Plenarprotokoll 12/173

Deutscher Bundesta g

Stenographischer Bericht

173. Sitzung -

Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Inhalt:

Erweiterung der Tagesordnung 14865 A Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister BMWi 14865 D, 14891 D Nachträgliche Überweisung eines Gesetz Hans Büttner (Ingolstadt) SPD 14866 D, 14904 B entwurfs an den Haushaltsausschuß 14865 B Siegmar Mosdorf SPD 14867 D Dr. Uwe Jens SPD 14869 A Tagesordnungspunkt 1 (Fortsetzung): Kurt J. Rossmanith CDU/CSU 14873 A a) Erste Beratung des von der Bundesre- Dr. F.D.P. 14874 C gierung eingebrachten Entwurfs eines Dr. Uwe Jens SPD 14874 D, 14875 D Gesetzes über die Feststellung des Bun- deshaushaltsplans für das Haushaltsjahr Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) PDS/ 1994 (Haushaltsgesetz 1994) (Drucksa- Linke Liste 14877 C, 14944 C che 12/5500) (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 14878 D b) Beratung der Unterrichtung durch die Dr. CDU/CSU 14880 B Bundesregierung Der Finanzplan des Bundes 1993 bis 1997 (Drucksache Ingrid Matthäus-Maier SPD . 14881 B, 14908 C, 12/5501) 14918 D Ernst Schwanhold SPD 14882 D, 14887 A c) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Rainer Haungs CDU/CSU 14885A, 14887 B Ersten Gesetzes zur Umsetzung des Christian Müller (Zittau) SPD 14887 C Spar-, Konsolidierungs- und Wachs- Dr. Günther Krause (Börgerende) CDU/ tumsprogramms (Drucksache 12/5502) CSU 14889 B d) Erste Beratung des von der Bundesre- Dr. Ulrich Briefs fraktionslos . 14890 D, 14975 A, gierung eingebrachten Entwurfs eines 15003 D Zweiten Gesetzes zur Umsetzung des Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA 14892 B Spar-, Konsolidierungs- und Wachs- Rudolf Dreßler SPD 14895 C, 14907 C tumsprogramms (Drucksache 12/5510) Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) F.D.P. 14895 D (Köln) SPD 14896 B, 14952 C in Verbindung mit (Nürnberg) SPD 14897 B Zusatztagesordnungspunkt (Fortsetzung): Dr. Kurt Faltlhauser CDU/CSU 14898 D Erste Beratung des von den Fraktionen Julius Louven CDU/CSU 14901 D der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Günther Heyenn SPD 14904 A Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämp- Dr. F.D.P. 14905 D fung des Mißbrauchs und zur Bereini- Petra Bläss PDS/Linke Liste 14909 B gung des Steuerrechts (Mißbrauchsbe- Julius Louven CDU/CSU 14910C kämpfungs - und Steuerbereinigungs- gesetz) (Drucksache 12/5630) Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste 14911 A

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Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE Dr. Ilja Seifert PDS/Linke Liste 14979 C GRÜNEN 14912 A Dr. Ulrich Janzen SPD 14980 A SPD 14913D Dr. Walter Hitschler F.D.P. . 14980 B, 14982 D, Dr. Gisela Babel F.D.P. 14914 D 14989A Hans-Joachim Fuchtel CDU/CSU 14918 B, 14921 B Achim Großmann SPD 14981 D Regina Kolbe SPD 14919 B Dieter Pützhofen CDU/CSU 14985 B Ingrid Matthäus-Maier SPD 14920 D Dr. Ilja Seifert PDS/Linke Liste 14987 C, 15001 C Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) fraktions Carl-Ludwig Thiele F.D.P. 14988 C los 14921 C Achim Großmann SPD . . . 14989 B, 14989 C , Bundesminister BMV 14922 B ChÜ ristina Schenk BÜNDNIS 90/DIE GR Klaus Daubertshäuser SPD 14923 D NEN 14990 B CDU/CSU 14927 B - Rolf Rau CDU/CSU 14991 B Werner Zywietz F.D.P. 14928 D Dr. Wolfgang Bötsch, Bundesminister CDU/CSU 14930 B BMPT 14992 D Dr. PDS/Linke Liste Arne Börnsen (Ritterhude) SPD 14994 C 14931 A, 14971 B Manfred Kolbe CDU/CSU 14998 B Dr. Klaus-Dieter Feige BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 14932 B, 14967 B Jürgen Timm F.D.P 14999 D Horst Gibtner CDU/CSU 14933 B Martin Göttsching CDU/CSU 15002 C , Bundesminister BML 14934C Vizepräsident Helmuth Becker 14948 C Horst Sielaff SPD . 14935 A, 14941 A, 14946 D Tagesordnungspunkt 2: Horst Sielaff SPD 14936 B Überweisungen im vereinfachten Verfah- Bartholomäus Kalb CDU/CSU 14937 D ren Günther Bredehorn F.D.P. 14938 A, D, 14947 C a) Erste Beratung des von der Bundesre- Hermann Wimmer (Neuötting) SPD . 14938 C gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom Siegfried Hornung CDU/CSU 14940 D 29. Juli 1992 zwischen der Bundesrepu- Dr. Sigrid Hoth F.D.P. 14942 C, 14944 C blik Deutschland und der Republik Polen über Erleichterungen der Grenz- Ernst Kastning SPD 14944 B, 14946 B abfertigung (Drucksache 12/5279) Dr. Sigrid Hoth F.D.P 14944 D b) Erste Beratung des von der Bundesre- Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein gierung eingebrachten Entwurfs eines CDU/CSU 14946 A Ersten Gesetzes zur Änderung des , Bundesminister BMG . 14948 D Patentgebührengesetzes (Drucksache 12/5280) Klaus Kirschner SPD 14951 B c) Erste Beratung des von der Bundesre- Horst Seehofer CDU/CSU 14951 D gierung eingebrachten Entwurfs eines Dr. Paul Hoffacker CDU/CSU 14952 B Ersten Gesetzes zur Änderung des Gen- technikgesetzes (Drucksache 12/5614) Roland Sauer (Stuttga rt) CDU/CSU 14953 D Dr. Bruno Menzel F D P 14955 D d) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Dr. Bruno Menzel F D P 14956 A Gesetzes zur Vereinfachung und Be- Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste 14957 D schleunigung registerrechtlicher und anderer Verfahren (Registerverfahrens- Dr. Harald Kahl CDU/CSU 14959 B beschleunigungsgesetz) (Drucksache Hans-Hinrich Knaape SPD 14960 B 12/5553) Roland Sauer (Stuttga rt) CDU/CSU 14961 B e) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister BMU 14962 B gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung strafrechtlicher Verjäh- Marion Caspers-Merk SPD 14965 A rungsfristen (Drucksache 12/5613) Gerhart Rudolf Baum F.D.P 14968 C f) Erste Beratung des von der Bundesre- Hans Georg Wagner SPD 14972 C gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur sozialen Absicherung des Ulrich Klinkert CDU/CSU 14975 D Risikos der Pflegebedürftigkeit (Pfle- Dr. , Bundesministerin ge-Versicherungsgesetz) (Drucksache BMBau 14979 A 12/5617)

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g) Erste Beratung des von der Bundesre- m) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines gierung eingebrachten Entwurfs eines Entgeltfortzahlungsgesetzes (Drucksa- Gesetzes über den Bau des Abschnitts che 12/5616) Wismar West-Wismar Ost der Bundes- autobahn A 20 Lübeck-Bundesgrenze h) Beratung des Antrags des Bundesmini- (A 11) (Drucksache 12/5001) 15004 D steriums der Finanzen: Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 Bundeshaushaltsord- nung in die Veräußerung der bundesei- Tagesordnungspunkt 3: genen Liegenschaft Gendarmerie-Ka- Abschließende Beratungen ohne Ausspra- serne in Mannheim-Schönau (Drucksa- che che 12/5291) a) Zweite Beratung und Schlußabstim- i) Beratung des Antrags des Bundesmini- mung des von der Bundesregierung ein- steriums der Finanzen: Einwilligung gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu gemäß § 64 Abs. 2 Bundeshaushaltsord- dem Vertrag vom 24. März 1992 über nung in die Veräußerung der bundes- den offenen Himmel (Drucksachen eigenen Liegenschaft Fahnenberg- 12/4074, 12/5209, 12/5290) platz 4 in Freiburg/Br. (Drucksache 12/5292) b) Zweite Beratung und Schlußabstim- mung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu in Verbindung mit den Notenwechseln vom 25. September 1990 und vom 23. September 1991 über Zusatztagesordnungspunkt 2: die Rechtsstellung der in Deutschland Weitere Überweisungen im vereinfachten stationierten verbündeten Streitkräfte Verfahren und zu dem Übereinkommen vom 25. September 1990 zur Regelung j) Erste Beratung des von den Abgeordne- bestimmter Fragen in bezug auf Berlin ten Dr. , Ingrid (Drucksachen 12/4021, 12/5307) Köppe, Konrad Weiß (Berlin), weiteren Abgeordneten und der Gruppe BÜND- c) Beratung der Beschlußempfehlung und NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten des Berichts des Auswärtigen Ausschus- Entwurfs eines Gesetzes zur Verlänge- ses zu dem Entschließungsantrag der rung strafrechtlicher Verjährungsfri- Gruppe der PDS/Linke Liste zu der sten bei DDR-Unrechtstaten (Drucksa- Unterrichtung durch die Bundesregie- che 12/5628) rung: Bericht zum Stand der Bemühun- gen um Rüstungskontrolle und Abrü- k) Erste Beratung des von den Fraktionen stung sowie der Veränderungen im der CDU/CSU, SPD und F.D.P. einge- militärischen Kräfteverhältnis (Jahres- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur abrüstungsbericht 1990/91) (Drucksa- Vereinheitlichung strafrechtlicher Ver- chen 12/2442, 12/2891, 12/5211) 15006 A jährungsfristen (Drucksache 12/5637) 1) Erste Beratung des von der Bundesre- Nächste Sitzung 15006 D gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Bau des Abschnitts Könnern-Löbejün der Bundesautobahn Anlage A 14 Magdeburg-Halle (Saale) (Druck- sache 12/5000) Liste der entschuldigten Abgeordneten 15007*

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Beginn: 9.00 Uhr

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine Überweisungsvorschlag: Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet. Ausschuß für Gesundheit (federführend) Rechtsausschuß Ich habe zunächst eine amtliche Mitteilung Ausschuß für Wirtschaft bekanntzugeben. Nach einer interfraktionellen Ver- Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten einbarung soll die verbundene Tagesordnung erwei- Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgen- tert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegen- abschätzung den Zusatzpunkteliste aufgeführt: EG-Ausschuß Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO 1. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämp- fung des Mißbrauchs und zur Bereinigung des Steuer- Ich hoffe, daß Sie mit diesen Ergänzungen der rechts Tagesordnung einverstanden sind. — Widerspruch (Mißbrauchsbekämpfungs- und Steuerbereinigungsgesetz erhebt sich nicht. Dann darf ich das als beschlossen — StMBG)- — Drucksache 12/5630 feststellen. 2. weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren (Ergän- Ich erteile zunächst dem Bundesminister für Wi rt zung TOP 2) rt. -schaft, Günter Rexrodt, das Wo j) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Wolfgang Ullmann, Ingrid Köppe, Konrad Weiß (Berlin), weiteren Abgeordneten und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ver- Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister für Wirtschaft: längerung strafrechtlicher Verjährungsfristen bei DDR- Unrechtstaten Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Haushalt 1994 ist auch wirtschaftspoli- — Drucksache 12/5628 — tisch die angemessene Antwort auf die gegenwärtige Überweisungsvorschlag: wirtschaftliche Lage. Er ist erstens die richtige Ant- Rechtsausschuß wort, weil wir mit einer Nettoneuverschuldung von k) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, 67,5 Milliarden DM die richtige Balance zwischen SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinheitlichung strafrechtlicher Verjährungsfri- stabilitätspolitischen Erfordernissen und den Erfor- sten — Drucksache 12/5637 — dernissen, etwas für die noch schleppende Konjunktur 1)Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach- zu tun, gefunden haben. ten Entwurfs eines Gesetzes über den Bau des Abschnitts Der Haushalt ist auch deshalb die richtige Antwort, Könnern-Löbejün der Bundesautobahn A 14 Magde- burg-Halle (Saale) — Drucksache 12/5000 — weil wir damit begonnen haben, Mittel freizuschau- feln, die für Subventionen, für Förderungen im m) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes über den Bau des Abschnitts Westen ausgegeben wurden. Wir nehmen diese Mittel Wismar West-Wismar Ost der Bundesautobahn A 20 und führen sie in verstärktem Umfang in die neuen Lübeck-Bundesgrenze (A 11) — Drucksache 12/5001 — Bundesländer über. (v. 29. 6. 93) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Zugleich soll von der F rist für den Beginn der Beratung — soweit dies bei den einzelnen Zusatz- Wir haben mit diesem Haushalt weder den reinen punkten erforderlich ist — abgewichen werden. Sparaposteln Rechnung getragen noch jenen, die Des weiteren mache ich auf eine nachträgliche ihren Keynes nicht richtig verstanden haben. Wir Ausschußüberweisung aufmerksam, die ebenfalls im haben, weil wir — wie wir meinen — die richtige Anhang zur Zusatzpunktliste verzeichnet ist: Balance gefunden haben, Kritik selbstverständlich von beiden Seiten bekommen. Aber die Situation gibt Der in der 164. Sitzung des Deutschen Bundestages am 18. Juni 1993 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll uns recht. nachträglich dem Haushaltsausschuß gemäß § 96 der Die Bundesbank, die Geldpolitik, hat erweiterte Geschäftsordnung überwiesen werden: Handlungsspielräume bekommen. Dies schlägt sich Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. in der Zinsentwicklung nieder. Bei den langfristigen Erstes Gesetz zur Änderung des Gentechnikgesetzes Zinsen haben wir heute ein Niveau von 6,2 %. Das ist — Drucksache 12/5145 — der niedrigste Stand seit 1988. Wir haben ein Paket 14866 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Bundesminister Dr. Günter Rexrodt geschnürt, das die Sparbeschlüsse mit einem Bündel rungen von 16 Milliarden DM stattfinden. Das sind von wachstumsbelebenden Maßnahmen verbindet. sage und schreibe 1,5 % des gesamten Sozialbereichs. Dazu gehören investitionsfördernde Maßnahmen, Da wird Ihrerseits von Kahlschlag gesprochen. Dies gesetzliche Vereinfachungen, Beschleunigungen von nehmen Ihnen die Leute nicht ab. Die Leute wissen, Genehmigungsverfahren u. a. mehr. daß das Polemik ist. Meine Damen und Herren, ganz auf der Linie dieses (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Konsolidierungskurses liegt auch der Haushalt mei- Tatsache ist drittens, das sich unser Gemeinwesen nes eigenen Ministeriums, wo wir von 1991 bis 1994 in den letzten Jahren in vielen Bereichen vom Sozial- z. B. bei der Luftfahrtindustrie 84 %, beim Schiffsbau staat, den wir erhalten und sichern wollen, zu einem 25 % und beim Bergbau 20 % der Subventionen für Wohlfahrtsstaat entwickelt hat, in dem Mittel für die alten Bundesländer gestrichen und diese Gelder soziale Leistungen den überaus dominierenden Teil für Aufgaben in den neuen Ländern umgeschichtet des Haushaltes ausmachen. Das wollen wir halten, haben. aber die Grundlagen dafür sichern. Das ist das Ent- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) scheidende in unserer Wirtschafts- und Finanzpoli- Ich würde mich im übrigen freuen, meine- Damen tik. und Herren von der SPD, wenn der eine oder andere Selbst das Modell Schweden, meine Damen und Ihrer Ministerpräsidenten ähnlich konsequent bei der Herren, hat auf diesem Weg nicht nur die Bremse Sanierung seines eigenen Landeshaushaltes zur gezogen, sondern den Rückwärtsgang eingelegt. Sache ginge. Auch andere Länder, wie die Niederlande, Belgien (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) oder Finnland könnte ich in diesem Zusammenhang nennen. Wie diese Staaten sollten auch wir erkennen, Was von Ihnen immer wieder vorgetragen wird, das und zwar rechtzeitig, daß wirtschaftliches Leistungs- ist die Mär vom sozialen Kahlschlag. Die Menschen vermögen und staatliche Sozialpolitik wieder in Ein- nehmen Ihnen — wie ich meine — das aber immer klang gebracht werden müssen. weniger ab. Die Menschen haben Verständnis für die Maßnahmen, für die Weichenstellungen, die wir (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) ergreifen. Es nützt insbesondere den bedürftigen Menschen wenig, daß sie häufig nur als politische Argumenta- (Lachen und Zurufe von der SPD) tionsmasse herhalten müssen, zuallerletzt wenn sich — Sie haben das nur noch nicht begriffen. Die die Systeme durch die eingebauten sogenannten Menschen sind weiter als Sie es sind. Stabilisatoren in die Richtung bewegen, daß kein (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Geld mehr da ist, um sie zu finanzieren. Zuruf des Abg. Werner Schulz [Berlin] So weit können wir es nicht kommen lassen. Wir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit welchen wollen den Sozialstaat erhalten. Sie können kritisie- Menschen reden Sie?) ren, meine Damen und Herren, daß wir das eine oder — Ich rede mit den Menschen auf der Straße, und Sie andere falsch machen. In Ordnung, darüber kann man reden mit Ihren Funktionären, die noch nie einen reden. Uns aber die Motivation in unserer Politik Betrieb von innen gesehen haben, die von der Univer- abzusprechen, daß wir den Sozialstaat sichern wollen, sität kommen und voller Ideologie sind. indem wir einiges umbauen, indem wir einiges lang- fristig überdenken, das können Sie nicht, meine (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Damen und Herren. Meine Damen und Herren, Tatsache ist erstens, daß (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) die Bundesregierung seit 1982 entscheidende Verbes- serungen in der Familien-, Sozial- und Rentenpolitik durchgesetzt hat, z. B. beim Kinder- und Erziehungs- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Bun- geld. Eine weitere Tatsache ist, daß die Sozialhilfe von desminister, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des 1982 auf 1992 um 160 % gestiegen ist, während die Abgeordneten Büttner zu beantworten? Nettolöhne nur um 137 % gestiegen sind. (Zurufe von der SPD) Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister für Wirtschaft: Ja. — Das ist ein Faktum; das können Sie nachlesen. (Zuruf von der SPD: Und die Gewinne?) Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- — Die Gewinne sind in den letzten Jahren im Schnitt geordneter, bitte schön. nicht stärker gestiegen als die Einkommen aus unselbständiger Arbeit. Hans Büttner (Ingolstadt) (SPD): Herr Bundesmini- (Weitere Zurufe von der SPD) ster, wie bewerten Sie unter diesem Gesichtspunkt den Diebstahl der Bundesregierung von Versicherten- geldern der Arbeitnehmer bei der Bundesanstalt für Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine Arbeit, um damit versicherungsfremde Leistungen in Damen und Herren, nicht alle auf einmal, sondern Ostdeutschland zu finanzieren? einer nach dem anderen; das kommt nicht ins Proto- (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Wir sind koll. hier doch nicht im Hinterzimmer!)

Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister für Wirtschaft: Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister für Wirtschaft: Tatsache ist zweitens, daß im Sozialbereich Einspa Ihre Frage insinuiert und arbeitet mit Begriffen, die ich Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14867

Bundesminister Dr. Günter Rexrodt so nicht gelten lassen kann. Wenn es aber darum geht, Faktum ist ebenso — und das muß auch der Fairneß die Arbeitslosenversicherung umzubauen in die Rich- halber gesagt werden —, daß die staatlichen Ausga- tung, daß bestimmte Leistungen herausgenommen ben für Forschung und Entwicklung mittelfristig stabil und beispielsweise dem Steuerzahler übertragen wer- bleiben. den, sind wir zu Gesprächen bereit. Das ist einer der Aber bei Forschung, Entwicklung und Innovation Vorschläge zum Umbau unseres Sozialsystems. Es ist geht es im übrigen nicht nur um Geld — auch um Geld, eine Menge dran und kann dazu führen, daß wir die das gebe ich zu. Hier geht es darum, daß wir eine Beiträge senken können. Dies wird ein Beitrag dazu aufkommende Skepsis und Technikfeindlichkeit, die sein, daß wir die Lohnzusatzkosten senken können. geschürt worden ist, überwinden. Wenn Sie hier von Diebstahl sprechen, so halte ich das (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) — entschuldigen Sie bitte — für Polemik. Dabei geht es nicht nur um die Kernenergie, sondern (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — es geht da auch um die Gentechnologie, und das reicht Zurufe von der CDU/CSU: Stammtischre in die chemische Industrie hinein, die da in Frage en!) gestellt wird. Neuerdings hat man wieder einmal das -d Auto entdeckt, das zur Verteufelung freigegeben Meine Damen und Herren, der Haushalt 1994 worden ist. bereitet den Boden für eine Politik zur Standortsiche- (Widerspruch bei der SPD) rung. Ich bin sehr froh darüber, daß die Diskussion der letzten Wochen in die richtige Richtung gegangen ist, — Ich sage nicht, nur bei Ihnen, aber das gibt es bei daß eine breite Diskussion stattfindet und auch Sie, Ihnen auch, das gibt es in dieser Gesellschaft. meine Damen und Herren von der SPD, sich an dieser (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Bei uns wird Diskussion beteiligen mit einer Vielzahl von Vorschlä- das Auto nicht verteufelt!) gen, die das bestätigen, was allerdings selbst die — Ich habe eben differenzie rt gesprochen, Frau Mat- Ihnen wohlmeinende „Frankfurter Rundschau" kriti- thäus-Maier. siert hat, indem sie sagt, es bewege sich in der SPD Wenn wir da nicht weiterkommen, wenn diese mehr als genug, aber es bewege sich leider nur im Dinge nicht bei den Menschen oder bei der veröffent- Kreise. lichten Meinung in die Reihe gebracht werden, dann Es wäre doch sehr schön — ich wünsche mir das können wir noch soviel in diesem Parlament über richtig, wir wünschen uns das —, wenn von Ihnen Innovationen, über Forschung und Technologie Vorschläge in der Sache kämen. Es kommen aber reden — immer nur kritische Bemerkungen. Das ist ja nicht nur ( [CDU/CSU]: Richtig!) Ihr Recht, sondern Ihre Pflicht. Aber kommen Sie doch dann gehen wir an den Dingen vorbei. In den Köpfen einmal mit konkreten Vorschlägen, über die wir der Menschen muß dieses Unheil verhindert wer- diskutieren können, wie wir den Sozialstaat sicherer den. machen können.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Bun- desminister, der Abgeordnete Mosdorf möchte gern Womit kommen Sie denn, auch der von mir sehr eine Zwischenfrage stellen. geschätzte Herr Jens? Da werden auf der einen Seite milliardenschwere Konkjunkturprogramme gefor- Das ist die dert, obwohl gerade diese Maßnahmen in den 70er Bundesminister Dr. Günter Rexrodt: letzte Frage, die ich zulasse. Jahren außer Strohfeuern und Schuldenbergen kaum etwas hinterlassen haben. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich nehme (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) das zur Kenntnis. — Bitte schön, Herr Abgeordne- ter. Sie sprechen von der Innovationskrise und schüren gleichzeitig die Skepsis in weiten Teilen der Bevölke- rung gegenüber neuen Technologien. Dazu gehört Siegmar Mosdorf (SPD): Herr Bundesminister, sind auch Ihre pauschale, allerdings, wie ich zugeben muß, Sie erstens mit mir der Meinung, daß das Gentechnik- in letzter Zeit etwas differenzie rter gewordene Ableh- gesetz von 1990, das neueste, noch bestehende Gen- nung der Kernenergie. Das weckt bei vielen Men- technikgesetz von der damaligen Koalition aus CDU/ schen Ängste, trägt aber nicht dazu bei, daß wir die CSU und F.D.P. verabschiedet wurde? anerkannte Sicherheit deutscher Kernkraftwerke auf Teilen Sie zweitens meine Freude darüber, daß es sowjetische Bauart übertragen. uns gelungen ist, in einem Konsensverfahren vor allen Dingen mit den Kollegen der CDU aus dem For- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der schungsausschuß dafür Sorge zu tragen, daß wir noch CDU/CSU — Zurufe von der SPD) im November dieses Jahres eine gemeinsame Novel- lierung des Gentechnikgesetzes zustande bringen? Sie greifen auch Forschung und Entwicklung an. Ich bin ja gern bereit zuzugeben, daß auch ich mir den (Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Aber die Haushalt des Forschungsministers anders vorstellen Länder bremsen!) könnte. Wir haben da Sparzwängen Rechnung tragen müssen. Ich gehe aber davon aus, daß sich da noch Bundesminister Dr. Günter Rexrodt: Ich teile Ihre etwas bewegen kann. Freude; ich möchte aber darauf dringen und mir die 14868 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Bundesminister Dr. Günter Rexrodt Anregung erlauben, daß die notwendigen Verord- eingehen, die ihnen die Möglichkeit geben, Kontakt nungen und damit Umsetzungen aus der Novelle des zur Arbeitswelt zu behalten und hinzuzuverdienen. Gentechnikgesetzes schnell vorankommen und daß die Umsetzung in den jeweiligen Behörden — und das (Siegmar Mosdorf [SPD]: Was bedeutet sind Länderbehörden — möglichst schnell und unbü- das?) rokratisch vollzogen werden muß. Drittens. Wir möchten, daß ABM in einem Umfang (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) gewährt wird, daß zum einen mehr Menschen am endlichen ABM-Topf partizipieren können und zum Es hat sich manches bewegt; es kommt aber spät. anderen, daß ein Anreiz besteht — gerade in den Meine Damen und Herren, ein weiterer Punkt: der neuen Ländern —, aus AB-Maßnahmen wieder in Arbeitsmarkt. Manche von Ihnen ziehen es vor, gleich normale Arbeitsverhältnisse zu wechseln. ganz zu resignieren, wenn wir uns die bedauerliche Situation, die schlimme Situation am Arbeitsmarkt (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) ansehen, und legen nun ihr ganzes Gewicht auf den Das sind die Motivationen und die Grundlinien — sogenannten zweiten Arbeitsmarkt. Auch hier nichts anderes —, wenn es um den zweiten Arbeits- möchte ich mich bemühen, differenzie rt zu argumen- markt geht. Alles andere ist Polemik und kann nicht tieren. gelten. Ich habe dafür sehr viel Verständnis, und Ihre Motivation kann man nachvollziehen und in vielen Frau Matthäus-Maier, Sie haben einmal im Bereichen auch teilen. Wir brauchen arbeitsmarkt- Deutschlandfunk im Zusammenhang mit Fragen der politische Maßnahmen. Wir haben sie in starkem Zukunftssicherung erklärt, daß Sie es für müßig hal- Umfang im Osten Deutschlands, wir haben sie auch im ten, darüber nachzudenken, wie die Alterssicherung Westen Deutschlands, und das soll auch so bleiben. im Jahre 2030 aussieht. Sollen künftige Generationen Aber wir müssen die Kirche im Dorf lassen; denn eine etwa keine gesicherte Altersversorgung haben, nur immer stärkere Betonung des zweiten Arbeitsmarktes weil sie heute noch nicht wahlberechtigt sind? Wir birgt riesige Gefahren — vor allem die Gefahr, daß der haben verantwortungsvoll mit dem Sinn und Zweck erste Arbeitsmarkt noch mehr belastet wird, als er einen Denkanstoß gegeben, schon belastet ist. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Darf ich denn (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) jetzt eine Zwischenfrage stellen?) Was wir wollen, und das spiegelt sich in unseren die Rente — auch über kommende Generationen Einzelvorschlägen und Maßnahmen wider, ist erstens, hinaus — sicher zu machen, nicht mehr und nicht daß die Menschen, die arbeiten, mehr verdienen als weniger. jene, die keine Arbeit haben, weil ansonsten Anreize verlorengehen. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Dann gibt es einen dritten „Vorschlag" von Ihnen zu Abg. Ingrid Matthäus-Maier [SPD] meldet den Zukunftslösungen. Das ist der Vorschlag zur sich zu einer Zwischenfrage) sogenannten Industriepolitik. Ich bin da gar nicht weit von Ihnen entfernt, solange man Industriepolitik als einen sinnvollen Dialog zwischen Wi rtschaft, Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Frau Mat- Gewerkschaften und Staat definie rt . Ich meine einen thäus-Maier, ich muß Sie darauf aufmerksam machen, Dialog, in dem man Meinungen austauscht und daß der Bundesminister erklärt hat, er wolle keine Erkenntnisse mitnimmt. weiteren Fragen zulassen. Aber ich bin gegen einen Dialog oder eine Runde (Beifall bei der CDU/CSU) bzw. einen runden Tisch, der darauf hinausläuft, daß Vielleicht revidiert er seine Meinung? die Verantwortlichkeiten zwischen den großen gesell- schaftlichen Gruppen verwischt werden und daß man (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Er kann ja Absprachen darüber herbeiführt, was man produziert, seine Meinung ändern!) was man nicht produziert, was man fördert, was man — Ja, deswegen frage ich ja auch, ob er sie ändert. nicht fördert, welche Zollvereinbarung man trifft Aber offensichtlich hat er seine Meinung nicht geän- sowie welche Expo rte und Importe besonders wichtig dert. oder unwichtig sind. Das führt zu Konservierung und letztlich zu Dauersubventionierung ganzer Industrie- zweige. Eine solche Industriepolitik, die eben nicht Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister für Wirtschaft: Dialog ist, den wir wollen, sondern eine Absprache, Lassen Sie mich bitte den Gedanken zu Ende führen. die Verantwortlichkeiten verwischt, wird es mit mir Ich möchte das jetzt weiter ausführen. nicht geben. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das ist eine (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Truppe hier!) Wir haben mit unserem Standortsicherungspro- Erstens. Wir möchten, daß Menschen, die arbeiten, gramm die Weichen richtig gestellt. Jetzt kommt es mehr bekommen als jene, die keine Arbeit haben. darauf an, sie umzusetzen. Wir werden das tun. Wir Zweitens. Wir möchten, daß Leute, die keine Arbeit werden das im Bereich der Konsolidierung der öffent- haben, die Möglichkeit bekommen, im Arbeitsleben lichen Haushalte tun. Wir werden das im Bereich des zu bleiben, indem sie bestimmte Entgeltsverhältnisse Abbaus und der Umschichtung von Subventionen tun. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode - 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14869

Bundesminister Dr. Günter Rexrodt Wir werden das im Bereich der Deregu lierung und vor In nur zwölf Jahren — bis 1994 — wird die Verschul- allem der Privatisierung tun, dung des Bundes viermal so hoch sein wie 1982. (Beifall bei der F.D.P.) Mittlerweile registrieren wir 3,5 Millionen Arbeits- lose, und fast 6 Millionen Menschen suchen einen wo Bund, Länder und Gemeinden gefordert sind. Das Arbeitsplatz und finden keinen. Ich finde: Nach zwölf gilt für Länder und Gemeinden in besonderem Maße. Jahren Wirtschaftspolitik der konservativen Regie- Die Länder, die sich über ihre Landesbanken ganze rung stehen wir wirklich vor einem Scherbenhau- Industrieimperien gekauft haben und damit Industrie- fen. politik machen, wie sie sie wollen, sind gemeint. Das wollen wir nach Möglichkeit privatisieren und unse- (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ ren Beitrag dazu leisten. CSU: Ganz alter Ladenhüter! — Weitere (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Zurufe von der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, messen Sie uns an dem, Aber Herr Rexrodt ist wirklich ein guter Verkäufer; was wir in den nächsten Monaten und in den nächsten das gebe ich gern zu. Er kann also wirklich Mist Jahren umsetzen werden. Die Weichenstellungen verkaufen, und die Leute glauben, es sei Schoko- sind da. Wir werden unseren Beitrag dazu leisten,- den lade. Standort Deutschland zu sichern. Einem Dialog und Aber es ist ja nicht so, daß diese Regierung keine einem Austausch mit Ihnen, um vernünftige Lösungen wirtschaftspolitischen Leistungen erbracht hätte. Das zu finden, sind wir immer offen. wäre völlig falsch. Die Arbeitnehmereinkommen sind (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) in den letzten Jahren, in denen Sie an der Regierung waren, im Durchschnitt um 7 % gesunken, und die Unternehmereinkommen sind im Durchschnitt um Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Das Wort 6,5 % gestiegen. hat nunmehr Professor Dr. Uwe Jens. (Zuruf von der CDU/CSU)

Dr. Uwe Jens (SPD): Herr Präsident! Meine sehr Damit wurde pro Jahr eine Umverteilung von etwa verehrten Damen und Herren! Ich habe der Rede 150 Milliarden DM zugunsten der Unternehmer und aufmerksam gelauscht zu Lasten der Arbeitnehmer vollzogen. Das ist ein Skandal. (Zuruf von der CDU/CSU: Das wollen wir doch wohl annehmen!) (Beifall bei der SPD) und habe immer überlegt: Was greifst du denn nun Die Leistungsbilanz — im allgemeinen bei uns auf? Ich habe kaum etwas gefunden. traditionsgemäß mit einem Überschuß ausgestattet — (Zurufe von der CDU/CSU) ist seit 1991/92 mit jeweils fast 40 Milliarden DM tief Es waren also weitgehend alte Ladenhüter, die hier im Defizit. Auch dazu wurde von Herrn Rexrodt gar vorgetragen wurden. nichts gesagt. (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/ Das Europäische Währungssystem, früher einmal CSU) von uns allen in höchsten Tönen gelobt, ist mittler- weile wirklich zusammengebrochen. Auch daran war Da redet Herr Rexrodt wieder über die Renten im die falsche Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung Jahre 2030, und er weiß offenbar überhaupt nicht, wie nicht unschuldig. Es ist wirklich an der Zeit, die die wirtschaftliche Situation heute ist. wirtschaftspolitischen Weichen neu zu stellen. (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Das weiß er auch! — Weitere Zurufe (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ von der CDU/CSU) CSU: Deshalb ist jetzt die D-Mark die stärk ste Währung der Welt!) Ich habe beim Zuhören immer darauf gewartet, was er denn nun sagt, um die 6 Millionen Arbeitsuchenden in Aber die Bundesregierung ist selbstbewußt von unserem Lande wieder in Brot und Arbeit zu bringen. ihren Rezepten überzeugt. Das hören wir immer Aber kein Wort, Fehlanzeige! So kann man wirklich wieder. Umdenken sei angezeigt, meint der Bundes- die wirtschaftlichen Probleme in diesem Lande nicht kanzler. Jetzt kommt wohl endlich die geistig-morali- lösen, Herr Rexrodt. sche Wende, die er schon 1982 angekündigt hat. Wir ; (Beifall bei der SPD) müssen halt warten wir brauchen Geduld. Den Gürtel enger schnallen, sei das Gebot unserer Zeit. Die Löhne Diese Regierung behauptet gern, sie verstünde sollen sinken, die Arbeitszeit soll steigen. Bundes- etwas von Wirtschaft. Nach elf Jahren konservativer kanzler Kohl stellt fest: Wir haben zu lange über Regierung haben wir die höchste Staatsquote über- unsere Verhältnisse gelebt. Aber haupt. Das hat auch damit zu tun — das hat er noch gar hat gestern gesagt: In Wirklichkeit wurden wir unter nicht begriffen; das ist nämlich ein Divisor —, daß der unseren Verhältnissen regiert, meine Damen und Nenner unten kleiner geworden ist. Das Bruttosozial- Herren. produkt ist kräftig gesunken, und auch deshalb ist die Staatsquote eben gestiegen. Da frage ich mich natür- (Beifall bei der SPD) lich: Was tut er denn eigentlich, um das Bruttosozial- Dem Daimler-Benz-Chef Reuter kann man ja nicht produkt nicht so stark absinken zu lassen? Nichts tut immer zustimmen, aber in diesem Falle stimme ich er. ihm zu, wenn er feststellt: Aktionismus und Holzham- (Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.) mermethoden beherrschen die Politik, statt ruhiger 14870 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Dr. Uwe Jens Hand und nüchterner Analyse Schuldzuweisung, Ich sage Ihnen ehrlich: Um die Lohnnebenkosten zu Populismus statt überzeugender Visionen. senken, brauchen wir dringend eine Arbeitsmarktab- gabe. (Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.) (Reiner Haungs [CDU/CSU]: Das ist aber ein Wir stellen fest: Die Bundesregierung hat bei der Ladenhüter!) Vereinigung der beiden Teile Deutschlands erhebli- Wir brauchen eine stärkere steuerliche Belastung des che handwerkliche Fehler gemacht. Faktors Umwelt und auf diese Art und Weise zweitens (Beifall bei der SPD) eine Entlastung des Faktors Arbeit. (Rainer Haungs [CDU/CSU]: Und der Unter Den weltwirtschaftlichen Herausforderungen, die seit nehmer!) Mitte der 70er Jahre sichtbar waren, wurde im großen und ganzen durch ideologische Sprüche begegnet, Wir sollten auch über die Einführung einer We rt und ansonsten: „Weiter so!" Die Krise schrie bereits -schöpfungsabgabe nachdenken, um arbeitsintensive zum Himmel. Die konjunkturelle Depression trifft uns Betriebe zu entlasten, später und härter als andere Länder, zum Teil ver- - (Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Das ist schärft diese Bundesregierung durch ihre Politik die auch ein alter Hut!) allgemeine wirtschaftliche Lage. und wir benötigen eine Stabilisierung der Ausgaben Die Regierung will den Standort Deutschland im für die Krankenversicherung. Jahre 2000 aus meiner Sicht mit den Rezepten der 80er Jahre sichern, alles schon einmal dagewesen. Das Alles dies — Vorschläge der Sozialdemokraten — kann nichts werden. Über einzelne Vorschläge, Herr würde helfen, die Lohnnebenkosten zu senken. Rexrodt, können Sie mit mir durchaus reden. Aber wer (Dr. [CDU/CSU]: Steuererhö behauptet, in der dargelegten A rt und Weise würde hung!) das Problem der Massenarbeitslosigkeit in unserem Lande verringert, der ist ein Scharlatan. Ich schätze, daß auf diese Art und Weise 150 000 bis 200 000 Arbeitsplätze in der privaten Wirtschaft (Beifall bei der SPD) zusätzlich geschaffen werden können. Insofern ist dieses Papier über den Standort Deutsch- (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Wegfal land ein gut durchdachtes Manöver der Regierung zur len!) Ablenkung von den eigentlichen Problemen, mit Wir Sozialdemokraten haben grundsätzlich auch denen wir zu kämpfen haben. Ich finde, es wäre an der nichts gegen Deregulierung, Privatisierung, Subven- Zeit, zunächst einmal die richtigen Fragen zu stellen, tionsabbau. bevor man sich in Antworten versucht. (Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Neue Glauben Sie mir gerne, auch wir meinen, die Töne!) Lohnnebenkosten müssen beachtet werden; sie sind — Ich will meine Zeit nicht überstrapazieren. Wir ein Problem für unsere wi rtschaftliche Entwicklung. haben gegen die verrückte Änderung des UWG, des Die Lohnnebenkosten sind zum Teil wegen Milliar- Gesetzes gegen unlauteren Wettbewerb, votiert, als, denbelastungen der Renten- und der Arbeitslosenver- Frau Sehn, Ihre Partei diese Verschärfung mitgemacht sicherung aus politischen Gründen von dieser Regie- hat, die Sie jetzt, Herr Rexrodt, wieder abschaffen rung unverantwo rtlich in die Höhe getrieben worden. wollen, so habe ich wenigstens gelesen. Es ist eine Das ist ein Faktum. perverse Situation. Denken Sie wirklich einmal dar- (Beifall bei der SPD) über nach! — Es sind aber Schlagworte, die mit Leben erfüllt werden müssen. Wer aber glaubt, etwa wie Ich füge auch hinzu — passen Sie vielleicht einmal Herr Rexrodt, mit der Abschaffung des Rabattgesetzes auf, Sie können noch dazulernen! — : Wenn es uns oder — völlig verrückt — der Privatisierung der gelänge, die Lohnzusatzkosten um nur 10 % zu sen- Autobahn oder der zeitlichen Befristung von neuen ken — das wäre schon ein großer Erfolg — ich kann Subventionen würden die Probleme der Gegenwart Ihnen das privatissime vielleicht hinterher noch ein- gelöst, der ist völlig auf dem Holzweg. mal erklären, Frau Wülfing —, würde das bedeuten, (Beifall bei der SPD) daß die gesamten Kosten eines Unternehmens um vielleicht 1 % gesenkt werden. Sie haben aber durch Auf diese Weise werden keine neuen Arbeitsplätze Hinnahme der Aufwertung der D-Mark im europäi- geschaffen, werden die langfristigen Strukturpro- schen Maßstab oder sogar im Dollarraum dafür bleme der Wirtschaft nicht verringert. gesorgt, daß die Preise der deutschen Exporteure in Meine Damen und Herren, nicht die Verlängerung Europa um mindestens 10 % und die Preise der der Arbeitszeit oder die Senkung der Löhne sind die Europäer im Dollarraum um mindestens 20 % erhöht entscheidenden Maßnahmen zur Lösung unserer wurden. Dagegen kann man überhaupt nicht ankür- Zukunftsprobleme; die Probleme der Zukunft lösen zen, soviel Kürzungen wären völlig unakzeptabel, wir vielmehr nur, wenn es gelingt, die Dynamik der weil sie den Konsens in unserer Gesellschaft kaputt- Wirtschaft zu erhöhen, und nicht, wenn wir die machen würden. Das machen wir nicht mit, meine Lethargie fördern. Wir brauchen Innovation durch Damen und Herren. mehr Kooperation. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14871

Dr. Uwe Jens Wir brauchen mehr Risikobereitschaft in den Unter- Die Bundesregierung hat die Weichen auf diesem nehmen. Wir brauchen neue Produkte, neue Produk- Feld falsch gestellt. Durch eine konsequente Forcie- tionsprozesse und die Erschließung neuer Märkte, rung des Umweltschutzes in der Wirtschaft könnten auch in Südostasien, was bisher zum Teil durch Ihre noch einmal 700 000, vielleicht auch 800 000 neue unverantwortliche angebotsorientierte Politik ver- Arbeitsplätze geschaffen werden. Fangen wir doch schlafen wurde, die dazu geführt hat, daß die Unter- endlich damit an! nehmer schlafen können. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD — Dr. Hermann Otto Wir brauchen drittens eine vernünftige Politik für Solms [F.D.P.]: Wie wollen Sie die Nachfrage kleine und mittlere Unternehmen; denn hier werden in Südostasien stärken?) zukunftsträchtige Investitionen getätigt und neue Die schlanke Produktion — ich würde lieber von Arbeitsplätze geschaffen. Das Wi rtschaftsministerium „weak production'' sprechen — allein wird die deut- muß seine ideologischen Scheuklappen endlich able- sche Wirtschaft nicht wieder an die Spitze bringen. Es gen und bereit sein, die Umsetzung des technischen gibt nur die Möglichkeit, neue, zukunftsträchtige Fortschritts in marktgängige Produkte in diesem Arbeitsplätze zu schaffen und ausländische- Konkur- Bereich verstärkt zu unterstützen. Doch die Bundesre- renten abzuwehren. Wir brauchen also verstärkte gierung hat die Lohnkostenzuschüsse für Forschung Innovationen. und Entwicklung und auch die Existenzgründungshil- fen in den alten Bundesländern radikal zusammenge- (Zurufe von der CDU/CSU) strichen. Diese Politik ist unverständlich. Sie paßt — Passen Sie einmal auf. Ich kann es nicht ausführlich überhaupt nicht in die augenblickliche wirtschaftliche erklären; die Zeit läuft mir sonst weg. Ich will Ihnen ein Landschaft. paar Vorschläge vortragen; Sie haben es ja eingefor- (Beifall bei der SPD) dert, Herr Rexrodt. Wir brauchen viertens auch eine neue Außenwirt- Wir benötigen aus meiner Sicht erstens verstärkt schaftspolitik. Über die Probleme, die mit der Aufwer- eine zukunftsorientierte Strukturpolitik. Wir haben tung der D-Mark verbunden sind, habe ich bereits sie ja immer betrieben; Forschungs- und Technologie- gesprochen; wenigstens habe ich einige Anmerkun- politik war zukunftsorientierte Strukturpolitik. Aber gen dazu gemacht. Aber was tut diese Bundesregie- sie war leider völlig falsch. Wir benötigen eine Umge- rung eigentlich, um die Wechselkurse in Europa oder staltung der Forschungs- und Technologiepolitik. weltweit stärker zu stabilisieren? Notwendig sind bessere, gesamtwirtschaftlich orien- tierte Entscheidungen. Daran hat es gehapert. Wir (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Wie brauchen die Erarbeitung von Visionen; wir brauchen machen Sie das denn? Sagen Sie mal!) kein MITI, aber die Erarbeitung von Visionen. Not- Von Ihren Initiativen habe ich wirklich überhaupt wendig sind auch mehr Kooperation in der Forschung noch nichts gehört. Was hat die Bundesregierung und Entwicklung, aber natürlich anschließend auch denn bisher unternommen, um Sozial- und Umwelt- Wettbewerb auf den Märkten. dumping in anderen Ländern zu verhindern? Hierbei Aber was tut die Bundesregierung? Sie hat die geht es keinesfalls um zusätzlichen Protektionismus, Abschreibungsmöglichkeiten für Forschung und Ent- Graf Lambsdorff, wie Sie immer meinen und wie wicklung beseitigt. Ein eklatanter Fehler! Die Bun- einige behaupten. Das ist doch völliger Quatsch. desregierung hat die Mittel für Forschung und Ent- Hierbei geht es um die Abstellung eklatanter Miß- wicklung in ihrer Regierungszeit erheblich gekürzt, stände im sozialen und ökologischen Bereich, und nämlich real um 35 %. Eine völlig verfehlte Politik, zwar nicht nur bei uns, sondern weltweit. Das ist meine Damen und Herren! dringend geboten. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Von einem Abschluß der GATT-Verhandlungen Wir benötigen zweitens ein umweltgerechtes Steu- noch in diesem Jahr könnte ein positives Zeichen für ersystem. Fangen Sie doch endlich damit an, wenn die weltwirtschaftliche Entwicklung ausgehen, aber auch Sie dieses wollen. Wo bleiben denn Ihre konkre- die Bundesregierung erschwert den Abschluß durch ten Vorschläge? unverantwortliches öffentliches Gerede. Ich habe (Beifall bei der SPD) diese Bundesregierung langsam im Verdacht, daß sie Der weltweite Wettlauf um Steuersenkungen muß den Abschluß der GATT-Verhandlungen überhaupt nicht mehr anstrebt. endlich beendet werden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Wider (Zustimmung bei der SPD) spruch bei der CDU/CSU — Zuruf von der Durch eine ökologische Steuerreform wäre die CDU/CSU: Das war jetzt ganz schwach!) Umweltbelastung stärker zu besteuern. Dafür müßte Die Bundesregierung beginnt jetzt, nach über zehn der Faktor Arbeit entlastet werden. Beim neuen Steu- Jahren Regierungszeit, den Standort Deutschland zu ersystem geht es aber auch darum, daß jemand, der einem Problem zu erklären. Ich habe dargelegt, was investiert, weniger Steuern bezahlt, und daß derje- wir primär machen würden, um die Probleme zu nige, der konsumiert, keine weiteren, zusätzlichen verringern. Ich kann das gerne ausführlicher tun, aber Steuerentlastungen bekommt. die Zeit reicht nicht aus. Man fragt sich: Wo waren Sie (Friedhelm Ost [CDU/CSU]: Das trifft doch denn eigentlich in den vergangenen Jahren? Der die kleinen Leute!) Bundeswirtschaftsminister listet in der Tat die verpaß- 14872 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Dr. Uwe Jens ten Gelegenheiten auf, die die F.D.P. in 20 Jahren und mangels eines Finanzierungsvorschlags für die Verantwortung für die Wirtschaftspolitik hatte. Zeit nach 1995 der Steinkohle jetzt jede Zukunftsper- (Beifall bei der SPD) spektive nehmen? Es ist übrigens völlig neu in der Politik, meine Damen (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Wart's und Herren, selbst in der Regierung zu sein und doch ab!) gleichzeitig eine Sonthofen-Strategie zu propagieren. Ich warne Sie, meine Damen und Herren: An den Das ist in der Tat hervorragend. Demonstrationen an Rhein und Ruhr ist schon einmal (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Zuruf ein Kanzler gescheitert. Ich warne Sie vor einem von der SPD: Sehr glaubwürdig vor allem!) heißen Herbst, diesmal an Ruhr und Saar, wenn Sie die kohlepolitische Vereinbarung von 1991 nicht Meine Damen und Herren, der bekannte Soziologe einhalten sollten. Ulrich Beck hat einmal festgestellt, (Beifall bei der SPD) (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Wie heißt der? — Heiterkeit bei der CDU/CSU und der Im Stahlbereich wird die Situation von Tag zu Tag F.D.P.) - schlimmer. Alle Stahlunternehmen zusammen schrei- ben tagtäglich Verluste von 3 bis 4 Millionen DM. Hier — Herr Hinsken, Sie sollten Ihre Informationen von hat jedoch nicht der Markt, hier haben die Politiker Zeit zu Zeit auch einmal durch Lesen aufnehmen, versagt. Sie haben mittlerweile Subventionen von nicht nur durch Zuhören; es wäre schön, wenn Sie das 130 Milliarden DM in Europa genehmigt, und die schaffen würden, deutsche Stahlindustrie hat kaum etwas abbekom- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Jetzt sagen Sie men. Das ist ein Faktum, mal, was der gesagt hat!) (Zuruf des Abg. Friedhelm Ost [CDU/ daß der Individualismus keine Einzelerscheinung CSU]) mehr ist, sondern ein Massenphänomen. Der Indivi- aber Bundeswirtschaftsminister Rexrodt lächelt. Er dualismus in unserer Gesellschaft nimmt immer mehr lächelt und lächelt. Die Wirtschaft wird ja bekanntlich zu und hat mittlerweile beängstigende Ausmaße in der Wirtschaft gemacht, wie Herr Rexrodt meint. angenommen. Nun kann man der Hoffnung anhän- gen, daß aus dem zunehmenden Chaos in unserer (Zurufe von der CDU/CSU) Gesellschaft irgendwann wieder die Ordnung er- Wir brauchen dringend eine einheitliche deutsche wächst. Solche Theo rien gibt es. Ob und wann dies Position, um in Brüssel nicht über den Tisch gezogen allerdings geschieht, weiß keiner. Was man jedoch zu werden. weiß: Die Bundesregierung hat durch ihre Politik den (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Individualismus und damit das Chaos in unserer DIE GRÜNEN) Gesellschaft gewaltig befördert. Wir brauchen eine nationale Stahlkonferenz. Wenn (Beifall bei der SPD) wir diesen Wirtschaftsminister unvorbereitet nach Mir läuft ein Schauer über den Rücken, wenn ich Brüssel ziehen lassen wird er schuldig an dem zusätz- daran denke, wie die Scheidungsraten oder die Mas- lichen Abbau von 10 000 bis 20 000 Arbeitsplätzen senkriminalität in unserer Gesellschaft in der letzten allein in der Bundesrepublik Deutschland. Zeit gestiegen sind. Wir werden die Probleme der (Beifall bei der SPD) Zukunft nicht lösen, indem wir diesen Trend noch verstärken. Meine Zeit ist abgelaufen, (Zuruf von der F.D.P.: Nein, Sie nicht!) (Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl!) Ich glaube, die Weichen müssen neu gestellt wer- wenigstens hier am Rednerpult. Ich wollte Ihnen noch den. Wir benötigen — ich wiederhole — zukunftswei- sagen, was kurzfristig gemacht würde, wenn wir an sende Visionen, wir benötigen mehr Kooperation, wir der Regierung wären. Das kann ich leider nicht benötigen mehr Gemeinsinn und keine Ausweitung mehr. der Ellenbogengesellschaft. (Lachen bei der CDU/CSU — Zuruf von der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ CDU/CSU: Das glaube ich!) DIE GRÜNEN) Wir würden eine vernünftigere Politik als Sie betrei- Erlauben Sie mir noch ein Wort zur Energiepolitik. ben. Ich bedauere, daß die Bundesregierung bis heute bei Die heutige Haushaltsdebatte zeigt leider wieder, den Energiekonsensgesprächen alle Vorschläge der daß im Regierungslager weder Einsicht, geschweige SPD zum verstärkten Energiesparen in Indust rie, denn Umkehr zu erwarten ist. Verkehr und Gebäuden, zum Ausbau der Kraft- Wärme-Kopplung und für Solarenergie abgelehnt hat. (Zuruf von der F.D.P.: Aber die Stimmung ist Wie wollen Sie mit uns zu einem Konsens kommen, gut!) wenn Sie sich dem ökologisch gebotenen Struktur- Die Folgen einer solchen Politik hat vor kurzem ein wandel im Energiesektor auf diese A rt und Weise Wirtschaftsforschungsinstitut sehr plastisch beschrie- verschließen? Wie wollen Sie mit uns zu einem Kon- ben: sens kommen, wenn Sie nicht einmal Ihre Zusagen Am Ende dieser Politik, die zur Zeit von dieser aus der Kohlerunde 1991 einhalten Regierung im wirtschaftspolitischen Bereich be (Beifall bei der SPD) trieben wird, können wir alle verloren haben. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14873

Dr. Uwe Jens Selbst die Interessenve rtreter werden von einer Welt beneidet, das allüberall in der Welt kopiert wird. falschen Wirtschaftspolitik nicht profitieren. Wir müssen sehr achtgeben, daß wir nicht Tendenzen Ich bin davon überzeugt, die Bürgerinnen und Bürger folgen, die Sie uns schon in den 70er Jahren aufdrän- in unserem Land werden das erkennen. Sie werden gen wollten und die das Berufsbildungssystem ver- erkennen, daß diesmal die Sozialdemokraten die wässern würden. besseren Rezepte haben, Wir haben ein Sozialsystem, das materiell gegen die (Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Risiken des Lebens absichert: Krankheit, Unfall, um die kurz- und mittelfristigen Probleme in der Arbeitslosigkeit. Wir wollen jetzt mit dem Pflegever- Wirtschaft zu lösen. sicherungsgesetz das Risiko der Pflege zumindest materiell absichern. Ich hoffe, daß wir dabei mit Ihnen Schönen Dank. zu einer Einigung kommen. (Beifall bei der SPD) Wir haben eine hervorragende Wirtschafts- und Unternehmensstruktur: große, kleine und mittlere Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile Unternehmen, einen kräftigen Mittelstand. Wir haben nunmehr dem Abgeordneten Kurt Rossmanith das eine hervorragende Indust rie und ein hochqualifizier- Wort . tes Handwerk. Darauf müssen wir bauen. Hier müssen wir, Politik und Wirtschaft, gemeinsam nach Lösungs- möglichkeiten suchen, hier müssen wir Ziele mit Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Herr Präsident! vorgeben. Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Professor Jens, eines muß man Ihnen lassen: Ich glaube — es wäre unehrlich, das nicht anzuspre- Ihre Ehrlichkeit. Sie haben am Schluß gesagt, an sich chen; das ist ein ganz wesentlicher Punkt und für mich hätten Sie während Ihrer Rede etwas über die wi rt das Kernproblem der Standortdiskussion —, daß die -schaftspolitischen Vorstellungen der SPD sagen sol- Ansprüche in den vergangenen Jahren in Deutsch- len, aber Sie könnten es nicht. Das ist richtig. Das liegt land stärker und schneller gestiegen sind als die nicht an Ihren Fähigkeiten, sondern daran, daß die Leistung, die wir erbringen konnten. Das gilt sicher- SPD keine Vorstellungen hat. Ich glaube jedoch, daß lich nicht nur für Gewerkschaften und Unternehmen, wir uns wenigstens darin einig sind, daß jetzt die sondern das gilt auch einen Gutteil für uns Politi- Diskussion über den Wirtschaftsstandort Deutschland ker. Deshalb müssen wir sagen, daß die Standortpro- geführt werden muß und daß wir nicht nur Fragen bleme, vor denen wir heute stehen, nicht allein durch stellen sollten, sondern daß auf diese Fragen auch die Einheit verursacht sind. Allerdings ist es keine Antworten erforderlich sind. Wir haben versucht, sie Frage, daß eine Volkswirtschaft öffentliche Transfers jetzt mit zu geben. Deshalb diese Diskussion und in Höhe von rund 120 bis 140 Milliarden DM pro Jahr deshalb auch diese Auseinandersetzung im Rahmen von den alten Bundesländern in die neuen Bundeslän- der ersten Lesung des Haushalts 1994. der zunächst einmal zu verkraften hat. Das ist mit ein Es ist nicht zu leugnen, daß wir uns im Moment in Grund für die Schuldensituation, in der wir uns einer schwierigen wirtschaftlichen Situation befinden befinden. und daß der Aufbau und die Integration der neuen Herr Professor Jens, von einer Verschuldung des Bundesländer die gewaltige Aufgabe schlechthin für in Höhe von 1,2 Billionen DM Ende nächsten uns darstellen. Diese Aufgabe kann nur dann bewäl- Bundes Jahres sind wir Gott sei Dank noch weit entfernt. Ich tigt werden, wenn die momentane wirtschaftliche bin froh darüber, daß diese Zahl so nicht zutrifft. Phase überwunden wird und wenn wir wieder zukunftsgewandt und mit Zukunftsaussichten im wi rt Ich bin andererseits natürlich alles andere als -schaftlichen Bereich — die im Wachstum liegen — erfreut über die Tatsache, daß wir eine so hohe operieren und argumentieren können. Verschuldung haben und in diesem Jahr möglicher- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) weise wieder an die Grenze von 67,5 Milliarden DM Dennoch ist die jetzige schwierige Situation, die bei der Nettoneuverschuldung des Bundes kommen niemand leugnet, noch lange kein Grund, eine werden. In der mittelfristigen Finanzplanung ist eine immense Krise an die Wand zu malen, wie Sie, Herr Reduzierung dieser Neuverschuldung auf eine Professor Jens, das zu tun versucht haben. Gerade die Summe deutlich unter 40 Milliarden DM vorgesehen. Punkte außerhalb des wi rtschaftspolitischen Teils, die Ich bin überzeugt, daß wir das schaffen werden. Es Sie angesprochen haben, zeigen auf, daß wir mit wird in den Haushaltsberatungen logischerweise mit einem Horrorszenario die Leute nicht nur verunsi- eine Aufgabe der Haushälter sein, diese Summe von chern, sondern geradezu zum Individualismus beitra- 67,5 Milliarden DM etwas zu senken. Das wird gen, zu den ganzen gesellschaftlichen Problemen, die schwierig genug sein. Sie haben die Positionspunkte Sie dargestellt haben. Deshalb fordere ich Sie und Ihre aufgezeigt. gesamte Partei auf, mit uns gemeinsam zu versuchen, Worauf kommt es jetzt bei der Standortdiskussion den Konsens zu finden, keine Schwarzweißmalerei zu eigentlich an? Was brauchen wir im Blick auf die betreiben, sondern konkrete Lösungen anzustreben. Zukunft? Ich glaube, es kommt jetzt vor allem darauf Das bedeutet auch, darzustellen, welche Stärken der an, daß wir den privaten Investitionen optimale Wirtschaftsstandort Deutschland hat. Entfaltungsmöglichkeiten eröffnen. Das schaffen wir Wir haben eine voll ausgebaute Infrastruktur und nicht, indem wir eine Arbeitsmarktabgabe fordern, ein hervorragendes Kommunikationssystem. Wir ha- indem wir weitere Steuern fordern, indem wir eine ben ein Berufsbildungssystem, um das uns die ganze Wertschöpfungsabgabe und dergleichen fordern. 14874 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Kurt J. Rossmanith Sie von der SPD haben hinsichtlich der Erfindung Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): Herr Präsident! neuer Steuern und Abgaben eine unbegrenzte Fähig- Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Eine keit. Hier sind Sie wirklich enorm erfinderisch. Sie Schwalbe macht noch keinen Sommer, und eine haben keine Probleme, den Bürger mit immer neuen Konjunkturschwalbe auch nicht. Wir freuen uns über Schreckgespenstern oder tatsächlichen Steuererhö- einen Anstieg von 0,5 % des Bruttoinlandprodukts im hungen zu verprellen. zweiten Quartal dieses Jahres. Wir sind in der Tat (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) bescheiden geworden. Aber so bescheiden, Herr Jens, wie Sie es vorgetragen haben, sind wir denn doch Wir müssen verläßliche Rahmenbedingungen nicht. Daß das Bruttosozialprodukt in den elf Jahren schaffen; das ist Aufgabe der Politik. Wir müssen dieser Regierung gesunken sei, ist schlichter Unsinn. möglichst rasch überzogene Regulierungen abbauen. Von 1983 bis 1992 ist das Bruttosozialprodukt in Wir haben das, was die Deregulierungskommission Deutschland West um 28,8 % real gestiegen. erarbeitet hat, sehr rasch umzusetzen. Wir müssen uns staatlicherseits überall do rt zurückziehen, wo private (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Real!) Lösungen wirtschaftlicher sind. Das trifft nicht nur auf Ich sagte, meine Damen und Herren: Wir sind den Bund oder die Länder, sondern in besonderem bescheiden geworden. Wären wir das doch auch bei Maße auch auf die Kommunen zu. unseren Ansprüchen an eben dieses Bruttosozialpro- Schließlich geht es meines Erachtens auch darum, dukt. das Bewußtsein für mehr Eigenverantwortung und (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Gemeinsinn auf allen Ebenen und bei allen Beteilig- Es gibt ein neues Buch, das ich uns zur Diskussion und ten wieder besser auszuprägen. Ich sage das auch zum Studium empfehle, unseres früheren Kollegen ganz deutlich im Hinblick auf die Tarifpartner. Hier Rolf Böhme — jetzt Oberbürgermeister in Freiburg — spreche ich Arbeitgeber und Arbeitnehmer mit an. mit der wundervollen Überschrift „Je mehr wir haben, Herr Professor Jens, Sie haben die Lohnzusatzko- desto mehr haben wir zu wenig". Das ist die Grund- sten als wesentlich mit angeführt. Hier muß man haltung bei vielen im Lande. allerdings sehen, daß etwa zwei Drittel der Lohnzu- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) satzkosten tarifvertraglich geregelt sind. Nur etwa ein Drittel der Lohnzusatzkosten beruht auf Gesetzen. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Graf (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So ist es!) Lambsdorff, der Abgeordnete Professor Jens möchte Von der Wirtschafts- und Finanzpolitik erwarte ich eine Zwischenfrage stellen. Sind Sie bereit, dieselbe deshalb in dieser Situation eine Doppelstrategie, die zu beantworten? wir anstreben und die wir aufgezeigt haben, insbeson- dere auch im Standortsicherungspapier, das Bundes- Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): Ich kenne Ihre kanzler Kohl, Finanzminister Waigel und Bundesmi- Großzügigkeit, daß Sie mir das nicht auf meine nister Rexrodt vorgelegt haben. Ich glaube, daß sich Redezeit anrechnen. Deswegen, bitte sehr. dieses Papier jetzt sehr gut einfügt und Rücksicht nimmt auf den Entwurf des Bundeshaushalts 1994, der Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Sie unter- uns logischerweise einen starken Konsolidierungs- stellen das zu Recht. Bitte sehr. druck abverlangt. Ich denke, daß dieser Sparkurs nicht nur erforderlich ist, sondern auch vor großen Dr. Uwe Jens (SPD): Graf Lambsdorff, können Sie Subventionshaushalten nicht haltmachen darf. Wir mir erklären, warum Sie die Ansprüche an das haben ja bereits in diesem Entwurf für 1994 gerade bei gewachsene Bruttosozialprodukt jetzt eigentlich kräf- den großen Subventionsempfängern deutliche Abstri- tig herunterschrauben wollen? Wäre es nicht viel che gemacht. sinnvoller, wir verwenden alle unsere Energie darauf, Sparen ist eine Seite der Medai lle; aber auch das daß das Bruttosozialprodukt wieder wächst, und daß Wirtschaftswachstum muß wieder entsprechend ge- wir Investitionen und Innovationen fördern, um die fördert werden. Wir haben von der politischen Seite Probleme, die wir zweifellos weltweit haben — aber einen ganz wesentlichen Beitrag dadurch zu leisten, schon seit den 70er Jahren —, besser lösen zu kön- daß wir dieses Paket, das wir in dem Standortsiche- nen? rungsbericht dargestellt haben, auch entsprechend umsetzen und in der Wirtschaft und bei den übrigen Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): Ich denke, Herr Beteiligten, also bei den Tarifpartnern, entsprechend Jens, wir müssen beides tun. Hoffentlich sehen es alle verankern. so bei Ihnen, meine Damen und Herren, daß wir Dies fordert sicherlich Entschlossenheit, aber auch Wachstum brauchen. Konsensbereitschaft. Wir von der Koalition werden (Beifall des Abg. Kurt J. Rossmanith [CDU/ uns dieser Aufgabe stellen — wirtschaftspolitisch CSU]) insgesamt in die Zukunft gerichtet, aber insbesondere Wir müssen allerdings die konsumtiven Ansprüche jetzt natürlich auch bei den Beratungen dieses Haus- an das Bruttosozialprodukt zurückführen, um für inve- halts 1994. stive Möglichkeiten mehr Raum zu lassen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, die F.D.P. warnt. Glaube Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile keiner, daß wir bald mit Erleichterungen auf dem nunmehr dem Abgeordneten Dr. Otto Graf Lambs- Arbeitsmarkt rechnen können. Er folgt der konjunk- dorff das Wort . turellen Erholung immer mit großer Verzögerung. Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14875

Dr. Otto Graf Lambsdorff Jede Rezession hinterläßt leider einen höheren Sockel Aber ein zusätzliches Zukunftsinvestitionspro- von Dauerarbeitslosigkeit. Glaube keiner, die kon- gramm z. B. nach dem Stabilitäts- und Wachstumsge- junkturelle Besserung entbinde uns von der Aufgabe, setz würde die Nettokreditaufnahme des Staates wei- unsere strukturellen Schwächen zu bereinigen. Die ter erhöhen. Aufgabe Standortsicherung bleibt — für den Staat, für (Dr. Uwe Jens [SPD]: Sie haben es überhaupt die Unternehmen und für die Gewerkschaften. Kaum nicht gelesen!) eines der Probleme ist bisher wirklich gelöst. Glaube keiner, wir könnten uns schon wieder neue Belastun- Die öffentliche Neuverschuldung überstiege endgül- gen leisten. tig die inländische Ersparnis. Die Zinszahlung der öffentlichen Haushalte würde weiter in die Höhe Reimen sich eigentlich unvermeidliche Kürzungen getrieben. — ich sage: unvermeidliche — im Sozialbereich und Schon bei jetziger Planung dürfte die Zinslastquote die gleichzeitige Einführung der umlagefinanzierten 1995 zwischen 15 und 20 % liegen. Der künftige Pflegeversicherung? Reimen sich die Schwierigkeiten Spielraum für gestaltende Politik würde rapide sin- des deutschen Exports und die Gefährdung der Uru- ken. Gleichzeitig würden p rivate Investoren durch guay-Runde des GATT? Reimen sich Entlassungen in überhöhte Zinsen zurückgedrängt. der Automobilindustrie, bedenkliche Gefährdungen Aus der Sicht der F.D.P. gibt es zur der mittelständischen Zulieferindustrie und Rede- Konsolidierung keine Alternative. Wer den Versuch, solide Finanzen reien über einen Benzinpreis von 5 DM pro Liter? wiederherzustellen, aufgibt, der nimmt bewußt die Das sind alles Fragen, die unbequem sind und hier Gefährdung der Kapitalmärkte und der Währung in auch keinen Beifall erzeugen. Das verstehe ich sehr Kauf. wohl. Aber wir müssen unsere Politik und unsere (Abg. Dr. Uwe Jens [SPD] meldet sich zu Aussage auf einen gemeinsamen Nenner bringen, der einer Zwischenfrage) stimmen muß. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Graf Die wirtschaftliche Situation insgesamt ist weiterhin Lambsdorff, Entschuldigung, wenn ich unterbreche. durch erhebliche Anpassungsschwierigkeiten ge- kennzeichnet. Die westdeutsche Rezession belastet Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): Sofort. — Die den Aufholprozeß in den neuen Bundesländern demotivierende Wirkung unsolider Haushaltspolitik zusätzlich. auf Investoren wird häufig genug verkannt. Wer Vertrauen in- und ausländischer Investoren gewinnen In den 70er Jahren schien die Antwort auf solche will, der muß einen konsequenten, verläßlichen Kon- wirtschaftlichen Schwierigkeiten recht einfach: Man solidierungskurs fahren. hätte Steuersenkungen oder ein Nachfrageprogramm Der Finanzminister sagt uns, wenn die Konjunktur vorgeschlagen. Antizyklische Konjunkturpolitik hieß schlechter verlaufe, könne sich nur die Verschuldung das Stichwort. erhöhen. Er baut also vor. Genau diese Rezepte der 70er Jahre, Herr Jens, Die Vorhersagen der nationalen und internationa- fallen jetzt der SPD ein, natürlich ohne Steuersenkun- len Konjunkturforschungsinstitute sprechen eigent- gen. Im Gegenteil: Herr Jens will Steuer- und Abga- lich alle dafür, daß das Spar-, Konsolidierungs- und benerhöhungen. Er spricht davon, der weltweite Wachstumsförderungsprogramm eher zu kurz ge- Wettlauf um Steuersenkungen sollte beendet werden. sprungen sein könnte. Die vorgeschlagene Einspa- Wir sind im weltweiten Wettlauf um Steuererhöhun- rung ist das Minimum dessen, was wir vornehmen gen an der Spitze, leider nicht im Wettlauf um müssen. Der Kollege Weng hat das gestern für die Steuersenkungen. F.D.P. bekräftigt. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Ihr Antrag, Herr Jens, mit aktiver Wi rtschaftspolitik — Herr Jens, Entschuldigung. — so heißt er ja — im EG-Gleichklang die Rezession zu bekämpfen und langfristige Zukunftssignale zu set- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Bitte zen, verlangt eine Konjunkturinitiative und ein schön, Herr Jens. Zukunftsinvestitionsprogramm. Sehen Sie eigentlich nicht, daß schon seit Jahren ein Dr. Uwe Jens (SPD): Graf Lambsdorff, ich glaube, groß dimensioniertes Nachfrageprogramm bei uns Sie haben das Zukunftsinvestitionsprogramm der läuft? 1993 werden über 180 Milliarden DM als Sozialdemokraten nicht gelesen. Sie haben selber Transfers in die neuen Länder fließen, als Investitions- eben davon gesprochen, daß es sinnvoll ist, konsum- förderung und als soziale Flankierung der Umstruktu- tive Ausgaben zu kürzen und investive zu erhöhen. rierung. Diese Transfers sind unerläßlich, um den Können Sie sich vielleicht auch vorstellen, daß dies im Aufbau Ost rasch voranzutreiben. Aber sie bedeuten privaten Sektor sinnvoll wäre, daß wir durch die auch zusätzliche Nachfrage im Westen. Einführung einer Energiesteuer konsumtive Ausga- ben senken und dieses Geld benutzen, um dringend Es sei dem Westen noch einmal gesagt: Es kann ihm notwendige ökologische Ausgaben in den neuen auf Dauer nicht gutgehen, wenn es dem Osten auf Bundesländern, die auch einen investiven Charakter Dauer schlechtgeht. Deswegen müssen wir zu diesen haben, auf diese Weise zu finanzieren? Können Sie Leistungen auch weiterhin bereit sein. sich das vorstellen? (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD) 14876 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): Verehrter Herr länder ist und nicht auf Westdeutschland übertragen Jens, erstens: Ich pflege sorgfältig zu lesen, bevor ich werden soll, über etwas rede. Das gilt vor allen Dingen für das, was (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das ist Sie sagen — Sie sind der wirtschaftspolitische Spre- falsch!) cher, und wir sind gelegentlich Kontrahenten —; also lese ich das. den Solidarzuschlag zu befristen und die Abschaffung der Gewerbesteuer als Ziel zu nennen. Was Sie in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vor einigen Monaten zur Industriepolitik gesagt (Beifall bei der F.D.P.) haben, war hochvernünftig. Was Sie heute hier dazu Wichtig ist nun, daß sich die Bundesregierung nicht gesagt haben, war ebenso unvernünftig. Das wider- nur am Vorspruch des Berichts ergötzt; er ist sehr spricht sich auch noch. eingängig, man liest ihn gerne; das harte Holz kommt hinterher. Es muß jetzt gehandelt werden. Die F.D.P. Zweitens: Sie haben u. a. den Weg ins 21. Jahrhun- wird darauf drängen, daß noch in dieser Legislaturpe- dert von Jacques Delors dahin gehend gelobt, er habe riode Maßnahmen umgesetzt werden. praktisch Ihr Programm abgeschrieben. Die sind beide schlecht und beide falsch. - Über manche dieser Maßnahmen diskutieren wir schon seit mehr als zehn Jahren: Abschaffung des Drittens: Es fällt Ihnen immer nur ein, über neue Vermittlungsmonopols der Bundesanstalt für Arbeit, Steuern irgendwelche wi rtschaftspolitischen Maß- Regelung für die Ausnahmebereiche im Kartellrecht, nahmen einzuleiten, anstatt durch Umschichtung, Neuregelung der Arbeitszeitordnung, Privatisierung d. h. Konsolidierung und Einsparen in richtigen Berei- der Post usw. chen und Umschichtung auf die anderen Bereiche, Politik zu betreiben. (Dr. [F.D.P.]: Öffnungs klausel!) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Es bewegt sich nichts in diesem Lande, und das ist Am 2. September 1993 hat das Bundeskabinett den eines unserer großen Probleme. von Bundeswirtschaftsminister Rexrodt vorgelegten (Dr. Uwe Jens [SPD]: Waren nicht auch Sie Bericht zur Zukunftssicherung des Wirtschaftsstand- einmal Wirtschaftsminister?) ortes Deutschland beschlossen. Dieser Bericht ist eine solide Arbeit. Er ist kein Ablenkungsmanöver, wie Sie Gucken Sie mich nicht so strahlend an, verehrter Herr gemeint haben, Herr Jens. Er lenkt auf einen Teil der Jens, Sie sind zum großen Teil mit daran schuld. Probleme, mit denen wir es zu tun haben, sehr deutlich (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Kommen Sie nicht hin. Alle kann er gar nicht ansprechen; viele liegen in immer mit ihren alten Hüten!) anderen Bereichen. Die Regierung warte dabei bitte nicht auf die Er zeigt, daß in Deutschland neue, dauerhafte, Opposition! Die weiß ohnehin nicht, was sie will, das rentable Beschäftigungsmöglichkeiten — nicht immer allerdings mit großer Entschiedenheit. nur der zweite Arbeitsmarkt — für Millionen von (Heiterkeit bei der F.D.P. und der CDU/ Arbeitsuchenden geschaffen werden können. Er CSU) nennt Maßnahmen, die auch kurzfristig wirken kön- nen. Herr Scharping hat uns das doch gestern hier vorge- führt. Wenn Sie genau hingehört haben, haben Sie Ich muß allerdings sagen, wobei ich die Anregung bemerkt: Auf der einen Seite einsparen — war nicht von Herrn Jens aufgreife: Herr Bundesminister Rex- so; mehr Geld ausgeben — war wohl so. Man mußte rodt, bitte untersuchen Sie auch den Zusammenhang nur sehr genau hinhören. Mich erinnerte alles, was er zwischen Scheidungsrate und Entwicklung am uns hier erzählt hat, an „Faust", zweiter Teil, Mephi- Arbeitsmarkt! Das scheint mir einer wesentlichen sto am Hofe des Kaisers: „Welch Unheil muß auch ich gutachtlichen Beurteilung zugänglich zu sein. erfahren! Wir wollen alle Tage sparen und brauchen (Heiterkeit bei der F.D.P. und der CDU/CSU alle Tage mehr." Dr. Uwe Jens [SPD]: So ist das!) (Heiterkeit bei der F.D.P. und der CDU/ CSU) Der ursprüngliche Entwurf von Herrn Rexrodt ist in den Ressortabstimmungen leider etwas verwässert Aber so sind unsere Probleme leider nicht zu lösen. worden. Das ist der normale Vorgang; trotzdem Alle seriösen internationalen Institutionen — IMF, bedauert das die F.D.P. Denn das Vertrauen in die Weltbank, OECD — haben unterstrichen, wie wichtig deutsche Wirtschaftspolitik kann ja nur gestärkt wer- der erfolgreiche Abschluß der GATT-Runde für die den, wenn die Politik bereit ist, klare Aussagen zu Weltwirtschaft, für ihre Erholung, für die Industrielän- treffen. Besser wäre gewesen, sich als klares Ziel den der und für die Entwicklungsländer — der Bundes- Abbau der Staatsausgabenquote bis zum Ende dieses kanzler hat das gestern zu Recht gesagt — und nicht Jahrzehnts um etwa 5 % zu setzen, alle, nicht nur neue zuletzt für die mittel- und osteuropäischen Länder ist. Subventionen grundsätzlich auf fünf Jahre zu befri- Der Generaldirektor des GA TT, Peter Sutherland, hat sten und degressiv zu gestalten, in einer eindrucksvollen Analyse auf die Verbrau- cherinteressen an einem Abschluß der GATT-Runde (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) hingewiesen. Wer das Blair-House-Agreement neu klar zu sagen, daß der § 249 h des Arbeitsförderungs verhandeln will, nimmt das Scheitern der Uruguay gesetzes eine Sonderregelung für die neuen-R Bundes unde des GATT in Kauf. Die F.D.P. hat die gestrigen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14873

