regierun- Kalten Krieges wurde. gen das Feld bereitet für gute Nachbarschaft, enge Diese Schlußakte, Politikverpflichtung nicht nur Partnerschaft, freundschaftliche Zusammenarbeit. für die in unterschiedlichen Bündnissen vereinten Meine Damen und Herren, selten zuvor hat eine Kontrahenten im Ost-West-Konflikt, sondern beson- Bundesregierung ein Vertragswerk ins parlamentari- ders bedeutungsvoll wegen der Einbeziehung der sche Verfahren eingebracht, zu dessen Inhalt sich der blockungebundenen Staaten Europas, eben diese Deutsche Bundestag bereits zuvor so umfassend und Schlußakte wurde die Basis für ein neues, wenn auch zustimmend geäußert hat: Ich erinnere an die über- nicht immer störungsfreies Miteinander in Europa. wältigende Mehrheit, mit der der Deutsche Bundes- Dieses Miteinander trug Früchte. Es war von glei- tag am 21. Juni 1990 seine Entschließungen über die cher Bedeutung wie die Einsicht über die unselige endgültige Bestätigung der deutsch-polnischen Ressourcenverschwendung als Folge des Wettrüstens. Grenze verabschiedet hat, und ich erinnere an das Die anwachsende Bereitschaft bei den militärischen 3250 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991

Hans Koschnick Supermächten USA und UdSSR, sich auch in Fragen könnte man dann aufzeigen, in welche zeitgeschicht- globaler Politik zu verständigen, nachdem Michail lichen Irrtümer sich andere verstrickt hatten. Gorbatschow den Kurswechsel in der sowjetischen AuBen- und Sicherheitspolitik eingeläutet hatte und (Beifall bei der SPD — Dr. Peter Struck [SPD]: durch konkretes Tun für dieses Vorhaben belegte, Das ist wahr!) schuf eine neue Atmosphäre des Vertrauens. Doch lassen es wir mit diesem Hinweis genug sein. Begleitet war dieser Prozeß, wie wir alle wissen, von Die breite Zustimmung zu den heute anstehenden einem Prozeß freiheitlicher Entwicklungen in den Verträgen ist mir wichtiger als ein zeitgeschichtliches Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes. Am sichtbar- Kolleg über Irrtümer in der Politik. sten — neben der intellektuell so beachtlichen Oppo- (Zuruf des Abg. Dr. Karl-Heinz Hornhues sition um die Charta 77 in der CSSR — stand für die- [CDU/CSU]) sen Aufbruch in eine neue freiheitliche Ara die polni- sche Volksbewegung Solidarnoś c. Trotz Diskriminie- Sodann gibt es einen weiteren Grund, lieber Kol- rung und staatlicher Unterdrückung, trotz Kriegsrecht lege Hornhues, für meine Enthaltung in bezug auf und anderer Maßnahmen polnischer Staatsmacht Aufrechnung. Hat doch der Herr Bundeskanzler den wurde sie das Symbol für die freiheitlichen Grundbe- zeitgeschichtlichen Fehler der CDU/CSU, namentlich dürfnisse einer civic society, die sich dann, von Polen auch der CDU/CSU-Ministerpräsidenten im Bundes- ausgehend, genau 200 Jahre nach der Großen Franzö- rat bei der Abstimmung 1972 zum Warschauer Ver- sischen Revolution in Mittel- und Südosteuropa Bahn trag, eingesehen, er, der damals vergessen hatte, auf brach. Hambach und andere hinzuweisen, und sich jetzt in seiner Regierungszeit bemüht, die sozialliberale Ver- Auch die Oppositionskräfte in der DDR hatten von ständigungspolitik gegenüber Polen fortzusetzen. Da- dieser Entwicklung profitiert, hatten Mut gewonnen, bei haben wir ja auch erleben dürfen, wieviel Wider- offen zum Kampf für eine demokratische Perspektive stand er im eigenen Lager zu überwinden hatte, und in Freiheit und sozialer Verantwortung anzutreten. zwar nicht nur von CSU-Kontrahenten. (Beifall bei der SPD) Ich verhehle deshalb nicht meinen Respekt, Herr Auch sie gewannen die Massen und schufen dadurch Bundeskanzler, vor dieser innenpolitischen Leistung, die Voraussetzung zum Zusammenbruch eines poli- denn ich weiß genau, wie häufig Nominationen, tisch perfiden und ökonomisch zerrütteten Systems. Wahltermine und ähnliches einer freien Willensent- Am Ende dieses Prozesses stand die Erlangung der scheidung entgegenstehen. Auch gebe ich dem CDU deutschen Einheit. Bundesvorsitzenden recht, wenn er sagt, daß auch Daß dies möglich wurde, verdanken wir in hohem außerhalb der parlamentarischen Gremien schwie- Grade dem freiheitlichen Behauptungswillen von So- rige Überzeugungsarbeit notwendig war, um am Ende zu einer solchen relativen Geschlossenheit bei lidarnoś c, der Bereitschaft von Michail Gorbatschow, nicht wie in den Jahren 1953, 1956 oder 1967 die mili- dem Grenzvertrag zu kommen, wie wir sie bei den tärischen Machtmittel des damals noch funktionieren- Entschließungen des Bundestages erleben konnten. den Sowjetimperiums einzusetzen, sondern den frei- (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: So sind wir, heitlich-demokratischen Kräften in den bis dahin Herr Bundeskanzler!) kommunistisch beherrschten Ländern Raum zu ge- ben. Auch ist es sicher richtig, daß beide Verträge mit einem besonderen Blick auf die Heimatvertriebenen Doch eines, meine Damen und Herren, darf dabei gesehen werden müssen, Menschen die neben mate- nicht übersehen werden: Es waren die Chancen des - riellen Verlusten, wie sie auch die Bombengeschädig- Korbes III der Schlußakte von Helsinki, die die Bür- ten in unseren Städten erlitten, zusätzlich mit dem gerrechtsbewegungen im östlichen Machtbereich er- Verlust angestammter Heimat fertig werden mußten. mutigten, den Freiheitskampf erneut aufzunehmen. Sie haben — und ich folge Ihnen hier, Herr Bundes- (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ kanzler — zu Recht auf dieses besondere und eben GRÜNE sowie des Abg. Ulrich Irmer [FDP]) nicht für alle unsere Bürger gleiche Schickal hinge- wiesen. Dies haben wir Sozialdemokraten immer ge- Und gegen eben diese Ergebnisse der Konferenz für sehen und gewürdigt. Doch daß — aus welchen Grün- Sicherheit und Zusammenarbeit, gegen die Betei- den auch immer — eben diesen sowieso schon schwer ligung der Bundesrepublik an der Konferenz in getroffenen Mitbürgern politisch nie zu realisierende Helsinki hatte die CDU/CSU in den 70er Jahren Hoffnungen auf eine Rückkehr in eine dann wieder gekämpft, polemisiert und die damalige SPD/FDP- deutsch gewordene Heimat gemacht wurden, ist eine Koalition mit dem Verdacht der Preisgabe heiligster Irreführung, deren Folgen wir noch heute in der Ver- Güter überzogen. bitterung mancher Heimatvertriebener spüren. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Ul ch ri Ich werfe das, meine Damen und Herren, ausdrück- Irmer [FDP] — Zuruf von der SPD: Leider! lich nicht nur der CDU/CSU-Fraktion oder der Partei Leider!) vor; alle demokratischen Kräfte haben in der Zeit des Es wäre ungemein reizvoll, hier noch einmal alles Kalten Krieges hier gesündigt. Nur einige haben frü- aufzuzeigen, was denn die CDU/CSU-Fraktion an her begriffen als andere, daß der Mut zur bitteren Vorbehalten, Bedenken und Ablehnungen damals Wahrheit heilsamer ist als die Kultivierung unerfüll- der Offenlichkeit präsentierte. Im Stile der Ausführun- barer Hoffnungen. Heimatverlust, Vertreibung, Um- gen des Kollegen Dr. Dregger zur Regierungserklä- und Aussiedlung hängen für uns unlösbar mit der Hit- rung des Bundeskanzlers am Mittwoch dieser Woche lerschen Gewaltpolitik zusammen. Er, sein System, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991 3251

Hans Koschnick hat das verspielt, für das jetzt eine endgültige Klärung der Republik Polen. Kolleginnen und Kollegen des gefunden wurde. Das ist eine schmerzliche Einsicht Sejm, des polnischen Parlaments, haben mir noch vor zudem, wenn man an die Menschen denkt, die im sechs Wochen zugesichert, sich darum zu bemühen, Sudetenland, an der Wolga oder in Siebenbürgen mit in die sich dem Ende zuneigende Verfassungsdiskus- Vertreibung oder Verelendung als von Hitler erzwun- sion noch die rechtliche innerstaatliche Bindung von gene Geiseln seiner menschenverachtenden Politik völkerrechtlichen Absprachen einzubringen, um auch bestraft wurden. dadurch unmittelbar einklagbare Rechte für Minder- heiten zu gewährleisten. Das ist im jetzigen Abschluß- (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Wohl entwurf vorgesehen. Im gleichen Sinne hatte sich wahr!) zwei Wochen früher Außenminister Professor Skubi- Deshalb haben wir auch verstanden, daß sich die szewski gegenüber einer kleinen Delegation unter Verbände und Landsmannschaften, organisierte Hei- der Leitung meines Kollegen Gansel geäußert. Ich bin matvertriebene also, mit besonderer Intensität bei der deshalb nicht skeptisch, daß die abgesprochene Min- Vertragsgestaltung einschalteten, daß sie Obhut derheitenregelung von Bestand sein wird. Schließlich rechte geltend machten und wegen der häufig fami- hat auch die Republik Polen ein Interesse daran, liären oder nachbarschaftlichen Bindungen die Min- durch sinnvolle, übertragbare Minderheitenregelung derheitenregelungen besonders kritisch beurteilen. nun ihrerseits einen gleichartigen Schutz ihrer Min- derheiten in Litauen, Weißrußland und in der Ukraine Doch die kritische Wegbegleitung ist das eine, neue einzufordern. unredliche Vorschläge mit erkennbarer Irreführungs- absicht sind das andere. Wer etwa den Oberschlesiern Übrigens können Ihnen, meine Damen und Herren, verbindlich erkärte, der Bundestag würde nie dem die Kollegen aus Ihren Reihen, die bei der kürzlich Grenzvertrag zustimmen, um ihnen dann später die beendeten Genfer Konferenz über Minderheiten da- unrealistische Perspektive der Bildung einer autono- bei waren, berichten, wie gerade die polnische Dele- men europäischen Region unter dem Schutze der EG gation um einen hohen europäischen Standard warb als reale Möglichkeit anzudienen, der zerstört not- und auf gemeinsame Verwirklichung drängte. Nichts wendiges Vertrauen, der mißbraucht Sorgen und Be- ist so gut, als daß es nicht besser gemacht werden fürchtungen von Menschen, könnte. Doch was hier die beiden Außenminister aus- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gehandelt haben, läßt sich sehen und zwingt keinen der FDP) Partner zum an sich Unmöglichen. die gerade durch die im Vertrag gefundene, den euro- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ päischen Standard auf der Basis der Kopenhagener CSU und der FDP) KSZE-Entschließung absichernde Minderheitenlö- Hohes Haus! Nach diesem Exkurs auf die Konse- sung zu einem Erkennen ihrer tatsächlichen staats- quenzen der Schlußakte von Helsinki und auf eine auf rechtlichen Situation, aber auch ihre konkreten An- europäische Absprachen und Standards basierende sprüche auf die Entwicklung ihrer kulturellen Identi- Minderheitenregelung wende ich mich noch einmal ef tät geführt werden sollten. Ein mir vorliegender B ri an die hoffentlich kleine Zahl von Gegnern dieser im Namen des Zentralrates der Deutschen Gesell- Vertragswerke und bitte sie, zu bedenken, daß diese schaft in der Republik Polen vom 15. Juni 1991 be- Verträge in einem ursächlichen Zusammenhang mit zeugt — jedenfalls für mich — , daß der Verfasser nur der deutschen Einigung stehen. auf Grund irrealer Informationen zu seinen Vorschlä- gen kommen konnte. Das ist alles in allem eine für die Nur durch die Absprachen bei den Zwei-plus-Vier- betroffenen Menschen wenig hilfreiche Handrei- Verhandlungen unter Einschluß der Pa riser Verhand- chung. - lungen der beiden deutschen Außenminister Gen- scher und Meckel mit ihren amerikanischen, engli- Meine sehr verehrten Damen, meine Herren, wir schen, französischen und sowjetischen Kollegen, zu Sozialdemokraten werden die Interessen der deut- denen der polnische Außenminister hinzugetreten schen Minderheit auch im Kontext zu europäischen war, konnte eine Lösung für die Menschenrechts- und Mitgestaltungs- sowie Mitver- Herstellung der deut- gefunden werden, die von allen euro- antwortungsvorstellungen vertreten, wo immer es ge- schen Einheit päischen Nachbarn auch für sie als tragfähig empfun- boten ist. Wir werden den einzelnen Gruppierungen den wurde. Wer keine Klarheit über Grenzanerken- mit Rat und Tat zur Seite stehen, soweit sie es wollen. nung, über friedliches und freundschaftliches Mitein- Wir werden auch hier den Dialog mit den Vertretern ander schaffen wollte, hätte nie die Zustimmung zur der Flüchtlings- und Vertriebenenorganisationen su- deutschen Einheit erlangt. chen, die mit uns auf ein europäisches Kooperations- modell hinarbeiten, um bei bewußter Staatsloyalität (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Richtig!) — das unterstreiche ich — das kulturelle Erbe weiter- hin zu pflegen und Brücken für eine überwölbende Auch die Zusagen von Michail Grobatschow gegen- europäische Rechtsordnung zu bauen, die Freiheit über Bundeskanzler Kohl über den Abzug der sowje- und Demokratie, verantwortliches Miteinander und tischen Truppen aus Ostdeutschland wie seine Zu- kulturelle Eigenentwicklung als gesichertes Ver- stimmung zum Verbleib des dann größeren Deutsch- ständnis gemeinsamer europäischer Wirklichkeit ge- lands in der NATO beruhen mit auf der gezeigten währleistet. Wir sind auf dem Weg. Bereitschaft einer breiten Mehrheit in der deutschen Politik zu einer Politik der unmißdeutigen Verständi- Die Minderheitenregelungen des Vertrages sind gung und Aussöhnung mit Polen. Meilensteine auf diesem Wege. Sie bedürfen aber der rechtlichen Absicherung im innerstaatlichen Bereich (Beifall bei der SPD) 3252 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991

Hans Koschnick Diese Aussöhnung, meine Damen und Herren, be- deutsch-polnischen Jugendwerkes — wie ich an- darf nach unserer Auffassung aber noch eines Aktes nehme, mit Sitz im Land Brandenburg — behandeln. besonderer Würdigung. Ich spreche hier von der von Ich will deshalb nur die Frage aufwerfen, wie ernst wir uns zu gewährenden Unterstützung für die Opfer Hit- es denn in der Bundesrepublik Deutschland und hier lerscher Gewaltherrschaft, die sich in deutschen im Deutschen Bundestag mit der Zusage der Unter- Häftlingslagern befanden und zu Zwangsarbeit ge- stützung Polens, Ungarns und der Č SFR bei ihren zwungen wurden. Bemühungen um Aufnahme in die EG nehmen. Uns geht es hier nicht um eine Diskussion darüber, Zu oft hörte ich bei verschiedensten Gelegenheiten warum die DDR nicht — wie wir gegenüber den Men- die Argumentation, zuerst müsse es zur Vertiefung schen aus den westlichen Nachbarstaaten oder Is- der Europäischen Gemeinschaft kommen, dann erst rael — ihren damaligen Partnern in der von der NS- könne man vielleicht über eine Verbreiterung nach- Barbarei so schrecklich getroffenen kommunistischen denken. Dies wird nicht nur von westlichen Regierun- Staatenwelt mit Wiedergutmachungsleistungen bei- gen so zu verstehen gegeben, sondern auch von Kol- stand. Die Nachkriegsabsprachen zwischen den Sie- leginnen und Kollegen aus diesem Hohen Haus. germächten hätten dem jedenfalls entsprochen. Uns geht es darum, nicht zu übersehen, daß in Polen viele Ich sage Ihnen, Herr Bundeskanzler, und Ihnen, Tausende von Menschen leben, die Schaden an Leib meine Damen und Herren aus den Fraktionsführun- und Leben durch deutsche Verfolgungsmaßnahmen gen: Wenn wir hier nicht sehr bald und sehr eindeutig genommen haben und die zumindest eine moralische erklären, daß diese Zusage der Bundesregierung Anerkennung ihrer Leiden erwarten. wirklich ernst gemeint ist und von uns unterstützt Wir wissen, daß sich der Bundeskanzler hier in Ver- wird, also kein Lippenbekenntnis ist, dann sehen wir handlungen mit der polnischen Regierung befindet alt aus in den Ländern, die auf ihre Weise einen Bei- und auch eine Lösung von staatlicher Seite einver- trag zur deutschen Einigung geleistet haben. nehmlich von beiden Seiten angestrebt wird. Auf die Dringlichkeit dieser Entscheidung habe ich Bundes- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Detlef kanzler Kohl vor geraumer Zeit aufmerksam gemacht, Kleinert [Hannover] [FDP]) nachdem ich erfahren hatte, wie sonst in der Auf wär- mung alter Ressentiments während der Ratifizie- Lassen Sie es nicht zu, daß hier das Mißtrauen wächst, rungsdebatte im Sejm, mehr aber noch im bevorste- man wolle die mitteleuropäischen Länder Polen, henden Wahlkampf in Polen die guten Ansätze einer Č SFR und Ungarn dauerhaft mit Assoziierungsab- bewußt deutsch-polnischen Zusammenarbeit zerre- kommen abspeisen. det werden und mit kontraproduktiver Wirkung auf uns zurückschlagen können. (Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Das will doch keiner!) Doch eines wollen wir mit unserem Entschließungs- antrag erreichen, auch wenn die Koalition ihn deshalb Wir wissen um die Dauer des Weges, aber wir wol- nicht für unterstützungswürdig hält: Wir wollen Teile len mit Polen und Tschechen, Slowaken und Ungarn der deutschen Wirtschaft zumindest moralisch in die in einer Europäischen Gemeinschaft vereint sein. Eine Pflicht zu Mitleistungen für den Entschädigungsfonds solche Gemeinschaft entspricht einem alten Anliegen nehmen, die Teile jedenfalls, die aus der Zwangsar- der Sozialdemokratie zur Schaffung der Vereinigten beit der polnischen Frauen und Männer ihren damals Staaten von Europa. Die Form zu diesem Europa muß nicht unerheblichen Profit gezogen haben. noch gefunden werden. Maast richt, Herr Bundes- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke kanzler, ist nicht mehr sehr weit entfernt. Die Regie- Liste) rungen der Mitgliedstaaten der EG müssen Ende des Jahres bekennen, wie sie es mit einem künftig ge- Gerade jüngste Meldungen über die Nichtbereit- schlossenen Europa halten. schaft zur materiellen Mitleistung für Vorteile aus Zwangsarbeit haben diesen Teil unseres Antrages Bleiben Sie, Herr Bundeskanzler, bei Ihrer Zusage dringlich gemacht. für Polen; Sie können sich auf die Zustimmung der Verehrte Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie es Gutwilligen verlassen. nicht zu, daß in Fragen von Moral und Gerechtigkeit nur Reuebekundungen und nicht Hilfsleistungen, um Meine Damen und Herren, damit habe ich zur Sa- nicht von Bußleistungen zu sprechen, geboten wer- che gesagt, was ich für notwendig halte. Ich muß aber den. noch etwas zum Verfahren sagen. Das gebe ich aus- drücklich zu Protokoll. Anders, als es der Herr Bun- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) deskanzler sagte, hat nicht die Bundesregierung das Treten Sie mit ein für eine Mitleistung dieser Fir- Verfahren hier eingeleitet, sondern es waren die bei- men! den Koalitionsfraktionen. Die SPD-Bundestagsfrak- tion beanstandet, daß die hier vorliegenden Gesetz- Meine sehr verehrten Damen, meine Herren, ich entwürfe zur Ratifizierung der Verträge nicht, wie komme zum Schluß. Über die von uns gesehene be- üblich und geboten, von der Bundesregierung in den sondere Bedeutung der grenznahen und regionalen Gesetzgebungsgang eingebracht wurden, sondern Zusammenarbeit sowie über die bilaterale Zusam- von den Koalitionsfraktionen. menarbeit auf dem Gebiete des Umweltschutzes wird mein Kollege Meckel sprechen. Frau Terborg wird mit (Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Aber Sie Schwerpunkt die von uns begrüßte Einrichtung eines kennen doch die Gründe!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991 3253

Hans Koschnick Unsere Forderung ist: Kommen Sie zurück zum übli- Koschnick — das hat man eben wieder gemerkt; oh- chen parlamentarischen Verfahren. nehin ist das Leben für die Opposition kein Zucker- (Beifall bei der SPD, dem Bündnis 90/ schlecken — , ein schweres Los, war es doch gerade GRÜNE und der PDS/Linke Liste) dieser Politikbereich, Herr Kollege Vogel, war es doch gerade die Ostpolitik, wo die Opposition nicht müde wurde, in den schwärzesten Farben zu malen, Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Karl Lamers. (Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Weil Sie lange zu lernen hatten, bis Sie zu uns ka- men!) Karl Lamers (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Ver- ehrte Kolleginnen und Kollegen! Die uns heute zur war es doch gerade die deutsche Polenpolitik, die sie Beratung vorliegenden Verträge mit Polen bilden in den Fängen unbelehrbarer Vertriebenenfunktio- eine komplementäre Einheit: Der eine, welcher die näre wähnte. Grenze zwischen Deutschland und Polen feststellt, (Beifall bei der CDU/CSU) zieht einen Schlußstrich unter den Streit der Vergan- genheit, nicht unter die Vergangenheit als solche; der Bei einer solchen wirklich nicht beneidenswerten andere über gute Nachbarschaft und freundschaft- Lage, wo sich Kassandra als Jahrmarktsprophetin er- liche Zusammenarbeit weist in die Zukunft. Er wäre weist, ist es in der Tat nicht nur im Interesse der Sache, ohne den ersteren nicht möglich. Beide Verträge sind sondern auch im Interesse des eigenen Ansehens am Grundlage für die Verwirklichung einer Vision: Frie- besten, anzuerkennen, was anerkennenswert ist, wie den in vollem Sinne des Wortes zwischen Deutschen es Willy Brandt und auch Hans Koschnick nach eini- und Polen und eine gemeinsame Zukunft Deutsch- gen notwendigen Pflichtübungen getan haben. lands und Polens in Europa. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — Meine Fraktion dankt allen, die diesem Vertrag Freimut Duve [SPD]: Was heißt hier „Pflicht- durch ihre mühselige, ja oft quälende Arbeit zum Teil übung"? Courtoisie!) seit Jahrzehnten den Weg bereitet haben, vorab — der Bundeskanzler hat es auch getan — den beiden gro- Jedermann, meine Kolleginnen und Kollegen, wird ßen Kirchen, die die ersten Breschen in die Mauer des verstehen, ja es als zwingend erwarten, wenn ich ein Schweigens, des Mißtrauens, ja zum Teil des Hasses besonderes Wort des Dankes an den Bundeskanzler geschlagen haben. Danken möchten wir aber auch richte. Der Bundeskanzler hat gewissermaßen die den ungezählten kleinen Gruppen und Millionen dicken Brocken aus dem Weg geräumt. Er hat immer deutscher Bürger, die — wie etwa bei der großen Pa- wieder im richtigen Augenblick die entscheidenden ketaktion und durch vieles kleine unbekannte Tun — Hindernisse, vor allem durch seine Begegnungen mit das Bild der Deutschen bei den Polen freundlicher, Premier Mazowiecki und Premier Bielecki, überwun- d. h. menschlich gestaltet haben. Auch ohne diese den. Er hat das deutsch-polnische Verhältnis nicht Kärrnerarbeit wären diese Vertragstexte nicht mög- nur, wie man so sagt, zur Chefsache, sondern er hat lich geworden. die Aussöhnung und, darauf fußend, die Freundschaft zwischen Polen und Deutschland zu seiner Herzens- Für die Mühe und die Klugheit, die erst den Erfolg sache gemacht. dieser großen Arbeit ermöglicht haben, dankt meine Fraktion der Bundesregierung. Sie dankt allen unge- (Beifall bei der CDU/CSU) zählten Beamten aus dem auswärtigen Amt, dem Bun- Er hat gesehen, Sie haben gesehen, Herr Bundes- deskanzleramt, die daran mitgewirkt haben, und sie kanzler, daß dies nur gelingen kann, wenn dabei auch dankt Ihnen, Herr Außenminister, für Ihren unermüd- die deutschen Sicherheitsinteressen, die deutschen lichen Einsatz, der weit über den Beginn der Arbeit an Anliegen, unter ihnen nicht zuletzt die Anliegen der diesen Verträgen in eine Zeit hinausreicht, als der Vertriebenen, Berücksichtigung finden. Ihre Aus- Weg zur deutsch-polnischen Versöhnung noch sehr dauer, die Sie wie oft in vergleichbaren Situationen viel steiniger und das Ziel noch keineswegs in Sicht mit unverständiger und manchmal auch unduldsamer war. Kritik bezahlen mußten, hat sich wieder einmal ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lohnt. Ein Wort des Dankes möchte ich auch an diejenigen (Beifall bei der CDU/CSU) Kollegen von der SPD richten, die sich in der Vergan- genheit mit ganzem Herzen für die Verständigung Denn in der Tat, wer hätte es noch bis vor kurzem für und Aussöhnung zwischen Polen und Deutschen ein- möglich gehalten, was dieser Vertrag an Entfaltungs- gesetzt haben. Das gilt beispielsweise und nicht zu- möglichkeiten für die Deutschen in Polen, vor allem in letzt für den Kollegen Koschnick, der hier gesprochen Oberschlesien, enthält. Dazu wird der Kollege hat, und das gilt natürlich vorab für den Kollegen Koschyk sicher gleich mehr sagen. Willy Brandt. Diesen Dank hier auszusprechen fällt Auch ich möchte an dieser Stelle ein Wort an die um so leichter, als ja gerade auch der Kollege Vertriebenen richten. Ich weiß, wie schmerzlich Ih- Koschnick und vorher der Kollege Brandt — etwa bei nen bewußt ist, daß der Freundschaftsvertrag erst seiner Rede aus Anlaß der gemeinsamen Erklärung durch die vorangegangene Feststellung der Grenze Kohl/Mazowiecki — ihre Anerkennnung hier nach- zwischen Deutschland und Polen möglich wurde und drücklich zum Ausdruck gebracht haben. damit untrennbar mit dem endgültigen Verlust Ihrer Angesichts dieser in der Tat ungewöhnlichen Er- Heimat verbunden ist. Auch für mich, der ich alle folge dieser Bundesregierung und vorab des Bundes- Wurzeln meiner Herkunft im westlichen Teil unseres kanzlers in der Ostpolitik tragen Sie, Herr Kollege Landes, im Rheinland, finde, ist dieser Verlust Ost- 3254 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991

Karl Lamers deutschlands ein tiefer Schmerz. Wieviel mehr ist er es von einem gütigen Geschick zugedacht. Jedenfalls ist für Sie, die Sie den Schrecken und die Schmach der diese Rollenverteilung zwischen Deutschland und Vertreibung aus Ihrer Heimat ertragen mußten. Das Polen gewiß nicht das selbstverständliche Ergebnis ist ein Elend und ein Leid, das Unrecht war und das der Geschichte, soweit wir sie im vergangenen Jahr- nicht durch das vorausgegangene unvorstellbare hundert zu verantworten hatten. Leid, das Deutschland über Polen gebracht hat, ge- Diese Rollenverteilung erlegt uns die Pflicht zu rechtfertigt werden kann. mehr Großmütigkeit, zu mehr Großzügigkeit, ja, Aber wir alle sollten uns erinnern, daß die Übertra- wenn es nicht vielleicht zu anmaßend klänge, würde gung der Oder-Neiße-Gebiete nicht das Werk Polens ich sagen: zu mehr Weisheit auf. Wir müssen verste- gewesen ist und daß Polen sie mit dem Verlust seiner hen, daß manches, was uns an einzelnen polnischen Ostgebiete bezahlen mußte, wie anders auch immer Vorgängen zuweilen verstört, Ausdruck verletzten deren ethnischer Charakter im Vergleich mit den Selbstwertgefühls ist. Wir müssen erkennen, daß na- deutschen Gebieten jenseits von Oder und Neiße ge- tionales Selbstbewußtsein und Selbstsein, das sich wesen sein mag. ganz plötzlich nicht länger wie über lange Zeit, ja wie (Freimut Duve [SPD]: Mischgebiete waren es über Jahrhunderte gegenüber zwei übermächtigen beide!) Nachbarn und sodann bis vor kurzem in der Gegner- schaft, in der feindseligen Abgrenzung, gegenüber Aber auch für Sie, die Vertriebenen, ist nur der Weg einer imperialistischen Hegemonialmacht und dem nach vorn offen. Auch Sie müssen sehen, daß von ihr aufgezwungenen System artikulieren kann, Deutschland, wollte es dieses Mal seine Einheit im sondern das sich nun in sich selbst finden und im Mit- Einvernehmen mit Europa erreichen, keine andere einander der Nationen ausdrücken muß, notwendi- Wahl hatte. gerweise Zeit zur Neuorientierung braucht. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir müssen sehen, daß das Verhältnis zu Deutsch- Deutschland, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ge- land notwendigerweise ambivalent ist. Zwar haben gen den Rest der Welt, das haben wir zweimal in die- Deutsche und Polen ja keineswegs immer nur ein ne- sem Jahrhundert mit katastrophalen Folgen für uns gatives Verhältnis gehabt oder die Deutschen in Polen und für ganz Europa versucht. immer nur eine verhängnisvolle Rolle gespielt, im Ge- (Beifall des Abg. Reinhard Freiherr von genteil: Die Beispiele gegenseitiger Befruchtung sind Schorlemer [CDU/CSU]) beeindruckend. Aber die Deutschen haben nicht nur gemeinsam mit den Russen Polen dreimal in einem Aber es ist nicht nur diese Logik der Macht, die unse- Jahrhundert geteilt. Der Überfall Hitler-Deutschlands ren Schritt unvermeidlich machte. Es ist auch die Lo- und die Greuel gegenüber der Zivilbevölkerung und gik der Geschichte und des Verstehens der Folgen des die Pläne über die Zukunft dieses Landes sind natür- eigenen Tuns in ihr. Es ist vor allem die Frucht der lich noch im Gedächtnis dieses stark und — wenn ich Einsicht, daß Frieden nur dann einkehren kann, wenn das anmerken darf — mir manchmal zu stark in histo- die Drehung der Rachespirale ein für allemal beendet rischen Kategorien denkenden und empfindenden und an ihrer Stelle ein gemeinsamer Weg in eine ge- Volkes. meinsame Zukunft geebnet wird. Nun, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ist (Beifall bei der CDU/CSU) Deutschland, obgleich der Geschlagene dieses Krie- Genau dies versucht der Nachbarschafts- und ges, der moralische Outcast von 1945, heute die stärk- Freundschaftsvertrag. Ich bitte Sie, ich bitte die Ver- ste Macht in Europa. Deutschland ist dasjenige Land, triebenen, diesen Weg gemeinsam mit -uns zu ge- auf das die Polen ihre Hoffnungen setzen, ja setzen hen. müssen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Ich meine, jedermann bei uns, wirklich jeder Bür- ordneten der FDP) ger, aber vorab wir, die politisch Verantwortlichen, Eine gemeinsame Zukunft und Aussöhnung zwi- müßten verstehen, daß dies für die Polen eine schwie- schen Deutschen und Polen kann es nur geben, wenn rige Lage ist. Deswegen sollten wir auch nicht jedes auch Polen, meine Damen und Herren, ein Leben in uns befremdlich erscheinende Wort aus Polen übel- Würde, d. h. in Selbstachtung führen kann. Würde nehmerisch vermerken; wir sollten uns vielmehr an bedeutet ein Leben in Freiheit und in Demokratie; die alte Erfahrung erinnern, daß Geben leichter ist als aber es bedeutet auch ein Leben in einem materiellen Nehmen. Wohlergehen, das sich an dem einzig verständlichen Es gilt noch ein Weiteres zu sehen: Die Erfahrung Maßstab für Polen messen kann, nämlich dem seines mit unseren Transferleistungen in die frühere DDR westlichen Nachbarn. Es bedeutet also ein Leben frei zeigt, daß sich die Hilfe beim wirtschaftlichen Wie- von Not und erniedrigender Dürftigkeit. deraufbau auch materiell bezahlt macht, sicher im Deutschland kann Polen dabei helfen. Das sollten Falle Polens nach einer etwas längeren Zeit, als dies wir nicht als Last, nein, das sollten wir als Chance im Falle der früheren DDR geschieht. begreifen. Aber wichtiger ist doch noch, daß es, wenn es ge- Diese Chance, meine Damen und Herren, ist sicher lingt, das schwierige Verhältnis zwischen Deutschen das Ergebnis einer deutschen Politik, die über vier und Polen fruchtbar zu gestalten, nicht nur materiell Jahrzehnte aus der Geschichte gelernt hat. Aber sie und ideell für die Polen von Nutzen ist, sondern daß es erscheint mir doch zugleich auch als uns — gestatten für die Achtung der Deutschen vor sich selbst und für Sie bitte diesen etwas ungewöhnlichen Ausdruck — ihr Ansehen in der Welt ein gar nicht hoch genug zu Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991 3255

Karl Lamers veranschlagender Gewinn wäre. Das ist die große rung um die neuen Demokratien im Osten unseres Chance, die sich uns jetzt bietet und die wir ergreifen Kontinents, zu erreichen. müssen, wollen wir uns nicht eines Tages eingestehen (Beifall bei der CDU/CSU) müssen, daß wir versagt haben. Diese Politik Polens ist übrigens ein schlagender Be- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge weis für meine Überzeugung, die ich schon öfters for- ordneten der FDP) muliert habe: Die deutsche Zukunft liegt nicht im Osten; die Zukunft des Ostens liegt im Westen. Aber natürlich muß sich dieser grundlegende Aspekt Bei einem Treffen von deutschen und polnischen in den konkreten Herausforderungen, die sich uns Politikern im März 1989 sagte ein deutscher Teilneh- stellen, bewähren, und diese konkreten Herausforde- mer, er wünsche sich, die Deutschen würden so natio- rungen sind immer weniger national, sondern immer nal, wie die Polen es bereits seien. Ein polnischer Teil- mehr nur noch grenzüberschreitend, nur noch ge- nehmer entgegnete ihm darauf, das wünsche er sich meinsam zu bewältigen. Ich denke dabei beispiels- nicht. Er wünsche sich vielmehr, daß die Polen so weise an die Probleme der Umweltbelastungen europäisch würden, wie die Deutschen es bereits ebenso wie an unsere gemeinsame Verpflichtung, seien. Ich gestehe, verehrte Kolleginnen und Kolle- den Menschen in der Dritten Welt zu helfen. Aber gen, daß ich dieses mich tief berührende Kompliment auch die gemeinsame Sicherheit in Europa und Euro- als das schönste Kompliment — und auch als eine pas Beitrag zur Friedenssicherheit und Freiheit in der Anerkennung — empfinde, das ich je von einem Welt gehören dazu. Nicht-Deutschen gehört habe. Beweisen wir durch unsere Politik gegenüber Polen die Berechtigung die- Gerade mit Blick auf die alten, nun wieder aufbre- ses Kompliments, und tragen wir dadurch dazu bei, chenden Konflikte im östlichen Teil unseres Konti- daß der mit ihm verbundene Wunsch, ein europäi- nents können Deutsche und Polen jetzt ein Beispiel sches Polen, Wirklichkeit werde. dafür geben, wie zwei Völker ihr schwieriges und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gespanntes Verhältnis überwinden und mit einem Neubeginn ihre gemeinsame Zukunft in einem Eu- ropa ohne Grenzen gestalten. Dabei können die Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Zu einer Zwischen- Deutschen in Polen und die Vertriebenen ebenso ei- intervention hat der Abgeordnete Duve das Wort. nen besonderen Beitrag leisten wie junge Menschen aus Deutschland und Polen, ohne deren Engagement Freimut Duve (SPD): Herr Kollege Lamers, ich die Einigung Europas nicht vollendet werden kann. stimme Ihrer Rede weitgehend zu. Sie haben aber Das zeigt noch einmal deutlich die zukunftsweisende eine Bemerkung gemacht, die mich zu dieser Inter- Bedeutung des Abkommens über das deutsch-polni- vention veranlaßt. sche Jugendwerk und der Vereinbarung über die Ich denke, wir sollten unsererseits nicht von ver- Rechte der Minderheiten in Polen, wie sie im Nach- sehrtem Selbstwertgefühl eines anderen Volkes, mit barschaftsvertrag festgelegt sind. dem wir diesen Vertrag schließen, sprechen. Wir soll- ten uns in diesem Fall einer herablassenden Beurtei- Da es sich also im Kern bei dem deutsch-polnischen lung sozusagen der Seelenlage eines Nachbarn ent- Verhältnis nicht zuletzt um das versehrte polnische halten. Selbstwertgefühl, um die Selbstfindung Polens han- delt, stehen wir vor einer wahrhaft schwierigen, ja (Zuruf von der CDU/CSU: So kann das doch heiklen Aufgabe. Es wäre sehr gut, wenn sich Polen niemand mißverstehen!) nicht allein auf Deutschland angewiesen sähe.- Daher Ich finde, wir haben an der polnischen Geschichte so fand ich das Treffen zwischen dem deutschen, dem viel versehrt, daß die seelischen Reaktionen und das, französischen und dem polnischen Außenminister vor was die Polen heute untereinander diskutieren, von wenigen Tagen in Weimar, Herr Bundesaußenmini- uns eigentlich nicht mit dem Beg riff „versehrtes ster, eine ausgezeichnete Idee. Selbstwertgefühl" beurteilt werden sollte. (Karl Lamers [CDU/CSU]: Es ist ja nicht zu (Beifall im ganzen Hause) letzt durch uns versehrt!) Ich bitte auch an dieser Stelle Frankreich ganz herz- Das ist die einzige kleine Kritik, die ich an Ihren Be- lich, sich seiner besonderen historischen Verantwor- merkungen anzubringen habe. tung gegenüber Polen bewußt zu sein. Das gilt nicht ( [CDU/CSU]: Das war nicht zuletzt für die auch von Ihnen, Herr Kollege Ko- eine kleine, sondern eine kleinliche Kritik! — schnick, angesprochene zentrale Erwartung, die Po- Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Sie ver len uns gegenüber und natürlich gegenüber allen un- drehen damit den Geist der Rede!) seren Partnern in der Europäischen Gemeinschaft hat, daß wir ihm nämlich helfen, so schnell wie möglich Möchten Sie noch zu wer- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Mitglied in der Europäischen Gemeinschaft antworten, Herr Kollege Lamers? — Bitte! den. (Beifall im ganzen Hause) Karl Lamers (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Herr Herr Kollege Koschnick, ich sehe hier auch nicht Kollege Duve, meine Kollegen haben eigentlich schon einen Widerspruch zwischen Vertiefung und Erweite- gesagt, was ich entgegnen kann: Das war gewiß nicht rung. Vertiefung der Gemeinschaft ist in der Tat die als herablassende Kritik an dem polnischen Selbstver- Voraussetzung, um das prioritäre Ziel, die Erweite- ständnis gedacht. Durch alles, was ich vorab gesagt 3256 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991

