Der Patriot und seine Partei Auszüge aus der Willy-Brandt-Biografie von Brigitte Seebacher (Teil 2)

W. B. wusste, dass es so lange nicht Die Temperamente vertrugen sich nicht. DER NACHFOLGER: Gegensätzliche Tempera- gehalten hätte, wäre die Union früher auf Helmut Schmidt, der Ordnungsmensch, mente – Brandt, der libertäre Gefühls- die deutschland- und ostpolitische Linie von bürgerlichen Zügen nicht frei, nicht in mensch, und Schmidt, der Ordnungsmensch. eingeschwenkt. Die uneingeschränkte Bil- sich ruhend, immer mit dem Hang zum ligung der Verträge, einschließlich der Belehrenden, und W. B., der libertäre Ge- ie FDP-Führung war seit der Bundes- Konferenz von Helsinki, hatte sich durch fühlsmensch, einzelgängerisch, aus allen Dtagswahl 1980 zum Koalitionswechsel das Zwischenspiel des Kanzlerkandidaten sozialen Rastern herausfallend, repräsen- entschlossen, unter welchem Vorwand auch Franz Josef Strauß noch hinausgezögert. tierten je eine Möglichkeit der Machtaus- immer. Insoweit haftete dem Ende sozial- Erst 1981/82 betrieb den übung. demokratischen Regierens zwei Jahre spä- Kurswechsel. Noch im Sommer 1982 rühmt Helmut ter der Charakter des Unvermeidlichen an. In den acht Jahren, die zwischen Schmidt die Anstrengungen des Partei- Unmittelbar nach dem Bruch wandte dem Rücktritt vom Amt des Bundes- vorsitzenden, die Koalition zu retten. Fünf sich der FDP-Vorsitzende Hans-Dietrich kanzlers und dem Ende der sozial-libera- Wochen nach dem Regierungswechsel Genscher in entwaffnender Offenheit an len Koalition lagen, hatte er sich an- am 1. Oktober, vom Amt befreit oder auch W. B.: Aber hätten Sie denn damals ge- gestrengt, im Rahmen seiner Möglich- ihm hinterhertrauernd und einen Schul- dacht, dass ein sozial-liberales Bündnis so keiten dem Nachfolger Helmut Schmidt digen suchend, teilt er W. B. auf acht Sei- lange hält? Dreizehn Jahre? „den Rücken“ freizuhalten und für „ei- ten mit, es sei ein Fehler gewesen, nicht ne gegenseitige Ergänzung“ der Arbeit zu auch den Parteivorsitz übernommen zu © Piper Verlag, München. sorgen. haben.

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Zurückgetretener SPD-Chef Brandt* Zu Hans Koschnick, dem Bremer Bür- Freude am Parteivorsitz verloren germeister, sagte W. B. oft: Du bist der Letzte, der noch in der alten Arbeiterbe- Den sozialen Wandel hatte der Vorsit- wegung fußt. Er dachte daran, ihn zu sei- zende auf seine Weise, losgelöst von nem Nachfolger aufzubauen. Aber so Sympathie und Antipathie, analysiert; er schön und unterhaltsam die Anekdoten war zu dem Schluss gekommen, dass waren, die man austauschte, die Enttäu- die SPD den Wandel würde mitmachen schung ließ sich nicht verdecken. Wenn es müssen. galt, sich zu entscheiden, und er gebraucht Und der Briefpartner in Hamburg sag- wurde, wer war nicht da? Hans. te ja auch nicht, wie er die alte, dis- Auf die Erfahrung, die dem Vorsitzen- ziplinierte Arbeiterpartei, die unentwegt den der Wahlkampf 1986/1987 bescherte, beschworen wurde, am Leben erhalten hätte er gern verzichtet: Wie konnte einer wollte. Mit Maßnahmen und Machtwor- so selbstverständlich nominiert werden ten? Dabei nahm W. B. ihm ab, dass und sich der Aufgabe so gar nicht gewach- sein Herz an der Partei hing, der er sich sen zeigen? Der Kanzlerkandidat Johan- nach dem Krieg verpflichtet hatte. Über- nes Rau ließ sich auf kaum einer Sitzung haupt bestanden keine Zweifel, nicht mehr sehen und suchte jeder Diskussion einmal augenblicksweise, an Helmut aus dem Wege zu gehen; Zahnweh, ein Schmidts sozialdemokratischer Seele. Al- dicker Finger, ein verstauchter Fuß – die lenfalls zweifelte W. B. an dessen richtigem Symptome innerer Abwehr waren un- Augenmaß. schwer zu übersehen. Als Schmidt 1977 eine Raketenlücke ent- W. B. fuhr ihm quer durch Deutschland deckte und die verblüfften Amerikaner hinterher. Als er ihn schließlich erwischte, darüber belehrte, hatte W. B. das Gefühl, teilte Rau ihm mit, dass mit mehr als 35 hier übernimmt sich ein deutscher Bundes- Prozent nicht zu rechnen sei. Dennoch zog kanzler. der Kandidat mit dem Ziel der absoluten Mehrheit durchs Land, sich jeder poli- tischen Aussage enthaltend. Die Parole, ENTTÄUSCHUNG: Den Genossen aus mit den Grünen nicht zu wollen und mit der Generation, die nach Brandt kam, fehlte anderen nicht zu können, war eher der mehr als nur die Fortune. Vorbote eines Desasters. Beizeiten hatte W. B., hilfreich gemeint, uch wenn es keine Last gewesen war, die Bemerkung fallen lassen, dass 43 Pro- Adie er 1987 abwarf, Freude machte zent auch ganz schön seien. Der unsiche- W. B. der Parteivorsitz nicht mehr. Seit der re Kandidat aber ließ sich nicht raten. Er SPD die Regierungsverantwortung 1982 ab- rächte sich mit Hilfe seines Wahlkampflei- handen gekommen war, fehlte jene Her- ters. Von einem Augenblick auf den nächs- ausforderung, die er brauchte, um Freude ten, mit großem Getöse und mitten im

