N° 02 /10 Berner Zeitschrift für Geschichte 72. Jahrgang

Ländliche Gesellschaft und materielle Kultur bei Albert Anker (1831 – 1910) in Kooperation mit dem Kunstmuseum und der Stiftung Albert Anker-Haus Ins Berner Zeitschrift für Geschichte (BEZG)

Die Berner Zeitschrift für Geschichte ist das Organ des Historischen Vereins des Kantons Bern. Sie veröffentlicht in allgemein verständlicher Form Forschungsbeiträge zur bernischen Geschichte. Die Redaktion ist für die Themen- und Manuskriptauswahl zuständig. Für den Inhalt der einzelnen Beiträge sind die Autorinnen und Autoren verantwortlich.

Die Berner Zeitschrift für Geschichte erscheint mit finanzieller Unterstützung der Erziehungsdirektion des Kantons Bern (Amt für Kultur).

Impressum

Herausgeber Bernisches Historisches Museum, Burgerbibliothek Bern, Historischer Verein des Kantons Bern, Staatsarchiv des Kantons Bern, Stadtarchiv Bern, Universitätsbibliothek Bern

Redaktion Dr. des. Gerrendina Gerber-Visser ([email protected]) Dr. Martin Stuber ([email protected]) Historisches Institut der Universität Bern, Zähringerstrasse 25, 3012 Bern, Tel. 031 631 83 82 www.bezg.ch

Rechnungsführung, Adressänderungen und Bestellung von Einzelheften Universitätsbibliothek Bern, Sekretariat, Münstergasse 61, 3000 Bern 8, Tel. 031 631 92 05, [email protected]

Preise Jahresabonnement (4 Nummern) Fr. 60.– / Einzelheft Fr. 20.– / Themenheft Fr. 30.–. Für die Mitglieder des Historischen Vereins ist der Abonnementspreis im Jahresbeitrag von Fr. 80.– inbegriffen. Anmeldung als Mitglied: www.hvbe.ch

Nachdruck Der Nachdruck von Aufsätzen oder von grösseren Partien daraus ist nur mit Bewilligung der Redaktion gestattet.

Druck, Beilagen und Inserateverwaltung Rub Graf-Lehmann AG Bern, Murtenstrasse 40, 3001 Bern, Tel. 031 380 14 90

Buchbinderische Arbeiten Buchbinderei Schlatter AG, Liebefeld

Gestaltung pol Konzeption und Gestaltung, Bern

72. Jahrgang, Heft Nr. 2, 2010

Kooperationspartner dieser Nummer: Kunstmuseum Bern, Stiftung Albert Anker-Haus Ins

Diese Nummer erscheint mit finanzieller Unterstützung der Gemeinde Ins und des Museums Oskar Reinhart am Stadtgarten, Winterthur. Besonderer Dank gebührt der Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte Winterthur, welche zum Anlass ihres 30-jährigen Stiftungsjubiläums dieses Themenheft mit einem namhaften Beitrag unterstützt. Inhalt

6 Einleitung Martin Stuber, Gerrendina Gerber-Visser, Isabelle Messerli

11 Das Haus Albert Ankers in Ins Isabelle Messerli

25 Essen und Trinken bei Albert Anker François de Capitani

39 Wie es war und nie gewesen ist Ankers Schule von innen und aussen Katharina Kellerhals

51 Lesen und Vorlesen bei Albert Anker Gerrendina Gerber-Visser

65 Muestopf und Kaffeekanne Ein Beitrag zur materiellen Kultur bei Albert Anker Andreas Heege

79 Städtische Mode, ländliche Tradition Textilien bei Albert Anker Isabelle Messerli

93 «Wenn es sich ums Menschenherz handelt, kann ja leider oft von Bschüttifass die Rede sein» Wie Albert Anker Gotthelf las und wie er ihn illustrierte Christian von Zimmermann

109 Das Ländliche in der Stadt Albert Anker und die Kinderkrippe am Gerberngraben Malinee Müller 119 Albert Anker als Vater und Grossvater Erinnerungen aus der Familie Matthias Brefin

129 «In Ins geht alles wie gewohnt» Das Seeland und seine Bewohner im Spiegel der Korrespondenz Albert Ankers Annelies Hüssy

143 Warum der Schnellzug nach Paris in Ins angehalten hat Erinnerung an eine kleine Inser Geschichte Beat Gugger

151 Fundstück «En français, en patois du pays et en latin» – die Pflanzenlisten des Georges-Louis Liomin (1764) Luc Lienhard

157 Historischer Verein des Kantons Bern Vorträge des Wintersemesters 2009 / 2010

167 Buchbesprechungen Autoren / Autorinnen Pfr. Matthias Brefin, Ururenkel Albert Ankers, Albert Anker-Haus Ins, [email protected]

Dr. François de Capitani, Schweizerisches Landesmuseum Zürich / Prangins, [email protected]

Dr. des. Gerrendina Gerber-Visser, Historisches Institut der Universität Bern, [email protected]

Beat Gugger, Ausstellungsmacher, Burgdorf, [email protected]

Dr. Andreas Heege, Archäologischer Dienst des Kantons Bern, [email protected]

Lic. phil. Annelies Hüssy, Burgerbibliothek Bern, [email protected]

Dr. Katharina Kellerhals, Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Bern, [email protected]

Lic. phil. Luc Lienhard, Botaniker, Biel, [email protected]

Lic. phil. Isabelle Messerli, Kunsthistorikerin, Bern, [email protected]

Lic. theol. Malinee Müller, Theologische Fakultät der Universität Bern, [email protected]

Dr. Martin Stuber, Historisches Institut der Universität Bern, [email protected]

Prof. Dr. Christian von Zimmermann, Institut für Germanistik der Universität Bern, [email protected]

Umschlagbild Albert Anker, Die Konfirmandinnen von Müntschemier, 1901, Öl auf Leinwand, 86 x 131 cm, Kat. Nr. 584 [Ausschnitt]. Foto Isabelle Messerli – Gemeinde Ins. Ländliche Gesellschaft und materielle Kultur bei Albert Anker (1831 – 1910) Hrsg. von M. Stuber, G. Gerber-Visser, I. Messerli; in Kooperation mit dem Kunstmuseum Bern und der Stiftung Albert Anker-Haus Ins Einleitung Martin Stuber, Gerrendina Gerber-Visser, Isabelle Messerli

Albert Anker gehört ohne Zweifel zu den populärsten Schweizer Malern, ja er gilt geradezu als «nationale Ikone».1 Reproduktionen seiner Bilder prägten ganze Generationen von Wohnzimmern, Ausstellungen mit seinen Bildern ziehen bis heute ein breites Publikum an. In Ankers Werk dominieren die Genredarstel- lungen mit ländlichen Alltagsszenen seiner Inser Heimat,2 die von allem Anfang an die Grundlage seines Erfolgs bildeten und die lange als direktes Abbild der Wirklichkeit verstanden wurden. Als Bundespräsident Ernst Brenner 1901 zum 70. Geburtstag Ankers gratulierte, dankte er dem Maler für die «lebenswahren Darstellungen», mit denen er ähnlich einem Jeremias Gotthelf die «kernhaften Gestalten unseres Landvolks» plastisch gemacht habe.3 Und noch in den 1970er- Jahren wurde Anker mit den Worten gerühmt: «Seine besten Bilder geben ber- nisches Volkstum wieder.»4 Die jüngere Ankerforschung hat diese «naive» Sicht in mehrfacher Hinsicht differenziert. Zum einen wird der internationale Entstehungszusammenhang von Ankers Genrebildern, die ihre Käuferschaft zu einem guten Teil in Paris fan- den, genauer rekonstruiert. Um sich in der Kunstmetropole von der Masse ab- zuheben, gab es nicht wenige Künstler wie Anker, die ganz bewusst den regio- nalen Charakter ihrer Motive betonten und sich dabei «durch die Konzentration auf die Darstellung des Landlebens ihrer Heimat die romantische Nostalgie nach einer idyllischen Vergangenheit zunutze machten».5 Zum anderen arbeitete man Ankers «selektiven Realismus» heraus.6 Er vermittelt vom Landleben bloss ein ausschnitthaftes Bild, vieles, was damals bestimmend war für die ländliche Ge- sellschaft, taucht im «idyllischen Bilderkosmos Ankers» schlicht nicht auf.7 Und trotzdem, auch die neuere Forschung spricht Ankers Genrebildern nicht grundsätzlich den dokumentarischen Charakter ab. Je weiter sich unsere Welt von den Lebensformen des 19. Jahrhunderts entferne, desto wichtiger würden Ankers «Darstellungen aus dem bäuerlichen Leben für kulturgeschichtliche, so- ziologische und ethnologische Untersuchungen».8 Dies schon nur, weil die Al- ternativen weitgehend fehlen – für Ankers Zeit stehen erst wenige Fotografien ländlicher Szenen zur Verfügung, und diese sind meist kaum weniger inszeniert und neigen zu ähnlicher Idealisierung;9 bezeichnenderweise ziehen die neue- ren Standardwerke der bernischen Geschichte für diesen Zeitraum an zentra- ler Stelle Anker-Bilder heran.10 Vor allem aber zeigen Ankers präzise Schilde- rungen von Tätigkeiten nicht selten die Qualität von Reportagebildern; seine Strickenden, Spinnenden und Stickenden sind derart genau beobachtet, «dass jemand, der diese Tätigkeiten nicht beherrscht, sie von Ankers Figuren erlernen könnte».11 Auch legte Anker sehr viel Wert auf die exakte Wiedergabe der mate-

6 BEZG N° 02/10 riellen Welt; er verfügte über eine Maltechnik, die, wie die Kunst der alten Hol- länder, das Stoffliche der Dinge, etwa eines Kachelofens, eines Krugs, eines Kit- tels, in virtuoser Sicherheit wiedergibt. Einzelheiten sind oft «mit eigentlicher Bravour gemalt, man spürt in ihnen des Malers Freude an gemeisterten Aufga- ben».12 Zahlreiche Requisiten, die sich bis heute in seinem Inser Atelier erhalten haben, begleiteten Anker über Jahrzehnte. Auf unzähligen Bildern finden sich beispielsweise eine bestimmte Stabelle, aus deren Rückenlehne ein Herzgriff so- wie zwei seitlich liegende und leicht unterschiedlich gewellte Grifflöcher her- ausgeschnitten sind; auf anderen immer wieder der Kleintisch mit geohrter und profilierter Schubzarge zwischen kannelierten Vierkantbeinen; wiederum auf anderen mehrmals eine bemerkenswerte Teekanne aus schwarzem Steinzeug mit glänzender Transparentglasur.13 Aufgrund dieser glücklichen Überlieferungs- lage, dass sowohl das gemalte Bild als auch das zur Vorlage dienende Objekt heute einsehbar sind, lässt sich Ankers Detailtreue anschaulich nachweisen. Vor diesem Hintergrund will das vorliegende Themenheft Albert Anker für einen ganz bestimmten Zeitraum – 1850 bis 1910 – als Zeugen der materiellen Kultur und der ländlichen Gesellschaft befragen. Bis zu einem gewissen Grad erfolgt damit eine Umkehrung der Perspektive «vom Kunstwerk als Erkenntnis­ ziel zum Kunstwerk als Quelle für Fragen ausserhalb der Kunstgeschichte».14 Angesichts der Reichhaltigkeit von Ankers Bilderwelt ist dies nur im Zusam- menspiel verschiedener Fachdisziplinen möglich. Im Themenheft vertreten sind namentlich Archäologie, Erziehungswissenschaft, Geschichte, Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft und Theologie. Auf einer ersten Ebene geht es dabei um das, was die Historische Bildkunde als den «Nachweis von Realien» bezeichnet: die auf einem Bild dargestellten Ge­genstände werden identifiziert, in ihrem Verwendungszusammenhang ana- lysiert und in einen präzisen zeitlichen und sozialen Kontext gesetzt.15 Daraus ergibt sich bei Anker als roter Faden eine soziale Komplementarität: Der länd- lichen Kultur steht die bürgerliche Welt seiner Käufer und Auftraggeber gegen- über, die zugleich Ankers eigenen bürgerlichen Lebensformen nahekam. Ihren bürgerlichen Lebensstil pflegten Anker und seine Familie eben gerade nicht nur in Paris und Neuchâtel, sondern – als Vertreter des ländlichen Bürgertums –, durchaus auch in Ins.16 Diese gesellschaftlichen Unterschiede sind bei Ankers Darstellungen der unterschiedlichen Kleidungen (Beitrag von Isabelle Messerli) ebenso zu finden wie bei denjenigen der Nahrungsmittel und Getränke (Fran- çois de Capitani) und der Töpfe, Tassen und Kannen (Andreas Heege). Eine historische Bildanalyse muss aber über eine blosse Realienkunde, so

Stuber, Gerber -Visser, Messerli: Einführung 7 wertvoll diese als Ergänzung zu anderen Quellentypen ist, hinausgehen. Die Gefahr des realkundlichen Ansatzes liegt in der unzulässigen Reduzierung des Sinn- und Bedeutungsangebots eines Bildes, in der Verwechslung von histori- scher Realität und deren Gestaltung in einem ästhetischen Medium. Auf einer zweiten Ebene sind deshalb zwingend die symbolischen und allegorischen Dar- stellungsweisen in ihren Auswirkungen auf die Gegenständlichkeit des Bildes zu prüfen.17 Auch Anker zielte mit seinen «realen Allegorien» ja nicht selten auf Zustände eines sozialen Zusammenhangs, die in der Wirklichkeit nur selten vorkamen, jedoch von ihm selber oder auch allgemein als erstrebenswert er- achtet wurden.18 Zuvorderst zu nennen sind hier die klassischen bürgerlichen Werte Familie, Bildung, Arbeitsamkeit und Reinlichkeit,19 von denen Ankers Darstellungen der ländlichen Gesellschaft stark geprägt sind. So gehört das Le- sen, das im 19. Jahrhundert eine zentrale Funktion als «Mittel bürgerlicher Kommunikation und Ausweis von Bildung» einnahm,20 zu Ankers bevorzug- ten Motiven (Gerrendina Gerber-Visser). Gerade Ankers zeitungslesende Män- ner stehen aber nicht nur für bürgerliche Werte i.e. Sinn, sondern auch für die Emanzipation der Landbevölkerung zum gut informierten und damit politisch mündigen Staatsbürger. Angesprochen sind damit demokratische Errungen- schaften des jungen Bundesstaates wie die Ziviltrauung, die allgemeine Schul- pflicht, indirekt sogar der Bahnbau («Der Geometer»), denen Anker seine auf- wändigsten Bilder widmete.21 Anker lässt sich nicht auf das oft kolportierte Bild der idealisierten ländlichen Schweiz reduzieren, die ausserhalb der Zeit steht, vielmehr manifestieren sich in seinen Darstellungen zahlreiche Entwick- lungen des dynamischen 19. Jahrhunderts: das allmähliche Eindringen der städtischen Mode in den traditionellen ländlichen Kleidungsstil (Isabelle Mes- serli), die veränderte Rolle der Grosseltern (Christian von Zimmermann), das Aufkommen eines vormaligen Nischenprodukts wie Bier (François de Capi- tani), die Kinderkrippen als städtische Antworten auf die ländliche Zuwande- rung (Malinee Müller) und schliesslich und vor allem das Schulobligatorium, das im Kanton Bern erst als Reaktion auf die im schweizweiten Vergleich mi- serabel ausgefallenen Rekrutenprüfungen von 1875 durchgesetzt werden konnte; gerade Ankers Schuldbilder sind ja komplexe Mischungen aus realisti­ schen Darstellungen der Gegenwart und schulpolitischen Zielen für die Zukunft (Katharina Kellerhals). Dies mindert aber deren Quellenwert für eine histo­ rische Forschung nicht, die sich zunehmend auch mit der Phantasieproduk- tion einer Gesellschaft befasst, mit dem Ringen um Bedeutung und der Bil- dung von Bewusstsein: «All dies ist ebenso bedeutsam für den historischen

8 BEZG N° 02/10 Prozess einzustufen wie die Quellen, die die angeblich ‹harten facts› liefern.»22 Auch wenn bei einer historischen Bildanalyse die «Kunst im Sektionssaal der Geschichtswissenschaft unters Skalpell kommt»,23 darf nie der Künstler selber aus dem Blick geraten. Auf dieser dritten Ebene geht es um den «prinzi­ piell fiktionalen Charakter des Kunstwerks», jenes «Mehrs über die blosse Dokumen­tation hinaus», ohne das die Unterscheidung von Kunst und Doku- ment sinnlos wäre.24 Folgerichtig finden sich im vorliegenden Themenheft auch vier Beiträge, die von Albert Ankers persönlichen Überlieferungen ausgehen (Matthias Brefin, Beat Gugger, Annelies Hüssy, Isabelle Messerli). Erst zusam- men mit diesen biographi­schen Zugängen lässt sich Ankers Zeugenschaft für die materielle Kultur und die ländliche Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahr­hunderts einschätzen.

Anmerkungen 1 Ten-Doesschate Chu, Petra: Eine nationale Ikone im internationalen Kontext. In: Frehner, Matthias; Bhattacharya-Stettler, Therese; Fehlmann, Marc (Hrsg.): Albert Anker und Paris. Zwischen Ideal und Wirklichkeit. Ausstellungskatalog Kunstmuseum Bern. Bern 2003, 61–73, hier 53/54; ähnlich: Meister, Robert: Albert Anker – der «Schweizer Maler». In: Marchal, Guy P.; Mattioli, Aram (Hrsg.): Erfundene Schweiz. Konstruktionen nationaler Identität. Zürich 1992, 301–311, hier 301. 2 Siehe Kuthy, Sandor; Bhattacharya-Stettler, Therese: Albert Anker 1831–1910. Werkkatalog der Gemälde und Ölstudien. Catalogue raisonné des oeuvres à l’huile (Hrsg. Kunstmuseum Bern). 1995. 3 Zit. nach: Kuthy, Sandor; Lüthy, Hans A.: Albert Anker. Zwei Autoren über einen Maler. Ausstellungskatalog Kunsthaus Zürich. Zürich 1980, 7. 4 Wahlen, Hermann: Dichter und Maler des Bauernstandes. Bern 1973 («Albert Anker», 23–36), 32. 5 Ten-Doesschate Chu (wie Anm. 1), 53/54. 6 Vogel, Matthias: Idealistischer Naturalismus oder naturalistische Idylle. Die Schweizer Genre- malerei des 19. Jahrhunderts im internationalen Kontext. In: Klemm, Christian (Hrsg.): Von Anker bis Zünd. Die Kunst im jungen Bundesstaat 1848–1900. Zürich 1998, 51–63, hier 60. 7 Schürpf, Markus: Albert Anker und die Fotografie. In: Frehner / Bhattacharya-Stettler / Fehlmann (wie Anm. 1), 176–212, hier 186/187. 8 Tavel, Hans Christoph von: Geleitwort. In: Kuthy / Lüthy (wie Anm. 3), 9. 9 Schürpf (wie Anm. 7), 187. 10 Junker, Beat: Geschichte des Kantons Bern seit 1798. Bd. 2: Die Entstehung des demokratischen Volksstaates, 1831–1880. Bern 1990: Als Umschlagbild dient «Die Gemeindeversammlung» (Kuthy / Bhattacharya-Stettler, wie Anm. 2, Kat. Nr. 26). – Pfister, Christian; Egli, Hans-Rudolf (Hrsg.): Historisch-Statistischer Atlas des Kantons Bern 1750–1995. Bern 1998, 36, 60, Um- schlagbild: Als Illustrationen für die historischen Veränderungen im Gemeindeleben, in den demo- graphischen Strukturen und in der Agrarwirtschaft dienen «Der Gemeindeschreiber», «Hohes Alter I» und «Kartoffelernte bei Ins» (Kuthy / Bhattacharya-Stettler, wie Anm. 2, Kat. Nr. 210, 335, 482). – Siehe zudem die zahlreichen Anker-Bilder in Schmidt, Heiner (Hrsg.): Worber Geschichte. Bern 2005, 186, 203, 263, 266, 335, 357, 451, 459, 460, 580, 605.

Stuber, Gerber -Visser, Messerli: Einführung 9 11 Frehner, Matthias: Die gute Wirklichkeit. Albert Anker zwischen Ideal und Realismus. In: Frehner / Bhattacharya-Stettler / Fehlmannn (wie Anm. 1), 11–36, hier 28; siehe dazu: Messerli, Isabelle: Königin Bertha und die Spinnerinnen von Albert Anker. In: Kunst und Architektur in der Schweiz, 2006, Heft 4, 58– 61. 12 Zbinden, Hans: Albert Anker in neuer Sicht. Bern 1961, 21. 13 Messerli, Isabelle: Albert Anker: sein Atelier – seine Requisiten – seine Modelle. In: Bhattacharya-Stettler, Therese (Hrsg.): Albert Anker. Catalogue, Exposition Fondation Pierre Gianadda, Martigny 2003–2004. Lausanne 2003, 65−73, hier 69/70. 14 Roeck, Bernd: Visual turn? Kulturgeschichte und die Bilder. In: Geschichte und Gesellschaft 29 (2003), 294– 315, 305. 15 Talkenberger, Heike: Von der Illustration zur Interpretation: Das Bild als historische Quelle. In: Zeitschrift für Historische Forschung (1994, 3), 289 –313, hier 291. 16 Messerli, Isabelle: Kinderwelten unter Stroh- und Ziegeldächern. In: Frehner, Matthias; Bhattacharya-Stettler, Therese; Messerli, Isabelle (Hrsg.): Albert Anker – Schöne Welt. Ausstellungskatalog Kunstmuseum Bern. Bern 2010 (im Druck). 17 Talkenberger (wie Anm. 15), 291. 18 Frehner (wie Anm. 11), 25. 19 Siehe z.B.: Tanner, Albert: Arbeitsame Patrioten – Wohlanständige Damen. Bürgertum und Bür- gerlichkeit in der Schweiz 1830–1914. Zürich 1995; Martin-Fugier, Anne: Riten der Bürgerlichkeit. In: Perrot, Michelle (Hrsg.): Geschichte des privaten Lebens. Bd. 4: Von der Revolution zum Grossen Krieg. (a.d. Franz.). Augsburg 1999, 201–266; Schulz, Andreas: Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert. München 2005 (Enzyklopädie Deutscher Geschichte, Bd. 75), 19 –22, 69 –76. 20 Martin-Fugier (wie Anm. 19), 19. 21 Frehner (wie Anm. 11), 25. 22 Talkenberger (wie Anm. 15), 313. 23 Roeck (wie Anm. 14), hier 299. 24 Hardtwig, Wolfgang: Literaturbericht. Der Historiker und die Bilder. Überlegungen zu Francis Haskell. In: Geschichte und Gesellschaft 24 (1998), 305–322, hier 316.

10 BEZG N° 02/10 Das Haus Albert Ankers in Ins Isabelle Messerli

Im Dorf Ins, im Berner Seeland, steht an der Müntschemiergasse, leicht von der Strasse zurückversetzt und erhöht, ein stattliches Bauernhaus mit breit ausla- denden, tief hinuntergezogenem Ziegeldach, auf dessen Türsturz das Baujahr 1803 vermerkt ist. Hier wurde am 1. April 1831 Albert Anker als zweites Kind des Tierarztes Samuel Anker (1790 –1860) und der Marianne Elisabeth Gatschet (1802–1847) geboren. In diesem Haus verbrachte der Maler den grössten Teil seines Lebens, und hier starb er vor 100 Jahren, am 16. Juli 1910, im Alter von 79 Jahren.1 Wie jeden Morgen stand er gegen fünf Uhr morgens auf, öffnete sein Fenster im warmen Stübli und wurde beim Anziehen seiner Kleider von einem Schlaganfall getroffen.2 Anker war schon zu Lebzeiten ein geschätzter Maler. Er hat in seinem über 50-jährigen reichen Schaffen den Schweizer Realismus der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts geprägt. Seine realistische Malweise wurde von einem breiten Pu- blikum geliebt und verstanden. Nicht die Grossstadt Paris, wo er 35 Winterhalb- jahre verbrachte, prägte seine Motivwelt, sondern die ländliche Umgebung des protestantischen Berner Seelandes.3 Das Haus und das Dorf Ins sind untrenn- bar mit Albert Anker und seinem Lebenswerk verbunden. Treffend formuliert Moser: «Das Ankerhaus ist ein intaktes, kaum verändertes Bauernhaus der Zeit um 1800 mit einigen zusätzlichen Räumen. Zu diesem exemplarischen Zeug- niswert für Bau- und Ausstattungsgepflogenheiten einer im Dorf einflussreichen Familie tritt der Denkmalcharakter für Albert Anker.»4 Das Bauernhaus mit seinem kulturhistorisch bedeutenden und kaum ver- änderten Atelier blieb dank umsichtiger Vererbung über Generationen im Be- sitze der Familie. Vieles ist seit dem Tod Ankers im Haus belassen worden und zeigt den Respekt und die Wertschätzung, die dem Erbe entgegengebracht wur- den. Die Nachfahren Ankers wirkten konservatorisch, und schliesslich stellten Matthias und Rosette Brefin-Wyss mit der Errichtung einer Stiftung sicher, dass ein grosses Kulturgut für die Nachwelt erhalten bleibt.5

Das Haus und seine Bewohner Das heutige Albert Anker-Haus wurde im Jahre 1803 von Albert Ankers Grossva­ ter, Rudolf Anker (1750 –1817), am Rande des Dorfes Ins auf einer zusammenge­ kauften Riemenparzelle errichtet.6 Rudolf war Tierarzt und besserte sein Einkom­ men durch Landwirtschaft und Rebbau sowie mit Pferde- und Viehhandel auf. Nach dessen Tod übernahm 1817 sein Sohn Samuel, der ebenfalls Tierarzt war, das Gut.7 Dieser heiratete zehn Jahre später Marianne Gatschet, die Tochter des Inser Arztes und Amtsstatthalters Abraham Gatschet. 1836 übersiedelte Samuel

Messerli: Haus 11 Anker-Atelier in Ins, Blick gegen Südosten. Foto Badri Redha, Archäologischer Dienst des Kantons Bern.

12 BEZG N° 02/10 Messerli: Haus 13 Anker, der Vater des Malers, mit seiner Familie nach Neuenburg, wohin er als Kantonstierarzt berufen wurde. In dieser Zeit verpachtete er den Hof an Ver- wandte. Seine drei Kinder, Rudolf (1828), Albrecht (1831) und Louise (1837), wuchsen zweisprachig auf – aus Albrecht wurde im französischen Sprachge- brauch Albert. 1847, im Alter von 16 Jahren, verloren die Kinder ihre Mutter und kurz darauf den Bruder Rudolf. Einen weiteren Schicksalsschlag erlitt Fa- milie Anker, als fünf Jahre später Louise starb. 1852 zog Vater Anker wieder nach Ins, wo er seine frühere Tierarztpraxis wieder aufnahm – der Raum «Phar- macie» erinnert heute noch an die Apotheke des Vaters und des Grossvaters. Nebenbei bewirtschaftete Samuel Anker das Familienanwesen bis zu seinem Tod im Jahre 1860. Um den Haushalt ihres verwitweten Bruders, auch über des- sen Tod hinaus, kümmerte sich fortan die unverheiratet gebliebene Tante Anna Maria (1798 –1873).8 Obwohl er der einzige Überlebende der drei Geschwister und Alleinerbe des Elternhauses war, trat Albert nicht in die Fussstapfen seines Vaters. Albert begann 1851 mit einem Theologiestudium an der Universität Bern, zweifelte aber immer mehr an seiner Berufung und verkündete seinem Vater an Weihnachten 1853, dass er nicht zum Theologen tauge.9 Im Herbst 1854 zog Albert im Einverständnis des Vaters nach Paris und wurde Maler. Im Elternhaus in Ins richtete Anker, als er sich dort während der Krankheit seines Vaters vom Sommer 1859 bis Ende 1860 aufhielt, im Heubühnenbereich über dem Wohntrakt ein Atelier ein. Als 1860 der Vater starb, kam das Anwe- sen in Alberts Besitz. Mit seiner Berufswahl war ein erster entscheidender Schritt im Leben des Malers getan. Ein weiterer wichtiger Schritt war die Gründung einer Familie. Seiner Tante Anna-Maria kündete Anker die Heirat mit Anna Ruefli, der Toch- ter eines Metzgermeisters aus Biel und Freundin seiner verstorbenen Schwes- ter Louise, folgendermassen an: «Dies ist die Anzeige, mit der ich den Leuten melde, dass ich heirathen will. Nun, jammert ja nicht, und bekümmert Euch nicht, was aus Euch werden soll. Ihr wisset ja, dass Anna Rüfly keine unver- schämte Person ist; es soll im Hause nicht anders sein, als wenn unsere Luise selig noch da wäre. Und wenn es die Noth erforderte, so wollen wir Sorg haben zu Euch, wie Ihr es so vielfach um uns allen verdient habt.»10 Die Tante und gleichzeitig Patin des Künstlers blieb bis zu ihrem Tod (1873) im Haus wohnen. Die Raumbenennung «Chambre à la tante» erinnert noch heute an sie. In den kommenden Jahren gelangte Albert Anker zu immer grösserer Aner- kennung als Künstler und konnte sich mit seiner Malerei den Lebensunterhalt sichern. Er konnte es sich leisten, mit seiner wachsenden Familie die Winter-

14 BEZG N° 02/10 monate in der Künstlermetropole Paris, den Sommer aber jeweils im heimi- schen Ins zu verbringen. Aus dem Versicherungsvertrag mit der Schweizeri- schen Mobiliar-Versicherungs-Gesellschaft von 1869 geht hervor, dass Anker nicht mehr auf einen Zweitverdienst mit der Bewirtschaftung des väterlichen Hofes angewiesen war. So wurden unter der Rubrik «Vieh» nur noch «Schweine (und Schweinefleisch)» angegeben; die Rubriken «Früchte in Scheune und Spei- cher» sowie «im Keller» blieben leer. Hingegen wurden für die beachtliche Summe von 2000 Franken «gemachte und in Arbeit befindende Tableaux & Ge- mälde» als Ware, mit denen Handel getrieben wird, versichert.11 Albert und Anna Anker wurden sechs Kinder geschenkt, wovon zwei, Rudolf (1867–1869) und Emil (1870 –1871), noch im Kindesalter starben. Die älteste Tochter Louise (1865 –1954) verliess nach ihrer Heirat mit Maximilian Oser 1884 das elterliche Haus. Zwei Jahre nach Ankers endgültiger Rückkehr nach Ins ver- heiratete sich seine zweitälteste Tochter Marie (1872 –1950) mit dem Musikpro- fessor Albert Quinche. Der einzige Sohn Maurice (1874 –1931) zog frühzeitig von zu Hause los und suchte sein Glück im fernen Amerika. So leerte sich das Haus nach und nach. Die jüngste Tochter Cécile (1877–1956) blieb bis 1901 zu Hause. In einer Zeichnung von 1882 hielt Anker noch das idyllische Familienle- ben im Inser Salon fest. Seine Frau und drei der Kinder sitzen auf Louis-seize- Stühlen und -Sofa um einen runden Tisch, der hell von einer Petrollampe beleuch­ tet wird,12 und die älteste Tochter spielt auf dem Klavier. Ankers Darstellungen seiner Familie legen Zeugnis ab von einem aufgeklärten bildungsbürgerlichen Milieu, wie es zur Zeit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Idealvorstel­ lungen entsprach. Im Jahr 1890 kehrte Anker, müde geworden, mit seiner Frau nach Ins zu- rück. Einem Freund schrieb er: «Meine Frau ist gegenwärtig in Neuenburg. Das Wagon mit unserer Zügleten ist von Paris angekommen, sie miethet ein Appar- tement in Neuenburg, theils um unsere Möbel zu placieren, theils um ein pied à terre zu haben, wenn wir nach Neuenburg gehen. Also sehen Sie, dass unser Leben sich dennoch compliziert, obschon wir nicht mehr in Paris wohnen, erst im Grab, im kühlen Grab findet man die Ruhe.»13 Für die das städtische Leben gewohnte Anna Anker war der definitive Rückzug aus Paris ein wesentlicher Le- benseinschnitt. Schon nach ihrer Collègezeit in Neuenburg war sie als Kinder- mädchen nach Dänemark gereist und anschliessend als Gouvernante nach Russ- land gegangen. Am 6. Dezember 1864 heiratete sie Albert in der Kirche in Erlach. Der Anker-Kenner Robert Meister schreibt, Anna habe sich zuweilen sehr ein- sam gefühlt und ihren Mann gebeten, seine Auslandaufenthalte abzukürzen.14

Messerli: Haus 15 Albert Anker, Familienlektüre in Ins, schwarze Kreide und Kohle auf Papier, 1882. – Privatbesitz.

Albert Anker, La chambre à la tante, November 1886, Aquarell en Grisaille. – Privatbesitz.

16 BEZG N° 02/10 Die letzten zwei Jahrzehnte vor seinem Tod verbrachte der Maler mit seiner Frau in Ins und Neuenburg.

Das Anker-Haus heute Seit der Erbauung des Hauses wurden nur wenige Veränderungen vorgenom- men. Heute präsentiert sich das Anwesen folgendermassen: Unter dem Wohnhaus liegt der Keller mit seinem grossen Tonnengewölbe, in dem früher die Fässer mit dem selber gekelterten Wein gelagert wurden. Über dem Kellergeschoss befindet sich der zweistöckige Wohntrakt, darüber, im Dach- geschoss, das Atelier. Im Parterre, drei Fensterachsen breit, liegt auf der Süd- seite der Salon – der hellste Raum neben dem Atelier – mit einem Sitzofen aus dem Jahre 1884. Durch eine Verbindungstür gelangt man in die «Pharmacie», das einstige Ordinationszimmer von Vater und Grossvater Anker. Sie ist über eine Fensterachse breit und wird durch den Salonofen erwärmt. Albert bezeich- nete «dies gemütliche und warme Stübli» als den «confortablesten Ecken des Hau­ses zum Schlafen»,15 und hier starb er. Ebenfalls auf der Südseite, über zwei Fensterachsen breit, liegt das «Chambre à la tante» mit einem Sitzofen von 1860, den Albert seinem Vater Samuel und seinem Grossvater Rudolf widmen liess. Dieser Raum wie auch das nördlich angrenzende, über zwei Fensterachsen breite Gästezimmer mit eingebautem Sandsteinofen waren wohl vor 1859 Teil der Stallungen und wurden später durch Ankers Vater zu zwei Zimmern umge- baut.16 Dazwischen lagen ursprünglich Speise- und Räucherkammer. Vis-à-vis, auf der Westseite des Korridors, der die Längsmittelachse bildet, liegt die lang ge­ zogene Küche mit zwei Fenstern gegen Westen, durch die wenig Licht eindringt. Eine Fotografie aus der Zeit der Familie Anker zeigt ein Dienstmädchen in der Küche am Steintrog. Daneben steht noch ein Teil des gemauerten Herdes unter dem Rauchabzug. Später wurde der alte Herd durch ein gusseisernes Mo- dell ersetzt. Angrenzend an die Küche, auf der Rückseite des Hauses, liegen das «Chambre des parents» und der «Salle à manger», die durch eine Schrankwand mit Mitteltür voneinander abgegrenzt sind. Rechts an den Wohnteil fügt sich der Ökonomietrakt. Dieser besteht aus dem Tenn mit grosser Heu- und Stroh- bühne. Daran schliessen sich Stallungen und Wagenremise an sowie der Ofen- und Waschhaustrakt, den die Familie Brefin 1975 zu Wohnzwecken umbaute. Im Tenn sowie im Vorraum, die den Stallungen nördlich vorgelagert sind, steht noch einiges Mobiliar, das einstmals im und ums Haus Verwendung fand. Tenn- bühnen sowie Garten werden heute für kulturelle Veranstaltungen benutzt. Auf der Nordseite des Hauses liegt ein recht grosser, durch das tief hinuntergezo-

Messerli: Haus 17 gene Dach geschützter Sitzplatz, an den ein Wiese angrenzt, welche Dora, die Enkeltochter des Malers, als «schönsten Spielplatz für Kinder»17 bezeichnet hatte. Eine steile Holztreppe führt vom Korridor hinauf in den dunklen, niedrigen Bereich des «Gadens» mit Vorplatz und zu den beiden Schlafzimmern von Mau- rice und Cécile. Auf dem Vorplatz zu den «Gaden Wäsche und Haushaltgeräte» sowie in der Wäschekammer hat sich allerlei Mobiliar aus verschiedenen Epo- chen angesammelt.

Das Atelier – die Werkstätte des Künstlers Das Atelier mit seiner vorwiegend aus der Schweiz und aus Frankreich stam- menden stilpluralistischen Ausstattung ist in seiner Einheit einzigartig und ist exemplarisch für den Malbetrieb eines Genremalers mit akademischer Ausbil- dung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die meisten Gemälde Ankers entstanden in diesem Atelier, das er um 1890 ostwärts erweiterte. Diese Vergrösserung war die Konsequenz seines Entschlus- ses, sich endgültig in Ins niederzulassen und Atelier sowie Wohnung in Paris aufzugeben.18 Die rund 70m2 grosse Werkstatt des Künstlers liegt im Dachge- schoss. Im Zug der Raumerweiterung machte Anker sein Atelier heizbar.19 In den mit hellgrau gestrichenem Riementäfer ausgeschlagenen Raum strömt durch zwei nördliche Einbaudachfenster helles, ruhiges, gleichmässiges Mal- licht, das dem Künstler von morgens bis abends erlaubte, bei kaum sich verän- dernder Lichtintensität zu arbeiten.20 In diesem Licht standen viele Inser Mo- dell. Eines der anmutigsten Beispiele ist das Gemälde «Mädchen, die Haare flechtend», das 1887 entstand.21 Die Requisiten, wie Tisch, Wäscheschale, Schrank und Spiegel, befinden sich heute noch im Haus.22 Im Winter musste Anker zeitweilig, trotz den beiden Öfen, seine «Boutique» verlassen. Er zog sich in die warmen unteren Stuben zur Lektüre zurück.23 Die über 1000 Bücher fassende Bibliothek an der Südwand zeugt von der umfas- senden humanistischen Bildung des Malers.24 Im Atelier blieb seit dem Tod Ankers vieles unverändert, dies bezeugen Foto­ grafien aus den Jahren 1899, 1900 und 1907.25 Hier führte der Maler an seinem Schreibschrank Tagebuch sowie sein «Livre de vente» (Verkaufsbüchlein) und schrieb unzählige Briefe an Verwandte und Freunde. Die Atelierwände sind reich bestückt mit akademischen Gipsabgüssen, Fotografien und Daguerreoty- pien von Freunden, mit Postkarten, Lithografien, Reproduktionen von Werken alter Meister, mit Nippes und Andenken. Ein Teil der Ateliersüdwand wird von

18 BEZG N° 02/10 Albert Anker, mit altem Mann als Modell im Inser Atelier. – Stiftung Albert Anker-Haus Ins.

Albert Anker mit Mädchen als Modell im Inser Atelier, 1907, 8,7 x 14 cm, Foto Morgenthaler-Lutz, Bern. – Stiftung Albert Anker-Haus Ins.

Messerli: Haus 19 Albert Anker, Mädchen die Haare flechtend, 1887, Öl auf Leinwand, 70,5 x 54 cm, Kat. Nr. 378. – Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte, Winterthur.

20 BEZG N° 02/10 einer grossen Louis-quatorze-Tapisserie geschmückt. Der Raum ist angefüllt mit Tischen und Stühlen für Gross und Klein, mit Schränken und einem Ruhe- bett, mit Farbschrank, einem Malutensilienpult mit Schubladenstock, Ablage- tisch, Staffeleien sowie dem mächtigen Podest für Modelle. Die Raumeinrich- tung ist typisch für ein Atelier der Gründerzeit.26 Anker arbeitete vorwiegend in seinem Atelier und variierte mit Gegenständen seine Werke. Ab und zu zog er jedoch mit der Feldstaffelei hinaus, um Landschafts- und Innenraumstudien zu malen. Die Atelierausstattung sowie die zu Ankers Zeiten entstandenen Atelierfotos geben Aufschluss über Ankers Malbetrieb: Die wohl schönste Atelieraufnahme machte Gottlieb Wenger 1907, drei Jahre vor Ankers Tod. Sie zeigt den im Mal- licht arbeitenden Künstler auf einem seiner niedrigen Stühle sitzend; neben ihm steht das Malutensilientischchen. Seit seinem Schlaganfall (1901) war Anker rechtsseitig gelähmt und musste sich von der Ölmalerei abwenden, da er den Pinsel für seine feine Maltechnik nicht mehr sicher genug führen konnte. Mit unermüdlicher Schaffenskraft schuf er in der Folgezeit gegen 600 Aquarelle.27 Um eine angenehme Arbeitsposition einzunehmen, setzte sich Anker auf einen niederen Stuhl und malte, den Bild- träger auf den Knien, mit aufgelegter Hand. Auf dem Atelierfoto von 1907 steht auf einem in den Bildraum gerückten Beistelltisch im hellen Nordlicht eine der Kaffeekannen, die auf zahlreichen sei- ner Früh- bis Spätwerke zu finden und daher vertraut und berühmt geworden sind.28 Wiederkehrend ist auch der Barocklehnstuhl mit seinen Holzverletzun- gen, auf dem Anker viele seiner Modelle platzierte. Eine Gegenüberstellung von realem und abgebildetem Objekt zeugt – stellvertretend für andere oft gemalte und sich heute noch im Atelier befindende Gegenstände – davon, mit welch scharfer Beobachtungsgabe der Künstler einen Gegenstand wahrnahm und mit welch akribischer Detailtreue er ihn wiedergab. Es ist offensichtlich, dass viele Gegenstände Albert Anker zeitlebens begleiteten, dass der Künstler am Vertrau- ten hing und an diesem seine Sehgewohnheiten immer wieder schulte und be- stätigte.29 Über eine Aussentreppe an der Westseite erschloss der Künstler den Zugang ins Atelier. Nach Ankers Schlaganfall liess seine Frau Anna für ihren Mann bei der Treppe als Stützhilfe ein Seil anbringen. Es hängt heute noch dort und «be- zeugt dem Besucher symbolisch den Beistand, den Albert Anker durch seine Frau erfahren hat».30

Messerli: Haus 21 Anker-Atelier in Ins, Raumansicht Nordwest, 1907, Foto Gottlieb Wenger, Oberdiessbach. – Fotoarchiv Kunstmuseum Bern.

22 BEZG N° 02/10 Anmerkungen 1 Eine Zusammenstellung der biographischen Angaben zu Albert Anker und dessen Familie findet sich in: Frehner, Matthias; Bhattacharya-Stettler, Therese; Messerli, Isabelle (Hrsg.): Albert Anker – Schöne Welt. Ausstellungskatalog Kunstmuseum Bern. Bern 2010; siehe auch: Kuthy, Sandor; Bhattacharya-Stettler, Therese: Albert Anker 1831–1910. Werkkatalog der Gemälde und Ölstudien. Catalogue raisonné des oeuvres à l’huile (Hrsg. Kunstmuseum Bern). Basel 1995, 21f. 2 In der Regel stand Anker um 5 Uhr auf, stieg alsbald zum Arbeiten ins Atelier hinauf und «on se couche avec les poules». Brief vom 26. Mai 1865 von Albert Anker an François Ehrmann. In: Quinche-Anker, Marie: Le peintre Albert Anker 1831–1910 d’après sa correspondance. Berne 1924, 89. 3 Siehe dazu Ten-Doesschate Chu, Petra: Eine nationale Ikone im internationalen Kontext. In: Freh- ner, Matthias; Bhattacharya-Stettler, Therese; Fehlmann, Marc (Hrsg.): Albert Anker und Paris. Zwischen Ideal und Wirklichkeit. Ausstellungskatalog Kunstmuseum Bern. Bern 2003, 61–73. 4 Zitat aus: Moser, Andreas: Die Kunstdenkmäler des Kantons Bern, Landband II. Der Amtsbezirk Erlach. Der Amtsbezirk Nidau 1. Teil, hrsg. von der Gesellschaft für Schweizerische Kunstge- schichte GSK Bern. Basel 1998, 288. 5 «Die Stiftung bezweckt, Albert Ankers Arbeits- und Wohnstätte im gegenwärtigen Zustand sowie noch vorhandene künstlerische Werke und persönliche Gegenstände in der Liegenschaft Münt- schemiergasse 7 in Ins als Kulturgut zu erhalten.» Stiftungsurkunde, Privatbesitz Familie Brefin, 13. Juni 1994. 6 Andreas Moser geht ausführlich auf das Dorf Ins und insbesondere auf den Bau des Albert An- ker-Hauses ein. Siehe dazu: Moser (wie Anm. 4), 257f. 7 Über die Vorfahren Albert Ankers und deren über hundertjährige tierärztliche Tradition, die mit dem Tode Matthias’ (1788–1863), Bruder des Vaters des Malers, ein Ende fand, siehe: R. Fank- hauser, B. Hörning: Die Tierarztfamilie Anker von Ins. Aus dem Institut für vergleichende Neurolo- gie der Universität Bern. In: Schweizer Archiv für Tierheilkunde, Heft 12, Bd. 127. Zürich 1985, 747f. 8 Die Nachricht über den Tod des Vaters teilte Albert am 25. Mai 1860 seiner Tante Anna Maria An- ker mit. Siehe dazu: Meister, Robert: Albert Anker und seine Welt. Briefe, Dokumente, Bilder. Bern 2000 (4., erw. Aufl.), 46. 9 Brief vom 25. Dezember 1853 aus Jena von Albert Anker an seinen Vater. In: Quinche (wie Anm. 2), 22f. 10 Brief vom 6. Oktober 1864 von Albert Anker, Biel, an Jungfer Anna Maria Anker, Ins. In: Quinche (wie Anm. 2), 87f. 11 Schweizerische Mobiliar-Versicherungs-Gesellschaft, Voranschlag des versicherten Mobiliars und Versicherungsschein für Herrn Albert Anker, Kunstmaler wohnend in Ins, 6. September 1869. Stiftung Albert Anker-Haus Ins. 12 Elektrisches Licht kam gemäss Matthias Brefin erst um 1910 ins Haus. Siehe dazu: Gugerli, Da- vid (Hrsg.): Allmächtige Zauberin unserer Zeit: zur Geschichte der elektrischen Energie in der Schweiz. Zürich 1994. 13 Brief an Rudolf Durheim, 5. Juni 1890. Stiftung Albert Anker-Haus Ins. 14 Siehe dazu: Meister, Robert: Aus dem Leben von Anna Anker-Rüefli (1835–1917). In: Bieler Tag- blatt, Beilage, April 1989, 5. 15 Brief vom 29. Oktober 1905 von Albert Anker an Julia Hürner. In: Meister (wie Anm. 8), 180. 16 In einem Carnet vermerkte Albert Anker: «Unsere hinteren Stuben wurden erst von Vater fertig gebracht. Früher waren sie nicht bewohnt; man hatte da Holz und Grümpel aller Art. Anno 1827 wurden sie neu gemacht». Stiftung Albert Anker-Haus Ins.

Messerli: Haus 23 17 Brefin-Oser, Dora: Albert Anker als Grossvater. In: Leben und Glauben. Evangelisches Wochen- blatt, Jg. 10, Heft 10, 3. August. Laupen bei Bern 1935, 27. 18 Zur Ateliererweiterung siehe Moser (wie Anm. 4), 287. 19 Moser (wie Anm. 4), 287. 20 Die sich noch im Atelier befindenden Malutensilien wurden inventarisiert. Siehe dazu: Dettwiler, Isabelle: Inventaire de l‘atelier d‘Albert Anker. Mémoire, Schule für Gestaltung Bern, Fachklasse für Konservierung und Restaurierung HFG. Bern 1994 (unveröffentl. Manuskript). 21 Siehe Abb. S. 20 in diesem Themenheft. 22 Die Stiftung erstellte nach deren Gründung zahlreiche Inventare. Dabei wurden die sich heute noch im Anker-Haus befindenden realen Objekte jenen auf Ankers Werken gegenübergestellt: Messerli, Isabelle: Inventar Glas, Stiftung Albert Anker-Haus, 2002 (unveröffentl. Manuskript). Dies.: Inventar Keramik, Stiftung Albert Anker-Haus, 2001 (unveröffentl. Manuskript); Dies.: Inventar Spielsachen, Stiftung Albert Anker-Haus, 2007 (unveröffentl. Manuskript); Dies. Inventar Textil, Stiftung Albert Anker-Haus, 2009 (unveröffentlt. Manuskript). Siehe dazu eine frühe Analyse: Messerli, Isabelle: Albert Anker: sein Atelier – seine Requisiten – seine Modelle. In: Bhattacharya-Stettler, Therese (Hrsg.): Albert Anker. Catalogue, Exposition Fondation Pierre Gianadda, Martigny 2003–2004. Lausanne 2003, 65−73. 23 Brief vom Januar 1903 von Albert Anker, Ins, an Ludwig Hürner. In: Meister (wie Anm. 8),163f. 24 Siehe dazu den Beitrag von Gerrendina Gerber-Visser in diesem Themenheft. 25 Siehe dazu: Kuthy / Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 1), 32–33. 26 Siehe dazu: Köhler, Bettina; Rucki, Isabelle: Atelierhäuser im 19. Jahrhundert. In: Zeitschrift für Kunst und Architektur, 2002/2003, 11f. 27 Zur Anzahl der Aquarelle siehe: Lüthy, Hans A.: Albert Anker. Aquarelle und Zeichnungen. Zürich 1989, 57. 28 Im Volksmund wird die Kaffeekanne oft als «Ankerkanne» bezeichnet. 29 Siehe dazu z.B. Messerli (wie Anm. 22). 30 Zitat aus: Meister (wie Anm. 8), 5. Siehe auch Brief vom 13. Oktober 1907 von Albert Anker an Alexandre Auguste Hirsch. In: Quinche (wie Anm. 2), 198.

24 BEZG N° 02/10 Essen und Trinken bei Albert Anker François de Capitani

Alle kennen die «Armensuppe» von Albert Anker. Idylle? Sozialkritik? Diese Ver- mutungen stossen meist ins Leere und häufig wird aus den Illustrationsarbei- ten für die Gotthelf-Ausgabe auf den Maler geschlossen. Anker aber auf einen «gemalten Gotthelf» zu reduzieren greift zu kurz.1 Wir möchten daher zuerst skizzieren, was wir von Albert Anker über seine kulinarischen Vorstellungen wissen, und dann versuchen, die Ess- und Trinkszenen in sein Werk einzuord- nen.