Dr. Otto Graf Lambsdorff Ausführungen des Bundeskanzlers zu diesem Thema denn es ist die Finanzierung der Wiedervereinigung, mit großer Befriedigung gehört. aber die Zahlen machen sich selbständig und sind ein Ich kann nur darauf aufmerksam machen, daß Problem, unabhängig von den Gründen ihres Entste- gestern abend einer der einflußreichsten und engsten hens —, bei verringerter Wettbewerbsfähigkeit und Berater und Freunde von Präsident Clinton, nämlich verringerter Standortqualität — alles nachzulesen im Vernon Jordan, wenige Meter von hier noch einmal Bericht von Herrn Rexrodt — sind Klartext und klare darauf hingewiesen hat, daß auch die Amerikaner Ansprache gefordert. Das hat die Bundesregierung erwarten, daß wir am Blair-House-Agreement nun getan. Die F.D.P. bedankt sich dafür. Nur so und nur nicht mehr herumfummeln, sondern daß es so steht dann kann der Mut entstehen, den wir zur Überwin- und bleibt, wie es ist. dung des Mißmuts brauchen. Das müssen wir schaffen, und das werden wir auch Wenn die Uruguay-Runde scheitert, ist auch das schaffen, und die F.D.P. unterstützt die Bundesregie- jetzige GATT am Ende. Mache sich keiner irgendwel- rung auf diesem Weg. che Illusionen, daß die jetzigen Spielregeln dann noch durchgesetzt werden können! Wer die verheerenden Ich bedanke mich. Auswirkungen von Protektionismus studieren will, (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) sehe sich bitte im Hamburger Hafen die schlimmen- Folgen der EG-Marktordnung für Bananen an. Dort Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Das Wort werden Unternehmen geschädigt, eingefahrene Ab- hat der Abgeordnete Dr. Fritz Schumann (Kroppen- satzwege und Zulieferbetriebe zerstört, Arbeitsplätze stedt). vernichtet, leider auch in Rostock. Geholfen wird auch den AKP-Bananen nicht. Das Ganze ist ein protektio- nistischer Skandal der EG. Die Zeche zahlt der Ver- Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) (PDS/Linke braucher. Und dafür haben Abgeordnete von SPD und Liste): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! CDU im Europäischen Parlament auch noch Nach elf Jahren Koalitionsregierung können wir in der gestimmt. ökonomischen und sozialen Bilanz feststellen: Es waren die goldenen Jahre für die westdeutsche Indu- (Zurufe von der CDU/CSU und der SPD — strie, vor allem für die Banken. Die Unternehmensteu- Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Keine F.D.Pi ern wurden gesenkt. Der soziale Wohnungsbau kam sten?) zum Erliegen, weil er politisch nicht gewollt war und — Keine! Das ist so! Das wird man doch erwähnen finanziell der Spielraum durch Unternehmensteuer- dürfen! Manchmal stimmen selbst F.D.P.-Abgeord- senkungen verpulvert wurde. Die Massenarbeitslo- nete geschlossen, verehrte Frau Kollegin, und in sigkeit blieb trotz der Schaffung vieler neuer Arbeits- diesem Falle taten sie das. plätze. Man muß anerkennen, daß viele neue Arbeits- plätze geschaffen worden sind, aber an der Massen- (Zurufe von der SPD) arbeitslosigkeit hat sich nichts geändert. Die deutsche Das ist uns früher gelegentlich dank Ihrer Mithilfe Einheit wurde ohne ernsthafte Analyse der Gegeben- schwerer gefallen. heiten mit katastrophalen finanziellen und ökonomi- schen Entscheidungen vollzogen. Die westdeutschen (Heiterkeit bei der F.D.P.) Produktionsunternehmen, vor allem aber die Han- Deutschland als Industrieland, Frankreich als Indu- delsunternehmen haben im Vollzug der deutschen strieland, die Europäische Gemeinschaft als Gemein- Einheit noch einmal kräftig abgesahnt. schaft westlicher Industrieländer — sie alle können Unter dem Strich stehen heute: höchster Schulden- nicht ihr Interesse an einem reibungslosen Welthan- berg, den die Republik je hatte, höchste Arbeitslosig- del mit Industriegütern und Dienstleistungen verken- keit seit 1932, größte Wohnungsnot außer in der nen. Wer von uns sieht denn die Europäische Gemein- unmittelbaren Nachkriegszeit, größte Zahl von So- schaft schon als große Agrargesellschaft? GATT ist zialhilfeempfängern. mehr als Psychologie! Der positive Abschluß der In einem Einzelunternehmen hätten die Gläubiger Uruguay-Runde hat realwirtschaftliche Folgen. Ohne bei einer solchen Bilanz schon längst die Führungs- GATT keine offenen Märkte; ohne offene Märkte mannschaft ausgewechselt. Die Gläubiger des Unter- weniger deutscher Export; bei weniger Export weni- nehmens Bundesrepublik, sprich die Wählerinnen ger Arbeitsplätze. So einfach ist das leider. und Wähler, haben erst nächstes Jahr Gelegenheit Seien wir uns bitte einer Tatsache bewußt: Ich höre dazu. Allerdings bin ich nicht ganz sicher, daß sie es immer, die Politiker hätten soundso viele Arbeits- tatsächlich tun werden. Viel wird davon abhängen, ob plätze geschaffen. Politiker haben ganz begrenzte es Unternehmern und Politik gelingt, die nach Möglichkeiten, Arbeitsplätze zu schaffen, und unbe- 1981/82 sowie 1987/88 jetzt zum drittenmal begon- grenzte Möglichkeiten, Arbeitsplätze zu zerstören. nene Standort-Deutschland-Diskussion in ihrem Das ist die Wahrheit. Sinne erfolgreich zu führen. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Tyll Necker, einer der ganz großen Verantwor- tungsträger in der Bundesrepublik, weil er als Präsi- Der Abschluß der GATT-Runde ist ein Beitrag zu dent des Bundesverbandes der Deutschen Indust rie mehr Wachstum in Deutschland und in der Weltwirt- diejenigen repräsentiert, die nebst den Banken wirk- schaft. lich Einfluß in der Gesellschaft haben, ist jedenfalls Bei 5 Millionen Arbeitslosen, der höchsten Abga- optimistisch. Vor dem CDU-Grundsatzforum sagte er ben- und Staatsquote seit Jahrzehnten — das wird gar wörtlich: „Wir müssen die Krise jetzt nutzen, denn nicht bestritten, die Gründe dafür sind gut und richtig, jetzt sind die Menschen reif." 14878 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) Reif wozu? Reif dazu, einzusehen, daß der soge- Anpassung der deutschen Wirtschaftsstrukturen und nannte kleine Mann in den letzten Jahren über seine Regulationsformen an neue Bedingungen. Dazu zäh- Verhältnisse gelebt hat, daß jetzt Schluß sein muß mit len die Einstellung auf sich vollziehende tiefgreifende Arbeitszeitverkürzung, Lohnfortzahlung bei Krank- Änderungen in der technologischen Basis der Produk- heit, Rentenanpassung, Inflationsausgleich für Löhne tion, die Überprüfung einer einseitig weltmarktorien- usw.? tierten Wachstumsstrategie und der Ausbau humaner Dienstleistungen sowie die stärkere Berücksichtigung Wie sagte doch der Vorstandsvorsitzende der Mer- umweltverträglichen Wirtschaftens. cedes-Benz AG? „Die Zeiten der sozialen Sentimen- talität sind vorbei! " Ein solcher Wandel erfordert einen entsprechenden Einsatz von Kapital und finanziellen Fördermitteln, Oder Bosch-Chef Marcus Bierich: Innovationswillen und -fähigkeit sowie Vorleistungen Durch Maßnahmen, die lange Zeit als undurch- von Forschung, Bildung und Management. Es setzt führbar galten, kann jetzt das Umdenken in Gang vor allem einen gesellschafts- und wirtschaftspoliti- gebracht werden, das wir brauchen, um unsere schen Wandel voraus, der sich diesen neuen Heraus- Wettbewerbsfähigkeit wiederherzustellen. Wir forderungen gewachsen zeigt. bekommen unsere bisherige Konsensphilosophie Eine bloße Radikalisierung einer bislang erfolglo- am Weltmarkt nicht bezahlt. sen Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik bietet keine Alternative. Im Grunde sollen über die Demontage Damit wird das bisherige Gesellschaftskonzept in Frage gestellt. Mit anderen Worten: Man kann auf den sozialer Sicherungssysteme und Reallohnsenkung die sozialen Frieden verzichten. Weil es so etwas wie sozial und einkommensmäßig schwächsten Schichten Systemkonkurrenz, sprich Sozialismusähnliches, in die Folgen dieser Politik bezahlen und eine bessere Kapitalverwertung ermöglichen. Es ist eine Politik, welch schlechter Ausführung auch immer, vor der Haustür nicht mehr gibt, braucht man niemandem die vor allem auf Unterstützung bei Selbständigen mehr soziale Errungenschaften entgegenzusetzen. und Beschäftigten mit Hoffnung auf stabile Beschäfti- gungs- und Einkommensverhältnisse baut und die Nun ist es sicher immer gut, kritisch zu beleuchten, Interessen eines wachsenden ausgegrenzten Teils der welche Stärken und Schwächen eine Volkswirtschaft Gesellschaft soweit wie möglich ignoriert. besitzt, insbesondere weil angesichts wachsender Danke schön. Internationalisierung von Produktion und Kapital zwangsläufig Weltmarktabhängigkeit und Konkur- (Beifall bei der PDS/Linke Liste) renz der nationalen Wirtschaftsstandorte zunehmen. Aber diese Diskussion sollte nicht darauf verkürzt Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort werden, in Zeiten des wirtschaftlichen Rückgangs hat nunmehr der Abgeordnete Werner Schulz (Ber- kapitalfreundliche Eingriffe in bestehende Vertei- lin) . lungsverhältnisse zu begründen. Berechtigte Sorgen um die Zukunft Deutschlands Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- als Wirtschaftsstandort werden durch Kapital und NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Regierungsparteien nur mißbraucht. Dieser Miß- Wenn man die Wirtschaftsaussichten durch die Brille brauch ist auch gefährlich; denn er greift genau jene der Börsianer betrachtet, dann zeichnen sich für die Bereiche an, die zweifellos zu den starken des Wirt- kommenden Jahre goldene Zeiten ab. Die Gewinn- schaftsstandorts zählen. schätzungen für die börsennotierten Gesellschaften verkünden jedenfalls ab 1994 satte Gewinne, und das Das traditionelle Hochlohnland Bundesrepublik ohne wesentlich steigende Umsätze. Die Entlassun- war und ist deshalb attraktiv, weil neben der hohen gen in nahezu allen Branchen und die Kostensen- Produktivität der Industrie, der Branchenvielfalt, der kungsprogramme der Unternehmen zeigen Wirkung. entwickelten Infrastruktur vor allem die soziale Kon- Die Unternehmen sanieren sich auf Kosten der aus sensbildung und die Vermeidung schwerwiegender dem Arbeitsprozeß gedrängten Menschen. Das ent- sozialer Konflikte die Wettbewerbsfähigkeit sicher- spricht betriebswirtschaftlicher Logik. ten. Politische Stabilität, das Niveau von Ausbildung und Forschung und die Fähigkeit der Gesellschaft zur Doch was tut die Politik, was tut die Bundesregie- Modernisierung, ohne soziale Katastrophen zu erzeu- rung, um die gesamtwirtschaftlichen Folgen dieser gen, sind auch künftig entscheidende Bedingungen zunächst einmal die Rezession verschärfenden Ent- für einen attraktiven, Direktinvestitionen auf sich wicklung aufzufangen? Voll und ganz das Falsche. ziehenden Wirtschaftsstandort. Mit ihren massiven Eingriffen in das Sozialsystem liegt sie nicht nur verteilungspolitisch schief, sondern Die Strategie des Lohn- und Sozialabbaus zur sie schwächt bereits im Vorfeld eine erwartete Kon- Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit ist auch deshalb junktur. Damit handelt sich der Staat wahrscheinlich kontraproduktiv, weil Lohnsenkung, Arbeitsplatzab- Einnahmeausfälle ein, die höher als die Einsparungen bau und Kürzung von Sozialleistungen nicht nur sind. Damit bleibt der wirtschafts- und beschäfti- kostendämpfende Effekte haben; sie reduzieren auch gungspolitische Horizont trotz erster Anzeichen eines die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und wirken Wiederanstiegs der Bruttoinlandsproduktion finster. damit rezessionsverlängernd. Die ostdeutsche Wirtschaft befindet sich in einer Will Deutschland seine Stellung im internationalen tiefen Transformationskrise. Sie wurde, wie nicht Wettbewerb erhalten und verbessern, so ist das mit anders zu erwarten war, vom brutalen Anpassungs- Billiglohn- und Sozialabbaustrategien unvereinbar. schock der Währungsreform im Kern getroffen. Vor Gefordert ist vielmehr eine Strategie zur langfristigen allem die ostdeutsche Industrie brach unter dem Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14879

Werner Schulz (Berlin) plötzlichen Wettbewerbsdruck fast vollständig zu- Auf dem Programm verantwortlicher Wi rtschaftspo- sammen. Den Totengräber stellt die Treuhandanstalt. litik stehen zwei zentrale Aufgaben: zum einen der Von schöpferischer Zerstörung kann keine Rede sein. ökologische Umbau, das Umsteuern auf ein umwelt- Die westdeutsche Industrie ist immer schon da, wo verträgliches nachhaltiges Wi rtschaften, und zum sich Ansätze für den wirtschaftlichen Neuaufbau im zweiten die Erhaltung bestehender und die Schaffung Osten ergeben könnten. neuer Arbeitsplätze. Beide Aufgaben können und müssen miteinander in Einklang gebracht werden. Die zyklische Krise der Weltkonjunktur hat mit einiger Verzögerung auch Deutschland erreicht. Auf- Der ökologische Strukturwandel der Wirtschaft geschoben ist bekanntlich nicht aufgehoben. Der muß von verschiedenen Seiten gleichzeitig in Gang Vereinigungsboom, der zwei Jahre lang mit staatsfi- gesetzt bzw. beschleunigt werden. Vordringlich und nanzierter Nachfrage aus dem Osten die Auftragsbü- an erster Stelle zu nennen ist eine ökologische Reform cher im Westen Deutschlands gefüllt hielt, konnte die des Steuersystems, die endlich dafür sorgt, daß den Weltrezession eine Weile draußen halten. Dann aber Entscheidungen von Unternehmen und Bürgern öko- kam sie um so heftiger. Sie traf auf gewinnverwöhnte logische Preise zugrunde liegen, Preise, die die Wahr- Unternehmen, die nun bei der Anpassung von Kosten- heit sagen. Sie wird die Verschwendung von Energie strukturen und Wettbewerbsfähigkeit der internatio- und Ressourcen eindämmen, umweltschädliche Pro- nalen Konkurrenz hinterherhinken. Sie trifft auf einen dukte vom Markt verdrängen und umweltverträgli- Staat, der sich durch maßlose Schuldenmacherei sel- cheren neue Chancen einräumen. ber die Mittel für eine antizyklische Konjunkturpolitik Im Gegenzug dazu werden Mittel frei, um die genommen hat. Lasten der deutschen Einheit, die die Bundesregie- rung den Sozialversicherungen aufgebürdet hat, nun Die ohnehin zu wenigen Investitionsvorhaben der endlich durch Steuereinnahmen zu finanzieren. Industrie in Ostdeutschland werden trotz massiver Förderung angesichts der Rezession häufig zurückge- Hinzukommen muß eine entsprechende For- stellt oder ganz storniert. Die internationalen Rah- schungs- und Technologiepolitik, die die Entwicklung menbedingungen, das Wegbrechen der Ostmärkte neuer, umweltangepaßter Produkte bis hin zur Markt- und die Verschärfung der welthandelspolitischen einführung intensiv fördert. Die Forschungspolitik Auseinandersetzungen lassen eine schnelle Erholung dieser Bundesregierung steht allerdings unter keinem nicht erwarten. guten Stern. Wenn die Zukunftsorientierung ihrer Politik an Volumen und Qualität der Forschungsför- Von den beiden erstgenannten überlagert, aber derung gemessen wird, dann ist es damit nicht weit langfristig noch weit dramatischer ist die ökologische her. Besonders bedrohlich ist der beängstigende Strukturkrise. Nach wie vor ist die Wirtschaft weltweit Abbau industrienaher Forschung in den neuen Bun- und in Deutschland ökologisch völlig falsch gepolt. desländern. Immer noch beruht sie auf Ressourcenverschwendung und Energievergeudung. Nach wie vor betreibt sie Schließlich steht eine ökologische Infrastrukturpoli- Raubbau an der Zukunft. Doch statt den überfälligen tik, namentlich Verkehrspolitik, auf der Tagesord- ökologischen Strukturwandel mit den ohnehin not- nung. Gerade die Beschränkung des Autoverkehrs, wendigen Veränderungen zugleich anzugehen, hat die Beendigung von automobilem Wahn und Just- ihn die Bundesregierung auf den Sankt-Nimmerleins- in-time-Produktion werden zu massiver Beschleuni- Tag verschoben. gung des Strukturwandels führen. Der ökologische Strukturwandel wird den Wegfall Das alles schon immer gewußt zu haben nützt überlebter und das gleichzeitige Entstehen neuer, wenig. Vertane Möglichkeiten bleiben vertan. Eine zukunftsorientierter Arbeitsplätze zur Folge haben. Politik des wirtschaftlichen Neuaufbaus im Osten, des Positiv kann diese Bilanz dann aussehen, wenn es gleichzeitigen ökologischen Umbaus und damit der gelingt, den Prozeß so zu gestalten, daß dabei die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit in Ost und internationale Wettbewerbsfähigkeit der Wi rtschaft West ist heute angesichts sinkender Staatseinnahmen im Hinblick auf ihre Kosten gewahrt oder sogar und der ausgereizten Verschuldung der öffentlichen verbessert wird und gleichzeitig ihre Produkte der Haushalte weitaus schwieriger zu realisieren als noch Notwendigkeit weltweiten ökologisch orientierten vor einigen Jahren. Wandels besser als bisher entsprechen. Staatlicher Ausgabenpolitik, steuer- oder kreditfi- Eine Politik der Schaffung und Erhaltung von nanzierten staatlichen Nachfrageprogrammen sind Arbeitsplätzen bleibt dringend erforderlich. Notwen- enge Grenzen gesetzt. Um so größere Bedeutung dig ist und bleibt die Erhaltung der noch in Treuhand- besitzt heute ein strukturell wirksames Konzept. besitz befindlichen Industrieunternehmen, ihre Wei- terführung in öffentlicher Regie in Beteiligungsgesell- Was not tut, ist eine Wirtschaftspolitik, die die schaften, Staatsunternehmen oder Management-Hol- Überlebenschancen der noch vorhandenen industri- dings — nicht um der Staatswirtschaft willen, sondern ellen Substanz in Ostdeutschland soweit irgend mög- um die industrielle Aktivität im Osten nicht gegen lich wahrt und darüber hinaus den ohnehin sich Null sinken zu lassen und um die Voraussetzungen für vollziehenden Strukturwandel der Wirtschaft ökolo- Sanierung und Konversion als Alternative zu Verfall gisch und sozial gestaltet. Auch wenn jetzt das Steuer und Arbeitsplatzabbau zu schaffen. herumgeworfen wird — und das ist überfällig —, wird der wirtschaftliche Gesundungsprozeß mühsam, von Die Diskussion über die Teilung der vorhandenen Rückschlägen begleitet und langwierig sein. Ich Arbeit und über die Arbeitszeitverkürzung muß eben- denke, es sind Blender, die anderes behaupten. falls unter den heute veränderten Bedingungen 14880 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Werner Schulz (Berlin) erneut in Gang kommen. Hier sind praktische Lösun- stärken, die Leistungsbereitschaft mobilisieren und gen gefragt, die zu einer besseren Auslastung der die Konjunktur nach oben verstetigen wird. Anlagen und gleichzeitig zu größerer Zeitsouveräni- Eine Woche vorher hat das Kabinett den „Bericht tät auf seiten der Arbeitnehmer führen. Schließlich zur Zukunftssicherung des Standorts Deutschland" soll die Verkürzung der Arbeitszeit zu erhöhter vorgestellt, ich meine — im Gegensatz zu meinem Beschäftigung beitragen und nicht die Abwanderung Vorredner —, einen sehr guten Bericht, der insbeson- von Unternehmen aus Deutschland provozieren. dere im Therapiebereich sehr konkret geworden ist; Auch die erfolgreichste Beschäftigungspolitik kann das unterscheidet ihn von anderen Berichten. die Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik auf kurze Das sind die Vorgaben der Regierung und der Sicht nicht bannen. Deshalb bleiben auf absehbare Koalition. Zeit eine intensive Arbeitsmarktpolitik und die Beibe- haltung des sogenannten Zweiten Arbeitsmarktes Jetzt suche ich nach den Alternativen der Opposi- unabdingbar. tion. Herr Scharping hat gestern gesagt: Wir bauen Ich komme nun zum „Bericht zur Zukunftssiche- auf eine bessere Alternative. Herr Jens fügt hinzu: Wir rung des Standorts Deutschland", den Sie, Herr haben die besseren Rezepte. Auch der kritische Ana- Rexrodt, vorgelegt haben. Ich finde, er enttäuscht auf lytiker wird feststellen, daß wir sie nicht gehört der ganzen Linie. haben. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Was sagen Sie (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: da?) Geheimrezepte!) Zunächst liest er sich wie der Mängelkatalog einer Es gab bestenfalls Insellösungen. konservativ-liberalen Wirtschaftspolitik der letzten Der Fraktionsvorsitzende Schäuble hatte gestern Jahre oder auch — wenn man weiter zurückgeht und recht, als er meinte: Der Diskussionsbeitrag von Herrn die Reihenfolge Ihrer Minister sieht — der letzten Scharping war eher ein Zwischenbericht über die 20 Jahre. Ich meine, Selbstkritik ist angebracht, vor Diskussion innerhalb der SPD. allem bei so viel Selbstgefälligkeit, wie sie der Bun- deskanzler hier gestern demonst riert hat. Es wäre (Beifall bei der CDU/CSU) zumindest der erste Schritt zur Besserung. Da aber die SPD eine Programmpartei ist, habe ich Was dann im konkreten Teil kommt, sind eigentlich die Alternativen wenigstens auf dem Papier, in einem alte Hüte, die verkauft werden. Es findet trotz aller Programm gesucht. In der Tat gibt es etwas ganz Umweltlyrik, die heutzutage zum Standardrepertoire Neues: 6. September, Sensationspapier, indiskretio- gehört, eine Verringerung der Umweltstandards statt. niert von der „Welt" eine Woche vorher, wie es üblich Es wird eine Beschneidung der Bürgerrechte stattfin- ist. Da habe ich nachgeschaut. den. Die Energiesteuer wird auf die lange Bank Erstaunlich ist an vielen Stellen des Papiers der geschoben. Im übrigen enthält dieses Papier eine „Arbeitsgruppe Wirtschaft und Finanzen beim Partei- völlig fruchtlose Kampfansage an Arbeitnehmer und vorstand der SPD " die Sprache. Hier hat offenbar ein Gewerkschaften. Lernprozeß stattgefunden. Man sieht, daß sich die Was fehlt, ist eine zukunftsorientierte Wi rtschafts- SPD im Vorfeld der großen Wahlauseinandersetzung politik. Sie ist da nicht zu entnehmen. Zumindest für im Jahr 1994 der Koalition zumindest sprachlich uns ist deutlich geworden: Ein ökologischer Umbau ist annähern will. Da heißt es z. B. — ich darf aus diesem mit einem Wirtschaftsminister Rexrodt nicht zu neuesten Papier der programmatischen Alternative machen. zitieren —: (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Gott sei Wir brauchen eine gesamtdeutsche Strategie für Dank!) Modernisierung, Beschäftigung und ökologi- Obwohl auch bei Ihnen diese Vokabeln — und ich sches Wachstum. Wohlstand, Arbeitsplätze und habe das Buch von Heiner Geißler aufmerksam gele- soziale Sicherung können nur dann dauerhaft sen —, diese Einzelfragen des ökologischen Umbaus gewährleistet werden, wenn die deutsche Wi rt bereits zum Standard, zu den Schlüsselbegriffen -schaft international wettbewerbsfähig ist. gehören, ist eine politische Mehrheit im Moment nicht (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und absehbar. Da aber die Politik des ökologischen der F.D.P.) Umbaus ohne Alternative ist, wird sich diese politi- sche Mehrheit über kurz oder lang finden lassen. Das klingt wie ein Ausschnitt aus dem Standortpro- gramm, das der Wirtschaftsminister vorgelegt hat. Das (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Ganze stellt sich aber als eine A rt marktwirtschaftli- Abg. Dr. Fritz Schumann [Kroppenstedt] cher Triumphbogen heraus, hinter dem sich die alten [PDS/Linke Liste]) Elendsviertel sozialdemokratischer Lenkungssehn- süchte verbergen.

Vizepräsident Dieter -Julius Cronenberg: Das Wort Beispiel: Privatisierung, einer der Kernstichpunkte hat der Abgeordnete Dr. Kurt Faltlhauser. für die Aufgabe, die uns bevorsteht. Da heißt es — für Kenner: auf Seite 8 dieses Papieres —: Dr. Kurt Faltlhauser (CDU/CSU): Herr Präsident! Aufgaben, die zur Zeit vom Staat erfüllt werden, Meine Damen und Herren! Ich suche nach den Alter- die aber von Privaten ebenso oder besser wahr- nativen. , der Bundesfinanzminister, hat genommen werden können, sind zu privatisie- gestern den Haushalt vorgelegt, der die Investitionen ren. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14881

Dr. Kurt Faltlhauser Hervorragend! Das ist auch unser Ziel. Beifall! Gleich- lichem Klamauk begleiten. Dadurch werden Sie das zeitig lehnen Sie aber in dem Begleitpapier die Ende der Privatisierung eher erschweren. Ich meine, Privatisierung der Bundesautobahn rundum ab. wir sollten das zunächst einmal den rechtlichen Prü- Gleichzeitig drohen Sie mit dem Scheitern der fungen überlassen und nicht dem Klamauk der politi- Postreform II. schen Auseinandersetzung hier in diesem Bundes- tag. Gleichzeitig kritisiert hier der Sprecher der SPD für Wirtschaftspolitik, Herr Jens, in einer Presseerklärung (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — vom 24. Juni, daß die Privatisierungsabsichten der Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Daß Sie Unter Bundesregierung ein gigantisches Monopoli sei, das suchungsausschüsse mit Klamauk gleichset schmerzliche Folgen für die Bürger haben werde und zen, finde ich wirklich unerträglich! — Zuruf bei dem Volksvermögen verschleudert werde. von der CDU/CSU: Sie muß doch immer das Nicht zuletzt erschweren Sie gleichzeitig die wei- letzte Wort haben!) tere Privatisierung von Unternehmen in den neuen — Frau Kollegin, ich unterstelle — und das ist sehr Bundesländern durch die Einrichtung eines Untersu- wohlwollend —, daß eine derartige Untersuchung von seiten der Opposition besonders seriös vorgenommen chungsausschusses über die Treuhandverkäufe.- Das ist eine der negativsten Entscheidungen, die wird. Gleichwohl wird es so sein, daß dann aus diesen wir zu Lasten der Bürger in den neuen Bundesländern Fakten draußen natürlich Klamauk gemacht wird, treffen können. (Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl, so ist (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) es!) Wenn ein Investor — das wissen Sie doch selbst — und das ist das, was ich meine. gewärtig sein muß, daß eine Betriebsübernahme auf (Beifall bei der CDU/CSU) dem offenen politischen Markt ausgetragen und debattiert wird, wird er sich zurückhalten und sein

Geld behalten oder bestenfalls in Oberrohr investie- Vizepräsident Dieter -Julius Cronenberg: Herr ren, wo besonders sicher investiert werden kann, weil Dr. Faltlhauser, es gibt den Wunsch nach einer weite- dort die Seriosität des Finanzministers zu Hause ist. ren Zwischenfrage. Und der engagierte Mitarbeiter der Treuhand wird sich jeden weiteren Schritt dreimal überlegen, bevor er einen Verkauf wagt; denn ein derartiger Verkauf ist Dr. Kurt Faltlhauser (CDU/CSU): Nein, lassen Sie ein Wagnis. mich fortfahren. (Abg. Ingrid Matthäus-Maier [SPD] meldet (Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!) sich zu einer Zwischenfrage) Durch diesen Untersuchungsausschuß werden Sie — Frau Kollegin, Sie waren gestern sehr lange dran. das Gegenteil von dem erreichen, was Sie in Ihrem Ich hatte nach der Rede des Fraktionsvorsitzenden Papier programmatisch ankündigen. eigentlich den Eindruck, Sie würden sich heute nicht (Beifall bei der CDU/CSU) mehr in diesen Raum trauen. Ich bin erstaunt, daß Sie da sind. Bitte schön, ich nehme gerne Ihre Frage Sie werden blockieren. Anstatt Initiative und Beweg- entgegen. lichkeit zu schaffen, werden Sie zu Verkrustungen und Erstarrungen kommen. (Dr. Uwe Jens [SPD]: Die letzte Polemik!) (Zuruf von der CDU/CSU: Typisch SPD!) Ein zweites Beispiel aus dieser programmatischen Vizepräsident Dieter -Julius Cronenberg: Bitte schön. Vorgabe, die wir ja von Herrn Scharping nicht gehört haben: Wettbewerbsfähigkeit. Im Papier heißt es:

Ingrid Matthäus -Maier (SPD): Herr Faltlhauser, In Politik, Wirtschaft und Gesellschaft muß ein meine Frage lautet: Ist es, nachdem viele Menschen in innovationsfreudiges Klima geschaffen werden. Ostdeutschland und nicht nur dort das Gefühl haben, Wettbewerbsverzerrungen zu Lasten der deut- daß durch Fehler der Treuhand oder/und Fehler der schen Wirtschaft müssen beseitigt werden. Bundesregierung Arbeitsplätze in Ostdeutschland Ja, wunderbar! Aber Frau Matthäus-Maier und Herr zerstört worden sind, obwohl sie hätten erhalten Poß haben die Tarifabsenkungen im Standortsiche- werden können, nicht richtig, daß wir einen Untersu- rungsgesetz monatelang als Steuergeschenke für die chungsausschuß verlangen, der genau das prüfen Unternehmen diffamiert. soll? Warum haben Sie eigentlich vor ihm Angst, wenn (Zuruf von der CDU/CSU: Genauso ist es!) Sie behaupten, es sei immer alles mit rechten Dingen zugegangen? Die Lohnnebenkosten wollen Sie in keiner Weise mit senken; da sind Sie nicht mit dabei. Die konkreten Sparvorschläge dieser Bundesregierung und des Bun- Dr. Kurt Faltlhauser (CDU/CSU): Frau Kollegin, es besteht kein Zweifel — jeder im Raum weiß es —, daß desfinanzministers lehnen Sie ab. in Einzelfällen Dinge passiert sind, die nicht richtig Das nächste Beispiel ist die Bürokratisierung, die sind. Diese müssen verfolgt werden, meinetwegen uns alle bewegt. Mit Freude lese ich auf Seite 9, daß sogar strafrechtlich. Sie eine Entbürokratisierung auch haben wollen — Es ist etwas ganz anderes, wenn Sie jetzt den weg mit den bürokratischen Hemmnissen. schwierigen Prozeß des Abschlusses der Arbeiten der Die Bundesregierung hat ja mit dem Investitionser- Treuhandanstalt bis spätestens Ende 1994 mit öffent- leichterungs- und Wohnbaulandgesetz bereits ein 14882 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Dr. Kurt Faltlhauser erstes gutes Stück auf dem Weg zur Entbürokratisie- icher Blumenstrauß, aber hinter dem Schmuck die rung insbesondere bei Planungsvorhaben geschafft. alten Denkweisen, ähnlich wie Walter Hamm in der Aber wie sieht denn die Praxis draußen aus, etwa in „FAZ" vor zwei Tagen geschrieben hat — ich darf ihn der Landeshauptstadt München, aus der ich komme, zitieren —: in der am kommenden Sonntagabend ein Wechsel Scharping und manche andere, die der Bundes- von einem SPD-Oberbürgermeister zu einem CSU- regierung fälschlich blinden Glauben an den Bürgermeister beklatscht werden kann? Markt vorhalten, gehen ihrerseits offensichtlich (Beifall bei der CDU/CSU — Lachen bei der von einem blinden Glauben an die überlegenen SPD) unternehmerischen Fähigkeiten staatlicher Or- gane aus. Da haben wir jetzt 15 Jahre Debatte um eine Auto- bahnumgehung. Jetzt ist die Planfeststellung vor- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Recht hat er!) bei. Gerade jetzt, da die wirtschaftliche Entwicklung (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das hilft dem schlechter ist, habe ich den Eindruck, daß von Tag zu Gauweiler auch nicht! — Renate Schmidt Tag Ihre Neigung zum Interventionsimus, zum [Nürnberg] [SPD]: So plump mache ich--l das schnellen Handeln oder — wie Graf Lambsdorff nicht!) sagt — zum Schaffen von Arbeitsplätzen, durch den Staat natürlich, zunimmt. Jetzt ist also endlich die Planfeststellung vorbei; damit könnten die Bürger endlich aufatmen, weil nicht Markt ist keine Schönwetterveranstaltung. Die weiter die Leute, die von Norden bis nach Sizilien marktwirtschaftlichen Prinzipien müssen durchge- reisen, durch die engen Straßen der Stadt fahren. Was halten werden, auch in schlechten Zeiten; denn was aber macht die dortige SPD gemeinsam mit verant- Sie in einem Monat schnell an Reglementierungen wortungslosen Spinnern von den GRÜNEN? einführen, werden Sie in einer ganzen Legislaturpe- riode dann nicht mehr los. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Zuruf von der CDU/CSU: Investitionshemm nis München!) Deshalb fordere ich Sie auf: Legen Sie Ihre Papiere, Ihre Programme und Ihre Ideologie zur Seite. Gehen Sie klagt gegen den Planfeststellungsbeschluß. Sie mit uns pragmatisch in einer schwierigen Situation Oder soll ich Ihnen die herzzerreißende Geschichte vor. Es sind Ansätze von Gemeinsamkeit da. Gehen aus meinem Wahlkreis im Münchner Westen schil- Sie über die sprachliche Schönung marktwirtschaftli- dern, in dem die Stadt für 35 Millionen DM ein cher Dinge hinaus, und ziehen Sie auch die Schluß- Bundesbahngrundstück für die Industrieansiedlung folgerung mit uns: Schluß mit der Ideologie. Setzen Sie kauft, das heute 100 Millionen DM wert ist, wobei aber auf praktischen Fortschritt für die Bürger in unserem die eigene Stadtverwaltung das Grundstück fast Land — mit dieser Koalition und mit dieser Bundesre- gleichzeitig zum Naturschutzgebiet, zum Trockenbio- gierung. top erklärt, in dem es einen seltenen schwarzen Käfer, Ich bedanke mich. den Zwergufersandahlenläufer — woanders gibt es ihn auch, aber da besonders — gibt. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Zuruf von der CDU/CSU: Wie heißt der?) Der hat jetzt die Vorfahrt vor Investitionen! Da hat Vizepräsident Dieter -Julius Cronenberg: Herr doch der Irrsinn Methode! Dr. Faltlhauser, den Ausdruck „verantwortungslose Spinner" möchte ich als unparlamentarisch zurück- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge weisen. ordneten der F.D.P.) (Zuruf von der CDU/CSU: Er hat doch recht, Das ist die Praxis von rot-grün draußen bei der Herr Präsident! — Renate Schmidt [Nürn „Entbürokratisierung". Peter Gauweiler wird das ab berg] [SPD]: Das kommt davon, wenn man Sonntag in München ändern, aber für Deutschland Wahlplakate zitiert!) wäre diese Art von rot-grüner Blockade eine Katastro- Das Wo rt hat nunmehr der Abgeordnete Ernst phe; daran sehen wir das. Schwanhold. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Meine Damen und Herren, bei der Technologieför- Ernst Schwanhold (SPD): Herr Präsident! Meine derung ist es ähnlich. Sie formulieren zwar Ziele, aber sehr verehrten Damen und Herren! Nach dieser Epi- in die Praxis setzen Sie nichts um. Das gilt z. B. bei der sode des bayerischen Wahlkampfs, nach diesem kur- Kernenergie, bei der nächsten Generation unserer zen Zwischenspiel will ich wenigstens einen Gedan- Kernkraftwerke, oder bei der Raumfahrt. Sie sagen ken aufgreifen, den Herr Faltlhauser hier vorgetragen überall Nein und blockieren. Herr Jens, seien Sie im hat, den er aber nach meiner Meinung völlig ver- übrigen beim Energiekonsens zurückhaltend. Ich fälscht hat. Ist nicht eines der Probleme des Standorts glaube, daß wir auf einem guten Weg sein können, Bundesrepublik Deutschland auch geworden, daß wir aber das kann man nicht am offenen Markt austragen. keinen Konsens über die industrielle Zukunft dieses Ich glaube nicht, daß man die Kumpel im Ruhrgebiet Landes zwischen den gesellschaftlichen Gruppen beunruhigen muß. — zwischen Unternehmen, Gewerkschaften, Kirchen, Ich ziehe das Resümee aus der Beschreibung Ihrer aber eben auch Umweltverbänden — mehr herstel- Alternativen, die uns schriftlich vorliegen: ein sprach len? Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14883

Ernst Schwanhold Ich sage Ihnen: Mit diesem Geschwätz, mit dieser stellen dieser Regierung in der augenblicklichen Beschimpfung von den „verantwortungslosen grünen Situation ein vernichtendes Urteil aus. Spinnern" werden Sie den gesellschaftlichen Konsens (Zuruf von der SPD: Sehr richtig! — Ernst nicht herbeiführen, Hinsken [CDU/CSU]: Das stimmt nicht!) (Abg. Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU] mel Es hat sich Investitionsattentismus in der Wirtschaft et sich zu einer Zwischenfrage) auf Grund falscher Signale und falscher wirtschafts- sondern Sie werden den Dissens fördern und damit politischer Entscheidungen breitgemacht. Dies kann den Standort Bundesrepublik Deutschland insgesamt man wohl an vier Aspekten deutlich machen. nachhaltig schädigen. Erstens. Wir haben noch immer viel zu hohe Zinsen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ am kurzen Ende. Dazu höre ich keine Äußerung aus DIE GRÜNEN) der Regierung. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Die sind doch Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich nehme wieder gesenkt worden! — Kurt J. Ross an, daß Sie bereit sind, eine Zwischenfrage zu beant- manith [CDU/CSU]: Was heißt „kurzes -d- worten. Ende"?) Zweitens. Wir haben eine Verunsicherung des Ernst Schwanhold (SPD): Ich lasse keine Zwischen- Binnennachfragemarkts als des fast einzigen wirt- fragen zu, weil meine Zeit relativ knapp ist. schaftspolitisch stabilen Instruments der Nachfrage zur Zeit dadurch, daß Sie in bestimmten Bereichen (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Wird nicht — insbesondere in Haushalten, in denen 100 % des angerechnet!) Einkommens in den Konsum gehen — für nachhaltige — Ich lasse keine Zwischenfragen zu. Verunsicherung durch das Geschwätz sorgen, wel- ches der Bundeswirtschaftsminister zu den Sozialkür- zungen vornimmt. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- geordneter, das ist ihr gutes Recht. Drittens. Dies führt zu einem Stimmungstief. (Widerspruch bei der CDU/CSU) Ernst Schwanhold (SPD): Ich nehme dafür noch Viertens. Die Fiskalpolitik ist nicht stabilitäts- und nicht einmal eine so unverschämte Begründung in konjunkturgerecht. Anspruch, wie sie Herr Schäuble gestern gegenüber Daraus ist der Investitionsattentismus abzuleiten. Frau Matthäus-Maier verwendet hat, Deshalb werden wir auch kaum Binnennachfrage- (Zuruf von der CDU/CSU: Die war sehr kräfte und Binneninvestitionen so stärken, daß wir zutreffend!) eigene Aufschwungkräfte organisieren können, denn obwohl sich diese unverschämte Begründung gegen- von außen kommen sie zur Zeit nicht. über manchen von Ihnen auch durchaus anbieten (Beifall bei Abgeordneten der SPD) würde. Ich will nicht darüber räsonieren, welcher Anteil (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ Konjunkturkrise und welcher Anteil Strukturkrise ist. DIE GRÜNEN) Aber fest steht für uns alle gemeinsam Man bräuchte sich als Oppositionspolitiker eigent- lich keine eigene Rede zu schreiben. Man könnte den (Hansgeorg Hauser [Rednitzhembach] Zettelkasten der Presse nehmen, um Ihnen zu sagen, [CDU/CSU]: Sehr oberlehrerhaft!) Herr Rexrodt, welche Fehler im wirtschaftlichen Han- — völlig klar, Herr Hauser, so war es auch gemeint —, deln, in der Wirtschaftspolitik in der Vergangenheit daß die Produkte, die in der Vergangenheit am gemacht worden sind. Ich will dies nicht tun. Weltmarkt auf Grund höherer Qualität zu plazieren Dennoch will ich Ihnen ein Zitat nicht ersparen. Der waren und damit zum Erreichen guter Preise ausrei- „Münchener Merkur" chend waren, nicht mehr die Vorteile bieten wie in der Vergangenheit, weil die Abstände zu den Produkten (Ernst Hinsken CDU/CSU: Gute Zeitung!) aus Schwellenländern und Ländern, die vor unserer — Herr Hinsken, aus Ihrer Region — schrieb am Haustür liegen, geringer geworden sind. Wir haben 30. August — ich zitiere wörtlich — folgendes: also in der Vergangenheit keine Produktinnovation Das Bundeswirtschaftsministerium, einst Vorzei- betrieben. Dies haben Unternehmen zu verantworten; geadresse Bonner Regierungen, droht mehr und dies haben aber auch staatliche Rahmendaten und mehr zu verkommen. Wer gedacht hatte, der begleitende Gesetzgebung von seiten dieser Regie- F.D.P.-Erbhof habe unter Jürgen Möllemann den rung, die seit zwölf Jahren dafür verantwortlich ist, zu Nullpunkt erreicht, sieht sich einer alten Erfah- verantworten. rung gegenüber: Ein miserabler Zustand kann Ich will den Bereich der ökologischen Produkte noch miserabler werden. nennen. Die chemische Industrie ist ja ein Beispiel Diese Situation ist erreicht. Nie war das Ansehen des dafür. Wir verlieren bei den Massenkunststoffen. Bundeswirtschaftsministeriums in allen Gruppen der Dazu erstens: Wer meint, man könne durch den Bevölkerung so schlecht. Unternehmer, Verbraucher, Abbau von 1 %, 1,5 % oder 2 % der Kosten 25 % der Gewerkschaften — alle gesellschaftlichen Akteure — Währungsdisparitäten, wie wir sie gegenüber den und selbst die wirtschaftswissenschaftlichen Institute skandinavischen Ländern haben, ausgleichen, ist völ- 14884 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Ernst Schwanhold lig auf dem Holzweg. Sie kennen zweitens die Lohn- Ich bin mit Ihnen der Meinung, daß „end of the skala: In den beiden Nachfolgestaaten der Tschecho- pipe" zu teuer wird und uns nicht weiterbringt. Da bin slowakei 10 % dessen, was wir haben. Ist es ernsthaft ich mit Ihnen einer Meinung. Aber ich bin ebenso fest Ihr Weg, dort in diese Richtung zu gehen und einen davon überzeugt, daß wir Produkte, bei denen wir von Wettlauf der Löhne vorzunehmen? Nein, es geht nur vornherein Umweltrisiken vermeiden, volkswirt- mit intelligenten, besseren Produkten. Wir haben nur schaftlich und auch betriebsökonomisch außerordent- die Chance, diese Produkte im Bereich der Ökologie, lich sinnvoll produzieren können. Und nur sie werden der Zukunftsverträglichkeit, ressourcenschonend, uns einen Markt geben, denn End-of-the-Pipe-Tech- kreislauffähig, stofflich wiederverwertbar, produkt nologie heißt nicht wirklich Vermeidung von Umwelt- wiederverwertbar herzustellen. Hier gibt es keine problemen, sondern heißt nur Überführung von einem Vorsprünge. Im Gegenteil: Japan macht uns vor, Medium in das andere, und es ist keine wirkliche wohin dieser Weg geht. Daß dies bei uns nicht initiiert Verbesserung, die Sie dadurch vornehmen. wird, hängt auch damit zusammen, daß diese Regie- (Zuruf von der CDU/CSU: Da widerspricht rung irgendwelchen Grundlagen- und Großfor- Ihnen ja niemand!) schungsinstituten nachhängt und diese bezuschußt, weil sie zufälligerweise um München herum- sitzen, — Dann setzen Sie doch endlich Zeichen, wenn niemand widerspricht! Versuchen Sie doch, diesen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Weg zu gehen! DIE GRÜNEN — Zuruf von der CDU/CSU) Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, Ihnen noch anstatt industrienahe Forschung anwenderorientiert zu belegen, was Umweltschutz allein bei uns schon an zu fördern, die den Klein- und Mittelunternehmen den Arbeitsplätzen geschaffen hat. Das sind rund 500 000. Innovationsschub bringt. Wir haben zur Zeit nur einen Wachstumsmarkt: den Bereich der (Beifall bei der SPD) Umwelttechnologie. Es gibt laut OECD- Bericht eine Nachfrage von 40 bis 50 Milliarden DM Dies ist einer der entscheidenden Fehler dieser Regie- innerhalb der Bundesrepublik, in Europa von 200 Mil- rung, die dafür sorgt, daß wir in der Zukunft dem liarden DM pro Jahr, weltweit deutlich darüber. Wir Weltmarkt hinterherlaufen und in ein Fahrwasser haben dort bislang einen Anteil von 16 % gehabt und hineinkommen, in dem wir uns, wie ich befürchte, lagen damit deutlich höher als die USA und Japan.

nicht halten werden. Dann brauchen wir über Sozial- Wenn es uns nicht gelingt, eine EG -Harmonisierung abbau nicht mehr zu reden, sondern das wird dazu zu erreichen, droht der Verlust dieses hohen Anteils führen, daß wir Arbeitslosenzahlen bekommen, die und droht der Verlust des Ausbaus dieses Marktseg- das Gesellschaftssystem insgesamt in Frage stellen. ments für die deutsche Wirtschaft. Ich würde es begrüßen, wenn Sie Ihre Energie, Herr Wirtschaftsmi- Deshalb fordere ich Sie auf: Nehmen Sie endlich nister, auf die Harmonisierung in Europa richten diese ökologische Initiative auf, setzen Sie Schwer- würden, statt sich in Geschäftsfelder der Politik hin- punkte, stärken Sie den Forschungshaushalt und einzubegeben, von denen Sie keine Ahnung haben, setzten Sie die Rahmendaten so, daß die Wi rt schaft in nämlich die Sozialpolitik. der Lage ist, diese Produkte auch zu entwicklen. (Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der (Beifall bei der SPD) CDU/CSU und der F.D.P.) Ich könnte Ihnen am Beispiel des Maschinenbaus Ich möchte meine Rede mit einem kurzen Zitat aus und der Automobilindustrie vor Augen führen, daß es dem „Hamburger Abendblatt" vom 26. August 1993 — etwa im Vergleich zu Japan — nicht an den Löhnen beenden: und den Arbeitszeiten liegt. Die deutsche Wirtschaft Fünfzig Prozent der Wirtschaft sind Psychologie. hat auch eine mangelnde Energie - und Stoffeffizienz, und zwar dergestalt, daß bei der Produktion eines Mit der Katastrophenstimmung, die er japanischen Autos 300 kg Sonderabfall anfallen und — Rexrodt — bei der Produktion eines deutschen Autos rund 800 kg. in Deutschland verbreitet, lassen sich weder Allein darin liegen Kosten, die sich auf 2 000 bis 2 500 Selbstheilungs- noch andere Kräfte mobilisie- DM pro Kraftfahrzeug summieren. Und Sie reden hier ren. über die Kürzung von Arbeitslosengeld und Arbeits- losenhilfe! Ich finde dies schäbig, weil das an den Eigentlich wäre dem nichts hinzuzufügen, wenn es Kernproblemen der deutschen Wirtschaft vorbeigeht. nicht noch Herrn Blüm gäbe, der in der „Zeit" vom Dazu hätte ich mir von Ihnen etwas gewünscht, Herr 3. September 1993 wie folgt zitiert wird — ich kann Rexrodt! Ihnen das nicht ersparen; er redet von Wirtschaftsmi- nister Rexrodt, seinem Kollegen im Kabinett —: (Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der CDU/CSU) Tun Sie, wenn Sie von Deregulierung reden, nicht so, Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Und Sie als wollten Sie Umweltstandards nicht abschaffen. Ich nehmen jetzt Ihren nachfolgenden Kollegen die Rede- glaube aber, eben den Beweis angetreten zu haben, zeit. Ich muß Sie darauf aufmerksam machen. daß hohe Umweltstandards intelligente Produkte ini- tiieren, die sich auch am Weltmarkt absetzen lassen. Insofern lassen Sie uns darüber nachdenken, welche Umweltstandards wir benötigen, die innovativ sind Ernst Schwanhold (SPD): Es dauert nur noch zehn und der Industrie Handlungsspielraum eröffnen. Sekunden. — Er sagte: Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14885

Ernst Schwanhold Dünnbrettbohrer, der die Dinge nicht einmal dieser Krise hervorgehen, wenn wir ihnen in der ordentlich durchknetet, ehe er sie nach außen Politik die Chance dazu geben. Dann können Sie die bringt. Arbeitsplätze der Zukunft schaffen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Aber grundlegende Reformmaßnahmen müssen 90/DIE GRÜNEN) realisiert werden. Auch dies ist eine Bewährungs- probe der Sozialen Marktwirtschaft; auch dies ist eine Bewährungsprobe der Mitbestimmung in einer Vizepräsident Dieter -Julius Cronenberg: Ich erteile schwierigen Zeit, um zu zeigen, daß wir nicht nur bei nunmehr dem Abgeordneten Rainer Haungs das schönem Wetter, sondern auch in schwierigen Zeiten Wort. im Konsens zusammenarbeiten können. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Rainer Haungs (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu den Vorred- Es ist viel Richtiges über neue Produkte auf neuen nern der Opposition will ich nur das eine sagen: Hier Märkten gesagt worden. Ich brauche dies nicht zu verbreitet niemand Katastrophenstimmung, sondern wiederholen; darüber besteht ja auch überhaupt kein wir versuchen, gangbare Wege in einer sich- wandeln- Dissens. Hieran sollten wir arbeiten. den Welt aufzuzeigen und die Soziale Marktwirtschaft Aber Sie, lieber Herr Kollege Jens, haben weit unter so anzupassen, daß die Unternehmen die Rahmenbe- Ihrem sonstigen rednerischen Können dingungen haben, um das Hauptziel in den nächsten Jahren erreichen zu können: für unsere Bürger ren- (Zuruf von der CDU/CSU: Niveau!) table, wettbewerbsfähige Arbeitsplätze in Deutsch- — nein, „Niveau" wollte ich nicht sagen — und weitab land zu schaffen. von Ihren sonstigen politischen Positionen so getan, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) als ob dies alles alte Ladenhüter seien. Deregulierung des Arbeitsmarktes und statt Monopol Alles andere sind Nebenbemerkungen. Es ist per Wettbewerb bei der Bundesanstalt für Arbeit sind natürlich keine saldo unwichtig. Nur daran wird man uns messen. Ladenhüter, sondern Dinge, die in früheren Zeiten aus Deshalb ist es gut, daß der Wirtschaftsstandort vielerlei Gründen nicht durchgesetzt werden konn- Deutschland jetzt einer intensiven kritischen Prüfung ten. Ich stimme sowohl dem Herrn Bundesminister unterzogen wird, und dies nicht nur bei uns, sondern Rexrodt als auch dem zu, was gestern der Bundes- vor allem bei den Unternehmen in der ganzen Welt, kanzler gesagt hat, nämlich: Jetzt muß gehandelt die auf ihrer Suche nach attraktiven Standorten viele werden. Die Politiker werden nicht daran gemessen, Möglichkeiten haben. Uns muß daran gelegen sein, wie lange Berichte sie verfassen und wie schön sie die daß sowohl die deutschen Unternehmen als auch alle Dinge formulieren. Wir, die CDU/CSU-Fraktion, und Unternehmen in der Welt bei der Suche nach einem wir, die Wirtschaftspolitiker der Koalition, ermuntern Produktionsstandort die Chance haben, sich in Sie dazu, all die Dinge, die Sie als Handlungsmaxime Deutschland anzusiedeln und in Deutschland ihr Geld aufgeschrieben haben, da durchzusetzen, wo Sie es zu verdienen. können und wo Sie es zu verantworten haben. Die Chancen dafür, meine Damen und Herren, sind (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nicht schlecht. Wenn in der Woche, in der wir die Haushaltsdebatte führen und einen schwierigen Kon- Ich weise alle Begriffe wie „Ladenhüter" deshalb solidierungshaushalt beschließen, die Stärke der D- zurück, weil sie in die Irre weisen. Vielleicht werden Mark auch ein Zeichen für das Vertrauen in unsere Sie in zukünftigen Diskussionen im Ausschuß, lieber Politik ist, wenn die D-Mark im weltweiten Wettbe- Herr Kollege Jens, das große Geheimnis um Ihre werb derzeit so gut dasteht, dann ist dies auch ein zukunftsweisenden Rezepte lüften, die Sie uns, auch zuversichtliches Zeichen, daß die Welt uns zutraut, um unsere Aufmerksamkeit weiter zu fesseln, heute daß wir unsere Probleme in den nächsten Jahren noch nicht verraten haben. lösen. (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ (Beifall bei der CDU/CSU) CSU]: Die haben doch keine! — Ernst Hins Ich will Ihnen ein kurzes Zitat aus der „Times" ken [CDU/CSU]: Im Ausschuß ist es sehr vorlesen, weil der Blick über die Grenzen die Dinge vernünftig!) verdeutlicht. Dort wird freimütig und in aller Offenheit Ich gehe auf einzelne Maßnahmen ein, die ich für gesagt: notwendig halte. Ich gebe Graf Lambsdorff recht, daß Die Deutschen müssen anfangen, länger und es nicht reicht, nur generell über die Rückführung der härter, vor allem flexibler in weniger gut finanzi- Staatsquote zu philosophieren, sondern daß es not- ell gepolsterten Jobs zu arbeiten. Deutschland wendig ist, sie durchzusetzen. Wir gehen davon aus, muß seine strenge Kontrolle über den Arbeits- daß ein realistisches Ziel eine Rückführung um min- markt und die dazugehörenden Gesetze lok- destens 3 % sein wird. Deshalb ist alles Gerede über kern. die Einführung neuer Steuern, bevor Sie nicht kon- krete Vorschläge gemacht haben, wo Sie alte Steuern Darauf — ich meine, die „Times" hat recht — will ich verringern wollen, im heutigen Zustand nutzlos. Es in meinen kurzen Ausführungen eingehen. wird keine Kohlefinanzierungssteuer geben; es wird (Beifall bei der CDU/CSU) keine Arbeitsmarktabgabe geben; es wird keine Kli- Die Unternehmen in Deutschland haben längst masteuer geben, wenn sie nicht gemeinsam mit der erkannt, daß sie ihre Leistungs- und Wettbewerbsfä- Europäischen Gemeinschaft eingeführt wird, wenn higkeit verbessern müssen. Sie werden gestärkt aus sie nicht nur als Richtlinie beschlossen, sondern auch 14886 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Rainer Haungs gemeinsam umgesetzt wird. Denn wir müssen heute Wenn Sie als SPD-Kollege jetzt auch noch fordern alles andere machen, aber nicht über die Einführung würden, wir sollten die Mineralölsteuer senken, damit neuer Steuern philosophieren. mehr Lkws auf unseren Straßen fahren, wäre die Unlogik wohl auf die Spitze get rieben. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Wir versuchen, auch dem mittelständischen Ver- Ich begrüße es, daß im Standortbericht steht, daß ein kehrsgewerbe, das in einem harten europäischen Steuerkonzept noch in dieser Legislaturpe riode vor- Wettbewerb steht, Zukunftschancen zu geben. gelegt wird. Ich gehe davon aus, daß dieses neue Steuerkonzept sowohl die Besteuerung der Arbeit als (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) auch die Besteuerung der unternehmerischen Erträge Ich bitte Sie: Helfen Sie über Lippenbekenntnisse vermindert. Es ist doch eine völlige Verkennung der hinweg mit Deregulierung, mit Privatisierung und mit Wirklichkeit, lieber Kollge Jens, wenn gesagt wird, Verminderung der Regelungsdichte, mehr Wettbe- man solle keinen Steuerwettlauf machen. Einen Wett- werb zu erreichen. Helfen Sie mit, das Status-quo lauf können wir sowieso nicht beginnen; wir hätten Denken und die Lethargie zu überwinden und die ihn von Anfang an verloren. Wir müssen sowohl bei Aufgaben des Staates, die von P rivaten besser erfüllt der Besteuerung der Arbeit als auch bei der- Besteue- werden können, zurückzudrängen. rung der unternehmerischen Risikoerträge irgendwo (Vorsitz: Vizepräsident Hans Klein) im Mittelfeld vertreten sein und dürfen nicht von Aber überall, wo es zu konkreten Maßnahmen vornherein jede Investitionsentscheidung in Deutsch- kommt, sei es bei der Privatisierung der Bahnen, sei es land dadurch verhindern, daß wir die Ertragschancen bei der Privatisierung von Krankenhäusern, sei es bei gerade hier so gering ansetzen. dem Wettbewerb mit der Bundesanstalt für Arbeit bei (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sehr richtig!) der Arbeitsvermittlung, sind Sie doch nicht diejeni- Sie sagen doch immer, daß das Kapital in gewerbliche gen, meine Damen und Herren Wi rtschaftspolitiker Investitionen, in Risikoinvestitionen fließen muß, von der Opposition, die uns Wirtschaftspolitikern damit man am Geldmarkt nicht so viel verdient. Dann helfen, dies gemeinsam in den Volksparteien weiter muß man doch hier auch die Konsequenzen im steu- vorwärtszutreiben, sondern Sie sind doch die institu- erlichen Bereich ziehen. Ich hoffe, daß diese von uns tionalisierten Bedenkenträger. Das hilft uns nicht geforderte Komponente auch im Steuerkonzept der weiter. Bundesregierung zum Ausdruck kommt. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU) Ich begrüße, daß der Haushaltsentwurf, den wir heute beschließen, ein Beitrag zur Subventionsminde- Wir müssen die Lohnzusatzkosten senken. Von rung ist, aber wir sind hier erst auf dem Wege, und ich dieser Auffassung sind Sie wahrscheinlich gar nicht so ermuntere den Wirtschaftsminister, nicht nur bei weit entfernt. Aber dann dürfen Sie nicht von vorn- neuen Subventionen mutig zu sein, sondern auch bei herein jeden konkreten Vorschlag tabuisieren. Wenn den bestehenden Subventionen, wir beispielsweise, unabhängig von der Einführung der Pflegeversicherung, sagen, auch bei der Lohnfort- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: zahlung im Krankheitsfall müssen sozial verträgliche Nehmen Sie den Landwirtschaftsminister — ich betone dies ausdrücklich — Eigenbeteiligungs- ruhig dazu!) elemente, vielleicht degressiv gestaffelt, eingeführt mit uns zusammen überall da, wo es wirtschaftlich werden, dann muß man darüber diskutieren; denn sinnvoll ist — — auch dies bedeutet eine Erhöhung der Lohnkosten. Jeder von uns weiß, daß wir im Personalkostenbe- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, Ihre Rede- reich nie und nimmer mit Billigländern konkurrieren zeit ist abgelaufen. wollen und können. Darum geht es gar nicht. Wir müssen vielmehr auch hier den Unternehmen in Rainer Haungs (CDU/CSU): Ich werde mich sehr Zukunft die Chance geben, legal Arbeitskräfte nicht bemühen, zum Ende zu kommen, und hoffe auf etwas nur im High-tech-Bereich, sondern eben vor allem in Nachsicht des Präsidenten. der breiten industriellen Wi rtschaft, die bei uns mit- telständisch geprägt ist, zu beschäftigen. Vizepräsident Hans Klein: Entschuldigung, meine (Ernst Schwanhold [SPD]: Das Speditionsge Nachsicht ist unbegrenzt. Es geht auf Kosten der werbe wird zerstört!) nächsten Redner. —Würden Sie das nicht gern als Zwischenfrage stel- Ihre Redezeit ist abgelaufen. Sie haben noch einen len? Dann hätte ich ein bißchen mehr Zeit. Satz. (Lachen bei der SPD) Rainer Haungs (CDU/CSU): Ich begrüße, daß der Sie sagen, das Speditionsgewerbe werde zerstört. Haushaltsentwurf des Wirtschaftsministe riums eine Aber ich bitte Sie: Wir haben die Kraftfahrzeugsteuer Aufstockung des Eigenkapitalhilfeprogramms für die für schwere Lkws gesengt. Wir haben eine Umwelt- neuen Länder vorsieht, und rege an, daß wir uns zur komponente hineingebracht. Wir führen für Lkws die Schaffung neuer Unternehmen und damit zur Schaf- Vignette ein. Wir versuchen, in europäischer Abstim- fung neuer Arbeitsplätze in der gesamten Bundesre- mung die Wachstumschancen, die das Speditionsge- publik Deutschland überlegen, inwiefern wir mit werbe hat, auch steuerlich abzusenken. Haushaltsmitteln oder steuerlichen Ermäßigungen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) oder Finanzzuschüssen die Gründungsdynamik bei Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14887 Rainer Haungs neuen Unternehmen im Sinne eines Existenzgrün- Ich verstehe Ihre Kritik prinzipiell deshalb nicht, dungsprogramms unterstützen können. weil wir zum erstenmal eine 50%ige Reduzierung der Vielen Dank. Kraftfahrzeugsteuer für umweltfreundliche Fahr- eingeführt haben. Damit haben wir eine Ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — zeuge bindung zwischen Einführung neuer Technologien, Zuruf von der CDU/CSU: Das war ein Wettbewerbsverbesserung und Umweltverbesserung Satz!) bei den so oft gescholtenen Kraftfahrzeugunterneh- men geschaffen. Insofern sind die Krokodilstränen, Vizepräsident Hans Klein: Ich muß es leider sagen: die gerade Sie darüber weinen, daß das mittelständi- So intelligent es ist, einen Satz mit vielen „und" und sche Gewerbe nicht wettbewerbsfähig ist, in meinen „oder" zu erweitern, so sehr geht das dem nächsten Augen völlig unverständlich. Kollegen, dem letzten Kollegen von Ihrer eigenen Fraktion, von der Redezeit ab. (Beifall bei der CDU/CSU) (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Der ist für kurze Sätze bekannt!) Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile dem Kollegen Der Kollege Schwanhold hat Ihnen leider nicht die Christian Müller das Wort. Chance gegeben, Ihre Redezeit durch eine Zwischen- frage zu verlängern, hat sich aber clevererweise jetzt Christian Müller (Zittau) (SPD): Herr Präsident! zu einer Kurzintervention gemeldet. Bitte, Herr Kol- Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die heutige lege Schwanhold. Debatte bietet mir Gelegenheit, auf die Situation in (Zuruf von der CDU/CSU: Aber er hat keine der Deutschen Waggonbau Aktiengesellschaft zu- Zwischenfragen zugelassen!) rückzukommen. Ich bin meinen Kolleginnen Ing rid Matthäus-Maier und Hans-Ulrich Klose sehr dankbar dafür, daß sie in ihren Reden dieses Thema aufgegrif- Ernst Schwanhold (SPD): Herr Kollege Haungs, Sie haben auf meinen Zwischenruf hin fälschlicherweise fen haben und vor dem Hintergrund der Erfahrungen gesagt, daß Sie die Wettbewerbsnachteile des Spedi- mit der Begleitung notwendigen Strukturwandels in tionsgewerbes aufgehoben hätten. Ich stelle hiermit der alten Bundesrepublik nachdrücklich dafür plä- fest, daß 400 000 Arbeitsplätze des Speditionsgewer- dierten, Zeit zu kaufen, um der DWA eine Chance für bes auf Grund der nach wie vor vorhandenen Wettbe- die Zukunft zu geben. werbsnachteile gefährdet sind. Ich weise Ihnen dies (Beifall bei der SPD) insofern nach, als der Lkw-Steuersatz in Europa Warum das gerade für diesen ostdeutschen Indu- mindestens 1 400 DM betragen müßte, wir aber deut- striezweig so besonders wichtig ist, wird sich so lich über 5 000 DM liegen. Das macht allein beim mancher Zeitgenosse fragen, wo doch schon so viele Steuersatz einen Nachteil von 4 000 DM. Bei durch- Schlachten um ostdeutsche Industriezweige geschla- schnittlich 120 000 gefahrenen Kilometern pro Lkw gen und zumeist mehr oder weniger geräuschvoll sind das 30 DM pro Tonne und 1 000 Kilometer verloren wurden. Dafür gibt es schon eine Reihe Leistung. Das ist ein erheblicher Preisnachteil. gewichtiger Gründe. Zweitens. Was Sie als Sicherheitsstandard zum Denn dieser ostdeutsche Waggonbau ist der letzte Umweltschutz benannt haben, ist der Einstieg in das Industriezweig mit wirklich überregionaler wi rt Fahrzeug Euro 2, das es noch gar nicht gibt und das -schaftlicher Bedeutung im Osten, der sich bisher mit -nur unwesentliche Vorteile gegenüber dem Euro einigem Erfolg behauptet hat. Es ist nicht nur die 1-Fahrzeug bietet. Andererseits führen diese Wettbe- Tatsache, daß nach dramatischen Schrumpfungspro- werbsnachteile aber dazu, daß Billigländer auf den zessen in den letzten drei Jahren noch immer 9 000 deutschen Straßen durch Freigabe von Kabotage Menschen in ihrer Existenz vom Bestehen dieses dafür sorgen, daß weniger Frachten auf sicheren Lkws Unternehmens abhängen. transportiert werden und daß Sozialstandards nicht (Beifall bei der SPD) mehr eingehalten werden. Das erkläre ich hiermit zum Sicherheitsrisiko. Dem leisten Sie Vorschub. Nein, meine Damen und Herren, weitere rund 30 000 Arbeitsplätze im Bereich der Zuliefererindustrie sind (Beifall bei der SPD) auf direkte Weise vom Bestehen der DWA abhängig, nicht gezählt die Arbeitsplätze im Dienstleistungsbe- Vizepräsident Hans Klein: Nun hat nach unserem reich und im Handel, die von der Kaufkraft der Regelwerk der Angesprochene die Chance, zu erwi- Menschen leben. Wir reden also über vielleicht insge- dern. Bitte, Herr Kollege Haungs. samt 50 000 Arbeitsplätze und die künftige Existenz einer weitaus größeren Zahl von Menschen. Das ist Rainer Haungs (CDU/CSU): Ich will versuchen, das wohl Grund genug, sich mit diesem Thema zu befas- in einem Satz zurückzuweisen. Die entscheidende sen. Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit unserer Ich hoffe, wir stimmen überein, wenn ich feststelle: Branche besteht darin, daß wir zum erstenmal das Die DWA ist ein industrieller Kern im unmittelbaren geschaffen haben, was Sie seit Jahrzehnten fordern, Sinne der Bedeutung dieses Wortes. nämlich die europaweite Einführung einer Vignette für in - und ausländische Lkws zur Straßenbenutzung. (Beifall bei der SPD) Sie steht heute erst am Anfang, da sie europaweit Zahlreiche regional bedeutsame Unternehmen hän- nicht weiter durchzusetzen war. Sie wird in den gen von ihr ab. Würde dieser Konzern auf eine völlig nächsten Jahren den entscheidenden Wettbewerbs- unbedeutende Größenordnung reduziert oder im nachteil aufheben. Zuge der Privatisierung aufgeteilt, wäre das ein ver- 14888 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Christian Müller (Zittau) mutlich nie wieder zu heilender Bruch des ohnehin beit mit null Stunden für alle in der ersten Jahres- kaum noch vorhandenen Rückgrats der industriellen hälfte. Produktion in Ostdeutschland. Dies ist, so meine ich, Da außerdem der Druck zur Privatisierung der nicht hinnehmbar und ebensowenig politisch verant- DWA nahezu zeitgleich steigt, steht folglich die Frage wortbar. auf der Tagesordnung, in welcher Größenordnung (Beifall bei der SPD) und in welcher Verfassung die DWA oder ihre einzel- nen Unternehmen noch existieren werden, wenn in Aber, meine Damen und Herren, genau dieser den Jahren ab 1995 die angekündigten Aufträge Bruch droht jetzt zu beginnen, denn die zur Überbrük- bearbeitet werden könnten. kung des Jahres 1994 notwendigen Hermes-Kredite in Höhe von insgesamt 655 Millionen DM sind für die (Zuruf von der SPD: Das ist der Sachver DWA das Bindeglied in die Zukunft der nächsten drei halt!) Jahre. Die Vertreter der Regierung weisen zu Recht Der zweite Pferdefuß wird auch sofort sichtbar. Er darauf hin, daß in den letzten drei Jahren bereits steckt in der Kooperationsankündigung zwischen 4 Milliarden DM, davon zwei Drittel für die Zulieferer, DWA und Reichsbahnausbesserungswerken zur Her- - in Form von Hermes-Bürgschaften bereitgestellt wur- stellung von 250 Güterwagen. den und daß Aufträge der deutschen Bahnen beson- ders für den Görlitzer Waggonbau eine wichtige Hilfe Fest steht, daß die DWA-Unternehmen in Dessau waren. Dies ist ausdrücklich anzuerkennen. und Niesky bereits jetzt unter einer besonderen Form von Wettbewerbsverzerrung leiden. Gemeint ist nicht Es wird auch niemandem einfallen, die von Herrn etwa die schiefe Konkurrenzlage zu beispielsweise Rexrodt in Halle für den Waggonbau Ammendorf tschechischen Anbietern, der man durch höher spe- gegebene Zusage einer Hermes-Bürgschaft in Höhe zialisierte Produkte zu begegnen sucht. Nein, diese von 110 Millionen DM für das Jahr 1994 geringzu- Wettbewerbsverzerrung ist hausgemachter Art. Zu schätzen. Aber es bleibt festzustellen, daß diese DDR-Zeiten war die Reichsbahn gezwungen, ihre Summe trotz ihrer Höhe ein Tropfen auf einen heißen Waggons großenteils in einigen Reichsbahnausbesse- Stein ist. rungswerken herzustellen, denn das damalige Kom- (Beifall bei der SPD — Kurt J. Rossmanith binat Schienenfahrzeuge arbeitete fast ausschließlich [CDU/CSU]: 4 Milliarden?) für den Export. — Ich hatte gesagt: 110 Millionen DM. Heute ist es so, daß die deutschen Bahnen als Staatsunternehmen — und folglich stark subventio- Herr Bohl verwies gestern während der Rede von niert — in diesen Betrieben weiterproduzieren und Hans-Ulrich Klose auf die am 6. September von der sich nicht auf Ausbesserungsarbeiten beschränken. Regierung lautstark angekündigten Großaufträge für Unternehmen, wie die Waggonbaubetriebe in Niesky die DWA. Kein Zweifel: So dies denn wirklich durch und Dessau könnten nur mit extremen Dumpingange- Bestellungen der Bundesbahn untersetzt würde, ist boten im Wettbewerb um die Ausschreibungen der deren Wirkung für die DWA mittelfristig von großer Bundesbahn mit diesem bahneigenen Unternehmen Bedeutung. Ich betone aber: mittelfristig; denn all zum Zuge kommen. Das muß beendet werden. diese Aufträge in Form von Doppelstockwagen, S- Bahnen oder Teilen von ICEs würden erst ab dem (Beifall bei der SPD) Jahre 1995 wirksam. Dies ist der erste und entschei- Somit ist klar, daß die vorgesehene Kooperationsferti- dende Pferdefuß in dieser Ankündigung, die in der gung mit den daraus erwachsenden Anteilen für die DWA folglich nur eine Mischung aus Freude und beiden Unternehmen in Niesky und Dessau alles großer Sorge auslösen konnte. andere als eine reale Chance für die Zukunft dar- Um den auf diese Weise entstandenen Nebel zu stellt. lichten, will ich Ihnen die Situation an Hand der Lage Angesichts dieser Lage fordere ich: des Görlitzer Waggonbaus verdeutlichen. Dann wer- Erstens. Die Regierung muß unter Aufbietung aller den Sie hoffentlich verstehen, daß Zeit kaufen nichts Mittel für eine der gegenwärtigen mit Dauersubventionen zu tun hat. Überbrückung Situation der DWA sorgen, mit den beantragten Her- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) mes-Krediten, oder, wenn es nicht anders geht, mit Bundesbürgschaf ten. Nach drei Jahren härtester Arbeit, Rationalisierung in allen Bereichen, erheblicher Produktivitäts- und (Beifall bei der SPD) Qualitätssteigerungen inklusive bedeutender Investi- Zweitens. Diejenigen in Treuhandanstalt, Finanz- tionen aus dem Konzernaufkommen ist dieses Unter- ministerium und Wirtschaftsministerium, die sich mit nehmen wettbewerbsfähig. In diesem Jahr werden den Verhandlungen zur Privatisierung der DWA allerdings noch für 30 % der Produktion Hermes befassen, fordere ich im Namen meiner Kollegen auf, Deckungen benötigt. Nächstes Jahr sind es noch dafür zu sorgen, daß der DWA als funktionsfähigem einmal 50 %. Aber ab 1995 könnte das Unternehmen Konsortium im Sinne eines Systemanbieters der Weg ohne Hermes-Bürgschaften auskommen. in die Privatisierung eröffnet wird. Da aber der GUS-Auftrag für das erste Halbjahr (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke 1994 gebucht ist, folglich die Vorbereitungsarbeiten Liste) zu Beginn des Monats September 1993 theoretisch beginnen mußten, hieße die bisher nicht erfolgte Herr Rexrodt sagte am 2. September mit Blick auf Zusage für Hermes oder eine andere Garantie Kurzar die bekannten Bewerber um die DWA, die Privatisie- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14889

Christian Müller (Zittau) rer brächten ihre Märkte mit. Ich frage mich, welche Regierungszeit so hoch gesetzt haben, daß das Kfz Märkte dies sein könnten. Niemand in der DWA Gewerbe gefährdet wird. übrigens verschließt sich angesichts der Überkapazi- (Beifall bei der CDU/CSU) täten im deutschen Waggonbau dem Gedanken einer ausgewogenen Kapazitätsbereinigung. Dies hat dann Nun diskutieren Sie einseitig dieses Problem, obwohl aber gerecht und nicht einseitig zu Lasten der DWA zu wir, die Regierungsfraktion, in der Europäischen erfolgen, die bereits einen riesigen Kapazitätsabbau Gemeinschaft endlich eine Besserung durchgesetzt hinter sich gebracht hat. haben. Drittens. Die Bundesregierung wird angesichts der Ich will Ihnen ein zweites Beispiel zur Strukturkrise Situation der Hermesbürgschaften aufgefordert, den nennen. Wir haben soeben einige Ausführungen Weg zu neuen Osthandelsformen in größerem Stil zu gehört, was ein dem Staat sehr nahestehendes Unter- öffnen. Wir haben dazu unsere Vorschläge einge- nehmen wie die Deutsche Bundesbahn oder die bracht. Meine Kollegen und ich teilen ausdrücklich Deutsche Reichsbahn leisten sollte. Ich will hier offen den in der DWA vertretenen Standpunkt, die Ost- und ehrlich sagen: Es ist für mich eigentlich ein märkte nicht aufzugeben, da diese von Firmen ande- Skandal, daß wir in allen Gazetten lesen, wieviel rer Länder sofort besetzt würden. - Schulden die Treuhandanstalt für 12 000 Unterneh- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke men sozialistischer Mißwirtschaft zu verantworten Liste) hat. So falsch kann dies wohl nicht sein, denn dies wird Warum können wir in unserer wiedervereinigten auch von Daimler-Benz immer stärker zu hören Bundesrepublik nicht darüber reden, wie skandalös es sein. ist, daß ein Unternehmen, die Deutsche Bundesbahn, Viertens und letztens. Die Regierungen der ostdeut- 55 Milliarden DM Staatsschulden in die deutsche schen Bundesländer fordere ich auf, bei ihrem Eintre- Einheit mitgebracht hat? Sie müssen sich nun bewe- ten für die DWA nicht immer nur einseitig die im gen, damit endlich die Bahnreform, die Privatisierung jeweiligen Lande liegenden Unternehmen zu benen- dieses Unternehmens, stattfinden kann. nen. Die DWA benötigt die konzentrierte und gemein- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) same Unterstützung aller ostdeutschen Länder. Dies Wir können pro Tag zwischen 23 und 30 Millionen DM bedarf keiner näheren Begründung. Steuergelder sparen, jeden Tag, den diese Privatisie- Vielen Dank. rung eher stattfindet. Das sind die Beispiele für die (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Strukturkrisen in Deutschland West, die wir korrigie- Liste) ren müssen. (Zurufe von der SPD: Wer regiert denn? — Die Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Professor haben Sie doch verursacht!) Dr. Günther Krause, Sie haben das Wort. — Entschuldigung, das sind 30 Jahre. Es wäre gut gewesen, wenn diese Bundesregierung 30 Jahre durchweg hätte regieren können. Dr. Günther Krause (Börgerende) (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) In der Diskussion um die Wirtschaftspolitik in Dann hätten wir vielleicht die Probleme der Bahnre- Deutschland, denke ich, muß die Sachlichkeit einzie- form besser lösen können. hen. In einer Zeit, in der evolutionär bedingte Struk- turveränderungen in Westdeutschland und revolutio- Zur Anpassungskrise: Es ist doch absurd, zu glau- när bedingte Anpassungskrisen in Osteuropa eine ben, daß mit planwirtschaftlichen Mitteln und Metho- entscheidende Rolle spielen, dürfen wir Deutsche uns den die Anpassungskrise in Ostdeutschland gelöst nicht wie unter einer Käseglocke verhalten und so tun, werden kann. als ob der Untergang im eigenen Land kurz bevor- Ich möchte auch etwas Positives zur DWA sagen stehe. Wir sollten erst einmal feststellen, daß es uns — das ist von Ihnen mit Sicherheit nicht bewußt noch mit am besten von allen Staaten auf dieser Erde vergessen worden —: Es ist heute selbstverständlich, geht. daß zwischen Augsburg und München mittlerweile (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Doppelstockeisenbahnwagen, die in Görlitz produ- ziert werden, fahren. Das Unternehmen ist bereits auf Trotzdem ist es angebracht, die drei Krisen, in dem westdeutschen Markt. Es sind bereits Bestellun- denen wir zur Zeit die Wirtschaftsprobleme einzu- gen erfolgt. schätzen und zu bewerten haben, zu diagnostizieren, um dann Therapien zu finden, von denen heute Aber Marktwirtschaft hat etwas mit Angebot und teilweise zu Recht — aus meiner Sicht aber auch zu Nachfrage zu tun. Es hat keinen Zweck, der Bevölke- Unrecht — eine Verbesserung erwartet wird. rung weiter zu versprechen, daß es unendliche Reser- Ich möchte mit der Strukturkrise im Westen begin- ven beim Staat gebe, und dort, wo die Marktwirtschaft nen. Ich bin, Herr Schwanhold, über Ihre Einlassung nicht mehr in unserem Sinne funktioniert, die Betriebe wirklich sehr, sehr überrascht. Sie waren es doch, die durch Neuverschuldung oder durch Steuererhöhun- die permanente Belastung des Güterfernverkehrs in gen zu subventionieren oder mit einem anderen Deutschland, die Mineralölsteuererhöhung und „Lkw Anschein zu versehen. weg von der Autobahn auf die Schiene" gefordert Die Anpassungskrise in Ostdeutschland muß — hier haben. Sie waren es doch, die die Kfz-Steuern in Ihrer bin ich dem Bundeswirtschaftsminister für seine Akti- 14890 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Dr. Günther Krause (Börgerende) vitäten in den letzten Monaten dankbar — vor allem Investitionen hat letztendlich zu dem Wettbewerbs- zum Inhalt haben, daß ostdeutsche Menschen vor Ort nachteil in Deutschland geführt. Ich kann Ihnen nur auch ostdeutsche Unternehmer werden können. raten, daß die Märkte, die wir gegenwärtig haben, mit Wenn wir uns in unserer Wirtschaftspolitik an einer privatwirtschaftlichen Mitteln realisie rt werden, um Stelle verschätzt haben, so haben wir den Drang der die Anpassungskrisen zu überwinden. Deshalb ist es westdeutschen Wirtschaft, in den Osten zu gehen und wichtig, daß Sie sich der Zustimmung zu dem wichti- dort zu investieren, völlig überschätzt. Allerdings hat gen Investitionsmaßnahmegesetz nicht einfach ver- die Wirtschaft im Westen der Politik wesentlich mehr weigern, sondern es möglichst schnell mit beschlie- versprochen. Wir müssen Wege finden, daß das Enga- ßen, damit privat finanziert wird. gement und nicht die Resignation zu eigener unter- Warum muß der Haushaltsausschuß alljährlich dar- nehmerischer Tätigkeit das entscheidende Element über befinden, ob bestimmte Autobahnabschnitte in ist. Deutschland finanziert werden? Ist es nicht günstiger, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) wenn die Wirtschaft über ein Programm von zehn Jahren und das Berechnen des Break-even sich selbst Deshalb ist es ganz wichtig, daß wir Programme mit diesen Aufgaben befaßt? aufbauen, die die Eigenkapitalförderung sichern, damit das Sich-selbst-aus-dem-Problem-Befreien (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) zum Inhalt der Diskussion wird und nicht von morgens Meine sehr verehrten Damen und Herren, für mich bis abends und von abends bis morgens nach wie vor war es überraschend, daß die SPD nun auch im sozialen Systemen nachgeweint wird, die von ihrer Bereich der Verkehrspolitik dazugelernt hat und wir Effizienz her an verschiedenen Dingen vorbeige- in der Privatisierung der Bundesbahn und der Reichs- hen. bahn auf einem guten Weg sind. Mich freut vor allem, daß nicht nur das Auto in Deutschland von der SPD Ich mache Ihnen den Vorschlag, daß Sie beispiels- nicht mehr verteufelt wird, sondern auf Grund ihrer weise in einer Stadt wie Rostock — Sie haben auch veränderten Politik auch die Spediteure eine sichere in Ihrer eine sehr angenehme Kollegin von do rt Zukunft haben. Denn anscheinend wollen Sie, Herr Fraktion — schlicht und einfach den Versuch unter- Schwanhold, daß auch zukünftig in Deutschland der nehmen, als Privatmann in Auftrag zu geben, Sie Lkw weiter auf der Straße fährt. Das ist bei den möchten Ihr Bad gefliest haben. Sie werden von den Speditionen angekommen. dort ansässigen Unternehmen erfahren: Sie müssen etwa anderthalb Jahre warten. (Zuruf von der CDU/CSU: Hoffentlich war es keine Einzelmeinung!) Auf der einen Seite haben wir sehr, sehr viele Arbeitslose, auf der anderen Seite ist der Auftragsbe- Ich bin eigentlich guter Hoffnung, daß Sie in diesem stand dieser Unternehmen schon für anderthalb Jahre Bereich keine Mineralölsteuererhöhungsarien mehr im voraus bestellt. Es müssen dann wahrscheinlich singen werden. Ausbildungsplätze in diesem Bereich geschaffen wer- Vielen Dank. den. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Vielleicht hängt das auch damit zusammen, daß wir — der Arbeitsminister ist ja anwesend, lieber ehema- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Dr. Ulrich liger Kollege Blüm — doch die ABM-Stellen finanziell Briefs, Sie haben das Wort. überbewertet haben, so daß der natürliche Druck auf den Arbeitsmarkt nicht dazu führt, daß sich in Berei- (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Muß das chen, wo die Nachfrage heute schon wesentlich grö- jeden Tag sein?) ßer ist, Unternehmensveränderungen ergeben. — Das muß jeden Tag sein, Herr Kollege Faltlhauser. Das schreibt unser Recht vor. Ich möchte auf einen nächsten Punkt zu sprechen kommen. Wenn wir den enormen Anpassungsbedarf (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Das ist in den neuen Bundesländern und in Ost- und Mittel- schwer erträglich!) europa realisieren wollen, dann muß das private Kapital in Westeuropa, dann muß das private Kapital (fraktionslos): Herr Kollege Faltl- in Westdeutschland statt Steuergelder für öffentliche Dr. Ulrich Briefs hauser, Herr Kollege Hinsken, ich glaube, Sie sollten Aufgaben genutzt werden. besonders aufmerksam zuhören. Sie müssen noch Wenn wir antizyklische Programme ohne Steuerer- eine ganze Menge gerade auf diesem Gebiet ler- höhungen und ohne Neuverschuldung aufbauen wol- nen. len, dann müssen wir die Autobahnen in Ostdeutsch- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was wir land privat finanzieren, weil sie dann natürlich Steu- heute vom Bundeswirtschaftsminister gehört haben, ereinnahmen bringen und keine Steuergelder ko- war im Grunde ein sozialreaktionäres Manifest, das sten. nur schwach mit verbaler Anerkennung des Sozial- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — staates verbrämt war, nicht mehr. Lachen der Abg. Anke Fuchs [Köln] [SPD]) (Lachen bei der CDU/CSU) — Sie lachen. Die Franzosen machen dies seit Jahren Die Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung, in mit riesigem Erfolg. Der Wettbewerb beim Lkw, der einer marktwirtschaftlichen Ordnung zwangsläufig sich auf einer privat finanzierten Autobahn bewegt, ist eines der zentralen Elemente der Regierungspolitik, zwischen Franzosen und Deutschen in Frankreich geht unter Minister Rexrodt immer konsequenter auf natürlich gleich. Die Staatspolitik im Bereich der Konfrontationskurs gegen die sozial Schwachen und Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14891