SVEN SIMON SVEN an der Arbeit zu haben. Bei allem Sinn für Wahlkampf, legte Wolfgang Clement sein Neues fehlte auch jene Vertrautheit mit Amt des SPD-Sprechers nieder. Der Vor- Seit dem Sommer 1972 sei er mit der Art Sachen und Personen, die über viele Jah- sitzende reagierte kühl: „Tatsache und von Brandts Amtsführung nicht mehr ein- re gewachsen war. Form“ des Ausscheidens könne er nicht verstanden gewesen. Teile der Partei hätten, Den Koschnicks, Vogels und Raus aus billigen. zumal seitdem es wirtschaftlich schlechter der Generation, die nach ihm kam und ei- Dabei nahm er kaum je etwas übel. gehe, Sonderinteressen und Unzufrieden- nen Übergang darstellte, fehlte mehr als Seine Nachsicht kannte nur wenige Gren- heit an der Regierung und dem Kanzler ab- nur die Fortune. zen. Selten versuchte er jemanden auf- reagieren können. Auf die Fra- zuhalten. Oder auch nur um- ge, ob hier oder da härter hät- zustimmen. Er wollte die te durchgegriffen werden kön- Menschen weder ändern noch nen, aber kam es W. B. nicht erziehen. Politisches Gespür an. Dass er ziemlich viel Un- und Führungskraft ließen sich fug duldete, noch dazu sol- niemandem beibringen. Welt- chen, der ihn selbst abstieß, läufigkeit auch nicht. Kosch- wusste er. nick, Hans-Jochen Vogel und Aber er wusste seit 1969 Rau, auch , auch, dass hinter den Auf- und fuhren immer wieder nach Is- Umbrüchen mehr und ande- rael. W. B. witzelte darüber: res steckte als die „dritte Wo sollen sie auch sonst hin- Wiederkehr einer bürgerlich- fahren. In Israel kommen sie deutschen Jugendbewegung“, mit Deutsch durch. wie Helmut Schmidt schrieb. Lafontaine hielt W. B. schon früh für ebenso begabt * Oben: beim Parteitag der SPD am 14. wie besonders gefährdet. Juni 1987 in Bonn, mit Hans-Jochen Vo- Dass Oskar durch die Straßen gel, Hans Koschnick, , Saarbrückens gehe und die ; unten: Nach dem kon- Leute ihn anfassen wollten, struktiven Misstrauensvotum am 1. Ok- tober 1982 gratuliert Helmut Schmidt sei- DPA ließ er sich gern berichten. nem Nachfolger Helmut Kohl. Gestürzter Kanzler Schmidt*: Unvermeidliches Ende Nicht so gern beobachtete er,

der spiegel 21/2004 53 J. H. DARCHINGER Autor Brandt*: Der Wunsch, sich über die Tagespolitik hinaus mitzuteilen, war in seinem Wesen angelegt wie Oskar sich immer nur profilierte, wenn W. B. dachte daran, zusammenhängende ihm ein feines Gespür für die Sattheit und er gegen jemanden oder gegen etwas vor- Erinnerungen zu schreiben. Der Wunsch, die Unbeweglichkeit so mancher Gewerk- gehen konnte; gegen Personen, je promi- sich über die Tagespolitik hinaus mitzutei- schaftsführer zugewachsen. nenter, desto lieber, und gegen Positionen, len, war in seinem Wesen angelegt, und der Die soziale Frage, mit der er groß ge- je geläufiger, desto bestimmter. Einschnitt, den das Dasein ohne Parteiamt worden war, stellte sich im eigenen Land bedeutete, insoweit weniger hart, als es schon lange nicht mehr. Sie ließ ihn aber nach außen hin den Anschein hatte. Er nicht los. W. B. war unfähig sich zurück- SOZIALE FRAGEN: Als Vorsitzender der blieb Mitglied des Bundestags und Präsi- zulehnen und kannte keinen Hang zur Nord-Süd-Kommission verfasst Brandt das dent der Sozialistischen Internationale, und Selbstgefälligkeit. Er lief mit neugierigen erste Dokument der Globalisierung. vor allem blieb er – oder wurde es erst? – Augen durch eine Welt, deren Elend auch eine Größe sui generis. einem weniger mitfühlenden Herzen nicht ie Rede über die Freiheit, mit der sich Nicht, dass er es darauf angelegt hätte, verborgen bleiben konnte. W. B. empfand DW. B., Juni 1987, vom Parteivorsitz er legte es nie auf irgendetwas