1. Vorlieben und Abneigungen

Die Quellen, in denen sich Anker zu Fragen des Essens und Trinkens geäussert hat, sind unspektakulär. Anker liebte zwar gutes und währschaftes Essen, ver- lor aber nicht allzu viele Worte darüber. Die Briefe seiner frühen Pariser Zeit geben uns einige wenige Hinweise zu den gastronomischen Präferenzen des Malers. Offenbar konnte er ausgiebig mit seiner Wirtin über die Kochkunst re- den: «Quand je rentre, le soir, elle demande des nouvelles de mon appétit, m’an- nonce le menu du dîner, nous partons sur le chapitre cuisine et passons en re- vue tous les plats du monde.»2 1862 äussert er sich etwas ausführlicher über sei­ne Vorlieben: «Mon goût se porterait sur le vin acide, les choses épicées, mais je suis sage, trop heureux qu’on me laisse manger en paix un raisonnable mor- ceau d’autre chose.»3 Und: «La pension me convient assez. Pas de gros rôtis à l’instar des Anglais, roastbeef, beefsteaks saignants, nourriture d’anthropo- phages, mais un bon pot au feu, des légumes, du vin, du pain.»4 Auch aus späteren Briefen wissen wir, dass ihm eine gutbürgerliche einhei- mische Kost behagte. 1877 schreibt er, warum ihm ein Mann so sympathisch sei: «dass er nämlich nie etwas ass oder Kleider anzog, die nicht im Kanton Bern produziert worden wären; der war nicht von der neuen Schule, nun kann kei- ner mehr Landwein trinken, das muss Beaujolais, Waltliner etc. sein; mit dem Bier ist es noch lächerlicher, während in Burgdorf und Bern man perfektes Bier macht, muss es von München, Augsburg, Erlangen etc. kommen, es ist kommun, wenn ein Präsident oder Rathsherr inländisches Gewächs söffe.»5 Speisekarten anlässlich eines Taufessens oder einer Hochzeit zeigen uns, dass er durchaus mit den opulenten Speisefolgen der französisch dominierten Gastronomie ver- traut war.6 Komplexer scheint das Verhältnis Ankers zum Wein und zum Schnaps ge- wesen zu sein. Als Besitzer von Rebbergen war ihm der Wein vertraut, und Ema- nuel Friedli überliefert eine ganze Reihe von kraftvollen Urteilen des Malers

Capitani: Essen 25 über den Wein: «Mi sött dää frässe! Oder: mi sött z’Mitternacht uufstoo, oder: Mi sött d’s Gält etlehnne, für vo däm (ausgezeichneten Jahrgang) z’suffe.»7 Friedli hat diese Sprüche erst nach dem Tode des Malers festhalten können, sie waren aber offenbar legendär. Es scheint, dass sich Anker in den 1890er-Jahren intensiv mit der Frage der Abstinenz auseinandergesetzt hat. Er verfolgte die Anliegen des Blauen Kreu- zes, das in Bern von Arnold Bovet propagiert wurde. 1896 schreibt er: «Hier, il y eut une assemblée de tempérants à Muntschemir. M. Bovet y était, et comme il n’y a pas d’hôtellerie dans la localité, j’ai eu le plaisir de lui donner l’hospita- lité après avoir entendu son sermon.»8 In diesen Jahren konnte er sich offenbar gut vorstellen, abstinent zu leben, doch als Gutsbesitzer, Grossrat und angese- hener Bürger war das wohl nicht möglich: «Wie gerne würde ich versprechen, keinen Wein, Schnaps oder Bier mehr zu trinken, wenn ich diese Kellerei auf- geben könnte. Aber das ist für einen hiesigen Hausbesitzer ausgeschlossen.»9 Briefe aus seinem letzten Lebensjahr zeigen aber ganz klar, dass er diese Ge- danken wieder verworfen hat. Er schwärmt von einer Kiste Bordeaux und be- dauert, dass sein Magen den Wein nicht mehr gut verträgt: «So bin ich denn faktisch in der Temperenz, während ich in der Theorie himmelweit davon ent- fernt bin. Die Temperenz scheint mir eine Aberration zu sein, es ist als verachte man eine der schönsten Gaben der Natur. Da sollte man dem Schöpfer eher dan- ken für seine Freundlichkeit.»10 Ähnlich ambivalent sind auch die Aussagen Ankers über den Schnaps. Er kannte die «Schnapspest» aus eigener Anschauung und hat sich als Illustrator Gotthelfs intensiv damit beschäftigt. Ganz klar unterschied Anker den massvol- len Gebrauch vom Missbrauch. Als er einem Kunden das Bild eines Schnapstrin- kers zugesandt hatte, wurde er von Gewissensbissen geplagt: «Es sind mir Ge- wissensbisse gekommen, nachdem ich Ihnen die Sendung gemacht hatte, ich dachte: Herr Rieser [der Kunde] ist vielleicht in der Temperenz und hat viel- leicht ein Grausen vor dem Schnaps, denn offenbar hat der Mann Schnaps auf dem Tisch. Hier muss ich etwas sagen zu Gunsten dieses Getränks: im allgemei- nen trinken die Greise im Winter, hier in Ins, keinen Wein mehr, weil er ihnen schwer macht und Husten gibt, da nehmen sie ein Gläschen, das ihnen, wie sie sagen, leicht macht; unser Wein aber, neben seinen sonstigen schönen Eigen- schaften, ist herb und sauer, wenn er nicht jährig ist. Sie wissen wohl, was der alte Arzt Lory in Münsingen sagte: diejenigen Männer, die am Morgen früh und am Abend spät ein Gläschen Kartoffelschnaps trinken, sind nicht umzubringen. Der Missbrauch brachte aber Misskredit.»

26 BEZG N° 02/10 Flaschen mit selbstgemalten Etiketten von Albert Anker: «Urechs Trauben von Herrenschwanden distillé», «Absinthe», «Träber». – Stiftung Albert Anker-Haus Ins.

Capitani: Essen 27 2. Genreszenen

Bilder, die Menschen beim Essen und Trinken zeigen, stehen nicht im Mittel- punkt des Werkes Albert Ankers. Immerhin: ein Bauer beim Znüni, Kinder beim Frühstück oder Weinproben zeigen einige wenige Menschen bei einer Mahlzeit. Zwei Motive aber haben das besondere Interesse des Malers gefunden: die Ar- mensuppe und der Schnapstrinker. Zweimal hat Anker die Armensuppe gemalt: 1859 und, fast 35 Jahre später, 1893. Offenbar war die Armensuppe zuerst der privaten wohltätigen Initiative einer Inser Einwohnerin zu verdanken gewesen, später übernahm die Gemeinde die Organisation.11 Im Winter kamen so die Schulkinder und arme Einwohner des Dorfes zu einer warmen Mahlzeit. Das Bild von 1859 zeigt vielleicht die Armensuppe der Inser Philanthropin, jenes von 1893 ist zweifellos von jener durch die Gemeinde organisierte inspiriert, wie Anker im gleichen Jahr in einem Brief festhält: « Il [le tableau] représente une de ces soupes scolaires ou soupes des pauvres, comme nous en avons eu cet hiver et comme nous en ferons encore l’hiver prochain, car le résultat finan- cier a été satisfaisant.»12 1869 malt er einen Trinker («pauvre homme»), der Legende nach ein durch den Alkohol ruinierter Mann aus guter Familie.13 Die Bedrohung der Volksge- sundheit, vor allem durch den Kartoffelschnaps, war eines der zentralen sozi- alpolitischen Themen des 19. Jahrhunderts, denn der Alkoholkonsum stieg wäh- rend des ganzen Jahrhunderts unaufhaltsam. Erst nach 1885, als dem Bund das Monopol auf gebrannten Wassern aus Getreide und Kartoffeln übertragen wurde, sank der Schnapskonsum. Allerdings: noch bis um 1900 stieg der Alko- holkonsum; Wein, Kunstwein14 und Bier ersetzten teilweise den staatlich ver- teuerten Kartoffelschnaps. Das Thema des Säufers und der Säuferin wird in den Illustrationen zu Gotthelfs Werken wieder aufgenommen und erhält eine neue Aktualität im Jahr 1907, als eine Initiative das Verbot des Absinths fordert. 1905 hatte ein Waadtländer Weinbauarbeiter im Vollrausch Frau und Kinder getö- tet. Da er nicht nur Wein und Schnaps, sondern auch Absinthe getrunken hatte, war klar, wo die Schuld lag. Das übel beleumdete Getränk der Bohème, der In- tellektuellen und der Künstler war die Ursache der schrecklichen Tat und musste verboten werden. Eine unheilige Allianz von Alkoholgegnern, Weinproduzen- ten, Brauern und Herstellern von Obstbränden setzte in einer Volksabstimmung 1908 das Verbot durch. Anker nutzte das Interesse an der ganzen Frage. Er schreibt 1908: «Es ist so viel von Absinthe die Rede, dass ich auch davon ein Aquarell machen will; ein alter Säufer betrachtet das Glas und sagt: Ce n’est par-

28 BEZG N° 02/10 Albert Anker, Die Armensuppe II, 1893, Öl auf Leinwand, 85 x 137 cm. Kat. Nr. 481 [Ausschnitt]. – Staat Bern, Kunstmuseum Bern.

Capitani: Essen 29 Albert Anker, Der Trinker, 1869, Öl auf Leinwand, 69 x 52 cm. Kat. Nr. 130. – Kunstmuseum Bern.

30 BEZG N° 02/10 bleu pas la peine de faire tant de tapage pour une verte.»15 Ankers Bild ist am- bivalent; der Absinthetrinker zeigt zwar alle Attribute des Lasters – Schnaps und Zigarre –, doch nicht die verzweifelte Resignation des «pauvre homme» von 1869. Anker paraphrasiert das geflügelte Wort «tant de bruit pour une omelette» – ein bisschen Ironie schwingt mit. Das Bild war ein grosser Erfolg, und Bestellungen für neue Fassungen tra- fen ein, die Anker gerne erfüllte, wie ein Brief an Edouard Jacky zeigt: «Vous dites que vous voudriez en avoir une, de ces aquarelles; je ne demande pas mieux que d’accepter avec plaisir les commandes qu’on veut bien me faire […]»16

3. Die Stillleben

Innerhalb des Werkes Albert Ankers nehmen die Stillleben einen besonderen Platz ein. Dass er Stillleben malte, lag im Trend der Zeit. Seit den 1860er-Jah- ren galt das Stillleben nicht mehr unbestritten als harmlose und in der Hierar- chie der Darstellungen tief stehende Gattung der Malerei, eine Beschäftigung malender Frauen, die nicht ernst genommen werden mussten. Nun wurde diese Hierarchie lautstark in Frage gestellt; die Hochschätzung des Stilllebens war zwar Provokation, aber auch folgerichtiger Anspruch eines neuen Kunstbewusst- seins.17 Stillleben, besonders Blumenstücke, waren auch in der Schweiz ein etwas belächelter Genre von Malerinnen. Ankers Malerkollege und Freund Auguste Bachelin schrieb 1885 anlässlich der Landesausstellung in Zürich zu den aus- gestellten Aquarellen: «Sur 51 exposants, nous y rencontrons 24 dames: nous le devinerions sans peine à la profusion de fleurs et de fruits qui en égaient les pa- rois. Toute la flore des serres y a passé, on a mis à contribution les jardins et les près, les marais et la montagne, des eucalyptus et des mimosas aux orchis et aux perce-neige, sans oublier la rose éternellement belle.»18 Anker wollte wohl nicht in diese Kategorie gezählt werden und suchte sich ein «männliches» The- menfeld. Bilder von Blumen oder Früchten blieben die seltene Ausnahme. Von Anker sind über 30 Stillleben überliefert und – hier stehen Kunsthisto- riker und Historiker etwas perplex da – sie zeigen fast ausschliesslich gedeckte Tische, und zwar nicht Hauptmahlzeiten, sondern das Frühstück oder Zwischen- mahlzeiten, Momente der Entspannung und Erholung, bei Kaffee, Tee, Bier oder Wein. Meist ist der Tisch nur für eine Person gedeckt, seltener für zwei. Es sind Bühnenbilder, bei denen der Betrachter selbst entscheiden kann, wer auftreten wird oder wer den Platz gerade verlassen hat. Ländliche und gutbürgerliche

Capitani: Essen 31 Idyllen wechseln sich ab, einige verführen ins Wirtshaus, denn dort wird vor- zugsweise Bier, Absinthe oder Sauser – seit den 1870er-Jahren auch in Bern ein herbstliches Modegetränk – ausgeschenkt. Ein Sujet führt uns in die hohe Pa- riser Gastronomie: die Languste. In Bern waren solche Krustentiere zwar be- kannt, aber selten. Immerhin: auf dem Titelblatt des biederen Berner Kochbuchs in der Auflage von 1907 prangt unübersehbar ein riesiges Krustentier als Sym- bol gastronomischer Raffinesse (es versteht sich von selbst, dass in diesem Koch- buch solche Tiere nicht vorkommen).19 Dass der ernährungswissenschaftliche Diskurs seiner Zeit an Anker nicht ganz spurlos vorbeigegangen ist, zeigen zwei Bilder aus dem Jahre 1896: hier geht es nicht mehr um Arm und Reich, Stadt und Land, sondern um Mässigkeit und Unmässigkeit, wobei die Mässigkeit durchaus ein Glas gespritzten Rotweins zuliess. Anker war kein Eiferer und es ist das einzige Mal, dass im Titel eines Stilllebens eine moralische Wertung an- klingt. Stillleben malte Anker seit 1866, doch in den 1890er-Jahren begegnen wir einer Häufung dieser Darstellungen – offenbar bestand eine rege Nachfrage. Die Stillleben Ankers geben Rätsel auf. Er hat nicht – wie z. B. Edouard Ma- net und andere Maler seiner Zeit – das Stillleben theoretisch erörtert und ver- teidigt, noch lassen sie sich als symbolträchtige Gleichnisse interpretieren. Et- was verzweifelt schreibt Arthur E. Imhof, der nach der Beschreibung von barocken Stillleben mit ihrer streng codierten Bildersprache sich Albert Anker zuwendet: «Was mich beim Betrachten von Ankers Gemälde ‹Bier und Rettich› so fesselt und seit Jahren nicht mehr loslässt, ist weniger, was ich dort sehe, als vielmehr, was ich nicht sehe. Weshalb ist das Bild so leblos? Warum ist es zu ei- nem ‹Stillleben›, zu ‹nature morte›, zu ‹toter Natur› erstarrt?»20 Vor Ankers Still- leben muss die klassische Ikonographie kapitulieren. Die Zitrone auf dem Lan- gusten-Stillleben ist kein Gleichnis der Fragwürdigkeit weltlicher Schönheit, sondern eine kulinarische Zutat. Einig sind sich die Kunsthistoriker, dass es sich um Zeugnisse einer hohen malerischen Virtuosität handelt.21 Gut möglich, dass Anker in seinen ersten Still- leben unter Beweis stellen wollte, dass er in der neu aufgebrochenen Debatte um die Stellung dieser Gattung mithalten konnte.22 Doch später scheint es doch auch die Nachfrage nach solchen Motiven gewesen zu sein, die ihn stimulierte. Hans A. Lüthy schreibt das wachsende Interesse an Stillleben in Paris dem Um- stand zu, dass diese «Gleichnisse eines neuen Lebensgefühls, das von den Sa- lonbesuchern verstanden wurde», seien.23 Worin bestand dieses neue Lebens- gefühl? Ein aufstrebendes Bürgertum suchte zwar die Konventionen seines

32 BEZG N° 02/10 Standes zu wahren, kannte aber auch Freiräume, die gerade in der Kunst, der Literatur und der Musik genutzt werden konnten. Gerade die «bourgeoisie des talents», Ärzte, Juristen, Wissenschaftler und hohe Beamte fühlten sich nicht sklavisch an die Konventionen des Kunstgeschmacks – sei es im Stil oder in der Wahl der Motive – gebunden. Hier scheint Albert Anker seinen Markt gefunden zu haben. Die Häufung der Stillleben in den 1890er-Jahren würde gut in diesen gesellschaftlichen Trend passen, der sich auch in der Zusammensetzung der Mitglieder der bernischen Künstlergesellschaft widerspiegelt. 24 Die Konventionen schrieben vor, welche Bildgattungen in den verschiede- nen Räumen hängen sollten, Porträts im Salon, patriotisches oder historisches im Herrenzimmer und im Esszimmer schliesslich Bilder, «die eine Atmosphäre heiteren Genusses vermittelten».25 Dazu gehörten neben Genrebildern eben auch Stillleben. Diesem Anspruch konnten die Stillleben Albert Ankers ausgezeich- net gerecht werden.

Brot, Kartoffeln, Madeleines Wenden wir uns zum Schluss diesem «heiteren Genuss» zu. Was assoziierte ein Betrachter um 1900 mit den dargestellten kleinen Mahlzeiten? Schon nur weil Anker keine Hauptmahlzeiten gemalt hat, verbieten sich allgemeine Rück- schlüsse auf damalige Lebensgewohnheiten. Doch vieles, das uns heute selbst- verständlich erscheint, wurde vor hundert Jahren anders wahrgenommen. Am häufigsten dargestellt ist Brot, das in bäuerlichen Kreisen selbst geba- cken wurde, allerdings nicht jeden Tag, sondern nur alle paar Wochen. Das Hei- zen des Ofenhauses benötigte viel Holz und lohnte sich nur, wenn man die Hitze optimal ausnutzte. Nur in den Städten und grösseren Marktflecken gab es Bä- ckereien, die täglich Brot buken und zum Verkauf feilboten. Brot findet sich so- wohl in den ländlichen Szenen, wie auch als Beilage zu Wein, Absinthe oder Bier. Als ausgebildeter Theologe spielt Anker die symbolträchtige Darstellung von Wein und Brot herunter, Kastanien, Schinken oder Nüsse kommen hinzu. Ein einziges Bild26 zeigt Brot und Wein, allerdings handelt es sich dabei nicht um den üblichen grossen Brotlaib, sondern eher um ein Art Tessiner Brot oder Zopf, einem Gebäck ähnlich. Das zweite Grundnahrungsmittel, das Anker zeigt, ist die Kartoffel. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert bildete sie – neben dem Brot – die Basis der Ernährung der ländlichen – und der ärmeren städtischen – Bevölkerung.27 Bei Albert Anker stehen sie als Zeichen der bäuerlichen Lebens- welt; wer sich von den Bauern unterscheiden wollte, verzichtete wenn möglich auf Kartoffeln.28

Capitani: Essen 33 Albert Anker, Stillleben: Kaffee, Milch und Kartoffeln, 1897, Öl auf Leinwand, 51 x 42 cm, Kat. Nr. 538. – Privatbesitz.

Albert Anker, Stillleben: Tee und Gebäck, Öl auf Leinwand, 33,5 x 52 cm. Kat. Nr. 444 [Ausschnitt]. – Privatbesitz.

34 BEZG N° 02/10 Das Brot fehlt auf den Tischen, die eine reiche Kaffee- oder Teetafel zeigen. Hier ersetzt edles Gebäck das Brot. Besonders häufig dargestellt sind Schmelz- brötchen, die berühmten «Madeleines», die im Frankreich des «fin de siècle» Kultstatus erhalten hatten. Albert Anker hat zwar Marcel Proust, in dessen Werk die Madeleines eine Schlüsselrolle spielen, nicht lesen können – «Du côté de chez Swann» erschien erst 1913 – doch wusste er sicherlich um das Prestige, das mit diesem Backwerk verbunden wurde.

Kaffee, Tee, Zucker Kaffee gehört seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert zu den unverzichtbaren Getränken aller Bevölkerungsschichten. Doch Kaffee war nicht Kaffee. Das üb- liche Frühstücksgetränk war Milchkaffee, mit wenig Kaffee und viel Milch. Da- bei handelt es sich zu einem grossen Teil um Kaffeeersatz, aus Zichorien und anderen Wurzeln hergestellt – diese Surrogate waren bis siebenmal billiger als der Bohnenkaffee.29 Noch bis zum Zweiten Weltkrieg wird vermutet, dass die Hälfte des Kaffeepulvers, das man verwendete, aus Ersatzstoffen bestand, heute sind die Surrogate praktisch vom Markt verschwunden.30 Reiner Bohnenkaffee, mit genügend Kaffeepulver angemacht, war ein Privileg der Reichen. Haushal- tungslehrbücher geben uns an, welche Menge für einen einfachen Milchkaffee benötigt wurde und welche für einen exklusiven schwarzen Kaffee. Für einen schwarzen Kaffee rechnete man bis zu fünfmal mehr Kaffeepulver als für einen einfachen Milchkaffee.31 Ankers Betrachter um 1900 wussten um diesen Unter- schied. Tee war in der Schweiz des 19. Jahrhunderts nie ein allgemein verbreitetes Getränk – im Gegensatz zu den nordischen Ländern. Es blieb ein aristokrati- sches und grossbürgerliches Getränk, das am Nachmittag – anlässlich der Tee- visiten – getrunken wurde. Am Preis konnte es nicht liegen, Kaffee war nicht billiger, doch der Tee hat sich als Alltagsgetränk lange nicht einbürgern wollen. Die Teeszenen Ankers zeigen uns denn auch die grossbürgerliche Behaglich- keit,32 mit Tee, Gebäck und, analog zu den Darstellungen eines reichen Kaffees, Cognac – die prestigeträchtige Spirituose, der Gegenpol zum Kartoffelschnaps der Armen. Dabei konnte es sich durchaus um ein einheimisches Produkt han- deln, der Name Cognac war noch nicht geschützt und wurde allgemein für den Weinbrand verwendet. Zur reich gedeckten Tafel gehört auch der weisse Zucker, der auf dem Tisch der Armen fehlt. Zucker war zwar um 1900 kein exklusives Produkt mehr, aber immerhin ein Kostenfaktor. Es scheint, dass der Zucker auf dem Land eher als

Capitani: Essen 35 Luxus wahrgenommen wurde als in der Stadt. Um 1912 schätzt man den Zucker­ konsum einer städtischen Arbeiterfamilie bereits auf über ein Kilogramm pro Woche.33 Noch handelte es sich überwiegend um Rohrzucker aus Übersee, doch langsam gewann die einheimische Produktion von Rübenzucker an Bedeutung. Die 1898 gegründete Zuckerfabrik Aarberg hatte bis nach dem Ersten Weltkrieg Mühe, genügend Bauern im Seeland für den Anbau von Zuckerrüben zu gewin- nen.

Wein und Bier Wein war in Weinbaugebieten ein gängiges Tafelgetränk und Ins kannte damals noch den Weinbau. Auch Albert Anker besass Reben. Aber der Schweizer Wein- bau machte im ausgehenden 19. Jahrhundert seine grösste Krise durch. Reb- krankheiten, aber auch der massive Import von fremden Weinen und die bis 1912 erlaubte Herstellung von Kunstwein liessen die Rebflächen kontinuierlich sinken.34 Wein wurde nun zum Getränk für spezielle Gelegenheiten. Ankers ver- staubte alte Flaschen lassen uns erahnen, dass es sich hier um Kostbarkeiten handelte. Parallel zur Krise im Weinbau setzte sich ein anderes Getränk im All- tag durch: das Bier. Noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts war es ein Nischen- produkt, im Sommer kaum haltbar und deshalb in den Monaten mit dem gröss- ten Bedarf an Durstlöschern nicht immer verfügbar. Bierbrauen wurde im letzten Drittel des Jahrhunderts von einem Kleingewerbe zu einer Grossindus- trie. Die neue Kältetechnik erlaubte die Produktion zu allen Jahreszeiten und ein effizientes Vertriebssystem garantierte die landesweite Versorgung.35 Bier wurde – wie auch der Sauser, dem Anker einige Stillleben gewidmet hat – fast ausschliesslich in den Gaststätten ausgeschenkt; Flaschenbier war die Aus- nahme. Es handelt sich also bei diesen Bildern mit grosser Sicherheit um Wirts- hausidyllen. Noch immer verstehen wir heute den «heiteren Genuss», den uns Albert An- ker vor Augen führt, doch hat sich der Horizont unserer Assoziationen verscho- ben. Der Kaffee wurde zum Espresso und das Bier ist nicht mehr das Getränk einer neuen Zeit.

36 BEZG N° 02/10 Anmerkungen 1 Siehe dazu auch den Beitrag von Christian von Zimmermann in diesem Themenheft. 2 Quinche-Anker, Marie: Le peintre Albert Anker 1831–1910 d’après sa correspondance. Berne 1924, 59. 3 Quinche (wie Anm. 2), 74. 4 Quinche (wie Anm. 2), 84. 5 Zbinden, Hans: Albert Anker in neuer Sicht. Bern 1961, 45. 6 Meister, Robert: Albert Anker und seine Welt. Bern 2000, 73; Kaltenbach, Marianne: Seeländer Küche. Bern 2004, 57. 7 Friedli, Emanuel: Twann. Bärndütsch als Spiegel bernischen Volkstums, Bd. 5. Bern 1922, 464. 8 Quinche (wie Anm. 2), 167. 9 Meister (wie Anm. 6), 147. 10 Zbinden (wie Anm. 5), 81. 11 Meister (wie Anm. 6), 130. 12 Zbinden (wie Anm. 5), 52. 13 Meister (wie Anm. 6), 60. 14 Als Kunstweine wurden Weine bezeichnet, die aus importierten Trockenbeeren oder aus Trester mit Zugabe von Zucker, Wasser, Aromastoffen und Färbemitteln hergestellt wurden. Erst 1912 wurde ihre Herstellung in der Schweiz verboten. 15 Meister (wie Anm. 6), 183. 16 Zbinden (wie Anm. 5), 78. 17 Zur kunsthistorischen Einordnung: Bhattacharya-Stettler, Therese: «I wish I was a tea kettle». Zur Stilllebenmalerei von Albert Anker. In: Frehner, Matthias; Bhattacharya-Stettler, Therese; Fehlmann, Marc (Hrsg.): Albert Anker und Paris. Zwischen Ideal und Wirklichkeit. Kunstmuseum Bern 2003, 137–175. 18 Bachelin, Auguste: Rapport sur le groupe 37. Art contemporain. Beaux arts. 1884, 43. 19 Rytz, L[isette]: Berner Kochbuch. Bern 1907 (17. Auflage). 20 Imhof, Arthur E.: Im Bildersaal der Geschichte oder Ein Historiker schaut Bilder an. München 1991, 184. 21 Bhattacharya-Stettler (wie Anm.17), 140; Sandor Kuthy, zit. bei Imhof (wie Anm. 20), 185. 22 Therese Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 17), 140 spricht von den Stillleben als dem Prüfstein (pierre de touche) des malerischen Könnens und dass es keine Auftragsarbeiten waren. 23 Lüthy, Hans A.: Albert Anker. Aquarelle und Zeichnungen. Zürich 1989, 21. 24 Tanner, Albert: Arbeitsame Patrioten, wohlanständige Damen. Bürgertum und Bürgerlichkeit in der Schweiz, 1830 –1914. Zürich 1995, 279–281. 25 Benker, Gertrud: Bürgerliches Wohnen, München 1984, 63. 26 Kuthy, Sandor, Therese Bhattacharya-Stettler: Albert Anker. Werkkatalog der Gemälde und Ölstudien. Basel 1995, 526. 27 Heinzmann, Johann Georg: Beschreibung der Stadt und Republik Bern. Bd. 2. Bern 1796, 121. Riedhauser, Hans: Essen und Trinken bei Jeremias Gotthelf. Bern 1985, 115ff. 28 Riedhauser (wie Anm. 27), 119.

Capitani: Essen 37 29 Als Beispiel 1891 in Bern: Weibel, O.: Konsumgenossenschaft Bern 1890–1915. Denkschrift zur Feier des 25-jährigen Bestehens. Bern 1916, 164: Kaffee kostete Fr. 2.60 bis 2.70, Zichorie nur 40 Rp. das Kilo. 30 Rossfeld, Roman: Zur Geschichte der schweizerischen Zichorien- und Kaffeesurrogat-Industrie im 19. und 20. Jahrhundert. In: Rossfeld, Roman (Hrsg.): Genuss und Nüchternheit. Geschichte des Kaffees in der Schweiz vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Baden 2002, 248. 31 Z.B. Müller, Susanna: Das fleissige Hausmütterchen. Zürich 1884, 349; Corodi-Stahl, Emma: Gritli in der Küche. Zürich 1905 (2. Aufl.), 127. 32 Ebert-Schifferer, Sybille: Die Geschichte des Stilllebens. München 1998, 199. Die Autorin um- schreibt ein Stillleben Ankers mit folgenden Worten: «das die Wärme bürgerlicher Behaglichkeit nach einem guten Essen ausstrahlt». 33 Riedhauser (wie Anm. 27), 172; Die Lebenshaltung schweizerischer Arbeiter und Angestellter vor dem Krieg. Ergebnisse der Haushaltsstatistik des Schweizerischen Arbeitersekretariats. Olten 1922, 190. 34 Schlegel, Walter: Der Weinbau in der Schweiz. Wiesbaden 1973. 35 Schibler, Peter: Aus der Geschichte des Braugewerbes im Kanton Bern. Bern 1983.

38 BEZG N° 02/10 Wie es war und nie gewesen ist Ankers Schule von innen und aussen Katharina Kellerhals

Bilder haben die Vorstellungen von Schulwirklichkeit im 19. Jahrhundert we- sentlich geprägt, allen voran die «Dorfschule von 1848» Albert Ankers. Diese Darstellung ist 1895/96 als Auftragsarbeit zur Illustration von Jeremias Gott- helfs Leiden und Freuden eines Schulmeisters – ursprünglich erschienen 1838/39 – entstanden.1 Als Vorlage – der Bildaufbau legt dies nahe – hat Anker offensicht­ lich seine «Dorfschule im Schwarzwald» verwendet, mit welcher er 1858 an die Öffentlichkeit getreten war. Dieser Auftrag für die Bebilderung der Gotthelf-Aus- gabe, obwohl widerwillig ausgeführt, hat den Maler wiederholt zu Studienrei- sen ins Emmental geführt. Die «Dorfschule von 1848» zeigt, wie komplex Bildinterpretation sein kann. Mit Hilfe zeitgenössischer schriftlicher Quellen zur Schulgeschichte des Kan- tons Bern kann eine genauere Interpretationsleistung versucht werden. So wie sich realistische und idealisierende Elemente in einem «Mischverhältnis über Ankers Leinwände» legen, werden auch in schriftlichen Zeugnissen Tatbestände überlagert von Ideologisierungen und Anachronismen.2 Ziel ist es, sich mit ein- zelnen Fragmenten unterschiedlicher Quellen einer vergangenen Realität wei- ter anzunähern. Ich werde mich im Folgenden mit einer Innen- und einer Aus- sensicht Ankers zur Berner Schule des 19. Jahrhunderts auseinandersetzen und diese mit schriftlichen Quellen über die Volksschule des 19. Jahrhunderts kon- frontieren; anschliessend werde ich diese Ergebnisse mit Kontextdaten aus An- kers Korrespondenz ergänzen.3 Zur «Dorfschule von 1848» gibt es kaum interpretativen Kommentar. In ei- nem überfüllten Schulzimmer kommuniziert ein Lehrer intensiv mit den Bu- ben, während die Mädchen nur mitbeschult werden und eine untergeordnete Rolle spielen. Trotz Überfüllung herrscht eine gewisse Ordnung im Schulzim- mer: Der mit Stock ausgerüstete Lehrer steht frontal vor den Schultischen und versucht die Aufmerksamkeit der widerspenstigen, am Unterricht wenig inter- essierten Buben zu gewinnen, während die Mädchen sich selbstständig und in- teressiert dem dargebotenen Stoff widmen. Die Mädchen bilden optisch den Rahmen der Schulszene, ein Korb mit Strickzeug steht unübersehbar in der vorderen Bildmitte. Was zeigt die «Dorfschule von 1848» wirklich? Zeigt sie die Realität zu Gott- helfs Zeit bis 1838 (Illustrationsauftrag) oder die Realität zur Zeit der Bundes- gründung (Titel des Bildes)? Zeigt sie die Realität aus der Zeit des Vorgängerbil­ des um 1858? Oder diejenige der eigentlichen Entstehungszeit des Bildes um

Kellerhals: Schule 39 1895/96? Ausserdem: Wird hier dargestellt, wie es war, wie es gesehen wurde oder wie es hätte sein sollen? Schiefertafeln, hergestellt in den Schieferwerken von Frutigen, – wurden seit den 1830er-Jahren in Berner Schulstuben eingesetzt. An der Wand hängt mit grosser Wahrscheinlichkeit die Schulordnung, welche auf regierungsrätliche Anweisung ab1862 «in jedem Schulzimmer anzuschlagen» war.4 Die Buben sind an mehrplätzigen Schultischen zusammengepfercht, was sich auf die Aufrechterhaltung der Disziplin sichtlich störend auswirkt, während die Mädchen ohne Schreibtisch auskommen müssen. Bis Mitte des 19. Jahrhun­ derts waren Schultische mit geneigter Schreibplatte und lehnenlosen, mehrplät- zigen Bänken in Gebrauch. Man unterschied zwischen Lese- und Schreibschü- lern; Sitzbänke für Leseschüler standen in der Regel seitlich des Schulzimmers. Mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht – in Bern ab 1835 – wurde über schulhygienische Massnahmen diskutiert und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begannen sich Pädagogen und Mediziner mit gesundheits- schädigenden Auswirkungen der Sitzgelegenheiten in Schulstuben zu befassen.5 In der Folge wurden im Kanton Bern Berner Schultische propagiert, denen ur- sprünglich ein nordamerikanisches Modell, welches an der Weltausstellung von Wien 1873 vorgestellt worden war, zu Grunde lag. Die Berner Schultische wur- den in Signau hergestellt.6 Neu war die fixe Verbindung von Schultisch und Bank. Auf dem ersten Schulbild Ankers von 1858, «Dorfschule im Schwarz- wald», erkennen wir ein Schulbankmodell dieser Art. Ankers Darstellung der Schulbänke in der «Dorfschule von 1848» verweist dagegen auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, Gotthelfs Zeit; solche Bänke dürften aber in ärmeren Ge- meinden noch lange in Gebrauch gewesen sein. Die abgebildeten Küferuntensilien thematisieren den Nebenverdienst des Lehrers, eher zwar eine regionale Tätigkeit eines Weinbaugebietes wie des See- landes als ein Emmentaler Handwerk. Ankers Hinweis galt aber primär der schlechten Bezahlung der Lehrkräfte.7 Mit dem Primarschulgesetz von 1870, als die Löhne für das Lehrpersonal erheblich erhöht wurden, war die «Betrei- bung eines der Schule nachtheiligen Nebenberufs […] dem Lehrer untersagt», wurde aber in ärmeren Gemeinden weiter toleriert.8 Theoretisch lässt sich die Geschlechterfrage – Knaben und Mädchen wer- den unterschiedlich beschult – am eindeutigsten kommentieren: Mit dem ers- ten Primarschulgesetz 1835 wurde die liberal-revolutionäre Idee einer gleichen Ausbildung für Knaben und Mädchen explizit verordnet. Im ganzen Kanton musste geschlechtergemischt unterrichtet werden. Trotz hartnäckigem Wider-

40 BEZG N° 02/10 Albert Anker, «Dorfschule von 1848», 1895 / 96, Öl auf Leinwand, 104 x 175,5 cm, Kat. Nr. 503. – Depositum Öffentliche Kunstsammlung Basel. Reproduktion mit der freundlichen Genehmigung der Novartis AG, Basel

Kellerhals: Schule 41 stand seitens der Bevölkerung gelangte Handarbeiten – bisher vormals als sozial­ pädagogische Massnahme genutzt und als Handwerk von beiden Geschlechtern praktiziert – 1864 als «weibliches Fach» in den Fächerkanon. Mit dem Handar- beitsunterricht wurde erstmals ein geschlechterdifferenzierendes schulisches Programm verordnet, bürgerliche Tugenden wie «Reinlichkeit, Ordnung, Fleiss und Sparsamkeit» konnten ihre disziplinierende Wirkung entfalten.9 Zusammenfassend lässt sich für die «Dorfschule von 1848» feststellen, dass es weder eine Einheit von Zeit noch von Ort gibt. Anker hat mit «volkskundli- cher Genauigkeit»10 die Bildinhalte, die mehrheitlich auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts datiert werden können, grosszügig zu einem nicht einheitli- chen Ganzen zusammengestellt und verzichtet auf eine chronologische, doku- mentarische Exaktheit. Eine Aussenansicht der Volksschule im Kanton Bern zeigt Anker mit dem Bild «Turnstunde in Ins» (1879), erstmals 1880 ausgestellt. Die Ansichten über den künstlerischen Wert dieser Darstellung sind geteilt.11 Der Unterricht findet auf einem erhöhten Turnplatz vor dem kubischen Schulhaus in Ins statt, das die Gemeinde 1868 bauen liess. Schulhäuser dieser Art – mit Walmdach, Dach- reiter und spätklassizistischem Dekor – waren im Seeland und Jura verbreitet.12 Vor der lichten Fläche des Schulhauses, auf ebenso leuchtendem Turnplatz, kommandiert ein Lehrer – in Anzug und Hut – vor einer zwanzigköpfigen Bu- benklasse. Die Schar ist – wie in Johann Niggelers Turnschule13 empfohlen – in «Frontstellung» in zwei «Reihenkörpern» aufgereiht. Während die hintere Reihe – «Fussspitzen ein wenig auswärtsgedreht» – Pause hat, übt die vordere Reihe «das Taktgehen»; wohl auf das Kommando «Marsch!» gehen die Buben mit «dem rechten Fuss» zuerst die angekündigte Schrittzahl vor und zurück. Unge- fähr ebenso viele Dorfmädchen unterschiedlichen Alters rahmen beobachtend das Geschehen. Zwischen Turnplatz und Schulhaus sind Turngeräte wie Klet- terstangen (Reihenklettergerüst von Turnvater Spiess weiterentwickelt), Reck (Holzsäulen und eiserne Querstange erfunden von Turnvater Jahn) und Schwe- bebalken (übernommen aus der schwedischen Gymnastik) verankert.14 Zwei Bauern – vom Grasen zurückkehrend – kommentieren von der vorderen Bild- mitte die Szene. Diskutiert wird möglicherweise der erbärmliche Gesundheits- zustand der Berner Jugend, welche die 1875 erstmals auf Bundesebene durch- geführten Rekrutenprüfungen15 sichtbar gemacht hatten. Auch in Anbetracht der unsicheren europäischen Lage, verursacht durch den Deutsch-Französi- schen Krieg, fand das Fach Turnen dank unermüdlichem Einsatz von Turnins- pektor und Seminarlehrer Niggeler offenbar auch im Seeland Verbreitung. Der

42 BEZG N° 02/10 Albert Anker, Dorfschule im Schwarzwald, 1858, Öl auf Leinwand, 105 x 171 cm, Kat. Nr. 30. – Gottfried-Keller-Stiftung, Kunstmuseum Bern.

Albert Anker, Turnstunde in Ins, 1879, Öl auf Leinwand, 96 x 147,5 cm, Kat. Nr. 260. – Privatbesitz.

Kellerhals: Schule 43 44 BEZG N° 02/10 Kellerhals: Schule 45 Boden, auf dem das Turnen – als Disziplin der Vermittlung zwischen «Geist und Körper» – als «fruchtbarer Baum heranwachsen» sollte, war für Niggeler die Schule. Er empfahl Frei- und Ordnungsübungen im obengenannten Sinne für beide Geschlechter. Es galt, den Turnplatz als eine «Stätte, wo neben strengem Gehorsam und fester Ordnung gleichwohl ein munteres Bewegen stattfinden kann, angenehm und lieb» zu machen.16 Geräteturnen war erst für die Sekun- darschule vorgesehen. Nachdem Ins in den Jahren 1894/95 über eine erweiterte Oberschule verfügte, wurde ab 1896 eine Sekundarschule eingerichtet. Die vor- handenen Gerätschaften könnten somit als eine fortschrittliche Umsetzung der erziehungsdirektorialen Vorgaben der Schulgemeinde Ins interpretiert werden, denn bis Ende des 19. Jahrhunderts verfügten viele, vor allem ländliche Gemein- den weder über Turnplatz noch Turnhalle. Das Fach Turnen konnte über militärische Behörden legitimiert, befördert und subventioniert werden. Obwohl Turnen für beide Geschlechter seit Beginn des 19. Jahrhunderts unter gesundheitlichen Gesichtspunkten unumstritten war, im ersten Primarschulgesetz für beide Geschlechter vorgeschlagen worden war und an vielen Schulen auch für Mädchen zusammen mit oder neben den Kna- ben durchgeführt wurde, beschloss der Grosse Rat 1870, Turnen vorerst aus fi- nanziellen Überlegungen nur für die Knaben einzuführen, denn man war sich im Klaren, dass neben der kürzlich erfolgten, umstrittenen Einführung des Fa- ches Handarbeiten in der Bevölkerung wenig Verständnis für ein weiteres neues Fach für die Mädchen übrig bleiben würde. Da Turnen nun nur für Knaben und Handarbeiten nur für Mädchen angeboten wurde, ergab sich eine finanziell und raumtechnisch günstige Kombination, was von vielen Gemeinden eifrig benutzt wurde: Während die Buben turnten, waren die Mädchen in der Regel – anders als Anker dies in der Turnstunde darstellt – im Schulzimmer mit weiblichen Handarbeiten beschäftigt. Da die Mädchen wöchentlich mit 3 bis 6 Stunden Hand­arbeiten beschäftigt waren, wurden sie von andern Fächern entlastet; sie absolvierten in der Folge aber trotz Zusatzunterricht in weiblichen Arbeiten und weniger Unterricht in Rechnen und Sprache erfolgreich und leistungsbereit den obligatorischen Primarschulunterricht.17 Während Anker in der «Dorfschule von 1848» auf eine dokumentarische Ge- nauigkeit verzichtet, zeigt er in der «Turnstunde» den Zeitpunkt, wo Turnen – 1870 als obligatorisches Schulfach für Knaben im Schulgesetz verankert – also tatsächlich eine zunehmend militärische Ausrichtung erhalten hat. Themati- sierte Anker mit den präparierten Baumstämmen, die vor der Stützmauer aus Seeländerkalk lagern, einen weiteren Fortschritt seiner Zeit? Möglicherweise

46 BEZG N° 02/10 hat er Telegrafenstangen dargestellt, welche zur Konstruktion der Telegrafenlei­ tung – wie sie auch durch Ins führte – bereit gelegt wurden? Albert Anker war – als er die beiden Schulbilder malte – als Mitglied der Schulkommission und zeitweise deren Sekretär (1893 – 1899) sowie als Kirchge­ meinderat in Ins und Mitglied des Grossen Rates des Kantons Bern (1870 – 1874) bestens vertraut mit schulischen Belangen. Als Familienvater einer sechsköpfi- gen Familie war er aber auch auf Auftraggeber angewiesen und malte das, was die damalige Bildungselite als ihre Errungenschaften dargestellt haben wollte: So sitzen in der «Dorfschule von 1848» saubere, wohl gekleidete Kinder18 – wie sie vermutlich selbst am Examenstag nicht anzutreffen waren – in den Schulbän­ ken und zeugen von den Verdiensten der Regierung um das öffentliche Schul- wesen.19 In unzähligen Bildern mit strickenden Mädchen und jungen Frauen dokumentierte Anker – auch seine Frau engagierte sich als Präsidentin des Frau- encomités im schulischen Bereich – auch auf vielseitigen Wunsch seiner Auf- traggeber, welcher Stellenwert dieser weiblichen Tätigkeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingeräumt wurde. Als Vertreter des Bürgertums hiess An- ker die Entwicklung zur arbeitsteiligen Gesellschaft mit Beförderung eines weib- lichen Arbeitsbereiches gut und formulierte auch brieflich prägnant, dass man «besonders die Mädchen mit diesen vermaledeiten Schulen» verderbe; er ärger­te sich auch über das rigorose Absenzensystem, welches den Mädchen nicht mehr erlaube, ihm Modell zu sitzen, weil sie in der Schule nicht fehlen durften.20 Aber aus einem Schulkommissionsprotokoll ist uns auch seine Betroffenheit darü- ber überliefert, dass der körperlichen Bildung der Inser Mädchen wenig Beach- tung geschenkt wurde: Er hielt explizit fest, dass am Turnfest 1896 die benach- barten Erlacher Mädchen «gymnastische Uebungen mit Reigen und mit Stab» aufgeführt hätten, und beschrieb, wie die Inser Mädchen bedauerten, dass sie sich «am Fest nicht beteiligen konnten».21 Ob der Maler den militärischen Drill, dem die zur gleichen Grösse zurechtgestutzte Bubenschar unterworfen wird, gutgeheissen hat, kann allerdings nicht schlüssig beantwortet werden. Die Bildquellen Ankers sind schillernde Beispiele dafür, wie sich ein aktiver Zeitzeuge mit der sich formierenden Volksschule, der Modernisierung, die in alle Lebensbereiche eindrang, auseinandergesetzt, aus dieser jahrzehntelangen Entwicklung ihm wichtig scheinende Aspekte wertend ausgewählt und im ein- zelnen Bild verdichtet hat.

Kellerhals: Schule 47 Albert Anker, Das Schulexamen, 1862, Öl auf Leinwand, 103 x 175 cm, Kat. Nr. 61 [Ausschnitt]. – Staat Bern, Kunstmuseum Bern.

48 BEZG N° 02/10 Anmerkungen 1 Auftraggeber für die Illustration zu ausgewählten Werken von Gotthelf, einer «Gotthelf- Prachtausgabe», war der Neuenburger Verleger Frédéric Zahn in La Chaux-de-Fonds. Siehe dazu ausführlich den Beitrag von Christian von Zimmermann in diesem Themenheft. Jeremias Gotthelf (Albert Bitzius) arbeitete ab 1832 am ersten Berner Primarschulgesetz mit, war Mitglied der Schulkommission von Lützelflüh und bis 1845 Schulkommissär. 2 Müller, Dominik: Keller und Hodler, Gleyre und Meyer, Böcklin und … – Begegnungen und Konstellationen zwischen Literatur und bildender Kunst in der Schweiz des späten neun- zehnten Jahrhunderts. In: Klemm, Christian (Hrsg.): Von Anker bis Zünd. Die Kunst im jungen Bundesstaat 1848 – 1900. Zürich 1998, 73 – 95, 108. 3 Kellerhals, Katharina: Der gute Schüler war auch früher ein Mädchen. Schulgesetzgebung, Fächerkanon und Geschlecht in der Volksschule des Kantons Bern 1835 – 1897. Bern 2010 (im Druck). 4 Schulordnung für die öffentlichen Primarschulen, Bern 1862. 5 Siehe dazu allgemein: Suter, Marcel: Haltung und Bewegung. In: Mesmer, Beatrix (Hrsg.): Die Verwissenschaftlichung des Alltags. Anweisungen zum richtigen Umgang mit dem Körper in der schweizerischen Populärpresse 1850 – 1900. Zürich 1997, 177 – 197. 6 Lüthi, Emanuel: Jubiläumsbericht der Schweiz. permanenten Schulausstellung in Bern 1878 – 1903. Bern 1903. 7 1895 besuchten in Ins 268 Kinder die Primarschule, die von 6 Lehrkräften unterrichtet wurden; die Lehrerinnen verdienten jährlich 1020, die Lehrer 1550 Franken und erhielten zusätzlich eine Entschädigung von 300 Franken für Wohnung, Holz und Pflanzland. Huber, Albert: Schweizerische Schulstatistik 1894/95. Zürich 1895, Bd. 2. 8 Gesetz über die öffentlichen Primarschulen des Kantons Bern. Bern 1870, 15. 9 Kellerhals (wie Anm. 3). 10 Vogel, Matthias: Idealistischer Naturalismus oder naturalistische Idylle. Die Schweizer Genre- malerei des neunzehnten Jahrhunderts im internationalen Kontext. In: Klemm (wie Anm. 2), 25 – 61, 56. 11 Hans Lüthy attestiert dem Maler für diese Darstellung eine «gekonnt» geführte Bildregie (Lüthy, Hans A.: Albert Anker. Welt im Dorf, Dorf in der Welt. In: Kuthy, Sandor; Lüthy, Hans A. [Hrsg.]: Albert Anker: zwei Autoren über einen Maler. Ausstellungskatalog Kunsthaus Zürich. Zürich 1980, 11 – 43, 23); für Hans Zbinden handelt sich um eine «hilflose» Komposition (Zbinden, Hans: Albert Anker in neuer Sicht. Bern 1961, 19). 12 Schneeberger, Elisabeth: Schulhäuser für Stadt und Land. Der Volksschulbau im Kanton Bern am Ende des 19. Jahrhunderts. Bern 2005. 13 Niggeler, Johann: Turnschule für Knaben und Mädchen. Erster Theil. Das Turnen für die Elementarklassen. Zürich 1861. 14 Schmalenbach, Werner: Das Turn- und Sportgerät: Funktion und Form – einst und jetzt. Ausstellung im Gewerbemuseum Basel: 16. Juni bis15. Juli 1945. Basel 1945. 15 Der Kanton Bern erreichte nur den 21. Rang. Die Resultate der Kantone wurden in der Folge alljährlich und medienwirksam diskutiert. Kellerhals, Katharina; Crotti, Claudia: «Mögen sich die Rekrutenprüfungen als kräftiger Hebel für Fortschritt im Schulwesen erweisen!» PISA im 19. Jahrhundert: Die schweizerischen Rekrutenprüfungen – Absichten und Auswirkungen. In: Schweizerische Zeitschrift für Bildungswissenschaft 1, 2007, 47 – 78. 16 Niggeler (wie Anm. 12), 3. 17 Kellerhals (wie Anm. 3).

Kellerhals: Schule 49 18 «Die Farben der Kindskleider sind vielfach erdfarben, die Mädchen haben für die Schule ein enormes Fürtuch auf dem man die Tintenflecken nicht sehen soll. Ein trauriges Zeug!» Schneider, Thomas Franz (Hrsg.): Albert Anker (1831 – 1910) an Alfred Bohny-Collin (1852 – 1922): Die Briefe des alternden Malers an seinen Basler Sammler (1891 – 1908). Basel 2003, 33. 19 Die Berner Regierung kaufte1862 das Bild «Das Schulexamen» und 1893 «Die Armensuppe». 20 Anker in Schneider (wie Anm. 18), 36. 21 Anker in Wellauer, Wilhelm: Aus den Schulprotokollen von Maler Albert Anker. In: «Kleiner Bund». Bern 1944. Nr. 48/1944, 8.

