II. Das Vertriebenen-Problem in Den 1950Er Jahren

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II. Das Vertriebenen-Problem in Den 1950Er Jahren 15 II. Das Vertriebenen-Problem in den 1950er Jahren 1. Zur Situation der Vertriebenen in der SBZ und frühen DDR a. Trotz Tabu: Die „Umsiedler“ sind ein Thema Zwölf Millionen geflüchtete, vertriebene und zwangsumgesiedelte Deutsche mußten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in den von den Alliierten Siegermächten bestimmten vier Besatzungszonen des territorial verkleinerten und kriegszerstörten Rest-Deutschland Aufnahme finden. Bis zur „doppelten deutschen Staatsgründung“ im Herbst 1949 wuchs die Zahl der Flüchtlinge und Vertriebenen in der Bundesrepublik Deutschland auf 7,9 Millionen Menschen und in der Deutschen Demokratischen Republik auf 4,3 Millionen an. Die Sowjetische Besatzungszone (SBZ), dann DDR, nahm 37,2 Prozent aller Vertrie- benen auf, die Bundesrepublik 62,8 Prozent. In den westlichen Besatzungszonen konzen- trierten sich die Vertriebenen sehr unterschiedlich. Ihr Anteil an der Bevölkerung betrug in der britischen Zone 32,8 Prozent, in der amerikanischen 28,2 Prozent und in der fran- zösischen nur 1,4 Prozent. Im Oktober 1949, dem DDR-Gründungsmonat, machten die Vertriebenen und Flüchtlinge knapp ein Viertel der Gesamtbevölkerung aus: In Zahlen hieß das: Von 17,8 Millionen DDR-Bürgern waren 4,3 Millionen Vertriebene.1 Diese ver- teilten sich unterschiedlich auf die fünf Länder der DDR: Den größten Anteil von Ver- triebenen an der Bevölkerung nahm Mecklenburg-Vorpommern auf. Hier machten sie 43,3 Prozent aus. Mit knapp einem Viertel Anteil an der Bevölkerung folgten die Länder Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Das Land Sachsen nahm anteilig gesehen 17,2 Prozent Flüchtlinge und Vertriebene auf.2 Von 1949 bis zum Bau der Berliner Mauer am 13.August 1961 verließen rund 2,8 Millio- nen Bürger der DDR das Land in Richtung West-Berlin und Bundesrepublik Deutschland.3 Der Anteil der Vertriebenen an diesen sogenannten Republikflüchtigen war überdurch- schnittlich hoch und betrug etwa ein Drittel, das hieß, daß zwischen 750000 bis 90000 Ver- 1 Vgl. Johannes Hoffmann, Flüchtlinge und Vertriebene im Spannungsfeld der SBZ-Nachkriegspoli- tik, S.19. 2 Zahl und Anteil der Vertriebenen an der DDR-Bevölkerung im November 1949 Land Gesamtbevölkerung davon Vertriebene Vertriebene in % Brandenburg 2646991 655466 24,8 Mecklenburg-Vorpommern 2126790 922088 43,3 Sachsen 5798990 997798 17,2 Sachsen-Anhalt 4303441 1051024 24,4 Thüringen 2988288 685913 23,0 DDR insgesamt 17864500 4312288 24,2 Vgl. ebenda; Zusammenstellung der gesamten Heimkehrer, Zivilinternierten und Umsiedler, 9.Januar 1950, in: SAPMO-BA DY 30 IV 2/13/392, Bl.4, 5. 3 Vgl. Hermann Weber, DDR. Grundriß der Geschichte 1945–1990, S.288–305. 