Dr. Ulrich Briefs die abhängig Beschäftigten. Die Standortkrise ist etwas willkürlich aufgeworfene Standortdebatte sind dabei geradezu als Anlaß herbeigeredet worden, kein Beitrag zur Zukunftssicherung. um Arbeitnehmerschutzrechte, Gewerkschaftsrechte und Sozialleistungen abzubauen. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Briefs, schauen Sie einmal auf das rote Licht! Objektive Anhaltspunkte dafür, Herr Faltlhauser, daß dieses Land ein auslaufender Investitionsstandort ist, fehlen jedoch. Daß z. B. umfangreiche Investitions- Dr. Ulrich Briefs (fraktionslos): Ich komme zum mittel aus Deutschland ins Ausland fließen, ist nicht letzten Satz, Herr Präsident. das Ergebnis zu hoher Löhne oder Lohnnebenkosten; Diese Vorstellungen der Regierungskoalition und es ist Folge der außerordentlichen Exporterfolge und des Bundeswirtschaftsministers sind ein Signal zum der riesigen vagabundierenden Kapitalien in den Marsch zurück in verschärfte soziale Konfrontation, in Kassen der deutschen Wirtschaft, insbesondere der weitere ökologische Gefahren und auch — das habe Großindustrie. Die Bundesrepublik Deutschland ist ich leider gar nicht ansprechen können — in die bereits Nettoproduktivkapitalexportland — was für weitere Eskalation des Nord-Süd-Konflikts; denn ein Wort! — seit 1973. wenn wir auf diesem Wege weitermachen, dann - zwingen wir insbesondere die armen Länder der Der Zug der deutschen Wirtschaft ins Ausland Dritten Welt auch zunehmend dazu, noch mehr von begann Anfang der 70er Jahre. Er war eine Antwort ihren natürlichen Reichtümern und noch mehr von auf die von der Wirtschaft selbst im größten Wirt- ihrer eh schwachen Arbeitsproduktivität im Aus- schaftsaufschwung der Nachkriegszeit in den Jahren tausch für unsere High-tech-Produkte zu liefern. Was von 1969 bis 1972 geschaffenen Überkapazitäten. wir brauchen, ist eine Umkehr. Das ist überfällig. Und diese Überkapazitäten — Folge der Überakku- Herr Präsident, ich danke Ihnen. mulation, der Bildung eines riesigen, modernen, aber eben bei weitem nicht voll nutzbaren Produktions- Darf ich mir eine Anre- und auch Dienstleistungsapparates — sind das Kern- Vizepräsident Hans Klein: gung erlauben, Herr Kollege Briefs, da Sie ja mit Ihren problem der Wirtschaft im neuen Deutschland und kurzen Redezeiten immer ein bißchen ins Schwimmen werden es sein. kommen: Wenn Sie den Schluß an die Spitze stellen, Der kurze Wiedervereinigungsboom der Jahre 1990 dann haben Sie das, was Sie sagen wollen, schon mal und 1991 hat übrigens — aber das nur in Westdeutsch- übergebracht. land — zu einem Investitionsstoß geführt, der diese (Heiterkeit) Überkapazitäten nach dem Auslaufen des Booms Ich erteile dem Bundesminister für Wi rtschaft, noch um ein ganzes Stück erhöht hat. Die Zahlen Dr. Günter Rexrodt, das Wo rt . sprechen da eine unmißverständliche Sprache. Diese ökonomisch dominierende Grundtatsache schlägt Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister für Wirtschaft: sich aber auch in entscheidender Weise bei den Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe Kosten nieder. Das wird immer vergessen. Ich zitiere noch einmal um das Wo rt gebeten, um einen Satz zu aus einer Rede von vor ziemlich genau einem Jahr: DWA zu sagen. Ich greife da den Beitrag von Herrn Angesichts der rasant steigenden Kapitalintensität Christian Müller auf, der auch von dem abwich, was — 1970 kostete ein Arbeitsplatz im Durchschnitt man hier sonst an Polemik heute morgen gehört hat, 51 000 DM, 1992 bereits über 230 000 DM —, ange- und der von einer echten Sorge um dieses Werk sichts der mit moderner Technik unvermeidlichen getragen war. Diese Sorge ist berechtigt, und deshalb Verteuerung der Arbeitsplätze treten die Personalko- ein Wort dazu. sten in den Hintergrund. Der Anteil der Löhne am Wir wissen alle, meine Damen und Herren, daß Industrieumsatz betrug im Ernährungsgewerbe 1987 DWA ein modernes Waggonbauunternehmen ist, das lediglich 11 %; er ist heute noch niedriger. In der entsprechend der Politik der Erhaltung, Sicherung Automobilindustrie waren es nur 17 %, in der Chemie und Erneuerung der industriellen Kerne Zeit bekom- 19 %, in der Stahlindustrie 21 %, in der Elektrotechnik men soll, um in neue Märkte und neue Produktlinien 27 %, im Maschinenbau 29 %. hineinzuwachsen. In diesem Sinne ist in dieses Unter- nehmen — ich darf die Zahl in Erinnerung rufen — seit Der Fixkostenanteil bei Investitionsgütern — das ist 1990 der Betrag von 4 Milliarden DM an Hermes der entscheidende andere Anteil — betrug in den 70er Bürgschaften übernommen worden. 4 000 Millionen Jahren 39 %, in den 80er Jahren 43 % und in den 90er DM für die Sicherung eines einzigen Werkes! Das ist Jahren bislang 48 %. Und da sind wir beim Kernpro- ein riesenhafter Betrag. 1991 waren es 1,5 Milliarden blem. Die modernen Produktionskapazitäten, die wir DM, 1992 ebenfalls 1,5 Milliarden DM. aufgebaut haben und weiter aufbauen, machen diese Wir alle wissen, daß es dieses Unternehmen nur Fixkosten immer deutlicher zu dem drückenden Pro- schaffen kann, wenn es sich zu einem guten Teil auf blem der Betriebe. westliche Märkte umorientiert. Wir wissen alle um die Darauf antworten Sie jetzt, indem Sie bei den Zahlungsschwierigkeiten Rußlands und anderer Staa- inzwischen nachrangig gewordenen Personal- und ten der GUS. Deshalb wollen wir diese Märkte nicht Personalnebenkosten ansetzen. Nein, Herr Bundes- ganz aufgeben. Das können wir auch nicht. Aber es ist wirtschaftsminister Rexrodt, das ist keine zukunfts- nicht die Zukunft dieses modernen Werkes, nur auf weisende Politik, das ist keine Politik, die Lösungen diese Region ausgerichtet zu sein. bringt. Diese Politik bringt Verschärfungen. Insbeson- Was DWA angeht, sage ich Ihnen: Das ist Beweis dere dieser Etat und die von Ihnen, wie ich meine, dafür, daß wir in der Politik der raschen und verant- 14892 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Bundesminister Dr. Günter Rexrodt wortlichen Privatisierung dieser Unternehmen, auch Unsere Mitbürger in der DDR sind um diese Früchte der industriellen Kerne, fortfahren müssen. Meine betrogen worden, es war nicht ihre Schuld. Aber es Damen und Herren, nur wenn dieses Werk in abseh- bleibt auch jetzt, Herausforderungen anzunehmen. barer Zeit privatisiert wird, werden wir die Märkte Wer sie besteht, ist dabei Gewinner. Nur, meine haben, werden wir das Know-how haben, werden wir Damen und Herren, ist die Frage, ob wir die Kondition die unternehmerischen Fähigkeiten haben, um dieses dazu haben. Werk am Leben halten zu können. Das ist Beweis dafür, daß die Politik, die von der Treuhand gemacht Ich stelle fest: Jeder verlangt etwas vom anderen, und von der Bundesregierung getragen wird, unver- und alle zusammen verlangen etwas vom Staat. Das zichtbar ist. Die Menschen müssen das verstehen. Die unterscheidet das Jahr 1993 von dem Jahr 1945. An Unternehmensführungen können nicht immer nur die Stelle des alten autoritären Vaters Staat ist die nach Bürgschaften rufen — das auch —, sondern sie neue, alles besorgende Mutter Staat getreten. Aber es müssen Unternehmenspolitik und Unternehmenssi- ist in beiden Fällen gleich: Bürger werden wie Kinder cherung betreiben und dürfen nicht immer nur den behandelt. Das ist nicht mein Verständnis vom Staat, Ruf an den Staat laut werden lassen. das ist nicht mein Verständnis vom mündigen Bür- ger. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU- — Widerspruch bei der SPD) Die Einsicht in die Unausweichlichkeit der Verän- derung ist allgemein; Sie haben es gerade bestätigt. Aber der Wille zur Veränderung ist keineswegs Vizepräsident Hans Klein: Ich will jetzt keinen überall vorhanden. Kompensatorisch retten wir uns konkreten Fall aufführen, aber doch die Gelegenheit über diese Diskrepanz mit einem folgenlosen Wort- nutzen, zu sagen: Es empfiehlt sich, wenn man selber schwall hinweg. Forderungen, die längst erledigt gesprochen hat, wenigstens bis zum Ende dieser wurden, Ergebnisse tauchen plötzlich als neue Forde- Debatte im Raum zu bleiben. rungen auf. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich finde, man kann vom Handwerk etwas lernen: Immer nur ein Werkstück im Schraubstock und nicht Alle haben viele Verpflichtungen, aber die Sorge um pausenlos debattieren und verändern. Hier bricht ja ein bestimmtes Thema wird etwas glaubwürdiger, schon Langeweile aus, wenn nicht jeden Tag ein wenn man sich auch noch die Gegenargumente neuer Vorschlag gemacht wird, der übermorgen anhört. schon veraltet ist. Dabei meine ich, es kommt nicht nur (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wenn man da auf Gesetze an, sondern auch auf die Praxis. Ich ist, ohne geredet zu haben, ist es noch besser! glaube, die Sozialpolitiker insgesamt — das will ich — Gegenruf von der CDU/CSU: Das sollten nicht nur für die Koalition reklamieren — haben in den Sie mal beherzigen!) letzten Jahren bewiesen, daß sie nicht nur reden, — Das ist noch besser — wie wir zum Beispiel, Frau sondern auch handeln. Aber es kommt nicht nur auf Kollegin. Paragraphenveränderungen an, sondern auf die Pra- xis. Es kommt nicht nur auf Gesetze an, sondern auf Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereich das Angehen von Besitzständen, die sich in Gewohn- liegen nicht vor. heiten festgemacht haben. Daß wir in der Flexibilisie- Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesmi- rung nicht weitergekommen sind, liegt zum gering- nisters für Arbeit und Sozialordnung. Ich erteile das sten Teil am Gesetz, es liegt zum größten Teil am Wort dem Bundesminister für Arbeit und Sozialord- mangelnden Veränderungswillen in der Praxis. nung, Dr. Norbert Blüm. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und Ich stelle auch eine Menge von Widersprüchen fest. Sozialordnung: Herr Präsident! Meine Damen und Ein Widerspruch: Die hohen Lohnnebenkosten wer- Herren! Wir leben in einer Zeit großer Veränderun- den beklagt, sehr zu Recht. Die steigenden Lohnne- gen. benkosten werden aber merkwürdigerweise sonntags beklagt, und werktags wird alles getan, daß sie (Zuruf von der SPD: Das ist nichts Neues!) steigen. — Das ist nichts Neues. Aber es gibt Wahrheiten, die man wiederholen muß, damit jeder einsieht, daß die Ein Großteil der betrieblichen Personalprobleme Zukunft nicht einfach die Verlängerung der Gegen- wird nämlich auf Kosten der Sozialkassen gelöst: wart ist. Aber solche Veränderungen sind ja nicht Frühverrentung — quer durch Deutschland. Mir langt einmalig. die Redezeit gar nicht, um alle Firmen vorzuführen, Was nach dem Krieg passiert ist, war an Herausfor- die sonntags Lohnnebenkosten beklagen und werk- derung mindestens dem gleich, was wir heute zu tags die 55jährigen der Bundesanstalt für Arbeit bewerkstelligen haben. Millionen von Flüchtlingen, zuschieben und wo die 60jährigen Rentner werden. die integriert werden mußten, 15 Millionen Vertrie- f(Beifall bei der SPD — Ingrid Matthäus bene, zerstörte Städte, Kriegsgefangene, die mit Maier [SPD]: Warum wird denn da nicht ruinierter Gesundheit zurückkehrten. Wir haben geklatscht?) diese Herausforderung bestanden. Wenige Jahre spä- ter haben andere vom Wirtschaftswunder gesprochen. — Das können wir nur gemeinsam, gemeinsam müs- Das war überhaupt kein Wunder, das war das Ergeb- sen wir gegen diese Art von doppelter Buchführung, nis von Fleiß und Anstrengung. von doppeltem Boden reden. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14893

Bundesminister Dr. Norbert Blüm Ich will einen anderen Widerspruch aufzeigen: staates. Denn es kann ja nicht der Sinn sein: Je höher Einerseits gibt es einen Anwerbestopp für ausländi- die Ausgaben, um so besser ist der Sozialstaat. Dann sche Arbeitnehmer, wäre ja die Erhöhung der Arbeitslosigkeit ein Beitrag (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Da zur Verbesserung des Sozialstaates. kann man nicht klatschen, da muß man (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der entsetzt sein!) SPD) — richtig —, andererseits halten wir aber mancherorts Also sagt die Höhe der Soziallastquote noch nichts Arbeitsplätze in der Landwirtschaft, in der Gastrono- über die Qualität des Sozialstaates aus. mie und auf dem Bau für deutsche Arbeitnehmer für unzumutbar. Über diese Lebenslüge retten wir uns Das Thema Beschäftigung ist das große herausra- durch illegale Beschäftigung, was nichts anderes ist gende Thema, auf das wir uns konzentrieren sollten, als eine moderne Form von Menschenhandel und Beschäftigung erstens für diejenigen, die arbeiten Ausbeutung. Ein klassischer Widerspruch! können und wollen, zweitens auch derjenigen wegen, die auf den Sozialstaat angewiesen sind, wobei die (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der Arbeitsmarktpolitik, meine Damen und Herren, nur SPD — Ingrid Matthäus-Maier [SPD]:- Die flankierend tätig sein kann. ganze erste Reihe der CDU/CSU schweigt! — Gegenruf des Abg. Dr. Walter Franz Altherr (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der [CDU/CSU]: Wir sind nachdenklich gewor SPD) den, Frau Kollegin!) Deshalb warne ich auch vor einer neuen Platzan- Nun glaube ich auch, es muß gespart werden. Im weisung: im ersten Arbeitsmarkt die Jungen und übrigen will ich darauf aufmerksam machen, daß wir Gesunden und im zweiten Arbeitsmarkt — dafür ist seit zehn Jahren sparen. Wenn die Sozialpolitik nicht dann die Sozialpolitik zuständig — die Älteren, Behin- seit zehn Jahren konsolidiert hätte, dann wären wir derten und Kranken. Das wäre eine neue Klassenspal- der Herausforderung der deutschen Einheit gar nicht tung. gewachsen gewesen. Insofern beginnen wir mit den (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der notwendigen Maßnahmen nicht erst heute. SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Unser Sinnen muß es doch sein, den ersten Arbeits- Auch jetzt muß gespart werden, und zwar aus sozialen marktzugang für diejenigen zu öffnen, die es schwer Gründen. haben. Deshalb Lohnkostenzuschüsse für Langzeitar- (Zuruf von der F.D.P.: Jetzt klatschen die beitslose. Wir haben trotz der Sparnotwendigkeit nicht!) keine Mark bei unserem Programm zur Vermittlung der Langzeitarbeitslosen gespart. Ich kann keinen Sinn darin sehen, durch Schuldenma- chen die Preise in die Höhe zu treiben. Von der Ich will auch zu ABM etwas sagen. Das war ja eben Preissteigerung werden als erste die Arbeitnehmer, schon Gegenstand der Wirtschaftsdebatte. Ich vertei- die Rentner, die sozial Schwachen betroffen. Inflation dige ABM. Ohne ABM sähe die Welt in den neuen war immer der Taschendieb der kleinen Leute. Wenn Ländern ganz anders aus. wir durch Sparen Inflation bekämpfen, machen wir (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der eine soziale Politik. SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich weiß, daß man auch vieles besser machen kann Es muß auch gespart werden, um Arbeitsplätze zu und muß. Ich will nur noch einmal darauf hinweisen: ermöglichen. Die Quelle des Sozialstaates ist die Es ging doch zunächst einmal darum zu retten. Da Arbeit. Was wäre das für ein Sozialstaat, der die Kuh gehöre ich nicht zu den sublimen Ordnungspolitikern, schlachtet, die er melken will. So dumm ist kein Bauer, die fragen, ob mit Schwimmweste oder mit Rettungs- und so dumm sind auch nicht die Sozialpolitiker. ring, sondern zunächst ging es um das Retten. Das hat (Zuruf von der CDU/CSU: Aber nicht alle!) ABM geleistet. Wir hätten sonst zwei Millionen Arbeitslose mehr! Und ein drittes. Es geht auch um die Gestaltungs- rechte des Parlaments. Würden wir die Schulden in (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der die Höhe treiben, dann hätten wir im Haushalt nichts SPD) mehr zu beraten. Wir müßten nämlich nur noch die Es kann kein Dauerzustand sein, sonst wäre ABM Steuereinnahmen dazu verwenden, die Zinsen und eine Art zweiter Arbeitsmarkt auf Dauer für diejeni- ihre Tilgung zu bezahlen. Dann könnten wir im gen, die in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden Parlament hochrechnen, wann wir die Haushaltsbera- müssen. Bei dieser Arbeitsverteilung funktioniert das tung einstellen können. Da gibt es dann nur noch Ganze nur wie eine Drehtür: Aus dem zweiten einen Posten: Schuldendienst. Arbeitsmarkt kommt einer in den ersten, dafür fliegt (Zuruf von der SPD: So weit sind wir fast! — einer aus dem ersten in den zweiten. Das Ganze ist ein Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: beschäftigungspolitisches Nullsummenspiel. Deshalb Wenn Ihr weiter so regiert, wird es so brauchen wir Beschäftigung auf dem ersten Arbeits- sein!) markt. Die Quelle des Sozialstaates — es ist wiederum fast Was die Tarife anbelangt, so muß es einen Anreiz eine Banalität — ist die Arbeit. Deshalb sagt auch die geben, in den ersten Arbeitsmarkt zurückzukehren. Soziallastquote gar nichts über die Qualität des Sozial Das größere Problem scheint mir — auch das sage ich 14894 Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Bundesminister Dr. Norbert Blüm gegenüber meinem sehr verehrten Kollegen Kraus — Menschen. Zu den großen Stabilisatoren unseres der fehlende Einstufungsmut zu sein. Das gilt im Sozialstaats gehört die Rentenversicherung. übrigen auch für die Tarifpolitik. Darauf hat vor (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Jawohl!) wenigen Tagen der Arbeitsmarktexperte der BDA hingewiesen. Die Rentenversicherung hat alle Stürme des letzten Jahrhunderts und zwei Weltkriege überstanden. Nie Es gibt ein breitgefächertes, differenziertes Tarif- mehr soll so etwas kommen. Sie hat sie besser über- feld. Es gibt auch große Spannen: bei den Arbeitern standen als alle Privatversicherungen zusammen. von 97 %, bei den Angestellten von über 200 %. Es fehlt, daß die unteren Tarifgruppen gar nicht besetzt (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der sind.iß Es fehlt am Einstufungsmut. Ein Teil der M SPD) basiert darauf,-stände im ABM-Bereich daß falsch Nun möchte ich für die Sozialpolitiker aus allen eingestuft wurde. Das mag daran liegen, daß man das Parteien — ich bin nicht kleinkariert — sagen: Hätten Geld vom Arbeitsamt bekommt. Deshalb könnte der alle politischen Bereiche so weitsichtig und so voraus- § 249 h viel sinnvoller sein. Da muß nämlich von den schauend gehandelt wie wir in der Rentenreform, Trägern beigestellt werden. Dabei ist der Druck, sähe es in Deutschland anders aus. richtig einzustufen, größer, als wenn man das Geld vom Arbeitsamt zu 100 % bekommen kann. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Sehr richtig!) Wir haben diese Rentenreform nicht für die näch- Ich, meine Damen und Herren, liebe Kollegen, sten drei Jahre gemacht. Wir haben sie, eingestellt auf glaube, daß die Beschäftigungspolitik den zweiten die Herausforderungen und Veränderungen der Arbeitsmarkt überfordert, wenn er die Hauptlast tra- Zukunft, gemacht. Diese Rentenreform war sehr flexi- gen soll. Mir scheint, daß wir neue Beschäftigungsfel- bel. Das war nicht Veränderung. Es galt, den Abbruch der brauchen, daß wir mit der alten Angebotsstruktur der Alterssicherung in der alten DDR durch Integra- nicht aus dem Tal herauskommen. Ich sehe neue tion in unser Rentensystem abzufangen. Beschäftigungsfelder im Bereich der Dienstleistung, und zwar gerade der personalen Dienstleistung. Wir haben in diese Rentenreform alle Hebel einge- baut, um auf Veränderungen antworten zu können. Wir sind in einer Gesellschaft, in der der Single zu Beispielsweise haben wir, damit sich die Lebensar- dominieren beginnt. In manchen Regionen ist schon beitszeit verlängert, einen Steuerungsmechanismus jeder zweite Haushalt ein Singlehaushalt. Ich bewe rte eingebaut: Ein Jahr weniger Rentenlaufzeit bedeutet das gar nicht moralisch. Viele Dienstleistungen einen Beitragspunkt. Im übrigen scheitert die heutige jedoch, die früher unter dem Dach der Fami lie Lebensarbeitszeit nicht an gesetzlichen Grenzen, die erbracht wurden, müssen jetzt über den Markt orga- tatsächliche Verrentung, der tatsächliche Eintritt in nisiert werden. Das sind ganz neue Beschäftigungsfel- das Rentenalter findet heute mit 59 Jahren statt. Wer der, und pfiffige Unternehmer werden diese Beschäf- eine gesetzliche Veränderung angeht, soll erst einmal tigungslücke auch noch entdecken. die Wirklichkeit verändern; denn das wirkliche Ren- tenalter liegt unter dem gesetzlichen. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Sehr richtig!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich meine dabei personale Dienstleistungen. Wenn der CDU/CSU) irgendwann alles vernetzt und alles verkabelt ist, dann wird eine große Sehnsucht nach Dienstleistun- Dafür allerdings brauchen wir Arbeit; das ist das gen von Mensch zu Mensch entstehen. Das wird der Geheimnis aller sozialen Sicherheiten. Rückstoß sein. Deshalb brauchen wir eine Pflegever- Freilich, wenn weniger Kinder geboren werden, sicherung. Sie wird die pflegerische Dienstleistung haben wir morgen auch weniger Beitragszahler; das umfassen. Eine neue Infrastruktur von nachbarschaft- ist richtig. Allerdings reichen Kinder allein auch nicht lichen Diensten, eine neue Infrastruktur von hauswirt- aus. Die Kinder von heute brauchen morgen Arbeit, schaftlichen Diensten könnten ein Beschäftigungsfeld um Beitragszahler zu sein. für jene eröffnen, die in der Computergesellschaft nicht unterzubringen sind. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD) Drei Millionen Arbeitsplätze für Ungelernte fallen Ich will noch einen Hebel nennen, der fast automa- weg. Wir werden nicht nur mit Qualifizierung antwor- tisch funktioniert: Die Frauenerwerbstätigkeit nimmt ten können. Ihre Begabung liegt auf einem anderen zu. Sie liegt im Westen 12 % unter der in den neuen Feld. Ich kann sie nicht als minderbegabt bezeich- Bundesländern. Wenn sich das Erwerbsverhalten der nen. Frauen im Westen auch nur um 1 % dem anderer Deshalb finde ich: Die Gesellschaft ist in ihrer Industrienationen anpaßt, haben wir 2 Milliarden Innovation aufgefordert, nicht auf den alten, ausgetre- mehr Einnahmen. tenen Trampelpfaden der Gewohnheiten weiterzu- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das haben Sie gut marschieren, sondern neue Beschäftigungsfelder zu begriffen!) finden. Für diese müssen wir allerdings auch Rahmen setzen. Wir haben in der Rentenreform — so klug waren wir damals —, leider nicht mit Zustimmung der SPD, auch Meine Damen und Herren, in einer Zeit großen dafür gesorgt: Wenn der eigenständige Anspruch auf Umbruchs, großer Veränderungen, brauchen wir Rente der Frau steigt, dann sinkt der Hinterbliebenen- auch Stabilisatoren. Veränderungen als Tabula rasa anspruch. Das ist ein Teil unserer Rentenreform. Auch kann man mit Bauklötzen machen, aber nicht mit dies ist eine Entlastung der Rentenversicherung. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14895

Bundesminister Dr. Norbert Blüm Ich mache darauf aufmerksam, daß wir gegen viele Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und Widerstände — so populär war das nicht — die Sozialordnung: Bitte. Nettolohnrente eingeführt haben. Ich will Ihnen das Verdienst lassen, daß Sie dabei Pfadfinder waren in Rudolf Dreßler (SPD): Herr Minister Blüm, stimmen dem Sinne, daß sie vor der Truppe da waren. Immer- Sie mir zu, daß das, was Sie gerade beklagen, unter hin haben wir die Nettolohnrente eingeführt — Ihrer Federführung im Jahre 1991 mit der Mehrheit (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Alle miteinan der CDU/CSU- und der F.D.P.-Fraktion unsinniger der!) weise in das Gesetzblatt geschrieben wurde? alle miteinander — mit dem klugen Regelkreis, daß, Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und wenn die Beiträge der Aktiven steigen, die Rentenan- Sozialordnung: Herr Abgeordneter Dreßler, Sie waren passungen sinken. Insofern sitzen wirklich zum es auch, die beklagten, daß wir zuwenig Fortbildung erstenmal alt und jung in einem Boot; denn jetzt und Umschulung betreiben. Dann würden wir ja über müssen auch die Rentner daran interessie rt sein, daß den Beitragszahler noch mehr bezahlen. — Sie haben die Beiträge stabil bleiben. Deshalb eignet sich der zur Finanzierung eine Arbeitsmarktabgabe vorge- Beitragssatz nicht zur Steuerung. Er würde nämlich schlagen. den Regelkreis eliminieren. Der Regelkreis- „Beitrag — Rentenleistung" ist die Sicherheit dafür, daß wir (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Ja!) nicht pausenlos intervenieren müssen. In mir haben Sie keinen, der diesen Vorschlag ablehnt. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Erzählen Sie das einmal Herrn Rexrodt; der hat das noch nicht (Zustimmung bei der SPD) verstanden!) — Nun einmal langsam, damit Sie Ihren Beifall in Im übrigen mache ich darauf aufmerksam, daß wir Grenzen halten! derzeit den niedrigsten Beitragssatz seit 1972 haben, (Heiterkeit bei der CDU/CSU) daß wir die Beiträge gesenkt haben — das hat im Aber ich stelle fest: Wenn der Finanzminister heute übrigen die SPD schon vor uns beantragt; ich sage das, einen Bundeszuschuß in großer Höhe zahlen muß, damit ich nicht nachträglich kritisiert werde — und auf dann ist das dreimal mehr als die ganze Arbeitsmarkt- diese Weise den Beitragszahlern, den Arbeitnehmern abgabe, und dieser Bundeszuschuß wird durch Steu- und Arbeitgebern, in den letzten zwei Jahren 37 Mil- erzahler finanziert, liarden DM erspart haben. 37 Milliarden DM, gefrüh- (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) stückt und vergessen; es redet niemand darüber, welche Leistungen wir erbracht haben. auch durch die Höherverdienenden, von diesen pro- portional mehr. (Zuruf von der SPD: Verschiebebahnhof!) Aber, Herr Kollege Dreßler, lassen Sie uns das — Sagen Sie nicht „Verschiebebahnhof" . Sie haben es festhalten: Wir stimmen darin überein, daß die Lasten- selbst, und zwar noch vor uns, beantragt. verteilung bei der Bundesanstalt für Arbeit neu gere- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Dann waren wir gelt werden muß, um die arbeitsplatzabhängigen die Pfadfinder!) Sozialkosten zu mindern. Das ist, finde ich, doch ein Meine Damen und Herren, wenn jemand fragt: Wo gutes Ergebnis unserer Debatte heute. können wir den Sozialstaat entlasten?, und dann noch die weitergehende Frage stellt: Wo wir bei arbeits- Vizepräsident Hans Klein: Kollege Dreßler hat platzbezogenen, lohnabhängigen Sozialleistungen gleichwohl noch eine Frage. Entlastungen schaffen?, dann weiß ich mehr als einen (Zuruf von der CDU/CSU: Die wird doch Vorschlag. Die Bundesanstalt für Arbeit zahlt 50 Mil- auch nicht besser!) liarden DM für Arbeitsmarktpolitik. Bei vielen dieser Maßnahmen läßt sich die Frage stellen, wieso sie Rudolf Dreßler (SPD): Herr Bundesminister, ist eigentlich der Beitragszahler finanziert. Ihnen aufgefallen, daß Sie meine Frage bisher nicht Ich will das einmal in einem Beispiel deutlich beantwortet haben? machen: Wenn sich der Werkzeugmacher Norbert (Heiterkeit bei der SPD) Blüm zum Bauzeichner umschulen läßt, dann bezahlt das der Beitragszahler. Wenn der Akademiker Blüm Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und ein Zweitstudium beginnt, dann bezahlt das der Sozialordnung: Ich habe Ihnen Ihre Alternative Steuerzahler. Erkläre mir mal einer die Rationalität genannt; die Alternative war Arbeitsmarktabgabe, dieser Verteilung von Lasten! Deshalb werden wir und ich sage: Wir haben durch Bundeszuschüsse die darüber nicht nur nachdenken, sondern die Lasten der Kosten, welche die Arbeitsmarktabgabe abgedeckt Bundesanstalt neu ordnen müssen: Welches Risiko hätte, mehr als dreifach abgedeckt. Ich bleibe dabei, muß mit Beitrag finanziert werden, und welches daß wir in dieser Weise auch die Neuordnung vorneh- Risiko ist ein allgemeines Risiko? men müssen. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD) Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Dr. Weng möchte Sie ebenfalls etwas fragen.

Vizepräsident Hans Klein: Herr Bundesminister, Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (F.D.P.): Herr Bun- gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dreß- desminister, wenn ich unterstelle, daß wir diesen Weg ler? 1991 aus guten Gründen beschritten haben — das war 14896 Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) ja auch eine Frage der jeweiligen Finanzsituation, der Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und jeweiligen Kasse und eine jeweilige Sondersitua- Sozialordnung: Richtig. Mit dem, was ich vorschlage, tion —, geben Sie mir dann recht, daß, wenn wir jetzt will ich keine Verschlechterung der Arbeitsmarktpoli- überlegen, ob diese Dinge aufgelöst werden, trotzdem tik, sondern eine andere Finanzierung, wobei ich eine auch die Finanzierungsfrage geregelt sein muß und Steuerfinanzierung für die einfachste und auch sach- der einfache Hinweis „steuerfinanziert" nicht heißt, dienlichste halte. Dann brauche ich alle weiteren daß hier Geld vorhanden ist, sondern daß dieses dann Umwege nicht. durch Einsparungen an anderer Stelle (Beifall der Abg. Uta Würfel [F.D.P.]) (Zuruf von der CDU/CSU: Geld hat man zu haben!) Ich will noch etwas hinzufügen. Wir haben in der Tat auch im Zuge der deutschen Einheit in der Sozialver- erarbeitet, erbracht werden muß sicherung große Lasten geschultert, getreu der (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Arbeitsmarktab Maxime Solidarität in der Sozialversicherung; dar- gabe!) über sollten wir nicht lange streiten. Dennoch bitte ich und daß wir dann sehr dankbar sein würden, wenn alle Kritiker der Sozialversicherung, nicht zu verges- sen, daß die Beiträge 3 % niedriger wären, wenn die uns die SPD hier mit Vorschlägen und mit -Unterstüt- zung dessen, was wir tun, zur Seite stünde? Sozialversicherung dies nicht geschultert hätte. Dennoch bitte ich zu berücksichtigen, daß wir trotz Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und dieser Lasten 1992 die gleiche Soziallastquote wie Sozialordnung: Herr Kollege Weng, Ihre Frage war 1982 hatten, was nur dadurch zu erklären ist, daß die eine notwendige, von mir dankbar begrüßte Ergän- Soziallastquote im Westen gesunken ist, während sie zung; natürlich im Osten aus verständlichen Gründen auf 70 % hochgeschnellt ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich möchte ja nur die Leistungen der Sozialpolitik denn man kann nur umstellen, wenn man das Geld der letzten zehn Jahre hier ins rechte Licht rücken, hat. Wenn wir heute umstellen wollten und müßten, ohne mich der Tatsache zu entziehen, daß wir weite- dann müßten wir noch mehr sparen, um das über ren Veränderungs- und Handlungsbedarf haben, bei- Steuern zu finanzieren. spielsweise bei der Pflegeversicherung. Das halte ich Aber man muß wissen, in welche Richtung es geht. für ein großes Thema. Die Richtung kann nicht sein, daß der Beitragszahler ein großes Programm von beruflicher Bildung finan- Ich stimme dem zu, was gestern der Parteivorsit- ziert, während die akademische Bildung über die zende der SPD gesagt hat: Die Diskussion verdunkelt Steuer finanziert wird. Das halte ich für eine Diskre- langsam, worum es eigentlich geht. Von den Pflege- panz. bedürftigen redet kaum noch jemand. Meine Damen und Herren, ich hätte mir eine so kraftvolle Demonstration, wie sie am Montag gegen Vizepräsident Hans Klein: Herr Bundesminister, die Kollegin Fuchs würde Sie jetzt gern fragen. die Karenztage hier in Bonn organisiert wurde, in den letzten 20 Jahren für die Pflegebedürftigen ge- wünscht. Für die hat noch niemand demonstriert. Da Anke Fuchs (Köln) (SPD): Herr Bundesarbeitsmini- habe ich noch niemanden gesehen. ster, stimmen Sie mir zu, daß Sie die Frage des Kollegen so beantworten können: Wenn wir eine (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und Arbeitsmarktabgabe hätten, hätten wir das Geld, um beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) das zu finanzieren, was wir nicht mehr zu Lasten der Selber können sie nicht demonstrieren. Entweder sind Beitragszahler finanzieren wollen? sie im Pflegeheim, oder ihre Angehörigen haben (Lachen bei der F.D.P. — Zuruf von der der keine Zeit, auf den Marktplatz zu kommen. CDU/CSU: Wenn Sie die 1982 eingeführt Deshalb laßt uns über den Streit der Finanzierung hätten!) eine Einigung herbeiführen! Ich hoffe, daß es uns gelingt, eine einvernehmliche Lösung zu finden. Aber ich finde, aus dem Auge darf nie verloren werden, für Dr. Norbert Blüm , Bundesminister für Arbeit und was und für wen — diese Frage muß man sich Sozialordnung: Leider, Frau Kollegin Fuchs, ist das stellen — wir das ganze Unternehmen machen. nicht so, denn der Zuschußbedarf der Bundesanstalt für Arbeit ist leider größer als jede denkbare Arbeits- Im übrigen, wenn über Finanzen gesprochen wird, marktabgabe. will ich darauf hinweisen, daß das auch heute schon (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) Geld kostet. Nur wird das heute über die Sozialhilfe organisiert. Das aber kann nicht die Regelsicherung für ein Risiko sein, das jeden treffen kann. Dafür war Vizepräsident Hans Klein: Sind Sie bereit, eine die Sozialhilfe nie gedacht. weitere Frage der Kollegin Fuchs zu beantworten? Meine Damen und Herren, es gibt zu diesem Thema viele Vorschläge. Lassen Sie mich dazu — sozusagen Anke Fuchs (Köln) (SPD): Sie stimmen mir zu, daß als Randprotokoll — noch folgendes sagen: Es ist eine Teilfinanzierung darüber möglich wäre und daß angekündigt worden, daß heute die Arbeitgeber die Frage der Finanzierung in der Tat so geregelt einen weiteren Vorschlag machen werden. Ich habe werden muß, daß nicht eine Verschlechterung der nicht mitgezählt, der wievielte das jetzt ist. Herzlich Arbeitsmarktpolitik dabei herauskommt? willkommen! Ich will nur eines sagen: Für mich haben Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14897

Bundesminister Dr. Norbert Blüm zur Sache Pflegeversicherung die Arbeitgeber den und nichts mit Abgrenzung und Abschottung zu tun Führerschein verloren. Das sage ich ganz kurz und hat und zu tun haben darf. trocken. Zusammenhalt, liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, (Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr gut!) in schwierigen Zeiten ist wichtig. Was hält uns also in Derselbe Arbeitgeberverband, der im Mai zwei diesen nicht einfachen Zeiten zusammen, und was Karenztage zur Finanzierung der Pflegeversicherung sollte uns zusammenhalten? für notwendig gehalten und gefordert hat, hat am Sicher zum einen die Liebe zu unserer Heimat, zu Montag die Karenztage für verfassungswidrig erklärt. ihren Menschen, zu Kultur und Sprache und zu dem Was von einem solchen Diskussionsbeitrag zu halten Ort, an dem wir leben und arbeiten, wo wir zu Hause ist, überlasse ich der Öffentlichkeit. sind. Das, meine sehr geehrten Herren und Damen, ist (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — viel, viel mehr als der Wirtschaftsstandort Deutsch- Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Die sind klüger land. geworden!) (Beifall bei der SPD) Laßt uns unsere Pflegeversicherung jetzt nicht im Dickicht von kleinlichen Streitereien und -Rechthabe- Was sollte uns also in schwierigen Zeiten zusam- reien ersticken! Laßt uns noch einen gemeinsamen menhalten? Ich denke, z. B. der Geist unserer Verfas Versuch machen, eine einvernehmliche Lösung zu sung, die auf Freiheit und Verantwortung für das finden! Es lohnt sich, denn am Schluß zählt nicht, wer Gemeinwohl setzt, recht gehabt hat. Am Schluß zählt, ob wir den Men- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) schen geholfen haben. deren Väter und Mütter die Sozialpflichtigkeit des (Dr. Peter Struck [SPD]: Richtig!) Eigentums erkannt haben und deren Geist dem ein- Ein Teil der Politikverdrossenheit geht vielleicht zelnen Freiheit gibt und Solidarität abverlangt. darauf zurück — — (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Dr. Peter Struck [SPD]: Dahin mußt du DIE GRÜNEN) gucken!) Die Menschen verlangen gerade in Zeiten großer — Nein, ich blicke ausdrücklich auch Sie an. Umbrüche von der Politik zu Recht Orientierung, und Die Bevölkerung hat manchmal den Eindruck, es diese kann Politik nicht nur durch Reden, sondern sie ginge nur um das Rechtbehalten. Es geht nicht um das muß sie vor allem durch konkretes Handeln geben. Rechtbehalten, sondern es geht darum, Probleme zu Der Rexrodt-Waigelsche-Haushalt — Herr Blüm, lösen. Die Pflege ist ein Problem. Laßt es uns gemein- ich erwähne Sie ganz gezielt in diesem Zusammen- sam lösen! hang nicht —, der nicht einmal mehr den Versuch (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und unternimmt, sich mit sozialen Blümchen zu schmük- der F.D.P.) ken, ist der Haushalt der Entsolidarisierung unserer Gesellschaft.

Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Renate (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Schmidt, Sie haben das Wort. DIE GRÜNEN) Er spaltet die Gesellschaft weiter in oben und unten. Es ist ein Haushalt der wirtschaftlichen Hilflosigkeit Renate Schmidt (Nürnberg) (SPD): Meine sehr und der sozialen Kapitulation, und zwar einer mehr- geehrten Herren und Damen! Liebe Kollegen! Liebe fachen Kapitulation. Kolleginnen! Lieber Norbe rt Blüm, das war ja jetzt im Moment eher eine Verteidigungsrede der Sozialpoli- (Zuruf von der F.D.P.: Diese gespaltene tik gegen die Wirtschaftspolitik dieses Kabinetts. Zunge der SPD!) (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Die Bundesregierung und die sie tragenden Par- beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) teien haben sich, belegt durch zahlreiche Äußerungen Sie haben gehört, wieviel Beifall Sie auch von ihrer Regierungsmitglieder, damit abgefunden, daß es unserer Seite bekommen haben. Ich frage mich nur: bei einem hohen Sockel von Arbeitslosigkeit bleiben Wo schlägt sich eigentlich das, was Sie uns hier erzählt wird. haben, in Ihrem Haushalt nieder? (Zuruf von der CDU/CSU: Dummes Zeug!) (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke — Ich kann Ihnen die Zitate liefern, wenn Sie es mir Liste) nicht glauben. — Aber das ist kein abstrakter „Sok- Ich komme auf die einzelnen Punkte noch zu kel", liebe Kolleginnen und Kollegen, sondern das sprechen, würde aber zuerst gern auf das eingehen, sind ganz konkrete Menschen. was gestern der Herr Kollege Schäuble gesagt hat. Er (Beifall bei der SPD) hat gestern zu Recht die Frage gestellt: Was hält uns, die Deutschen, und was hält unsere Nation zusam- Das sind 5 Millionen Menschen, denen Sie, Herr Blüm men? Das ist eine wichtige Frage, und das ist eine — und dazu haben Sie nichts gesagt —, in Ihrem legitime Frage, die nichts mit dem Nationalismus Haushalt das Arbeitslosengeld von im Durchschnitt unseliger vergangener Zeiten zu tun hat, weil ihre heute 979 DM in Ostdeutschland und ca. 1 300 DM im Beantwortung heute nichts mit der Überheblichkeit Westen und die Arbeitslosenhilfe von im Durchschnitt vergangener Zeiten gegenüber anderen Nationen 666 DM im Osten und 975 DM im Westen kürzen 14898 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Renate Schmidt (Nürnberg) wollen, die Sie nach zwei Jahren auf die Sozialämter Renate Schmidt (Nürnberg) (SPD): Ja, jetzt sehe ich verweisen wollen. ihn. — Herr Faltlhauser, ganz so plump wie Sie mache Ich wünschte mir, Herr Blüm — bei Ihnen eigentlich ich es nicht. Aber auch ich erwähne jetzt München. weniger, sondern bei den Rexrodts Ihres Kabinetts —, Wenn eine Stadt wie München oder eine Stadt wie daß Sie ein einziges Mal den Versuch unternehmen Köln durch diesen Haushalt zwischen 20 und 90 Mil- würden, eine Woche lang von dem zu leben, mit dem lionen DM Mehrausgaben haben wird, wenn Städte in ein Arbeitsloser und seine Familie einen Monat aus- den neuen Ländern nicht mehr aus noch ein wissen, kommen müssen. dann können Sie vielleicht als Erfolg verbuchen, daß der Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit für kurze (Beifall bei der SPD) Zeit freundlicher aussieht. Dennoch wird der Volks- Sie würden es keine zwei Tage aushalten! wirtschaft dadurch Schaden zugefügt. Ihr Konzept der Hilflosigkeit heißt unsinnigerweise Herr Faltlhauser, wenn Ihr Kandidat in München in Arbeitszeitverlängerung nach dem Motto: Immer der Zwischenzeit eine dera rtig plumpe Unterstützung weniger Menschen arbeiten immer mehr bei immer notwendig hat, dann muß es weit mit ihm gekommen höheren Abzügen, um die immer größer werdende sein. Zahl derer, die überhaupt nicht arbeiten dürfen, über (Beifall bei der SPD) die Runden zu bringen. Wir Sozialdemokratinnen und Ich will jetzt nicht auf Dinge eingehen, die die Sozialdemokraten werden uns nie mit „Sockeln von Kolleginnen und Kollegen aus anderen Bundeslän- Arbeitslosigkeit" abfinden. dern und anderen Städten gar nicht beurteilen kön- (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Das nen. Ich will mich mit Ihnen nicht über die Verkehrs- haben wir 1982 schon einmal gesehen!) probleme und die Wohnungsbaumaßnahmen in Mün- Für uns ist und bleibt die Möglichkeit — ich weiß, chen auseinandersetzen. Doch ich sage Ihnen eines: Herr Blüm: für Sie auch — für einen Menschen, durch Er wird nicht gewinnen, aber wenn er es denn würde, seine Arbeit seinen Lebensunterhalt verdienen zu könnte er nichts von dem, was Sie gesagt haben, können, unverzichtbar. jemals durchführen, weil Sie durch Ihre Finanz- und Wirtschaftspolitik der Stadt München so viel Geld (Beifall bei der SPD) nehmen, daß er weder seine komischen Ringstraßen Für uns ist das ein Menschenrecht. noch Wohnungen bauen könnte. Sie versuchen nun — wiederum nicht Sie, Herr (Beifall bei der SPD) Blüm, sondern wesentliche Teile Ihres Kabinetts —, Frau Kollegin, sind Sie (Dr. Peter Struck [SPD]: Viel besser ist der Vizepräsident Hans Klein: bereit, eine Zwischenfrage des Kollegen Faltlhauser auch nicht!) zu beantworten? den Menschen weiszumachen, durch Absenkung von Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe Renate Schmidt (Nürnberg) (SPD): Selbstverständ- würden Anreize zu Arbeit geschaffen. Wie soll denn lich. — Ich habe Sie jetzt gesucht, Herr Kollege. das bei 5 Millionen fehlenden Arbeitsplätzen und (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Machen 291 000 offenen Stellen funktionieren? Ich bin von wir hier Wahlkampf?) Beruf Systemanalytike rin, Rechnen habe ich gelernt, und ich weiß: Das kann nicht funktionieren. — Ich habe damit doch nicht angefangen. Er hat doch angefangen. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Es fehlt nämlich in unserem Land nicht an Anreizen, Herr Faltlhauser, bringen wir es hinter uns. erwerbstätig zu sein, sondern es fehlt in unserem Land an Möglichkeiten, zu arbeiten, bezahlt zu arbeiten, Dr. Kurt Faltlhauser (CDU/CSU): Frau Kollegin, und dafür haben wir zu sorgen. würden Sie mit mir darin übereinstimmen, — (Beifall bei der SPD) Deshalb ist es konzeptionslos, Umschulungsmaßnah- Renate Schmidt (Nürnberg) (SPD): Höchstwahr- men, Weiterbildungsmaßnahmen und Arbeitsbe- scheinlich nicht. schaffungsmaßnahmen zu kürzen. Es ist konzeptions- los, weil damit das, was wir in unserem rohstoffarmen Dr. Kurt Faltlhauser (CDU/CSU): — daß die Finanz- Land brauchen, nämlich bessere Qualifikation, nicht nöte dieser Stadt nicht zuletzt damit zusammenhän- gefördert wird, und es bedeutet, daß wir nicht Arbeit, gen, daß die Stadtregierung seit Jahren systematisch sondern Arbeitslosigkeit finanzieren. das dortige Gewerbe vertreibt Und es ist wirtschaftspolitisch kurzsichtig, durch (Lachen bei der SPD) diesen Haushalt den Bund zu entlasten und die — ich darf doch, Herr 'Präsident, fortführen —, und Kommunen in einem Ausmaß zu belasten, daß deren zwar dadurch, daß sie mittlerweile einen Gewerbe- Investitionsmöglichkeiten zum Erliegen kommen. steuersatz geschaffen hat, der der höchste in der Wenn eine Stadt — Herr Faltlhauser ist leider nicht Bundesrepublik Deutschland ist mehr da — — (Beifall bei der F.D.P.) (Zurufe von der CDU/CSU: Doch!) und der jedes Unternehmen, das bei der Standortwahl Alternativen hat, veranlaßt, zu sagen: In dieser Stadt, bitte schön, nicht, sondern draußen, da bin ich besten- Vizepräsident Hans Klein: Er sitzt im Saal. falls mit der Hälfte der Grundsteuer belastet? Und Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14899

Dr. Kurt Faltlhauser stimmen Sie mir weiterhin zu, Frau Kollegin, daß nicht plätze verlorengehen. Darum ist die Politik, die in zuletzt auf Grund des absoluten Baulandauswei- diesem Bereich von der Bundesregierung betrieben sungsstopps der derzeitigen Stadtregierung do rt kei- wird, schlicht und einfach falsch. ner mehr investieren kann und daß dies Verlust an (Beifall bei der SPD) Arbeitsplätzen ebenso wie an Finanzen bedeutet? Meine sehr geehrten Damen und Herren, man kann (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Arbeitslosigkeit — dazu haben Sie ebenfalls nichts ordneten der F.D.P.) gesagt, Herr Blüm — auch selbst erzeugen, indem man z. B. das Schlechtwettergeld abschafft, Renate Schmidt (Nürnberg) (SPD): Sehr verehrter (Zustimmung bei der SPD) Herr Kollege Faltlhauser, vielleicht waren Sie schon längere Zeit nicht mehr in Ihrem Wahlkreis, das kann schön nach dem Motto: Ein Haushaltsloch zu, ein ja sein. Ich stimme natürlich nicht mit Ihnen überein. anderes Haushaltsloch auf. Das ist das berühmte Ist Ihnen bekannt, wieviel Anträge auf Neuansiedlung Waigelsche „ Stopf -and-go-System" . es in München gibt? Ist Ihnen bekannt, wieviel Unter- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke nehmen dort neu bauen wollen? Ist Ihnen- bekannt, Liste) daß das, was Sie gerade angeführt haben, von Ihnen In diesem Bereich haben Industrie, Gewerkschaften schlicht und einfach vorgeschobene Probleme sind und Staat gemeinsam Vorbildliches geschaffen. Mit und daß, ob in Bayern oder anderen Ländern, die dem Vorhaben von Herrn Blüm — Fragezeichen — Bürgermeister, ob sie nun der CDU, der CSU, der SPD oder Herrn Rexrodt — Fragezeichen — oder Herrn oder den Freien Wählern angehören, alle über das- Waigel — Fragezeichen — werden Zustände wie vor selbe klagen, nämlich daß sich der Bund zu Lasten der 50 Jahren einkehren, als jährlich Zigtausende von Gemeinden entlastet? Das bleibt wahr. Bauarbeitern entlassen wurden. Wo werden sie lan- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke den? — Bei der Bundesanstalt für Arbeit. Was würde Liste) gespart? — Nichts. Was wird erreicht? — Höhere Ich glaube, Herr Kollege Faltlhauser, wir sollten mit Arbeitslosigkeit und höhere Unsicherheit bei den dieser plumpen Verlagerung des Münchener Ober- betroffenen Menschen. bürgermeisterwahlkampfs in dieses Hohe Haus jetzt Mit Verlaub gesagt, Herr Blüm: Ihr revolutionärer wirklich aufhören. Vorschlag, die Firmen sollen halt die Arbeitnehmer (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Sie ha ganzjährig beschäftigen, erscheint vor dem Hinter- ben angefangen! — Weiterer Zuruf von der grund der realen wirtschaftlichen Situation gerade der CDU/CSU: Seien Sie doch nicht so nervös!) mittelständischen Betriebe doch etwas albern. — Ich bin überhaupt nicht nervös. (Beifall bei der SPD) Ich zitiere ihn selten, eigentlich nie, aber wo er recht Jeden Sonntag das Hohelied von der mittelständi- hatte, hatte Franz Josef Strauß recht, der zum Ende der schen Wirtschaft singen und jeden Wochentag gerade sozialliberalen Koalition gesagt hat, daß man sich diese mittelständische Wirtschaft weiter belasten, so auch zu Tode sparen kann. Ja, man kann sich zu Tode geht es garantiert nicht! sparen, wenn man an der falschen Stelle spa rt. Man kann an der falschen Stelle sparen, wenn mit diesem (Beifall bei der SPD — Ernst Hinsken [CDU/ Haushalt die Binnennachfrage nach seriösen Schät- CSU]: So machen genau Sie es!) zungen um 35 Milliarden DM sinken wird. Wir haben Meine sehr geehrten Herren und Damen, wir haben zwar einen hohen Exportanteil, aber wir leben auch gestern an vielen Stellen Appelle zur Gemeinsamkeit von dem, was die Menschen bei uns im Land kaufen. gehört. Das ist auch richtig. Wir verweigern uns nicht. Wenn sich die Menschen bei uns im Land nichts mehr Aber Gemeinsamkeit auf der Basis selbstherrlicher kaufen können, dann werden weitere Arbeitsplätze Rechthaberei machen wir nicht mit. gefährdet. Das muß auch einmal gesagt werden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD) Ich will jetzt nicht das vernichtende Urteil der Man kann sich auch zu Tode sparen, wenn man öffentlichen Anhörung zu dem, wie Sie Pflege finan- falsch spart, wenn man dort, wo unsere Zukunft liegt, zieren wollen, vom Montag dieser Woche wiederho- Mittel einschränkt. Egal, was diskutiert werden kann, len. Herr Schäuble hat uns angeraten, wir sollten doch wir werden doch ein Hochlohnland bleiben. Ein bitte andere Finanzierungsvorschläge machen. Hochlohnland lebt davon, daß es Produkte mit hoher Gerne; aber, Herr Blüm, erst müssen Sie Ihre Haus- Wertschöpfung produziert. Das kann es nur, wenn es aufgaben machen und sich entweder unserem Kon- in Innovation, in Forschung und Entwicklung Geld zept anschließen hineinsteckt. Wenn ich mir anschaue, daß wir z. B. in der Bundesrepublik Deutschland in der Telekommu- (Zuruf von der CDU/CSU: Das wäre ja furcht nikationsindustrie, bei der wir heute noch die Nase bar!) vorn haben, gerade 10 % der Forschungsmittel durch oder Ihres gründlich ändern. den Staat aufbringen, und wenn ich mir anschaue, daß die Franzosen oder die Italiener, die Japaner oder die (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Vereinigten Staaten in demselben Bereich zwischen Was sollte mit dieser Pflegeversicherung denn 60 und 80 % der Forschungs- und Entwicklungskosten eigentlich erreicht werden? Es sollte zum ersten die tragen, so ist es kein Wunder, daß bei uns auch in Situation derer, die zu Hause gepflegt werden, und diesem hoch zukunftsträchtigen Bereich Arbeits derer, die sie dort pflegen, deutlich verbessert wer- 14900 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Renate Schmidt (Nürnberg) den. Es sollte zum zweiten die Unabhängigkeit derer, Umbau ist notwendig, und natürlich müssen die die in stationärer Pflege sind, von Sozialhilfe endlich Kosten von Arbeit niedriger werden. Warum greifen überwiegend erreicht werden. Es sollte zum dritten Sie deshalb nicht unsere Anregungen oder, wenn die Entlastung der Kommunen von den viel zu hohen Ihnen das nicht paßt, die gleichlautenden Vorstellun- Kreisumlagen erreicht werden. gen des Bundes Junger Unternehmer auf, Arbeit zu Und was wird erreicht? Die Kommunen sollen den entlasten und die Verschwendung unserer Ressour- größten Brocken dessen, was sie an Entlastung haben, cen, die Zerstörung unserer Umwelt mit Steuern zu auf irgendwelchen Wegen dem Bund wieder zurück- belegen? Warum hängen Sie nach wie vor der anti- geben. quierten Denkweise des Gegensatzes von Ökonomie und Ökologie nach? Warum verhallen die Gutachten, (Julius Louven [CDU/CSU]: Nicht den größ die Sie selbst in Auftrag gegeben haben, ungehört? ten, Frau Kollegin!) Warum lernen Sie nicht aus der Erfahrung der Japa- Was wird für diejenigen erreicht, die von Taschengeld ner, die in den letzten Jahren die Energieeffizienz und Sozialhilfe abhängig sind? 80 % werden nach gesteigert, die Transportkosten gesenkt und die dem Blümschen Konzept weiterhin von Sozialhilfe Umweltbelastungen gemindert haben — bei gestie- abhängig bleiben. Was wird für diejenigen- erreicht, genem Wachstum in nahezu allen Feldern —, die die die zu Hause pflegen und gepflegt werden? Für Produktionskosten bei gesteigertem Wachstum deut- einige, die gepflegt werden, Verbesserungen, für die, lich gesenkt haben, doppelt so stark wie wir? die pflegen, so gut wie keine Verbesserungen. Das ist Wir müssen die Produktionskosten senken, und wir Ihr Konzept. müssen umbauen. Herr Blüm, Sie haben es gerade (Widerspruch bei der CDU/CSU) beklagt, aber was tun Sie dagegen, daß nicht immer mehr Menschen zu unser aller Lasten vorzeitig und Für eine solche Pflegeversicherung können wir keine gegen ihren Willen in den Ruhestand geschickt wer- Finanzierungsvorschläge über das hinaus, was wir den? Was macht eine Diskussion über die Verlänge- vorgelegt haben, machen. rung der Lebensarbeitszeit für einen Sinn, wenn (Beifall bei der SPD) kaum mehr jemand sein reguläres Rentenalter erreicht, wenn 50jährige — wir beide, Herr Blüm, Sie Wir sind zu Gemeinsamkeiten bereit und haben das und ich, sind auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr ver- in der Vergangenheit gerade in der Sozialpolitik mittelbar — als nicht mehr vermittelbar gelten und immer wieder bewiesen. Wir sind aber nicht bereit zu wenn sich eine zunehmende Ex-und-hopp-Mentalität Gemeinsamkeiten um jeden Preis. gegenüber älteren Arbeitnehmern breitmacht? Dem Meine sehr geehrten Herren und Damen, der Herr darf nicht länger zugeschaut werden. Bundeskanzler hat am Jahresanfang in der CDU (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS davon gesprochen — ich habe mich damals darüber 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten gefreut, weil ich dachte, jetzt kommen wir auf den der PDS/Linke Liste) richtigen Weg —: Wir wollen umbauen und nicht abbauen. Umgebaut wird nahezu nichts; abgebaut Natürlich Umbau, aber doch nicht dem Berufspend- wird viel zuviel. Natürlich ist Umbau notwendig. Herr ler aus Cham an der tschechischen Grenze, der nach Blüm, Sie haben hier jetzt gerade ein Beispiel Regensburg zum Arbeiten fahren muß, mit der Mine- genannt. Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident ralölsteuererhöhung das Geld aus der Tasche ziehen, und künftige Bundeskanzler um es seinem Vorstandsvorsitzenden als Spitzensteu- ersatzsenkung auf dem Silbertablett zu servieren. So (Beifall bei der SPD — Lachen bei der CDU/ haben wir uns jedenfalls Umbau nicht vorgestellt. CSU und der F.D.P. — Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Das hat sie auch über Engholm (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und gesagt! — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — Zurufe Auch über Lafontaine!) von der CDU/CSU: Oh!) hat gestern hier ebenfalls in diesem Sinne argumen- Lassen Sie mich noch in aller Ruhe ein Wort an die tiert und gesagt, daß wir die Arbeitslosenversiche- Vorstände sagen. rung anders organisieren müssen. Die Reaktion (Zuruf von der CDU/CSU: Das können Sie gestern von Herrn Schäuble und die Reaktion jetzt gar nicht, „in aller Ruhe"!) auch von Ihnen: Man will es zwar; aber es geht Die meisten reden davon, daß der Gürtel enger nicht. geschnallt werden muß — das ist schwierig, Herr Aber eines geht offensichtlich immer: Arbeiter, Fuchtel, nicht wahr? —, und wir alle wissen, daß dies Angestellte, Handwerksmeister und Privatwirtschaft nötig ist. Unser Wohlstand gründet sich darauf, daß werden zu alleinigen Finanziers von Arbeitsbeschaf- wir seit Bestehen der Bundesrepublik nicht nur eine fungsmaßnahmen, von Umschulungsmaßnahmen, freie, sondern eine Soziale Marktwirtschaft haben. von Sprachkursen für Aussiedler gemacht. Das geht Dies zu akzeptieren heißt, mit gutem Beispiel voran- immer! Bezahlt wird es ja, aber es wird von den zugehen. Wer glaubt, sich in diesen Zeiten bei Falschen bezahlt. Warum können wir es eigentlich Monatseinkommen zwischen 40 000 und 200 000 DM nicht von den Richtigen bezahlen lassen, nämlich von seine Bezüge zwischen 55 und 9 % erhöhen zu müs- der Allgemeinheit? Ich möchte gern endlich etwas sen, darf sich nicht wundern, daß Sparappelle unge- dazu beitragen dürfen und nicht weiter zuschauen, hört verhallen. wie das Arbeiter und Angestellte machen. (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke (Beifall bei der SPD) Liste) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14901

Renate Schmidt (Nürnberg) Ich wünsche mir, daß endlich jeder und jede mit läßt, wird nicht das Verantwortungsgefühl für unser dem Sparen bei sich selber anfängt, bevor er oder sie Land, sondern die Selbstbedienungsmentalität stär- es von anderen verlangt. Dies hat nichts mit Neid zu ken. tun, aber sehr viel mit sozialer Gerechtigkeit. Meine sehr geehrten Herren und Damen, diese Es hat auch nichts mit Neid zu tun, wenn wir Regierung hat den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit penetrant — ich weiß, daß es Sie aufregt, und ich weiß, aufgegeben. Dieser Arbeitsminister — das haben wir daß meine Kollegin Matthäus-Maier Sie gestern am heute feststellen können hat resigniert und ist nicht Nerv getroffen hat — einmal mehr das sozialpolitische Feigenblatt dieser Koalition. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Was?) (Heribert Scharrenbroich [CDU/CSU]: Jetzt sagen: Sie verschwenden auch beim Familienlasten- holen Sie aber aus!) ausgleich das Geld an der falschen Stelle. Dieser Haushalt gibt nicht die richtige Orientierung. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Die Signale heißen weiter Umverteilung von unten 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten nach oben und Entsolidarisierung. der PDS/Linke Liste) - (Heribert Scharrenborich [CDU/CSU]: Mit Es ist nicht hinnehmbar, wenn diejenigen mit Spitzen- solchen Allgemeinplätzen können Sie die einkommen im Monat 251 DM für ihr Kind bekommen Wahl nicht gewinnen!) und diejenigen, die wenig verdienen, 135 DM. Kon- Wir müssen uns in unserem Land auf gemeinsame zentrieren Sie doch endlich unsere wenigen Mittel auf Ziele verständigen. Die können für uns Sozialdemo- diejenigen, die sie tatsächlich brauchen! kraten und Sozialdemokratinnen nur Bekämpfung (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und von Arbeitslosigkeit, schonender Umgang mit den dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ressourcen dieser Erde sowie Sicherung des inneren und äußeren Friedens heißen. Unsere Generation, die Meine sehr geehrten Herren und Damen, ich war Generation derer, die zum Ende des Zweiten Welt- letzte Woche nicht nur in München, sondern auch in kriegs und danach geboren sind, ist jetzt gefordert. Görlitz, in Nebra und in Hohenstein. Ich will nicht die Für uns in den alten Bundesländern ging es in diesen Zeichen der Hoffnung verkennen, aber der Optimis- 40 Jahren eigentlich kontinuierlich aufwärts. Unsere mus, den ich habe, darf den Blick auf die Realität nicht Aufgabe ist garantiert nicht Gejammer, sondern verstellen: 50 % reale Arbeitslosigkeit in Görlitz, 25 % Anpacken. Die Menschen in unserem Land — das in Nebra und in Hohenstein. Die Tatsache, Frau zu weiß ich — sind bereit, gemeinsam Verantwortung für sein, bedeutet überall, das Etikett „schwer vermittel- unser Land zu übernehmen, wenn Solidarität, wenn bar" angeheftet zu bekommen. Es gibt ganze Straßen- Gerechtigkeit und wenn Orientierung als politische züge, in denen das eine renovie rte Haus, bei dem die Rahmenbedingungen erfüllt sind. Eigentumsfrage geklärt ist, „herausknallt". Zur Orientierung gehört auch, eigene Unsicherhei- Das Ganze ist etwas, was Sie sich anlasten müssen. ten zuzugeben. Ich weiß, daß die SPD nicht im Besitz Natürlich sind Sie nicht an allem schuld. Aber das, was der alleinseligmachenden Wahrheit ist. Ich weiß aber, Sie uns aufs Auge gedrückt haben, das Prinzip Rück- daß Sie in der Regierungskoalition das garantiert auch gabe vor Entschädigung, hat uns in der Zwischenzeit nicht sind. Milliardenbeträge gekostet, hemmt Investitionen und (Julius Louven CDU/CSU: Das nehmen wir ist ein Hemmnis für den möglichen Aufbau in den für uns auch nicht in Anspruch!) neuen Ländern. Ich empfehle, es mit Olof Palme zu halten, der einmal (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und gesagt hat, wenn er nicht wisse, wie er sich entschei- dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) den solle, dann frage er: Dient diese Entscheidung Meine sehr geehrten Herren und Damen, Umbau: dem Frieden, und dient diese Entscheidung unseren ja. Dazu gehört natürlich auch der Abbau von Miß- Kindern? brauch. Sozialdemokraten haben keinerlei Sympa- thie für jegliche Art von Mißbrauch. Aber er sollte Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, Ihre Rede- überall und mit der gleichen Intensität bekämpft zeit ist sehr weit überschritten. werden. Es paßt eben nicht zusammen, wenn wir bei den Arbeitslosen Mißbrauch mit hohem Aufwand Renate Schmidt (Nürnberg) (SPD): Ich wünsche bekämpfen, aber Einkommensteuererklärungen nur mir, daß wir endlich wieder in mehr als der Hälfte aller noch pauschal überprüft werden sollen. Es paßt nicht Fälle sagen können: Ja, das, was wir tun, dient dem zusammen, wenn wir der alleinerziehenden Mutter, Frieden und dient unseren Kindern. die sich zur Sozialhilfe durch Putzengehen ein paar (Anhaltender Beifall bei der SPD Beifall Mark dazuverdient, sagen, das ist Mißbrauch, aber bei der PDS/Linke Liste und dem BÜND Banken, die Tips geben, wie man am besten die NIS 90/DIE GRÜNEN) Zinsabschlagsteuer im Ausland umgeht, nicht zur Rechenschaft ziehen. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Julius Lou- (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und ven, Sie haben das Wort. dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir wollen keine Raffgesellschaft, nirgendwo. Wer Julius Louven (CDU/CSU) (von Abgeordneten der Mißbrauchsbekämpfung bei Arbeitslosen und Sozial CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Herr Präsident! Meine hilfeempfängern beginnt und Steuersünder laufen sehr verehrten Damen und Herrn! Ich möchte 14902 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Julius Louven zunächst die Frau Kollegin Schmidt im Kreise der In der gesetzlichen Krankenversicherung sind wir Sozialpolitiker begrüßen. gemeinsam ein gutes Stück vorangekommen, indem (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. sowie wir Leistungen reduziert und gestrichen haben sowie die Leistungsanbieter zu mehr Wi bei der SPD — Heribert Scharrenbroich rtschaftlichkeit ver- anlaßten. In diesem Zusammenhang reden Sie von der [CDU/CSU]: Die hat sich ve rirrt !) Sozialdemokratie zu Recht nicht von einem sozialen Ich vermute jedoch, daß Sie diesem Kreis nur angehö- Kahlschlag. ren, um heute ein wenig Kommunalwahlkampf für Auch in der Rentenversicherung haben wir München zu machen. gemeinsam gehandelt. Auch hier wurden notwendi- (Renate Schmidt [Nürnberg] [SPD]: Wer hat gerweise Leistungen zurückgenommen. Ich darf in mit diesem Zeug angefangen?) diesem Zusammenhang nur an die Nettoanpassung statt der Bruttoanpassung der Renten erinnern. In der Daß Sie, Frau Schmidt, nicht allzu sattelfest in der Rentenversicherung haben wir aber gegenwärtig kei- Sozialpolitik sind, beweist die Tatsache, daß Sie hier nen akuten Handlungsbedarf, wenngleich die erwar- behauptet haben, Sprachkurse für Ausländer würden tete Erhöhung der Beiträge im nächsten Jahr in der über die Bundesanstalt finanziert. - jetzigen schwierigen Situation, gesamtwirtschaftlich (Renate Schmidt [Nürnberg] [SPD]: Für Aus gesehen, nicht von Vorteil ist. siedler, habe ich gesagt!) Ich füge an dieser Stelle jedoch auch hinzu, daß wir — Für Aussiedler. Dies haben wir schon im vorigen nicht die Augen davor verschließen dürfen, daß lang- Jahr geändert. fristig weiterer Handlungsbedarf besteht. Bis zum 30. Lebensjahr in der Ausbildung, mit 59 Jahren in den (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ruhestand, und dies bei einer Lebenserwartung von Meine Damen und Herren, Dienstag Matthäus deutlich über 80 Jahren — dies kann unsere gute alte Maier, Mittwoch Scharping, heute Schmidt — Rentenversicherung auf Dauer nicht aushalten. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das ist gut, (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: So ist es!) nicht?) Ich komme zur Arbeitslosenversicherung. Mini- es scheint das Ziel der SPD zu sein, der deutschen sterpräsident Scharping hat gestern den beitragsbe- Öffentlichkeit zu vermitteln, der Sozialstaat stehe vor zogenen Transfer von West nach Ost angesprochen, dem Aus. Ich finde dies, meine Damen und Herren von wobei seine Zahl von 50 Milliarden DM bei weitem der SPD, verantwortungslos. Es war für mich schon nicht stimmt. Er hat davon gesprochen, daß die bezeichnend, daß in einem Kommentar des Westdeut- Arbeitsförderungsmaßnahmen nicht vom Beitrags- schen Rundfunks am Dienstagabend gesagt wurde, zahler finanziert werden dürfen. — Sie haben das davon könne überhaupt nicht die Rede sein, hier heute wiederholt, Frau Schmidt. — Dies kommt unse- überziehe die SPD maßlos. Wenn dies aus dem West- ren und meinen Vorstellungen sehr nahe. Die Tatsa- deutschen Rundfunk ertönt, müßte Ihnen dies schon che, daß wir es noch nicht umsetzen, ist einfach zu denken geben. dadurch begründet, daß wir die entsprechenden Mit- tel für Arbeitsförderungsmaßnahmen im Haushalt 1 000 Milliarden DM beträgt das Sozialbudget in nicht zur Verfügung haben. der Bundesrepublik Deutschland. 15 Milliarden DM werden im Sozialbereich eingespart, und Sie inszenie- Scharping führte dann aus, man könne möglicher- ren ein Katastrophenszenario. Nun wi ll ich Sie nicht weise — Frau Fuchs, vielleicht hören Sie einmal zu — an das erinnern, was führende Sozialdemokraten in auf eine Arbeitsmarktabgabe verzichten. Er hat aber der Vergangenheit gesagt und beschlossen haben. Ich mit keinem Satz erläutert, wie dann die Mittel für die will Sie nicht daran erinnern, welche Einsparmaßnah- Arbeitsförderung aufgebracht werden. Dies, meine men sozialdemokratisch geführte Bundesländer der- Damen und Herren, ist unse riös. zeit beschließen. Ich will Sie auch nicht an die Rede (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) des „Weltökonomen" Schmidt vor Ihrer Fraktion erin- nern, als er Kürzungen im Sozialbereich 1982 recht- Wir arbeiten weiter an der Lösung des Problems. fertigte. Nach unserer groben Vorstellung sollte die Arbeits- förderung steuerfinanziert werden. Dieser Bereich Ich will aber schon mit Nachdruck darauf hinwei- könnte dann bei der Arbeitsverwaltung in Nürnberg sen, daß Sie sich einmal ansehen sollten, wie man in als Auftragsverwaltung angesiedelt bleiben. Für die anderen westeuropäischen Ländern, ob konservativ Entscheidungen wäre nach meinem Verständnis dann oder sozialdemokratisch regiert, auf die Herausforde- jedoch nicht mehr die Selbstverwaltung, sondern der rungen durch die Wirtschaftskrise reagiert. Diese Bund zuständig. Wenn wir dies verwirklichen, stellt gehen bei Kürzungen wesentlich weiter und haben sich für uns die Frage — für mich stellt sie sich im keine deutsche Einheit zu schultern. übrigen schon jetzt —, ob wir dann überhaupt noch Anstatt uns, wie gestern von Herrn Scharping Landesarbeitsämter brauchen. Ich meine, nein. geschehen, vorzuwerfen, unsere Sozialpolitik sei Wir werden die aktive Arbeitsmarktpolitik fortset- kalte Technokratie und wir würden die Wirklichkeit zen, wobei die einzelnen Förderinstrumente noch nicht kennen bzw. uns nicht damit vertraut machen, stärker dem Ziel nach mehr Beschäftigung verpflich- sollten wir — und daß müßte das Gebot der Stunde tet sein müssen. Dies erfordert auch hier eine kritische sein, meine Damen und Herren von der SPD — in Überprüfung. Schon jetzt möchte ich deutlich sagen, einen Dialog eintreten, wie wir in schwierigen Zeiten daß die beiden Instrumente — Arbeitsbeschaffungs- unsere Sozialversicherungssysteme sichern können. maßnahmen sowie Fortbildung und Umschulung — Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14903

Julius Louven auf Dauer in diesem Umfang kein Allheilmittel dar- als in Form erwirtschafteter Einkommen von den stellen können. Erwerbstätigen hineingegeben werden. Die Bela- stung der Erwerbstätigen mit Steuern und Sozialab- (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Sehr wahr!) gaben und die Belastungen der Wirtschaft liegen an Ich halte im übrigen die Umstellung bei Fortbildung der Obergrenze. Die Union sieht dies und ist bereit, und Umschulung von einer Regel- zu einer Kann daraus Konsequenzen zu ziehen. Leistung für unabdingbar. Vor diesem Hintergrund ist es unverantwo rtlich, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gegen die von uns beabsichtigte Kompensation zugunsten der Wi Hier sind jetzt mehr Steuerungsmöglichkeiten gege- rtschaft zu polemisieren. Es ist doch ben. Die Bundesanstalt für Arbeit sollte diesen Spiel- wohl unbestritten, daß wir die Unternehmen nicht raum an die örtliche Ebene der Arbeitsverwaltung weiter belasten können. Im übrigen haben dies Frau weitergeben. Wegen der Nähe zum Bürger ist es Matthäus-Maier, die ich auch heute wieder zitiere, vor immer besser, Entscheidungen dort zu treffen, wo sie dem nordrhein-westfälischen Handwerk in Düssel- unmittelbar Anwendung finden. dorf und die schleswig-holsteinische Ministerpräsi- - dentin Simonis, die den Vorschlag gemacht hat, drei Die Absenkung des Unterhaltsgeldes auf das Feiertage zur Finanzierung der Pflegeversicherung zu Niveau des Arbeitslosengeldes halte ich für gerecht- streichen, untermauert. fertigt — dies um so mehr, als derjenige, der eine Umschulung finanziert bekommt, hierfür, also für (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Ich habe doch seine persönliche Weiterqualifizierung, nichts zu zah- nicht vorgeschlagen, Feiertage zu strei len hat. Wir sollten auch einmal darüber nachdenken, chen!) ob nicht Fortbildung und Umschulung mit einer leich- — Ich rede von Frau Simonis. ten Eigenbeteiligung ausgestaltet werden sollten. So kann man bei den Teilnehmern eine stärkere Identi- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Dann ist es ja fikation mit dem Maßnahmenziel und eine erhöhte gut!) Eigeninitiative bewirken. — Ich hatte Sie vorher zitiert. Sie haben nicht genau zugehört, Frau Kollegin. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Meine Damen und Herren, ich komme zur Pflege- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Doch! Es versicherung. Der Vorwurf des rheinland-pfälzischen hörte sich so an, als sei ich für die Streichung der Feiertage!) Ministerpräsidenten Scharping, unsere Pflegeversi- cherung bringe eine Verbesserung von nur 3 DM, war — Lesen Sie das einmal nach. Ich habe das korrekt schon peinlich; noch peinlicher seine spätere Recht- gesagt. Nachdrücklich haben diese beiden Damen fertigung. Juristen pflegen zu sagen: Ein Blick in die untermauert, daß die Belastung nicht steigen darf. Gesetze erleichtert die Urteilsfindung bisweilen Nun polemisieren Sie gegen die Änderung des erheblich. Dies hätte Herr Scharping sich zu Herzen Lohnfortzahlungsgesetzes. Scharping gestern: Nie- nehmen sollen. mand in dieser Republik will sie, nur noch diese Die Fakten: Unser Entwurf sieht für Leistungen bei Regierung. häuslicher Pflege vor: Pflegegeld — je nach Pflege- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Sie doch auch stufe — von 400, 800 oder 1 200 DM monatlich. nicht! Seien Sie mal ehrlich, Herr Kollege!) (Günther Heyenn [SPD]: Zu niedrig!) Ich meine, meine Damen und Herren von der SPD, Statt dessen können aber auch Sachleistungen in Frau Fuchs: Sie sollten sich diese Ablehnungsfront Anspruch genommen werden, bei den Schwerstpfle- einmal etwas genauer ansehen. Es waren am Montag gebedürftigen bis zu einem Betrag von 2 100 DM. Leute dabei, die noch vor zwei Jahren Karenztage forderten und von denen ich fast sicher bin, daß sie, Nun vergleiche ich dies mit dem SPD-Entwurf: Pflegegeld — je nach Pflegestufe — von 500, 1 200 wenn sie denn die Pflegeversicherung nicht verhin- dern können, irgendwann mit dieser Forderung wie- oder 1 500 DM monatlich; gleichfalls Sachleistungen der auftreten werden. bei den Schwerstpflegebedürftigen bis zu einem Gesamtwert von 1 800 DM. Das sind eindeutige Zah- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das kann sein!) len, wie ich meine. Soviel ich weiß, hat keine Industrienation der Welt Wir wissen, daß unsere Leistungen eine Grundver- ein so großzügiges Lohnfortzahlungsgesetz wie wir in sorgung darstellen, die nicht alle Wünsche erfüllen der Bundesrepublik. kann. Wir wissen aber auch, daß, wie man es auch immer dreht und wendet, unbestreitbar ist: Alle So- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Was war daran zialleistungen — gleich, ob es sich um Leistungen der falsch bisher?) Arbeitslosen-, Kranken-, Renten- oder Pflegeversi- Solange dies zu finanzieren ist, Frau Fuchs, habe ich cherung handelt — müssen stets von den Erwerbstä- dagegen nichts einzuwenden. Wenn Sie aber in Zwei- tigen erwirtschaftet werden. Das hat unmißverständ- fel ziehen, daß nach diesem Gesetz Mißbrauch betrie- lich auch der Ihnen sicherlich bekannte Nationalöko- ben wird, so sollten Sie wirklich einmal mit vernünf- nom und Sozialpolitiker Mackenroth uns Sozialpoliti- tigen Betriebsräten reden, die Ihnen dann bestätigen, kern in den 50er Jahren ins Lehrbuch geschrieben. was es an Mißbrauch in diesem Bereich gibt. Die Volkswirtschaft ist keine Wundertüte, aus der (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Warum lassen sich mehr Sozialleistungen herausgeholt werden können, die Betriebsräte das gefallen?) 14904 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Julius Louven Sie sollten in der Diskussion auch nicht verschwei- zum Ausdruck gebracht, daß verläßliches Zahlenma- gen, daß wir alternativ die Streichung von Urlaub terial noch fehlt. anbieten. Schließlich betrug der Urlaub bei Inkrafttre- Auf Ihre zweite Bemerkung komme ich im Laufe ten des Lohnfortzahlungsgesetzes durchschnittlich meiner Rede noch zu sprechen. 15 Tage, heute beträgt er 30 Tage. (Günther Heyenn [SPD]: Warum reden Sie denn über Mißbrauch, wenn es nicht einmal Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Louven, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hey- Zahlenmaterial gibt?) enn? — Herr Ausschußvorsitzender, ich habe Ihren Zwi- schenruf nicht verstanden. Julius Louven (CDU/CSU): Bitte sehr. Herr Kollege Louven, (SPD): Herr Kollege Louven, Sie Vizepräsident Hans Klein: Günther Heyenn jetzt möchte noch der Kollege Dreßler eine Zwischen- haben auf Gespräche mit Betriebsräten hingewiesen und damit Mißbrauch zu begründen versucht. Können frage stellen. Sie mir einen Sachverständigen, können Sie mir eine Organisation aus der Anhörung am vergangenen Julius Louven (CDU/CSU): Ich möchte jetzt fortfah- Montag nennen, der bzw. die für möglichen Miß- ren. brauch irgendwelche verwertbaren Unterlagen vor- Meine Damen und Herren, ich erkläre trotzdem von zuweisen in der Lage war? diesem Pult zum wiederholten Male, daß wir für andere Formen der Kompensation offen sind. Nur, viel Julius Louven (CDU/CSU): Ja, die kann ich Ihnen Zeit haben wir nicht mehr. Die Pflegebedürftigen nennen: Der Vertreter der deutschen Ärzteschaft hat haben Anspruch auf eine Pflegeversicherung. durchaus anerkannt, daß es Mißbrauch gibt. Ebenso hat die Vertreterin des Medizinischen Dienstes (Zustimmung bei der CDU/CSU) Baden-Württemberg sehr deutlich zum Ausdruck Ohne Kompensation wird es die Pflegeversicherung gebracht, daß es in diesem Bereich Mißbrauch gibt. nicht geben. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Vizepräsident Hans Klein: Eine weitere Frage des Kollegen Heyenn? Es muß sich zeigen, ob wir in der Bundesrepublik noch zur Solidarität mit den Pflegebedürftigen fähig sind. Julius Louven (CDU/CSU): Bitte. Das ist auch meine Antwort an Sie, Herr Büttner. Sie, meine Damen und Herren von der SPD, riskie- Günther Heyenn (SPD): Können Sie mir dann bestä- ren, daß Sie mit Ihrer Verweigerungshaltung mögli- tigen — wo Sie mir indirekt schon zugestimmt cherweise für ein Scheitern der Pflegeversicherung haben —, daß alle, die Sie zitiert haben, gesagt haben, verantwortlich gemacht werden. Mißbrauch gebe es überall, aber die Instrumente, um (Heinz Schemken [CDU/CSU]: Das wäre diesen Mißbrauch bei der Krankheit zu bekämpfen, eine Katastrophe!) seien viel zu aufwendig und die Mißbrauchsquote sei vernachlässigbar? Wollen Sie dies auf sich laden? Wir müssen in der Sozialpolitik umdenken und uns verstärkt darauf Julius Louven (CDU/CSU): Daß die Instrumente besinnen, was der Grundwert der Solidarität erfor- unterschiedlich gesehen wurden, will ich Ihnen gerne dert: nach meiner Meinung die gemeinschaftliche bestätigen. Wir sind aber schon der Meinung, daß es Absicherung jener Risiken, die der einzelne nicht angebracht wäre, ein Steuerungselement gegen miß- allein und aus eigenen Kräften tragen kann. bräuchliche Krankschreibung in der Gesetzgebung Ich bin der festen Überzeugung, daß auch Sie, vorzusehen. meine Damen und Herren von der SPD, wissen, daß (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) hieran kein Weg vorbeiführt. Das bedeutet, daß, wer auch immer regiert, nicht daran vorbeikommt, sich Vizepräsident Hans Klein: Der Kollege Büttner diesen Fragen zu stellen. Ich lade Sie als Opposition möchte ebenfalls eine Zwischenfrage stellen. ganz herzlich ein, auf dieser Basis und vor dieser großen Verantwortung mit uns in einen Wettstreit um Julius Louven (CDU/CSU): Bitte sehr. die Sicherung der Sozialversicherungssysteme einzu- treten, wobei das Patentrezept nicht darin bestehen Hans Büttner (Ingolstadt) (SPD): Herr Kollege Lou- kann, immer mehr Geld auszugeben, da dies für lange ven, halten Sie es angesichts der Aussage des Vertre- Zeit nicht mehr zur Verfügung steht. ters des Medizinischen Dienstes Baden-Württemberg Da ich noch ein paar Minuten Redezeit zur Verfü- bei der Anhörung am vergangenen Montag, der gung habe, will ich mich noch mit der Situation auf erklärt hat, daß nur 0,16 % der do rt überprüften dem Arbeitsmarkt auseinandersetzen. Wenn man Sie krankgeschriebenen Arbeitnehmer wahrscheinlich so hört, wollen Sie glauben machen, die Verantwor- Mißbrauch betrieben hätten, überhaupt für vertret- tung für die Arbeitslosigkeit läge allein bei der Bun- bar, alle kranken Arbeitnehmer zu den alleinigen desregierung. Financiers des Arbeitgeberanteils der Pflegeversiche- rung zu machen? (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Auch, allein nicht!) Julius Louven (CDU/CSU): Der Vertreter des Medi- Ich bin der Meinung, daß die Verantwortung für die zinischen Dienstes hat, Herr Kollege Büttner, auch Entwicklung der Beschäftigung in allererster Linie bei Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14905