an, aber und verstand den Gegensatz zwischen verabschiedete, enthielt ein politisches dass eine gewisse Ausstrahlung über die Nord und Süd als die große soziale Frage Vermächtnis und war zugleich ein Akt der Parteigrenze hinweg und auch in das rech- des ausgehenden 20. Jahrhunderts; sie Selbstbefreiung. Frei von Zweifeln und te Lager hinein zu wirken begann, gefiel würde zu einer Überlebensfrage der Zwängen, sich rechtfertigen zu müssen: Es ihm. Das gelegentliche Frühstück mit Bun- Menschheit werden. sei angenehm, Führungsschwächen zu be- deskanzler Kohl wurde fortgesetzt. Der 1976/77 hatte Weltbank-Chef Robert klagen, wenn es sich nicht um die eigenen hatte die Sitte eingeführt, lange bevor er McNamara, einst Kennedys Verteidigungs- handelt. Man könne dem scheidenden Bundeskanzler war. Man tauschte sich aus minister und für Vietnam verantwortlich, Vorsitzenden auch seine Liberalität an- und nahm sich die Freiheit parteiübergrei- erst einmal aus dem Gegeneinander rea- kreiden; nur müsse man wissen, „dass er fenden Lästerns. litätsferner Positionen herauskommen wol- ohne sie nicht mehr er selbst gewesen Als sich abzeichnete, dass W. B. den Par- len – mit Hilfe einer Unabhängigen Kom- wäre“. teivorsitz abgeben würde, aber die Nach- mission unter dem Vorsitz W. B.s. Von des- Er fühlte sich frei. Frei für die Themen, folge sich noch nicht verfestigt hatte, frag- sen Sicht der sozialen Frage wusste der die ihm wichtig blieben und die er viel- te Kohl ihn nach dem Kandidaten. W. re- Amerikaner wenig, von dessen erwiesener leicht in neuem Licht sehen würde. In kei- dete nicht drum herum, tippte auf Vogel Fähigkeit, gemeinsame Interessen gegen- nem Jahr zuvor hatte er so viele große Re- und verbiss sich das Lachen über die Re- sätzlicher Partner zu bestimmen, umso den geschrieben und gehalten wie 1988. aktion: Um Gottes willen, ich kenne unsern mehr. Am Ende des Jahres würde er 75 werden. Vogel, und der ist schlimm. Aber Ihrer, der In dem Jahrzehnt zwischen 1978 und Die Bilanzierung seines Lebens ließ er sich ist noch schlimmer. 1988 wandte W. B. Zeit und Kraft auf die- gern aufnötigen. Den Blick zurück tat er Die Frage, wie sich eine unter den Um- ses Engagement. Zeit des Lesens und umso lieber, als die Aussichten, die der ständen der Industrialisierung geborene Schreibens, Redens und Reisens. Der Be- sowjetische Parteichef Michail Gorba- Partei am Ende des 20. Jahrhunderts be- richt und seine Einleitung, die W. B. in tschow 1985 eröffnet hatte, zu gewissen haupten werde, trieb ihn um. Spätestens eigenem Namen verfasste, sind das erste neuen Hoffnungen berechtigten. seit seiner Niederlage gegen ÖTV-Chef Dokument der Globalisierung. Heinz Kluncker, der 1973 zweistellige W. B. beschrieb „die Globalisierung von * In seinem Arbeitszimmer in Unkel 1991. Lohnerhöhungen durchgedrückt hatte, war Gefahren und Herausforderungen“ und

54 der spiegel 21/2004 Serie beschwor „eine Art Weltinnenpolitik, die Die Weimarer Republik, in der die Demo- Aber dass ein Haus Geld kostete, wuss- über den Horizont von Kirchtürmen, aber kraten gerade nicht zusammengestanden te er auch, und da er die Feder brauchte auch nationale Grenzen weit hinausreicht“. hatten? wie das tägliche Brot, entschied er: Wir W. B. war der erste westliche Staats- Während er 1988 die „Schicksalsge- verkaufen die Wohnung, ich schreibe „Er- mann, der Michail Gorbatschow im Kreml meinschaft“ der Deutschen ausdrücklich innerungen“, und du hilfst mir. Das wird traf. Ein Zufall mit Sinn? Vielleicht. Im Mai hervorhebt und die Zusammengehörigkeit dann reichen. 1985 begleitete ich ihn nach Moskau und Europas, einschließlich seiner Mitte, be- wurde Zeugin seines Erstaunens über den schwört, lässt W. B. das „Wieder“ in der neuen Mann. W. strahlte, als schüttelte er Vereinigung gesperrt drucken und nennt es MAUERFALL: Entfremdung von Ratgebern die düstere Dekadenz der Ära Breschnew eine „Lebenslüge“. Als die alte Rechte das wie und Günter Grass, die von sich ab. Wort aus dem Zusammenhang reißt und Brandts Einheitseuphorie nicht teilen. Bald nach Gorbatschows Einzug in die junge Linke es vollends missversteht, den Kreml zeichnete sich jener Grat ab, wundert er sich. Wenn die Zeichen auf m Mittag des 20. August 1989 sendete von dem auch W. B. nicht