Karl Lamers habe, habe ich doch wohl zum Ausdruck gebracht, Volkes im Vertrag über die abschließende Regelung daß Polen leider allen Grund hat, sich versehrt zu füh- in bezug auf Deutschland, im sogenannten Zwei-plus- len, und versehrt ist, und zwar nicht zuletzt durch Vier-Vertrag, am 14. September 1990 und im deutsch- Deutsche, aber übrigens nicht allein durch Deutsche; polnischen Grenzvertrag vollzogen. Mit der Unter- denn in den letzten Jahrzehnten war es ja ein anderer zeichnung des Vertrages über die Bestätigung der Nachbar. Eine Herabsetzung Polens lag mir jedenfalls deutsch-polnischen Grenze ist das deutsche Volk, ist wirklich fern. Deutschland seiner europäischen Friedensverantwor- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie tung gerecht geworden. bei Abgeordneten der SPD — Zuruf von der Wir Deutsche sind uns dabei bewußt, daß der CDU/CSU: Nur bei bösem Willen!) deutsch-polnische Grenzvertrag nichts aufgibt, was nicht längst vorher verloren war als Folge eines ver- brecherischen Krieges und eines verbrecherischen Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt der Bundesminister des Auswärtigen, Hans-Dietrich Systems. Genscher. (Beifall im ganzen Hause) Wir sind uns auch bewußt: Wir hätten ohne diesen Hans-Dietrich Genscher, Bundesminister des Aus- Vertrag die einmalige historische Chance verspielt, wärtigen: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Da- die Einheit Deutschlands wiederzuerlangen. men! Meine Herren! Die heute dem Deutschen Bun- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der destag vorliegenden Verträge markieren einen Wen- SPD) depunkt im deutsch-polnischen Verhältnis. Deutsche und Polen wenden sich der gemeinsamen Gestaltung Keinem Deutschen fällt die Entscheidung zum Ab- einer friedlichen Zukunft in Europa zu. Die Tragweite schluß des Grenzvertrages leicht. Für diejenigen, die des Wandels in unserem Verhältnis zu Polen erfaßt ihre Heimat verloren haben, die das Leid der Vertrei- jeder, dem die leidvolle Geschichte unserer beiden bung erfuhren, ist sie besonders schmerzlich. Ihren Völker gerade in diesem Jahrhundert bewußt ist: die Gefühlen und ihrer Friedensverantwortung gilt in die- Folgen der von Hitler-Deutschland gegen Polen ge- ser Stunde unsere besondere Achtung. Der Verlust richteten Gewaltpolitik, aber auch das von Deutschen der Heimat ist ein schweres Opfer. Unser Gedenken erlittene Leid. gilt denen, die bei der Vertreibung ihr Leben verloren Diese beiden Verträge weisen den Weg zur Versöh- haben. nung zwischen unseren Völkern. Sie sind Ecksteine Unsere Empfindungen nehmen unserer Entschei- beim Bau einer Ordnung des Friedens, der Freiheit dung nichts von ihrem Rang als Beitrag zum Frieden und der Zusammenarbeit in Europa. In Polen hat der in Europa. Sie nehmen ihr nichts von ihrer Bedeutung Geist der Freiheit alle Versuche der Unterdrückung für eine neue europäische Zukunft. Sie machen das überdauert. tiefe Bewußtsein, das heute die Deutschen in europäi- Mit der Unterzeichnung des Vertrages zwischen der scher Friedensverantwortung bewegt, nur noch deut- Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen licher. über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehen- Wir wissen, daß nicht nur Deutsche als Folge des den Grenze haben wir einen historischen Schritt voll- Krieges ihre Heimat verloren haben. Auch Polen muß- zogen. Dieser Vertrag durchbricht ein für allemal den ten ihre Heimat aufgeben. Teufelskreis von Unrecht und neuem Unrecht. (Zustimmung bei Abgeordneten der SPD) Die Bestätigung der bestehenden deutsch-polni- schen Grenze war auch ein unverzichtbarer Schritt Wir hoffen, daß aus dieser gemeinsamen Erfahrung auf dem Weg zur deutschen Einheit. Die Vollendung gemeinsames Verständnis erwachsen möge. der Einheit Deutschlands und die Durchsetzung von (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU der SPD Freiheit und Demokratie in Mittel- und Osteuropa und und dem Bündnis 90/GRÜNE) in der Sowjetunion bestätigt die Richtigkeit des We- ges, der mit dem Warschauer Vertrag, mit den ande- Der Grenzvertrag und der Vertrag über gute Nach- ren Ostverträgen und mit der Schlußakte von Helsinki barschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit bil- beschritten wurde. den ein Ganzes. Beide Verträge sind untrennbare Sei- ten des einen Blattes, das einen leidvollen Abschnitt (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der beendet und ein neues, in die gemeinsame Zukunft SPD) weisendes Kapitel eröffnet. Es geht heute um den Der Beginn dieses Weges ist untrennbar verbunden umfassenden Ausbau unserer Beziehungen zu Polen. mit den Namen Willy Brandt und Walter Scheel. Der Vertrag steckt diese Felder ab : Wirtschaft, Wis- (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei senschaft und Technologie, kultureller Austausch, Abgeordneten der CDU/CSU) menschliche Begegnungen und nicht zuletzt die Zu- In ihren Entschließungen vom 21. und 22. Juni 1990 sammenarbeit bei der Bekämpfung und Überwin- haben der Deutsche Bundestag, die damals schon frei dung der Umweltschäden. gewählte Volkskammer der DDR und der Bundesrat Der politischen Zusammenarbeit unserer beiden ihrem Willen Ausdruck gegeben, daß der Verlauf der Regierungen wollen wir auf der Grundlage des Ver- Grenze zwischen dem vereinten Deutschland und der trages eine neue Qualität geben. Der Vertrag sieht Republik Polen durch einen völkerrechtlichen Vertrag regelmäßige Treffen auf allen Ebenen, auch auf der endgültig bekräftigt werden sollte. Wir haben den Ebene der Regierungschefs, vor. In der Praxis füllt darin zum Ausdruck gebrachten Willen des deutschen meine Zusammenarbeit mit meinem polnischen Kol- Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991 3257

Bundesminister Hans-Dietrich Genscher legen Skubiszewski längst die von dem Vertrag vor- chung in dem Vertrag, den Frankreich mit Polen ge- gegebenen Normen aus. Schon jetzt verzeichnen wir schlossen hat. In dem Maße, wie die Mitglieder der die Zunahme des Jugendaustausches, der Städtepart- Europäischen Gemeinschaft ihren Partnern in den nerschaften, die Intensivierung der regionalen Zu- sich entwickelnden neuen Demokratien Mittel- und sammenarbeit. Osteuropas eine europäische Perspektive aufzeigen, leisten sie einen Beitrag zur Absicherung der dort in Die drei gleichzeitig mit dem Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenar- Gang gekommenen Reformen von Wirtschaft und Ge- sellschaft zur Schaffung gesamteuropäischer Stabili- beit am 17. Juni dieses Jahres hier in Bonn geschlos- tät. senen zusätzlichen Abmachungen legen weitere Grundlagen für einen Ausbau der praktischen Zusam- Wir sind uns mit unseren europäischen Nachbarn menarbeit mit Polen. einig, den Prozeß der Assoziierung der Staaten Mittel- und Osteuropas an die Europäische Gemeinschaft Mit dem deutsch -polnischen Jugendwerk sollen die Begegnungen zwischen unseren beiden Völkern weiter zu beschleunigen. Wir tun das mit dem Ziel der vertieft und erweitert werden. Wir müssen der jungen vollen Mitgliedschaft dieser Staaten in der Europäi- Generation beider Länder eine dauerhafte, breite schen Gemeinschaft. Grundlage für ein freundschaftliches Verhältnis zu Polen hat sich selbst ein mutiges und ein kohärentes unserem polnischen Nachbarn legen, so wie uns das Reformprogramm verordnet. Der zähen Konsequenz im Verhältnis zu Frankreich gelungen ist. bei der Durchführung des Programms zollen wir Re- Wir haben eine Kommission für grenznahe und re- spekt. Mehr denn je kommt es heute darauf an, zur gionale Zusammenarbeit gegründet. Der regionalen Stabilität Polens beizutragen. Unser östliches Nach- Zusammenarbeit insbesondere im grenznahen Be- barland sieht sich mehr denn je Belastungen gegen- reich kommt für unser Verhältnis zu unseren Nach- über, die nicht nur eine Folge des eigenen inneren barn im Osten in Zukunft die gleiche Bedeutung zu, Wandels sind, sondern auch der revolutionären Um- wie sie sie im Verhältnis zu unseren westlichen Nach- wälzungen an seinen Grenzen. Die deutsch -polni- barn seit langem besitzt. Das gilt nicht nur für Polen; schen Wirtschaftsbeziehungen verstehen wir auch als das gilt genauso für die CSFR. Beitrag zur Integration Polens in die Weltwirtschaft und auch in dieser Hinsicht zu seiner wirtschaftlichen Ich würdige insbesondere das Engagement der Stabilisierung. In dem Vertrag bekennt sich die Bun- neuen Bundesländer, die die Aufgabe der Zusam- desrepublik Deutschland zur Unterstützung der wirt- menarbeit mit ihren neuen, demokratisch legitimier- schaftlichen Entwicklung Polens im Rahmen einer voll ten Partnern aufgenommen haben. entwickelten sozialen Marktwirtschaft.

Die Gründung des deutsch -polnischen Umweltra- Meine sehr verehrten Damen und Herren! In dieser tes ist eine Antwort auf die Probleme, die sich für Stunde denken wir in besonderer Weise an die Deut- Deutsche und Polen beiderseits der Grenze gemein- schen, die heute in Polen leben. Sie sollen wissen, daß sam stellen. Angesichts der großen Schäden, die in die neue europäische Ordnung, die wir wollen, das über 40 Jahren sozialistischer Herrschaft entstanden neue Verhältnis zwischen Deutschland und Polen es sind, liegt hier eine große Aufgabe. auch ihnen ermöglichen sollen, sich dort, wo sie leben, Die verschiedenen Felder deutsch-polnischer Zu- in einem Polen der Freiheit und der Demokratie zu sammenarbeit fließen ein in den Prozeß, in dem ein entfalten und ihre Identität zu bewahren. konföderales Europa der Subsidiarität entsteht. Es (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der gilt jetzt, die Netze der Kooperation immer dichter zu SPD) knüpfen, die die Völker und Staaten über einst tren- nende Grenzen hinweg auf allen Ebenen in der gan- Eine befriedigende Regelung für die Rechte der zen Breite des Lebens miteinander verbinden. Indem deutschen Minderheit in Polen war ein zentrales An- wir das tun, eröffnen wir den neuen Demokratien un- liegen unserer Verhandlungen über den Nachbar- serer östlichen Nachbarn die Perspektive einer Rück- schaftsvertrag. Wir haben in dem Vertrag eine recht- kehr nach Europa, eine Perspektive, die für sie auch lich gesicherte Grundlage für die Existenz und die materiell und menschlich erfahrbar wird. Hier dürfen Entfaltung der deutschen Minderheit in der ange- keine neuen Trennmauern entstehen, die sich diesmal stammten Heimat erreicht. Die wesentlichen Teile des durch unterschiedlichen Lebenstandard, durch Armut europäischen Standards für Minderheitenrechte, wie und Reichtum, auszeichnen. Das Ziel polnischer Poli- er insbesondere im Dokument des Kopenhagener tik ist die Rückkehr nach Europa, zu dem Polen seiner Treffens über die menschliche Dimension der KSZE politischen Tradition und seiner Kultur nach immer sowie in den Empfehlungen der Parlamentarischen gehört hat. Versammlung des Europarats niedergelegt ist, wur- den durch den Vertrag völkerrechtlich verbindlich Die gemeinsame Begegnung mit meinem polni- festgeschrieben. schen und meinem französischen Kollegen am Ge- burtstag Goethes in der vergangenen Woche in Wei- Sowohl die Bundesregierung als auch unsere polni- mar hat die Perspektiven gezeigt, die wir heute schon schen Vertragspartner sind sich bei ihren Verhand- in Europa haben. Der deutsch-polnische Vertrag über lungen darüber einig gewesen und haben es auch gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusam- gewollt, daß mit einer solchen Regelung über das bila- menarbeit verknüpft die Neugestaltung unseres bila- terale Verhältnis hinaus eine Fortentwicklung des eu- teralen Verhältnisses zu Polen mit der Heranführung ropäischen Minderheitenstandards erfolgt. Die Fest- unseres polnischen Nachbarn an die Europäische Ge- schreibung der im Kopenhagener Dokument nur als meinschaft. Diese Zielrichtung findet seine Entspre- politisch verpflichtend vereinbarten Regelungen ist 3258 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991

Bundesminister Hans-Dietrich Genscher eine völkerrechtliche Verfestigung des europäischen Gerd Poppe (Bündnis 90/GRÜNE) : Frau Präsiden- Minderheitenstandards. tin! Meine Damen und Herren! Im Namen der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE begrüße ich den heute zur ersten (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD Beratung vorgelegten deutsch-polnischen Vertrag und dem Bündnis 90/GRÜNE) über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zu- Der Nachbarschaftsvertrag mit seinen Minderhei- sammenarbeit. Wir sind davon überzeugt, daß die Ra- tenregelungen wird auch auf polnischer Seite unmit- tifizierung dieses Vertrages eine wichtige Vorausset- telbar in innerstaatliches Recht umgewandelt. Dar- zung für das gute Zusammenleben zweier großer eu- über hinaus wurde vereinbart, daß Fragen der Min- ropäischer Völker ist. derheiten auch auf höchster politischer Ebene erörtert Zugleich wissen wir, daß ein staatlicher Vertrag al- und gegebenenfalls nach gegenseitiger Absprache lein dauerhafte freundschaftliche Beziehungen zwi- eine gemischte Kommission zur Behandlung solcher schen zwei Völkern nicht zu stiften und zu sichern Fragen eingerichtet werden kann. Ich bin zuversicht- vermag. In der ehemaligen DDR haben wir jahrzehn- lich, daß die in Polen lebenden Deutschen auf der in telang erleben müssen, wie unterhalb der offiziellen dem Vertrag gelegten Grundlage ihre Identität wah- Freundschaftsbekundungen gegenseitige Abnei- ren und entwickeln können. gung, Mißachtung und oftmals auch Feindseligkeit Meine sehr verehrten Damen und Herren, das zwischen Deutschen und Polen geduldet, ja bei Bedarf deutsch-polnische Vertragswerk weist über das bila- sogar von der Politbürokratie und der Staatssicherheit terale Verhältnis zwischen unseren Ländern und Völ- manipulativ erzeugt wurde. kern hinaus. Dieses Vertragswerk ist ein wichtiger Es ist eine wichtige Erfahrung der mittel- und osteu- Baustein zum Aufbau einer gesamteuropäischen Ord- ropäischen Demokratiebewegungen, daß vor allem nung des Friedens, der Freiheit und der Zusammen- das aktive Engagement von Individuen und gesell- arbeit, die alle Völker Europas und auch die nordame- schaftlichen Gruppen dazu beiträgt, daß sich Tole- rikanischen Demokratien einschließt. Auf diesem ranz, Verständnis und Freundschaft zwischen Völ- Wege sind West und Ost von politischen wieder zu kern entwickeln können. Das gilt in besonderem geographischen Begriffen geworden. Maße für solche, deren Beziehungen durch so leid- An die Stelle von ideologisch bestimmter Konfron- volle Erlebnisse geprägt sind, wie sie Polen und Deut- tation ist mit der Überwindung der Blöcke ein euro- sche in diesem Jahrhundert machen mußten. päischer Grundkonsens über Menschenrechte, über Mir wird jener ältere Mann unvergeßlich bleiben, die Prinzipien von Demokratie, Pluralismus und der mir vor 20 Jahren in einer polnischen Kleinstadt Rechtsstaatlichkeit sowie der freien Marktwirtschaft ein Zimmer vermietete und mir dabei in einem knap- und die umfassende solidarische Zusammenarbeit mit pen Satz mitteilte, er könne zwar deutsch, aber seit dem Ziel des Zusammenwachsens und der Einigung seine ganze Familie im KZ umgekommen sei, würde Europas getreten. er es nicht mehr sprechen, und darauf müsse ich mich Diese neue Epoche der europäischen Geschichte ist einlassen. Am darauffolgenden Tag blieben wir möglich geworden, weil Deutschland seine Einheit in stumm. Dann begann ich, ihm mit Hilfe eines Wörter- Freiheit wiedererlangt hat, weil die neuen Demokra- buchs auf polnisch Fragen über das Wetter, die Preise tien in Mittel- und Osteuropa durch den revolutionä- und die Haustiere zu stellen. So ging das mehrere ren Freiheitswillen der Bürger ihre Souveränität wie- Tage. Etwa am fünften Tag antwortete er zu meiner dererlangt haben und weil sich die Sowjetunion Eu- Überraschung auf deutsch und blieb von nun an da- ropa und der Welt geöffnet hat. bei. Er zeigte mir die Fotos seiner Eltern, seiner Ge- schwister, seiner Frau. Wir sprachen über die Arbeit, Deutschland und Polen verbinden sich mit diesen die Grenzen, die Regierungen. Am nächsten Tag rei- Verträgen dauerhaft und gleichberechtigt wie nie- ste ich ab. mals zuvor in ihrer Geschichte. Ein polnischer Teil- nehmer des Hambacher Festes von 1832 erklärte: Über ähnliche Erlebnisse berichten unsere Kinder und werden voraussichtlich auch noch unsere Enkel Nie waren zwei Nationen eine der anderen wür- berichten. So mühsam ist das und wird das auch blei- diger als die deutsche und die polnische. Nie war ben. Da hilft auch kein Hinweis auf die späte Ge- zwischen Völkern ein schönerer und festerer burt. Bund geschlossen als jetzt zwischen Deutschen und Polen. Möge er unsere spätesten Nachkom- Der Vertrag, über den wir heute sprechen, wird ein men noch beglücken! gutes und tragfähiges Fundament bilden, auf dem vielfältige Formen von Begegnung und Zusammenar- Eine bittere Zeit folgte danach. Jetzt haben wir eine beit wachsen können. Das gilt für staatliche Einrich- neue Chance. Streben wir nach einem solchen Glück, tungen, für deutsch-polnische Kommissionen und Deutsche und Polen, demokratisch und frei, in Ach- Konsultationen, für das deutsch-polnische Jugend- tung und in Freundschaft, in einem geeinten, einem werk, das hoffentlich bald seine Arbeit aufnehmen neuen Europa! wird, oder auch für die geplante europäische Univer- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD sität in Frankfurt/Oder, die sich den deutsch-polni- und dem Bündnis 90/GRÜNE) schen Beziehungen hoffentlich auf besondere Weise widmen wird. Das gilt vor allem für viele unabhängige deutsch- polnische Initiativen. Als Beispiel nenne ich das Anna- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Es spricht jetzt der Morawska-Seminar, das jahrelang ungeachtet staat- Abgeordnete Gerd Poppe. licher Behinderungen unter Beteiligung der Aktion Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991 3259

Gerd Poppe Sühnezeichen, der Kirchen sowie polnischer und ost- Der visafreie Verkehr zwischen Deutschland und deutscher Dissidenten abgehalten wurde und nun Polen ist heute schon europäische Normalität. Wir ver- auch unter den neuen Bedingungen seine Arbeit fort- folgen es jedoch mit Sorge, wenn Polen gleichsam die setzt. Rolle eines Pufferstaats zugewiesen werden soll, der (Beifall bei der SPD) osteuropäische Einwanderer von den deutschen Grenzen fernhält. Die alte Bundesrepublik war zur Das gilt für viele neue Begegnungszentren, die jetzt Zeit der Mauer gewissermaßen vor den Auswirkun- entlang der Oder-Neiße-Grenze entstehen. gen osteuropäischer Krisen geschützt, auch wenn sie sich das nicht eingestanden hat. Nun darf nach dem Die Anerkennung dieser Grenze ist ebenso wie der Fall der einen Mauer an der polnischen Ostgrenze Sturz der totalitären Diktaturen in Polen und der DDR keinesfalls eine neue errichtet werden. eine Voraussetzung dafür, daß eine neue Kultur der Begegnung, des Austauschs und der gemeinsamen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Aufarbeitung der Geschichte entstehen kann. Der Weg nach Europa führt über die Freizügigkeit für An dieser Stelle will ich die besondere Bedeutung alle Europäer. würdigen, die die aufrechte Haltung polnischer Men- schen für die Herausbildung der neuen Situation in Angesichts der großen Umwälzungen in der So- Europa hatte. Erinnern Sie sich an die Streiks der wjetunion dürfen wir nicht die Probleme Polens ver- Werftarbeiter und Bergleute seit 1956, an die Grün- gessen. Das Rücktrittsangebot von Bielecki war ein dung der Solidarnosc durch Lech Walesa und andere, deutliches Signal dafür, daß sich die Reformpolitik in an Dissidenten wie Adam Michnik, die sich auch Polen erst am Anfang eines schwierigen Weges befin- durch mehrfachen Gefängnisaufenthalt nicht von ih- det, daß sie unsere ganze Unterstützung braucht, wie rem Weg abbringen ließen, an ihre heimlichen Begeg- auch die demokratischen Parteien und Bewegungen nungen mit den tschechoslowakischen Oppositionel- unserer Solidarität bedürfen. len der Charta 77 an der polnisch-tschechoslowaki- schen Grenze, an weltberühmte Künstler und Schrift- Der deutsch-polnische Vertrag schlägt auch in der steller wie Andrzej Wajda und Zbigniew Herbert, die Frage der Minderheiten ein neues Kapitel auf. Er gibt es vorzogen, in Jaruzelskis Internierungslager zu ge- der deutschen Minderheit in Polen die Chance, zu hen, anstatt sich mit dem System zu arrangieren, an gleichberechtigten Bürgerinnen und Bürgern zu wer- diejenigen, die die ersten, mühevollen Schritte zur den. Er verpflichtet uns, die Rechte der polnischen Demokratie gingen, wie Tadeusz Mazowiecki! Erin- Minderheit in Deutschland zu achten. Besonders her- nern Sie sich auch an den polnischen Runden Tisch, vorheben möchte ich die durch den Briefwechsel ein- der das Modell wurde für alle ähnlichen Versuche der geräumte Möglichkeit, daß diese Rechte auch auf die Konsensfindung zwischen den Kräften der demokrati- polnischen Staatsbürger in Deutschland ausgedehnt schen Erneuerung! Wir werden nicht vergessen, daß werden. Diese Passage des Vertragswerkes könnte vieles, was in Polen geschah, ganz außerordentliche ganz neue Räume in den Fragen der Minderheiten- Impulse in der DDR ausgelöst hat und schließlich auch rechte öffnen. unmittelbar dazu beigetragen hat, daß die deutsche Aus den Reihen von Vertriebenenverbänden sind Einheit möglich wurde. leider noch immer Äußerungen zu vernehmen, die die (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie deutsch-polnischen Verträge in Frage stellen. Die dar- bei Abgeordneten der FDP) aus entstehenden Irritationen bei unseren polnischen Nachbarn können sich als Hindernis erweisen, wenn Die Erinnerung an die hinter uns liegenden- Mühen es darum geht, die Verträge mit Leben zu erfüllen. Wir und die Genugtuung über die neuen Möglichkeiten, sind der Meinung, daß die staatlichen Mittel für solche die durch die vorgelegten deutsch-polnischen Ver- Verbände gekürzt bzw. dergestalt umgewidmet wer- träge sichtbar werden, sollte uns aber nicht die Augen den sollten, daß mit ihnen deutsch-polnische Gemein- vor neuen Herausforderungen verschließen lassen. schaftsprojekte gefördert werden können. Seit einigen Monaten gibt es den visafreien Ver- (Vorsitz : Vizepräsident Dieter-Julius Cro kehr zwischen Deutschland und Polen. Dessen Ver- nenberg) einbarung war für die Polen ein wichtiger vertrauens- bildender Schritt. Auch für die deutschen in den Abschließend ein Wort zur Entschädigung der pol- neuen Bundesländern hatte sie eine große Bedeutung, nischen Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen. wenn man bedenkt, daß Polen neben der Tschecho- Es ist für uns beschämend, wie trotz der von allen pol- slowakei in den 70er Jahren das wichtigste Reiseland nischen Regierungen vertretenen berechtigten Forde- für sie gewesen ist und für die meisten von ihnen in rungen die Lösung dieses Problems immer wieder von den 80ern verschlossen blieb. Bundesregierung und Bundestag verschleppt wurde. Wir setzen uns für die schnellstmögliche Gründung Daß es ein richtiger Schritt war, zeigt sich auch einer Stiftung zugunsten dieser Opfer des NS-Regi- darin, daß allen damaligen Warnungen zum Trotz die mes ein, deren Mittel u. a. auch von den Firmen er- prophezeiten großen Einwanderungsströme, gegen- bracht werden sollten, die aus der Ausbeutung der seitigen Feindseligkeiten und rechtsradikalen Mas- Zwangsarbeiter Gewinn gezogen haben. Die Behand- sendemonstrationen ausgeblieben sind, wenngleich lung des deutsch-polnischen Vertrages ist ein guter auch die Aktivitäten der relativ kleinen Neonazigrup- Anlaß, dieses Thema erneut aufzugreifen. Wir bitten pen und die Zunahme von Gewalt allemal Anlaß zur alle Fraktionen dieses Hauses, unserem diesbezügli- Beunruhigung bleiben. chen Antrag zu folgen. 3260 Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991

Gerd Poppe Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. den östlichen Staaten hört und dabei die in der Tat (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie nicht geringen finanziellen Mittel im Auge hat, so soll bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste) hier mit Nachdruck gesagt werden: Die Ungleichheit bei den Opfern im Zweiten Weltkrieg und bei den zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppten polni- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun er- schen Bürgern darf dabei niemand vergessen. teile ich dem Abgeordneten Dr. Modrow das Wort. Auch wenn in Europa gewaltige Veränderungen vor sich gehen, bleiben für die Zukunft vor allem gesi- Dr. Hans Modrow (PDS/Linke Liste): Herr Präsi- cherte, völkerrechtlich anerkannte Grenzen die Vor- dent! Meine Damen und Herren! Die vorliegenden aussetzung für ein friedliches Zusammenleben. Verträge sind wesentlicher Bestandteil der vertragli- Grenzfragen waren in Europa immer eng mit der chen Regelungen zur Herstellung der deutschen Ein- Frage Krieg oder Frieden verbunden. Auf die Eindeu- heit. Sie stellen die Beziehungen des vereinigten tigkeit und Endgültigkeit der Anerkennung dieser Deutschlands mit Polen hoffentlich auch für eine Grenzen darf nicht der geringste Schatten eines Zwei- weite Zukunft auf eine neue, solide Grundlage. Zu- fels fallen. gleich liegt in ihnen die Chance, in den Beziehungen zu diesem unmittelbaren östlichen Nachbarn ein Schon die das Vertragswerk begleitenden Losun- wirklich neues Kapitel aufzuschlagen. Sowohl der gen, wie „Schlesien ist unser" und „Verzicht ist Ver- Grenzvertrag mit der eindeutigen Bestätigung der rat" belasten jedes Bemühen um Aussöhnung. heutigen Grenzen und der territorialen Integrität Es ist alles andere als vertrauensbildend, wenn jetzt Polens als auch die Vereinbarungen zur umfassenden die Fraktion der CDU/CSU und auch die FDP im nach- Zusammenarbeit für ein Zusammenwirken, das ein- hinein die Substanz dieser beiden Verträge verrin- deutig Polen fördert und stabilisiert sowie soziale Un- gern möchten. Hat sich die Bundesregierung schon terschiede abbaut, und zur Einhaltung der Menschen- einmal überlegt, wie es auf die polnische Seite wirken rechte und der Rechte der nationalen Minderheiten mag, wenn plötzlich, durch nichts zu rechtfertigen, sind dabei von besonderem Wert. mit der Aufnahme von Tiefflügen über den neuen Ausgehend von einer solchen Bewertung, die dem Bundesländern NATO-Kampfflugzeuge an den Gren- Sinn nach auch der der Bundesregierung durchaus zen Polens auftauchen? entspricht, ist um so weniger verständlich, daß diese (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Die Verträge erst heute zur Ratifizierung vorgelegt wer- sind sehr froh darüber! Die möchten doch in den. Die Regierung tat sich äußerst schwer, den die NATO hinein!) Schritt zur endgültigen Anerkennung der Grenzen, wie sie im Vertrag von Zgorzelec bereits 1950 erfolgt Das sind falsche Zeichen. Das hat mit Einfühlsamkeit war, zu tun und damit den Ballast der Vergangenheit und Vertrauen absolut nichts zu tun. hinter sich zu lassen. Polen braucht dringender denn je unsere wirt- (Zuruf von der CDU/CSU: Ein unpassender schaftliche Unterstützung und Zusammenarbeit. Da- Vergleich! — Friedrich Bohl [CDU/CSU]: von hängt in hohem Maße das Schicksal der deutsch- Stasi-Abschnitts-Kommandeur!) polnischen Aussöhnung ab. Gelingt es nicht, das sich — Fragen Sie einmal in Ihrer eigenen Fraktion nach, ständig vergrößernde Wohlstandsgefälle so ausglei- und dann reden wir über all diese Dinge. Bringen Sie chen zu helfen, daß die Menschen ihre Perspektive im dieses Thema dort auf den Tisch, wo es hingehört. eigenen Land sehen, werden viele Verpflichtungen dieser Verträge ein Stück Papier bleiben. Hier helfen (Zuruf von der CDU/CSU: Ober Komman - auf Dauer weder Abschottungen noch Zoll- und Poli- deure gibt es keine Akten!) zeimaßnahmen. Dies ist eine Erwartung, die Ministerpräsident Mazo- wiecki in der Beratung und Begegnung mit der Regie- Soll die Oder-Neiße-Grenze nicht zur endgültigen rung der nationalen Verantwortung der Deutschen Grenze zwischen Arm und Reich werden, bedarf es Demokratischen Republik im Februar 1990 in War- völlig neuer Wege. Ansätze sehen wir in der Schaf- schau und auch bei den Vieraugengesprächen, die fung von Regionen nutzbringender Zusammenarbeit, wir gemeinsam geführt haben, mit dem Blick auf das wie sie mit der Bildung einer Euro-Region Sachsen- vereinigte Deutschland nachhaltig zum Ausdruck Südliches Polen und Tschechisch Böhmen in Aussicht brachte. genommen wurde. Hierbei bedarf es aber nicht einer Halbherzigkeit und Zögerlichkeit im Herangehen, Diese Verträge, wie auch das Deutsch-Polnische sondern einer besonderen Förderung auch durch die Jugendwerk, die bilaterale und regionale Zusammen- Bundesregierung. arbeit zwischen beiden Ländern werden zu Recht als Bausteine des europäischen Vertrages der friedlichen Solche regionalen Konzepte könnten auch für die Entwicklung in Europa gesehen und werden diesen Wirtschaft in den östlichen Bundesländern förderlich Prozeß fördern. Damit können sich Wege zur echten sein und den Anschluß an traditionelle Märkte brin- Versöhnung mit Polen öffnen. Das ist besonders be- gen. Nicht Kredite, die neue Schulden bringen, son- deutsam nach der langen gemeinsamen, oft tragisch dern wirtschaftliche Kooperation ist gefordert. verlaufenden Geschichte. Eine wirkliche Versöhnung zwischen Polen und Aber auch in Zukunft werden Deutsche und Polen Deutschen verlangt eine Wandlung im Bewußtsein mehr denn je aufeinander angewiesen sein, wenn im der Menschen. Es geht nicht darum, vergessen zu Zentrum Europas wieder Stabilität einziehen soll. machen, wieviel Leid mit dem Ende des Krieges und Wenn man mitunter von ungleichen Verträgen mit der Umsiedlung verbunden war. Gerade weil auch Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991 3261

Dr. Hans Modrow meine Wiege in diesem Gebiet stand, möchte ich sa- merkwürdige Situation. Auch das möchte ich einmal gen: Das Leid von damals ist nicht aufzuheben. Das klar herausstellen. Leid von damals darf sich nicht wiederholen. Es darf heute auch kein größeres Leid für polnische Bürger (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Immer geben. Die Gewährleistung der Grenze ist dafür die noch besser als Gladiolen! — Heiterkeit) einzige Garantie. — Ja, jeder hat seine Blümchen im Kopf, lieber Kol- Es ist zu begrüßen, daß für die deutsche Minderheit lege Wolfgang Bötsch. in Polen die KSZE-Bestimmungen über Minderhei- Eine der größten Katastrophen und Tragödien Euro- tenrechte zugrunde gelegt wurden. Wir verbinden pas in diesem Jahrhundert waren die von Haß, Unge- dies zugleich mit der Hoffnung, daß diese großzügi- rechtigkeit und Kurzsichtigkeit getragenen Verträge gen Regelungen zur kulturellen, sprachlichen, religiö- von Versailles, St. Germain und Trianon. Ein Mit- sen und politischen Entfaltung nicht mißbraucht wer- glied meiner Familie, die von mir sehr verehrte Groß- den. Nur aus ständigen Begegnungen erwachsen mutter, „Mutter der Heimatvertriebenen", wie ihr Ti- wirkliche Nachbarschaft und Freundschaft, Ver- tel war, war Mitglied im Paritätischen Ausschuß, der trauen und Versöhnung. — besetzt mit zwei Deutschen, zwei Polen und einem Bedauerlicherweise sind aber wichtige Fragen of- französischen General an der Spitze — die Streitigkei- fen. Das gilt vor allem für die Frage der im Kriege ten bei der Wiederherstellung Polens nach dem Ersten zwangsweise verliehenen deutschen Staatsangehö- Weltkrieg schlichten, das ethnische Auseinanderhal- rigkeit, die Abschaffung der sogenannten Statusdeut- ten bewerkstelligen sollte. Sie hat die Tragödie miter- schen sowie die klare Zurückweisung der Vermö- lebt, in der damals mit einer Einseitigkeit, die wir gensansprüche der Ausgesiedelten an Polen heute nicht mehr verstehen, über 2 Millionen Deut- (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Aus sche durch die Mehrheitsverhältnisse in diesem Aus- gesiedelten? Sehr interessant!) schuß in einen Staatsverband hineingepreßt wurden, zu dem sie nicht gehören wollten; darüber zu ent- und die lange überfällige Regelung der Entschädi- scheiden lag nie in ihrer eigenen Macht. Sie hat die gung für ehemalige polnische Zwangsarbeiterinnen tragische Entwicklung in Oberschlesien erlebt, als und -arbeiter und anderer NS-Opfer. Diese Frage fällt polnische Freischärler damals versucht haben, Fakten keineswegs in den Bereich der Reparationen. In den zu schaffen und diesen Teil Deutschlands für sich in meisten Fällen handelt es sich um die Wiedergutma- Anspruch zu nehmen. Sie hat auch die völkerrechts- chung von barbarischen Ausbeutungs-, Verfolgungs- widrige Abtrennung eines Teils Oberschlesiens er- und Unterdrückungsakten der nazistischen Okkupa- lebt. tionstruppen und des Okkupationsregimes, an denen sich letztendlich Unternehmen deutscher Konzerne Europa hat damals die Entscheidung erlebt, die bereichert haben. Es ist höchste Zeit, daß die Bundes- dazu geführt hat, daß 3,5 Millionen Sudetendeutsche regierung auch hier ihrer Verantwortung gerecht in einen Staatsverband hineingepreßt wurden, und wird. zwar aus der nationalistischen tschechischen Haltung Beneschs heraus — ein Problem, das bis heute noch Meine Damen und Herren, dem Bundestag kommt bei der parlamentarischen Kontrolle der Regierung ungelöst ist. Europa hat die Tragödie des Zerfalls der Donau-Monarchie und vor allen Dingen des künstli- und der staatlichen Institutionen eine große Verant- chen Gebildes Jugoslawien erlebt, worunter wir heute wortung zu, wenn diese Verträge, denen die PDS/ immer noch zu leiden haben. Linke Liste ihre Zustimmung gibt, mit Leben erfüllt und über das damit Erreichte hinausgeführt werden Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin sollen. Die Verträge mit ihrer europäischen- Dimen- der festen Überzeugung: Sowenig die Pariser Vorort- sion gewinnen durch die Ereignisse in der Sowjet- verträge Bestand vor der Geschichte hatten, sowenig union und in Jugoslawien noch weiter an Bedeutung, werden die polnischen Verträge, die hier zur Ratifizie- sollen sie doch über die Garantie der Grenze hinaus rung anstehen, Bestand haben. Es gibt eine Reihe fun- Vertrauen und Freundschaft zwischen den Völkern in damentaler Fehler und ungelöster Probleme. Europa schaffen. Wenn die Bundesregierung allen Ernstes weiterhin (Beifall bei der PDS/Linke Liste) behauptet, es habe die deutsche Einheit nicht ohne diese Verträge gegeben, dann belastet sie die deut- sche Einheit, denn die deutsche Einheit ist auf dem Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun er- Hintergrund des Selbstbestimmungsrechts der Deut- teile ich dem Abgeordneten Lowack das Wort. schen vollzogen worden, und das wurde anerkannt. Wer behauptet, diese Entscheidung habe in der ein- stündigen Verhandlung mit Skubiszewski damals in Ortwin Lowack (fraktionslos): Herr Präsident! Liebe Paris angestanden, der sagt der Öffentlichkeit nicht Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Her- die Wahrheit. Hier werden Dinge aufgebaut, die uns ren! Die Strategie der Regierungskoalition hat mir, in der Zukunft belasten. abweichend von der ursprünglichen Ordnung, einen Platz in der Debatte zugewiesen, mit dem ich innerlich (Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Sie noch etwas zu kämpfen habe: nach dem Kollegen bauen eine Legende auf, Kollege Lowack!) Modrow und vor dem Kollegen Koschyk, der dann die Die Verträge bauen nicht auf der geschichtlichen mit der Regierung abgestimmte Zukunft darstellen Wahrheit auf. Es war doch nicht die bürgerlich-polni- wird. Lieber Hartmut, du und ich, wir beide als Gla- sche Regierung, die die Abtretung oder die Vertrei- diatoren in der Debatte, das ist für mich eine sehr bung haben wollte. Es war Stalin, und es waren seine 3262 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991