Julius Louven den Tarifparteien liegt. Sie und nicht die Bundesre- Wir müssen Verkrustungen aufbrechen und Tabus gierung vereinbaren die Bedingungen, zu denen die beenden. Das Gebot der Stunde muß heißen: Wachs- Arbeitnehmer Beschäftigung finden können. Arbeits- tumskräfte stärken und Rahmenbedingungen für losigkeit — dies spüren wir doch jetzt immer mehr — mehr Investitionen und Beschäftigung schaffen. entsteht dann, wenn Arbeit zu teuer wird. Sie wird Die Sozialausgaben pro Kopf sind seit 1989 um 12 % auch dann zu teuer, wenn die Flexibilität des Arbeits- gewachsen; das Bruttosozialprodukt, aus dem Sozial- einsatzes eingeschränkt wird. Die Folge ist: Unterneh- leistungen bezahlt werden müssen, ist dagegen pro men müssen rationalisieren oder die Produktion in Kopf im gleichen Zeitraum um 15 % gesunken. In kostengünstigere Länder verlagern. dieser Situation führt kein Weg daran vorbei, daß auch Arbeit gibt es genug. Wir müssen von den Tarifpart- die Empfänger staatlicher Transferleistungen einen nern verlangen, daß sie ihrer Verantwortung auch Beitrag zur Wiedergesundung der Wi rtschaft leisten hinsichtlich der Arbeitslosen gerecht werden. Das müssen. Beispiel der Ansiedlung von Opel in Kaiserslautern, Es gibt sicherlich für Sozialpolitiker Schöneres, als wo sich die Gewerkschaften offensichtlich bereit Sozialleistungen zu kürzen; die geschilderten Um- erklärt haben, den Samstag als vollen Arbeitstag zu stände machen es unumgänglich. Ich persönlich stehe akzeptieren, zeigt, was not tut. dazu. Nun sehen viele das Heil in einem zweiten Arbeits- Polemisieren, meine Damen und Herren von der markt, und neuerdings wird auch schon von einem SPD, ist einfach. Ich bin aber der festen Überzeugung, dritten Arbeitsmarkt gesprochen. Würden wir, wie daß der Bürger erkennt, daß gehandelt werden muß, vielfach gefordert, den zweiten Arbeitsmarkt flächen- und daß er die Partei wählt, die handelt und der er am deckend ausweiten und Arbeitsbeschaffungsmaß- ehesten die Problemlösung zutraut. nahmen zu einer Pflichtleistung der Bundesanstalt (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) machen, dann verlagerten wir endgültig die Verant- Wir tun dies entschlossen im Interesse der Zukunfts- wortung der Tarifparteien für die Arbeitslosigkeit auf sicherung des Standortes Deutschland. Insofern, Frau den Staat. Schmidt, geben wir dem Bürger auch Orientierung. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Also nehmen wir (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) lieber Arbeitslose in Kauf!) Wir bewegen uns dann allerdings in großen Schritten Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat unsere auf ein Wirtschaftssystem zu, Frau Fuchs, dessen Kollegin Dr. Gisela Babel. Zusammenbruch wir gerade eindrucksvoll erlebt haben und an dessen Folgen wir alle schwer genug tragen. Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Haushalt des Bundesmini- (Beifall bei der CDU/CSU) sters für Arbeit und Sozialordnung ist der größte Wenn der Staat Beschäftigungsgarantien gibt, dann Einzeletat im Bundeshaushalt. Er birgt auch den wird der Wettbewerbsarbeitsmarkt nach und nach an größten politischen Sprengstoff. Es geht um Arbeits- Bedeutung verlieren. Da die Erzeugnisse der Arbeit markt, Renten, Pflege. Die politische Regie der Oppo- letztlich auf den Gütermärkten abgesetzt werden sition wird hier — zumindest wenn man den Ankün- müssen, werden notwendigerweise private Anbieter digungen ihres Bundesgeschäftsführers glauben zurückgedrängt, mit ihnen auch die p rivate Nach- darf — das Feld ausmachen, wo die Hauptattacke frage an Arbeitskräften. Staatliches Handeln, so gut es gegen den Haushalt geführt wird. Aber die gemeint ist, läßt auf diese Weise im Zeitablauf zusätz- Geschütze, die Sie hier auffahren, sind dieselben, die liche Arbeitslosigkeit entstehen. Hierdurch würden Sie auch in Zeiten besserer Wi rtschaftslage und Haus- wieder weitere Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen not- haltszahlen und bei höherer Beschäftigung schon wendig — ein Teufelskreis. immer aufgefahren haben. Wir sind auch in diesem Bereich gezwungen, Ich halte es aber meinerseits für verfehlt, wenn man schwierige Entscheidungen zu treffen. In den neuen von uns aus die jetzige Lage schönredet. Wer die Bundesländern klagen Bauunternehmen darüber, Zahlen liest, die heute über geplante Entlassungen kein Personal zu bekommen. veröffentlicht werden, wer die Zahl der Nichtbeschäf- tigten bedenkt — im Osten 1,7 Millionen, im Westen (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Unglaublich!) 2,3 Millionen —, der muß erschrecken und sich sorgen: Wie verkraftet der einzelne dieses oft völlig 400 000 legale Saisonbeschäftigte aus den osteuro- unverschuldete Schicksal? Wie verkraften die Versi- päischen Ländern werden wir auch in diesem Jahr in cherungen diese riesigen finanziellen Belastungen? der Bundesrepublik haben, nach Schätzungen des Wie verkraftet ein demokratisches Gemeinwesen eine Zentralverbandes des Handwerks noch einmal so große Zahl Arbeitsloser? Welche Perspektiven 500 000 illegal Beschäftigte. Und das bei vier Millio- haben wir? nen Arbeitslosen, meine Damen und Herren! Da stimmt etwas nicht. Es ist klar, daß sich gerade die Sozialpolitiker herausgeforde rt fühlen, über geeignete Maßnahmen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — nachzudenken, und Vorschläge zu machen, wie man Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Da hat die zu mehr Beschäftigung kommt. Aber es sind vielleicht Regierung versagt!) nicht immer die besten Vorschläge. 14906 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Dr. Gisela Babel Die Untersuchung eines Meinungsforschungsinsti- die Verschuldungsspielräume sind insgesamt voll tuts zeigt, daß in der öffentlichen Meinung Arbeits- ausgenutzt. Hier haben wir keine Handlungsmöglich- marktpolitik ein Bereich der Sozialpolitik ist. Aus keiten, meine Damen und Herren. dem Blickwinkel des Sozialpolitikers geht es ja dann (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne um diese bekannten Instrumente der aktiven Arbeits- ten der CDU/CSU) marktpolitik: ABM, Fortbildung und Umschulung, Vorruhestand. Es geht dann nicht um die viel ent- Es hilft nur rigoroses, schmerzhaftes Sparen. Wie scheidenderen Maßnahmen, die für den Arbeitsmarkt schon im Solidarpakt geplant und nun durch die wirklich wichtig sind und Impulse geben. Es geht Verhandlungen mit der SPD verhindert, stehen jetzt nicht um die Anreize zu unternehmerischer Initiative Eingriffe ins Leistungsrecht an. Absenken des — Stichwort Investitionen —, es geht nicht um ener- Arbeitslosengeldes und Begrenzung bei der Arbeits- gisches Handeln beim Kürzen der Ausbildungszeiten, losenhilfe. Das ist ohne Zweifel ha rt, aber es gibt und es geht nicht um die Kürzung von Genehmi- keinen anderen Weg, und die F.D.P. unterstützt die gungsverfahren — alles Dinge, von denen gestern und Bundesregierung hier vorbehaltlos. heute die Rede war. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das wundert mich Meine Damen und Herren, die F.D.P.- sieht die nicht!) Arbeitsmarktprobleme eher als Thema der Wirt- Neue Hiobsbotschaften über die Finanzlage der Bun- schaftspolitik. desanstalt für Arbeit, ein Defizit von weiteren 7 Mil- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das tun Sie doch liarden Mark, zeigen nur allzu deutlich die Abhängig- nicht! Sie machen doch nichts!) keit dieser Versicherung von der Beschäftigungs- Wir wollen alles tun, um am ersten Arbeitsmarkt lage. Beschäftigung zu sichern und auszuweiten. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das ist doch (Beifall bei der F.D.P.) logisch!) Wir wollen alles unterlassen, wodurch Arbeitsplätze Mit Erlaubnis darf ich folgendes zitieren: verlorengehen; Stichwort: Erhöhung von Lohnkosten Wie es scheint, wird es unausweichlich, mit weni- und Ausweitung der Schattenwirtschaft. ger zurechtzukommen, (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Die 40-Stun liest man in der „Sozialdemokratischen Gemeinschaft den-Woche führen Sie wieder ein!) für Kommunalpolitik in der Bundesrepublik Deutsch- Und wir wollen alles unterlassen, wodurch Arbeits- land". Aber ansonsten mache ich in der SPD nur plätze eben weiter gefährdet werden. heiseres Protestgeschrei aus, auch wenn es mit dem Ich darf kurz einen kritischen Überblick über die Tremolo einer angenehmen Stimme, Frau Schmidt, Instrumente der Arbeitsmarktpolitik geben. Durch vorgetragen wird. Ministerpräsident Scharping wie- den Vorruhestand werden ältere Menschen aus der derholt die schon ermüdend oft vorgebrachte These, Arbeitswelt entfernt, obwohl sie vielleicht noch es sei besser, Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, als arbeitsfähig und arbeitswillig sind. Mit ABM werden Leistungen zu kürzen. Der Schlaumeier! Mit solchen Arbeitsverhältnisse finanziert, die nicht reguläre Nebelwerfern wird versucht, den Blick auf die Realität Arbeit betreffen dürfen, die aber dennoch oft diese zu verstellen und weniger schmerzhafte Alternativen verdrängen, weil sie sicher sind und weil sie oft auch vorzugaukeln. besser bezahlt werden — Presseberichte über feh- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — lende Fliesenleger und Dachdecker im Osten! Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Wir haben Umschulung und Fortbildung sind unzweifelhaft Alternativen vorgelegt, Frau Babel! Nehmen die tauglichsten Mittel, um dem Arbeitsmarkt die Sie das zur Kenntnis!) geforderten Fachkräfte zuzuführen. Aber wenn das Wann hören Sie endlich auf, sich und anderen funktionierte, dürfte es in Deutschland eigentlich dieses Schauspiel zu bieten? keine offenen Stellen geben. Auch dieses Instrument scheint also nicht ganz von Fehlsteuerungen frei zu (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne sein. ten der CDU/CSU) Eines ist sicher: Alle diese Instrumente sichern für Wann fangen Sie endlich an, die Wirklichkeit zur einen Teil der Arbeitslosen die tägliche Beschäftigung Kenntnis zu nehmen? Wann sagen Sie, meine Damen und damit insgesamt den sozialen Frieden. Ich möchte und Herren von der SPD, endlich die Wahrheit, daß mir nicht ausmalen, wie es ohne den Einsatz dieser Arbeit auswandert, daß Kapital auswandert, wenn wir Mittel bei uns aussähe. Traumatische Erinnerungen nicht energisch gegensteuern? an Weimar werden schnell wach. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Die sprunghaft angestiegenen Zahlen von Arbeits- Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Sie sind an losen werden natürlich den Wunsch nach vermehrtem der Regierung!) Einsatz dieser aktiven arbeitsmarktpolitischen Maß- Wenn dieselben Produkte in anderen Ländern billiger nahmen wecken, und gleichzeitig steigen die Finanz- hergestellt werden können als in Deutschland, dann lasten der Arbeitslosenversicherung bei rückläufigen werden sie eben dort hergestellt. Einnahmen durch Beiträge. Aus diesem Dilemma hilft auch nicht der Ruf nach einer Verlagerung der Kosten (Beifall bei der F.D.P. — Renate Schmidt der Arbeitsverwaltung auf den Bundesetat oder der [Nürnberg] [SPD]: Wollen Sie einen Stun Ruf nach mehr Bundesmitteln. Die Kasse ist leer, und denlohn von 5 DM oder 2,50 DM?) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14907

Dr. Gisela Babel Also müssen Lohnkosten gesenkt werden, also müs- Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Babel, der sen wir Leistungen innerhalb der Versicherungen Kollege Dreßler möchte gerne eine Zwischenfrage einsparen. stellen. — Bitte, Herr Kollege Dreßler. Ich appelliere an die SPD, zumindest in einem Punkte mitzuarbeiten, nämlich daß die Ta rife für die Rudolf Dreßler (SPD): Frau Kollegin Babel, ich weiß, ABM gesenkt werden, daß wir eine untertarifliche daß die Thematik, die Herr Scharping gestern hier angesprochen hat, bei der Koalition im Rahmen der ABM-Entlohnung bekommen. Zumindest würde das doch die Mittel strecken und mehr arbeitslosen Men- Mengenlehre Verwirrung ausgelöst hat. Deshalb schen eine Beschäftigung eröffnen. möchte ich Sie fragen: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, Frau Babel, daß sich das Beispiel von Herrn (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Also brauchen wir Scharping nicht auf die täglichen 3 DM, sondern auf das Instrument doch!) monatlich 3 DM mehr bezog, und daß die jetzige Ich warne Sie vor der Strategie einer Robin-Hood- Gesetzeslage einem Schwerstpflegebedürftigen Politik, sich als Retter der Armen aufzuspielen und alle 1 197 DM Monatsentgelt gewährt und Sie und die Einsparvorschläge verhindern zu wollen. Koalition ihm in Zukunft 1 200 DM, nämlich 3 DM - mehr, an Geldleistung im Monat zur Verfügung stel- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne len wollen? Sind Sie endlich bereit, diesen von Herrn ten der CDU/CSU) Scharping hier zweifelsfrei richtig eingeführten Sach- verhalt zur Kenntnis zu nehmen? Gerade mit Ihren Möglichkeiten im Bundesrat sind Sie mit in der Verantwortung, (Julius Louven [CDU/CSU]: Das hat er ein deutig nicht!) (Dr. Hans-Peter Voigt [Northeim] [CDU/ CSU]: Leider!) Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Herr Dreßler, ich bin und Sie müssen sie wahrnehmen. bereit, Ihnen immer zuzuhören. Aber ob ich nun be- reit bin, Ihnen zuzustimmen, ist damit noch nicht Meine Damen und Herren, zum Thema Pflege. gesagt. Dieses Thema steht nach wie vor auf der Tagesord- Die Zahlen, die jetzt verglichen werden, sind natür- nung. Ich möchte hier noch einmal ganz ausdrücklich lich die angepaßten Zahlen. Die sind ja angepaßt. Von die F.D.P.-Position darstellen. Wir befürworten das der nicht angepaßten Zahl, die im Entwurf steht, große politische Ziel, den Pflegebedürftigen und ihren wissen Sie sehr wohl, daß sie natürlich bei Inkrafttre- Familien mehr Unterstützung, mehr finanzielle Hilfen ten von uns noch einmal überprüft wird. Insofern ist bereitzustellen. Es sollen ambulante Strukturen in der Vergleich schon falsch. Gemeinden aufgebaut werden. Der einzelne soll mög- lichst in vertrauter Umgebung gepflegt werden. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das war eine Bestätigung!) Wir unterstützen auch eine Versicherungslösung, Aber mein Punkt ist ja der, daß in der Öffentlichkeit die einen Teil der Kosten — beileibe nicht alle, außer durch die Äußerung von Herrn Scharping der Ein- in dem Illusionsentwurf der SPD — bei stationärer druck erweckt wird, als täten wir fast nichts. Pflege abdeckt. Wir haben der umlagefinanzierten Pflegeversicherung, die wirtschaftspolitisch und ar- (Regina Kolbe [SPD]: 3 DM pro Monat!) beitsmarktpolitisch sicher falsch konstruiert ist, unter Ich setze dagegen, daß tatsächlich heute über steuer- der Bedingung zugestimmt, daß die zusätzliche Bela- finanzierte Leistungen in unserem Sozialstaat schon stung der Lohnkosten zur Hälfte ausgeglichen werden eine große Menge geleistet wird und wir immer so tun, muß. Daran halten wir fest, meine Damen und Her- als wäre das nichts. Das verlagern wir jetzt in eine ren. Versicherungslösung. Das ist das Problem, auf das ich hinweisen wollte. Ich möchte noch mit einem Wort auf den interessan- ten Disput zwischen dem Ministerpräsidenten von (Beifall bei der F.D.P.) Rheinland-Pfalz, Herrn Scharping, und dem Frak- tionsvorsitzenden der CDU/CSU, Herrn Schäuble, Vizepräsident Hans Klein: Der Kollege Dreßler eingehen. Die ominösen 3 DM pro Tag — pro Monat möchte noch einmal. wäre das doch ein bißchen wenig — resultieren aus dem Vergleich der 900 DM, die in einem Sozialhilfe- Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Ich bin jetzt bei einem fall für Pflege ausbezahlt werden, und den 1 200 DM, anderen Thema, aber das wird ihn sicher auch inter- die im Entwurf stehen. Sie zeigen ganz deutlich, daß essieren. wir heute schon, allerdings unter dem Stichwort der Ich glaube, meine Damen und Herren, überraschen Bedürftigkeit, steuerfinanziert mit 900 DM die Pflege kann der Widerstand bei den Karenztagen eigentlich finanzieren. Das ist schon ein Teil Solidarität, und niemanden. Er war j a seit ziemlich einem Jahr voraus- zwar eine Solidarität der Steuerzahler, die heute zusehen. Überraschend war vielleicht allenfalls, wie schon da ist. Das wird auf den Weg der Versicherung die Gewerkschaften hier argumentiert haben. Daß der verlagert, was keinesfalls schon von sich aus die Punkt bei ihnen ein Tabu ist, wissen wir. bessere Lösung sein muß. Die Arbeitgeber, sonst Anhänger dieser Forderung, Die im Entgeltfortzahlungsgesetz enthaltene und sicher letztlich auch ihr Stichwortgeber, haben Selbstbeteiligung im Krankheitsfalle — Stichwort die Verknüpfung von einer solchen Veränderung der Karenztage — hat in der Anhörung geballten Wider- Lohnfortzahlung mit der Pflegeversicherung ange- stand gefunden. griffen. 14908 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Dr. Gisela Babel Ich glaube, daß gegen beide Tarifpartner Ausglei- Der breite Konsens zwischen CDU/CSU, F.D.P. und che auf dem Lohnsektor auf Dauer wohl kaum zu SPD ist und bleibt unverzichtbar. Das heißt aber nicht, verwirklichen sind. Aber die Art und Weise, wie an daß es verboten wäre, sich über das Thema Renten- diesem Tag von der Gewerkschaft argumentiert versicherung Gedanken zu machen und auch Mei- wurde, hat mich schon erbittert. Es wird offen pole- nungen zu äußern. Gerade die Sorge um den Arbeits- misch versucht, das so darzustellen, als sei die Pflege- markt rechtfertigt den Hinweis, daß auch die Renten- versicherung durch die Beiträge von Arbeitgebern versicherung von den Zahlungen der Beschäftigten und Arbeitnehmern solide finanziert. Kein Hauch von und somit vom Arbeitsmarkt abhängt und daß die Problembewußtsein, daß damit neue Lasten auf den demographische Entwicklung sehr unglücklich ver- Lohn gepackt und damit neue Wettbewerbsnachteile läuft. für Arbeitnehmer in Deutschland geschaffen wer- Lassen Sie mich noch hinzufügen: Die Verbesse- den. rung der Rentenansprüche von Eltern, die Kinder Ich frage: Wer vertritt eigentlich die Interessen von großziehen, ist uns vom Bundesverfassungsgericht Arbeitslosen, und zwar der Arbeitslosen von heute aufgegeben. Damit ist meiner Ansicht nach Ihre völlig und morgen? verfehlte Polemik gegen Freibeträge vom Tisch - (Zuruf von der F.D.P.: Weder die Sozialdemo gefegt. kraten noch die Gewerkschaften!) (Beifall bei der F.D.P.) Der DGB mit Sicherheit nicht! Es ist klar, daß wir hierfür lange Zeit der Vorüber- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) legungen brauchen, damit den Beitragszahlern heute möglichst früh klar wird, wie ihre Alterssicherung Die SPD hat das Thema „Kompensation" bis jetzt später einmal aussieht und ob sie nicht verstärkt völlig ausgegrenzt. Ich habe noch keine klare Aus- Vorsorge treffen müßten. sage gehört, ob sie der Meinung ist, daß es einen Ausgleich geben muß. Ich nehme sozusagen die Leuchte aus Kiel aus; Frau Simonis hat klar erklärt, Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, die Kolle- daß sie in dem Verzicht auf zwei Feiertage eine solche gin Matthäus-Maier möchte gerne eine Zwischen- Lösung sieht. frage stellen.

Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Babel, der Ingrid Matthäus - Maier (SPD): Frau Kollegin, nach- Kollege Büttner möchte gerne eine Zwischenfrage dem Sie das gleiche wie gestern Herr Kollege stellen. Schäuble, der daraufhin meine Zwischenfrage nicht (Zuruf von der CDU/CSU: Ich würde nein zuließ, weil er offensichtlich wußte, daß er falsch lag, sagen, Gisela!) behauptet haben, darf ich Sie fragen: Ist Ihnen nicht bekannt, daß das Bundesverfassungsgericht mehr- fach, zuletzt 1990, über den Familienlastenausgleich Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Herr Büttner, lassen Sie entschieden hat, daß es dem Gesetzgeber freisteht, ob mich im Zusammenhang reden. er den Familienlastenausgleich über die Steuer oder Ihr eigenes Konzept, das Konzept der SPD, ist in über einen sozialen Transfer, sprich Kindergeld, oder mehr als einer Hinsicht unannehmbar. Sie fordern über ein duales System regelt. Wenn das so ist — ich schaffe Ihnen in fünf Minuten das wörtliche Zitat eine Volksversicherung, in der die gesamte Wohnbe- völkerung integriert werden soll. herbei, ich nehme aber an, daß Sie mir glauben, daß das so ist —, würden Sie dann nicht endlich zugeben, (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Was haben daß Sie aus politischen Gründen daran festhalten, daß Sie dagegen?) kleine Leute 65 Mark und Höchstverdiener 181 Mark Dies ist sehr wahrscheinlich verfassungswidrig, denn im Monat bekommen und daß Karlsruhe diesen der Bundesgesetzgeber hat nur die Kompetenz für Unsinn nicht vertritt? eine Sozialversicherung. (Beifall bei der SPD) Die SPD will alle pflegebedingten Kosten durch die Versicherung abdecken und hält überhaupt keinen Deckel auf dem Beitragssatz. Damit ist also bei Mehr- Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Ich hoffe, daß Ihre schmer- leistungen und keiner Vorsorge der Kostenexplosion zende Wunde von gestern wieder verheilt ist, weil Sie in Zukunft Vorschub geleistet. Da kann es nicht in der Lage waren, das heute alles loszuwerden. Frau verwundern, daß sie die monistische Finanzierung Matthäus-Maier, ich sage Ihnen eines: Beim Existenz- ablehnt. Ohne Kompensation — ich will es noch minimum ist doch ganz klar, daß die Kinder jedenfalls einmal feststellen — gibt es für die F.D.P. keine in dieser Höhe steuerlich berücksichtigt werden müs- Zustimmung zu dem Gesamtkonzept. Was will also sen. Daran kommen wir nicht vorbei. die SPD? (Zuruf der Abg. Ingrid Matthäus-Maier Ich komme zur Rente. Bei diesem Thema will ich [SPD]: Gleich hoch!) mich mit einigen Bemerkungen begnügen. Die — Ja. Sie tun doch so, als ob sich in der Steuer, was die Alterssicherung ist sicher die heiligste aller Sozialver- Kinder anbelangt, überhaupt nichts tun dürfte — so sicherungen. An ihr kann nur gemeinsam etwas haben Sie es doch dargestellt —, und daß Sie das alles verändert werden. mit dem Instrument des Kindergeldes lösen können. (Zuruf der Abg. Anke Fuchs [Köln] [SPD]) Das können Sie eben nicht. Das sollten Sie der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14909

Dr. Gisela Babel Vollständigkeit halber hier auch offen richtig darstel- mehr Verzicht, erhöhter Sparsamkeit, mehr Eigenver- len. antwortung und Leistung aufgefordert werden. (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr wahr! — (Vorsitz : Vizepräsidentin Renate Schmidt) Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Karenztage im Krankheitsfall, zweiter Arbeitsmarkt Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sagen Sie mit Dumpinglöhnen, Gemeinschaftsarbeiten zum doch einmal „Ich weiß es nicht", wenn Sie es Nulltarif, Maschinenlaufzeiten rund um die Uhr und nicht wissen!) am liebsten eine Lebensarbeitszeit bis zum Umfallen — Sie müssen ein bißchen bessere Nehmerqualitäten — das sind nur einige Schlagworte, mit denen die entwickeln, Frau Matthäus-Maier. Menschen für den Ernst der Lage sensibilisiert werden Meine Damen und Herren, wie sehen diese Überle- sollen. gung und die Reformvorstellungen, auch wenn sie Langjährige Gewohnheiten müßten überdacht und vielleicht erst in zehn oder fünfzehn Jahren wirklich Ansprüche heruntergeschraubt werden, forde rte der Gesetzesform erreichen, aus. Darüber kann man sich Bundeskanzler anläßlich der Kabinettsentscheidung gar nicht früh genug Gedanken machen. Das wollte zum Standortsicherungsgesetz und verbreitet Zuver- ich nur noch einmal sagen, weil es wirklich- in die sicht darüber, daß die Menschen in Deutschland bei Zukunftsplanung der Bürger von heute, der Erwerbs- der Zukunftssicherung mithelfen, sprich: den Gürtel tätigen von heute eingreift. enger schnallen wollen. (Beifall bei der F.D.P.) Diese bereitwilligen Menschen aber werden von Eines muß auch klar sein: Künftige Probleme, seien der Bundesregierung nicht gerade gehätschelt. Ganz sie durch die demographische Entwicklung, seien sie im Gegenteil, sie werden geschröpft, wo immer es durch die Belastungen am Arbeitsmarkt oder durch geht. Auch sonst wird ihnen einiges zugemutet. Die die Reformen in diesem Sektor hervorgerufen, können weitere Demontage des Sozialsystems geht einher mit nicht immer nur dadurch gelöst werden, daß wir einer beispiellosen Kampagne gegen den angebli- Beiträge anheben. Das wissen wir mittlerweile. Es chen Mißbrauch sozialer Leistungen. Ohne wirkliche muß unser Ziel sein, daß die Beiträge abnehmen. Belege werden diejenigen, die arbeitslos, krank oder Meine Damen und Herren, die Sozialpolitik in sozialhilfebedürftig sind, verunglimpft, diffamiert und Deutschland muß wachsende Probleme mit weniger schließlich sogar kriminalisiert. Mitteln bewältigen. Leicht ist das nicht, aber machbar. Bezeichnend war für mich die Anhörung der Arbeit- Erträglicher für alle würde es, wenn die politischen geber zum Lohnfortzahlungsgesetz am Montag. Daß Parteien im Deutschen Bundestag der Öffentlichkeit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer krankfeiern nicht das Bild tiefer Zerstrittenheit bieten würden, und blaumachen, ist nach ihrer Darstellung an der sondern sich einigen könnten, gemeinsam das Not- Tagesordnung, ohne daß sie dafür einen einzigen wendige zu tun und zu vertreten. Die CDU/CSU und konkreten Beweis liefern konnten. F.D.P. sind dazu entschlossen. Die SPD muß sich erst aufraffen. Deutschland wird nur so aus der Krise (Julius Louven [CDU/CSU]: Das ist ja lach wieder herausfinden. haft!) Ich bedanke mich. Zu Recht konterten dann auch die Gewerkschaften, daß das ganze Mißbrauchsszenario scheinheilig ist (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) und nur dem einen Zweck dient, die Gesellschaft reif zu machen für eine umfassende Entschlackung, wie es Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile der Kollegin heute so schön heißt. Petra Bläss das Wort. (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Tyll Necker, BDI-Präsident, sprach es kürzlich offen Petra Bläss (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! aus: Wir müssen die Krise nutzen; denn die Menschen Meine Damen und Herren! Die Haushaltsdebatte wird sind reif. — Das läßt sich die Bundesregierung nicht auch in diesem Jahr von einer rasanten wirtschaftli- zweimal sagen. Die von ihr im Haushaltsplan vorge- chen Talfahrt begleitet, die das gesellschaftliche legten Gesetze für ein Spar-, Konsolidierungs- und Geschehen insgesamt beherrscht. 6 Millionen Men- Wachtstumsprogramm — nebenbei gesagt: Auch sol- schen sind ohne reguläre Arbeit. Auch in wirtschaftli- che gehirnverkleisternden Titel schüren die Politik chen Kernbereichen wie der Automobilindustrie und verdrossenheit der Leute — lassen keinen Zweifel ihren Zulieferbetrieben sollen Arbeitsplätze in einer mehr darüber zu, wo es hierzulande langsam hinge- Größenordnung von 100 000 verschwinden. Die hen soll. Insofern weiß ich auch gar nicht, warum in Reallöhne der abhängig Beschäftigten nehmen weiter diesem Jahr erneut mit Stolz verkündet wird, daß für ab. Die Zahl derjenigen, die auf Sozialhilfe angewie- Arbeit und Soziales mit 121,8 Milliarden DM der sen sind, wächst unaufhaltsam. Immer größere Bevöl- größte Einzeletat vorgesehen ist. kerungsgruppen sind von Armut, Wohnungsnot und Der diesjährige Haushalt soll um mehr als 21 Milli- Obdachlosigkeit bedroht. Nach Altersarmut leistet arden DM entlastet werden. Es ist ja wohl unbest ritten, sich diese Gesellschaft nun auch noch, daß heute daß der Löwenanteil auf das Konto zusammengestri- schon jedes 11. Kind in Familien lebt, denen es schon chener Sozialleistungen im weitesten Sinne geht. Es am 20. jeden Monats am Nötigsten fehlt. werden nicht nur die Lohnersatzleistungen wie das Trotzdem vergeht kein Tag, wo nicht die schwin- Arbeitslosen-, Kurzarbeiter-, Eingliederungs- oder denden Chancen des Wirtschaftsstandorts Deutsch- Unterhaltsgeld einheitlich um 3 Prozentpunkte land an die Wand gemalt und die Bundesbürger zu gekürzt, nein, es gibt auch Varianten. Das Schlecht- 14910 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Petra Bläss wettergeld für Bauarbeiter z. B. wird zuerst gekürzt auf Mißbrauchsverdächtige wird auch im SKWPG und dann abgeschafft. Rein rechnerisch führt das zu wieder ganz groß geschrieben. der aberwitzigen Situation, daß die Bundesanstalt für Die Verschärfung der Meldepflicht gehört — — jede eingesparte Deutsche Mark über kurz oder lang (Julius Louven [CDU/CSU]: Bestreiten Sie 4 DM für Arbeitslosengeld und andere soziale Trans- denn, daß es Mißbrauch gibt, Frau Kolle fers aufwenden muß. gin?) (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: So ist es!) — dann fragen Sie mich richtig, nicht so einfach zwischendurch Diese kontraproduktive Verlagerung von Kosten aber ist kein Einzelfall. Im 1. SKWPG wird ganz (Julius Louven [CDU/CSU]: Ich soll eine freimütig festgestellt, daß die Absenkung der Lohner- Zwischenfrage stellen!) satzleistungen mittelbar zu Mehrausgaben bei der dazu ebenso wie die Verlängerung der Bemessungs- Sozialhilfe führen wird. Dies ist auch gar kein Wun- grundlage für die Arbeitslosengeldberechnung von der, denn die Arbeitslosenhilfe wird nicht nur um die drei auf sechs Monate. bekannten einheitlichen 3 Prozentpunkte gesenkt, auch die Bezugsdauer wird auf 2 Jahre befristet.- Wenn Vizepräsidentin Renate Schmidt: Kollegin Bläss, schon heute bei über einem Drittel der Arbeitslosen im gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lou- Westen und im Osten bei weit über 50 % Lohnersatz- ven? leistungen nicht ausreichen, um den Lebensunterhalt zu bestreiten, dann braucht man wirklich nicht zu Julius Louven (CDU/CSU): Frau Kollegin Bläss, spekulieren, was Ihre geplanten Kürzungen bewirken wollen Sie denn wirklich bestreiten, daß es in unserem werden: Die Zahl der Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialversicherungssystem Mißbrauch gibt? -empfänger wird steigen; die Kommunen bekommen den Schwarzen Peter zugeschoben und müssen insge- Petra Bläss (PDS/Linke Liste): Herr Kollege Lou- samt aus ihrem Stadtsäckel 1994 weitere 4 Milliarden ven, wir haben am Montag neun Stunden ohne Pause DM berappen. Das Trostpflaster für sie: Die Regel- die Anhörung zu den Karenztagen erlebt. sätze sollen bis Mitte 1995 gar nicht und dann bis Juli 1996 maximal um 3 % erhöht werden. Die Neuauflage (Zuruf von der CDU/CSU: Da waren Sie aber der Gespensterdiskussion um Sozialhilfeempfänge- nicht die ganze Zeit da!) rinnen und -empfänger, die in Saus und Braus leben, Ich war die ganze Zeit da; ich war die einzige aus dient dabei ebenso der Desinformation der Öffentlich- meiner Fraktion und mußte die ganze Zeit alleine da keit wie die Rede vom Abstandsgebot. sein. Sie haben es ja erlebt. Die Kolleginnen und Kolle- Zwar ist inzwischen hinreichend belegt, daß die Realeinkommen der abhängig Beschäftigten gesun- gen der SPD haben bestimmt fünfzehnmal die ent- sprechenden Experten gefragt, um zu erfahren, wie es ken sind und die Gefahr groß ist, daß sich dieser Trend fortsetzt, z. B. durch die Zunahme der Sozialabgaben, denn nun konkret mit dem Mißbrauch aussieht, wie die konkreten Zahlen sind. und das haben wir ja gestern in den Nachrichten vernommen, aber zum Sozialhilfeniveau fehlt Ta- Ich denke, keiner in diesem Land, auch niemand rifkampf sei Dank — noch ein gutes Stück, allerdings von der Opposition, bestreitet, daß es Mißbrauch gibt, nur solange, wie es gelingt, einen neuerdings ja auch auch im Sozialbereich. Aber die Frage ist doch, in von einigen SPD-Spitzen propagierten zweiten welcher Dimension sich ein solcher Mißbrauch Arbeitsmarkt zu verhindern, der vor allem das Ziel bewegt. Da gibt es umfangreiche Berechnungen, daß hat, Beschäftigte erster und zweiter Klasse zu schaf- das so minimal im Vergleich zu Riesenkampagnen ist, fen, nämlich solche, die tariflich entlohnt werden, und die hierzulande bewerkstelligt werden, solche, die erhebliche Lohnabschläge akzeptieren (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Wer hat denn die sollen. meisten Krankheitstage in Deutschland?) Frau Dr. Babel hat in ihrer Rede geradezu dazu für die auch die Bundesregierung entsprechende aufgerufen, ABM unter Tarif zu bezahlen. Ich finde es Milliönchen schnell mal lockermachen konnte, um äußerst bedenklich, daß eine solche Forderung mehr eine unsinnige Kampagne loszulassen, von der und mehr hierzulande hoffähig wird. schließlich auch die entsprechenden Mitarbeiterin- nen und Mitarbeiter in den Arbeitsämtern erklärt (Zuruf von der F.D.P.: Sie ist hoffähig!) haben, daß das eine zusätzliche Belastung ist, die eigentlich jetzt nicht nötig gewesen wäre. Bei den neuen Zungenzerbrechergesetzen geht es (Beifall bei der PDS/Linke Liste und bei nicht nur um Kürzungen von Lohnersatzleistungen Abgeordneten der SPD) und Sozialhilfe. Es wird mit Prinzipien gebrochen, die bisher durchaus zum gesellschaftlichen Konsens gehörten, so das Vermittlungsmonopol der Bundes- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Gestatten Sie anstalt für Arbeit. Es wird die Absicht deutlich, noch eine zweite Zwischenfrage des Kollegen Lou- lukrative Vermittlungen zu kommerzialisieren, wäh- ven? rend die Bundesanstalt das Wunder mit Schwerstver- mittelbaren bewerkstelligen soll, und das zudem Julius Louven (CDU/CSU): Haben Sie, Frau Kolle- unter Bedingungen, unter denen Arbeitsvermittlerin- gin Bläss, denn nicht die Berichte über die Razzien nen und -vermittler auch noch mit mehr und mehr gelesen, die die Bundesanstalt auf Baustellen durch- Kontrolltätigkeiten strapaziert werden, denn die Hatz geführt hat? Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14911

Julius Louven Haben Sie auch nicht gelesen, wieviel durch die gekommen, sondern es gab wirklich nur Luftblasen. Mißbrauchsbekämpfung von seiten der Bundesan- Ich muß sagen, ich fand es ganz schön stark, wie stalt eingespart worden ist? manche von uns Abgeordneten in dieser Anhörung abgekaspert wurden. Petra Bläss (PDS/Linke Liste): Selbstverständlich (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Wider habe ich davon Kenntnis bekommen. Ich habe mich pruch bei der CDU/CSU — Julius Louven des öfteren auch bei Arbeitsamtsdirektoren danach [CDU/CSU]: Wer?) erkundigt. Ich bin auch dafür, daß man das in einem bestimmten Maß fortführt, ein Auge darauf hat, aber — Ich meine die Arbeitgeberseite, und zwar hinsicht- nicht mit solchen Riesenkampagnen. lich unserer Frage, wie es denn konkret mit dem Ich würde die Schuld nicht bei den entsprechenden Mißbrauch aussieht. Arbeiterinnen und Arbeitern, die sich z. B. unter Tarif (Zuruf von der CDU/CSU: Die Sachverstän bezahlen lassen, sehen, sondern da würde ich in digen der Arbeitgeber zweifeln wir mittler jedem Fall die Unternehmen zur Verantwortung zie- weile auch an!) hen. Jetzt komme ich zum Schluß. Die Verlagerung der --s Ich frage mich, warum es in diesem reichen Land Zahlung des Kurzarbeitergelds auch in den ersten möglich ist, Tausende, Hunderttausende unter Tarif sechs Monaten auf die Arbeitgeber wird unseres und unter solchen Bedingungen überhaupt beschäfti- Erachtens wie die Streichung des Schlechtwettergelds gen zu können. unkalkulierbar mehr Arbeitslose hervorbringen. Auf (Julius Louven [CDU/CSU]: Aber es gehören den Einzelplan 11 möchte ich jetzt im einzelnen nicht ja immer zwei dazu!) weiter eingehen, weil der größte Teil — und das wird Die sind es sicher nicht, die den Schwarzen Peter leider in der Öffentlichkeit immer unterschlagen — verdienen. sowieso Zuschüsse zur Sozialversicherung sind, um (Beifall bei der PDS/Linke Liste) gesetzlich geregelte Individualleistungen zu erfül- len. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Es gibt noch eine Aber ich halte den Gesamtansatz für unrealistisch, Zwischenfrage, Kollegin Bläss. weil die Entwicklung von 1991 bis jetzt verdeutlicht, daß diese Konstruktion des Sozialversicherungssy- Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste): Frau Bläss, stems der gegenwärtigen und künftigen Situation könnten Sie mir bestätigen, daß laut Untersuchung nicht mehr gewachsen ist. Die Konstruktion gerät aus der Bundesanstalt für Arbeit in diesem Jahr bei den Fugen. Arbeitgebern festgestellt wurde, daß im Prinzip jedes Die Analyse zeigt: Während es im planungstech- dritte Unternehmen zu mißbräuchlichen Anstellun- nisch sicher sehr schwierigen ersten Jahr nach der gen bereit war? Können Sie bestätigen, daß das Einheit 1991 nur eine minimale Korrektur des Ansat- tägliche Praxis ist? Das betrifft sowohl das Lohndum- zes der Zuschüsse zur Sozialversicherung gab, eska- ping als auch Einstellungen sowie das Vorhandensein liert der Zustand in diesem Jahr. Statt der geplanten von Scheinfirmen, z. B. gerade im Baustellenbe- 73 Milliarden DM werden 91 Milliarden DM reich. Zuschüsse für die Sozialversicherung gebraucht wer- (Julius Louven [CDU/CSU]: Wenn sie das den; verursacht vor allem durch die Unwägbarkeiten bestätigt, lügt sie!) bei der Arbeitslosenversicherung. Damit wachsen Etwa diese Größenordnung wurde von der Bundesan- diese Zuschüsse gegenüber 1991 auf 135 %, während stalt für Arbeit genannt. sich der Haushalt insgesamt nur auf 112 % vergrö- ßert. (Julius Louven [CDU/CSU]: Seien Sie vor sichtig, Frau Bläss! Wenn Sie das bestätigen, Nun streite ich ja gern um jede Mark für soziale lügen Sie!) Zwecke, aber ohne die Augen vor Fehlentwicklungen Gemeint sind die Arbeitgeber im Baubereich. zu verschließen; denn heute bringt die Arbeitslosig- keit die Überlastung des Systems, in Bälde werden es die Renten sein. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Frau Höll, es sollte eigentlich eine Frage gestellt, nicht aber ein Koreferat Der Kanzler forderte zwar vorige Woche wortgewal- gehalten werden. tig, Verkrustungen seien aufzubrechen und Prioritä- ten neu zu setzen, doch was bedeutet das praktisch? Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste): Ich wollte wis- Praktisch liegt uns erstens ein unrealistischer Planan- sen, ob sie das im Baubereich bestätigen kann. Es geht satz mit einer Steigerung der Zuschüsse an die Sozial- darum, die Verhältnismäßigkeit zu untermauern. versicherungskassen um ganze 2,5 Milliarden DM Können Sie das bestätigen, Frau Bläss? vor. Es ist doch heute schon klar, daß das einen (Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt sagt sie ja!) enormen Nachtragshaushalt provoziert. Zweitens wird die Diskussion um die Neuordnung des Sozialsy- stems neu belebt, wie sie unsozialer nicht sein kann. (PDS/Linke Liste): Ja, mir sind diese Petra Bläss Die neuen Prioritäten, die Verkrustungen aufbrechen Untersuchungsergebnisse bekannt. Ich muß sagen, sollen, heißen: minimale staatliche Versorgung bei ich hätte mich gefreut, am Montag von der Arbeitge- berseite bei der Anhörung entsprechende Argu- maximaler individueller Vorsorge. mente, wie für Abhilfe dieses Zustands gesorgt wer- Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. den könnte, zu hören. Aber da ist natürlich nichts Ein Neuansatz in der Sozialpolitik ist unbedingt 14912 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Petra Blass notwendig. Anstatt weiter soziale Leistungen zu kür- empfiehlt — ich zitiere —, im Sommer für den Winter zen, muß darüber nachgedacht werden, wie Armut mitzuarbeiten. So ihr wirtschaftspolitischer Sprecher verhindert werden kann und über welche neuen Rainer Haungs laut FAZ vom 24. 8. 1993! Quellen die Kassen der Sozialversicherung gefüllt werden können, damit das Sozialversicherungssy- (Zuruf von der CDU/CSU: Warum nicht?) stem gesundet. Echte Abhilfe ist möglich. Doch sie Ich finde es bestürzend, mit welcher anhaltenden bedarf des politischen Willens aller hier im Hause. Ignoranz die Parteien, die sich christlich nennen, die Anzusetzen ist bei einer solidarischen Umverteilung Grundsätze christlicher Ethik und Soziallehre mißach- des Reichtums in dieser Gesellschaft. ten. Mit ihren Maßnahmen wird ein Klima von Aus- Ich danke. grenzung, Aggressivität und Feindschaft geschürt. Die Folgen zeigen sich bereits: Die Feindlichkeiten (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie des gegen Ausländerinnen und Ausländer, die zuneh- Abg. Siegmar Mosdorf [SPD]) mende Aggression und Gewalt gegen Menschen mit Behinderung oder ohne festen Wohnsitz gehören Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster Red- mittlerweile in Deutschland zum Alltag. ner hat das Wort der Kollege Konrad Weiß. Was diese Bundesregierung betreibt, ist kein Umbau des Sozialstaates, sondern sein Abbau. Ein Konrad Weiß (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Umbau des Sozialstaates, der seinen Namen verdient, Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe muß nach Auffassung von BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Kolleginnen und Kollegen! Im Bereich Arbeit und NEN die Arbeitswelt menschlicher machen und eine Sozialordnung wirkt sich die orientierungslose und soziale Grundsicherung für alle, unabhängig von kurzsichtige Sparpolitik der Bundesregierung beson- ihrem Leistungsvermögen, gewährleisten. Für uns als ders verheerend aus. Drastische Sparmaßnahmen werteorientierte Partei orientiert sich der Wert des setzen die seit Jahren praktizierte Umverteilungspo- Menschen eben nicht an seiner Arbeitskraft, sondern litik von unten nach oben fort. Der strapazierte Beg riff allein an seinem Menschsein. Das bundesdeutsche von der Zweidrittelgesellschaft ist aber schon jetzt System der sozialen Sicherung hingegen ist st rikt auf eine Beschönigung. Er suggeriert, daß sich die Bevöl- das sogenannte Normalarbeitsverhältnis ausgerich- kerungsmehrheit auf der sicheren Gewinnerseite tet. wähnen dürfe. Die Realität sieht allerdings anders aus. Zum ökonomischen und sozialen Umbau, der ebenso wie der ökologische Umbau für unser Land Das wird sich verschärfen, wenn auf Betreiben der unabdingbar ist, gehört vordringlich eine Verkürzung Bundesregierung die Lohnersatzleistungen gekürzt der Arbeitszeit, und zwar ohne Lohnausgleich. Die werden. Dies soll z. B. durch die degressive Ausgestal- vorhandene Arbeit muß breiter verteilt werden, auch tung beim Bezug des Arbeitslosengeldes geschehen. wenn das für die Arbeitsplatzbesitzer Verlust bedeu- Der Mythos einer verbreiteten Arbeitsscheu wird tet. Zwar birgt der Einstieg in eine ökologisch orien- dadurch bewußt geschürt. tierte Wirtschaft enorme Arbeitsplatzreserven, doch Den Bezug von Arbeitslosenhilfe will die Bundesre- führt die wachsende Produktivität in der Indust rie gierung auf zwei Jahre befristen. Gerade Langzeitar- auch zu einer Verstärkung der Selektions- und Aus- beitslosigkeit führt jedoch zur Disqualifizierung und grenzungsprozesse des Arbeitsmarktes. Darüber hin- zu weiterem sozialen Abstieg. In der Sozialhilfestati- aus kann der noch immer steigende Bedarf an Arbeits- stik sind Langzeitarbeitslose schon jetzt überreprä- platzangeboten auch in anderen Wirtschaftsberei- sentiert. Durch die erneuten Kürzungen ist mit einer chen, wie z. B. den Dienstleistungen, schon jetzt nicht Explosion der Sozialhilfebedürftigkeit zu rechnen. abgedeckt werden. Die gleichzeitigen Kürzungen bei der Sozialhilfe Was völlig fehlt, ist eine kritische Auseinanderset- entlarven ein stringentes Konzept sozialer Ausgren- zung mit den strukturellen Ursachen der wirtschaft- zungen. Menschen, die nur kurze Zeit beschäftigt lichen Krise. Die Argumentation, die Krise sei eine waren, sollen keine Arbeitslosenhilfe mehr erhalten. reine Kostenkrise, die zudem fast ausschließlich durch Sie werden direkt in die Sozialhilfe abgedrängt. die Höhe der gesetzlichen Lohnnebenkosten verur- Fortbildungs- und Umschulungskapazitäten, die sacht werde, greift zu kurz. Ausgeblendet bleibt vor ohnehin unzulänglich sind, werden weiter gekürzt. allem der Anteil, den die deutsche Wirtschaft durch Nach der geplanten Überarbeitung der Arbeitszeit- ihre Schwerfälligkeit, ihren mangelnden Mut zur ordnung von 1938 sollen Unternehmer noch mehr als Innovation und ihre Abhängigkeit von staatlichen bisher über den Arbeitstag ihrer Beschäftigten bestim- Subventionen selbst an dieser Entwicklung trägt. men können. Arbeitszeit wird nicht an den Bedürfnis- Hinzu kommt, daß die heutige relative Höhe der sen der Menschen ausgerichtet, sondern an Maschi- gesetzlichen Lohnnebenkosten maßgeblich durch die nenlaufzeiten. Arbeitslosigkeit wird so nicht abge- Selbstbedienungsmentalität der Bundesregierung baut. Statt emanzipatorische Prozesse zu fördern, z. B. verursacht wurde. Der lange Zeit öffentlich unbe- auch Modelle, die aus Mitarbeitern Miteigentümer merkte milliardenschwere Griff in die Sozialkassen ist machen, werden so autoritäre Strukturen verfestigt. ein Produkt der sogenannten geistig-moralischen Das ist das eigentliche Standortproblem in Deutsch- Wende. Unter dem Einfluß der F.D.P., Frau Kollegin land. Babel, ist der Bundeskanzler zum gewendeten Robin Konsequenterweise soll nun auch noch das Hood geworden, der von den Armen nimmt, um es den Schlechtwettergeld abgeschafft werden. Es ist blan- Reichen zu geben. Vor allem die Beitragszahler der ker Zynismus, wenn die CDU/CSU den Bauarbeitern Sozialversicherung müssen dies ausbaden. Gedankt Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14913

Konrad Weiß (Berlin) wird es ihnen mit laufenden Leistungskürzungen, die Geld, wie uns der Wirtschaftsminister weismachen langsam, aber sicher den eigentlichen Schutzzweck will. Wenn es darum geht, die Teilhabechancen der der Versicherung in Frage stellen. heute ausgegrenzten Bevölkerungsgruppen wieder- herzustellen, so verweigert sich die Bundesregierung Hinzu kommen vielfältige Taschenspielertricks, kategorisch. So gibt es in diesem Land nicht einmal z. B. bei den dreisten Manipulationen mit der Sozial- einen amtlichen Begriff des geschützten Existenzmi- hilfe. Sie sollen dem Finanzminister nach dem Grund- In Rechtsverordnungen und Bundesgesetzen satzurteil zur Steuerfreiheit des Existenzminimums nimums. finden sich eine unübersichtliche Vielzahl von Exi- anscheinend Luft verschaffen. Auch die Karenztage, stenzminima. Bestrebungen, diesen Dschungel zu gedacht als peinlich unwillkommenes Geschenk an bereinigen, sind seitens der ansonsten doch so auf die Arbeitgeber, bergen versteckten Zündstoff, denn Deregulierung versessenen Koalition nicht zu erken- daß dank der Karenztage die Rentenanpassungen nen, bietet doch eine ungesicherte Armutsgrenze sinken würden, vergaß der Kanzler gestern zu erwäh- erheblich leichtere Zugriffsmöglichkeiten, wenn wie- nen, als er tönte, die Renten seien sicher. Statt dessen der einmal ein Haushaltsloch entdeckt wird. ist es notwendig, den Versicherungszweigen die Auf- wendungen für versicherungsfremde Leistungen aus Dringend notwendig ist es daher, ein geschütztes allgemeinen Steuern zu erstatten. Sofern man sich Existenzminimum zu entwickeln, das sowohl der hier auf einen enggefaßten Begriff beschränkt, dürfte Lebenswirklichkeit in unserem Land und dem not- eine Verständigung möglich sein. wendigen Bedarf der Betroffenen entspricht als auch dem leichtfertigen Zugrif gieriger Haushälter zumin- Unbegreiflich bleibt für viele Bürgerinnen und dest weitgehend entzogen ist. Die Empfehlungen der Bürger nach wie vor die Berechtigung einer Beitrags- EG-Kommission liefern hier erste Anhaltspunkte für bemessungs- und Pflichtversicherungsgrenze. Auch das neu zu bestimmende Niveau. Gutverdienende müssen sich mit ihrem gesamten Einkommen an der Sozialversicherung beteiligen. Geboten ist grundsätzlich eine Weiterentwicklung Darüber hinaus ist die Einführung einer zeitlich der sozialen Basissicherung, da diese von der Sozial- begrenzten Arbeitsmarktabgabe für Selbständige, hilfe offensichtlich nicht mehr bewältigt wird. Auch Freiberufler und Beamte erforderlich. Sie dient vor hier handelt es sich um ein strukturelles Problem, da allem dazu, die Maßnahmen der Arbeitsförderung, an die Sozialhilfe und ihre restlos überforderten Träger denen auch künftig ein erheblicher gesellschaftlicher nicht darauf ausgerichtet sind, für Millionen von Bedarf bestehen wird, in solidarischer Form abzusi- Menschen den Lebensunterhalt zu bestreiten. chern. Dieses Instrument kann verzichtbar werden, Die Bundestagsgruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wenn es mittelfristig gelingt, die genannten Personen- hat mit ihrem Gesetzentwurf zur Grundsicherung im kreise in die Pflichten der Sozialversicherung einzu- Alter einen exemplarischen Vorstoß zur Lösung des beziehen. Problems gemacht. Dieser Vorschlag verfolgt durchaus nicht nur fiska- Dieser pragmatische Vorschlag trägt sowohl der lische Zwecke. Denn nicht zuletzt sind mit der Versi- angespannten Haushaltslage als auch dem unbe- cherungspflicht auch Rechte verbunden. Schließlich streitbar vorhandenen gesellschaftlichen Bedarf ist nicht jeder, der formal auch selbständig tätig ist, ein Rechnung. Sie würden weitsichtig handeln, meine Krupp oder Krause. Im Gegenteil, gerade unter Damen und Herren sowohl von der SPD wie von der Frauen besteht ein erschreckend hohes Ausmaß an CDU/CSU, wenn Sie sich unserem Vorschlag scheinselbständigen Existenzen mit Einkommen, die anschließen würden. eine adäquate private Risikovorsorge nicht zulassen. Ich bedanke mich. Auf Grund der verfassungsrechtlichen Probleme bei (Beifall bei Abgeordneten der PDS/Linke der Einbeziehung von Beamten muß darüber nachge- Liste) dacht werden, wie im Zuge einer Verwaltungsreform das Berufsbeamtentum auf das gesellschaftlich Not- wendige reduziert werden kann. Zum Beispiel wäre Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Kol- eine zeitliche Befristung des Beamtenstatus denk- lege Ottmar Schreiner das Wo rt . bar. Eine Stabilisierung der Sozialversicherungen mit Ottmar Schreiner (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Steuermitteln, die wir vorschlagen, muß angesichts Kolleginnen und Kollegen! In den letzten 20 Jahren der desolaten Staatsfinanzen heute als Utopie erschei- wurde regelmäßig in konjunkturellen Krisen eine nen. Dabei wird aber verdrängt, was ein solcher Debatte über den Wi rtschaftsstando rt Deutschland Reformschritt gerade auch für die Entwicklung der geführt. Auffallend ist allerdings, daß von konservati- gesetzlichen Lohnnebenkosten bedeuten würde. ver Seite die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Maßnahmen, die das Vertrauen in die sozialen Siche- Wirtschaft immer mit dem Ziel problematisiert wird, rungssysteme stärken, sind außerdem auch geeignet, die Gewerkschaften unter Druck zu setzen, massive den Aggressionen gegen vermeintlich unberechtigte Einschnitte in das soziale Netz zu rechtfertigen, von Nutznießer des Sozialstaates entgegenzuwirken. den wirklichen Problemen abzulenken und den Diese Maßnahmen zu realisieren, wäre die Aufgabe Standort insgesamt mieszumachen und zu zerreden. der Bundesregierung, nicht aber die Forcierung einer (Beifall bei der SPD) fortgesetzten Mißbrauchskampagne. Die Sozialpolitik hat keinerlei Grund, diese Debatte Investitionen in die Stabilität des Sozialstaates, zu fürchten, ganz im Gegenteil: Wir wollen uns aktiv meine Damen und Herren, sind Investitionen in eine einmischen. Als erster Vorbehalt für die angebliche lebenswerte Zukunft und eben nicht verschwendetes Schwäche des Standortes Deutschland wird ange- 14914 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Ottmar Schreiner führt, die Bundesrepublik sei Kostenweltmeister und rund 8,2 % betrug. Das ist trotz eines Rückgangs der teuerste Produktionsstandort der Welt, sie habe gegenüber 1990 und 1991 ein Vielfaches gegenüber hohe Arbeitskosten und lange Urlaubszeiten, geringe den 2,3 % in 1982. An der Einkommensverteilung tarifliche Arbeitszeiten, zu kurze Maschinenlauf- oder dürfte sich übrigens in diesem Jahr nach dem Jahres- Betriebsnutzungszeiten und üppig ausgestaltete so- wirtschaftsbericht nichts ändern. ziale Sicherungssysteme, die keinerlei Anreize zur Gewinne sind nichts Schlechtes, im Gegenteil: Sie Aufnahme von Erwerbsarbeit böten. sind für die Investitionen unverzichtbar. Trotzdem Ihre Kampagne gipfelte im Grunde in der kollekti- widerlegen diese Zahlen das Gerede von einer allge- ven Beleidigung der Arbeitnehmer als Faulpelze der meinen Arbeitskostenkrise und einem ausufernden Nation: Sie arbeiten zuwenig und verdienen zuviel. Sozialstaat. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Das konservative Rezept, um die Tarifautonomie Könnte es nicht vielmehr umgekehrt so sein, daß aufzubrechen, nämlich Löhne herunter, länger arbei- gerade wegen der zurückhaltenden Lohnpolitik und ten, geht völlig an den Realitäten vorbei und würde, leicht gemachter Gewinne einige Unternehmen Inve- wenn es weiterverfolgt würde, die Bundesrepublik- in stitionen in neue Produkte und neue Produktionsver- eine schlimme Zerreißprobe führen. fahren und zugleich eine verbesserte Arbeitsorgani- sation unterlassen haben? Gleichzeitig sind hohe In der gestrigen Debatte forderte z. B. der Fraktions- Löhne, im internationalen Vergleich kurze Arbeits- vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion eine stärkere Dif- zeiten und ein relativ dichtes soziales Sicherungs- ferenzierung von Löhnen und Einkommen. Die netz — — Angriffe von Herrn Schäuble auf die Tarifautonomie sind völlig unangebracht. Schon gegenwärtig gibt es (Dr. Gisela Babel [F.D.P.] meldet sich zu einer rund 32 000 Tarifverträge, davon immerhin ca. 8 000 Zwischenfrage) Firmentarifverträge, die wahrlich ein Zeichen für eine — Warum stehen Sie da herum? weit ausgefächerte, differenzierte und den Gegeben- (Heiterkeit im ganzen Hause) heiten angepaßte Tarifpolitik darstellen. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Renate Schmidt: Ich wollte Sie Nun zu den weiteren Tatsachen. Frau Dr. Babel hat gerade fragen, Herr Kollege Schreiner, ob Sie eine hier einige sonderbare Bemerkungen gemacht. Ihr Zwischenfrage der Kollegin Babel gestatten. Rezept war: Löhne absenken, untertarifliche Bezah- lung usw. Ottmar Schreiner (SPD): Völlig klar. Jetzt zu den Tatsachen: Alle Arbeitskostenfaktoren zusammen — Arbeitszeit, Maschinenlaufzeit, Löhne und Lohnnebenkosten — finden sich in dem einzig Vizepräsidentin Renate Schmidt: Bitte, Frau Kolle- brauchbaren Kriterium der sogenannten Lohnstück- gin. kosten wieder. Maßgeblich für die Lohnstückkosten ist das Verhältnis von Produktivität und Arbeitsko- sten. Die hohen Löhne bei uns in Deutschland sind Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Herr Kollege Schreiner, durch die hohe Produktivität der Arbeit voll gerecht- man kann Ihre Daten so zusammenfassen, daß für fertigt. einen Unternehmer in Deutschland die Lohnkosten geradezu paradiesisch sind. Wie erklären Sie dann die (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Bislang!) seltsame Flucht in die Tschechei oder nach Ungarn für Seit 1970 lag der Anstieg der Lohnstückkosten in Unternehmensgründungen, wo die Lohnkosten offen- Deutschland bis auf zwei Jahre stets unter dem sichtlich anders sind? Durchschnitt aller anderen Industrieländer. (Zuruf von der SPD: Weil sie da noch größere (Julius Louven [CDU/CSU]: Aber die zwei Gewinne machen!) Jahre hatten es in sich!) Soweit die Erkenntnisse des Deutschen Instituts für Ottmar Schreiner (SPD): Ich weiß nicht, ob man von Wirtschaftsforschung. seltsamer Flucht reden kann. Sicherlich ist es notwen- (Julius Louven [CDU/CSU]: Und jetzt?) dig und angebracht, daß auch deutsche Unterneh- mungen in Osteuropa investieren, Firmen aufbauen. — Ich komme darauf zurück, Herr Kollege Louven. Wir wollen den Menschen dort ja helfen. Die bereinigte Lohnquote ist von 1982 bis 1992 (Beifall bei Abgeordneten der SPD) deutlich gefallen, und zwar von 77,8 auf 71,7 %. Das Aber Sie können nicht den Umkehrschluß ziehen, daß bedeutet umgerechnet eine Umverteilung in den wir osteuropäisches Lohnniveau anstreben. letzten zehn Jahren zu Lasten der Arbeitseinkommen von rund 128 Milliarden DM. Bei gleicher Einkom- (Zuruf von der CDU/CSU: Strebt doch nie mensverteilung wie 1982 hätte heute jeder Arbeitneh- mand an!) mer und jede Arbeitnehmerin Monat für Monat rund Lesen Sie mal den Artikel des früheren Planungschefs 410 DM mehr in der Tasche. Kein Wunder, daß die im Auswärtigen Amt, Herrn Seitz, des heutigen Bot- Gewinne umgekehrt kräftig in die Höhe geschnellt schafters der Bundesrepublik Deutschland in Rom, sind. Die Arbeitgeber selbst haben ausgerechnet, daß der klipp und klar gesagt hat, völlig unangebracht, der Anteil der Gewinne am Volkseinkommen 1992 abwegig wären Lohnstrategien, die sich zum Ziel Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14915

Ottmar Schreiner setzen, das Lohnniveau der osteuropäischen Länder zu machen, wenn Sie die Sozialversicherungen von auch nur anzupeilen. den beitragsfremden Leistungen befreien würden. Das Fiasko mit den Karenztagen wäre Ihnen gleicher- (Julius Louven [CDU/CSU]: Wer will denn maßen erspart geblieben. das?) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Also muß es völlig andere Wege geben. Abenteuerlich aber wird es vor diesem Hinter- (Beifall bei der SPD) grund, wenn die Kräfte in der Bundesregierung, die Gleichzeitig sind hohe Löhne sowie im internatio- über eine grundfalsche Finanzierungspolitik der deut- nalen Vergleich kurze Arbeitszeiten und ein relativ schen Einheit das finanzielle Debakel der sozialen dichtes soziales Sicherungsnetz Resultat der hohen Sicherungssysteme vorprogrammiert haben, sich Arbeitsproduktivität. Zwischen Arbeitskosten und nunmehr heuchlerisch über die hohen Sozialkosten Arbeitsproduktivität besteht insoweit ein wechselsei- erregen und die Folgen ihrer falschen Finanzierungs- tiger Zusammenhang: Hohe Arbeitskosten sind politik den Rentnern und Arbeitslosen aufbürden oder zugleich Ursache und Folge hoher Arbeitsproduktivi- diese sogar noch pauschal des Mißbrauchs verdächti- tät. Die ökonomische Leistungskraft der westdeut-- gen. schen Wirtschaft beruht ganz wesentlich auf der (Beifall bei der SPD — Julius Louven [CDU/ hohen Arbeitsproduktivität. CSU]: Jetzt reden Sie nicht nur zu schnell, Kostenprobleme ganz anderer Art bestehen in Ost- sondern auch zu laut! — Weiterer Zuruf von deutschland infolge der längst noch nicht abgeschlos- der CDU/CSU: Ein bißchen lauter, ich höre senen Umstrukturierung der Wirtschaft. Diese können nichts! Und schneller!) aber nicht mit Sozialabbau bewältigt werden. Die — Kaufen Sie sich mal ein Hörgerät oder so etwas. Chance für einen wirklichen Solidarpakt mit den Gewerkschaften haben Sie leichtfertig verspielt. Nur am Rande sei vermerkt, daß die Soziallei- stungsquote, also der Anteil der Sozialleistungen am Deutschland ist nun keineswegs „Weltmeister" bei Bruttosozialprodukt, seit 1982 in Westdeutschland den Lohnstückkosten, sondern befindet sich im EG- fällt. Betrug die Sozialleistungsquote 1982 noch Vergleich im Mittelfeld. Unsere Position hat sich 33,2 %, so ist sie 1992 trotz massiv steigender Arbeits- allerdings, Herr Kollege Louven, seit 1991 deutlich losigkeit auf 31,4 % abgesunken. Behauptungen des verschlechtert. Viele meiner Vorredner haben bereits BDI aus den letzten Tagen, der Sozialstaat drohe in auf die Währungsturbulenzen und die derzeitige einen Wohlfahrtsstaat umzukippen, entbehren wirk- Überbewertung der D-Mark hingewiesen. Hinzu lich jeglicher Grundlage. kommen aber vor allem selbstverschuldete Fehler durch die Bundesregierung. Ähnlich irreführend ist die gegenwärtige Arbeits- zeitdebatte. Jesuitenprofessor Dr. Hengsbach hat vor (Beifall bei der SPD) kurzem völlig zu Recht die Forderung aus Kreisen der Seit dem Frühjahr 1991 — da fällt die zeitliche Bundesregierung, die Arbeitszeit zu verlängern, als Identität auf tragen nämlich die Beitragszahler vor „dumm und töricht" bezeichnet. Jede Form der allem der Bundesanstalt für Arbeit und damit eben Arbeitszeitverlängerung führt zu höherer Massenar- auch die Arbeitgeber einen Großteil der einigungsbe- beitslosigkeit. dingten Kosten. Das ostdeutsche Defizit der Bundes- (Beifall bei der SPD) anstalt für Arbeit betrug 1991 bis 1993 nach den neuesten Untersuchungen des IAB rund 93 Milliarden Man hat fast den Eindruck, diese Bundesregierung DM, von denen fast zwei Drittel, also über 60 Milliar- läßt nichts unversucht, die Massenarbeitslosigkeit den DM, aus westdeutschen Beitragseinnahmen und weiter zu steigern. damit in Gestalt von erhöhten Lohnnebenkosten (Beifall bei der SPD) finanziert werden. Angesichts eines für 1994 prognostizierten Fehlbe- (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Julius stands von fast sieben Millionen regulären Arbeits- Louven [CDU/CSU]: Die Rechnung stimmt plätzen ist das genaue Gegenteil notwendig, nämlich nicht!) kontinuierliche Arbeitszeitverkürzung. Die Dauer der Arbeitszeit beeinflußt nämlich die Kostensituation Um den eigenen Haushalt zu schonen und um der Unternehmungen nicht, sofern die jeweilige damals notwendige Steuererhöhungen zu vermeiden Arbeitszeitverkürzung gegen ansonsten mögliche — Stichwort Steuerlüge im Wahlkampf — hat die Einkommensverbesserungen eingetauscht wird. Inso- Bundesregierung den Sozialversicherungsträgern weit ist die generelle Behauptung, Arbeitszeitverkür- gewaltige Lasten aufgebürdet, die nicht zu ihren zungen würden die Arbeitskosten verteuern und die ureigenen Aufgaben gehören. Arbeitsplätze gefährden, Unfug. Arbeitszeitverkür- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) zungen steigern im übrigen die Arbeitsproduktivität Durch eine gerechte Steuerfinanzierung könnten die und senken folglich die Lohnstückkosten. Beitragssätze der Sozialversicherungssysteme um ca. ( [CDU/CSU]: Auch im öffent 4 % abgesenkt und damit natürlich auch die kritische lichen Dienst?) Lohnstückkostenentwicklung aus den letzten beiden In den Kopenhagener EG -Ratsbeschlüssen vom Jahren nachhaltig beeinflußt werden. Juni dieses Jahres heißt es unter der Überschrift Über die Finanzierung der Pflegeversicherung „Wege ins 21. Jahrhundert, Leitlinien für ein neues bräuchten wir uns überhaupt keine Gedanken mehr europäisches Wirtschaftsmodell" : 14916 Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Ottmar Schreiner Produktivitätszuwächse sollten künftig zur Ver- schaft Textil und Bekleidung, kennt allerdings besserung der Lebensqualität und zur Schaffung „keine einzige Firma, die die Laufzeit aus- neuer Arbeitsplätze eingesetzt werden; dieses schöpft ". Beispiel Metallindustrie: Do rt dürfen, dynamische Konzept beinhaltet, daß durch die obwohl die allgemeine Wochenarbeitszeit mitt- Verteilung der Arbeit zusätzliche Arbeitsplätze lerweile nur noch bei 36 Stunden liegt, bis zu 18 geschaffen werden . . . der Beschäftigten eines Unternehmens 40 Stun- Das eindeutige Plädoyer der EG-Ratsbeschlüsse für den arbeiten. Nach einer Umfrage der IG Metall Arbeitszeitverkürzung wurde übrigens auch von der machen allerdings nur 18 % der Betriebe von Bundesregierung vor wenigen Monaten unterzeich- dieser Möglichkeit Gebrauch, . . . net. Die gleiche Bundesregierung propagiert öffent- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Hört! Hört!) lich das genaue Gegenteil, nämlich diesen Schwach- sinn von Arbeitszeitverlängerung. Hier, räumte Dieter Kirchner, Hauptgeschäfts- führer von Gesamtmetall, ein, liege noch „verbor- (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Unglaub genes Potential". lich!) - Kurzum: Das beständige öffentliche Gerede von Wir wollen zudem einen zwingenden Ausgleich von Mitgliedern der Bundesregierung und der sie tragen- Überstunden durch zusätzliche Freizeit. Angesichts den Fraktionen nach einer gesetzlichen und/oder dramatisch steigender Massenarbeitslosigkeit ist ein tariflichen Verlängerung der Maschinenlaufzeiten Überstundenvolumen nicht weiter hinnehmbar, das geht vollständig an der Wirklichkeit vorbei. rein rechnerisch etwa 900 000 Vollzeitarbeitsplätzen (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke entspricht. Liste) Es ist, meine Damen und Herren, völlig unbestrit- Eine weitere geläufige These lautet: Der Abstand ten, daß Arbeitszeitverkürzung und wachsende Kapi- der Sozial - zu den Arbeitseinkommen sei zu gering. talintensität der Arbeitsplätze eine fortschreitende Darauf hat die Kollegin Renate Schmidt bereits hinge- Entkoppelung der Betriebsnutzungszeit von der indi- wiesen. Ich will nur eine Zahl nennen. Sie müssen mir viduellen Arbeitszeit erfordern. Erstaunlich ist dabei einmal erklären, wie ein Arbeitsloser in Ostdeutsch- nur, daß die gegenwärtig schon vergleichsweise groß- land von einem Durchschnittsbetrag von 666 DM zügigen gesetzlichen und tariflichen Spielräume von Arbeitslosenhilfe im Monat leben kann. Wenn die den Unternehmen nicht ausgeschöpft werden. ganzen Lachnummern, die hier vor mir sitzen, von (Beifall bei der SPD — Julius Louven [CDU/ diesen 666 DM leben müßten, würde ihnen das CSU]: Ottmar, magst du ein Bonbon? — Abg. Gelache, das Gegrinse und des Gefeixe wirklich Julius Louven [CDU/CSU] bietet dem Red vergehen. ner ein Bonbon an) (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke — Julius, ich empfehle dir sehr, mir genau zuzuhören. Liste) Dann hast du ein paar Argumente gegen den Sie treiben die Menschen mit dieser Politik massen- Schwachsinn der F.D.P. weise in die Sozialhilfe der Kommunen und — schlim- (Beifall bei der SPD) mer noch — viele auch in die politische Radikalität. In der „Wirtschaftswoche" vom 3. September 1993 Von ähnlich demagogischer Qualität sind die heißt es zu der Frage nach mehr flexibler Arbeits- behaupteten Überschneidungen von Arbeitslohn und zeit Sozialhilfe. Die Forderung nach Kürzung der Sozial- hilfe hat vor diesem Hintergrund vor allem die (Zuruf der Abg. Dr. Gisela Babel [F.D.P.]) Arbeitslöhne selbst im Visier. Die Mindesteinkom- — warum schreien Sie wie Kassandra? Versuchen Sie mensfunktion, die der Sozialhilfe in Zeiten hoher doch wirklich einmal, die Argumente anzuhören —: Massenarbeitslosigkeit zukommt, soll reduziert wer- den. In Ost und West würde damit der Spielraum für (Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie prekäre und ungeschützte Arbeitsverhältnisse zu Heiterkeit bei der CDU/CSU) Hungerlöhnen vergrößert. Hier liegt neben der kas- Wenn Arbeits- und Betriebszeit mit Hilfe neuer senmäßigen die ordnungspolitische Bedeutung der Modelle entkoppelt werden, sind Unternehmen Auseinandersetzung um die Höhe der Sozialhilfe. in der Lage, ihre Anlagen besser auszulasten, Die von der Bundesregierung beabsichtigten weite- Kosten zu sparen, ihre Produktivität zu erhöhen. ren Verschlechterungen des Arbeitslosengeldes, der Doch diese Chance haben viele Bet riebe schlicht Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe sind weder verschlafen. So kommt das Münchner Ifo-Institut christlich noch sozial; sie sind auch ökonomisch wider- in einer Studie zu dem Ergebnis, daß solche sinnig und verschärfen die K rise. Arbeitszeitmodelle zwar „großes publizistisches Interesse" finden, aber noch kaum die „Realität" (Beifall bei der SPD) bestimmten. Die Arbeitgeber schieben den Die Belastungsverschiebung zu den Gemeinden Schwarzen Peter in der Arbeitszeitdebatte nur zu wirkt rezessionsverschärfend, da die Gemeinden gerne den „unflexiblen" Gewerkschaften zu — Hauptträger der öffentlichen Investitionen sind, näm- vielfach zu Unrecht. Beispiel Maschinenlaufzei- lich mit über 80 %. Es ist nicht Aufgabe der Gemein- ten: In der Textilindustrie erlaubt der Tarifvertrag den, das gesellschaftliche Risiko der Arbeitslosigkeit eine Betriebsnutzungszeit von 144 Stunden in der zu finanzieren, sondern sie sollen gerade neben ihrer Woche. Willi Arens, Vorsitzender der Gewerk Rolle als größter öffentlicher Investor eine zweckmä- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14917

Ottmar Schreiner Bige Infrastruktur zur Standortsicherung anbieten. schaftsstandorts Deutschland, Beschluß des Bundes- Dies ist gerade für Ostdeutschland von herausragen- ausschusses der CDU vom 18. Juni 1993. der Bedeutung. Ich habe ja nichts dagegen, wenn die CDU von der SPD klaut, wenn es den Menschen nutzt. Aber Sie Die Kürzungen schwächen zudem die gesamtwirt- sollten es dann wenigstens auch in die Wirklichkeit schaftliche Nachfrage und wirken auch insoweit kri- senverschärfend. Mit über 50 Milliarden DM in 1993 umsetzen. stabilisieren Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe (Beifall bei der SPD) bislang die Massenkaufkraft. Gerade angesichts einer Dergleichen ist nicht im geringsten der Fall. krassen Unterauslastung der Produktionskapazität in Meine Damen und Herren, Sie haben vor einigen Deutschland kann die Lösung des Arbeitsmarktpro- Tagen bei der parlamentarischen Anhörung von blems und des Beschäftigungsproblems wahrlich Sachverständigen zur geplanten Einschränkung der nicht in der Drosselung der privaten Nachfrage lie- Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ein völliges gen. Fiasko erlebt. Alle Sachverständigen — ob Arbeitge- Die Lehren aus der Weltwirtschaftskrise vor über ber oder Gewerkschafter, ob Ärztevertreter oder 60 Jahren werden von der Bundesregierung- schlicht Krankenkassenexperten — wandten sich eindeutig ignoriert. Das eigentliche Problem besteht darin, daß gegen den Gesetzentwurf. Eine politisch ernstzuneh- seit der Vereinigung Wirtschafts-, Arbeits- und Sozial- mende Mißbrauchsquote gibt es nicht. Sollte der politik fast nur noch als Finanzpolitik stattfinden, Gesetzentwurf verabschiedet werden, wird uns das zunächst mit vollen Händen und seit zwei Jahren teuer zu stehen kommen. Viele kranke Arbeitnehmer prozyklisch und dann mit leeren Taschen. Der Bun- und Arbeitnehmerinnen, die jetzt schon Angst vor desfinanzminister und der Bundeswirtschaftsminister dem Verlust ihrer Arbeitsplätze haben, werden ihre halten Reden, die nahezu wörtlich von Brüning stam- Krankheit verschleppen. In der Folge wird die Zahl men könnten, als Ghostwriter aus dem Jenseits. längerfristiger und chronischer Krankheitsverläufe zunehmen. Das gleiche gilt für Frühverrentungen. Die fortlaufenden Sparbeschlüsse verschärfen auch Mindestens genauso verhängnisvoll ist, daß Sie die aus anderen Gründen die Massenarbeitslosigkeit. Die Tarifparteien mutwillig in harte Arbeitskämpfe peit arbeitsfördernden Maßnahmen der Bundesanstalt für schen. Bei ca. 80 % aller Beschäftigten ist die Lohn- Arbeit sind für 1993 um ca. 17 Milliarden DM gekürzt fortzahlung im Krankheitsfall tarifvertraglich abgesi- worden. Von einem zweiten Arbeitsmarkt, Herr Blüm, chert. Die deutschen Gewerkschaften sind mit ihrer kann zumindest in Westdeutschland überhaupt keine gesellschaftlichen Macht bislang wahrlich sehr ver- Rede mehr sein, zumindest was die Situation der antwortlich umgegangen. Die Bundesrepublik ist im Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen anlangt. Ende die- internationalen Vergleich das Land mit den wenigsten ses Jahres wird der Bestand an Arbeitsbeschaffungs- streikbedingten Ausfalltagen. Der soziale Friede ist maßnahmen in Westdeutschland auf ca. 15 000 absin- ein wichtiger Standort- und Wettbewerbsfaktor. Die ken. Zum Vergleich: Allein in der Stadt Dortmund, in Bundesregierung unterläßt nichts, um den sozialen Ihrem Wahlkreis, gibt es 1993 mehr als 43 000 Arbeits- Frieden in Deutschland nachhaltig zu beschädigen lose. Das heißt, in einer einzigen Stadt gibt es fast und zu zerstören. dreimal soviel Arbeitslose, wie wir AB-Maßnahmen Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch für Gesamtwestdeutschland haben. zwei Sätze sagen, weil Frau Kollegin Babel gefragt Anhaltende Massenarbeitslosigkeit und der struk- hat. turelle Wandel erfordern aber ganz im Gegenteil eine beschäftigungsorientierte Wirtschaftspolitik und eine Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege aktivere Arbeitsmarktpolitik. Schreiner, diese zwei Sätze, und dann müßten Sie, Ich will Ihnen noch ein Zitat vortragen: bitte, Schluß machen.

