IX. Mord an Den Juden Unter Militärhoheit 1941/42
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IX. Mord an den Juden unter Militärhoheit 1941/42 Anscheinend hat das Militär vor Beginn des Feldzugs keine genaueren Regelungen zur Behandlung der Juden in der Sowjetunion getroffen, wahrscheinlich mit Aus- nahme der jüdischen Kriegsgefangenen. Dennoch wäre es verfehlt anzunehmen, dass sich die antijüdische Politik, d.h. die Verfolgungsmaßnahmen unterhalb der Schwelle von Morden, quasi erst vor Ort im Laufe des Ostkrieges entwickelt habe. Vielmehr kannten die Militärs, und hier besonders die Militärverwaltung, genau die übliche Vorgehensweise gegen die jüdische Minderheit, wie sie zuerst im Reich und dann in den besetzten Gebieten praktiziert worden war, in vielen Fällen aus der eigenen Praxis. Ungeklärt war vor allem die Kompetenz in „Judenfragen". Fiel die Behandlung der Minderheit nun unter die „politische Gegnerbekämpfung" der Sicherheitspo- lizei oder unter die Verwaltungstätigkeit des Militärs? Zwar war bekannt, dass die Polizei „Sonderaufgaben" zugewiesen bekommen hatte, also die Ermittlung, In- haftierung und Ermordung von „Gegnern", weniger jedoch, inwieweit davon Ju- den betroffen sein würden. 1. Die ersten Morde Bereits am ersten Tag des Feldzuges meldete die 454. Sicherungsdivision die Fest- nahme eines Juden, angeblich wegen Spionageverdachtes1. Damit begann eine etwa 15monatige Terror- und Mordkampagne, an deren Ende, zumindest nach offizi- eller Darstellung, kein Jude mehr unter Militärhoheit am Leben war. Die Massen- morde wurden in ihrer überwiegenden Mehrheit von SS- und Polizeieinheiten verübt, doch konnten diese auf die Unterstützung von vielen Dienststellen und Einheiten der Wehrmacht bauen. Wenig bekannt ist über individuelle Mordtaten von Soldaten an Juden, die un- mittelbar nach der Besetzung eines Ortes stattfanden. Zumeist nach besonders heftigen Kämpfen oder Zwischenfällen, etwa nach dem Verschwinden von Solda- ten, wurden wahllos Juden auf der Straße aufgegriffen und erschossen. Über das gesamte Ausmaß und die Verbreitung dieser Verbrechen können jedoch keine prä- zisen Angaben gemacht werden2. Oftmals wurden „die Juden" von Frontkom- 1 IfZ MA 1702, fr.91, Tätigkeitsbericht 454. Sich.Div., Ic, 22.6.1941. 2 Gerlach, Verbrechen deutscher Fronttruppen, S. 100; Heer, „Hitler war's", S.266ff., mit Bei- spielen aus Weißrussland; Bald, Weiße Rose, S. 100 (252. ID); IfZ NOKW-1293, Bericht 99. ID, 30.7.1941. 244 IX. Mord an den Juden unter Militärhoheit 1941/42 mandeuren als besonders verdächtig für Spionage und Freischärlertum einge- stuft3. Deutlich systematischeren Charakter bekam die antijüdische Gewalt in den zahlreichen Pogromen, die die jüdischen Gemeinden Ende Juni/Anfang Juli 1941 vor allem in der Westukraine, in Litauen und in Bessarabien heimsuchten. Die militärische Abwehr hatte die Auslösung ethnischer Unruhen vor allem im Rü- cken der Roten Armee geplant, der Sicherheitspolizei hingegen war ausdrücklich die Initiierung von Pogromen beim deutschen Einmarsch aufgegeben. Den Schlüs- sel für diese Gewaltaktionen bildeten die nationalistischen Untergrundmilizen, die ab dem 22. Juni 1941 im Baltikum und in der Westukraine aus dem Boden schössen und