sagen mochte, Vereinigung gestellt werden können, dann Adas französische Fernsehen einen Be- wer wohin abstürzen könnte. Der Libe- doch nur unter neuen, noch nie da gewe- richt aus Sopron, einem Ort an der Gren- ralisierung in der Sowjetunion, kaum in senen Vorzeichen! ze zwischen Österreich und Ungarn. Umrissen erkennbar, konnte die DDR nicht Während eines „Paneuropäischen Früh- nacheifern; sofort hätte sich die Frage nach stücks“ am Tag zuvor hatte sich die Kun- Grenzregime und Reisefreiheit und damit HAUSBAU: Geld bedeutet Brandt weder Lust de verbreitet, ein Tor im Grenzzaun sei of- nach der Existenz des Staates gestellt. noch Prestige. Mit seinen „Erinnerungen“ fen und nicht bewacht. 700 DDR-Deutsche, Im September 1988 setzte W. B. das Wort will er das neue Heim in Unkel finanzieren. genau diesen Augenblick ersehnend, waren von der Lebenslüge in die Welt – in zwei durch das Tor und in den Westen gestürmt. Reden, die er lange bedacht und an denen m Spätsommer 1988 hatte er mich mit W., der den Bericht schweigend angesehen er bis zuletzt gefeilt hatte. Sie galten, nicht Ider Kunde überrascht, dass ein Haus ge- hat, steht auf und sagt: Ja, und was soll zufällig, der Vergegenwärtigung deutscher baut werden solle, in Unkel. In das Städt- nun noch die Mauer? Vergangenheiten. Seine Ausdrucksweise chen am Rhein waren wir 1979 durch Zu- Als er diesen Satz sagte, war Egon Bahr war selten apodiktisch. Er musste sehr ge- fall verschlagen worden, wir fühlten uns gerade abgefahren. Er hatte zwei Tage bei laden sein, aufgeladen, um eine solche heimisch. Die Frage, ob er sicher sei, das uns in den Cévennen verbracht. Ein Gefühl Sprache zu führen und seine Empfindun- Haus hier bauen zu wollen, wischte er der Entfremdung zwischen ihm und W. B. gen auf solche Weise zuzuspitzen. Das energisch beiseite. wollte nicht weichen. Auf der Suche nach „Wieder“ hatte auch er beschworen, so- Er hatte sich auch schon überlegt, wie Antworten hatten sie einst die Ostpolitik lange wie die Teilung noch überwindbar wir zu einem Grundstück kommen wür- erdacht und umgesetzt. Jetzt weckten sie und nicht verewigt schien und die Erwar- den: Morgen früh erzählst du dem Haus- den Eindruck, als entstammten sie zwei tungen in keinem Gegensatz zu zeitlichen meister, was wir suchen, schon am Abend verschiedenen Welten. Abläufen und faktischen Gegebenheiten wird es einen Rücklauf geben. Und richtig. Die Freude ob der Bewegung, die Euro- standen. Wir entschieden uns für den Rheinbüchel. pa und dessen deutsche Mitte durchzog Nun waren 40 Jahre vergangen, seit der Auch die Kassenlage hatte er bedacht. und die zu erleben er nicht mehr gehofft Parlamentarische Rat zusammengetreten Geld bedeutete W. B. weder Lust noch hatte, blitzte aus seinen Augen, als W. B. war. In der Präambel des Grundgesetzes Prestige. Er mochte auch nicht um des Gel- feststellte: Wo zwei Ausreiseanträge be- wurde kein „Wieder“ hervorgekehrt, son- des willen durch die Welt ziehen. Dabei willigt sind, folgen zwanzig nach, und über- dern das Volk verpflichtet, „in freier Selbst- konnte er sich über den Mangel an Ein- haupt, zwei Millionen sind weg, zwei Mil- bestimmung die Einheit und Freiheit ladungen nicht beklagen. Er reiste und lionen sitzen auf gepackten Koffern. Egon Deutschlands zu vollenden“. Was sollte redete, wie er es gewohnt war – um der Bahr unterbrach ihn ungerührt: Aber vier- wiederkommen? Das Reich Bismarcks? Ehre und der Wirkung willen. zehn Millionen bleiben da! Und die werden sich ihren Staat nicht weg- nehmen lassen! W. B. schwieg und schüt- telte den Kopf, wie er es in den nächsten Monaten noch öfter tun sollte. Er war von keinem Zweifel angerührt, seiner Sache sicher. Als am Ende des Som- mers die Fluchtbewegung an- schwoll und der Druck auf die Grenzen immer noch wuchs, sprach er aus, was länger schon Ahnung gewe- sen war: „Ich will offen mei- nem Empfinden Ausdruck geben, dass eine Zeit zu Ende geht.“ Die Bundestagsrede am 1. September 1989, dem 50. Jahrestag des Kriegsaus- bruchs, hatte er in den fran-

* Links: als Vorsitzender der Nord-Süd- Kommission 1978 in Sambia; rechts: als

AFP (R.) Präsident der Sozialistischen Interna- Internationalist Brandt*: Eine Zeit des Lesens und Schreibens, des Redens und Reisens tionale 1988.