16 II. Das Vertriebenen-Problem in den 1950er Jahren triebene die DDR verließen.4 1961 lebten demnach noch zirka 3,5 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene in der DDR. Sie machten 20 Prozent der Gesamtbevölkerung aus: Jeder fünfte DDR-Bürger war 1961 ein Flüchtling oder Vertriebener der Erlebnisgeneration.5 Aufnahme und Eingliederung fanden Flüchtlinge, Vertriebene und Zwangsumgesiedel- te in der SBZ/DDR aus allen ost- bzw. südosteuropäischen Vertreibungsgebieten. Zahlen- mäßig die größten Gruppen bildeten Männer, Frauen und Kinder aus Schlesien (über eine Million), aus dem Sudetengebiet (zirka 850000), aus Pommern und Ostpreußen (jeweils etwa eine halbe Million) sowie aus Ost-Brandenburg (zirka eine viertel Million).6 Hinzu kamen noch rund eine halbe Million Deutsche aus Polen und Deutschstämmige aus Rumänien und Ungarn, den baltischen Staaten, dem Königsberger Gebiet und anderen Regionen der Sowjetunion.7 Diese landsmannschaftlich verschiedenen Gruppen verteilten sich in der SBZ/DDR unterschiedlich. Für 1950 ließ sich generalisierend feststellen, daß die meisten der in die SBZ/DDR gekommenen Schlesier in Sachsen und Sachsen-Anhalt, die Pommern in Mecklenburg-Vorpommern, die Ost-Brandenburger im Land Branden- burg, die Ost- und Westpreußen in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Bran- denburg Aufnahme fanden. Die Mehrzahl der Sudetendeutschen wurde Sachsen, Sachsen- Anhalt und Thüringen zugewiesen.8 Die Statistiken der SBZ erfaßten für 1948/49 auch, daß von den 4,3 Millionen Vertrie- benen 1,2 Millionen Männer, 1,9 Millionen Frauen und 1,2 Millionen Kinder waren. Im Vergleich mit der einheimischen Wohnbevölkerung waren damit die Männer um vier Pro- zent unter-, die Frauen dagegen um 0,6 Prozent und die Kinder um 3,4 Prozent überreprä- sentiert. Hinzu kam ein genereller Frauenüberschuß in der SBZ im Vergleich zu den drei Westzonen. Die Altersstruktur, beeinflußt von den Folgen zweier Weltkriege und vom Wan- del des generativen Verhaltens, erfuhr durch die Aufnahme der Flüchtlinge und Vertrie- benen im Vierzonen-Deutschland weitere Veränderungen. Die Kriegs- und Vertreibungs- verluste sowie die fehlende Ausgeglichenheit in der Geschlechterrelation zogen eine De- formation in den produktiven Altersklassen – vor allem bei Männern zwischen 20 und 40 Jahren – und einen kriegs- und nachkriegsbedingten Geburtenrückgang nach sich. Auch war das zahlenmäßige Verhältnis zwischen der jüngeren und älteren Generation eindeutig zugunsten von Kindern und Jugendlichen verschoben.9 4 Der Anteil von Vertriebenen an den „Republikflüchtigen“ ging im Laufe der 1950er Jahre immer stärker zurück. Vgl. Michael Schwartz, Kriegsfolgelasten und „Aufbaugesellschaft“, S.185f. In internen Berichten des MfS hieß es z.B. 1956 dazu: „… denn immer noch sind ca. 25 bis 30 Prozent der DDR-Flüchtlinge [nach Westberlin und Westdeutschland] Heimatvertriebene.“ MfS GI-Bericht: Reise nach Hamburg, 26.März 1956, in: BStU MfS AOP 11315/64, Bd.1, Bl.93. 5 Vgl. Helge Heidemeyer, Flucht und Zuwanderung aus der SBZ/DDR 1945/49–1961, S.41–48, 62–68; Ders., Vertriebene als Sowjetflüchtlinge, S.237–249; Karl Heinz Schaefer, Anmerkungen zur Zahl der in der SBZ/DDR zwischen 1945 und 1990 lebenden Vertriebenen, S.66; Philipp Ther, Deutsche und polnische Vertriebene, S.340f. 6 Diese Zahlen stammen aus dem Jahr 1947. Vgl. Manfred Wille, Zu einigen Fragen der Aufnahme und Integration der Vertriebenen in der SBZ/DDR, S.34f. 7 Prozentual gesehen sah dies folgendermaßen aus: 72 Prozent der Vertriebenen kamen aus Polen (polnische Gebiete von 1945 aus gesehen), 2,1 Prozent aus der Sowjetunion einschließlich des Königs- berger Gebietes, 21 Prozent aus der CˇSR, 0,5 Prozent aus Jugoslawien, 0,4 Prozent aus Ungarn, 0,8 Prozent aus Rumänien und 3,2 Prozent aus anderen Staaten. Vgl. Umsiedler in den Ländern der DDR nach Herkunftsgebieten, Stand 1.Dezember 1947, in: BAB DO 2/49, Bl.146. 