50 BEZG N° 02/10 Lesen und Vorlesen bei Albert Anker Gerrendina Gerber-Visser

«Lesen» ist ein häufiges Thema auf den Bildern Albert Ankers. Der Maler hat verschiedene Arten der Lektüre dargestellt: Männer lesen die Zeitung, junge Frauen lesen Bücher, Mädchen lesen Briefe, Kinder lesen in ihren Schulbüchern, ältere Menschen lesen in der Bibel oder – eine besondere Lesesituation – Kinder lesen vor. Diese wiederholte Darstellung lesender Menschen lässt vermuten, dass die Menschen in Ankers Umgebung lasen bzw. dass der Maler die Lektüre als wesentliche Beschäftigung seiner Mitmenschen wahrnahm. In diesem Zusammenhang interessiert vorab das persönliche Verhältnis des Malers zu Büchern und Zeitungen. In einem ersten Abschnitt wird deshalb eine Annäherung an Albert Anker als Leser versucht. Anschliessend sollen die auf seinen Bildern am häufigsten dargestellten Lesesituationen kommentiert und historisch situiert werden. Weshalb lesen viele Männer auf den Ankerbildern die Zeitung – und welche Zeitung lesen sie? Weshalb werden mehrere junge Frauen mit einem Buch in der Hand dargestellt – und was könnten das für Bü- cher sein?

Anker als Leser Wer Ankers Atelier in Ins besucht, kann dort auch die noch vorhandene grosse Bibliothek des Malers sehen. Nachfahren des Malers haben ein erstes Verzeich- nis der vorhandenen Werke erstellt, das für diese Studie beigezogen werden konnte.1 Anlässlich des 150. Geburtstages Albert Ankers fand in der Schweizerischen Nationalbibliothek – damals noch Landesbibliothek genannt – eine Ausstellung zu «Albert Anker und das Buch» statt.2 Die Ausstellung beschäftigte sich einer- seits mit seinen Illustrationen zu Gotthelfs Schriften,3 andererseits zeigte sie in vier Vitrinen Bücher aus Ankers Bibliothek. Für die Präsentation ausgewählt wurden damals Werke zu Kunst, Archäologie, Philosophie, Kulturgeschichte und literarische Werke. Die französischsprachigen Bücher überwiegen, was al- lerdings nicht weiter erstaunt, da Anker zweisprachig aufgewachsen war und jeweils den Winter in Paris verbrachte.4 Der Maler las als ausgebildeter Theo- loge aber auch Lateinisch, Altgriechisch und Hebräisch. So hat es ihm denn auch grosse Freude bereitet, als ihm 1900 sein Freund Ludwig Hürner einen zu seinen Ehren lateinisch verfassten Brief zustellte. Anker hat den Brief ins Deut- sche übersetzt, damit ihn auch weitere Freunde lesen konnten.5 Damit ist nicht nur dokumentiert, dass der Maler die alten Sprachen noch im hohen Alter konnte (er las kurz vor seinem Tod in einer hebräischen Bibel), es ist zugleich ein Hinweis auf eine weitere häufige Beschäftigung Ankers mit dem geschrie-

Gerber-Visser: Lesen 51 Ausschnitt von Ankers Bibliothek. Foto Badri Redha, Archäologischer Dienst des Kantons Bern.– Stiftung Albert Anker-Haus Ins.

Ankers Lesebrille mit einem Buch aus seiner Biblothek: «Darvin, Charles, L’Origine des Espèces, Paris, 1873». – Stiftung Albert Anker-Haus Ins.

52 BEZG N° 02/10 benen Wort: Er führte bis zu seinem Tode, sogar als die Folgen eines Schlagan- falls ihn stark beeinträchtigten, eine umfangreiche Korrespondenz.6 Die Bücherauswahl aus Ankers Bibliothek, die in der erwähnten Publikation bibliographiert wurde, enthält neben älteren Werken, wie Lavaters Geheimes Tagebuch (1772)7 oder Sternes Voyage sentimental en France (1768), zeitgenös- sische literarische Werke des 19. Jahrhunderts, so beispielsweise Romane von Balzac und Zola.8 Obwohl Anker zeitgenössische Literatur las, bevorzugte er im Alter klassische, philosophische und theologische Texte. Auch nach seinem Schlaganfall im Jahr 1901 las er weiterhin viel.9 Die Beschäftigung mit philoso- phischen und religiösen Texten war ihm ein grundlegendes Bedürfnis.10 So schrieb er 1903 an seinen Freund: «Ich habe mich in neuere Lektüre verstiegen, aber wenn ich etwas von den Griechen wiedersehe, so kommt es mir vor, dies sei der wahre Jakob.»11 Albert Ankers grosses historisches Interesse ist in der Bibliothek im Anker- haus dokumentiert, indem die Bücherregale zahlreiche Geschichtswerke und Biografien bekannter Persönlichkeiten aus allen Epochen enthalten. Eine Stich- probe von 106 ausgezählten Titeln (jeder 10. Titel auf der unveröffentlichten Liste) ergab 28 % der Werke, die dieser Kategorie zuzurechnen sind.12 Mit 24 % etwa gleich stark vertreten ist die Belletristik, gefolgt von 11 % theologischen Bü- chern. Eine ähnliche Verteilung ergab eine zweite partielle Auszählung, nämlich die vier ersten Seiten der alphabetischen Liste (156 Werke, Buchstaben a und b): 32 % Geschichte und Biografien, 29 % Belletristik und 11 % theologische Bücher). Zudem ist die antike Literatur in Ankers Bibliothek gut vertreten (9 % bzw. 6 %), es finden sich zahlreiche Reisebeschreibungen (8 % bzw. 6 %), kunstgeschichtli- che und naturwissenschaftliche Werke sowie einzelne in keine dieser Kategorien einzuordnende Bücher, wie Ratgeberliteratur oder Wörterbücher.13 Anker war jedoch nicht nur Bücherleser, sondern auch Zeitungsleser. Ein Familienfoto von 1901 zeigt Anker, wie er sich vor seinem Haus im Kreis der Familie der Zeitungslektüre widmet.14 In einem Brief aus dem Jahre 1903 gab er zwar zu bedenken, dass Zeitungen nicht zur einzigen Lektüre werden soll- ten, auch wenn das der «Geschmack unserer Zeit» sei,15 doch Anker interessierte sich zeitlebens für das Geschehen in der Welt und war sensibel für Fragen der sozialen Gerechtigkeit.16 Obwohl Mitglied der Schulkommission in Ins und wäh- rend dreieinhalb Jahren Grossrat (von 1870 bis 1874), wo er sich vor allem durch sein Engagement zugunsten der Gründung des Kunstmuseums Bern hervorge- tan hat,17 fühlte sich Anker nicht als Politiker. So schrieb er nach seiner Wahl in den Grossen Rat an Durheim: «Um von Etwas Heiterem zu sprechen, muss

Gerber-Visser: Lesen 53 Ankers letzte vor seinem Tod gelesene Buchseite: «Im Alter wirst du zu Grabe kommen, wie die reifen Garben eingefahren werden». Genesis, Hiob, 5.26, hier als Übersetzung des hebräischen Originals. Foto Badri Redha, Archäologischer Dienst des Kantons Bern. – Stiftung Albert Anker-Haus Ins.

54 BEZG N° 02/10 ich Ihnen melden, dass ich zum Grossrath ernannt worden bin; […] Und nun muss ich an die Nov. Sitzung; es ist bei Gott lächerlich, denn ich gehöre nicht hieher und sollte eher zu Hause schaffen.»18 Anker war regelmässiger Leser der Neuenburger Suisse libérale und der Berner Volkszeitung.19 Die Berner Volkszei- tung hatte in den 1860er-Jahren eine radikale, später, um 1880, eine christlich- konservative Ausrichtung.20

Zeitung lesende Männer Wenn wir uns nun den Lesesituationen auf den Bildern Ankers zuwenden, so fällt auf, dass gerade das Zeitungslesen wiederholt dargestellt wird. Es sind Män- ner, Bauern aus Ins und Umgebung, die in der Zeitung vertieft oder mit einer Zeitung in der Hand gemalt wurden. Die meisten Leser sind ältere Männer und tragen dementsprechend Lesebrillen. Auf der Mehrzahl der Bilder ist keine zu- sätzliche Lichtquelle erkennbar, sodass angenommen werden darf, dass tags- über gelesen wurde.21 Auf einem Bild, «Die Bauern und die Zeitung» von 1867, steht die Uhr auf drei Uhr, es ist also mitten am Nachmittag.22 War es Sonntag? Und las der Zeitungsleser auf diesem Bild den beiden andern Anwesenden ge- wisse Abschnitte vor? Die Forschung ist sich über die Häufigkeit solcher Vor- lese-Akte nicht einig,23 doch ist die Annahme, dass wenn nur eine Zeitung zur Verfügung stand, auch mal vorgelesen wurde, durchaus plausibel. Auf einigen Bildern lässt sich erkennen, um welche Zeitung es sich handelt. So sehen wir beispielsweise auf dem Ölbild «Der Zeitung lesende alte Feissli», das 1900 ent- standen ist, dass der alte Mann den Seeländer Boten liesst.24 Auch auf einem be- reits 1878 entstandenen Bild ist dieselbe Zeitung erkennbar.25 Der Seeländer Bote wurde 1850 im Rahmen der politischen Auseinandersetzungen zwischen Radi- kalen und Liberalkonservativen gegründet, als liberalkonservatives Blatt und als Gegenstück zum radikalen Seeländer Anzeiger.26 Seit den 1830er-Jahren la- sen immer mehr Leute Zeitungen.27 Es kam in dieser Zeit zu zahlreichen Zei- tungsgründungen. Gab es 1829 in der ganzen Schweiz erst 38 Zeitschriften und politische Zeitungen, so waren es 1860 bereits 298 Zeitungen und Zeitschrif- ten.28 Auch der Seeländer Bote fand rasch eine breite Leserschaft. Messerli zi- tiert den Müllergesellen Peter Binz, der 1866 in der Nähe von St. Imier in einem Müllerhaushalt angestellt war, in dem für die Angestellten neben den Basler Nachrichten auch der Seeländer Bote abonniert war.29 Die politische Ausrichtung der auf den Bildern dargestellten Zeitung deckte sich weitgehend mit jener der von Albert Anker selbst gelesenen Berner Volkszeitung. Wenn Anker also wieder- holt die Lektüre des Seeländer Boten malte, dokumentierte er damit nicht nur

Gerber-Visser: Lesen 55 Albert Anker liest Zeitung. Postkarte Gruss aus Ins – Kunstmaler Anker, um 1900 [Ausschnitt]. – Sammlung André Weibel, Ansichtskartenarchiv Lausen.

56 BEZG N° 02/10 Albert Anker, Zeitungsleser, 1878, Öl auf Leinwand, 61 x 48 cm, Kat. Nr. 251 [Ausschnitt]. – Musée d’art et d’histoire, Neuchâtel (Donation Alfred Borel, Bâle).

Gerber-Visser: Lesen 57 ein Stück Alltagsgeschichte, sondern bis zu einem gewissen Grad seine eigene politische Ausrichtung.

Bücher lesende junge Frauen Das Gleiche gilt für die zweite häufig anzutreffende Lesesituation. Auf etlichen Bildern sehen wir jüngere, ein Buch lesende Frauen. Meistens ist nicht zu erken­ nen, um was für Bücher es sich handelt. Eines dieser Bilder heisst «Eine Gott- helf Leserin».30 Es gab im 19. Jahrhundert eine ganze Reihe von Ratgebern für die Mädchen- erziehung, die sich mit den Lesepraktiken junger Frauen befassten. Diese Rat- geber waren zwar eher an eine bürgerliche Mittel- und Oberschicht gerichtet als an eine bäuerliche Bevölkerung,31 in ihrer Tendenz betrafen diese Empfehlun­ gen aber auch die (in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Regel durch- aus lesekundigen) Mädchen und Frauen auf dem Land.32 Bürgerliche Eltern betrachteten die Lektüre ihrer Töchter oft eher skeptisch. Deshalb sollte sie zeitlich begrenzt sein und inhaltlich nicht nur unterhalten, sondern der Gemütsbildung dienen. Sie durfte nicht im Widerspruch zur (spä- teren) Aufgabe der Frauen als Hausfrauen und Mütter stehen. Kein Wunder also, dass es auf den Ankerbildern keine Zeitung lesenden jungen Frauen gibt: Politi­ sche Bildung gehörte nicht zum Erziehungsziel für junge Frauen. Hingegen war gerade die Lektüre von Gotthelf-Romanen für Bauerntöchter durchaus passend. Der Sekundarlehrer Laurentius Bühler zählte 1867 denn auch die Gotthelf-Ro- mane zu jenen Büchern, die in keiner Volksbibliothek fehlen sollten.33 Damit ist zugleich die Frage angesprochen, wie junge Frauen auf dem Land zu ihrem Le- sestoff kamen. Es gab bereits 1866 im Kanton Bern 173 Jugend- und Volks­ bibliotheken.34 Offenbar wurden die Volksbibliotheken rege benutzt. Manche Bibliothekare klagten über eine regelrechte «Lesewuth und verdorbenen Ge- schmack, besonders bei der weiblichen Jugend».35 Andererseits dienten gerade die Volksbibliotheken der Bereitstellung von «sinnvollem» Lesestoff. Neben den erwähnten Werken Gotthelfs gehörten laut Bühler auch Werke zur Schweizer- geschichte, Biographien, Volkskalender, Gedichte, Novellen und natürlich Ro- mane wie Pestalozzis Lienhard und Gertrud (1781) dazu.36 Die Bücher lesenden jungen Frauen auf Ankers Bilder sind unter diesen As- pekten betrachtet sicher – wie die Zeitung lesenden Männer – realistische Sze- nen aus dem alltäglichen, oder zumindest sonntäglichen, Landleben. Zugleich vermitteln sie aber auch zeitgenössische Wertvorstellungen bezüglich der Er- ziehung der Frauen.

58 BEZG N° 02/10 Albert Anker, Rosa und Bertha Gugger, 1883, Öl auf Leinwand, 65,5 x 54,5 cm. Kat. Nr. 303 [Ausschnitt] – Sammlung Christoph Blocher.

Gerber-Visser: Lesen 59 Vorlesen Auf vielen Bildern finden sich Szenen, in denen wahrscheinlich erzählt wird, wo beispielsweise Grosseltern ihren Enkeln Geschichten erzählen.37 Etwas sel- tener wird vorgelesen. Das Bild der Bauern mit der Zeitung wurde bereits er- wähnt. Auf dem Werk «Die Andacht des Grossvaters» aus dem Jahr 1893 liest ein Knabe einem alten Mann vor.38 Ob der Grossvater selber nicht mehr lesen kann, bleibt offen; eine altersbedingte Leseschwäche als Hintergrund für diese Szene ist eine naheliegende Vermutung. Was hier interessiert, ist insbesondere das laute Vorlesen des Jungen. Die allermeisten Leute im Kanton Bern konnten im 19. Jahrhundert zwar lesen,39 das laute Vorlesen mit der richtigen Betonung und einem sinngemässen Innehalten bei Satzzeichen war aber ein Lernziel, das längst nicht bei der Mehrzahl der Schülerinnen und Schüler erreicht wurde. So schrieb der bernische kantonale Schulinspektor, Jakob Egger, 1860 in seinem Bericht, es müsse insbesondere auf ein «verständiges und ausdruckvolles Lesen hingearbeitet werden», was offensichtlich nicht der Normalfall war.40 Der be- sondere Vorlese-Akt, den Anker hier dargestellt hat, dürfte in früheren Jahrzehn- ten noch häufiger gewesen sein, in einer Zeit nämlich, als die Lesekompetenz der Kinder jene der Erwachsenen merklich überstieg, was zwischen 1750 und 1830 noch oft der Fall war.41 Messerli weist zudem darauf hin, dass das Vorle- sen auch oft Kindern als «Arbeit» übertragen wurde, wenn ein Bedürfnis nach Lektüre bestand. Indem die Kinder vorlasen, konnten die Eltern sich ihren Auf- gaben, z. B. in der textilen Heimarbeit, widmen.42 Leider können wir dem vorlesenden Knaben auf dem Bild nicht zuhören, doch auch eine genauere Betrachtung der beiden Personen ist durchaus auf- schlussreich. Der Enkel wirkt konzentriert, aber das Lesen scheint ihn nicht be- sonders anzustrengen. Er folgt dem Verlauf der Sätze nicht mit dem Finger, son- dern hält das Buch – auf Grund des Titels des Bildes wohl die Bibel – mit beiden Händen. Auch runzelt er nicht etwa die Stirn, was bei grosser Anstrengung zu erwarten wäre. Der Grossvater hört andächtig zu. Man darf davon ausgehen, dass der Junge so gut laut las, dass der ältere Mann tatsächlich dem Vorgelese- nen folgen konnte. So gesehen dokumentiert diese Szene nebenbei die Fortschritte der Volks- schule im 19. Jahrhundert, indem sie darstellt, wie ein Grundschüler fähig ist, «verständig» zu lesen.43

60 BEZG N° 02/10 Albert Anker, Die Andacht des Grossvaters, 1893, 63 x 92 cm. Kat. Nr.483. – Kunstmuseum Bern.

Gerber-Visser: Lesen 61 Ankers Bilder verweisen auf die Verbreitung und den Konsum von Drucker- zeugnissen im ländlichen Kanton Bern gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Auf die verbreitete Lektüre der Bibel und anderer religiöser Schriften wurde in die- sem Beitrag nicht eingegangen, doch auch sie hat der Maler auf mehreren Bil- dern dargestellt.44 Die Leseszenen profaner Literatur sind plausibel, wenn sie auch nichts darüber aussagen, wie oft ein Bauer tatsächlich dazu kam, eine Zei- tung zu lesen, oder wie lange ein Mädchen oder eine junge Frau sich in Tat und Wahrheit mit ihrer Lektüre beschäftigen durfte. Sie suggerieren ein positives Verhältnis zur Lektüre, das sicher über den Einzelfall hinaus bestehen konnte. Zwar war die individuelle Lektüre auch zeitlichen Beschränkungen und Rest- riktionen unterworfen, was anhand der Mädchenlektüre angedeutet wurde. Die Berner Landbevölkerung, die auf diesen Szenen dargestellt wird, suchte und fand zu jener Zeit aber durchaus breiten Zugang zu Zeitungen und über die Volksbibliotheken zur Belletristik und anderen Literaturgattungen. Die Lese- Motive, die Anker gemalt hat, sind entsprechend durchaus auch Abbilder einer historischen Realität.

Anmerkungen 1 Die bislang unveröffentlichte Liste ist im Besitz der Stiftung Albert Anker-Haus Ins. Sie wurde erstellt von Ankers Grosstöchtern Dora Brefin-Oser und Elisabeth Oser und ergänzt von Matthias Brefin, dem ich an dieser Stelle dafür danken möchte, dass ich diese Liste einsehen konnte. Erwähnt wird sie auch bei Meister, Robert: Albert Anker und seine Welt. Briefe – Dokumente – Bilder. Bern 1981, 120. Zu Ankers Bibliothek siehe auch: Aeberhardt, Werner: Die Bibliothek Albert Ankers. In: Die Illustrierte der «Neuen Berner Zeitung» 10 (10.3.1957), 22. 2 Dazu: Albert Anker und das Buch. Ausstellung in der Schweizerischen Landesbibliothek. April und Mai 1981. Texte Robert Wyler. Bern 1981. 3 Siehe dazu den Beitrag von Christian von Zimmermann in diesem Themenheft. 4 Siehe dazu den Beitrag von Beat Gugger in diesem Themenheft. 5 Siehe dazu Meister (wie Anm. 1), 147–150. 6 Die Korrespondenz Ankers wird in der Burgerbibliothek Bern aufbewahrt. Siehe auch den Beitrag von Annelies Hüssy in diesem Themenheft. 7 Anker hatte eine grosse Vorliebe für das Werk J. C. Lavaters. Siehe dazu Meister (wie Anm. 1), bes. 91 und 121. 8 Wyler (wie Anm. 2). 9 Anker an Hürner, Brief vom 3. Mai 1902, zitiert nach Meister (wie Anm. 1), 160. 10 Anker an Hürner, Brief vom 8. Oktober 1902, zitiert nach Meister (wie Anm. 1), 163f. 11 Anker an Hürner, Brief vom Januar 1903, zitiert nach Meister (wie Anm. 1), 166. 12 Die Zuordnung war nicht in allen Fällen ganz sicher, weil die bibliographischen Angaben zur Zeit noch unvollständig sind. Die 106 (Stichprobe, jedes 10. Buch) bzw. 156 (Buchstaben a und b) ausgezählten Titel wurden in die Kategorien Geschichte und Biographien, Theologie, Belletristik,

62 BEZG N° 02/10 antike Literatur, Kunstgeschichte, Ratgeberliteratur, Wörterbücher, Naturwissenschaft und Diverse eingeteilt. Nicht berücksichtigt wurden Zeitschriften und Periodika. Die ganze Liste ist 22 Druckseiten lang. 13 Unveröffentlichte Liste (wie Anm. 1). 14 Abgebildet bei Meister (wie Anm. 1), 155. 15 «Über deinen Tadel gegenüber unserem Freund habe ich noch nachgedacht: Er liest kein Buch mehr, begnügt sich mit der Zeitungslektüre. Du lieber Gott: das ist nun der Geschmack unserer Zeit. Die Zeitung ersetzt alle andere Lektüre!!!» Anker an Frau Ehrmann, Brief vom 7. September 1903, zitiert nach Meister (wie Anm. 1), 169. 16 Meister (wie Anm. 1), 119f. 17 Dazu: Kehrli, Jakob Otto: Der Maler Albert Anker als Grossrat des Kantons Bern. Zum 40. Todestage des Künstlers am 16. Juli. In: Der kleine Bund, Literatur- und Kunstbeilage des «Bund». 1950, Nr. 324, 14. Juli, 6–7. 18 Anker an Durheim, Brief vom 15. Oktober 1870, zitiert nach Zbinden, Hans: Albert Anker in neuer Sicht. Bern 1961, 32. 19 Meister (wie Anm. 1), 90. 20 Bollinger, Ernst: Berner Volkszeitung. In: e-HLS, www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D43173.php. 21 Sicher tagsüber liest auch der Bauer auf dem Ölbild «Zeitung lesender Bauer am Fenster», von dem mehrere Fassungen existieren. Kuthy, Sandor; Bhattacharya-Stettler, Therese: Albert Anker (1831–1910). Werkkatalog der Gemälde und Ölstudien. Catalogue raisonné des oeuvres à l’huile (Hrsg. Kunstmuseum Bern). Basel 1995, 164 Nr. 285. Eine Kerze als Lichtquelle findet sich hingegen auf dem Ölbild «Bauer, im Bett lesend», ebenda Nr. 283. 22 Kuthy / Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 21), 95 Nr. 105. 23 Siehe Messerli, Alfred: Lesen und Schreiben 1700 bis 1900. Untersuchung zur Durchsetzung der Literalität in der Schweiz. Tübingen 2002, bes. 441–443. 24 Kuthy / Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 21 ), 244 Nr. 570. 25 «Zeitungslesender Bauer», 1878, Öl, 61 x 48 cm. Musée d’art et d’histoire, Neuchâtel. 26 Nast, Matthias: Eineinhalb Jahrhunderte Informationsvermittlung. 150 Jahre W. Gassmann AG, In: Bieler Jahrbuch 2000, 132–140, hier, 133f. 27 Messerli (wie Anm. 23), 99. 28 Zahlen aus: Bilder aus der Heimat und Fremde. Ein Monatsblatt zur Unterhaltung und Belehrung. Gratisbeilage zur Bülach-Regensberger Wochen-Zeitung (1860), zitiert nach Messerli (wie Anm. 23), 401, Anm. 286. Siehe exemplarisch die enorme Leserzunahme bei den Bernischen Blättern für die Landwirtschaft: Flückiger, Daniel: Zeitungen und Schulen für den fort- schrittlichen Landwirt – Albert von Fellenberg-Ziegler. In: Stuber, Martin; Moser, Peter; Gerber- Visser, Gerrendina; Pfister, Christian (Hrsg.): Kartoffeln, Klee und kluge Köpfe. Die Oekonomische und Gemeinnützige Gesellschaft des Kantons Bern OGG (1759–2009). Bern 2009, 171–174. 29 Messerli (wie Anm. 23), 403. 30 «Die Gotthelfleserin»,1884. Kuthy / Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 21), 165 Nr. 320. Ein weiteres Bild aus dem Jahr 1898 trägt den gleichen Titel. Ebenda, 236 Nr. 547. Zu Gotthelfs Werken hatte Anker selbst ein besonderes Verhältnis. In seiner Bibliothek finden sich zahlreiche Gotthelf-Romane und Erzählungen. Die Illustrationen der von Otto Sutermeister herausgegebe- nen Gotthelf-Ausgabe sind in den 1890er-Jahren entstanden. Siehe dazu Wyler (wie Anm. 2) und den Beitrag von Christian von Zimmermann in diesem Themenheft. 31 Siehe dazu Barth, Susanne: «Buch und Leben [müssen] immer neben einander Seyn – das Eine

Gerber-Visser: Lesen 63 erläuternd und bestätigend das Andere.» Zur Lesererziehung in Mädchenratgebern des 19. Jahrhunderts. In: Grenz, Dagmar; Wilkending, Gisela (Hrsg.): Geschichte der Mädchenlektüre. Mädchenliteratur und die gesellschaftliche Situation der Frauen. München 1997, 51–71. 32 Lesende Mädchen bürgerlicher Herkunft sind auf den beiden Bildern «Lesendes Mädchen 1883» Kuthy / Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 21), 161, Nr. 306, und «Lesendes Mädchen 1883», ebenda, Nr. 307. 33 Bühler, L.: Referat über Volksliteratur und Presse. Vorgetragen vor versammelter kantonaler gemeinnütziger Gesellschaft des Kantons Bern den 14. November 1867. Bern 1867, 15. 34 Ebenda, 10. 35 Ebenda, 11. 36 Bühler (wie Anm. 33), 15. 37 «Der Grossvater erzählt eine Geschichte». Kuthy / Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 21), 163 Nr. 315. 38 Kuthy / Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 21), 215 Nr. 483. 39 Siehe dazu Messerli (wie Anm. 23), 328–341; Grunder, Hans-Ulrich: Artikel Alphabetisierung. In: e-HLS, hls-dhs-dss.ch/textes/d/D10394.php. 40 Egger, zitiert nach Messerli (wie Anm. 23), 326. 41 Messerli (wie Anm. 23), 454. 42 Ebenda, 453. Das Bild «Sonntag Nachmittag» ist bereits 1862 entstanden. Auch auf dieser Darstellung hat man den Eindruck, das Mädchen lese deutlich vor. Sowohl der alte Mann auf dem Ofen als auch das jüngere Mädchen scheinen andächtig zuzuhören. Kuthy / Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 21), 81 Nr. 63. 43 So existieren beispielsweise verschiedene Fassungen eines Bildes betitelt als «Der Bibelleser». Kuthy / Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 21), 122 Nr. 185; ebenda, 139 Nr. 238; ebenda, 178 Nr. 359.

64 BEZG N° 02/10 Muestopf und Kaffeekanne Ein Beitrag zur materiellen Kultur bei Albert Anker Andreas Heege

Die Werke Albert Ankers haben dank eines umfangreichen Werkverzeichnisses und mehrerer grosser Ausstellungen in den letzten Jahren eine hohe Aufmerk- samkeit erfahren.1 Sein Leben und die seinen Bildern zu Grunde liegenden künstlerischen und, sehr zurückhaltend, theologischen oder politischen Motive sind in verschiedensten Veröffentlichungen untersucht worden.2 Hierbei taucht immer wieder die Frage auf, ob Anker als «Spätromantiker» oder als ein dem «Realismus» verpflichteter Maler gesehen werden muss. Will man sich dieser Frage nähern, so ist u.a. eine Analyse der von Anker gemalten Gegenstände, der materiellen Kultur auf seinen Bildern, unerlässlich. Im Folgenden soll daher die in seinen Bildern dargestellte Keramik aus dem Blickwinkel eines Neuzeit-Ar- chäologen einer Betrachtung unterzogen werden. Legt man das Werkverzeichnis der Ölgemälde und -studien zu Grunde, so findet sich zwischen 1857 und 1902 Keramik auf immerhin 103 von 795 ver- zeichneten Werken. Berücksichtigt man die bislang unvollständig veröffentlich- ten Aquarelle und Studien,3 so kommen zehn weitere Bilder hinzu. Keramik spielt also auf Ankers Bildern eine wichtige Rolle. Wir finden Keramik u.a. als Staffage, als Teil der Szene, eher unbedeutend im Hintergrund, z.B. auf der ersten «Gemeindeversammlung» (1857),4 der «Strickschule» (1860) 5 bzw. dem «Wucherer» von 1883.6 Oder sie ist, wie auf seinem ersten und allen folgenden 35 Stillleben bzw. Stillleben-Bildpaaren zwi- schen 1866 und 1902 dominant zur Charakterisierung der zwei Welten einge- setzt, zwischen denen sich Ankers Leben und Werk abspielten: Auf der einen Seite befand sich die bäuerliche Welt in Ins, auf der anderen Seite die bürger- liche Welt seiner Käufer und Auftraggeber, die zugleich seiner eigenen Lebens- welt nahegekommen sein dürfte; nicht nur in Paris und in Neuchâtel, sondern auch in Ins pflegten Anker und seine Familie ja in vielerlei Hinsicht bürgerliche Lebensformen.7 In Genrebildern wie «Einsamkeit» (1865) und «Die ersten Schritte» (1886)8 erscheinen die Schüsseln, Henkeltöpfe und Tassen arrangiert wie in einem Still- leben. In anderen dagegen sind die zeittypischen Schüsseln «Heimberger Art»9 Teil einer Tätigkeit, z.B. Bohnen rüsten oder Kartoffeln schälen.10 Mindestens ebenso häufig finden wir Tassen bzw. Untertassen, Töpfe, Caquelons und Schüs- seln mit Horizontalhenkeln in Verbindung mit Szenen der Nahrungsaufnahme oder des Konsums von Getränken. Besonders einfühlsam führen uns dies das «Kaffee trinkende Mädchen» (1870),11 der verwundete «Bourbaki-Soldat» (1871)12 oder die «Kinderkrippe» (1890)13 vor Augen.14 Oft sehen wir einzeln aus kalottenförmigen Steingut-Tellern essende Kinder15 oder alte Bäuerinnen bzw.

Heege: Muestopf 65 Bauern bei Suppe, Kartoffeln, Käse und Kaffee, die aus Irdenware-Geschirr und Steingut-Ohrentassen essen und trinken.16 Jedoch begegnet man fast nie einer vollständigen Familie am Tisch.17 In Gefässen aus importiertem Steinzeug oder glasierter Irdenware werden auch Lebensmittel wie «Mues» oder «Suurchabis» nach Hause getragen18 oder Früchte gesammelt (Erdbeeren).19 Aber natürlich kann man Geschirr auch zweckentfremden, wie die Tasse in der Hand des «Sei- fenbläsers» von 1873 zeigt.20 Die Kinder des Bürgertums sowie die auf dem Lande spielen mit Miniaturformen des Erwachsenengeschirrs.21 Suppe und Kaffee werden in Schüsseln und Kannen am Feuer oder auf dem Kachelofen warm gehalten.22 Kaffee steht auch am Bett der Wöchnerin.23 Auf dem Kachelofen befindet sich oft das Essigfässchen aus graublauem Steinzeug, mit dem sich der benötigte Essig für die Lebensmittelkonservierung aus Apfel- most oder Weinresten selbst herstellen liess.24 Gehenkelte Töpfe mit Ausguss stehen oft am Herd,25 jedoch finden sich Szenen, in denen gekocht wird, nur ausnahmsweise.26 Für die Aufbewahrung von flachen Schüsseln («Röschti- platte»), Tassen und Untertassen («härdigi Tassli mit Gaffeeplättli») oder sogar Mineralwasserflaschen aus Steinzeug in sekundärer Verwendung27 dienen Teile der sehr einfachen Küchenschränke.28 Aber auch in der Stube29 oder der Kom- bination von Stube und Werkstatt, z.B. beim «Korbflechter» (1896)30 oder beim «Schuster Feissli» von 1870,31 finden sich über oder neben der Tür oder an der Stubenwand oft flache Regale, auf denen Untertassen mit auf den Kopf gestell- ten Tassen stehen. Dies gilt auch für die Darstellung des «Geltstags» (1891), auf dem auch zahlreiche zu versteigernde Röstiplatten, Schüsseln und ein Most- krug aus Steinzeug erscheinen.32 Die Menge an Kaffeegeschirr und das Vorkom- men zahlreicher Röstiplatten entspricht den seeländischen Essgewohnheiten dieser Zeit. Gemeinsames Essen der ganzen Familie aus einer Schüssel galt als «unappetitlich». Küchen- wie Stubeninterieurs bleiben, wie die seltenen Sze- nen mit Waschschüsseln,33 durchgängig dem einfachen, bäuerlich-ländlichen Milieu verbunden. Eine ganz ausserordentliche Geschirrzusammenstellung bieten die Bilder des «Quacksalbers» (1879 bzw. 1881).34 Auf dem Tisch finden sich neben diver- sen Glasflaschen und einem Mörser ein ungewöhnlicher Topf, eine dickbauchige Flasche aus Steinzeug, ein Unterteller mit Münzen und eine Dose mit Stülpde- ckelrand, auf der eine Tasse steht. In das Regal neben und über der Tür sind di- verse Gefässe, u.a. Sirup-Röhrenkannen, d.h. typische Apothekenkeramik, aber auch gehenkelte Töpfe und Tassen sowie ein Pferde- bzw. Menschenschädel ge- stopft. Diese und eine damals mindestens hundert Jahre alte Glasflasche auf

66 BEZG N° 02/10 Albert Anker, Rotkäppchen, 1883, Öl auf Leinwand, 85,5 x 62 cm, Kat. Nr. 308 [Ausschnitt]. – Privatbesitz.

Albert Anker, Der Quacksalber II, 1881, Öl auf Leinwand, 72 x 87,5 cm, Kat. Nr. 279. – Sammlung Christoph Blocher.

Heege: Muestopf 67 dem Tisch stehen, wie der Bildtitel andeutet, vermutlich stellvertretend für die «Rückständigkeit» und die «Unwissenschaftlichkeit» der dörflichen «Apotheke». Auch auf Porträtgemälden oder porträtähnlichen Szenen dient Keramik der gesellschaftlichen Unterscheidung bzw. Charakterisierung. Das bürgerliche In- terieur wird auf dem Knabenbildnis von Fritz Lüthy aus dem Jahr 1900 nicht nur durch das Spielzeug (Zinnsoldat, Spielzeugpferd), sondern vor allem auch durch die ungewöhnliche Kanne (Steingut oder Feinsteinzeug) auf dem Buffet im Hintergrund verdeutlicht.35 Hinter dem erkennbar gut situierten, Stumpen rauchenden Kolonialwarenhändler Franz-Anton Zetter aus steht si- cher nicht von ungefähr ein chinesischer Ingwertopf aus Porzellan im Regal sei- nes Geschäftes.36 Und es ist bestimmt kein Zufall, dass im Bild «Lesendes Mäd- chen» (1883) auf dem kostbaren Glastisch ein polychromer, sechseckiger Blumentopf mit Zimmerpflanze steht37 und auch im Salon von Frau Munzin- ger-Hirt ein bunter Blumenübertopf vorhanden ist.38 Dagegen finden sich im ländlichen Kontext auf den Fensterbrettern drinnen und draussen nur die seit dem 19. Jahrhundert typischen, auf unglasierten Untersetzern stehenden, ko- nischen Blumentöpfe («Meiehäfeli») mit Geranien.39 Albert Anker war ein Ateliermaler. So wie er sich für die Gestaltung seiner Bilder Kinder und Alte aus Ins und Umgebung auswählte, die ihm Modell sas- sen,40 so wählte er auch bei der Darstellung der materiellen Kultur Objekte aus seinem eigenen Umfeld oder sogar aus seinem eigenen Haushalt. Zahlreiche Gegenstände aus Metall, Glas, Keramik oder Holz wurden auf diesem Wege zu lieb gewordene Requisiten, die noch heute in seinem Atelier stehen. Dabei han- delt es sich nicht nur um Objekte, die auf seinen einfach-bäuerlichen Genresze- nen zu sehen sind, sondern auch um solche, die auf seinen bürgerlichen und bäuerlichen Stillleben abgebildet sind. Aufgrund der im Ankerhaus in Ins über- lieferten Gegenstände, Museumssammlungen und archäologischen Funde41 lässt sich erkennen, dass Anker «moderne» Stücke aus seinem Lebensumfeld wählte und diese in den folgenden Jahrzehnten immer wieder, manchmal nur gering variiert, mit grossem Realismus abbildete. So erscheinen einfarbig-rote oder spritzdekorierte und aufwändig bemalte Henkeltöpfe mit Ausguss bereits in sei- ner ersten Version der «Armensuppe» (1859)42, aber auch noch in einem Aqua- rell von 1907.43 Dazwischen bevorzugte er seit 1865 (oft zusammen mit ein- und derselben blechernen Kaffeekanne abgebildet) ein einzelnes rotes, innen weis- ses Exemplar mit blauem Pfauenaugendekor, vermutlich aus Heimberger Pro- duktion.44 Dieses malte er noch mindestens elfmal.45 Zu einem ungewöhnlich grossen Suppentopf verwendete er dasselbe Dekor 1890 und 1893.46 Bereits auf

68 BEZG N° 02/10 Albert Anker, Das erste Lächeln, 1885, Öl auf Leinwand, 62,5 x 46 cm, Kat. Nr. 330 [Ausschnitt]. – Musée d’art et d’histoire, Neuchâtel.

Heege: Muestopf 69 Originale Steinzeugflasche aus dem Atelier des Künstlers. Abgebildet auf dem Bild «Der Quacksalber II». Foto Badri Redha, Archäologischer Dienst des Kantons Bern. – Stiftung Albert Anker-Haus Ins.

Steinzeugfässchen aus Oberdiessbach. Foto Badri Redha, Archäologischer Dienst des Kantons Bern. – Baumann / Zuber Haus Oberdiessbach

70 BEZG N° 02/10 dem Bild von 1865 erscheint daneben ein Henkeltopf mit zeittypischem Längs- streifendekor, wie er auch auf einem vermutlich nach 1901 entstandenen Aqua- rell vorkommt.47 Noch wesentlich häufiger finden sich innen und aussen weiss engobierte und bunt bemalte Tassen und Untertassen, die seit den 1830er-/1840er-Jahren, vor allem aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vollständig dem Stilge- schmack einfacher Bevölkerungsschichten entsprachen. Ab 1860 sind sie oft nur Staffage im Wandregal,48 in den Stillleben und zahlreichen Genreszenen ge- winnen sie jedoch eine enorme Authentizität und Lebensdauer.49 Warum Anker nur diese weissen Tassen und ganz selten auch einmal gelbe Exemplare malte, während andere, gleichzeitig produzierte Tassendekore in rot und beige unbe- rücksichtigt blieben, entzieht sich unserer Kenntnis. Die dargestellten Essigfässchen aus kobaltblau bemaltem Steinzeug finden wie der Muestopf heute keine exakte Entsprechung im Ankerschen Haushalt mehr. Doch lässt sich aufgrund von Exemplaren aus Sammlungen ihre sehr re- alistische Darstellung sichern. Essigfässchen sind ein Produkt des 19. Jahrhun- derts aus den Steinzeugtöpfereien im Elsass (Betschdorf) und im Schwarzwald (z.B. Oppenau).50 Fast fotorealistische Darstellungen finden sich auch für Geschirr aus indus- triell gefertigtem und aufwändig verziertem weissem oder rotem Steingut und Porzellan der bürgerlichen Stillleben, wie u.a. eine im Ankerhaus erhaltene Kaf- feekanne mit Filter aus schwarzem Steingut belegt.51 Die Kanne ist im Werk Septfontaines der Firma Villeroy&Boch gefertigt worden und erscheint dort in einem Verkaufskatalog des Jahres 1888.52 Die Gefässform selbst, die sich in bunt bemaltem Steingut auch auf anderen Bildern Albert Ankers findet,53 ist jedoch älter. Sie lässt sich bereits in einem Katalog der Steingutmanufaktur Schram- berg D aus den 1830er-/1840er-Jahren unter der Bezeichnung «Caffee-Maschine» nachweisen.54 Den Käufern der Ankerschen Bilder aus dem gehobeneren Bürgertum der Region erschlossen sich die Inhalte der Bilder aus eigener Anschauung. Das Bild, das sie von sich selbst hatten, dasjenige des «kultivierten» Stadtbürgers, symbolisierten aufwändig gedeckte Teetische mit Likör oder Südwein, Gebäck und «Schmelzbrötli» (Madeleines), Silber- und Porzellangeschirr, Zuckerscha- len aus damals hochmodernem Pressglas oder metallisch eloxierter Industrie- ware, «exotischen» Milchkännchen und Kaffee-Maschinen zur Filtrierung ech- ten Bohnenkaffees. Diesem stand das Bild von den anderen, den einfacheren, ländlichen Menschen gegenüber, von denen man sich abgrenzen, deren Leben

Heege: Muestopf 71 Albert Anker, Stillleben Kaffee, Öl auf Leinwand, 45 x 59 cm, Kat. Nr. 248 [Ausschnitt]. – Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte, Winterthur.

72 BEZG N° 02/10 Albert Anker, Frühstück: Reich, 1866, Öl auf Leinwand, 41 x 53 cm, Kat. Nr. 103 [Ausschnitt]. – Privatbesitz.

Heege: Muestopf 73 und Arbeiten man aber auch romantisierend als bodenständig und «währschaft» betrachten konnte: Auf dem Holztisch die Blechkanne, der Milchtopf, eine ein- fache, aber bunte Tasse, Brot und vielleicht ein Salzfässchen sowie die Grund- nahrungsmittel der ärmeren Bevölkerungsschichten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Kaffee, Kartoffeln und Käse. Dabei befand sich in der Kaffeekan­ne oft wohl nur ein Kaffeeaufguss aus wenig Bohnenkaffee, verschnitten mit den verschiedensten Surrogaten, wie geröstete Gerste oder Cichorienwurzel (sog. «Päckli-Kaffee»).55 Dabei entsprach dieses Bild der materiellen Haushaltsaus- stattung und Ernährungsgewohnheiten damals sicher nicht nur der bäuerlichen Bevölkerung des Seelandes, sondern auch der der städtischen Unterschichten, Handwerker und Tagelöhner, wie archäologische Bodenfunde, etwa aus Bern und Unterseen, zunehmend deutlich machen.56 Albert Anker erweist sich im Zusammenhang mit der Darstellung der mate- riellen Kultur also als eindeutiger Realist. In der Wahl seiner Themen hingegen – und das heisst vor allem in der Nichtberücksichtigung einer zunehmend in- dustrialisierten, verstädterten Welt mit all ihren sozialen Problemen – erweist er sich als Romantiker, der mit seinen idealisierten, bodenständig-bäuerlichen Bildern den Wünschen seiner bürgerlichen Käuferschaft entsprach.

74 BEZG N° 02/10 Albert Anker, Frühstück: Arm, 1866, Öl auf Leinwand, 41 x 53 cm, Kat. Nr. 104 [Ausschnitt]. – Privatbesitz.

Drei Gegenstände aus dem Atelier des Malers, die wiederkehrend in seinen Werken vorkommen. Foto Badri Redha, Archäologischer Dienst des Kantons Bern. – Stiftung Albert Anker-Haus Ins.

Heege: Muestopf 75 Anmerkungen 1 Kuthy, Sandor; Bhattacharya-Stettler, Therese: Albert Anker 1831–1910. Werkkatalog der Gemälde und Ölstudien. Basel 1995 (Bei Verweisen auf Bilder aus dem Gesamtverzeichnis im Folgenden immer: K / B, Katalog-Nr). Frehner, Matthias; Bhattacharya-Stettler, Therese; Fehlmann, Marc: Albert Anker und Paris. Zwischen Ideal und Wirklichkeit. Bern 2003; Bhattacharya-Stettler, Therese (Hrsg.): Albert Anker. Catalogue, Exposition Fondation Pierre Gianadda, Martigny 2003–2004. Lausanne 2003. 2 Aus den zahlreichen Veröffentlichungen seien herausgegriffen: Rytz, Albrecht: Der Berner Maler Albert Anker. Ein Lebensbild. Bern 1911; Friedli, Emanuel: Ins. Bärndütsch als Spiegel bernischen Volkstums, Bd. 4. Bern 1914 (mit berndeutschen Begriffen für Geschirr und Mobiliar); Kuthy, Sandor; Lüthy, Hans A.: Albert Anker. Zwei Autoren über einen Maler. Zürich 1980. Meister, Robert: Albert Anker und seine Welt: Briefe, Dokumente, Bilder. Gümligen 2000 (4., erw. Aufl.). 3 Lüthy, Hans A.: Albert Anker. Aquarelle und Zeichnungen. Zürich 1989. 4 Kuthy / Bhattacharya (wie Anm. 1), 26. 5 Kuthy / Bhattacharya (wie Anm. 1), 40. 6 Kuthy / Bhattacharya (wie Anm. 1), 300. 7 Kuthy / Bhattacharya (wie Anm. 1), 103/104; Messerli, Isabelle: Kinderwelten unter Stroh- und Ziegeldächern. In: Frehner, Matthias; Bhattacharya-Stettler, Therese; Messerli, Isabelle (Hrsg.): Albert Anker – Schöne Welt. Ausstellungskatalog Kunstmuseum Bern. Bern 2010 (im Druck). 8 Kuthy / Bhattacharya (wie Anm. 1), 97, 237, 239, 356. 9 Die Verwendung schwarzer, roter und weisser Grundengoben in Verbindung mit farbigen Malhorndekoren charakterisiert die Produktion der Töpfereiregion Heimberg//, ist zugleich aber ein zeittypisches Phänomen und wurde auch in anderen Töpferorten der Deutsch- schweiz gefertigt. Es wird daher der oben stehende Begriff verwendet. Zum Heimberger Geschirr vgl. Boschetti-Maradi, Adriano: Gefässkeramik und Hafnerei in der Frühen Neuzeit im Kanton Bern. Bern 2006 (Schriften des Bernischen Historischen Museums 8). 10 Kuthy / Bhattacharya (wie Anm. 1), 206, 363, 510, 590; siehe dazu und zum Folgenden den Bei- trag von François de Capitani in diesem Themenheft. 11 Kuthy / Bhattacharya (wie Anm. 1), 142. Farbabb.: Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 1), Kat. 31. 12 Kuthy / Bhattacharya (wie Anm. 1), 149 und 150. 13 Kuthy / Bhattacharya (wie Anm. 1), 452. Farbabb.: ebenda, 120. 14 Z. B. Kuthy / Bhattacharya (wie Anm. 1), 149, 150, 236, 394, 483, 587. 15 Kuthy / Bhattacharya (wie Anm. 1), 135–137, 156, 505, 512, 548. Farbabb.: Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 1), Kat. 30. 16 Kuthy / Bhattacharya (wie Anm. 1), 237, 239. Aquarelle von 1907 und 1908 vgl. Lüthy (wie Anm. 3), 62 und Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 1), Kat. 99. 17 Eine Ausnahme ist die für Anker ungewöhnliche, 1888 datierte Kohlezeichnung mit einem bür- gerlichen Familieninterieur: Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 1), Kat. 94. 18 Kuthy / Bhattacharya (wie Anm. 1), 308 auch 34, 481. 19 Kuthy / Bhattacharya (wie Anm. 1), 323; Lüthy (wie Anm. 3), 48. 20 Kuthy / Bhattacharya (wie Anm. 1), 186. Farbabb.: Kuthy / Lüthy (wie Anm. 2), 75. 21 Kuthy / Bhattacharya (wie Anm. 1), 263, 270. Farbabb.: Frehner / Bhattacharya-Stettler / Fehlmann Kat. 12, (wie Anm.1). 22 Kuthy / Bhattacharya (wie Anm. 1), 469.

76 BEZG N° 02/10 23 Kuthy / Bhattacharya (wie Anm. 1), 108. Farbabb.: Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 1), Kat. 38. 24 Kuthy / Bhattacharya (wie Anm. 1), 330; auch 40, 319, 321, 394. Vgl. auch ein enstprechendes Aquarell von 1885: Kuthy / Lüthy (wie Anm. 2), 111. 25 Kuthy / Bhattacharya (wie Anm. 1), 97, 335, 393, 546, 676. Farbabb.: Kuthy / Lüthy (wie Anm. 2), 105. Auch: Lüthy (wie Anm. 3), 46. 26 Kuthy / Bhattacharya (wie Anm. 1), 357. 27 Vgl. Heege, Andreas: Steinzeug in der Schweiz (14.–20. Jh.). Ein Überblick über die Funde im Kanton Bern und den Stand der Forschung zu deutschem, französischem und englischem Steinzeug in der Schweiz. Bern 2009, 57–76. 28 Kuthy / Bhattacharya (wie Anm. 1), 356, 362, 363. Aquarellstudie: Lüthy (wie Anm. 3), 125. 29 Kuthy / Bhattacharya (wie Anm. 1), 40, 63, 506. Aquarell: Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 1), Kat. 75. 30 Kuthy / Bhattacharya (wie Anm. 1), 520. 31 Kuthy / Bhattacharya (wie Anm. 1), 140. 32 Kuthy / Bhattacharya (wie Anm. 1), 461. Farbabb.: Kuthy / Lüthy (wie Anm. 2), 124. 33 Kuthy / Bhattacharya (wie Anm. 1), 79, 378. Farbabb.: Kuthy / Lüthy (wie Anm. 2), 115. 34 Kuthy / Bhattacharya (wie Anm. 1), 261 und 279. Farbabb.: Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 1), Kat. 54. 35 Kuthy / Bhattacharya (wie Anm. 1), 581. 36 Kuthy / Bhattacharya (wie Anm. 1), 499. Farbabb.: Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 1), Kat. 58. 37 Kuthy / Bhattacharya (wie Anm. 1), 306. Farbabb.: Kuthy / Lüthy (wie Anm. 2), 100. 38 Kuthy / Bhattacharya (wie Anm. 1), 526. 39 Kuthy / Bhattacharya (wie Anm. 1), 94, 123, 315, 545. Farbabb.: Kuthy / Lüthy (wie Anm. 2), 62. Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 1), Kat. 47. 40 Vgl. hierzu: Friedli (wie Anm. 2), 384–386. Probst, Fritz: Albert Anker. Sein Dorf und seine Modelle. Basel 1954. Messerli, Isabelle: Albert Anker: sein Atelier – seine Requisiten – seine Modelle, in: Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 1), 65–73. 41 Zur bernischen Irdenware-Produktion ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, vgl. Roth-Rubi, Kathrin und Ernst; Schnyder, Rudolf; Egger, Heinz und Kristina: Chacheli us em Bode ... Der Kellerfund im Haus 315 in Nidfluh, Därstetten – ein Händlerdepot. Wimmis 2000. Boschetti-Maradi (wie Anm. 4). Boschetti-Maradi, Adriano: Geschirr für Stadt und Land. Berner Töpferei seit dem 16. Jahrhundert. Bern 2007 (Glanzlichter aus dem Bernischen Historischen Museum, 19). Heege, Andreas: Bern, Engehaldenstrasse 4. Funde aus einer Latrinen- oder Abfallgrube des späten 19. Jahrhunderts. In: Archäologie Bern 2008. Jahrbuch des Archäologischen Dienstes des Kantons Bern, 2008, 197–215, mit älterer Literatur. 42 Kuthy / Bhattacharya (wie Anm. 1), 34. 43 Farbabb.: Lüthy (wie Anm. 3), 62. 44 Kuthy / Bhattacharya (wie Anm. 1), 97. 45 Kuthy / Bhattacharya (wie Anm. 1), 538. 46 Kuthy / Bhattacharya (wie Anm. 1), 452 und 481. Farbabb.: Kuthy / Lüthy (wie Anm. 2), 120 und 129. 47 Lüthy (wie Anm. 3), 48.