sofort versuchten, die Rote Armee beim Rückzug zu behindern und mit einer „Abrechnung" mit dem Sowjetsystem zu beginnen. Diese begann zum Teil noch im Machtvakuum zwischen deutscher und sowjetischer Herrschaft, intensivierte sich jedoch nach der Öffnung der NKVD-Gefängnissen und dem Fund der dort ermordeten Häftlinge in vielen Städten. Letzteres wurde als Anlass genommen, wahllos Juden zu demütigen, zu misshandeln und zu töten. Dabei grassierte der Stereotyp vom vermeintlich „jüdischen Bolschewismus" nicht nur unter den deut- schen Besatzern, sondern auch in der einheimischen Bevölkerung. Wer konkret für die Gewaltaktionen verantwortlich war, lässt sich nur im Einzelfall feststellen. Generell versuchten die Einsatzgruppen zwar Pogrome aus- zulösen, dabei waren sie jedoch - mangels Sprach- und Ortskenntnis - auf ihre Dolmetscher und den Kontakt zu einheimischen Gruppen angewiesen. Zudem ge- langten die Einsatzgruppen bei ihrem schnellen Vormarsch gerade in der Frühpha- se, also noch vor ihrer Zersplitterung in Teilkommandos, nur an vergleichsweise wenige Orte. Die Wehrmacht war hingegen nahezu flächendeckend im neu er- oberten Gebiet präsent. Hier ergibt sich freilich ein vielfältiges Bild. Für Litauen ordnete die Wehrmachtpropaganda an, dass sofort nach dem Einmarsch anti- semitische Hetzparolen über Radio gesendet werden sollten. In Lemberg forderte das AOK 17 sogar die Sicherheitspolizei auf, Pogrome von Polen gegen Juden in Gang zu setzen4. In vielen Städten wurde den einheimischen Milizen offensicht- lich Zeit gegeben, blutige „Abrechnungen" unter der Bevölkerung vorzuneh- men5. Grundsätzlich war es allerdings Aufgabe der frisch etablierten Militärverwal- tung, in den eroberten Städten für Ruhe zu sorgen. Viele Feldkommandanturen schritten deshalb, teils verspätet, gegen die Pogrome der Einheimischen ein. So gab das Generalkommando des XXXXIX. Gebirgskorps dem Stadtkommandanten von Lemberg „Verhinderungen von Ausschreitungen jeder Art, auch durch Heeres- angehörige" zur Aufgabe; das Pogrom in der Stadt dauerte jedoch fast drei Tage6. 3 BA-MA RH 26-22/67, 22. ID, Ic, Feindnachrichtenblatt, 22.6.1941; BA-MA RH 26-299/188, Tagesmeldung 299. ID, 24.6.1941; BA-MA RH 26-50/85, Tätigkeitsbericht, 50. ID, Ic, 6.9.1941. 4 BA-MA RH 22/271, Bl. 178-179, OKW, WPr., Betreuung der Sender Kowno und Wilna, 27.6.1941; BA R 58/214, B1.52, EM CdS Nr. 10, 2.7.1941. Vgl. Verbrechen der Wehrmacht, S.98. 5 Vgl. Marko Carynnyk, Zolociv movcyt, in: Krytyka 10 (2005), H. 96. 6 BA-MA WF-03/34170, XXXXIX. Geb.AK, 29.6.1941. 1. Die ersten Morde 245 In Zloczow wiederum wurde dem Morden von Offizieren der 294. Infanteriedivi- sion Einhalt geboten7. Für die Soldaten, die an den Schauplätzen der Pogrome stationiert waren, gerie- ten die Gewaltaktionen nicht selten zum öffentlichen Spektakel; gelegentlich griff sogar die Propaganda-Kompanie zur Kamera. Nicht wenige deutsche Wehr- machtangehörige beteiligten sich an den Ausschreitungen, so in Lemberg, Tarno- pol und Zloczow8; noch radikaler gebärdeten sich viele rumänische Soldaten, die die Nordbukowina und Bessarabien an mindestens 50 Orten mit einer Welle von antijüdischen Exzessen überzogen. Deren Gewalttaten richteten sich bisweilen auch gegen nichtjüdische