Ortwin Lowack polnischen Schergen in der polnischen kommunisti- den, um zuviel zu Ihnen Stellung zu nehmen. Aber ich schen Partei, die das damals durchgesetzt haben. Die habe mich bei Ihren Worten daran erinnert, daß ich im Wahrheit läßt sich auf Dauer nicht verbergen. Oktober des Jahres 1989 in Warschau gewesen bin, Die Frage des Eigentums, meine lieben Kolleginnen als die damals in der deutschen Botschaft befindlichen und Kollegen: Ja, was sagt denn die Bundesregierung Landsleute aus der ehemaligen DDR aus dieser den Deutschen? Der Bundeskanzler schreibt ihnen Botschaft ausreisen konnten. Wir wissen alle, Herr Briefe auf Anfragen: Jawohl, das deutsche Eigentum Modrow, was dann in Dresden passiert ist, als die wird nicht tangiert; bitte wenden Sie sich an den Züge mit den Deutschen aus Warschau und Prag Finanzminister. — Der Finanzminister sagt: Das geht durch Dresden gefahren sind und wer damals in Dres- mich nichts an. — Dann soll doch diese Bundesregie- den für das Niederknüppeln derjenigen, die auf die rung so offen und so ehrlich sein und den Vertriebe- Züge aufspringen wollten, die Verantwortung mitge- nen reinen Wein einschenken und sagen: Ihr habt tragen hat. nichts zu erwarten; die Kriegsfolgen sind nun einmal (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der so verteilt worden, daß ihr am meisten darunter zu SPD) leiden habt. — Diese Art, mit Schicksalen umzuge- hen, ist unerträglich — und das noch mit dem Schick- Ein Wort zu meinem Freund und Kollegen Ortwin sal von Millionen von Menschen. Lowack: Lieber Ortwin, ich achte deinen Standpunkt, Diese Verträge, meine sehr verehrten Damen und und ich werde immer dafür eintreten, daß man dir für Herren, leisten leider einer Entwicklung Vorschub, deinen Standpunkt Respekt zollt. Aber, lieber Ortwin, die uns noch sehr viel Sorgen bereiten wird. Sie sind wir sollten nicht anfangen, zwischen den guten und keine Vorbereitung etwa für eine Europäisierung, für den besseren Vertriebenen zu unterscheiden. eine Föderalisierung, sie sind ein Vorschub für den polnischen Zentralismus. Wenn ich mich heute auch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mit vernünftigen Polen unterhalte und sage: Bereitet Es gibt viele bei den Vertriebenen, die deiner Mei- doch Polen für Europa vor, schafft Regionen in Polen!, nung sind. Es gibt aber auch viele, die meiner Mei- dann ist die Antwort: Nein, das polnische Bewußtsein nung sind. Ich finde, es tut einer Schicksalsgruppe, die ist auf Warschau gerichtet. Wer uns dieses Bewußtsein jetzt mit einer neuen rechtlichen und politischen nimmt, nimmt uns unser Polentum. — Das kann doch Wirklichkeit fertig werden muß, sehr gut, wenn es bei nicht die Antwort für die Zukunft sein. Das können wir ihr eine Bandbreite gibt und unterschiedliche Mei- nicht akzeptieren. nungen zum Tragen kommen. Ich habe leider das große Problem, Herr Präsident, daß mir nur eine unendlich kleine Redezeit zugebilligt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wurde. Ich darf dazu kurz eines sagen: Ich bin persön- lich Betroffener, 1942 in Gleiwitz geboren. Ich habe Wenn der Deutsche Bundestag heute mit der Bera- alle Grausamkeiten einer Flucht — Mutter mit sechs tung der deutsch-polnischen Verträge beginnt, so be- Kindern — durch die Tschechoslowakei erlebt. Ich bin gleiten dies viele Menschen in unserem Land mit Präsident der Bundesdelegiertenversammlung der Hoffnung auf eine neue Phase der deutsch -polni- Schlesier. Ich bekenne mich dazu. Es ist wahrschein- schen Beziehungen. Aber — davor dürfen wir die Au- lich das höchste repräsentative Amt, das man für die gen nicht verschließen — viele sind auch skeptisch, ja Schlesier haben kann. Ich stelle fest: Niemals, weder pessimistisch, ob es gelingen kann, daß Deutsche und als Mitglied des Bundestages noch des Auswärtigen Polen nach den großen historischen Belastungen die- Ausschusses, noch in der Eigenschaft als Präsident der ses Jahrhunderts und auf der Grundlage dieser Ver- Bundesdelegiertenversammlung, noch in meiner träge einen neuen Anfang finden können. Eigenschaft als Jurist und Staatsrechtler bin ich jemals Bischof Alfons Nossol von Oppeln, den der Bundes- von der Bundesregierung gefragt oder beigezogen kanzler bereits erwähnt hat, der für das gedeihliche worden. Ich halte das Verfahren, daß ich hier nur in Zusammenleben von Deutschen und Polen in seiner drei oder vier Minuten zu diesen Dingen Stellung neh- oberschlesischen Diözese so unendlich viel geleistet men kann, für schmählich, auch für das Parlament und hat und dem wir darüber hinaus im großen wie im auch für die Menschen, die ich zu vertreten habe. kleinen sehr viel an wertvollen Impulsen für die

deutsch -polnische Verständigung und Aussöhnung Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- zu verdanken haben, hat in seiner Fastenpredigt die- geordneter Lowack, es steht mir fern, den Inhalt Ihrer ses Jahres gesagt, daß es ohne wahre deutsch-polni- Rede zu kommentieren, aber ich lege Wert auf die sche Versöhnung im Zentrum Europas kein vereintes Feststellung, daß nicht die Regierung die Reihenfolge Europa mit durchlässigen Grenzen geben wird. Ein der Redner bestimmt, sondern ausschließlich der am- Satz aus der Predigt von Bischof Nossol wird bei den- tierende Präsident. jenigen Deutschen und Polen, die in der jüngsten Ver- (Beifall bei der FDP) gangenheit persönlich großes Leid erfahren haben, vielleicht sehr wenig Zustimmung finden, nämlich, Nun hat das Wort der Abgeordnete Koschyk. daß es bei der Versöhnung „nicht an erster Stelle um das Vergessen erfahrenen Unrechts und Verbrechens, Hartmut Koschyk (CDU/CSU): Herr Präsident! sondern um den aufrichtigen Willen" geht, „aufzuhö- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Gestatten ren, dies immer wieder vorzuwerfen; denn dadurch Sie mir zunächst einige Bemerkungen zu dem, was wird echter Heroismus der Verzeihung und wahrer Sie, Herr Modrow, gesagt haben. Ich will Ihnen nicht Versöhnung verhindert" . Der Bischof fuhr fort, daß es die Ehre antun und meine kostbare Redezeit vergeu- nicht einfach ist, „eine Brücke zu bauen vom vorwer- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991 3263

Hartmut Koschyk fenden zum verzeihenden Gedenken, vom schmerzli- dort haben mich und Frau Kollegin Steinbach gebe- chen zum großherzigen Gedenken". ten, dem Herrn Bundeskanzler zu übermitteln, daß er weiterhin ihr Vertrauen hat. Sie haben ihn gebeten, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wenn er es ermöglichen kann, bei seinem nächsten Für die Jugend in beiden Völkern, die von persön- offiziellen Besuch in Polen auch sie in Oberschlesien licher Betroffenheit erfahrenen Unrechts und Leids zu besuchen. Und wenn an diesem Wochenende der frei ist, ist dieser Brückenbau leichter. So sehr es rich- Vorsitzende der CSU-Landesgruppe nach Warschau tig ist, bei der deutsch-polnischen Zukunftsgestaltung reisen wird, dann ist es für Wolfgang Bötsch selbstver- auf die junge Generation zu setzen, um so weniger ständlich, daß er vorher nach Breslau und Oppeln können und dürfen wir darauf verzichten, die von Leid gehen wird, um sich dort auch die Sorgen und Anlie- und Unrecht betroffenen Generationen in beiden Völ- gen unserer deutschen Landsleute anzuhören. kern für diesen Brückenbau im Sinne der Worte von (Beifall bei der CDU/CSU) Bischof Nossol zu gewinnen. Wir begrüßen es sehr, daß es bereits zu einer inten- (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der siven Zusammenarbeit der Vertriebenen mit den in SPD) ihrer Heimat lebenden Deutschen, aber auch — was Deshalb war es so wichtig, daß im Vorfeld der für uns genauso wichtig ist — mit ihren polnischen deutsch-polnischen Verträge, aber auch des deutsch- Mitbürgern gekommen ist. Und der Bundeskanzler tschechoslowakischen Nachbarschaftsvertrages der hatte recht, wenn er in seiner Regierungserklärung im Bundeskanzler persönlich und Mitglieder seiner Re- Januar davon gesprochen hat, daß die Öffnung unse- gierung soviel Mühe darauf verwandt haben, bei den rer östlichen Nachbarn für Europa auch das Verständ- betroffenen Heimatvertriebenen auf unserer Seite um nis für das unverlierbare historische, kulturelle Erbe Verständnis für die Politik der Bundesregierung zu hat wachsen lassen, das Deutsche dort in mehreren bitten und zu werben. Jahrhunderten aufgebaut haben. Wir spüren auch in Polen, daß man sich dort jetzt für dieses unverlierbare Herr Kollege Koschnick und Fast-Namensvetter, kulturelle und historische Erbe mitverantwortlich Sie haben vorhin einen zeitgeschichtlichen Rekurs fühlt und daß man es mit uns gemeinsam erforschen, vorgenommen. Auch ich möchte das kurz tun. pflegen und erhalten will. Gerade gemeinsame Pro- Zur Zeit der damals neuen deutschen Ostpolitik hat jekte auf historisch-kulturellem Gebiet können einen es diese Rücksichtnahme und den Versuch der Ein- sehr wichtigen und entscheidenden Beitrag für die bindung der Vertriebenen nicht in dem Ausmaß ge- Verständigung leisten. Denn nur mit der wachsenden geben, wie das der deutsche Bundeskanzler vor die- Kenntnis von kulturellen und historischen Zusam- sen schwierigen Verträgen versucht hat. Und weil Sie menhängen, die wir ja gerade im deutsch-polnischen die Leistungen der damaligen sozial-liberalen Koali- Verhältnis so umfassend haben, werden auch das ge- tion als Voraussetzung für die heutige Politik sehr genseitige Verständnis und echte Verständigung stark herausgestellt haben, möchte ich noch eines sa- wachsen. gen: Sie sind damals in Ihrer Polen-Politik ein Stück zu Wir nehmen erfreut zur Kenntnis, daß viele Vertrie- kurz gesprungen. Sie als Sozialdemokraten haben in bene, vor allem kulturelle und wissenschaftliche Ein- Polen in bezug auf Ihre Gesprächspartner sehr lange richtungen der Vertriebenen, mit einer Verständi- auf die falschen Pferde gesetzt. Daß Sie jetzt mit den gung von unten längst begonnen haben. Es gibt ge- richtigen Leuten sprechen und Ihren wichtigen Bei- meinsame Ausstellungen, Tagungen, Begegnungen trag für die Entwicklung hin zu einer stabilen Demo- aller Art, auch von Kulturschaffenden und Wissen- kratie in Polen leisten, begrüßen wir. schaftlern. Längst werden Heimatkreise der Vertrie- (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der benen in ihren schlesischen, ostpreußischen und pom- SPD: Geschichtsklitterung! — Gegenruf des merschen Heimatstädten, in den Rathäusern und Kir- Abg. Friedrich Bohl [CDU/CSU]: Nein, das chen offiziell empfangen, und es nehmen offizielle ist die Wahrheit!) Vertreter aus Polen an Vertriebenentreffen in der Bundesrepublik Deutschland teil. Aus den Paten- Das gilt auch für die dort lebenden Deutschen, Herr schaften von Städten, Kreisen und Gemeinden der Koschnick. Sie waren für viele in Ihren Reihen lange Bundesrepublik Deutschland für die Heimatstädte, ein Tabu. Sie waren dann für viele von Ihnen ein Stein -kreise und -gemeinden von Vertriebenen entwickeln des Anstoßes. Ich freue mich aber, daß Sie jetzt begin- sich — durch den Anstoß von Vertriebenen und durch nen, die Deutschen dort mit Ihrem Herzen zu entdek- ihr Engagement — zunehmend deutsch-polnische ken. kommunale Partnerschaften. Es sind dann wieder die (Beifall bei der CDU/CSU) Vertriebenen, die dann die Hilfe für dort organisieren: Unsere Fraktion wird für eine intensive Einbezie- für Krankenhäuser, Alten- und Kinderheime und für hung der Vertriebenen und der Deutschen in der Re- den Aufbau kommunaler Selbstverwaltung. publik Polen in die Ausgestaltung des Nachbar- (Beifall bei der CDU/CSU) schaftsvertrages Sorge tragen. Dem diente eine Anhö- rung unserer Fraktion zu diesem Thema. Dabei konn- Auch auf polnischer Seite gibt es zahlreiche positive ten wir uns erneut davon überzeugen, welch ein- Beispiele einer praktischen Verständigung von unten, drucksvolles Engagement gerade die Vertriebenen etwa derart, daß über 30 polnische Priester aus ober- bei der Betreuung der heute dort lebenden Deutschen schlesischen Gemeinden in diesem Sommer in der leisten. Dem diente ein Besuch der Kollegin Stein- Bundesrepublik geweilt haben, um als Polen die deut- bach-Hermann und mir in der vergangenen Woche in sche Sprache zu erlernen, um ihren deutschsprachi- Schlesien. Die Vertreter der deutschen Minderheit gen Gemeindemitgliedern deutsche Gottesdienste 3264 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991

Hartmut Koschyk und deutschsprachige Seelsorge anbieten zu kön- wurden entwurzelt, nicht nur im materiellen Sinne nen. — und ich stimme zu: auch im materiellen Sinne gibt (Karl Lamers [CDU/CSU]: Sehr gut!) es noch offene Fragen — , sondern auch besonders im geistigen Sinn. Deshalb wird es so wichtig sein, Deut- Ich meine — dazu wird bei den Haushaltsverhandlun- schen und Polen, die dieses Schicksal miteinander gen Gelegenheit bestehen müssen —, wir sollten ge- verbindet, Heimat wieder erfahrbar zu machen; nicht rade derartige, auf Verständigung, Begegnung, Aus- nur geistig abstrakt, sondern durch Leben und Erle- tausch angelegte Projekte finanziell unterstützen. ben vor Ort, ungehindert durch Grenzen jeder Art, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) unbedroht von Intoleranz oder gar von Unterdrük- kung der Identität, Sprache, Kultur, aber auch der Ich möchte an einem Tag wie dem heutigen eine wirtschaftlichen Entscheidungs- und Gestaltungsfrei- polnische Persönlichkeit würdigen, die nicht so sehr heit. im Rampenlicht der Entwicklung der deutsch-polni- schen Beziehungen der letzten Jahre stand, aber viel Ich möchte schließen mit einem Wort des Ostpreu- dafür getan hat, nämlich Senator Jan Joszef Lipski, ßen , was Heimat für den Menschen der in Polen zum Unrecht der Vertreibung, aber auch bedeutet: „Heimat" — so Siegfried Lenz — „das ist zur deutschen Geschichte und Kultur Schlesiens, Ost- für mich nicht allein der Ort, an dem die Toten liegen! preußens, Pommerns Bemerkenswertes zu einer Zeit Es ist der Winkel vielfältiger Geborgenheit, es ist der gesagt hat, als dies in Polen noch Gefahr für Leib und Platz, an dem man aufgehoben ist, in der Sprache, im Leben bedeutete. Und wenn heute der polnische Bot- Gefühl, ja selbst im Schweigen aufgehoben ist, und es schafter in der Bundesrepublik Deutschland, Janusz ist der Flecken, an dem man wiedererkannt wird; und Reiter, sagt: „Die Steine in Breslau sprechen auch das möchte doch wohl jeder eines Tages: wiederer- deutsch, und sie haben sehr viel auf deutsch zu be- kannt, und das heißt: aufgenommen werden! " richten, sehr viel", so zeigt dies, daß unsere Beziehun- (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU, der gen wirklich vor einer neuen Qualität stehen. FDP und dem Bündnis 90/GRÜNE) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Für diese Weiterentwicklung der Qualität steht der Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort Nachbarschaftsvertrag. Er ist nicht Endpunkt, son- hat der Abgeordnete Meckel. dern Anfang einer Entwicklung. Er ist nicht der eng begrenzende Rahmen des Bildes der deutsch-polni- Markus Meckel (SPD): Herr Präsident! Verehrte Da- schen Nachbarschaft, sondern er ist das Handwerks- men und Herren! An diesem Vormittag wird in Frank- zeug für die Maler dieses Bildes, an denen es jetzt furt/Oder die Europa-Universität eröffnet, an der liegen wird, die Farben richtig zu mischen und die Deutsche und Polen, europäische und außereuropäi- Pinselstriche richtig zu setzen. sche Studenten gemeinsam werden studieren kön- Und es ist doch sehr bemerkenswert — darauf nen. Polen hat an diesem Projekt großes Interesse und wurde heute viel hingewiesen — : Noch ehe dieses will daran mitarbeiten. In Brüssel wird heute erwartet, Bild der Nachbarschaft vollendet ist, beginnt dieser daß es im Ministerrat bei den Abstimmungen zu den Vertrag bereits Vorlage für andere wichtige Verträge Assoziierungsverträgen der EG mit Polen, der Tsche- wie den deutsch-tschechisch-slowakischen Nachbar- choslowakei und Ungarn zu wichtigen Fortschritten schaftsvertrag zu sein. Herr Koschnick, Sie haben kommt. Beides zeigt: Das, was hier heute zur Debatte recht: Er ist Vorlage auch für Verträge, die Polen jetzt steht, ist keine bloße Theorie, sondern ein sich schon mit Weißrußland, der Ukraine und Litauen schließen vollziehender Prozeß, und darüber können wir froh wird. sein. (Beifall bei der FPD) Ich meine, der Nachbarschaftsvertrag bietet ein Beispiel, wie man große Belastungen und Verkram- Es hat lange gedauert, bis wir diese Verträge hier pfungen der Vergangenheit für heute und in Zukunft vorgelegt bekamen und nun verhandeln können. Was durch einen verbindlichen und — das ist sehr wich- den Vertrag über gute Nachbarschaft bet rifft, Herr tig — auf die europäische Dynamik angelegten Min- Bundeskanzler, so ist es unangemessen, dies den derheitenschutz lösen kann, aber auch durch umfas- wechselnden Regierungen Polens zuzuschreiben, wie sende grenzüberschreitende Zusammenarbeit, vor Sie es vorgestern getan haben. Die Optionen Polens allem in geschichtlich belasteten Grenzregionen. haben sich in dieser Zeit nicht verändert. Wir hatten es Diese grenzüberschreitende Zusammenarbeit darf die ganze Zeit mit demselben erfahrenen Außenmini- sich nicht nur auf Wirtschaft, Verkehr, Technik und ster Skubiszewski zu tun. Dagegen ist uns das Hin und Umwelt erstrecken, sondern sie ist gerade im kulturel- Her in den Regierungsfraktionen noch gut im Ge- len und historischen Bereich so wichtig. Besonders dächtnis. dadurch — das sollten wir sehen — kommt sie dem In der Frage der Grenze war es im letzten Jahr dem Menschen innewohnenden Wunsch nach, sich manchmal belastend, wie von Ihrer Seite aus inner- mit seiner näheren Umgebung zu identifizieren und parteilichen und wahltaktischen Gründen das auch im historischen, aber auch im gegenwärtigen Sinn von Ihnen als notwendig Erkannte behindert und ver- Heimat erfahren zu können. zögert wurde. Kriege und Vertreibungen habe über Deutsche und (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ Polen in diesem Jahrhundert unendlich viel Leid ge- CSU]: Also das ist doch Unfug!) bracht und für Millionen von Menschen auf beiden Im Juli letzten Jahres beim dritten Außenminister- Seiten zum Verlust der Heimat geführt. Menschen treffen von Zwei plus Vier in Paris hat die Bundesre- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991 3265

Markus Meckel gierung im letzten Augenblick zugestimmt, daß mer ist sehr deutlich geworden, daß viele Polen, vor Grenz- und Nachbarschaftsvertrag unterschieden allem dort, wo sie mit Deutschen zusammenwohnen, werden und erst der Grenzvertrag — und hier zitiere wie in Oberschlesien, dieses Zusammenleben und die ich — „innerhalb der kürzestmöglichen Zeit nach der daraus erwachsenden Kontakte nach Deutschland als Vereinigung ... unterzeichnet und dem gesamtdeut- eine Chance und einen Gewinn für ihr Land anse- schen Parlament zugeleitet wird". So die Erklärung hen. von Herrn Genscher und mir in Pa ris. Genau das aber Ebenso wächst bei der deutschen Minderheit selber war den Polen verständlicherweise sehr wichtig. die Erkenntnis, daß ihr Wohl von der Entwicklung Sie, Herr Kanzler, haben das später in Frage gestellt Polens insgesamt abhängt. Sie ist zunehmend bereit, und im November im Gespräch mit Ministerpräsident in Polen Verantwortung zu übernehmen, d. h. dann Mazowiecki diese Zusage von Paris faktisch zurück- faktisch für Deutsche und Polen gemeinsam in den genommen. Deshalb wird über den Grenzvertrag ent- Städten, Dörfern und Regionen, in denen sie gewählt gegen der Pariser Erklärung erst jetzt und mit dem sind. Nachbarschaftsvertrag gemeinsam abgestimmt, ob - Vertreter der deutschen Minderheit werden wahr- wohl er schon seit zehn Monaten fertig ist. scheinlich auch dem neuen demokratisch gewählten Jetzt aber sind wir glücklicherweise soweit und ha- Sejm angehören und dort natürlich Verantwortung für ben Verträge vor uns, die wir nur begrüßen können, die Entwicklung des ganzen Landes tragen. Wir hal- sind sie doch der Abschluß eines langen Prozesses, ten das für wichtig und unterstützen es. der mit der Denkschrift der EKD und dem erwähnten Dabei wollen wir Sozialdemokraten verstärkt den Briefwechsel der Bischöfe Polens und Deutschlands Kontakt auch zu der deutschen Minderheit in Polen seine Vorboten und dem Kniefall Willy Brandts in suchen. Sie braucht Kontakte zum gesamten politi- Warschau seinen Anfang hatte. schen und gesellschaftlichen Spektrum in Deutsch- Wir aus der DDR, die über Jahrzehnte per Staats- land. Auch die deutsche Finanzhilfe sollte sie künftig doktrin offizielle Freunde Polens waren, zugleich aber auf vielerlei Wegen über das Auswärtige Amt errei- wohlabgeschirmt von Einflüssen aus dem Nachbar- chen. land, besonders nachdem Solidarnosc entstanden Gewiß gibt es bei den Deutschen in Polen noch war, waren von der eigenen Geschichte und der dar- manches Mißtrauen. Die Vertreibung der Deutschen aus erwachsenden Verantwortung abgeschnitten. nach 1945, die Nichtanerkennung als deutsche Min- Mit der Erklärung der Volkskammer nach der derheit und manch andere schlimmen Erfahrungen in freien Wahl im März 1990 stellten wir uns bewußt in der Vergangenheit mit dem stalinistischen Staat in diese belastete deutsche Geschichte und gleichzeitig Polen sind noch nicht verarbeitet. Manchmal ist das in die Versöhnungsgeschichte, die mit Willy Brandts innere Bewußtsein noch nicht gewachsen, daß Polen Namen verbunden ist, und erklärten u. a. die deutsch- jetzt demokratisch ist und daß in der kurzen Zeit der polnische Grenze an Oder und Neiße für unverletz- Demokratie der deutschen Minderheit schon unge- lich. Auch das war ein Markstein auf dem Weg zu heure Veränderungen zugewachsen sind. diesen Verträgen. Unsere ganz besondere Aufmerksamkeit und För- Nach der deutschen Vereinigung und mit diesen derung müssen wir auf die Region beiderseitig der Verträgen ist im deutsch-polnischen Verhältnis nun Grenze lenken. Staatliche Planungen aller politischen fast alles neu zu gestalten. Ebenen dürfen an dieser Grenze nicht aufhören. Raumordnungs- und Verkehrsplanungen und Um- An der für alle Zeiten anerkannten deutsch-polni- weltschutzaufgaben sollten stets in Kooperation mit schen Nachkriegsgrenze an Oder und Neiße begeg- dem polnischen Nachbarn durchgeführt werden. nen sich zwei demokratische Staaten. Das ist neu. Gerade angesichts der Erfahrungen der letzten Jahr- Die schwierige Geschichte dieser Grenze muß zehnte ist deutlich, daß wirklich gute Nachbarschaft durch die Förderung vielfältiger Kontakte und Zusam- nur zwischen demokratischen Staaten gedeiht, da nur menarbeit über die Grenze hinweg überwunden wer- hier freie, vielfältige und vertrauensvolle Beziehun- den. gen zwischen den Menschen möglich sind. (Hans Koschnick [SPD]: Sehr wahr!) (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Das darf nicht nur Sache der Kommunen bleiben und GRÜNE sowie bei Abgeordneten der CDU/ nicht nur von ihnen finanziert werden müssen. Man- CSU und der FDP) ches geschieht hier schon auf allen Ebenen. Doch muß es weiter ausgebaut und stabilisiert werden. Lange Zeit waren die Beziehungen zwischen Deutschland und Polen von der Frage der deutschen Wir brauchen an dieser deutschen Grenze, die Minderheit belastet. Mit dem Nachbarschaftsvertrag heute noch gleichzeitig die Grenze der EG ist, die hat Polen jedoch eine Vorreiterrolle übernommen, in- gezielte wirtschaftliche Förderung durch den Bund dem es erstmals die KSZE-Aussagen zu Minderhei- und die Europäische Gemeinschaft. Eine solche För- tenfragen in einem zwischenstaatlich und völker- derung sollte auch Bestandteil der Assoziierungsver- rechtlich bindenden Vertrag für sich festgelegt hat. träge mit Polen und der Tschechoslowakei sein, die, Damit kann es ein Beispiel für andere Staaten in Ost-, wie der Vertrag mit Ungarn, bald verabschiedet We- und, wie ich denke, auch Westeuropa sein. den sollten. Schon seit Antritt der Regierung Mazowiecki än- Die Länder brauchen unsere Hilfe, d. h. sowohl das derte sich für die deutsche Minderheit viel. Bei mei- Geld als auch unser Know-how, ständige Kontakte nen Reisen nach Polen in diesem Frühjahr und Som- und Beratungen für die Umgestaltung im Lande und 3266 Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991

Markus Meckel die Ausbildung der Menschen. Alle Hilfe aber geht ins Insofern kann ich auch nicht der Wertung zustim- Leere, wenn vorhandene Produktionskapazitäten ru- men, der Abschluß des Grenzvertrages sei der Preis iniert werden, weil selbst konkurrenzfähige Waren für die Einheit, wie es gelegentlich gesagt worden ist. keinen Absatz finden. So brauchen sie eben unsere Es ist zwar richtig, daß auch nicht ein einziger in der Märkte, die wir durch den Protektionismus der EG Welt der deutschen Vereinigung zugestimmt hätte, nicht verschließen dürfen. wären wir nicht bereit gewesen, die jetzige Grenze als Trotz aller Schwierigkeiten, die das für die EG und endgültig anzuerkennen. Der Preis aber war längst natürlich auch für uns bedeutet, ist daher eine Markt- bezahlt, ehe die Einheit auch nur denkbar erschien. Es öffnung auch für landwirtschaftliche Güter sowie Tex- war der bittere Preis für den Tod und die schreckli- til- und Stahlprodukte von absoluter Notwendigkeit chen Leiden, die Nazi-Deutschland Millionen und für diese Länder. aber Millionen von Menschen zugefügt hatte. Künftige Hilfen für die Sowjetunion und andere be- Heute kommt es darauf an, meine Kollegen, in die nachbarte Republiken sollten nicht nur aus dem eige- Zukunft zu schauen. Die Verträge sind ein guter Rah- nen EG-Überschuß kommen, sondern auch durch ge- men für den Ausbau freundschaftlicher, nachbar- stützte Kredite an die jeweiligen Länder für Waren schaftlicher Beziehungen. Es kommt jetzt darauf an, z. B. aus Polen abgedeckt werden. Das schafft Ver- das in die Praxis umzusetzen, aus Paragraphen Leben trauen in eine funktionierende, nicht durch Protektio- zu machen. nismus verzerrte Marktwirtschaft, die ja gerade ge- (Beifall bei der FDP) lernt werden will. Ich glaube, wir dürfen nicht dabei stehenbleiben, Meine Damen und Herren, der erste Vertrag der lediglich die Verträge auszufüllen. Polen lebt, wie wir Bundesrepublik Deutschland mit Polen mußte vor alle wissen, wie die anderen jungen Demokratien in 21 Jahren noch gegen den heftigen Widerstand eines Mittel- und Osteuropa in einer außerordentlich großen Teils dieses Hauses erkämpft werden. Heute schwierigen Zeit. Die katastrophalen Folgen von hingegen finden die deutsch-polnischen Verträge ei- 40 Jahren sozialistischer Zwangswirtschaft müssen im nen breiten politischen Konsens. Daraus erwächst wirtschaftlichen und im menschlichen Bereich über- meine Hoffnung, daß diese Verständigung alle gesell- wunden werden. Auch gibt es eine tiefe Besorgnis in schaftlichen Bereiche des Lebens erfaßt und damit zu diesen Ländern über die eigene Sicherheitslage. Es ist einer umfassenden Aussöhnung zwischen beiden ganz logisch, daß man auf uns schaut, auf uns Deut- Völkern führt. sche, aber auch auf uns Europäer in der EG, und Ich danke Ihnen. erwartet, daß wir helfen. Ich nehme mit Freude zur (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP Kenntnis, daß die Assoziierungsverhandlungen mit und dem Bündnis 90/GRÜNE) diesen Ländern jetzt beschleunigt werden sollen. Ich bin auch froh darüber, daß in diesen Assoziierungs- verträgen dann ausdrücklich die Perspektive für den Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun späteren Erwerb der Vollmitgliedschaft in der EG er- spricht der Abgeordnete Ulrich Irmer. öffnet werden soll. Aber ich habe meine Zweifel, ob dies alles schon ausreicht.

Ulrich Irmer (FDP): Herr Präsident! Meine verehrten Der Bundeskanzler hat vorher völlig zu Recht ge- Kolleginnen und Kollegen! Heute ist ein besonderer sagt: Wer schnell hilft, hilft doppelt. Ich möchte hin- Tag: Das deutsche Parlament nimmt die Beratungen zufügen: Wer richtig hilft, hilft doppelt. über die Verträge auf, die die Beziehungen zwischen Da stimme ich dem Kollegen Meckel ausdrücklich Polen und Deutschen auf eine neue Grundlage stellen zu: Was ist das denn eigentlich, wenn wir in der EG sollen. Wir sind uns bewußt, daß nicht wenige unserer sagen: Ja, wir helfen zwar, aber die Produkte, die Mitbürger an diesem Tag auch Schmerz empfinden. diese Länder haben, dürfen sie bei uns nicht verkau- Wir sollten darüber nicht leicht hinweggehen. Die fen. Ich weiß, daß solche Äußerungen Verdruß schaf- Vertriebenen und Füchtlinge, die in den ehemaligen fen. Die Branchen, die hier betroffen sind, Landwirt- deutschen Ostgebieten ihre Heimat hatten, sind durch schaft, Textil, Kohle und Stahl, sind auch bei uns Pro- die Folgen von Hitlers Krieg besonders schwer ge- blembranchen; ich weiß es. Aber ist es nicht irgend- troffen. Hierfür verdienen sie Verständnis und Mitge- wie aberwitzig, Produkte von Ländern nicht abzuneh- fühl. men, die dringend auf die Erlöse aus diesen Produk- Ich habe allerdings kein Verständnis für die weni- ten angewiesen sind? Ich meine, da ist ein Umdenken gen — ich betone, es sind wenige; ihre Menge verhält bei uns, vor allem bei unseren Partnern in der EG, sich umgekehrt proportional zu ihrer Lautstärke —, angebracht. Ich bitte die Bundesregierung ausdrück- die mit Sprüchen wie „Verzicht ist Verrat" die Ge- lich, daß sie bei den EG-Partnern gegenüber in den schichte fälschen. Sie wollen nämlich dadurch den Verhandlungen in Brüssel und anderswo darauf hin- Eindruck erwecken, als sei es unser demokratischer wirkt, daß man hier für die wirklichen Bedürfnisse Staat, der für den Verlust der Ostgebiete verantwort- Polens, der Tschechoslowakei, Ungarns und all der lich sei. anderen offener wird. (Beifall bei der FDP und der SPD) (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD Verantwortlich für den Verlust der Ostgebiete ist der und dem Bündnis 90/GRÜNE) Hitler-Krieg. Der Verlust der Ostgebiete ist eine logi- Meine lieben Kollegen, ich möchte noch eine Anre- sche Folge dieser Aggression damals. gung geben. Wir wissen, daß der Erwerb der Vollmit- (Beifall bei der FDP und der SPD) gliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft be- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991 3267

Ulrich Irmer stimmte wirtschaftliche Voraussetzungen erfordert, Herr Präsident, meine lieben Kollegen, mit Recht ist die, sagen wir einmal, in den nächsten fünf Jahren die Regelung des Minderheitenstatus in den Verträ- nicht zu erwarten sind. Das ist völlig klar. Aber genügt gen gewürdigt worden. Wir alle wissen — die Ereig- es dann, zu sagen: Aber wenn die mal soweit sind, nisse in Jugoslawien zeigen es besonders deutlich —, dann sind sie in unserem Klub willkommen, und bis daß das Problem nationaler Minderheiten eines der dahin assoziieren wir uns zwar, aber sonst geschieht zentralen Probleme europäischer Politik überhaupt nichts. Ich meine, das reicht nicht aus. Wir müßten ist. Ich freue mich darüber, daß es gelungen ist, in dem etwas Phantasie darauf verwenden, was wir denn deutsch-polnischen Vertrag hierfür eine wirklich zu- sonst tun könnten. kunftsweisende Regelung zu finden. Wir brauchen dann natürlich darüber hinaus ein europäisches Ab- Ich bin natürlich nicht für ein Europa à la carte, wo kommen, das für alle verbindlich ist; denn überstei- sich jeder das für ihn Passende aussucht und das weg- gerte Nationalismen und das Auseinanderbrechen läßt, was ihm gerade nicht behagt oder was er im von Staaten mit dem Ergebnis von Ministaaten, die Augenblick noch nicht bringen kann. Balkanisierung Europas, kann wohl nicht die Lösung Zumindest in einem Bereich könnten wir die Tür zu sein. Eine solche Entwicklung läßt sich aber nur ver- unseren östlichen Nachbarn aber schon weiter aufrei- hindern, wenn ein verbindliches Minderheitenrecht ßen, als das bisher vorgesehen ist. Es gibt nämlich die geschaffen wird, das dafür sorgt, daß sich nationale Europäische Politische Zusammenarbeit. Wer sagt Minderheiten da wohlfühlen und entfalten können, denn eigentlich, daß sie da nicht schon hinzugezogen wo sie leben. werden könnten, wer sagt denn, daß sie dort nicht mit Ich möchte abschließend danken, und zwar dem am Tisch sitzen sollten? polnischen Volk, das durch seinen Mut und durch sei- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD nen Freiheits- und Reformwillen so viel dazu beigetra- gen hat, die schier unglaublichen Veränderungen in und dem Bündnis 90/GRÜNE) Europa herbeizuführen, die wir erleben durften. Ich Gerade die dramatischen Ereignisse in der Sowjet- möchte danken der großen Mehrheit der Heimatver- union, die wir in diesen Wochen erlebt haben, haben triebenen und Flüchtlinge, die trotz allem Schmerz die Sicherheitsfrage in den Ländern zwischen dem, erkannt hat, daß nur Versöhnung den Weg in eine was die Sowjetunion war, und der EG völlig neu auf- friedliche Zukunft eröffnet. Dank sagen möchte ich geworfen. Die Leute haben dort Angst gehabt; man auch dieser Bundesregierung, insbesondere dem konnte es spüren. Ich war in den Tagen gerade in Bundesaußenminister — er ist übrigens aus bekann- Prag. Sie brauchen es, daß wir ihnen die Hand entge- tem Anlaß auf dem Weg nach Brüssel, und deshalb genstrecken und sagen: Ihr müßt nicht erst nach Eu- kann er hier nicht mehr anwesend sein —, der beharr- ropa gehen, ihr seid längst da. Wir wissen und akzep- lich und unbeirrt über die Jahrzehnte hinweg zur tieren das, und wir sind bereit, die Konsequenzen dar- rechten Zeit das Richtige gesagt und getan hat, um aus zu ziehen. unser Verhältnis zu Polen in Ordnung zu bringen. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem Ich wünsche mir, daß nach leid- und schuldvoller Bündnis 90/GRÜNE) Vergangenheit jetzt Freundschaft wird zwischen Po- len und Deutschen. Die EG heißt — ich hoffe bewußt — nicht westeuro- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD päische Gemeinschaft, sondern sie heißt Europäische und dem Bündnis 90/GRÜNE) Gemeinschaft. Diese anderen europäischen Länder müssen durch Taten und nicht nur durch Bekennt- nisse das Gefühl einer ganz selbstverständlichen Zu- Das Wort gehörigkeit und damit auch das Gefühl größerer Si- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: hat die Abgeordnete Frau Terborg. cherheit bekommen. Dadurch könnten wir ihnen den Weg zur Vollmitgliedschaft in der Europäischen Ge- meinschaft ein gutes Stück weiter ebnen. Margitta Terborg (SPD): Herr Präsident! Meine Da- Lassen Sie mich noch ein Wort zu dem Thema der men und Herren! Die beiden Abkommen, über die wir Entschädigung für Zwangsarbeiter sagen. Das ist ein ab heute entscheiden, markieren ein wichtiges Datum sehr trauriges Kapitel. Wir haben uns in diesem Hause in der wechselvollen und leidvollen deutsch -polni- in anderem Zusammenhang schon des öfteren damit schen Geschichte. Für mich ist das ein historisches befaßt. Datum. Ich scheue mich nicht, dieses in den letzten Monaten so oft gebrauchte und mißbrauchte Wort zu Die Bundesregierung hat mir zugesagt, daß hierfür benutzen. eine anständige, vernünftige, großzügige Lösung ge- troffen wird. Ich möchte die Bundesregierung gern Von heute an werden beide Völker auf eine unver- beim Wort nehmen. Ich möchte auch den Gedanken krampftere Art miteinander umgehen können. Die aufgreifen, daß eigentlich nicht einzusehen ist, daß Grenzfrage, die uns über so viele Jahre den Zugang die vorgesehene Stiftung nur aus öffentlichen Töpfen zueinander versperrte, ist entschieden; sie ist endgül- gespeist wird. Warum sollten eigentlich nicht auch die tig entschieden. Dabei ist es im Grunde völlig uner- Firmen oder ihre Rechtsnachfolger, die seinerzeit ja heblich, ob wir diese Zäsur mit mißverständlichen Zu- von diesen Greueln mit profitiert haben, zur Kasse satzerklärungen — der Antrag der Regierungskoali- gebeten werden? Das wäre nur recht und billig. tion ist so eine — garnieren oder nicht. Ich denke, wir sollten den Blick nach vorn richten auf einen Weg, den (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei wir Sozialdemokraten mit unserem Entschließungs- Abgeordneten der CDU/CSU) entwurf vorzeigen. 3268 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991

Margitta Terborg Der heutige Tag beschließt ein Kapitel in der Ge- herausgearbeitet worden. Einer zusätzlichen Inter- schichte beider Länder und eröffnet ein neues Kapitel, pretation, wie die Koalition das in ihrer Entschließung eröffnet eine Zeit, die von uns allen viel verlangt, versucht, bedarf es nicht. Viel wichtiger ist, wie wir damit das Zusammenspiel beider Völker im europäi- das kulturelle Leben der deutschsprachigen Minder- schen Maßstab Wirklichkeit werden kann. heit unterstützen können. Dazu wird man nicht not- Dabei können wir es uns nicht so einfach machen wendigerweise neue Mittel aufbringen müssen; man wie die Außenminister Frankreichs, Polens und der muß die vorhandenen, so scheint es mir, gezielter ein- Bundesrepublik mit ihrer Weimarer Erklärung; denn setzen. — das sage ich Ihnen — das Miteinander in Europa Um es konkret zu machen: Es kommt nicht darauf muß mit mehr als nur mit hehren Postulaten und wohl- an, Subventionstöpfe der Vertriebenenverbände glo- feilen Absichtserklärungen erfüllt sein. bal zu bedienen. Vielmehr kommt es darauf an, unse- Ich will einige nennen: Ein Europa der offenen ren Generalkonsulaten mehr Handlungsspielraum für Grenzen — das wollen wir doch alle — wirft auch das eine Förderung vor Ort einzuräumen. Problem der Wanderungsbewegungen aus den ver- Ich erlaube mir die persönliche Bemerkung, daß ein armten Ländern Osteuropas in die Weststaaten auf. Deutschlehrer, eine deutschsprechende Kindergärt- Das ist nicht nur ein deutsch-polnisches Problem: Es nerin bessere Botschafter deutscher Kultur in Polen tangiert die Sowjetunion im Umbruch; es tangiert das sein können als etwa ein Funktionär der Landsmann- zerbröckelnde Jugoslawien; es tangiert Albanien, Ru- schaft der Schlesier, mänien und andere Staaten. (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Oh!) Den Eisernen Vorhang, der Gott sei Dank gefallen ist, können wir nicht durch einen papierenen aus Rei- dem der heutige Grenzvertrag nach wie vor wie purer sedokumenten und Visastempeln ersetzen. Verlangt Verrat an der deutschen Sache vorkommt. Die erste- ist eine Kanalisierung der Wanderungsbewegungen ren, denke ich, sollten wir fördern, den letztgenannten durch bilaterale — besser noch: durch multilaterale — allenfalls bedauern. Vereinbarungen über ein neues Statut für Wander ar- (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Der reist beitnehmer in Europa. Diese Abkommen müssen ei- doch auf eigene Kosten!) nen zeitlich befristeten, sicher auch zahlenmäßig kon- tingentierten Zugang zu westlichen Arbeitsmärkten Ich glaube, es ist keine Vermessenheit, wenn wir eröffnen, und sie müssen dabei tarifliche und gesell- auf die Menschen in beiden Ländern setzen, für die schaftliche Mindeststandards enthalten. die unglückliche Vergangenheit der Polen und der Auf Polen bezogen wird dieser Transfer nicht zu- Deutschen Geschichte ist und Anlaß zugleich, es letzt über die polnische und die deutsche Arbeitsver- künftig besser zu machen. Ganz sicher ist es uns als waltung gesteuert werden müssen. Ich gebe zu: Das Deutschen verwehrt, aus der Geschichte auszustei- ist vorerst eine Notlösung; dennoch muß sie schnell gen. gefunden werden. Weil das so ist, werden wir uns auch um das Schick- Wichtiger noch ist der Aufbau lebensfähiger markt- sal der polnischen Zwangsarbeiter im Hitler- wirtschaftlich orientierter Volkswirtschaften in Mit- Deutschland nicht länger herumschwindeln können. Es ist bezeichnend, daß unsere Aufforderung an die tel - und Osteuropa, ist die Neuorganisierung des Mit- einander im gesamteuropäischen Wirtschaftsraum, ist Bundesregierung, dieser Personengruppe materielle die zügige Erweiterung der Gemeinschaft. Hilfe anzubieten, im Koalitionstext nicht erscheint. Eine Wiedergutmachung ist dieser Personengruppe Ich kann gut verstehen, wenn Polen bei diesem Pro- bis heute vorenthalten worden. Ich finde, das ist pein- zeß Unterstützung und Hilfe von seinen großen west- lich und unverantwortlich zugleich. Diesen Teil der lichen Nachbarn erwartet. Ebenso selbstverständlich Geschichte haben wir zu bereinigen, und zwar als ist es, daß dies nicht allein eine deutsch-polnische Staat und als Wirtschaft, die seinerzeit aus der Angelegenheit ist, sondern eine Forderung an alle Zwangsarbeit erhebliche wirtschaftliche Vorteile ge- westlichen Industriestaaten. Schritte, die wir jetzt zu zogen hat. Alle, die die Geschichte vergessen oder tun haben, sind im Vertrag über gute Nachbarschaft verdrängen wollen, werden letztlich von ihr eingeholt. und freundschaftliche Zusammenarbeit vorgezeich- Auch für uns gibt es keine Ausnahme. Deshalb denke net. In unserer Entschließung erinnern wir daran. ich, daß wir hier nachbessern müssen. Ich appelliere