der spiegel 21/2004 55 zösischen Ferien entworfen und hohe Wir improvisieren einen Sorgfalt darauf verwendet. Imbiss und schlafen den Erbetene und unerbetene Ratschläge Schlaf der Gerechten, bis ir- gingen ein. Günter Grass forderte „ver- gendwann zwischen vier und antwortungsvolle Vorkehr, damit Polen fünf das Telefon klingelt. Ein nach jahrzehntelanger ideologischer Ab- freundlicher Mensch vom hängigkeit nicht abermals in Abhängig- Hessischen Rundfunk fragt keit, diesmal vom westlichen Kapital, nach W. B., der doch damals, gerät“. Am Vorabend der Rede versuch- damals, als die Mauer gebaut te Bahr, ihm den entscheidenden Satz wurde, Bürgermeister in Ber- von der zu Ende gehenden Zeit auszu- lin gewesen sei. Er muss über reden. meine seltsame Reaktion Einen Anschluss der DDR an die Bun- verblüfft gewesen sein: Wis- desrepublik wollte W. B. sich nicht vor- sen Sie denn gar nicht, was stellen, eine Erneuerung aber erst recht los ist? Die Massen strömen nicht. Die hielt er schon jetzt, im Septem- durch die Mauer! ber 1989, für abwegig. Jede innere Reform Ich wecke W. B.: Da ist je- musste früher oder später das Recht auf mand, der sagt, die Mauer Meinungs- und Bewegungsfreiheit ein- sei auf, und will dich spre- schließen und das Ende dieses Teilstaats chen. Er ist augenblicklich einläuten. wach, springt aus dem Bett Am 7. November hält W. B. einen Vor- und geht ans Telefon. Seine Einheitsförderer Brandt (am 25. Februar 1990 in Leipzig): Die trag in Amsterdam: „Need for a radical Antworten kommen mir vor, change in international cooperation“. Als als wäre er nicht überrascht. Er legt auf, deren lange, stolze Geschichte. „Ich wün- er am 8. nach Unkel zurückkehrt, ist der lächelt verschmitzt und sagt: Das ist es. sche mir meine Partei ein weiteres Mal als Umzug auf den Rheinbüchel vollbracht. einigende Kraft in unseren Landen und als Mit einem kleinen Rosenstrauß steht er, demokratische Gewährsmacht für Europa endlich, in einem eigenen Haus, auch auf EINHEIT: Die SPD, die sich gegen eine in Deutschland.“ deutschem Boden, und freut sich. schnelle Vereinigung wehrt, verliert die Nach ihm sprachen, unter der Regie des Am Abend des 9. November erreicht ersten gesamtdeutschen Wahlen. Parteitagspräsidenten Gerhard Schröder, den die Nachricht, dass Günter Egon Bahr und, als Gast, Günter Grass. Schabowski, Mitglied des SED-Politbüros, ie Volksseele drohte in der zweiten De- Bahr berief sich, wie so oft in den Wochen Reisefreiheit für alle DDR-Bürger verkün- Dzemberhälfte, als die SPD ihren Par- zuvor, auf die Identität, die sich die DDR- det hat. Die Abgeordneten, unter ihnen teitag in Berlin abhielt, überzukochen. In Bürger nicht nehmen lassen würden. W. B., stimmen die dritte Strophe des der DDR sackte die Produktion ab, die D- Auch und gerade W. B. wollte das Selbst- Deutschlandliedes an. Was aus der Ost- Mark wurde Zweitwährung, und die staat- wertgefühl der Menschen wahren; es wur- Berliner Ankündigung werden würde, liche Ordnung löste sich auf. Täglich sie- de sein Thema im neuen Jahr. Aber er lös- ahnen sie nicht. delten 2000 Leute in den Westen über. te die Tüchtigkeit der Menschen ab von Als W. bald nach 21 Uhr nach Hause W. B. hatte nun die Sicherheit, dass wir „der dem Staat, in dem sie gelebt hatten und der kommt, fragt er, ob ich wisse, was gesche- deutschen Einheit näher sind, als dies noch nun vor aller Augen zerfiel. hen ist. Ich weiß es nicht und will es auch bis vor kurzem erwartet werden durfte“. Bahr rühmte auch jetzt noch „die vor- nicht wissen, Schmutz und Unordnung Die breite Abwehr der SPD gegen den bildliche enge Zusammenarbeit beider haben eher noch zugenommen, der Fern- Weg, der zur Einheit führte, überging er. Er Staaten“ und forderte, vor allem anderen, seher ist nicht angeschlossen und das tat, als wäre sie nicht vorhanden, beschwor Abrüstung; die Einheit könne nur das Radio in einer Kiste verschwunden. die „freiheitliche Sozialdemokratie“ und Ergebnis eines europäischen Sicherheits- systems sein. Auch Grass, dessen Einlas- sungen W. B. jetzt mehrfach die Schamröte ins Gesicht getrieben hatten, wusste ge- nau, was die DDR-Bürger zu wollen hat- ten. Dieser Hochmut stieß W. B. am meis- ten ab. Er ließ sich nichts anmerken, auch nicht, als Lafontaine, bereits als Kanzlerkandidat gehandelt, am Tag darauf diesen Hochmut auf die Spitze trieb und einen Auftritt hin- legte, in dessen Wirrnis nur eine Botschaft erkennbar blieb: Wozu Einheit? Wir müs- sen „soziale Gerechtigkeit in der DDR und in der Bundesrepublik organisieren“. Als W. B. ihn im Januar 1990, vor einem gemeinsamen Auftritt im saarländischen Wahlkampf, besuchte, um auszuloten, ob Lafontaine lernfähig sei, hörte er die glei- chen Sätze wie vor Jahresfrist. Und W. B. hörte noch mehr: Er, Oskar Lafontaine, wisse nicht, wo Leipzig und Rostock liegen,

MARC DARCHINGER MARC * Mit Hans Koschnick, Egon Bahr, Gerhard Schröder am Sowjetischer Parteichef Gorbatschow, Gast Brandt*: Düstere Dekadenz abgeschüttelt 17. Oktober 1989 in Moskau.