Heege: Muestopf 77 48 Kuthy / Bhattacharya (wie Anm. 1), 40. 49 Vgl. Kuthy / Bhattacharya (wie Anm. 1), 104 –1866, 142–1870 mit ebenda, 186 –1873; Kuthy / Bhattacharya (wie Anm. 1), 483–1893 mit 537–1897. 50 Vgl. Heege (wie Anm. 16), 53–54 und Abb. 2. 51 «Terre de fer», Dekor ohne Bezeichnung, gegossenen, eisernen Teekannen aus Japan nach- empfunden. Der Produktionsbeginn dieser Ware und dieses Gefässtyps in Septfontaines ist unbekannt, wird jedoch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts angenommen. Freundlicher Hinweis Ulrich Linnemann, Hettenhain D; die Kanne ist abgebildet in: Messerli, Isabelle: Albert Anker: sein Atelier – seine Requisiten – seine Modelle. In: Bhattacharya-Stettler, Therese (Hrsg.): Albert Anker. Catalogue, Exposition Fondation Pierre Gianadda, Martigny 2003–2004. Lausanne 2003, 65−73, hier 69, dort auch weitere von Anker gemalte Objekte aus seinem Nachlass. 52 Freundlicher Hinweis Ester Schneider, Keramikmuseum Mettlach. 53 Kuthy / Bhattacharya (wie Anm. 1), 296. Vgl. auch Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 1), Kat. 94. 54 Unveröffentlicht, Kopie des Katalogs im Besitz des Verfassers. 55 Zum Kaffee und der Ernährung der schweizerischen Werktätigen im 19. Jahrhundert, siehe: Rossfeld, Roman: Genuss und Nüchternheit. Geschichte des Kaffees in der Schweiz vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Baden 2002; siehe dazu den Beitrag von François de Capitani in diesem Themenheft. 56 Verschiedene unveröffentlichte Fundkomplexe im Archiv des Archäologischen Dienstes des Kantons Bern.

78 BEZG N° 02/10 Städtische Mode, ländliche Tradition Textilien bei Albert Anker Isabelle Messerli

Anker arbeitete als Realist so nah wie möglich nach der Natur, das heisst nach dem lebenden Modell und dem realen Gegenstand, die er beim Malen oder Skiz- zieren vor sich sah. Er unterbrach zeitweilig eine angefangene Arbeit im Atelier, wenn eines seiner Modelle zur Schule musste oder wenn ein Alter beim Friseur war, weil dessen Haare nachgewachsen waren und er sie nicht unter einer Zip- felmütze verstecken wollte. Unglücklich war Anker, als er nach 25 Jahren zu wiederholtem Mal im Auftrag einen Gemeindeschreiber malen sollte und ihm dafür der Inser Sattler mit seiner festen Adlernase und dem verschmitzten Fuchsgesicht nicht mehr als Modell zur Verfügung stand.1 In seinem Heimat- dorf Ins fand Anker die meisten Modelle, die er als Spielende, Strickende, Spin- nende, Rauchende, Schreibende und Lesende darstellte. Sie treten – einzeln oder in Gruppen – in verschiedenen Rollen in seinen Genrekompositionen und Historiengemälden auf. Anker zeigt seine Modelle mehrheitlich in Innenräu- men. Diese bereitete er in Skizzen und Ölstudien vor und bestückte sie in der endgültigen Fassung mit seinen bis ins Detail ausgearbeiteten Figuren und Ge- genständen. Die ganze Familie Gugger aus Ins, im Dorf die Guggerchüfers ge- nannt, waren aufgrund ihrer bodenständigen Art willkommene Ateliermodelle. Julie Gugger verkörperte die Pfahlbauerin, ihr Mann übernahm die Rolle eines Bourbakisoldaten oder nahm Stellung als Krieger in der «Kappeler Milchsuppe» ein. Sein Sohn stand in den «Länderkindern» Modell, die beiden Töchter Rosa und Bertha malte er wiederkehrend einzeln oder gemeinsam beim Lernen und Stricken.2

Farbe und Faden Welche Beziehung hatte Anker zur Mode und zu den Textilien? Betrachtet man Ankers gemalte Stofflichkeit, so kommt einem nahe, wie sehr sie bis ins Detail erfühlt und in ihrer Farbe erspäht ist. Als hätte der Meister den Pinsel mit Na- del und Faden ausgetauscht, als wäre er der Schneider selbst, malt er. Zum Ar- rangieren seiner Kompositionen brauchte er ein breites kulturelles und fachli- ches Wissen über die Themen seiner Bilder, die sich über eine lange Zeitspanne erstreckte: von der Pfahlbauerzeit, dem Neolithikum, über das klassische Alter- tum und das Mittelalter bis in Ankers Gegenwart. Beispiele von Ankers Suche nach geeigneten Kostümen finden sich in Briefen. So schrieb der Maler 1888 an den Inspektor der Berner Kunstsammlung: «Ich bin so frei und wende mich an Sie zur Aushülfe. Ich möchte nämlich etwas sehen und erfahren über die

Messerli: Textilien 79 Costume von der Zeit ungefähr des Burgunderkrieges. In Paris hätte ich selbst Material und auch Bibliotheken zur Disposition, während hier nichts ist. Ich nehme mir vor, eines Morgens bei Ihnen zu erscheinen um durchzuzeichnen, was Sie etwa besitzen. […] So nehme ich mir denn vor, Leute zu malen, wie sie vor der Reformation waren. Ich kann dabei gehen bis Holbein, allein etwas Ar- chaisches wäre mir lieber.»3 Anker suchte das historische Material in Kostüm- schriften, in Drucken alter Meister, in gemalten Werken, die er im Louvre und in anderen Museen fand, bei Fachpersonen oder Malern, die sich auch einen Fundus an Textilien – wie Anker selbst – angelegt hatten. Kostüme tauschte An- ker beispielsweise mit seinem Schweizer Malerfreund August Bachelin, der sich auf Militaria spezialisiert hatte. Anker trieb für seinen Freud Soldatenkleider der Artillerie und Infanterie auf, und er lieh sich bei Bachelin ein schwarzes Kleid aus der Zeit des Louis XV für die Darstellung des kranken Lavaters. 4 Der Maler kannte auch unterschiedliche Techniken der Textilherstellung. Eindrück- lich stellt er dies im Werk «Königin Bertha und die Spinnerinnen» unter Beweis. In diesem reifen Gemälde beschreibt Anker den richtigen Bewegungsablauf beim Spinnen, das Einüben dieser seit Urzeit überlieferten Technik und die Viel- falt des stofflich wahrnehmbaren Endproduktes.5

Kleider machen Leute Im 19. Jahrhundert war es das Bürgertum, das die Mode in Europa prägte, und ab der Mitte des Jahrhunderts begann man sich dabei zunehmend an Paris zu orientieren. 6 Wie zu allen Zeiten gab es wirtschaftlich-soziale Unterschiede, die bei Anker in seinen bäurischen und bürgerlichen Genres zum Ausdruck kom- men. Anker lebte zwischen der Stadt und seinem Dorf in zwei gegensätzlichen Welten, und diese kommen in ihrer ganzen wirtschaftlichen, sozialen und kul- turellen Spannbreite in den von ihm gemalten Textilien zum Ausdruck. In der Stadt trugen die Männer ab 1850 fast nur noch Schwarz und Weiss, was die politische und wirtschaftliche Macht symbolisierte.7 Gestärkte weisse Hemdblusen und Krägen kamen in Mode. In dieser strengen, dunklen Robe lässt sich der gut betuchte Charles Alfred Hahn um 1869 von Anker porträtie- ren.8 Zwischen 1845 und 1869 trugen die städtischen Damen Krinolinen, Un- terröcke mit einem Stahlreifengestell, das die Röcke überproportionierte. In ei- nem solch übergrossen Rock lässt sich die zwanzigjährige Französin Marie Marguerite Ormond-Renet von Anker 1867 malen. Die Dame in tiefschwarzem Kleid vor rot aufgehelltem Hintergrund repräsentiert bürgerliche Tugenden ei- ner Mittelstandfrau. Die modebewussten Frauen inszenierten sich durch ihre

80 BEZG N° 02/10 Bildnis Caroline-Rose-Marguerite de Pury-de Muralt, 1859, Öl auf Leinwand, 50,8 x 38 cm, Kat. Nr. 39 [Ausschnitt]. – Privatbesitz.

Bildnis Marie Anker, 1881. Öl auf Leinwand, 81 x 65 cm, Kat. Nr. 287. – Kunstmuseum Bern

Schultasche Marie Anker, um 1880, Kalbsleder mit blauweiss gestreiftem Innenfutter, 23 x 30 x 5 cm, Inschrift: «Marie Anker / Rue de la grande Chaumière / Departement Seine Paris». – Stiftung Albert Anker-Haus Ins.

Messerli: Textilien 81 Kleidung. Mitte des 19. Jahrhunderts waren auch grosse, verschwenderisch ge- arbeitete Spitzenschals sehr beliebt, die jetzt von der Maschinenindustrie zu er- schwinglichen Preisen hergestellt wurden. Anker malt 1859 die aus gehobenem Bürgertum stammende Caroline-Rose-Marguerite de Pury-de Muralt auf ihrer Terrasse in schulterfreier weisser Robe mit umgebundenem weitem, reich ver- ziertem Spitzenschal. Diese Selbstdarstellungen waren Porträtaufträge von Per- sönlichkeiten, die es sich leisten konnten, einen Maler zu engagieren.9 Auf Ankers Darstellungen sind die Mitglieder seiner eigenen Familie in Ge- wänder des gehobenen Bürgertums gehüllt; nie hätte er seine Kinder in bäuer- lichen Kleidern oder in einer Tracht abgebildet. Die Familien Ankers und seiner Frau gehörten seit Generationen zum konservativ-liberalen Bildungsbürgertum. Familienfotografien oder gemalte Werke zeugen von dieser Wirklichkeit. Anna und ihre Kinder tragen Pariser Mode, die massgebend war für die Damenmode in ganz Europa. In einem Halbfigurenporträt, das in feinsten, differenzierten Farbtönen von Weiss zu Gelb gehalten ist, malt Anker seine neunjährige Toch- ter Louise als selbstbewusste, grossstädtisch gekleidete junge Dame. Über einer weissen Bluse mit Spitzenkragen trägt sie eine weiche, samtgefütterte Jacke, deren weite Ärmel, der Kragen und die Knöpfe auch in schwarzem Samt gefasst sind. In der Hand hält sie einen zur Robe passenden Hut. Die Kleidung spiegelt hier ein soziales Verhalten, das besonders die Gründerjahre prägte: die Einfüh- rung einer Tochter aus gutbürgerlichem Hause in die Rolle, die sie in der herr- schenden Ordnung jener Gesellschaft später einnehmen sollte.10 Louise heira- tete 1884 den Papierfabrikanten Maximilian Oser in Basel. Auch seine zweite Tochter Marie hält Anker in Pariser Eleganz fest, in schwarzem Mantel, mit schleifengeschmücktem Hut und blauen Handschuhen. Er zeigt sie als Schulmädchen mit einer über die Schulter gehängten ledernen Schultasche. Diese Mappe ist noch im Original erhalten; öffnet man ihren Klapp- deckel, so findet man in fein säuberlicher Handschrift die Besitzerin vermerkt: «Marie Anker / Rue de la grande Chaumière / Departement Seine Paris».11 Marie heiratete 1892 den Musikprofessor Albert Quinche von Neuenburg. In Ankers Zeit waren die Mütter für die moralische und kulturelle Erziehung der Kinder zuständig. Ankers Frau Anna äusserte in einem Brief an ihren Mann ihre Besorgnis, dass die Inser Dorfkinder einen üblen Einfluss auf ihre Kinder ausübten.12 Albert beruhigte sie und meinte, er kenne die Inser von Jugend auf, und die Pariser Kinder seinen nicht besser als jene. Der Maler selbst fühlte sich der ländlichen Bevölkerung sehr zugetan und mit ihr verbunden. Unter ihnen bewegte er sich im Habitus der Bescheidenheit. Wenn er im Sommer in Ins

82 BEZG N° 02/10 Bildnis Louise Anker, 1874, Öl auf Leinwand, 80,5 x 65 cm, Kat. Nr. 199. – Museum Oskar Reinhart am Stadtgarten, Winterthur.

Messerli: Textilien 83 Anna Ruefli, Foto um 1860 [Ausschnitt]. – Stiftung Albert Anker-Haus Ins.

Magasin des Demoiselles, Journal mensuel, Laffitte Paris, 25. Oktober 1869, handkolorierte Grafik, 26 x 16,5 cm. – Privatbesitz.

84 BEZG N° 02/10 hinausging, legte er seine schwarze, zylinderförmige Hausmütze ab und setzte gerne einen leichten Strohhut mit breiter Krempe auf, wie ihn die einheimi- schen Feldarbeiter trugen.13 Einer dieser sogenannten Kreissägen hängt heute noch im Atelier über seiner Staffelei; sie wurde aus der «Chapellerie der Gebrü- der Schwab» in Ins gekauft.14

Geerbte Alltagshose: Kleidung auf dem Land Auf dem Lande folgte die Kleidung der Kinder und Erwachsenen auch noch im 19. Jahrhundert den ganz eigenen Gesetzen der Agrarwirtschaft. Kinderkleider wurden meist aus abgelegten Kleidungsstücken der Eltern – ohne Rücksicht auf die Mode der Zeit – geschneidert und dann von den jüngeren Geschwistern aus- getragen. Wurde der Stoff fadenscheinig, flickte man sie oder setzte sie neu zu- sammen. Ausserdem konnten sich, je nach Stand, nicht alle Bauernfamilien Schuhe für ihre Kinder leisten.15 In der Schweiz waren auf dem Land primär Leinen- und Wollstoffe in den Farben Weiss, Schwarz, Braun, Blau und Rot üb- lich.16 Diese Farben herrschen in ausgewogener Tonalität in Ankers bäurischen Genredarstellungen vor. So trugen die Knaben oft Kleider aus braunen bis ocker- farbenen festen Stoffen, im Stil ähnlich geschnitten wie die Kleidung ihrer Vä- ter. Diese getragenen Landkleidungen finden wir sowohl auf Ankers Bildern als auch auf Fotografien von Charles Famin, der als einer der ersten Fotografen das Leben auf dem Lande thematisierte.17 Die Schulmädchen trugen Schürzen, «Für- tuch» (Vortuch) genannt, aus Leinen oder gestreifter Baumwolle. Ankers «Erd- beerimareili» von 1884, vom zehnjährigen Inser Mädchen Rosa Zesiger verkör- pert, trägt eine zeitgemässe Landtracht: einen braunen Rock über einem weissen Leinenhemd, darüber liegt eine blauweiss gestreifte Schürze.18 Anker variierte seine Bildmotive mit Textilrequisiten, die er gesammelt hatte und in seinem Inser Atelier in zwei Kleiderschränken hinter einem Paravent aufbewahrte. Hier sind heute noch zahlreiche Textilien zu finden, welche auf Ankers Bildern zu entdecken sind.19 Zur Hauptsache sind dies Accessoires: braune und schwarze Zipfelmützen für Bauern, schwarze Spitzhauben und Schals für Landfrauen, gestrickte Kleinkinderhauben in unterschiedlichen Mus- tern und Grössen, historische Hüte aus der Zeit Napoleons, z.B. ein Dreispitz, und Strohhüte für Kinder- und Erwachsene. Da hängen auch an selbst gefertig- ten Kleiderbügeln Mieder aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in blauen, schwarzen und braunen Farbtönen, daneben weisse Leinenhemden und dunkle Trachtenröcke. Zeitgemässe Kleider für Landkinder und Männertrachten feh- len hingegen; der Maler übernahm den Stil der Kleider seiner Modelle und

Messerli: Textilien 85 Albert Anker mit Strohhut. Foto Ad. Burkhard, Biel, 1.6.1905 [Ausschnitt]. – Privatbesitz.

Strohhut mit hoher Kopfform und breiter Krempe. Schwarzes breites Zierband mit Schlaufe, Stempelinschrift: «CHAPELLERIE GEBR. SCHWAB INS-ANET». – Stiftung Albert Anker-Haus Ins.

86 BEZG N° 02/10 Albert Anker, Erdbeerimareili, 1884, Öl auf Leinwand, 82 x 60 cm, Kat. Nr. 323. – Musée cantonal des Beaux-Arts, Lausanne.

Messerli: Textilien 87 Albert Anker, Junge Frau am Spinnrad, 1884, Öl auf Leinwand, 70,5 x 53,5 cm. Kat. Nr. 321. – Privatbesitz.

88 BEZG N° 02/10 passte sie farblich seinen Vorstellungen an. Stets brauchte er die fühlbare Nähe zu den Stoffen, damit er sie – gemäss seiner realistischen Anschauung – mate- rialgerecht wiedergeben konnte. Es erstaunt deshalb nicht, dass nebst den ver- einzelten ganzen Kleidungsstücken eine grosse Anzahl von unterschiedlichen Stoffstücken im Inser Haus aufbewahrt ist. In einem Brief spricht der Maler über Textilfarben und seine Bildvariationen: «Hiermit zeige ich Ihnen den rich- tigen Empfang der 100 Fr. an, als Bezahlung des Mädchens mit roserothem Rock, und danke Ihnen verbindlich dafür. Dieser Rock hat mir so gut gefallen, dass ich ihn seither bei zwei anderen, ganz anderen Sujets angebracht habe. Die Farben der Kinderkleider sind vielfach erdfarben, die Mädchen haben für die Schule ein enormes Fürtuch, auf dem man die Tintenflecke nicht sehen soll.»20

Tradition und Moderne Die Schweiz als junger Bundesstaat entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einem noch nie da gewesenen Tempo, und die Folgen der Industrialisierung wurden von vielen Malern unterschiedlich wahrgenommen und dokumentiert. Begrenzt auf ihr regionales Umfeld malten Ankers Zeitge- nossen, wie Raphael Ritz, Benjamin Vautier, Ernest Bièler, Max Buri oder in den Anfängen auch Ferdinand Hodler, die Leute und ihre Sitten in ihren Eigen- heiten und Traditionen.21 Die Tracht, das Gewand des Bauernstandes, war Ausdruck für eine dörflich- bäuerliche Lebensgemeinschaft, die in ihrer Lebensweise durch die Verstädte- rung und Modernisierung bedroht wurde. Das Bewahren der Traditionen war auch eine Reaktion auf die Folgen der Industrialisierung, die durch billige Fa- brikgüter die Handarbeit verdrängte.22 Das sanfte, beruhigende Surren der Spinnräder verstummte allmählich. Die Allerweltsmode drang auch aufs Land, die jungen Generationen fingen an, sich modisch zu kleiden. Das Ende des 19. Jahrhunderts brachte den Niedergang der Tracht.23 In Ankers letztem, durch seinen Schlaganfall nicht vollendeten Gemälde von 1901 kommen die Konfir- mandinnen von Müntschemier unterschiedlich gekleidet daher: während die ei- nen noch die traditionelle Landtracht tragen, haben sich andere ihrer Mieder, Göller und Schürzen entledigt und sich der zeitgemässen Mode zugewandt. Da- mit bringt Anker im hohen Alter von 70 Jahren zum ersten Mal überhaupt die gegensätzlichen Kleidungsstile der Tradition und der Mode auf ein und demsel- ben Bild zur Darstellung. Er legt damit Zeugnis ab für das zunehmende Ein- dringen der städtischen Modeströmungen auf das Land.24 Anker aquarellierte in seinem Inser Atelier bis kurz vor seinem Tod Szenen

Messerli: Textilien 89 Albert Anker, Die Konfirmandinnen von Müntschemier, 1901, Öl auf Leinwand, 86 x 131 cm, Kat. Nr. 584. Foto Isabelle Messerli. – Gemeinde Ins.

90 BEZG N° 02/10 des Spinnens. Sie zeugen von seiner Auseinandersetzung mit der Vergänglich- keit und mit dem Dahinschwinden des handwerklichen Könnens. In seinem To- desjahr 1910 schrieb der Maler mit leisem Humor: «[…] die armen Spinnerin- nen, sie werden jetzt selten, die jungen Mädchen werden bald nicht mehr wissen, was ein Rad ist, sie werden es für ein verfehltes Velo ansehen.»25

Anmerkungen 1 Brief von Albert Anker an Herrn Bohni, 22. März 1903. In: Meister, Robert: Albert Anker und seine Welt. Briefe, Dokumente, Bilder. Bern 2000 (4., erw. Aufl.), 77. 2 Probst, Fritz: Albert Anker, sein Dorf und seine Modelle. Basel 1954, 22. 3 Brief von Anker an Chr. Bühler, Inspektor der Berner Kunstsammlungen, 8.9.1888. In: Meister (wie Anm. 1), 100. 4 Meister (wie Anm. 1), 86. 5 Messerli, Isabelle: Im Blickpunkt. Königin Bertha und die Spinnerinnen von Albert Anker. In: Kunst und Architektur in der Schweiz, 2006, Heft 4, 58ff. 6 Weber-Kellermann, Ingeborg: Der Kinder neue Kleider. Zweihundert Jahre deutsche Kindermoden. Frankfurt a.M. 1985. 7 Kleider machen Leute. Kunst, Kostüme und Mode von 1700 bis 1940. Seedamm Kulturzentrum, Ausstellungskatalog. Pfäffikon 2000, 111f. 8 Abbildung in: Kuthy, Sandor; Bhattacharya-Stettler, Therese: Albert Anker 1831–1910. Werkkata- log der Gemälde und Ölstudien. Catalogue raisonné des oeuvres à l’huile (Hrsg. Kunstmuseum Bern). Basel 1995, Kat. Nr. 131. 9 Vgl. dazu auch: Fehlmann, Marc: «La pierre de touche des créations parfaites». Albert Ankers Porträtkunst im Spiegel der französischen Malerei. In: Frehner, Matthias; Bhattacharya-Stettler, Therese; Fehlmann, Marc (Hrsg.): Albert Anker und Paris. Zwischen Ideal und Wirklichkeit. Ausstellungskatalog Kunstmuseum Bern. Bern 2003, 113–136. 10 Vgl. dazu: Weber-Kellermann (wie Anm. 6), 61ff. 11 Messerli, Isabelle: Inventar Textil, Stiftung Albert Anker-Haus, 2009 (unveröffentl. Manuskript), Nr. 23. 12 Siehe zum Leben Anna Ankers: Meister, Robert: Aus dem Leben von Anna Anker-Rüfly (1835 –1917). In: Bieler Tagblatt, Beilage, April 1989, 5. 13 Anker zeigt in einer seltenen Ölskizze die Inser Bauern im Grossen Moos bei der Kartoffelernte. Die Frauen tragen Kopftücher, die Männer Strohhüte: «Kartoffelernte bei Ins», Kuthy / Bhattacharya (wie Anm. 8), 215, Kat. Nr. 482. 14 Messerli (wie Anm. 11), Inv. Nr. 93. 15 Littmann, Brigit: Kleider machen Kinder. 200 Jahre Kinderkleidung und Kindermode in der Schweiz. In: Hugger, Paul (Hrsg.): Kind sein in der Schweiz. Eine Kulturgeschichte der frühen Jahre. Basel 1998, 371ff. 16 Karbacher, Ursula: Die Tracht im Kopf. Zur Geschichte der Tracht als Idee. In: Kleider machen Leute (wie Anm. 7), 55ff. 17 Vgl. dazu Abbildungen in: Frehner / Bhattacharya-Stettler / Fehlmann (wie Anm. 9), 200ff. 18 Vgl. dazu: Karbacher (wie Anm. 16), 58.

Messerli: Textilien 91 19 Es wurden 102 Textilien und Lots in den Jahren 2008 und 2009 inventarisiert und fotografiert. Messerli (wie Anm. 11). 20 Brief Ankers an Herr Bohni, 5. September 1905. Meister (wie Anm. 1), 176. 21 Zu den Genredarstellungen im 19. Jahrhundert siehe: Klemm, Christian (Hrsg.): Von Anker bis Zünd. Die Kunst im jungen Bundesstaat 1848–1900. Zürich 1998. 22 Siehe dazu: Schürch, Lotti; Witzig, Louise: Trachten der Schweiz. Basel 1984, 15. 23 Siehe dazu: Bernische Vereinigung für Tracht und Heimat (Hrsg.): Die Berner Trachten. Vieux costumes du canton de Berne. Thun 1973, 59. 24 Siehe zur Entwicklung der Konfirmationskleidung im 20. Jahrhundert: Minder, Aline: Vom Spitzenkragen zur Jeansjacke – Konfirmationskleidung in Rüeggisberg 1931–1994. In: Berner Zeitschrift für Geschichte, 71 (2009), Heft 2, 1– 47. 25 Briefzitat aus: Zbinden, Hans: Anker in neuer Sicht. Bern 1961, 81.

92 BEZG N° 02/10 «Wenn es sich ums Menschenherz handelt, kann ja leider oft von Bschüttifass die Rede sein» Wie Albert Anker Gotthelf las und wie er ihn illustrierte Christian von Zimmermann

Albert Ankers Illustrationen für die grossformatige, von Otto Sutermeister he- rausgegebene Gesamtausgabe der Werke von Jeremias Gotthelf1 sind Auftrags- arbeiten, die Anker offensichtlich zunächst ungern und schliesslich wohl wegen der Einkünfte übernommen hat. Der Verleger Friedrich Zahn (1857–1919), des- sen Verlag in La Chaux-de-Fonds ansässig war, strebte offensichtlich eine po- puläre, ebenso billige wie repräsentativ erscheinende Volksausgabe der Werke von Gotthelf an, die als Nationale illustrierte Prachtausgabe (AWIP) bezeichnet wurde und in neun Bänden eine Werkauswahl enthält. Auf Fragen der Textphi- lologie wurde dabei kaum oder gar nicht geachtet. In einem Überblick über äl- tere Gotthelf-Editionen stellt Alfred Reber fest: «Die Texte sind […] gekürzt: Längere Betrachtungen werden weggelassen oder z.T. massiv gekürzt.»2 Sosehr die Ausgabe dank der Illustrationen das Bild Gotthelfs in der Schweiz seiner- zeit geprägt hat, so kann von einer Lektüre der Texte in dieser Fassung nur ab- geraten werden. Als Popularausgabe kam nur ein gezähmter Gotthelf in Frage,3 und an dieser Bezähmung hatten die Illustratoren einen nicht geringen Anteil. Interessant ist in diesem Zusammenhang aber tatsächlich die auch von Alfred Reber aufgezeigte Wertschätzung für Werke Gotthelfs, die über drei Jahrzehnte in Auswahlausgaben regelmässig übergangen wurden: Bauern-Spiegel, Geltstag, Die Käserei in der Vehfreude. Es ging im Verlag von Friedrich Zahn nicht um einen originalen Gotthelf. Vielmehr sollte die auf offenbar nicht zu wertvollem Papier gedruckte, aber mit Goldschnitt versehene und repräsentativ im Geschmack des späten 19. Jahr- hunderts eingebundene Ausgabe durch den Namen des Autors und die Namen der Illustratoren ein nationales Denkmal werden4 und beim Lesepublikum er- folgreich sein. Neben Anker waren als Illustratoren Hans Bachmann, Charles- Louis Eugène Burnand, Karl Gehri, Léo Paul Robert (mit seiner bekannten Dar- stellung des «grünen Jägers» in der Schwarzen Spinne), Benjamin Vautier und Walter Vigier an der Edition beteiligt. Dass Anker diese Arbeit nicht am Herzen lag, er sie vielmehr als eine lästige Nebenarbeit ansah, bezeugen Briefe, in de- nen er sich etwa erleichtert äussert, er habe «die unglücklichen Zeichnungen von Jeremias beendet und abgeliefert» (an de Meuron, 9. August 1892).5 An Bun- desrat Carl Schenk schrieb er ähnlich, die Arbeit sei ihm schwergefallen, ihm fehle die Begabung zum Illustrator (30. August 1892). Dabei freilich verbeugt

Zimmermann: Gotthelf 93 sich Anker vor Jeremias Gotthelf und fürchtet die Blamage, mit seinen Illustra- tionen dessen Erzählkunst nicht zu genügen.6 In ähnlicher Weise lauten weitere Briefstellen. Dennoch liess sich Anker erneut zu Gotthelf-Illustrationen drän- gen. In einer kürzlich erschienenen Studie mit dem nicht untreffenden Titel Al- bert Ankers Babylonische Gefangenschaft hat sich Marc Fehlmann ausführlich den Anker-Arbeiten zur Gotthelf-Ausgabe bei Zahn gewidmet;7 meine eigenen Ausführungen können dies nur um einige Bemerkungen ergänzen, denn baby- lonisch erscheint an der Beziehung zwischen Anker und Gotthelf nicht zuletzt, dass beide einfach nicht die gleiche Sprache sprachen. Eine Auftragsarbeit. Gewiss. Aber immerhin ist bemerkenswert, dass sich Anker gerade um solche Werke bemühte, die lange nicht in der Gunst der Ver- leger und Leser standen, wie eben besonders Die Käserei in der Vehfreude. Da- bei könnte für die Wahl durchaus ein eigenes Interesse Ankers an einem kanti- gen Gotthelf leitend gewesen sein und nicht nur die straff organisierende Hand des Verlegers Zahn. Am Beispiel der recht derben Alkoholwarnschrift Wie fünf Mädchen im Branntwein jämmerlich umkommen konnte Robert Meister bereits aufzeigen, dass sich Anker der Problematik der Sprache Gotthelfs8 durchaus be- wusst war. Anker schätzte die Erzählung ausserordentlich, da sich in ihr die derbe, drastische Darstellung des Alkoholismus der Mädchen mit einem erns- ten sittlichen Anliegen verband, das für ihn auch die Drastik legitimierte. In ei- nem kleinen Briefwechsel mit der Pfarrerstochter Julia Hürner aus Wimmis wollte Anker aber dennoch auch eine Stimme der jüngeren Generation hören und vielleicht auch gerade die Stimme einer jungen Frau im Alter der Brannt- weinmädchen. In einem Brief bat er sie um ein Urteil über die Erzählung. «Ich glaube, die heutige Welt habe ein richtigeres ästhetisches Fühlen als vor 30 Jah- ren, wo man über etliche derbe Brocken erschrak und nicht würdigen konnte die Macht, die Erfindung, den Ernst, die Originalität eines solchen Werkes.» (Herbst 1892)9 Die Briefpartnerin ist so freundlich, dem «verehrte[n] Herr[n]» seine Ansicht über die Erzählung zu bestätigen, möchte dies aber nicht als re- präsentativ für ihre Generation verstanden wissen.10 Wichtig ist zu sehen, dass Anker in seiner Anfrage die Antwort der Korrespondentin schon vorwegnimmt. Dafür, dass umgekehrt sich Anker bemüht habe, «möglichst adäquat dem Ver- ständnis junger Menschen entsprechend Illustrationsvorlagen zu entwerfen»,11 findet sich dagegen in den Briefen kein Anhaltspunkt (und auch an den Illust- rationen lässt sich eine solche Tendenz, die ja als ein Abweichen von bisherigen künstlerischen Prinzipien erkennbar sein müsste, nicht nachvollziehen). Eher lässt sich Anker sein eigenes Urteil bestätigen. Einige Monate später wendet

94 BEZG N° 02/10 sich Anker nochmals an Julia Hürner, um ihr das Urteil eines Arztes mitzutei- len, den er ebenfalls um seine Meinung gebeten hatte: «Ich habe das Buch vom Branntwein einem Arzt gegeben, und er hat ein Urteil gefällt, das ich ihnen mit- teilen muss. Er sagte, als er ohngefähr in der Mitte war: ‹jetzt wäre bald genug im Bschüttifass umgerührt!› Dies ist auch ein Standpunkt, aber, wie mir scheint, ein philisterhafter von Leuten, die bald sagen: fi quelle horreur! Wenn es sich ums Menschenherz handelt, kann ja leider oft von Bschüttifass die Rede sein, aber der Stoff kann dennoch interessant und poetisch sein, wenn die Idee des Gewissens oder eines verlorenen Paradieses da ist. Das sind ästhetische Fragen, die sich discutieren liessen.»12 Über diese ästhetischen Fragen wäre freilich in mancherlei Hinsicht zu dis- kutieren, denn an der Briefstelle ist vor allem eines irritierend: Offenbar gesteht Anker der Sprache und dem narrativen Text mehr «Bschüttifass»-Rhetorik zu, als er je in eigenen darstellenden Werken gebraucht hätte. Selbst die Illustrati- onen zur Erzählung über die Branntweinmädchen wirken eher harmonisierend, und die einzige deutliche Abweichung hiervon – der grausige Leichenfund «Es war Stüdeli, sein kudrig Kind am Herzen» (AWIP, Wie fünf Mädchen zu 41) – oder allenfalls die Szene «Der Vater wusste sich gar nicht zu fassen vor Zorn» (AWIP, Wie fünf Mädchen 43) – zeigen, dass Anker die drastisch-dramatischen Szenen nicht zu bewältigen wusste. Sein Feld waren eher die stillen idyllischen Szenen, Stillleben, Charakterstudien und folkloristisch-ländliche Typendarstel- lungen. Hier aber besteht auch ein grundlegendes Problem der Illustrierung von Gotthelfs Texten. Heute noch beeindruckend ist ja nicht zuletzt die sozialpsy- chologische Ebene der Darstellung von Figurenkonstellationen, die Darstellung der inneren psychischen Struktur der Figuren in ihrer gegenseitigen Wechsel- wirkung. Dagegen arbeitet Gotthelf weniger mit der Physiognomie der Figuren oder mit ihrem äusseren Erscheinungsbild, wenn er nicht explizit etwa einen Modegecken zeichnen möchte. Für einen Künstler, dessen Stärken aber gerade in der Physiognomie und in der folkloristischen Heimatdarstellung liegen, muss dies Probleme bereiten, denn er steht vor der Aufgabe, die sozialpsychische Dy- namik eben im Äusseren anschaulich zu machen. Der Unterschied zeigt sich bereits bei der Behandlung der Kleidung. Für Gotthelf trägt ein Bauer, was ein Bauer eben trägt. Er muss seinen Lesern nicht – wie dies Heimatromanautoren wie Meinrad Lienert im 20. Jahrhundert dann machen werden – bäuerliche Tracht beschreibend vergegenwärtigen. Anker da- gegen bemüht sich um eine historische Korrektheit der Tracht. Dabei ist er of- fenbar so präzis, dass der «Jodlerclub Bärgbrünneli Liesberg» in der Beschrei-

Zimmermann: Gotthelf 95 Albert Anker, Illustration in: Jeremias Gotthelf, Wie fünf Mädchen im Brannt- wein jämmerlich umkommen. Untertitel: «Es war Stüdeli, sein kudrig Kind am Herzen». Verlag Zahn, La Chaux-de-Fonds 1896 – 1904, 41.

96 BEZG N° 02/10 bung der eigenen Trachten, zu der eine «Gotthelftracht» gehört, betont, dass diese nach den Gotthelf-Illustrationen von Anker erstellt worden sei.13 Die Ge- nauigkeit in der historischen Kostümierung hat aber eine wichtige Wirkung: Sie behandelt das Dargestellte aus volkskundlicher – oder schon folkloristischer – Distanz;14 eine solche Sichtweise ist Gotthelf dagegen fremd, ja, sie erschiene ihm gewiss als unangemessen, denn sein Anliegen war es ja gerade auch in der sprachlichen Derbheit aus der Mitte derjenigen heraus zu schreiben, die er als Adressaten seiner Werke anvisierte, und er tat dies, obwohl ihm die für einen Pfarrer und Volksschriftsteller ungewöhnliche Distanzlosigkeit immer wieder vorgeworfen wurde. Die Derbheit ist Teil dessen, was Gotthelf im Blick auf sei- nen auf ein konkretes Publikum zielenden Stil als «Lebenssprache» bezeich- net.15 Für das späte 19. Jahrhundert war Gotthelf aber längst zu einem Heimat- gut geworden, zu einem Teil bernischer oder schweizerischer Identität und Tradition. Der Verleger immerhin schien mit der Arbeit Ankers überwiegend zufrieden zu sein,16 und manche späteren Kritiker wie Rudolf von Tavel stellen gar Jere- mias Gotthelf und Albert Anker in Rang und Bedeutung einträchtig nebenein- ander.17 Gerade die Gotthelf-Illustrationen wären von einer solchen Wertschät- zung eher auszunehmen. Der Anteil derjenigen Illustrationen, die ohne weiteres als Auftragsillustrationen zu erkennen sind, ist nicht unbeträchtlich, wenngleich einzelne Stücke diese Ebene durchaus übersteigen. Der bedeutende Druck, den der Verleger auf Anker ausgeübt haben muss, macht verständlich, dass nicht jede Zeichnung ihren eigenen Charakter hat. Mitunter greift Anker zur Selbst- kopie und zur seriellen Darstellung. Die Selbstkopie ist besonders dort auffäl- lig, wo aus Bildern, die in einem ganz anderen Kontext entstanden sind, nun scheinbar passende Illustrationen zu Gotthelfs Texten werden. Fast zwanzig Jahre vor dem Illustrationsauftrag beschäftigte sich Anker in seinem Ölgemälde Der Zinstag wohl mit der Abgabenpflicht der Bauern bei der Juragewässerkor- rektion, mit der 1868 begonnen worden war.18 Ein Seeländer Bauer leistet hier Münze um Münze auf den Tisch zählend einen Beitrag. Die Situation ist viel- schichtig gestaltet. Der zahlende Bauer ist mit ernstem Gesicht im Profil in den Vordergrund gerückt. Ein strenger Amtmann verfolgt die Zahlung und nimmt das Ergebnis zu Protokoll. Auf der rechten Seite wird durch drei Figuren unter- schiedlichen Geschlechts, die wohlwollend auf den Bauern blicken, vielleicht die soziale Gemeinschaft angedeutet. Anker bringt – folgt man dieser Deutung – auf diese Weise den Bauern, der seinen hart erwirtschafteten Gewinn abgibt, und die Gemeinschaft, die von dem Projekt profitieren wird, – also Individual-

Zimmermann: Gotthelf 97 Albert Anker, Der Zinstag, Öl auf Leinwand, 1871, 80,5 x 117 cm, Kat. Nr. 151. – Privatbesitz.

98 BEZG N° 02/10 Albert Anker, Illustration in: Jeremias Gotthelf, Die Käserei in der Vehfreude, mit Untertitel: «Sie wissen nicht, wie es dem Bauer ist auf einem mageren Höfli, wo er Zinse haben muss». Verlag Zahn, La Chaux-de-Fonds 1896 – 1904, 11.

Zimmermann: Gotthelf 99 interesse und Gemeinwohl – in ein Bild. Diese letztlich harmonisierende Dar- stellung wird nun zur Illustration für die Rede eines alten Grossbauern, der Mit- leid mit dem armen Bäuerlein zeigt, das nun für ein Schulhaus einen Taler geben soll (AWIP, Käserei zu 11). Das Mitleid ist freilich geheuchelt, denn ei- gentlich hat der Grossbauer nur Angst, dass ihm sein eigener Gewinn entgeht, da der Bauer auch ihm zu Abgaben verpflichtet ist. Ankers Bild zeigt nun nicht eine parallele Situation, die in einem motivischen Paradigma austauschbar er- scheinen könnte, vielmehr konterkariert das ältere Bild nun die Szene bei Gott- helf19 und ist ja auch gar nicht für diesen Zusammenhang entstanden. Dies gilt, wie schon Marc Fehlmann betont, für sämtliche Gemälde als Vorlagen, da An- ker hier im Gegensatz zu den eigens für die Illustrierung angefertigten Zeich- nungen eben auf bereits erarbeitete Bilder aus anderen Werkkontexten zurück- griff.20 Serialität betrifft insbesondere die Gestaltung von Nebenfiguren. Eine sol- che Serie könnte unter dem Leitmotiv «Alter Mann mit Pfeife» gefasst werden. Die entsprechenden Illustrationen finden sich im Band Die Käserei in der Veh- freude. Sorgfältig ausgeführt ist das Motiv in der Illustration «Ein alter Mann mit grauen Haaren und viel Erfahrung» (AWIP, Käserei zu 126). Marc Fehlmann hat darauf hingewiesen, dass dieses Bild im Kontext von Albert Ankers «zu je- weils Fr. 100.– verkauften Aquarellen mit Typendarstellungen der ländlichen Be- völkerung» zu sehen ist. Typisierung der Darstellung und Serialität der Produk- tion sind hier also in einem breiteren Kontext zu sehen. Im Buch selbst zeigt sich die serielle Wiederholung dieses Motivs (AWIP, Käserei zu 181/182). Stereo- typ gezeichnet sind auch die beiden Porträts alter Männer «Dem Alten that die Zärtlichkeit gar wohl …» (AWIP, Wie fünf Mädchen zu 49) und «Da sagte einmal der Bauer: ‹Bub, es dünkt mich, du solltest was verdienen›» (AWIP, Der Besen- binder zu 371). Das eindrucksvoll-füllige Gesicht des Brautwerbers Michel (AWIP, Michels Brautschau) entspricht ebenfalls einem Bauernschädel, den Anker der Käserei in der Vehfreude beifügte (AWIP, Käserei 11, «Ein Ausgeschosse­ner»). Gerade wenn man diese Illustrationen mit den szenisch sehr beredten Wirts- haus- und Gemeindeversammlungsszenen vergleicht, die Anker auch anfertigte, oder mit einzelnen sehr gelungenen Porträts wie dem «Mani im Galgenmösli» (AWIP, Käserei zu 56), fällt umso mehr die stereotype Zeichnung der Alten auf, die auch gegenüber den lebendiger agierenden Jungen vor allem bedächtig und passiv, ja, in vielen Porträts geradezu apathisch wirken. Was für einem Bild des Alters folgt nun aber diese stereotype Darstellung? Sind das noch die Alten von Jeremias Gotthelf,21 die als Sittenlehrer die guten Traditionen an die Generation

100 BEZG N° 02/10 Albert Anker, Pfeife rauchender Bauer I, Illustration in: Jeremias Gotthelf,

Die Käserei in der Vehfreude. Verlag Zahn, La Chaux-de-Fonds 1896 – 1904, 181.

Albert Anker, Pfeife rauchender Bauer II, Illustration in: Jeremias Gotthelf, Die Käserei in der Vehfreude. Verlag Zahn, La Chaux-de-Fonds 1896 –1904, 182.

Zimmermann: Gotthelf 101 Albert Anker, Illustration in: Jeremias Gotthelf, Wie fünf Mädchen im Brannt- wein jämmerlich umkommen. Untertitel: «Dem Alten that die Zärtlichkeit gar wohl […]». Verlag Zahn, La Chaux-de-Fonds 1896 – 1904, 49.

Albert Anker, Illustration in: Jeremias Gotthelf, Der Besenbinder von Rychiswyl. Untertitel: «Da sagt einmal der Bauer: Bub, es dünkt mich, du solltest was verdienen».Verlag Zahn, La Chaux-de-Fonds 1896 – 1904, 377.

Albert Anker, Illustration in: Jeremias Gotthelf, Die Käserei in der Vehfreude. Untertitel: «Ein Ausgeschossener». Verlag Zahn, La Chaux-de-Fonds 1896 – 1904, 183.

Albert Anker, Illustration in: Jeremias Gotthelf, Dursli der Branntweinsäufer. Untertitel: «Schnepf». Verlag Zahn, La Chaux-de-Fonds 1896 – 1904, 287.

102 BEZG N° 02/10 der Enkel weitertragen helfen? Oder ist der sittenstarke alte Herr, der – wie in Der Sonntag des Grossvaters – zwar in beschaulicher Umgebung, aber doch mit Nachdruck die Angelegenheiten des ganzen Hauses noch vom Sterbebett aus regelt, einem betulichen Alter gewichen, das eigentlich schon abgedankt hat? Sicher mag hier eine subjektive Wertung einfliessen, aber in der Illustration «Ein alter Mann mit grauen Haaren und viel Erfahrung», die den schmauchen- den Alten in der Mussestunde zeigt, wird man schwerlich den Mann erkennen, der im Text an der Gemeindeversammlung das mahnende Wort führt, der als reifer Mann geachtet eine ausserordentlich lange Rede hält und am Ende tat- kräftig an seine Arbeit zurückgeht. Stereotypisierungen prägen selbstverständlich auch Gotthelfs Texte. Be- stimmte Figuren erscheinen zwischen den Texten nahezu austauschbar. Dies gilt wiederum besonders für die Grossmütter und Grossväter, für die gesetzten noch tatkräftigen Alten, welche vor dem Hintergrund von Lebenserfahrung und Lebensarbeit den Jungen ins Gewissen reden. Die Grossmutter Käthi,22 Jacobs Grossmutter23 oder die Grossmutter, die den Kindern die Legende von dem gu- ten Margrithli24 erzählt, haben kaum eigene Konturen. Es handelt sich um Fi- guren, die weitgehend in ihrer Funktion für die Didaktik der Narration aufge- hen. Es handelt sich also eher um einen Stereotypenwandel zwischen Gotthelfs Text und Ankers Illustrationen als um die Verdeckung einer komplexer angeleg- ten Figurengestaltung im narrativen Text durch vereinfachende Illustrierung. Der Stereotypenwandel, der sich hier in der Auffassung des Alters vollzieht, könnte gedeutet werden als Wandel von einem aktiven zu einem passiven Alter. Während bei Gotthelf in einer idealisierenden (da sozialhistorisch gesehen im- mer noch seltenen) Struktur des ganzen Hauses mit Drei-Generationen-Fami- lie den Alten feste Rollen besonders als Pädagogen zukommen, sind die Alten auf den Illustrationen ruhige Müssiggänger geworden, die das aktive Arbeitsle- ben hinter sich gelassen haben und nun bei einer Pfeife mit mehr oder weniger ergebenem Blick die verbleibende Zeit verdösen. Der Kontrast zu Gotthelfs Text könnte kaum grösser sein, sind es doch gerade die positiven Alten – wie etwa ein Handwerksehepaar im Roman Jacobs Wanderungen –, die bis zum Tod ak- tiv und arbeitsam bleiben. Oder wie eben «Ein Alter Mann mit grauen Haaren und viel Erfahrung» im Roman Die Käserei in der Vehfreude, der seine lange Rede mit den Worten beschliesst: «[…] Es ist Zeit zum Füttern. Ich sollte heim.» (AWIP, Käserei 128.)25 Die Illustration ersetzt die images des Textes durch solche, welche eher der Mentalität des späten 19. Jahrhunderts entsprechen. Ob es sich dabei um eine

Zimmermann: Gotthelf 103 bewusste Korrektur des Textes handeln könnte oder – was wahrscheinlicher ist – um eine unbewusste Aktualisierung in eigentlich unterstützender Illustrati- onsabsicht, lässt sich aus der Betrachtung dieser Darstellungen allein nicht ent- nehmen. Möglicherweise bereitete Anker der Text-Bild-Bezug generell Prob- leme, die er nicht zu lösen vermochte; auch der Hinweis von Marc Fehlmann, dass Zahn mit Ankers Vorlagen etwas eigenwillig umgegangen sein könnte, ist bedenkenswert.26 Interessant ist jedenfalls, dass in einem Ölgemälde «Der Gross- vater erzählt eine Geschichte» (1884) die pädagogische Funktion des Grossva- ters im Rahmen des ganzen Hauses noch eher gefasst ist. Mit einem allerdings bedeutenden Unterschied zu Gotthelf: Bei Gotthelf erzählen die alten Männer und Grossväter ihre Geschichten nicht nur den Enkeln, sondern der ganzen Fa- milie (wie etwa in der Schwarzen Spinne), während hier die Trennung zwischen der arbeitenden Familie – angedeutet durch die arbeitende junge Frau (Mutter oder Magd) im Hintergrund – vollzogen ist. Bei Gotthelf sind es die Grossmüt- ter, die den Kindern erzählen. Ja, blickt man auf die Grossvater- und Grossmut- terrollen im 19. Jahrhundert, so ist der Grossvater in der Jahrhundertmitte weit eher noch der sittliche Erzieher, der allenfalls die Knaben in vaterländischer Geschichte unterrichtet. So stellt es etwa Hans Christian Andersen in seinem Märchen Holger Danske (1845) dar.27 Die Märchenstunde, die auch für die klei- nen Mädchen eingerichtet wäre, wie sie Anker in sein Bild rückt, wäre die Stunde der Grossmutter gewesen. Das ändert sich freilich im Lauf des 19. Jahrhunderts, und die bei Gotthelf noch fehlenden empfindsamen Grossväter, die den Kindern erzählen, den Säugling wiegen und Strümpfe stricken, sind am Ende des Jahr- hunderts in Bilddarstellungen nicht ungewöhnlich. Erhard Chvojka sieht dies in seiner Geschichte der Grosselternrollen im Zusammenhang mit einer Entwer- tung des Grossvaters, der seine männlichen Attribute (zugunsten des Vaters) verliere, seine patriarchale Bedeutung einbüsse und zum kindlichen, mitunter schon zum kindischen Greis werden könne.28 Bei Gotthelf stehen dagegen noch die Respektperson des erfahrenen Alten, der Religions- und Sittenlehrer als Ideal des alten Mannes im Vordergrund; dies hat ihn freilich nicht gehindert, die mit- unter deprimierende soziale Situation der Alten zu sehen und etwa zum Gegen- stand in Predigten zu machen. Auch bei anderen Themen zeigt sich, dass es in Ankers Werk durchaus Vor- bilder für eine bessere Illustrierung hätte geben können. Das harmlose Jüngel- chen, welches Anker als Dursli präsentiert, mag zwar den verführten Jungen re- präsentieren, ein eindrucksvolles Bild des Trinkers, dessen innere und äussere Verhältnisse vollkommen zerrüttet sind, sucht man allerdings als Illustration

104 BEZG N° 02/10 umsonst (AWIP, Dursli), obwohl Anker schon 1868 eine in der Tat eindrucks- volle Darstellung Der Trinker als Ölgemälde angefertigt hatte. Nur sehr selten zeigt sich also Anker auf der Höhe seiner eigenen – obschon durch die Darstel- lungsweise harmonisierenden – genauen sozialrealistischen Porträts. Eindrucks- voll in diesem Sinn ist die Darstellung «Und so lebt Elisabeth heute noch in je- nem Schachen, kann nicht leben, kann nicht sterben», aber auch hier zeigt sich, dass Gotthelfs belehrend-ermahnende (paränetische) Rhetorik und Ankers so- zialrealistische Szene zwei ganz konträren ästhetischen, politischen, habituel- len Hintergründen entspringen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Anker, obwohl er selbst die Drastik der Texte und ihre Paränese positiv bewertete, in seinen Illustrationen dennoch einen Beitrag zur Harmonisierung Gotthelfs leistete. Er verzichtete glättend darauf, die eigene sozialrealistische Beobachtungs- und Darstellungs- gabe hier wirksam werden zu lassen. Neben dieser ästhetischen Differenz zwi- schen Illustration und Text ist freilich auch ein bedeutender historischer Ab- stand erkennbar, der sich sowohl im mentalitätsgeschichtlich begründeten Wandel sozialer images (das Alter) wie auch in der volkskundlich-folkloristi- schen Auffassung bäuerlicher Tracht zeigt. Ob Gotthelf auch politisch geglättet werden sollte? Immerhin könnte sich der Eindruck einer Korrektur aufdrän- gen, wenn der radikale Bauernagitator Schnepf – für Gotthelf eine wahre Hass- gestalt – in Ankers Illustration zur Erzählung Dursli der Branntweinsäufer, eher als ein smarter Jüngling erscheint (AWIP, Dursli zu 290, zwischen 292f.). Wäre aber Schnepf nicht ein Repräsentant derjenigen Generation, welche zu den Vä- tern jenes Staatswesens wurde, welches Gotthelf nun mit einer Prachtausgabe zum nationalen Monument machen wollte? Als ein überzeugter Regenerations- liberaler versuchte Gotthelf, in literarischen Gestalten wie Schnepf allerdings gerade den radikalen Bemühungen um eine neue Staatsform zu wehren.