Schon bei der Dimensionierung des deutsch -polni- an die Koalition, die künftige gute Nachbarschaft schen Jugendwerkes wird man auch den Austausch nicht mit einer Leiche im Keller beginnen zu wollen. junger Arbeitnehmer einschließen müssen. Einander Ich hoffe deshalb sehr, daß die hier heute gemachte begegnen, voneinander lernen muß auch heißen, daß Ankündigung des Bundeskanzlers bald in die Tat um- es zu einem Transfer des wirtschaftlich-technischen gesetzt wird. Arbeitnehmer-Know-how kommt. Ich denke, in der Lassen Sie mich ein letztes sagen, und ich meine das ferneren Perspektive muß dieses deutsch-polnische sehr ernst: Nach wie vor habe ich die große Sorge, was Jugendwerk in ein gesamteuropäisches münden und wohl geschieht, wenn noch auf Jahre hinaus das Er- für die jungen Menschen in allen Staaten Europas lebnis Demokratie für die Polen und für viele andere eine neue Perspektive bieten. Mittel- und Osteuropäer einhergeht mit einer Absen- In den Art. 20, 21 und 22 des Vertrages wird die so kung des Lebensstandards und einer jahrelangen heikle Frage der deutschsprachigen Minderheit in Durststrecke der Entbehrungen. Das bekommt den Polen und deren kultureller Identität und Fortent- Menschen nicht, das bekommt der Demokratie nicht, wicklung angesprochen. Die Grundsätze sind klar und das bekommt Europa nicht. Also ist schnelle, ist Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991 3269

Margitta Terborg globale Hilfe angesagt. Europas Investitionen in De- kleine Qual und aus Ihrer Sicht vielleicht überflüssige mokratie und Frieden müssen Investitionen in die Diskussion hingenommen hat. Das ist der entschei- wirtschaftliche Zukunft dieser Länder sein. Die Le- dende Punkt. Dies ist wichtiger als manches andere, benschancen der Menschen in Mittel- und Osteuropa weil es auf lange Frist friedensstiftend wirkt und letzt- sind die dauerhafteste Friedensdividende, die wir er- lich die Basis dafür bildete, daß der Kollege Koschyk, warten können und für die wir alle gemeinsam, die vor dem ich wegen seiner Rede tiefen Respekt habe, Deutschen, die westeuropäischen Völker, die USA, heute morgen diese Rede hat halten können. Herr Kanada und Japan, in Vorleistung gehen müssen, und Kollege Koschyk, dafür möchte ich Ihnen auch na- zwar in Polen, aber eben nicht nur in Polen. mens meiner Fraktion Respekt und herzlichen Dank Ich hoffe, Sie haben Verständnis dafür, daß ich im- aussprechen. mer wieder versucht habe, den deutsch-polnischen Meine sehr geehrten Damen und Herren, die CDU/ Verständigungsprozeß in einen gesamteuropäischen CSU-Bundestagsfraktion begrüßt das Vertragswerk Rahmen zu stellen. Das schmälert die Einzigartigkeit und ist zutiefst davon überzeugt, daß es dem Wunsch des Vertragswerkes nicht. Das relativiert auch nicht der übergroßen Mehrheit der Deutschen entspricht, die Pflichten und Aufgaben, die unserem Land aus Verständigung und Versöhnung mit den polnischen diesem Vertrag erwachsen. Was wir heute tun, ist ein Nachbarn zu finden. Wir sind der Überzeugung, daß erster beherzter Schritt in eine gesamteuropäische dieses Vertragswerk deswegen die große Chance hat, Zukunft. Je überzeugender der Deutsche Bundestag weil es von dem Bestreben geprägt ist, nicht nur die diesen Schritt bei den späteren Abstimmungen tun leidvollen Kapitel der Geschichte abzuschließen, son- wird, um so tragfähiger werden die Grundstrukturen dern auch deutlich zu machen, daß Deutsche und Po- dieses Vertrages sein, zum Wohle der Deutschen und len nicht nebeneinander, sondern miteinander in Eu- der Polen und des ganzen Europa. ropa eine europäische Zukunft suchen wollen. Deshalb beantrage ich im Namen der SPD-Bundes- tagsfraktion die Überweisung an die Ausschüsse. Das deutsch-polnische Vertragswerk ist ein ent- scheidend wichtiger Bestandteil in der Entwicklung Vielen Dank. zu einem neuen Europa. Die Einbettung des deutsch- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten polnischen Verhältnisses in die neue europäische Ar- der FDP) chitektur macht ihn — das ist heute schon mehrfach angedeutet und gesagt worden — zu einem beispiel- haften und weitsichtigen Dokument. Ich bin versucht, Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Als letzter den Außenminister oder andere zu bitten, diesen Ver- Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Ab- trag und seine Vorgeschichte komplett zu nehmen geordnete Hornhues das Wort. und in Seminaren, Vorträgen und Diskussionen blitz- artig in einem Teil Europas, in Jugoslawien, allen zu Dr. Karl-Heinz Hornhues (CDU/CSU): Herr Präsi- erzählen, weil auch diese Region Europas Frieden und dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Las- Befriedung nur wird finden können, wenn am Ende sen Sie mich zum Abschluß dieser Debatte heute mor- der Entwicklung auch dort so etwas ähnliches wie ein gen zunächst das Allerwichtigste feststellen: Der solcher Vertrag stehen wird. Was dort geschieht, ist Deutsche Bundestag hat die Schlußberatungen der heillos; auf Panzer, auf Macht, auf Gewalt, auf Haß ist uns vorliegenden Verträge mit dem erkennbaren Bild Zukunft nicht zu bauen. einer sehr großen Einmütigkeit begonnen. Ich glaube, Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir über- das ist das, was in bezug auf die Wünsche, die über- nehmen mit diesem Vertrag besonders die Verpflich- gebracht werden müssen, Hoffnung für die Zukunft tung, uns für Polens Weg nach Europa zu engagie- gibt. ren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall des Abg. Reinhard Freiherr von Es gehört bei solchen Debatten zur üblichen Rou- Schorlemer [CDU/CSU]) tine, daß die Opposition nach Haaren in der Suppe Dies ist nicht nur eine Frage von Ökonomie, nicht nur sucht und manchmal sogar einige findet, daß die Re- eine Frage von Kultur, von kultureller Zusammenar- gierungskoalition die Regierung lobt, manchmal auch beit, sondern es ist auch eine Frage von Sicherheit. Ich ein wenig über den grünen Klee. Man ist versucht, es wollte eigentlich auf Herrn Kollegen Modrow gar bei dieser Routine zu belassen. Gleichwohl muß ich nicht mehr eingehen; das lohnt auch nicht, weil er noch auf einen Dollpunkt zurückkommen, Herr Kol- nicht mehr da ist. Deshalb trotzdem zu Protokoll: Nie- lege Koschnick, weil er auch bei Ihnen eine Rolle mand in Polen hat Sorge wegen NATO-Flugzeugen gespielt hat. Herr Meckel hat sehr stark das Hickhack an der deutsch-polnischen Grenze. Im Gegenteil: Die um die Verträge kritisiert und gesagt, es habe sehr Polen hätten ganz gerne, daß auch ihre Flugzeuge lange Zeit gedauert und ähnliches mehr. Sie haben NATO-Flugzeuge wären; sie würden sehr gerne mit- den Kanzler gelobt, weil er sich am Ende irgendwie fliegen. Das formuliert man in der Regel diplomati- durchgesetzt habe. scher, anders und nicht so öffentlich, entspricht aber (Hans Koschnick [SPD]: Hat er das nicht?) so ungefähr der Wahrheit. Wir begrüßen, loben und unterstützen unseren Re- (Hans Koschnick [SPD]: Ungefähr entspricht gierungschef nicht deshalb, weil er sich durchgesetzt vieles der Wahrheit!) hat, sondern weil es ihm gelungen ist, dieses Vertrags- paket auf den Weg zu bringen, und weil er den Ver- — Auch da haben wir die Verpflichtung, Herr Kollege such gemacht hat, den Weg nicht gegen die Heimat- Koschnick, dieses Sicherheitsbedürfnis Polens ernst vertriebenen, sondern mii ihnen zu gehen und manch zu nehmen. Ich freue mich, daß die ersten, ein wenig 3270 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991

Dr. Karl-Heinz Hornhues seltsamen Reaktionen auf diese Sicherheitsbedürf- anerkannt würden, so muß ich sagen: Vor kurzem nisse aus Richtung NATO, aus Richtung Westen zu- hätte dies mancher in diesem Hause so noch nicht for gunsten einer vernünftigen Betrachtung weitgehend muliert, hätte sich nicht so lobend darüber geäußert. gewichen sind. (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr wahr!) Meine sehr geehrten Damen und Herren, für uns Herr Kollege Koschnick, Sie wissen genau, wovon ich wird von daher in besonderer Weise wichtig sein, daß rede. wir uns, wie ich gesagt habe, für den Weg Polens nach Meine sehr geehrten Damen und Herren, dies sollte Europa engagieren. Aber damit wir uns nicht über- uns veranlassen, zu überlegen, ob es nicht sinnvoll, nehmen — wir tun ja manchmal so, als könnten wir notwendig und richtig ist, diesen Antrag so zu sehen, alles alleine — möchte ich noch einmal für unsere nämlich als einen Wunsch, eine Erwartung, eine Hoff- Fraktion unterstreichen, was heute morgen schon ge- nung, von der ich allerdings glaube, daß sie weitge- sagt worden ist, wie notwendig es nämlich ist, daß hend wird realisiert werden können. Ich kann mich dieser Weg gemeinsam gegangen wird und daß wir noch an meinen ersten Besuch in Polen vor Jahren immer wieder unsere Freunde im Westen und an- erinnern, als ein mich begleitender Diplomat meines derswo bitten müssen, mitzuhelfen und mitzugehen, Landes Schweißperlen auf die Stirn bekam, als ich es nicht nur mit Worten, sondern mit Taten; vor allen mit den damaligen Umschreibungskünsten nicht hin- Dingen das letztere ist von besonderer Bedeutung. kriegte, die man anwendete, um nicht einen Eklat Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn auszulösen, die Heimatvertriebenen zu benennen. Ich man dankt — das ist heute vielfach an dieser Stelle konnte das nicht. Ich habe das Wort nicht behalten geschehen —, hat man vielen zu danken. Man hat und habe schlicht „die Vertriebenen" gesagt. — denen zu danken, die wegen der gemeinsamen euro- Wenn ich die Entwicklung von damals bis heute be- päischen deutsch-polnischen Zukunft den Weg mit trachte und sehe, welcher Weg gegangen worden ist, wehem Herzen trotzdem mitgehen. Man hat denen zu dann gibt mir dies die ziemlich sichere Hoffnung, daß danken, die in mühseliger Kleinarbeit, als es noch vieles besser klappen wird, als mancher Skeptiker nicht so leicht war, Wegbereiter waren, in Deutsch- dies erwartet. land wie in Polen, jenen Millionen, die damals spon- (Beifall bei der CDU/CSU) tan viel für ein menschliches Miteinander getan und geholfen haben, als das Kriegsrecht über Polen her-- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr einbrach. Man muß auch jenen in Polen danken, die Dr. Hornhues, ich nehme an, Sie lassen eine Frage des zu einer Zeit, als es dort Hochverrat war, für sich, für Abgeordneten Koschnick zu. ihre Partei und für ihr politisches Denken eine neue Deutschlandpolitik formuliert haben, jenen Politike- Dr. Karl-Heinz Hornhues (CDU/CSU): Ja, bitte! rinnen und Politikern der Solidarnosc, die zu einer Zeit, als es schier undenkbar war, zu glauben, daß so Hans Koschnick (SPD): Herr Kollege Hornhues, etwas kommen könne, sagten, eine sichere Zukunft würden Sie eine Lösung darin sehen, daß wir gemein- Polens liege in einem geeinten, vereinigten Europa. sam unsere Anträge in den Ausschuß geben und ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) suchen, eine Klärung zu bekommen und eine Fassung zu finden, die wir gemeinsam tragen können? Als die Solidarnosc dies formulierte, war das Hochver- rat. Heute kann man solche Sätze, wie Sie wissen, Dr. Karl-Heinz Hornhues (CDU/CSU): Herr Kollege leichter bekommen. Aber daran soll in dieser Stunde Koschnick, soweit ich das sehe, werden wir ja gleich erinnert werden, damit es nicht vergessen wird. die Anträge an den Ausschuß überweisen. Ich komme Dies ist die Basis des Denkens, die Hoffnung auf auch noch auf einen Punkt zu sprechen, der Ihnen Zukunft gibt, daß manches, was hier noch mit dem Hoffnung geben wird, daß es gelingen kann, dies so Begriff Hoffnung, daß es auch so wird, umschrieben zu tun, wenn Sie bereit sind, einmal die eine oder wird, tatsächlich Realität wird. andere Passage bei uns, die uns sehr wichtig ist, wohl- wollend zu prüfen. Ich glaube, daß in den Fachbera- Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Ver- tungen die Tür noch lange nicht zu ist. Wir haben uns trag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche ja ernsthaft noch gar nicht bemüht, eine gemeinsame Zusammenarbeit, den wir heute beraten, behandelt Entschließung hinzukriegen. — als wichtiges Anliegen unsererseits formuliert — (Zuruf von der FDP: Wir vermitteln noch!) Fragen der Rechte der deutschen Minderheit in Polen. Ich habe gerade gesagt: Bei manchem muß Da wir erst am Anfang der Beratung stehen, ist das ja man noch hoffen, daß es klappt, daß es gutgeht. Herr auch sinnvoll. Kollege Koschnick hat die Notwendigkeit der Gesetz- Meine sehr geehrten Damen und Herren, die CDU/ gebung in Polen angesprochen. Dies alles ist wichtig. CSU-Bundestagsfraktion begrüßt die Erklärung des Ich spreche auch an, was wir auch in unseren Reihen Bundeskanzlers von heute vormittag, daß die Bundes- noch an Anfragen dazu haben, ob es nicht ein wenig regierung mit der polnischen Regierung in Verbin- klarer, präziser hätte formuliert werden können. Das dung steht, um für die polnischen Bürger, die unter ist der Sinn und der Hintergrund unseres Antrags. nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen be- Frau Kollegin, wenn Sie ihn einmal insgesamt lesen, sonders schlimm zu leiden hatten, eine Regelung, stellen Sie fest: Er ist gar nicht so schlecht. — Was die etwa durch eine Stiftung, zu finden, eine Regelung, schönen Worte angeht, die Sie alle heute morgen ge- die zumindest eine gewisse materielle Entschädigung sagt haben, die ja zum Teil auch völlig neu waren, bietet. Wir haben zur Kenntnis genommen und begrü- nämlich, wie schön es sei, daß die Minderheitenrechte ßen es, daß der Bundeskanzler gesagt hat, er gehe Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991 3271

Dr. Karl-Heinz Hornhues davon aus, daß sehr bald — so wörtlich zitiert — dem überwiesen werden. Gibt es dazu noch weitere Vor- Bundestag Vorschläge von der Bundesregierung un- schläge? — Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann terbreitet werden können. ist die Überweisung so beschlossen. Wir gehen jetzt in die Ausschußberatung über die Verträge. Die Verträge selbst — das ist Tradition — werden dabei nicht mehr verändert werden, aber es Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 4 und wird manches verändert und diskutiert werden kön- den Zusatztagesordnungspunkt 3 auf: nen, was in die Zukunft weist. Als jemand, der sich 4. Erste Beratung des von den Fraktionen der über Jahre auch um die auswärtige Kulturpolitik ge- CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs ei- kümmert hat, habe ich natürlich mit besonderem nes Gesetzes zur Änderung des Außenwirt- Wohlgefallen die im Manuskript nicht vorgesehenen schaftsgesetzes, des Strafgesetzbuches und an- Sätze meines Bundeskanzlers über die auswärtige derer Gesetze Kulturpolitik und die Kulturbeziehungen gehört. Ich — Drucksache 12/899 bin ziemlich sicher, daß irgend jemand der Bundesre- —Überweisungsvorschlag: gierung mitteilen wird, daß das gesamte Hohe Haus, Ausschuß für Wirtschaft (federführend) also inklusive der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, auf Innenausschuß die konstruktiven Vorschläge der Bundesregierung Rechtsausschuß wartet, die wir dann wohlwollend beraten werden. ZP3 Erste Beratung des von der Fraktion der SPD (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur An- Karl Lamers [CDU/CSU]: Das haben wir derung des Außenwirtschaftsgesetzes, des schon öfter gesagt!) Strafgesetzbuches und anderer Gesetze — Ja, das haben wir schon öfter gesagt. Ich habe es — Drucksache 12/765 jetzt noch einmal angemahnt, Herr Kollege Lamers, —Überweisungsvorschlag: damit es im Protokoll vermerkt ist. Ausschuß für Wirtschaft (federführend) Wir gehen jetzt in die Schlußberatung zu den Ver- Innenausschuß Rechtsausschuß trägen. Dabei wird für manchen die Frage sein: Was wird daraus? Das wird wichtig sein; denn letztlich Der Ältestenrat schlägt Ihnen vor, daß wir eine wird nicht der Buchstabe, sondern der Geist, mit dem Aussprache von einer Dreiviertelstunde beschließen. beide Seiten, die Menschen in beiden Ländern, dar- Erhebt sich dagegen Widerspruch? — Das ist nicht der angehen werden, aus den Verträgen Leben zu ma- Fall. Dann können wir die Aussprache beginnen. chen, lebendiges Miteinander zu machen, entschei- Zunächst einmal hat der Abgeordnete Kittelmann dend dafür sein, was daraus wird. das Wort. Wenn ich daran denke, daß die Radiostation, die Deutsche in Kattowitz betreiben, ihre Arbeit unter das Motto „Versöhnung und Zukunft" gestellt hat, kann Peter Kittelmann (CDU/CSU): Herr Präsident! ich nur sagen: Ein besseres Motto für die gesamte Meine Damen und Herren! Wir debattieren heute zum künftige Entwicklung kann man sich nicht wünschen. wiederholten Male über ein Reizthema, das in der Es ist hervorragend. Öffentlichkeit — zu Recht — mit überaus großer Sen- sibilität verfolgt wird. Damit ruht das öffentliche Auge Wenn, wie ich weiß, auf polnischer Seite auch dieser natürlich besonders wachsam auf uns Mandatsträ- Vertrag als ein wichtiger Teil des Weges von Polen gern und unserer besonderen Verantwortung, einer nach Europa gesehen wird, dann lassen Sie mich mit Verantwortung, der wir uns gerade in der heiklen der Anmerkung schließen, daß wir der festen Hoff- Frage des Rüstungsexports immer bewußt bleiben nung sind, daß wir nicht ohne Grund sagen können: müssen und der wir uns nicht zuletzt wegen der kriti- Liebe polnische Nachbarn, dieser Vertrag soll ein schen Aufmerksamkeit, die uns in diesem Rahmen Stück weit auch unser „Herzlich Willkommen" in Eu- gerade aus dem Ausland zuteil wird, stellen sollten. ropa sein. Daß hier von einigen seit längerer Zeit auf uns ge- Danke schön. zeigt wird, die zunächst doch lieber ihre eigene Posi- (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der tion hätten kritisch hinterfragen sollen — damit meine SPD) ich Frankreich, England und die USA —, bleibt unbe- stritten, sollte uns aber nicht aus unserer besonderen Verantwortung entlassen. Ich habe mehrfach in De- batten hier in diesem Rahmen auf unsere historische Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Damit sind wir am Ende der Debatte über die Abgabe einer Hypothek verwiesen. Erklärung der Bundesregierung zu den deutsch-pol- Mir scheint aber auch ein zweiter Gesichtspunkt nischen Verträgen. von besonderer Bedeutung zu sein, der mit der Funk- Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen tion der Parteien, ihrer Reputation und Akzeptanz bei auf den Drucksachen 12/1103 bis 12/1105 und unseren Wählern im eigenen Land zusammenhängt, 12/1107 zu überweisen, und zwar wie folgt: zur feder- nämlich daß unser politisches Wollen in der Öffent- führenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuß lichkeit häufig nicht deutlich wird. Hier, meine Da- und zur Mitberatung an den Innenausschuß. Der Ent- men und Herren, bitte ich die Opposition um ihre Auf- schließungsantrag der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜ- merksamkeit. NEN auf Drucksache 12/1119 soll an dieselben Aus- Es läßt sich meines Erachtens kaum noch vermit- schüsse und zusätzlich an den Haushaltsausschuß teln, daß wir in einer so wichtigen Frage, in der größter 3272 Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991

Peter Kittelmann Handlungsbedarf besteht, noch immer nicht zu einer Beziehungen der Bundesrepublik herausgehobene, gemeinsamen Entscheidung gefunden haben. besonders zu achtende Rechtsgüter darstellen. Die Unantastbarkeit dieser Schutzgüter machen es erfor- ( [Köln] [SPD]: Das liegt doch an derlich, daß wir gegen illegale Rüstungsexporte nicht Ihnen und nicht an uns!) erst dann vorgehen dürfen, wenn sie bereits getätigt — Frau Fuchs, Sie wissen doch gar nicht, worum es sind. Gefahr für andere Völker und außenwirtschaftli- hier geht. cher Schaden sind dann ein Tatbestand, dem wir an- schließend mühsam hinterherhinken. Die Aufklärung (Dr. Hans de With [SPD]: Das ist einigerma- muß also vor Begehung der Straftaten erfolgen. Das ßen frech! — Zuruf der Abg. Anke Fuchs ist unausweichlich. [Köln] [SPD]) — Entschuldigung, daß ich Sie beim Lesen gestört Wenn sich die Bundesrepublik aus diesem Grunde habe. entschieden hat, dem Zollkriminalinstitut die Mög- lichkeit einzuräumen, den Post- und Telefonverkehr (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Ich bin im Ver- von Unternehmen und Personen zu überwachen, so mittlungsausschuß, deswegen weiß ich, geschieht das vor dem Hintergrund des Verhältnismä- worum es geht, Herr Kollege!) ßigkeitsgrundsatzes, nämlich der Schutzbedürftigkeit Dies, obgleich unmittelbar nach dem Debakel des der aufgeführten Rechtsgüter. Aus diesem Grunde Golfkriegs und den offenkundigen Verstrickungen ei- läßt sich auch der Eingriff in das Grundrecht des niger deutscher Firmen der Wirtschaftsminister und Art. 10 des Grundgesetzes durchaus rechtfertigen. — die Regierungskoalition unverzüglich initiativ gewor- Der Kollege Eylmann wird auf diese Frage noch ver- den sind. tiefend eingehen. Tatsächlich muß unter diesen Bedingungen der Ein- In Zukunft soll es also darum gehen, eine Lücke des druck entstehen, daß die Sozialdemokraten nicht bisherigen Außenwirtschaftsgesetzes zu schließen, da dazu beitragen, Lösungen für die komplexen Pro- die bislang allein zur Verfügung stehende Rechtsver- bleme zu finden, sondern sich ausschließlich partei- ordnung nicht länger wirkungsvoll greift und auch politisch produzieren. rechtlich nicht weiter vertretbar ist. Sie ist vor allen Dingen dann nicht mehr vertretbar, wenn wir gerade (Hermann Bachmaier [SPD;. Wer hat denn - im Einzelfall etwas erreichen wollen. Es besteht also die Vermittlungsvorschläge gemacht?) Handlungsbedarf. Damit werden Entscheidungsprozesse nicht nur auf fatale Weise behindert, sondern die Glaubwürdigkeit (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Nanu!) des Auftrags der Parteien in Frage gestellt. Ich fordere Mit dieser Ermächtigung und den unabdingbaren die SPD deshalb nachdrücklich auf, ihren Widerstand Regelungen im präventiven Bereich hoffen wir einen gegen die geplanten Restriktionen endlich aufzuge- wirksamen Beitrag zu effektiverer und besonders re- ben. striktiverer Rüstungsexportkontrolle zu leisten. Die- Meine Damen und Herren der Opposition, Sie steh- sen wichtigen Entscheidungsprozeß hier zu unterlau- len sich aus der Verantwortung, wenn Sie auf der fen, halte ich von den Sozialdemokraten für schlicht einen Seite die deutsche Wirtschaft anklagen, den weg unverantwortlich. Wirtschaftsminister kritisieren und selbst aber auf der anderen Seite den Weg zu einer strengen Exportrege- Zwei Dinge müssen allerdings klar sein: Die Geneh- lung blockieren. Eine solche Taktik ist schlechthin migungsverfahren müssen zügig ablaufen, damit die unglaubwürdig. deutsche Wirtschaft im gängigen Export nicht Nach- teile erlangt und es nicht zu Wettbewerbsverzerrun- (Dr. Hans de With [SPD]: Sie haben jahrelang gen kommt. nichts gemacht! Jetzt kommen die rechts- staatlichen Bedenken! — Hermann Bach- (Hermann Bachmaier [SPD]: Jetzt kommt maier [SPD]: Der sich immer durch eine be- es!) sondere Ignoranz bei diesem Thema ausge- Unnötige Verzögerungen müssen durch eine entspre- zeichnet hat!) chende generelle Ausstattung der Stellen ausgeschal- — Schreiben Sie das alles ins Protokoll, damit ich die tet werden. — Das sind die Arbeitsplätze, die auch Zwischenrufe nachlesen kann! Ihre Wähler brauchen. Was wollen wir mit dem Gesetz? Erstens: besonders Es ist schlechterdings untragbar, wenn sich ein Ex- restriktive Regelungen im Rüstungsexport, um ille- porteur über Verschleppungen im Genehmigungs- gale Rüstungsexporte zu unterbinden, zweitens: ein verfahren beklagen muß, weil der zuständige Beamte entsprechendes Instrumentarium, um bereits im prä- gerade drei Wochen Urlaub macht. Beschwerden die- ventiven Bereich wirkungsvoll vorgehen zu können, ser Art, Herr Staatssekretär, häufen sich, und sie kom- drittens: drastische Strafen bei Verstößen gegen das men bei Ihnen wahrscheinlich auch an. Hier müssen Außenwirtschaftsgesetz. Viertens muß es im Anschluß vom Wirtschaftsministerium dringlich strukturelle an das Gesetz endlich eine europaweit harmonisierte Vorkehrungen getroffen werden. Das ist dem Deut- Exportregelung geben. schen Bundestag mehrfach versichert und von uns Lassen Sie mich kurz einige Punkte ausführen. Wir auch gefordert worden. Die deutsche Industrie hat werden uns in diesem Hause darüber einig sein, daß ihre Unterstützung der verschärfenden Maßnahmen die äußere Sicherheit der Bundesrepublik, das friedli- zugesagt. Um so mehr ist es notwendig, jede Form von che Zusammenleben der Völker und die auswärtigen langfristigen Wettbewerbsnachteilen zu verhindern. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991 3273

Peter Kittelmann Ganz entscheidend wird es sein, ob es der Bundes- immer den Vorrang vor einer wirksamen Kontrolle

republik gelingt, auf eine EG -weite Exportpolitik zu dieser trüben Machenschaften. drängen und sie schließlich auf hohem Niveau festzu- legen. Ich habe mehrfach betont, daß allein nationale Das beste Anschauungsmaterial dafür liefert nach Regelungen nach Vollendung des Binnenmarktes wie vor der illegale Export einer ganzen Giftgasfabrik wirkungslos bleiben. Wertvolle Zeit, europaweit auf nach Libyen und die äußerst komfortable strafrechtli- extrem strenge Regelungen hinzuwirken, ist durch che Behandlung des Herrn Hippenstiel-Imhausen, der die Blockierung des Gesetzentwurfes bereits verstri- ja für dieses widerliche Verbrechen lediglich drei chen. Gemeinsame Normen und effiziente Kontrollen Jahre Freiheitsstrafe erhielt und der offensichtlich auf europäischer Ebene sind von herausragender noch immer seinen millionenschweren Gewinn nicht Priorität. Im Europäischen Parlament und in der Kom- herausgeben muß. mission wird glücklicherweise in diesem Sinne ver- Wer erwartet hatte, daß den verbalen Bekundungen handelt. der Koalitionsparteien endlich auch wackere Taten Auch die Erklärung des G-7-Gipfels des vergange- folgen würden, sieht sich heute — nach den Irak nen Jahres zum Transfer konventioneller Waffen und Erfahrungen — ebenso getäuscht wie nach dem Rü- zu der Nichtverbreitung von ABC-Waffen verpflichtet stungsexportskandal nach Libyen. uns auf drei Prinzipien: auf den Grundsatz der Trans- parenz, der Konsultation und schließlich auf den Der sogenannte legale Rüstungsexport, von dessen Grundsatz des Handelns. Und genau darum geht es: Einschränkungen die Bundesregierung nichts wissen Wir können es nicht länger zulassen, daß bei Zwi- will, hat in den zurückliegenden Jahren eine dramati- schenfällen in Krisengebieten und kriegerischen Aus- sche Steigerung erfahren: Er hat sich in wenigen Jah- einandersetzungen wie zur Zeit des Golfkrieges über ren buchstäblich verdoppelt, ein bemerkenswerter illegale Verstrickungen der deutschen Wirtschaft und äußerst zweifelhafter Erfolg Ihrer Regierung. Es durch kriminelle Machenschaften einzelner speku- sind wahrlich bemerkenswerte Rekorde — Herr Kit- liert wird. Lassen Sie uns dem Grundsatz des Han- telmann, davon reden Sie nicht — , die diese Regie- delns genügen und einen Schritt in die richtige Rich- rung auf diesem Felde zu verzeichnen hat. Dabei geht tung gehen, mit der Auflage, diesen Schritt zum Maß- es durchaus auch ganz anders — davon reden Sie stab gesamteuropäischen Vorgehens und Vorange- auch nicht —, wie uns das Beispiel Japan zeigt. Man hens zu machen. - kann auch nicht müde werden zu wiederholen, daß Ich danke Ihnen. die wirksamste Form, den illegalen Rüstungsexport zu unterbinden, darin besteht, auch den legalen Rü- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) stungsexport drastisch zu beschneiden

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- (Beifall bei der SPD) geordneter Bachmaier, jetzt haben Sie das Wort. Dann oder ihn am besten ganz zu unterbinden. brauchen Sie sich nicht mehr nur auf Zwischenrufe zu beschränken. Aber die von uns vorgeschlagenen Maßnahmen zur Beschränkung des legalen und des illegalen Rü- Hermann Bachmaier (SPD): Herr Präsident! Meine stungsexports haben Sie bereits vor der Sommerpause Damen und Herren! Trotz der bitteren Erfahrungen verworfen. Sie haben damit auch deutlich gemacht, der letzten Jahre ist unser geltendes Rüstungsexport- daß Sie zu einer grundlegenden Neuorientierung der recht nach wie vor völlig unzureichend. Auch die zahl- Rüstungsexportpolitik — trotz aller vielfältigen verba- reichen illegalen deutschen Rüstungsexporte in den len Bekenntnisse — nicht bereit sind. Irak haben bis heute nicht dazu geführt, Instrumente Um wenigstens einen kleinen Schritt bei den Ahn- zu entwickeln, um diesen hochkriminellen tödlichen dungsmöglichkeiten gegen den illegalen Rüstungsex- Machenschaften einzelner Unternehmen wirksam zu port voranzukommen, haben wir in den Ausschüssen begegnen. Ohne die Hilfe einer erklecklichen Zahl des Bundestages und insbesondere im Vermittlungs- deutscher Unternehmen wäre der Irak — daran muß ausschuß alle nur erdenklichen Kompromißmöglich- man immer wieder erinnern — nicht in der Lage ge- keiten ausgelotet und unsere Kompromißbereitschaft wesen, sein Potential im Bereich der Massenvernich- immer wieder unter Beweis gestellt. tungswaffen und der Raketentechnologie in wenigen Jahren aufzubauen. (Horst Eylmann [CDU/CSU]: Das ist (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Leider wahr!) falsch!) Man kann es nicht oft genug sagen: Jahrelanger Alle von uns eingebrachten Vermittlungsvorschläge grenzenloser Schlendrian bei der deutschen Rü- sind an der starren und kompromißlosen Haltung der stungsexportkontrolle hat mit dazu beigetragen, un- Bundesregierung und derjenigen gescheitert, die ihr seren Namen zu besudeln und uns in tödliche Ver- im Vermittlungsausschuß geholfen haben. strickungen zu bringen. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Peter Kit- (Beifall bei der SPD) telmann [CDU/CSU]) Nicht ein einziger offizieller Vermittlungsvorschlag Allen Versuchen, zu einer verbesserten Rüstungsex- von Ihnen hat in mehreren Sitzungen das Licht des portkontrolle und zu verbesserten strafrechtlichen Vermittlungsausschusses erblickt. Ahndungsmöglichkeiten zu kommen, war bis in die jüngste Zeit hinein allenfalls ein geringer Erfolg be- (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Eine dialekti schieden. Exportförderungsideologien hatten eben sche Verdrehung der Fakten!) 3274 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991

Hermann Bachmaier Sie haben eine absolute Blockadehaltung an den Tag bereitungshandlungen für verbotene und gefährliche gelegt. Sonst war von Ihnen in den Ausschußsitzun- Rüstungsexporte überhaupt mit Strafe zu belegen, er- gen nichts zu hören. klären aber andererseits, daß gerade diese Vorberei- (Beifall bei der SPD — Peter Kittelmann tungshandlungen einer Telefonüberwachung zu- [CDU/CSU]: Sie lenken vom eigenen Versa- gänglich sein müssen, um illegalen Rüstungsexport zu gen ab!) bekämpfen. Diesen Widerspruch müssen Sie uns erst einmal erläutern. Im Klartext: Sie möchten gerne die Ausschließlich die Bundesregierung hat es deshalb gesetzliche Ermächtigung dafür haben, nach Ihren auch zu vertreten, daß wir bis heute noch nicht einmal jeweiligen Opportunitätserwägungen Abhöraktionen die geringsten gesetzlichen Konsequenzen aus den durchzuführen oder, wenn es Ihnen opportun er- zahlreichen Verstößen gegen Bestimmungen beim scheint, davon Abstand zu nehmen. Export in den Irak und in andere Länder gezogen haben. Es ist vielmehr so, wofür Sie, Herr Kittelmann, (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Es muß doch gerade eben wieder ein beredtes Zeugnis abgelegt mit richterlicher Genehmigung gehen!) haben, daß die Weichmacher bereits wieder am Wir meinen, daß das Post- und Fernmeldegeheim- Werke sind. nis ein hochsensibles verfassungsrechtlich geschütz- (Zustimmung bei der SPD — Peter Kittel- tes Gut ist, in das nur unter strikter Wahrung strenger mann [CDU/CSU]: Sie haben noch nicht ein- Legalitätsprinzipien von den dazu ermächtigten Or- mal zugehört, was ich gesagt habe!) ganen der Strafrechtspflege eingegriffen werden kann. — Das ist ja offenkundig. Wer die Ohren einigerma- (Beifall bei der SPD) ßen aufmacht, der merkt auch, daß die Phase des Abklingens, des Verharmlosens und der gesamten Abhörermächtigungen, die es politischen Instanzen dazugehörenden Terminologie, die uns seit Jahren ermöglichen, darüber zu befinden, ob, wann, wer, in hinreichend bekannt ist, wieder in vollem Zuge gefah- welchem Ausmaß abgehört werden soll oder nicht, ren wird. haben in unserem Rechtssystem nichts zu suchen, zu- mal nach den Vorgaben des Gesetzentwurfes auch (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Welche Pas- noch eine Vielzahl gänzlich unverdächtiger Personen sage meiner Rede meinen Sie denn, wenn mit überwacht werden können und wohl auch mit Sie diesen Vorwurf machen?) überwacht werden sollen. Aus unseren Erfahrungen — Ich empfehle Ihnen dasselbe, was Sie vorhin ande- in mehreren Untersuchungsausschüssen, die sich mit ren empfohlen haben: Lesen Sie es doch bitte nach! illegalen Rüstungsexporten befaßt haben, wissen wir Wie gesagt, ausschließlich die Bundesregierung hat ganz genau, daß es solch dubioser Instrumente gar diesen traurigen Zustand heute zu vertreten. nicht bedarf, um dem illegalen Rüstungsexport wir- kungsvoll zu begegnen. Trotz vielfältig geäußerter verfassungsrechtlicher und verfassungspolitischer Bedenken hält die Bun- Daß ausgerechnet eine Regierung, die über Jahre desregierung an ihrem offensichtlich vorrangigen Ziel hinweg keinen Finger krümmte, um illegalen Rü- fest, das Zollkriminalinstitut zu einem weiteren Ge- stungsexporteuren das Handwerk zu legen, und die heimdienst auszubauen, der ohne ausreichende die politische Verantwortung dafür trägt, daß der le- rechtsstaatliche Kontrolle eine flächendeckende Tele- gale Rüstungsexport dramatische Zuwachsraten zu fonüberwachung nach Gutdünken — man könnte verzeichnen hat, nunmehr Generalvollmachten erhal- auch sagen —, nach Gutsherrenart vornehmen ten will, flächendeckend nach ihrem jeweiligen Gut- kann. dünken abzuhören oder nicht, läßt nichts Gutes ah- nen, meine Damen und Herren. (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Aber das al- les steht doch anders im Gesetzentwurf, als (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ Sie es hier sagen!) GRÜNE) Wir schlagen in dem von uns vorgelegten Gesetz- Der saarländische Justizminister Arno Walter hatte entwurf, den wenigstens zu lesen sich lohnt, Herr Kit- schon recht, als er am 7. Juni im Bundesrat darauf hin- telmann, wies, daß der Rechtsstaat — so wörtlich — „solche (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Das habe Stasi-Methoden präventiver Ausforschung ohne kon- ich!) kreten Tatverdacht und ohne Legalitätskontrolle" nicht vertrage. einen rechtsstaatlich einwandfreien und dem Legali- tätsprinzip unterworfenen Weg vor. Er sieht vor, daß Auch dadurch, daß Sie nunmehr in Ihrem neuen dann, wenn der Verdacht besteht, daß Vorbereitun- Entwurf eine Pflicht zur Unterrichtung der Staatsan- gen für einen illegalen und strafbaren Rüstungsexport waltschaft über Einleitung und Durchführung von Ab- getroffen werden, unter der Sachherrschaft der hörmaßnahmen vorsehen, wird die Situation nicht Staatsanwaltschaft und nicht eines nach Opportuni- besser. Die Staatsanwaltschaft gehört in diesen Fällen tätsgesichtspunkten handelnden politischen Organs, nicht auf die Zuschauerbank — sie sollte nach den für in diesem Fall des Bundesfinanzministers, Telefon- sie geltenden strikten Regeln die Sachherrschaft über überwachungen möglich sind. derart sensible Eingriffe haben. Opportunitätsge- sichtspunkte politischer Instanzen haben hier nichts Wir wollen auch — davor zucken Sie auch zurück — verloren. diese hochkriminellen Vorbereitungshandlungen unter Strafe stellen. Sie hingegen schrecken, aus Meine Damen und Herren, wir bleiben dabei: Wir welchen Gründen auch immer, davor zurück, Vor- brauchen keinen grenzlosen Überwachungsstaat, um Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991 3275