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18. März 1990 suggerierte der Bundes- entschuldigen. Eine Partei, die Wert darauf kanzler und CDU-Vorsitzende, der die legte, die Partei der Einheit gerade nicht zu gleichnamige DDR-Blockpartei in einer sein, musste verlieren. „Allianz für Deutschland“ verschwinden ließ, dass es „ohne Kohl keine Kohle“ gebe und sich die Probleme in einem Anschluss KRANKHEIT: Ein Tumor im Darm wird schon regeln würden. entfernt, aber die Wahrscheinlichkeit des Die SPD hätte es jetzt sowieso schwer ge- Weiterwucherns ist groß. habt. Mit einer Führung aber, der die ganze Richtung nicht passte, war es unmöglich zu er Sommer 1991 versprach schön zu gewinnen oder wenigstens ehrenvoll zu ver- Dwerden. In den letzten Tagen des Juni, lieren. Das eindeutige Ergebnis, die SPD die Abstimmungsschlacht um Berlin als kam auf ganze 21,8 Prozent, setzte W. B. Hauptstadt war geschlagen, erfüllten wir zu. Die Banane, die in die Ka- uns einen Wunsch und fuhren nach Island. meras hielt, bedrückte ihn. Er freute sich, In der Universität von Reykjavik erklärte dass die Wahl stattgefunden hatte und ein W. B., was zu erklären er nicht müde wur- wesentlicher Schritt zur Einheit getan war. de. Europa vertrug kein Entweder-oder Was seine Partei betraf, so schwankte er und musste in die Breite und in die Tiefe zwischen Zorn und Ratlosigkeit. zugleich wachsen. Die Erweiterung nach Der Wahlkampf zur ersten gesamtdeut- Osten war politisch geboten. Für die Ver-

REUTERS / E-LANCE MEDIA REUTERS schen Bundestagswahl am 2. Dezember tiefung führte W. B. ökonomische Gründe Volksseele in der DDR drohte überzukochen 1990 verlief, wie er verlaufen musste. La- ins Feld, globale Zwänge. fontaine, der Spitzenmann der SPD, tat, als Am 1. Juli brachen wir Richtung Süden und wolle es auch nicht wissen, er kenne wäre die Einheit des Landes eine Angele- auf. Cévennen, Le Mézy. Sieben franzö- Mailand und Paris, und diese Städte seien genheit, die schlimmste Befürchtungen sische Wochen lagen vor uns. W. widmete ihm nun einmal nahe. Auf der Rückfahrt weckt. sich Haus und Hof, seinem kleinen Gemü- verschaffte sich W. B. Luft und scherzte: Über das Wahlergebnis, das W. B. zu seanbau, den Marktgängen, der Küche. Al- Ach was, diese Saarländer sind ja gar kei- Hause zur Kenntnis nahm, war er „betrof- les war wie immer. So schien es, und so ne richtigen Deutschen. fen“, aber „nicht überrascht“. Tatsächlich wollten wir es selbst glauben. Die Lage in der DDR wurde unhaltbar, packte ihn eine kalte Wut. 33,5 Prozent im W. hatte Schmerzen im linken Bein. Sie und die Regierung Modrow tat, was sie tun vereinten Deutschland, und im alten Bun- kamen und gingen, manchmal waren sie so musste, sie verlegte die Volkskammerwah- desgebiet auch nur 35,7. W. B. dachte nicht stark, dass er nicht bei Tisch sitzen konn- len vor. Unter dem Druck des nahenden daran, das Ergebnis zu erklären oder gar zu te. Er versprach, die Sache mit dem Bein zu ergründen und sich nach Rück- kehr untersuchen zu lassen. Ein erster Arztbesuch, zu Be- ginn des September, verlief zu- frieden stellend; die Ergebnisse waren, vorläufig, gut. W. nahm alle Termine wahr und blieb rege. Der Putsch in Moskau versetzte ihn in große Erregung. Jetzt be- wunderte er Boris Jelzin für sei- nen Mut. Den ersten Jahrestag der Ein- heit, den 3. Oktober, verbringt er zu Hause. Die Stimmung ist ge-

drückt. Am 4., einem Freitag, fährt PRESS ACTION er zur abschließenden Untersu- Brandt bei der Einheitsfeier*: Eine Bewegung, die zu erleben er nicht mehr gehofft hatte chung wieder nach Wiesbaden. Um zwölf ruft mich der Arzt an und sagt: besser, den Schmerzen wird abgeholfen. W. B. wird am 19. Oktober, einem Sonn- Da ist ein Tumor im Darm, wenden Sie Über diese Diagnose muss er schmunzeln: abend, aus der Klinik entlassen. Am Diens- sich an Professor Pichlmaier in der Uni- Verschleiß zwischen zwei Wirbelknochen, tag danach ruft Professor Pichlmaier an versitätsklinik Köln. ausstrahlend ins linke Bein. und bittet mich, ihn am Nachmittag aufzu- Als mir W. eine Stunde später die weni- Professor Heinz Pichlmaier erscheint. suchen. In seinem Büro berichtet der Pro- gen Meter vom Auto entgegenhumpelt, Er sagt nur, was gesagt werden muss. W. fessor über das Ergebnis der Gewebepro- sehe und weiß ich: W. ist krank, sehr krank. wird in die Chirurgie überführt und am be: Der Tumor ist ungewöhnlich aggressiv Er setzt sich in seinen Sessel, ich lasse mich frühen Morgen des 10. Oktober operiert. gewesen, die Wahrscheinlichkeit des Wei- auf dem Fußboden nieder. Nach einer lan- Noch vor neun Uhr ruft der Professor an terwirkens hoch. gen Weile sagt er: Da ist ein Tumor. Ja, und klingt erleichtert: Der Tumor ist – „im Er erläutert eine mögliche Therapie, die antworte ich, der ist dazu da, dass man ihn Gesunden“ – entfernt, man könne guter sich über lange Zeit erstrecken und Kraft beseitigt. Dinge sein. kosten werde, und schließt in äußerster Am Sonntagmorgen sind die Schmerzen Sachlichkeit die Frage an: Wie ist Ihre Ent- im Bein so groß, dass ich seinen Hausarzt * Am 3. Oktober 1990 mit SPD-Chef Oskar Lafontaine, scheidung? Ich horche in mich hinein, Außenminister Hans-Dietrich Genscher, Hannelore und anrufe. Der weist ihn in die Universitäts- Helmut Kohl, Bundespräsident Richard von Weizsäcker blicke dann auf mein Gegenüber und sage: klinik ein, Orthopädie. W. fühlt sich rasch und Ehefrau Marianne. Nein. Als es heraus ist, entspannen sich Serie seine Züge, und mit fast weicher Stimme, worden und die Scheu, es zu beschweren, mindest einer, der sich den Akteuren ver- aber doch sehr bestimmt, sagt er: Sie haben groß. Wenn der Tod angeklopft hat, wer- bunden fühlte und ihnen nahe sein wollte. richtig entschieden. den sie rar, die Anfechtungen der Welt. Er war enttäuscht, fast ein wenig verwirrt, Auf dem Heimweg habe ich mich zwei- Früher als gewöhnlich fuhren wir in die als er eines Abends im März 1992 nach mal verfahren und es nicht fertig gebracht, französischen Weihnachtsferien. Eine Kur, Hause kam und von einer Zufallsbegeg- klare Gedanken zu fassen und zu überle- eine Art Zwangspause, war nicht in W.s nung erzählte. gen, welche Botschaft ich weitergeben wür- Sinn gewesen, und auch der Professor hat- Auf dem Flur des Bundeshauses hatte er de. Jetzt, noch im Mantel, lässt mich ein te ihn bestärkt: Zu Hause ist’s am besten. Gerhard Schröder getroffen und ihn rufen guter Geist ausrufen: Wir können frohen In den Cévennen war alles wie immer, hören: Man müsste sich doch mal wieder Mutes sein. In diesem Augenblick habe ich nur alles noch viel ruhiger als sonst, un- sehen. – Aber ja, melde dich doch. – Ich vergessen, was mir mitgeteilt worden ist. aufgeregt, besinnlich. Einige Tage vor bin jetzt Ministerpräsident von Nieder- Wir leben, als müsste W. nur wieder zu Weihnachten suchte W., wie alle Jahre, sei- sachsen und habe keine Zeit mehr. Es soll- Kräften kommen, und sind tatsächlich fro- ne Säge und zog los, auf der Suche nach ei- ten die letzten Worte sein, die Gerhard hen Mutes. ner kleinen Zeder, die als Tannenbaum Schröder an W. B. richtete. Am letzten Sonntag im Oktober erschien diente. Am 6. April fuhren wir ins französische Hans-Jochen Vogel in Unkel. Er machte Haus. Am Ostersonntag Besuch von einer Mitteilungen über Herbert Wehner und Freundin und deren Mann. Es wurde kündigte zugleich an, seinen Verzicht auf ABSCHIED: Der letzte Sommer – für den gegessen und getrunken, und W. war eine Wiederwahl als Fraktionsvorsitzender Besuch Helmut Kohls steht Brandt aufgekratzt. Am Ostermontag brach er anderntags öffentlich machen zu wollen. noch einmal von seinem Krankenlager auf. zusammen. W. B. vermutete einen Zusammenhang W. wollte nichts mehr unternehmen und zwischen beiden Informationen; er unter- er politische und der schreibende, war unleidlich. Er mochte kaum noch es- stellte Vogel ohnehin einen besonderen Dder redende und der reflektierende sen und legte sich immer wieder hin, trotz Draht zu gewissen Diensten. Mensch W. B. waren ein und derselbe, im- Sonne in eine Decke gehüllt, das Gesicht Als der Gast gegangen war, wirkte er mer, in jeder Lebenszeit, mochten sich fahl. Am Donnerstag nach Ostern fuhren nachdenklich, zugleich aufgemuntert, nicht auch die Gewichte verschieben. Schon im wir nach Hause. wirklich überrascht. Kopfschüttelnd ging Sommer 1991, kaum dass sich die deut- Am Sonntag, dem 10. Mai, rufe ich den er im Zimmer auf und ab: Da hat der Kerl schen Dinge beruhigten und die Termin- Arzt. Einweisung nach Köln. Mehrere Or- – Wehner – auf dem Weg in sein schwedi- zwänge lichteten, hatte er wieder Filzstift gane scheinen betroffen zu sein. Untersu- sches Haus tatsächlich in der DDR Station und Papier zur Hand genommen. Was dar- chung und Vorbereitung der Operation zie- gemacht! Und auch die Sache der anderen aus werden würde, wusste er noch nicht. hen sich hin. Zweimal nehme ich ihn für Seite vertreten. Nachfragen habe ich jetzt W. B. hätte nie nur schreiben mögen. zwei oder drei Tage wieder mit nach Hau- nicht stellen mögen. Das Sein war leicht ge- Auch jetzt nicht. Er blieb ein Akteur. Zu- se. W. sitzt im Garten und wirkt jetzt nicht Serie J. H. DARCHINGER (L.); WOLFGANG KUMM / DPA (R.) KUMM / DPA (L.); WOLFGANG H. DARCHINGER J. Ehepaar Brandt, Staatsakt für den Ex-Kanzler*: Er lässt keinen Kampf aus, der jetzt noch gekämpft werden kann ernsthaft krank. Rau und Koschnick kom- Unterhaltung. Aber bestellt