Anmerkungen 1 Gotthelf, Jeremias: Ausgewählte Werke. Illustrierte Prachtausgabe. Nach dem Originaltexte neu herausgegeben von Prof. Otto Sutermeister. Mit zweihundert Illustrationen von A. Anker, H. Bachmann, W. Vigier. 4 Bde. La Chaux-de-Fonds [1894–1900]. – Gotthelf, Jeremias: Ausgewählte Werke. Illustrierte Prachtausgabe. II. Teil. Nach dem Originaltexte neu herausgegeben von Prof. Otto Sutermeister. Mit dreihundert Illustrationen von A. Anker, H. Bachmann, K. Gehri, P. Robert, E. Burnand, B. Vautier. 5 Bde. La Chaux-de-Fonds 1896 –1904. – Nachweise aus dieser Ausgabe werden im laufenden Text nach dem Muster «AWIP, ‹Titelstichwort› Seitenzahl» wieder- gegeben, z. B.: AWIP, Käserei 56. 2 Reber, Alfred: Gotthelf-Ausgaben seit 1854. In: Mahlmann-Bauer, Barbara; von Zimmermann, Christian (Hrsg.): Jeremias Gotthelf – Wege zu einer neuen Ausgabe. Tübingen 2006 (Beihefte zu editio 24), 17–26, hier 18.

Zimmermann: Gotthelf 105 3 «Wenn […] nicht alles abgedruckt, wenn Einzelnes weggelassen wurde, ohne dass dadurch der Zusammenhang oder der Sinn und Charakter des Übrigen die geringste Beeinträchtigung erfuhr, so glaubte der Herausgeber sich einmal dazu ebenso berechtigt, wie dazu, dass er überhaupt dem Publikum eine Auswahl aus Jeremias Gotthelfs Werken bot; dann aber glaubte er sich dazu auch schlechterdings verpflichtet; denn unser Gotthelf will kein blosses Material sein für Quellenforscher und für Philologen, sondern eine Nationallektüre und eine Familien- lektüre, lesbar, geniessbar für alles Volk; er soll den spätesten Zeiten noch der lebende und wir- kende Gotthelf sein, der er seiner Zeit hat sein wollen – hat sein wollen, aber in dem ganzen Um- fange und mit solch weitem und tiefem Eindringen in Geist und Gemüt seines Volkes, wie er es wollte, deswegen es nicht wurde, weil er auch schlechtes geschrieben, was schon den Zeitge- nossen teils anstössig, teils unverständlich war und vollends für unsere Gegenwart ermüdend, uninteressant, ungeniessbar wäre.» (Sutermeister, Otto: Zur Orientierung. In: AWIP, Geld und Geist 5f.) Der Herausgeber gibt also im Nachhinein den Kritikern recht, gegen die Gotthelf sich nun unter der Hand eines Editors wie Sutermeister nicht mehr zur Wehr setzen kann. 4 Der Verlag Zahn verstand sich in diesem Sinn als ein Verlag für repräsentative nationale Projekte. Es erschienen immer wieder Werke in deutscher und französischer Parallelausgabe, welche einem klaren pädagogischen und nationalen Anliegen folgten, so etwa ebenfalls reich illustrierte und ähnlich aufgemachte Publikationen mit Biographien vorbildlicher Schweizer, vgl. von Zimmermann, Christian: «Schweizer eigener Kraft!» – «Die Schweizer Frau»: Komplemen- täre Kollektivbiographik und Geschlechterkonzeptionen im freisinnigen Staat. In: Ders.; von Zimmermann, Nina (Hrsg.): Frauenbiographik. Lebensbeschreibungen und Porträts. Tübingen 2005 (Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft 63), 145–171. 5 Meister, Robert (Hrsg.): Albert Anker und seine Welt. Briefe – Dokumente – Bilder. 4., erw. Auflage. Bern 2000, 106 (dt. Übersetzung des frz. Briefes von Meister). – Vgl. zur Zahn-Edition auch: Müller, Dominik: Illustration als Interpretation: Gotthelfs «Schwarze Spinne» als Bildvorlage. In: Pape, Walter; Thomke, Hellmut; Tschopp, Silvia Serena (Hrsg.): Erzählkunst und Volkserziehung. Das literarische Werk des Jeremias Gotthelf. Mit einer Gotthelf-Biblio- graphie. Tübingen 1999, 321–344, hier 323–325. 6 Ebenda. 7 Fehlmann, Marc: Albert Ankers Babylonische Gefangenschaft. Seine Gotthelf-Illustrationen für den Neuenburger Verleger Frédéric Zahn. In: Gasser, Peter; Loop, Jan (Hrsg.): Gotthelf. Interdisziplinäre Zugänge zu seinem Werk. Frankfurt / M. 2009, 77–120. 8 Schon zeitgenössisch wurde Gotthelf als «Kühdr..litterat[ ]» beschimpft und in einer Karikatur des «Neuen Guckkastens» (14.12.1850) mit der Mistgabel in der Hand gezeigt. Vgl. hierzu: Humbel, Stefan: «mit dem Volke im Koth». Zu einer Ästhetik des Misthaufens. In: Ders.; von Zimmermann, Christian (Hrsg.): Jeremias Gotthelf. München 2008 (Text+Kritik 178/179), 13–24; Donien, Jürgen: «Grosser Volksschriftsteller» und «Kühdr..litterat». Jeremias Gotthelf in der zeitgenössischen Kritik. In: Ebenda, 111–120. 9 Albert Anker, Brief an Julia Hürner im Herbst 1892. In: Meister (wie Anm. 5), 108f. 10 Julia Hürner, Briefe an Albert Anker vom 28. November und 17. Dezember 1892. In: Ebenda, 109f. 11 Fehlmann (wie Anm. 7), 93. 12 Albert Anker, Brief an Julia Hürner vom 28. April 1893. In: Meister (wie Anm. 5), 110. 13 «Gotthelftracht: Sie ist neben der schwarzen Tracht die beliebteste Berner Tracht, obwohl sie erst in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden ist. Als Vorlage dienten Gemälde von Albert Anker, welche der Künstler im Emmental als Illustrationen zu Gotthelfs Büchern ange- fertigt hat. Daher hat diese schlichte, aber dennoch feierliche Tracht ihren Namen. Im Gegensatz zur Festtagstracht gibt sich die Gotthelftracht bescheiden: Der einzige Schmuck ist eine Brosche aus Holz oder oxydiertem Silber. Das ‹Fürtuch› besteht aus Baumwolle statt aus Damast und als Kopfbedeckung ersetzt ein Strohhut die Haube. Ihre Beliebtheit verdankt diese Tracht auch der Tatsache, dass sie sowohl bei der Anschaffung als auch bei der Pflege weniger anspruchsvoll

106 BEZG N° 02/10 ist und zu fast jedem Anlass passt.» (http://www.jkbaergbruenneli-liesberg.ch/trachten.htm, gesehen am 15.01.2010.) 14 Gerade dieser volkskundlich-folkloristische Zugang wurde aber immer stärker erwartet, wie etwa die Kritik an René Beehs Versuche einer anderen Illustrierung durch Otto von Greyerz zeigt. Vgl.: Müller (wie Anm. 5), 326f. 15 Vgl. von Zimmermann, Christian: Wie man (k)ein Volksbuch schreibt. Beobachtungen zu Gotthelfs «Dursli der Branntweinsäufer». In: Humbel / von Zimmermann (wie Anm. 8), 43–55, hier 48. Grundlegend zu Gotthelfs Auffassung vom Amt des Volksschriftstellers vgl. auch: Mahlmann–Bauer, Barbara: Gotthelf als «Volksschriftsteller». In: Mahlmann-Bauer, Barbara; von Zimmermann, Christian; Zwahlen, Sara Margarita (Hrsg.): Jeremias Gotthelf, der Querdenker und Zeitkritiker. Bern 2006 (kulturhistorische Vorlesungen 2004/2005), 21–73. 16 Allerdings entzog Zahn ihm die Illustrierung der Erzählung «Der Notar in der Falle», obwohl die Zeichnungen schon vorlagen. Vgl. Fehlmann (wie Anm. 7), 94. Anker selbst verglich den Verleger mit der Gestalt des Mordiofuhrmanns aus Gotthelfs bekannter Tierschindererzählung im «Neuen Berner-Kalender für das Jahr 1840» (ebenda, 95). 17 Vgl. Müller (wie Anm. 5), 324. 18 Bhattacharya-Stettler, Therese (Hrsg.): Anker. Martigny 2004, Nr. 53, 148f. 19 Vernachlässigt man die Chronologie von Text und Bild, so liest sich Gotthelfs Text als entlarvender Kommentar zu Ankers Harmonisierungstendenz. 20 Fehlmann (wie Anm. 7), 100. Vgl. die Auflistung bei Fehlmann, der freilich nicht auf die unterschiedlichen Sinnhorizonte von Text und Bild eingeht. 21 Zu den Grossvaterfiguren bei Gotthelf vgl.: von Zimmermann, Christian: Jeremias Gotthelfs Der Sonntag des Grossvaters. Grossvaterrollen in literarischen Texten und im literarischen Leben um 1850. In: Wirkendes Wort 56 (2006), 387– 401. 22 Gotthelf, Jeremias: Käthi die Grossmutter, oder Der wahre Weg durch jede Not. Eine Erzählung für das Volk. 2 Bde. Berlin 1847. 23 Gotthelf, Jeremias: Jacobs, des Handwerksgesellen, Wanderungen durch die Schweiz. 2 Teilbde. Zwickau 1846/47. 24 Gotthelf, Jeremias: Das gelbe Vögelein und das arme Margrithli. In: Neuer Berner-Kalender für das Jahr 1840. Ein nützliches Hausbuch zur Unterhaltung und Belehrung. Bern [1839], 55 – 60. 25 Der Gedanke vom tätigen Alter erscheint im literarischen Werk wie in den Predigten immer wieder. Bereits 1819 hat der junge Albert Bitzius – als er noch nicht als Jeremias Gotthelf wirkte – den alten König David als Beispiel für die Tatkraft und Gesundheit desjenigen vorgestellt, der ein sittliches Leben geführt habe: «Aber wen der Geist aus den Banden der Knechtschaft sich losgewunden den Körper sich unterjocht, und herrschend den Menschen durchs Leben geführt, da strahlt er auf der ganzen Bahn im herrlichen Jugendglanze, nimmer schwindet seine Kraft selbst den hinfallenden Körper vermag er zu erheben.» Bitzius, Albert: Dritte Klosterpredigt, Utzenstorf den 1819/28. Januar 1821. Ms. Burgerbibliothek Bern, N Jeremias Gotthelf 20.1/1, S. 3f. – Die Predigt betont dabei das patriarchalische Prinzip des guten Hausvaters, der bis zuletzt sein Haus bestellt. In diesem Sinne sind die guten Alten im Werk vielfach gestaltet. 26 Vgl. Fehlmann (wie Anm. 7), passim. 27 Deutsch: Andersen, Hans Christian: Der Däne Holger. In: Ders., Märchen. […] Übers. von Heinrich Denhardt. Hg. von Leif Ludwig Abertsen. Stuttgart 1986 (RUB 690), 403 – 409. 28 Vgl. Chvojka, Erhard: Geschichte der Grosselternrollen vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Wien, Köln, Weimar 2003 (Kulturstudien. Beiträge zur Kulturgeschichte 33), 230–238.

Zimmermann: Gotthelf 107

Das Ländliche in der Stadt Albert Anker und die Kinderkripppe am Gerberngraben Malinee Müller

Albert Anker wird oft als Maler einer «intakten» ländlichen Gesellschaft bezeich- net, insbesondere wegen seiner Genrekompositionen mit Szenen aus dem Land- leben. Bereits 1857 kündigte er in einem Brief an Otto von Greyerz an, dass er Kompositionen des ländlichen Lebens malen wolle, die er als «kleine Dorfge- schichten» bezeichnete. Christoph von Tavel zählt dreissig Gemälde auf, die den kleinen Dorfgeschichten zuzuordnen sind.1 Drei dieser dreissig Dorfgeschich- ten stellen allerdings Szenen aus der städtischen Gesellschaft dar.

Kinderkrippe in der Stadt Bern Es handelt sich dabei um die Bilder mit den Titeln «Die Kinderkrippe I» («La crèche I», 1890),2 «Die Kinderkrippe II» («La crèche II», 1894)3 und «Kleinkin- derschule auf der Kirchenfeldbrücke» («La crèche en promenade», 1900).4 Diese Bilder stellen die Kinder in der Krippe am Gerberngraben in der Stadt Bern dar.5 Die beiden ersten Krippenbilder zeigen die Kinder beim Essen («Die Kin- derkrippe I») und beim Spielen («Die Kinderkrippe II») im Innenraum der Krippe, das dritte Bild die Krippenkinder beim Spaziergang auf der 1883 einge­ weihten Kirchenfeldbrücke. Auf allen drei Bildern werden die Kinder von einer Diakonisse betreut. Die beiden Bilder, welche den Innenraum der Krippe zei- gen, lassen gar nicht erkennen, dass es sich um die Darstellung von städtischen Szenen handelt. Zu sehr gleichen die Darstellungen der Krippe den Darstellun- gen von ländlichen Schulen durch Albert Anker. Aber auch das Bild, das die Kin- der auf der Kirchenfeldbrücke darstellt, macht den Eindruck, als könnte es sich auch um eine ländliche Szene handeln. Albert Anker hat einen Bildausschnitt gewählt, der nur sehr wenig von der Stadt zeigt. Der Hintergrund wird nicht vom teilweise abgebildeten Münster geprägt, sondern von den Bäumen auf der Münsterplattform und den grünen Hügeln am rechten Aareufer. Einzig das mo- derne gusseiserne Brückengeländer mutet städtisch an. Und doch handelt es sich bei den Krippenbildern um die Darstellung einer Institution, die von der städtischen Gesellschaft hervorgebracht wurde und bis weit in das 20. Jahrhundert hinein nur in Städten und Industrieregionen zu fin- den war. Die agrarisch geprägte ländliche Gesellschaft brauchte keine Kinder- krippen oder anderen Institutionen zur ausserschulischen Kinderbetreuung. Die Trennung zwischen Wohnen und Arbeitsplatz war noch nicht weit fortge- schritten; dies ermöglichte auch armen Kleinbauern und Heimarbeitern die

Müller: Kinderkrippe 109 Albert Anker, Die Kinderkrippe I, 1890, Öl auf Leinwand, 79,5 x 142 cm, Kat. Nr. 452 – Museum Oskar Reinhart am Stadtgarten, Winterthur.

110 BEZG N° 02/10 Albert Anker, Kleinkinderschule auf der Kirchenfeldbrücke, 1900, Öl auf Leinwand, 76 x 127 cm, Kat. Nr. 565. – Gottfried-Keller-Stiftung, Kunstmuseum Bern.

Müller: Kinderkrippe 111 Kinderbetreuung.6 Erst durch die Landflucht wurden die familiären Netze aus- einander gerissen – die Grossmütter kamen nicht mit in die Stadt. Und die Mäd- chen, welche alt genug für die Kinderbetreuung gewesen wären, wurden, wenn möglich, zur Lohnarbeit geschickt. Ausserdem waren die Familien durch die harte Arbeit und die langen Arbeitszeiten stark belastet und oft zerrüttet.7 Die kleinen Kinder liefen Gefahr zu verwahrlosen. Aus dieser Erkenntnis he- raus wurde 1844 die erste Kinderkrippe als soziale Institution in Paris gegrün- det.8 Die Krippe im Berner Gerberngraben wurde 1876 durch das Berner Diako- nissenhaus eröffnet und fortan von den Diakonissen geführt, was auch auf den Darstellungen Ankers ersichtlich ist.9 Gemäss dem Reglement der Krippe wur- den Kinder im Alter von vierzehn Tagen bis zu vier Jahren betreut.10 Die Krippe als Sozialwerk war für Kinder gedacht, deren Mütter aus existenziellen Gründen nicht in der Lage waren, die Kinderbetreuung selbst zu übernehmen, und auch keine andere Möglichkeit zur Kinderbetreuung wahrnehmen konnten.11 Dieser kurze sozialgeschichtliche Exkurs zeigt auf, dass es sich bei den Krip- penbildern um Bilder von Kindern in der städtischen Gesellschaft im ausgehen- den 19. Jahrhundert handelt. Trotzdem atmen insbesondere die beiden ersten Bilder eine ländliche Stimmung. Die Entstehungsgeschichte des ersten Krip- penbildes gibt Anhaltspunkte, wie Albert Anker die ländliche Atmosphäre in die Darstellung dieser städtischen Szenen gebracht haben könnte. Ende der 1880er-Jahre gab Albert Anker das Atelier und die Wohnung in Pa- ris auf und verlegte den Wohnsitz der Familie nach Ins. Im gleichen Zeitraum begann seine intensive kulturpolitische Tätigkeit – unter anderem durch die Wahl in die Eidgenössische Kunstkommission und in den Stiftungsrat der Gott- fried-Keller-Stiftung. Diese Tätigkeit und Besuche bei seinen Freunden Eugène Michaud12 und Horace Edouard Davinet13 führten ihn immer wieder in die Bun- desstadt. Es ist anzunehmen, dass er bei einem seiner Besuche die Krippe oder vermutlich vielmehr vor der Krippe spielende Kinder entdeckte. Daraufhin stellte er Skizzen von der Krippe her. Wie er seinem Freund Ehrmann berich- tet, stellte er auch am Sonntag Studien an, wenn sich keine Kinder in der Krippe aufhielten.14 Eine dieser Skizzen, deren Wert er auf mindestens hundert Fran- ken schätzte, spendete Anker 1894 der Krippe.15 In einem Schreiben an Davi- net drückte er die Sorge aus, dass das Geld nicht in die richtigen Hände gera- ten könnte, da die Diakonisse ihn schriftlich anfragt hatte, ob das Geld für sie oder für die Kinder bestimmt sei. Anker meinte weiter, wenn er eine der Damen des Komitees kennen würde, so würde er diese anfragen, ob das Geld angekom- men sei und für die armen Kinder verwendet würde.16

112 BEZG N° 02/10 Die Stadt wird zum Dorf Erhaltene Studien,17 die den leeren Innenraum der Krippe zeigen, zeugen von dieser Arbeit. Albert Anker vernichtete einen grossen Teil seiner Skizzen, da er das Papier weiter verwendete. Es ist ein Glücksfall, dass etliche Skizzen und Studien des ersten Krippenbildes erhalten geblieben sind. So ist eine Kohleskizze in den Dimensionen des Bildes, datiert 1889, grösstenteils – Anker brauchte wohl schnell Skizzenpapier und riss Teile weg – erhalten. Es fällt sofort auf, dass die auf der Skizze dargestellten Kinder jünger sind als die Kinder auf dem endgül- tigen Werk. Das Alter der skizzierten Kinder entspricht dem Alter der älteren Krippenkinder. Die Kinder, welche auf den endgültigen Krippenbildern darge- stellt sind, sind deutlich älter als vier Jahre. Wenn es sich nicht um Kinder aus der Krippe handelt, welche Kinder stellte Anker dann dar? Im Gerberngraben befand sich auch eine «Gaumschule» – so wurden in Bern die Kleinkinderschulen, Schulen für vier- bis sechsjährige Kinder, bezeichnet –, die von der burgerlichen Privatarmenanstalt betrieben wurde.18 Es wäre nahe- liegend anzunehmen, dass Anker Kinder dieser «Gaumschule» porträtierte; da- mit wäre auch die Diskrepanz zwischen dem französischen Bildtitel «La crèche en promenade» und der deutschen Übersetzung «Kleinkinderschule auf der Kir- chenfeldbrücke» zu erklären. Dennoch scheint es sich bei den dargestellten Kindern nicht um Kinder aus Bern zu handeln. Das definitive Bild ist nicht in der Krippe entstanden, sondern wurde im Atelier auf Grund des reichen Skizzen- und Studienmaterials in lang- wieriger Arbeit erstellt; als Modelle im Atelier dienten Anker Kinder aus Ins.19 Wie Matthias Brefin berichtet, soll es sich beim rothaarigen Mädchen ganz vorn auf der Bank um Elisabeth Oser (1888–1982) – die Enkelin von Albert Anker – handeln. Matthias Brefin beruft sich dabei auf die Dargestellte selbst, die spä- ter als Kunstmalerin tätig war und von den Grosskindern möglicherweise den besten Zugang zu Albert Anker hatte. Der Berner Mundartforscher Emanuel Friedli gibt einen wichtigen Hinweis zur Entstehung der Bilder von Albert Anker. In seinem Werk über die verschie- denen Dialekte im Kanton Bern erzählt er im Band über Ins, der vier Jahre nach dem Tod des Malers erschien, im Seeländerdialekt aus dem Leben Albert An- kers.20 Dabei lässt er immer wieder die Bevölkerung von Ins in ihrem Dialekt zu Worte kommen. Friedli berichtet, dass Anker seine Modelle hauptsächlich in Ins und Umgebung suchte. Er erzählt, dass die Bewohner von Ins gerne in den Bändern mit den Reproduktionen der Ankerbilder blätterten. Sie versuchten zu erkennen, wer wo abgebildet war. Auf den ersten Blick sehe man, das sei dieser

Müller: Kinderkrippe 113 Albert Anker, Entwurf zur Kinderkrippe I, Dezember 1889, Kohle auf Papier, ca. 80 x 140 cm [Ausschnitt]. – Privatbesitz.

114 BEZG N° 02/10 oder jener. Ein Mädchen aus Ins wird als die Person erkannt, die in der Tracht einer Diakonisse Modell gestanden hat: «d’s Riggi Eliis isch als di lieplich ‹Schwester› in der ‹Krippe› uuf- (oder aab-) g’figuurt» (Elsbeth Riggi ist als lieb- liche «Schwester» der «Krippe» dargestellt).21 Die Dargestellte war also in Ins bekannt, obwohl aus dem Briefwechsel von Anker mit seinen Freunden Michaud und Davinet hervorgeht, dass er die Diakonisse in der Krippe nicht näher kannte.22 Es kann damit angenommen werden, dass sowohl für die Diakonisse als auch für die Kinder in der Krippe Bewohnerinnen und Bewohner aus Ins und Umgebung Modell gesessen haben. Damit hat Anker gewissermassen die Kinder aus dem Seeland in die Stadt Bern gestellt und folglich in seinem See- länder Atelier Kinder der ländlichen Gesellschaft in einer städtischen Szene dar- gestellt. Es ist davon auszugehen, dass auch für die beiden anderen Bilder, «Die Kinderkrippe II» und «Kirchenfeldbrücke», Modelle aus Ins und Umgebung porträtiert wurden. Auf dem zweiten Krippenbild findet sich ein interessantes Detail, das auf die städtische Gesellschaft hinweist. Die Kinder spielen mit Holzklötzchen, wie sie von Friedrich Fröbel für den Kindergarten entwickelt wurden.23 Dieses Spiel- zeug dürfte wohl im Seeland nicht alltäglich gewesen sein, auch Kindergärten gab es vornehmlich in der Stadt. Die Berner «Gaumschulen» wurden nach den Prinzipien des Fröbelschen Kindergartens geführt.24 Vermutlich hat Anker nicht zwischen der Kinderkrippe und der Kleinkinderschule unterschieden und das Spielzeug der Kleinkinderschule in das Bild der Krippe übernommen. Das Vorgehen Albert Ankers, das die Stadt zum Dorf werden lässt, wirft auch einen Blick auf seinen Realismus. Anker hat sich zwar um die exakte räumliche Wiedergabe der Krippe bemüht, fühlte sich aber bei der personellen Besetzung frei. Die Kinder auf den Bildern sind älter als in Wirklichkeit, und es wurden keine Krippenkinder aus der Stadt Bern porträtiert, sondern Kinder aus der Umgebung von Ins. Auch waren die Zustände in der Krippe nicht so idyllisch, wie sie auf den Bildern erscheinen. Anker selbst schreibt in einer Postkarte an Davinet von den kleinen Unglücklichen («petits malheureux») in der Krippe.25 In einem Brief an Michaud erwähnt er, dass bei der Ernährung der Kinder selbst am nicht gerade wohlriechenden Fett gespart wurde. Wenn überhaupt, stellt Anker missliche Umstände nur am Rande dar. So findet sich auf dem ersten Krippenbild ein ausgegrenztes, schmutziges Kind, das im Hintergrund auf ei- nem Schemel oder Nachttopf sitzt. Und auf dem zweiten Krippenbild ist ein krankes Kind zu sehen, das gepflegt wird. Auch wenn die Krippenbilder nicht die ländliche Gesellschaft darstellen, so

Müller: Kinderkrippe 115 Albert Anker, Die Kinderkrippe II, 1894, Öl auf Leinwand, 61 x 112 cm, Kat. Nr. 496 [Ausschnitt]. – Privatbesitz.

116 BEZG N° 02/10 weisen sie doch auf ein zentrales soziales Problem der ländlichen Gesellschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert hin. Die Landflucht war eine Folge der Krise der Agrarwirtschaft, die wesentlich durch den Einbezug der Schweiz in die welt- weiten Agrarmärkte seit den frühen 1880er-Jahren verursacht wurde.26 Eine Konsequenz der Landflucht war die Konzentration der sozialen Problemen in der Stadt. Die Betreuung von Kindern aus sozial schwachen Familien durch die Diakonissen in der Krippe war eine der zahlreichen Anstrengungen von priva- ten Institutionen, sich der sozialen Probleme anzunehmen.27 Sozialhistorisch betrachtet, verweisen die Krippenbilder Albert Ankers also zum einen auf die Schattenseiten der ländlichen Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts, auf Armut und Landflucht. Zum anderen stehen sie aber auch für eine gewisse Offenheit Ankers gegenüber der Moderne und deren Antworten auf die Heraus- forderungen der neuen Zeit.

Anmerkungen 1 Tavel, Hans Christoph von: «informell» Albert Anker – Das Werk aus heutiger Sicht. Bern 1985, 38. 2 Kuthy, Sandor; Bhattacharya-Stettler, Therese: Albert Anker. Werkkatalog der Gemälde und Ölstudien. Catalogue raisonné des oeuvres à l’huile (Hrsg. Kunstmuseum Bern). Basel 1995, 205 (Kat. Nr. 452). 3 Kuthy / Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 2), 219f. (Kat. Nr. 496). 4 Kuthy / Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 2) 241f. (Kat. Nr. 565.) In seinem «livre des ventes» verwendete Albert Anker durchwegs französische Bezeichnungen für seine Bilder, die deutsche Übersetzung weist hier eine inhaltliche Differenz zum französischen Titel auf (s.u.). 5 Die folgende Darstellung stützt sich auf: Müller, Malinee: Albert Ankers Kinderkrippen – Bilder vor dem Hintergrund der theologischen und gesellschaftlichen Strömungen seiner Zeit. Lizenziatsarbeit Theologische Fakultät. Bern 2006. Der Gerberngraben war ein natürlicher Geländeeinschnitt, der für die mittelalterliche Befestigungsanlage verwendet wurde. Später wurden in diesem Graben die Häuser der Gerber angelegt, daraus erfolgte die Namensgebung. Zwischen 1935 und 1937 wurde der Graben vollständig aufgeschüttet, um den Casinoplatz verkehrsgerecht zu gestalten. Die ehemalige Krippenliegenschaft liegt deshalb unter der heutigen Kochergasse im Casinoparking. 6 Fritsche, Bruno; Lemmenmeier, Max: Die revolutionäre Umgestaltung von Wirtschaft, Gesell- schaft und Staat 1780–1870. In: Geschichte des Kantons Zürich, Bd. 3. Zürich 1994, 20–157, hier 59. 7 Tögel, Bettina: Die Stadtverwaltung Berns: der Wandel ihrer Organisation und Aufgaben von 1832 bis zum Beginn der 1920er Jahre. Zürich, 2004, 212f.; siehe zur Einwanderung in die Stadt Bern umfassend: Lüthi, Christian: «In der Hoffnung eines Schlaraffenlebens …» Sozialgeschichte der Zuwanderung in die Stadt Bern während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Lizenziatsarbeit Historisches Institut. Bern 1994. 8 Tögel (wie Anm. 7), 213. 9 Dändliker, Johann Friedrich: Ebenezer, oder: Fünfzig Jahre des Diakonissenhauses Bern. Bern 1950, 65.

Müller: Kinderkrippe 117 10 Muhlig, Nathalie: A la recherche du temps passé. Diplomarbeit. Ecole d’études sociales et pédagogiques Lausanne,1980, 38. 11 Tögel (wie Anm. 7), 212f.; Bähler, Anna; Lüthi, Christian: Unterschiedliche Lebensweisen auf engstem Raum. Aspekte des gesellschaftlichen Wandels. In: Barth, Robert; Erne, Emil; Lüthi, Christian (Hrsg.): Bern – die Geschichte der Stadt im 19. und 20. Jahrhundert. Stadtentwicklung, Gesellschaft, Wirtschaft, Politik, Kultur. Bern 2003, 231–294. 12 Eugène Michaud (1839–1917), Professor für christkatholische Theologie. 13 Horace Edouard Davinet (1831–1922), Architekt und Direktor des Kunstmuseums. 14 Anker in einem Brief an Ehrmann, datiert: début juin 1890. Depositum Burgerbibliothek Bern. 15 Brief Anker an Michaud, 25.2.1894, und Postkarte Anker an Davinet, 22.3.1894. Depositum Burgerbibliothek Bern. 16 Postkarte Anker an Davinet, 22.3.1894. Depositum Burgerbibliothek Bern. 17 Kuthy / Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 2), 204f. (Kat. Nr. 446–451). 18 Tögel (wie Anm. 7), 213. 19 Dies entspricht allgemein der Arbeitsweise Ankers. Messerli, Isabelle: Albert Anker: sein Atelier – seine Requisiten – seine Modelle. In: Bhattacharya-Stettler, Therese (Hrsg.): Albert Anker. Catalogue, Exposition Fondation Pierre Gianadda, Martigny 2003–2004. Lausanne 2003, 65−73. 20 Friedli, Emanuel: Ins. Berndütsch als Spiegel bernischen Volkstums, Bd. 4. Bern 1914 (Nachdruck 1980), 357–466. 21 Friedli (wie Anm. 20), 384 [Übersetzung durch die Verfasserin]. 22 Brief Anker an Michaud, 25.2.1894, und Postkarte Anker an Davinet, 22.3.1894. Depositum Burgerbibliothek Bern. 23 Siehe zur Bedeutung der Kinderspielsachen bei Anker: Messerli, Isabelle: Kinderwelten unter Stroh- und Ziegeldächern. In: Frehner, Matthias; Bhattacharya-Stettler, Therese; Messerli, Isabelle (Hrsg.): Albert Anker – Schöne Welt. Ausstellungskatalog Kunstmuseum Bern. Bern 2010 (im Druck). 24 Tögel (wie Anm. 7), 214. 25 Postkarte Anker an Davinet, 22.3.1894. Depositum Burgerbibliothek Bern. 26 Pfister, Christian: Geschichte des Kantons Bern seit 1798. Band 4: Im Strom der Modernisierung. Bevölkerung, Wirtschaft und Umwelt 1700–1914. Bern 1995, 126–159. 27 Einen zeitgenössischen Überblick über die sozialen Institutionen vermitteltet: Demme, Kurt: Die humanitären und gemeinnützigen Bestrebungen und Anstalten im Kanton Bern. Bern 1904.

118 BEZG N° 02/10 Albert Anker als Vater und Grossvater Erinnerungen aus der Familie Matthias Brefin

Wenn wir Albert Ankers Oeuvre vor Augen haben, fällt auf, dass auf der Mehr- zahl der Bilder Kinder Modell gestanden haben. Dies mag verschiedene Gründe haben: Sicher hatten die Kinder am ehesten Zeit, im Atelier des Malers ein paar Stunden zu sitzen, seinen Erzählungen zu lauschen und auch frisch von der Le- ber weg zu plaudern, wie die köstlichen Einträge belegen, die Anker säuberlich in einem eigens gebundenen Büchlein gesammelt hat. «Rächt wüescht isch halt o schön – mängisch», bemerkte beispielsweise ein Modell, oder ein anderes: «Dir müesset o no lang gäggele, bis so ne Tafele fertig isch.»1 Darüber hinaus muss Anker aber auch ein besonderes Interesse an Kindern gehabt haben – an seinen eigenen, dann an den Grosskindern und überhaupt an den Kindern im Dorf und von seinen vielen Freunden, denen er oft Pate stand – auch über 30 Kindern im Dorf war er «Götti» und unterstützte so häufig arme Familien. Ein Aufsatz, den er unter einem Pseudonym in der Suisse Libérale 1898 veröffent- lichte unter dem Titel «Le premier développement de l’enfant» zeugt von seiner genauen Beobachtungsgabe und seiner für damalige Zeit fortschrittlichen Pä- dagogik.2 Was wissen wir von Albert Anker als Vater und Grossvater? Glücklicherweise sind in der Familie der Nachfahren viele Geschichten, Bonmots und Anekdo- ten überliefert, die uns sein Verhältnis zu den Kindern und Grosskindern leben- dig illustrieren. Ein besonderes Bijou sind drei Hefte mit Zeichnungen, welche Anker speziell für seine Töchter hergestellt hat. Er erzählte ihnen selbst erfun- dene Geschichten und zeichnete gleichzeitig dazu die Bilder. Fasziniert berich- ten später seine Kinder wie auch seine Grosskinder von seiner besonderen Be- gabung, sich trotz seines enormen Wissens gleich auf die Stufe der Kinder einzustellen und ihre Seele zu erreichen. Ein glücklicher Zufall erlaubt, aus einem kürzlich im Familiennachlass wie- dergefundenen Heft zu zitieren. Elisabeth Oser, eine Enkelin Ankers aus Basel und die einzige der Nachfahren, welche noch den Beruf als Malerin wählte und ausübte, berichtet darin etwa 20-jährig über ihre Erinnerungen an die Grossel- tern in Ins. Madame Elisabeth de Meuron, eine Verwandte von Ankers Schul- freund Albert de Meuron aus der Neuenburger Zeit, hatte sie darum gebeten, in einem Kreis interessierter Damen eine «Causerie» zu halten. «Anet [Ins, d. Verf.], das Dorf zwischen Bern und Neuchâtel gelegen, wo un- sere Grosseltern wohnten, schien für uns das Paradies auf Erden zu sein. Selbst als Kinder ahnten wir, wie sehr Grossvater seine Malerei liebte. Ohne die Ge- wissenhaftigkeit der Grossmutter hätte er gewiss noch die Zeit der Mahlzeiten vergessen. Er hatte eine besondere Vorliebe für die Schokoladencreme, und als

Brefin: Erinnerungen 119 eines schönen Tages dieses Dessert auf dem Menuplan erschien, stürzten wir die Treppe zum Atelier empor und riefen: ‹Grossvater es gibt Schokoladencreme!› – worauf er sofort seine Pinsel ablegte und uns nach unten folgte, lachend und diese Delikatesse besingend. Im Sommer nahmen wir die Mahlzeiten unter dem grossen Dach hinter dem Haus ein. Wenn die Suppe sehr heiss war, bemerkte der Grossvater, indem er eine Augenbraue hochzog und scheinbar ängstlich die Antwort der Grossmut- ter erwartete – die er aber schon im voraus kannte –‚ ‹wenn jetzt Mama nicht hier wäre, würden wir mit unseren Suppentellern einen Rundgang durch den Garten machen, das würde die Suppe abkühlen›. Grossmutter aber lachte nur und schüttelte den Kopf, denn sie liebte solche Zeremonien nicht besonders. Wenn wir für die Sommer Ferien über La Neuveville und von dort mit dem Schiff über Erlach nach Ins kamen, empfing uns dort meistens die Grossmut- ter mit dem Break des Bären (das Hotel in Ins), selten nur der Grossvater, wel- cher seine Malerei nur unterbrach, wenn wir mit lautem Getöse ins Atelier stürmten, um ihm unsere Ankunft anzuzeigen. Dann drehte er sich um, blickte über seine Brille und lachte. Er war weitsichtig, also hatte er die Gewohnheit, alles, was weit weg war, über die Brillenränder hinweg zu betrachten, während er zum Malen durch sie hindurch blickte. Und schon bald waren wir in eine in- teressante Konversation verwickelt. Er fragte uns – ohne jede Pedanterie übri- gens –, was uns in der Schule am meisten gefiel und welche Lekture wir bevor- zugten, was uns eine aussergewöhnliche Mischung schien. Meine Schwester [Dora Brefin-Oser, d. Verf.] war eine eifrige Leserin und las ihm oft vor, wäh- rend er malte. So verschlang sie mit enormem Eifer die ganze Odyssee. Damals ging sie noch in die Primarschule, aber Grossvater wusste genau, dass auch ein Kind den Abenteuern des Odysseus mit klopfendem Herzen folgen kann. Der Keuchhusten war für uns eine besonders gesegnete Zeit, denn diese Krankheit brachte uns als vom Arzt verschriebene Luftveränderung einen Auf- enthalt in Ins ein. Es war Winter und es hatte stark geschneit, also verbrachten wir grosse Teile des Tages beim Schlitteln. [Der Schlitten mit der Inschrift von Dora steht immer noch im Ankerhaus, d. Verf.] Aber die Kehrseite der Medaille waren die Aufgaben, die uns die Lehrerin vorschrieb, denn sie wünschte, dass wir auf dem Niveau der anderen Schüler blieben. Das Rechnen, das ging noch, aber der Anblick all dieser Seiten mit Buchstaben zum Nachschreiben – da über- kam Grossvater ein grosses Mitleid. Ich erinnere mich, wie er unsere Hefte nahm, worin unsere Lehrerin an jedem Zeilenanfang einen schönen Buchsta- ben gemalt hatte. Für mich waren die Grossbuchstaben an der Reihe – das ganze

120 BEZG N° 02/10 Albert Anker, Elisabeth Oser als junges Mädchen, Aquarell auf Papier, ca. 20 x 30 cm. – Privatbesitz.

Brefin: Erinnerungen 121 Alphabet kam dran. Jede von uns musste einen Buchstaben neben den der Leh- rerin schreiben. ‹Damit ich sehe, wie ihr schreibt›, sagte der Grossvater. Der erste, den ich schrieb, war natürlich schlecht geraten und ganz verwackelt. Grossva- ter versuchte, ihn genau zu kopieren, fand aber, dass seine Buchstaben zu we- nig zittrig seien, worauf er uns bat, auf beiden Seiten am Tisch zu rütteln, meine Schwester und ich. Das Resultat war prächtig und verursachte grosses Geläch- ter auf allen Seiten. Aber die Lehrerin in Basel sah das mit anderen Augen und rief erschreckt aus, als sie in unseren Heften blätterte: ‹Das ist ja schrecklich, Du machst in den Zeilen überhaupt keine Fortschritte von einer Seite zur an- dern!› und entschlossen setzte sie ans Ende jeder Seite eine 3 oder gar eine 3–4. [1 war damals die beste Note, d. Verf.] Ich dachte dabei nur: Wie kann die Leh- rerin dem Grosspapa solch schlechte Noten geben.»3 Im Inser Atelier befinden sich immer noch Stabpuppen, welche Albert An- ker aus alten Malstäben und Stoffresten von Kleidern seiner Modelle und Fa- milie gebastelt hatte. Gelegentlich erscheinen sie auch auf Bildern. Um seine Modelle zu beruhigen und aufmerksam werden zu lassen, spielte er damit oft Geschichten hinter einem Paravent versteckt. Ein besonderes Detail, welches uns auch Elisabeth Oser berichtet: Das rote Kleid des bösen Mannes war aus dem Hosenstoff eines Bourbakisoldaten geschneidert, der im Haus gepflegt und da verstorben war. Die Familie hatte den traurigen Durchzug dieser geschlage- nen Armee betroffen miterlebt. Im Kontakt mit den Kindern kam auch Ankers grosses pädagogisches Inter- esse zum Zug. Dass er über Jahre in der Schulpflege sass und gerne die Klassen besuchte – nicht zuletzt, weil er dort nach Modellen Ausschau halten konnte –, ist in vielen Dokumenten belegt. Er verfolgte jeden Entwicklungsschritt seiner Kinder und Grosskinder und hielt sie in treffenden Zeichnungen, gelegentlich auch in Ölbildern fest. Im Ankerhaus ist eine Rarität erhalten geblieben aus dem Jahr 1866. Es ist eine fotografische Aufnahme nach einer alten Technik, eine Pannotypie. Die Aufnahme wurde damals auf Tuch (lat. Pannum = Tuch) auf- gezogen, um so den Effekt eines auf Leinwand gemalten Bildes zu erhalten, und war so auch nicht mehr zerbrechlich wie die damals üblichen Daguerreotypien. Darauf sehen wir Albert Anker mit seiner ältesten Tochter Louise auf dem Schoss, wie er ihr eine Geschichte erzählt und diese dabei gleichzeitig illust- riert. Spielsachen wählte er so, dass das Spielen immer auch ein Lernen war. Kinder sollten sich spielend Fähigkeiten aneignen und Wissen vermehren. Noch sind im Haus über 100 solcher Spielsachen erhalten und wurden liebevoll ge- pflegt und benutzt.4

122 BEZG N° 02/10 Albert Anker und Louise, Pannotypie, um 1866, 55 x 78 mm (Lichtmass). Foto Badri Redha, Archäologischer Dienst des Kantons Bern. – Stiftung Albert Anker-Haus Ins.

Brefin: Erinnerungen 123 Besonders getroffen haben Albert Anker die Todesfälle von Kindern in sei- ner Familie. Als er noch das Gymnasium in Bern besuchte, starben seine Mut- ter Marianne und sein Bruder Rudolf, kurz darauf auch seine besonders geliebte Schwester Louise. Als ob er sich selber Mut zusprechen wollte in dieser schwie- rigen Zeit, schrieb er in grossen gotischen Buchstaben auf seinen Massstab: «Siehe, die Erde ist nicht verdammt.» Der Satz stammt aus dem in der Familie oft benutzten Katechismus des Neuenburger Pfarrers Osterwald in einem Kom- mentar zum Hiobbuch, welches Anker Zeit seines Lebens besonders gerne und in der Ursprache Hebräisch las.5 Als dann sein erster Sohn Ruedeli erst dreijäh- rig starb und er in einem rasch gemalten Bild vom toten Büblein Abschied nahm und die bewegenden Worte hineinkratzte: «Du liebe, liebe Ruedeli», konnte er in seinem Schmerz mehrere Wochen nicht mehr malen. Auch sein zweiter Sohn Emil durfte nicht lange leben und starb einjährig 1871 in Paris kurz nach dem Krieg, wahrscheinlich an Cholera. Auch ihn hat der Vater in einer berührenden Zeichnung auf dem Totenbett festgehalten. Die drei Töchter heirateten und der Kontakt blieb rege erhalten durch Briefe und Besuche. Am Gedeihen der Grosskinder wiederum nahm der alternde Ma- ler rege Anteil und schrieb auch ihnen köstliche Briefe. Der einzige gross ge- wordene Sohn Maurice suchte schon früh die Freiheit und das Abenteuer, lernte Schiffszimmermann am Technikum in Winterthur und erlebte als Matrose über Jahre viele Abenteuer auf See und in fernen Ländern, wie Briefe und Karten aus exotisch klingenden fernen Ländern beweisen. Lange verlief sich seine Spur im Ungewissen, in der Familie wusste man nur, dass er schliesslich nach Amerika ausgewandert sei, dort geheiratet hatte und zwei Töchter hatte. Vor ein paar Jahren gelang es mir, seinen Grosssohn in Texas ausfindig zu machen, bei wel- chem sich noch etliche Dokumente des fast verschollenen Sohnes fanden. So liess sich dessen bewegtes Leben rekonstruieren und der Zusammenhalt mit der Familie wieder herstellen, was sicher im Sinne des «Stammvaters» Albert wäre. Dazu gehört auch eine von Anker selbst gemalte Strassenkarte für den Weg von Ins nach Oberburg, wo Maurice in einem Internat untergebracht wurde, wäh- rend die Familie im Winter in Paris weilte. Vor lauter Heimweh sei der 12-jäh- rige Bub anhand der Karte zu Fuss wieder daheim aufgetaucht! Im Alter sinnierte Anker oft über das Sterben und den Tod nach. In seinen Carnets, den berühmten Tagebüchern, notierte er mehrere Male in leuchtender Farbe «EUTHANASIA». Als ehemaliger Theologiestudent las er Griechisch, He- bräisch und Latein fliessend. Euthanasia bedeutete damals nicht wie heute Ster- behilfe, sondern die Lehre vom guten Tod – also die wörtliche Deutung, auf

124 BEZG N° 02/10 Albert Anker, Ruedi Anker auf dem Totenbett, 1869, Öl auf Leinwand, 34 x 64 cm, Kat. Nr. 138. – Sammlung Christoph Blocher.

Brefin: Erinnerungen 125 Lateinisch bekannter als Ars Moriendi. Dies bezeugt, wie sehr sich Albert An- ker Zeit seines Lebens mit den philosophischen und religiösen Fragen über Le- ben und Tod beschäftigt hat. Im oben zitierten Bericht von Elisabeth Oser le- sen wir weiter: «Eines Tages, als ich noch klein war, fragte ich ihn unvermittelt: ‹Grand- papa, bist Du der Grösste unter den Malern?› Er lachte und antwortete: ‹Oh nein, liebes Kind.› Darauf ich: ‹Wer dann ist der Grösste?› ‹Das ist schwierig zu sagen›, antwortete er, ‹man könnte vielleicht sagen Velasquez›, ‹und danach kommst Du?› ‹Oh›, sagte er, ‹neben Velasquesz bin ich wie eine Laus neben ei- nem Elephanten!› Ich aber dachte, da müsse etwas falsch sein, denn Grand- papa hatte nichts von einer Laus. Als Grand-papa alt wurde, sprach er oft über den Tod und sagte, er hoffe, den alten Rafael in den Champs Elisés zu treffen um bei ihm ein paar Malstun- den zu nehmen. Wir aber fielen ihm ins Wort: ‹Oh nein, Grosspapa, Du darfst nicht sterben, Du musst noch lange bei uns bleiben!› ‹Oh›, sagte er eines Abends, ‹Du ahnst nicht, wie sehr ich mich freuen würde und lachen, wenn ich morgen im Himmel erwachen dürfte. Ich bin jetzt alt und lebenssatt wie die Patriarchen in der Bibel.›»

So geschah es dann auch am Morgen des 16. Juli 1910. Er war 79 Jahre alt geworden, hatte nach seinem ersten Schlaganfall noch 9 Jahre intensiv weiter- gearbeitet und vor allem mehrere hundert Aquarelle gemalt bis zum letzten Tag. Als er sich erheben wollte, traf ihn ein zweiter Schlaganfall und er starb. In ei- nem Staatsbegräbnis wurde er in Ins beerdigt, wo noch heute sein Grab mit ei- nem Zitat aus dem Buch Hiob zu besichtigen ist.

126 BEZG N° 02/10 Bleistiftzeichnung aus Albert Anker, Illustriertes Geschichtenbüchlein für Louise Anker, 1867, 17,4 x 7 cm. – Privatbesitz.

Albert Anker, Der Weg von Ins nach Oberburg, gemalt für seinen Sohn Moritz, 1884, Wegkarte, Aquarell und Tusche auf Papier über Leinwand. – Stiftung Albert Anker-Haus Ins.

Geschenk der Enkelkinder an Albert Anker. Papeterie «A notre Grand Père», 1. Januar 1903, Pappe, Papier, Aquarellfarbe, bemalt, geklebt, beschriftet. – Stiftung Albert Anker-Haus Ins.