Hermann Bachmaier den illegalen Rüstungsexporteuren das Handwerk zu Vorbereitungshandlungen beginnt, ist meines Erach- legen. Der Rechtsstaat ist stark genug, um diese Auf- tens rechtssystematisch bedenklich. gabe mit rechtsstaatlich einwandfreien Mitteln zu lö- (Dr. Hans de With [SPD]: Da kneifen Sie! — sen. Hermann Bachmaier [SPD] : Aber abhören (Beifall bei der SPD) würden Sie gern!) Wenn Sie noch weiterer Erläuterungen bedürfen, An sich straflose Vorbereitungshandlungen werden lesen Sie doch bitte einmal die Rede des Koalitionsab- kriminalisiert, um sie hinterher abhören zu können. geordneten Dr. Hirsch nach, die er hier im März im Dabei — auch das will ich deutlich sagen — bleibt die Bundestag gehalten hat. SPD-Vorlage einem Grundproblem verhaftet: Die An- Herzlichen Dank. wendbarkeit des § 100a der Strafprozeßordnung setzt (Beifall bei der SPD) einen nicht unerheblichen und auf Tatsachen begrün- deten Anfangsverdacht voraus. Da müssen Sie sich allerdings fragen lassen: Woher bekommen Sie denn Nun er- Tatsachen, die den begründeten Verdacht rechtferti- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: gen? teile ich dem Abgeordneten Dr. Kolb das Wort. (Dr. Hans de With [SPD]: Weil wir die Vorbe reitungshandlungen unter Strafe stellen! Das Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Herr Präsident! Meine ist doch ganz klar!) Damen und Herren! Der Kollege Bachmaier hat ein- Wie soll das praktisch funktionieren? Ich denke, der gangs seiner Ausführungen gesagt, die geltenden Re- Anfangsverdacht kann oft nur schwer und daher re- gelungen des Außenwirtschaftsrechts seien unzurei- gelmäßig zu spät festgestellt werden, vor allen Dingen chend. Herr Bachmaier, ich muß Ihnen in aller Deut- zu spät, um einen illegalen Export zu verhindern. lichkeit sagen: Wir könnten längst ein Gesetz haben, Ich will nicht leugnen, daß uns Liberale der aus das den Ansprüchen besser gerecht wird. Aber das ist Gründen der Prävention erforderliche weitere Eingriff am Widerstand der SPD-Opposition im Bundesrat ge- in die Grundrechte des Art. 10 des Grundgesetzes scheitert. Die SPD hat überdies ihr Verhalten mit der schwerfällt. Das ist auch der Grund, weshalb wir er- bösen Verleumdung gekrönt, die Bundesregierung hebliche rechtsstaatliche Sicherungen vorgesehen und die Koalitionsfraktionen hätten an einer besseren haben. Voraussetzung für eine Abhörmaßnahme ist, Regelung überhaupt kein Interesse. - daß die Erforschung des Sachverhalts auf andere Art (Hermann Bachmaier [SPD]: Das haben Sie nur schwer möglich oder aussichtslos wäre. Sie ist also mehrfach bewiesen!) Ultima ratio. Ich darf Ihnen sagen, Sie haben sich geirrt. Der Ge- (Abg. Johannes Singer [SPD] meldet sich zu setzentwurf liegt heute in den wesentlichen Kern- einer Zwischenfrage) punkten unverändert vor. Der Bundeswirtschaftsmi- nister und die Koalitionsfraktionen lassen keinen Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- Zweifel aufkommen, für wie wichtig sie die Gesetzes- geordneter, würden Sie eine Zwischenfrage beant- verbesserung halten. worten? Meine Damen und Herren, ich will an dieser Stelle drauf verzichten, nochmals alle Regelungen des Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) : Ich denke, daß ich in neuen Gesetzes wie Strafverschärfung, Bruttoab- meiner Rede so weit fortgeschritten bin, daß die Frage schöpfung und Einzelfallermächtigungen für den wahrscheinlich nicht mehr paßt. Aber bitte. Wirtschaftsminister zu kommentieren. Darüber be- steht, soweit ich sehe, Einvernehmen. Auslöser des Streits ist formell die Frage der Befugnisse des Zoll Johannes Singer (SPD): Doch, doch, das paßt schon, kriminalinstituts, Herr Bachmaier. Im Kern geht es Herr Kollege. — Ist Ihnen bekannt, daß nicht einmal dabei um die Frage: Prävention von Straftaten im die Amerikaner ein Abhören im eigenen Lande unter Außenwirtschaftsrecht, ja oder nein. Soll das Abhören den Umständen zulassen, die Sie hier wollen? im Vorfeld von Straftaten präventiv möglich sein — das ist unser Ansatz —, oder soll das Abhören nur Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Das kann ich kurz beant- im Rahmen der Strafverfolgung, also nach einem Ver- worten: Es ist mir nicht bekannt. fahren nach der StPO, möglich sein — so die SPD? Wir Ich fahre dann fort. meinen: Prävention ja. Es darf uns bei Verstößen ge- gen das Außenwirtschaftsgesetz nicht ausschließlich (Hermann Bachmaier [SPD]: Lohnt es sich um die strafrechtliche Sanktionierung inkriminierten überhaupt?) Verhaltens gehen. Es muß darüber hinaus unser be- Die Abhörmaßnahme muß also Ultima ratio sein. Die sonderes Anliegen sein, illegale Ausfuhren von vorn- Unterrichtung der Staatsanwaltschaft und die grund- herein zu verhindern und damit Schaden für die Bun- sätzliche gerichtliche Zustimmung sind Vorausset- desrepublik Deutschland und auch den Ruf ihrer Ex- zung. In diesem Zusammenhang sei mir auch der Hin- portwirtschaft gar nicht erst aufkommen zu lassen. weis gestattet, Herr Bachmaier, daß die Kritik verfehlt Kurzum: Kriminelle Energie muß gebremst werden, ist, es bleibe der politischen Opportunität vorbehal- bevor Güter illegal ausgeführt werden können, bevor ten, über die Verwendung der ermittelten Ergebnisse eine Straftat begangen wird. zu entscheiden. Der Vorschlag der SPD, das Außenwirtschaftsge- (Hermann Bachmaier [SPD]: Nein, über die setz derart auszubauen, daß die Strafbarkeit schon bei Tatsache, daß!) 3276 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991

Dr. Heinrich L. Kolb Das Zollkriminalinstitut ist verpflichtet, die Staatsan- Regierung — zu den Exportschlagern der deutschen waltschaft über die Ergebnisse zu unterrichten. Diese Wirtschaft. Solange das so bleibt, bedeutet das mit Mitteilungspflicht stellt sicher, daß die Staatsanwalt- anderen Worten: Regierungen, die diese Politik fort- schaft jederzeit Zugriff auf das Verfahren nehmen setzen, und Rüstungsfirmen der Bundesrepublik sind kann, sobald sich zureichende Anhaltspunkte für das am Morden in vielen Regionen der Welt beteiligt. Vorliegen einer Straftat ergeben. Das Problem beim Rüstungsexport ist — das dürfte (Dr. Hans de With [SPD]: Das ändert doch Ihnen allen bekannt sein — nicht die Mißachtung von nichts daran, daß sie vorher abhören!) Außenwirtschaftsgesetz und Kriegswaffenkontrollge- Ich möchte auch noch ein Wort zu der Anmerkung setz. Das Grundproblem sind die legalen Exporte von des sozialdemokratischen Landesministers Arno Wal- Bauteilen, technischem Wissen und Herstellungsan- ter loswerden, der von Stasi-Methoden präventiver lagen — legal, weil nicht genehmigungspflichtig oder Ausforschung gesprochen hat. Ich finde, Herr Bach- weil genehmigt. Die Exporteure wissen, wie großzü- maier, das ist Stammtischniveau auf niederster Ebene. gig die Genehmigungen erteilt werden. Deswegen Es verharmlost in unzulässiger Weise die kriminellen werden die Gesetzentwürfe nichts an den grundle- Schandtaten von Mielke und seinen Genossen. Wer so genden Problemen des Rüstungsexports ändern. Die spricht, hat wenig politisches Feingefühl und sollte Aufrüstung der Staaten in Krisengebieten durch die sich wirklich nicht zum Hüter des demokratischen Bundesrepublik Deutschland geschieht zu weiten Rechtsstaates aufspielen. Teilen völlig legal, schlicht der Rationalität des Marktes folgend. Und wenn hier von Exportwirtschaft (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der so geredet wird, als ob es um Kleider oder um Nah- CDU/CSU) rungsmittel ginge, dann wird das auch hieran deut- Meine Damen und Herren, noch ein Punkt, der mir lich. sehr wichtig ist, zum Abschluß. Wir müssen Sorge tra- gen, daß mit den Verschärfungen der Bestimmungen Wer die Exporte der todbringenden Ware Rüstung wegen einzelner schwarzer Schafe nicht Wettbe- wirklich verhindern will, muß Rüstungsexporte voll- werbsnachteile für die deutsche Exportwirtschaft im ständig und wirksam unterbinden. Der Kollege Bach- internationalen Vergleich entstehen. Das große Pro- maier hat das angesprochen. Wir bedauern nach wie blemfeld ist nun einmal das der Dual-use-Güter. Hier vor, daß Sie unserer Forderung nach tatsächlichem müssen wir uns zum einen national um eine weitere Verbot des Rüstungsexports, und zwar nicht nur zwi- - schen Nicht-NATO-Ländern und der Bundesrepu- Beschleunigung der Kontroll- und Erfassungsverfah- blik, nicht zustimmen können. ren bemühen. Ich wiederhole gerne, was mir gegen- über dazu von Vertretern der Exportwirtschaft geäu- Da sind zum einen die politischen Akteure, die ihre ßert wurde: Kontrolle ja, aber kontrolliert schnell! Außenpolitik militärpolitisch abstützen wollen und Zum anderen muß eine internationale Harmonisie- dafür ihre nationalstaatliche Rüstungsindustrie benö- rung der Kontrollvorschriften erreicht werden. Die tigen. Das ist im Moment insbesondere hier aktuell: deutsche Wirtschaft darf nicht deshalb Schaden neh- Die Bundesregierung will den macht- und militärpo- men, weil andere Länder eine schärfere Kontrollpraxis litischen Handlungsspielraum erweitern und ent- verweigern. Die Bundesregierung bleibt hier aufge- deckt beispielsweise in einer Studie flugs vitale Inter- fordert, initativ zu werden. Sie hat dabei unsere Unter- essen im Nahen Osten. Schon jetzt ist im übrigen klar, stützung. daß die kleinen Rest riktionen, die hier möglicher- Danke. weise beschlossen werden, im europäischen Rahmen noch in diesem Jahr wieder fallen werden. Das hat (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Herr Bangemann bereits deutlich geäußert. (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Sie sagen be Das Wort Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: wußt die Unwahrheit, aber wenigstens char hat die Abgeordnete Frau Lederer. -mant!) — Dann sollten Sie die Äußerungen von Herrn Ban- Andrea Lederer (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir heute erneut gemann genau studieren, Herr Kittelmann. über das Thema Rüstungsexport reden, dann hat sich Die zweite Gruppe ist die bundesdeutsche Indu- im Prinzip nur eines geändert: Das ist die Existenz des strie, die in erster Linie an den Rüstungsprodukten gut SPD-Gesetzentwurfs, der die K ritik am Aufbau eines verdient. vierten Geheimdienstes, wie er im Regierungsentwurf Zum dritten ist hier das Militär zu nennen, das im- mit Befugnissen für das Zollkriminalinstitut geschaf- mer gern das modernste Spielzeug haben will. fen wird, zu Recht aufgreift. Mehr hat sich allerdings Sowohl der Koalitionsentwurf als auch der Entwurf auch nicht geändert. der Sozialdemokraten doktern nur an den Symptomen Ziel beider Entwürfe ist im Prinzip lediglich die Ein- herum. Abrüstungspolitische Perspektiven — von schränkung illegaler Waffenexporte; die legalen friedenspolitischen ganz zu schweigen — sind darin bleiben nach wie vor weitgehend unberührt. Dabei ist nicht zu finden. Aus diesen Gründen werden wir doch der eigentliche Skandal, wenn wir z. B. an den beide Entwürfe ablehnen. Golfkrieg zurückdenken, in welchem Milliardenum- fang deutsche Rüstungskonzerne, z. B. MBB, zum Teil (Beifall bei der PDS/Linke Liste) über Rüstungskooperation mit Frankreich, an der Auf- rüstung des Regimes von Saddam Hussein beteiligt waren. Waffen „Made in Germay" gehören — das Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort übrigens auch schon zu Zeiten der früheren Schmidt- hat der Abgeordnete Eylmann. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991 3277

Horst Eylmann (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Hermann Bachmaier (SPD): Herr Eylmann, ist Ih- sehr verehrten Damen und Herren! Als gestern abend nen bekannt, daß wir auch bereit waren, den Teil mit der nächtliche Wind die Materialien des Kollegen den Strafsanktionen und den Gewinnabschöpfungs- Bachmaier in Bonn zu verwehen drohte, habe ich un- möglichkeiten, über den wir uns nach mühsamer Dis- ter tätiger Mithilfe einer Kollegin von der FDP dafür kussion einigen konnten, vorab zu verabschieden und gesorgt, daß sie nicht verlorengingen. die Abhörfragen auszuklammern? Ist Ihnen bekannt, (Dr. Hans de With [SPD]: Echte Kollegialität, daß dies an den Koalitionsparteien und nicht an der wird begrüßt!) SPD gescheitert ist? Das alles könnte doch längst Ge- setz sein; das wissen Sie doch. So großzügig gehen die Regierungsparteien mit der Opposition um. In der Sache selbst hat das natürlich (Beifall bei der SPD) seine Grenzen. Meine Damen und Herren, daß wir diesen Gesetz- entwurf heute erneut vorlegen müssen, ist das Ergeb- Horst Eylmann (CDU/CSU) : Ich kann Ihnen nur ent- nis einer von der SPD im Bundesrat angezettelten gegenhalten, daß mit einer bloßen Verschärfung der Prinzipienreiterei par excellence. Strafen nicht geholfen ist, sondern daß es entschei- dend darauf ankommt, den Export von Waffen tat- (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: So ist es!) sächlich zu verhindern. Es waren doch die SPD-regierten Bundesländer, die verhindert haben, daß der Gesetzentwurf, den wir (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: So ist es! hier schon im März verabschiedet hatten, Gesetzes- Darum geht es!) kraft bekommt. Sie haben das abgelehnt, weil Sie das Es muß verhindert werden, daß sie über die Grenze darin vorgesehene Recht des Zentralen Zollfahn- gehen! Sie wollen nur nachträglich bestrafen, wäh- dungsamtes, in bestimmten, sehr eng begrenzten Fäl- rend wir schon im Vorfeld, wie es in der Diskussion len — immer verlangt worden ist, verhindern wollen, daß die (Hermann Bachmaier [SPD]: Auf Antrag des Waffen über die Grenze gehen. Finanzministers!) (Beifall bei der CDU/CSU) mit richterlicher Zustimmung; das haben Sie immer Ich meine, in diesem Hause sollte Einigkeit darüber vergessen — eine Post- und Fernmeldeüberwachung bestehen, daß wir das bereits im Vorfeld verhindern durchzuführen, nicht akzeptieren wollten. wollen und daß das sehr viel wichtiger ist. Das ist (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Trotz richter- gerade auch von der Opposition immer verlangt wor- licher Zustimmung!) den. Wie der von Ihnen inzwischen vorgelegte Gesetz- Sie scheinen nun solche präventiven Maßnahmen entwurf beweist, sind Sie aber keineswegs gegen eine zu fürchten wie der Teufel das Weihwasser. Oder solche Überwachung. Sie wollen ihr nur eine andere fürchten Sie sie vielleicht doch nicht? In Nordrhein- gesetzliche Grundlage geben und meinen, damit ei- Westfalen jedenfalls nicht. § 18 des nordrhein-west- nen rechtsstaatlicheren Weg zu gehen, fälischen Polizeigesetzes aus dem Jahre 1990 erlaubt der Polizei z. B. präventiv die Erhebung personenbe- (Dr. Hans de With [SPD]: Ja, aber mit Sicher- zogener Daten durch den verdeckten Einsatz techni- heit!) scher Mittel zum Abhören und Aufzeichnen des ge- während Sie in Wahrheit, wie ich Ihnen nachweisen sprochenen Wortes, soweit Tatsachen die Annahme werde, weit vom Pfade der rechtsstaatlichen Tugend rechtfertigen, daß Straftaten von erheblicher Bedeu- abweichen. tung begangen werden sollen. Das ist zweifellos eine (Widerspruch bei der SPD — Peter Kittel- sehr weitgehende Ermächtigung. Sozialdemokraten mann [CDU/CSU]: Das ist ja interessant!) sehen ja manchmal etwas realistischer, wenn sie in Dabei nehmen Sie in Kauf, daß Sie auf diese Weise der Regierungsverantwortung stehen, als wenn sie nun schon monatelang den doch auch von Ihnen für hier in Bonn in der Opposition sind. dringend notwendig gehaltenen Prozeß einer Ver- Ich will diese Ermächtigung nicht kritisieren. Ich schärfung der Vorschriften im Außenhandelsrecht frage mich allerdings, ob Sie die Zulässigkeit präven- blockieren. Ihr Verhalten, liebe Kolleginnen und Kol- tiver Maßnahmen, die mit Eingriffen in Persönlich- legen von der SPD, beweist deshalb nicht nur eine keitsrechte verbunden sind, allein nach dem Standort kleinkarierte juristische P rinzipienreiterei; Ihr Verhal- der betreffenden Vorschrift beurteilen. In einem Lan- ten beweist auch, daß Sie zwar reich an Worten Ihre despolizeigesetz halten Sie das offenbar für zulässig, Entrüstung über den illegalen Waffenexport äußern, in einem Außenwirtschaftsgesetz nicht. aber arm an Taten sind, nämlich wenig zur Verhinde- Aber es kommt ja noch viel widersinniger. Wir wol- rung desselben tun. len unter bestimmten Voraussetzungen den Eingriff in das Post- und Fernmeldegeheimnis zulassen, wenn Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- Anhaltspunkte dafür bestehen, daß schwerwiegende geordneter Eylmann, dies veranlaßt den Abgeordne- Straftaten nach § 34 des Außenwirtschaftsgesetzes ten Bachmaier, eine Zwischenfrage zu stellen. Möch- geplant sind. Wenn ich eine Straftat plane, ist das ten Sie diese auch beantworten? rechtlich noch kein strafbarer Versuch, wie wir alle wissen, denn ein Versuch liegt erst dann vor, wenn der Täter aus dem Stadium des Planens heraustritt Horst Eylmann (CDU/CSU): Aber gern, wenn es und unmittelbar zur Ausführung der Straftat an- nicht angerechnet wird. setzt. 3278 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991

Horst Eylmann Nur bei Verbrechen im technischen Sinne — Min- Ich bleibe dabei: Sie haben es nur aus dem Grund deststrafe: ein Jahr; das haben Sie hier gar nicht bean- strafbar gemacht, weil Sie abhören wollen. tragt — sind auch wegen des besonderen kriminellen (Widerspruch bei der SPD) Gehalts Vorbereitungshandlungen strafbar. Es wird auch nach Ihrem Gesetzentwurf überhaupt Ihr Trick besteht nun darin, daß Sie nur deshalb, nicht weniger oder mehr abgehört als nach unserem. weil Sie überwachen wollen, an sich straflose Vorbe- Das ist das Entscheidende. Das versuchen Sie zu ver- strafbar machen. Sie haben das reitungshandlungen nebeln. Es ist wirklich kein juristisches Meisterstück, anfangs gar nicht beantragt. Erst als es um die Über- was Sie hier abliefern. wachung ging, ist Ihnen eingefallen: Das wäre ja ein einfacher Weg; wir machen das alles strafbar, und Wir halten mit unserem Gesetzentwurf an der ein- dann können wir nach der Strafprozeßordnung vorge- geschlagenen Linie fest. Dieser Gesetzentwurf ist, hen. wenn er hier verabschiedet wird, nicht zustimmungs- bedüftig. Wir können also dieses Gesetz gegen die Das ist wirklich ein sehr bedenklicher Weg. Er Mehrheit des Bundesrates durchsetzen. bringt kein Mehr an Rechtsstaatlichkeit, sondern ein Weniger, wie ich Ihnen gleich noch darlegen werde. Somit ist es ein weiteres Mal die Koalition, die dafür sorgt, daß wir weitere Schlupflöcher des illegalen Waffenexports verstopfen und damit unserer beson- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Möchten deren historischen Verpflichtung, von der hier schon Sie auch dem Abgeordneten de With eine Antwort auf die Rede war, gerecht werden. seine Zwischenfrage geben? — Bitte. Ich wiederhole: Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, zeigen sich ein weiteres Mal reich an Dr. Hans de With (SPD): Herr Kollege Eylmann, räu- Worten, aber arm an Taten. men Sie ein, daß das Strafgesetzbuch in gravierenden (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Fällen durchaus die Strafbarkeit von Vorbereitungs- Lachen bei der SPD) handlungen kennt und daß nach Ihrem Entwurf der Finanzminister allein, wenn Verzug droht, für drei Tage das Abhören anordnen kann, was eine ziemlich einmalige Regelung ist? Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort hat die Abgeordnete Frau Wollenberger.

Horst Eylmann (CDU/CSU): Zu Ihrer letzten Frage: Das ist richtig. Dabei vergessen Sie aber zu erwähnen, Vera Wollenberger (Bündnis 90/GRÜNE) : Herr Prä- daß er innerhalb von drei Tagen die Zustimmung des sident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Eyl- Landgerichts einholen muß. mann, ich freue mich, zu hören, daß die Koalitionspar- (Dr. Hans de With [SPD]: Ich habe gesagt: für teien etwas gegen den Rüstungsexport unternehmen drei Tage! Ich habe es nicht vergessen! — wollen. Ich hoffe, sie dehnen ihre Bemühungen umge- Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Es geht doch hend auf die legalen Rüstungsexporte aus. Denn vor nur um Gefahr im Verzug!) etwas mehr als einem Jahr hat der Irak mit legal exportierten deutschen Waffen den Kuwait überfal- Was Ihre erste Frage angeht, so habe ich doch aus- len, und mit legal exportierten deutschen Waffen be- geführt: Bei Verbrechen im technischen Sinne drohte der Irak monatelang Israel. Der von den Alli- — Mindeststrafe: ein Jahr — ist die Vorbereitungs- ierten unter Führung der USA geführte Krieg gegen handlung strafbar. Das steht im Strafgesetzbuch. den Irak wurde auch damit begründet, man könne Aber Sie selber haben nicht beantragt, daß die nicht ausschließen, daß der Irak u. a. mit deutscher Straftaten in der Neufassung des § 34 Verbrechen sein Hilfe in kürzester Zeit in der Lage sein könnte, Atom- sollen. Erst später im Zuge der Diskussion, als Sie waffen herzustellen. merkten, Sie würden wohl nicht darum herumkom- men, Überwachungen vorzunehmen, ist Ihnen einge- Der von deutschen Unternehmern und deutschen fallen, diese Vorbereitungshandlungen zu Straftaten Politikern, die diese gewähren ließen, mitverursachte umzudeklarieren. Krieg hat Hunderttausende von Menschen das Leben gekostet. Die genauen Zahlen kennen wir noch immer Ich bleibe dabei: Das ist ein juristischer T rick. Er ist nicht, und wir werden sie wohl nie erfahren, weil rechtsstaatlich bedenklich, weil er ein Schritt zum keine der beiden Seiten Interesse an der Wahrheit Gesinnungsstrafrecht ist. hat. (Widerspruch bei der SPD — Hermann Bach- Klar ist nur, daß Saddam Hussein trotz des Krieges maier [SPD]: Vorbereitungshandlungen?) immer noch an der Macht ist, daß die Bevölkerung — Es ist ein Schritt zum Gesinnungsstrafrecht! Es hat weiter unter seinem beispiellosen Terror leiden muß, schon seinen guten Grund, daß wir nicht bloße Ent- daß Zehntausende von Kindern an den Folgen des schlüsse, die überhaupt nicht nach außen dringen und Embargos, an den Folgen der Zerstörungen des Krie- vielleicht auch gar nicht nach außen dringen sollen, ges leiden oder gestorben sind. Es gibt kein schlim- strafbar machen. Das ist ja der tiefere Hintergrund der meres Beispiel für die Auswirkungen deutscher Rü- Regelung im Gesetz über den Versuch. Man muß zur stungsexport-Politik als dieses Beispiel Irak. Straftat ansetzen. Als alles zu spät war, bot die Bundesregierung groß- (Dr. Hans de With [SPD]: Auch Planungen zügig ihre Hilfe an. Ein Chemiewaffenexperte des müssen konkretisiert werden, sonst geht es Auswärtigen Amtes durfte an der UNO-Inspektion nicht!) teilnehmen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991 3279

Vera Wollenberger Als die Staatsanwälte im Imhausen-Prozeß hände- exporte in alle Länder der Welt hauptsächlich Geneh- ringend nach deutschem Sachverstand suchten und migungen nach dem Abschnitt C umfaßt. Es handelt einen Experten aus dem Kreis bundesdeutscher Be- sich hier also um völlig legale Rüstungsexporte. hörden gewinnen wollten, der ihnen ein Gutachten Aber — und das ist der Skandal der heutigen De- erstellt, das die Chemiewaffen-Pläne des Dr. Hippen- batte — genau hier will die Bundesregierung und wol- stiel-Imhausen bestätigen könnte, teilte die Bundesre- len die Koalitionsfraktionen, die den heutigen Ent- gierung den Ermittlern bedauernd mit, daß leider kei- wurf zur Verabschiedung vorschlagen, nichts än- ner der Beamten über das nötige Wissen verfüge. dern. (Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP] meldet sich Verstöße gegen Exportbestimmungen nach Ab- zu einer Zwischenfrage) schnitt C, z. B. durch Falschdeklarationen, wie eben angesprochen, sind nach den neuen Gesetzesvor- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Frau Ab- schlägen nach wie vor keine Straftaten, sondern Ord- geordnete Wollenberger, sind Sie bereit, eine Zwi- nungswidrigkeiten, die mit einer Maximalstrafe von schenfrage zu beantworten? 1 Million DM belegt werden können. Diese Summe ziehen die Unternehmen aus der Portokasse ab und Vera Wollenberger (Bündnis 90/GRÜNE) : Nein. kalkulieren sie von vornherein als vertretbares Risiko (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Das muß man ein. aber! Das gehört doch zur Demokratie!) Tiefes Mißtrauen gegenüber den Exportbestim- mungen ist also angesagt. Es wird — das möchte ich Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Dann fah- abschließend sagen — durch das unwürdige Gesetz- ren Sie bitte fort. gebungsverfahren genährt, daß wir seit einem halben Jahr erleben müssen. Sie von den Regierungsfraktio- Vera Wollenberger (Bündnis 90/GRÜNE) : Jetzt, wo nen wissen genau, daß die Opposition von SPD und sich mögliche Straftaten deutscher Unternehmen der GRÜNEN im Bundesrat und von SPD und Bündnis 90/ Verjährungsgrenze nähern, möchte die Bundesregie- DIE GRÜNEN im Bundestag wohlbegründete, rechts- rung Aufklärung von den Vereinten Nationen über staatlich zwingende Argumente gegen Ihren Vor- die Ergebnisse der Experten-Kommission, was die Be- schlag haben, dem Zollkriminalinstitut viel zu weit- teiligung deutscher Unternehmen an den Waffenpro- gehende Überwachungsrechte z. B. beim Brief- und duktionen des Irak angeht, als ob nicht der einfache Telefongeheimnis einzuräumen. Trotzdem weigern Blick in die Genehmigungsbescheide des Bundesam- Sie sich, den Gesetzentwurf ohne die beanstandeten tes für Wirtschaft der Bundesregierung hier wesent- ZKI-Befugnisse einzubringen. Sie spekulieren auf bil- lich mehr und vor allem bereits viel früher hätte helfen lige Polemik: Angeblich ist es jetzt die Opposition, die können. in Wirklichkeit seit zehn Jahren auf die schlimmen Wenn wir heute endlich wieder, mehr als ein Jahr Praktiken des illegalen Rüstungsexports aufmerksam seit Ausbrechen der Kuwait-Krise, über die Verschär- macht, die jetzt etwas blockieren will. In vielen Zei- fung der Rüstungsexportgesetze diskutieren und end- tungsartikeln werden Sie daher zu Recht beschuldigt, lich die vor einem Jahr gegebenen vollmundigen Ver- die überfallartige Einbringung der ZKI-Komponenten sprechen einlösen wollen, darf eines nie in Vergessen- als Tischvorlage im zuständigen Ausschuß habe nur heit geraten: Die Auskünfte, die die Bundesregierung dem Zweck gedient, das von Ihnen so ungeliebte Ge- jetzt von den Vereinten Nationen haben will und hof- setz zur schärferen Kontrolle des Waffenexports doch fentlich schnell bekommt, damit die Ge richte noch noch zu Fall zu bringen. tätig werden können, hat sie gar nicht nötig. Nach (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Überfallartig übereinstimmenden Schätzungen unabhängiger Ex- ist da gar nichts geschehen! Verwirren Sie perten wird der größte Teil des bundesdeutschen Rü- doch nicht die Öffentlichkeit mit falschen Be stungsexports in Länder der Dritten Welt völlig legal-hauptungen!) abgewickelt. Ca. 95 % der Exporte werden vom Bun- desamt für Wirtschaft in Eschborn genehmigt. Die Bündnis 90/GRÜNE bekräftigen ihre Position: Wir meisten dieser Genehmigungen beziehen sich auf fordern ein generelles Exportverbot für Waffen und den Abschnitt C der Ausfuhrliste, die sogenannten Rüstungsgüter, das im Grundgesetz verankert ist. Nur Dual-use-Güter, Produkte, die auch militärisch ver- wenn es keinerlei Handlungsspielraum für Todes- wendbar sind. Alle im Zusammenhang mit dem Irak händler gibt, können Kriege verhindert werden. bekanntgewordenen Rüstungsprojekte, z. B. die Ka- Ich danke Ihnen. nonenfabrik in Tadschi und viele andere, wurden vom (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der BAW und damit von der Bundesregierung unter die- SPD und der PDS/Linke Liste) sem Abschnitt C der Anlage zur Außenwirtschaftsver- ordnung ganz offiziell genehmigt. Da wir heute über die Verschärfung der Gesetze Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zu einer diskutieren, muß ich leider mit aller Schärfe und Deut- Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten lichkeit sagen: Der nächste „Fall Irak" ist vorprogram- Dr. Kolb das Wort. miert, wenn wir in dem Schlüsselbereich der Dual- use-Produkte des Abschnitts C nichts ändern. Es ist leider keine Polemik, wenn ich mitteile, daß Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Frau Kollegin Wollen- die vor kurzem den Parlamentariern erstmals zur Ver- berger, ich möchte hier mit Nachdruck gegen Ihre fügung gestellte Übersicht des Bundeswirtschaftsmi- Ausführungen protestieren, mit denen Sie den Ein- nisteriums über die Genehmigungen aller Rüstungs- druck erweckt haben, als ob die bundesdeutsche 3280 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991

Dr. Heinrich L. Kolb Wirtschaft mit legalen Exporten zum Krieg im Irak Produkte etwa 50 % unserer gesamten Exporte aus- beigetragen hätte. Das ist ausgesprochen falsch. machen. Meine Bemerkung bezieht sich darauf, daß (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: So ist es! — diejenigen, die mit Rüstungsexport gar nichts zu tun Vera Wollenberger [Bündnis 90/GRÜNE]: haben, aber einer Kontrolle unterliegen, Anspruch Ich habe es nicht nur behauptet, ich habe es darauf haben, daß sie schnell, zügig und unbürokra- auch begründet! — Peter Kittelmann [CDU/ tisch die Genehmigung erhalten, weil sie sonst im CSU]: Sie haben aber keinen Beweis er- internationalen Wettbewerb benachteiligt sind. bracht!) Ich finde es sehr bedauerlich, wenn Sie sich weigern, Ernst Schwanhold (SPD): Über Fragen des Verfah- die von Ihnen aufgestellten Behauptungen durch eine rens, Herr Kittelmann, kann man sich durchaus unter- Zwischenfrage überprüfen zu lassen. halten. Es ist nicht sinnvoll, wenn Entscheidungen, die Ich möchte Sie doch auch im Interesse des Anse- sehr schnell zu treffen sind, acht oder zehn Monate hens unserer Wirtschaft im Ausland bitten, künftig auf offenbleiben. Aber unsere Gesetzesvorlage bemüht derart pauschale und nicht nachweisbare Behauptun- sich darum, die Industrie schlechthin vor den schwar- gen zu verzichten. zen Schafen zu schützen, und genau darum geht es. Schönen Dank. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Immerhin Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Ja, wir sind ist damit die Feststellung als Frage verstanden wor- doch hier nicht im Theater, sondern im Bun- den. destag! — Hermann Bachmaier [SPD]: Guk- ken Sie doch mal nach, wofür alles Hermes- Ernst Schwanhold (SPD): Das geschieht gelegent- Bürgschaften gegeben worden sind! — Zuruf lich an anderer Stelle auch. vom Bündnis 90/GRÜNE: Das Ansehen ist Der Irak-Be richt hat sicher auch nur einen Teil der sowieso hin!) tatsächlichen Verfehlungen der Vergangenheit auf- gedeckt, und ich befürchte, daß wir immer wieder Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort angesprochen werden, Herr Kittelmann, und immer hat der Abgeordnete Schwanhold. wieder am Pranger der Weltöffentlichkeit stehen. - Der Bundeswirtschaftsminister hat sich wohl nicht Ernst Schwanhold (SPD): Herr Präsident! Meine zu Unrecht in der Vergangenheit den Ruf eines Lob- sehr verehrten Damen und Herren! Ich überlasse das byisten der Rüstungsindustrie erarbeitet. Wir begrü- Urteil über die beiden vorliegenden Gesetzentwürfe ßen es außerordentlich, wenn der Bundeswirtschafts- gerne der interessierten Öffentlichkeit. Ich bin sicher, minister angesichts der Erkenntnisse aus dem Irak daß die interessierte Öffentlichkeit, übrigens genauso Krieg seine Lehren gezogen hat und sich auf dem wie Herr Hirsch von der FDP, unseren Vorschlag als Weg vom Saulus zum Paulus befindet. Wir werden ihn denjenigen betrachtet, der der Rechtslage und der auf diesem Weg nachhaltig unterstützen. Zu fragen Notwendigkeit zum Handeln gerecht wird. bleibt allerdings, wo seine auch hier angekündigten Vereint sind wir auf beiden Seiten des Hauses in Initativen geblieben sind, auf internationaler Ebene dem Wunsch, das Außenwirtschaftsgesetz und die die EG-Rüstungsexporte zu regeln. Dies wird sicher entsprechenden Strafbestimmungen zu verschärfen. schwer, aber wir werden ihn dabei unterstützen, und Verletzungen dieser Gesetze, auch Vorbereitungs- das ist unerläßlich. Nur muß die Initiative von ihm handlungen, von denen wir von seiten der Wirtschaft kommen, und dort hat er Handlungsdefizite. hören, daß sie noch immer wieder vorkommen, wie Verfahrenswege und Genehmigungen sowohl im die unerlaubte Ausfuhr von Waffen und Dual-use- Dual-use-Bereich als auch im Waffenbereich müssen Gütern, müssen frühzeitig erkannt und verhindert international abgestimmt werden. Auch hier gibt es werden. Dazu haben wir unseren Vorschlag gemacht. Handlungsdefizite von seiten des Bundeswirtschafts- Aspekte der Vergangenheit, Verstöße und kriminelle ministers. Vorgehensweise von Teilen der Industrie machen die- Als weitere Frage muß aufgeworfen werden, inwie- ses Gesetz notwendig. weit der Minister Möllemann im Rahmen der EG In- Herr Kittelmann, mir klingeln die Ohren, wenn ich itiativen ergriffen hat, um Modelle der Kooperation höre, daß Sie von Wettbewerbsfähigkeit der deut- mit Drittländern zu unterbinden und auch diese Ex- schen Industrie sprechen. Die Wettbewerbsfähigkeit porte unter Exportbeschränkungen zu stellen. Es ist der deutschen Industrie ist im wesentlichen dadurch eben kein Fortschritt bei der Beschränkung von Rü- eingeschränkt, daß sich die Exporteure des Todes stungsexporten, wenn deutsche Firmen zwar nicht di- selbst in Mißkredit bringen und deshalb nicht mehr im rekt liefern dürfen, letztlich aber in Form von Koope- Ausland anerkannt und angesehen sind. ration mit neuen Ländern dennoch aus Drittländern deutsche Waffen in Krisengebiete geliefert werden. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Sind Sie Dies macht 70 % der deutschen Waffenexporte aus. bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten? Zu fragen bleibt auch, welche Initiativen der Bun- deswirtschaftsminister wo gestartet hat, um die Dual- Ernst Schwanhold (SPD): Bitte schön. use-Beschränkungen über den Abschnitt A hinaus und über die Länderliste H hinaus auf alle Waren und Peter Kittelmann (CDU/CSU): Herr Kollege, viel- Dienstleistungen vorzunehmen, die für den militäri- leicht handelt es sich auch um ein Mißverständnis. Ich schen Einsatz Verwendung finden sollen. Ich halte gehe davon aus, daß Sie wissen, daß die Dual-use- dies für unerhört wichtig, weil wir natürlich auch von Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991 3281