Mit einer engeren Verknüpfung von regionaler Ottmar Schreiner (SPD): Das hängt damit zusam- Strukturpolitik und aktiver Arbeitsmarktpolitik men, daß Sie Ihre Redezeit überzogen haben und kann der Zeitraum zwischen dem Wegbrechen meine damit etwas kürzer wird. alter unrentabler und dem Entstehen neuer, wett- bewerbsfähiger Arbeitsplätze ohne allzu große soziale Härten überbrückt und verkürzt werden. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Ich weiß, das Gleichzeitig wird erreicht, daß die vorhandenen hängt damit zusammen, daß ich zu lange geredet qualifizierten Arbeitskräfte nicht auswandern, habe. Aber in der Zwischenzeit haben Sie die Zeit, die ihre Qualifikation verbessert wird und sie in ihrer ich zu lange geredet habe, wieder eingeholt. Heimat eine tragfähige Beschäftigungsperspek- tive erhalten. Ottmar Schreiner (SPD): Zwei kurze Anmerkungen, weil gefragt worden ist. Dieses Zitat ist die Kurzfassung des Antrags der SPD-Fraktion zu einem Arbeits- und Strukturförder- Die SPD hat der Koalition seit zwei Jahren Gesprä- gesetz, das in diesem Parlament vorliegt. Die Redner che zur Gestaltung der Pflegeversicherung vorge- der Koalition haben diesen Antrag als sozialistischen schlagen. Von diesem Angebot ist kein Gebrauch Wildwuchs, als töricht usw. gekennzeichnet. gemacht worden. Die SPD — es wird dabei bleiben — hat unmißverständlich klargemacht, daß substantielle Ich sage Ihnen: Das Zitat, das ich eben vorgetragen Gespräche über die inhaltliche Ausgestaltung der habe, entstammt den Thesen zur Sicherung des Wirt Pflegeversicherung so lange nicht stattfinden können, 14918 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Ottmar Schreiner solange sich die Koalition nicht von den schwachsin- Sie wissen um die sozialen Probleme der Menschen, nigen Karenztagen verabschiedet. wenn sie vor dem Nichts stehen oder in eine schlech- Letzte Bemerkung. Sie haben nach Alternativen tere Situation kommen. Trotzdem oder gerade deswe- gefragt. Wir haben im Ausschuß für Arbeit und gen lassen wir uns hier überhaupt nicht sagen, daß wir Soziales mehrfach gehört, daß für die Unternehmun- eine Politik gegen den sozial Schwachen oder eine gen, wenn es gelänge, durch verstärkte Anstrengun- Politik der Entsolidarisierung machen. Das Gegenteil gen den teilweise desolaten Arbeitsschutz in Deutsch- ist richtig. land zu verbessern, ein Mehrfaches von dem an (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Kosteneinsparungen herauskäme, was der Arbeitge- Meine Damen und Herren, unsere Politik hat in über berbeitrag zur Pflege überhaupt ausmachen würde. einem Jahrzehnt der großen Mehrheit der Menschen Wir haben gehört, daß über ganz normale Vertei- zu mehr Wohlstand und mehr sozialem Besitzstand lungsspielräume und etwas geringere Reallohnerhö- verholfen. Dieser Sozialminister Blüm ist erfolgreicher hungen die Pflegeversicherung arbeitgeberseitig gewesen als alle Ihre Sozialminister, die Sie in diesem ebenfalls finanzierbar wäre. Land je gestellt haben. Erlauben Sie mir einen letzten Satz, da- ich Ihnen (Beifall bei der CDU/CSU — Widerspruch bei sechs Seiten meines Redemanuskriptes ersparen der SPD — Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: So muß. ein Unsinn!) (Zuruf von der CDU/CSU: Nein, nein!) Wir haben 1982 den Mut gehabt, den Sie damals Wenn Sie wenigstens 20 % unserer Vorschläge auf- nicht gehabt haben, und es war erfolgreich für unser greifen würden, dann könnte man von einer wirkli- Land. Wir haben auch jetzt wieder den Mut, diese chen Lernfähigkeit reden. Unserem Land ging es Probleme und Herausforderungen anzugehen. Ich bin dann wirklich ein bißchen besser. sicher: Dies wird wieder für eine gute Zukunft unserer Schönen Dank. Bevölkerung sorgen. (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke (Beifall bei der CDU/CSU) Liste) In der Sozialen Marktwirtschaft gibt es keinen Platz für Einbahnstraßen. Es kann nicht sein, daß soziale Besitzstände einmal geschaffen werden und sich nie Vizepräsidentin Renate Schmidt: Auch der Kollege mehr verändern lassen. Wenn wir es so halten wür- Fuchtel hat jetzt die Gelegenheit, seine Redezeit den, wäre dies das Aus der Sozialen Marktwirtschaft etwas zu überziehen. Er hat das Wort. binnen kurzer Zeit. Deswegen muß Soziale Marktwirtschaft auch hei- ßen, daß Besitzstände überprüfbar sind, und dazu Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU): Frau Präsiden- müssen wir den Mut haben. tin! Meine Damen und Herren! Ich verspreche Ihnen: Es geht jetzt wieder etwas gepflegter zu. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der F.D.P.) (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Daß Sie sich so schwertun, das verwundert mich nicht. Sie waren stark zu Zeiten des Klassenkampfes. Auch wenn der Kollege Schreiner hier wie ein Adre- Aber der Sozialismus ist out, und damit sind Sie nalin-Django aufgetreten ist, schwach. (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU F.D.P.) sowie bei Abgeordneten der F.D.P.) so ist es für die deutsche Volkswirtschaft schädlich, Ihnen fehlt nämlich nun ein ideologisches Funda- wenn wir Arbeitsplätze statt Produkte exportieren. ment, auf dem Sie weiterbauen könnten. Ich kann Aus diesem Grunde müssen wir die Rahmenbedin- wenigstens für mich in Anspruch nehmen, die gungen auf die veränderte Situation einstellen, und Jugendjahre überstanden zu haben, ohne Sozialist dazu gehört auch das Sparen. gewesen zu sein. Darauf bin ich stolz. Ich möchte hier nochmals, weil ich ja in dieser (Beifall bei der CDU/CSU) Runde der letzte Redner der Koalitionsfraktionen bin, deutlich machen, daß Sparen für uns überhaupt kein Selbstzweck ist. Dies gilt vor allem für den sozialen Vizepräsidentin Renate Schmidt: Kollege Fuchtel, Bereich. erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Ingrid Matthäus-Maier? (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der F.D.P.) (Zuruf von der CDU/CSU: Die Dame ist erst später Sozialistin geworden!) Die Mitglieder dieser Koalition wissen, was es heißt, wenn jemand arbeitslos ist. (CDU/CSU): Gerne. (Lachen bei der SPD) Hans-Joachim Fuchtel Sie werden in starkem Maße von der Bevölkerung gewählt — viel stärker als Sie, sonst wären mehr von Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Herr Kollege, können Ihnen hier im Parlament. Sie mir einmal erklären, was daran Klassenkampf oder Polemik ist, wenn wir darauf hinweisen, daß nach (Beifall bei der CDU/CSU) Ihrem Kürzungspaket der Herr Bundeskanzler, der Das kann man nach Adam Riese hier erklären. Herr Finanzminister oder auch Leute wie ich nicht Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14919

Ingrid Matthäus-Maier eine Mark zur Kürzung beitragen müssen, daß Sie kein Geld mehr zum Ausgeben. Deswegen sind Sie aber auf der anderen Seite an Sozialhilfeempfänger, jetzt noch schwächer. herangehen? Arbeitslose und Familien mit Kindern Das zeigt sich an Ihrer ganzen Argumentation. Ist das Polemik? Thesen wie „lieber in Arbeitsbeschaffungsmaßnah- men als arbeitslos " hören sich zwar zunächst einmal Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU): Frau Kollegin ganz hervorragend an, aber damit kann man die Matthäus-Maier, die Frau Kollegin Präsidentin hat in Probleme in der ganzen Breite nicht lösen. Das kann ihrer Rede vorher schon gesagt, daß sie rechnen allenfalls eine Entscheidung für einen bestimmten könnte. Mir ist aufgefallen, daß Sie nicht rechnen Bereich sein. können und daß Sie deswegen solche Fragen hier Die Hauptentscheidung muß in der Wirtschaftspoli- stellen müssen. tik fallen. Sie muß dort fallen, wo entschieden wird, ob Deswegen schlage ich der SPD vor, daß sie die Frau etwas produziert werden kann oder nicht. Sie kann Kollegin Präsidentin und Sie in der Funktion einmal aber nicht durch Einrichtung von solchen Betrieben auswechselt. auf der Basis von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (Ottmar Schreiner [SPD]: Ein schwarzer- Fle fallen, wo beispielsweise kein Gewinn erzielt werden gel ist das! — Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: kann. Ohne Gewinn kann eine Wirtschaft nicht exi- Aber das ist doch die glatte Unwahrheit, was stieren. Deswegen können Sie nicht die gesamte Sie sagen! — Lachen bei der CDU/CSU und Marktwirtschaft auf AB-Maßnahmen umbauen und der F.D.P. — Ottmar Schreiner [SPD]: Nein, diese als Lösungskonzept anbieten, Sonst werden Sie er ist ein Flegel!) Schiffbruch erleiden. Es kann doch nicht sein, daß wir — Das ist keine Unwahrheit, sondern das stimmt zunächst einmal alle in Nürnberg beschäftigen, bis wir hundertprozentig. erkennen, daß da niemand ist, der das noch bezahlen kann. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Trägt der Bundeskanzler, trage ich eine Mark bei?) Vor diesem Hintergrund warne ich davor, daß man dieses Konzept zum alleinseligmachenden erklärt. Ich — Wir tragen z. B. durch den Solidarbeitrag bei warne vor allem Leute wie Frau Hildebrandt. Sie ist (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Aber der ist ohnehin der größte Investitionsschreck, den wir in den doch abgeschafft! — Ottmar Schreiner [SPD]: neuen Bundesländern kennen. Das möchte ich Ihnen Der ist doch längst abgeschafft!) bei dieser Gelegenheit sagen. gegenüber denjenigen, die zu dieser Steuer nicht (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) herangezogen werden. Wenn dies die finanzpoliti- sche Sprecherin der SPD nicht mehr weiß, dann Für diese Dame kommt das Geld schlichtweg von der brauchen wir dazu eigentlich nichts mehr zu sagen. Bank. Das spricht für sich. Nur ein Beispiel aus dem mittelständischen Bereich, damit man sieht, welches Unheil hier ange richtet Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege wird: Sie eröffnet beispielsweise im Landkreis Seelow Fuchtel, noch eine Zwischenfrage der Kollegin eine große Baumschule mit Leuten, die aus der Kolbe. Arbeitslosenversicherung bezahlt werden. Aber es gibt genügend Baumschulen in diesem Land Bran- denburg. Was geschieht also? Die Firma geht mit Regina Kolbe (SPD): Kollege Fuchtel, ich gehe Dumpingpreisen an den Markt, die privatwirtschaftli- davon aus, daß Sie das durchschnittliche Arbeits- chen Firmen werden kaputtgemacht, und die Arbeit- kennen. Ist Ihnen eigentlich losenentgelt im Osten nehmer verlieren Arbeitsplätze. bewußt, daß wir mit der letzten Diätenerhöhung wesentlich darüber gelegen haben? (Dr. Klaus-Dieter Feige [BÜNDNIS 90/DIE Dann komme ich wieder auf die Frage meiner GRÜNEN]: So etwas gibt es auch in den alten Kollegin zurück: Ist Ihnen bewußt, daß wir zur Zeit Bundesländern!) keinen Pfennig für die Probleme der deutschen Ein- Und dies geschieht mit Hilfe der von den Arbeitneh- heit bezahlen? mern bezahlten Beiträge und der von den Steuerzah- lern bezahlten Steuern! Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU): Ich möchte Wenn wir solche Dinge zulassen, führen wir mit Ihnen einmal sagen: Wenn Sie hier so moralisieren, einem staatlich finanzierten Instrument die gesamte dann geben Sie doch nächstes Mal jede Diätenerhö- wirtschaftliche Situation in eine noch schwierigere hung weiter und spenden Sie das Geld für einen Sackgasse. Das darf nicht sein. entsprechenden sozialen Zweck. (Beifall bei der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, ich möchte fortfahren. Jeder weiß bereits aus der Landwirtschaft: Man (Zuruf von der SPD) kann aus einem Ei Rührei machen; aber man kann aus — Das macht Sie etwas unruhig, ich weiß das; aber es Rührei nicht mehr Ei machen. muß hier gesagt werden. (Heiterkeit bei der CDU/CSU) In den 70er Jahren hatten Sie dann noch einmal eine Chance, sich als kompetente Sozialpolitiker zu zeigen. Wenn man dies weiß, dann ist auch klar, daß ABM- Damals konnten Sie noch das Geld ausgeben. Da Firmen nicht zum bestimmenden Faktor einer Volks waren Sie vorübergehend stark. Aber jetzt haben wir wirtschaft werden dürfen. Wir müssen dagegen ange- 14920 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Hans-Joachim Fuchtel hen, daß sich ein solcher Trend ernsthaft durchsetzt. ken, ob nicht auch hier Mißbrauchsbekämpfung Deswegen machen wir eine Politik, wie wir sie jetzt in angebracht ist. Auch dazu benötigen wir Ihre H ilfe, unserem Gesetzgebungsvorhaben angelegt haben und ich bin gespannt, ob wir sie bekommen wer- und wie wir sie in der Haushaltsberatung anlegen. den. Als nächstes muß ich noch etwas zum Thema (Beifall bei der CDU/CSU) sagen. Auch Mißbrauch und Mißbrauchsbekämpfung Ich sage dies vor dem Hintergrund, daß wir auch bei der Mißbrauchsbekämpfung tun Sie sich so unge- und vor allem für diejenigen da sind, die treu und brav heuer schwer. Wir können doch nicht sagen: Wenn du ihre Beiträge zahlen. Für diese Leute müssen wir eine etwas an deinem Mißbrauch im steuerlichen Bereich Politik machen, die verständlich ist und bei der auch machen läßt, lasse ich etwas an meinem Mißbrauch im sichtbar wird, daß es einen Abstand zwischen den sozialen Bereich machen. So können wir doch nicht sozialen Leistungen und dem Lohn gibt. Das muß miteinander verkehren. Wir müssen sagen: Miß- unbedingt durchgesetzt werden. brauch muß generell bekämpft werden. Nehmen Sie zur Kenntnis: Wir sind auf keinem Auge blind; Es muß auch durchgesetzt werden, daß künftig derjenige, der bezieht und gesund, - Sozialhilfe (Zuruf von der SPD: Auf beiden!) arbeitsfähig und noch nicht zu alt ist, zur Arbeit wir werden sämtlichen Mißbrauch bekämpfen. herangezogen wird. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Es ist traurig genug, daß die Gewerkschaftsseite bei Ich kündige hier für meine Fraktion nochmals an, daß der Einführung der Meldekontrolle der Arbeitslosen wir uns darum bemühen werden, aus der Kann in den Gremien der Bundesanstalt gegen-V diese Maß- orschrift im Bundessozialhilfegesetz nicht nur eine nahme gestimmt hat. Die Praxis zeigt, wie notwendig Sollvorschrift zu machen, sondern eine Mußvorschrift, diese Maßnahme war. Ganz schnell konnte geklärt damit künftig jeder Arbeitslose, der dazu in der Lage werden, wer wirklich betroffen ist und wer nur mit ist, zur Arbeit herangezogen wird, wenn er öffentliche kassiert hat. Mittel beziehen möchte. In meinem Arbeitsamtsbezirk Nagold beispiels- (Beifall bei der CDU/CSU) weise blieben 15 % der Anspruchsteller auf einmal Das sind wir den vielen Leuten schuldig, die Tag für weg. Wenn das kein Erfolg der Maßnahmen dieses Tag ihre Arbeit tun und die wir nicht enttäuschen Ministers ist, weiß ich nicht, was noch Erfolg sein dürfen. kann. Ich sage ein letztes Wo rt zum Thema Sparen vor (Beifall bei der CDU/CSU) dem Hintergrund der Notwendigkeiten: Vor einem Das Schlimme ist, daß die Gewerkschaft nicht einmal Vierteljahr habe ich von hier aus begründet, daß bereit war, für eine solche Maßnahme die Hand zu 18 Milliarden DM mehr Schulden für die Bundesan- reichen. stalt für Arbeit aufgenommen werden müssen. Dies Wenn Sie schon die Anhörung erwähnen, die wir sind so viele Schulden, wie wir in den Jahren 1988 und am Montag miteinander gehabt haben, lassen Sie 1989 als Ist-Ergebnis der Gesamtverschuldung des mich sagen: Um 16 Uhr waren wir auf einmal unter Bundeshaushalts gehabt haben. Allein diese Zahl uns; da ließen alle, die vorher demonst riert hatten, zeigt, daß wir aus den genannten Gründen nicht daran offensichtlich am Ende ihrer Arbeitszeit das Demon- vorbeikommen, auch im sozialen Bereich zu sparen. strationsfähnchen fa llen und waren auf einmal ver- (Ottmar Schreiner [SPD]: Machen wir lieber schwunden. etwas gegen die Arbeitslosigkeit!) (Zuruf von der SPD: Unverschämt! — Karl Wer jetzt spart, der schafft eine gute Zukunftsgrund- Josef Laumann [CDU/CSU]: Bezahlte De lage für die nächste Generation, und dies ist unsere monstranten, hauptamtliche DGB-Leute!) Verpflichtung. Ganz abgesehen davon möchte ich Ihnen sagen, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) daß dort der Vorsitzende des medizinischen Dien- stes — —

(Abg. Ottmar Schreiner [SPD] meldet sich zu Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort zu einer einer Zwischenfrage) Kurzintervention hat die Kollegin Ing rid Matthäus- — Ich habe schon ein paar Zwischenfragen beantwor- Maier. tet. Den Rest ein anderes Mal! Er beißt sonst noch das Mikrophon vom Platz aus ab; das will ich vermei- den. Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Herr Fuchtel, zwei (Ottmar Schreiner [SPD]: Eine ganz kleine Dinge zu Ihrer Rede: ohne Mikrophon!) Erstens. Sie mokieren sich darüber, daß Tausende Der Vorsitzende des medizinischen Dienstes hat von Arbeitnehmern, die während der Anhörung zu dort gesagt: 30 % der zu einer Überprüfung eingela- den Karenztagen in Bonn waren, um 16 Uhr nach denen Personen erscheinen nicht zum Termin. — Das Hause gefahren sind. Ich kann Ihnen sagen: Diese sind natürlich sicher nicht alles Mißbrauchsfälle. Daß Tausende kamen aus dem ganzen Bundesgebiet. Sie aber ein so hoher Prozentsatz nicht erscheint, muß uns waren von morgens um acht bis nachmittags um vier doch auch Anlaß geben, weiter darüber nachzuden- da. Und wenn sie um vier wieder aufbrechen, um nach Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14921

Ingrid Matthäus-Maier Hause zu kommen, dann finde ich das, was Sie hier Unglaubwürdigkeit in einer Person habe ich in der sagen, schäbig. Politik eigentlich selten erlebt! (Julius Louven [CDU/CSU]: Hören Sie doch (Beifall bei der CDU/CSU — Ingrid Mat auf! Das waren hauptamtliche Gewerk thäus-Maier [SPD]: Absolut unwahr!) schaftsfunktionäre!) Zweitens. Ich habe Ihnen die Zwischenfrage Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster hat gestellt, ob Sie mir erklären können, warum der Herr Herr Krause (Bonese) das Wo rt . Bundeskanzler, der Herr Finanzminister oder auch ich als Person nicht eine müde Mark zu diesem Kürzungs- paket beitragen müssen, wohl aber Arbeitslose, So- Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) (fraktionslos): Frau zialhilfeempfänger und Familien mit Kindern. Sie Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Renten haben darauf geantwortet, ich könne nicht rechnen, sind so sicher, wie die Rentenfinanzierung sicher ist. und es gebe ja den Solidaritätszuschlag. Herr Fuchtel, Die Rentenfinanzierung 1994 ist sicher. Aber meine das ist die Unwahrheit! Den Solidaritätszuschlag gibt Generation will auch wissen: Wer finanziert einmal es eben gerade nicht. Sie haben ihn auslaufen lassen unsere Renten, und was wird jetzt getan, daß der und wollen ihn erst 1995 wieder einführen.- Also im Wirtschaftsstandort Deutschland in 30 Jahren dazu in Gegenteil, zum jetzigen Zeitpunkt ist es genau so, wie der Lage ist? ich es gesagt habe. Und wenn Sie schon die Tatsachen Gegenwärtig gibt es drei verschiedene Finanzie- nicht kennen, dann sollten Sie sich wenigstens jetzt rungsquellen für Altersbezüge. Diese drei verschiede- dafür schämen, daß Sie so unch ristlich an den Leuten nen Finanzierungsquellen haben eine unterschiedli- handeln. che handelspolitische Auswirkung: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Erstens. Die gesetzliche Rentenversicherung ist der PDS/Linke Liste und des BÜNDNISSES sozial für den, der sie bezahlt, aber sie ist sozial in einer 90/DIE GRÜNEN) Schieflage für den, der sich daraus ausklinkt. Wenn also der Arzt in Mitteldeutschland heute in eine private Rentenversicherung bezahlt, sein eigener Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zu einer Entgeg- Vater als Arzt aber von den Beitragszahlern der nung auf diese Kurzintervention erhält der Kollege gesetzlichen Rentenversicherung seine Rente be- Fuchtel noch einmal das Wort . kommt, dann ist das eine soziale Schieflage. Außer- dem werden hier die Beiträge ausschließlich auf die (Ottmar Schreiner [SPD]: Wenn Sie schon Arbeitslöhne in Deutschland umgelegt. Jeder, der nichts wissen, sollten Sie es wenigstens ausländische Waren kauft, trägt nicht dazu bei, daß anständig ausdrücken!) Beiträge für die gesetzliche Rentenversicherung, für die gesetzliche Krankenversicherung bezahlt werden können. Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU): Also, wenn die Gewerkschaften nicht mehr in der Lage sind, bei einer Die zweite Säule ist die private Vorsorge, entweder solchen wichtigen Frage noch hundert Leute im Saal durch eine Ersatzkasse, durch Kapitalansammlung zu halten, dann kann ich mir nur vorstellen, daß das oder durch Familienangehörige. Diese ist insofern Heimgehen wichtiger war, als den wichtigen Ausfüh- unsozial, als keine Pflichtbeiträge anteilig für die rungen zuzuhören, die da gemacht wurden. gesamte Leistungsbezieherschaft gezahlt werden, zumal dann, wenn es sich um die eigenen Eltern (Ottmar Schreiner [SPD]: Ihr habt ja nicht handelt, die dann von den Kindern anderer Leute und einmal eure Abgeordneten herangebracht!) nicht von den eigenen bezahlt werden. Aber diese A rt Das ist die Wahrheit, und dieses Empfinden habe ich der Altersvorsorge ist handelspolitisch neutral. Wer gehabt. etwas zurücklegt, beeinträchtigt weder den Wirt- (Ottmar Schreiner [SPD]: Wo sind Ihre Abge schaftsstandort Deutschland, noch bevo rteilt er den ordneten am Morgen gewesen? Die haben Wirtschaftsstandort in Billiglohnländern. blaugemacht! Die waren gar nicht da!) Drittens. Drei Millionen Sozialhilfeempfänger und auch die Beamten bekommen ihre Altersbezüge vom — Schreien Sie doch nicht so laut; dadurch werden Ihre Beiträge nicht besser! Steuerzahler, und dabei ist allein die Mehrwertsteuer handelspolitisch neutral. Sie ist für ausländische Und das zweite. Jeder, der die Beschlußlage kennt, Waren und Dienstleistungen, die in Deutschland weiß: Ab 1. Januar 1995 wird der Solidaritätszuschlag angeboten werden, genauso hoch wie für deutsche. wieder eingeführt, und damit ist doch ganz klar, daß Wenn wir einseitig den Wi rtschaftsstandort die höheren Einkommen entsprechend beteiligt Deutschland mit sozialen Leistungen belasten, dann sind. führt das auch bei einer ausgeglichenen Handelsbi- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Im Moment lanz dazu, daß immer mehr kapitalintensiv exportiert sind sie nicht dabei!) wird und immer mehr arbeitsintensiv importiert Und das sollten Sie doch den Leuten auch sagen, wird. gerade Sie! Von Ihnen habe ich noch im Ohr, wie Sie Für die Finanzierung der Renten- und Krankenver- dauernd geschrien haben: Wir sparen diesen Staat sicherung auf längere Sicht wäre deshalb, wenn das noch kaputt! Das war doch über Jahre Ihre Rede. Finanzierungssystem so bleibt, ein Protektionismus Wenn ich mir das angehört habe und heute höre, wie besser als ein Freihandel. Denn Freihandel wird Sie jetzt sprechen, dann muß ich sagen: So viel immer dazu führen, daß immer weniger Arbeit in 14922 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) Deutschland durchgeführt wird, die auch in Nachbar- Ich habe deswegen die Entscheidung getroffen, mit ländern billiger gemacht werden kann. allen problematischen Folgen im Westen, daß wir die Ich würde fünf rentenpolitische Visionen für die Verkehrsprojekte zur deutschen Einheit, also die Zukunft sehen: entscheidenden Ost-West-Achsen zum Zusammen- wachsen Deutschlands, im vollen geplanten Umfang Erstens. Pflichtbeitrag für alle bis zu einer gewissen weiterfinanzieren und um keine Mark kürzen. Dies ist Höhe als Grundrente. ein wirtschaftspolitisches, wie auch ein Struktur- und Zweitens. Wer mehr zahlen will, der soll sich alter- verkehrspolitisches Signal des Willens zum Aufbau, nativ versichern können; aber das soll ihn nicht vom aber auch für den Wiedervereinigungsprozeß in ganz Solidarbeitrag für alle entpflichten. Deutschland in verkehrspolitischer Hinsicht. Drittens. Auf Dauer darf nicht die Arbeit in Deutsch- (Beifall bei der CDU/CSU) land allein belastet werden, sondern wir müssen — wie bei der Mehrwertsteuer — zu einer Art Renten- Wir haben die klare Entscheidung getroffen, mit und Sozialsteuer anstelle der Sozialabgaben gelan- über 32 Milliarden DM den Löwenanteil des Ver- gen, die einseitig den Wirtschaftsstando rt Deutsch- kehrshaushalts den Eisenbahnen des Bundes zuzu- land belasten. wenden und diesen Teil des Haushalts von Kürzungen weitgehend unberührt zu lassen. Viertens. Wir müssen durch unsere Finanzpolitik auch für die Sozialleistungen den Wirtschaftsstandort Wir setzen damit zugleich ein klares Zeichen für Deutschland schützen und deshalb alle Waren, die aus eine ökologisch bewußte Gestaltung des Verkehrs in dem Ausland bei uns verkauft werden, genauso in die Deutschland; denn — das wissen wir alle, an Erfah- Sozialzahlungspflicht nehmen wie Produkte, die in rungen reicher geworden — in den letzten 40 Jahren Deutschland selber hergestellt werden. ist in Deutschland die Schiene vernachlässigt worden. Fünftens. Es ist ein Trugschluß, zu glauben, wir Im Bundesverkehrswegeplan wird mit Investitionen bräuchten den Freihandel, damit wir unsere Produkte für 6 000 km Schienenwege endlich ein klares Zei- loswerden. Aus Dankbarkeit kauft niemand deutsche chen zur Umorientierung in der Verkehrspolitik Waren. Dazu tragen die abendlichen Sendungen in gesetzt, nicht gegen die Straßen, aber für die Schiene den amerikanischen Fernsehanstalten bestimmt nicht — ein längst überfälliges Zeichen, meine ich, der bei. Wir importieren aus Billiglohnländern; aber die Verkehrspolitik in unserem Land. Schneiderin in Hongkong kauft sich keinen Merce- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) des. Wir exportieren in reiche Länder. Der Bahnstrukturreform gilt unser aller besondere Für die Rentensicherung wäre es also besser, wir Aufmerksamkeit. Sie wissen, daß die Privatisierung würden nicht die Arbeit in Deutschland belasten, der Bahn ab dem 1. Januar 1994, die Entschuldung damit nicht den Wirtschaftsstandort Deutschland ein- von Bundesbahn und Reichsbahn und die Regionali- seitig belasten, sondern wir müssen alles auf den sierung — alles unter der Überschrift „Bahnreform" Verbrauch in Deutschland umlegen. Sonst wären auf zusammengefaßt — die entscheidende verkehrspoliti- lange Sicht unsere Renten nicht mehr bezahlbar. sche Weichenstellung dieses Jahrzehnts ist. 130 Ge- Danke für die Aufmerksamkeit. setzesänderungen und mehrere Grundgesetzände- rungen sind notwendig.

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zu diesem The- Es kommt aber neben diesen gesetzlichen und menbereich liegen keine weiteren Wortmeldungen technischen Details vor allem darauf an, daß die vor. Bahnreform als ein Signal der Zukunftsperspektive für Hunderttausende von Eisenbahnern und Eisenbahne- Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesmi- rinnen und als eine Kehrtwende nach 30 Jahren nisteriums für Verkehr. ständig rückläufiger Verkehrsmarktanteile der Bahn Als erster hat der Herr Bundesminister für Verkehr, im Personen- und Güterverkehr verstanden wird. Matthias Wissmann, das Wort. Deswegen bin ich froh, daß bei den Verhandlungen mit den Ländern Bewegung in die erstarrten Fronten Matthias Wissmann, Bundesminister für Verkehr: gekommen ist. Wir haben noch nicht alle Fragen Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dem gelöst. Wir müssen uns noch über einige Fragen, etwa Einzelplan 12 des Bundeshaushalts, dem Haushalt des Transfers der Mittel für den Schienenpersonen- des Bundesministeriums für Verkehr, kommt 1994 im verkehr, verständigen; aber der Kerngedanke — Pri- Gesamtetat der Bundesrepublik Deutschland als vatisierung und Regionalisierung — ist mehr und zweitgrößtem Haushalt eine große, auch gesamtwirt- mehr unbestritten. Wir sollten ihn in den nächsten schaftliche, Bedeutung zu. Es ist der größte Investi- Wochen schließlich auch politisch durchsetzen, tionshaushalt des Bundes. Mit über 26 Milliarden DM gemeinsam, über Parteigrenzen hinweg. trägt er zur Gesundung unserer Volkswirtschaft und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nicht zuletzt zum Aufschwung in den neuen Ländern in großem Umfang bei. Ich glaube, daß der Bundeshaushalt im Einzel- plan 12, dem Verkehrshaushalt, zeigt, daß wir auch Der Haushalt ist zugleich ein Signal antizyklischen wirtschaftspolitisch richtige Zeichen setzen. Jede Denkens. Gerade in schwierigen Zeiten braucht die zweite Mark kommt der gesamtwirtschaftlichen Pro- Volkswirtschaft weniger konsumtive Ausgaben und duktivität, der Baunachfrage und der Sicherung von mehr Investitionen. Arbeitsplätzen zugute. Ich bin der festen Überzeu- (Beifall bei der CDU/CSU) gung, daß in Deutschland 1994 die wirtschaftlichen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14923

Bundesminister Matthias Wissmann Auftriebskräfte deutlich die Oberhand gewinnen wer- Klar ist natürlich auch, daß wir diese riesigen den, wie in anderen Teilen der Weltwirtschaft. Anstrengungen nur leisten können, wenn wir in einem vertretbaren Maß — wir dürfen die Schraube Unser Investitionshaushalt trägt dazu wesentlich nie überdrehen; wir müssen berechenbar und stetig bei. Er setzt auch ein klares Zeichen für die Zehntau- bleiben — eine Verteuerung auch des Straßenver- sende von kleinen und mittleren Betrieben, insbeson- kehrs herbeiführen. Deswegen kommt es am 1. Januar dere in Ostdeutschland, die in der Bauwirtschaft 1994 zu einer Anhebung der Mineralölsteuer um engagiert sind. Ich werde strikt darauf achten, daß bei 16 Pfennig für Benzin und 7 Pfennig für Diesel, der Auftragsvergabe nicht einige wenige große Ele- ausschließlich für verkehrspolitische Zwecke und vor fanten allein profitieren, sondern Zehntausende von allem zur Entschuldung von Bundesbahn und Reichs- kleinen und mittleren Betrieben mit Hunderttausen- bahn. Das dient auch dazu, daß wir die eben beschrie- den von Arbeitsplätzen ebenfalls eine echte Chance bene Bahnreform finanzieren können. haben. Damit setzen wir ein Signal für das verbrauchsarme (Beifall bei der CDU/CSU) Auto. Ich war gestern auf der Internationalen Auto- Wir alle wissen, wie schwierig dieses Thema im mobilausstellung in Frankfurt. Ich hoffe, daß die Zeichen von Generalunternehmen ist — -auch des- ganze Automobilausstellung ein Zeichen nicht nur für halb, weil wir im Grunde natürlich um eine Beschleu- die wirtschaftliche Wiederbelebung in der Automobil- nigung bemüht sind. Wir dürfen aber nie den mittel- industrie wird, die dringend geboten ist, sondern vor standspolitischen Teil dieser Aufgabe übersehen. Ich allem für das ökologisch verantwortliche verbrauchs- habe als Bundesverkehrsminister die wirtschaftspoli- arme Auto. Denn wir brauchen in der Gesellschaft der tische und strukturpolitische Aufgabe, auf die Einhal- Zukunft um der Mobilität willen auch das Auto. In tung der soeben genannten Kriterien zu achten. seiner verbrauchsarmen und umweltfreundlichen Version hat das Auto Zukunft. Ich habe seit dem ersten Tag als Bundesverkehrs- minister nicht nur die angenehmen Dinge ausgespro- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) chen, sondern auch die unangenehmen. Ich glaube, Ich finde, wir sollten das immer wieder deutlich daß das Aussprechen unangenehmer Wahrheiten sagen. hilft, daß wir verlorengegangene Glaubwürdigkeit in Zum Schluß. Dieser Verkehrshaushalt, der dank der der Politik zurückgewinnen. Zu den unangenehmen tüchtigen Mitarbeit von Kolleginnen und Kollegen Wahrheiten gehört, daß der Bundesverkehrswege- aus allen Fraktionen und nicht zuletzt aus den Mini- plan mit 450 Milliarden DM Verkehrsinvestitionen bis sterien zustande gekommen ist — ich möchte mich für zum Jahr 2012 unterfinanziert ist und daß wir drin- diese Mitarbeit sehr bedanken —, ist ein Zeichen für gend darum bemüht sein müssen, private Investoren eine ökologische Neuorientierung der Verkehrspoli- zu gewinnen, die einen Teil der hohen Bundesfern- tik. Er ist aber auch ein Zeichen dafür, daß wir die straßeninvestitionen übernehmen sollen. Es ist zum wirtschaftspolitische Perspektive, die in der Verkehrs- ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik politik liegt, wahrnehmen und daraus in Zahlen Deutschland gelungen, sechs sogenannte Konzes- gewonnene Konsequenzen ziehen. sionsvertragsmodelle, Modelle der Privatfinanzie- Ich bin froh, daß ich die Unterstützung der Koali- rung, durch Bundesfinanz- und Bundesverkehrsmini- tionsfraktionen bei der Verwirklichung dieses Haus- sterium jetzt für die Vorbereitung und Planung freizu- halts habe. Ich freue mich, daß es auch gelingt, die geben, vom Elbtunnel in Hamburg bis zum Engel eine oder andere Brücke zu den Sozialdemokraten zu bergtunnel bei Stuttgart. schlagen. Ich sehe in echten Betreibermodellen, also einem (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Mehr gegenüber diesen Konzessionsverträgen, eine entscheidende verkehrspolitische Perspektive für die Zukunft. Mit öffentlichem Geld allein werden wir die Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Kol- großen Investitionen der Zukunft nicht leisten kön- lege Klaus Daubertshäuser das Wo rt. nen. Ich glaube, diese Einsicht muß in alle Lager sickern, wenn wir die riesigen Verkehrsinvestitionen umsetzen wollen. Klaus Daubertshäuser (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit der Vorlage des Allein 4 500 km Ortsumgehungen sind geplant. Wir Haushalts schlägt für die Bundesregierung die Stunde alle wissen als betroffene Abgeordnete, wie oft wir der Wahrheit, was immer vorher oder auch in dieser von Bürgerinitiativen aufgesucht werden, die uns Debatte an Beschwichtigungen, Vernebelungen, klarmachen, wie sehr Millionen von Menschen unter Schönrednerei aufgeboten wurde. Jetzt helfen eigent- Lärm und Umweltverschmutzung in ihren Dörfern lich keine Ausreden mehr. Denn Zahlen lügen nicht. und Städten leiden. Wenn man deswegen von 11 000 Der Einzelplan 12 des Bundesverkehrsministers oder 12 000 km Straßeninvestitionen bis zum Jahre macht da keine Ausnahme. 2012 redet und so tut, als wollten wir die Landschaft zubetonieren, dann sage ich: Vergeßt bitte nicht (Dr. Klaus-Dieter Feige [BÜNDNIS 90/DIE 4 500 km Ortsumgehungen, bei denen es um die GRÜNEN]: Es sei denn, man hat die Zahlen konkreten Lebensschicksale von Menschen geht. selber gefälscht!) — Ja, aber das bezog sich auf Statistiken, Herr (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Dr. Feige. Hier haben wir ja Haushaltspläne. Da Sie sind ein entscheidender Teil notwendiger Aufga- müssen wir davon ausgehen, daß diese wenigstens ben für die Zukunft. aussagefähig sind. 14924 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Klaus Daubertshäuser Der Einzelplan 12 spiegelt wie ein Vergrößerungs- den 6,4 Milliarden DM, die ich Ihnen eben nannte. Das glas die gescheiterte und widersprüchliche Verkehrs- heißt, für den Fernstraßenausbau gibt es wieder rund politik dieser Bundesregierung wider. Es beginnt 2,5 Milliarden DM, also ein gutes Drittel mehr Finanz- eigentlich schon mit dem Gesamtvolumen. Rein rech- masse als für die Schiene. Das ist eben, Herr Minister, nerisch wächst 1994 zwar die Ausgabenseite um nicht die Trendwende, die wir uns vorstellen. 10 Milliarden DM. Aber dieser sprunghafte Anstieg dient ausschließlich der Schuldenübernahme im (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Zusammenhang mit der Bahnreform; es wird also GRÜNEN und der PDS/Linke Liste) nicht zu konjunkturfördernden Investitionen ge- Da sage ich: Nein, es bleibt bei der schlechten alten nutzt. Tradition, von der ich sprach. Das heißt, die jahrzehn- (Zuruf von der CDU/CSU: Das müssen wir telange Benachteiligung der Bahn gegenüber dem auch noch bezahlen!) bevorzugten Verkehrssystem Straße hält in dem Haushalt 1994 an. Damit wird an den überholten — Herr Kollege, Herr Bundesverkehrsminister Wiss- Maximen festgehalten. Ich sage, da muß man aufpas- mann hat soeben zu Recht gesagt, wie wichtig die sen, Herr Verkehrsminister Wissmann, daß man Investitionen sind. Ich stelle fest: Dieser sprunghafte - dadurch — durch diese Subventionierung der Straße, Anstieg führt nicht zu den konjunkturfördernden die es letztlich ist — nicht den Erfolg der Bahnreform Investitionen. gefährdet. (Beifall bei der SPD) Nun ist dieser Finanzvorrang für die Straße erneut in Statt in behutsamen Schritten sukzessive das abzu- dem Haushalt 1994 festgeschrieben, und dennoch ist bauen, was in 40 Jahren an Bahnschulden aufgelau- der Bundesverkehrsminister ja beim Fernstraßenbau fen ist, will der Bundesfinanzminister zu Lasten des in die Zwickmühle geraten, denn er kann selbst mit investiven Verkehrshaushalts den finanzpolitischen diesen Mitteln die überzogenen Erwartungen nicht Urknall. Er will mit einem Mal alles beseitigen. Der einlösen, die die Koalition in ihrer Gesamtheit mit dem Investitionsanteil eines Haushalts ist nun einmal aufgeblähten Bundesverkehrswegeplan selbst ge- traditionell Gradmesser für die Handlungsspielräume schürt hat. Nachdem Sie dort nämlich den Bürgern der Politik. Dieser Investitionsanteil sinkt im Ver- wider besseres Wissen weisgemacht haben, die Auf- kehrshaushalt gegenüber 1993 um 9,3 %. Das heißt, nahme ihrer Straßenbauprojekte in den vordringli- eine zukunftsorientierte, konjunkturfördernde, ge- chen Bedarf sichere den schnellen Bau, muß nun der staltende Verkehrspolitik wird durch die katastro- Bundesverkehrsminister notgedrungen in das andere phale Finanz- und Haushaltspolitik dieser Bundesre- Extrem verfallen. Weil nämlich der Bundesfinanzmi- gierung zunehmend erschwert. Uni so wichtiger wer- nister die Seifenblase Bundesverkehrswegeplan end- den in Zeiten knapper Kassen die verkehrspolitischen gültig zum Platzen gebracht hat, weiß der Bundesver- Akzentsetzungen bei den Investitionen. Da, Herr kehrsminister sich nicht anders zu helfen: Er muß jetzt Kollege Wissmann, setzen Sie allerdings die ungute blaue Briefe an die Länderverkehrsminister schreiben Tradition Ihrer Vorgänger nahtlos fort. und muß den unbefristeten Neubaustopp in den Nach wie vor ist kein Verkehrsgesamtkonzept zu westlichen Bundesländern anordnen. erkennen. Selbst zwischen dem, was in vielen Reden hier, aber auch im Lande verkündet wird, und dem, Ich erinnere hier nur noch einmal daran — nicht, was über den Haushalt als Handeln angesagt ist, weil wir recht behalten wollen —, daß die Sozialde- klaffen doch große, große Unterschiede und Lücken. mokraten von Anfang an vergeblich darum gekämpft So ist z. B. die immer wieder auch von Ihnen und haben, den Bürgern die Wahrheit zu sagen und den Ihrem Vorgänger angesprochene Trendwende hin zur Bundesverkehrswegeplan in einer seriösen, tatsäch- Bahn in den Zahlen des Verkehrsetats eben nicht lich finanzierbaren Größenordnung zu halten. Das ist nachzuvollziehen. Von den rund 32,3 Milliarden DM nicht geschehen. für die Bahn sind allein für die Tilgung von Schulden Ich kann Sie nur bitten, Herr Bundesverkehrsmini- und Personalaltlasten durch das Bundeseisenbahn- ster Wissmann, ersetzen Sie nun nicht den einen vermögen rund 11,8 Milliarden DM vorgesehen. Von Fehler durch den nächsten. Sie müssen jetzt in den verbleibenden 20,5 Milliarden DM für die neu zu Abstimmung mit allen Bundesländern unverzüglich gründende Bahn AG bleiben — nach Abzug der der ein gemeinsames Konzept für einen vernünftigen Bahn rechtlich zustehenden Ausgleichsmittel für den Fünfjahresplan erarbeiten, der es den alten Bundes- Schienenpersonennahverkehr — für Investitionen nur ländern erlaubt, zumindest die wichtigsten Entla- rund 10,1 Milliarden DM übrig. Auf reine Fahrwegin- stungsmaßnahmen auch anzugehen. vestitionen entfallen davon lediglich 6,4 Milliarden DM. (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste (Wilfried Bohlsen [CDU/CSU]: Das ist viel — Zuruf von der CDU/CSU: Straßenbaufeti Geld!) schismus!) — Das ist viel Geld. Aber, Herr Bohlsen, wir müssen ja — Das hat mit Straßenbaufetischismus nun wirklich das Miteinander oder Gegeneinander der Verkehrs- nichts zu tun. Es ist richtig — das sage ich auch —, daß systeme sehen. Wenn Sie dann — Sie als Berichter- der Schwerpunkt der Investitionen im Osten, bei statter kennen den Haushalt — bei den Bundesfern- Sanierung und Lückenschlüssen liegen muß. Da kann straßen die Ausgabenmittel ansehen, stellen Sie fest: ich nur die Argumente wiederholen, mit denen das Die liegen bei 10,8 Milliarden DM. Davon sind 8,8 Mil- meine Kolleginnen und Kollegen in der Debatte über liarden DM reine Straßeninvestitionen — gegenüber den Bundesverkehrswegeplan hier belegt haben. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14925

Klaus Daubertshäuser Das kann doch aber nicht bedeuten — das meine ich ßen und Natur in Deutschland in Grund und Boden damit —, daß in einer Panikreaktion auf die vorher- fahren. Das ist die Fortsetzung der alten hirnrissigen sehbaren Mittelkürzungen im Westen in Zukunft Politik. überhaupt nichts mehr laufen soll. Darum geht es (Zustimmung des Abg. Dr. Klaus-Dieter doch. In Ost wie West müssen die Ausbau - und Feige [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Neubaustandards kritisch überprüft werden, damit so sparsam wie möglich gewirtschaftet wird. Trotz der Anhebung der Mineralölsteuer bleibt dann ein deprimierendes Endergebnis. Das deutsche (Werner Zywietz [F.D.P.]: Richtig!) Gewerbe wird im Verhältnis zu seinen ausländischen Sie wissen doch: Statt einer vierspurigen reicht oft Konkurrenten eben nicht entlastet. Damit sind weitere eine dreispurige Bundesstraße mit alternierenden Ausflaggungen und Betriebsschließungen vorpro Überholstreifen in der Mitte aus, statt einer Autobahn grammiert. Finanzpolitisch — das muß Sie, Herr häufig auch eine vierstreifige Bundesstraße. Bohlsen, ja ganz besonders interessieren — ist die Mit der Beschränkung auf das unabdingbar Not- Vignette ein Flop; denn unter dem Strich kommt ein wendige, mit dem Verzicht auf teure, umstrittene Minus von rund 1,4 Milliarden DM heraus. Prestigeprojekte, mit dem Vorrang für Ortsumgehun-- (Bundesminister Matthias Wissmann: Ha! gen, die dann natürlich auch eine schnelle Entlastung Ha! Ha!) für die Bürger bringen, und mit der Beschränkung auf bezahlbare Baustandards beim Fernstraßenneubau — Herr Kollege Wissmann, ich lasse doch meine kann ich dann auch Finanzmittel für den Vorrang der eigenen Rechnungen hier außen vor. Lesen Sie einmal Schiene und den Ausbau der Schienenwege freiset- nach, was Professor Aberle jetzt in der neuen Ausgabe zen. Dies ist von uns x-mal auch von diesem Podium des „Internationalen Verkehrswesens " über mehrere aus den Kolleginnen und Kollegen dargestellt wor- Seiten dazu an Berechnungen gebracht hat. Es ist den. diese Zahl. Ich sage Ihnen: Alle Bekenntnisse zur Zukunft der Gleichzeitig wird durch die Erhöhung der Kilome- Bahn bleiben Makulatur, wenn diese Zukunft gleich- terpauschale auf 75 Pf ein umweltpolitisch falsches zeitig durch Festschreibung der alten Wettbewerbs- Signal gesetzt. Statt endlich eine generelle, verkehrs- verzerrungen im Infrastrukturbereich im wahrsten mittelunabhängige Entfernungspauschale einzufüh- Sinne des Wortes verbaut wird. ren, erhöht die Bundesregierung damit den Anreiz, auf dem Weg zur Arbeit nur den Pkw zu nutzen. (Beifall bei der SPD) Die Straßengütertransporte in Europa werden auf Ich sage es noch einmal: Bahn sanieren heißt Schienen Grund dieser massiven Steuersenkungen und der bauen! Herr Minister, daran gemessen, steht der unzureichenden Höhe der Schwerverkehrsabgabe Verkehrshaushalt 1994 in krassem Widerspruch zu letztendlich billiger, obwohl immer wieder in stolzen den Zielen der Bahnreform. Reden verkündet wird, Sie wollten den Straßenver- Gescheitert, meine Damen und Herren, ist auch der kehr verteuern. Das, was Herr Töpfer und Sie, Herr Versuch, endlich die unerträglichen Wettbewerbs- Wissmann, immer wieder verkünden, kann ja nur ein verzerrungen im europäischen Gütertransport zu Ablenkungsmanöver sein, wenn ich mir hier die beseitigen. Herr Verkehrsminister, wir haben dies klaren Fakten anschaue. auch an anderer Stelle schon diskutiert. Das, was in Sie haben den Preisvorteil des Lkw weiter ausge- Luxemburg zustande gebracht wurde, war aus deut- baut. Sie haben die Kabotage massiv ausgeweitet. Die scher Sicht ein Pyrrhussieg. Da muß man nicht pole- Bahn steht damit auf der Verliererstraße. Allein im misch und emotional werden; da kann man ganz ersten Halbjahr 1993 — ohne daß diese Instrumente nüchtern auf die Fakten schauen: schon wirkten — hat die Bahn einen Rückgang von Bereits in gut drei Monaten, also zum 1. Januar 11 % im Güterbereich zu verkraften. Wo soll das 1994, werden sich die Kabotagegenehmigungen für hinführen, wenn Sie nach wie vor die Wettbewerbs- ausländische Lkw-Unternehmer verdoppeln. Das ist verzerrungen zu Lasten der Bahn anhäufen? im Ergebnis praktisch eine Kabotagefreigabe. Deshalb mein Fazit: In Luxemburg ist nichts gewon- Ebenfalls zum 1. Januar 1994 muß die Bundesregie- nen, aber für die Bahn viel verloren worden. Es gibt rung ihr Versprechen gegenüber den deutschen die Revisionsklausel in der Luxemburger Vereinba- Unternehmen einlösen und die Kraftfahrzeugsteuer rung. Danach ist eine schnelle Korrektur nicht mög- mindestens halbieren. Dabei ist, Herr Bohlsen, bis lich. Das heißt: Die verschärften Wettbewerbsnach- heute nicht klar, wie der Steuerausfall der Bundeslän- teile der Bahn müssen auf eine andere A rt und Weise der ausgeglichen werden soll. Gleichzeitig werden ausgeglichen werden. Wenn wir die Bahnreform z. B. die Niederländer durch entsprechende Aus- wollen, müssen wir darüber nachdenken und Instru- gleichsmaßnahmen den alten Wettbewerbsabstand mente finden, Herr Wissmann. Hierfür kann nur ein zugunsten ihrer Unternehmen wiederherstellen. Dies Bonus bei der Festlegung der Fahrwegabgaben in ist bereits öffentlich angekündigt. Frage kommen, der die Gleichbehandlung der Bahn Erst ein Jahr später, nämlich ab dem 1. Januar 1995, mit ihren Wettbewerbern sicherstellt und die Umwelt- vorteile der Bahn in diese Rechnung einbezieht. kann dann die Regionalvignette mit maximal 2 500 DM Jahresgebühr und zahlreichen Ausnahmen Wir bestehen deshalb ebenso wie die Bundesländer eingeführt werden. Sie deckt nur einen Bruchteil der im Zuge der Bahnreform auf einer vollen, auch finan- Wegekosten ausländischer Lkw ab. Das heißt: Sie ziellen Verantwortung des Bundes für die Schienen- subventionieren damit weiterhin diejenigen, die Stra infrastruktur. Sie ist die Voraussetzung dafür, Harmo- 14926 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Klaus Daubertshäuser nisierungsversäumnisse bei den Wettbewerbsbedin- Frankreich haben ihre Interessen klar wahrgenom- gungen auf diesem Wege zur korrigieren. men. Dies muß für die Bundesregierung ein Beispiel sein. Nur ein ganz klarer Schnitt kann die verfahrenen Man muß auf diesen Punkt mit besonderer Sorgfalt Verhandlungen zu dem für die Zukunft der Lufthansa eingehen, weil im Gegensatz zu all dem, was die so wichtigen Ergebnis eines fairen Abkommens Bundesregierung äußert, auch die übrigen Rahmen- — mehr wollen wir nicht: ein faires Abkommen — bedingungen der Bahn ständig weiter verschlechtert führen. werden. Dieser Haushalt, Herr Bohlsen, legt davon beredt Zeugnis ab. Die Liste der Widersprüchlichkeiten, der Versäum- nisse und der gescheiterten Versuche in der Verkehrs- Ich sage nur: Wuermeling-Paß für kinderreiche politik ließe sich fortsetzen. Ein Kardinalfehler, auf Familien. Man muß sich das doch einmal vor Augen halten. Ausgerechnet in dem Moment, in dem die dem all dies beruht, ist das Fehlen eines integrierten Gesamtverkehrskonzepts. Nur mit einem integrierten Bahnreform eine Aufwärtsentwicklung der Bahn ein- Gesamtverkehrskonzept kann die sektorale, oft leiten soll, treibt diese Bundesregierung durch die widersprüchliche und im Ergebnis eindeutig geschei- ersatzlose Streichung der Ausgleichszahlungen für terte Verkehrspolitik der Vergangenheit überwunden den Wuermeling-Paß eine klassische Kundengruppe werden. von der Bahn weg und hin auf die Straße. Abgesehen von der bodenlosen sozial- und familienpolitischen Eingesetzt und aufeinander abgestimmt werden Instinktlosigkeit frage ich: Ist denn das wirklich der müssen: atmosphärische Flankenschutz für die Bahnreform? Ökonomie, d. h. gerechte Kostenanlastung, An- Da paßt es doch nur ins Bild, wenn trotz langjähriger wendung des Verursacherprinzips, Ausnutzung der Versprechungen der Bundesregierung nach wie vor Lenkungswirkung fiskalischer Instrumente; auch keine Mittel für eine Lärmsanierung an beste- Infrastrukturpolitik, d. h. klare Investitionsschwer- henden Schienenstrecken bereitgestellt werden. Was punkte bei umweltfreundlichen Verkehrsträgern; bei der Straße seit langer Zeit praktiziert wird, wird der Schiene und damit den lärmgeplagten Anwoh- Ordnungsrecht, d. h. zum Beispiel Vorrangregelun- nern auch 1994 wieder vorenthalten. gen für Busse und Bahnen, Verbrauchsbegrenzun- gen, Geschwindigkeitsbegrenzungen und Zugangs- Wie soll man eigentlich bei einem derartig wider- beschränkungen zu hochbelasteten Ballungsräumen sprüchlichen Verhalten der Bundesregierung noch an für den Individualverkehr. einen Erfolg der Bahnreform glauben? Es sind ja nicht nur die hehren Ziele. Die unterstützen alle. Aber wir Natürlich darf dies alles nicht Selbstzweck sein, brauchen viel, viel Unterstützung: aus den gewerk- sondern muß einer eindeutigen Zielhierarchie dienen. schaftlichen Lagern, aus der Wirtschaft und von der An erster Stelle muß die Verkehrsvermeidung oder Bevölkerung. Wenn aber atmosphärisch nur voll — realistischer gesagt — die Vermeidung weiterer gegen die Bahn gearbeitet wird, was sich dann auch in Verkehrszuwächse stehen. Bisher hat das Verkehrs- Heller und Pfennig gegen die Bahn auswirkt, wie wachstum alle Bemühungen um eine technische und sollen wir dann noch draußen diese Bahnreformpolitik organisatorische Minderung der negativen Begleiter- glaubhaft vertreten? scheinungen konterkariert. Verkehrswachstum ist aber kein Naturgesetz. Zahlreiche Beispiele belegen, Hier ist also, Herr Bohlsen, eine deutliche Kurskor- daß Wirtschaftswachstum nicht zwangsläufig mit rektur erforderlich, wenn es einen tragfähigen Kon- einem überbordenden Verkehrswachstum verbunden sens mit der Opposition und übrigens auch mit den sein muß. Bundesländern geben soll. Speziell im Güterverkehr gibt es erhebliche bisher Nach dem Scheitern der EG-Fiskalharmonisierung nicht genutzte Potentiale. Der Straßengüterverkehr droht nun auch in Washington ein Scheitern auf Raten. hat bisher nur einen Auslastungsgrad von 55 %. Im Die Verhandlungen zum deutsch-amerikanischen Werkfernverkehr ist er noch geringer; da liegt er bei Luftverkehrsabkommen sind in einer Sackgasse. Es 45 %. Eine gerechte Kostenanlastung nach dem Ver- besteht keine begründete Hoffnung, daß die amerika- ursacherprinzip zwingt zu höheren Auslastungsgra- nische Seite freiwillig Positionen räumen wird, die den den und zur Absenkung der Leerfahrtenanteile. US-Carriern heute handfeste Wettbewerbsvorteile garantieren. Auch dies, Herr Verkehrsminister Wiss- (Beifall bei der SPD) mann, gehört zur Standortdebatte. Die Zukunft der City-Logistik-Konzepte können den Verteilerver- Lufthansa hängt maßgeblich vom Erfolg der Bemü- kehr in den Städten bündeln und ihn damit reduzie- hungen um ein faires Abkommen ab. Deshalb fordern ren. Ziel muß die Entkoppelung der Tonnenkilometer- wir, das deutsch-amerikanische Luftverkehrsabkom- zuwächse von den Fahrzeugkilometerzuwächsen men aus dem Jahre 1955 sofort aufzukündigen. Es sein. kann nicht so weitergehen, daß — wie mit der Kabi- nettsentscheidung vom 2. Ap ril 1993 — mit Angebo- Unkontrolliertes Wachstum nennt man in der Medi- ten weiterer Dienste für amerikanische Fluggesell- zin Krebs. Das mag zwar für den Verkehr ein drasti- schaften eindeutig falsche Signale gesetzt werden. sches Beispiel sein; es zeigt aber die Gefährdung, die für den Gesamtorganismus Verkehrssystem besteht, Was not tut, sind Neuverhandlungen, um vorhan- wenn es uns nicht gelingt, die prognostizierten dene Überkapazitäten im Nordatlantikverkehr abzu- Zuwächse einzudämmen. bauen und durch eine neue Kapazitätsvereinbarung einen angemessenen Marktanteil für deutsche Flug- Das Ziel der Verkehrsverlagerung ist auch in Ihren gesellschaften sicherzustellen. Großbritannien und Vorstellungen, Herr Kollege Wissmann, bisher noch Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14927

Klaus Daubertshäuser unterbelichtet. Ich meine, hier müßten Sie alle Spiel- rungen durch die Bahnreform hierzu geführt haben. räume ausschöpfen; um die Grundlagen für den Das besondere Vorhaben Bahnreform und die damit Vorrang der Bahn, des öffentlichen Nahverkehrs und verbundene Finanzreform der Sondervermögen auch der Binnenschiffahrt zu schaffen. Deutsche Bundesbahn und Deutsche Reichsbahn An der nächsten Stelle dieser Zielhierarchie muß bringen uns dazu, daß wir gegebenenfalls auch Haus- dann eine umweltgerechte Gestaltung des Indivi- halte, die sonst als Nebenhaushalte bezeichnet wur- dualverkehrs stehen. Auch hier müssen Sie verstärkt den, auflösen. Damit sind zusätzliche Ausgaben ver- ordnungsrechtliche Instrumente ausschöpfen. Das bunden, nämlich die Übernahme der Zinsleistungen haben Sie bisher nicht getan. aus den Altschulden der Bahn, die Finanzierung des Bundeseisenbahnvermögens und die Übernahme der Nach meiner festen Überzeugung kann nur so der vollen Fahrweginvestitionen der Deutschen Bahn AG. Kollaps unseres Verkehrssystems mit nicht abzuse- Allein diese Tatsache macht deutlich, daß wir in den henden wirtschaftlichen und sozialen Folgeschäden Folgejahren andere Gestaltungsmöglichkeiten ha- vermieden werden. Es wird von niemandem, der sich ben, weil wir dann zu einer Trennung von Fahrweg ernsthaft mit der Verkehrspolitik auseinandersetzt, und Betrieb kommen. Insofern gibt es hier Ansätze, mehr bestritten werden, daß es jedenfalls so wie die Sie gerade noch kritisch betrachtet haben. Ziel der bisher nicht weitergehen kann. Sie, Herr Verkehrsmi-- Strukturreform ist es, die Leistungsfähigkeit zu erhö- nister Wissmann, haben vorhin auch gesagt: Wir hen und die aus der bisherigen Bahnführung erwach- müssen die verfehlte Verkehrspolitik der letzten senen Haushaltsbelastungen zurückzuführen. Wir 30 Jahre ändern. Aber ich sage Ihnen eines: Der wollen die längerfristige Konsolidierung der Bereiche Verkehrshaushalt 1994, über den wir heute zu beraten der Bahn. haben, ist, gemessen an dem Anspruch, den Sie eben selber formuliert haben, eigentlich ein deprimieren- Wenn wir uns die Elemente ansehen, die im Kabi- des Dokument des „Weiter so" geworden, denn auch nett verabschiedet wurden, so sind dies zum ersten die er zeigt unübersehbar: Wer immer in diesem Land für Zusammenführung von Deutscher Bundesbahn und eine zukunftsorientierte, für eine Umwelt- und für eine Deutscher Reichsbahn, zum zweiten die Gründung menschengerechte Verkehrspolitik eintritt, der ist bei der Deutschen Bahn AG und drittens die Übertragung dieser Bundesregierung an der falschen Adresse. der Altlasten auf das Bundeseisenbahnvermögen. Die Vielen Dank. vierte Komponente ist eben die Regionalisierung des Schienenpersonennahverkehrs durch Übertragung (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und auf die Bundesländer. Hier appelliere ich auch an die dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) SPD, daß wir das gemeinsam betreiben, denn es ist ein wichtiger Schritt. Über die Kosten werden wir sicher Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat Kollege noch manches Wort verlieren müssen. Aber der sich Wilfried Bohlsen das Wo rt . verschlechternde Trend der Bundesbahn hat uns dazu geführt, uns grundlegende Gedanken zu machen, wie Wilfried Bohlsen (CDU/CSU): Frau Präsidentin! wir Änderungen herbeiführen können. Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich das erste Zur Steigerungsrate des Bundeshaushalts Verkehr Wort an den Bundesverkehrsminister richten. Sie, will ich folgendes sagen. Wenn ich die Bahn aus- Herr Wissmann, haben erstmals den Etat eingebracht. schließe, dann beträgt die Steigerungsrate nur noch Wir haben in diesem Etat wesentliche Veränderungen 1,6 %. Das müssen wir ehrlich hinnehmen. Damit hinnehmen dürfen, die auch die Umgestaltung der liegen wir unter der Steigerungsrate des Gesamthaus- Verkehrspolitik möglich machen. Ihnen, Herr Wiss- haltes. mann, will ich für die Arbeit, die Sie darin investiert haben, danken. Ich schließe darin Ihr Haus mit ein, das Aber wir sollten auch die Feststellung treffen, daß uns Berichterstatter mit sehr viel Sachinformation die Investitionen im Verkehrshaushalt gegenüber immer gut beliefert hat. 1993 immerhin noch eine Steigerungsrate von 3 % Nun will ich ein Wort an Sie richten, Herr Dauberts- aufweisen. Ich will noch einmal die Aussagen über die häuser. Wir zwei machen Verkehrspolitik schon seit investiven Ausgaben bündeln, damit deutlich wird, 10 Jahren. Ich glaube, uns hat ausgezeichnet, daß wir wie die Mittel bei den Investitionen fließen: Bei den sie immer sehr sachbezogen gemacht haben. Daß es Bundeswasserstraßen sind fur 1994 1,057 Milliarden zwischen der Regierungskoalition und der Opposition DM veranschlagt, bei den Bundesfernstraßen 8,766 natürlich Unterschiede gibt, ist nicht von der Hand zu Milliarden DM; bei dem kommunalen Straßenbau und weisen. Dennoch haben wir immer versucht, es sach- dem OPNV 6,269 Milliarden DM. Bei Reichsbahn und lich auf den Nenner zu bringen, wenn es um Dinge Bundesbahn investieren wir insgesamt 10,11 Milliar- ging, die uns berührt haben. den DM. Diese Zahl wurde bereits von Herrn Daubertshäuser genannt. Meine Damen und Herren, ich möchte hervorhe- ben, daß der Einzelplan 12 mit seinen Ansätzen für Ich will hervorheben, daß wir — das wurde auch das Haushaltsjahr 1994 einen deutlichen Beitrag zur durch die Ausführungen des Bundesverkehrsmini- deutschen Einheit leistet. Wer die Haushaltsentwick- sters deutlich — im Bereich des Straßenbaus nicht alle lung betrachtet, sich die Steigerungsraten genauer Wünsche werden erfüllen können. Denn der Schwer- ansieht, wird feststellen, daß der Verkehrshaushalt punkt liegt doch darauf, Verkehrsprojekte der deut- auf den ersten Blick aus dem Rahmen fällt, denn mit schen Einheit, die dem Zusammenwachsen von Ost dem Ansatz von 53,8 Milliarden DM ist er gegenüber und West dienen und die unverzichtbar sind, vorran- dem Vorjahr mit einer Steigerungsrate von 22,8 % gig zu finanzieren. Das ist eines der wesentlichen versehen. Aber wir wissen, daß gerade die Verände Anliegen. Hierbei müssen wir natürlich feststellen, 14928 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Wilfried Bohlsen daß eine bevorzugte Berücksichtigung der neuen Denn durch den Fortfall der Tarifprüfungen ist eine Bundesländer zu Restriktionen in den alten Ländern wesentliche Aufgabe entfallen. Daher, so meine ich, führen wird. Aber im europäischen Vergleich haben muß es Aufgabe des Parlaments sein, diese neuen wir in den Westländern auch einen hohen Ausbau- Verwaltungen vor ihrem Entstehen kritisch zu standard. betrachten. Ich will noch einmal auf die eben angesprochenen (Zuruf von der CDU/CSU: Streichen! Wir Pilotprojekte zurückkommen. Es sind insgesamt müssen sparen! Wegstreichen!) sechs, verehrter Herr Wissmann, die Sie auch schon Als Abgeordneter von der Küste wi ll ich ganz kurz genannt haben, die im Jahre 1994 begonnen werden noch die Finanzbeiträge für die Seeschiffahrt anspre- und mit denen man feststellen wi ll, inwieweit das chen. Wir hatten im Haushaltsjahr 1993 Verpflich- Investitionsvolumen im Straßenbau künftig durch tungsermächtigungen von 100 Millionen DM für das eine Privatfinanzierung von Bundesfernstraßen ge- Haushaltsjahr 1994 eingebracht, so daß sie jetzt als steigert werden kann. Barmittel einfließen werden. Aber in diesem Haus- haltsentwurf sind weitere Verpflichtungsermächti- (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Sehr gut!) gungen für die Folgejahre nicht vorgesehen. Wenn - Mit diesen Pilotprojekten wird das Ausbauvolumen dies so bleibt, appelliere ich an die Bundesregierung, für 1994 weiter erhöht. Dies ist nach meiner Einschät- doch zu steuerlichen Entlastungen zu kommen, damit zung ein gangbarer Weg, Straßenbauvorhaben zügig wir im Wettbewerb der Handelsflotte zu einem zu realisieren. Meine Anmerkung wäre, verehrter Gleichklang kommen und Benachteiligungen nicht Herr Minister, ob wir nicht prüfen sollten, inwieweit hinzunehmen wären. Denn der Drang zur Ausflag- die eine oder die andere Maßnahme im Rahmen gung hält weiter an, und hier bestünde dann auf dieser Pilotprojekte zusätzlich berücksichtigt werden steuerlicher Basis Handlungsbedarf. kann. Denn wir arbeiten hier mit dem Faktor Zeit. Den Ich hätte gerne noch zum Bereich der Werften etwas Faktor Zeit können wir beschleunigen. Dies ist ein gesagt, aber der Ablauf der Debatte zwingt mich, zum Weg, den ich mit Ihnen bei den Berichterstatterge- Schluß zu kommen. Mit diesem Haushaltsentwurf sprächen zusammen mit den Kollegen gerne noch 1994 werden sich in den folgenden Wochen die einmal vertiefen möchte. Fachausschüsse sowie alle anderen Bereiche, die mit der Haushaltspolitik zu tun haben, befassen müssen, (Beifall bei der CDU/CSU — Klaus Dauberts und dabei müssen wir — das wird sicherlich deut- häuser [SPD]: Der Faktor Zeit kostet mehr lich — eine Fülle von Einzelfragen regeln. Es wird Geld!) unser Bemühen sein, das Ausgabevolumen nicht zu — Der Faktor Zeit kostet mehr Geld. Aber, verehrter erhöhen, aber andererseits zu zufriedenstellenden Herr Daubertshäuser, langfristig gerechnet führt das Lösungen zu kommen, damit wir den Einzelplan 12 zu Kostenersparnissen, je schneller wir einen Weg wie viele andere im Einvernehmen mit den Kollegen fertigstellen. Für das Zusammenwachsen Europas von der Arbeitsgruppe Verkehr über die Bühne brin- brauchen wir einen zügigen Ausbau. Je eher wir die gen. Wege nutzen können, um so mehr dienen wir den Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Menschen und der Wirtschaft. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich muß ein Thema ansprechen, das ich auch bei der Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster Etatdebatte im letzten Jahr vertieft habe, die Ver- spricht der Kollege Werner Zywietz. kehrssicherheit. Wenn wir uns den Entwurf des Haus- halts 1994 ansehen, stellen wir fest, daß bei den (F.D.P.): Frau Präsidentin! Liebe Maßnahmen der Verkehrserziehung und der Ver- Werner Zywietz Kolleginnen und Kollegen! Man kann jedem Haushalt kehrsaufklärung Bundeszuschüsse in Höhe von manches vorwerfen und über vieles diskutieren, aber 15 Millionen DM vorgesehen sind. Verglichen mit den ich glaube, wenn man sich den Einzelplan 12 Vorjahren haben wir erheblich weniger Mittel zur anschaut, muß man feststellen, daß er in den letzten Verfügung. Wir müssen schauen — diesen Appell Jahren einen besonders zügigen geldlichen Aufwuchs richte ich an die Berichterstatterkollegen —, inwie- gehabt hat. weit wir bei den Beratungen da noch zu Veränderun- gen kommen. Wir wollen versuchen, einige Um- Es hat zwei besondere Sprünge bei der Entwicklung schichtungen zu erreichen; denn die Verkehrssicher- des Verkehrsetats gegeben. Der eine Sprung war heit leistet einen deutlichen Beitrag. verursacht durch den historischen Glücksfall der deut- schen Wiedervereinigung, und ein anderer Mengen- In unserem Haushaltsplan sind für den Einzel- sprung, ein Quantensprung, ist die Vorsorge für die plan 12 zwei neue Verwaltungen vorgesehen. Bei der Zentralaufgabe der Bahnreform. Man muß sich noch einen handelt es sich um das Eisenbahnbundesamt, einmal im Vergleich zu anderen Haushalten in Erin- das im Rahmen der Bahnreform eingerichtet wird. Die nerung rufen, daß sich 1990, vor der deutschen Notwendigkeit dieser Einrichtung ergibt sich aus den Einheit, das grobe Volumen dieses Etats auf 25 Milli- Folgerungen der Bahnreform. arden DM belief und daß wir im Jahr 1993 43 Milliar- Bei der Einrichtung des Bundesamtes für Güterver- den DM haben und für das nächste Jahr 53 Milliarden kehr melde ich eine kritische Prüfung an. DM vorgesehen haben. Das ist in der Tat ein rasanter Anstieg. Wenn man ironisch wäre, könnte man sagen: (Zuruf von der F.D.P.: Sehr richtig!) Dieser Anstieg schlägt alles, er schlägt auch den Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14929

Werner Zywietz Anstieg der Verschuldung, und das heißt schon Mir ist aus der Praxis heraus ein weiterer Punkt etwas. aufgefallen, insbesondere in den neuen Bundeslän- dern, bei allem Respekt, und ich stehe sehr dahinter, An der Menge kann es also nicht liegen. Die daß im Verkehrsbereich vieles aufzuholen ist. Ich Struktur ist auch in Ordnung; das ist auf den ersten kann nun keine statistische Übersicht präsentieren, Blick festzustellen. Es wird allerdings darauf ankom- aber ich bin viel herumgefahren. Ich habe den Ein- men, daß in diesem großen Etat des nächsten Jahres druck gewonnen, daß etwas zu schnell und etwas zu von 53 Milliarden DM noch mehr Wert auf eine üppig in Kantstein- und Gehwegmodernisierung effiziente, auf eine sinnvolle Mittelverausgabung investiert worden ist, daß es aber bei den Hauptstrek- gelegt wird. Denn natürlich kann aus dem allgemei- ken, ob Straße oder Schiene, nicht ganz so flott geht. nen Spar- und Konsolidierungsbemühen der öffentli- Ich meine, man sollte darauf achten, daß nicht an die chen Haushalte auch dieser große Etat, der jetzt schon Kommunen, wo es am schnellsten geht und wo auf Platz 3 rangiert, nicht ausgenommen werden. Kantsteine und Fußwege „vergoldet" werden kön- Es freut mich dabei, Herr Minister, von Ihnen zu nen, die Straßenbaumittel fließen. Das darf nicht die hören, daß die Projekte der deutschen Einheit, insbe- erste Priorität im Verkehrsetat oder im Aufbau Ost sondere was Straßen und Schienenverbindungen- sein. anlangt, mit Priorität durchgeführt werden. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Zuruf von der SPD: Wer macht das denn? Das (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Gerlin ist an den Haaren herbeigezogen!) gen] [F.D.P.]) Ich will noch etwas mit Blick aufs Praktische erwäh- Ich erwähne das, weil man nach Meldungen aus der nen, und zwar zu Großprojekten, zu denen wir stehen. Regionalpresse schon anfängt, Mittelkürzungen Vielfach sieht man jetzt Schilder — ich habe sie am — die 1,2 Milliarden DM sind hier angesprochen Berliner Autobahnring gesehen —: Brückenverbreite- worden — gegeneinander auszuspielen. Manche rung so und so, Baumaßnahme des Bundes. Wunder- sprechen sich dafür aus, mehr bei den Projekten der bar! Da steht dann: Fertigstellung Ende 1996. Ich habe deutschen Einheit zu sparen, damit diese oder jene einen Fall überprüft. Die Mühe, eine Verkehrsrege- Umgehungsstraße in Westdeutschland vielleicht noch lung — Umwege, Ausweichmöglichkeiten — anzuge- gebaut werden kann. Mich hat etwas nachdenklich hen, hat sich bisher niemand gemacht. Es ist zwar gut, gestimmt, daß hier schon ein Schwarzer-Peter-Spiel daß ein solches Schild zu lesen ist und daß etwas begonnen wird. Das kann nicht im Interesse der Sache Vernünftiges gemacht wird. Aber eine begleitende sein. Vorsorge, diesen Engpässen auszuweichen, ist nach meinem Eindruck — ich habe mehrere Fälle über- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne prüft, einen davon sehr intensiv — nicht in ausreichen- ten der CDU/CSU) dem Maße geschehen. Hierauf, so meine ich, müßte Wir werden uns gesteigert um Effizienz zu bemühen man das Augenmaß stärker lenken, damit das Gute, haben, und dafür gibt es auch Möglichkeiten. Die gibt das wir tun, bei der Bevölkerung als etwas Hilfreiches es in allen Lebensbereichen, irgendwo zwischen 5 ankommt und der Arger über den Stau nicht die oder 10 %. Jeder weiß es: Man kann ein Haus ökolo- Freude an einer solchen Bundesinvestition nimmt. gisch bauen, mit dicken oder dünnen Wänden, mit (Vors it z : Vizepräsident Helmuth Becker) mehr oder weniger Aufwand. Die Margen mögen Liebe Kolleginnen und Kollegen, zweifelsohne ist beim Straßenbau etwas geringer sein, sie sind aber die Aufgabe Nummer 1 die Bahnreform. Da gibt es auch vorhanden. Es ist auch hier möglich, durch kein Vertun. Das Ministerium verdient Dank, daß jetzt technische Ausprägung und Maße — ich will vorsich- mit mehr Kraft an dieser Aufgabe gearbeitet wird. tig sein in den Bandbreiten — Mittel einzusparen. Manche Großzügigkeit der Vergangenheit müssen (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der wir wirklich Vergangenheit sein lassen. CDU/CSU) Ich will in Erinnerung rufen, warum das so nötig ist. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Selbst mir, der ich mich ein wenig mit diesem Haushalt beschäftige, fiel es wie Schuppen von den Augen, als Zum Thema Straßen möchte ich noch zwei Dinge ich mir drei Daten konsequent vor Augen führte. antippen. Wir von der F.D.P. stehen der Mobilisierung von Privatkapital auch für Infrastrukturmaßnahmen Das erste Datum ist die Verschuldungssumme der im Verkehrsbereich, für Straßenbau, positiv gegen- Behörde Bahn. Sie läuft auf die 70 Milliarden DM zu. über. Aber wir sollten realistisch miteinander umge- Ein Land wie Schleswig-Holstein hat einen Jahresetat hen. Es kann bei Lichte besehen, wie immer die von 15, 16 Milliarden DM. Die Schulden der Bahn Modelle auch heißen mögen, nach meinem ökonomi- machen also das Vier- bis Fünffache des Ausgabevo- schen Verständnis immer nur um eine Vorfinanzie- lumens eines ordentlichen Bundeslandes aus. rung in der einen oder anderen Form gehen. Das (Zuruf von der F.D.P.: Ordentlich?) heißt, was man vorzieht, wird man später aus öffent- — Ja, es ist ein ordentliches Land. Im Norden haben lichen Mitteln zu zahlen haben. Es gibt ja nichts wir fast nur ordentliche. geschenkt, und zaubern können wir alle miteinander nicht. Aber schon das Vorziehen ist eine Zielsetzung, (Beifall bei Abgeordneten der SPD — die den Einsatz lohnt. Nur möchte ich in aller Klarheit Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: sagen: Was man jetzt vorzieht, kann später nicht Was soll das denn heißen!) gemacht werden. Die Rechnungen werden präsen- Die zweite Größe: Wenn pro Jahr ein Defizit in der tiert. Größenordnung von 12, 13, 14 Milliarden DM bei 14930 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Werner Zywietz Reichs- und Bundesbahn neu anfällt, also über 1 Mil- Zu Ihrer Bemerkung, was der Bahn alles angelastet liarde DM pro Monat, dann ist auch das eine Zahl, die wird: Da gebe ich Ihnen recht; da sind wir alle zum Handeln zwingt. irgendwo Sünder. (Beifall bei der F.D.P.) (Manfred Schell [CDU/CSU]: Danke sehr!) Die dritte Zahl, und damit lasse ich es bewenden: Da knicke ich auch ein bißchen ein. Jeder hat ja seinen Wenn mir jemand sagt, der ein Unternehmen analy- Wahlkreis. Ich möchte denjenigen Abgeordneten siert, der an die Probleme mit ökonomischem Sach- sehen, der nicht schon einmal für den Erhalt irgend- verstand herangeht, daß der Gesamtumsatz in einer einer Strecke plädiert hat, der noch nicht für sozial Monatsperiode, also alles, was durch Tarifeinnahmen gestaffelte Tarife plädiert hat. Wer glaubt, er sitze im Güterverkehr und durch den Ticketverkauf herein- nicht im Glashaus und könne deshalb mit Steinen kommt, nicht reicht, um die Personalausgaben mit werfen, ohne daß etwas kaputtgeht, möge dies tun. ihrem Sozialpaket zu bezahlen, dann weiß ich: Das ist Die Ehrlichkeit gebietet aber auch — das ist vom nicht in Ordnung. Das ist eigentlich der Bankrott. So Kollegen Daubertshäuser gesagt worden — eine rich- kann das nicht weitergehen. tige Zuordnung. Wenn die Soldaten billig nach Hause (Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg.- Kurt fahren sollen, dann muß die Differenz zum normalen J. Rossmanith [CDU/CSU]) Tarif eben aus dem Verteidigungsetat finanziert wer- Ein Unternehmen, das mit seinem Umsatz nicht die den. Wenn die Tarife für Familien mit mehreren Personalkosten abdecken kann, kann schlichtweg Kindern anders gestaffelt werden und nicht kosten- nicht so weitermachen. deckend sind — dafür bin ich auch —, dann muß auch Damit bin ich bei Ihnen, Kolleginnen und Kollegen dies dem entsprechenden Etat zugeordnet werden. von der Opposition: Wir müssen uns alle einen Ruck Das sind Versäumnisse, die ich nicht der Bundes- geben, auch die Bundesländer, und kleine Interessen bahn zuordne, sondern sie haben ihre Ursache in zurückstellen. Die Bahnreform muß kommen. Aus der verschiedenen Quellen. Sie haben sich im Laufe der Behörde Bahn muß ein Unternehmen Bahn werden. Zeit kumuliert. Daß Abhilfe und eine andere Strategie Ich weiß auch, daß damit noch nicht alles geheilt wird, des Vorgehens erforderlich sind, darüber müßten wir aber das ist der Einstieg zur dringend erforderlichen uns einig sein. Heilung. (Beifall bei der F.D.P.)

Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Zywietz, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Zywietz, das war die Antwort auf die Zwischenfrage Werner Zywietz (F.D.P.): Jawohl. des Kollegen Manfred Schell. Jetzt haben Sie noch eine Minute Redezeit. Bitte sehr. Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte sehr, Herr Kollege. Werner Zywietz (F.D.P.): Ich komme zum Schluß noch zum Wasser. Als Norddeutscher sage ich: Ich bin Manfred Schell (CDU/CSU): Herr Kollege, teilen Sie dafür, daß wir Subventionen abbauen, auch Schiff- meine Auffassung, daß Ihre Aussage nicht stimmt, fahrtssubventionen; um da Klartext zu reden. Ich sondern daß die Bahn — ich denke, wir reden zunächst mache ein Angebot: Jeder sollte in seinem Bereich einmal von der Deutschen Bundesbahn - ihre Perso- bezüglich der Subventionen nach folgendem Grund- nalkosten zu nicht 100 % erwirtschaftet, sondern nur satz vorgehen — da halte ich es mit Wilhelm Busch —: in einem Umfang von 75 %? Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch Teilen Sie meine Auffassung, daß die Schulden, die keinem andern zu! Wir bauen die Subventionen ab, bei der Bundesbahn angelaufen sind, auch die Folge aber dann sind alle anderen aufgerufen, nach dersel- einer verfehlten Finanz- und Verkehrspolitik der ben Formel mitzumachen. Ich könnte es sogar ost- vergangenen Jahre sind? Man sollte jetzt nicht im preußisch formulieren, vornehmer, nämlich mit Kant, Zuge der Bahnreform alles der Bahn anlasten, was sie der gesagt hat: Verhalte dich stets so, daß du wollen in den vergangenen Jahren nicht zu vertreten hatte. kannst, daß die Maxime deines Verhaltens allgemei- Das möchte ich durch Sie klargestellt wissen. nes Gesetz wird. Nach dieser Maxime mache ich jede Subventionskürzung im Werftenbereich mit. Werner Zywietz (F.D.P.): Das mache ich sehr gern. Ein letztes Wort an die Opposition. Herr Kollege Ich spreche von der Bahn insgesamt, also Reichsbahn Daubertshäuser, Sie haben die Lufthansa angespro- und Bundesbahn. Ich habe die Zahlen noch vor chen. Ihre Auffassung bezüglich des Abkommens mit Beginn dieser Debatte auf zwei Wegen prüfen lassen. den Vereinigten Staaten teile ich. Zur Lufthansa gäbe Das Fazit war: Die Umsatzerlöse decken die Personal- es aber mehr zu sagen als nur diesen einen Satz. Do rt ausgaben und alles, was mit dem Sozialpaket daran gibt es eine ganze Menge hausgemachter Versäum- hängt, nicht. Aber das ist eine Fachfrage, die sich nisse, die nicht vom Steuerzahler ausgeglichen wer- überprüfen läßt. Selbst wenn eine kleine Marge den müssen, sondern da muß sich die Lufthansa selber existiert, so sind damit noch nicht die Materialkosten mehr anstrengen. Ich glaube, daß das in der Füh- abgedeckt, auch nicht die Abschreibungen, keine rungsspitze schon weitgehend geschieht. Aber im Investitionen für weitere Entwicklungen. So kann Servicebereich, insbesondere am Boden, muß man man nicht wirtschaften, selbst wenn eine kleine mehr tun und den guten Ruf wiederherstellen. Dann Marge existierte. wäre man auf einem besseren Wege. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14931

Werner Zywietz Wir unterstützen diesen Etat nach dem Motto: Privatisierung ist nun einmal kein Allheilmittel Realismus beim Straßenbau, Entschlossenheit bei der gegen eine jahrzehntelang verfehlte Verkehrspolitik, Bahnreform! und die für das Jahr 2002 vorgesehene Trennung von Danke. Fahrweg, Personen- und Güterverkehr ist genau der abenteuerliche Weg hin zu einer Schrumpfbahn japa- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) nischer Couleur. Ein Wort zu den Beschäftigten der Deutschen Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Reichsbahn. Es ist ein Skandal, daß den Beschäftigten Herren, ich erteile jetzt unserer Frau Kollegin Dr. Dag- in Flugblättern eine Abfindung im Falle ihrer Kündi- mar Enkelmann das Wort. gung angeboten und ihnen indirekt eine betriebsbe- dingte Kündigung bis zum Jahresende angedroht wurde. Damit haben die, die unter diesen Bedingun- Dr. Dagmar Enkelmann (PDS/Linke Liste): Herr gen ausscheiden, eigentlich beim Übergang in die Präsident! Meine Damen und Herren! Heute wurde in neue Rechtsform im nächsten Jahr keine Chance Frankfurt am Main die Internationale Autoausstellung mehr. eröffnet. Die Besucherinnen und Besucher werden in Um nicht mißverstanden zu werden: Investitionen in eine chromblitzende, blankpolierte Scheinwelt ge- die Bahn und deren Befreiung vom immensen Schul- führt, drapiert mit künstlichen Bäumen und Blumen, denberg, wie dies der Haushalt auch vorsieht, können die das große Umweltbewußtsein der Automobilin- Investitionen in die Zukunft sein, in die Zukunft eines dustrie vorgaukeln sollen. ökologischen Verkehrssystems mit der Bahn als Dabei kann man hier wohl kaum noch von einer Hauptverkehrsträgerin. Damit sich diese Investitio- heilen Welt sprechen. Vergeblich wird man in den nen aber lohnen — und zwar für die Bürgerinnen und Sonntagsreden der Herren Kohl und Wissmann auch Bürger lohnen, nicht für Unternehmen und Kon- nur ein Wort zum geplanten Abbau von mehr als zerne —, ist ein anderer Rahmen für die Bahnreform 100 000 Arbeitsplätzen in den nächsten zwei Jahren in notwendig als der uns vorliegende. Eine Sanierung der Autoindustrie finden, geschweige denn von den der Bahn kann nur in Zusammenhang mit einer mehr als doppelt so vielen in der Zulieferindustrie. Umorientierung der gesamten Verkehrspolitik erfolg- Soziale Probleme und mögliche Lösungskonzepte, reich sein. Ich hätte vorhin fast geklatscht, als Herr d. h. also Konversionskonzepte, passen eben nicht in Minister Wissmann das gesagt hat. Aber ich weiß ja, eine Glitzerwelt. wie er es meint. Herr Kollege Wissmann, Sie haben sich von den Als eine Voraussetzung für das Gelingen der Bahn- vorgeführten Modellen, die 3,5 1 und weniger ver- reform müssen Maßnahmen zur Aufhebung der Wett- brauchen, sehr begeistert gezeigt. Nach Aussagen der bewerbsnachteile der Bahn ergriffen werden. Die Fachleute sind das sozusagen Designermodelle, die Übernahme der Bahnschulden ist zwar ein Schritt, als Serienmodelle mit so wenig Sp rit nicht auskom- reicht aber bei weitem nicht aus. men. Die Industrie sagt: Solange die Politik nicht die entsprechenden Vorgaben macht, produzieren sie die Ein Wort zur geplanten Erhöhung der Mineralöl- großen Schlitten weiter. Der Handlungsbedarf liegt steuer. Sie soll angeblich zur Finanzierung der Bahn- also eindeutig bei uns. reform dienen. Das, Herr Minister Wissmann — wo ist er denn? Herr Minister Wissmann, Sie verfügen mit Ihrem Verkehrshaushalt in Höhe von 53,9 Milliarden DM (Matthias Wissmann [CDU/CSU]: Hier ist über den Haushalt mit dem stärksten absoluten er!) Zuwachs, nämlich um 10 Milliarden DM bzw. 22,8 %. — oh, pardon, jetzt habe ich Sie übersehen; das tut mir Diese Steigerung ist im wesentlichen auf die noch zu leid —, verabschiedende Bahnreform zurückzuführen. Daher möchte ich mich diesem Punkt etwas ausführlicher (Zuruf von der CDU/CSU: Er wollte Ihnen widmen. nahe sein!) Die deutschen Bahnen, das ist hinlänglich bekannt, ist nur die halbe Wahrheit, und auch eine halbe rasen immer schneller in die roten Zahlen. Die Halb- Wahrheit ist eine Lüge. Zunächst wollen Sie nämlich jahresberichte von Bundes- und Reichsbahn fallen lediglich den Schuldenberg der Bahn abbauen. Mit jedesmal schlechter aus als erwartet. Für dieses Jahr einer ökologischen Reform des Transportwesens hat wird mit einem Verlust von mehr als 14 Milliarden DM das wohl herzlich wenig zu tun. gerechnet. Der Schuldenberg der beiden Bahnen wird Über die Frage, wie den Ländern im Zuge der sich Ende des Jahres auf 67 Milliarden DM erhöht geplanten Regionalisierung des Schienennahver- haben. Es ist also, wie man so schön sagt, allerhöchste kehrs ausreichende Finanzhilfen zur Sicherung einer Eisenbahn, etwas zu unternehmen. Herr Kollege adäquaten Bedienung im öffentlichen Nahverkehr Zywietz, das sehe ich mit der gleichen Sorge wie Sie. gewährt werden sollen, hat sich die Bundesregierung Allerdings bin ich schon der Auffassung, daß man sich in ihrem diesjährigen Haushaltsentwurf damit hin- die Ursachen für diese Entwicklung genauer ansehen wegretten können, daß der angestrebten Grundge- müßte. Ob allerdings das Konzept der Bundesregie- setzänderung zufolge die Auf- und Ausgabenverant- rung zur Sanierung der Bahn taugt, ist mehr als wortung für eine Übergangszeit beim Bund bleibt. Die fraglich. Bahnreform kann unseres Erachtens nicht ohne die (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Doch, Klärung dieses entscheidenden Aspekts angegangen doch!) werden. Ich meine, von „kleinlichen Interessen" der 14932 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Dr. Dagmar Enkelmann Länder, Herr Zywietz, kann hier wohl keine Rede sein; Supermarkt mit einer ungedeckten Kreditkarte denn hier geht es immerhin um den Erhalt des Kerns mache. der Bahn, und das sind der Nah- und der Regional- Auch die beginnende Umsetzung des Verkehrswe- verkehr. geplans wird den Verkehrsinfarkt nicht abwenden, im (Zuruf von der F.D.P.: 14 Milliarden sind Gegenteil. Auch das größte Straßenbauprogramm seit keine Kleinigkeit!) 1945 kann mit der Dynamik des explodierenden Weiterhin bleibt offen, wer künftig die nicht Straßenverkehrs nicht mithalten. Es mildert maximal gedeckten Kosten des Fahrwegs zu tragen hat, wenn den Anstieg der Belastungen in wenigen Regionen. eine Vollkostendeckung nicht erreicht werden kann. Die Konsequenz: Mit Verkehrsvermeidung hat das, Da dies insbesondere im Nahverkehr absehbar ist, ist was die Bundesregierung im kommenden Jahr vorhat, eine Klärung dieser Frage schnellstens notwendig, um absolut nichts zu tun. Streckenstillegungen in großem Umfang zu vermei- Die Finanzierung dieser Verkehrspolitik steckt nun den. Die Verantwortung des Bundes für die Schienen- selbst voller Ungereimtheiten und Widersprüche. infrastruktur bedarf darüber hinaus einer grundge- Sogar der Umweltschutz — man höre — wird hier als setzlichen Absicherung. - Deckmäntelchen für das Stopfen der finanzpolitischen Hier hoffe ich sehr, liebe Kollegen der SPD, auf eine Löcher mißbraucht. Zusammenarbeit. Allerdings, denke ich, müssen wir Diese Woche hat der Umweltminister, vielleicht aus aufpassen: Die staatliche Daseinsfürsorge, wenn sie Einsicht in die drängenden Notwendigkeiten, erneut erst mal aus dem Grundgesetz gestrichen ist, für den einen Vorstoß in Richtung Mineralölsteuererhöhung Fahrweg wieder hineinzubekommen, wird schwer gemacht. Auf nicht weniger als 5 Mark soll der sein. Das heißt, das müssen wir vorher festklopfen. Benzinpreis erhöht werden, um der fatalen Verkehrs- Dringend notwendig ist, die technologische Lücke entwicklung entgegenzusteuern. Ich hätte fast Beifall zu füllen, die dank einer autoorientierten Politik der geklatscht, aber das ist mir gerade noch rechtzeitig Bundesregierung in Jahrzehnten entstanden ist. Dazu eingefallen, daß Herr Töpfer selber vor zwei Jahren sollten beispielsweise die bestehenden Reichsbahn- schon einmal eine ähnliche Initiative in Sachen ausbesserungswerke in Stendal und Halberstadt nicht Geschwindigkeitsbeschränkung ergriffen hat und abgebaut, sondern so modernisiert werden, daß sie genauso umgekippt ist. Ihre Verkehrspolitik ist nicht den Anforderungen gerecht werden können. einmal in den Ankündigungen glaubhaft. Der Haushalt Verkehr für 1994 stellt die Fortsetzung (Zuruf von der CDU/CSU: Er ist doch falsch einer Politik dar, die unweigerlich bei Dauerstau und zitiert worden!) Blechlawine enden wird. Da mache ich nicht mit. Aus Umweltsicht ist z. B. die geringfügige Erhö- Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. hung der Mineralölsteuer um 16 Pf ein Tropfen auf (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei den heißen Stein gewesen. Durch die Erhöhung der Abgeordneten der SPD) Kilometerpauschale wird sie sogar weitgehend kom- pensiert. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Eine sinnvolle Preispolitik im Verkehrsbereich ist Herren, als nächster hat jetzt unser Kollege Dr. Klaus nur denkbar, wenn wir endlich aufhören, den Verkehr Dieter Feige das Wo rt . über die Kompensation der entstandenen Schäden aus Steuermitteln indirekt zu subventionieren. Dr. Klaus-Dieter Feige (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Finanzstaatssekretär Zeitler rechnete vor — ich NEN): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen zitiere —: und Herren! Der vorliegende Verkehrshaushalt für Die Mehrlastung für einen 40-t-Lastzug mit einer 1994 ist Ausdruck einer Verkehrspolitik, die weiterhin Jahresfahrleistung von 100 000 km und einem anstatt auf Vernunft auf Vollgas setzt. Verbrauch von 35 Litern für 100 km von rund Herr Wissmann, „Ökologie" schreibt man mit 1 und 2 450 DM wird durch die Kraftfahrzeugsteuerent- g, aber nicht mit n und m. Das, was Sie darunter lastung deutlich überkompensiert, so daß mit verstehen, hat oberflächlich vielleicht etwas mit Öko- einer Nettoentlastung von rund 3 000 DM bis logie zu tun. Aber ein Verkehrshaushalt wird nur 4 500 DM im Ergebnis eine nicht unerhebliche deshalb, weil er nicht ganz so umweltferkelig ist wie Verbesserung der Wettbewerbssituation des der vorhergehende, nicht gleich mit einem Blauen deutschen Transportgewerbes erreicht wird. Umweltengel bedacht. Dann seien Sie doch ehrlich, und täuschen Sie uns Ich glaube, die geplanten 53,8 Milliarden DM für nicht mit der Mineralölsteuererhöhung vor, daß Sie ein ausuferndes Verkehrssystem sind völlig realitäts- gar Umweltschutzabsichten haben! fremd, weil Sie so tun, als gäbe es keine Wirtschafts- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Er würde rezession und Finanzkrise. doch die gleiche Leistung auch so fahren!) Graf Lambsdorff selbst hat heute früh in der Debatte zum Wirtschaftshaushalt gesagt, die Koalition sei aus Der Verdoppelung des Güterverkehrs auf unseren Sparsamkeitsgründen bescheiden geworden. Im Ver- Straßen steht so wirklich nichts mehr im Wege. kehrsministerium muß diese Aussage unter die Räder Wie die Bahnreform angesichts dieser Politik nicht gekommen sein. An einem derart unterfinanzierten baden gehen soll, bleibt uns ein Rätsel. Ohne eine Bundesverkehrswegeplan festzuhalten ist genauso ökologische Gesamtverkehrspolitik wird die Bahn unseriös, als wenn ich einen Großeinkauf in einem auch nach dem Bahnstrukturwandel im Wettbewerb Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14933

Dr. Klaus-Dieter Feige mit Straße und Flugzeug chancenlos sein und ein Wenn schon gespart werden muß — daran kann es finanzpolitisches Faß ohne Boden bleiben. natürlich keinen Zweifel geben —, wenn demzufolge Verkehrsvermeidung läßt sich nicht erreichen, auch nicht die von allen Fraktionen des Bundestages wenn wir, anstatt die Ursachen für Verkehr zu verteu- erhofften Zuwachsraten im Verkehrshaushalt erreicht ern, an deren Symptomen herumdoktern. Ich bin nicht werden können — die Investitionsmittel für die Ver- Gegner einer Reglementierung des Flottenver- kehrsinfrastruktur und für Fahrzeuge steigen. Wie der Kollege Bohlsen schon gesagt hat, sind 26,4 Milliar- brauchs. Aber Ansätze, allein den Flottenverbrauch ordnungspolitisch zu reglementieren, führen nur zu den DM dafür vorgesehen, und das sind immerhin Scheinsiegen. Auch das Zwei-Liter-Auto wird nicht 300 Millionen DM mehr als im Vorjahr. einen Fahrkilometer weniger bringen. Im Gegenteil: Vor allem gilt es festzustellen, daß an den 17 Ver- Ohne weitere Instrumente, die eine generelle Ver- kehrsprojekten Deutsche Einheit und an den notwen- kehrsvermeidung bewirken, provoziert auch ein digen Investitionen bei der Deutschen Reichsbahn Geringverbrauchsauto mehr Kilometer. nicht gerüttelt wird. Denn diese Investitionen sichern Wir brauchen tatsächlich, um auch dann nicht Arbeitsplätze, vor allem in den jungen Bundeslän- wieder dauernd vor der Forderung zu stehen, neue dern, und sie führen den Menschen vor Augen, daß Umgehungsstraßen zu bauen, ein Grundprinzip, das die Bundesregierung ihren Beitrag für den Auf- „ Verkehrsvermeidung " heißen muß. schwung Ost leistet. Die Hälfte der Investitionsmittel des Verkehrshaushalts — das sind 13,1 Milliarden (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Vor allem DM — soll in den neuen Bundesländern eingesetzt im ländlichen Raum!) werden. Meine Damen und Herren, das ist super! Wir brauchen heute mehr denn je politische Zeichen — da stimme ich mit Herrn Wissmann überein —, die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — belegen, daß die Verkehrspolitik der Bundesrepublik [F.D.P.]: Das kann man wohl die gewaltigen Herausforderungen im Klima- und sagen!) Umweltschutz wirksam mitlösen will. Ich weiß, daß dieses eindeutige Signal zugunsten Die Abgeordneten von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der neuen Bundesländer von manchen Zeitgenossen sind keineswegs ignorant und erkennen, daß es weiter kritisiert wird — weniger hier in diesem Hause —; Verkehr geben wird und geben muß, daß die Ver- denn tatsächlich müssen im Straßenbauhaushalt Kür- kehrsinfrastruktur weiterzuentwickeln ist. Doch auf zungen gegenüber der mittelfristigen Finanzplanung das Wie kommt es an. Wir glauben, daß ein genereller hingenommen werden, die sich in den westlichen siebenjähriger Baustopp für Autobahnen in der Bun- Bundesländern auswirken. Wohlgemerkt, werte Kol- desrepublik ein solches zeitgemäßes Signal wäre. leginnen und Kollegen von der Opposition, die Sie sich immer soviel Mühe geben, der Regierung Ver- (Zuruf von der CDU/CSU: Warum nicht nachlässigung der Schiene nachzuweisen: Am Stra- zehnjährig?) ßenbauhaushalt wird gespart, doch nur im Westen. Dieses Moratorium ist ohne nennenswerte Verluste an Aber wenn den östlichen Bundesländern nicht Lebensqualität nahezu problemlos machbar und gegönnt wird, daß die Bundesregierung ihnen bei der kostet nichts, ganz im Gegenteil. Aufholung des Rückstandes tatkräftig hilft, wenn (Clemens Schwalbe [CDU/CSU]: Und die westliche Länder und Kommunen, zumeist SPD- Arbeitsplätze?) geführte, sich hierüber beklagen, Die durch den siebenjährigen Baustopp eingesparten (Zuruf von der SPD: Es gibt ja kaum andere! 25 Milliarden DM wären dann der Beitrag der Ver- — Heiterkeit bei der SPD) kehrspolitik zur Konsolidierung des Haushalts. dann steht es allerdings schlecht um die Solidarität (Clemens Schwalbe [CDU/CSU]: Herr Feige, der Deutschen. Ich erinnere hier noch einmal an das wie wollen Sie Arbeitsplätze halten?) Dilemma vom Juni, als es nur mit Mühe gelang, dem Der Start in eine problemgerechte Verkehrspolitik Bundesrat die Zustimmung zur Umschichtung von wäre so markiert. ganzen zweimal 400 Millionen DM von West nach Ost Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. zur Gemeindeverkehrsfinanzierung abzutrotzen. (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei Meine Damen und Herren, wer in dieser zweifellos Abgeordneten der SPD) schwierigen Situation solidarisches Handeln vermis- sen läßt und Neidgefühle schürt, verdient es nicht, die Wiedervereinigung miterlebt zu haben. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehr- (Beifall des Abg. Clemens Schwalbe [CDU/ ten Damen und Herren, letzter Redner in dieser Runde CSU] — Widerspruch bei der SPD) ist unser Kollege Horst Gibtner. Werte Kolleginnen und Kollegen, nun zum Ihrem Lieblingsthema, der Bahn. Sie wird in den neuen Horst Gibtner (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Bundesländern 1994 ca. 8 Milliarden DM investieren. Damen und Herren! Die Opposition kann sich noch so Das sind 1,1 Milliarden DM mehr als 1993. Und schon sehr ins Zeug legen, um der Bundesregierung falsche in diesem Jahr ist das Streckennetz der Deutschen Lösungsansätze zur Konsolidierung des Haushalts Reichsbahn die größte Gleisbaustelle der Welt! Gear- und zur Ankurbelung der Wirtschaft vorzuwerfen, beitet wird unter anderem an der Hochgeschwindig- auch am Verkehrshaushalt läßt sich das Gegenteil keitsstrecke Hannover-Berlin, an den Ausbaustrek- leicht beweisen. ken Magdeburg-Berlin, Halle/Leipzig-Berlin und 14934 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Horst Gibtner Hamburg-Berlin sowie ab heute Leipzig-Dresden Ich lade Sie alle ein, diesen Haushaltsansatz der und auch am Berliner Eisenbahnnetz. Bundesregierung zu unterstützen. Meine Damen und Herren, der Kollege Dauberts- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) häuser vergißt immer, wenn er Investitionsmittel für die Bahn hier zahlenmäßig erwähnt, dazuzusagen, Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und daß neben den Zuschüssen aus dem Bundeshaushalt Herren! Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir die Bahn auch eigene Investitionsmittel einsetzt. Dann sind damit am Ende der Beratungen über den sieht das Bild genau so aus, wie ich es Ihnen hier Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr. darstelle. Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bun- (Klaus Daubertshäuser [SPD]: Manche Fir desministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und men finanzieren ja auch den Fahrweg! Das Forsten. Ich erteile zunächst dem Herrn Bundesmini- müßten Sie als alter Eisenbahner wissen!) ster, unserem Kollegen Jochen Borchert, das Wo rt. Wir haben uns gemeinsam für das Schienenwege- Jochen Borchert, Bundesminister für Ernährung, ausbaugesetz eingesetzt, und ich habe Ihnen- gerade Landwirtschaft und Forsten: Herr Präsident! Meine gezeigt, daß im nächsten Jahr auf dem Gebiet der Damen und Herren! Was die Preisentwicklung anbe- Deutschen Reichsbahn, also in den neuen Bundeslän- trifft, war das Wirtschaftsjahr 1992/93 für unsere dern, 8 Milliarden DM investiert werden, wovon Landwirtschaft nicht gerade erfreulich. Die Preis- 7,1 Milliarden DM aus dem Haushalt kommen. Das ist Kosten-Schere hat sich weiter geöffnet, und die Land- genau die Entwicklung, die wir beide wollten. wirtschaft geht daher mit einer schweren Belastung in (Klaus Daubertshäuser [SPD]: 6,4 Milliarden das Jahr 1 der Agrarreform. DM gehen in den Fahrweg und 8,8 Milliar Allerdings nicht nur die Landwirtschaft, auch den DM in den Fernstraßenbau!) andere Sektoren stehen vor großen Herausforderun- gen. Es geht ja in diesen Tagen in der Debatte um den Es ist also nicht so negativ, wie Sie das hier darstel- Wirtschaftsstandort Deutschland und seine Siche- len. rung. Ich meine, dabei ist jeder aufgerufen, seinen (Beifall bei der CDU/CSU) Beitrag zum Spar- und Konsolidierungsprogramm der Bundesregierung zu leisten. Das gilt auch für die Zum Fernstraßenbau komme ich noch ganz kurz. Landwirtschaft. Deshalb galt es, im Einzelplan 10 für Aus dem Straßenbauhaushalt werden 1,67 Milliarden 1994 und im Finanzplan die knappen Mittel auf die DM allein in die Verkehrsprojekte Deutsche Einheit agrarpolitischen Maßnahmen zu konzentrieren, die fließen. Der Straßenbauhaushalt ist ein Haushaltstitel, vordringlich sind. Das Ergebnis liegt Ihnen mit dem auf den wir nicht verzichten werden, auch wenn uns Regierungsentwurf zum Haushalt 1994 vor. Natürlich die autofeindlichen Gruppen hier in diesem Hause das hätte ich mir mehr Finanzierungsspielraum ge- Autofahren miesmachen möchten. Gebaut wird unter wünscht. anderem an der Ortsumgehung Wismar im Zuge der A 20, ein Projekt, das der Kollege Dr. Feige besonders Mir wäre es z. B. lieber gewesen, wir hätten die liebevoll betreut, an Brücken der A 2 Hannover-Berlin Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe aufstocken kön- und der A 10 Berliner Ring, an Teilabschnitten der A 9 nen. Wir haben angesichts der knappen Mittel und da Berlin-Nürnberg, der A 14 Magdeburg-Halle sowie wir in dieser Zeit kostenträchtige Programme nicht der A 44/A 4 Kassel-Eisenach-Görlitz. Baubeginn auflegen können, die Gemeinschaftsaufgabe bei den wird an der A 82/A 140 Göttingen-Halle/Leipzig sein, alten Bundesländern gekürzt und die Gemeinschafts- ebenso im Raum Erfurt-Arnstadt beim Projekt 16. aufgabe bei den neuen Bundesländern aufgestockt, um den Aufbau der Landwirtschaft im Osten Deutsch- Der Gesamtanteil der neuen Länder am Straßen- lands noch intensiver unterstützen zu können. bauhaushalt ist mit 4,2 Milliarden DM veranschlagt. Angesichts der schwierigen Einkommenslage unse- Das ist wiederum die Hälfte aller Investitionsmittel für rer Landwirtschaft haben wir der Fortsetzung der den Straßenbau. direkt einkommenswirksamen Maßnahmen oberste Meine Damen und Herren, es wird auch im Jahre Priorität eingeräumt. Deshalb werden beispielsweise 1994 so sein wie schon seit der Währungsunion im die Gas-Öl-Verbilligung, die Unfallversicherung, der Jahre 1990 und weiter mit voller Kraft: Überall in den soziostrukturelle Einkommensausgleich und die An- jungen Bundesländern wird gebaut. Dafür sollten sich passungshilfe nicht angetastet. alle Bürger begeistern, im Osten wie im Westen Darüber hinaus haben wir finanzielle Vorkehrun- unseres Vaterlandes! gen getroffen, die Agrarsozialreform zu verwirkli- chen. Im Rahmen dieser Reform wird z. B. die Alters- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) hilfe für Landwirte verbessert, erhalten unsere Bäue- Denn Ausgaben für den Verkehrsbereich sind Inve- rinnen eine eigenständige soziale Sicherung und wird stitionen für die Zukunft, und sie sichern jetzt Arbeits- das agrarsoziale Sicherungssystem auf eine finanziell plätze. Es ist gut, wenn die Menschen miterleben, daß stabile Basis gestellt. auch in Zeiten knapper Kassen und hoher Arbeitslo- Eigentlich hätten jetzt die Damen und Herren der sigkeit die Infrastruktur auf zukünftige Anforderun- SPD applaudieren müssen. Sie waren es doch, die in gen vorbereitet wird. Und es ist absolut richtig — je- der Vergangenheit immer direkte Einkommenshilfen denfalls sieht das meine Fraktion so —, wenn mit den gefordert haben. Aber auch in diesem Punkt enttäu- Mitteln, die wir haben, vorrangig in den neuen schen sie, denn offensichtlich haben sie ihre ursprüng- Bundesländern gebaut wird. lichen Konzepte über Bord geworden. Wie sonst ist es Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14935

Bundesminister Jochen Borchert zu verstehen, daß die SPD gefordert hat, die Gasöl- Auch ich frage Sie, meine Damen und Herren von Beihilfe sollte gestrichen, der Abbau des soziostruktu- der SPD: Wo sehen Sie ein Geschenk, wenn die rellen Ausgleichs erforderlichen Mittel durch Umschichtungen im (Horst Sielaff [SPD]: Können Sie sagen, wo Agrarhaushalt bereitgestellt werden? Wollen Sie nicht wir das so gefordert haben?) zur Kenntnis nehmen, daß in anderen Bereichen, auch im Agrarhaushalt, erhebliche Einsparungen vorge- solle beschleunigt und auf die Agrarsozialreform solle nommen wurden? Und wie vertragen sich Ihre Forde- verzichtet werden? rungen mit der Notwendigkeit einer sozialen Flankie- (Horst Sielaff [SPD]: Auch Unsinn!) rung des Strukturwandels? — Dann sollten Sie sich mit einigen Äußerungen Ihrer Meine Damen und Herren, in dieser schwierigen Fraktion auseinandersetzen. Nehmen Sie etwa die Zeit, in der die EG-Agrarreform und der Abschluß der Presseerklärung von Frau Matthäus-Maier einmal zur GATT-Verhandlungen von unserer Landwirtschaft Kenntnis, von der ein Landesminister der SPD gesagt erhebliche Anpassungen verlangen, können wir aber hat, sie, die Kollegin Matthäus-Maier, könne bei ihrer auch keine zusätzlichen Belastungen im Währungs- relativ kurzen SPD-Zugehörigkeit noch gar nicht alle - bereich verkraften. Die Finanzminister und Noten- sozialdemokratischen Grundpositionen nachgelesen bankchefs haben Anfang August die Bandbreite für haben. Diesem Kommentar habe ich wenig hinzuzu- Währungsschwankungen im europäischen Wäh- fügen. rungssystem erweitert. Damit sollte den Währungs- spekulationen der Boden entzogen werden. Dies hat Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Minister, nach unserer Auffassung nichts, aber auch gar nichts gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Sie- mit agrarmonetären Regelungen zu tun. laff? (Beifall bei der CDU/CSU) Niemand hatte die Absicht, irgend etwas in diesem Bundesminister für Ernährung, Jochen Borchert, Bereich der agrarmonetären Regelungen zu verän- Landwirtschaft und Forsten: Aber gern. dern. Deshalb haben ja auch die Finanzminister beschlossen: Die Bandbreite wird erweitert, aber alle Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte, Kollege Sie- anderen Regelungen des europäischen Währungssy- laff . stems bleiben bestehen, gelten weiter. (Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein Horst Sielaff (SPD): Herr Minister, wären Sie bereit, [CDU/CSU]: Switch-over!) zur Kenntnis zu nehmen, daß in der letzten Agrarde- batte hier Frau Matthäus-Maier eindeutig das, was Sie Wir sind deshalb in dieser Frage massiv bei der hier behaupten, widerlegt hat? Und sind Sie bereit, Kommission und den Ratsrepräsentanten vorstellig Ihre Aussagen zu korrigieren? geworden, um sicherzustellen, daß negative Auswir- kungen auf die Agrarpreise vermieden werden.

Jochen Borchert, Bundesminister für Ernährung, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Landwirtschaft und Forsten: Sie kennen wie ich die Wir haben eine Fortsetzung der bisherigen Switch- Presseerklärung von Frau Matthäus-Maier nach dem over-Regelungen verlangt und gefordert, daß, so- Beschluß des Kabinetts zur Agrarsozialreform, in der lange hierüber nicht entschieden ist, keine Änderun- sie das von mir eben Gesagte gefordert hat, und Sie gen der deutschen landwirtschaftlichen Umrech- kennen genauso die Äußerungen von Frau Matthäus nungskurse erfolgen dürfen, d. h. Aufwertungen nicht Maier im Pressedienst Ihrer Partei zur Verabschie- zu einer Veränderung der grünen Leitkurse und damit dung des Haushalts. zu Preissenkungen bei den Interventionspreisen füh- Aber, Herr Kollege, es ist nicht neu: Die Politik der ren dürfen. SPD wirft auch in diesem Fall mehr Fragen auf, als sie Antworten gibt. Daran ändert auch die Forderung der (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Sehr gut!) SPD nichts, Bundesmittel bei den direkt einkommens- Ich habe dies in einem Schreiben zusammen mit dem wirksamen Maßnahmen einzusparen und für die Finanzminister, dem Kollegen Waigel, dem Präsiden- Gemeinschaftsaufgabe zu verwenden. Ich sage Ihnen ten der EG-Kommission noch einmal vorgetragen. klipp und klar: Dies wird mit mir nicht geschehen. Ich Auch der Bundeskanzler hat sich in dieser Frage bin nicht bereit, die Mehrzahl unserer Bauern von den dringend erforderlichen Einkommenshilfen auszu- engagiert und in einem Schreiben dem Präsidenten der EG-Kommission noch einmal unsere Position schließen. deutlich gemacht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der F.D.P.) Ich selbst habe in Brüssel mit dem Präsidenten des Agrarrates und dem Agrarkommissar Steichen, aber Meine sehr geehrten Damen und Herren, aus vielen auch mit den Ministerkollegen der anderen europäi- Gesprächen weiß ich, daß unsere Bäuerinnen und schen Länder gesprochen, um unserer Forderung Bauern Verständnis dafür haben, daß wir uns ange- Nachdruck zu verleihen. Ich habe dabei auch Ver- sichts des Sparzwangs bei der Agrarsozialreform auf ständnis für unsere Positionen gefunden. Ich meine, das Notwendige beschränkt haben. Kein Verständnis ein erster Teilerfolg ist bereits zu vermelden. aber haben sie, glaube ich, wenn von der SPD diese Reform als Milliardengeschenk an die Landwirte Unabhängig von der Währungsentwicklung soll es kritisiert wird. nach der Entscheidung der EG-Kommission von 14936 Deutscher Bundestag — 12. Wahlpe riode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Bundesminister Jochen Borche rt gestern bis Ende September keine aufwertungsbe- neu gesetzt werden. Die Bundesrepublik dingten Preissenkungen geben. Deutschland leidet nicht nur an den Folgen der Damit ist praktisch die Währungsuhr angehalten, weltweiten Rezession, sondern auch an struktu- und wir haben jetzt die Chance, weitere Beschlüsse rellen Verwerfungen. Jetzt müßten die Ansprü- durchzusetzen. Denn dies ist sicher erst ein erster che an den Staat verringert und andere Akzente Schritt, aber dieser erste Schritt reicht ganz und gar gesetzt werden. nicht. Wir brauchen eine Lösung, die auch langfristig So der Bundeskanzler am 3. September dieses Jah- aufwertungsbedingte Preissenkungen zu Lasten der res. Bauern verhindert. Alles andere verschiebt lediglich das Problem. (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist richtig!) (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) Der neue Agrarminister reist unermüdlich landauf, Um es unmißverständlich zu wiederholen: Wir brau- landab und verkündet den künftigen Weg der Agrar- chen eine langfristige Lösung im Interesse unserer politik. Bauern und Bäuerinnen. Deswegen müssen wir eine (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das ist doch - Fortsetzung der Switch-over-Regelung durchsetzen, seine Aufgabe!) weil nur so an dem Grundsatz festgehalten werden kann, daß negative Preisveränderungen, Preissen- Auch dort werden bestimmte Vokabeln ganz groß kungen auf Grund von Aufwertungen für die betrof- geschrieben: Deutschland braucht eine leistungsfä- fenen Bauern vermieden werden. hige Land- und Ernährungswirtschaft. Der Agrarsek- Ich bitte Sie, unterstützen Sie unsere Politik, tragen tor ist Teil der Gesamtwirtschaft. Sie mit dazu bei, daß das Vertrauen unserer Bäuerin- (Zuruf von der F.D.P.: Was ist daran nen und Bauern in die Politik und im Bereich der falsch?) Währungspolitik auch in die weitere europäische Politik und in den weiteren Weg der europäischen Er unterliegt auch Anpassungszwängen wie die Einigung gestärkt wird. Es liegt bei den Haushaltsbe- übrige Wirtschaft. Zentrales Anliegen der neuen Lei- ratungen in unserer Hand, in der Hand des Parla- tung der obersten Bundesbehörde für die Landwirt- ments, den Agrarstandort auch im Rahmen des euro- schaft ist, eine leistungs- und wettbewerbsfähige, päischen Wettbewerbs zu sichern. marktorientierte und umweltverträgliche Landwirt- schaft zu erreichen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Clemens Schwalbe [CDU/CSU]: Alles rich tig! Stimmt alles ganz genau! — Zuruf von der F.D.P.: Sehr richtig!) Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Horst Das ist die Theorie; das sind Sprechblasen. Der Sielaff das Wort. Haushaltsentwurf 1994 und die mittelfristige Finanz- planung geben uns Gelegenheit, zu prüfen, was hinter Herrn Minister Borcherts so wohlklingenden Worten Horst Sielaff (SPD): Herr Präsident! Meine Damen denn nun steckt. und Herren! Herr Borchert, es ist schade, daß Sie hier offensichtlich keine Zusammenarbeit auf dem schwie- (Ina Albowitz [F.D.P.]: Wir! — Heiterkeit bei rigen Feld der Agrarpolitik wollen. Sie suchen offen- der F.D.P. und der CDU/CSU) sichtlich die Konfrontation. — Hoffentlich! Auf die F.D.P. und die A rt, wie sie (Widerspruch bei der CDU/CSU) dahintersteht, komme ich noch am Schluß zu spre- chen. Und Sie sind nicht bereit, das, was wiederholt richtig- gestellt worden ist, hier zur Kenntnis zu nehmen. Sie Nach der Finanzplanung der Bundesregierung wissen ganz genau, daß das zu Lasten der Bauern und sollte der Agrarhaushalt 1994 eigentlich steigen. Bäuerinnen geht. Davon ist die Bundesregierung nun abgerückt. Durch (Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein den Preisverfall bei den Agrarprodukten haben die [CDU/CSU]: Er hat ja nicht dich zitiert, son landwirtschaftlichen Bet riebe weiterhin finanzielle dern Matthäus-Maier, lieber Horst!) Einbußen zu verkraften. Die Situation wird für die landwirtschaftlichen Bet riebe immer unübersichtli- Wir haben deutlich die Position der SPD hier im cher und schwieriger. Deutschen Bundestag erklärt, und dies ist vom Land- wirtschaftsminister nicht zur Kenntnis genommen Der Haushalt für 1994 gibt auf einige Fragen — ich worden. Er hat vermutlich diese Erklärung überhaupt sage: erstaunlicherweise — eindeutig Antwort. Tatsa- nicht mehr mitbekommen, obwohl er anwesend che ist zunächst, daß die Bundesregierung zuerst die war. Mittel kürzt, die mit der Gemeinschaftsaufgabe Ver- (Beifall bei der SPD) besserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes bereitgestellt werden, Mittel, die dazu beitragen sol- Meine Damen und Herren, der Agrarminister hat len, daß unsere landwirtschaftlichen Bet riebe lei- auch vom Wirtschaftsstandort Deutschland gespro- stungs- und wettbewerbsfähig werden und markt- chen. In der Tat: orientiert und umweltverträglich handeln können. Es Das wichtigste Thema der nächsten Jahre ist der sind aber auch Mittel, die die Funktionsfähigkeit Wirtschaftsstando rt Deutschland. Langjährige unserer Dörfer und des ländlichen Raumes insgesamt Gewohnheiten müßten überprüft und Prioritäten verbessern und sichern sollen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14937

Horst Sielaff Ergebnis der Politik der Bundesregierung ist, daß Landwirtschaft und zur Entwicklung ländlicher Baden-Württemberg, Ihrem Land, lieber Herr Hor- Räume einzusetzen. nung, und Bayern praktisch keine nennenswerten (Beifall bei der SPD) Kassenmittel für Neubewilligungen im investiven Bereich mit dem Haushalt 1994 zur Verfügung ste- Wir Sozialdemokraten wollten weg vom Gießkan- hen. nenprinzip und diese Mittel gezielt dort einsetzen, wo sie jetzt dringend benötigt werden. Das haben Sie, (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Und in meine Damen und Herren, von der Regierungskoali- Rheinland-Pfalz?) tion mit Ihrer Mehrheit im Deutschen Bundestag verhindert und damit zu verantworten. Die Quittung — Nicht so dramatisch wie in den beiden genannten dafür bekommen jetzt in erster Linie die jungen Ländern. — Diese beiden Länder müssen es den Landwirte und die entwicklungsfähigen Betriebe. Landwirten selbst überlassen, den Anschluß an die Mehr als die Hälfte des Agraretats, 7,2 Milliarden Konkurrenz im EG-Binnenmarkt zu finden. Bis zu DM, wird für die landwirtschaftliche Sozialpolitik zwei Jahre müssen die Landwirte do rt schon jetzt aufgewendet. In der mittelfristigen Finanzplanung warten, bis ihr Antrag auf einzelbetriebliche- Förde- sind zudem erhebliche Mittelaufstockungen vorgese- rung bewilligt werden kann. Da reden Sie davon, daß hen, leistungsfähige und wettbewerbsfähige Betriebe ent- wickelt werden sollen. Bei diesen Fakten helfen alle (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Tolle Lei schönen Worte nicht weiter. Ich habe Verständnis stung!) dafür, daß sich die Landwirte von der Bundesregie- und zwar ab 1995 für die sogenannte Agrarsozialre- rung verschaukelt fühlen. form. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Hervorra (Zuruf von der SPD: Sehr vornehm gespro gend!) chen!) Ich will hier noch einmal unsere Position klarma- Auch die ursprünglich vorgesehenen Mittel zur chen: Was ich Ihnen vorwerfe ist, daß Sie, meine Flankierung der einschneidenden EG-Agrarreform Damen und Herren von der Regierungskoalition, bei stehen mit diesem Haushalt nicht mehr zur Verfü- der geplanten, rückwirkenden Einbeziehung der gung. Dabei handelt es sich um wichtige Maßnahmen, Bäuerinnen in eine eigenständige Alterssicherung mit die die Extensivierung der landwirtschaftlichen Pro- gezinkten Karten spielen. duktion insgesamt fördern sollen, um gleichzeitig einen Beitrag zur Marktentlastung und zur umweltge- rechten Wirtschaftsweise leisten zu können. Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Sielaff, gestat- ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kalb? Dieser unverzichtbare Teil der Agrarreform, der zu einer flächendeckenden Landbewirtschaftung beitra- gen und die unsinnige Flächenzurückstellung zurück- drängen soll, wird nur durch erhebliche Umschichtun- Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Herr Kollege Sie- gen im Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe zu laff, darf ich Sie fragen: Gibt es bei Ihnen gelegentlich bewerkstelligen sein. Zu befürchten ist, daß diese auch eine gemeinsame Besprechung der Agrarspre- wichtigen flankierenden Maßnahmen doch nur eine cher der SPD-Landtagsfraktionen mit Ihnen? Von kleine, unzureichende Randerscheinung bleiben. diesen höre ich immer genau das Gegenteil von dem, was Sie gerade vorgetragen haben. Einzelne Bundesländer werden, so jedenfalls die (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Und in der Aussage der Bundesregierung, darüber hinaus die Bundestagsfraktion ist es genauso!) Ausgleichszulage für landwirtschaftliche Betriebe in benachteiligten Gebieten 1994 kürzen müssen. Die Bundesregierung weist darauf hin, daß die Länder nur (SPD): Mein lieber Herr Kollege, ich so einen ausreichenden Verfügungsspielraum für Horst Sielaff weiß nicht, welche Hörlöcher Sie haben und wo Sie Neubewilligungen bei Investitionen erhalten können. was hören. Nur, das, was ich sage, ist einmütige Die Bundesregierung überläßt damit also erforderli- Meinung, auch bei allen Resolutionen, die beispiels- che Kürzungen bei direkten Einkommensübertragun- weise die Bundestagsfraktion mit den Fraktionen der gen anderen und betont gleichzeitig, daß für sie so Länder gemeinsam abgestimmt hat. Sie sind leider etwas nicht in Frage kommt. Sie ist nicht in der Lage, wieder einmal, Herr Kalb, falsch informiert. angesichts geänderter Rahmenbedingungen neue Prioritäten, neue Akzente in praktische Agrarpolitik Meine Damen und Herren, Sie haben in der Regie- umzusetzen. Das sind die Fakten. rung bewußt langfristige Betrachtungen bzw. Berech- nungen über die Auswirkungen Ihrer Planungen nicht Das gilt in besonderer Weise auch für den sozio- vorgelegt. Sie wissen genau wie wir, daß Sie mit der strukturellen Einkommensausgleich. Die Bundesre- vorgeschlagenen Regelung das System der landwirt- gierung und die Regierungsparteien hatten Gelegen- schaftlichen Alterssicherung nach der Jahrtausend- heit, angesichts der neuen Rahmenbedingungen und wende, also bereits in etwa sechs Jahren, sprengen knapper werdender Fördermittel zusammen mit uns werden. Die aktiven, im EG-Binnenmarkt hoffentlich die noch verfügbaren Mittel gezielt für Investitionen wettbewerbsfähigen Betriebe werden dann mit enor- zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der men Beiträgen belastet, oder sie setzen stillschwei- Betriebe, zur Förderung einer umweltschonenden gend darauf, daß Steuermittel in unbegrenzter Höhe 14938 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Horst Sielaff für die landwirtschaftliche Sozialpolitik bereitgestellt Wenn Sie genau hinhören, was Herr Funke sagt, werden. dann ist das auch für uns wünschenswert, wenn wir (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das ist Ihre die Mittel haben. Aber Sie können nicht auf der einen Auffassung!) Seite Mittel im sozialen Bereich rapide kürzen und hier etwas draufsatteln wollen, wenn Sie in allen Sie, meine Damen und Herren, betreiben damit anderen wichtigen Bereichen Kürzungen vornehmen. falsch verstandene Einkommenspolitik, zumal wenn Dies geht nicht. Aus dem Grunde muß die soziale man Ihre Vorschläge für die Bezuschussung der Komponente hier berücksichtigt werden. Alterskassenbeiträge nimmt, wonach landwirtschaft- liche Betriebe mit einem Einkommen bis zu (Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein 80 000 DM im Jahr Geld aus dem Bundeshaushalt [CDU/CSU]: Das war ein Salto mortale, lie erhalten sollen, um den Einheitsbetrag von 291 DM im ber Herr Kollege!) Monat weiter abgesenkt zu bekommen. Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Falsch!) Sielaff, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Wo bleibt da die soziale Symmetrie, vor allem auch vor Kollegen Wimmer? — Bitte, Herr Kollege Wimmer. dem Hintergrund der von Ihnen im außerlandwirt-- schaftlichen Bereich vorgesehenen Streichungen bei Hermann Wimmer (Neuötting) (SPD): Herr Kollege den einkommensschwachen, -schwächsten Familien Sielaff, wären Sie bereit, dem Kollegen von der F.D.P. unserer Gesellschaft? mitzuteilen, daß der Finanzausschuß des Bundesrates Es wäre interessant, zu diesem Punkt einmal Herrn diesen Vorschlag bereits mit 7 : 2 Stimmen abgelehnt Blüm zu hören, der ja enorme Einschnitte im beste- hat? henden sozialen Netz vornehmen muß. Horst Sielaff (SPD): Ich vermute, lieber Herr Kol- lege, daß Herr Bredehorn nicht weiß, wie es im Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Bundesrat zugeht, da die F.D.P. do rt ja in der Regel Sielaff, gestatten Sie noch eine Frage des Kollegen nicht beteiligt und er auch nicht so informiert ist. Bredehorn? Insofern freut er sich sicherlich über Ihre Aufklä- rung. Horst Sielaff (SPD): Herrn Bredehorn gern. (Beifall bei der SPD)

Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Günther Bredehorn (F.D.P.): Schönen Dank, Herr Kollege Sielaff. Herren, Dreiecksfragen sind natürlich an sich nicht zulässig, aber dies diente vielleicht der Aufklärung. — Ich bin etwas überrascht, daß Sie hier doch so Bitte, Herr Kollege. kritisch die Agrarsozialpolitik und den Entwurf, der vorgelegt worden ist, sehen. Wie steht denn das im Horst Sielaff (SPD): Meine Damen und Herren, es ist Einklang mit den Kollegen in den Ländern und in der ja auch bekannt, daß einige Kollegen von der F.D.P. Bundestagsfraktion? Der niedersächsische Landwirt- — insbesondere Herr Heinrich, der heute, glaube ich, schaftsminister, Karl-Heinz Funke, SPD, leider nicht hier ist — (Ernst Kastning [SPD]: Er ist bei der Frak (Ernst Kastning [SPD]: Und große Bauch tionssitzung nicht dabei! — Heiterkeit und schmerzen hat!) Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) die einkommenspolitische und nicht zuerst die sozial- schreibt hier im Landwirtschaftsblatt „Weser-Ems" politische Komponente der Agrarsozialpolitik trotz — ich darf zitieren —: bestehender Anpassungsprobleme in der Landwirt- Grundsätzlich als gut bezeichne ich auch den schaft und im Haushalt hochhalten, wenn auch der Kern des Regierungsentwurfs des Agrarsozial- agrarpolitische Sprecher — also Sie, lieber Herr Bre- programms. dehorn — am 21. Mai betont hat, daß sowohl eine gezielte investive Förderung zur Schaffung wettbe- (Zuruf von der CDU/CSU: Der Mann hat Ahnung!) werbsfähiger Betriebe als auch eine verantwortungs- volle Agrarsozialreform — meine Herren und Damen Er sagt zum Schluß: von der CDU/CSU, hören Sie gut zu — ohne zusätzli- Die Zuversicht von Bundeslandwirtschaftsmini- che Finanzmittel möglich sind, wenn diese Mittel ster Borchert in bezug auf Zustimmung des Bun- sinnvoll eingesetzt werden. desrates scheint begründet. (Lisa Peters [F.D.P.]: So ist es!) Das ist auch mit uns machbar, und damit liegen Sie Horst Sielaff (SPD): Lieber Herr Kollege, wir sind ja doch wohl mehr auf unserer Linie als auf der Linie der froh, daß in der Tat der Kern endlich einmal auf den CDU/CSU, die hier draufsatteln wi ll . Weg gebracht wurde. (Lachen bei der CDU/CSU) Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Sie- laff, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kolle- Sie wissen genau, daß wir in der Sache bei Opposition gen Bredehorn? — Bitte sehr, Herr Kollege Brede- und Regierungskoalition sehr unterschiedliche Mei- horn. nungen haben. (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Das war Günther Bredehorn (F.D.P.): Wir haben das vorhin ja eine Pirouette!) in dem Dreiecksgespräch gemacht, lieber Herr Kol- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14939

Günther Bredehorn lege. — Ich sage Ihnen ganz deutlich: Sozialpolitik, trotz der gestrigen Sitzung sind wir nicht davon Agrarsozialpolitik darf keine Einkommenspolitik sein. überzeugt, daß dieses Problem überhaupt frühzeitig Das muß man sehr gut auseinanderhalten. Das müs- gesehen worden ist. sen Sie etwas klarer sehen. (Zuruf von der F.D.P.: Das stimmt doch nicht! (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) — Zuruf von der CDU/CSU: Das ist falsch, und Sie wissen es!) Ich stelle fest: Durch das Verhalten der Bundesre- Horst Sielaff (SPD): Lieber Herr Kollege Bredehorn, gierung bei der entscheidenden Sitzung in Brüssel ist ich würde darum bitten, daß Sie das dem abwesenden die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Landwirt- Herrn Heinrich deutlich ins Stammbuch schreiben, auch einigen anderen Kollegen Ihrer Fraktion. Dafür schaft aufs schwerste gefährdet. Um die Panne auszu- bügeln, muß die Bundesregierung dafür sorgen, daß wäre ich dankbar. erstens in Deutschland keine Preissenkungen für (Zuruf von der F.D.P.: Er weiß das!) Marktordnungsprodukte erfolgen und zweitens die Natürlich brauchen wir eine wirkungsvolle Agrar- immensen Anhebungen bei den Preisen der Markt- sozialpolitik. Wir brauchen aber eine Reform — ich ordnungsprodukte und den Ausgleichszahlungen aus sage es noch einmal —, die sozial gerecht und solide der EG-Agrarreform in Abwertungsländern abge- finanziert ist. schöpft werden. In der Gemeinschaft muß wieder ein vernünftiges Gleichgewicht hinsichtlich der Wettbe- Ihr Gesetzentwurf dazu, meine Damen und Herren, werbsfähigkeit hergestellt werden. und die Haushaltsplanung dafür werden dem nicht gerecht. Wir sind davon überzeugt, daß die seit Jahren (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Da kann ich und auch jetzt noch überfällige Agrarsozialreform mit Ihnen ein Beispiel aus den 70er Jahren den vorhandenen Bundesmitteln zu realisieren ist, sagen: 30 % Preissenkung!) und darin sind wir uns offensichtlich einig, Herr Bei den Bredehorn. förderungsfähigen Basisflächen — meine Damen und Herren, ich komme auf die neuen Länder Würden Sie unseren Vorstellungen folgen können zu sprechen — gibt es in den neuen Ländern erhebli- oder wären Sie ihnen gefolgt, könnten wir eine sozial che Probleme. Wegen Überschreitung dieser Basisflä- gerechte Agrarsozialreform sehr schnell gemeinsam chen drohen jetzt zusätzliche Flächenstillegungen, verwirklichen. allerdings ohne Ausgleichszahlungen. Ich hätte mir Die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der gewünscht, daß sich hier die Agrarpolitiker mit glei- Agrarstruktur und des Küstenschutzes" und die cher Vehemenz für unsere Freunde in den neuen Agrarsozialpolitik machen rund 75 % der Mittel des Bundesländern engagieren, wie das vorhin in der Agrarhaushaltes des Bundes aus. Die Mittel für beide Verkehrspolitik geschehen ist. Das ist leider nicht der Politikbereiche sind, wie ich gezeigt habe, nicht Fall. zielorientiert eingesetzt. Mit diesem Haushaltsplan (Zuruf von der CDU/CSU: Haben wir! Herr kann ein künftiger oder ein neuer Weg der Agrarpo- Sielaff, das haben wir!) litik nicht beschritten werden. (Zuruf des Abg. Egon Susset [CDU/CSU]) Sollte das, was geplant ist, Wirklichkeit werden, müssen neben den Einkommensverlusten von den — Lieber Herr Susset, wissen Sie, der Agrarminister ist wenigen verbliebenen Arbeitsplätzen im ländlichen zu bedauern. Er ist ja auch hilflos. Um weiterzukom- Raum zusätzliche abgebaut werden. Gerade in den men, erstellt er große Fragenkataloge an die Landes- stark agrarisch und gesamtwirtschaftlich schwach minister, damit er daraus ersehen kann, wie er denn strukturierten neuen Ländern, die schon jetzt die diesen neuen Weg vielleicht aufzeigen kann. Hauptlast der Flächenstillegungen in der EG und in (Egon Susset [CDU/CSU]: Und Sie sollten Deutschland tragen, drohen Verödung und große antworten!) soziale Spannungen. Auch das ist interessant. Ich hoffe, Sie kennen den Das Konzept der Bundesregierung, über Mengen- Fragenkatalog. steuerung mit Hilfe von planwirtschaftlichen Elemen- (Egon Susset [CDU/CSU]: Wir wären auf ten die Ordnung der Märkte herzustellen, droht auch Ihren Weg gespannt! — Gudrun Weyel vor dem Hintergrund ganz anderer Interessen der [SPD]: Wir legen doch den Haushalt nicht Franzosen zu scheitern. vor!) Meine Damen und Herren, beim GATT weiß in der Die Politik der Bundesregierung ist, vorsichtig aus- Regierung offensichtlich der eine nicht vom anderen. gedrückt, auch in anderen Bereichen zum Leidwesen Während die Minister Rexrodt und Kinkel bezüglich der Menschen auf dem Lande bei uns nicht erfolg- des Blair-House-Abkommens keine Änderung in der reich. Einstellung der Bundesregierung sehen, spricht der Bundeskanzler von enormen Problemen mit diesem (Beifall bei der SPD) Abkommen. Das Durcheinander ist perfekt. Der Unsere Bauern müssen mit weiteren Einkommensver- GATT-Generaldirektor, Peter Sutherland, sieht denn lusten in wichtigen Produktbereichen rechnen, weil auch schon einen erfolgreichen Abschluß der Welt- — worauf ich eingangs bereits hingewiesen habe — handelsgespräche durch die konfuse Position der EG Waigel und Borchert bei der entscheidenden Sitzung und vor allem der Deutschen zum transatlantischen in Brüssel zum Europäischen Währungssystem nicht Agrarabkommen gefährdet. Gesamtwirtschaftlich aufgepaßt haben. Sie haben einiges verschlafen, und können wir uns so etwas, wie wir alle wissen, wirklich 14940 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Horst Sielaff nicht leisten. So jedenfalls ist der Standort Deutsch- Diese Grundsätze des Ministers sollen aber nicht land nicht zu retten. wie Transparente an der Hausfassade flattern. Auch die Inneneinrichtung muß dem entspre- In den neuen Ländern hat die CDU den Landwirten chen. für verlorengegangene Inventarbeiträge großzügig Ausgleichszahlungen versprochen, die mit dem Haus- Heute stelle ich fest: Mit dem Entwurf des Agrar- halt 1994 wiederum sang- und klanglos einkassiert etats 1994 und der mittelfristigen Finanzplanung werden. reagiert die Bundesregierung in keiner Weise auf die geänderten Rahmenbedingungen, weder in bezug Die Altschuldenregelung ist nach wie vor unzurei- auf die Gesamtwirtschaft noch in bezug auf den chend. Der Kanzler verspricht im Juli diesen Jahres in Agrarbereich, und die Hilflosigkeit des Agrarmini- Mecklenburg-Vorpommern eine Überprüfung. Auf sters war bei seinem Beitrag ja durchaus hörbar. unsere Nachfrage hin entpuppt sich jedoch auch das als Seifenblase. (Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein [CDU/CSU]: Dann hast du den Einzelplan 10 (Zurufe von der CDU/CSU) nicht gelesen!) Investitionen zur Schaffung wettbewerbsfähiger Die Privatisierung der bisherigen sogenannten- volkseigenen landwirtschaftlichen Flächen geht Strukturen werden gekürzt, Gießkannenförderungen schleppend und ungerecht vor sich. Bisher sind nach werden beibehalten oder gar ausgeweitet. Die hehren wie vor nur wenige Flächen langfristig verpachtet. Die Grundsätze der Bundesregierung und des Fachmini- Landwirte in den neuen Ländern können so weder sters flattern als Transparente an der Hausfassade, die langfristig planen, noch erhalten sie die lebensnot- Inneneinrichtung „Haushalt 1994" entspricht nicht wendigen Kredite. den Erfordernissen unserer Landwirtschaft und der Menschen im ländlichen Raum. Wir bedauern das und (Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein bedauern auch, daß der Minister nach dieser Rede [CDU/CSU]: Aber das Problem liegt in Bran offensichtlich nicht bereit ist, mit uns gemeinsam die denburg, Herr Sielaff!) Situation im ländlichen Raum zu verbessern. Die Bevorzugung von Alteigentümern vor einheimi- Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren. schen Landwirten bei der Landvergabe, obwohl der (Beifall bei der SPD) Einigungsvertrag und das Karlsruher Urteil das Gegenteil festgeschrieben haben, wächst sich lang- Meine Damen und sam immer mehr zu einem Skandal aus. Vizepräsident Helmuth Becker: Herren, als nächster hat unser Kollege Siegried Hor- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das stimmt nung das Wort. doch gar nicht!) Die Demonstrationen der Bauern in Schwerin, Neu- Siegfried Hornung (CDU/CSU): Herr Präsident! brandenburg und Rostock in der letzten Woche und Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Agrar- jetzt auch in Brandenburg machen das deutlich. haushalt 1994 steht — wie sollte es anders sein — im Zeichen der notwendigen Sparmaßnahmen. Die Teile der CDU/CSU wollen dies der Treuhandan- Landwirtschaft ist aber bereit, ihren Beitrag zur stalt und der Bodenverwertungs- und -verwaltungs Bewältigung der großen Herausforderungen zu lei- GmbH in die Schuhe schieben. Sie schlagen damit den sten. Dies geht in der Tat über die 3,2 % bzw. Sack und nicht den Esel. Der aber sitzt in Bonn, der 450 Millionen DM Einsparungen im Haushaltsentwurf alles Unheil im sogenannten Bohl-Papier — benannt hinaus. Ich nenne nur beispielhaft die Plafondierung nach dem Chef des Bundeskanzleramtes und Bundes- der Gasölbeihilfe im Rahmen der Mineralölsteuer- ministers für besondere Aufgaben, — erhöhung. Zusätzlich bergen die Entwicklungen im festgelegt hat. Solange hier keine Änderung eintritt, EWS Einkommensrisiken für die deutschen Betriebe. kann die BVVG nicht anders handeln. Der Unmut bei Knapper werdende Finanzmittel müssen deshalb effi- weiten Teilen einheimischer Landwirte in den neuen zient für eine zukunftsweisende Agrarpolitik zum Ländern bleibt bestehen. Aufbau leistungsfähiger Betriebe — ob im Zu-, Wir warten jetzt seit fast drei Monaten auf die Neben- oder Vollerwerbsbetrieb — eingesetzt wer- Beantwortung unserer Anfrage bezüglich der Privati- den. sierung bisheriger volkseigener Fläche vom 17. Juni Ganz besonders möchte ich die Haushaltsdebatte 1993. Es ist verständlich, daß Sie diese offensichtli- benutzen, um die großen Leistungen der Bundesre- chen Schwachstellen Ihrer Politik, Herr Borchert, in gierung im Anpassungsprozeß der Landwirtschaft in diesem Bereich nicht offenlegen wollen. Wir können den neuen Bundesländern herauszustellen. einen so langen Abstimmungsprozeß nur so deuten, (Beifall bei der CDU/CSU — Horst Sielaff daß bei Ihnen keine Klarheit über die Privatisierungs- [SPD]: Ich glaube, Sie gehen nicht in die politik besteht. neuen Länder!) Ich fasse zusammen: Die Politik der Bundesregie- Die rechtliche Überleitung, umfangreiche Maßnah- rung auch im Agrarbereich ist nach wie vor nicht men zur Verbesserung der Agrarstruktur, zur finan- zukunftsweisend. Sie dient nicht den Menschen auf ziellen Stabilisierung und zur sozialen Flankierung dem Lande. Sie stellt keine Perspektive für die haben gegriffen. Die Bilanz schon nach drei Jahren Zukunft dar. Ich habe bei der Agrardebatte am deutscher Einheit ist durchweg positiv. Die Umstruk- 23. Juni dieses Jahres den Agrarsprecher der F.D.P., turierung des Landwirtschaftssektors ist weiter voran- Herrn Bredehorn, zitiert. Er hatte bei der Vorstellung geschritten als in anderen Bereichen unserer Wi rt des „neuen Weges" von Minister Borche rt gesagt: -schaft. Dieser Prozeß ist seit 1990 auch mit 14 Milliar- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14941

Siegfried Hornung den DM aus dem Agrarhaushalt massiv gefördert Die vordergründige Kritik an dieser Reform ist schnell worden. entlarvt, wenn man sieht, was geleistet werden muß. Die Neuausrichtung der Förderpolitik, Herr Sielaff, Das Verhältnis von Beitragszahlern zu Leistungsemp- wird nun auch den Strukturwandel im Westen ganz fängern hat sich in den 35 Jahren seit Einführung der besonders unterstützen. Für diese Leistung bin ich Altershilfe absolut umgekehrt. 1960 kam auf 2,4 und Jochen Borche rt, die gerade in Beitragszahler ein Leistungsempfänger, 1992 kam auf diesem Bereich soviel Mut gezeigt haben, dankbar. 0,8 Beitragszahler ein Leistungsempfänger. Mit dem Dies hat erheblich zum sozialen Frieden in unserem Gesetzentwurf zur Reform der agrarsozialen Siche- Land beigetragen. rungssysteme wollen wir deshalb eine überzeugende Antwort über das Jahr 2000 hinaus geben und dabei (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) trotzdem die Beiträge, gemessen am Einkommen, Ich möchte mich auf zwei Bereiche besonders kon- tragbar gestalten. zentrieren. Der größte Posten im Haushalt sind auch in diesem Jahr wieder die Ausgaben für die Sozialpolitik (Horst Sielaff [SPD]: Dann werden wir an mit über 7,2 Milliarden DM. Die soziale Absicherung Ihrer Erblast tragen!) in der Landwirtschaft ist und bleibt ein wichtiges Ziel Außerdem werden wir mit der Agrarsozialreform der Bundesregierung. Trotz der scharfen Kritik von die längst überfällige eigenständige soziale Siche- seiten der Opposition haben wir die Agrarsozialre- rung der Bäuerinnen bewirken. Alle Vorwürfe, daß form eingeleitet, die das eigenständige System der dies ein ungerechtfertigtes Geschenk an die Land- landwirtschaftlichen Sozialpolitik stabilisiert und zu- wirtschaft sei, gehen ins Leere. Die Landfrauen haben kunftsfähig macht. Die Agrarsozialpolitik ist einer der für die Alterssicherung entgegen anderslautender wenigen Bereiche, die wir noch national selbst Darstellung einen eigenen Beitrag zu erbringen. bestimmen können. Allerdings — dazu stehen wir von der CDU/CSU — ist es mehr als gerecht, wenn auch diejenigen Bäuerin- Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Hor- nen einbezogen werden, die auf Grund ihres fortge- nung, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen schrittenen Lebensalters durch eigene Beiträge nur Sielaff? — Bitte, Kollege Sielaff. noch geringe Anwartschaften aufbauen können. Dies gilt um so mehr, als — anders kann man es sich gar nicht vorstellen — die Erwerbsunfähigkeits- sowie die Horst Sielaff (SPD): Herr Kollege Hornung, wären Witwen- und Waisenrente mit einbezogen werden. Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß wir als Insgesamt gesehen wird aber in der bäuerlichen Sozialdemokraten mindestens schon seit sechs, sieben Alterssicherung der — das ist heute schon richtig Jahren die Agrarsozialreform fordern, aber wollen, angesprochen worden — sogenannte Strukturfaktor daß sie sozial gerecht gestaltet wird? eine besonders wichtige Funktion einnehmen. (Zuruf von der CDU/CSU: Wollen wir auch!) Es ist hier auch nicht angebracht, einen Keil zwi- schen die neuen und alten Bundesländer zu treiben, da im Osten die Bäuerinnen zumindest bislang schon Siegfried Hornung (CDU/CSU): Herr Kollege Sie- über die Rentenversicherung abgesichert sind. Außer- laff, leider fordern Sie immer sehr viel. Aber wenn es dem ist es auch nicht so, daß die Rentenleistungen an darin ans Umsetzen geht, dann machen Sie nicht mit. die Landfrau zusätzlich zu den bisherigen Zahlungen Das ist das Problem. Und noch etwas zu dem, was der erfolgen. Mit der Reform wird ja der bisherige Ehe- Minister vorhin gesagt hat: Herr Dreßler hat hier ganz gattenzuschlag wegfallen. Darüber hinaus darf ich massiv eingegriffen und den Neid innerhalb der daran erinnern, daß die Mittel für die Reform auch Landwirtschaft zwischen Ost und West noch nicht draufgesattelt werden, sondern daß dem der geschürt. Abbau des soziostrukturellen Ausgleichs in Höhe von 1,4 Milliarden DM gegenübersteht. Vizepräsident Helmuth Becker: Gestatten Sie noch Die beiden anderen Säulen der agrarsozialen Siche- eine Zwischenfrage? — Bitte, Herr Kollege Sielaff. rung — die landwirtschaftliche Krankenkasse und die Berufsgenossenschaft— sind unter der CDU/CSU- Horst Sielaff (SPD): Herr Kollege Ho rnung, sind Sie geführten Regierung seit 1982 konsequent ausgebaut bereit, zuzugeben, daß die Bundesregierung mangels und entwickelt worden. Trotz steigenden Finanzbe- Finanzmitteln die Agrarsozialreform auf 1995 ver- darfs durch die Zunahme der Altenteiler halten wir an schieben mußte, die Mittel also nicht ausreichten? der Übernahme der Leistungsaufwendungen für sie in der landwirtschaftlichen Krankenversicherung fest. Siegfried Hornung (CDU/CSU): Wir werden gezielt Das sind 1994 immerhin 2,1 Milliarden DM. die notwendigen Maßnahmen ergreifen — darauf Mit der Einführung der Berufsgenossenschaft auch komme ich noch zu sprechen — und sie sowohl 1994 in den neuen Bundesländern sind im Entwurf des und 1995, wie wir das angekündigt haben, sachge- Haushalts 1994 wieder 615 Millionen DM eingestellt. recht umsetzen. Daß im Osten Deutschlands — wie in vielen anderen Wir sollten, Herr Kollege, deshalb jede Chance Bereichen auch — noch Altlasten zu bewältigen sind, nutzen, auch in schwieriger' wirtschaftlicher Lage will ich hier nicht verschweigen. — das haben viele von Ihnen anscheinend verges- Ich möchte mich noch einem zweiten Themenkom- sen — die Landwirtschaft durch eine ausgewogene plex zuwenden, dem Thema der nachwachsenden Sozialpolitik zu entlasten. Rohstoffe. Zur Förderung von Forschungs-, Entwick- (Horst Sielaff [SPD]: Richtig!) lungs- und Modellvorhaben sowie für Maßnahmen 14942 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Siegfried Hornung der Informationsvermittlung sind 56 Millionen DM Bereich der Agrarsozialpolitik und bei den nachwach- vorgesehen. Hier darf ich vor allen Dingen die Errich- senden Rohstoffen die Weichen gestellt. tung der Fachagentur „Nachwachsende Rohstoffe" Ich danke Ihnen. herausstellen, die übrigens in den neuen Bundeslän- dern installiert werden soll. Mit ihr schaffen wir ein (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) taugliches Instrument zur Koordinierung aller Aktivi- täten aus Wissenschaft, Landwirtschaft und Indust rie. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Von dort erwarte ich mir Initiativen, besonders in Herren, jetzt erhält unsere Frau Kollegin Dr. Sig rid Richtung Praxis. Allerdings reichen die Mittel nicht Hoth das Wort. aus. Wir brauchen günstige Rahmenbedingungen, um endlich aus der Forschungsphase in die praktische Anwendung zu gelangen. Dr. Sigrid Hoth (F.D.P.): Herr Präsident! Liebe Kol- leginnen und Kollegen! In dieser Haushaltsdebatte ri Ganz b sant ist zu diesem Zeitpunkt die Frage, wie prallen die unterschiedlichsten Ansichten über Quali- wir jetzt mit dem Pflanzenöl im Kraftstoffbereich tät und Solidarität des vorgelegten Regierungsent- zurechtkommen. Seit die Agrarreform den Anbau der - wurfs zum Bundeshaushalt noch konträrer als in den nachwachsenden Rohstoffe auf Stillegungsflächen anderen Jahren aufeinander. Während die einen ermöglicht, ist die Verwendung im Markt in greifbare mehr Einsparungen fordern, da die Nettoneuver- Nähe gerückt. Hier gilt es — ähnlich wie in Frank- schuldung immerhin 67,5 Milliarden DM betragen soll reich — zu erreichen, daß die Beimischung zu Mine- und die Gesamtschuld des Bundes damit Ende 1995 ralöl, der biogene Anteil, steuerbefreit bleibt, zumin- sogar 1,5 Millionen DM erreichen wird, die Steuer- dest für eine bestimmte Menge und bis eine EG- und Abgabenquote zur Zeit bei 42 % liegt und 1994 einheitliche Linie gefunden ist. Technisch stehen sogar 44 % erreichen wird, sind für andere das Föde- sowohl dem Einsatz von RME als auch Tessol keine rale Konsolidierungsprogramm, der Nachtragshaus- Hürden entgegen. Die Landwirtschaft geht mit gutem halt und der nunmehr vorliegende Regierungsentwurf Beispiel voran. des Haushalts 1994 ein unzumutbares Sparprogramm Ich spreche auch nicht nur aus agrarpolitischer mit sozialer Schieflage. Sicht, sondern darf explizit noch einmal die Umwelt- Für mich als Bürgerin des Landes Sachsen-Anhalt vorteile, vor allem die CO2-Neutralität, hervorheben. und Mitglied des Haushaltsausschusses ist es insofern Auch haben wir Chancen im energetischen Bereich. schon etwas peinlich und in den weiteren Haushalts- Damit verbundene Steuerausfälle müssen den ver- beratungen sicherlich ausgesprochen hinderlich, am miedenen Umweltfolgekosten gegenübergestellt Montag morgen dieser Woche zu erleben, daß der werden. Ministerpräsident meines Landes, Herr Werner Mönch, christdemokratischer Niedersachse, im Früh- Nahe an der Wirtschaftlichkeit ist die Nutzung von stücksfernsehen das Sparprogramm der Bundesregie- Biomasse zur Wärmegewinnung und Stromerzeu- rung als nicht akzeptabel bezeichnet. gung. Unsere Wälder haben ein Holzpotential von 12 Millionen t, entsprechend 6 Millionen t Steinkohle. (Gerlinde Hämmerle [SPD]: Da sehen Sie Das heißt, wir könnten in diesem Bereich den CO2- mal!) Ausstoß um etwa 3 % verringern. Wir müssen natür- und eine Stunde später in einer bekannten Hambur- lich auch die hohen Investitionskosten sehen. Deshalb ger Zeitschrift zu lesen, daß der gleiche Herr Mönch müssen bei den öffentlichen Haushalten die Kommu- einer der bestbezahlten Ministerpräsidenten nen stärker einsteigen, gerade bei der Installation in Deutschlands mit einem überdurchschnittlich gut Schwimmbädern und dergleichen. bezahlten Kabinett ist und der öffentliche Dienst in Sachsen-Anhalt eine überproportional hohe Personal- Ich möchte für das Stromeinspeisungsgesetz Dank sagen. Allerdings ist auch hier noch einiges zu verbes- dichte aufweist. In einem Land wie Sachsen-Anhalt sern. mit einer Arbeitslosenquote von derzeit 17,7 % kann man dies allerdings auch nicht als Zeichen von politi- Im Abfallbereich möchte ich die thermische Ver- schem, geschweige denn sozialpolitischem Einfüh- wertung — zumindest bei Holz — der stofflichen lungsvermögen ansehen. gleichgestellt sehen. (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Gerlin Ich sehe, daß wir bei der Gemeinschaftsaufgabe die gen] [F.D.P.] — Zurufe von der SPD: Sehr richtigen Schwerpunkte setzen. Obwohl um 70 Millio- gut!) nen DM gekürzt wird — allerdings nur in den alten Liebe Kollegen, ich bin deshalb auch sehr gespannt Ländern —, setzen wir auf das, was wir im Weinbau als darauf, welche konkreten Vorschläge zur Konsolidie- umweltschonende Landwirtschaft betrachten. Herr rung der öffentlichen Finanzen Herr Münch uns Sielaff, ich muß sagen, es wundert mich, daß Ihr unterbreiten wird. Kollege Maurer in Baden-Württemberg die Jungland- (Rudolf Müller [Schweinfurt] [SPD]: Welcher wirteförderung, MEKA und den Wasserpfennig ganz Partei gehört er an? — Siegf ried Hornung massiv kritisiert. [CDU/CSU]: Ist da nicht die F.D.P. mit in der Insgesamt zeigt der Entwurf des Agrarhaushalts: Koalition?) Die Bundesregierung steht zu ihrer Verantwortung für Auch aus meiner Sicht hat dieser Bundeshaushalt eine gesicherte Zukunft der deutschen Landwirt- viele Ecken und Kanten, z. B. die Streichung des schaft. Neben der Stabilisierung der Märkte im Rah- Schlechtwettergeldes oder die vorgesehene Beendi- men der gemeinsamen Agrarpolitik werden jetzt im gung der Übergangsfinanzierung der Kulturförde- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14943

Dr. Sigrid Hoth rung für die neuen Länder oder auch die Einführung — Ich wollte gerne meine Rede zu Ende führen. von neuen Subventionstatbeständen für bestimmte (Zuruf von der SPD: Der Präsident ist zustän Berufsgruppen. dig!) Das Sparvolumen dieses Haushaltsentwurfs ist mei- ner Ansicht nach jedoch ohnehin nicht ausreichend, so daß in der Summe das Ergebnis der parlamentari- schen Beratungen des Haushaltes 1994 aus weiteren Vizepräsident Helmuth Becker: Erstens ist die Amts- Einsparungen bestehen muß, wenn wir den Wi rt führung des Präsidenten nicht zu kritisieren. -schaftsstandort Deutschland konkurrenzfähig halten (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) wollen. Zweitens hat die Frau Kollegin Dr. Hoth gesagt, sie (Beifall bei der F.D.P.) will diesen Gedanken erst zu Ende führen. Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen wollen, bitte sehr, aber Das heißt im Klartext: Jeder Änderungsvorschlag muß erst, wenn die Rednerin fertig ist. mit Einsparungen in mindestens der gleichen Größen- ordnung an anderer Stelle einhergehen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — - Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: (Beifall bei der F.D.P.) Und zwar, wenn sie ganz fertig ist! — Ina Auch der vorliegende Regierungsentwurf zum Ein- Albowitz [F.D.P.]: Benehmen ist Glücksa zelplan 10 wurde um 450 Millionen DM oder 3,2 % che!) gegenüber dem Vorjahr gekürzt. (Horst Sielaff [SPD]: Richtig!) Dr. Sigrid Hoth (F.D.P.): Auch die Agrarsozialre- Analysiert man jedoch die einzelnen Positionen des form, die 1994 bereits mit 100 Millionen DM zur Entwurfes, fällt sofort auf, daß die Ausgaben für die Beitragsstabilisierung greifen und die 1995 452 Mil- sogenannte landwirtschaftliche Sozialpolitik, also lionen DM und in den Folgejahren über 500 Millionen Altershilfe, Unfallversicherung, Landabgaberente, DM jährlich kosten soll, muß den agrarsozialpoliti- Nachentrichtungszuschüsse, Krankenversicherung, schen bzw. direkt einkommenswirksamen Maßnah- Zusatzaltersversorgung und Produktionsaufgabe- men zugeordnet werden. rente — um für Nichtlandwirte einmal alles beim Namen zu nennen —, von 6,8 auf 7,2 Milliarden DM Nun stellt sich natürlich die Frage, in welchen gestiegen sind. Bereichen die Etatverminderung eigentlich greift: Da ist einmal ein Minderbedarf von 175 Millionen DM (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: So ist es! beim Sonderrahmenplan. Des weiteren wurden Wegen des Strukturwandels!) 180 Millionen DM für die verlorenen Inventarbeiträge in den neuen Bundesländern gestrichen, für mich sehr Des weiteren sind als unmittelbar einkommens- schwer zu akzeptieren. wirksame Maßnahmen für den Einkommensaus- gleich 940 Millionen DM und für die Gasölverbilli- (Horst Sielaff [SPD]: Aber Sie haben es gung 910 Millionen DM vorgesehen. Auch für die akzeptiert!) Begleichung von Waldsturmschäden sind wiederum Im Bereich der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesse- 30 Millionen DM etatisiert. rung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" wur- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Richtig!) den 70 Millionen DM weniger angesetzt. Während für die neuen Bundesländer, in denen sicher auch Die Marktordnungsausgaben werden mit 442,7 Mil- zukünftig Maßnahmen im Bereich der Wasserwirt- lionen DM veranschlagt. Während der Bund nach schaft und Dorferneuerung eine große Rolle spielen zähen EG-Verhandlungen den bis 1995 bef risteten werden, eine Steigerung der Finanzmittel für die und degressiv gestalteten soziostrukturellen Einkom- Gemeinschaftsaufgabe um 12 Millionen DM gegen- mensausgleich trotz der außerordentlich schwierigen über dem Vorjahr zu verzeichnen ist, quasi als teilwei- Haushaltslage beibehält, sind nach wie vor nur die ser Ausgleich für den Wegfall der Mittel für die Länder Bayern, Mecklenburg-Vorpommern, Thürin- verlorenen Inventarbeiträge, kann es in einigen alten gen und Sachsen bereit, von der Möglichkeit einer Bundesländern schon zu Engpässen bei Neubewilli- Ergänzung dieses Ausgleichs Gebrauch zu machen. gungen kommen. (Horst Sielaff [SPD]: Wissen Sie auch warum? Hier stellt sich für mich die eigentliche Frage: Aus — Weitere Zurufe von der SPD) welchen Töpfen soll die mit der EG-Agrarreform beschlossene Förderung einer umweltgerechten land- — Liebe Kollegen, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie wirtschaftlichen Produktion bezahlt werden, ohne daß mich zu Ende reden lassen würden. an anderer Stelle Abstriche gemacht werden? (Horst Sielaff [SPD]: Sie haben auch dazwi Über die zunehmende Schieflage zwischen ständig schengerufen!) steigenden Agrarsozialausgaben und auch in der — Ich möchte jetzt fortsetzen. — Somit ist der Bund in mittelfristigen Finanzplanung stagnierenden Mitteln zwölf Bundesländern Alleinzahler. für die Gemeinschaftsaufgabe — möglicherweise noch unter Hinzutreten neuer Aufgaben — müssen (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Sie wissen wir intensiv beraten. Erheblichen Beratungsbedarf, doch, wer dort regiert! — Abg. Ernst Kastning liebe Kollegen, sehe ich auch an anderen Stellen in [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage) diesem Etat, z. B. bei der Problematik Beratungshilfe 14944 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Dr. Sigrid Hoth für die Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion 13,5 Milliarden DM im Etat stehen, von vornherein das und für die Länder Mittel- und Osteuropas. Erbstück, das man der Landwirtschaft erhalten muß. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Was hat das Da muß man etwas differenzie rter herangehen. Nur mit der Landwirtschaft zu tun?) das wollte ich zum Ausdruck bringen. Ich hege erhebliche Zweifel daran, ob reine Bera- (Beifall bei der SPD) tungskosten — also im wesentlichen Personalko- sten — in Höhe von 26,7 Millionen DM allein im Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Kollegin Einzelplan 10 angemessen sind. Dr. Hoth will antworten. Bitte sehr. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Beratungen Dr. Sigrig Hoth (F.D.P.): Herr Kollege Kastning, ich des diesjährigen Haushalts sind außerordentlich kom- stimme Ihnen zu, daß man selbstverständlich keinen pliziert. Doch mit der nötigen Sachlichkeit, aber auch Etat als Erbhof betrachten kann. Ich denke, gerade mit mehr Ehrlichkeit uns selber und den Bürgern unter Haushältern sollte Einverständnis darüber herr- gegenüber muß ein zumindest akzeptabler Kompro- schen, daß wir, wenn wir Einsparungen in einem miß- zwischen den Ausgabewünschen und den finanz Etatentwurf nicht zustimmen können, zunächt und wirtschaftspolitischen Zwängen erreicht- wer- schauen, wie wir durch Umschichtungen in dem den. betreffenden Etat das politische Schwergewicht ver- (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Gerlin ändern können. Ich halte es für außerordentlich gen] [F.D.P.]) schwierig und für in der Sache sicher auch nicht Die F.D.P. wird alle Anstrengungen unternehmen, hilfreich, in einen anderen Etat zu greifen und do rt dieses Ziel zu erreichen. umzuschichten. Vielen Dank. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und (Beifall bei der F.D.P. — Siegf ried Hornung Herren, wir fahren in der Debatte fo rt. Jetzt hat das [CDU/CSU]: Ist Ihnen nicht genügend Wort unser Kollege Dr. Fritz Schumann. gekürzt worden?) Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) (PDS/Linke Herr Kollege Kast- Liste): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Kollegin Hoth, es liegt mir fern, die CDU zu ning, nachdem eine Frage nicht möglich war, haben Sie natürlich die Gelegenheit, gemäß § 27 das Wo rt zu verteidigen. Sie haben hier die Landesregierung von Sachsen-Anhalt angegriffen. Mich packt da auch die einer Zwischenbemerkung zu erhalten. — Bitte sehr, blanke Wut. Aber da trifft dasselbe zu wie hier bei der Herr Kollege. Bundesregierung: Sie sitzen mit in der Landesregie- rung, und Ihre Minister kassieren dasselbe. Ernst Kastning (SPD): Danke schön, Herr Präsident. (Beifall bei der PDS/Linke Liste und der — Ich wollte vorhin im übrigen nicht den Herrn SPD) Präsidenten kritisieren. Ich meinte nur zu meiner Das gestattet mir einen guten Einstieg in die Haus- verehrten Frau Kollegin, daß ich nicht auf einen haltsdebatte. Sie haben eine Menge gute Dinge Fingerzeig reagiere, sondern gern gehört hätte, daß gesagt. Ihr Kollege Bredehorn, der hinter Ihnen sitzt, sie bis zum Schluß ihrer Rede zusammenhängend hat im der Agrardebatte am 23. Juni und auch schon sprechen möchte. davor eine Menge positiver Dinge geäußert, was die Ich wollte weiter nichts tun, als sie zu fragen, ob sie Agrarreform anlangt. Ich hatte erwartet, daß sich das sich nach den — für mich übrigens sehr interessan- im Haushalt stärker niederschlägt. Ich muß sagen: Ich ten — Ausführungen — von denen ich befürchte, daß bin ein bißchen enttäuscht, auch über das, was hier sie im Verlauf der Einzelberatungen im Haushaltsaus- vorgelegt worden ist. Da war irgend etwas anderes im schuß von der Bildfläche verschwinden — auch den- Visier. Das muß ich eingangs dazu sagen. ken kann, daß man im agrarpolitischen Bereich vom Erbhofdenken herunterkommt und nicht sagt: Das Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Schu- gesamte Volumen des Etats steht den Landwirten zur mann, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Verfügung, umverteilt wird nur innerhalb des Volu- Hoth? — Bitte, Frau Kollegin Hoth. mens und nicht über Ressortgrenzen hinweg. Das ist übrigens ein Punkt, liebe Kolleginnen und Kollegen, Dr. Sigrid Hoth (F.D.P.): Herr Kollege Schumann, von dem ich meine, daß er bei Haushaltsberatungen sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß sich die auch bei anderen Einzelplänen viel öfter diskutiert Verhältnisse im Gegensatz zu vorigen Jahren, die wir werden müßte. Der Bundeshaushalt ist ein Ganzes ja zumindest geschichtlich gemeinsam zurückgelegt und nicht eine bloße Ansammlung von einzelnen haben, so geändert haben, daß jeder eine Kritik, wenn Ressortetats. sie aus seiner Sicht berechtigt ist, aussprechen darf? (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Niemand Auch wenn die F.D.P. in Sachsen-Anhalt in der spart mehr als die Landwirtschaft!) Regierungsmitverantwortung steht, nehme ich mir Ich habe noch Gelegenheit, bei den Beratungen des das Recht — ich denke, das ist auch meine Pflicht —, Haushaltsausschusses und in den Berichterstatter- Kritik an dieser Stelle auszusprechen. gesprächen dazu eine Menge zu sagen. Ich bin ja (Beifall bei der SPD) dabei, wenn es darum geht, für die Landwirtschaft zu retten, was zu retten ist, wenn es einen Sinn macht. Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) (PDS/Linke Man sollte aber nicht so tun, als sei die Tatsache, daß Liste): Hervorragend, Frau Hoth. Ich halte es übrigens Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14945

Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) auch für eines der wesentlichsten Ergebnisse des führt, weiß, wie verheerend es ist, wenn man hinsicht- ganzen Vorgangs, daß wir Kritik jetzt frei und überall lich des wichtigsten Produktionsfaktors, des Bodens, äußern können. Es ist sehr wichtig, daß wir das tun im wesentlichen noch immer keine langfristigen können. Bloß: Wir müssen auch verändern, nicht nur Sicherheiten hat. Kritik äußern. Das ist dabei auch noch wichtig. Die in Mecklenburg-Vorpommern eingeleitete (Beifall bei der PDS/Linke Liste und der SPD konzertierte Aktion zur Umverteilung von Land, das sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und von Wieder- und Neueinrichtern bereits bewirtschaf- der F.D.P.) tet wurde — sie haben darauf Kredite aufgenommen; sie haben daraufhin Betriebskonzepte erstellt —, wird Wir werden in den nächsten Wochen den Haus- heute zurückgeführt. Das hat dazu geführt, daß es haltsplan in den Ausschüssen auseinandernehmen Protestaktionen gegeben hat. Es müßte geklärt wer- und wieder zusammensetzen, auch im Agraraus- den, auf welcher Basis das Ganze geschieht. Mich Wie werden uns Titel und Kapitel vornehmen schuß. würde in diesem Zusammenhang sehr interessieren, und durchsehen. Wir wissen, daß das in sachlicher und mit welchem Auftrag Staatssekretär Echternach in konstruktiver Art und Weise geschieht, wie das im Mecklenburg-Vorpommern gewesen ist — offenbar Agrarausschuß immer so ist. - dazu, diese Aktion vorzubereiten. Das sollte geklärt Es werden nur wenig Möglichkeiten der Verände- werden. Wer gestern abend „Kennzeichen D " gese- rung bestehen. Auch das ist uns völlig klar. Der hen hat, wird sich seinen Reim darauf machen. Rahmen ist nämlich sehr begrenzt. Das hat auch Herr Zweitens. Bringen Sie die Minister Borchert hier erklärt. Entschuldungsaktion zum Abschluß! Es ist doch formal und lebensfremd, Ich hätte mir nach der Vorstellung des Agrarkon- wenn die Bundesregierung meint — ich zitiere —, die zepts und auch nach dem, was die F.D.P. dazu Verzögerung des Verfahrens der Altschuldenrege- geäußert hat, einen etwas anderen Ansatz gewünscht. lung ist abwicklungstechnischer Natur; sie stellt keine Diesen kann ich im Moment nicht erkennen. Existenzgefährdung dar. Es ist meine feste Überzeugung, daß die nationalen Man verschließt einfach die Augen davor, daß die Ausgaben und die EG-Ausgaben für den Agrarbe- Banken bei hoher Altkreditbelastung in der Regel reich mittelfristig ohnehin wesentlich gesenkt wer- keine Neukredite vergeben. Ohne solche können den, auch wenn dies sehr schmerzlich sein wird. Es keine Investitionen getätigt werden und fließen keine wird kommen. Daran werden wir nicht vorbeikom- investiven Fördermittel. Das heißt, die Modernisie- men. rung wird verschleppt. Es können nicht die Mittel für Vielleicht könnte dies weniger schmerzlich gesche- die Ansprüche der großen Zahl ausgeschiedener Mit- hen, wenn der Kurs, der hier von Minister Borchert glieder erwirtschaftet werden. Sie können nämlich vorgeschlagen worden ist, nämlich sich noch stärker nur bei laufender Produktion erwirtschaftet werden. auf die Wirtschaftlichkeit hin zu orientieren, konse- Immerhin muß selbst die Bundesregierung einräu- quent durchgeführt würde. Dazu ist im Westen eine men, daß lediglich 10 % der juristischen Personen sozial verträgliche Politik zur tatsächlichen Überwin- 1992 Mittel der einzelbetrieblichen Förderung erhiel- dung der Strukturdefizite vonnöten. Jedes Aufrecht- ten, und das Verhältnis der an juristische Personen erhalten von Elementen der Strukturkonservierung ist verausgabten Mittel zu den an natürliche Personen für die Gesellschaft nicht effizient und teuer. Für die verausgabten Mitteln Betroffenen wird es immer schmerzhafter, je länger es dauert. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Aber die Vorsitzenden genehmigen sich hohe Gehäl Im Osten brauchen wir Rahmenbedingungen ohne ter!) bürokratische Bevormundung und Benachteiligung. Sie müssen die vielbeschworene Eigeninitiatuve der — wir sollten einmal prüfen, Herr Hornung, wie hoch Landwirte und Betriebe noch mehr als bisher beför- diese sind, und sollten sehen, was dabei wirklich dern und mobilisieren. Das ist der Schlüssel, um herauskommt — beträgt immerhin 1: 38. mittelfristig mehr betriebliche Mittel zu erwirtschaf- Drittens. Beenden Sie die Verunsicherung von ten und Agrarsubventionen zu senken. Daran sollten Landwirten über die Eignung von eingetragenen wir gemeinsam sehr ernsthaft arbeiten. Das ist im Genossenschaften und anderen juristischen Formen Moment nicht so ganz deutlich zu erkennen, auch für die Landwirtschaft! Für die landwirtschaftliche wenn der agrarsoziale Bereich sicher den größten Produktion im Leitfaden zum Landwirtschaftsanpas- Anteil am Haushalt stellt. Er ist auch sehr notwendig, sungsgesetz und insbesondere in der Orientierungs- um die Strukturveränderungen herbeizuführen. hilfe zur Umstrukturierung wird mehr Unsicherheit Ich will mich auf Grund der Kürze der Zeit nicht in gestreut als Sicherheit. Details des Haushalts verlieren. Ich will einige Lassen Sie mich noch einen letzten Gedanken Schwerpunkte nennen, die ich insbesondere aus ost- anschließen; das rote Licht blinkt schon. Gottf ried deutscher Sicht als Schwerpunkte in der weiteren Haschke ist ein bißchen unmöglich gemacht worden, Arbeit betrachte. da er den Bauern versprochen hatte, daß verlorenge- Da wäre zunächst zu nennen: Grundlage jedes gangene Inventarbeiträge ausgezahlt werden sollten. Wirtschaftens ist der Boden. Das wissen wir Bauern. Er tut mir wirklich leid, weil das nicht eingehalten Wir erwarten von der Bundesregierung, daß die Ver- werden kann. Der Härteausgleich wäre heute kein gabe der Treuhandflächen gemäß dem Einigungsver- Thema, wenn unser Antrag, im Rahmen der Novellie- trag sofort erfolgt. Jeder, der selber einen Bet rieb rung des Landwirtschaftsanpassungsgesetzes Inven- 14946 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt) tarbeiträge als Verbindlichkeit der LPG gegenüber Sparprogramm", oder meinen Sie damit „Wir Land- den Mitgliedern zu behandeln, nicht abgelehnt wor- wirte, die im Bundestag sind"? den wäre. Offenbar lag den Beteiligten mehr an der (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der F.D.P. Sicherung der Gläubigeransprüche der Banken als an — Horst Sielaff [SPD]: Die einen Doppelver einer historisch richtigen Bewe rtung der Inventarbei- dienst haben!) träge. Dann hätte das Ganze vermieden werden können. Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein (CDU/CSU): Ich hoffe — zum Schluß —, daß die anscheinend Lieber Kollege, da ich täglich draußen vor Ort bei den nicht mehr abwendbare Verschiebung der Agrar- Bauern bin wenigstens dazu führt, daß die Mängel sozialreform (Ernst Kastning [SPD]: Ich auch!) im jetzigen Gesetzentwurf beseitigt werden. Ich wün- sche mir, daß wir Lösungen finden, um die Flächen- und mit vielen Bauern gesprochen habe, berichte ich überschreitung die in den neuen Ländern eingetreten nicht über die Bauern, die Abgeordnete im Deutschen ist, ohne finanzielle Verluste für die Landwirte in den Bundestag sind, sondern über die Bauern, die im neuen Ländern zu Ende bringen zu können. Lande leben. Die akzeptieren das. - Danke. (Ernst Kastning [SPD]: Viele Bauern sind nicht alle Bauern!) (Beifall bei der PDS/Linke Liste und der SPD) Es ist schmerzlich, daß die Ausgleichszahlungen und Ausgleichsmaßnahmen nur noch bis 1995 erfol- gen. Wir hatten allerdings keine andere Möglichkeit, Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und weil die EG dieses so beschlossen hat. Herren, letzter Redner in dieser Debatte ist unser Ich möchte hier insbesondere unserem Landwirt- Kollege Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein. Bitte schaftsminister Jochen Borchert und unserem Finanz- sehr, Herr Kollege. minister Theo Waigel herzlich danken (Horst Sielaff [SPD]: Der hört jetzt gar nicht Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein (CDU/CSU): zu!) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und — doch, er hört zu, das weiß ich, auch wenn der Herren! Ich wollte zunächst eine Frage an den Präsi- Berichterstatter daneben steht —, daß sie die turbu- denten richten, nämlich wo die GRÜNEN sind. Aber lenten Währungsprobleme, die sich am 2. August sie sind ja da. Sie reden sonst unheimlich gerne über 1993 ergeben haben, in Paris gelöst haben und wir die Landwirtschaft. Ich freue mich, daß am Ende der damit ganz gut zurechtgekommen sind. Debatte endlich einer von euch da ist. (Beifall bei der CDU/CSU) Lieber Horst Sielaff, der Löwe hat kräftig gebrüllt. Ich möchte mich ganz herzlich auch bei den CDU- (Horst Sielaff [SPD]: Gut gebrüllt!) regierten Ländern bedanken, daß sie bereit sind, die — Nein, gut hat er nicht gebrüllt. übrigen 35 % zu übernehmen. Ich gucke bei dieser Ich möchte folgende Feststellung treffen: Wir Land- Gelegenheit zur linken Seite, zur SPD: Was machen wirte sind für die Umsetzung des Spar-, Konsolidie- hier eigentlich die von der SPD geführten Länder in rungs- und Wachstumsprogramms dieser Regierung. der Bundesrepublik Deutschland? Wir Bauern sind auch für ein starkes Europa und für (Horst Sielaff [SPD]: Sinnvollere Programme! eine Europäische Gemeinschaft. — Lachen bei der CDU/CSU) Der Einzelplan weist mit seinen 13,5 Milliarden DM — Sinnvolle Programme. Ihr seid doch sonst immer für leider 3,2 % weniger aus. Dies akzeptieren wir. soziale Maßnahmen. Dafür war das eigentlich auch geplant. (Abg. Ernst Kastning [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage — [CDU/CSU]: Er hat doch gerade angefangen! Vizepräsident Helmuth Becker: Gestatten Sie noch Lassen Sie ihn doch ausreden!) eine Zwischenfrage des Kollegen Sielaff?

Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein (CDU/CSU): Vizepräsident Helmuth Becker: Gestatten Sie eine Meinem Freund Horst Sielaff gerne. Zwischenfrage, Herr Kollege von Hammerstein? Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte. Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein (CDU/CSU): Ja. Horst Sielaff (SPD): Lieber Herr von Hammerstein, können Sie mir erklären, worin die soziale Kompo- nente im soziostrukturellen Einkommensausgleich Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte, Herr Kollege besteht, wenn jeder ihn bekommt, unabhängig von Kastning. dem Einkommen, auch derjenige, der Millionär ist?

Ernst Kastning (SPD): Herr Kollege von Hammer- Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein (CDU/CSU): stein, da schon vorhin ein paar Mal dieser Satz vom Sie wissen, lieber Kollege Sielaff, daß es sicherlich Minister und von Herrn Hornung, glaube ich, kam, nicht viele Abgeordnete oder Bauern in der Bundes- möchte ich Sie fragen: Woher nehmen Sie die Berech- republik Deutschland gibt, die Millionäre sind. Aber tigung, hier zu sagen, „Wir Landwirte akzeptieren das diese 35 % bekommt jeder Bauer, auch wenn er einen 14948 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein tens so aussehen, daß die Förderung erstens unabhän- Zwischenrufen ebenso wie in den Reden daran zu gig vom Erwerb gegeben wird, daß sie zweitens denken, was es für Folgen geben kann. unabhängig von der Rechtsform ist, gleich, ob Einzel- Gestern sind in der Debatte bei der Rede unseres betrieb, juristische Person oder eine Kooperation vor- Kollegen Dr. Schäuble die Zwischenrufe gefallen: liegen. Aber eine klare Aussage von mir ist: Die „Sie sind ein Feigling!" und: „So ein arroganter Betriebe, die in Zukunft Landwirtschaft machen wol- Pinsel!" Diese Zwischenrufe kamen von Frau Kollegin len, die gefördert werden wollen, sollen in Zukunft Matthäus-Maier. wie in den anderen europäischen Pa rtnerländern Buchführung machen müssen. Das ist eine Grundvor- (Dr. Hans-Peter Voigt [Northeim] [CDU/ aussetzung, um Förderung vorzunehmen. Das müssen CSU]: Typisch!) wir klar und deutlich sagen. Daß sie angegriffen worden war und selber vorher (Beifall bei der SPD und der F.D.P.) angegriffen hatte, ist richtig. Nur, diese Zwischenrufe Drittens muß der Nachweis der Wirtschaftlichkeit muß ich mit einem Ordnungsruf bedenken. und der Einhaltung einer Prosperitätsschwelle (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) erbracht werden, wobei diese Schwelle noch- festzule- gen sein wird. Heute hat die Frau Kollegin Matthäus-Maier eine Viertens sollten keine Bestandsobergrenzen festge- Zwischenfrage an Herrn Fuchtel gestellt. Herr Kollege legt werden. Dafür sollte aber eine st rikte Bindung der Fuchtel war in seinen Ausführungen auch nicht ganz Tierhaltung an die Fläche erfolgen. besonders zart besaitet. Aber dann gab es den Zwi- schenruf des Kollegen Ottmar Schreiner: „Ein schwar- Letztlich sollte es eine differenzierte Investitions- zer Flegel ist das!" Die dann folgende Intervention förderung geben, die auf die betriebsnotwendige „Das ist die glatte Unwahrheit!" ist ja in Ordnung, Vollarbeitskraft ausgerichtet ist, und zwar unabhän- aber die dann folgende Wiederholung „Nein, das ist gig davon, ob es sich um Einzel- oder Mitunterneh- ein Flegel! " können wir ebenfalls nicht zulassen. mer, Familien- oder Lohnarbeitskräfte handelt. Deswegen gibt es auch dafür einen Ordnungsruf. Meine sehr verehrten Damen und Herren, mein Jetzt fahren wir in der Debatte fo rt. Ich bitte alle Konzept ist erheblich länger. Herr Präsident, sind die Redner und alle Zwischenrufer, sosehr das auch hin Zwischenfragen zeitlich abgegolten? und wieder Salz in der Suppe ist, sich das, was ich eben sagte, ein bißchen zu Herzen zu nehmen.

Vizepräsident Helmuth Becker: Die Zeit wird bei (Beifall im ganzen Hause) Ihrer Redezeit berücksichtigt. Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bun- desministeriums für Gesundheit. Dazu erteile ich als erstem Redner dem Herrn Bundesminister das Wort, Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein (CDU/CSU): unserem Kollegen Horst Seehofer. Ich möchte nur noch kurz erwähnen, daß im Bereich unserer deutschen Molkereien, Schlachthöfe, Ölmüh- len, Stärkefabriken und Handelsunternehmensstufen in den letzten Monaten und Jahren viel getan worden ist, um die Strukturen zu verbessern. Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die wich- Zum Schluß: Mein sehnlichster Wunsch ist, daß wir tigste Aufgabe im Geschäftsbereich des Bundesmini- nach der Öffnung der Grenzen für die Menschen in steriums für Gesundheit ist und bleibt die Sanierung den fünf neuen Bundesländern weiter das tun, was wir der gesetzlichen Krankenversicherung. Sie wissen, bisher getan haben, daß wir nicht aufhören, den daß nach den dramatischen finanziellen Einbrüchen Menschen dort weiter zu helfen. in den letzten beiden Jahren die Gesundheitsstruktur Herzlichen Dank. reform notwendig war, und ich denke, sie war auch (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) erfolgreich. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der F.D.P.) Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Herren, wir sind damit am Ende der Debatte über den Nach 9 Milliarden DM Defizit im letzten Jahr 3 Milli- Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernäh- arden DM Überschuß allein in sechs Monaten dieses rung, Landwirtschaft und Forsten. Jahres! Ich kann mich, auch als langjähriger Wegbe- gleiter der gesetzlichen Krankenversicherung, nicht Bevor wir zum nächsten Bereich kommen, möchte erinnern, daß jemals eine so massive Umkehr hin zum ich noch auf folgende Begebenheiten von gestern und Positiven stattgefunden hätte. heute in diesem Hause zu sprechen kommen. Ich möchte heute zum erstenmal nach Veröffentli- Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen, liebe chung dieser Bilanz die Gelegenheit wahrnehmen, Kollegen, es ist sicherlich keine Ausnahme, daß in mich bei den Fraktionen von CDU/CSU, F.D.P. und Haushaltsdebatten besonders scharf diskutiert wird. auch SPD sowie bei allen 16 Bundesländern zu bedan- Einzelne Redner jedenfalls tun das, und sie können ken, das. Das ist völlig unbestritten. Aber es ist genauso unbestritten, daß es dann auch alle möglichen Zwi- (Uta Titze-Stecher [SPD]: Und sich feiern zu schenrufe gibt. Ich bitte, bei der Wortwahl in den lassen!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14947

Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein kleinen Betrieb hat. Auch diesem genehmigt ihr nicht für unsere Bauern im Haushaltsjahr 1994 bedeutende diese 35 % in diesem Programm. Das ist das Trau- und entscheidende Themen durchbringen können. rige. (Horst Sielaff [SPD]: Dann sagen Sie das aber (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) auch Herrn Borchert!) — Der tut das sowieso. Ich möchte auch klar und deutlich einige Einspar- Vizepräsident Helmuth Becker: Noch eine letzte möglichkeiten ansprechen. Zwischenfrage des Kollegen Sielaff, bitte.

Vizepräsident Helmuth Becker: Noch eine Zwi- Horst Sielaff (SPD): Herr von Hammerstein, würden schenfrage des Kollegen Bredehorn. Sie zustimmen, wenn ich sage, daß der Landwirt, dem Ich will mit Rücksicht auf die Kollegen, die zu es in strukturschwachen Bereichen schlecht geht, von anderen Geschäftsbereichen sprechen, nur darauf den etwa 600 DM, die er in Teilen der Pfalz vielleicht aufmerksam machen, daß wir die Zeit hier weit bekommt, nicht existieren kann? - überziehen. (Beifall bei der CDU/CSU) Bitte, die letzte Zwischenfrage. Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein (CDU/CSU): Jede D-Mark, lieber Kollege Sielaff, und wenn es nur 600 DM für einen kleinen Betrieb sind, sind eine Hilfe Günther Bredehorn (F.D.P.): Herzlichen Dank. für diesen landwirtschaftlichen Betrieb. Herr Kollege von Hammerstein, sind Sie mit mir (Beifall bei der CDU/CSU — Siegfried Hor nicht auch der Meinung, daß in der mittelfristigen nung [CDU/CSU]: 1 500 DM ist die Unter Finanzplanung der Rückgang der Mittel für die grenze!) Gemeinschaftsaufgabe von 1992 bis 1997 um fast 800 Millionen DM alarmierend ist und daß wir inner- Wir Bauern sind für ein starkes Europa und für den halb der Ausschußberatungen sehr ernsthaft überle- Wirtschaftsstandort Bundesrepublik. Aber eins gen müssen, wie die Mittel optimal eingesetzt werden möchte ich klar und deutlich sagen und auch ein Wort können, an die Opposition und auch die Regierungsbank richten: Wenn die Wettbewerbsverzerrungen in der (Beifall bei der SPD) Welt bestehenbleiben, wenn die Amerikaner und damit, wie es der Bundesminister sagt, die Wettbe- Japaner weiterhin ihren landwirtschaftlichen Betrie- werbsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft erhal- ben und den vor- und nachgelagerten Unternehmen ten bleibt? Subventionen zahlen, bedeutet das für jeden deut- (Horst Sielaff [SPD]: Sehr gut! Wir kommen schen Landwirt und für jedes deutsche vor- und uns immer näher!) nachgelagerte Unternehmen — ob das eine Ölmühle, Stärkefabrik oder was auch immer ist — das Ende, den Ruin. Deswegen müssen wir hier meines Erachtens Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein (CDU/CSU): sehr aufpassen. Volles Einverständnis! Ich bin der gleichen Auffas- Ich möchte mehrere Punkte ansprechen, und zwar sung wie Sie. Herzlichen Dank. die Neuausrichtung der Förderpolitik vor dem Hinter- Man soll dann allerdings auch sagen, welche Ein- grund geringer werdender Haushaltsmittel und die sparungsmöglichkeiten man hat. Ich will einige nen- Harmonisierung der Produktionsbedingungen inner- nen. Ich glaube, daß wir in den westlichen Bundeslän- halb der Europäischen Gemeinschaft. dern im Trink- und Abwasserbereich schlicht und einfach Einsparungen vornehmen können. Ich akzep- Zu eins: Bei der künftigen Agrarstrukturförderung tiere es jedenfalls nicht, wenn Bauern und Hausbesit- im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesse- zer in dünnbesiedelten ländlichen Räumen bis zu rung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" sind 100 000 DM für Abwasserbeseitigungsanlagen be- als Schwerpunkte vor allem zu nennen: die Stärkung zahlen müssen. Das ist für die Bauern in unserer leistungs- und wettbewerbsfähiger Bet riebe, die Ver- Region nicht tragbar. Das muß man klar und deutlich besserung der Vermarktungsstruktur und die Förde- sagen. rung strukturell bedeutsamer Leistungen der Betriebe für eine umweltverträgliche Landwirtschaft. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Günther Bredehorn [F.D.P.]) Hierbei werden sich bei der kommenden Ausschuß- arbeit sicherlich unterschiedliche Auffassungen erge- Deshalb fordere ich, daß die Beratungen mit den ben. Ländern über diese Fragen wieder aufgenommen werden, sobald das Äderungsgesetz zur Agrarstruk- (Horst Sielaff [SPD]: Zitierst du meine tur und zum Küstenschutz den Bundesrat passiert Rede?) hat. — Nein, nein; mach dir keine Sorgen. Ich sagte ja Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir gerade: In der anschließenden Ausschußarbeit wer- begrüßen es ausdrücklich, daß der Bund mit den den sicherlich unterschiedliche Auffassungen auftre- Ländern wegen der Weiterentwicklung der Gemein- ten. schaftsaufgaben, insbesondere in bezug auf Fragen Mein sehnlichster Wunsch ist es allerdings, liebe der Neuausrichtung der einzelbetrieblichen Förde- Opposition, daß wir gemeinsam zu Abstimmungser- rung, in Verhandlungen steht. Die Grundzüge der gebnissen und zu einer Einigkeit kommen, damit wir einzelbetrieblichen Förderung sollten meines Erach- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14949

Bundesminister Horst Seehofer daß wir diese Gesundheitsstrukturreform im wesentli wäre es wohl nicht möglich gewesen, daß über Jahre chen übereinstimmend so zustande gebracht haben. hinweg Patienten falsch behandelt wurden.

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD) SPD) Solche Vorfälle hätten dann viel, viel früher erkannt Da geht es nicht um das Feiern eines Ministers, werden können. Ich meine, ein System, in dem so sondern was ich für besonders bemerkenswert halte, gravierende Fehlbehandlungen nicht oder erst nach ist, Frau Kollegin, daß dieses Einsparvolumen durch Monaten oder Jahren auffallen, hat erheblichen eine Mentalitätsänderung bei den Beteiligten, durch Nachholbedarf in Sachen Qualitätssicherung. eine Verhaltensänderung erreicht wurde, nicht durch Leistungsausgrenzungen, wie dies bei manchen Deshalb gibt die Bundesregierung über das Modell- Reformen vorher der Fall war. Man verhält sich jetzt in programm zur Förderung der medizinischen Quali- diesem System wirtschaftlicher, sorgfältiger und ver- tätssicherung, für das wir im kommenden Jahr fünf antwortungsbewußter. Das ist ein großer Erfolg all Millionen DM einsetzen, wichtige Anstöße für Ver- dieser Anreizmechanismen, die in dieses Gesetz Ein- besserungen. - gang gefunden haben. Ich möchte Ihnen auch sagen, daß wir uns im Bundesgesundheitsministerium entschieden haben, Wichtig ist auch, daß ein Beispiel dafür geliefert diesem Gesichtspunkt der Qualitätssicherung in den wurde, daß Herausforderungen im Sozialbereich nächsten Monaten auch vor dem Hintergrund von innerhalb der bestehenden bewährten Systeme Kunstfehlern und Fehlbehandlungen erhöhte Auf- bewältigt werden können, so daß wir auch die ganze merksamkeit zu widmen, und daß wir möglicherweise Diskussion der letzten Tage, ob wir etwa die Zukunft auch das Parlament mit Vorschlägen zur Überwin- nur noch mit anderen Sozialsystemen bewältigen dung solcher Fehlentwicklungen konfrontieren wer- können, beerdigen können. Wir können innerhalb der den. gesetzlichen Krankenversicherung mit den bewähr- ten Prinzipien die Zukunftsherausforderungen bewäl- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge tigen. ordneten der F.D.P.) Der Bund leistet auch einen großen Beitrag dazu, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) die teils immer noch desolaten Zustände in der Was für die gesetzliche Krankenversicherung gilt, psychiatrischen Versorgung in den neuen Bundes- gilt auch für unseren Etat. Wir sparen, aber der ländern zu verbessern. Bei den Maßnahmen auf dem Qualität unserer Gesundheitspolitik tut dies keinen Gebiet der Psychiatrie steht vor allem die Förderung von Modellen in den neuen Bundesländern im Vor- Abbruch. Im Gegenteil, die Förderung qualitativer dergrund. Von insgesamt 10,9 Millionen DM fließen Verbesserungen hat Priorität. Hier setzen wir auch im Bundeshaushalt wieder neue Akzente. Ich nenne nur im nächsten Jahr allein 8,6 Millionen DM dorthin. Es drei Stichworte: Qualitätssicherung in der Medizin, geht vor allem darum, genauso wie bei der Psychia- Maßnahmen auf dem Gebiet der Psychiatrie und triereform in den alten Bundesländern nun auch in insbesondere auch die Bekämpfung neuer Infektions- den neuen Bundesländern ambulante Versorgungs- netze für die Bereiche Arbeit, Wohnen und Freizeit krankheiten. aufzubauen. Die medizinische Qualitätssicherung wird insge- Bisher allerdings ist hier nicht genug geschehen: samt in all ihren Facetten künftig weiter an Bedeutung Zum allergrößten Teil haben sich in den neuen gewinnen. Besonders deutlich wird dies, wenn wir uns Ländern neue Versorgungsformen nur do rt entwik- mit dem Bereich medizinisch nicht notwendiger Lei- kelt, wo sie durch eine Modellförderung des Bundes stungen auseinandersetzen. Sie kennen das im Medi- initiiert worden sind. Die Modelle haben durch ihre kamentenbereich. Es wurden 20 % weniger Medika- Pionierfunktion Qualitätsstandards gesetzt und die mente verordnet, ohne daß dies für die gesundheitli- Psychiatriereform in den neuen Ländern auf das che Versorgung der Bevölkerung nachteilig ist. richtige Gleis gebracht. Wenn wir die Reformen weiter Experten haben mich gerade in diesen Tagen wieder voranbringen wollen, wenn wir den betroffenen Men- darauf hingewiesen, daß 30 bis 40 % aller Röntgenlei- schen helfen wollen, müssen wir die Bundesförderung stungen schlichtweg überflüssig sind. Das heißt, Men- auch im nächsten Jahr fortsetzen. Das haben wir schen werden ohne jeden medizinischen Grund der vor. Belastung von Röntgenstrahlen ausgesetzt. Das heißt jedoch nicht, daß damit die Länder von Das zeigt weiter: Wenn wir Wirtschaftlichkeitsreser- ihrer Pflicht entbunden sind. Im Gegenteil: Ich möchte ven erschließen, indem wir dafür sorgen, daß über- auch hier noch einmal sagen, daß die Länder ihrer flüssige Leistungen nicht mehr erbracht und abge- Verantwortung voll gerecht werden müssen, damit rechnet werden, ist dies auch gleichzeitig ein wesent- ein bedarfsgerechtes psychiatrisches Versorgungssy- licher Beitrag zur Verbesserung der Qualität der stem aufgebaut werden kann. medizinischen Versorgung. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Wie wichtig, meine Damen und Herren, die Quali- ordneten der F.D.P.) tätssicherung in der Medizin ist, haben nicht zuletzt Der Bazillus, der in den alten Bundesländern gele- die Vorfälle im Klinikum Hamburg - Eppendorf gentlich gehäuft auftritt, daß man zwar die Aufgaben gezeigt. Hätte es dort ein funktionierendes, festinstal- will — wie bei Drogen, Aids oder Rettungsdienst —, liertes Qualitätssicherungsprogramm gegeben, so aber für die Finanzierung dann den Bund oder die 14950 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Bundesminister Horst Seehofer gesetzliche Krankenversicherung heranzieht, sollte Leistungen werden künftig die Krankenkassen voll zu hoffentlich nicht auf die neuen Bundesländer über- tragen haben. Sie finanzieren ja jetzt schon einen Teil. greifen. Das nenne ich immer Forderungsföderalis- Es geht um eine Größenordnung von 210 Millionen mus. DM. Das ist schmerzlich, es ist eine Belastung für die Krankenkassen. Umgekehrt muß man sehen, daß (Zustimmung bei der CDU/CSU) 1994 die gesetzliche Krankenversicherung in Milliar- Eine solide Gesundheitspolitik muß agieren, sie darf denhöhe bei der Pflegeversicherung entlastet wird. nicht nur reagieren. Gerade die große gesundheits- Ich meine, wir sollten deshalb jetzt keine aktuelle politische Herausforderung Aids hat gezeigt, wie Diskussion über Familienlastenausgleichsleistungen wichtig es ist, neue Krankheitsgefahren rechtzeitig zu in der gesetzlichen Krankenversicherung führen. erkennen, um frühzeitig handeln zu können. Deshalb Aber es bleibt ein Thema für die dritte Stufe der haben wir in dem Etatentwurf 1994 nun einen neuen Gesundheitsreform, daß wir die versicherungsfrem- Titel „Zuschüsse zu Forschungsvorhaben zur Erken- den Leistungen künftig möglichst aus dem Steuertopf nung und Bekämpfung neuer Infektionskrankheiten" finanzieren. eingerichtet. (Beifall bei der CDU/CSU) So sind z. B. neue Erreger entdeckt worden, deren Ich möchte zum Schluß nochmals auf das Thema Gefahrenpotential für die Bevölkerung erforscht wer- Aids zurückkommen. Wir wissen heute über Aids weit den muß. Bei einigen chronisch-degenerativen, zum mehr als zu Beginn der 80er Jahre. Damals waren die Teil mit Demenz einhergehenden Erkrankungen Ursachen der Aids-Erkrankung wissenschaftlich strit- besteht dringender Forschungsbedarf hinsichtlich tig und weder HIV als Erreger von Aids entdeckt noch möglicher Zusammenhänge zwischen diesen Erkran- eine Möglichkeit gegeben, um den Nachweis von HIV kungen beim Menschen und verwandten Erkrankun- im Blut und in Blutprodukten zu führen. gen bei Schafen und Rindern. Ich nenne nur das Stichwort Rinderwahnsinn, das uns auch jetzt ganz Wir haben im Bericht des Gesundheitsministers aktuell wieder beschäftigt. Insbesondere geht es hier vom 30. November 1992 an den Ausschuß für Gesund- auch um die Frage, ob entsprechende Tierinfektionen heit zur HIV - Infektionsgefährdung durch Blutpro- auf Menschen übertragbar sind. Bereits langjährige dukte ausführlich die zunehmenden Erkenntnisse Forschungsvorhaben können so ergänzt und verstärkt über die Aids-Erkrankung, die auf ihrer Grundlage werden. getroffenen Sicherheitsmaßnahmen und weitere mögliche Maßnahmen zur Risikominimierung aufge- Schließlich muß trotz aller medizinischen Fort- zeigt. schritte heute wieder mit Krankheiten gerechnet wer- den, die mit Hilfe von Schutzimpfungen und moderner Leider wissen wir auch heute, meine Damen und Chemotherapie für besiegt gehalten wurden. Dies gilt Herren, daß es trotz aller Maßnahmen Anfang der besonders für die im Zusammenhang mit Aids welt- 80er Jahre zu Infektionen gekommen ist. Die schwere weit zu verzeichnende Zunahme der Tuberkulose. schicksalhafte Belastung der Betroffenen erregt unser Deshalb fördern wir methodische Verbesserungen zur aller Mitgefühl. Ich habe deshalb die Versicherungs- Früherkennung dera rtiger Infektionen, Studien zum wirtschaft und die pharmazeutische Industrie mehr- besseren Verständnis des Verbreitungsmechanismus fach gebeten zu prüfen, ob auf Grund der tragischen und Untersuchungen zur bisherigen Ausbreitung der- Situation der Betroffenen über bereits geleistete Zah- artiger Infektionskrankheiten. lungen hinaus weitere Leistungen erbracht werden können. Je mehr wir über neue Krankheitsgefahren wissen, um so eher und wirkungsvoller können wir einer (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD — Verbreitung Einhalt gebieten. Das haben wir insbe- Dr. Paul Hoffacker [CDU/CSU]: Das wäre sondere bei Aids gesehen. Unsere bisher in der höchste Zeit!) Gesundheitspolitik beispiellose Aids - Aufklärungs- Seitdem wird verhandelt, bisher aber ohne konkre- kampagne und die innovativen gesundheitspoliti- tes Ergebnis. Jeder schaut auf den anderen, keiner tut schen Ansätze in der Beratung und Betreuung Betrof- den ersten Schritt. fener im Rahmen von Modellprogrammen haben Früchte getragen. Sowohl die Rate der jährlichen (Uta Titze-Stecher [SPD]: Druck machen!) Neuinfektionen als auch die Rate der jährlichen Doch mit Diskussionen leisten wir keine Hilfe. Des- Neuerkrankungen konnten stabilisiert werden. halb muß das Schwarze-Peter-Spiel ein Ende haben. Meine Damen und Herren, damit hat sich die Politik Wir müssen den Betroffenen konkret humanitäre Hilfe der Prävention, der Aufklärung, der Vorbeugung und leisten. der Hilfe gegenüber einer repressiv ausgerichteten (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der Politik mit Ausgrenzung von Erkrankungen be- SPD) währt. Ich unterstütze deshalb ausdrücklich die Anregung (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. aus den Koalitionsfraktionen CDU/CSU und F.D.P., sowie bei Abgeordneten der SPD) daß wir als Bund einen ersten Schritt tun, und zwar im Etat 1994 2 Millionen für einen Zwei kurze Anmerkungen noch, Herr Präsident. Hilfsfonds vorsehen, aus dem monatlich Renten an Wir haben auch einen erheblichen, einen bedeutsa- aidserkrankte Betrof- fene gezahlt werden sollen. men Wegfall von Mitteln. Ich meine die Streichung der Pauschale des Bundes zum Mutterschaftsgeld. Für (Uta Titze-Stecher [SPD]: Wo soll denn das die Betroffenen ändert sich hierdurch nichts. Diese abgezwackt werden?) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14951

Bundesminister Horst Seehofer — Frau Kollegin, ich finde, bei dem Schicksal der teren Belastungen aufgebürdet werden. Nun, ich Betroffenen müssen wir das im Bundeshaushalt habe mich offensichtlich getäuscht; denn der Bundes- irgendwo zur Verfügung stellen. finanzminister macht schon wieder einen Verschiebe- (Beifall bei der CDU/CSU — Uta Titze bahnhof zu Lasten der gesetzlichen Krankenversiche- Stecher [SPD]: Aber bitte nicht von der Aids rung, sprich: der Sozialversicherung schlechthin, Hilfe nehmen!) auf. Allerdings erwarte ich Beiträge der Industrie, der In einer Phase der Konsolidierung der Finanzen im Versicherungswirtschaft, des Roten Kreuzes und auch System der sozialen Krankenversicherung bürdet die der Bundesländer. Uns reicht es nicht, wenn Verständ- Bundesregierung diesem Sozialversicherungszweig nis für die Betroffenen geäußert wird. Es müssen hier für 1994 eine Mehrbelastung von mehr als 200 Millio- auch Taten folgen. nen DM auf, ohne daß damit Leistungsverbesserun- gen für die Versicherten verbunden wären. Herr (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Kollege Seehofer, Sie haben selber darauf hingewie-

Die vorgesehene Verpflichtung des Bundeshaushal- sen — dabei haben Sie unsere volle Unterstützung — , tes geht davon aus, daß auch andere ihren Beitrag - daß gesamtstaatliche Aufgaben nicht der Sozialversi- erfüllen. cherung auferlegt werden dürfen. Deshalb ist es Ich möchte noch einmal ganz deutlich sagen: Dieser unverständlich, daß für die werdenden Mütter jetzt Schritt ist keine juristisch begründete Entschädigung. das Schwangerschafts- und Mutterschaftsgeld ge- Weder das Bundesgesundheitsamt noch das Bundes- kürzt werden soll gesundheitsministerium hat seinerzeit falsch gehan- (Dr. Paul Hoffacker [CDU/CSU]: Es wird delt. Es wurde nach dem jeweils neuesten Kenntnis- nicht gekürzt!) stand unverzüglich gehandelt. — ich komme ja darauf — bzw. daß der Bund sich aus (Dr. Paul Hoffacker [CDU/CSU]: Im Unter der Verantwortung stiehlt, zu Lasten der Beitragszah- hied zu Frankreich!) -sc ler. Ich denke, das geschieht in einem Feld, in dem der Unsere jetzt vorgesehene unbürokratische Hilfelei- Staat ausdrücklich gefordert wäre. stung ist ein Signal. Ich rufe alle Beteiligten zu einer Bereits in der Vergangenheit wurde es der gesetz- humanitären Gemeinschaftsaktion auf. Wir können lichen Krankenversicherung überlassen, die Leistun- zwar nicht alle Forderungen erfüllen, aber ich erwarte gen der Mutterschaftshilfe zur Verfügung zu stellen. einen Beitrag aller, damit ein Hilfsfonds in einer Höhe Lediglich mit einem Pauschbetrag von 400 DM je von mindestens 10 Millionen DM erreicht wird. Leistungsfall beteiligte sich der Bund an den Mutter- (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der schaftsaufwendungen der sozialen Krankenversiche- SPD) rung. Nun sollen diese 400 DM von seiten des Bundes Wir müssen jetzt, meine Damen und Herren, jenseits auch noch gestrichen werden. Fürwahr, eine weitere aller Paragraphen unserer sozialen Verantwortung in familienpolitische Großtat der Bundesregierung, die einer sehr schwierigen Tragödie gerecht werden. doch sonst immer den Wert der Kinder für unsere Gesellschaft betont. Ich denke, hier wird deutlich, wie (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) weit Reden und Handeln auseinanderklaffen. Man hat den Eindruck, Kinder dürfen alles; nur dürfen sie Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und kein Geld kosten. Herren, als nächster Redner hat jetzt das Wort unser Vertreter der Koalition reden im Hinblick auf die Kollege Klaus Kirschner. Sozialversicherungssysteme — dies betone ich; hören Sie bitte genau zu —, was die Wettbewerbsfähigkeit Klaus Kirschner (SPD): Herr Präsident! Meine der Wirtschaft anbelangt, von zu hohen Lohnneben- Damen und Herren! Herr Bundesminister Seehofer, kosten, verschieben aber immer wieder — an diesem dem, was Sie zur gesetzlichen Krankenversicherung Beispiel wird es deutlich — gesamtstaatliche Aufga- und zum Gesundheitsstrukturgesetz gesagt haben, ben in die sozialen Sicherungssysteme, mit der Folge, kann ich zustimmen. Wir haben nach den vorliegen- daß dies die Beiträge in die Höhe treibt. Ich frage Sie den Finanzdaten der gesetzlichen Krankenversiche- nach der Solidität dieser von Ihnen entfachten Diskus- rung für das erste Halbjahr 1993 allen Grund, den sion zur Höhe der Lohnnebenkosten. Diese Antwort Erfolg des Gesundheitsstrukturgesetzes, das wir müssen Sie doch hier einmal geben. gemeinsam erarbeitet und verabschiedet haben, her- (Bundesminister Horst Seehofer: Darf man auszustellen. eine Zwischenfrage stellen?) (Vorsitz : Vizepräsident Dieter-Julius Cro — Wenn der Präsident es zuläßt. nenberg) Aber lassen Sie mich das Folgende auch kritisch Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Es ist zwar anmerken: Nach dem gemeinsamen Willen von CDU/ geschäftsordnungsmäßig nicht ganz korrekt. Wenn CSU, SPD und F.D.P. sollen mit dem Gesundheits- Sie, Herr Abgeordneter Seehofer, das in Frageform strukturgesetz eine finanzielle Entlastung und damit oder in die Form einer Kurzintervention kleiden, habe die notwendige Beitragsstabilität in der gesetzlichen ich nichts dagegen. Krankenversicherung auf sozial verträglichem Ni- veau erreicht werden. Bisher bin ich davon ausgegan- gen, daß alle Parteien des Lahnsteiner Kompromisses Horst Seehofer (CDU/CSU): Herr Kollege Kirsch- und die Bundesregierung selbst dafür Sorge tragen, ner, wenn Sie diese 200 Millionen DM, die künftig die daß der gesetzlichen Krankenversicherung keine wei- gesetzliche Krankenversicherung belasten, zum Ge- 14952 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Horst Seehofer genstand Ihrer Ausführungen machen und auf die Klaus Kirschner (SPD): Wenn es unbedingt sein Belastungen in den Lohnnebenkosten abheben, frage muß. ich Sie: Wie verhält es sich dann mit den 500 bis 600 Millionen, die jetzt aktuell von den Bundeslän- Dr. Paul Hoffacker (CDU/CSU): Herr Kollege dern gefordert werden, die Ihrer Partei zuzurechnen Kirschner, ist das denn falsch, was ich gerade gesagt sind? In dieser Größenordnung soll die Krankenhaus- habe, daß Ihre Länderminister und die Ländermini- finanzierung, die heute noch die Bundesländer betrei- sterpräsidenten von SPD-geführten Ländern sich wei- ben, auf die Krankenversicherung übertragen wer- gern, diese Kosten zu tragen, und sie uns aufbürden den. Dieser Betrag ist das Dreifache dessen, was Sie wollen? Ich meine es richtig verstanden zu haben, daß gerade behandeln. Sie das jetzt umdrehen, oder meinen Sie das nicht? (Heiterkeit) Klaus Kirschner (SPD): Herr Kollege Seehofer, Sie haben doch vorhin selbst gesagt, es muß damit aufhö- Klaus Kirschner (SPD): Herr Kollege Hoffacker, ich ren, daß gesamtstaatliche Aufgaben den Sozialversi- meine nicht, was Sie mit umdrehen meinen. Ich sage cherungssystemen auferlegt werden. Damit muß end- Ihnen nur eines, wir reden hier über den Haushalt des lich Schluß sein. Wir debattieren jetzt hier über den Bundesministers für Gesundheit. Der Herr Kollege Etat des Bundesministers für Gesundheit, und um den Seehofer — und das habe ich ihm zugesagt — hat die geht es. An diesem Beispiel wird deutlich — ich nehme volle Unterstützung der SPD-Bundestagsfraktion, daß Sie bei Ihren eigenen Worten —, daß endlich Schluß wir uns mit allen Mitteln gegen einen neuen Verschie- damit sein sollte. bebahnhof wehren werden, den der Bundesfinanzmi- nister zu Lasten der Sozialversicherung aufmacht in (Zuruf von der SPD: Ab 1994!) Höhe von über 200 Millionen DM. Darauf hat Herr Ich sage Ihnen zu, Sie haben die Unterstützung der Bundesminister Seehofer selber hingewiesen. Wir SPD-Bundestagsfraktion gegen den Herrn Finanzmi- wollen ihm darin unsere Unterstützung nicht versa- nister. gen. (Beifall bei der SPD) Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun hat der Abgeordnete Dr. Weng das Bedürfnis, eine Frage Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich meine, beantwortet zu bekommen. die Zusage gebe ich Ihnen auch. Aber ich muß mich hier heraushalten. Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (F.D.P.): Herr Kol- Der Abgeordnete Hoffacker möchte eine Zwischen- lege Kirschner, darf ich mich darauf verlassen, daß frage stellen. Ihre Fraktion und in der Konsequenz Ihre Partei in Zukunft da, wo sie politische Verantwortung trägt, Dr. Paul Hoffacker (CDU/CSU): Herr Kollege sich immer ganz konsequent so verhält, wie Sie das Kirschner, sind Sie mit mir der Meinung, die der gerade in diesem Zusammenhang fordern? Bundesminister für Gesundheit gerade dargestellt hat, nachdem sich Länder jetzt weigern, Instandhal- Klaus Kirschner (SPD): Darauf können Sie sich tungskosten zu tragen, und sie auf die Bundeskasse verlassen, soweit wir darauf Einfluß haben. — so darf ich sagen — und auf die Krankenkassen (Heiterkeit) übertragen wollen, daß die Länder dazu verpflichtet sind, und werden Sie als Mitglied dieser SPD-Bundes- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Der Ver- tagsfraktion Ihre Länderkollegen auffordern, in die- suchung, nur festzustellen, wir sind alle kleine Sün- sem Sinne tätig zu werden? derlein, erliege ich nicht. Herr Abgeordneter Kirschner, fahren Sie fo rt . (SPD): Herr Kollege Hoffacker, Klaus Kirschner (SPD): Ich denke, das Ablenken zuerst einmal wissen Sie, daß der Föderalismus ein Klaus Kirschner funktioniert nicht. Wir reden über den Haushalt des schwieriges Problem ist. Bundesministers für Gesundheit. (Heiterkeit) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zu einem Zum zweiten, Herr Kollege Hoffacker, ich verstehe, Bereich kommen, den auch der Herr Bundesminister daß Sie von diesem aktuellen Fall ablenken wollen, Seehofer angesprochen hat, nämlich die HIV - Proble- aber ich denke, wir beraten hier — und das sage ich matik in der Bundesrepublik, und zwar daß es bei der noch einmal — den Haushalt des Bundesministers für Herstellung lebenswichtiger Medikamente für Bluter Gesundheit. Wir sind uns darüber im klaren, und eine Arzneimittelkatastrophe mit häufig tödlichem deshalb müssen wir hier beginnen und nicht selbst mit Ausgang gegeben hat. Betroffen sind etwa 2 000 einem schlechten Beispiel vorangehen — das heißt Bluterkranke sowie eine möglicherweise ebenso nicht wir, sondern Sie —, daß wiederum allgemeine große, noch unbekannte Zahl von Opfern, die bei Kosten zu Lasten der gesetzlichen Krankenversiche- Operationen, Geburten oder nach Verkehrsunfällen rung verschoben werden. Hier geht es um den Haus- mit verseuchten Blutgerinnungspräparaten HIV-infi- halt des Bundesministers für Gesundheit, und über ziert wurden. Die auf solche Weise krankgemachten diesen reden wir jetzt. Menschen verhandeln seit Jahren erfolglos mit den Verursachern. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- Dem unbefangenen Beobachter könnte sich auf den geordneter Kirschner, der Abgeordnete Dr. Hoffacker ersten Blick der Eindruck aufdrängen, daß von seiten hat eine Nachfrage. der Pharmaindustrie und ihrer Versicherer nach dem Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14953

Klaus Kirschner Motto verhandelt wird: vertrösten, zermürben, Zeit Die soziale Not der Aids-Erkrankten nimmt, wie die schinden, bis die Menschen weggestorben sind. Das Stiftungen berichten, zu. Besonders trifft das Frauen darf nicht geduldet werden. und Kinder, und deshalb sind sie auch in besonderem Maße auf diese Hilfen der Aids-Stiftungen angewie- Wir haben deshalb mit großer Aufmerksamkeit zur sen. Allein im ersten Halbjahr 1993 sind mehr Anträge Kenntnis genommen, daß Sie, Herr Bundesminister gestellt worden als im gesamten Jahr 1992. Seehofer, einen ersten Schritt tun. Sie bekommen da unsere Unterstützung. Aber wir wissen alle — und das Sie wissen, hier geht es nicht um Riesenbeträge. haben Sie auch deutlich gemacht —, daß dies nicht Hier geht es um einstellige Millionensummen, die den ausreicht, denn wenn wir da stehenblieben, kämen Stiftungen zur Verfügung gestellt werden sollten und zur medizinischen Katastrophe die politische und die müssen, damit sie eben den Betroffenen helfen kön- moralische hinzu. nen. Ich sage es noch einmal: Ich appelliere deshalb an Nicht nur den Opfern, sondern auch der Moral und Sie, daß wir hier gemeinsam eine Aufstockung dieses der Rechtskultur unserer Gesellschaft würde schwerer Stiftungskapitals erreichen. Auch das, denke ich, ist Schaden zugefügt, wenn der Staat sich in diesem ein Stück politischer Mitmenschlichkeit, der wir uns Bereich als handlungsunfähig erwiese und die Betrof- als Parlament nicht entziehen dürfen. fenen ihrem Schicksal überließe. (Beifall bei der SPD) Deshalb hat die SPD-Fraktion im Deutschen Bun- destag einen Antrag eingebracht — Hilfe für die Opfer Sie, Herr Bundesminister Seehofer, haben wieder- holt in Interviews angekündigt, den aus der Behandlung mit HIV-kontaminierten Blutpro- Leistungskatalog dukten —, den wir hier in Kürze beraten werden. der gesetzlichen Krankenversicherung zu verändern, so daß sie sich nur noch auf die Absicherung großer Die Bundesrepublik braucht einen nationalen Gesundheitsrisiken zu konzentrieren hat. Hilfsfonds, um wenigstens die materielle Not zu Ich habe — lassen Sie mich dies sagen — große lindern. Dieser Fonds soll aus unserer Sicht zu je Zweifel, ob eine solche Diskussion zum jetzigen einem Drittel aus Mitteln der Pharmaindustrie ein- Zeitpunkt sinnvoll ist. Sie verunsichern einerseits schließlich des Deutschen Roten Kreuzes, ihren Ver- Patienten und Versicherte; andererseits wecken Sie sicherern sowie aus dem Bundeshaushalt gespeist neuerliche Begehrlichkeiten bei denjenigen, die werden. Wir wollen, daß dies noch in diesem Jahr in unsere gesetzliche Krankenversicherung am liebsten Angriff genommen wird. so umkrempeln möchten, daß sie als soziale Kranken- (Zuruf von der F.D.P.: Keine Länder?) versicherung nicht mehr erkennbar ist. Es ist notwendig, daß diejenigen, die jetzt gefordert — Darüber muß man dann verhandeln. Wir wollen, sind, das Gesundheits-Strukturgesetz im Sinne des daß im Bundeshaushalt dafür die notwendigen Mittel Gesetzgebers umzusetzen, sich nicht mit der Ausrede, auch eingestellt werden. daß schon bald wieder eine Umgestaltung kommt, aus Bei allen notwendigen Einsparungen darf dies nicht der Verantwortung der konsequenten Umsetzung des zu Lasten dieser unschuldigen Opfer der größten Gesetzes stehlen. Das, denke ich, sollten wir alle Arzneimittelkatastrophe in der Bundesrepublik bedenken, wenn hier jetzt schon wieder von einer Deutschland gehen. dritten Stufe der Reform geredet wird. Wir sind gemeinsam in der Verantwortung, daß ein (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Kernbereich unserer Gesundheitspolitik, die gesetzli- F.D.P.) che Krankenversicherung, auch in Zukunft funktio- Meine Damen und Herren, lassen Sie mich in niert. Lassen Sie uns darüber diskutieren, wie unnö- diesem Zusammenhang etwas zu Aids und zum Bun- tige Behandlungen vermieden und Rationalisierun- deshaushalt sagen. Obwohl der Bundesregierung gen in unserem Gesundheitssystem ausgeschöpft bekannt ist, daß sich die Aids-Problematik in keiner werden können und eine stärkere Gewichtung der Weise entschärft hat, ja sogar weiter kontinuierlich Prävention, statt der Reparatur bereits eingetretener zunimmt, wurden die Mittel in diesem Bereich eben- Krankheiten erreicht wird. Ich denke, das ist die falls gekürzt. Wie in den vergangenen Jahren stagnie- Diskussion, die wir verstärkt führen müssen. ren die Mittel für die Deutsche Aidshilfe bei 7,5 Mil- Herzlichen Dank. lionen DM, obwohl zusätzliche Aufgaben in den (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der neuen Ländern hinzugekommen und die Ausgaben drastisch gestiegen sind. Auch die übrigen Mittel für PDS/Linke Liste sowie bei Abgeordneten der F.D.P.) andere Maßnahmen der Aids-Aufklärung sind dra- stisch reduziert worden. Das ist unverständlich. Es ist doch wohl unbest ritten, daß Aufklärungsmaß- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile nahmen eine zentrale Aufgabe sind. Ich kündige nunmehr dem Abgeordneten Roland Sauer (Stuttga rt ) Ihnen jetzt schon an, daß wir die Aufstockung der das Wort. Mittel für die Aids-Prävention beantragen werden. (Zuruf des Abg. Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]) Vor allem aber ist es notwendig — und da bitte ich Sie, und da appelliere ich an Sie —, das Stiftungska- Roland Sauer (Stuttgart) (CDU/CSU): Herr Präsi- pital für die beiden Aids-Stiftungen „Positiv leben" dent! Meine Damen und Herren! Stuttgart ist nach den und „Nationale Aids-Stiftung" so aufzustocken, daß Leichtathletik-Weltmeisterschaften eine sehr schöne sie ihren Aufgaben auch nachkommen können. Klammer. 14954 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Roland Sauer (Stuttgart) Ich möchte auf den Vorschlag eingehen, das Schick- Drittens. Auf dem Gebiet der Psychiatrie wurde das sal der HIV-Bluter in die Hand zu nehmen und sagen, hohe Niveau der Ausgaben nahezu gehalten. Hier daß dies sicher ein guter Vorschlag ist. Dies macht uns wird in erster Linie der immer noch schlechte Zustand Haushältern natürlich Probleme, weil wir ja gehalten der Psychiatrie in den neuen Ländern mit der Förde- sind, noch weitere Einsparungen vorzunehmen. Man rung von Modellen in der Höhe von nahezu 9 Millio- muß auch klarmachen, daß die Hersteller und die nen DM deutlich verbessert. Versicherungsgesellschaften hier ihre Verantwortung tragen. Hier darf auch keine Rechtspflicht anerkannt (Beifall des Abg. Dr. Paul Hoffacker [CDU/ werden. Ich hoffe, wir finden im Haushaltsausschuß CSU]) einen Weg, Ihren Vorschlag dann wirklich auch zum Der Kollege Kahl wird nachher dazu noch weitere Tragen zu bringen. Ausführungen machen. Sie sehen also, in diesem (Dr. Paul Hoffacker [CDU/CSU]: Wo ein Sparhaushalt werden durchaus noch sinnvolle Ak- Wille, da ein Weg!) zente gesetzt. — Okay, gut. Lassen Sie mich nun kurz noch zu einem erfreuli- chen Kapitel kommen und gleichzeitig zu einem Zum Haushalt: Dieser Haushalt ist sicher ein Spar- großen Lob an die Adresse von Minister Horst Seeho- und Konsolidierungshaushalt; er liegt immerhin 20 fer: Krankenkassen wieder gesund. Im ersten Halb- unter dem Ansatz des laufenden Jahres. Aber — dies jahr 3 Milliarden DM Überschuß — Seehofers Erfolg. ist schon gesagt worden — dies ist in erster Linie auf So lautet es — wörtliches Zitat — in der kritischen die wegfallende Erstattung von Mutterschaftsgeld in Presse; z. B. auch in der „Süddeutschen Zeitung". Höhe von 215 Millionen DM zurückzuführen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Ich möchte hier nochmals klarmachen, daß auch Zuruf des Abg. Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]) kein Mißverständnis aufkommt: Die Leistung Mutter- schaftsgeld bleibt natürlich voll bestehen. Sie wird nur Die Maßnahmen des Gesundheits-Strukturgeset- ganz von den Krankenkassen übernommen. zes, bei dem Sie, Herr Kollege Thomae, und die SPD mitgearbeitet haben — ich billige Ihnen das gern zu — Herr Kirschner, die Beiträge zur gesetzlichen Kran- greifen. Die vorschnellen Kritiker, die zum größten kenversicherung werden sich aber angesichts der Teil nur auf ihren eigenen Profit aus waren, sind positiven Auswirkungen des Gesundheits-Struktur- kleinlaut geworden. gesetzes nicht erhöhen. Im übrigen — das paßt Ihnen nicht, aber ich sage es trotzdem — sollte man auch (Dr. Hans-Peter Voigt [Northeim] [CDU/ nicht vergessen: Die Krankenkassen werden durch CSU]: Wen meinen Sie damit?) das Urteil zu § 218 StGB von den Aufwendungen für — Ich meine nicht Sie persönlich. Schwangerschaftsabbrüche freigestellt. Darum ist sicher nicht zu befürchten, daß es zu Beitragserhöhun- (Heiterkeit) gen kommt. Trotz mehr Wirtschaftlichkeit und erheblicher Spar- Obwohl das Bundesministerium für Gesundheit maßnahmen ist das hohe medizinische Versorgungs- seinen Beitrag zur Haushaltskonsolidierung leisten niveau erhalten geblieben. Horst Seehofer, Herr Kol- mußte, werden die Ausgabenschwerpunkte der ver- lege Kirschner, hat Spielräume für Beitragssenkun- gangenen Jahre beibehalten. Ich darf hier drei Punkte gen geschaffen, und damit hat er auch einen Beitrag anführen, die zum Teil auch schon von Minister zur Senkung der allzu hohen Lohnzusatzkosten gelei- Seehofer angesprochen worden sind. stet. Jetzt gilt es, die Einsparerfolge dauerhaft abzusi- Erstens. Der neue Titel: Zuschüsse zu Forschungs- chern und neue Begehrlichkeiten im Bereich der vorhaben gegen neue Infektionskrankheiten in Höhe Krankenkassen im Keim zu ersticken. von 2 Millionen DM. Ich glaube, angesichts der (Zuruf von der SPD: Und Begehrlichkeiten Entwicklung zur Aids-Krankheit ist gerade die metho- des Finanzministers!) dische Verbesserung der Früherkennung von neuen Infektionskrankheiten — ich denke hier z. B. an den Der Sparkurs darf nicht geändert werden. Erreger des sogenannten Rinderwahnsinns — von Lassen Sie mich noch ein kurzes Wort zur aktuellen ganz großer Bedeutung. Diskussion über Sonderabgaben für bestimmte Risi- (Beifall bei der CDU/CSU) kogruppen — Tabak, Alkohol und besonders gefähr- liche Sportarten — sagen. Hier werden Probleme Zweitens. Die Förderung der medizinischen Quali- angesprochen, die nur sehr schwer zu lösen sein tätssicherung wird von 3 auf 5 Millionen DM erhöht. werden. Wo beginnt man, wo hört man auf? Wie kann Hier geht es um Wirtschaftlichkeit, um Qualität und ein Bonus-/Malus-System aussehen? Wer stellt fest, auch darum, medizinisch nicht notwendige Leistun- welche Menge von Zigarettenkonsum gesundheits- gen nicht mehr zu akzeptieren sowie durch ein schädigend ist? Qualitätssicherungsprogramm Falschbehandlungen von Patienten über Jahre hinweg zu verhindern. Ich (Zuruf von der CDU/CSU: Das weiß Herr denke, was auch schon angesprochen worden ist, an Dreßler! — Weitere Zurufe von der CDU/ die Röntgen- und Strahlenbehandlung. Beispiele gibt CSU) es ja genug. Eines ist genannt worden. Sage und Fragen über Fragen! schreibe gibt es in Deutschland im Jahr nahezu 100 Millionen Röntgenaufnahmen. Dies ist wirklich Wir wären gut beraten, uns zusammenzusetzen und des Guten zuviel. zu überlegen, wie wir im Rahmen der dritten Stufe der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14955

Roland Sauer (Stuttgart) Gesundheitsreform zu einer vernünftigen Stärkung Experimente mit der Legalisierung von weichen und präventiver Maßnahmen gelangen können. harten Drogen und mit der Heroinabgabe an (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Schwerstabhängige nicht mit. Wir bauen auf die ordneten der SPD) drogenfreie Therapie. Therapieplätze müssen ausge- baut werden. Es ist ein Skandal, daß in SPD-geführten Darüber hinaus — das gefällt vielleicht manchen Ländern, wie z. B. in Hamburg und auch in Nordrhein- jetzt nicht, ich sage es aber trotzdem — sollten wir uns Westfalen, aber auch Gedanken machen, wie wir gemeinsam zu (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Hört! einem praktikablen gesetzlichen Nichtraucherschutz Hört!) kommen können. zu wenig Therapieplätze vorhanden sind, aber großes (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Geschrei um Substitutionsprogramme, Heroinabgabe Ein Vorschlag, lieber Kollege Hofacker, liegt auf dem und Legalisierung von weichen und harten Drogen Tisch. gemacht wird. Wir machen diesen Weg nicht mit. (Zuruf von der CDU/CSU: Hast du schon mit (Beifall bei der CDU/CSU) dem Bundeskanzler gesprochen?)- Für uns gibt es keine Kapitulation vor den Drogen. Wir Dabei geht es nicht darum, den Raucher an den sehen auch keinen Anlaß zu resignieren. Wir führen Pranger zu stellen, wie es in verschiedenen Ländern den Kampf gegen die Drogen. Wir bitten Sie im der Fall ist, sondern es geht darum, dem Nichtraucher, Interesse der Drogenabhängigen und ihrer Familien dem Passivraucher, der durch das Rauchen durchaus und Angehörigen, mit uns diesen Weg zu gehen und einer gesundheitlichen Schädigung ausgesetzt ist, zu nicht zu versuchen, mit Drogen Drogenabhängige helfen und ihn zu schützen. ruhigzustellen, von der Straße wegzubekommen, son- dern sie in eine drogenfreie Therapie überzuführen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Herzlichen Dank. Ein letztes Wo rt als drogenpolitischer Sprecher der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) CDU/CSU-Fraktion zum Kapitel Drogen- und Sucht- mittelmißbrauch. Trotz der aktuellen Finanznöte ist der Ansatz mit über 50 Millionen DM erhalten geblie- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- ben. Dies ist auch angesichts der nach wie vor hohen geordneter Sauer, ich habe nichts dagegen, wenn Sie Zahl von Drogenabhängigen in Deutschland drin- noch bereit sind, eine Frage von Dr. Menzel zu gend geboten. Es gibt nun Stimmen, die die gesamte beantworten. bisherige Drogenpolitik der Bundesregierung und der CDU/CSU, die auf Abstinenz fußt, in Frage stellen. Roland Sauer (Stuttgart) (CDU/CSU): Bitte. Forderungen nach breit angelegter Substitution, nach Heroinabgabe und sogar nach Legalisierung weicher Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Bitte und harter Drogen werden immer lauter. Die Freigabe schön, Herr Dr. Menzel. von Drogen kann nicht das Ziel der CDU/CSU sein, die Ächtung von Drogen ist unsere Drogenpolitik. Dr. Bruno Menzel (F.D.P.): Herr Kollege, darf ich aus (Beifall bei der CDU/CSU) dem, was Sie im Zusammenhang mit den drei Säulen Es bleibt aber nüchtern festzustellen: Es gibt weder Ihrer Drogenpolitik gesagt haben, entnehmen, daß Sie einen Königsweg noch Patentrezepte. Das Drogen- bereit sind, anzuerkennen, daß Drogensüchtige problem ist begrenzbar; aber es wird — wie das kranke Menschen sind, und darf ich daraus ferner Problem des Alkoholmißbrauchs nicht lösbar entnehmen, daß Sie bereit sind, Strafmaßnahmen sein. gegen diese Menschen in Zukunft nicht unbedingt zu fordern? Die Drogenpolitik, die wir durchgesetzt haben und die auch im nationalen Rauschgiftbekämpfungsplan (Beifall bei der SPD — Uta Titze-Stecher festgelegt ist, fußt auf drei gleichwertigen Bereichen: [SPD]: Darum geht es, um die Entkriminali Prävention und Prophylaxe, das Angebot von Thera- sierung!) pieplätzen und differenzie rten Therapieformen sowie repressive Maßnahmen gegen die Dealer und gegen Roland Sauer (Stuttgart) (CDU/CSU): Herr Kollege das organisierte Verbrechen. Menzel, in der Kürze der Zeit konnte ich natürlich nicht ausführlich über die Drogenproblematik spre- (Beifall bei der CDU/CSU Zuruf von der chen. Aber wenn Sie mich schon öfters hier gehört CDU/CSU: Und gegen die Kriminellen!) haben, dann wissen Sie, daß ich immer sage, Drogen- Zu diesem letzten Punkt möchte ich nichts sagen; das abhängige sind kranke Menschen, wir dürfen sie nicht ist Sache der Innenpolitiker und der Rechtspolitiker. stigmatisieren, wir dürfen sie nicht kriminalisieren. Eine verantwortungsvolle Drogenpolitik muß versu- (Dr. Paul Hoffacker [CDU/CSU]: Therapie chen, einen Einstieg in die Droge durch Prävention zu vor Strafe!) verhindern, den bereits Süchtigen zu helfen und die Drogenkarrieren schnell zu beenden. Aber, Herr Kollege Menzel, schauen Sie in die offene Drogenszene unserer Großstädte! Wir dürfen natür- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) lich auch den dritten Punkt, Repression und auch Unser Ziel bleibt ein drogenfreies Leben. Dies Strafmaßnahmen gegen kriminelle Drogendealer, müssen wir gerade der jungen Generation klarma- nicht vernachlässigen. chen. Lassen Sie es mich klar sagen: wir machen (Beifall bei der CDU/CSU) 14956 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Roland Sauer (Stuttgart) i Wir müssen jungen Drogenabhängigen helfen, aber 5 Millionen DM für die neuen Bundesländer einge- wir müssen mit der Härte des Gesetzes gegen Dealer, plant haben, denn hier sind vor dem Hintergrund der ihre Bosse und Kartelle vorgehen, die unsere junge präventiven Infrastruktur besondere Anstrengungen Generation verführen. nötig. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der (Beifall bei der F.D.P.) SPD Abg. Dr. Bruno Menzel [F.D.P.] mel Die knapp 12 Millionen DM, die der Bundeszentrale det sich erneut zu einer Zwischenfrage) für gesundheitliche Aufklärung auch im kommenden Jahr wieder zur Verfügung stehen, sollten in diesem Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Dr. Men- Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben. zel, da Sie jetzt ohnehin dran sind, können Sie am (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Mikrofon stehenbleiben und von dort aus mit Ihren Darlegungen fortfahren. Andere Bereiche, wie die Maßnahmen zur Verbesse- (Heiterkeit — Dr. Paul Hoffacker [CDU/ rung der Versorgung chronisch Kranker sowie auf CSU]: Er kann sich jetzt die Fragen beant dem Gebiet des Drogen- und Suchtmittelmißbrauchs, worten!) - bleiben weitgehend unverände rt. Wichtig erscheint mir darüber hinaus, daß auch im kommenden Jahr Mittel für Modelle für die psychiatrische Versorgung Dr. Bruno Menzel (F.D.P.): Herr Präsident! Meine zur Verfügung stehen. Ich denke, das alles ist Aus- sehr verehrten Damen und Herren! Das heutige druck der gesundheitspolitischen Bedeutung, die die- Thema ist der Haushalt und nicht unbedingt die sen Themen auch in Zukunft beigemessen werden Drogenpolitik. wird. (Roland Sauer [Stuttgart] [CDU/CSU]: Das Die Verdoppelung des Ansatzes für die Erprobung gehört auch dazu!) von Modellmaßnahmen im Bereich der Förderung der Deswegen will ich auf eine weitere Diskussion jetzt medizinischen Qualitätssicherung ist hier schon verzichten. mehrfach erwähnt worden. Ich denke, Qualitätssiche- Es ist uns allen bekannt, daß es in Zeiten knapper rung wird in der Zukunft eine zunehmende Bedeu- Haushaltsmittel wichtig ist, mit den zur Verfügung tung haben. Deswegen ist die Zuwendung von 3 Mil- stehenden Mitteln Schwerpunkte zu setzen. Die lionen DM, mit denen das Gesundheitswesen in den Arbeit der vergangenen Jahre darf den Sparzwängen neuen Bundesländern gefördert wird, von ganz nicht zum Opfer fa llen. Das gilt natürlich auch für den besonderer Bedeutung; denn die medizinische Ver- Haushalt des Bundesministeriums für Gesundheit, der sorgung der Bevölkerung in Ostdeutschland hat sich im Jahr 1994 gegenüber 1993 immerhin um 20 % zwar deutlich verbessert, erreicht jedoch immer noch geringer ausfallen soll. Er findet gleichwohl die nicht überall westdeutschen Standard. Zustimmung der F.D.P.-Bundestagsfraktion, da es Meine Damen und Herren, in einer gesundheitspo- trotz dieses Kürzungsvolumens weitestgehend gelun- litischen Debatte, in der zudem vom Sparen die Rede gen ist, in der Gesundheitspolitik auch im Jahr 1994 ist, kommt man sicherlich nicht am Gesundheits wichtige Akzente zu setzen. Strukturgesetz vorbei. Trotz zum Teil schwerwiegen- Lassen Sie mich kurz auf einige Punkte eingehen. der ordnungspolitischer Bedenken unsererseits ist es Der Bundesgesundheitsminister, Herr Seehofer, hat mit Hilfe der staatlichen Steuerungsinstrumente doch vorhin vorgetragen, welche Probleme es bei den immerhin gelungen, die sich in den letzten Jahren aidsinfizierten Blutern gibt. Ich denke, die Politik tut verschärfende Finanzierungskrise der gesetzlichen gut daran, hier ihre Handlungsfähigkeit zu bewei- Krankenversicherung einigermaßen in den Griff zu sen. bekommen. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Klaus Kirschner [SPD]: Herr Dr. Menzel, Sie Die Unterstützung der F.D.P.-Fraktion für die Bereit- müssen nur öfters auf die SPD hören!) stellung des Geldes kann ich zusichern. Ich denke, sie befindet sich nicht mehr auf der (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Intensivstation, sondern sie ist jetzt auf einer normalen Diesen Menschen muß geholfen werden. Die Mittel- Station. Das war eines der Ziele, und dafür gebührt kürzungen im Bereich der Aidsbekämpfung scheint allen Beteiligten Dank. Ich denke dabei weniger an daher auf den ersten Blick ein falsches Signal zu sein, die politisch Handelnden als vielmehr an die große denn ein Nachlassen im Bemühen, die Immunschwä- Mehrzahl der Leistungserbringer, die nach anfängli- chekrankheit im Bewußtsein der Bevölkerung wach chem und durchaus verständlichem Zögern und uhalten, wäre ein schwerer Fehler. Ich weiß, daß man -z Widerständen auch unter veränderten Rahmenbedin- dies im Ministerium ebenso sieht und aus diesem gungen großes Engagement aufgebracht haben, die Grunde der Prävention und Aufklärung im Rahmen medizinische Versorgung der Bevölkerung auch wei- der Möglichkeiten auch weiterhin breiten Raum terhin auf einem so hohen Niveau zu halten. schenkt. Der Grund für die Minderung ist vielmehr (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — darin zu suchen, daß nunmehr auch die Länder ihren Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Das Verpflichtungen im Bereich der Aidsbekämpfung ver- muß auch einmal gesagt werden, oder?) stärkt nachkommen müssen. Aber, meine Damen und Herren, die Tatsache, daß (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) die GKV nach einem Defizit im Jahre 1992 von mehr Für ausgesprochen wichtig halte ich es in diesem als 9 Milliarden DM nun einen Überschuß von 2,6 Mil- Zusammenhang, daß wir eine Sonderleistung von liarden DM in ihren Kassen hat, soll nicht dazu Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14957