Brefin: Erinnerungen 127 Anmerkungen 1 Zitate von Modellen, aus Albert Ankers Carnets. Stiftung Albert Anker-Haus Ins. 2 Anker, Albert: «Le premier développement de l’enfant». In: La Suisse Libérale, Neuchâtel, Nr. 102, 5.5.1898. 3 Oser, Elisabeth: «Causerie» (Plauderei), um 1910. Handgeschriebenes Heft der Enkelin Ankers, übersetzt aus dem Französischen von Matthias Brefin, Stiftung Albert Anker-Haus Ins. 4 Die Spielsachen im Anker-Haus sind inventarisiert: Messerli, Isabelle: Inventar II.S. Spielsachen, Stiftung Albert Anker-Haus Ins, 2007 (unveröffentlicht). 5 Siehe dazu den Beitrag von Gerrendina Gerber-Visser in diesem Themenheft.

128 BEZG N° 02/10 «In Ins geht alles wie gewohnt» Das Seeland und seine Bewohner im Spiegel der Korrespondenz Albert Ankers Annelies Hüssy

«In Ins geht alles wie gewohnt und Neues ist daselbst nichts das Sie interessieren könnte, dass Ihr Mathilde Probst sich mit Herrenschwand verheiratet hat, weil es nöthig war. Hier ist das Geld rar, so dass wenn Sie hier wären, man Ihnen überal nachlauffen würde. Mich persönlich hat letzten Hornung das Unglük ge- troffen, dass ich meine liebe Frau durch den Tod verloren habe, was mich thief kränken wird so lange mir noch zu leben vergönt sein wird.»1 Gesellschaftsnachrichten, Politisches, Alltagssorgen, Familiensachen und – na­türlich – die Kunst umreissen den Kosmos der Briefthemen in Albert Ankers Korrespondenzen. Eine stattliche Anzahl an Briefen ist überliefert. Zur Haupt- sache sind es Familienbriefe, angefangen bei kindlichen, nach Vorlage verfass- ten Neujahrswünschen Albert Ankers an die Eltern, verweilend bei den Berich- ten um Sorgen und Nöte des Vaters und später der rührend um die mutterlose Familie besorgten Tante Anna-Maria während der Ausbildung der Kinder. Es sind Briefe der sich gegenseitig Trost zusprechenden Anteilnahme bei zahlreichen Todes­fällen im Hause Anker, rührende Schreiben des Vaters und Grossvaters Al- bert Anker an seine Kinder und Enkelinnen, im weiteren Umkreise gefolgt von unbeschwerter Korrespondenz mit den Jugendfreunden und Schulkameraden, von in trockenem Ton abgefassten, quasi amtlichen Schreiben des beauf­tragten Amtsrichters Stauffer aus dem Nachbardorf Gampelen, die Administration im Inser Heim der Familie Anker beschlagend, die auch dann besorgt sein wollte, wenn die Familie des Künstlers ihre Wintermonate in Paris verbrachte, Briefe von Bewunderern des Malers aus Politik und Gesellschaft; aus dem dörflichen Lebenskreis stammt dagegen nur Weniges. Und wiewohl die meisten der im Nach- lass erhaltenen Briefe dem familiären und freundschaftlichen Umfeld angehö- ren, reflektieren sie dennoch Leiden und Freuden des ländlichen Alltags in der von tiefgreifenden Umbrüchen geprägten zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Albert Anker in der Burgerbibliothek Seit rund sechs Jahren verwahrt die Burgerbibliothek Bern Teile des handschriftlichen Nachlasses von Albert Anker als Dauerdepositum der Stiftung Albert Anker-Haus Ins. Nebst ausgewählten Korrespondenzen sind es bislang vor allem Fotos, welche den Hauptteil des an der Münstergasse 63 liegenden Nachlasses ausmachen. Die Forschung hat sich bereits sehr früh für die Briefwechsel des Künstlers interessiert, vornehmlich

Hüssy: Korrespondenz 129 jedoch unter dem Gesichtspunkt des kunstgeschichtlich-biographischen Zugangs zum Maler Albert Anker. Zu erwähnen sind etwa die Edition von Briefen Ankers durch seine Tochter Marie Quinche-Anker (Le peintre Albert Anker 1831–1910 d’après sa correspon- dance, Berne 1924) oder die schmale Arbeit von Hans Zbinden in der Reihe der Berner Heimatbücher (Albert Anker in neuer Sicht, Bern 1952). Eine modernere und kommen- tierte Auswahl an Briefen hat schliesslich Robert Meister herausgegeben (Albert Anker und seine Welt. Briefe, Dokumente, Bilder, Bern 2000, 4., erw. Aufl.; auch in Französisch erschienen: La vie d’Albert Anker au fil de sa correspondance, Biel 2000).

Familie «Jetzt sind die Leiden des guten Vaters verschwunden. Ach ihr meine Lieben sollen wir nicht den allmächtigen Gott und Schöpfer danken dass er ihm aus seinen Leiden erlöchsete [sic!] wie es scheind war er erst recht in die Leiden ge- kommen, ich habe die zwei Nechte wo ich wusste dass er durchlag keine Ruhe gehabt dass ich immer daran denken muss. Gott sei mit uns allen. Ich muss enden es sind immer Leute bei mir um den selig verstorbenen Bru- der dass Leid zu bezeugen. Alle Nachbaren und Verwante bezeugen Euch dass Leid von ganzem Herzen es wurden noch ville Trenen für ihn vergossen. Ich danke Bruder und Sophie herzlich für ihre Mühe die sie diese Zeit gehabt ha- ben. Ich schike Euch eine Hammen ihr könt sie […] bruchen.»2 Am 25. Mai 1860 stirbt der Tierarzt Samuel Anker an einer Krebserkran- kung, die ihn schon längere Zeit beschwert hat. Die beiden letzten Jahre vor sei- nem Tod sind geprägt vom gesundheitlichen Auf und Ab des zunehmenden Lei- dens. Albert und vor allem die Anna-Maria, des Vaters Schwester, betreuen den Kranken, der seine letzten Tage in Bern bei seinem Bruder verbringt und dort stirbt. Die Anteilnahme der Gemeinde ist gross gewesen, wie es die Tante in ih- ren wenigen Worten ausdrückt. Samuel Anker, Veterinär und von 1831 bis1852 Kantonstierarzt in Neuenburg, ist 1852 ins elterliche Haus nach Ins zurückge- kehrt und hat sich fortan in seiner Gemeinde engagiert, mitunter erteilt er me- dizinische Hilfe gleichermassen an Mensch und Tier. Er ist ein konservativer Mann mit starken Prinzipien und zugleich durchaus derbem Humor, der es sei- nem Sohn nicht immer leicht macht.3 Der Familie des Tierarztes Samuel Anker werden die Jahre von 1848 bis 1853 zu einer schweren Zeit der Prüfung. Nach dem frühen Hinschied der Gattin muss der Vater auch den Tod seiner Tochter und eines Sohnes beklagen. Oft klingen in diesen Tagen bittere Töne unverhoh- len in den Briefen des Vaters an: «[…] früher war der Kinderseegen hoch ge-

130 BEZG N° 02/10 Brief von Anna-Maria an Albert Anker, undatiert. – Depositum Burgerbibliothek Bern.

Hüssy: Korrespondenz 131 Lory, Gabriel. – Pfarrhaus Ins, Aquarell. – Burgerbibliothek Bern.

132 BEZG N° 02/10 schätzt indem die Eltern an ihnen eine Stütze fanden für ihres Alter, und heute, was das Alter nicht vermag die Eltern früh ins Grab zu drücken, das vermögen die Kinder. Ich habe schon oft gedacht, wenn ich von Kindern abhängig wer- den sollte, so wollte ich weit lieber abhängig von Kindern sein die weder schrei­ben noch lesen könnten die nur vom hören sagen an eine Vergeltung glau- ben, daher auch ein Gewissen haben als von Kindern für die man grosse Opfer gebracht hat; denn man wird glauben müssen, dass die höhere Erziehung Kin- der ehnder von ihren Pflichten gegen die Eltern abzieht als sie dazu führt [...] So viel für heute von deinem dich grüssenden und ich möchte sagen lebensmü- den Vater.»4 Die Schwester des Vaters, Tante Anna-Maria Anker, nimmt sich des verwais- ten Haushalts an und kümmert sich fortan bis zu ihrem Ableben am 31. Mai 1873 um die Familie. Liebevolle Briefe legen Zeugnis ab von der Herzensgüte dieser einfachen Frau, der die Hand, welche die Feder zu führen hat, nicht im- mer gehorcht und der das Formulieren in den Briefen Anstrengung bedeutet. Sie findet über den Familienkreis hinaus im ganzen Dorf offenbar Achtung und Zuneigung.5 Umso mehr muss der begabte Sohn darum kämpfen, seiner wahren Beru- fung folgen zu dürfen. Die Theologie, das Wunschfach des Vaters, wird der Sohn zwar verwerfen, Religiosität bleibt in der Familie Anker aber stets ein wichtiger Halt. Dies drückt sich unaufdringlich in zahlreichen Briefen aus, die Tante Anna- Maria vermittelt es in ihrer direkten und einfachen Sprache, Vater und Sohn in tief reichenden theologischen Erörterungen. Eine Stütze ist der Inser Pfarrer Lüthardt, väterlicher Freund und Ratgeber, dem Pfarrhaus ist die Familie Anker ihrerseits sehr verbunden. Man verkehrt miteinander und nimmt Anteil an Freud und Leid. Man freut sich über ein Tafelklavier, das ins Pfarrhaus geliefert der Tochter grosses Vergnügen bietet und den musikbegeisterten Vikar – er «ist sehr musikalisch u. besizt eine ausgezeichnete Bassstimme»6 – noch enger an die Pfarrersfamilie bindet, man leidet mit, wenn der Pfarrer erkrankt und sich nicht erholen kann. Eine Weinlieferung oder ein Bund Rhabarber könnten helfen und werden auf Wunsch sogleich hinübergeschickt.7 Und stets fort schliessen sich den Grüssen der Familie auch die Grüsse der Nachbarn und Freunde an. Ländliche Eingezogenheit und Weltoffenheit begegnen sich im Hause An- ker in Ins. Albert Anker vermerkt besonders träfe, ans Anekdotische grenzende Bemerkungen und Erzählungen seiner aus dem Dorf und den weiteren Gegen- den des Seelandes stammenden Modelle – «Wenn i mi Schätz wär, so wett i nid es Meitschi hürate wien ig eis bi» oder «Er isch Grossrat gsi und Kircherat gsi

Hüssy: Korrespondenz 133 und Gmeinrat und Verfassigsrat und isch doch nüt gsy»8 – in seinen Carnets. In Gegensatz zum Unverfälschten des Volkes tritt der weltläufige und intellektu- elle Ansatz im Hause Anker selbst. Albert Anker schreibt launige Briefe an seine Töchter und später an eine der Enkelinnen aus Paris und schildert in anschau- lichen Worten, mitunter durch eine Federzeichnung illustriert, das bunte Le- ben in der Weltstadt Paris, erzählt von den Verkaufsständen auf den Boulevards: «Hier soir j’ai passé sur les grands boulevards, où on vend toutes sortes de cho- ses pour nouvel an, il y a surtout des poupées, des bonbons, des petits fusils et des soldats. Les marchands sont dans des petites maisons qui sont la moitié grandes comme notre poulailler, ces petites maisons se touchent, et il y a une file plus longue que depuis notres maisons au Sallenstein [...]» und von der Mode der feinen Damen, die sich im Jardin du Luxembourg ergehen: «Les dames ont des drôles de mode de chapeaux, on ne sait pas comme elles peuvent les faire tenir sur leurs tresses […].»9

Alltag Der Tierarzt Samuel Anker, der durch seine Tätigkeit nahe am bäuerlichen All- tag lebt und wirkt, kennt die Nöte der Seeländer Bauern. So registriert er bei- spielsweise den Lauf des Jahres genau anhand der Witterungserscheinungen und vermerkt dies regelmässig in seinen Briefen an den zu Studienzwecken auswärts weilenden Sohn: «Die 2 ½ jährige oder bald 3 Jahre alte schöne Witterung scheint hier endern zu wollen, und an die schöne trokene Witterung Sturm und Wasser zu kommen. Vor 2 Jahren liess ich durch Drainierer eine Akan [Abwasser­leitung, d.V.] aus dem Keller machen, nun zeigt die erste Witterung dass die Arbeit und Kosten vergeben waren indem wir wie zuvor Wasser im Keller haben.»10 Wir schreiben das Jahr 1858, als Vater Samuel Anker von diesen die Inser seit je be- lastenden Sorgen mit den wiederkehrenden Überflutungen durch die Aare be- richtet. Und zwei Jahre später schildert Amtsrichter Stauffer in seinem Schrei­ ben an Albert Anker: «Wie Jungfer Anker Ihnen geschrieben hat, ist diesen Winter stets wieder Wasser in ihren Keller gekommen, so dass man viel hat pum- pen müssen; Jungfer Anker ist zwar darüber nur zu ängstlich, alein es wäre doch gut, wenn dieser Sache radikal abgeholffen würde, und zu diesem Ende habe ich mehrere Kenner darüber befragt […]»11 und fügt gleich an: «In Bargen ist ein Maurer der behauptet, er könnte […] so verhüten, dass kein Wasser mehr dar- ein kähme, – dafür müsste aber alles ausgeräumet werden, und der Boden müsste gut ausgeebnet werden u.s.w. diese würde alles einige hundert Franken kosten, bestimtes hat er aber nicht angegeben.»12 Wir erfahren nicht, ob die Drai­nage

134 BEZG N° 02/10 Brief von Albert Anker an seine Tochter Marie, undatiert. – Depositum Burgerbibliothek Bern.

Hüssy: Korrespondenz 135 im Keller des Ankerhauses in der vorgeschlagenen Weise durchgeführt wird. Mitte des Jahrhunderts erreicht die Zahl der Armen im ganzen Kanton ei- nen Höchststand von gegen 30 000 Personen.13 Dieses schlägt sich auch im Ber- ner Seeland nieder, indessen weist das Dorf Ins im kantonalen Vergleich einen unterdurchschnittlichen Armenanteil auf.14 Harte Winter und feucht-kalte Som- mer bergen existenzielle Gefahren für viele der kleinen Bauern. «Wir haben hier einen schönen aber in Hinsicht der Kälte einen strengen Winter; anhaltende Trökene und an vielen Orten starken Wassermangel der so weit geht, dass man trotz der wohlfeilen Frucht, das Brod aus Mangel an Mähl wird sparren müs- sen, dan viele Mühlen stehen still, und andere leisten nur wenig.»15 Feuer und Wasser sind die grossen lebensbedrohlichen Gefahren für die Dör- fer des Seelandes. Die Häuser, meist aus Holz und mit Stroh gedeckt, werden leicht ein Raub der Flammen, entfacht durch Blitzschlag genauso wie durch böswillige Brandstiftung. Die Folgen für die Betroffenen sind jedes Mal verhee- rend, nachbarschaftliche Hilfe wird spontan geleistet: «Vorgestern war ich in Landeron und weil ich dort war brach in Gals Feuer aus um ½ 5 Uhr Abends, begab mich dahin um allerley Anordnungen zu treffen und bliebe da bis die Ge- fahr um 8 Uhr vorüber war; die ganze Reihen Häuser auf der Seiten gegen das Moos vom untersten Haus an bis in die Gegend der Schule, wurde in einer halb­ stund zernichtet, 19 Häuser wurden durch das Feuer zerstört, etwelche 30 Fa­ mil­lien sind ohne Obdach. Das Geschrey der Weiber und Kinder machten einen furchtbaren Eindruck. Die Armuth ist und wird da gross, und die Finanzen er- schöpft; moralische und finanziele Vernicht […] zum Trost ist da wenig vorhan- den, denn es sind Abberufer, und daraus kann man schwer schliessen was sie sind. Die Vieh waar wurde gerettet im übrigen aber wenig denn das Feuer gieng zu schnell von einem Hause zum andern, wäre dazwischen nur ein einziges Zie- gelhaus gewesen, ich glaube man hätte das Feuer auf seinem Wege bemei­stern können.»16 Das Ankersche Hauswesen gründet auf Sparsamkeit und Fleiss. Tante Anna- Maria wacht sorgend über allem: «Ich heüsele das ich nicht aus der Sparnis Kas­se nehmen muss diesen Winter, diesen Monat brucht man Geld man muss für das Holtz dass 8 bis 10 franken geben, immer mus man etwas zahlen es wird wohl bald aufhören dass Bätlen. Bruder gab mir ein 5 franken Stük weil er hörte was man bezahlen muss. Bey Heren Staufer durfte ich mich nicht melden wen ich ihn den fahl kommen sollte dass ich Geld haben müste er sagt sonst immer wen er zu mir komt wie ihm kein Geld ein gehe und doch viel zahlen soll er sagte sie könne warden er müsse auch warden.»17

136 BEZG N° 02/10 Porträt Anna-Maria Anker, Silberstiftzeichnung, 1852. – Privatbesitz.

Hüssy: Korrespondenz 137 Ins im 19. Jahrhundert. – Burgerbibliothek Bern.

138 BEZG N° 02/10 Seit Beginn des Jahrhunderts entstehen im gesamten Kantonsgebiet Spar- kassen, deren Ziel und Zweck es ist, das Sparen insbesondere im Milieu der klei- nen Leute zu fördern.18 Diese Sparkassen verbreiten sich insbesondere in der Landschaft, sie wirtschaften auf gemeinnütziger, nicht primär gewinnorientier- ter Basis und werden zumeist ehrenamtlich verwaltet. In erster Linie dienen sie den lokalen Märkten, aktivieren den Geldfluss und stellen die Mittel in der Form von Gülten für den Bodenmarkt zur Verfügung, geben Anleihen an die Gemein- wesen aus, wie dies in einem Schreibkalender aus dem Hause Anker auch für das Dorf Ins vermerkt ist.19 Kleine und grosse Sorgen und Nöte werden brieflich berichtet, und wenn die Pendulen die Zeit nicht korrekt anzeigen, so kann es schon geschehen, dass die Köchin Rösi das Mittagessen viel zu früh auftragen muss: «[…] le diner fut prêt à 10 ½ heures, et réellement nous avons diné à 10 ½ heures; c’était bon tout de même, car à notre estomac nous avions au moins midi […]», fügt der Papa Albert der Beschreibung humorvoll hinzu.20

Politik «Das Politisieren sage ich dir nicht ab, aber sey dabey bescheiden, lasse dich nicht in Händel, aber den ergriffenen Grundsätzen bleibe treu, und sollten sie mit den Waffen vertheidigt werden müssen, sollten die jetzt in den Schwung gekomme- nen Grundsätze siegen, und das Reich des Satans sollte sich je länger je mehr ausdehnen, was indessen wegen den schlechten Grundsätzen nie in die Länge dauren kann, so wäre der Tod für eine bessere Vaterlandssache ein heiliger,­ den ich gerne, wenn es nicht anders sein kann, selbst mit meinen Kindern theilen würde […] Dass die jetzigen Grundsätze nicht recht, nicht gut sind, das bewei- sen schon die Freyschärler von 1848 denn sie haben genugsam damals gezeigt dass ihre Sache selbst des schlechtesten Mannes nicht werth seien, drum haben sie sich so aus dem Staub gemacht, andere zu hunderten weis, von Gabeln und Bäsen […], mit Stutzer Bley und Pulver auf dem Bukel fangen lassen.»21 Im konser­vativen Milieu des Hauses Anker werden die politischen Entwicklungen im Kanton Bern wie in der Eidgenossenschaft rege verfolgt und kommentiert. Lokale gleichermassen wie Ereignisse der grossen Politik finden ihren Nieder­ schlag im Kosmos des Berner Seelandes. Es ist der Vater, der den Verfassungs- kämpfen der Mitte seines Jahrhunderts nichts Gutes abzugewinnen vermag und der sich zusehends in eine unversöhnliche Haltung gegenüber den Forderun- gen der Radikalen in der Revision der 1846er-Verfassung versteift. Die Wahlen von 1845 bringen einen deutlichen Sieg der Radikalen, worauf

Hüssy: Korrespondenz 139 die Revision der Verfassung beschlossen und ins Werk gesetzt wird. Der dazu berufene Verfassungsrat besteht grösstenteils aus Radikalen (90 von 139 Man- daten gingen an die Radikalen), was sich in der 1846er-Verfassung denn auch direkt niederschlägt.22 Für den konservativen Seeländer Samuel Anker ist diese Entwicklung ein Stachel im Fleisch der recht denkenden Berner, er selber rech- net sich ausdrücklich dazu und tut sich schwer mit den Neuerungen des «Frei- scharenregiments». Und erst recht das Jahr 1848; es beginnt bereits stürmisch: Die Unruhen in Paris, welche in die Februarrevolution, zum Sturz des «Bürger- königs» Louis Philippe und zur Ausrufung der zweiten Republik führen, wer- den mit leidenschaftlichem Interesse verfolgt und die von Vater Anker mit Ve- hemenz kritisierte Haltung des schweizerischen Bundesrates erhält im Brief an seinen Sohn Albert vom 31. Januar 1848 beredten Ausdruck: «Sie haben wieder ernsthafte und dabey sehr traurige Geschichten in Paris erlebt durch die infa- men politischen Märchen, worüber jeder rechtliche Mensch sich empört; Gott sei Dank, dass die Vorsehung ihren teuflischen Plan zu nicht machte. Wie lange wird die bessere Klasse dieses noch dulden? Werden nicht ernste Maasregeln weit u. breit ergriffen werden, um diesen Mördern endlich ihr Handwerk zu le- gen? Es freute mich sehr in der Zeitung zu lesen, dass der franz. Gesandte bey der Eidgenossenschaft eine ernste Ueberwachung von solchem Gesindel beim Bundesrath fordert. Es ist recht, denn diese Behörde liebäugelt als Behörde nur zu sehr mit solchen elenden Republikanern. Es wäre zu wünschen dass ihnen von einer solchen Macht besser aufgepasst würde […]»23 Die endgültige Ablösung von alten Herrschaftsstrukturen, vorab die Aufhe- bung der Feudallasten war ein Anliegen der Seeländer, unterstützt von Ulrich Ochsenbein und Jakob Stämpfli, und ausgefochten auf dem politischen Schlacht- feld der leidenschaftlichen Auseinandersetzungen zwischen den alten liberal- konservativen und den sich abspaltenden sozial-reformerischen, radikalen Kräf- ten wird überlagert von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzungen, die den Agrarkanton Bern auf das Schärfste herausfordern. Technische (Jura- gewässerkorrektion), agrarreformerische und verkehrsmässige Neuerungen (Ei- senbahn- und Strassenbau) führen zu sozialen Umschichtungen, welche nun zunehmend aufs bäuerliche Umland übergreifen. Erst gegen Ende des Jahrhun- derts findet auch der Kanton Bern den Anschluss an die gesamtschweizerische Modernisierung.24 Was in einem grösseren Ganzen sich ereignet, findet seine Spiegelung im dörflichen Kosmos zu Ins, zum Ausdruck gebracht in den Korrespondenzen der Familie Anker. Wirtschaftliche – denken wir an das Sparkasseguthaben der Tante

140 BEZG N° 02/10 Anna-Maria – und gesellschaftliche Dynamik gleichermassen wie politisches Ringen um den liberalen Volksstaat tönen in den Briefen an, mitunter nur in Anspielung, oft aber auch in der direkten Sprache etwa von Vater Samuel Anker. «In Ins geht alles wie gewohnt», ein typisches Seeländer Bauerndorf, bereits zu seinen Lebzeiten berühmt geworden durch den Maler Albert Anker, hat es dennoch vermocht, den bodenständigen Charakter zu bewahren. Land und Leute, von ganz eigenem Schlag, trockenem Humor gemischt mit einer fast naiv anmutenden Volksfrömmigkeit, werden nicht allein in den Bildern des Malers in all den vielschichtigen Ausprägungen ihrer kleinen Welt wunderbar lebens- nah dargestellt, sie finden auch ihren unmittelbaren, weil absichtslosen Aus- druck in der alltäglichen Korrespondenz des Hauses Anker.

Anmerkungen 1 Brief von Amtsrichter Stauffer an Albert Anker vom 26. April 1861. Burgerbibliothek Bern: N Albert Anker A 8/63. 2 Brief von Anna-Maria Anker an Albert Anker, undatiert [evtl. 1860]. Burgerbibliothek Bern: N Albert Anker A 8/20. 3 Briefe von Samuel Anker an Albert Anker. Burgerbibliothek Bern: N Albert Anker A 8/21 a – f. 4 Brief von Samuel Anker an seinen Sohn Albert vom 6. Oktober 1850. Burgerbibliothek Bern: N Albert Anker A 8/21 c. 5 Friedli, Emanuel: Bärndütsch als Spiegel bernischen Volkstums. Band 4: Ins, Bern 1914, 363 f. 6 Brief von Pfarrer Lüthardt an Albert Anker, undatiert. Burgerbibliothek Bern: N Albert Anker A 8/28. 7 Briefe von Pfarrer Lüthardt an Samuel und Albert Anker: v.a. Brief vom 10. September 1826 an Samuel Anker. Burgerbibliothek Bern: N Albert Anker A 8/24. 8 Zitate von Modellen, aus Albert Ankers Carnets. Stiftung Albert Anker-Haus Ins: ohne Signatur. 9 Brief von Albert Anker an seine Tochter Marie, undatiert. Burgerbibliothek Bern: N Albert Anker A 8/29; siehe dazu den Beitrag von Beat Gugger in diesem Themenheft. 10 Brief von Samuel Anker an seinen Sohn Albert vom 29. Dezember 1858. Burgerbibliothek Bern: N Albert Anker A 8/21 e. 11 Brief von Amtsrichter Stauffer an Albert Anker vom 18. Februar 1867. Burgerbibliothek Bern: N Albert Anker A 8/84. 12 Brief von Amtsrichter Stauffer an Albert Anker vom 18. Februar 1867. Burgerbibliothek Bern: N Albert Anker A 8/84. 13 Junker, Beat: Vom Alten zum Neuen Bern. In: Illustrierte Berner Enzyklopädie, Bd. 2 Geschichte. Bern 1981, 180. 14 Pfister, Christian; Egli, Hans-Rudolf (Hrsg.): Historisch-Statistischer Atlas des Kantons Bern 1750 –1995. Bern 1998, 102/103. 15 Brief von Samuel Anker an seinen Sohn Albert vom 31. Januar 1848. Burgerbibliothek Bern: N Albert Anker A 8/21 f. Siehe Pfister, Christian: Wetternachhersage. 500 Jahre Klimavariationen und Naturkatastrophen. Bern, Stuttgart, Wien 1999, 292, wo der Januar 1848 unter den kalt-

Hüssy: Korrespondenz 141 trockenen Anomalien aufgeführt wird. 16 Brief von Samuel Anker an seinen Sohn Albert vom 24. März 1852. Burgerbibliothek Bern: N Albert Anker A 8/21 d. 17 Brief von Anna-Maria Anker an Albert Anker vom 28. Januar 1862. Burgerbibliothek Bern: N Albert Anker A 8/51. Zur Entstehung der Sparkassen vgl. Pfister, Christian: Geschichte des Kantons Bern seit 1798. Band 4: Im Strom der Modernisierung. Bevölkerung, Wirtschaft und Umwelt 1700 –1914. Bern 1995, 286: «In der zweiten Jahrhunderthälfte trugen die Berner erheb- lich mehr Spargelder zur Bank als die Angehörigen der meisten anderen Kantone. Anzunehmen ist auf Grund dieses Befundes, dass steigende landwirtschaftliche Einkommen eine Spartätigkeit möglich machten, die wegen der numerischen Bedeutung des Agrarsektors ins Gewicht fiel.» 18 Pfister (wie Anm. 17), 286: «Die ‹Banken des kleinen Mannes› popularisierten das Zinsdenken und förderten die Spartätigkeit, was längerfristig der Kreditversorgung der Wirtschaft zugute kam.» 19 Schreibkalender von 1806 von Rudolf Anker mit Anekdotensammlung von Albert Anker. Stiftung Albert Anker-Haus Ins: ohne Signatur: «Das Dorf [Ins, d.V.] macht bei der Hypothekarkasse ein Anleihen von 155 000 Franken, die aber schon bis 130 000 Franken abbezahlt sind. Das verkaufte Moos, 400 Jucharten zu 90 Franken (36 000) und 100 à 200 Franken (20 000) soll als Abschlags- zahlung dienen.» 20 Brief von Albert Anker an seine Tochter Louise, undatiert. Burgerbibliothek Bern: N Albert Anker A 8/29. 21 Brief von Samuel an Anker an seinen Sohn Albert vom 10. April 1850. Burgerbibliothek Bern: N Albert Anker A 8/21 b. 22 Junker, Beat: Geschichte des Kantons Bern seit 1798. Bd. II: Die Entstehung des demokratischen Volksstaates 1831–1880. Bern 1990, 117–190. 23 Brief von Samuel Anker an seinen Sohn Albert vom 31. Januar 1848. Burgerbibliothek Bern: N Albert Anker A 8/21 f. 24 Pfister (wie Anm. 17), 344: «Mit mehrjähriger Verspätung griff der gesamtschweizerische Moder- nisierungsschub 1890 auf den Kanton über und leitete eine lange Periode der Prosperität ein, die als eigentliche Gründerzeit der bernischen Industrie bezeichnet werden kann.»

142 BEZG N° 02/10 Warum der Schnellzug nach Paris in Ins angehalten hat Erinnerung an eine kleine Inser Geschichte Beat Gugger

Die Ferien und freien Tage haben meine Schwestern und ich oft bei unseren Grosseltern in Ins verbracht.1 Mein Vater2 ist hier als Bauernbub aufgewachsen; Ins ist der Heimatort unserer Familie. Wir Kinder aus der Stadt genossen die Tage auf dem Bauernhof bei den Tieren und beim Arbeiten draussen auf dem Feld; vor allem auch weil bei der Arbeit Geschichten erzählt wurden. Die der Grossmutter waren schöne Erzählungen, bei denen von Onkel Mathys3 – oft von einem trockenen Lachen begleitet – waren wir meist nicht ganz sicher, ob sie stimmten oder er sie nur für uns Kinder erfunden hatte. Eine Geschichte ist mir aber bis heute in Erinnerung geblieben: Wenn wir auf dem Feld im Moos arbeiteten, sah man gegen das Dorf zu die Eisenbahnli- nie der Bern-Neuenburg-Bahn. Kurz nach drei Uhr nachmittags hielt am Bahn- hof Ins der direkte Schnellzug von Bern nach Paris.4 Das war der Moment fürs «Zimis».5 Dann holte der Onkel ganz stolz aus und erzählte die Geschichte, dass es dem Maler Albert Anker zu verdanken sei, dass der Zug von Bern nach Paris in Ins anhalte. Der berühmte Maler habe sich bei der Direktion der Bahn be- schwert und gebeten, dass der Schnellzug in Ins anhalte, da er zeitweise in Paris gelebt habe, hier bequem einsteigen wolle. Anker sei ja damals schon, so Onkel Mathys, ein berühmter und geachteter Mann gewesen, so dass die Direktion der Eisenbahn auf ihn gehört habe. In Ins und in unserer Familie, Bauern soweit der Stammbaum zurückreicht, war Paris schon immer der Inbegriff der grossen Weltstadt. Bewundert wurde Fritz Grädel, der in den 1930er-Jahren mit seinem Velo von Ins nach Paris an die Weltausstellung gefahren sei. Mein Onkel erzählt stolz, wie er auf seiner ersten Reise nach Paris in den 1990er-Jahren bei der Rückfahrt bemerkte, wie im «Gare de Lyon» an der Anzeigetafel unter den Haltestellen des Zugs nach Bern auch «Anet», der französische Name von Ins, aufgeführt war. Albert Anker wird 1831 als Sohn des Tierarztes Samuel Anker in Ins, unweit der Sprachgrenze, geboren und wächst auf dem Dorf in einer bürgerlichen Fami­ lie auf.6 Einige Jahre lebt die Familie in Neuchâtel, Albert erhält eine zweisprachi­ge Erziehung und hat zeitlebens eine grosse Vorliebe fürs Französische. Nach dem abgebrochenen Theologiestudium kann er sich – mit Einwilligung des Vaters – seiner wahren Leidenschaft, der Kunst, zuwenden. 1854 bricht er auf nach Paris, mietet sich ein Zimmer und beginnt die Ausbildung zum Maler. 1855 immatri- kuliert er sich an der «Ecole Impériale et Spéciale des Beaux-Arts». Bis 1890 pendelt er zwischen der Weltstadt und seinem Heimatdorf im Berner Seeland.

Gugger: Schnellzug 143 Mit seiner Malerei findet Anker in Paris schnell Anerkennung.7 1859 beginnt seine regelmässige Teilnahme am damals für die zeitgenössische Kunst wichti- gen Pariser Salon. Der zweisprachige Anker integriert sich glänzend im Pariser Kunstbetrieb und wird von den meisten als französischer Künstler angesehen. Viele Pariser Künstler der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts leben und arbei- ten nur in den Wintermonaten in der Kunstmetropole: Hier sind die einfluss- reichen Galerien, die wichtigen Ausstellungen, und nicht zuletzt treffen sich hier die kunstinteressierten Käufer. Die Sommermonate zieht man sich dage- gen zum Arbeiten zurück aufs Land, die Franzosen in den Süden in die Pro- vence, an die Côte d’Azur oder in den Norden in die Normandie. Albert Anker kehrt mit seiner Familie jedes Jahr für einige Monate in die Schweiz in sein Dorf zurück. Mit dem Tod des Vaters 1860 erbt Albert Anker das elterliche Haus in Ins mit viel Umschwung und richtet sich im Dachgeschoss ein Atelier ein. Hier in der bäuerlichen Welt des Seelandes findet er seine Modelle und Motive. An- ker trifft mit seinen Bildern den Geschmack der Zeit und hat in Paris über lange Zeit Erfolg; selbst der französische Staat kauft Werke von Anker an. Wie muss man sich nun Ankers Reise zwischen Ins und Paris vorstellen? Bis 1890 legt er den langen Weg jedes Jahr zusammen mit seiner Frau Anna und den vier Kindern, die im Winter in Paris die Schule besuchen, zweimal zurück. Reisen war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine aufwändige Ange- legenheit. Seit der Mitte des Jahrhunderts werden zwar überall in Europa Ei- senbahnlinien gebaut, von einem zusammenhängenden Netz ist man jedoch noch weit entfernt. Für die Familie Anker beginnt die Reise in Ins und führt zu- erst mit der Reisepost Richtung Neuchâtel. Um 1870 dauert diese erste Etappe etwa eineinhalb Stunden. Weiter könnte die Reise mit dem Zug Richtung Pon- tarlier oder mit der Postkutsche über Delle gegangen sein. Einer der schnelle- ren Wege hätte ab Neuchâtel mit der Eisenbahn in 5½ Stunden nach Basel und mit Umsteigen in weiteren 13 Sunden nach Paris geführt.8 Eine solche Reise war, neben den Strapazen, des Unterwegs-Seins und dem mehrmaligen Umstei- gen, vor allem auch kostspielig. Nur Leute aus den oberen Einkommensklassen konnten sich solche Reisen überhaupt leisten.9 Auch das ist ein Hinweis auf den finanziellen Erfolg, den Anker mit seinen Bildern in Paris, dem wichtigsten eu- ropäischen Kunstmarkt der damaligen Zeit, hatte. 1890, die Kinder sind nun fast alle ausgeflogen, gibt Anker das Atelier in Pa- ris auf: «Nun bin ich bald 60 Jahre alt, das genügt. Müdigkeit und immer drü- ckendere Kosten tragen dazu bei. Wir werden in Ins einsam leben, und doch hoffe ich, dass sich unser Dasein erträglich gestalten lasse», schreibt er in einem

144 BEZG N° 02/10 Streckenplan Bern – Ins – Neuenburg, aus: Albert Anker, Carnet Nr. 32, Federzeichnung und Aquarell, 1898. – Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte, Winterthur.

Gugger: Schnellzug 145 Brief 1890.10 In Neuchâtel richtet sich die Familie – wohl eine kleine Fluchmög- lichkeit in den französischen Sprachraum – ein «pied à terre» ein. Pläne für eine Eisenbahnlinie zwischen Bern und Neuchâtel gab es schon seit der Mitte des Jahrhunderts. In Neuchâtel träumten interessierte Kreise von einer direkten Verbindung von Paris über Neuchâtel und Bern durch den Gott- hard nach Milano. Erste konkrete Projekte für eine «direkte Linie» waren nach Abschluss der ersten Juragewässerkorrektion (1868 bis 1891) und einer Festi- gung des bisher sumpfigen Untergrundes möglich.11 1890 fand ein erstes Tref- fen von Vertretern der Kantone Bern und Neuchâtel statt; 1898 wird mit dem Bau der Strecke begonnen. Albert Ankers bildnerisches Werk kreist fast ausschliesslich um die bäuerli- che Lebenswelt, wie er sie aus seiner vertrauten Umgebung in Ins kennt. Damit hat er im fernen Paris Erfolg.12 Es gibt nur wenige Bilder, in denen er den Ein- bruch der Moderne in die Welt des traditionellen Bauerndorfes gegen Ende des 19. Jahrhunderts zeigt: Eines ist das 1885 entstandene Gemälde «Der Geome- ter»,13 das wohl Bezug auf die in den 1880er-Jahren durchgeführte topografi- sche Vermessung von Ins nimmt. In einem Mappenwerk von 1900 erscheint ein Druck dieses Bildes mit dem Titel «Die Eisenbahn kommt / Le nouveau chemin de fer».14 Gegenüber seinem Malerkollegen Albert de Meuron äussert sich An- ker 1895 ablehnend zum neuen Verkehrsmittel: «[...] so sähe ich lieber keine Bahn und wäre ohne sie glücklich, – aus vielen Gründen...!»15 Nicht zuletzt wohl auch, weil er zum Bau der Strecke eigenes Land abtreten musste.16 Am 1. Juli 1901 wird die Strecke zwischen Bern und Neuchâtel feierlich er- öffnet. Ab 1902 fahren die ersten direkten Wagen zwischen Bern und Paris über Ins. Der Seeländer Ort wird jedoch erst 1903 mit der Eröffnung der Linie «Che- min de fer Fribourg – Morat – Anet» Eisenbahnknotenpunkt und damit Halte- stelle für den direkten Schnellzug nach Paris.17 Die Reise von Bern dauert, ge- mäss Kursbuch von 1905, 13 Stunden, von Ins aus 12 Stunden bis nach Paris.18 Im September 1901, kurz nach der Eröffnung der Eisenbahnlinie über Ins, erleidet der siebzigjährige Albert Anker einen Schlaganfall.19 Zeitweise ist die rechte Hand gelähmt. Seine Schaffenskraft nimmt ab. In den nächsten Jahren entstehen vor allem kleinformatige Aquarelle. Dass Paris, die Stadt, die in An- kers Leben so eine wichtige Rolle gespielt hat, noch nicht ganz aus seinem Blick verschwunden ist, sehen wir an der Eintragung vom 22. September 1906 im – nur durch einen Zufall erhaltenen – Beschwerdebuch der Station Ins.20 Ankers Schwiegersohn Albert Quinche schreibt: «Nous soussignés sommes surpris que la station d’Anet où s’arrêtent les trains directs de Berne – Paris ne débite pas de

146 BEZG N° 02/10 Der Bahnhof «Ins-Anet» mit der neuen Lokomotive, kurz vor der Eröffnung im Frühling 1901. – Historisches Archiv, BLS.

Albert Anker, Der Geometer, 1885, Öl auf Leinwand, 67,5 x 97 cm, Kat. Nr. 32. – Privatbesitz.

Gugger: Schnellzug 147 billets pour Paris et n’accepte pas l’enregistrement des bagages pour cette ville. Nous avons l’honneur de demander à la Direction de bien vouloir obvier à cet inconvénient, le battement en gare de Neuchâtel n’etant pas assez long pour y procéder.» Der Eintrag ist mitunterzeichnet von «Albert Anker peintre à Anet». Ein Jahr später wiederholt Albert Quiche das Begehren.21 Möglich, dass dieser Eintrag von Albert Anker ins Beschwerdebuch Aus- gangspunkt der Geschichte meines Onkels gewesen ist. Auch wenn die in unse- rer Familie überlieferte Geschichte dem «berühmten Maler Anker» einen etwas zu grossen Einfluss zuschreibt, zeugt die Geschichte doch von der Verehrung und der Wertschätzung, die man ihm bis heute in seinem Heimatdorf entgegen- bringt: Der Künstler, der so berühmt und geachtet war, dass er sogar veranlas- sen konnte, dass wegen ihm der Zug nach Paris anhält! Ab 1983 verkehrt ab Lausanne der TGV nach Paris. Mit einer TEE-Kompo- sition wird ab Bern der Anschluss in Frasne an den TGV gewährleistet. Seit 1987 der TGV Bern mit Paris verbindet, entfallen die direkten Schnellzugverbindun- gen und der seit 1903 geführte Schlafwagenkurs. Mit dem TGV entfällt auch der Halt in Ins; zwar muss der französische Hochgeschwindigkeitszug wegen der eingleisigen Strecke nach Neuchâtel oft im Bahnhof Ins noch auf den Gegen- zug warten – zusteigen können Reisende nicht mehr. Mit dem Doppelspuraus- bau wird der Halt in Ins ganz entfallen.

Anmerkungen 1 Die Grosseltern Elisabeth Gugger-Sandmeier (1905 –1997) und Eduard Gugger (1890 –1977). Abgebildet in Stucki, Heini; Zschokke, Matthias: Ins. Es war einmal ein Dorf. Bern 2009, 40f. 2 Eduard Gugger-Amstutz (*1929). 3 Mathys Gugger-Dellay (*1934). 4 Amtliches Kursbuch 1.VI. – 27.IX. 1975: Direkte Verbindung von Bern nach Paris: Bern ab 14.53 – Ins ab 15.17 – Neuchâtel ab 15.31 – Paris an 21.27. 5 Kurze Arbeitspause und kleine Zwischenverpflegung in der Mitte des Nachmittags. 6 Die Biographischen Angaben zu Anker nach: Kuthy, Sandor; Bhattacharya-Stettler, Therese: Albert Anker 1831–1910. Werkkatalog der Gemälde und Ölstudien. Catalogue raisonné des oeuvres à l’huile (Hrsg. Kunstmuseum Bern). Basel 1995. Albert Anker – Wege zum Werk / Le chemin de la création, Ausstellungskatalog / Catalogue d’exposition. Ins, Anet 2000. 7 Siehe allgemein: Frehner, Matthias; Bhattacharya-Stettler, Therese; Fehlmann, Marc (Hrsg.): Albert Anker und Paris. Zwischen Ideal und Wirklichkeit. Ausstellungskatalog Kunstmuseum Bern. Bern 2003. 8 Angaben von Hans-Ulrich Schiedt (ViaStoria), e-Mail vom 18.1.09. 9 Vergleiche Schiedt, Hans-Ulrich; Frey, Thomas: Monetäre Reisekosten in der Schweiz 1850 –1910. Wie viel Arbeitszeit kostet die Freizeitmobilität?, In: Gilomen, Hans-Jörg et al. (Hrsg.): Freizeit und Vergnügen vom 14. bis zum 20. Jahrhundert. Zürich 2005 (Schweizerische Gesellschaft für Wirt-

148 BEZG N° 02/10 Beschwerdebrief Albert Quinche, September 1906, mitunterzeichnet von Albert Anker, Peintre à Anet.

Gugger: Schnellzug 149 schafts- und Sozialgeschichte – Société Suisse d‘histoire économique et sociale, 20), 157–171. 10 Brief von Albert Anker aus Paris vom 2. Mai 1890 an Marie Roulet-Anker. Siehe Meister, Robert: Albert Anker und seine Welt. Briefe, Dokumente, Bilder. Gümligen 1981, 103. 11 Siehe dazu Nast, Matthias: überflutet – überlebt – überlistet: Die Geschichte der Juragewässer- korrektionen. Biel 2006. 12 Siehe dazu ten-Doesschate Chu, Petra: Eine nationale Ikone im internationalen Kontext. In: Frehner, Matthias; Bhattacharya-Stettler, Therese; Fehlmann, Marc (Hrsg.): Albert Anker und Paris. Zwischen Ideal und Wirklichkeit. Ausstellungskatalog Kunstmuseum Bern. Bern 2003, 61–73. 13 Kuthy / Bhattacharya-Stettler (wie Anm. 6), 168 (Kat. Nr. 327). 14 Das Werk «Der Geometer» taucht in Ausstellungen und Publikationen immer wieder unter anderem Namen auf: Ausstellung in Paris 1885: «Salon de 1885. 103e exposition [...]. Société des Artistes Français pour l’exposition des Beaux-Arts de 1885. Nr 45» «L’ingénieur». – In der Publikation Album Albert Anker. 40 Tafeln [...]. La Chaux-de-Fonds, F. Zahnd, 1900: Tafel 35 «Die Eisenbahn kommt / Le nouveau chemin de fer». – In der Ausstellung Bern 1911: «Dr. Albert Anker Ausstellung». Kunstmuseum Bern, 15. Januar bis 12. Februar 1911. Nr. 79 «Eisenbahnbau». Angaben nach Kuthy / Bhattacharya (wie Anm. 6), 168 (Kat. Nr. 327). 15 Albert Anker in einem Brief vom 26. Februar 1895 an Albert de Meuron. Vgl. Meister (wie Anm. 10), 103. 16 Ankers an die Eisenbahn abgetretene Landstücke in einer Carnetskizze. Siehe: Feldmann, Hans-Uli: Eine Routenkarte von Albert Anker, Murten. In: Cartographica Helvetica, Heft 25, Januar 2002, 25 – 33, hier 28; Meister (wie Anm. 10), 134. 17 Belloncle, Patrick et al.: Das grosse Buch der Lötschbergbahn. Die BLS und ihre mitbetriebenen Bahnen SEZ, GBS, BN. Kerzers 2005, 362; Belloncle, Patrick: SEZ, GBS, BN. Die mitbetriebenen Bahnen der B.L.S. Vevey 1989, 118. 18 Offizielles Schweizerisches Kursbuch Postausgabe 15. November 1905, No 2, Strecke 122. 19 Meister (wie Anm. 10), 154. 20 Meister (wie Anm. 10), 134. – Das Beschwerdebuch von Ins enthält Eintragungen von 1904 bis 1928, dann noch eine letzte Beschwerde von 1955. Es hat sich dank der Aufmerksamkeit des ehemaligen Stationsvorstandes von Ins erhalten und liegt heute im historischen Archiv BLS in Bern. 21 Kobel, Fritz: Inser Bahnen. In: Eisser Cronik, Dorfverein Ins 1998, 12.