Ernst Schwanhold seiten der Indust rie bedrängt werden, Aufweichun- Rüstungsexportbegrenzungen das Wort redet, son- gen z. B. in der Länderliste H vorzunehmen. Hier dern daß wir das nur im Zusammenhang mit unseren scheint es wichtig zu sein, eine gemeinsame Initiative Partnern in der Welt erledigen können. Die Initiativen zu starten. werden fortgesetzt. Ich bitte Sie, Herr Kollege Wir sind außerdem bereit, auch das Recht zur Au- Schwanhold, das auch zur Kenntnis zu nehmen. ßenwirtschaftsprüfung auf Anordnung der Bundesre- Frau Kollegin Wollenberger, ich möchte eines rich- gierung erneut zu verschärfen, und wir sind bereit, tigstellen, denn die ganze Diskussion leidet natürlich über den § 44 des Außenwirtschaftsgesetzes zu disku- darunter, daß die Fakten falsch gesetzt werden. Sie tieren. haben hier eben wieder eine Behauptung aufgestellt, Schließlich stelle ich — auch dies ist im Rahmen der die einfach nicht zutrifft. Es hat keine deutschen Diskussion um den Golfkrieg und die Beteiligung Kriegswaffenexporte in den Irak gegeben. Sie haben deutscher Waffen und Dual-use-Technik an der Ver- hier ein großes Leidensgemälde dargestellt, was ich sorgung des Irak erörtert worden — die Frage: Wann verstehen kann — schrecklich war das alles, was dort wird ein Bericht der Bundesregierung über alle ge- geschehen ist —; dies ist aber nicht vor dem Hinter- nehmigten Waffenexporte erstellt und vorgelegt? Es grund deutscher Kriegswaffenexporte in den Irak ge- wäre hilfreich für den Bundestag, diesen Be richt und schehen. Das stimmt einfach nicht. diese Liste zu bekommen. Zwei weitere Daten möchte ich dem Hohen Hause Gestatten Sie mir abschließend eine Bemerkung, noch einmal verdeutlichen, weil sie für die deutsche die sich auf den Herrn Bundespräsidenten bezieht, und für die internationale Diskussion wichtig sind. der kürzlich nachhaltig die Verfassungsdebatte ange- Der deutsche Anteil an den Waffenverkäufen in die mahnt hat. Im Rahmen dieser Debatte sind die Sozial- Dritte Welt betrug im letzten Jahr 0,5 %. 0,5 % ist also demokraten bereit, daran mitzuwirken, daß grundge- der deutsche Anteil. Man könnte zwar sagen „Am setzliche Regelungen für ein Verbot aller Waffen- besten gar nichts" — das würde ich vielleicht noch mit exporte über den Bereich der NATO hinaus getroffen unterstreichen — , aber man muß die Relativität der werden, und dies ist als Einstieg unbedingt notwen- Dinge ein wenig sehen: Deutschland 0,5 %! dig. Der Anteil des Kriegswaffenexports an unserem Sie sehen, Herr Bundeswirtschaftsminister, es gibt gesamten Exportvolumen, am Exportvolumen der eine Fülle weiterer Anregungen, die die Sozialdemo- Bundesrepublik Deutschland, hat im letzten Jahr kraten Ihnen vorlegen und bei deren Umsetzung sie 0,3 % betragen. zur Mitarbeit und zur Mithilfe bereit sind, um Rü- (Ernst Schwanhold [SPD]: Darauf können wir stungsexporte für die Zukunft drastisch zu reduzieren, vollständig verzichten! — Weitere Zurufe damit die deutsche Wirtschaft und die deutsche Politik von der SPD und vom Bündnis 90/GRÜNE) in der Zukunft nicht wieder am Pranger der Meinung Ich will damit nur verdeutlichen , daß man die Dinge der Weltöffentlichkeit stehen, wie es im Golfkrieg der in der Relation richtig sehen muß, daß man also nicht Fall war. — Dies werden Prüfsteine für den Bundes- so tun sollte, als wäre die Bundesrepublik Deutsch- wirtschaftsminister auf seinem Weg zum Paulus land der Kriegswaffenexporteur in der Welt, als hinge sein. unsere Volkswirtschaft von diesen Dingen ab (Beifall bei der SPD) (Ernst Schwanhold [SPD]: Um so schlimmer ist das!) Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Als letz- und als setzte sich die Bundesregierung deswegen mit tem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile Nachdruck für diese Dinge ein. Im Gegenteil: Wir ich dem Parlamentarischen Staatssekretär Klaus haben ganz andere Sorgen. Beckmann das Wort. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Abg. Hermann Bachmaier [SPD] meldet Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär beim Bun- sich zu einer Zwischenfrage) desminister für Wirtschaft: Herr Präsident! Meine sehr — Bitte schön, Herr Bachmaier! verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Schwan- hold, zunächst einige Klarstellungen zu Ihren Berner- Eine Zwi- kungen. Sie haben gefragt: Was tut die Bundesregie- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: schenfrage des Abgeordneten Bachmaier. rung, um über die Länderliste H hinauszugehen und hier weitere Eingrenzungen vorzunehmen? — Ich bitte Sie, dazu einen Blick in den § 5 c zu werfen. Dann Hermann Bachmaier (SPD): Herr Staatssekretär, ist werden Sie sehen, daß unsere Bemühungen dort Ihnen bekannt, daß sich die legalen deutschen Waf- schon ihren Niederschlag gefunden haben. fenexporte von 5,3 Milliarden DM im Jahre 1988 auf Im übrigen ist es richtig, daß die Bundesrepublik 13 Milliarden DM im Jahre 1990 erhöht haben, sich Deutschland die anstehenden Probleme nicht allein also binnen dreier Jahre mehr als verdoppelt ha- lösen kann, sondern daß sie diese Probleme nur im ben? internationalen Kontext, auf EG-Ebene und gemein- sam mit den internationalen Partnern bewältigen Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär beim Bun- kann. Deswegen hat die Bundesregierung bei den desminister für Wirtschaft: Herr Kollege, das ist eine zurückliegenden Konferenzen, beim Weltwirtschafts- Zahl, die mich nicht überrascht; denn Sie müssen z. B. gipfel, aber auch im EG-Ministerrat, mehrfach sehr den Sonderschiffbau und auch den Export in NATO- nachdrücklich darauf hingewiesen, daß es nicht die Länder oder in NATO-ähnliche Länder einbeziehen. Bundesrepublik Deutschland allein sein kann, die den Deswegen verändern sich die Relationen doch schon 3282 Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991

Parl. Staatssekretär Klaus Beckmann einmal erheblich. Insgesamt bleibt es natürlich bei die auch hier heute geäußerten Bedenken sehr ernst. dem Zahlenwerk, das ich hier eben genannt habe. Wir haben deshalb im Hinblick auf den Schutz der (Abg. Vera Wollenberger [Bündnis 90/ Privatsphäre des Bürgers den vorliegenden Text sehr GRÜNE] meldet sich zu einer Zwischen- eng mit dem Bundesbeauftragten für den Datenschutz frage) zusammen erarbeitet, und wir haben mit ihm Einver- nehmen erzielt. Auf der anderen Seite möchte ich klarstellen: Die Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Frau Wol- vorgeschlagenen Eingriffe in das B rief-, Post- und lenberger hat jetzt noch um das Wort zu einer Zwi- Fernmeldegeheimnis sind zum Schutz höchster Ver- schenfrage gebeten. fassungsgüter — des Friedens und des menschlichen Lebens — notwendig. Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär beim Bun- (Vorsitz: Vizepräsident Helmuth Becker) desminister für Wirtschaft: Herr Präsident, ich möchte Die nicht nachlassenden Bemühungen einiger jetzt zu meinen eigentlichen Ausführungen kommen. fremder Staaten, sich Rüstungsgüter oder Komponen- Ich bitte dafür um Verständnis. Sonst komme ich nicht ten dazu aus dem Bundesgebiet illegal zu beschaffen, mehr zur Sache selbst, Frau Kollegin. Ich stehe Ihnen erfordern eine Verbesserung der Vorfeldaufklärung. aber gern gleich noch zum Gespräch zur Verfü- Die Erfahrungen mit raffinierten illegalen Beschaf- gung. fungsbemühungen des Irak — selbst während des Meine Damen und Herren, zur Verbesserung der Embargos —, z. B. auch unter Verwendung von Um- Exportkontrollen enthält dieser Gesetzentwurf vor al- wegadressen, zeigen klar die Notwendigkeit einer lem drei wesentliche Punkte, nämlich erstens eine solchen Vorfeldaufklärung. Einzeleingriffsermächtigung für den Bundeswirt- Von den Entwürfen der Bundesregierung und der schaftsminister bei eilbedürftigen Einzelfällen — sol- Koalitionsfraktionen unterscheiden sich die Entwürfe che Fälle gibt es ja immer wieder —, zweitens eine der Opposition vor allem in dem Verzicht auf die Ein- erhebliche Strafverschärfung bei Verstößen, insbe- griffsbefugnis des Zollkriminalinstituts. Aber es ge- sondere auch bei UN-Wirtschaftssanktionen, und drit- nügt nicht, wie es die Opposition vorschlägt, die Straf- tens eine Vorfeldaufklärung durch das Zollkriminalin- barkeit von Beschaffungsaktivitäten im Bereich ille- stitut, und zwar notfalls auch durch Beschränkungen galer Exporte lediglich vorzuverlagern. Das kann des Post-, Brief- und Fernmeldegeheimnisses. auch keine Aufgabe der Staatsanwaltschaft sein, son- Die Unterschiede zu dem vorangegangenen Gesetz dern bedarf einer für präventive Aufgaben geeigne- bestehen vor allen Dingen in zwei Punkten: Erstens. ten Behörde wie des Zollkriminalinstituts. Es geht In diesem Entwurf fehlt die Vorschrift, die im Geset- nämlich vor allen Dingen um Prävention. zesbeschluß des Bundestages die Zustimmungsbe- Meine Damen und Herren, zur verfassungsrechtli- dürftigkeit des Bundesrates ausgelöst hatte. Es han- chen Seite der Gesetzesänderungen möchte ich hier delte sich dabei mehr um eine technische Vorschrift keine weiteren Ausführungen machen; das hat der zur Umsetzung von EG-Recht in nationales Recht. Kollege Eylmann hier sehr nachdrucksvoll getan. Zweitens. Der neue Gesetzentwurf nimmt Beden- Lassen Sie mich zum Schluß herzlich darum bitten, ken auf, die im Bundesrat gegen die Ermächtigung daß Sie alle diesem Gesetzentwurf der Koalitionsfrak- des Zollkriminalinstituts zu Eingriffen in das Brief-, tionen Ihre Unterstützung gewähren und die Beratun- Post- und Fernmeldegeheimnis erhoben wurden. gen in den Ausschüssen rasch durchführen. Jetzt sind umfangreiche Verpflichtungen des ZKI zur Unterrichtung der Staatsanwaltschaft über solche Ein- Vielen Dank. griffe vorgesehen. Meine Damen und Herren, ich (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) halte das für eine wesentliche Verbesserung des ur- sprünglichen Textes. Insoweit war auch die Kritik des Bundesrates hilfreich. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Die Unterrichtung der Staatsanwaltschaft gewähr- leistet die unerläßliche Koordinierung der Maßnah- Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Gesetzent- men, um illegalen Exporteuren ihr kriminelles Hand- würfe auf den Drucksachen 12/765 und 12/899 zur werk besser legen zu können. Sie bedeutet also ein federführenden Beratung an den Ausschuß für Wirt- Plus an Effektivität, und sie bedeutet auch ein Mehr schaft sowie zur Mitberatung an den Innenausschuß an rechtsstaatlicher Klarheit. und den Rechtsausschuß zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Die obligatorische Unterrichtung der Staatsanwalt- Dann sind diese Überweisungen so beschlossen. schaft soll zugleich die befürchtete Verselbständi- gung des ZKI gegenüber der Staatsanwaltschaft als Verfolgungsbehörde ausschließen. Der Schutz der Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 5 auf: Privatsphäre des Bürgers bleibt weiterhin Verfas- Erste Beratung des von den Abgeordneten sungsgebot. Es gilt, die Barrieren im Bereich dieses Claudia Nolte, , Dr. Ma ria Böh- Schutzes zu respektieren. mer, weiteren Abgeordneten und der Fraktion Keinesfalls dürfen die vorgeschlagenen Eingriffe der CDU/CSU sowie der Abgeordneten zum Schutz des Friedens und des menschlichen Le- Dr. Margret Funke-Schmitt-Rink, Detlef Klei- bens zum Anlaß genommen werden, den bisher beste- nert (Hannover), Sabine Leutheusser-Schnar- henden Katalog für Telefonkontrollen ins Uferlose renberger, weiteren Abgeordneten und der auszuweiten. Die Bundesregierung nimmt insoweit Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs ei- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991 3283

Vizepräsident Helmuth Becker nes Gesetzes zur Änderung adoptionsrechtli- mung der leiblichen Eltern nicht erforderten, geprüft cher Fristen (AdoptFristG) werden können. Hier werden auch die Stasi-Akten — Drucksache 12/1106 — hilfreich sein. Zugleich wird eine individuelle Prüfung möglich, ob der Annehmende an einer etwaigen poli- Überweisungsvorschlag: tischen Einflußnahme beteiligt war und diese Ver- Rechtsausschuß (federführend) strickung eine Aufhebung des Annahmeverhältnisses Ausschuß für Familie und Senioren Ausschuß für Frauen und Jugend auch und gerade im Kindesinteresse erfordert. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für Viertens. Der Gesetzentwurf sieht ausdrücklich vor, die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Ich daß der jeweilige Richter den Antrag auf Aufhebung sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so be- der Zwangsadoption sehr sorgfältig im Hinblick auf schlossen. die Interessen des Kindes und seine bereits stattge- fundene Eingewöhnung in die Adoptivfamilie zu prü- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erster fen hat. Dies bedeutet, daß eine rechtswidrige der Herr Abgeordnete Dr. Michael Luther. Zwangsadoption dann trotzdem nicht aufgehoben wird, wenn das Wohl des Kindes dem entgegen- steht. Dr. Michael Luther (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Außerdem möchte ich noch darauf hinweisen, daß Präsident! Meine Damen und Herren! Namens der Adoptionsverfahren in der ehemaligen DDR, die nach CDU/CSU-Fraktion danke ich der Bundesregierung den Kriterien des BGB Rechtens gewesen wären, für die schnelle Ausarbeitung und Einbringung des nicht mehr aufgehoben werden dürfen. Gesetzentwurfs zur Änderung der adoptionsrechtli- chen Fristen. Erst am 19. Juni dieses Jahres haben wir Insgesamt scheint mit diesem Gesetzentwurf ein hier im Bundestag den dringenden Handlungsbedarf optimaler Ausgleich zwischen den Interessen der leib- zu diesem Thema festgestellt. lichen Eltern, deren Kinder zwangsadoptiert wurden, auf Wiederbegründung der familiären Einheit und Es kann und darf nicht sein, daß sozialistisches Un- den Interessen und dem Wohl des Kindes, das sich recht, das an vielen Familien durch Zwangsadoptio- bereits über einen längeren Zeitraum und gut in sei- nen in verachtenswerter Weise verübt worden ist, le- ner Adoptivfamilie eingelebt hat, gelungen zu sein. diglich aus einem formalen Grund, nämlich des Ab- Ich bitte daher die mit dem Gesetzentwurf befaßten laufs der Antragsfrist auf Rückgängigmachung von Ausschußkollegen um eine zügige und positive Bera- Adoptionsverfahren nach dem Recht der DDR, auf tung. ewige Zeiten festgeschrieben ist. (Beifall bei der CDU/CSU) In Kenntnis der sogenannten Zwangsadoptionen sieht schon der Einigungsvertrag die Möglichkeit vor, Vizepräsident Helmuth Becker: Das Wort hat nun in Anlehnung an die Regelungen des BGB auf Grund Frau Abgeordnete Margot von Renesse. von Anträgen bei Vormundschaftsgerichten durchge- führte Adoptionen gerichtlich überprüfen und gege- benenfalls aufheben zu lassen. Bei der Ausarbeitung Margot von Renesse (SPD): Herr Präsident! Meine des Einigungsvertrages gingen alle Beteiligten jedoch Damen und Herren! Das Thema, mit dem wir es hier davon aus, daß das Problem so überschaubar ist, daß zu tun haben, ist eine besonders herzzerreißende Hin- solche Anträge auf Aufhebung der Zwangsadoptio- terlassenschaft eines auch in menschlicher Hinsicht nen innerhalb eines Jahres nach Vollendung der brutal und unrechtmäßig handelnden Staates. Es erin- rechtlichen Einheit Deutschlands gestellt werden nert mich an die Erschütterung, die ich vor vielen Jah- können. Diese Annahme kann leider aus heutiger ren hatte, als ich von einem Vorgang bei holländi- Sicht nicht aufrecht erhalten werden. schen Vormundschaftsgerichten hörte. Dort hatten jü- dische Eltern während des Zweiten Weltkriegs und So ist z. B. nach bisher geltendem Recht die Kennt- nach der deutschen Besetzung das Land verlassen nis des jetzigen Aufenthaltsortes der betroffenen Kin- müssen und ihre Kinder zum Teil bei holländischen der für die leiblichen Eltern wichtig; denn nur bei dem Eltern gelassen, nach außen hin als deren Kinder, um für den Aufenthaltsort der Kinder zuständigen Vor- sie zu schützen. Sie kamen nach Jahren zurück und mundschaftsgericht können sie einen Antrag auf Auf- wollten ihre Kinder wiederhaben. Einzelprüfungen hebung der Zwangsadoption stellen. ergaben in einer Reihe dieser Fälle, daß es nicht zu Deshalb sind drei sehr begrüßenswerte und kluge einer Rückgabe der Kinder kommen konnte. Regelungen getroffen worden. Erstens ist dankens- Es gibt kaum etwas Schrecklicheres, als wenn ei- werterweise die Frist für einen Antrag auf Aufhebung nem ein Kind genommen wird, ohne daß man etwas einer Zwangsadoption bis zum 2. Oktober 1993 ver- dafür kann. Das Interesse dieser Eltern, für die ein längert worden. Kind zu haben ein biographischer Vorgang von un- Zweitens ist es zu begrüßen, daß in den Fällen, in verrückbarem Gewicht ist, ist auch von einem Gesetz- denen der genaue Aufenthaltsort nicht feststellbar ist, geber zu berücksichtigen. Darum bin ich auch für die jedes Vormundschaftsgericht als zuständig anzuse- Verlängerung der Fristen. Es ist auch wichtig, daß hen ist. Kinder erfahren, daß ihre Eltern sie nicht verraten und Drittens. Da die politische Motivation des Staates nicht vernachlässigt haben, auch wenn sie bei ihren DDR bei einer Zwangsadoption nicht in der offiziellen Adoptiveltern bleiben sollten. Entscheidung festgehalten ist, ist es richtig, wenn Ich halte es für richtig, daß die Bremsen des gelten- nach dieser Gesetzesänderung alle Adoptionen nach den Rechts, von einem behutsamen Gesetzgeber er- dem Familiengesetzbuch der DDR, die die Zustim- funden und hoffentlich von behutsamen Vormund- 3284 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991

Margot von Renesse schaftsrichtern gehandhabt, in jedem Einzelfall zum 2. Oktober diesen Jahres — da läuft sie ab — um wei- Tragen kommen, die zweifache Bremse der Aufhe- tere zwei Jahre hinausgeht? Wichtig ist sie, weil sich bung — mein Vorredner hat sie schon genannt — , den aus Unterlagen inzwischen ergibt, daß die nach dem nicht vorhandenen Automatismus der Sorgerechts- Familiengesetzbuch der ehemaligen DDR mögliche entscheidung und den nicht vorhandenen Automatis- Annahme an Kindes Statt gegen oder ohne den Willen mus einer Rückgabe in einen anderen Haushalt. Denn der Eltern mißbraucht wurde. auch die identitätsprägenden Beziehungen von Kin- Vielfältige Sachverhalte, die wir jetzt vielleicht auch dern selbst zu Pflegeeltern, die das Sorgerecht nicht noch gar nicht alle überblicken können, sind denkbar: haben sollten, werden im Gesetz geschützt. Nötigung inhaftierter Eltern, in die Adoption einzu- Ich denke noch darüber nach — darüber werden willigen, Flucht der Eltern als Grund, ihre Einwilli- wir im Rechtsausschuß zu reden haben —, ob nicht gung als entbehrlich zu betrachten, Entziehung des auch angesichts der möglicherweise sehr langen Erziehungsrechts politisch mißliebiger Eltern oder — sehr langen! — Adoptionsbeziehungen ein Weg eben Ersetzung der Einwilligung durch Gericht. Eine gefunden werden muß, um es nicht durch den knall- Übersicht über diese Fälle und abschließende Zahlen harten Verfahrensablauf zu einer möglicherweise kin- liegen bisher nicht vor. deswohlgefährdenden Verunsicherung kommen zu Die Frist läuft — wie schon von meinen Vorrednern lassen. Es fragt sich, ob man den normalen Ablauf und Vorrednerinnen gesagt — am 2. Oktober ab. Mit — Entgegennahme des Antrags, Ausfindigmachen dem Gesetzentwurf greifen wir einen Antrag der Ko- der Anschrift, Zustellung und dann Abwarten der alitionsfraktionen an die Regierung auf, diese F rist um Rückäußerung und dergleichen — wählt, sondern ob zwei Jahre zu verlängern. Das ist, glaube ich, notwen- man möglicherweise auch die Zustellung anders, dig und sinnvoll, weil es neben diesen schwierigen eventuell über Jugendämter, erfolgen lassen muß, da- Sachverhalten auch vielfältige praktische und verfah- mit Kinder nicht erschüttert werden. Denn wir müssen rensrechtliche Probleme geben wird. Deshalb ist eine einfach respektieren, daß das Verfahren selbst zu tie- gesetzgeberische Beratung, auch eine zügige Bera- fen Identitätskrisen bei Kindern führen kann. Es gibt tung, ganz dringend geboten. Der Gesetzentwurf muß kaum etwas, was behutsamer als die identitätsstif- in den nächsten vier Wochen verabschiedet werden. tende Wirkung von Familien gehandhabt werden Machen wir uns nichts vor: Den leiblichen Eltern muß. und den Kindern zugefügtes Leid, die Zerstörung von Ich danke. Familienbanden, möglicherweise auch von Lebens- (Beifall bei der SPD, der FDP, dem Bünd- glück können mit diesem Gesetzentwurf nicht wie- nis 90/GRÜNE und der PDS/Linke Liste so- dergutgemacht oder rückgängig gemacht werden. wie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deshalb sollten wir — darin stimme ich auch Frau von Renesse zu — in der gesetzgeberischen Beratung wirklich sehen, daß im Vordergrund auch dieses Ge- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und setzes das Wohl des Kindes steht, daß wir nicht büro- Herren! Das Wort hat nunmehr Frau Abgeordnete kratisch und gesetzgeberisch nüchtern vorgehen und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. daß wir das wirklich als erstes Ziel im Auge haben. Deshalb bitte ich Sie alle: Beraten Sie mit, unterstüt- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Herr zen Sie den Gesetzentwurf, so daß wir ihn so schnell Präsident! Meine Damen und Herren! wie möglich verabschieden können! — Vielen Dank. (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!) (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der — Selbstverständlich. SPD sowie bei Abgeordneten des Bündnisses 90/GRÜNE) In der nüchternen Gesetzessprache hört sich die notwendige Forderung nach Änderung adoptions- rechtlicher Fristen harmlos, unbedeutend und eigent- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und lich sehr unwichtig an. Ein Blick hinter diese Formu- Herren, ich erteile jetzt das Wort der Frau Abgeordne- lierungen und auf die Sachverhalte, die diese Frist- ten Dr. Barbara Höll. verlängerung dringend und eilbedürftig erforderlich machen, offenbart uns ein ganz dunkles Kapitel in der Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste): Verehrter Herr Familienpolitik der ehemaligen DDR: Trennung der Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte Kinder von politisch mißliebigen Eltern gegen oder grundsätzlich erklären, daß wir jeglichen politischen ohne deren Willen, Vermittlung der Adoption an Mißbrauch des Adoptionsrechts verurteilen. Da der Dritte, eine menschenverachtende Praxis unter dem vorliegende Gesetzesentwurf und seine Begründung SED-Regime, die nicht hinweggeleugnet werden durch den Justizminister allerdings nicht ausschließ- kann. lich an diesem Anliegen orientiert sind, finden Sie Was unter dem Vorwand, zum Wohl des Kindes zu meine Billigung nicht. handeln, von SED-Behördenwillkür angerichtet Justizminister Kinkel begründete den vorliegenden wurde, kann nicht wiedergutgemacht werden wie so Gesetzentwurf unlängst mit dem nach und nach offen- vieles von der Hinterlassenschaft des selbstverständli- bar gewordenen Ausmaß politisch motivierter che Grundrechte in unserem Sinne negierenden Sy- Zwangsadoptionen in der früheren DDR. Dieser Be- stems. gründung steht jedoch entgegen, daß es von 1973 bis Warum ist nun eine solche Fristverlängerung wich- 1990 in der DDR zwar 5 693 Klagen auf Ersetzung der tig, und zwar eine Fristverlängerung, die über den elterlichen Einwilligung zur Adoption gegeben hat; Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991 3285

Dr. Barbara Höll ebenso hat es aber in den Altbundesländern z. B. von Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Herr 1982 bis 1990 3 283 solcher Adoptionen gegeben. Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Allerdings ist in diesem Zusammenhang anzumer- Frau Dr. Höll, Sie können davon ausgehen, daß dieser ken, daß der Bundesregierung für die ehemalige DDR Staat sehr sensibel mit den Befindlichkeiten der Eltern bislang ein Ausmaß von sechs Fällen mit erhärtetem und der Kinder umgeht. Ich meine, daß es gerade die- Verdacht und in weiteren 15 Fällen Verdachtsmo- ses Thema verdient, daß wir alle gemeinsam versu- mente auf politisch motivierte Adoptionen ohne elter- chen, begangenes Unrecht eines Unrechtstaates wie- liche Einwilligung bekannt sind. Hierfür besteht Re- dergutzumachen. gelungsbedarf. Die Aktenfunde im Mai vergangenen Jahres in Ost- Berlin und in den fünf neuen Bundesländern haben Wenn jetzt eine Verlängerung der Fristen für den deutlich gemacht, mit welcher Menschenverachtung Antrag auf Aufhebung der Adoptionen, die ohne el- der ehemalige DDR-Staat und die Herrschenden dort terlich Einwilligung erfolgten, auf drei Jahre vorge- Menschenopfer von denen gefordert haben, die ihnen nommen werden soll, dann dürfte dies nur auf eindeu- politisch mißliebig waren. tig definierte politisch mißbräuchliche Fälle be- schränkt werden. Da es sich bei den bisher bekannt- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gewordenen Verdachtsfällen ausschließlich um voll- Unser Rechtsstaat muß dieses Unrecht wiedergutma- jährige Kinder handelt, sollte in diesen Fällen, wenn chen. sie sich als begründet erweisen, eine Aufhebung auch (Erneuter Beifall bei der CDU/CSU und der nur mit Zustimmung des Kindes erfolgen. FDP) Die mit diesem Gesetzesentwurf angestrebte Eröff- Ich bin sehr froh, daß der Justizminister die Fristver- nung der rechtlichen Möglichkeiten einer Infragestel- längerung auf den 2. Oktober 1993 angenommen hat. lung aller Annahmeverhältnisse, die in der DDR ohne Ich habe das sehr früh angeregt, weil ich der Meinung Einwilligung der Eltern begründet worden sind, läßt war, daß man den Familien, denen Unrecht gesche- sich meines Erachtens auch nicht mit den familien- hen ist, entgegenkommen und ihnen die entspre- rechtlichen Regelungen des BGB vereinbaren. Es ist chende Zeit gewähren muß. nicht rechtsstaatlich, weil erstens nach § 1747 Abs. 4 Wir haben es mit Adoptierten zu tun, die zum gro- elterliche Einwilligung zur Adoption nicht erforder- ßen Teil lange erwachsen sind und die starke Famili- lich ist, wenn Eltern zur Abgabe einer Erklärung dau- enbindungen zu den Adoptiveltern entwickelt haben. ernd außerstande sind oder deren Aufenthalt dauernd Wir haben es mit Eltern zu tun, denen Kleinkinder unbekannt ist, und zweitens nach § 1762 Abs. 2 über weggerissen wurden. Es sind Familienbeziehungen drei Jahre bestehende Annahmeverhältnisse nicht gewachsen und Familienbeziehungen gestört wor- aufhebbar sind. den. Es muß jetzt unsere Aufgabe sein, bei diesem Mein Anliegen ist es, zu einem sensiblen Umgang Thema die Befindlichkeiten der Familien, insbeson- mit dem Adoptionsrecht aufzufordern. Eine solche dere die der Kinder, sehr sensibel wahrzunehmen. vorgeschlagene Ausweitung würde in nicht zu recht- Mir ist es als Familienministerin ein ganz besonde- fertigender Weise die entstandenen Familienbindun- res Anliegen, darauf hinzuwirken, daß wir helfen kön- gen von mehr als 5 000 Familien verunsichern. Mit nen. Mir geht es auch um das Rechtsstaatliche. Mir einem solchen Gesetz würde die von den Regierungs- geht es aber im besonderen darum, daß wir Famlien parteien allerorts betriebene politisch-moralische De- Unterstützung geben und daß wir den jungen Men- montage der Würde von Bürgern der ehemaligen DDR schen, die jetzt 20 Jahre und älter sind, helfen, mit auf spezifische Weise rechtlich ergänzt. ihrer Lebenssituation fertigzuwerden. Ich habe des- Mit Rechtsstaatlichkeitsprinzipien unvereinbar halb zu einer Konferenz am 10. September 1991 ein- halte ich auch die in der Begründung angelegte ge- geladen. Dort wollen wir all die momentan vorliegen- setzliche Festschreibung einer politischen Diskrimi- den Fälle besprechen und versuchen, Hilfestellungen nierung aller Adoptiveltern in der ehemaligen DDR, für Familien zu geben, denen die Kinder entrissen deren Annahmeverhältnis ohne die Einwilligung der wurden, aber auch für Familien, denen die Kinder Eltern der an Kindes Statt Angenommenen zustande vielleicht jetzt weggenommen werden, weil sie sie kam. damals adoptiert haben. Wir wollen ferner den jungen Menschen Hilfestellung geben. Ich hielte es vielmehr für unerläßlich, erstens den Ich meine, auch dieses Thema verdient es, daß wir Rechtsanspruch der an Kindes Statt Angenommenen gemeinsam daran arbeiten, daß wir uns gemeinsam und der Adoptiveltern auf Schutz ihrer auf gesetzli- daran orientieren, wie wir Familien und die betroffe- cher Grundlage eingegangenen Familienbindung zu nen Adoptivkinder am besten unterstützen können. garantieren und zweitens öffentlich klarzustellen, welche Adoptionen, die in der DDR ohne Einwilligung (Beifall bei der CDU/CSU und FDP) der Eltern von an Kindes Statt Anzunehmenden voll- zogen wurden, unaufhebbar fortbestehen. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Herren, ich erteile jetzt das Wort dem Abgeordneten Konrad Weiß.

Konrad Weiß (Berlin) (Bündnis 90/GRÜNE): Herr Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Präsident! Meine Damen und Herren! Die Gruppe Herren, ich erteile jetzt das Wort der Frau Abgeordne- Bündnis 90/DIE GRÜNEN stimmt dem vorliegenden ten Hannelore Rönsch. Gesetzentwurf zu. Die juristische Lösung, die für das 3286 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991

Konrad Weiß (Berlin) überaus schwierige Problem gefunden wurde, und die den Punkt, den wir heute behandeln, gilt das leider Verfahrensweise sind sinnvoll und dem Problem an- genauso. gemessen. Die vorgesehene Frist von drei Jahren für eine Antragstellung sollte ausreichend sein. Die Auch in den politisch motivierten Zwangsadoptio- Grenze, die durch § 1761 des BGB zum Wohle des nen des SED-Unrechtsregimes liegt tiefe Menschen- Kindes gezogen wird, sollte hinlänglich vor Miß- verachtung; es ist bereits darauf hingewiesen worden. brauch schützen. Dabei geht es einmal um das Leid der Eltern, vor allem aber auch um das der Kinder dieser Eltern, deren Dennoch wird es schwierig bleiben, die politische Belange uns ganz sicher besonders am Herzen liegen Motivation einer Adoption zweifelsfrei zu erkennen. müssen. Hier überträgt der Gesetzgeber dem Richter die allei- nige Verantwortung. Es muß natürlich gewährleistet Bereits Mitte der 70er Jahre tauchten Meldungen sein, daß ältere Kinder dort, wo es noch in Frage auf, nach denen in der ehemaligen DDR Kinder poli- kommt, mit entscheiden können und daß der Kindes- tisch mißliebiger Eltern gegen oder ohne den Willen entscheidung bei zunehmendem Alter auch zuneh- ihrer Eltern aus ihren Familien herausgelöst und von mendes Gewicht beigemessen wird. Dritten adoptiert worden sind. Von gesicherten Er- Bei allen Entscheidungen muß das Wohl des Kindes kenntnissen, in wie vielen Fällen und mit welchen die oberste Priorität haben, auch wenn das unter Um- Begründungen dies geschah, waren wir beim Ab- ständen für die leiblichen Eltern eine schreiende Un- schluß des Einigungsvertrages leider noch weit ent- gerechtigkeit ist. Eltern, die den Antrag auf Aufhe- fernt. bung einer Adoption stellen, sollten deshalb nicht nur Gleichwohl hat sich der Vertag der Problematik die- von Juristen, sondern, wie ich meine, auch von Psy- ser Zwangsadoptionen angenommen. Die leiblichen chologen und Seelsorgern betreut werden. Eltern sollen unter bestimmten Voraussetzungen ei- Die Zwangsadoptionen aus politischer Motivation nen Antrag auf Aufhebung von unter dem Recht der sind eines der scheußlichsten Verbrechen des SED ehemaligen DDR begründeten Adoptionen bis zum Regimes. Hier zeigt sich die ganze Menschenverach- 2. Oktober 1991 stellen können. Der Einigungsvertrag tung, die ganze Unmenschlichkeit. Wiedergutmachen ging davon aus, daß diese Frist ausreichend sein läßt sich das Unrecht einer Zwangsadoption nicht. würde, um allen betroffenen Eltern eine Überprüfung Eine zerrissene Familie wieder zu heilen wird nur- in der unrechtmäßig begründeten Annahmeverhältnisse Ausnahmefällen gelingen. zu ermöglichen. Wir, meine Damen und Herren, sollten darüber wa- In jüngster Zeit — auch darauf ist schon hingewie- chen, daß Richter, Erzieher und Beamte, die bei poli- sen worden — rufen jedoch Aktenfunde den Verdacht tisch motivierten Adoptionen mitgewirkt haben, nie hervor, daß der Einfallsreichtum der DDR-Behörden wieder etwas mit Kindern zu tun haben und nie wie- ganz offensichtlich bei der Ausübung ihrer menschen- der ein öffentliches Amt bekleiden dürfen. Wir sollten verachtenden Praxis noch größer war, als wir es uns auch dafür sorgen, daß diejenigen, die für dieses Ver- bisher vorstellen konnten. So haben sich beispiels- brechen politisch verantwortlich sind, vor Ge richt ge- weise inhaftiert gewesene Eltern jetzt Gott sei Dank stellt werden. an die Öffentlichkeit gewandt, denen die Einwilli- Ich fordere die Bundesregierung auf, endlich dafür gung in die Adoption ihres Kindes im wahrsten Sinne zu sorgen, daß der SED-Generalsekretär Honecker des Wortes abgenötigt worden ist. und daß die DDR-Volksbildungsministerin Honecker ausgeliefert werden. Frau Honecker ist für dieses Der vorliegende Gesetzentwurf, der im Bundesju- schreckliche Verbrechen unmittelbar verantwortlich. stizministerium ausgearbeitet wurde — es ist jetzt ein Entwurf der Koalitionsfraktionen, wofür ich dankbar (Zustimmung beim Bündnis 90/GRÜNE und bin —, erweitert deshalb die Möglichkeiten für eine bei der SPD) Überprüfung der in der ehemaligen DDR begründe- Die freundliche Diplomatie der Bundesregierung in ten Adoptionen. Er verlängert die Frist, innerhalb de- dieser Frage ist unerträglich. Daß diese Frau sich vor rer eine solche Überprüfung beantragt werden kann. einem deutschen Gericht zu verantworten hat, das ist Der Aufhebungsantrag kann außerdem zukünftig bei das mindeste, was wir für ihre Opfer, die vergewaltig- jedem Vormundschaftsgericht gestellt werden. ten Kinder und die entmündigten Eltern, tun kön- nen. Die Zielsetzung dieses Entwurfs begrüße ich vorbe- haltlos. Ich meine aber, daß es bei der jetzt gefunde- Vielen Dank. nen Frist auch bleiben sollte, und zwar gerade im (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der Interesse der Kinder. Jede Adoption, auch die fehler- CDU/CSU, der SPD und der FDP) hafte, gegen elementare Elternrechte verstoßende Adoption, begründet ein Kind-Eltern-Verhältnis, das sich im Normalfall zur gelebten Familie entwickelt. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Das Wohl des Kindes erfordert deshalb eine rasche Herren, am Schluß der Debatte hat der Bundesmini- Klärung seiner künftigen persönlichen Verhältnisse. ster Dr. Klaus Kinkel das Wort. Die adoptierten Kinder sind inzwischen erwachsen, und es könnte sein, daß eine Rückgängigmachung der Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister der Justiz: Herr Adoption eher neues Leid schaffen würde statt altes Präsident! Meine Damen und Herren! Erst vorgestern zu heilen. Das wollen wir aber nicht. Oberster Maß- habe ich an dieser Stelle gesagt: Der ganze Umfang stab für die Frage der Aufhebbarkeit einer Adoption des SED-Unrechts ist immer noch nicht bekannt. Für muß deshalb das Kindeswohl bleiben. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991 3287

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel Die Verabschiedung dieses Gesetzentwurfes kann Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur in auch dazu beitragen, das in der ehemaligen DDR be- den neuen Bundesländern gangene Unrecht wiedergutzumachen. Wir müssen — Drucksache 12/1118 — dann aber auch dafür sorgen, daß alle möglicherweise betroffenen Eltern Kenntnis von den ihnen eröffneten Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Verkehr (federführend) Möglichkeiten haben, um die notwendigen Schritte Innenausschuß einzuleiten. Dafür wird die Bundesregierung sorgen. Rechtsausschuß Ich möchte — wie vorgestern — noch einmal darauf Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit hinweisen, daß die Überwindung des SED-Unrechts Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau vor allem ein innerer Prozeß ist, der in erster Linie von Haushaltsausschuß den Opfern bewältigt werden muß. Das Vergangene kann auch in diesem Bereich leider niemand unge- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für schehen machen, aber vielleicht kann es gelingen, mit die gemeinsame Aussprache eine Dreiviertelstunde dieser Vergangenheit den inneren Frieden zu machen vorgesehen. — Ich höre und sehe keinen Wider- und sich versöhnt der Zukunft zuzuwenden. spruch. Dann ist auch dies so beschlossen. Lassen Sie mich zum Schluß noch eines sagen: Herr Ich eröffne die Aussprache. Zur Einbringung des Abgeordneter Weiß, Sie sprachen Frau Margot Ho- Gesetzentwurfs hat der Bundesverkehrsminister necker und eine, wenn ich es recht im Kopf habe, höf- Dr. Günther Krause das Wort. liche — Ihrer Auffassung nach wohl zu höfliche — Justiz an. Ich habe mich vor dieser Debatte selbstver- Dr. Günther Krause, Bundesminister für Verkehr: ständlich sachkundig gemacht. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Wir leben im Rechtsstaat, aber wem sage ich das. Herren! Europa hat sich grundlegend verändert. Die Wir müssen deshalb auch akzeptieren, daß nur dann, deutsche Einheit, der fortschreitende Demokratisie- wenn wirklich persönliche Schuld besteht und nach- rungsprozeß in Osteuropa, aber vor allem auch in der gewiesen werden kann, eine strafrechtliche Verurtei- Sowjetunion, die Vollendung des europäischen Bin- lung in Frage kommt. Gegen Frau Honecker läuft der- nenmarktes Ende nächsten Jahres und die Bildung zeit, soweit ich unterrichtet bin, kein Ermittlungsver- eines europäischen Wirtschaftsraumes sind Fakten, fahren bei einer deutschen Staatsanwaltschaft. Das die hier in der Bundesrepublik Deutschland eine dy- müssen wir, das sollten wir, jedenfalls für den Augen- namische Verkehrspolitik erfordern, denn Deutsch- blick, auch akzeptieren. land wird die Verkehrsdrehscheibe Nummer eins in Europa. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Zu den wachsenden Verkehrsströmen in Nord-Süd- Richtung kommt jetzt auch ein ständig steigendes Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Verkehrsaufkommen in West-Ost-Richtung hinzu. In- Herren, weitere Wortmeldungen zu diesem Tagesord- nerhalb Deutschlands wird der Ost-West-Verkehr im nungspunkt liegen nicht vor. Zeitraum von 1988 bis zum Jahre 2010, also in nur 22 Jahren, um mehr als das Siebenfache im Güterver- Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetz- kehr und um mehr als das Achtfache im Personenver- entwurfs auf Drucksache 12/1106 an die in der Tages- kehr steigen. ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge, Ergänzungen? — Ich sehe, das ist nicht der Fall. Dann ist die Über- Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Minister, ge- weisung so beschlossen. statten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schäfer?