Ukrainer9. Allerdings drückten viele Wehrmachtangehö- rige ihre Abscheu gegenüber solchen Gewaltexzessen aus, manche intervenierten zugunsten der Verfolgten10. Erst vergleichsweise spät ergriffen auch die Oberkommandos die Konsequenzen und untersagten Soldaten die Teilnahme an den Pogromen11. Wochen nach den großen Ausschreitungen in den Westgebieten fühlte sich vor allem die Militärver- waltung genötigt, solche unsystematischen Gewaltausbrüche, die sich in aller Öf- fentlichkeit abspielten, einzudämmen. Dabei betonte sie, dass sich dieses Verbot nur auf das rückwärtige Heeresgebiet, nicht aber auf frontnahe Bereiche beziehen würde12. Doch mit dem Einmarsch in altsowjetische Gebiete waren kaum mehr „spon- tane" antijüdische Gewaltexzesse der Einheimischen zu verzeichnen. Während im Raum Bialystok auch einige Polen gewaltsam gegen die jüdische Bevölkerung vorgingen13, ließ die Bereitschaft zu Ausschreitungen in weißrussischen Siedlungs- gebieten deutlich nach, wie die Wehrmachtpropaganda enttäuscht vermerkte: „Ver- suche, Juden-Progrome [!] hervorzurufen, sind gescheitert. Das hat seinen Grund darin, dass der Jude in den Augen des Durchschnitts-Russen eine proletarische Le- bensführung hat und sich daher nicht zum Gegenstand eines Angriffs eignet."14 7 Helmuth Groscurth, Tagebücher eines Abwehroffiziers. Hg. von Helmut Krausnick u. a. Stutt- gart 1970, S.536 (Bericht an Hgr. Süd, 21.8.1941); Sigrid Wegner-Korfes, Weimar, Stalingrad, Berlin. Das Leben des deutschen Generals Otto Korfes, Berlin 1994, S. 90f. 8 Vgl. Wokól Jedwabnego. Red. Pawel Machcewicz, Krzysztof Persak. Warszawa 2002, Band 1, S.47; Pohl, Nationalsozialistische Judenverfolgung in Ostgalizien, S. 54-67; Verbrechen der Wehrmacht, S. 104-106; Hannes Heer, Einübung in den Holocaust: Lemberg Juni/Juli 1941, in: ZfG 49 (2001), S.409^t27; Bernd Boll, Zloczow, Juli 1941: Die Wehrmacht und der Beginn des Holocaust in Galizien, in: ZfG 50 (2002), S. 899-917. 9 Aleksandr Kruglov, Anti-Jewish Pogroms in Ukraine in Summer 1941. Unveröff. MS. Charkiv 2003; vgl. BA R 58/214, Bl. 123-129, EM CdS 19, 11.7.1941; Halder KTB, Band 3, S.186 (18.8.1941). 10 BA-MA RH 26-281/25A, 281. Sich.Div., VII, erster Lagebericht an Berück Nord, 10.7.1941 (Litauen); BA-MA WF-03/34170, Batl. 800 an XXXXIX. Geb.AK., 1.7.1941 (Lemberg); Yitzhak Arad, Ghetto in Flames. The Struggle and Destruction of the Jews in Vilna in the Holocaust. Jerusalem 1980, S.68. 11 Knut Stang, Massenmord und Kollaboration. Die litauische Hilfspolizei, das Rollkommando Hamann und die Ermordung der litauischen Juden. Frankfurt a.M. u.a. 1996, S. 19 (AOK 16, 8.8.1941). 12 BA-MA RH 22/5, Bl. 72-73, Anordnung Berück Süd, 29.7.1941; 454. Sich.Div., Divisionsbefehl Nr. 49, 20.8.1941, in: Deutsche Besatzungspolitik S. 57-62; USHMM RG 53.002M, reel 4 (NARB 389-1-3), Berück Nord, 20.9.1941. 13 Wokól Jedwabnego, S.39ff. 14 BA-MA RW 4/v. 252, Bl. 296, Hgr. Mitte, Propaganda-Einsatz, 11.8.1941 (Ani. zu Ausl./Abw. an WPr, 18.9.1941), 246 IX. Mord an den Juden unter Militärhoheit 1941/42 Nach den ersten Juliwochen 1941 war die „spontane" Gewalt gegen Juden kei- neswegs beendet, d. h. gänzlich durch systematische Mordaktionen abgelöst. Viel- mehr waren auch später noch und weiter