150 BEZG N° 02/10 Fundstück

«En français, en patois du pays et en latin» – die Pflanzenlisten des Georges-Louis Liomin (1764) Luc Lienhard

Die Oekonomische Gesellschaft Bern (heute Oekonomische und Gemeinnützi­ge Gesell- schaft des Kantons Bern OGG) feierte 2009 ihr 250-jähriges Bestehen. Das Archiv die- ser Gesellschaft liegt in der Burgerbibliothek Bern und enthält neben Versammlungs- protokollen und Korrespondenz auch zahlreiche Manuskripte von ihren Mitgliedern oder anderen interessierten Personen aus ihrem Umfeld. Das ausgewählte Fundstück behandelt zwei dieser Manuskripte: Pflanzenlisten, datiert auf August 1764 und signiert mit «Liomin Pasteur». Verfasser ist der reformierte Pfarrer von Corgémont-Sombeval, Georges-Louis Lio- min (1724–1784). Er studierte Theologie in Basel, amtierte zunächst als Vikar in Neu- enburg und Lausanne, später als Feldprediger im Dienst Frankreichs. 1754 wurde er in Corgémont und Sombeval und ab 1767 in Péry zum Pfarrer, 1783 zum Dekan des Erguel gewählt. Dass sich ein Pfarrer intensiv mit Botanik beschäftigte, war in dieser Zeit nicht ungewöhnlich. So konnte etwa ein Albrecht von Haller auf die Mithilfe von zahlreichen Geistlichen zurückgreifen und auch der Autor der siebenbändigen Flora Helvetica von 1828 war ein Pfarrer: Jean Gaudin (1766 –1833) aus Nyon. Liomin schickte seine Pflanzenlisten an die Oekonomische Gesellschaft als Beilage seines Briefs vom 13. Oktober 1764, aus dem ersichtlich wird, dass er damit eine Mit- gliedschaft zu erreichen suchte. Der Erfolg blieb allerdings aus. Als Beilage zu einem weiteren Brief schickte er den ausführlichen Entwurf seiner Topographischen Beschrei- bung des zum Bistum Basel gehörenden Erguel, das ungefähr dem heutigen Amt Cour- telary entspricht. Gemäss den Mémoires et observations, der französischsprachigen Ausgabe des Pu- blikationsorgans der Gesellschaft, wurde bei der Versammlung am 20. Oktober 1765 auch ein Brief von Liomin vorgelesen, dem ein «Catalogue de plantes qui croissent dans l’ Erguel» beilag. Die deutschsprachige Ausgabe der Abhandlungen und Beobachtungen erwähnte diesen Brief mit Beilage ebenfalls, übersetzte aber Erguel fälschlicherweise mit Münstertal, so dass Liomin fortan irrtümlich auch als Autor eines Verzeichnisses der Pflanzen der Gegend von Moutier galt. Leider ist der fertige Katalog der Pflanzen des Erguel verschollen, unser Fundstück stellt aber eine Vorstufe dazu dar. Die erste Liste trägt den Titel «Notice des arbres, arbrisseaux et arbustes, ou sous-arbrisseaux, soit plantes ligneuses, spontanées et fort cultivées dans des forets et de la campagne

Fundstück 151 que des vergers et jardins de l’Erguel. Adapté à la méthode du livre intitulé species plan- tarum par M. Linnaeus. – En français, en patois du pays et en latin». Es handelt sich um eine Liste der französischen, lateinischen und regionalen Namen von etwa 150 ver- holzenden Pflanzenarten des Erguel. Auf der letzten der insgesamt 14 Seiten findet sich eine Bemerkung in anderer Schrift, wonach der Verfasser Dank verdiene, übertreffe doch sein Baumkatalog alles Bisherige. Diese mit «Haller» gezeichnete Bemerkung ist unschwer Albrecht von Haller zuzuordnen, der seit 1762 Mitglied und ab 1766 Präsi- dent der Oekonomischen Gesellschaft und unbestrittener Experte bei botanischen The- men war. Liomins zweite Liste mit dem Titel «Choix des Plantes usuelles, tant spontanées que beaucoup cultivées en Suisse» ist wesentlich umfangreicher und enthält 417 nutzbare Arten in der ganzen Schweiz, in Tabellenform mit den Spalten: «François, Patoi, Latin, Allemand». Auch zu diesem Verzeichnis hat Haller eine Bemerkung geschrieben mit dem Vorschlag, die zweifelhaften deutschen Namen wegzulassen und die Namen nach Linné mit denjenigen von Tournefort zu ersetzen. Seine Bilanz: «Ce catalogue ne peut me servir que pour le patois.» Liomins Verzeichnisse reihen sich in die Serie von elf Pflanzenverzeichnissen ein, die im Zeitraum von 1762 bis 1782 im Umfeld Albrecht von Hallers und der Oekono- mischen Gesellschaft entstanden und in denen insgesamt rund 650 verschiedene Arten und Sorten verzeichnet wurden. Insbesondere entsprechen sie den Absichten der Ber- ner Sozietät, die Verwendung der Pflanzen dank besserer Kenntnis der Namen zu op- timieren und allgemein regionale Ressourcen besser zu nutzen. Dasselbe Ziel verfolg- ten die Topographischen Beschreibungen bestimmter Regionen des Kantons Bern, die im Umfeld der Oekonomischen Gesellschaft verfasst wurden. Liomin hatte aber mit seinen Beiträgen in mehreren Punkten Pech. Seine «Plantes ligneuses» verfasste er ohne Bezug auf Hallers nur ein Jahr vorher im Publikationsor- gan der Oekonomischen Gesellschaft publizierten Verzeichniss der in Helvetien wild- wachsenden Bäume und Stauden. Liomin unterliess es nicht nur, auf diese Liste zu ver- weisen, sondern verwendete darüber hinaus als Grundlage für die lateinischen Namen ausgerechnet ein Werk von Hallers Widersacher Carl von Linné. Liomins Liste lässt gute Sachkenntnis erahnen, enthält sie doch über 20 Arten mehr als Hallers Werk. Den- noch wurde keiner von Liomins Beiträgen durch die Gesellschaft gedruckt, und Lio- min erhielt die erstrebte Mitgliedschaft in die Gesellschaft nicht. Auch mit den «Plan- tes usuelles» hatte Liomin kein Glück. Im gleichen Jahr, wie er seine Liste einreichte, wurde nämlich der Versuch einer Sammlung der landesüblichen Namen der Pflanzen in der Schweiz von Johann Heinrich Koch (1706–1787), Apotheker in Thun, Abraham Louis Decoppet (1706 –1785), Pfarrer und Wundarzt in Aigle, und Bernard-Jean-François

152 BEZG N° 02/10 Fundstück 153 Ricou (1730–1798), Stadtarzt und Apotheker in Bex, in einer deutschen und französi- schen Version im Publikationsorgan der Oekonomischen Gesellschaft publiziert. Die- ses Verzeichnis enthält lediglich 127 Arten, also nur etwa einen Drittel von Liomins Liste. Koch, Decoppet und Ricou waren jedoch etwas schneller, gaben zu jeder Art ei- nen kurzen Kommentar und verwiesen auf die Pflanzennamen in Hallers Flora der Schweiz. Liomin hatte wohl nur den verbreiteten Species Plantarum von Linné mit den praktischen zweiteiligen Kurznamen zur Hand, die Namen, die Haller aus Traditions- gründen ablehnte. Liomin nahm sich auch die Mühe, einige blütenlose Pflanzen wie Farne, Moose und Flechten aufzulisten, wie auf der ersten Seite des Verzeichnisses gut zu sehen ist. Als Beispiel von Liomins Namen sei hier die Silberdistel erwähnt, eine ty- pische Jura- und Alpenpflanze, abgebildet mit einem zeitgenössischen Kupferstich von 1757 aus dem Herbarium Blackwellianum. Bei Liomin ist es Nr. 407 mit dem französi- schen Namen Carline oder Chardonerette, im Patois Scherdon benit, deutsch Eber- wurtz und nach Linné Carlina acaulis, dem noch heute gültigen wissenschaftlichen Na- men. Aus Sicht des Botanikers wäre die verschollene Pflanzenliste des Erguel das wert- vollste Dokument. Lokalfloren mit genauen Fundortsangaben sind ein wichtiges Inst- rument zur Untersuchung der Veränderung der Vegetation und für das 18. Jahrhundert eine Rarität. Aber auch die beiden erhaltenen Listen Liomins sind botanikhistorisch er- giebig und zudem eine schöne sprachgeschichtliche Quelle. Dass neben dem Waadtlän- der Patois auch im Erguel und im angrenzenden Neuenburger Jura ein vom Franzö- sisch stark abweichender Dialekt gesprochen wurde, ist vielen wohl kaum bekannt, und die Quellenlage ist lückenhaft. Auch das Schweizerische Pflanzen Idiotikon von 1856 des Berners Carl Jakob Durheim hat nur ein Verzeichnis der Patois-Namen des Kantons Waadt. Das Jura-Patois, die im «französischen Teil des Jura üblichen Benennungen», hat er jedoch kaum berücksichtigt und in die Liste der «französischen Namen» integ- riert. Es wäre also gut möglich, dass Liomins Listen zur Erschliessung alter Schrift- werke aus dem Jura nicht nur in botanischer, sondern auch in land- und forstwirtschaft- licher, ethnologischer oder medizinischer Hinsicht einen «missing link» bilden könnten.

154 BEZG N° 02/10 Fundstück 155 Quellen

Blackwell, Elisabeth: Herbarium Blackwellianum. 6 Bde. Nürnberg 1757–1773.

Decoppet, Abraham-Louis; Ricou, Bernard-Jean-François: Essai d’une collection des noms vulgaires ou patois des principales plantes de la Suisse, usités dans la partie françoise ou le pais de Vaud. In: Mémoires et observations recueillies par la Société oeconomique de Berne, 1764, 4 partie, 127–147.

Haller, Albrecht von: Verzeichniss der in Helvetien wildwachsenden Bäume und Stauden. In: Abhandlungen und Beobachtungen durch die oekonomische Gesellschaft zu Bern gesammelt, 1764, Heft 4, 53 –70.

Linnaeus, Carolus: Species Plantarum. Holmiae 1753.

Liomin, [Georges Louis]: Notice des arbres, arbrisseaux et arbustes, ou sous-arbrisseaux, soit plantes ligneuses, spontanées et fort cultivées dans des forets et de la campagne que des vergers et jardins de l’Erguel adapté à la méthode du livre intitulé species plantarum par M. Linnaeus. – En français, en patois du pays et en latin. Burgerbibliothek Bern GA Oek. Ges. 73 (2).

Liomin, [Georges Louis]: Choix de plantes usuelles, tant spontanées que beaucoup cultivées en Suisse. Burgerbibliothek Bern GA Oek. Ges. 73 (3).

Fachliteratur

Durheim, Carl Jakob: Schweizerisches Pflanzen-Idiotikon. Ein Wörterbuch von Pflanzenbenennungen in den verschiedenen Mundarten der deutschen, französischen und italienischen Schweiz, nebst deren lateinischen, französischen und deutschen Namen. Bern 1856.

Gerber-Visser, Gerrendina: «Statistik» für eine private Gesellschaft. Die Oekonomische Gesellschaft in Bern und ihre Informationsbeschaffung. In: Brendecke, Arndt et al (Hrsg.): Information in der Frühen Neuzeit. Status, Bestände, Strategien. Münster 2008, 375 – 392.

Lienhard, Luc: «La machine botanique». Zur Entstehung von Hallers Flora der Schweiz. In: Stuber, Martin; Hächler, Stefan; Lienhard, Luc (Hrsg.): Hallers Netz. Ein europäischer Gelehrtenbriefwechsel zur Zeit der Aufklärung. Basel 2005, 371– 410.

Stuber, Martin; Lienhard, Luc: Nützliche Pflanzen. Systematische Verzeichnisse von Wild- und Kultur- pflanzen im Umfeld der Oekonomischen Gesellschaft Bern 1762 –1782. In: Holenstein, André et al. (Hrsg.): Nützliche Wissenschaft und Ökonomie im Ancien Régime. Akteure, Themen, Kommunikati- onsformen. (Cardanus Jahrbuch für Wissenschaftsgeschichte Band 7.) Heidelberg 2007, 65 –106.

Wyss, Regula: Pfarrer als Vermittler ökonomischen Wissens? Die Rolle der Pfarrer in der Oekono- mischen Gesellschaft Bern im 18. Jahrhundert. Nordhausen 2007 (Berner Forschungen zur Regional- geschichte, 8).

Info Die Abhandlungen und Beobachtungen resp. die Mémoires et observations der Oekonomischen Gesellschaft Bern sind online zugänglich unter www.digibern.ch.

156 BEZG N° 02/10 Historischer Verein des Kantons Bern

Vorträge des Wintersemesters 2009/2010

(Die ersten vier Vorträge bilden einen Zyklus zum 250-Jahr-Jubiläum der Oekonomischen und Gemeinnützigen Gesellschaft des Kantons Bern OGG)

Christian Pfister Entwicklungshilfe für das Vaterland. Agrarmodernisierung und Wirtschafts- wachstum im alten Bern zur Zeit der Ökonomischen Patrioten

Meine Ausführungen verstehen sich als Überblick über vielfältige Forschungsergeb- nisse, die im Zusammenhang mit dem Haller-Jubiläum und der Feier zum 250-jähri- gen Bestehen der Oekonomischen und Gemeinnützigen Gesellschaft des Kantons Bern OGG erarbeitet und publiziert worden sind. In der Zeit zwischen 1750 –1850 gelang es den europäisch-atlantischen Gesellschaften, die für die Vormoderne kennzeichnenden Grenzen für ein dauerhaftes, demographisch-ökonomisches Wachstum zu überwinden und eine Spirale der wirtschaftlichen, demographischen, sozialen, politischen und kul- turellen Leistungssteigerung in Gang zu setzen – mit allen Vor- und Nachteilen, welche diese Entwicklung bis heute hervorgebracht hat. Der Vortrag vermittelt zunächst eine Vorstellung von den ökologischen Grundlagen agrarischer Zivilisationen und der darauf abgestimmten Handlungslogik, die von den Erfahrungen wirtschaftlichen Nullwachstums geprägt war. Am Beispiel der Oekonomi- schen Gesellschaft wird anschliessend aufgezeigt, wie europäische Reformeliten im spä- ten 18. Jahrhundert einen Kurswechsel propagierten, der durch eine Mehrung der schaf- fenden Hände und begrenzte Innovationen im Rahmen des Feudalsystems einem Abbröckeln der Einkünfte des Staates und seiner regierenden Familien entgegenzuwir- ken versprach. Inspiriert war diese Zielsetzung vom Denkmodell der französischen Phy- siokraten, die Volkswirtschaft erstmals als eigenständiges System von Wechselbezie- hungen verstanden. Als vorrangiges Mittel zur Wirtschaftsförderung propagierten sie eine Steigerung des Bodenertrags als Schlüsselenergieträger und forderten zur Schaf- fung der nötigen Anreize eine Freigabe des Getreidehandels. Die führenden Köpfe der Berner Ökonomen entwarfen ein systematisches Aktions- programm, das beim Landbau als Führungssektor ansetzte und Handel und Gewerbe als nachgelagerte Sektoren verstand. Es verwies auf wissenschaftliche, institutionelle, demographische und pädagogische Handlungsfelder. Das Referat thematisiert anhand von Beispielen Strategien zur Wirtschaftsförderung wie die Sammlung von lokalen Wis-

HVBE 157 sensbeständen, den internationalen Austausch von Innovationsimpulsen durch den Auf- bau eines Netzes von Korrespondenten sowie Bemühungen zur Erziehung der ländli- chen Bevölkerung. Abschliessend wird auf rechtlich-institutionelle, soziale und mentale Hindernisse hingewiesen, die einer Durchsetzung der Reformen unter den Gegebenhei- ten des Ancien Régime im Wege standen. Erst nach der 1831 erfolgten Wende zum liberalen Volksstaat ging die Saat der Öko- nomischen Patrioten auf, und zwar binnen kurzer Zeit in Form einer eigentlichen «Agrar­revolution». Diese war für den Erfolg der einsetzenden Industrialisierung we- sentlich.

Martin Stuber / Regula Wyss Körnwürmer, Maikäfer, Schaben. Schädlinge im Fokus der Oekonomischen Gesellschaft Bern

In der Frühen Neuzeit weitete der bernische Staat seine Interventionen zunehmend auf die Volkswirtschaft seines ganzen Territoriums aus. Neben einer aktiven Förderung der Produktion ging es immer auch um die Abwendung von Schadensereignissen. Dazu ge- hörte die Bekämpfung der verschiedenen Kulturschädlinge wie «korngugen», «graswür­ mer», «ingern» sowie «müs und ratten». Die 1759 gegründete Oekonomische Gesell­schaft stellte diese Bemühungen auf eine neue Grundlage, indem sie die Ressourcen des ber- nischen Territoriums systematisch erfasste und konsequent zwischen Nützlingen und Schädlingen unterschied. Zur Eindämmung oder gar Ausrottung der Schädlinge setzte sie ein breites Arsenal an wissenschaftlich-technologischen und kommunikativen Mit- teln ein. Wie die Akteure der Oekonomischen Gesellschaft dabei gleichzeitig als Fach- experten, als Verwaltungsleute und als Regierungsmitglieder agierten, soll anhand zweier Fallbeispiele präsentiert werden. Bei der Bekämpfung der Maikäfer lassen sich regional differenzierte Strategien beobachten, die auf guter kommunikativer Vernet- zung basieren. Die Korndarre, eingesetzt im Kampf gegen Kornwürmer in obrigkeitli- chen Getreidespeichern, dient dagegen als Beispiel für eine technologische Lösung.

Peter Moser Bildung und Ausbildung im ländlichen Bern. Die Rolle der Oekonomischen und Gemeinnützigen Gesellschaft des Kantons Bern OGG im 19./20. Jahrhundert

Mit der in der Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgten Umwandlung der Oekonomischen Gesellschaft von der Reformsozietät zum landwirtschaftlichen Verein erfuhren die Be- strebungen zur Intensivierung und Systematisierung der Ausbildung im ländlichen Bern

158 BEZG N° 02/10 einen ersten Aufschwung. Fortan spielte die OGG im Bereich der Bildung und Ausbil- dung der Bevölkerung auf dem Land eine führende Rolle. Das von der OGG zusammen mit den Behörden und landwirtschaftlichen Organisationen im Kanton Bern aufge- baute Bildungswesen übte bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts auch auf die Entwicklung in der übrigen Schweiz einen prägenden Einfluss aus. Im Vortrag werden zuerst die Vorstellungen und Anliegen wichtiger Akteure und Institutionen der agrarischen Wissensgesellschaft vorgestellt. Dazu gehören Persönlich- keiten wie beispielsweise Albert von Fellenberg-Ziegler, Carl Moser, Anna Schneider- Schnyder, Marie Müller-Bigler, Werner Daepp, Fritz Zurflüh und Hermann Bieri ebenso wie das landwirtschaftliche Publikationswesen, die landwirtschaftlichen Schulen, das bäuerliche Lehrjahr, die landwirtschaftliche Meisterprüfung, die bäuerlichen Hauswirt- schaftsschulen und das vielfältige Kurswesen der ländlichen Erwachsenenbildung. Im zweiten Teil erfolgt eine Analyse der Vielfalt der vermittelten Inhalte. Zudem wird die ausgesprochen gute Quellenlage vorgestellt, ermöglicht diese doch eine Rekonstruktion der Rezeption des Unterrichts und der vermittelten Inhalte an den landwirtschaftlichen Schulen durch die Schüler und Schülerinnen. Die dargestellten Resultate basieren auf den neusten Forschungen zur OGG und zur agrarischen Wissensgesellschaft, die vom Archiv für Agrargeschichte momentan in Zusammenarbeit mit historischen Instituten an schweizerischen und europäischen Hochschulen durchgeführt werden.

Katrin Keller / Peter Lehmann Gelehrte Schriften und gelehrsame Bauern. Die Oekonomische Gesellschaft und ihre Medien im Wandel

Im Dezember 1758 inserierte der bernische Chorgerichtsschreiber Johann Rudolf Tschif- feli mit einem öffentlichen Aufruf im bernischen Avis-Blatt, dem damaligen städtischen Anzeiger. Er rief zu Geldspenden auf, um einen Wettbewerb zu einem für den Staat Bern wichtigen ökonomischen Thema finanzieren zu können. Überwältigt vom gros- sen Zuspruch in der Öffentlichkeit, beschlossen Tschiffeli und seine nächsten Mitstrei- ter aus dem bernischen Patriziat, nicht nur den vorgesehenen Wettbewerb – eine Preis- frage – zu veranstalten, sondern gleich eine Gesellschaft ins Leben zu rufen, die sich allgemein mit landwirtschaftlichen Fragen und Problemen befassen sollte. In kurzer Zeit entwickelte sich diese Oekonomische Gesellschaft Bern (OeG) zu einer über die eidgenössischen Grenzen hinaus bekannten Institution. Diesen Ruf verdankte sie ihren Erfolg versprechenden Aktivitäten und einer grossen medialen Präsenz: nach dem Vor- bild europäischer Akademien und gelehrter Gesellschaften schrieb sie Preisfragen aus,

HVBE 159 die von einem internationalen Publikum wahrgenommen und beantwortet wurden. Da- neben veranstaltete sie praktische Prämien für die Landleute, gab eine zweisprachige ökonomische Vierteljahresschrift heraus, beförderte und veröffentlichte Topographische Landesbeschreibungen und unterhielt einen internationalen Briefwechsel. Die Erfolgsgeschichte der Anfangsjahre konnte in der folgenden Zeit nicht fortge- schrieben werden – trotz Gegenmassnahmen erreichten immer weniger Zuschriften die Gesellschaft und für Preisschriften und praktische Beiträge konnten kaum mehr Preise ausgeteilt werden. Im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts trat die OeG kaum mehr in Verbindung mit landwirtschaftlichen Themen auf, sondern unterstützte mit Kunstausstellungen und botanischen Versuchen primär persönliche Interessen einzelner Mitglieder des Vor- standes, so etwa Sigmund Wagners. Er war eine der schillernden Figuren in der Ge- schichte der OeG. Zur Landwirtschaft hatte er offensichtlich keinerlei Bezug. Eher suchte er, und damit scheint er im Jahrzehnt nach dem Franzoseneinfall nicht alleine gewesen zu sein, in den Sitzungen der Gesellschaft die alte Zeit zu konservieren. Erst nach der Wiederbelebung 1823, nachdem die Gesellschaftsaktivitäten nach 1814 zum Erliegen gekommen waren, wandte sich die OeG wieder landwirtschaftlichen Themen zu. Dieses wiedererwachte Interesse schlug sich auch in ihrer Mitgliederstruk- tur nieder. Dominierten bis 1814 die stadtbernischen und patrizischen Mitglieder, so war 1830 bereits der grössere Teil der Mitglieder Landberner, vor allem aus dem Em- mental und dem Oberland. Auch bei den Medien der Gesellschaft war die Orientierung am bäuerlichen Leben feststellbar. Im 18. Jahrhundert bestimmten die (elitären) Preis- fragen die Gesellschaftsaktivität, dagegen wurden ab den 1820er-Jahren verstärkt prak- tische Versuche wie Pflugproben durchgeführt oder Prämien für praktische Verbesse- rungen ausgerichtet. Die Preisfragen dagegen, die Geburtshelfer der Gesellschaft, sanken praktisch in die Bedeutungslosigkeit ab. Die Wandlung der Gesellschaft ging einher mit einer neuen Rolle der Bauern in derselben. Waren sie im 18. Jahrhundert pri­mär das Objekt der Belehrung von Seiten der OeG gewesen, so wurden sie mit fort- schreitender Dauer des 19. Jahrhunderts mehr und mehr zur bestimmenden Schicht innerhalb der Gesellschaft, die mit ihren Bedürfnissen deren Aktivitäten und deren Ant- litz entscheidend prägten.

Michael Gerber «…und manchmal sagen sie auch ja…»

«Wir leben in einer bewegten Zeit. Ein Tag folgt dem andern, und neues Leben sprosst aus den Ruinen. Auf moralischem, medizinischem, poetischem, patriotischem Gebiete,

160 BEZG N° 02/10 im Handel, Wandel, Kunst und Wissenschaft, allüberall dieselbe Erscheinung, dieselbe Tendenz. Symptom reiht sich an Symptom.»* Auch die Denkmalpflege lebt in einer bewegten Zeit. Kein Monat ohne negative Schlagzeile und keine Session ohne Vorstoss gegen die Denkmalpflege als Institution. Symptom reiht sich an Symptom. Gerne wäre man Christian Morgenstern und nähme den Galgenhumor zu Hülfe. Aber da ist auch ein anderes Bild: Am Europäischen Tag des Denkmals, dessen Ziel es ist, bei einem breiten Publikum das Interesse an unseren Kulturgütern und deren Erhaltung zu wecken, besuchten im September 2009 allein in der Schweiz rund 50 000 Personen an zwei Tagen verschiedenste Orte, Häuser und Objekte. Auf Grund des An- gebots kann nicht nur der oft zitierte Voyeurismus die Ursache für den grossen Publi- kumsaufmarsch sein. Hier zeigt sich vielmehr ein ehrliches Interesse an unserem kul- turellen Erbe. Kunstdenkmäler sind uns offenbar nicht gleichgültig. Das gleiche Bild ist auch statistisch belegt: In der letztjährigen Studie des Bundes- amts für Statistik zum Kulturverhalten der Schweizerinnen und Schweizer taucht der Besuch von Denkmälern als kulturelle Tätigkeit ganz vorne auf, in einzelnen Tabellen noch vor dem Kinobesuch. Janusgesichtige Denkmalpflege also – unbestritten, wenn ihre Hinterlassenschaft in unverbindlicher und unpersönlicher Weise erkundet werden kann, bestritten, wenn sie sich aktiv für Baudenkmäler einsetzt. Das Referat versucht anhand von ausgesuch- ten Beispielen die dunklen Winkel in der Arbeit der kantonalen Denkmalpflege auszu- leuchten, Zusammenhänge aufzuzeigen und Missverständnisse aufzulösen. Und es zeigt auf, dass sie… «…indem sie ihr Herze offenbart, mit all den Widersprüchen, Knäueln, Gräueln, Grund- und Kraftsuppen ihres Wesens, als Schwan zuletzt mit Rosenfingern über den Horizont ihres eigenen Chaos – und sei es auch nur als ein Wesensteil ihrer selbst und sei es auch nur mit der lächelndsten Träne im Wappen – emporzusteigen sich zu ent- brechen den Mut, was sage ich, die Verruchtheit hat.»* * Aus: Christian Morgenstern, Alle Galgenlieder, Zürich 1981.

Kaspar Staub Und die (Körper-)Grösse zählt doch … Der biologische Lebensstandard im Kanton Bern und der Schweiz 1800 – 1950

Die Körperhöhe erlaubt überzeitlich und überräumlich vergleichbare Aussagen zum biologischen Lebensstandard einer Bevölkerung. Welche Endgrösse ein Mensch er- reicht, hängt eng mit dem in den Wachstumsphasen erfahrenen biologischen Wohl-

HVBE 161 stand zusammen. Nach Ausschaltung von genetischen Faktoren bringt die Körpergrösse die im Wachstumsverhalten gespeicherte, kumulierte Ernährungserfahrung des Indi- viduums zum Ausdruck. Für den Ernährungsstatus von Bedeutung sind als primäre Einflussfaktoren die Ernährung sowie auf Seiten der Ernährungsbedürfnisse das Krank- heitsumfeld und die Arbeitsbelastung. Im Unterschied zu herkömmlichen Wohlstands­ indikatoren sind Körpergrössen vollständiger dokumentiert, in der Schweiz für die letz- ten zwei Jahrhunderte auf der Basis von systematischen Erhebungen. Einen für die Schweiz erstmaligen Beitrag zu diesem seit den späten 1970er-Jahren weltweit rasch aufstrebenden Forschungsgebiet der Historischen Anthropometrie wurde in den letzten drei Jahren geleistet durch das SNF-Projekt «Der Biologische Lebens- standard in der Schweiz 1800–1950» an der Abteilung Wirtschafts-, Sozial- und Um- weltgeschichte des Historischen Instituts der Universität Bern. Anhand eines vergleichs- weise grossen Samples an Körpergrössen von Frauen und Männern können nun für ausgewählte Schweizer Gebiete langfristige Veränderungen im biologischen Lebens- standard seit dem frühen 19. Jahrhundert differenziert nach Geschlecht, sozialer Schicht und räumlicher Herkunft herausgearbeitet werden. Für den Kanton Bern bildeten Quel- len der Rekrutierung, Passregister sowie Schülervermessungen die hauptsächlichen Zu- gänge zu Körpergrössendaten. Als erster Zugang kann mit Hilfe der ab 1875 schweizweit standardisierten Körper- messungen der 19-jährigen männlichen Stellungspflichtigen die sogenannte säkulare Akzeleration in der Schweiz und im Kanton Bern nachgezeichnet werden, als ab den 1890er-Jahren bis heute die jungen Männer stetig grösser wurden. Die Stadtbevölke- rung war dabei stets signifikant grösser als die Landbevölkerung, ebenso schauten die sozioökonomisch Bessergestellten nicht nur sinnbildlich, sondern auch körperlich auf die kleinen Leute herab. Über die zusätzlich gegebenen Angaben zu Gewicht (Body Mass Index), Oberarm- und Brustumfang werden auch kurzfristige Veränderungen des Biologischen Lebensstandards beobachtbar. Ebenso geben die auf Individualebene vor- handenen Noten der Pädagogischen Rekrutenprüfungen Einblick in den positiven Zu- sammenhang zwischen Körpergrösse und schulischer Leistung. Entscheidend für die Höhe, Proportion und Fülle des Körpers einerseits und die Schulbildung anderseits war der sozioökonomische Hintergrund, wie am Beispiel der Stadt Bern und dem Amtsbe- zirk Schwarzenburg gezeigt werden kann. Über die Passregister als zweitem Zugang können die Körpergrössen bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts zurückverfolgt wer- den, auch für Frauen. Letzteres ist in der internationalen Körpergrössen-Forschung in- novativ, beruhen doch die meisten Studien auf Rekrutendaten und damit auf Angaben nur zu Männern. Die Schülervermessungen und Angaben aus den schulärztlichen Un- tersuchungen aus der Stadt Bern als dritter Zugang schliesslich geben Einblick in die

162 BEZG N° 02/10 1920er-Jahre, eine entscheidende Phase der Wachstumsbeschleunigung. Es kann am Beispiel der Stadt Bern zudem gezeigt werden, dass Verbesserungen im Wohnstandard sowie die Ferienversorgung und Speisung von Schulkindern bisher unterschätzte Fak- toren darstellen.

Juri Jaquemet «Wenn durch des Jura’s Pforten der Feind in Massen dringt» – Die Landesbefestigung gegen Westen im Seeland, Murtenbiet und am angrenzenden Jurasüdfuss 1815 – 1918

In den Jahren 1815 und 1831 befürchteten eidgenössische Offiziere einen Angriff aus Frankreich. Die Aare, weit im Landesinnern gelegen, hätte sodann als natürliches Hin- dernis gegen Westen gedient. Dem Aareübergang bei Aarberg kam dabei überregionale Bedeutung zu. Hier ver- einigten sich die Strassen aus Murten, Neuenburg und Biel. Dies waren alles Strassen, über welche die möglichen Einfallsachsen bei einem potenziellen Angriff aus Frank- reich führten. 1815 wurde unmittelbar westlich der Holzbrücke von Aarberg ein Brü- ckenkopf in Form einer Schanze errichtet. 1831 wurde das Vorfeld der Aarberger Holz- brücke mit drei weiteren Schanzen erweitert. Die Schanzanlagen von Aarberg gehören zu den ersten Befestigungsanlagen, welche die Eidgenossenschaft finanzierte. Vorher wurden Befestigungsbauten durch die Kantone und Städte finanziert. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts verloren der Raum Aarberg und die dortigen Feld- befestigungen an Bedeutung. Im Bereich der Waffentechnik machte die Artillerietech- nik Fortschritte. Einfache Erdschanzen wie bei Aarberg boten gegen die neu entwickel- ten Geschosse nur noch bedingt Schutz. Auch die Erste Juragewässerkorrektion hatte Einfluss auf die Region Aarberg. Ein Stoss französischer Truppen von der Ajoie in Rich- tung Biel hätte seit dem Bau des Hagneckkanals hinter die Aare geführt. Der Aareüber- gang verlor so einen Teil seiner Bedeutung. Seit der Seespiegelsenkung in den 1870er- Jahren war zudem das Grosse Moos westlich von Aarberg, welches vorher eine Art Sperrfunktion innehatte, leichter passierbar geworden. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs wurde durch die schweizerische Armeeführung der Bau der «Fortifikation Murten» befohlen. Auf der Linie Zihlkanal – Vuilly – Mur- ten – Laupen entstanden zahlreiche Feldbefestigungsanlagen. Die Verteidigungslinie hatte die Aufgabe, Bern gegen Westen vor Angriffen über die Zihl und aus dem Kanton Waadt zu schützen. Die schweizerische Armeeführung befürchtete hauptsächlich einen französischen Umfassungsangriff durch die Schweiz in Richtung der unbefestigten deutschen Südgrenze. Nach Kriegsende liquidierte die Armee die Fortifikation Murten.

HVBE 163 Werke auf Kulturland wurden zugedeckt und aufgelöst, Stellungen im Wald wurden ge- räumt und der Natur überlassen. In Waldgebieten sind viele Bunker, Unterstände und Stollen bis zum heutigen Tag erhalten geblieben. Der Vortrag hat diese Befestigungen zum Thema und geht hauptsächlich der Frage nach, wie der Untersuchungsraum gegen einen allfälligen Angriff aus Westen (Frank- reich) in der Zeit 1815 –1918 befestigt wurde und welche Kosten dabei entstanden sind. Zuerst wird die Militärgeographie des Untersuchungsraumes – vor und nach der Ersten Juragewässerkorrektion – diskutiert. Danach werden die Befestigungen bei Aar- berg näher erläutert. Im anschliessenden Teil zur «Fortifikation Murten» werden auch die Themengebiete Sprachgraben, Soldatenalltag und der Einfluss der «Fortifikation Murten» auf die Zivilbevölkerung diskutiert. Diese letzteren Themen, und auch die Frage nach den Baukosten, wurden bisher für den Untersuchungsraum noch nie aus- führlich diskutiert.

Kathrin Jost Konrad Justinger, Schreiber, Chronist, Finanzmann. Neues zum Verfasser der ersten amtlichen Chronik Berns

Um Konrad Justinger, den ersten Chronisten der Stadt Bern, ranken sich viele Mythen, Vorstellungen und Hypothesen. Moritz von Stürler sprach ihm den Chronisten ganz ab und wollte lediglich einen Finanzmann in ihm sehen, Ferdinand Vetter machte aus Jus- tinger einen Schüler des berühmten Strassburger Chronisten Jakob Twinger von Kö- nigshofen, für Hans Strahm schliesslich prägte Konrad Justinger nicht nur die berni- sche und zürcherische Geschichtsschreibung, sondern auch die städtische Verwaltung Berns wie kaum ein anderer. Kathrin Jost hat die Quellen zu Justingers Leben und Werk – darunter auch einige Neuentdeckungen – der schon lange fälligen kritischen Prüfung unterzogen und legt nun neue, zum Teil unerwartete Erkenntnisse über Justingers Her- kunft, Lehrzeit und Karriere vor. Ihr Referat zeichnet das Bild eines Schreibers mit praktischer Ausbildung, der wohl schon früh in die aufstrebende Aarestadt gelangte in der Hoffnung, hier Karriere zu machen, jedoch längerfristig keine zentrale Position in der städtischen Verwaltung besetzen konnte; eines Geschäftsmannes, der seine Finanz- geschäfte über die Grenzen Berns hinaus mit Erfolg führte; und eines Berner Burgers, der über prestigeträchtige Ämter und Arbeiten wie das Freiheitenbuch oder die erste Stadtchronik den gesellschaftlichen und politischen Aufstieg in der Aarestadt anstrebte, mangels familiärer Vernetzung aber letztendlich scheiterte und sich nach Zürich, in die Stadt seiner spät gefundenen Ehefrau, zurückzog. Der zweite Teil des Vortrags widmet sich Justingers amtlicher Berner Chronik, eines

164 BEZG N° 02/10 der ersten Beispiele eidgenössischer städtischer Geschichtsschreibung und darüber hi- naus die erste Stadtchronik im süddeutschen Raum, für die ein offizieller Auftrag der Stadtregierung nachgewiesen ist. Mangels Vorgängerwerke entwarf Justinger ein eige- nes, neues Konzept einer Stadtchronik, die in ihrem Fokus auf die Stadt weit über die Ansätze Jakob Twingers von Königshofen hinausging und in ihrer Struktur und inhalt- lichen Ausführung wesentlich ausgefeilter war als die Zürcher Stadtchronistik. Exem- plarisch wird aufgezeigt, wie Konrad Justinger seine Absicht, «alle der vorgenant ir stat Berne vergangen und grosse sachen, die nemlich treflich nútze und gte ze wissende und ze hoerende sint, zesamen bringen», umgesetzt, welche Ziele er dabei verfolgt und wel- che Wirkung er damit bis zum heutigen Tag erzielt hat.

Jean-Daniel Gross Geächtet – geachtet: die Bauten des Historismus. Der Wandel in der Rezeption historistischer Architektur in den Jahren zwischen 1960 – 1980

Selten ist die Hinterlassenschaft einer Epoche so rabiat und absichtsvoll beseitigt wor- den wie Architektur und Kunsthandwerk aus der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahr- hunderts in den Nachkriegsjahren des zwanzigsten. Die Gründe dafür sind vielfältig. Erst das Zusammenspiel kunst- und kulturtheoretischer, gesellschafts- und sozialkriti- scher, implizit politischer wie natürlich ökonomischer Ursachen machte den respekt- losen, ja verächtlichen Umgang mit dem Erbe des Historismus möglich. In der Folge ist in den 1960er- bis in die 1980er-Jahre eine unerhörte Abbruchwelle zu beobachten, die sich in der stark von historistischen Bauten geprägten Stadt Zürich besonders an- schaulich nachvollziehen lässt. Die Stadt hat später die Stellung als wirtschaftlich-indus­ trielle Metropole der Schweiz behaupten können. So steht nach der reichen Baupro- duktion des Historismus die ungebremste Abbruchwelle der 1970er-Jahre exemplarisch für die Ächtung des baulichen Erbes einer ganzen Epoche. Im selben Zeitraum ist aber auch ein Wertewandel zu beobachten. Die Abbrüche werden zunehmend wahrgenommen und geraten immer mehr ins Schussfeld öffentli- cher und fachlicher Kritik. Der Wandel kann an der Politik, an der Baugesetzgebung wie am erwachenden fachlichen Interesse festgemacht werden. So erscheint zuerst eine ganze Reihe architekturgeschichtlicher Dissertationen zum Thema, bis schliesslich ab 1982 das Inventar der Neueren Schweizer Architektur (INSA, 1850 – 1920) publiziert wird. Die Wiederentdeckung des Historismus erklärt sich auch aus der Krise der einsei- tig utilitaristischen Nachkriegsarchitektur. Anhand von elf konkreten Erhaltungskämp- fen um historistische Bauten, Gebäudegruppen oder Quartieren kann die Rehabilita- tion dieser lange geschmähten Baukunst am Zürcher Beispiel empirisch nachgewiesen

HVBE 165 werden. Dabei muss der Rezeptionswandel historistischer Architektur im grösseren Zu- sammenhang einer allgemeinen Sensibilisierung für die Verletzlichkeit nicht nur der urbanen Umwelt betrachtet werden. Vom selben Geist waren auch der Natur- und Um- weltschutz getragen, das Paradigma des unbegrenzten Fortschritts war gebrochen.

Monica Bilfinger Vom Rathaus des Bundes zum Bundespalast

Die Ehre von Berns Ernennung zum festen Regierungssitz der Schweiz brachte für die Aarestadt auch Pflichten mit sich: eine adäquate Unterbringung der neuen Regierung und deren Administration war gefordert. Es folgte ein von der neu organisierten Stadt- gemeinde national lancierter Architektur-Wettbewerb, der kein befriedigendes Resultat brachte und zum Bau des «Rathauses des Bundes» durch einen bis dahin wenig be- kannten Berner Architekten führte. Bezogen wurde dieses Rathaus in unfertigem Zu- stand. Es folgten längere Auseinandersetzungen um dessen Innenausstattung, die bis heute ihre Auswirkung auf das Kulturbudget des Bundes haben. Was aber haben der Bau des Kunstmuseums Bern, die erste Totalrevision der Bun- desverfassung und die Abtretung dieses Rathauses an den jungen Bund mit dem bald darauf notwendigen Erweiterungsbau zu tun? Und warum kam der Erweiterungsbau, das «neue Bundesrathaus», östlich davon an die Stelle des ehemaligen Inselspitals zu stehen? Schliesslich entstand die Palastlösung, die ihren krönenden Abschluss im Neubau des Parlamentsgebäudes fand. Nicht nur im Äusseren kam es zu dieser überzeugenden Lösung, sondern auch das Innere ist ein für die Schweiz einmaliges Gesamtkunstwerk. Zum Schluss des Referates soll auf die Entwicklung im 20. Jahrhundert eingegangen werden. Anzusprechen sind dabei auch die jüngsten Bauereignisse wie die Neugestal- tung des Bundesplatzes, die letzten Sanierungen und die Umbauten im Bundespalast.

166 BEZG N° 02/10 Buchbesprechungen

Bärner Müschterli, Anekdoten und Originale, vorgestellt von J. Harald Wäber. CD, hrsg. von der Burgerbibliothek Bern. Muri bei Bern: Cosmos Verlag 2009. ISBN 978-3-305-00128-6.

In seinem schönen Stadtberndeutsch berichtet uns der Historiker und langjährige Direk­ tor der Burgerbibliothek Anekdoten und Bonmots aus Bern zwischen Spätmittelalter und dem 20. Jahrhundert. Einige der Anekdoten sind zwar nicht unbedingt gesichert, aber typisch und sehr wohl möglich und werfen ein humorvolles und liebenswürdiges Licht auf allerhand Leute in und um Bern. Ganz besonders bemerkenswert aber ist die Vorstellung von zehn stadtbernischen Originalen. Wäber versteht es, mit sehr viel Ein- fühlungsvermögen, Personen verschiedenster Herkunft, von Dällebach Kari über Dok- tor Bäri und Hirschi-Buume bis Madame de Meuron, eine kurze, herzliche Würdigung zukommen zu lassen und uns diese Menschen mit ihren oft nicht einfachen Lebensum- ständen näherzubringen. Die heiteren, aber nie verletzenden Geschichten sind immer auch ein Stück Berner Geschichte. Die CD ist zwar nur gesprochen, aber gleichwohl Musik ihn den Ohren jedes Berners. Man hört sie sich mehr als einmal an. Quirinus Reichen

Christen, Hans Rudolf: Emmentaler Geschlechter- und Wappen- buch. Ergänzungsband: Addenda und Corrigenda. Langwies: Elvisa 2008. 143 S. ISBN 978-3-905530-03-2.

1998 veröffentlichte Hans Rudolf Christen das Emmentaler Geschlechter- und Wappen- buch.1 In diesem Band verzeichnete er sämtliche Geschlechter, welche vor 1800 im Emmen­tal heimatberechtigt waren, mit Namensdeutungen, Bürgerorten, Familienwap- pen, belegten Trägern des Familiennamens mit Lebensdaten sowie Literaturangaben. Chris­ten hat damit einen reichen Fundus für die Familienforschung und die Ortsge- schichtsschreibung im Emmental zusammengestellt. Im Nachgang zur Veröffentlichung sammelte er weiter, sodass er zehn Jahre nach dem Erscheinen dieses Buches einen Er- gänzungsband veröffentlichen konnte. Es folgt im Aufbau der aus dem Hauptband be- kannten Struktur und ist ohne diesen, wie der Autor selber zu Recht betont, kaum zu gebrauchen. Im Ergänzungsband werden vor allem zahlreiche zusätzliche Personen aufgeführt, aber auch neue Wappenvarianten präsentiert und auf zusätzliche Literatur verwiesen. Ausserdem sind Korrekturen aufgeführt, welche auf den ersten Band verweisen. Die zusätzlichen Angaben zu Personen und Literatur sind eine hilfreiche Ergänzung zum

Buchbesprechungen 167 Hauptband und sicher für alle interessant, welche diesen benutzen. Die Korrekturen dagegen sind in der Handhabung recht umständlich, muss doch bei der Arbeit mit dem Hauptband parallel der Ergänzungsband betrachtet werden. Daher wäre es wünschens- wert, wenn irgendwann eine ergänzte und korrigierte Neuauflage des Emmentaler Ge- schlechter- und Wappenbuches erscheinen könnte. Peter Lehmann

1 Vgl. die Besprechung von Christian Lüthi in BZGH 61 (1999), Heft 4, S. 201.

Erlach, Alexander: Die Geschichte der Homöopathie in der Schweiz 1827–1971. Stuttgart: Karl F. Haug 2009 (Quellen und Studien zur Homöopathiegeschichte, Bd. 12, zugl. Diss. med. Univ. Zürich 2004). 320 S. ISBN 978-3-8304-7306-0.

Alternative und komplementäre Heilmethoden sind keine neuartigen Modeerscheinun- gen, sondern Konstanten, die die universitäre Medizin seit deren Vereinheitlichung als methodisch und inhaltlich klar definierte Schulmedizin um die Mitte des 19. Jahrhun- derts begleiten. Sie erfreuten sich wechselnder Beliebtheit und wurden im Zug des er- neuten Aufschwungs ab den 1970er-Jahren und vor allem in den letzten 15 Jahren zu- nehmend auch Gegenstand der historischen Forschung. Dennoch sind unsere Kenntnisse über die Geschichte der Komplementärmedizin noch sehr lückenhaft, besonders in der Schweiz. Dies gilt auch für die Homöopathie als der mit Abstand am stärksten verbrei- teten Alternativmethode. Alexander Erlach liefert nun die erste grössere Studie zur Geschichte der Homöopa­ thie in der Schweiz. Den Schwerpunkt des Buches bilden zwei grössere Kapitel über die Anfänge der Homöopathie und den Schweizerischen Verein Homöopathischer Ärzte, an die sich kürzere Kapitel über die Entwicklung im Welschland, die homöopathischen Spi- täler, die Zeitschriften, die internationalen Beziehungen, die Hersteller homöopathischer Arzneimittel und die Laienhomöopathie anschliessen. Den Schluss bilden drei längere Biographien bedeutender Schweizer Homöopathen (Rudolf Flury, Antoine Nebel sen. und Pierre Schmidt). Wie der Autor selbst betont, schreibt er überwiegend eine Geschichte der ärztlichen Homöopathie. Er hat sich bemüht, die wichtigeren Figuren biographisch fassbar zu machen und in ihrer ärztlichen, wissenschaftlichen, publizistischen und vereinsrele- vanten Tätigkeit zu zeigen. So treffen wir – um uns auf die wichtigsten drei Berner zu beschränken – auf Karl Krieger (1817–1874), einen aus Württemberg stammenden Gym- nasiallehrer, der aus Begeisterung für die Homöopathie das Medizinstudium nachholte,

168 BEZG N° 02/10 die alternative Methode mit Erfolg bei Arm und Reich anwandte und ihr so als Erster in Bern zum Ansehen verhalf. In Kriegers Fussstapfen trat Emil Schädler (1822–1890), der während langer Zeit den Schweizerischen Verein präsidierte und internationale An- erkennung genoss. Generationen später tätig war Rudolf Flury (1903–1977), der vor al- lem Bedeutung als einheitsstiftender Vereinspräsident und als Lehrer im gesamten deut- schen Sprachraum erlangte. In Erlachs Buch erscheint die Geschichte der Homöopathie als eine «Ahnenreihe» (S. 161) homöopathischer Ärzte. Den Fokus auf die Ärzte begründet der Autor mit den spärlichen Quellen zur nichtärztlichen Homöopathie (S. 3) und blendet dabei aus, dass es etwa mit dem Schweizer Volksarzt – Wochenschrift für Homöopathie und Volksheil- kunde (1868–1900) zwar eine weitverbreitete, von Laien herausgegebene Zeitschrift, aber kein von Ärzten redigiertes Fachjournal gab; weitere Quellen liessen sich leicht finden. Die Schwäche des Buchs liegt allerdings nicht im Fokus auf die Ärzte – dieser ist durchaus legitim –, sondern in der Einnahme einer ärztlich-homöopathischen Bin- nensicht. Der Kontext, in welchem die Homöopathen agieren, ist weitgehend ausge- blendet. Dabei wäre es gerade bei einer Aussenseitermethode naheliegend zu fragen, wie sich diese an den gegebenen Strukturen, sprich: Schulmedizin, Öffentlichkeit und Patientenwünschen reibt. Ein erster Ansatz könnte im Streit mit den Vertretern der «Staatsmedizin» (ein damals üblicher Begriff für die Schulmedizin) liegen, wie ihn etwa Schädler mit dem Berner Pathologieprofessor Philipp Munk in Presse und Pamphleten geführt hatte (worauf Erlach nicht weiter eingeht). Von da aus liessen sich allmählich in unterschiedlichen Perspektiven die verschiedenen Schichten und Bereiche der Ho- möopathiegeschichte beleuchten. Bei dieser aus anspruchsvoller Warte formulierten Kritik ist zu bedenken, dass es sich um eine überarbeitete medizinische Dissertation (Zürich 2004) und nicht um eine professionelle historische Arbeit handelt. Man muss daher hervorheben, dass der Au- tor mit grossem Aufwand umfangreiches Material gesammelt und eine weit überdurch- schnittliche Arbeit geleistet hat. Das Buch ist ein lang ersehnter und der bisher wich- tigste Beitrag zur Geschichte der Homöopathie in der Schweiz (und auch in Bern). Alexander Erlach hat sicher nicht – wie der etwas unpräzise Titel nahelegt – «Die Ge- schichte der Homöopathie in der Schweiz» geschrieben, aber doch eine wertvolle Be- schreibung von Persönlichkeiten, Ereignissen und Institutionen geliefert, die es seinen Nachfolgern erleichtern wird, eine solche Geschichte schreiben zu können. Hubert Steinke

Buchbesprechungen 169 Gunten, Fritz von: Sagenhaftes Emmental. Huttwil: Schürch 2008. 232 S. ISBN 978-3-9523343-1-7.

Wer das Buch aufschlägt, begegnet unvermittelt einer Vielzahl sagenhafter Gestalten. Man liest von grünen Männchen, bösen Landvögten und geizigen Bauern, die ihre Misse­ taten bis heute bitter sühnen müssen, Riesen, Zwergen und Elfen oder auch von sagen­ haften Schätzen und verschwundenen reichen Dörfern. Ihnen allen gemeinsam ist, dass sie eng mit dem Emmental verbunden sind. Von Guten führt mit seinem Buch eine Tradition fort, welche schon Gotthelf begon- nen und insbesondere Herrmann Wahlen pflegte, nämlich den reichen Fundus an Er- zählungen aus der Gegend um den Napf zu sammeln und niederzuschreiben. Er hat da- bei gegen hundert Sagen zusammengetragen, genau lokalisiert und nach Gegend geordnet in Kapiteln zusammengestellt. Zu Beginn jedes Kapitels findet der Lesende eine Zusammenstellung der folgenden Sagen, dazu eine genaue Angabe mit Koordinaten, wo die Geschichten spielen, sowie einen Wandervorschlag oder eine Station des öffentlichen Verkehrs in der Nähe des sagenumwobenen Ortes. Damit ist das Buch nicht nur eine Sammlung von Sagen, sondern ebenso ein sagenhafter Wanderführer für das Emmental. Bei seinen Recherchen wurden von Gunten nicht nur Erzählungen aus dem Em- mental zugetragen, sondern ebenso alte Bauernweisheiten und Wetterregeln. Im Be- streben, das ihm Weitergesagte zu konservieren, reihte er auch dieses alte Wissen in ei- nem separaten Kapitel in sein Buch ein. Sagenhaftes Emmental ist ein heimatkundliches Sammelsurium, welches altes Wis- sen und überlieferte Geschichten aus dem Emmental zwischen zwei Buchdeckeln ver- eint, und sich ebenso für Kurzlektüren wie als Nachschlagewerk eignet. Es ist von Gun- ten gelungen, traditionelles Wissen aus den Hügeln des Emmentals zu sammeln und leicht zugänglich darzustellen. Die kurz gehaltenen Sagen, die leicht verständliche Spra- che und die ansprechende Bebilderung mit Landschaftsfotos und Holzskulpturen des Malanser Bildhauers und Malers Peter Leisinger sorgen für eine angenehme Lektüre. Peter Lehmann

Haag-Streit AG, Köniz (Hrsg.): 1858 – 2008 — 150 Jahre Haag-Streit / 150 Years of Haag-Streit. Textredaktion: Simon Wernly, Bild- redaktion: Chris Haag. Bern: Stämpfli Publikationen AG 2008. 290 S.