Ich rufe nunmehr die beiden letzten Punkte unserer Bundesminister für Verkehr: heutigen Tagesordnung, Punkt 6 der Tagesordnung Dr. Günther Krause, Bitte schön. und Zusatzpunkt 4 der Tagesordnung, auf: 6. Erste Beratung des von der Bundesregierung (Offenburg) (SPD): Herr Minister, eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Be- Harald B. Schäfer Sie haben soeben auf die Zunahme des Nord-Süd- schleunigung der Planungen für Verkehrs- Verkehrs und des Ost-West-Verkehrs hingewiesen. wege in den neuen Ländern sowie im Land Ber- Teilen Sie auch in diesem Kontext die Auffassung lin (Verkehrswegeplanungsbeschleunigungs- Ihres Kabinettskollegen Töpfer, daß zur Bewältigung gesetz) dieses zunehmenden Verkehrsaufkommens, aber — Drucksache 12/1092 — auch aus anderen Gründen eine allgemeine Ge- Überweisungsvorschlag: schwindigkeitsbegrenzung notwendig sei, Ausschuß für Verkehr (federführend) ( [FDP]: Was soll denn das Innenausschuß Rechtsausschuß jetzt?) Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und haben Sie sich mit dem Minister zwischenzeitlich Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau auf eine gemeinsame Haltung verständigen kön- Haushaltsausschuß Ausschuß für Wirtschaft nen? ZP4 Beratung des Antrags des Abgeordneten (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Das Dr. Klaus-Dieter Feige und der Gruppe Bünd- gehört ja wohl kaum zum Thema!) nis 90/DIE GRÜNEN — Doch. 3288 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991

Dr. Günther Krause, Bundesminister für Verkehr: rens. Die Verkürzung und Konzentration der Verfah- Ich denke, die Beantwortung dieser Frage geht nicht ren werden nichts an den materiellen Prüfungsmaß- von meiner Redezeit ab, weil wir eigentlich ein wich- stäben ändern. Der Gesetzentwurf konzentriert die tigeres Thema haben. Linienbestimmung für alle Verkehrsträger beim Bun- Ich habe mich mit dem Kollegen Töpfer natürlich desverkehrsministerium. Er ermöglicht dadurch eine geeinigt, daß es dabei bleibt, daß die rund 2 % noch stärkere Einflußnahme auf die Beschleunigung der nicht von einer Geschwindigkeitsbeschränkung be- vorbereitenden Planung. troffenen Straßen auch weiterhin nicht mit einem Es bleibt den Ländern wie bisher überlassen, ob sie Tempolimit belastet werden. zur Prüfung der Raumverträglichkeit ein formelles (Ekkehard Gries [FDP]: Das weiß auch der Verfahren nach Landesrecht durchführen wollen Schäfer!) oder, wie es bis vor kurzem beispielsweise noch in Nordrhein-Westfalen üblich und anerkannt war, ohne Das marode Verkehrsnetz in den neuen Bundeslän- besondere Verfahren die Raumverträglichkeit des dern ist den Anforderungen schon heute längst nicht Vorhabens prüfen wollen. Ich meine, in Nordrhein- mehr gewachsen. Ich möchte die Zahl achtfach doch Westfalen wurde in den letzten Jahren auch vernünf- noch einmal in Prozent ausdrücken: Zuwachs um tige Verkehrspolitik gemacht. Da werden Sie mir zu- 800 %. stimmen. Ein völlig veraltetes Schienennetz, das nur geringe Fahrgeschwindigkeiten erlaubt — ich hoffe, daß Sie (Ekkehard G ries [FDP]: Teilweise!) die Geschwindigkeitsbegrenzung nun nicht auch — Teilweise, das ist richtig. noch auf die Eisenbahn ausdehnen wollen —, wenige Fernstraßenverbindungen, in nicht ausreichendem Im Planfeststellungsverfahren verkürzen sich Fri- verkehrssicheren Zustand, verschwindend wenige sten für die Verwaltungsbehörden. Ortsumgehungen, ein für moderne Binnenschiffahrt unzureichend ausgebautes Wasserstraßennetz sind Der Gesetzentwurf konzentriert das verwaltungs- nicht nur Verkehrsengpässe, sondern auch gravie- gerichtliche Verfahren auf eine Instanz, nämlich auf rende Hemmnisse für Investitionen, die einen kräfti- den Rechtsweg zum Bundesverwaltungsgericht. Die- gen wirtschaftlichen Aufschwung in den neuen Län- ses Gericht ist Garant für eine rechtsstaatliche und dern in Gang setzen sollen; denn bei jeder Investi- einheitliche Rechtsprechung in der gesamten Bundes- tionsentscheidung stellt sich für jedes Wirtschafts- republik Deutschland. Damit können die Bürger in unternehmen heute sofort die Frage nach der Ver- den neuen Bundesländern sicher sein, daß ihnen um- kehrsanbindung. fassender Rechtsschutz gewährt wird. Ein rascher Aufbau der Verkehrsinfrastruktur ist Wenn wir in absehbarer Zeit von Mecklenburg- damit dringend notwendig, aus der Sicht der Regie- Vorpommern bis Sachsen tatsächlich leistungsfähi- rung lebenswichtig für die neuen Bundesländer. gere, menschen- und umweltgerechtere Verkehrsbe- Planungsverfahren, die unumstritten 10, 15, ja so- dingungen haben und nicht in den Planungen stek- gar 20 Jahre dauern, erfordern Zeiträume, die wir uns kenbleiben wollen, dann müssen wir diesen Gesetz- in dieser komplizierten Situation in den neuen Bun- entwurf so bald wie möglich verabschieden. Das Be- desländern nicht leisten können. Das sind die nüch- schleunigungsgesetz wird für alle Planungen beim ternen Tatsachen, von denen wir auszugehen haben. Bundesverkehrswegebau gelten, nicht nur für die Das ist die Basis, und wir sitzen hier zusammen, um Straße. Es soll vor allem bei der Schiene Elektrifizie- auf dieser Basis neue Lösungen zu schaffen. rung und Linienbegradigung, bei der Straße den Bau von Ortsumgehungen, natürlich auch den Neubau Wir brauchen eine Straffung des Planungsverfah- von Straßen, bei der Wasserstraße Ausbauvorhaben rens, damit wir die enormen Mittel, die der Bund für zügiger als bisher ermöglichen. Es wird außerdem den Ausbau der Verkehrswege in den neuen Bundes- auch für den öffentlichen Personennahverkehr wie ländern bereitgestellt hat und weiter bereitstellen wird, auch tatsächlich investieren können. Deshalb ist z. B. im Straßenbahn- oder U-Bahn-Bau gelten. Vor allem aber soll in die Schiene investiert werden. So es dringend notwendig, daß sobald wie möglich das liegt der Anteil der Bahn am Verkehrshaushalt für das Gesetz zur Beschleunigung der Planungen für Ver- kehrswege in den neuen Ländern sowie in dem Land Jahr 1992 bei über 50 %, wobei 72 % dieser Mittel Investitionen in die Berlin in Kraft gesetzt wird — mit der wichtigen Er- Schiene sind. Der Löwenanteil der Investitionen entfällt hierbei auf die Deutsche gänzung, daß bis in die westdeutschen Wirtschafts- Reichsbahn, in 1992 mit einer Steigerung um mehr als räume hinein dieses Gesetz wirksam werden kann. 3,6 Milliarden DM. Das sind im Vergleich zum Vor- Das Beschleunigungsgesetz strafft und konzentriert jahr erhebliche Steigerungen. förmliche Verfahrensschritte. An der Qualität der Pla- nung werden keine Abstriche gemacht. Bürgerbetei- Wem die Förderung der Bahn nicht nur ein Lippen- ligung und Rechtsweggarantie bleiben erhalten. bekenntnis ist, der muß nach dem ersten Schritt, der Bereitstellung der Mittel, auch den zweiten tun, näm- (Zuruf von der SPD: Lächerlich!) lich sich für die Verkürzung der Planungszeiten ent- — Auch Sie bekommen noch das Wort. scheiden. Umweltverträglichkeitsprüfung und Bürgerbeteili- Vielen Dank. gung haben sich bewährt. Wir stehen zu diesen Ele- menten eines demokratischen Verwaltungsverfah- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991 3289

Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und ralismus überhaupt stärken wollen und nicht die Herren, ich erteile jetzt das Wort der Frau Abgeordne- Machtkonzentration bei Ihnen. ten Dr. Margrit Wetzel. (Beifall bei der SPD, dem Bündnis 90/ GRÜNE und der PDS/Linke Liste) Der Hinweis im Gesetzentwurf, die Ersetzung des Raumordnungsverfahrens durch die Linienbestim- Dr. Margrit Wetzel (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! mung bedeute nicht, „daß es den Ländern untersagt Mit dem Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsge- ist, nach landesrechtlichen Bestimmungen — soweit setz ist es ähnlich wie mit Schalk-Golodkowski, Strauß solche in den neuen Ländern vorhanden sind — und dem BND: Die Wahrheit liegt im verborgenen. Raumordnungsverfahren innerhalb der dreimonati- gen Frist ... durchzuführen. " Diese Bestimmungen ( [FDP]: Das ist ein kühner haben die neuen Länder nicht Herr Krause. Auch die Vergleich!) Verlängerung der F rist durch den Bundesrat auf vier Das Gesetz zielt darauf ab, „die Planungszeiten für bis sechs Monate ändert nichts daran, daß so etwas Verkehrswege in den neuen Bundesländern so zu ver- blanker Zynismus ist und jedem Praktiker wie ein kürzen, daß so schnell wie möglich deren Zustand ver- schlechter Witz vorkommen muß. Diese Fristsetzung bessert werden kann. " Das ist eine Fehlleistung. ist fachliche Inkompetenz: Stärke 10 auf der nach oben offenen Krause-Skala. Was heißt das denn? Wollen Sie den Zustand der vorhandenen Verkehrswege so schnell wie möglich (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem verbessern, oder — und das ist etwas völlig anderes — Bündnis 90/GRÜNE) wollen Sie die Planungszeiten für solche Verkehrs- Die neuen Bundesländer haben weder ausrei- wege verkürzen, die neue Verkehrsströme bündeln chende Grundlagendaten für umfassende Verkehrs- sollen? Ich sage: Wir müssen beide Zielsetzungen rea- planung noch ausdiskutierte Zielkonzepte für die lisieren. strukturelle Entwicklung der Räume. Die Abwägung (Beifall bei der SPD) wirtschaftlicher und städtebaulicher Belange mit ver- Das Gesetz behandelt aber nur die Beschleunigung kehrspolitischen Zielen, zu denen auch die Selbstver- der Verkehrswegeplanungsverfahren und nicht die- pflichtung zur CO2-Reduzierung, Verkehrsvermei- Verbesserung der Leistungsfähigkeit der vorhande- dung, die Umlenkung von Verkehrsströmen auf Bahn nen Verkehrswege in den neuen Ländern. Das ist und ÖPNV gehört, ist für die eigenständige Landes- bereits der erste gravierende Mangel. planung, also gerade jetzt, zu Beginn der Etablierung einer marktwirtschaftlichen Ordnung, unglaublich (Beifall bei der SPD, dem Bündnis 90/ wichtig, weil es gilt, mögliche Konflikte so frühzeitig GRÜNE und der PDS/Linke Liste) wie möglich zu erkennen und Lösungen auch für Wir bezweifeln im übrigen entschieden, daß der komplexe Problemstellungen zu finden. vorgelegte Gesetzentwurf das Teilziel der Planungs- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten beschleunigung tatsächlich erreichen kann. Der Ge- der PDS/Linke Liste) setzentwurf „verzichtet" auf die erste Stufe im Pla- nungsverfahren, das Raumordnungsverfahren mit in- Das kann nur ein solides Raumordnungsverfahren lei- tegrierter Umweltverträglichkeitsprüfung und Öf- sten. fentlichkeitsbeteiligung. Dieser sogenannte Verzicht (Hubert Doppmeier [CDU/CSU]: Sie wollen ist ein Eingriff in die föderalistische Ordnung des doch nur den schnellen Wiederaufbau verzö Grundgesetzes, das den Ländern die Aufgabe der gern!) Raumordnung und Landesplanung zuweist. Die neuen Bundesländer haben noch keine entsprechen- — Hören Sie erst einmal zu, und dann können Sie den landesrechtlichen Bestimmungen. Sie haben kommentieren. noch kein ausreichendes Personal und noch wenig (Hubert Doppmeier [CDU/CSU]: Ihre Mei Erfahrung. Dies darf aber kein Grund sein, den ver- nung kenne ich ja schon vorher! Nur auf fassungsrechtlichen Rahmen föderalistischer Aufga- Destruktion aus!) benteilung anzutasten, sondern muß umgekehrt An- sporn zu Amts- und Verwaltungshilfe sein, den neuen Dazu gehört unverzichtbar auch wirksame Umwelt- vorsorge, Ländern beim Auf- und Ausbau der Planungsbehör- d. h. eine materielle, eine frühzeitige UVP, den schnell und unbürokratisch zu helfen. Die Bun- die zusammen mit der Öffentlichkeitsbeteiligung in desregierung weiß das. hohem Maße eine entlastende und damit beschleuni- gende Wirkung auf die übrigen Planungsverfahren (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Herr hat. Sie aufzugeben heißt, Konflikte auf die letzte Pla- Krause, das ist eine Parlamentsdebatte! Da nungsphase, nämlich das Planfeststellungsverfahren hört man zu!) mit den dort gesetzten engen Fristen, zu verlagern, — Die Bundesregierung weiß das; sie braucht gar statt rechtzeitig alternative Möglichkeiten zu prüfen nicht zuzuhören. Denn sonst hätte sie nicht dem Bun- und anstehende Probleme zu erkennen. Insofern führt desrat beschieden, daß der Verzicht auf das Raumord- sich das Beschleunigungsgesetz, Herr Krause, selbst nungsverfahren im weiteren Gesetzgebungsverfah- ad absurdum. ren geprüft werden müsse. Bei dieser Prüfung, Herr (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Ge Krause, werden wir kräftig nachhelfen, weil wir näm- nau! Das Gesetz beschleunigt den Abgang lich die Planungsfähigkeit der Länder und den Föde- von Herrn Krause, sonst nichts!) 3290 Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991

Dr. Margrit Wetzel Die im Entwurf vorgesehene Konzentrationswir- Fünftens. Die Verkürzung des Rechtsweges auf kung über die Linienbestimmung durch den Ver- eine Instanz, nämlich das Bundesverwaltungsgericht kehrsminister soll solide Planung und verantwor- — aus vermeintlicher Rücksicht auf die noch nicht tungsvolle Abwägung ersetzen — ein Feigenblatt vor bestehende Verwaltungsgerichtsbarkeit in den neuen die politische Blöße derer, die sich vor der eigenen Ländern —, ist doch nur als logische Konsequenz des- Verantwortung für schnelle Entscheidungen drük- sen anzusehen, daß die gesamte Planungsverkürzung ken zu einem gewaltigen vorhersehbaren Anstieg der (Zuruf von der CDU/CSU: Quatsch!) Zahl der Klagen führen wird. Das dient nun aber ganz gewiß nicht dem raschen Bau von Verkehrswegen. Ich und sie im fernen Bonn einem allmächtigem BMV habe den entschiedenen Eindruck, die Regierung überlassen wollen. drückt sich vor der Amtshilfe zum Aufbau der Pla- (Beifall bei der SPD) nungsbehörden und der Gerichtsbarkeit in den neuen Ländern. Das Verkehrswegebeschleunigungsgesetz Das Volk, das auf die Straße gegangen ist, um demo- wird damit de facto zu einem Verkehrswegeverzöge- kratische Rechte zu erstreiten, bleibt nun, wo es um rungsgesetz. wichtige infrastrukturelle Entscheidungen geht, drau- ßen vor der Tür des Verkehrsministeriums. Die neuen Länder haben eindeutig einen Sonder- status. Das vorhandene umfangreiche Straßen- und (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ Schienennetz der neuen Länder ist unstrittig über GRÜNE) weite Strecken in desolatem Zustand. Die Erschlie- Statt mehr Demokratie und echter Aufbauhilfe gilt für ßungsqualität hingegen entspricht durchaus jener die neuen Länder: konzentrierte Macht beim BMV westlicher Bundesländer. Wer es ernst meint mit der durch Zentralisierung der Entscheidungsbefugnisse. Angleichung von Lebensverhältnissen, mit der Schaf- fung von Arbeitsplätzen und der Ansiedlung von Wirt- (Zuruf von der CDU/CSU: Das Volk will Stra- schaftsunternehmen, muß konzentriert die verfügba- ßen! — Widerspruch bei der SPD) ren Finanzmittel in die Sanierung der vorhandenen Das gilt erstens für die Linienbestimmung ohne ver- Verkehrswege lenken. bindliche Rückkopplung mit den Ländern. Die Ernsthaftigkeit dieses Bemühens spricht sich die Bundesregierung selbst ab, denn bereits ganz Das gilt zweitens im Hinblick auf die Verordnungs- - kurze Zeit nach der Verabschiedung des Haushalts ermächtigung für die Linienbestimmung zwischen 1991 — das war im Mai oder Anfang Juni 1991 — hat den neuen Ländern und sogenannten — nicht weiter mir Herr Gröbl in Beantwortung einer Anfrage mitge- definierten — Wirtschaftszentren der alten Länder. teilt — ich zitiere wiederum — : Ich bin sicher, daß diese Wirtschaftszentren wie Pilze aus dem Boden schießen werden — ebenso wie die Die Ausgabenentwicklung in den neuen Bundes- Truppenreduzierung der Bundeswehr plötzlich den ländern erlaubt es, von den seinerzeit zu Lasten Nebeneffekt hat, daß die ganze Bundesrepublik nur der Altländer in die Neuländer umgeschichteten noch aus strukturschwachen Regionen besteht. Ge- Investitionsmitteln in Höhe von i Milliarde DM nau das gleiche werden wir hier erleben. nunmehr 500 Millionen DM wieder zurückzulei- ten. Dies ist den Ländern mit Ministerschreiben (Hubert Doppmaier [CDU/CSU]: Das ist alles vom 11. Juni 1991 mitgeteilt worden. sehr widersprüchlich, was Sie sagen!) (Ekkehard Gries [FDP]: Warum?) — Lesen Sie das nachher nach und begründen Sie das dann. Das ist ein Skandal gegenüber dem Parlament. Das war nämlich eine Woche später. Drittens. Diese Linienbestimmungskompetenz — speziell die für die Wirtschaftszentren — eröffnet (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ darüber hinaus einen mittelbaren oder unmittelbaren GRÜNE) — das zu beurteilen muß ich anderen überlassen — Wenn Sie wirklich positive Beschäftigungseffekte in Einfluß des Verkehrsministers auf den Gerichtsstand den neuen Ländern schaffen wollen, dann spielen Sie in den alten Ländern. Das bedeutet einen Übergriff bitte nicht mit gezinkten Karten. der Exekutive auf die Gerichtsbarkeit. In welchem (Beifall bei der SPD, dem Bündnis 90/ Land leben wir denn eigentlich? GRÜNE und der PDS/Linke Liste) (Beifall bei der SPD) Ein Sofortprogramm für Sanierungsmaßnahmen In jedem Fall bedarf dies wohl einer sehr gründlichen bedarf keines zeitaufwendigen Planungsvorlaufs. Nur Überprüfung auf verfassungsrechtliche Haltbarkeit. der schnelle und zielgerichtete, realisierbare Einsatz der Haushaltsmittel kann Verkehrswege verbessern Viertens. Konzentrierte Macht ist auch über das In- und zugleich eine weitere Veränderung des Modal stitut der Plangenehmigung für — ich bitte Sie, zuzu- Split zu Lasten der Bahn und zu Lasten des ÖPNV hören — „Bau und" — nicht näher definierte — „Än- verhindern. derung von Verkehrswegen" gegeben. Da bei der Plangenehmigung auch noch die zweite Stufe der Wir werden im Zuge der Gesetzesberatungen eine UVP und die Öffentlichkeitsbeteiligung entfallen, beispielhafte Liste der notwendigen Maßnahmen vor- wird die einzige „Öffentlichkeit" in einem solchen legen, die ohne Planungsrecht schnell umsetzbar sind Verfahren durch die von der Genehmigung Betroffe- und die Effizienz der Verkehrsinfrastruktur innerhalb kürzester Zeit erheblich steigern können. nen dargestellt. Das muß man sich einmal ganz deut- lich vergegenwärtigen. (Zuruf des Abg. Ekkehard Gries [FDP]) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991 3291

Dr. Margrit Wetzel — Keine Zauberflöte. halb der Verwaltungen, Amts- und Verwaltungshilfe Ein Sonderrecht, zumal ein Recht, das möglicher- für die neuen Bundesländer, Projektmanagement, weise mit dem Grundgesetz kollidiert, wäre nur dann d. h. projektbegleitende kompetente Arbeitsgruppen, zu verantworten, wenn anders Beschleunigungs- die auch komplexe Problemstellungen gezielt einer effekte nicht zu erzielen und wenn alle nach dem Lösung zuführen können. geltenden Recht bestehenden Beschleunigungsmög- Unbedingt müssen die hohen Anforderungen an die lichkeiten ausgeschöpft wären. Dies aber ist eindeutig zeitraubenden Voruntersuchungen reduziert werden. nicht der Fall. Zum Beispiel durch standardisierte Zeitablaufspläne Die Dringlichkeit der Verfahrensbeschleunigung und die Festlegung von Ausschlußkriterien läßt sich steht außer Zweifel. Planungszeiten von Jahrzehnten ohne raumordnerische Abstriche Zeit sparen. sind auch für die alten Länder nicht akzeptabel. Wir Im Raumordnungsverfahren kann auf überhöhte fordern deshalb — ich betone das ausdrücklich — Detailgenauigkeit verzichtet werden. Pläne im Maß- eine effektive Planungsbeschleunigung durch volle stab 1 : 25 000 z. B. kosten weniger und sparen Zeit. Ausschöpfung der Spielräume des geltenden Rechts für ganz Deuschland — ich betone noch einmal: für Auch wollen wir, Herr Krause, den bürokratischen ganz Deutschland — statt eines einseitigen Rechts- Aufwand, der durch Beteiligung des Bundesministeri- abbaus in den neuen Bundesländern. ums für Verkehr entsteht, verringern. Für Baumaß- Deshalb, Herr Krause: Ziehen Sie Ihren unse riösen nahmen unter 10 Millionen DM brauchen wir wirklich Gesetzentwurf zugunsten eines vernünftigen Be- keine verwaltungsinternen Genehmigungsverfahren schleunigungsprogramms zurück. auf Bundesebene. Vielleicht noch nicht Sie, aber zu- mindest die Kollegen vom Fach wissen, daß das allein neun Monate Zeitgewinn mit sich brächte. Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Abgeordnete Dr. Wetzel, gestatten Sie eine Zwischenfrage? — Bitte (Hubert Doppmeier [CDU/CSU]: War das sehr, Herr Kollege. nicht ein bißchen Wessi-Arroganz?) —Nein, das war keine Wessi-Arroganz. Ich denke, es Helmut Rode (Wietzen) (CDU/CSU): Sind Sie be- ist keine Arroganz, zu sagen, daß Herr Krause be- reit, gnädige Frau, der Öffentlichkeit gegenüber zu stimmte Erfahrungen aus der Praxis noch nicht haben bestätigen, daß Herr Ministerpräsident Stolpe in Pots-- kann. dam, als wir mit dem Verkehrsausschuß dort zu Be- such waren, zwei Dinge erklärt hat, nämlich erstens, (Hubert Doppmeier [CDU/CSU]: Aber Sie er brauche das Beschleunigungsgesetz, damit die haben diese Erfahrung, Sie als Neuling! Wirtschaft in Gang komme, und zweitens, es ginge Natürlich!) nicht an — so fast wörtlich — , daß zwei Leute eine — Die gleiche wie Sie. Verkehrsmaßnahme kaputtmachen könnten, die 98 Leute haben wollten? Einer ernsthaften Prüfung würdig erscheint mir auch der Vorschlag der Länder Hessen und Nieder- sachsen, das förmliche Linienbestimmungsverfahren Dr. Margrit Wetzel (SPD): Das kann ich Ihnen in Teilen bestätigen. Soweit ich mich erinnere, war es wegfallen zu lassen und in das Raumordnungsverfah- nicht Herr Stolpe, sondern Herr Wolf. Wir haben mit ren zu integrieren. Zumindest prüfen sollte man die- Herrn Wolf Diskussionen geführt, in denen wir uns sen Gedanken. einig waren, daß eine Beschleunigung erfolgen muß. (Ekkehard Gries [FDP]: Das Chaos einfüh Ich gebe durchaus zu, daß ich Herrn Wolf deutlich ren!) gefragt habe, ob er nicht alle Kraft daransetzen müsse, die Planungskompetenz im eigenen Land zu behal- Wir sind selbstverständlich auch für die Einführung ten, um von dort aus eine echte Verfahrensbeschleu- straffer — aber ausreichender — Fristen. nigung zu betreiben. Das sage ich in aller Deutlich- Wir werden Ihnen im Zuge der Beratungen eine keit. Wir waren uns einig: Beschleunigung muß Reihe weiterer möglicher Verfahrensbeschleunigun- sein. gen vorschlagen, die wir für machbar halten, aber Herr Wolf hat auch gesagt, daß die Erfahrungen der —ich betone das noch einmal — Planungsbeschleu- neuen Bundesländer noch nicht ausreichten, um sich nigungen im ganzen Deutschland. mit einem Gegenkonzept gegen diesen Vorschlag zu Wir erklären ausdrücklich unsere Bereitschaft zur stellen. Wir werden abwarten, wie es in Zukunft sein konstruktiven Mitarbeit an allen mit dem geltenden wird, ob möglicherweise auch der Verkehrsminister Recht zu vereinbarenden Beschleunigungsmöglich- von Brandenburg unserem Beschleunigungsprog- keiten für Planungsverfahren in der Bundesrepu- ramm zustimmen wird. Warten wir es einfach ab. blik. (Helmut Rode [Wietzen] [CDU/CSU]: Herr Stolpe hat es gesagt!) Wir verlangen aber, daß mit der schnellen Sanie- rung der vorhandenen Verkehrswege Ernst gemacht Ich möchte Ihnen Beispiele für Verfahrensbe- wird. schleunigungen nennen, die möglich sind, ohne das Planungsrecht anzugreifen: Erhalt des Raumord- Wir erwarten, daß den neuen Bundesländern alle nungsverfahrens, der materiellen Umweltverträglich- demokratischen Mitwirkungsrechte zugestanden keitsprüfung und der Öffentlichkeitsbeteiligung, werden, die für die weitere Entwicklung der Länder massive Aufstockung der Planungsmittel, ausrei- und die Gestaltung einheitlicher Lebensverhältnisse chende Planungskapazitäten innerhalb und außer- von Bedeutung sind. 3292 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991

Dr. Margrit Wetzel Wir fordern gleiche demokratische Möglichkeiten eigentlich sehr dankbar dafür, daß ich in ihm jetzt für alle und nicht ein Gesetz, das jetzt schon so unso- einmal einen entschiedenen Befürworter der Bin- lide ist, wie die Planungsverfahren in den neuen Län- nenschiffahrt gefunden habe und daß wir die Binnen- dern werden sollen. schiffahrt etwas stärker in den Mittelpunkt rücken, als (Beifall bei Abgeordneten der SPD) das in der Vergangenheit der Fall war. Da ich davon ausgehe, daß Sie unserem Vorschlag, Ich denke, daß die Koalition und die Regierung, die den Gesetzentwurf sofort zurückzuziehen, nicht fol- ein Gesamtkonzept anstreben, bei dem die 17 Pro- gen, beantrage ich für die SPD-Fraktion hilfsweise die jekte der deutschen Einheit über Maßnahmengesetze Überweisung an die Ausschüsse. finanziert und geplant werden sollen, auf dem richti- (Beifall bei der SPD, dem Bündnis 90/ gen Wege sind. Darüber reden wir jedoch heute nicht; GRÜNE und der PDS/Linke Liste) ich will es auch nicht vertiefen. Ich sage nur, das gehört zum Gesamtkonzept. Das sind nämlich Dinge, die sofort gemacht werden müssen. Sie können mit Das Wort hat nun- Vizepräsident Helmuth Becker: Leerformeln arbeiten, wie Sie wollen; Sie können vor mehr der Abgeordnete Ekkehard Gries. Mitleid über die negativen Zustände in den neuen Ländern triefen: All dies nützt überhaupt nichts, wenn Ekkehard Gries (FDP): Herr Präsident! Meine Da- man nicht anfängt. Deshalb brauchen wir die Maß- men und Herren! Ich will der Kollegin sogleich ant- nahmengesetze. Aber wir brauchen das Beschleuni- worten: Ich beantrage in der Hauptsache die Über- gungsgesetz auch für alle anderen Verkehrspro- weisung an den Ausschuß, jekte. (Heiterkeit — Beifall des Abg. Hubert Dopp- Kommen Sie nicht immer mit dem Schreckgespenst meier [CDU/CSU]) Straße. Der Minister hat schon darauf hingewiesen, weil wir diesen Gesetzentwurf natürlich behandeln daß die Schiene in der gleichen Weise wie die Binnen- wollen und uns nicht auf Ausflüchte und ideologische schiffahrt betroffen ist und daß der ÖPNV in der glei- Leerformeln einlassen können, einfach im Interesse chen Weise wie der Fernverkehr tangiert ist. der Sache und der Menschen. Die Herstellung der deutschen Einheit liegt fast ein Wir, die wir das Beschleunigungsgesetz vertreten, Jahr zurück. Es ist ein schwieriger Umstellungspro- müssen uns selber davor hüten, Illusionen zu wecken. zeß, der ja auch die Haushaltsberatungen hier vorge- Selbst nach Inkrafttreten des Beschleunigungsgeset- stern und gestern wesentlich beeinflußt hat. Wir müs- zes werden wir noch Planungszeiträume zwischen sen nach 40 Jahren Mißwirtschaft sozialistischer und fünf und zehn Jahren haben, die, wenn wir uns die kommunistischer Cliquen Aufgaben ansehen, die vor uns liegen, im Grunde (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Es sind noch viel zu lang sind. auch ein paar Blockflöten dabeigewesen!) Seien wir doch einmal ehrlich: Wenn wir solche Pla- das marktwirtschaftliche System einführen. nungsprozesse von 10 bis 20 Jahren beim Aufbau der Wir alle miteinander wissen — ich brauche das alten Bundesrepublik gehabt hätten, dann liefen wir nicht zu wiederholen — , daß eine vernünftige Ver- heute immer noch mit dem Pappkarton herum. kehrsinfrastruktur wirklich eine ganz wesentliche Voraussetzung dafür ist — unseren Bürgern hier wird (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) es vielleicht noch deutlicher als früher — , daß die Wirtschaftsstruktur funktionieren kann. Das ist natürlich alles viel schneller gegangen. So muß es jetzt in einer besonderen Situation auch drüben (Harald B. Schäfer [Offenburg] [SPD]: Dar- geschehen. über gibt es aber keinen Streit!) — Es gibt keinen Streit. Herr Schäfer. Ich rede jetzt Das Beschleunigungsgesetz hat in erster Linie die nicht über Tempo 120 und anderes. Es gibt überhaupt Verwaltung und nicht die Bürger als Adressaten. Wir viel weniger Streit zwischen uns. Es gibt bei Ihnen nur verkürzen die Fristen der Verwaltung; diese soll sich keine Verantwortung und keine Bereitschaft, zu ent- gefälligst einmal sputen. scheiden. Vieles von dem, was die Kollegin hier ge- sagt hat, kann ich unterstreichen. Da sind wir über- (Zustimmung bei der SPD) haupt nicht auseinander. Wir werden das auch im Ausschuß feststellen. Sie müssen aber auch einmal Sie haben das Raumordnungsverfahren erwähnt. handeln. Da Sie es nicht tun, müssen wir es tun. Wir Ich komme aus dieser Branche. Ich kenne das von der sind auch überzeugt, daß wir das Richtige tun wer- kommunalen und der Landesebene her. Es ist nämlich den. keine Bundessache. 20 Jahre Planungszeiträume wie bei uns? Das ist (Zuruf von der SPD) keine Chimäre. Jeder von uns, der hier in den alten Ländern gelebt hat, weiß, daß ein Planungsvorlauf — Dann sehen Sie sich einmal an, wie lange das ge- zwischen 10 und 20 Jahren die Regel war. Das ist dauert hat und wer darin herumfummelt. natürlich für den Aufschwung Ost tödlich; das können wir uns da nicht leisten, und das können wir auch den Wenn man Raumordnungsverfahren unbef ristet Menschen dort drüben überhaupt nicht zumuten, we- ganz allein rot-grünen Landesregierungen überläßt, der auf den Straßen noch auf den Schienen, noch auf dann — das sage ich Ihnen — kommt man gar nicht dem Binnenwassersektor. Ich bin dem Minister mehr in die Situation der Linienbestimmungsverfah- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991 3293

Ekkehard Gries ren; dann ist nämlich das Jahrhundert vorbei. Das ist Wir sind bereit, über Verbesserungen zu reden. Es doch die Realität. hat jedoch überhaupt keinen Zweck, hier nur zu reden und dann nicht zu entscheiden. Selbstzweifel und (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Dr. Zweifel an der Effizienz des Gesetzes, das ja noch gar Margrit Wetzel [SPD]: Das ist bei den kein Gesetz ist — es ist ein Entwurf —, Schwarzen nicht anders!) (Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Gott sei Dank!) Wir müssen auf der anderen Seite dafür sorgen, daß bringen uns überhaupt nicht weiter. die Beteiligung der Öffentlichkeit, der Bürger, und die Belange des Umweltschutzes nicht zu kurz kom- Ich bitte Sie: Haben Sie doch ein bißchen mehr Ver- men; das ist überhaupt keine Frage. Deshalb haben ständnis für die Situation der neuen Länder, für die wir aus der FDP-Fraktion heraus eine entsprechende katastrophale Lage der Verkehrsinfrastruktur, für die Anregung gegeben. Darüber können wir reden. So, Notwendigkeit und die Begründetheit bestimmter wie Sie es dargestellt haben, besteht in der Sache Sonderrechte, die wir dort einführen müssen. Wir sind Konsens, auch wenn wir in Details auseinanderlaufen. dazu bereit, um das zu erreichen, was Sie auch gesagt Wir können dieses Gesetz ja auch verbessern. Wir haben: Chancengleichheit zwischen Ost und West, haben bisher kaum ein Gesetz der Regierung erlebt, Lebensstandard, Vergleichbarkeit der Infrastruktu- das nicht verbesserungsbedürftig gewesen wäre. Wir ren. Das ist unser Hauptziel, meine Damen und Her- wollen das Raumordnungsverfahren, aber nicht als ren. Ich appelliere an die Opposition, sich wirklich zu Verhinderungsinstrument, sondern befristet und besinnen und nicht wieder zu spät zu kommen. Wir möglicherweise auf die wichtigsten Punkte konzen- sind jedenfalls bereit, diesen Gesetzentwurf durchaus triert, so daß wir dann am Ende auch zu einer Ent- in dem Sinne zu verbessern, wie Sie das in Grundzü- scheidung kommen. gen hier angedeutet haben. Aber es bleibt dabei: Es gibt Befristungen, es gibt Wir können Parallelverfahren haben. Wir wollen die gebündelte und parallele Verfahren, damit wir schnell Umweltbelastungen vorher geklärt wissen. Wir wol- entscheiden können, um diesen Ländern zu helfen, len ja einen möglichst breiten Konsens, bis es am Ende die es bitter notwendig haben. in das Linienbestimmungsverfahren beim Minister geht. Das bedeutet dann aber auch, die Bef ristung zu Vielen Dank. akzeptieren. - (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Keine drei Mo- nate für die neuen Bundesländer!) Vizepräsident Helmuth Becker: Die nächste Redne- rin ist Frau Abgeordnete Jutta Braband. Ich bin froh, daß der Bundesrat selber die Vier-plus- Zwei-Regelung angeboten hat. Das muß auch gehen; dann muß man sich eben beschränken und sich ein Jutta Braband (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! bißchen sputen. Meine Damen und Herren! Auch wenn Herr Krause mittlerweile einen Gang zurückschalten mußte, hält Insofern sind wir völlig d'accord. Wir werden das im er ungeachtet der Proteste von Umweltverbänden, Ausschuß noch eingehend behandeln. Bürgerinitiativen und Politikerinnen und Politikern Die Umweltverträglichkeitsprüfung bleibt, ebenso aus Ost und West an seinem Beschleunigungsgesetz die Bürgerbeteiligung. Das Raumordnungsverfahren fest. Getreu der Logik, viel hilft viel, soll das Problem kann und soll, wo es gewollt wird, durchgeführt wer- des rasant wachsenden Verkehrsaufkommens in den den. neuen Bundesländern mit Zubetonierung von Land- schaft gelöst werden. Was nottut, Herr Krause, ist ein Wir sollten uns hüten — das klang bei Ihnen, Frau integriertes Gesamtverkehrskonzept für die gesamte Kollegin Wetzel, ein bißchen durch —, die neuen Län- Bundesrepublik mit einer klaren und eindeutigen der zu bevormunden. Ob sie nun eine Verwaltung Priorität für die Bahn und den öffentlichen Personen- haben oder eine solche langsamer oder schneller auf- nahverkehr, eingebettet in eine Raumordnungs- und bauen, sie sind zuständig; sie haben die Kompeten- Siedlungsstrukturpolitik, die die erzwungene Mobili- zen. Diese sollten auch am Ende bei ihnen liegen. Wir tät drastisch reduziert. Was wir nicht brauchen, ist die sollten hier keine ideologischen Schaukämpfe füh- beschleunigte Wiederholung der verkehrspolitischen ren. Fehler der 60er und 70er Jahre in diesem Land hier. Ich bedauere, daß Sie sich von der SPD — ich sage Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR steht ein das ganz deutlich; ich stehe nicht im Verdacht, ein Schienennetz zur Verfügung, das von der Netzdichte Sozialistenhasser zu sein — in dieselbe Situation wie her, gemessen an der Bevölkerungsdichte, grundsätz- vor der Bundestagswahl bringen, als alles zu schnell lich ausreicht, ja sogar noch 50 % dichter ist als das ging. Sie wissen heute, daß nicht durch Streckenstillegungen stark reduzierte Schie- nur nicht gewonnen, sondern total verloren hat und nennetz in den alten Bundesländern. Ähnliches gilt daß Sie auch mit Ihrer Politik gescheitert sind. für die Straßenverkehrswege. Wir würden dies alles heute nicht mehr bekommen. (Zuruf von der CDU/CSU: Die sind ausrei Es mußte gehandelt werden. Wir behandeln hier ei- chend?) nen Sachbereich, in dem ebenfalls gehandelt werden Eine Instandsetzung und Modernisierung der vorhan- muß. Es hat keinen Zweck, jetzt wieder alles ideolo- denen Netze, insbesondere des Schienennetzes, gisch aufzupeppen, große Wunschgebilde zu schaffen brächte, eingebettet in eine ökologisch und sozial ver- und Illusionen zu entfachen. Wir müssen hier jetzt trägliche Verkehrspolitik, eine tatsächliche Verbesse- wirklich handeln. rung der Verkehrs- und vor allem der Lebensverhält- 3294 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991