8 Vgl. Manfred Wille, Zu einigen Fragen der Aufnahme und Integration der Vertriebenen in der SBZ/ DDR, S.34f. 9 Vgl. ebenda, S.35f. 1. Zur Situation der Vertriebenen in der SBZ und frühen DDR 17 Während des Flucht- und Vertreibungsgeschehens und den Aussiedlungsaktionen zum bzw. nach dem Kriegsende bezeichneten sich die Betroffenen selbst, wie auch die eingeses- sene deutsche Bevölkerung, als Flüchtlinge bzw. Ostflüchtlinge. Dies galt auch für den zeit- genössischen Sprachgebrauch in der SBZ und dann DDR.10 Am 15.September 1945 entstand auf Befehl der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) in Berlin eine „Zentralverwaltung für Flüchtlingswesen und Heimkehrer“ zur zen- tralen Steuerung des Transports und der Verteilung der Flüchtlinge. Doch nur zehn Tage später wurde auf Anordnung der Besatzungsmacht diese Bezeichnung in „Zentralverwal- tung für Umsiedler“ (ZVU) abgeändert.11 Der kommunistische Präsident der Zentralverwal- tung erklärte den neuen Umsiedler-Begriff damit, daß man den mißverständlichen und harten Ausdruck „Betreuung von Flüchtlingen und Heimkehrern“ vermeiden wollte. Denn in Zukunft habe man sich, so meinte er im Herbst 1945, auch um die aus dem Osten, aus Ungarn und Jugoslawien und der CˇSR kommenden Menschen zu kümmern, und diese seien nicht nur provisorisch zu „betreuen“, sondern hierher endgültig und dauerhaft „um- zusiedeln“.12 Die Begriffsvorgabe durch die Sowjetische Besatzungsmacht – „Umsiedler“ und „Um- siedlung“ (/ – pereselenjetz/pereselenie) – war keine spezi- fische Neuschöpfung. Schon die Zwangs- und Massendeportationen in der Geschichte der UdSSR – wie die der Donkosaken 1920, der sogenannten Kulaken 1930/32, bis hin zu de- nen ganzer Völkergruppen im Zweiten Weltkrieg wie der Wolgadeutschen 1941, der Krim- tataren 1943 und diverse kaukasische Ethnien 194413 – wurden in sowjetischer Sprach- und Politik-Tradition als „Umsiedlungsaktionen“ benannt. Für die sowjetischen SMAD-Funktio- näre war der verordnete „Umsiedlungs“-Begriff also eine problemlose Übertragung eines gewohnten Verwaltungsvokabulars auf erfolgte oder noch zu erfolgende Vertreibung deut- scher Bevölkerung aus der CˇSR oder aus den bisherigen deutschen, nunmehr polnisch verwalteten Ostgebieten. Für die deutsche Bedeutung des „Umsiedlungs“-Begriffs nach 1945 ist allerdings auch dessen nationalsozialistische Vorgeschichte zu berücksichtigen. Das NS-Deutschland schloß während des Zweiten Weltkrieges mit verschiedenen Staaten Verträge und Vereinbarungen, z.B. mit Estland und Lettland, zur „Umsiedlung“ deutscher Volksgruppen. Seit dem Herbst 1939 kam es im Gefolge des Hitler-Stalin-Paktes auch zu diversen deutsch-sowjetischen Ver- einbarungen über „Umsiedlungen“, in denen auch der „Umsiedler“-Begriff verbindlich fi- xiert wurde.14 Sowohl der sowjetische als auch der nationalsozialistische „Umsiedler-Begriff“ lieferte Kernelemente für die Begrifflichkeit in der Sowjetischen Besatzungszone. Allen drei Ver- 10 In der 1951/52 veröffentlichten Kurzgeschichte der Schriftstellerin Anna Seghers „Die Umsiedle- rin“
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