hätte er, außer welch übler Scherz, und springe wieder men zu Besuch. seinen Mitarbeitern, niemanden. Ich mach- nach oben. Das Spiel wiederholt sich noch In der Klinik fragt Professor Pichlmaier te eine Ausnahme und schickte einige Zei- einmal, dann ist Ruhe. Am anderen Tag leise, wie das halbe Jahr seit jener ersten len an Helmut Schmidt. Er kam sofort, und höre und lese ich, er sei es tatsächlich ge- Operation gewesen sei. Ich schließe die W. freute sich. Rau wurde selbst krank. wesen, mit Begleitern. Hätte man ihn nicht Augen: Schön. Er gestattet sich ein kurzes Koschnick kam, Holger Börner, Egon Bahr anmelden können? Lächeln und kündigt an, dass die Opera- immer wieder, Klaus Harpprecht bis fast Es geht nun schnell. Zwei Katheter wer- tion lange dauern werde. Den Termin setzt ans Ende. den gelegt. W. hängt, fest angebunden, an er auf Freitag, den 22. Mai, fest. Am Nachmittag des 29. Juli kam, ohne einem Tropf, der ihn mit Flüssigkeit und Als noch vor sechs Uhr morgens das Te- jedes Aufheben, Richard von Weizsäcker. Medikamenten versorgt. Meine innere Uhr lefon klingelt, habe ich das sichere Gefühl W. genoss die Geste des Bundespräsiden- ist auf den vierstündlichen Austausch ge- einer schrecklichen Nachricht. Der Profes- ten und die Stunde, die sie unter dem eicht, ich brauche nicht einmal einen sor teilt in knappen, fast abgehackten Sät- Kirschbaum verbrachten. Es war der letz- Wecker. W. lässt keinen Kampf aus, der zen mit, dass man gar nicht erst zu operie- te Tag, an dem W. hatte nach draußen ge- jetzt noch gekämpft werden kann. ren begonnen und den Bauch sofort wieder hen mögen. Am 7. Oktober kommen nacheinander zugenäht habe. Helmut Kohl hatte schon vor seinem Ur- die Söhne Lars und Matthias. Matthias Dass ich ihn nach Hause hole, habe ich laub wissen lassen, dass er W. B. besuchen nimmt mich, als er geht, in den Arm und ihm früh gesagt, ohne nachdenken. Er be- wolle. Nach Rückkehr meldete er sich so- sagt: Ich werde es dir nie vergessen. kommt Morphium, zunächst kleine Dosen, fort und kam am späten Nachmittag des 27. Am Morgen des 8. schlägt er wieder um und verweigert das Essen. Man setzt ihm August. Er hatte diese unbefangene, warm- sich. Ich streichle ihn und rede leise auf ihn eine Apparatur auf die Brust, zwecks herzige Art, mit einem kranken Menschen ein. Als der Arzt kommt, ist er fast ruhig. künstlicher Ernährung. umzugehen. Leid und Tod gehörten zum Um elf sitzt Peter, der Älteste, an seinem Am Sonntag erschien eine unfreundliche Leben, warum also den Kopf senken. Bett. Nach einer Stunde kommt er herun- Pflegedame und herrschte W. an. Als sie W., dessen Zustand schlecht war, hatte ter. Er bleibt noch ein wenig und geht dann weg war, zog er die Stöpsel aus dem Kasten darauf bestanden, sich anzuziehen, und schweigend. Ich setze mich in das Sessel- auf seiner Brust: Warum esse ich nicht zu dem Gast gesagt: Ich werde doch nicht chen vor W.s Bett. Er ringt nach Luft. Laut selbst? Bring mir doch mal was. Am Mon- liegen bleiben, wenn mein Bundeskanz- und schwer. Um halb fünf gehe ich in mein tag fuhr er fort: Ruf da an, sie sollen den ler kommt. Für den Besuch Helmut Kohls Zimmer hinüber. Plötzlich ist es still. ganzen Krempel wieder abholen. hatte er sich noch einmal aufgebäumt, am Der Staatsakt wirft viele Fragen auf. Von der Großmedizin abgenabelt, sind Tag danach konnte er nicht mehr auf- Aber nur eine Frage: Wer soll spielen? Ich wir nun ganz auf uns zurückgeworfen. Im stehen. erinnere mich an die Geschichte, die W. so Juni und im Juli verändert sich der Zu- Den Arzt rufe ich jetzt oft. Auch am oft erzählt hat. Wie 1954 Herbert von Ka- stand kaum. Er leidet unter den Neben- Sonntagabend, 20. September, ist er da, rajan zu ihm gekommen ist und eine Phil- wirkungen vor allem des Morphiums. sein Auto steht sichtbar vor der Tür. Ich harmonie verlangt hat. Ich sage schüch- W. freute sich über Besuch, vorausge- stehe mit ihm, wie immer, am Bett, als es tern: Wenn ich einen Wunsch äußern darf, setzt er war nicht anstrengend. Wenn meh- klingelt. In dieser Zeit wird oft geklingelt. die Philharmoniker. Am anderen Tag wird rere Tage keiner kam, sehnte er sich nach Manchmal von Leuten, die einen Blumen- nachgefragt: Was soll gespielt werden? Ich gruß hinters Tor gelegt haben, manchmal begnüge mich mit dem Hinweis, der Diri- einfach so. Ich springe hinunter und frage gent werde es selbst wissen. * Links: im Garten seines Hauses in Unkel 1991, wenige Tage nach der Tumoroperation; rechts: vor dem Berliner durch die Sprechanlage, wer dort sei. Eine Claudio Abbado spielt Schubert. H- Reichstag am 17. Oktober 1992. Stimme sagt: Gorbatschow, ich denke, Moll. Die Unvollendete. Vollendet. ™

62 der spiegel 21/2004