Jutta Braband nisse, anders als das undemokratische Machwerk Be- Horst Gibtner (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine schleunigungsgesetz. Damen und Herren! Mir verschlägt es fast die Spra- (Zuruf von der CDU/CSU: Getreu dem che, wenn ich lese und hier im Plenum wieder höre Motto: Niemand soll ein Auto haben dür- — damit meine ich insbesondere meine beiden Vor- fen!) rednerinnen — , was SPD-Politiker und andere Oppo- sitionsgruppen gegen den Entwurf des Beschleuni- Nach heutigen Erkenntnissen sind über Flächen- gungsgesetzes ins Feld führen. steuerung und Standortpolitik erhebliche Verkehrs- (Zuruf von der SPD: Quatsch!) einsparungen in den Regionen möglich, ohne daß wirtschaftliche Möglichkeiten eingeschränkt wer- Liebe Kolleginnen und Kollegen, Frau Braband, es den. geht ja gar nicht nur um Straßenbau. Dies hier hat auch überhaupt nichts damit zu tun, daß vorhandene Eine Verteuerung des Straßenverkehrs bis zur Verkehrswege in ihrem Zustand verbessert werden kompletten Deckung seiner Kosten, auch der ökologi- könnten, ohne daß wir das Beschleunigungsgesetz schen und sozialen Folgekosten, ist ebenso unerläß- hätten. Man muß das Gesetz lesen. Dann weiß man lich wie eine Abbkehr von so unsäglichen Praktiken genau, worum es geht. wie der Lagerhaltung auf der Straße. Für einen Vertreter der neuen Bundesländer ist es Ein Konzept für die Regionalisierung von Wirt- absolut unerklärlich, meine Damen und Herren, daß schaftsräumen ist dringend erforderlich. Die von jemand, der angeblich für den Aufschwung Ost ist Herrn Krause immer wieder zitierte Gleichung — wozu ja wohl auch unbest ritten der Ausbau der — Straßenbau gleich Arbeitsplätze gleich wirtschaft- Verkehrswege gehört — , gegen ein solches Gesetz licher Aufschwung — ist der falsche Ansatz und geht sein kann. so einfach nicht auf. Straßenbau ist Großmaschinenar- (Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Lesen Sie das erst beit, wie Ihnen allen bekannt sein dürfte und folglich einmal! Dann sind Sie auch dagegen!) kapital- und nicht pesonalintensiv. Erfahrungen aus dem ländlichen Raum belegen zudem, daß nach Ab- Offensichtlich wollen Sie, meine Damen und Herren, schluß der Baumaßnahmen kaum positive Auswir- den Aufschwung Ost nicht. Zumindest gönnen Sie ihn kungen auf den Arbeitsmarkt dort festzustellen sind. nicht dieser Regierung und dieser Koalition. Ganz im Gegenteil werden durch den Fernstraßenbau (Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der SPD) - eher Pendlerströme ausgelöst und Kapital und Kauf- Sie fallen damit aber auch den Politikern Ihrer eige- kraft in die Ballungszentren abgezogen. nen Partei, der SPD, in den Rücken, die in den neuen (Zuruf von der CDU/CSU: Aber Arbeitslose Bundesländern vor Ort Verantwortung tragen, und pendeln nicht! Das wollen Sie wohl!) Sie versündigen sich damit auch an den Menschen, die in den neuen Bundesländern leben und arbeiten Eine auf das Auto fixierte Bleifußpolitik, wie die bzw. sich nach einem neuen Arbeitsplatz sehnen. Bundesregierung sie betreibt, lehnen wir grundsätz- lich ab. Das Beschleunigungsgesetz ist zudem eine Zum Zustand der Verkehrswege in der ehemaligen Beschneidung der wenigen, von Bürgerinneninitiati- DDR sind schon sehr viele Zahlen und Bewertungen ven erkämpften demokratischen Elemente im Pla- vorgetragen worden. Ich möchte diesen Zustand wie nungswesen. Es stellt eine ganz besondere Form von folgt kurz charakterisieren: Demokratieabbau dar. Es steht zu befürchten, daß bei Schienenwege, Straßen und Wasserstraßen ent- Planungs- und Genehmigungsverfahren von groß- sprechen im wesentlichen dem Ausrüstungsstand der technischen Anlagen in Zukunft ganz ähnliche Wege 30er Jahre, ihr Zustand ist aber wesentlich schlechter beschritten werden sollen. als damals, weil diese Wege nur auf Verschleiß gefah- ren worden sind und zuwenig zu ihrem Erhalt bzw. Dem vorliegenden Antrag von Bündnis 90/GRÜNE gar zu ihrem Ausbau getan wurde. Diese Verkehrs- zur Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur in den wege — das wissen wir alle, meine Damen und Her- neuen Bundesländern stimmen wir uneingeschränkt ren — halten den Ansprüchen des geeinten Deutsch- zu. Hier ist der Ansatz formuliert, der unseres Erach- land nicht stand. tens allein zu einer Verbesserung der Verkehrssitua- tion unter Beachtung aller ökologischen, sozialen und (Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Deshalb wollen wirtschaftlichen Komponenten führt. Es würde uns wir das so schnell wie möglich verbessern; freuen, wenn Sie, Herr Krause, sich entschließen das fehlt uns doch in Ihrem Gesetz!) könnten, Ihre Politik in Richtung auf ein Tempolimit Wie sollen sie dann europäischen Anforderungen zu beschleunigen. oder gar dem Verkehr nach der Jahrtausendwende (Ekkehard G ries [FDP]: Eine gute Beschleu- genügen? nigung!) Wir sind uns doch hoffentlich einig darüber, daß dieses Dilemma schnellstens beseitigt werden muß. Ich finde, das ist die einzige Art von Beschleunigung, die wir hier brauchen können. (Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Na klar!) (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Nun frage ich Sie: Wie soll das mit einem Planungs- recht und einer Arbeitspraxis bewältigt werden, (Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Da brauchen wir kein Planungsrecht! — Gegenruf von der Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und CDU/CSU: Wie wollen Sie eine Stadtumge Herren, das Wort hat jetzt der Herr Abgeordnete Horst hung ohne Planung machen, ohne Beschleu Gibtner. nigung? Das ist doch Quatsch!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991 3295

Horst Gibtner die nach Ihren eigenen westdeutschen Erfahrungen Bei diesem Gesetzesvorhaben wissen wir uns in Vorbereitungszeiträume von 20 Jahren in Anspruch Übereinstimmung mit vielen Bürgern in ganz nehmen? — Da helfen doch keine Appelle und auch Deutschland, insbesondere mit den Menschen in den keine Forderungen nach noch höheren Hochhäusern neuen Bundesländern, die schnelle Verbesserungen mit noch viel mehr Beamten. Da hilft nur neues Recht, sehen wollen. meine Damen und Herren! Wir wissen uns einig mit den Unternehmen, die in den neuen Bundesländern arbeiten wollen. Wir wis- (Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Nein, Geld! — sen uns aber auch einig mit den Arbeitnehmervertre- Weiterer Zuruf von der SPD: Sie hätten doch tern in den neuen Bundesländern, die neue Arbeits- in diesem Jahr schon Verbesserungen ma- plätze schaffen und die alten erhalten wollen. chen können!) Nur, mit Ihnen, meine Damen und Herren von der Es ist eine Demagogie, zu behaupten, dabei würden Opposition, sind wir uns selbstverständlich nicht ei- Bürgerrechte beschnitten und werde der Umwelt- nig. Sie wissen nämlich, daß der einzige Weg, die schutz mit Füßen getreten. nächste Bundestagswahl nicht wieder so haushoch zu verlieren, für Sie darin liegt, die Bemühungen für ei- (Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Das werden Sie nen Aufschwung im Osten, die Bemühungen um eine aber hören!) durchgreifende Verbesserung im Osten mit all ihren Das kann man nur Menschen einreden, die den Ge- positiven Wirkungen auf Gesamtdeutschland zu tor- setzestext nicht kennen. Sie zählen offensichtlich auf pedieren, um dies später der jetzigen Regierung anzu- deren Unwissenheit. kreiden. Aber dieses Spiel haben wir durchschaut. Es ist ein (Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Allmählich muß schäbiges Spiel. Da werden wir nicht mitspielen. Die ich den Eindruck haben, daß Sie die alten Mehrheit dieses Hohen Hauses wird Ihren Versuch Gesetze nicht kennen!) vereiteln. — Frau Dr. Wetzel, selbstverständlich werden sich die Wir werden an der Verbesserung der Lebensver- zuständigen Ausschüsse — das ist schon gesagt wor- hältnisse weiter arbeiten und würden dies gern mit den — mit dem Entwurf des Beschleunigungsgesetzes Ihnen gemeinsam tun. sachkundig befassen müssen. Zur Einstimmung auf Danke schön. diese verantwortungsvolle Aufgabe möchte ich jetzt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sagen, was wir wollen und tun müssen:

Erstens. Wir wollen natürlich die volle Berücksich- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und tigung von Bürgerinteressen — das war eines der Herren, ich erteile das Wort jetzt dem Abgeordneten Hauptziele der friedlichen Revolution in der damali- Herrn Dr. Klaus-Dieter Feige. gen DDR — , aber wir wollen nicht endlose Verfahren mit wegen des langen Zeitablaufs immer neuen Gene- rationen von Bürgervertretern. Dr. Klaus-Dieter Feige (Bündnis 90/GRÜNE): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! (Zuruf von der SPD: Das wollen wir auch Auch ich fühle mich in Übereinstimmung mit sehr vie- nicht!) len Menschen in den neuen Ländern, was die Ent- wicklung der Verkehrswege betrifft, Es gibt gute Ge- Der einzelne darf dem Allgemeinwohl dienende Vor- setzesentwürfe, weniger gute, und es gibt sogar man- haben nicht nach seinem Belieben verzögern kön- gelhafte Gesetzesvorhaben — und jetzt das Verkehrs- nen. wegeplanungsbeschleunigungsgesetz. (Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Richtig!) Schon der Titel des Gesetzes soll uns suggerieren, Zweitens. Wir wollen natürlich auch die volle Be- daß mit diesem Projekt den tatsächlichen Interessen rücksichtigung der Umweltfragen — auch dies war der Bürger in den neuen Ländern entsprochen wird. ein lange verfolgtes Ziel der Opposition gegen die Es stimmt: In Ostdeutschland, in den neuen Ländern, SED — , aber wir wollen die Umweltverträglichkeits- herrscht eine hohe Ungeduld. Die Menschen wollen prüfung einmal zusammenfassend und gründlich, so schnell wie möglich den gleichen Lebensstandard haben wie in der alten Bundesrepublik. Nach dem (Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Weitere Verfah- Zusammenbruch des ganzen Systems suchen sehr ren können aber Fehler korrigieren! — Wei- viele Menschen nach neuem Halt, und sie glauben tere Zurufe von der SPD) schnell — ich meine, leider manchmal zu schnell — Argumenten, die ihnen kurzfristig Aufschwung ver- und wir wollen uns nicht immer wieder in großen Zeit- sprechen, ohne ihnen langfristig eine Perspektive ge- abständen mit neuen Taktiken auseinandersetzen ben zu können. müssen. Mehr ist es doch nicht! Dieser Gesetzentwurf ist offenbar selbst außeror- Drittens. Wir wollen selbstverständlich auch eine dentlich beschleunigt entwickelt worden; denn an- voll umfängliche Planung auf der Verwaltungsseite, sonsten hätten die wirklich bremsenden Planungs- aber unter Bündelung des Sachverstands, und wir praktiken berücksichtigt werden können. Die Haupt- wollen nicht eine Aufsplitterung auf unzählige ver- verluste im Planungsablauf liegen nämlich bei der schiedene Stellen und Instanzen mit dem einzigen Voruntersuchung und im Raumordnungsverfahren. Ergebnis einer unerträglichen Planungsverzöge- Der größte zeitliche Verlust liegt also in einem Verfah- rung. rensabschnitt, der als reines Behördenverfahren ge- 3296 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991

Dr. Klaus-Dieter Feige rade der öffentlichen Beteiligung bisher nicht zugäng- gnadenlose Überschreiten der Höchstgeschwindig- lich war. keiten wird doch nicht durch Straßenneubau verhin- dert. Die relativ hohen Verzögerungen im Raumord- nungsverfahren sind vermutlich gerade darauf zu- (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr wesent rückzuführen, daß eine erstmalige Beteiligung Dritter lich!) oder Betroffener zu spät stattfindet und die Mängel, Die neuen Rennbahnen werden sogar ziemlich si- etwa der Trassenfindung, erstmals im Vorverfahren cher wesentlich mehr Tote hervorbringen. Es reicht offenbart werden und teilweise aufwendig durch doch, wenn man an die Vernunft appelliert. neue Begutachtungen repariert werden müssen. (Zuruf von der CDU/CSU: Das reicht aner Aus verschiedenen Äußerungen des Bundesver- kanntermaßen nicht!) kehrsministers schlußfolgere ich aber auch, daß er in Ich möchte jetzt nicht mit der Diskussion über die den Protesten von Bürgerinitiativen, Fachverbänden Geschwindigkeitsbegrenzungen beginnen. Aber ich und einzelnen betroffenen Bürgern eine besondere glaube, das ist sehr notwendig. Bremse im bisherigen Planungsverfahren sieht. Aber anstatt die Beteiligung dieser großen Gruppe von an- Notwendig ist auch ein integriertes Verkehrskon- geblichen Störenfrieden in einer frühen Planungs- zept für die Länder, das sich an dem zu erwartenden, phase vorzusehen, soll deren Mitspracherecht weiter auch regional mitbestimmten Verkehrsbedarf orien- erheblich eingeschränkt und auf inakzeptable Zeit- tiert. Unser Antrag dazu liegt vor; er enthält unsere räume zusammengestrichen werden. Vorstellungen. Meine Redezeit ist vorerst abgelaufen, so daß ich darauf nicht mehr im Detail eingehen Alle das bestehende Planungsrecht verändernden kann. Vorschläge gehen jedoch genau in die falsche Rich- Der vorliegende Gesetzentwurf ist aus unserer Sicht tung. Sie zerstören durch die Machtkonzentration auf auch nicht nachbesserbar. Das Bundesverkehrsmini- den Bundesminister sinnvolle föderale Planungsprin- sterium muß seine Hausaufgaben endlich wirklich zipien. Sie behindern durch extrem kurze Fristen in machen. Der Gesetzentwurf in der vorliegenden Form der Verfahrensordnung, einschließlich der späten und erinnert mich eher an die Bauanleitung für ein Auto- teilweise ausbleibenden Zusammenarbeit mit den bahnraststätten-Spülklo, bei dem man den Wasseran- Fachverbänden, eine umweltschonende Verkehrswe- schluß vergessen hat. Es sind nicht nur Autoabgase, geneubaupolitik. - die zum Himmel stinken. Eine Reihe von Projekten möglicher Maßnahmege- (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der setze sind Angriffe auf die letzten naturnahen Biotope SPD und der PDS/Linke Liste) im Osten. Ich weiß aus eigenem Erfahren, daß es dort keine grundlegende Biotoperfassung gibt. Wenn wir jetzt einfach mit so kurzen Fristen planen und bauen, Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und dann sind teilweise nicht einmal Zeiträume von der Herren, als letzter Redner zu diesem Tagesordnungs- Dauer einer Vegetationsperiode da, um die genaue punkt hat jetzt der Abgeordnete Dirk Fischer das Erfassung noch nachvollziehen zu können. Wort. Die Methode „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß" und dann einfach darüber hinweggehen ist un- Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): Herr Präsi- demokratisch. Und gerade auch Demokratie wollen dent! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Worum die Menschen in den fünf neuen Ländern lernen. Sie geht es hier? — Ausschließlich darum, eine sichere wollen mitbestimmen, was sie selbst bet rifft. Rechtsgrundlage für die Verkehrsplanung in den Die Einschränkung der rechtsstaatlichen Möglich- neuen Bundesländern unter den besonderen Bedin- keiten des Anrufens eines Gerichtes werden auf eine, gungen herbeizuführen. Leider haben Rot und Grün dann auch noch fernliegende Instanz reduziert. Wer bereits im Vorfeld lautstark gegen den Gesetzentwurf von den Bürgern in den neuen Ländern hat denn Front gemacht. Aber ich glaube, die Positionen sind überhaupt den Mut, bereits das Bundesverwaltungs- damit sehr klar geworden; denn für die Menschen, die gericht anzurufen, eine bessere Verkehrsinfrastruktur dringend brau- chen und die den Dreiklang Infrastruktur-Auf- (Zuruf von der CDU/CSU: Die PDS hat den schwung-Arbeitsplätze kennen, ist damit deutlich, Mut!) daß die einen das ganze Thema emotionsgeladen be- um seine Interessen einzubringen? Wenn er dann handeln und mit Stichworten wie „Generalangriff auf nach Jahren recht bekommt, dann ist das Ganze vor- Umwelt" und „einseitiger Rechtsabbau" belegen und bei — denn das hat ja nicht einmal aufschiebende auf der anderen Seite die Koalition sachlich sagt: Ab- Wirkung —, dann hat er die Autobahn im Wohnzim- bau des Infrastrukturdefizits durch vertretbare Be- mer. Dann hat er recht und nichts weiter. schleunigung der Planung auf sicherer Rechtsgrund- lage. Wann ist jemals die Wahlmöglichkeit für den Unter dem Punkt „Alternativen" steht im Gesetz: Bürger draußen deutlicher gewesen als bei diesem „Keine". Ich glaube, der Verkehrsminister war nicht Punkt? Ich finde, es ist für unsere Debatte im Aus- einmal bereit, Alternativen überhaupt zu erwägen schuß sowie in der zweiten und dritten Lesung und für und darüber nachzudenken. die Darstellung dieses Sachverhalts in der Öffentlich- Auch die Begründung von Dr. Laufs in der Debatte, keit wichtig, daß dieses ganz klar wird. daß die vielen Verkehrstoten auf den ostdeutschen Für die CDU/CSU-Fraktion ist das Ziel als solches Straßen diesen beschleunigten Neubau notwendig nicht disponibel, weil für uns eben Aufschwung Ost machen, ist absurd. Die wahnsinnige Raserei, das und Beschäftigung für Menschen dort nicht aufge- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991 3297

Dirk Fischer (Hamburg) schoben werden dürfen. Nein, für uns geht es darum, der Planungsexperten überall gleichmäßig umgesetzt Druck für die Menschen zu machen; das ist das Ent- werden. Das Gesetz schafft dafür gleiche Vorausset- scheidende. Viel zu lange Planungen behindern den zungen. Aufschwung in den neuen Bundesländern und er- Zur raschen Herstellung gleichwertiger Lebensver- schweren die baldige Herstellung gleichwertiger Le- hältnisse kann das Sonderrecht für die neuen Bundes- bensverhältnisse. Ablehnung würde eben bedeuten, länder auch bef ristet gelten. Dennoch wird es im Ver- Frau Kollegin: Keine Verkehrswege, keine Wirt- kehrswegebau keine Hauruckverfahren geben. Am schaftsansiedlung, keine besseren Chancen für Tou- Ende der Befristung wird der Auftrag des Gesetzge- rismus, bers zu überprüfen und neu zu entscheiden sein. (Zuruf von der SPD: Schwarzmalerei!) Die Bundesregierung hat den Gesetzentwurf vorge- legt. Der Bundesrat hat, wie ich glaube, in einem keine Arbeitsplätze, und das für einen Zeitraum von eigentümlichen Widerspruch zu den Einlassungen 15 bis 20 Jahren. Da kann man nur sagen: Dank der SPD-Bundestagsfraktion dazu sehr sachlich Stel- SPD. lung genommen. Wir müssen in unseren Beratungen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — in den Ausschüssen alle vorgetragenen Aspekte sorg- Zurufe von der SPD) sam abwägen. Raumordnung, Umweltschutz, Bürger- beteiligung und Rechtsschutz werden dabei nicht auf Warum eigentlich? Die SPD will die Verbesserung der Strecke bleiben. Aber für die CDU/CSU ist — ich der Verkehrsinfrastruktur durch Übernahme der wiederhole das noch einmal — kein disponibles Ziel, westlichen Planungsgepflogenheiten um 20 Jahre auf die Beschleunigung der Planung von Verkehrswe- verschieben. Glauben Sie doch nicht, daß Sie mit den gen zu verzichten. Kinkerlitzchen im Planungsverfahren, die Sie uns an- Die SPD muß jetzt, inbesondere auf Grund ihrer bieten, die ja auch jetzt schon möglich gewesen wären Bundesratsmehrheit, entscheiden, ob sie konstruktiv — es hat nur nicht funktioniert — , diese Zeit auch nur den Weg mit der Bundesregierung gehen will oder ob ansatzweise einholen können! Die SPD sieht nicht die sie die Verantwortung für viele Jahre des Stillstandes Verantwortung für die Menschen in den neuen Bun- in den neuen Bundesländern übernehmen will. Bun- desländern. Will denn die SPD eigentlich leugnen, desratsmehrheit kann eben auch einmal sehr unbe- daß das Erbe des real existierenden Sozialismus eben quem sein. Man muß sich entscheiden: Man kann in ein real existierendes Verkehrsnetz von erbärmlicher- diesem Fall nicht die übliche verbale Quadratur des Qualität ist, Kreises praktizieren, die Sie, Frau Kollegin, heute bei- (Widerspruch bei der SPD) nahe modellhaft vorgeführt haben. Nein, es ist wirk- lich eine große Stunde der SPD: Sie muß Verantwor- ein Netz, das dem sprunghaften Wachstum des Ver- tung übernehmen. kehrs durch die Öffnung der Grenzen in Deutschland und zu Osteuropa in keiner Weise gewachsen ist? Ist (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — denn die SPD eigentlich nicht der Ansicht, daß schnel- Dr. Margrit Wetzel [SPD]: Regierungsverant les Handeln geboten ist, um die Zahl der Unfalltoten wortung! Das wäre schön! Sofort!) und -verletzten zu reduzieren? Herr Dr. Feige, Sie ha- ben diesen wesentlichen Faktor bei der Verbesserung unserer Unfallbilanz völlig unterschlagen, ja sogar be- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehr- stritten. Es ist nach aller Expertenmeinung ein ent- ten Damen und Herren, ich schließe die Ausspra- scheidender Faktor gewesen, daß wir die Verkehrsin- che. frastruktur verbessert haben. Gerade der Bau von Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzent- Ortsumgehungen und die Bündelung des Verkehrs wurf auf Drucksache 12/1092 an die in der Tagesord- auf Bundesautobahnen sind ein ganz wesentlicher nung aufgeführten Ausschüsse und zusätzlich an den Faktor dafür, daß wir trotz massiv angestiegenen Ver- Ausschuß für Wirtschaft zu überweisen. Der Antrag kehrsvolumens seit 1970 die Zahl der Unfalltoten in der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE auf Drucksache den alten Bundesländern auf ein D rittel haben herun- 12/1118 soll an dieselben Ausschüsse überwiesen terdrücken können. werden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so (Zuruf von der FDP: Sehr richtig!) beschlossen. Es wäre wirklich ein Schabernack, wenn wir dies Ich hoffe, daß nach dem Sinn der Debatte das erzielt ignorierten und zu den falschen Schlußfolgerungen wird, was Inhalt der Überschrift ist, nämlich die Ver- kämen. besserung der Verkehrsinfrastruktur in den neuen Bundesländern. Dazu wünsche ich gute Beratungs- Warum ein Gesetz? — In einem Rechtsstaat müssen ergebnisse. außergewöhnliche Maßnahmen einer rechtlichen Überprüfung standhalten. Dafür bietet das Gesetz Wir sind am Ende der Tagesordnung. Ich berufe die eine sichere Grundlage. nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mitt- woch, 18. September, 13.00 Uhr ein. Der Verwaltungsaufbau kommt in den neuen Bun- desländern unterschiedlich gut voran. Damit ist nicht Die Sitzung ist geschlossen. sichergestellt, daß die Beschleunigungsvorschläge (Schluß der Sitzung: 14.23 Uhr)

Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991 3299*

Anlagen zum Stenographischen Bericht Anlage 1 Abgeordnete(r) entschuldigt bis Liste der entschuldigten Abgeordneten einschließlich Reuschenbach, Peter W. SPD 06. 09. 91 entschuldigt bis Abgeordnete(r) Richter (Bremerhaven), FDP 06. 09. 91 einschließlich Manfred Antretter, Robert SPD 06. 09. 91* Roitzsch (Quickborn), CDU/CSU 06. 09. 91 Ingrid Bargfrede, Heinz-Günter CDU/CSU 06. 09. 91 Romer, Franz-Xaver CDU/CSU 06. 09. 91 Berger, Johann Anton SPD 06. 09. 91 Schäfer (Mainz), Helmut FDP 06. 09. 91 Bierling, Hans-Dirk CDU/CSU 06. 09. 91 Scharrenbroich, Heribert CDU/CSU 06. 09. 91 Blunck, Lieselott SPD 06. 09. 91* Dr. Scheer, Hermann SPD 06. 09. 91* Dehnel, Wolfgang CDU/CSU 06. 09. 91 Dr. Soell, Hartmut SPD 06. 09. 91* Eichhorn, Maria CDU/CSU 06. 09. 91 Dr. Sperling, Dietrich SPD 06. 09. 91 Eppelmann, Rainer CDU/CSU 06. 09. 91 Spranger, Carl-Dieter CDU/CSU 06. 09. 91 Erler, Gernot SPD 06. 09. 91 Dr. von Teichman und FDP 06. 09. 91 Formanski, Norbert SPD 06. 09. 91 Logischen, C. Gattermann, Hans H. FDP 06. 09. 91 Dr. Töpfer, Klaus CDU/CSU 06. 09. 91 Dr. Gautier, Fritz SPD 06. 09. 91 Verheugen, Günter SPD 06. 09. 91 Graf, Günter SPD 06. 09. 91 Dr. Vondran, Ruprecht CDU/CSU 06. 09. 91 Gröbl, Wolfgang CDU/CSU 06. 09. 91 Weisskirchen (Wiesloch), SPD 06. 09. 91 Großmann, Achim SPD 06. 09. 91 Gert Grünbeck, Josef FDP 06. 09. 91 Dr. Wieczorek, Norbert SPD 06. 09. 91 Dr. Hartenstein, Liesel SPD 06. 09. 91 Wieczorek-Zeul, SPD 06. 09. 91 Hasselfeldt, Gerda CDU/CSU 06. 09. 91 Heidemarie Hauser (Esslingen), Otto CDU/CSU 06. 09. 91 Zierer, Benno CDU/CSU 06. 09. 91* Hilsberg, Stephan SPD 06. 09. 91 *für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- Ibrügger, Lothar SPD 06. 09. 91 lung des Europarates Jung (Düsseldorf), Volker SPD 06. 09. 91 Kastning, Ernst SPD 06. 09. 91 Körper, Fritz Rudolf SPD 06. 09. 91 Anlage 2 Koltzsch, Rolf SPD 06. 09. 91 Amtliche Mitteilungen Kretkowski, Volkmar SPD 06. 09. 91 Dr.-Ing. Laermann, FDP 06. 09. 91 Der Bundesrat hat in seiner Sitzung vom 21. Juni 1991 beschlossen, Karl-Hans den nachstehenden Gesetzen zuzustimmen bzw. einen Antrag gemäß Art. 77 Abs. 2 GG nicht zu stellen oder einen Einspruch gem. A rt. 77 Lenzer, Christian CDU/CSU 06. 09. 91* Abs. 3 GG nicht einzulegen. Link (Diepholz), Walter CDU/CSU 06. 09. 91 Gesetz zur Einführung eines befristeten Solidaritätszuschlags Lintner, Eduard CDU/CSU 06. 09. 91 und zur Änderung von Verbrauchsteuer- und anderen Gesetzen (Solidaritätsgesetz) Louven, Julius CDU/CSU 06. 09. 91 Gesetz über Maßnahmen zur Entlastung der öffentlichen Haus- Maaß (Wilhelmshaven), CDU/CSU 06. 09. 91 halte sowie über strukturelle Anpassungen in dem in Artikel 3 Erich des Einigungsvertrages genannten Gebiet (Haushaltsbegleit- gesetz 1991 - HBeglG 1991 -) Männle, Ursula CDU/CSU 06. 09. 91 Gesetz zur Förderung von Investitionen und Schaffung von Ar- Marten, Günter CDU/CSU 06. 09. 91* beitsplätzen im Beitrittsgebiet sowie zur Änderung steuerrecht- Dr. Matterne, Dietmar SPD 06. 09. 91 licher und anderer Vorschriften (Steueränderungsgesetz 1991 Dr. Mertens (Bottrop), SPD 06. 09. 91 - StÄndG 1991 -) Franz-Josef Gesetz über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1991 (Haushaltsgesetz 1991) Dr. Müller, Günther CDU/CSU 06. 09. 91* Nolte, Claudia CDU/CSU 06. 09. 91 Zu dem letztgenannten Gesetz hat der Bundesrat folgende Ent- Oostergetelo, Jan SPD 06. 09. 91 schließung gefaßt: Otto (Frankfurt), 1. Der Bundesrat stellt fest, daß weitere Maßnahmen erforder- FDP 06. 09. 91 lich sind, damit der zwingend notwendige Umbau der Wirt- Hans-Joachim schaft in den neuen Bundesländern nicht zu einem wirt- Dr. Pfennig, Gero CDU/CSU 06. 09. 91 schaftlichen Niedergang, zu Entindustrialisierung und Ent- qualifizierung führt. Die wirtschaftliche Erfahrung der Men- Dr. Probst, Albert CDU/CSU 06. 09. 91* schen und ihre Fertigkeiten müssen genutzt und gewahrt Pützhofen, Dieter CDU/CSU 06. 09. 91 werden, damit sie ihren Beitrag für das gemeinsame Reddemann, Gerhard Deutschland leisten können. Über die im Bundeshaushalt CDU/CSU 06. 09. 91* 1991 festgelegten Entwicklungen hinaus ist für die Zukunft Dr. Reinartz, Bertold CDU/CSU 06. 09. 91 besonders auf die Entwicklung der Infrastruktur, insbeson- Rempe, Walter SPD 06. 09. 91 dere in den Bereichen Wohnungsbau und Verkehr, noch stärker zu achten. Die Bundesregierung sollte im Hinblick Repnik, Hans-Peter CDU/CSU 06. 09. 91 auf die fortbestehenden Finanzierungsprobleme - auch in 3300* Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991

den alten Bundesländern - das Bund-Länder-Verhältnis 12. Der Bundesrat hält daran fest, daß für die Mittel des Pro- nicht durch einseitige Steuerverbesserungen zugunsten des gramms „Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost" Verwahr Bundes belasten. konten mit dem Ziel eingerichtet werden, daß die Mittel auch für das Jahr 1992 uneingeschränkt zur Verfügung ste- 2. Die Herstellung einheitlicher Lebensbedingungen in hen. Der Bundesrat verweist auf seine Stellungnahme vom Deutschland ist vordringlichste politische Aufgabe. Dem 19. April 1991 (Drs. 50/91 - Beschluß -). festzustellenden Verfall der bisherigen Absatzmärkte und der damit einhergehenden verschlechterten Arbeitsmarkt- situation muß durch entsprechende wirtschafts- und sozial- Der Bundesrat hat in seiner Sitzung vom 5. Juli 1991 beschlossen, politische Flankierungen begegnet werden. Diesen Anlie- den nachstehenden Gesetzen zuzustimmen bzw. einen Antrag gemäß gen muß in den nächsten Jahren noch verstärkt Rechnung Art. 77 Abs. 2 GG nicht zu stellen. getragen werden. Gesetz über die Förderung einer einjährigen Flächenstillegung 3. Nach wie vor besteht keine hinreichende Klarheit über die im Wirtschaftsjahr 1991/92 (Flächenstillegungsgesetz 1991) Finanzausstattung der neuen Länder ab 1992. Gerade ange- Sechstes Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Errichtung sichts des Rückgangs der Zuweisungen aus dem Fonds einer Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder" „Deutsche Einheit" besteht hier dringender Handlungs- bedarf, um Planungssicherheit für die neuen Länder und Gesetz zur Änderung der Verordnung über die weitere Verbes- Gemeinden zu schaffen. serung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Familien mit Kindern (Gesetz zur Einführung von Mütterunterstützung für 4. Der Bundesrat bekräftigt die Forderung, daß der Bund sei- Nichterwerbstätige in den neuen Bundesländern) ner Verpflichtung zur Übernahme der Subventionen aus den Bereichen Wohnungswirtschaft, Energie und Verkehr Vierzehntes Gesetz zur Änderung des Bundesausbildungsför- solange nachkommen muß, bis das in den westlichen Bun- derungsgesetzes (14. BAföGÄndG) desländern existierende Förderinstrumentarium auch in Gesetz zu dem Übereinkommen vom 21. März 1983 über die den neuen Bundesländern effektiv umgesetzt werden Überstellung verurteilter Personen kann. Gesetz zur Ausführung des Übereinkommens vom 21. März 5. Der Vorrang der deutschlandpolitischen Aufgaben darf 1983 über die Überstellung verurteilter Personen (Überstel- nicht dazu führen, daß in den alten Ländern die Beseitigung lungsausführungsgesetz - Ü AG) finanzwirtschaftlicher Ungleichgewichte und die Behebung von Mängeln der Infrastruktur vernachlässigt werden. Gesetz zu der Dritten Änderung des Übereinkommens über den Internationalen Währungsfonds Der Bundesrat weist erneut darauf hin, daß gerade wegen 6. Gesetz zur Herstellung der Rechtseinheit in der gesetzlichen der Vereinigung Deutschlands dem weiteren Ausbau der Renten- und Unfallversicherung (Renten-Überleitungsgesetz Verkehrsinfrastruktur in den neuen Ländern, aber auch in - RUG) den alten Ländern, hohe Priorität zukommt. Er verweist auf seine Stellungnahme vom 19. April 1991 (Drs. 50/91 - -Be- schluß -). Der Bundesrat begrüßt daher, daß aufgrund der Zu dem letztgenannten Gesetz hat der Bundesrat folgende Ent- Empfehlung des Vermittlungsausschusses vom 14. Juni schließung gefaßt: 1991 zu Art. 1 Haushaltsbegleitgesetz 1991 (Gemeindever- 1. Der Bundesrat sieht im Rentenüberleitungsgesetz einen kehrsfinanzierungsgesetz) Kürzungen im Verkehrsbereich wichtigen Schritt zur Herstellung der sozialen Einheit wieder rückgängig gemacht werden und für 1992 und 1993 Deutschlands. Mit diesem Gesetz werden die unterschiedli- eine Aufstockung des Plafonds um 1,5 bzw. 3 Mrd. DM chen Rentensysteme in den neuen und alten Bundesländern erfolgen soll. Der Bundesrat geht davon aus, daß im Rahmen zusammengeführt. Zum 1. Januar 1992 werden in den neuen der nächsten Haushaltsplanungen Klarheit geschaffen Bundesländern mit der Senkung der Altersgrenzen, mit der wird. Erweiterung der Hinterbliebenenversorgung und mit dem 7. Wie in seiner Stellungnahme vom 19. April 1991 (Drs. 50/91 neuen Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrecht spürbare so- - Beschluß -) ausgeführt, hält der Bundesrat daran fest, zialpolitische Verbesserungen eingeführt. daß auch unter Ausschöpfung aller Umschichtungsmöglich- 2. Mit dem Rentenüberleitungsgesetz werden bis einschließ- keiten dem steigenden Bedarf u. a. in den Bereichen Woh- lich des Jahres 1996 solche Elemente des bisherigen Renten- nungs- und Städtebau sowie Hochschulbau und For- rechts der neuen Bundesländer im Bestand geschützt, die vor schungsförderung ab 1992 durch eine deutliche Mittelauf- allem Frauen zugute kommen. Das betrifft vor allem den stockung Rechnung getragen werden muß. Sozialzuschlag und die erweiterte Anerkennung von Zeiten 8. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung - auch im Hin- der Kindererziehung und der Pflege. blick auf die vorliegenden 5 Länderplanungen der Bundes- 3. Die Zeit bis zum Auslaufen dieser Bestandsschutzregelun- wehr - erneut auf, das vom Bundesrat schon am 9. 11. 1990 gen muß nun dazu genutzt werden, die Alterssicherung der (Drucksache 462/90 - Beschluß -) geforderte Sonderpro- Frauen in der leistungsbezogenen Rentenversicherung zu gramm zur Förderung von Strukturverbesserungen in be- verbessern. sonders von Truppenreduzierungen und Rüstungsein- schränkungen betroffenen strukturschwachen Standorten 4. Eine solche Reform der Alterssicherung der Frauen soll vor so schnell wie möglich zu konkretisieren und umzuset- allem zen. a) die Anerkennung von Zeiten der Kindererziehung und der Pflege verbessern und dabei die Tatsache berück- 9. Der Bundesrat erwartet, daß der Bund nunmehr auch bereit sichtigen, daß Familienarbeit oft auch gleichzeitig mit ist, dem Anliegen einer vergünstigten Überlassung ehema- Erwerbsarbeit geleistet wird, liger militärisch genutzter Liegenschaften an Länder und b) eigenständige Anwartschaften der Frauen ausbauen, Gemeinden, insbesondere für Zwecke des sozialen und stu- und dentischen Wohnungsbaus wie auch für strukturverbes- c) einen wichtigen Beitrag zur Lösung des Problems der sernde Maßnahmen, hinreichend Rechnung zu tragen. Altersarmut leisten. Das Gesamtkonzept soll bis zum Jahresbeginn 1997 verwirk- Der Bundesrat hält eine weitere Kürzung der Verteidi- 10. licht werden; die unter a) genannten Verbesserungen sollen gungsausgaben für erforderlich. noch in dieser Legislaturperiode gesetzlich geregelt wer- Der Bundesrat hält es ferner für erforderlich, daß die Sub- den. ventionen für die Kernenergie abgebaut werden. Neue um- weltfreundliche Energietechnologien sollen gestärkt wer- den. Die Fraktion der SPD hat mit Schreiben vom 25. Juni 1991 ihren Antrag „Einsetzung von Ausschüssen" - Drucksache 12/53 - zu- 11. Angesichts der sich abzeichnenden Veränderungen der öf- rückgezogen. fentlichen Haushalte zu Lasten von Ländern und Gemein- den - insbesondere durch Steuererhöhungen, die aus- schließlich dem Bund zugute kommen -, erwartet der Bun- Die Vorsitzenden folgender Ausschüsse haben mitgeteilt, daß der desrat, daß auch die Länder spätestens ab 1. Januar 1992 Ausschuß gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer einen größeren Anteil am Steueraufkommen erhalten. Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absieht: Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 39. Sitzung. Bonn, Freitag, den 6. September 1991 3301*

Innenausschuß Ausschuß für Wirtschaft Drucksache 11/6897 Drucksache 12/399 Nr. 3.1-3.4, 3.7-3.16 Drucksache 12/347 Drucksache 12/458 Nr. 2.7 —2.10

Finanzausschuß Drucksache 12/368 Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Drucksache 12/210 Nr. 202 Drucksache 12/269 Nr. 2.35, 2.36 Ausschuß für Verkehr Drucksache 12/399 Nr. 3.19 Drucksache 11/7628 Drucksache 12/48 Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgen- Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit abschätzung Drucksache 8/2925 Drucksache 12/311 Nr. 2.22 Drucksache 11/4315 Drucksache 12/458 Nr. 2.17, 2.18 Drucksache 12/1003 Nr. 22 Die Vorsitzenden folgender Ausschüsse haben mitgeteilt, daß der Ausschuß die nachstehenden EG-Vorlagen zur Kenntnis genommen, bzw. von einer Beratung abgesehen hat: Der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland hat mit Schreiben vom 19. Juli 1991 gemäß § 32 Abs. 6 des Bundes- bahngesetzes vom 13. Dezember 1951 den Innenausschuß Drucksache 12/458 Nr. 2.1 Jahresabschluß der Deutschen Bundesbahn für das Ge- schäftsjahr 1989 Finanzausschuß mit der Bitte um Kenntnisnahme übersandt. Drucksache 12/152 Nr. 2 Drucksache 12/458 Nr. 2.4 Der Jahresabschluß ist vom Bundesminister für Verkehr im Ein- vernehmen mit dem Bundesminister der Finanzen genehmigt Haushaltsausschuß worden. Drucksache 12/458 Nr. 2.5, 2.6 Die Unterlagen liegen im Parlamentsarchiv zur Einsichtnahme Drucksache 12/706 Nr. 3.2 aus.