Aufs 150-Jahr-Jubiläum der Firma für Präzisionsinstrumente Haag-Streit in Köniz im Jahr 2008 hat sich eine ganze Schar ehemaliger Mitarbeiter daran gemacht, längst ver- gessen Geglaubtes aus der Geschichte der Firma ans Tageslicht zu holen, Dokumente zu

170 BEZG N° 02/10 sichten und ihnen durch Kommentare wieder Leben einzuhauchen, mithilfe von Fach- leuten aus Archiven und Bibliotheken, Partnerunternehmen und befreundeten Privat- personen die Geschichte einer mechanischen Werkstätte nachzuzeichnen, die erst in der Innenstadt von Bern, heute am Südrand der Agglomeration von Bern diskret, aber umso erfolgreicher wirkt. Simon Wernly und Chris Haag ist es dabei gelungen, den lan- gen Weg der Firma Hermann & Studer (ab 1865 Hermann & Pfister), einer Firma für «Construction optischer, physikalischer und meteorologischer Instrumente», die sich später Pfister & Streit, A. Streit und seit 1924 Haag-Streit «Mathemat. physikal. Werk- stätte» nannte und schliesslich zu einer Werkstätte für Präzisionsmechanik wurde, span- nend zu schildern und diese bernischen Beiträge zur Entwicklung der Technik ins rechte Licht zu rücken. Die durchgehend in Deutsch und Englisch gehaltene, 290 Seiten starke Schrift ist farbig und reich illustriert und für ein breites Publikum geschrieben. Abgesehen von der Initiative und dem Einfallsreichtum der beiden Firmengründer Friedrich Hermann und Hermann Studer selbst, waren es die Bedürfnisse der im Auf- bau begriffenen Naturwissenschaften als akademische Disziplin und die Person des ers- ten Assistenten und späteren Professors an der philosophisch-naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bern, Heinrich Wild (1833–1902), die der Firma nach ihrer Gründung Aufträge brachten: Zum Beispiel waren 1862 für das erste gesamtschweize- rische Messnetz 88 meteorologische Messstationen anzufertigen, ein Auftrag, den die Schweizerische Naturforschende Gesellschaft auf Empfehlung von Heinrich Wild an die Firma Hermann & Studer vergab. Dazu kamen in diesen Jahren andere Messgeräte wie Präzisionswaagen, Gewichtssätze und andere Produkte für die Metrologie, die Mass- und Gewichtskunde, aber auch Geräte für die Geodäsie, die Wissenschaft von der Erd- vermessung. 1923 wurde der erste Polarkoordinatograph ausgeliefert und zu Beginn des Ersten Weltkrieges war A. Streit der Armee zu Diensten mit Kühlpumpen für Sturm- gewehre, Seitenrichtskalen für schwere Geschütze und anderen Beobachtungsinstru- menten. Die Arbeiten für den Simplontunnel nach der Wende zum 20. Jahrhundert wur- den mit Stativen und Visierlampen der Firma Pfister & Streit begleitet. 1906 wurde ein anderes optisches Gerät, das Ophthalmometer, an der internatio- nalen Ausstellung in Mailand mit der Goldmedaille ausgezeichnet, und zehn Jahre spä- ter kam ein Gerät auf den Markt, das heute ein Paradepferd der Firma Haag-Streit ist und für das man aus der ganzen Welt in Liebefeld anklopft: das Spaltlampen-Mikros- kop, weiter­entwickelt und immer wieder verbessert zusammen mit dem Berner Ophthal­ mologen Professor Dr. Hans Goldmann (1899–1991), ab 1923 Assistent von Professor August Siegrist und von 1935 bis 1968 selbst Leiter der Universitäts-Augenklinik am In- sel-Spital. Mit ihm wurden in den folgenden Jahren noch so manche Weiterentwick- lung und neue Geräte zum Fachgebiet der Augenheilkunde zustande gebracht, so das

Buchbesprechungen 171 Adaptometer nach seinen Studien der Nachtsehfähigkeit, ein Perimeter nach neuen Er- kenntnissen zur Messung des Sehfeldes, das Applanations-Tonometer nach Goldmanns Forschungen zum Glaukom (grüner Star). Die spätere Beschränkung auf Geräte für die Ophthalmologie ist mit dieser engen Zusammenarbeit mit der Berner Augenklinik zu erklären. So soll sich Professor Goldmann mit seinen technischen Wünschen jeweils direkt an die Konstrukteure in Liebefeld und unter ihnen gerne an seinen Vertrauten Hans Papritz gewandt haben. 1908 stattete die Firma den Neubau der Klinik mit Gerä- ten aus. Ein Akt, der 2009 aus Dankbarkeit für die lange Zusammenarbeit und anläss- lich des Jubiläums in ähnlicher Weise wiederholt wurde, indem die Firma der Univer- sität ein Laser-Labor schenkte (siehe dazu «unilink» vom Dezember 2009, S. 3). Walter Thut

Holenstein, Anne-Marie; Renschler, Regula; Strahm, Rudolf: Entwicklung heisst Befreiung. Erinnerungen an die Pionierzeit der Erklärung von Bern (1968–1985). Zürich: Chronos 2008. 336 S. ISBN 978-3-0340-0917-1.

Seit 1968 setzt sich die unabhängige, von Mitgliedern finanziell getragene entwicklungs- politische Organisation Erklärung von Bern (EvB) für eine Verbesserung der Nord-Süd- Beziehung, für gerechte Handelsbeziehungen und eine nachhaltige Entwicklung ein. Zum 40-jährigen Jubiläum liegt nun eine Überblicksdarstellung zur Geschichte der Or- ganisation in den ersten 20 Jahren ihres Bestehens vor. Die EvB entstand aus dem Zusammenschluss von Unterzeichneten eines Manifests, das von reformierten Theologen aus Protest gegen die wachsenden Wohlstandsunter- schiede zwischen den westlichen Industrieländern und der Dritten Welt erarbeitet und im März 1968 in Bern verabschiedet wurde. Innert weniger Monate unterschrieben über 1000 Personen das Manifest, wobei sie sich verpflichteten, drei Prozent ihres Einkom- mens für die Entwicklungshilfe einzusetzen. Im Anschluss konstituierte sich die EvB als Verein und baute Sekretariate in Zürich und Lausanne auf. Die Autoren – alle während vieler Jahre in leitender Funktion in der EvB tätig – prägten das Gesicht der Organisation und legen nun mit diesem Werk einen Zeitzeu- genbericht vor. Insofern ist die Publikation – wie der Untertitel «Erinnerungen an die Pionierzeit» schon andeutet – keine systematische historische Abhandlung, sondern der subjektive Blick der Akteure auf ihr solidarisches Engagement in einer der wichtigsten schweizerischen Entwicklungsorganisationen. Die Publikation ist allerdings mehr als nur eine Erinnerungsstudie. Die Autoren stützen sich bei ihrer Darstellung auf Doku- mente und Quellen aus ihren Privatarchiven oder dem Schweizerischen Sozialarchiv

172 BEZG N° 02/10 und leisten somit einen wertvollen Beitrag zur historischen Aufarbeitung. Eine Reihe von Abbildungen wie Flugblätter, Broschüren oder Fotos von Akteuren und Aktionen ergänzen die Ausführungen. Das Buch schliesst mit einer kurzen wissenschaftlichen Analyse des Historikers Konrad Kuhn sowie einem Beitrag zur heutigen Situation der EvB hinsichtlich ihrer Professionalisierung. Die jeweils in der ersten Person geschriebenen Berichte der drei Zeitzeugen weisen eine weitgehend chronologische Reihenfolge auf und verfolgen die Geschichte der EvB von ihren Anfängen bis in die Mitte der 1980er-Jahre. Die Anfangszeit der EvB fiel mit dem bewegten Jahrzehnt nach 1968 zusammen. Die von der Organisation behandelten Themen illustrieren den Zeitgeist dieser Jahre: Anprangerung der Ungleichheiten in den Nord-Süd-Beziehungen, die Verantwortung der «entwickelten» Länder für die Auf- rechterhaltung der «Unterentwicklung» eines grossen Teils der Weltbevölkerung, Kri- tik am Ethnozentrismus und Rassismus, aber auch Kritik an der Konsumgesellschaft und der zunehmenden «produktivistisch» ausgerichteten Wirtschaftsentwicklung. Im Zentrum des Entwicklungskonzepts der EvB standen die Prinzipien der Eigenständig- keit und Selbstbestimmung. Im Gegensatz zu den meisten anderen soziopolitischen Gruppierungen der 68er-Bewegung, die eher informelle und nicht permanente Struk- turen aufwiesen, durchlief die EvB im Laufe der 1970er-Jahre einen Prozess der Insti- tutionalisierung und Professionalisierung. Ebenfalls distanzierte sie sich vom marxis- tischen Vokabular dieser Zeit und wandte weniger konfliktgeladene Aktionsstrategien an. Nichtsdestotrotz zeugten die Aufsehen erregenden Kampagnen der EvB von einer grossen Kreativität und hatten hohen Symbolwert. Konsumentenaktionen wie die Kaf- fee-Aktion Ujamaa (der Import und Verkauf von verarbeitetem Kaffee aus Tansania) oder die Aktion «Jute statt Plastic» (der Verkauf von Jutesäcken, die von Frauen aus Bangladesch hergestellt wurden) sollten die Schweizer Bevölkerung auf gerechten Han- del und ökologische Anliegen aufmerksam machen und trugen zur Institutionalisierung des Fair-Trade-Handels bei. Des Weiteren beschreiben die Autoren die EvB als Teil eines vielfältigen, sowohl na- tional als auch international agierenden Netzwerks, das sich zu dieser Zeit im Bereich der Entwicklungsarbeit bildete. Der Pragmatismus der EvB erlaubte es, mit diversen Akteuren wie Kirchen, Hilfswerken oder politischen Parteien zusammenzuarbeiten. Dies erklärt nicht nur die lange Lebensdauer der Organisation, sondern auch ihre grosse Wirkung in der schweizerischen Entwicklungspolitik. Geschickt wird die Geschichte der EvB mit dem Lebenslauf der Autoren verknüpft, die von ihrer Politisierung, ihrem politischen und solidarischen Engagement und der zugrunde liegenden Motivationen und Inspirationsquellen erzählen. Kritisch gehen sie auf die konkrete Arbeit in der EvB ein und blenden dabei Schwierigkeiten und Desillu-

Buchbesprechungen 173 sionierungen bezüglich ihres Engagements nicht aus. Ein weiterer interessanter Aspekt dieses Werks ist der Einbezug einer Geschlechterperspektive. Die Rolle von Frauen in der Entwicklungsarbeit wurde bisher kaum zur Kenntnis genommen. Finden sich un- ter den Erstunterzeichnenden des Manifests nur vier Frauen, sind sie beim Aufbau der Organisation bereits stark vertreten und übernehmen vermehrt Verantwortung. Dabei mussten sie jedoch feststellen, dass sie als Frau in ihrer Handlungsfreiheit stark einge- schränkt waren. Erstaunt war Anne-Marie Holenstein, als sich herausstellte, dass sie für Eröffnung eines Bankkontos zugunsten der EvB die Unterschrift ihres Mannes be- nötigte. Konfrontiert sah sie sich auch mit der Schwierigkeit, ihr Engagement und die Kindererziehung aufeinander abzustimmen. Gleichwohl stellten Frauen als Konsumen- tinnen bei der Themensetzung in der Entwicklungspolitik einen wichtigen Faktor dar, wie die Aktion der «Bananenfrauen» aus Frauenfeld exemplarisch zeigt. Anfang der 1970er-Jahre legten sie den Grundstein für den fairen Handel in der Schweiz, als sie von Lebensmittelläden einen Solidaritätsaufschlag von 15 Rappen auf Bananen zuguns- ten der Produzenten in den Entwicklungsländern forderten. Es ist auch vorwiegend auf die Initiative von Frauen zurückzuführen, dass Ernährungs- und Gesundheitsfragen oder die Erziehung zur Solidarität auf die Agenda gesetzt wurden. Dadurch dass die Publikation die Geschichte der EvB nachzeichnet, wirft sie einen kritischen Blick auf zwei Jahrzehnte Schweizer Entwicklungspolitik, deren Themenfel- der von damals bis heute eine grosse Aktualität aufweisen. Gleichzeitig dokumentiert das Buch das soziale und politische Klima der Schweiz zwischen 1968 und 1985 aus der persönlichen Perspektive der Autoren. Die gelungene Verknüpfung einer Organisa- tionsgeschichte mit einem biographischen Ansatz vermittelt so ein interessantes Stück Zeitgeschichte. Nuno Pereira, Renate Schär

Krüger, Tobias: Die Entdeckung der Eiszeiten. Internationale Re- zeption und Konsequenzen für das Verständnis der Klimageschichte (Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte, WSU, Bd. 1.) Basel: Schwabe 2008 (zugl. Diss. phil.-hist. Univ. Bern, 2006). 619 S. ISBN 978-3-7965-2439-4.

Der Autor dieser unter der Leitung von Christian Pfister am Historischen Institut der Universität Bern entstandenen Dissertation fragt in international vergleichender Perspek­tive nach, «wann und wie die Eiszeiten entdeckt wurden, und untersucht die Rezeption dieser neuen Erkenntnis». Er verfolgt dabei eine interdisziplinäre wissen- schaftsgeschichtliche Ausrichtung mit dem Ziel, dem «Schattendasein der Entdeckung

174 BEZG N° 02/10 der Eiszeiten als grosse wissenschaftliche Leistung des 19. Jahrhunderts ein Ende zu setzen». (S. 15) Krüger untersucht vier Fragenkomplexe: 1. behandelt er die eigentliche Entdeckungs- geschichte der grossräumigen Vergletscherungen; 2. befasst er sich mit den zeitgenös- sischen Theorien zu den Glazialzeiten und besonders mit den Argumenten der Gegner dieser Theorien; 3. untersucht er die Rezeptionsgeschichte der Eiszeittheorien und die wissenschaftlichen Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten im 19. Jahrhun- dert und 4. will der Autor nach den Folgen der Entdeckung der Eiszeiten für die betrof- fenen wissenschaftlichen Disziplinen für das Verständnis des Klimas fragen. Im ersten Teil stellt Krüger chronologisch die Entdeckung und Diskussion verschie- dener Landschaftselemente dar, die mit Gletschern und grossräumigen Vereisungen zu erklären versucht wurden. Ausgangspunkt waren die Findlinge in seit Menschengeden- ken eisfreien Gebieten, zum Beispiel im Alpenvorland, im Jura, in Süd- und Norddeutsch- land und selbst auf den britischen Inseln. Später wurden End-, Seiten- und Grundmo- ränen entdeckt und mit Gletschern erklärt. Geschrammte, zerkratzte und polierte Felsen wurden unter anderem am Jurasüdfuss als Nachweis früher Gletscher erkannt. In Nord- europa wurden Oser (Wallberge, Esker) mit grossflächigen Vereisungen erklärt. Geschie- belehm und Gletschermühlen wurden als weitere Eiszeitrelikte interpretiert. Bereits 1773 stellte der österreichische Jesuitenpater Joseph Walcher eine Verbin- dung zwischen Schwankungen des Klimas und Gletschervorstössen fest. Bis sich im 19. Jahrhundert die Erkenntnis des Zusammenhangs zwischen kälteren Klimaphasen, Gletschervorstössen und dem Transport von Findlingen sowie der Entstehung weiterer glazialer Landschaftselemente durchsetzte, wurden noch jahrzehntelang grosse Was- serfluten und Vulkane als Ursachen diskutiert. Durch die Verbindung der Feldbeobach- tungen, vorwiegend in den Alpen und in Skandinavien, mit Theorien der Erdentste- hung, regionalen bis globalen Klimaschwankungen mit grossräumigen Vereisungen und Gletscherrückzügen gelang es letztlich, die Eiszeitphänomene weit gehend wider- spruchsfrei zu erklären. Louis Agassiz (1807–1873) spielte bei der Verbreitung der Er- kenntnisse sicher eine zentrale Rolle, Krüger relativiert jedoch seine Bedeutung als Entdecker der Eiszeit, weil er offensichtlich Erkenntnisse anderer Forscher ohne Quellen­ angabe verbreitete. Im zweiten Teil wird die Rezeption der Eiszeittheorie in Frankreich, Grossbritan- nien, Schweden, Finnland, Russland und Deutschland dargestellt, mit ergänzenden Hinweisen zu Australien-Neuseeland und zu Nordamerika. Überall gehörten führende Geologen und weitere Naturwissenschaftler zu den vehementesten Gegnern der Glet- scher- und Eiszeittheorien. Heute ist es schwer verständlich, dass die Vergletscherung des schweizerischen Mittellandes und weiter Teile Mittel- und Nordeuropas so lange

Buchbesprechungen 175 angezweifelt werden konnte, da dies heute fast jedes Kind in der Volksschule vernimmt und begreift. Die Eiszeiten konnten erst in den 1870er-Jahren breit akzeptiert werden, als sie mit globaler Abnahme der Durchschnittstemperaturen als möglicher Ursache er- klärt werden konnten. Der Autor hat mit dieser sehr quellengenauen und quellenkritischen Untersuchung ein grundlegendes Werk zu einer besonders für die Schweiz und den Alpenraum wich- tigen Phase der Forschungsgeschichte vorgelegt. Er gewann mit der Untersuchung die- ser damals neuen Theorien und Erklärungsansätzen in den Naturwissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts Erkenntnisse, die weit über die Eiszeitforschung hinausgehen. Er hat dabei auch etliche Irrtümer und Fehlinterpretationen aufgedeckt und richtig­ge­ stellt. Besonders aufschlussreich sind die zahlreichen Zitate in der Originalsprache und auch in Übersetzung. Da es schwierig ist, mit den umfangreichen Informationen auf den rund 600 Seiten die grossen Linien der Eiszeitforschung zu erkennen, wäre es sehr wertvoll und hilf- reich, wenn eine synoptische Darstellung der neuen Erkenntnisse und Theorien und ihre Gegenpositionen als Grafik vorgelegt worden wäre. (Der Versuch einer grafischen Darstellung auf Seite 531 ist ungenügend.) Auch hätten mit Karten einige Textabschnitte wesentlich gekürzt und die räumlichen Gegebenheiten anschaulicher dargestellt wer- den können. Die vier abgebildeten zeitgenössischen Kartenskizzen bestätigen diese Fest- stellung. Hilfreich wäre auch, wenn bei allen Literaturzitaten in den Fussnoten das Er- scheinungsjahr der Publikation genannt wäre. Der Leser müsste dann nicht im Literaturverzeichnis nachsehen, ob es sich um ein zeitgenössisches Zitat oder um ein forschungsgeschichtliches aus der jüngeren Zeit handelt. Die theoretischen Abschnitte zur Geschichtswissenschaft waren sicher für die Dissertation wichtig, hätten aber für die vorliegende Ausgabe gekürzt oder sogar weggelassen werden können. (Für den Nicht-Historiker sind die Abschnitte zum Klimadeterminismus, zur Paradigmendiskus- sion oder zur Struktur wissenschaftlicher Revolutionen zu knappe Hinweise und zum Verständnis der Eiszeiten nicht nötig.) Leider fehlt eine Zusammenfassung. Der Band ist besonders deshalb spannend zu lesen, weil man immer wieder erstaunt ist, wie heute selbstverständliche Phänomene heftige Diskussionen und Kontroversen auslösten, die zeitlich gar nicht so lange zurückliegen. Der Band ist aber auch wertvoll als Nachschlagewerk zu einzelnen Forschern und Regionen, wozu die Orts-, Personen- und Sachregister sehr dienlich sind. Das Buch schliesst eine grosse Lücke der Gletsch- erforschung. Hans-Rudolf Egli

176 BEZG N° 02/10 Gebäudeversicherung Bern (Hrsg.): Berner Landwirtschaft. Bern: Stämpfli 2009 (Die schönsten Seiten des Kantons Bern, 16). 40 S. ISBN 978-3-7272-1197-3.

Bern gilt als der Schweizer Agrarkanton schlechthin. Es liegt darum nahe, dass die Ge- bäudeversicherung Bern (GVB) in ihrer Reihe «Die schönsten Seiten des Kantons Bern» eine Ausgabe der Landwirtschaft widmet. Mit dieser Reihe will die GVB die Vielfalt der bernischen Bauten und Landschaften würdigen. Im vorliegenden Heft, das Geschichte und Gegenwart abdecken soll, stammen die Fotos von Hans Rausser und der Text von Andreas Wasserfallen, der die Landwirtschaft aus seiner beruflichen Tätigkeit als An- walt (Schwerpunkt Agrarrecht) und ehemaliger Agrarjournalist kennt. Der Schwerpunkt der Publikation liegt bei den Agrarreformen der 1990er-Jahre. Rausser und Wasserfallen gehen zuerst auf einzelne Regionen ein und schildern die Waldweiden im Jura, die Käseproduktion im Emmental und die Viehzucht im Simmen­ tal. Auf die knappen Ausführungen zur Agrarmodernisierung im 18. und 19. Jahrhun- dert folgt eine einzige Seite zur Agrarpolitik im 20. Jahrhundert. Im Rest des Heftes, der fast zwei Drittel der Publikation ausmacht, geht es um die letzten zwei Jahrzehnte, die von einem tief greifenden Wandel der Marktordnungen und einem stetig engeren Zugriff von staatlichen und privatwirtschaftlichen Bürokratien auf die einzelnen Be- triebe geprägt waren. In diesem Teil bringt Wasserfallen seine Detailkenntnisse ein. Einerseits weist er darauf hin, wie flexibel und innovativ die Berner Bauernfamilien auf die neuen Markt- verhältnisse reagierten und z.B. neue Angebote lancierten oder ihre Produkte direkt an die Konsumenten vermarkteten. Andererseits schildert Wasserfallen aber auch die Schwierigkeiten, die viele Lösungsversuche mit sich bringen. So kann zum Beispiel das Geldverdienen ausserhalb der Landwirtschaft das wirtschaftliche Überleben sichern, zehrt aber auch an den Kräften der Bauern. Die ohnehin schon hohe Arbeitsbelastung nimmt mit dem Nebenerwerb zusätzlich zu. Die Kenntnisse von Wasserfallen erweisen sich hier als Vorteil. Wasserfallen ist nicht nur ein distanzierter Erzähler, sondern auch ein Zeitzeuge. Als solcher steht er auf einem Standpunkt, der eng mit der erzählten Geschichte zusam- menhängt. Das zeigt sich in seiner Gesamtinterpretation der Agrarpolitik im 20. und 21. Jahrhundert. Hier übernimmt er das Geschichtsbild der Agronomen und Ökono- men, die die Agrarreformen der 1990er-Jahre konzipiert und umgesetzt haben. Nach der professionellen Selbstwahrnehmung dieser Gruppe rechtfertigt das Scheitern der «alten» Agrarpolitik ihr eigenes Handeln in der Gegenwart. Hier gäbe es auch ausge-

Buchbesprechungen 177 wogenere Perspektiven, wie geschichtswissenschaftliche Beiträge zur Agrarpolitik im 20. Jahrhundert zeigen.1 In Kontrast zum Text, in dem es vor allem um die Zeit nach 1990 geht, stehen die Bilder. Wie es dem Titel der Reihe entspricht, sind sie vor allem «schön», harmonisch und idyllisch. Ausnahmen gibt es wenige: Die Fotografie von weidenden Hühnern in Gals (S. 39) ist originell und die Aufnahmen der Heuernte bei Schlosswil (S. 18) und der Gemüseernte im Grossen Moos (S. 31) nehmen das Thema der Arbeit auf, das für das Leben von Bäuerinnen und Bauern bis heute so dominant ist. Die übrigen Bilder zeigen fast ausschliesslich Landschaften und Gebäude, die im 18. und 19. Jahrhundert errichtet worden sind. Zu diesen Gebäuden ist aus dem Text aber wenig zu erfahren. Insgesamt bietet der schön gestaltete Band sicher visuellen Genuss. Die Bilder sind fotografisch von hoher Qualität und laden dazu ein, die gezeigten Landschaften selber zu erkunden. Die Aussagekraft der Bilder ist aber begrenzt. Anders als im Sprichwort sagen sie hier nicht mehr als tausend Worte, sondern weniger. Der Text dagegen ist in- formativ und stellt eine Momentaufnahme der Berner Landwirtschaft dar, die für die Leserinnen und Leser vieles enthalten dürfte, was sie bis jetzt nicht wussten. Daniel Flückiger

1 Einen Forschungsüberblick gibt Moser, Peter: Kein Sonderfall. Entwicklung und Potenzial der Agrargeschichtsschreibung in der Schweiz im 20. Jahrhundert. In: Bruckmüller, Ernst et al. (Hrsg.): Agrargeschichte schreiben. Traditionen und Innovationen im internationalen Vergleich. Innsbruck 2004, 132–153.

Landwirtschaftliche Lehrmittelzentrale Zollikofen (Hrsg.): Friedrich Traugott Wahlen und die «Anbauschlacht» (1940 – 1945) / Friedrich Traugott Wahlen und die Entwicklung unserer Landwirtschaft / Friedrich Traugott Wahlen als Politiker, Christ und Mensch. [3 DVDs] Dokumentarfilm[e] des Vereins zur Wahrung der Erinnerung an Bundesrat Prof. Dr. F. T. Wahlen und den Anbauplan. Zollikofen 2006 – 2007.

Die dreiteilige DVD-Reihe gibt einen filmischen Überblick über das Leben und Wir- ken von Friedrich Traugott Wahlen (1899–1985). Thema der ersten DVD ist die «An- bauschlacht». Diese wird hauptsächlich aus dem Blickwinkel von noch lebenden Zeit- zeugen betrachtet. Weggefährten schildern ihre Erinnerungen an die bewegten Kriegs­jahre. Zudem enthält der Film grundlegende Angaben zu Organisation und Auf- bau der «Anbauschlacht». Die zweite DVD stellt den Einfluss Wahlens auf die schwei- zerische Landwirtschaft und deren Entwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg dar. Land-

178 BEZG N° 02/10 wirte aus mehreren Generationen kommen zu Wort. Dabei finden auch aktuelle Probleme und Sorgen der Befragten Beachtung. Schliesslich versucht der dritte Teil den Menschen Friedrich Traugott Wahlen zu ergründen. Dabei werden auch die pri- vaten Seiten des Agronomen, ETH-Professors (1943–1949) und BGB-Bundesrates (1959–1965) beleuchtet. Die Filmreihe ist unterhaltsam erzählt und mit viel zeitgenössischem Bild- und Film- material illustriert. Die Autoren setzen dabei hauptsächlich auf «Oral History» – Wahlens Leben und Wirken wird aus der Sicht von Bekannten, Freunden und Zeitgenossen er- zählt. Die Reihe fokussiert sehr stark auf die schweizerische Landwirtschaft. Hier wird ausführlich Bezug auf das Wirken Wahlens genommen, entsprechend werden seine Leistungen auch gewürdigt. Möglicherweise werden die Beiträge der Person Wahlen nicht ganz gerecht. So wird beispielsweise wenig darauf eingegangen, dass Wahlen insgesamt 17 Jahre im Ausland tätig war. Er arbeitete u.a. 1949–1959, zuletzt als Vize-Generaldirektor, bei der FAO (UNO – Food and Agricultural Organization) und war zuvor auch in Holland, Deutsch- land, Kanada, England, USA und Italien tätig. Es stellt sich die Frage, ob Wahlens Er- fahrungshorizont vom Leben im Ausland nicht ebenso geprägt wurde wie von seiner Kindheit im bäuerlich und christlich geprägten Emmental. Die Filme fokussieren stark auf das Themengebiet der schweizerischen Landwirt- schaft. Die Wahl des «Auslandschweizers» Wahlen in den Bundesrat (1959) und sein darauf folgendes Wirken im Justiz- und Polizeidepartement (1959), im Volkswirtschafts- (1960–1961) und schliesslich im Politischen Departement (1961–1965) sowie das Jahr als Bundespräsident (1961) finden wenig Erwähnung. Sicherlich wären hier weitere Ausführungen interessant gewesen. Leider ist auch die Auswahl der Experten nicht immer sachdienlich. Interessant sind die Beiträge seiner Berufskollegen aus dem Agronomen- und ETH-Umfeld. Gänz- lich fehlen leider Beiträge von namhaften und noch in der Forschung tätigen Histori- kern. In vielen Teilbereichen der Filme (z.B. Schweiz im Zweiten Weltkrieg, Geschichte der Landwirtschaft, Nachhaltigkeitsdiskussion) wird kein aktueller geschichtswissen- schaftlicher Forschungsstand wiedergegeben. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Filme den Menschen Wahlen haupt- sächlich aus einer landwirtschaftlichen Perspektive heraus ergründen. Das Wirken des Menschen Wahlen wird gut gewürdigt – es ist jedoch schade, dass die Betrachtungswei- sen nicht alle Aspekte seines Schaffens gleichermassen abdecken. Sarah Wahlen / Juri Jaquemet

Buchbesprechungen 179 Leuzinger, Jürg: Das Zisterzienserinnenkloster Fraubrunnen. Von der Gründung bis zur Reformation 1246 – 1528. Bern [u. a.]: Peter Lang 2008 (Europäische Hochschulschriften, Reihe III, Bd. 1028). 312 S. ISBN 978-3-03911-142-8.

Beim vorliegenden Buch handelt es sich um eine Dissertation, die 2004 von der Phil.- hist. Fakultät der Universität Basel genehmigt wurde (Leitung: Werner Meyer und Clau- dius Sieber-Lehmann). Ihr Gegenstand ist das Zisterzienserinnenkloster Fraubrunnen, das 1246 von den Grafen Hartmann d. Ae. und Hartmann d. J. von Kyburg gegründet, 1249 dem Zisterzienserorden inkorporiert und 1528 durch die Stadt Bern säkularisiert wurde. Die Quellen liegen im Staatsarchiv Bern (250 Urkunden), im Stadtarchiv Bern (150 Urkunden vor allem zum Rebbesitz) und in der Burgerbibliothek Bern (Jahrzeit- buch in der Fassung von 1507). Die Urkunden (inkl. das Urbar von 1380) sind bis 1390 in den Fontes rerum Bernensium gedruckt, für die spätere Zeit stehen Regesten zur Ver- fügung.1 Die Schwäche der Arbeit liegt darin, dass ihr Verfasser es sich, abgesehen von einigen Blicken in das Jahrzeitbuch und die Urbare von 1380 und 1513 sowie das erste Udelbuch der Stadt Bern (1389 –1466), hartnäckig versagt, auf die Originalquellen zu- rückzugreifen. Sonst aber kommt der Autor zu Ergebnissen, die sich durchaus sehen lassen. Die erste Hälfte des Textes ist, nach einer Einleitung in Forschungsstand, Quellen- lage und Fragestellung (1.) und einer allgemeinen Einführung in die Geschichte des Zisterzienserordens (2.), einer allgemeinen Geschichte des Klosters Fraubrunnen von 1246 –1528 (3.) gewidmet. Es wäre auch eine Einführung in die Niederlassungen des Zisterzienserordens in der nachmaligen Schweiz möglich gewesen, doch wird diese vom Autor nicht geleistet.2 Auch die allgemeine Geschichte des Klosters Fraubrunnen bleibt eher an der Oberfläche. Bei den Nonnen von Fraubrunnen scheint es sich um eher re- bellische Nonnen gehandelt zu haben, die Ende der 1260er-Jahre aus dem Zisterzien- serorden auszutreten versuchten. Als die Äbte der Zisterzienserklöster Hauterive und Kappel – Vaterabt war derjenige von Frienisberg – 1268/1269 zum Rechten sehen woll- ten, wurden sie von den Nonnen mit Schwert und Knüppel vertrieben. Nach dem Burgdorferkrieg 1383 ging die Klostervogtei von den Neukyburgern an die Stadt Bern über. Diese versuchte Ende des 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts zuerst mit Hilfe des Abts von Frienisberg und dann desjenigen von Lützel das Kloster zu reformieren (nachdem die Äbtissin Katharina Hoffmann 1481 ein Kind geboren hatte). Leuzinger sieht wahrscheinlich richtig, dass es sich dabei nicht um besonders schlimme Zustände, sondern um eine Veränderung der Vorstellungen und Ansprüche der Gesellschaft an das Klosterleben gehandelt hat. Trotzdem fällt auf, dass man im

180 BEZG N° 02/10 Kloster Fraubrunnen der Reformation schon sehr früh recht offen gegenüberstand: zu- erst bei den sogenannten Tischgesprächen von Fraubrunnen (Sommer 1522), bei de- nen sich Befürworter und Gegner einer Neuerung in die Haare gerieten, und dann in der Tatsache, dass bereits Anfang 1524 mehrere Nonnen sich verheiratet hatten (und deshalb aus dem Kloster ausgewiesen werden sollten). Nachdem die Reformation in Bern und im bernischen Untertanengebiet 1528 offiziell eingeführt worden war, wur- den zwölf Nonnen von Fraubrunnen mit je 300 Pfund (in drei Raten) abgefunden; bei zehn von ihnen gingen die Auszahlungen an ihre Ehemänner. Im zweiten Teil seines Buchs befasst Jürg Leuzinger sich eingehender mit Stiftun- gen und Stiftern des Klosters Fraubrunnen (4.), mit der Klosterfamilie (5.) und schliess- lich mit der Besitz- und Wirtschaftsgeschichte (6.). Sowohl bei den Stiftern als auch bei den Nonnen kann der Autor nachweisen, dass der anfängliche Einfluss der Kyburger und Neukyburger sowie ihrer Ministerialen ca. Ende des 14. Jahrhunderts durch denje­ nigen der Oberschicht der Stadt Bern abgelöst wurde. Die hypothetische durchschnitt- liche Konventsgrösse (1246–1528) betrug 27 Nonnen, doch war der Konvent im 14. Jahr­ hundert deutlich grösser als im 15. Jahrhundert. Das Einzugsgebiet des Konvents erweist sich als insgesamt weniger gross als dasjenige der Stifter, und der Autor meint denn auch, dass die Nonnen, die aus der näheren Umgebung stammten, sich weniger von ih- ren familiären Bindungen gelöst und häufig Besuch empfangen hätten, was sich auf Kloster und Klausur desintegrierend ausgewirkt habe. In der Folge versucht Leuzinger die alte (und ursprünglich wohl reformierte) These, dass die Nonnen im Kloster «versorgt» worden seien, zu entkräften, und wählt zu die- sem Zweck sechs Familien aus: die adeligen Familien der Grafen von Buchegg, der Her- ren von Grünenberg und der von Erlach und die bürgerlichen Familien der Buweli und Rista aus Bern sowie der Klüchli aus Solothurn. Die Grafen von Buchegg hätten ihre Nachkommen nicht erst in geistlichen Karrieren «versorgt», nachdem sie die Landgraf- schaft Burgund 1314 an die Neukyburger verloren hatten, sondern bereits vorher, als sie auf der Höhe ihrer Macht standen. Bei den von Erlach sei Fraubrunnen das eigent- lich Hauskloster gewesen, und auch bei den bürgerlichen Familien Rista und Klüchli seien mehrere Familienmitglieder, Frauen und auch Männer, gleichzeitig ins Kloster eingetreten. Die Konversen, Frauen und Männer, die sich insbesondere zu Beginn des 14. Jahrhunderts nachweisen lassen, stammten vor allem aus der näheren Umgebung und aus den Städten Bern, Burgdorf und Solothurn. Dies lässt sich mit Ergebnissen der Wirtschaftsgeschichte in Einklang bringen, wo- nach das Kloster Fraubrunnen, obwohl in Altsiedelland gelegen, doch auch Grangien anzulegen vermochte, so in Büren zum Hof, Aefligen, Grafenried und Schalunen. Nichts- destoweniger wurden Eigen- und Rentenwirtschaft bei dieser späten Gründung von al-

Buchbesprechungen 181 lem Anfang an nebeneinander betrieben. Laut dem Urbar von 1380 gelang es dem Klos- ter relativ gut, seinen Besitz zu konzentrieren und am Bielersee (in Twann und Neuenstadt) auch beträchtlichen Weinbesitz anzulegen. Seit Anfang des 14. Jahrhun- derts wurden in Fraubrunnen auch verzierte Backsteine hergestellt. Die Überschüsse aus der Agrarproduktion wurden auf die städtischen Märkte in Bern, Solothurn und Burgdorf gebracht, wo Fraubrunnen seit Ende des 13./ Anfang des 14. Jahrhunderts so- genannte Stadthöfe besass. Ein Anhang mit Karten und Tabellen beschliesst die insge- samt solide und instruktive Arbeit. Kathrin Utz Tremp

1 Amiet, Joseph Ignaz: Die Regesten des Frauenklosters Fraubrunnen im Kanton Bern. In: Mohr, Theodor (Hrsg.): Die Regesten der Archive in der schweizerischen Eidgenossenschaft, Bd. 2. Chur 1851 (siehe auch S. 245–296 Tab. 13: Übersicht der edierten Urkunden des Klosters Fraubrunnen). 2 Als Grundlage hätte dienen können: Helvetia Sacra III/3: Die Zisterzienser und Zisterzienserinnen [...] in der Schweiz. Bern 1982.

Lüscher, Liselotte: Eine Frau macht Politik. Marie Boehlen 1911–1999. Zürich: Limmat Verlag 2009. 240 S. ISBN 978-3-85791-591-8.

Marie Boehlen, als Sozialdemokratin, Juristin und Parlamentarierin eine der prägen- den Figuren im Kampf um Stimmrecht und Gleichstellung der Frauen im Kanton Bern, kam 1911 als Tochter eines Nagelschmieds und Landwirts in Riggisberg zur Welt. Ge- gen den Widerstand ihrer Familie holte sie nach dem Besuch des Lehrerinnenseminars 1931 die Matur nach und studierte an der Universität Bern Rechtswissenschaften. 1939 erwarb sie das Fürsprecherpatent. Die Berner Erziehungswissenschaftlerin und SP-Po- litikerin Liselotte Lüscher hat sich in den letzten Jahren intensiv mit dem Leben dieser aussergewöhnlichen Frau befasst und publizierte nun die vorliegende Biografie. Die Autorin fächert die Lebensgeschichte in fünf Kapitel auf, in denen sie die Grund- themen behandelt, die das Leben Marie Boehlens bestimmten. Sie beginnt mit dem Kampf um die Frauenrechte. Hier bettet sie das Engagement Marie Boehlens in eine detaillierte Zusammenfassung des Einsatzes der Bernerinnen für das Frauenstimm- recht ein. Die weiteren Kapitel stellen mehr die Person Marie Boehlen in den Vorder- grund, ohne dass das gesellschaftliche und politische Umfeld vergessen geht. Sie befas- sen sich mit der lange unbefriedigenden beruflichen Karriere Marie Boehlens, ihren Aktivitäten als Mitglied der SP, ihrer Arbeit als städtische und kantonale Parlamentari- erin sowie mit ihren Auslandreisen und ihrem internationalen Engagement.

182 BEZG N° 02/10 Diesen fünf Kapiteln vorangestellt ist eine Beschreibung der Abschiedsfeier für Marie Boehlen vom 7. Dezember 1999 in der Petruskirche, was eine behutsame Annähe­ rung an die Persönlichkeit von Boehlen erlaubt. Hier erhalten die Lesenden einen ers- ten Überblick über den Lebenslauf. Einen weiteren, diesmal visuellen Einblick gibt ein in die Mitte des Buchs eingeschobenes dreissigseitiges Kapitel, das chronologisch an- geordnete Fotografien mit kurzen Bildlegenden enthält. Das abschliessende Kapitel «Späte Würdigungen» rundet die Biografie ab und zeigt anhand einiger Zeitungsarti- kel und zweier Preise, die Marie Boehlen 1985 und 1995 erhielt, die Bedeutung dieser Frau. Die thematische Strukturierung des Buchs ermöglicht es, sich gezielt mit den ein- zelnen Aspekten zu beschäftigen. Doch sie bringt auch Wiederholungen mit sich, denn zentrale Ereignisse im Leben Marie Boehlen spielten in alle Lebensbereiche hinein. In- nerhalb der einzelnen Kapitel kommt es gelegentlich ebenfalls zu Wiederholungen, die sich durch ein sorgfältigeres Lektorat wohl hätten vermeiden lassen. So hätte es bei- spielweise durchaus gereicht, lediglich einmal zu erwähnen, dass 1953 für die kanto- nale Initiative für das Frauenstimmrecht in den Gemeinden 33 655 Unterschriften ein- gereicht worden waren – die Zahl müsste nicht auf der nächsten Seite wiederholt werden. Ebenfalls den Lesefluss stören häufige, meist sehr kurz gehaltene Originalzi- tate aus der unveröffentlichten autobiografischen Lebensgeschichte, die Marie Boeh- len in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre verfasst und mit dem Titel «Dreissig Jahre zu früh» versehen hatte. Die vorliegende Biografie gibt einen interessanten, vielseitigen und faktenreichen Einblick in das Leben Marie Boehlens. Sie zeigt eindrücklich, dass es diese Frau nicht leicht mit ihrem Umfeld, ihrem Leben und nicht zuletzt auch mit sich selbst hatte. Nie- derlagen in ihrer beruflichen und politischen Laufbahn empfand sie immer wieder als persönliche Kränkungen. Liselotte Lüscher lässt zudem durchblicken, dass Marie Boeh- len auch für andere keine einfache Zeitgenossin war und mit ihrer kantigen Persönlich- keit und ihrem gelegentlich unflexiblen Verharren auf ihrem Standpunkt aneckte. Da- mit schrieb Liselotte Lüscher in verdankenswerter Weise eine Biografie, die sich der ganzen Persönlichkeit Marie Boehlens annimmt, sie kritisch porträtiert und eine kluge und kämpferische Frauenrechtlerin nicht einfach beweihräuchert. Anna Bähler

Buchbesprechungen 183 Meier, Jürg A.: Vivat Hollandia. Zur Geschichte der Schweizer in holländischen Diensten 1740–1795. Griffwaffen und Uniformen. [Wettingen] 2008 (Schweizerische Gesellschaft für militärhistori- sche Studienreisen GMS, Heft 29). 150 S. ISBN 978-3-033-01673-6.

Während die fremden Dienste in Frankreich durch eine reiche Literatur bereits aus- führlich erforscht sind, sind die holländischen Dienste vergleichsweise erst spärlich be- handelt worden. Insbesondere fehlten bisher Studien über die Bewaffnung und Unifor- mierung dieser Truppen und über die Einflüsse in diesen Bereichen auf die Schweiz. Die Kombination Waffen und Uniformen drängt sich insofern auf, weil im 18. Jahrhun- dert der Säbel ein Teil der Uniform war. Einleitend fasst der Autor die Geschichte der holländischen Dienste zwischen 1693 und 1795 zusammen. Da die Generalstaaten das Recht der «Augmentation» und der «Reduktion» hatten, waren die Bestände grossen Schwankungen ausgesetzt, je nach Konjunktur und Bedrohungslage. Intensiver behandelt Meier die Zeit ab 1750, weil sich für diese Epoche nun auch viel Material in Archiven und Museen befindet. Insbeson- dere anhand der Säbel in mehreren Schweizer Museen und Privatsammlungen lässt sich die Geschichte der Bewaffnung der Schweizer Truppen in Holland nachzeichnen. Weil sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein bedeutender Anteil der Behör- denmitglieder der reformierten Schweizer Orte auf eine Karriere in Holland berufen konnte, dürfte es nicht verwundern, wie sehr diese Erfahrungen Einfluss auf Bewaff- nungsfragen in der Schweiz, zumal in Bern hatten. So wurden denn auch in Bern Sä- bel nach holländischem Muster beschafft. Das hatte zudem den Vorteil, dass zurückge- kehrte Soldaten, die nun in die heimische Miliz eingezogen worden waren, ihren mitgebrachten Säbel weiter verwenden konnten, was nicht zuletzt eine erhebliche Kos- tenersparnis bedeutete. So war die bernische Infanterie bis zum Einmarsch der Fran- zosen 1798 weitgehend mit Griffwaffen im holländischen Stil ausgerüstet. Meiers Arbeit ist ein überaus wertvoller Beitrag nicht nur zur allgemeinen Ge- schichte der Waffen, sondern auch zur Geschichte Berns. Der Anhang des trotz hoher Spezialisierung flüssig geschriebenen Haupttextes enthält wertvolle, bisher unveröffent- lichte Dokumente, und bei den Illustrationen kommen auch Bildquellen aus holländi- schen Archiven zum Zug, die bisher hier in der Schweiz kaum bekannt gewesen sind. Quirinus Reichen

184 BEZG N° 02/10 Minta, Anna; Nicolai, Bernd; Thome, Markus (Hrsg.): Stadt Universität Bern. 175 Jahre Bauten und Kunstwerke, 7 Essays und 27 Katalogbei- träge. Bern, Stuttgart, Wien: Haupt Verlag 2009. 264 S. ISBN 978-3-258-07406.

Die Universität Bern hat sich zu ihrem 175-jährigen Bestehen einen stattlichen Band über seine Gebäude und die darin oder dabei aufgestellten Kunstwerke geschenkt. Of- fensichtlich gab das 2005 erschienene Buch «Hochschulstadt Zürich. Bauten für die ETH 1855–2005» die Messlatte vor. Sowohl im Format und im Umfang als auch in der Qualität der Abbildungen hat das Berner Werk sein Zürcher Vorbild leicht übertroffen. Die reich und überaus sorgfältig bebilderte Schrift spannt ein sehr umfassendes Bild des Bauens für die Berner Universität auf und setzt den Betrachter allein schon durch die grosse Zahl und Vielfalt an Bauten und Objekten in Erstaunen. Der in 27 Nummern aufgeteilte Katalogteil behandelt nicht wie das ETH-Buch ein- zelne Gebäude, sondern orientiert sich vielmehr an den universitären Institutionen, de- ren Geschichte in engem Bezug zur Baugeschichte ihrer Gebäude und Gebäudegrup- pen mit all ihren Erweiterungen, Ergänzungen und Umnutzungen gesehen wird. Es sind so Darstellungen über mehr oder weniger umfangreiche Gebäudeensembles ent- standen, die den puzzleartigen Charakter der Berner Stadtuniversität von ihren ver- schiedenen Standorten her beleuchten und insgesamt ein überaus detailreiches Bild zeichnen. Die ersten fünf der sieben Essays, geschrieben von den drei als Herausgeber ge- nannten Personen, behandeln in chronologischer Abfolge die Geschichte der Berner Universitätsbauten und verbinden die in sich geschlossenen Katalogtexte zu einer Ge- samtsicht. Dabei wird immer wieder auf die Entwicklungsgeschichte der Universität selbst zurückgegriffen, um die einzelnen Institutsbauten im Gesamtkontext des Univer- sitätswachstums zu verorten. So wird beispielsweise die in Bern zeitweilig heiss disku- tierte Frage, ob sich die Universität in einem grossen Befreiungsschlag aus der Stadt herauslösen und auf grüner Wiese einen baulichen Neuanfang wagen oder doch viel- mehr in vielen kleinen Einzelaktionen die Verwurzelung in der Stadt bewahren solle, facettenreich und mit viel bisher unveröffentlichtem Bildmaterial dargestellt. Interes- sant sind die zahlreich angestellten Vergleiche mit anderen Universitäten, die zum ei- nen die gleich oder vielmehr parallel laufenden Entwicklungen als solche benennen, zum andern die spezifischen Eigenheiten des Berner Universitätsausbaus zu charakte- risieren suchen. Leider folgen die einzelnen Architekturanalysen allzu oft dem klassi- schen Muster der Architekturgeschichtsschreibung, die ein einzelnes Gebäude mit ei- nem scheinbar feststehenden Kanon der internationalen Architekturentwicklung

Buchbesprechungen 185 konfrontiert, um festzustellen, dass einige Berner Bauten auf der Höhe ihrer Zeit ste- hen und also (doch) nicht provinziell sind. Weit interessanter wäre gewesen, die Ein- zelbauten auf ihre Aussage über die darin stattfindende Ausbildungs- und Forschungs- tätigkeit zu befragen. Ein sechster Essay, geschrieben von Rachel Mader und Selma Käppeli, widmet sich der Kunst an Bauten der Universität Bern. Hier werden weniger Interpretationen ein- zelner Kunstwerke als vielmehr exemplarische Einblicke in den Wandel der Bedeutung von Kunst am Bau geboten. An Hand ausgewählter Kunstwerke zeigen die beiden Au- torinnen unterschiedliche Beziehungsmuster zwischen Auftraggeber, Künstler und Aus- sagegehalt der Kunstwerke auf und versuchen dabei, eine Entwicklungslinie zu be- schreiben. Im letzten der sieben Essays erzählt Kilian Bühlmann, der Leiter der Abteilung Bau und Raum der Universität Bern, von eigenen Erfahrungen beim Planen und Realisie- ren universitärer Nutzräume. In seinem von der Lust an der spannenden Arbeit gepräg- ten Text wird deutlich spürbar, dass die Stadtuniversität Bern noch längst nicht vollen- det ist und wir also auch in Zukunft interessante Neubauten zu sehen bekommen werden. Dieter Schnell

Riedweil, Johann: Ein Beitrag zum Täuferjahr. Spuren einer Täuferfamilie vom Gürbental ins Emmental; Mit Gotthelf Exempeln. Liebefeld: Hans Riedwyl 2007. 82 S. ISBN 978-3-033-01074-1.

In seinem Beitrag zum Täuferjahr beschreibt Hans Riedwyl oder «Johann Riedweil», unter welchem Namen er seine Broschüre schrieb, die Geschichte seiner Familie. Al- lerdings macht er das nicht im Stil einer traditionellen Familiengeschichte mit Anspruch auf möglichste Vollständigkeit – auf diese verzichtet er ganz bewusst –, sondern er ver- sucht, Lebensbilder oder Episoden einzelner Personen aus seiner Familiengeschichte aufgrund alter Dokumente zu erzählen. Seine Ausführungen spickt der Autor mit Quel- lenauszügen unterschiedlicher Länge, und mittels Gotthelfzitaten versucht er, die Lebens­ welt der beschriebenen Familienmitglieder greifbarer zu machen. Dabei unterlässt es der Autor nicht, auch nicht sehr schmeichelhafte Vorfahren zu beschreiben. So ver- nimmt der Leser etwa, dass ein David Riedwyl um 1765 im Zuchthaus in Bern (Schal- lenwerk genannt) einsass und seine Heimatgemeinde Kehrsatz deshalb seine Familie unterstützen musste. Daneben werden auch durchaus alltäglichere Vorgänge in der Riedwyl-Familie beschrieben wie Erbgänge, Gutskäufe oder Mündelangelegenheiten. Anhand des im Eggiwil niedergelassenen Familienzweiges wird zudem die Nähe der

186 BEZG N° 02/10 Familie Riedwyl zum Täufertum aufgezeigt und ihre engen Verbindungen zum Heimat- ort Kehrsatz verdeutlicht. Riedwyls Schrift bietet nicht nur einen Einblick in die Geschichte seiner Familie, sondern vermittelt auch einen Eindruck von der Lebenswelt der einfachen Landbevöl- kerung im Bern der frühen Neuzeit und des 19. Jahrhunderts. Die bisweilen altertüm- lich angehauchte Sprache mit ihren eingestreuten Helvetismen ist derjenigen Gotthelfs nicht unähnlich. So entwickelt sich eine lockere Lektüre. Allerdings erschwert das Feh- len einer Art Stammbaum, in welchem die Verbindungen der beschriebenen Personen zueinander aufgezeigt sind, die Einordnung der einzelnen Akteure während des Lesens. Insgesamt bietet die Broschüre einen unkonventionellen Zugang zur bernischen Ver- gangenheit, und sie ist zudem eine lokalhistorische Fundgrube für die im Buch beschrie- benen Gemeinden im Emmental und Gürbetal. Peter Lehmann

Buchbesprechungen 187