Dr. Bruno Menzel verführen, die Weiterentwicklung unseres Gesund- schärfen. Der konsequente Weg wäre daher der heitswesens aus den Augen zu verlieren oder gar Übergang zu einem kostendeckenden Einheitsbei- — wie leider in letzter Zeit häufiger zu hören war — trag, der durch entsprechende steuerfinanzierte laut darüber nachzudenken, wie den Krankenkassen Zuschüsse sozial flankiert würde. neue Leistungen aufgebürdet werden können, wie (Klaus Kirschner [SPD]: Wie wollen Sie das etwa die Anschubfinanzierung der Pflegeversiche- denn machen? — Gegenruf des Abg. Dr. Die rung. ter Thomae [F.D.P.]: Klaus, das erzählen wir (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Hört! Hört) dir noch!) oder die Kostenübernahme der Behandlungspflege in — Das erzähle ich Ihnen noch ganz genau. — Die Pflegeheimen. Einkommensumverteilung würde damit von der GKV (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Hört! Hört!) dorthin verlagert, wo sie hingehört, in den Steuerbe- reich. Die Krankenkassen brauchen jetzt diese Zeit der Konsolidierung — nicht zuletzt, um sich den Anforde- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das werden wir verhindern, mit Nachdruck!) rungen der Zukunft stellen zu können. Eine- Auswei- tung des Leistungskatalogs wäre kontraproduktiv. — Wir werden ja sehen, was dabei herauskommt. — Daher muß ich diesen Überlegungen im Namen der Was wir aber in jedem Fall und möglichst rasch F.D.P.-Fraktion eine deutliche Absage erteilen. brauchen, ist mehr Flexibilität und Eigenverantwor- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — tung im Gesundheitswesen. Beitragsrückgewähr, Dr. Paul Hoffacker [CDU/CSU]: Dem schlie Kostenerstattung auch für Pflichtversicherte und ßen wir uns an! Das ist ein gutes Wort für modifizierte Eigenbeteiligungsmodelle weisen die morgen!) Richtung. Die Reihe von Vorschlägen ließe sich fort- führen. Wir müssen diese Atempause gemeinsam nutzen, um die Fehlentwicklungen, die durch das GSG leider (Zuruf von der SPD: Papier ist geduldig!) auch hervorgerufen wurden, zu analysieren und unter Meine Damen und Herren, ich habe mir erlaubt, im Berücksichtigung dieser Erkenntnisse über die Rahmen dieser Debatte einige vorwärtsweisende Zukunft unseres Gesundheitssystems nachzudenken. Gedanken zu äußern. Auf keinen Fall dürfen die interventionistischen Maß- nahmen über den vorgesehenen Zeitraum hinaus (Zuruf der Abg. Anke Fuchs [Köln] [SPD]) ausgedehnt werden. Vielmehr gilt es, den Schwer- — Wir brauchen uns jetzt nicht abschließend darüber punkt aller Anstrengungen auf die Umsetzung der im zu einigen, Frau Kollegin, aber wir werden in dieser GSG beschlossenen strukturverändernden Maßnah- Richtung sicherlich noch gemeinsam lebhaft diskutie- men zu legen. ren. (Beifall des Abg. Dr. Dieter Thomae Betonen möchte ich abschließend trotzdem: Ziel [F.D.P.]) aller am Gesundheitswesen Beteiligten muß in jedem Falle sein, unser qualitativ hochwertiges System der Ich denke da z. B. an den Krankenhausbereich. Ver- Gesundheitsversorgung auch über die Jahrtausend- einbart haben wir gemeinsam, daß das Selbstkosten- wende hinaus finanzierbar und leistungsfähig zu deckungsprinzip zugunsten flexiblerer marktwirt- erhalten. Die F.D.P. wird sich dieser Verantwortung schaftlicher Regelungen abgeschafft wird. Anreize zu mit Sicherheit stellen. wirtschaftlicherem Handeln müssen vorhanden sein und in der noch ausstehenden Bundespflegesatzver- Vielen Dank. ordnung konsequent umgesetzt werden. Eine Selbst- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — kostendeckung durch die Hintertür sollte es mit uns Dr. Paul Hoffacker [CDU/CSU]: Wir gönnen nicht geben. uns ja sonst nichts! — Zuruf von der SPD: (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der Verhaltenes Klatschen beim Koalitionspart CDU/CSU) ner!) Mit Budgetierungen, Zulassungsbeschränkungen und Preismoratorien jedenfalls wird die Zukunft unse- res Gesundheitssystems nicht zu retten sein. Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Das Wort (Beifall bei der F.D.P.) hat nunmehr die Abgeordnete Frau Dr. Barbara Höll. Es freut mich, daß das, so glaube ich, auch im Gesundheitsministerium so gesehen wird. (Bundesminister Horst Seehofer: Was heißt der Einschub „glaube ich"?) Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch für das Jahr 1994 — Ich bin immer ein vorsichtiger Mensch gewesen. bleibt der Bund bei seinem nun schon gewohnten, Für die F.D.P. stellt sich daher die Frage, in welcher nichtsdestoweniger absolut inakzeptablen Minimal- Ausgestaltung das System der lohnabhängigen Bei- engagement in Sachen Gesundheit. Wer jedoch tragszahlung in der GKV auf lange Sicht aufrechtzu- gedacht hatte, der Etat des Gesundheitsministers mit erhalten sein wird. Demographische Entwicklung, einem Anteil am Gesamthaushalt von etwa 0,2 % ließe medizinischer Fortschritt und eine seit Jahren sin- sich nun wirklich nicht mehr reduzieren, sieht sich kende Lohnquote werden die Situation weiter ver- eines Besseren belehrt. 14958 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Dr. Barbara Höll Mit einer Zusammenstreichung um sage und cher Dreistigkeit nutzt, um sein eigenes soziales schreibe 20 % ist der Einzelplan 15 der am meisten Engagement einzustellen. gekürzte Teilhaushalt. (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Wol (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Das len Sie die Abtreibung wieder über die Volk ist gesünder geworden!) Krankenkassen finanzieren?) So ist auch dieser Plan Teil des bisher unverschämte- Die Versicherten wie die Leistungsanbieter, denen sten Angriffs auf die sozialen Rechte der Menschen das Gesundheits-Strukturgesetz nicht geringe Opfer dieses Landes. Er ist Teil jener radikalen Politikkor- abverlangt, werden das gewiß nicht ohne Verbitte- rektur, mit der der westdeutsche Wohlfahrtsstaat rung registrieren. zurückgerollt werden soll, nachdem seine spezifische Schaufensterfunktion nach Osten überflüssig gewor- (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Wol den ist. len Sie die Abtreibung finanzieren?) (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Aber nicht Stellen Sie mir eine Frage, wenn Sie etwas wissen mehr zu den Kommunisten!) möchten. - Hauptursache für die Kürzung ist der jetzt vorgese- Aber selbst wenn man die Streichung des staatli- hene Wegfall der bisher üblichen und gesetzlich chen Zuschusses zum Mutterschaftsgeld außer geregelten Erstattung von Mutterschaftsgeld an die Betracht läßt, ist mit dem vorgelegten Einzelplan 15 Krankenkassen im Umfang von jährlich 210 Millionen nicht einmal eine Nullwachstumsrunde angesagt. DM. Im Entwurf des Zweiten Gesetzes zur Umsetzung Anders ausgedrückt: Bei Berücksichtigung der Preis- des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumspro- steigerungsrate bringt dieser Haushalt auch eine gramms heißt es dazu lapidar: deutliche Verringerung der unmittelbar für Gesund- heitszwecke bereitgestellten Mittel. Der generelle Die angespannte Haushaltslage des Bundes läßt Rotstiftkurs für das Gesundheitswesen findet damit die Weiterzahlung der Mutterschaftspauschale in auch im Bundeshaushalt seinen Niederschlag. Und Höhe von 400 DM je Leistungsfall an die Kran- das heißt bei 800 Millionen DM, die der Haushalt kenkasse nicht mehr zu. insgesamt beinhaltet, real: 10 DM pro Bundesbürger Und weiter: oder -bürgerin in diesem Jahr und im nächsten Jahr. Durch die Einstellung der Leistung des Bundes wird der durchschnittliche allgemeine Beitrags- Aber das soziale Grundproblem einer für alle glei- satz in der gesetzlichen Krankenversicherung nur chermaßen zugänglichen, qualitativ hochstehenden unwesentlich belastet. und weiterhin bezahlbaren medizinischen Versor- gung ist mit dem Instrumentarium brutaler Mittelstrei- Demgegenüber muß unmißverständlich festgestellt chungen natürlich nicht zu lösen. Hier kann nur werden: Hier entledigt sich der Staat völlig unverhüllt wiederholt werden: Dazu bedarf es unausweichlich und mit nicht mehr zu überbietender Unverfrorenheit einer anderen Gesundheitspolitik, eines anderen Gei- einer seiner ureigensten sozialen Verpflichtungen. stes der Medizin und einer Strukturreform im Gesund- Die entstehenden Lasten werden eiskalt auf die Soli- heitswesen, die diesen Namen tatsächlich verdient. dargemeinschaft der Versicherten, also auf die Bei- tragszahler, abgewälzt. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Und weni ger psychisch Kranker!) Besonders schlimm finde ich dabei auch, daß gerade diejenigen, die ansonsten den staatlichen Zu den Auswirkungen der Kürzungen nun ein Schutz des ungeborenen Lebens so lautstark einfor- besonders erschreckendes Beispiel. Ganz offensicht- dern, sich jetzt nicht scheuen, einen ohnehin nicht lich bestand — zuletzt auch auf dem Weltkongreß für übermäßig großzügigen Beitrag des Staates zum HIV und Aids in Berlin immmer wieder herausge- Schutze des geborenen Lebens ersatzlos zu strei- stellt — parteiübergreifender Konsens dahin gehend, chen. daß in den Anstrengungen zur Aids-Bekämpfung keinesfalls nachgelassen werden darf. Dessenunge- (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch nicht achtet ist die entsprechende Titelgruppe 12, in der die ersatzlos!) Mittel für einschlägige Aufklärungs- und Bekämp- — Von seiten des Staates ist es gestrichen, weil es die fungsmaßnahmen, aber auch für Forschungs- und Krankenkassen zahlen. Entwicklungsvorhaben enthalten sind, gleich um ein ganzes Drittel reduziert worden. Als einziges neu (Zuruf von der CDU/CSU: Es ist doch ein aufgenommen wurde ein notwendiger Zuschuß zur Ersatz da!) Erforschung anderer, neuartiger Infektionskrankhei- Man muß es schon sagen: Auch dieses Maß an ten. Heuchelei ist kaum zu überbieten. Darüber hinaus besetzt der Einzelplan 15 keinerlei (Zuruf von der CDU/CSU: Die Betroffenen Spielraum, um neue Aufgaben innovativ angehen zu bekommen es!) können. Ich erinnere nur an die dringend erforderli- che Förderung von Forschungen zur Am Rande sei vermerkt, daß es in diesem Fall die gesundheitli- chen Umweltbelastung von Kindern. nach den jüngsten schwerwiegenden Eingriffen durch das Gesundheits-Strukturgesetz gerade wieder Noch eine abschließende Bemerkung zu den Aus- etwas günstigere finanzielle Situation der gesetzli- führungen von Herrn Sauer. Bei der Einführung eines chen Krankenkassen ist, die der Bund mit beträchtli gesetzlichen Nichtraucherschutzes werden Sie un- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14959

Dr. Barbara Höll sere Unterstützung haben. Das sage ich auch als Schon heute nehmen Vertragsärzte 80 % der gesam- Raucherin. ten ambulanten Versorgung wahr, während die ehe- (Beifall der Abg. Uta Titze-Stecher [SPD]) mals traditionell dominierenden Erbringer ambulan- ter Leistungen, die Polikliniken, auf einen Anteil von Aber vielleicht sollte Ihre Fraktion beispielhaft voran- 10 % schrumpften. Die Arzneimittelversorgung in gehen, indem sie z. B. ein allgemeines Verbot der den neuen Bundesländern ist bereits jetzt flächendek- Zigaretten- und Alkoholwerbung tatsächlich schnell kend im gleichen Umfang und auf gleichem Niveau durchsetzt. wie in den alten Bundesländern abgesichert. Fast (Beifall bei der PDS/Linke Liste und der 93 % aller ehemals staatlichen Apotheken sind bereits SPD) privatisiert. Bei der gesamten Diskussion um Risikogruppen oder (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Und besonders gefährliche Sportarten— vielleicht Radfah- leistungsfähiger geworden!) ren oder Auto fahren — halte ich es für ziemlich gefährlich, daß man hier versucht, eine Aufspaltung Ich meine, das sind Erfolge, die sich angesichts der durchzusetzen. Unsere Aufgabe sollte in erster Linie Kürze der Zeit durchaus sehen lassen können. Aufklärung sein, aber andererseits sollten- die durch (Beifall bei der CDU/CSU) die Politik ermöglichten Mittel so eingesetzt werden, In den Krankenhäusern wurde das Soforthilfepro- um in dieser Hinsicht tatsächlich wirken zu können. gramm der Bundesregierung in Höhe von 520 Millio- Ich denke, wir haben genug aktuelle Aufgaben, was nen DM zusätzlich zu den anderen Hilfen und vor- z. B. die Beschriftung von Lebensmitteln betrifft oder nehmlich bei der technischen Ausstattung kurzfristig eine solche Verkehrspolitik, die es mir erlaubt, gefahr- und ohne große Schwierigkeiten umgesetzt. So stieg los radzufahren und nicht aus Gefährdungsgründen die Zahl der Großgeräte im Zeitraum von 1991 bis aufs Auto umsteigen zu müssen. 1993 von 141 auf 308 an, was sich nachhaltig auf die Ich bedanke mich. Verbesserung der stationären medizinischen Betreu- (Beifall bei der PDS/Linke Liste und der ung auswirkt. SPD) Noch immer ist der Nachholbedarf beim Bauzu- stand der Krankenhäuser immens, wenngleich auch hier die Bundesregierung aus der Investitionspau- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort schale im Rahmen des Gemeinschaftswerks Auf- hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Harald Kahl. schwung Ost 5,3 Milliarden DM und weitere Invest mittel aus dem kommunalen Kreditprogramm bereit- Dr. Harald Kahl (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine stellte. Damen und Herren! Ich möchte es mir und Ihnen Meine Damen und Herren, trotz aller Erfolge bei der ersparen, auf das eben Vorgetragene einzugehen. Ich Krebsbekämpfung steht diese Erkrankung noch ganz glaube das, was wir von Frau Höll gehört haben, oben in der Liste der Erkrankungshäufigkeit. Der kommentiert sich in weiten Passagen selbst. Mittelansatz von 51,2 Millionen DM trägt dieser (Beifall des Abg. Dr. Paul Hoffacker [CDU/ Situation Rechnung und zielt mit Ausgaben von CSU] und des Abg. Dr. Bruno Menzel [F.D.P.] 25,8 Millionen DM allein für die neuen Bundesländer — Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]: darauf hin, daß mit dieser überproportionalen Zuwei- Das ist aber arrogant!) sung für die neuen Bundesländer einerseits der Auf- bau neuer Versorgungseinrichtungen, andererseits Der Haushalt 1994 ist ein Sparhaushalt. Somit ist es auch die Angleichung des onkologischen Versor- nur zu logisch, daß auch der Einzelplan 15 davon gungsniveaus an die Verhältnisse in den alten Bun- betroffen wird. Dennoch meine ich, die Schwerpunkte desländern gefördert werden soll. des Einzelplans haben nur geringfügige Kürzungen erfahren. Im Falle der medizinischen Forschung, bei (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) der medizinischen Qualitätssicherung und den inter- Schwerpunkte bilden hierbei der Einsatz neuer nationalen Verpflichtungen Deutschlands, so bei- Diagnose- und Therapieverfahren in den Tumorzen- spielsweise dem Beitrag zur Weltgesundheitsorgani- tren sowie die Förderung von Kooperationsmodellen sation, werden die Mittel zum Teil erheblich aufge- in Form von fachübergreifender Zusammenarbeit stockt. zwischen stationär tätigen und niedergelassenen Ärz- Aus der Sicht eines Abgeordneten aus den neuen ten. Zur Verbesserung der Situation krebskranker Bundesländern bietet der vorgelegte Haushalt die Kinder, bei deren Behandlung beispielsweise an der Gewähr dafür, daß das Niveaugefälle zwischen dem Jenaer Universitätsklinik unter Leitung von Prof. ost- und westdeutschen Gesundheitswesen weiterhin Dr. Zinti international anerkannte Erfolge erzielt wer- spürbar abgebaut wird. den, ist der Ausbau einer Knochenmark-Spenderda- (Beifall bei der CDU/CSU) tei, in der die bisherigen Einzelinitiativen bundesweit zusammengefaßt werden, zwingend erforderlich. Mit der Übernahme des gegliederten Krankenver- sicherungssystems ist dazu schon ein wesentlicher (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Beitrag geleistet worden. Ärzte, Zahnärzte und Apo- Von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die theker stehen an der Spitze der freiberuflichen Exi- weitere Krebsforschung ist auch die Tatsache, daß stenzgründungen in Ostdeutschland. nunmehr nach jahrzehntelanger Geheimhaltung in (Dr. Klaus-Dieter Feige [BÜNDNIS 90/DIE der ehemaligen DDR bundesweit die Informationen GRÜNEN]: Und der Verdiener!) aus dem damaligen Krebsregister einer Auswertung 14960 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Dr. Harald Kahl zugeführt werden können. Die SED-Machthaber hiel- Erstens. Wenn der Gesundheitsminister an anderer ten dieses Register streng geheim, weil sie befürchte- Stelle betont, daß sich in den neuen Ländern die ten, daß die Gesundheitsdaten, vornehmlich die der Umstellung auf die Strukturen der alten Länder Wismut-Angehörigen, die ca. 6 000 Krebserkrankun- schnell und bei deutlicher Verbesserung in der medi- gen auswiesen, für Unruhe in der Bevölkerung hätten zinischen Versorgung vollzogen habe, so ist das für sorgen können. die Ärzte in freier Niederlassung zutreffend. Aller- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Sozialisti dings ist nicht zu übersehen, daß viele ärztliche sche Erblast!) Kollegen genötigt waren, in den vorzeitigen Ruhe- stand zu gehen. So etwas hätte das Lügengebilde von dem Vorzeige- gesundheitswesen der DDR genauso erschüttert, wie Für die Entwicklung der Krankenhäuser ist bundes- es nach der Wende beim direkten Niveauvergleich seitig langfristig finanziell gesorgt. Dies soll nach- mit dem westdeutschen Gesundheitswesen ge- drücklich hervorgehoben werden, wenn auch die schah. Länder jetzt schon wieder offenbar andere Tendenzen (Beifall bei der CDU/CSU) erkennen lassen. Insgesamt gesehen, liebe Kolleginnen und- Kolle- gen, kann man sich angesichts dieses Einzelplans für Aber in einem Bereich hat der Umbruch zu erheb- die Ausgaben im Gesundheitswesen nur den unlängst lichen Verwerfungen in der Krankheitsbehandlung, von Minister Seehofer gebrauchten Worten anschlie- Sozialbetreuung und Rehabilitation geführt. Ich spre- ßen: „Wir sparen am Überflüssigen und an der Ver- che von der Psychiatrie in den neuen Bundesländern. schwendung. Dafür garantieren wir das Notwen- Hier bot ein Betreuungssystem — es war nicht optimal, dige". aber eingespielt und vor Ort variabel — schnelle Hilfe. Diesem Betreuungssystem für die psychisch Kranken (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge wurde nach der Wiedervereinigung der Boden entzo- ordneten der F.D.P.) gen. Das, was in der Bundesrepublik noch immer nicht Ich möchte ergänzen: Dieses Notwendige ist dazu umgesetzt wurde, die sozialrechtliche Gleichstellung noch mit den klaren Schwerpunktsetzungen vor allem von psychisch kranken mit somatisch kranken Men- im Gesundheitswesen der neuen Bundesländer, aber schen, schlug voll auf die neuen Länder durch. auch im Bereich der Krankheits- und Therapiefor- schung definiert. Es wäre zu einfach, sich seitens des Gesundheitsmi- Wenn wir diesen Weg in Zukunft weiter beschreiten nisters damit herauszureden, dies falle in die Kompe- — das Gesundheits-Strukturgesetz war dazu ein wich- tenz der Länder. Man könne dieses Problem deshalb tiger, unerläßlicher erster Schritt —, können wir auch nicht lösen. Der Bund ist insgesamt für die Reform der künftig Ausgaben beschränken, ohne an den medizi- Psychiatrie zuständig, da erstens in diesem Bereich nischen Versorgungsleistungen, die notwendig sind, Angelegenheiten durch die Gesetze in den einzelnen zu sparen. Wir können diese medizinischen Versor- Ländern nicht wirksam genug geregelt werden kön- gungsleistungen in der Weise realisieren, wie sie nen, zweitens die Gleichheit der Lebensverhältnisse notwendig sind. von psychisch Kranken in allen Ländern zu gewähr- Ich danke. leisten ist und drittens der Bund für die wesentlichen Leistungsgesetze zuständig ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Was, so werden Sie erwidern, will er? Im Haushalts- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort plan 1994 sind die Zuwendungen für Institutionelle hat nunmehr der Kollege Dr. Knaape. Förderungen gegenüber 1993 erheblich aufgestockt worden. Das haben Sie, Herr Gesundheitsminister, hervorgehoben und betont. Die Höhe dieses Betrages Dr. Hans-Hinrich Knaape (SPD): Herr Präsident! ist der dringlichen Notwendigkeit aber nicht ange- Meine Damen und Herren! Ohne Zweifel verlangt die messen — dies insbesondere, da auch bei der Projekt- gegenwärtige Finanzlage auch Einsparungen im förderung und der Förderung von Modellen auf dem Haushalt des Bundesministers für Gesundheit. Aber Gebiet der psychiatrischen, psychotherapeutischen man wird fragen dürfen: Muß man deshalb offensicht- und psychosomatischen Versorgung, also in anderen liche Mängel im Zuständigkeitsbereich des Ministers Bereichen, gegenüber 1993 Streichungen und Absen- auch noch konsolidieren? Wenn für den Haushalt gilt kungen erfolgten. — ich zitiere Herrn Finanzminister Waigel — er spa rt, „nicht zu Lasten der Konjunktur", dann darf er auch Hinderlich für die Entwicklung der Psychiat rie ist in nicht zu Lasten der medizinisch Hilfebedürftigen den neuen Ländern ferner, daß der Bund — dies ist Ihr gehen. Jene Bürger, die ohne unsere Einflußnahme Bazillus — sich jeweils nur für drei Jahre für die Gefahr laufen, aus den zwischenmenschlichen Bezie- Förderprogramme finanziell als zuständig erachtet hungen gedrängt zu werden, bzw. in der Gesellschaft und dann diese angeschobenen Maßnahmen in ihre überhaupt nicht Fuß fassen können, müssen auch in Selbständigkeit entlassen werden, die aber vor Ort in Zeiten des Sparens beachtet werden; dies um so mehr, den neuen Ländern nicht erreicht wird. Man darf doch damit die Vernachlässigung sich nicht in den kom- nicht übersehen, daß in den neuen Ländern eine völlig menden Jahren ausgabensteigernd in den Haushal- andere Situation gegeben ist, als sie zur Zeit der ten niederschlägt. Psychiatriereform in den alten Bundesländern gege- Drei Aufgabenbereiche, die heute schon diskutiert ben war. Das ist das Ausschlaggebende. Die Pro- worden sind, möchte ich ansprechen. gramme laufen nur weiter, wenn sie weiter angescho- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14961

Dr. Hans-Hinrich Knaape ben werden. Fünf Jahre wäre das mindeste; darüber nachgelesen? — Wenn Sie dies getan hätten, dann muß man diskutieren. hätten Sie festgestellt, daß die Mittel für den Drogen- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke und Suchtmittelmißbrauch sogar um 20 000 DM Liste) erhöht worden sind. Es kann nicht einfach übernommen werden, was (Zurufe von der SPD: Oh!) sich in den alten Bundesländern als gut erwiesen hat — Entschuldigung, wenn er sagt, die Mittel gehen und was in den neuen Bundesländern dann nicht läuft. zurück: Das ist mehr und nicht weniger. Andere Situationen erfordern andere Verhältnisse. (Dr. Paul Hoffacker [CDU/CSU]: Das ist doch Darüber muß man sprechen, und dann muß man nicht verknappen, das ist vergrößern!) notfalls die vorgefaßten Meinungen oder Ansichten revidieren. (SPD): Ich nehme diesen (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Dr. Hans-Hinrich Knaape Betrag, den Sie genannt haben, zur Kenntnis. Er ist an Liste) sich zu lächerlich, um dazu so eine Frage zu stellen. Zweitens. Ein weiteres Problem im Haushalt sind die Suchtkranken. Der Bundesminister erkennt rich- (Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben aber gesagt: weniger!) tig, daß die Prävention von Drogenmißbrauch beson- ders bei den jüngeren Altersgruppen der Bevölkerung Zuwendung bedarf. Wenn sich die Zuwendung wie- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr der in einer in ihrer erzieherischen Wirkung fragwür- Sauer möchte noch einmal nachfragen. Bitte sehr, digen großflächigen Plakatierung zeigt, bei einer Herr Abgeordneter Sauer. Absenkung der Zuschüsse an die in der Prävention vor Ort erfahrenen Einrichtungen und Verbände der Dro- (Stuttgart) (CDU/CSU): Herr Kollege genhilfe aber gespart wird, so wird man fragen, ob Roland Sauer Dr. Knaape, ich frage Sie: Ist Ihnen bekannt, daß wir diese Verteilung einerseits und die Höhe der aufge- 50,8 Millionen DM für dieses Kapitel bereitstellen? wandten Mittel andererseits der drängenden Annähe- rung an eine Lösung des Problems entsprechen. Das, Herr Sauer, was Sie gesagt haben, zeigt, daß Sie in Dr. Hans-Hinrich Knaape (SPD): Das ist mir Ihrer Drogenpolitik vernagelt sind. Auch sollen nur bekannt, ja. die erfolgreichsten Modelle qualifizierter Entzugsbe- (Roland Sauer [Stuttga rt] [CDU/CSU]: Also, handlungen und sozialer Eingliederung weitergeführt okay!) werden — wiederum eine Streichung in diesem Erwähnen möchte ich auch noch, daß nicht wieder Bereich. durch eine Vorbehaltsklausel der Abruf von Geldern Ebenso muß nach unserer Auffassung im For- für die Rückkehrhilfe für deutsche Drogenabhängige schungsbereich auf dem Gebiet des Drogen- und aus den Niederlanden blockiert wird. Für einen Bür- Suchtmittelmißbrauchs nicht nur in der Prävention, ger mit deutscher Staatsangehörigkeit sollte der Bund sondern auch im Bereich der Erforschung neuer bei der Rückführung zuständig sein, da der Wohnsitz, therapeutischer Zugangswege zum Suchtkranken, in welchem Bundesland auch immer er wäre, meist was Herr Menzel ja deutlich hervorgehoben hat, und strittig ist. im Bereich der Führung in von Suchtkranken kriti- Nun zu einem dritten Problem: Die Umstellung der schen Phasen der Sucht investiert werden. ambulanten Versorgung auf niedergelassene Ärzte in (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Sehr gut!) eigener Praxis führte zur Auflösung der Polikliniken Erfahrungen mit neuen therapeutischen Zugangswe- in den neuen Ländern. Diese medizinische Versor- gen, auch unter dem Einsatz von Drogen, sind not- gung durch Polikliniken war durch die Bevölkerung wendig, nicht eine Legalisierung von Drogen. akzeptiert (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ Liste) CSU]: Daran hat sich auch nichts geändert! — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Die Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Sind Sie hatten auch nichts anderes!) bereit, eine Frage zu beantworten? und hat auch durch ihre Bündelung ärztlicher, pa- ramedizinischer und sozialfürsorgerischer Versor- Dr. Hans-Hinrich Knaape (SPD): Ja. gungsangebote durchaus Vorteile für die Bürger, besonders für die Senioren mit mehrfachen Beschwer- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr den und Krankheiten, gehabt. Sauer, bitte schön. (Beifall der Abg. Dr. Barbara Höll [PDS/Linke Liste]) Roland Sauer (Stuttgart) (CDU/CSU): Herr Kollege Knaape, habe ich Sie richtig verstanden? Sie sagten, Wir werden erneut unseren Antrag einbringen, die Mittel für die Drogenhilfen wären zurückgegan- Modellprogramme für die Umstrukturierung der ehe- gen. maligen Polikliniken in integrierte Gesundheitszen- tren zu entwickeln und diese durch eine wissenschaft- Dr. Hans-Hinrich Knaape (SPD): Ja. liche Forschung im Hinblick auf ihre Effektivität (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Aber die Roland Sauer (Stuttgart) (CDU/CSU): Dann darf ich Privatisierung der Ärzte machen Sie nicht Sie fragen: Haben Sie das einmal im Haushaltsplan mehr rückgängig!) 14962 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Dr. Hans-Hinrich Knaape insbesondere als eventuell richtungsweisende medi- Dies ist zum einen besonders deswegen der Fall, zinische Einrichtungen der Zukunft zu begleiten. weil unsere Umweltpolitik, die Umweltpolitik in einer Es dürfte Ihnen vielleicht nicht bekannt sein, daß Marktwirtschaft, dem Verursacher- und Vorsorge- sich in dem Bereich, für den Herr Menzel auch prinzip verpflichtet war, ist und weiter bleiben wird. zuständig ist, in Sachsen-Anhalt, in Magdeburg, Dies bedeutet aber im Klartext: Umweltpolitik muß Kosten der privaten Produktion und des Konsums, die (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Der ist gegenwärtig auf die Umwelt, auf kommende Genera- in Dessau zuständig, nicht in Magdeburg!) tionen und auf die Dritte Welt abgewälzt werden, eine florierende Poliklinik in einem Gebäude der AOK wieder zu betrieblichen Kosten machen. Sie muß sie in befindet. die Preise hineinbringen. Wir brauchen, wie Ernst (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Ulrich von Weizsäcker gesagt hat, ökologisch ehrliche Liste) Preise. Verursacherprinzip also, nicht Gemeinlast- Jetzt in der Diskussion um neue Strukturen der prinzip! Die Qualität einer Umweltpolitik mißt sich an ambulanten Versorgung auch durch die Ärzte müßte der erfolgreichen Durchsetzung des Verursacherprin- der Gesundheitsminister selbst die Initiative ergrei- zips, so wichtig ergänzende Haushaltsmittel auch fen. Es besteht die Gefahr, daß am falschen Ende sind. gespart wird. Wir müssen uns heute darauf vorberei- Dieses Verursacherprinzip durchzusetzen, also, ten, welche Struktur nach dem Jahre 2000, wenn eine wenn Sie so wollen, einen Abbau der ökologischen deutliche Zunahme der Senioren in unserer Gesell- Subventionen zu erreichen, ist natürlich in einer schaft gegeben ist, optimal für die ambulante, ärztli- Schwächephase der Wirtschaft schwieriger als in che und rehabilitative sowie psychosoziale Versor- einem wirtschaftlichen Boom. Ökologische Subven- gung ist. tionen abzubauen ist schwieriger in einem offenen Wir erwarten eine konstruktive Diskussion von der Weltmarkt, wo stets auch von Arbeitnehmern die Regierungskoalition bei der Haushaltsdebatte im Besorgnis geäußert wird, daß weltweit andere Wett- Ausschuß. bewerber, die nicht mit gleicher Nachdrücklichkeit Umweltpolitik betreiben, dadurch Arbeitsplätze über Auf einige Mängel im Haushaltsplan habe ich Umweltdumping anlocken und damit nicht die hingewiesen. Wenn der Haushalt nach den Worten Umwelt entlasten, sondern nur die Standorte verän- unseres Finanzministers ein Spar- und Konsolidie- dern. rungshaushalt sein soll, der nicht zu Lasten der Konjunktur spart, dann müssen wir auch in unserem Diese Argumente, die auf eine Harmonisierung Bereich, in dem des Gesundheitsministers, nachden- hinzielen, sind ernst zu nehmen. Deswegen müssen ken und übernehmen, was der Konsolidierung der wir die Umweltfragen mit in die GATT-Verhandlun- medizinischen Betreuung in den kommenden Jahren, gen integrieren, um nur ein Beispiel zu nennen. insbesondere nach dem Jahre 2000, dient. (Beifall bei der CDU/CSU) Kurzsichtige Streichungen und Auslassungen sowie Verschiebungen sollten, wenn es um das we rtvollste Das ist sicherlich eine Lücke in unseren Diskussionen Gut unserer Bürger, die Gesundheit, geht, nicht in Rio. Ich bin im Gespräch mit den Kollegen aus den angebracht sein. Wir sollten darüber nüchtern, sach- anderen hochentwickelten Industriestaaten, um dies lich und begründet streiten und uns dann nach der schrittweise abzubauen. Diskussion einigen, so wie wir uns heute auch bei den Es ist kein Wunder, daß in einer solchen Zeit eine Hämophiliekranken — wie hier aus dem Auditorium, engagierte, eine handelnde Umweltpolitik auch in der dem Plenarsaal, zu erkennen war — geeinigt Kritik von Wirtschaft und von Gewerkschaftern steht. haben. Dies ist gegenwärtig bei uns der Fall. Manchmal Ich danke Ihnen. wundert man sich ja, wie weit Wertungen auseinander gehen. Die einen sagen mir, wir würden nicht han- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste deln, nur ankündigen. Die anderen sagen, wir stellten sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und durch unsere Umweltpolitik den Standort Deutsch- der F.D.P.) land in Frage. Auf eines sollte sich die Opposition einigen. Ich glaube, wir haben konsequent gehandelt Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun lie- und damit eine gute Chance für den Standort Deutsch- gen mir zum Geschäftsbereich des Bundesministers land geschaffen. für Gesundheit keine Wortmeldungen mehr vor. (Zurufe von der CDU/CSU: Sehr richtig!) Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesmi- nisters für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- Wir haben dies auch auf den Prüfstand wissen- heit. Ich kann dem zuständigen Minister, Dr. Klaus schaftlicher Analyse gestellt. Ich habe unabhängige Töpfer, das Wort erteilen. sachverständige Institute gebeten, unsere Umweltpo- litik auf ihre Arbeitsmarktwirkung zu untersuchen. Es zeigt sich deutlich: Unsere Umweltpolitik in Deutsch- Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister für Umwelt, land hat Arbeitsplätze geschaffen. Gegenwärtig sind Naturschutz und Reaktorsicherheit: Herr Präsident! 680 000 Menschen in Deutschland von Umweltpolitik Meine sehr verehrten Damen und Herren! Umweltpo- abhängig, litik in Deutschland im Jahre 1993 ist mehr denn je ein zentrales Element der Strukturpolitik und ist zugleich (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ein zentrales Element bei der Verzahnung von und zwar mit steigender Tendenz. Und dies ist ein Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik. Nettoeffekt. Ich betone das, damit man nicht meint, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14963

Bundesminister Dr. Klaus Töpfer wir hätten das, was durch zu hohe Umweltstandards stellt worden. Es bestätigt nachhaltig unsere führende weggefallen ist, gegenzurechnen vergessen. Rolle in der Bewältigung ökologischer Probleme. Gleichzeitig ist Umweltpolitik, ist Umwelttechnik Ich sage das nicht mit irgendwelchem überzogenen eines der Markenzeichen Deutschlands in der Welt Selbstbewußtsein, sondern um deutlich zu machen, geworden. Wir haben den höchsten Anteil an umwelt- daß wir die Herausforderung der Ökologie auch in technologischen Exporten. Dem Kanzlerkandidaten einer Zeit aufgegriffen haben, wo der eine oder der SPD sei gesagt: andere vielleicht glaubt, es sei nicht die Zeit dafür. (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Wer Es ist eindeutig klar, daß wir aus der Wegwerfge- ist denn das?) sellschaft nur herauskommen, wenn wir mit den Die Patentbilanz Deutschlands ist gerade bei den Produktpreisen auch die Abfallkosten bezahlen, Umwelttechnologien mit Abstand führend. Wir haben wenn wir Rücknahmeverpflichtungen installieren. hier weltweit Maßstäbe gesetzt. Diesen Schritt sind wir mit der Verpackungsverord- nung gegangen, und diese Verordnung hat sich bisher Meine Damen und Herren, Umweltpolitik ist im bereits als die wirksamste Methode zur Vermeidung wiedervereinten Deutschland aber auch unmittelbar- von Verpackung herausgestellt, die je in Ang riff wesentliches Element einer aktiven Arbeitsmarktpo- genommen worden ist. litik. In den neuen Ländern sind gegenwärtig allein auf der Grundlage des § 249h, den wir ja neu in das (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Arbeitsförderungsgesetz eingefügt haben, rund In 40 Jahren bundesrepublikanischer Entwicklung 50 000 Menschen unmittelbar mit Umweltsanierung sind die Verpackungsmengen ständig angestiegen. beschäftigt. Wir haben in der letzten Zeit 120 000 Jetzt sind sie zum ersten Mal um sage und schreibe Menschen im ABM-Bereich beschäftigt. 500 000 t zurückgegangen. Das ist eine Wirkung von Ich habe mir persönlich viele dieser Gesellschaften, Produktpreisen, die auch die Abfallendkosten enthal- die sich in Bitterfeld und anderswo damit beschäfti- ten und damit ein Eigeninteresse der Betroffenen gen, nicht nur angesehen, sondern ich habe auch mit auslösen, Abfall zu vermeiden. den Menschen gesprochen, und ich muß sagen, es ist Auch die von unseren Bürgerinnen und Bürgern so eine außerordentlich wichtige, für die Volkswirtschaft großartig aufgegriffenen Möglichkeiten des Entpak- und für die Zukunft Deutschlands zentrale Arbeit. Ich kens im Laden haben zu einer Revolution der Umver- wehre mich gegen eine Diffamierung dieser Arbeit. packungen geführt. Umverpackungen sind dezimiert (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) worden. Fragen Sie nach, wo Sie wollen, und Sie stellen fest: Es ist praktisch keine Verpackung unver- Weil ich weiß, daß dies einer der Punkte in unserer Diskussion ist, sage ich Ihnen: Im Braunkohlebereich ändert geblieben. Sie sind verkleinert, vermieden, werden bei der Sanierung etwa 15 000 Menschen ökologisch besser gestaltet worden. Damit ist eine sinnvoll beschäftigt; 2 bis 3 Milliarden DM pro Jahr völlige Veränderung auf dem gesamten Verpak- kungsmarkt erreicht worden. Ich finde, es ist gut, werden von Bund und Ländern dafür ausgegeben, Mittel, die nicht in meinem Haushalt erscheinen, die unseren Bürgerinnen und Bürgern dafür zu danken, aber zu 75 % vom Bund gezahlt werden. Entscheidend daß Sie das Instrument aufgegriffen und damit wirk- ist, daß wir die Arbeit zur Umweltsanierung machen, sam gemacht haben. Das ist gut und richtig. und nicht, ob ich mit einen in der Optik besseren (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Haushalt wünsche. Entscheidend ist der Effekt und nicht die Optik. Entgegen allen Besorgnissen ist der Anteil der Mehrwegverpackungen nicht gesunken, sondern er (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ist in dieser kurzen Zeit von etwa 72 % auf über 74 % Braunkohlensanierung, sinnvolle Nutzung des angestiegen. Ich suche immer noch weltweit Leute, § 249h, weitere AB-Maßnahmen — alles das sind die in diesem Bereich weiter sind als die Bundesrepu- Ergebnisse unserer umweltpolitischen Arbeit. Wir blik Deutschland. Wir brauchen keinen Vergleich zu werden sie gezielt fortsetzen. scheuen. Das Ziel ist es, ökologische Subventionen abzu- Noch einmal: Unsere Maßnahmen waren und sind bauen. Dabei sind Preise zu verändern, denn Preise in erster Linie Vermeidungsmaßnahmen. Aber auch verändern Verhalten, und Preise verändern technolo- der zweite Schritt muß gegangen werden. Was noch gische Entwicklungen. Das ist der Weg zu einer nicht vermieden wird, muß wiederverwertet werden. ökologischen Marktwirtschaft, und diese ist — davon Auch hier wiederum Dank und Anerkennung unse- sind wir fest überzeugt — erfolgreicher als jeder rem Bürgerinnen und Bürgern. Wir haben nicht an ökologische Dirigismus und jede planwirtschaftliche irgendeiner Stelle durch die Verordnung Plastikver- Überlegung. packungen bewirkt; aber wenn sie getrennt gesam- melt werden, wird endlich einmal jedem vor Augen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge geführt, daß wir Entsorgungstechniken dafür bauen ordneten der F.D.P.) müssen. Ohne diesen Druck wäre nichts in Gang Weltweit, meine Damen und Herren, werden wir als gekommen. Jetzt ist es so, daß in Zeitz, bei Espag, Beispiel für den mutigen Schritt von der Wegwerfge- Schwarze Pumpe und anderswo Entsorgungs- und sellschaft zur ökologischen Kreislaufwirtschaft ange- Wiederverwertungstechniken in Gang kommen, daß sehen. Freiwillig haben wir uns als erste auf den investiert wird für Arbeitsplätze und für eine Kreis- Prüfstand einer internationalen Begutachtung durch laufwirtschaft, die vernünftig ist, und zwar, meine die OECD gestellt. Das Ergebnis ist öffentlich vorge Damen und Herren, nicht als eine Maßnahme des 14964 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Bundesminister Dr. Klaus Töpfer

Dirigismus, sondern als Ausfluß einer ökologischen Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Herr Bun- Marktwirtschaft. desminister, entschulden Sie, daß ich Sie unterbreche. Gemäß Art . 43 Abs. 2 unseres Grundgesetzes haben Wir haben der Wi rtschaft die Chance gegeben, in Sie unbeschränkt und jederzeit Rederecht. Aber ich Eigenverantwortung diese Aufgaben zu bewältigen. mache Sie darauf aufmerksam, daß die Zeit, die Sie Dabei hat es massive Schwierigkeiten gegeben, und jetzt in Anspruch nehmen, auf Kosten Ihrer Fraktions- ich stehe nicht an, auch hier deutlich zu sagen: Ich kollegen geht. habe überhaupt kein Verständnis dafür, wenn es Leute gibt, die auf Verpackungen einen grünen Punkt Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister für Umwelt, als Signal für die Verwertungskosten drucken und Naturschutz und Reaktorsicherheit: Herr Präsident, ihre Finanzmittel nicht denen zur Verfügung stellen, mir war gesagt worden, ich hätte zehn Minuten die sammeln und wiederverwerten. Dies kann nicht Zeit. sein!

(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Sie hatten SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — schon zwölf. Hans Georg Wagner [SPD]: Das sind Betrü- ger!) Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit: Da sehen Sie Wir haben uns mit Erfolg bemüht, dies abzustellen. einmal, wie schwierig es ist, eine gute Umweltpolitik Davon gehe ich aus. Wir haben ihnen die Chance in kurzer Zeit darzustellen. Aber ein Satz sei mir noch gegeben. Es ist eine Öffnung für die Wirtschaft. Ich gestattet, Herr Präsident, ohne daß das auf Kosten der kann mir vorstellen, daß die Kolleginnen und Kolle- Fraktion geht, was mich wirklich betrüben würde. gen der SPD offenbar nur Lösungen für möglich Ich wollte nur einen Hinweis auf die Energiege- halten, die der Staat macht. Diese Meinung haben wir spräche geben, die wir führen. Ich möchte es deswe- nicht. Wir wollen die privatwirtschaftlichen Möglich- gen tun, weil wir heute Anlaß hatten, das zu verdeut- keiten aufgreifen und damit Effizienzgewinn haben. lichen. Ich halte diese Energiekonsensgespräche für Dies gilt in hohem Maße auch für Situationen in den außerordentlich konstruktiv in der Atmosphäre und in neuen Bundesländern. dem Bestreben aller, zu einem vernünftigen Ergebnis Meine Damen und Herren, dies ist die zweite große zu kommen. Es steht dabei fest, daß wir diese Pro- Herausforderung. Wir brauchen eine Entsorgungsin- bleme von den erneuerbaren Energien über Energie- frastruktur, eine Umweltinfrastruktur bei Kläranla- sparen, über die Nutzung heimischer Energien, Stein- gen, bei Abfallbeseitigungsanlagen, bei der Sanie- kohle und Braunkohle, bis hin zur Frage der Kern- rung von kontaminierten Böden, die uns aus der alten energie klären müssen. DDR-Zentralplanwirtschaft überkommen sind. Wir Über eines sind wir uns alle im klaren, meine wollen auch hierzu privates Kapital heranziehen. Damen und Herren, alle, egal, welche Vorstellungen Gegenwärtig werden in den neuen Bundesländern über die Dauer der Nutzung der Kernenergie beste- 46 Kläranlagen mit privatem Kapital geplant, gebaut, hen: daß wir zu einem Konsens in der Entsorgung oder sie sind schon fertiggestellt worden. 4,3 Milliar- kommen müssen. Wem hilft es denn, wenn wir hier den Mark werden damit bewegt. den Bundestag blockieren? Überhaupt niemandem. Ich habe zu einem Gespräch eingeladen, aber nur Ich wäre froh, wenn in den alten Bundesländern in unter der Bedingung, daß hier freiwillig abgezogen 40 Jahren Bestehen der Bundesrepublik Deutschland wird. Das ist die Voraussetzung dafür, daß wir ver- jemals so viele private Kläranlagen gebaut worden nünftige Gespräche führen. Als das nicht geschehen wären. Respekt vor denen, die do rt die Verantwortung ist, habe ich gesagt: Wir werden es hier im Plenum dafür übernehmen und das so gemacht haben. Dies ist darstellen. Wachstumspolitik und Umweltpolitik zugleich. Wir Erstens. Das Bundesverwaltungsgericht hat klar werden sie gezielt fortsetzen. gesagt, daß Morsleben bis zum Jahre 2000 rechtens Ich habe großen Anlaß, mich an dieser Stelle bei den betrieben werden kann, und zwar für Deutschland Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern meines Ministeri- insgesamt. ums zu bedanken. Nur mit einer unglaublich hohen Zweitens. Es ist ganz unstrittig, daß wir unabhän- Arbeitsbelastung ist es möglich gewesen, so voranzu- gige Gutachten haben anfertigen lassen und daß nach kommen. Aussage der Reaktorsicherheitskommission das Lager Morsleben weiter nutzbar ist. Mit Blick auf den Etat tut mir im Augenblick die vorgesehene Einschränkung der Personalstellen am Drittens. Es geht um eine veränderte Einlagerungs- allermeisten weh. Wir wollen deswegen sehr viel qualität. stärker das Umweltbundesamt, das Bundesamt für Viertens. Die Lagerung geschieht nicht auf Kosten Strahlenschutz und das neue Bundesamt für Natur- des Steuerzahlers, sondern die Kosten werden über schutz mit heranziehen — nicht mit einer Beschrän- die Gebühren auf diejenigen abgewälzt, die dort kung der Unabhängigkeit. Lean Administration müs- einlagern. sen wir auch bei uns besser und umfassender durch- Dies wollte ich zumindest gesagt haben, Herr Prä- setzen. Aber das ist wirklich schmerzlich, weil sehr sident, einfach deswegen, weil es notwendig ist, in viele engagiert mitgearbeitet haben. Dieses Engage- einer solchen Situation deutlich zu machen: Wir ment gilt es zu erhalten in einer Zeit, in der wir gerade wollen nicht über die Interessen der Menschen hin- durch die Durchsetzung des Verursacherprinzips mit weg entscheiden; aber wir sind in einer Situation, in sehr vielen konkreten Problemen konfrontiert sind. der wir uns, wenn wir nicht entscheiden, aus der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14965

Bundesminister Dr. Klaus Töpfer Verantwortung stehlen; und das kann wirklich nie- Ausstiegsfristen reden, aber dann muß hier auch mal mand wollen. in diesem Hause gesagt werden, daß Sie zu einem Ich danke Ihnen sehr herzlich. Ausstieg bereit sind. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Zuruf von der CDU/CSU: Wir reden über den Konsens, Frau Kollegin!) Und das vermissen wir. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Marion Caspers (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wo wollen Merk. Sie denn einsteigen?) — Herr Kampeter, Sie haben hier nicht das Wort. Ich bin von Ihnen viel Vorlautes gewöhnt. Melden Sie sich (SPD): Herr Minister, Sie Marion Caspers-Merk bitte ordnungsgemäß zu einer Zwischenfrage! haben zu Recht gesagt, entscheidend sei der Effekt und nicht die Optik. Am Effekt und auch am Erfolg (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Ihrer Politik müssen Sie sich messen lassen. Da kann Liste) es kein Zufall sein, daß Sie als Umweltminister- ausge- Ich wiederhole: Wir sind hier zu Gesprächen bereit. rechnet in der Haushaltswoche Ihrer umweltpoliti- Aber Sie müssen doch die Befürchtungen der Men- schen Ratlosigkeit in einem bekannten Nachrichten- schen in Ostdeutschland ernst nehmen, die Angst magazin Ausdruck verliehen haben. haben, daß dieses Endlager Morsleben nicht den (Dr. Klaus-Dieter Feige [BÜNDNIS 90/DIE Sicherheitsstandards entspricht. Sie wissen alle: Es GRÜNEN]: Das dürfen die nicht lesen!) gibt Gutachten, und es gibt Gegengutachten. Ich — Ach so, die dürfen Sie ja nicht lesen. Das haben wir finde, wir sollten mit den Menschen über diese von Herrn Schäuble hier erfahren. Insofern muß man Befürchtungen reden und in dieser Sache nicht über das dann doch kurz referieren. ihre Köpfe hinwegreden. (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Ihr (Beifall bei der F.D.P. und der PDS/Linke könnt nicht lesen! Das ist der Unterschied!) Liste — Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Den ken Sie daran, wie es vorher war!) — Ich kann jedenfalls den Umweltminister nicht hindern, diesem Magazin Interviews zu geben. Wir reden hier über einen Gesamthaushalt, Herr Unter der programmatischen Überschrift „Was soll Umweltminister, von 1,3 Milliarden DM, und wir ich denn tun?" wendet sich Klaus Töpfer an die streiten über verhältnismäßig bescheidene Summen. staunende Öffentlichkeit. Die Mischung aus Rechtfer- Aber zur selben Zeit, wo um wichtige Einzelpositio- tigungsversuchen, Schuldzuweisungen an andere nen in Ihrem Haushalt gestritten wird, z. B. die und Umdeutungen von Niederlagen in Siege über- schlimme Reduzierung der Personalkosten, besiegeln rascht nicht. Was überrascht, ist aber der resignative Sie als Moderator einen Kompromiß zum Erhalt des Unterton, die resignative Grundhaltung in diesem DSD, der der deutschen Entsorgungswirtschaft Forde- Beitrag, der zeigt, daß der Umweltpolitiker Klaus rungen in halber Höhe Ihres Gesamthaushaltes ein- Töpfer keine Kraft mehr zum Kämpfen hat. räumt Doch gerade heute, in einer Zeit der wirtschaftli- (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut war chen und ökologischen Krise, sind Durchsetzungsfä- das!) higkeit und Kampfgeist gefragt. und Umsätze in dreifacher Höhe garantiert. Statt dessen spulen wir hier im Hause ein jährlich Fast 1 Milliarde DM, also fast so viel, wiederkehrendes Ritual ab. Der Opposition ist der Umwelthaushalt natürlich deutlich zu niedrig. Wir (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Umwelt ist beklagen, daß Sie wieder einmal gerupft aus dem halt nicht umsonst!) Sparmonopol des diesjährigen Haushalts hervorge- wie Ihr Haushalt beträgt, wurden fernab der Öffent- gangen sind. lichkeit verschoben, um ein System zu retten, von dem Die Steigerung Ihres Haushalts verdanken Sie Ihr politisches Überleben abhängt. Sie sind doch an einem Rechentrick. Durchlaufende Posten beim Kapi- den Erfolg des DSD auf Gedeih und Verderb gekop- tal Strahlenschutz und Reaktorsicherheit blähen Ihren pelt. Verpflichtet ist der Umweltminister also nicht Haushalt künstlich auf, aber de facto wird der Hand- den Kolleginnen und Kollegen, die im Laufe der lungsspielraum in Ihrem Haushalt immer geringer. Haushaltsplanberatungen noch ein paar Milliönchen Immer mehr Gelder werden für den Bereich der herauskitzeln, sondern beispielsweise der deutschen verfehlten Atompolitik der Bundesregierung ausge- Entsorgungswirtschaft, die ihre Forderungen in Dar- geben, und gleichzeitig werden die zukunftsträchti- lehen gegenüber dem DSD in Höhe von 640 Millionen gen Umwelttechnologien, die Umweltforschung und DM umgewandelt hat. der klassische Naturschutz, aber auch die Umweltin- (Dr. Gerhard Friedrich [CDU/CSU]: Das ist vestitionen in den neuen Ländern deutlich zurückge- hanebüchen, was heute hier geboten wird!) schraubt. Auch die kommunalen Spitzenverbände sollen dem (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste DSD Geld in Höhe von 140 Millionen DM stunden. Der — Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das kann doch Handel trägt mit 150 Millionen DM jährlich für soge- nicht wahr sein!) nannte Serviceverpackungen, wie beispielsweise Pla- Atomenergie ist für uns eine Dinosauriertechnologie. stiktüten, zur Konsolidierung dieses Systems bei. Mit uns kann man über den Ausstieg reden, über Verpflichtet ist der Bundesumweltminister aber auch 14966 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Marion Caspers-Merk dem System selbst, das auch noch jetzt durch dieses daß man bei umweltbelasteten Verpackungen und fiskalische Feigenblatt Produkten über Produktverbote nachdenken sollte. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Er ist nur der (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Aber ganz Verpackungsverordnung verpflichtet!) unverpackt können doch auch Sie nicht durch die Gegend laufen!) am Leben gehalten wird, wo wir sagen: Es bedarf einer ganz wichtigen strukturpolitischen Neuent- Das stammt vom Deutschen Institut für Wirtschaftsfor- scheidung und eines Neubeginns. Beim DSD spielt schung, das immerhin keine Kaderschmiede der SPD also wirklich die umweltpolitische Musik ohne öffent- ist. liche Kontrolle, ohne transparente Kostenkalkulation und mit noch weniger Erfolgsaussichten. Für ihr gutes Mit dem DSD haben wir eine Nebenregierung in Geld bekommen die Bürgerinnen und Bürger — denn Sachen Müll, die nicht demokratisch legitimie rt ist sie haben für die Verpackung über den Grünen Punkt und nicht dem Prinzip der Verantwortlichkeit folgt. bereits gezahlt — keine Gegenleistung in Form einer Wie kommt es denn, daß jetzt ganz aktuell wieder sinnvollen Verwertung und leider auch keinen Kunststoffmüll mit dem grünen Punkt illegal nach Umweltschutz. - Lettland verschoben wurde und sich do rt zu riesigen Müllhalden auftürmt? Wieso kann sich das DSD (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke immer wieder mit Subunternehmern und Sub-Subun- Liste) ternehmern aus der Verantwortung für die Verpak- kungen herausstehlen? Ihnen, Herr Minister, ist angesichts dieser Situation der Vorwurf zu machen, daß Sie immer noch nicht Wie vereinbaren Sie es eigentlich mit Ihrer interna- bereit sind, über neue Rahmenbedingungen der Ver- tionalen Reputation, daß die Bundesregierung packungsverordnung mit uns zu reden. Das DSD ist Deutschland in Umweltfragen nicht mehr als Vorreiter aus unserer Sicht eine abfallpolitische Sackgasse, aus von Rio, sondern immer mehr als Müllexporteur, der der wir nur herauskommen, wenn die Verpackungs- seine Entsorgungsprobleme zu Lasten der Nachbarn verordnung nach den Vorstellungen der SPD und löst, in der Welt bekannt wird? auch — deswegen habe ich es mir extra auf geschrie- ben — der SPD-regierten Bundesländer geändert (Dr. Gerhard Friedrich [CDU/CSU]: Baden wird. Denn hier sind wir einer Meinung, Herr Württemberg!) Dr. Friedrich, auch wenn Ihnen in Bayern das nicht Dies ist ein internationaler Prestigeverlust, den Sie zu gefällt. verantworten haben. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: In welchem (Beifall bei der SPD) Fall ist die SPD-Bundestagsfraktion mit irgendeinem SPD-Antrag eins?) Dem Prestigeverlust im Ausland entspricht ein Ver- lust an Glaubwürdigkeit und vor allen Dingen an Der Antrag liegt Ihnen seit Juni vor und wird, hoffe ich, umweltpolitischer Kompetenz im Inland. Es ist schon in der nächsten Sitzung des Umweltausschusses bera- ein bemerkenswerter Vorgang, daß im Zuge der ten. Internationalen Automobilausstellung in Frankfurt sich die umweltpolitischen Fachminister Rexrodt und (Dr. Gerhard Friedrich [CDU/CSU]: Aber Wissmann zu Fragen der Herr Leinen sagt doch etwas ganz ande Benzinpreiserhöhung äußern. Alle überholen Töpfer, natürlich links, und res!) setzen sich mit Forderungen nach der Benzinpreiser- Erstens. Das DSD wird dem Wettbewerb ausgesetzt. höhung an die Spitze der ökologischen Bewegung. Seine Monopolstruktur muß überwunden werden. (Dr. Gerhard Friedrich [CDU/CSU]: Soll man Zweitens. Der Grüne Punkt wird abgeschafft und das ernst nehmen? So geht es nicht!) durch ein neutrales Zeichen ersetzt. Alle Verpackun- gen werden gekennzeichnet. Der Bundeswirtschaftsminister stellt fest — hier zitiere ich eine Presseerklärung —, die Belastung von (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Was ändert Gesellschaft und Natur werde bei den Kosten für das sich denn, wenn ein anderes Zeichen darauf Auto noch nicht genügend deutlich. Die SPD-Bundes- kommt?) tagsfraktion stimmt dieser Erkenntnis ausdrücklich zu. Drittens. Die Vermeidung muß absolute Priorität haben. Dies muß auch instrumentell in der Verpak- Sie bleiben bei der Frage nach der Erhöhung der kungsverordnung so ausgedrückt werden. Energiepreise wohl bewußt undeutlich. Die 5 DM pro Liter Benzin, die als Ente durch den deutschen Blät- (Beifall bei der SPD — Steffen Kampeter terwald flog, haben Sie ja in der Tat nicht gefordert, [CDU/CSU]: Das sind doch nur Worthül sondern Sie haben sich mit einer Erhöhung knapp sen!) über der Inflationsrate einverstanden erklärt. Es ist ein interessanter Vorgang, daß der Bundeskanzler die Wir sind uns in diesem Punkt im übrigen einig mit dem 5-DM-Forderung dementiert hat, die der Bundesum- Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, das in weltminister nie erhoben hat. einem von Ihnen in Auftrag gegebenen Gutachten zu unseren Ergebnissen kommt, nämlich daß prinzipiell (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie lesen der sinnvollere Weg die Vermeidungspolitik ist und zuviel „Bild"-Zeitung!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14967

Marion Caspers-Merk Man traut Ihnen offensichtlich bei Ankündigungen Gestern hat Bundeskanzler Kohl in seinem Stand- alles zu. ortbericht eine klare Bilanz gezogen. Zehn Jahre Kohl, (Beifall bei der SPD) und der Wirtschaftsstandort Deutschland ist in Gefahr. Der Bundesumweltminister hat nur sechs Jahre Da lobe ich mir doch den Chef des Umweltbundes- gebraucht, um einen umweltpolitischen Scherben- amtes, Herrn von Lersner, der wenigstens eine klare haufen zu hinterlassen. Forderung nach Erhöhung der Benzinpreise um 25 Pf pro Liter zur politischen Diskussion gestellt und damit (Anke Fuchs '[Köln] [SPD]: Richtig! — Fragen nach den Rahmenvorgaben zukünftiger Ver- Dr. Gerhard Friedrich [CDU/CSU]: Wer hat kehrspolitik beantwortet. Wir brauchen eine Erhö- Ihnen denn das aufgeschrieben?) hung der Energiekosten, damit auch in diesem Oder wie ist es sonst zu verstehen, daß im Standort- Bereich endlich die Preise die ökologische Wahrheit bericht, in dem eigenen Standortbericht, zu lesen ist, sagen, und wir brauchen gleichzeitig eine Entlastung daß die Bewahrung der Schöpfung bzw. der natürli- der Kosten der Arbeit. chen Lebensgrundlagen eine immer dringlicher wer- (Beifall bei der SPD) dende Aufgabe ist? Wie kann das nach einer so - erfolgreichen Politik, die Sie angeblich machen, Eine ökologische Steuerreform mit dem Ziel, den Einsatz von Energie und Rohstoffen effizienter zu immer dringlicher werden? Auch die Klimapolitik machen, bietet dazu den geeigneten Ansatz. Die reduziert sich auf immer unglaubwürdigere Ankündi- Steuermehreinnahmen aus der Verteuerung von gungen, nicht nur des Ministers. Energie und Rohstoffen müssen zu einer gezielten (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Senkung der Lohnnebenkosten verwendet werden, Der Rückgang der CO2-Emissionen in den neuen was positive Folgen auch für den Arbeitsmarkt Ländern ist auch nach höchstministerieller Einschät- hätte. zung weitgehend auf die chaotische Deindustrialisie- Das, Herr Minister, wäre zukunftsweisende Um- rungspolitik in Ostdeutschland zurückzuführen. weltpolitik. Ich möchte Ihnen zum Schluß Ihre Frage, was Sie denn tun sollen, beantworten: (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Aber sagen Sie doch: Wo kommt das wirklich her?) Erstens. Weniger ankündigen, mehr durchset- zen. Sie selbst waren es, die unser Konzept zur Neuor- ganisation der Treuhand abgelehnt haben. Heute Zweitens. Keine Niederlagen in Siege umdeu- wären Sie froh, wenn Sie das gemacht hätten. ten. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das glaubt Drittens. Bündnispartner für eine umweltpoliti- man nicht einmal in Ihrer Partei!) sche Offensive suchen. Ihr Verständnis von der Umweltpolitik der neunziger (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Er Jahre, meine Damen und Herren von der Koalition, kann sie bei Ihnen schlecht finden!) erkennt man zudem an Ihren Gesetzen. Diese sind seit Vielen Dank. zwei Jahren allein durch den Abbau demokratischer (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Beteiligungsrechte und den Abbau von Rechtsnormen Liste) gekennzeichnet. Das wissen Sie ganz genau. Ver- kehrswegeplanung, Beschleunigungsrecht und Inve- stitionserleichterungsmaßnahmen passen ganz exakt Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort dort hinein. Sie sind — das zeigt bereits die kurze hat der Abgeordnete Dr. Klaus-Dieter Feige. Anwendungstechnik — nicht für den Naturschutz und (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Uns bleibt den Umweltschutz. auch nichts erspart!) Wie ehemals die Atomtechnologie wird jetzt die Biotechnologie zum Allheilmittel erklärt. Schön. Aber: Gentechnik über alles! Regularien zum Schutz der Dr. Klaus-Dieter Feige (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen Umwelt werden als lästig und überflüssig abgeschafft. und Herren! Für Fünf-Mark-Ankündigungen sind wir Ich glaube, heute ist es bald so, daß die Opposition in geprügelt worden. Ich würde Ihnen gerne die Zwi- das bewahrend Konservative hineingefallen ist, kon- schenrufe geben. Aber so nähern sich die Parteien servativer, als es die CDU in ihren schwärzesten einander an, Herr Töpfer. Wir sind beide für fünf Mark Tagen gewesen ist. Aber das bezeichnet, wie weit Sie geprügelt worden. selber zurückschreiten wollen. Herr Töpfer, Ihr Interview in der „Spiegel"-Aus- Meine Damen und Herren, die Bedeutungslosigkeit gabe dieser Woche ist ein Offenbarungseid, mit dem der Umweltpolitik schlägt sich auch im Entwurf des Bundeshaushalts 1994 nieder. Zieht man im Einzel- Sie deutlich signalisiert haben, daß der Natur - und Umweltschutz in der Bundesrepublik aus Rezessions- plan 16 die Mittel für den Strahlenschutz ab, dann gründen den Bach heruntergeht. verbleiben dem Bundesumweltminister noch lächerli- che runde 200 Millionen DM. Das sind etwa 80 Mil- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Und das auf lionen DM weniger als 1993. Hochglanzpapier) Der Bundesumweltminister hat wieder einmal Wenn Sie es nicht gelesen haben, sollten Sie es recht, nachlesen und vielleicht dementieren. Mit dieser Schlußfolgerung steht der Bundesumweltminister in (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Endlich et dieser Regierungsmannschaft jedoch nicht alleine. was Richtiges!) 14968 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Dr. Klaus-Dieter Feige und zwar bezeichnete er Umweltpolitik als Quer- gestalten ist. Wir müssen nur irgendwann einmal schnittsaufgabe. Akzeptiert. Aber auch in den ande- damit anfangen, bevor es zu spät ist. ren Ressorts sieht es düster aus. Die Forschungsmittel Lassen Sie uns gemeinsam aus diesem Haushalts- für regenerative Energien beispielsweise werden planentwurf in den folgenden Monaten ein strah- gekürzt und notwendige Programme laufen dem- lungsarmes, wenn nicht strahlungsfreies und ehrli- nächst aus. Dafür gewinnt angeblich der Verkehrs- ches Finanzwerk machen. haushalt an Umweltbedeutung. 85 Millionen DM für — man höre und staune — Lärmschutzmaßnahmen im (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Strahlungs Zusammenhang mit dem Bau von Bundesfernstraßen frei sind Sie, das ist richtig!) werden als bedeutende Umweltschutzmaßnahme ein- Unsere Umwelt hat es bitter nötig. gestuft. Auf die Spitze get rieben hieße das: Wir brauchen noch mehr Straßen, dann werden mehr Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Ich bitte Lärmschutzwälle gebaut, und dadurch steigen die um Entschuldigung, wenn ich mich jetzt zurückziehen Ausgaben für den Umweltschutz. muß. Nehmen Sie es nicht als Unhöflichkeit. Ich werde selbstverständlich im Protokoll nachlesen, mit wel- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das glau - chen Attacken Sie wieder gegen alles Grüne vorge- ben Sie selber nicht, was Sie da vortragen! — hen. Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Und was ist mit der Umgehungsstraße?) (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste — Zuruf von der CDU/CSU: Dann ist ja von Das ist eine verquere Logik. Oder denken Sie an die Ihnen gar keiner mehr da!) KfW-Mittel in Höhe von 837 Millionen im Einzel- plan 60, die der Bundesumweltminister komplett dem Umweltschutz zuschlägt! Vizepräsident Dieter - Julius Cronenberg: Das Wort Tatsächlich jedoch dienen diese Mittel dem Ausbau rt Rudolf hat nunmehr der Abgeordnete Gerha der technischen Infrastruktur, der Krankenhäuser, der Baum. Altenpflege oder der vorläufigen Unterbringung von Aussiedlern und Zuwanderern. Das ist eine sehr wichtige Aufgabe, die dort gemacht wird, aber man kann sie nicht einfach dem Umweltschutz zuschlagen. Gerhart Rudolf Baum (F.D.P.): Herr Vorsitzender! Mit solchen Taschenspielertricks aber täuscht die Meine Damen und Herren! Es wäre zur Umweltpolitik Bundesregierung umweltpolitisches Engagement eine Menge kritisch zu sagen, aber nicht das, was Sie vor. gesagt haben, Herr Feige. Das geht an der Realität vorbei. Einziger Rettungsanker — ich habe es vorhin wie- der gehört — sind marktwirtschaftliche Instrumente, (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) die als Allheilmittel angepriesen werden. Was davon Es ist sehr einfach, Ziele aufzuzeigen und die Schwie- zu halten ist, zeigt das Fiasko mit dem Grünen Punkt. rigkeiten bei der Realisierung einfach beiseitezuwi- Wie eine Krake — das ist ein Monopol — beherrscht schen. das DSD den Markt. Das hat mit Ihrer marktwirtschaft- lichen Auffassung, die Sie selbst propagieren, absolut Ich meine, daß es auch in der Umweltpolitik einer nichts mehr zu tun. Umorientierung bedarf. Auch hier ist nichts mehr so, wie es war. Es geht um eine Neubestimmung der (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Schwerpunkte und Instrumente. Wir würden die Liste) Koalitionsvereinbarung heute anders schreiben. Ein Die großen Energie- und Entsorgungsunternehmen Schwerpunkt sind unbestritten die neuen Bundeslän- machen Kasse, und die Verbraucherinnen und Ver- der; das ist uns bewußt geworden, braucher bezahlen die Zeche. Das kommt heraus, (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Da ist sehr wenn man blind auf solche Mechanismen setzt. viel passiert!) Das internationale Ansehen der Bundesrepublik und wir werden und wollen auch neue Instrumente Deutschland wird immer mehr beschädigt. Deutscher anwenden. Müll in aller Welt, das ist die unübersehbare Folge der Es gilt auch Angriffe abzuwehren; das sage ich gelben Säcke und Grünen Punkte. Das DSD und die kritisch. Umweltschutz ist nicht nur eine Sache für Verpackungsverordnung sind gescheitert. konjunkturelle Schönwetterzeiten. Das haben wir in (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das hat der Republik schon einmal erlebt, dann haben wir doch überhaupt nichts mit den Säcken zu einen Akkord von Gymnich mit dem damaligen Bun- tun!) deskanzler Schmidt gehabt, und danach haben wir Nachbesserungen dienen niemals der Umwelt. Sie — das muß ich selbstkritisch für die frühere Regierung sind nur dazu da, daß der Bundesumweltminister sagen — mehr reparieren müssen als Vorsorge treffen seinen Stuhl noch nicht räumen muß. können. In eine solche Situation dürfen wir uns hier jetzt nicht begeben. Meine Damen und Herren, die Abgeordneten vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben mit ihren Anträ- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) gen und Gesetzentwürfen zum Naturschutz, zur In der Tat ist der Umwelthaushalt kein Indikator für Abfallwirtschaft, im Verkehrsbereich und an vielen das, was geschieht. Das ist ja eigentlich ganz kurz anderen Stellen gezeigt, wie die auch von ihnen gesprungen ; man muß all die Investitionen nehmen, geforderte ökologische Wende in der Wirtschaft zu und da liegen wir im Weltvergleich auf einem sehr Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14969

Gerhart Rudolf Baum guten Platz. Wir brauchen uns da überhaupt nicht zu lung des Ordnungsrechts und drittens die verstärkte verstecken. Privatisierung von Umweltleistungen. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: So ist es!) Die ökologisch begründeten Steuern, Abgaben Aber es gibt Blockaden, die ich hier auch ganz oder Gebühren müssen stärkere Anreize für wir- deutlich nenne — nicht als Kritik am Umweltminister, kungsvolle Umweltvorsorge schaffen. Es ist in der Tat denn er hat auch innerhalb der Bundesregierung und so, Herr Töpfer, wie Sie gesagt haben. Wir müssen die gegen Interessentengruppen seine Schwierigkeiten. externen Kosten internalisieren. Wir müssen die Preise ehrlich machen. (Zuruf der Abgeordneten Anke Fuchs [Köln] [SPD]) Die ökologische Marktwirtschaft setzt verstärkt auf die Gemeinsamkeit von Ökonomie und Ökologie, auf Das Bodenschutzgesetz und die damit verbundene den Nutzen von wirtschaftlichen Interessen für den TA Boden sind überfällig, für die Investitionssicher- Umweltschutz. Wir müssen wi rtschaftliche Interessen heit gerade in den neuen Bundesländern, aber auch in aktivieren, die den Umweltschutz bewirken, und den alten Bundesländern. Wir müssen wissen, was müssen von einer Überregulierung wegkommen, die Altlasten sind. Es müssen gemeinsame Standards- da alle Investitionen nur erschwert. sein, überall und nicht unterschiedlich in 16 Län- dern. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der CDU/CSU — Siegfried Hornung [CDU/ (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Da bin ich CSU]: Das gilt auch bei den nachwachsenden einmal interessiert, was die Bundesländer Rohstoffen!) dazu sagen!) Das bedeutet eine Umstrukturierung des Steuer- Es muß jetzt vom Landwirtschaftsminister grünes systems durch Gewichtsverlagerung von den direkten Licht für die Ressortanhörung gegeben werden. Eine Steuern zu den Verbrauchssteuern, Steuersenkung umfassende Lösung des Problems der Distanz- und bei Arbeitseinkommen, kompensiert durch ökolo- Summationsschäden, die keine finanziellen Lasten für gisch begründete Verbrauchsteuern. die öffentlichen Haushalte mit sich bringen würde, ist in dieser Situation nicht möglich. Wir brauchen das Ein junger Unternehmer hat das kürzlich in der Gesetz. „Zeit" so ausgedrückt: (Zustimmung der Abg. Birgit Homburger Wer Arbeitsplätze schafft und Gewinne erwirt- [F.D.P.]) schaftet, wird dafür mit hohen Steuern bestraft. Die Umsetzung der EG-Richtlinie in einem Umwelt- Wer aber die Umwelt verschmutzt, kommt fast informationsgesetz ist überfällig. Die bayerischen ungeschoren davon. Widerstände sollten aufgegeben werden. (Zurufe von der SPD) (Zuruf von der SPD: Das ist gut!) In der Tat ist es richtig, daß wir Entlastungen bei Wir erwarten die Gegenäußerung der Bundesregie- Kapital und Arbeit geben müssen, und dort, wo wir

rung zum Kreislaufwirtschaftsgesetz — ein Gesetz, eine Lenkungswirkung haben, wo wir knappe Res- das im Zusammenhang mit der gesamten Verpak- sourcen haben, müssen wir in berechenbaren Stufen kungsproblematik dringend notwendig ist. Am verteuern. 15. September soll die Gegenäußerung ins Kabinett. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Dann tun Sie Wir können froh sein, daß wir in den letzten Jahr- es!) zehnten so nachdrücklich auf umweltpolitische Ver- änderungen gedrängt haben — gegen viele Wider- Die Finanzpolitik muß die richtigen Signale geben, stände. Wir haben dadurch einen deutlichen Fort- und zwar langfristig. Wer sich ökologisch verantwort- schritt im Weltvergleich, was unsere Produkte und lich verhält, verringert bei unveränderten Steuersät- Anlagen angeht. zen seine Steuerlast. Das heißt: verursachergerechte Steuern mit Lenkungswirkung. Dies gibt gleichzeitig Ich nenne nur eine Zahl. Deutsche Firmen halten bei die Chance, andere Steuern zu senken und damit Umweltschutzgütern 21 % des gesamten Weltmarktes Investitionen und Beschäftigung zu bewirken. vor den USA und Japan. Das heißt, wir haben durch unsere stringente Politik unsere Innovationen be- Das ist keine Sache von heute auf morgen, wirkt, die jetzt auch ein Exportargument für unsere (Dr. Liesel Hartenstein [SPD]: Aber anfangen Wirtschaft sind. muß man!) Der Anteil der Umweltschutzkosten an den Pro- sondern ein langfristiges Umsteuern, beispielsweise duktionskosten ist gering — 0,7 %. Umweltschutz ist, im Verkehr. Wir erleben ja jetzt diesbezüglich eine richtig angelegt, eben kein standortschädlicher Fak- Diskussion. Hier im Hause besteht Übereinstimmung tor. Er verlangt Spitzentechnologie und eröffnet neue darin, daß der Verkehr verteuert werden muß. Die Märkte. Frage ist, wie und in welchen Schritten. Die Umweltpolitik braucht auf dem Weg zu einer (Dr. Liesel Hartenstein [SPD]: Und wann!) ökologischen Marktwirtschaft jedoch neue Orientie- rungen. Ich will heute hier drei nennen: erstens den Wir haben eine weitere Stufe der Mineralölsteuerer- konsequenten Einsatz marktwirtschaftlicher Instru- höhung beschlossen. Das Geld soll für die Tilgung der mente in einem Konzept der ökologischen Weiterent- Bahnschulden verwendet werden. Es geht um 18 Pf ab wicklung des Steuersystems, zweitens die Entrümpe 1994. 14970 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Gerhart Rudolf Baum Wir sind der Meinung — in meiner Partei wird das sen sich über Mindeststandards einer Energiepolitik sehr lebhaft diskutiert, und wir werden im Oktober in einem offenen europäischen Energiemarkt eini- dazu einen Beschluß auf Bundesebene zu diesem gen. ganzen Paket der ökologischen Marktwirtschaft fas- Nur so können wir auch die Herausforderungen sen —, bestehen, die sich in Osteuropa stellen. Dort tickt eine (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Ökologische Zeitbombe. Der internationale Sicherheitsfonds zur Erneuerung heißt das!) Verbesserung der Kernkraftwerke sowjetischer Bau- daß eine zweite Stufe folgen soll, die mit einer art ist da, aber er ist finanziell unterbestückt. Ich habe Steuerabschaffung verbunden ist. Wir sind nämlich die dringende Bitte an unsere Haushälter, daß sie die der Meinung, daß die Kraftfahrzeugsteuer verwal- Bundesregierung, die international hier eine Mei- tungsintensiv, eine bürokratische Steuer und eine nungsführerschaft hat, in bezug auf den Haushalt nicht umweltgerechte Steuer ist. hinsichtlich dieser Mittel nicht im Stich lassen. (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr wahr! — (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Bis vor kur Zuruf von der SPD: Das sagen wir schon seit zem war das in Mitteldeutschland noch so!) Jahren!) - Wir brauchen eine Entrümpelung des Ordnungs- Wir wollen also eine zweite Stufe der Mineralölsteu- rechts. Das Ordnungsrecht hat nach wie vor eine ererhöhung mit der Abschaffung einer Steuer verbin- wichtige Funktion. Es hat zu den Erfolgen im klassi- den, schen Umweltrecht wesentlich beigetragen. Es muß flexibler und effektiver werden. (Dr. Liesel Hartenstein [SPD]: Das haben wir schon öfter gehört!) (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Dann machen Sie das doch!) um hier neue Effekte auf dem Markt zu bewirken. Wir sind der Meinung, daß weitere Stufen dann folgen Wir brauchen die Privatisierung von Umweltlei- sollten; zwar nicht mit der Schreckenszahl von 5 DM in stungen. Ich bin der Meinung, daß wir die Bundes- irgendeinem Zeitraum, der nicht einmal genau fixiert haushaltsordnung ändern sollten. Das heißt: Wir soll- ist, aber doch kontinuierlich und spürbar, so daß sich ten die Gebietskörperschaften zur Durchführung von die Konstrukteure und die Verbraucher darauf ein- Markttests verpflichten, und staatliche Zuschüsse soll- richten können. Es ist ja erstaunlich, daß jetzt plötzlich ten an die Voraussetzung gekoppelt werden, daß auf der Automobilschau Autos präsentiert werden, die zunächst versucht wird, einen privaten Investor zu geringere Verbrauchswerte haben. Diesen Prozeß finden, bevor man den Staat zu Hilfe ruft. müssen wir von der Politik her unterstützen. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU). (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Ich frage mich, warum unsere Gemeinden eigent- Zuruf von der CDU/CSU: Statt das Auto zu lich jetzt nicht darangehen, ihre Einrichtungen etwa verteufeln!) im Abwasserbereich zu verkaufen. Warum sollen sie Ich bin übrigens nicht der Meinung von Herrn von diese eigentlich weiterbetreiben? Alle Untersuchun- Lersner, daß dieses Aufkommen dann irgendwo in gen zeigen, daß p rivate Unternehmer dies kostengün- anderen Bereichen verbraucht wird, sondern ich bin stiger können. der Meinung, daß es dann — ich wiederhole das — zur (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Nein, das ist nicht Entlastung bei anderen Steuern, bei den direkten wahr!) Steuern auf Kapital und Arbeit verwendet werden soll. Das ist also ein Umsteuern, eine Verlagerung inner- Ein Stück Privatisierung — am Schluß möchte ich halb des Steuersystems. auch das erwähnen — sollte eigentlich auch das Duale System sein. Durch Mißmanagement und Struktur- In diesem Sinne müßten wir uns auch in der mängel ist es in eine Krise gekommen, die nach Europäischen Gemeinschaft, Herr Töpfer, darin meiner Ansicht noch keineswegs überwunden ist. bemühen, daß die Mindestsätze der Mineralölsteuer angehoben werden. In der gleichen Philosophie liegt Die Entscheidungen der letzten Woche waren wich- eine CO2-Energie-Steuer, die Sie ja verfolgen. Da gibt tig. Herr Töpfer hat gekämpft, um dieses System zu es ein Projekt. Ich sage nur, daß es nach dem Scheitern erhalten, und das war richtig. Es ist keineswegs nur von Clinton und Gore in diesem Punkte — da die die mangelnde Zahlungsmoral, die Anlaß zur Sorge Erwartungen hier sehr hoch sind — sehr schwerfallen gibt. Das System muß — so hat es meine Kollegin wird, eine europäische Einigung herbeizuführen, so Homburger in den letzten Wochen immer wieder mit daß man — das ist jetzt meine persönliche Meinung — Nachdruck zum Ausdruck gebracht — im Hinblick auf einmal versuchen sollte, ob nicht eine sinnvolle Kon- seine ökonomische Effizienz, aber auch auf seine struktion unter den Prämissen, wie ich sie soeben ökologische Effizienz überprüft werden. Die Verpak- genannt habe, auch national möglich wäre. kungsverordnung muß geändert werden. Wir brau- chen eine bessere Transparenz bei den Kosten. Wir (Beifall bei der F.D.P. — Dr. Liesel Harten brauchen deutlichere und ehrlichere Kennzeichnun- stein [SPD]: Ja, einer muß mal anfangen!) gen auf den Verpackungen. Es wächst auch unsere Meine Damen und Herren, die Energiesteuerdis- Sorge — ich sage das als Liberaler — über das kussion hat natürlich einen unmittelbaren Bezug zu Wachsen wettbewerbshemmender monopolistischer den Konsensgesprächen. Gerade die letzte Frage, die Strukturen. Die jetzt noch engere Verzahnung zwi- ich aufgeworfen habe, hat einen solchen Bezug. Ich schen Dualem System und Entsorgern darf keine halte sie nach wie vor für dringend notwendig. Bund Dauerlösung sein. Unter den Entsorgern muß Wettbe- und Länder, Opposition und Regierungsparteien müs werb bestehen. In der Kunststoffverwertung sollten Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14971

Gerhart Rudolf Baum

auch mittelständische Unternehmen mit regionalen DDR wenigstens das Sero -System übernommen hät- Lösungen zum Zuge kommen. ten. Dann wären wir schon ein Stückchen weiter. Ich mache mir, Herr Töpfer, auch Sorgen über die (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei Staatsnähe des Unternehmens, das ja eine private Abgeordneten der SPD — Widerspruch bei Initiative sein soll, die Staatsnähe, die in dem Krisen- der CDU/CSU) management zum Ausdruck kommt. Sie, Herr Töpfer, Auch ich darf seit drei Jahren den „Spiegel" lesen konnten gar nicht anders, Sie mußten dafür kämp- und habe mit großem Interesse das Interview, das Herr fen. Minister Töpfer — — (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das hat er (Zurufe — Unruhe) gut gemacht!) — Vorher durfte ich das nicht. — Das hat er gut gemacht. (Weitere Zurufe — Glocke des Präsidenten) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Aber auch dies darf keine Dauerlösung sein. Der Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine Umweltminister darf nicht in der täglichen Sorge Damen und Herren, nicht alle auf einmal! Es kommt leben, ob ein Unternehmen, das privatwirtschaftlich dann nicht ins Protokoll, und die Rednerin kann es organisiert ist, liquide ist. Das muß die Wi rtschaft nun auch nicht hören. — So, bitte schön. selber leisten. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) Dr. Dagmar Enkelmann (PDS/Linke Liste): Auch ich habe also das Interview mit großem Interesse gelesen. Es bedarf jetzt also deutlicherer Vorgaben. Herr Minister Töpfer — es ist schon einmal zitiert Im übrigen darf ich für uns, das Parlament, hinzufü- worden — sagte den verantwortlichen Redakteuren gen: Wir haben über die Verpackungsverordnung Kühnl und Steingart ganz resignierend: Was soll ich und auch über die Realisierung überhaupt nicht zu denn tun, meine Herren? — Genau das war das entscheiden gehabt. Sie ist Ausfluß eines Gesetzes, Eingeständnis für das Fiasko Ihrer Umweltpolitik. das wir einmal gemacht haben. Wir werden bei dem Subjektiv und privat mögen Sie ja ein Ökofreak sein, aber de facto sind Sie ausführendes Organ für die Kreislaufwirtschaftsgesetz — ich nehme hier Ober- Chemie- und Atomindustrie. einstimmung im Hause an — etwas mehr dafür sorgen, daß die parlamentarische Mitwirkung und Entschei- (Zurufe von der CDU/CSU) dung gesichert bleibt. Meine Damen und Herren, der vorliegende (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Umwelthaushalt 1994 entpuppt sich als Mogelpak- Das ist kein Mißtrauen gegenüber der Bundesregie- kung — in diesem Fall ohne Grünen Punkt, dafür aber rung. Wir wollen aber nicht, daß nur die Regierung mit dem Radioaktivitätssymbol „Gelber Punkt" . Er ist entscheiden soll. Die parlamentarische Mitwirkung im wesentlichen ein Atomhaushalt, besser gesagt, ein muß gesichert sein. Ein gesundes Mißtrauen gegen- Atommüllhaushalt, und das trotz der Tatsache, daß über der Regierung ist allerdings auch nicht der größte Teil der Atomförderung — im übrigen wie schlecht. jedes Jahr — im Haushalt des Forschungsministers enthalten ist. Meine Damen und Herren, ich möchte mit der Mit 1,3 Milliarden DM erfährt der Plan für den Bemerkung schließen, daß der Umweltschutz eine Umwelthaushalt 1994 eine Steigerung gegenüber Chance für den Standort Deutschland ist. Wir sollten 1993 von 7,1 %, was sich optisch zunächst gut aus- sie nutzen und sollten jetzt auch Widerstände über- macht. Realistisch gesehen beträgt der Umwelthaus- winden, die gegen den Umweltschutz auftreten. Ich halt jedoch unverändert nur 0,3 % des Gesamthaus- habe einige genannt. In einigen Jahren werden wir halts. Fast die Hälfte dieses Haushalts soll mit fragen, wer das, was jetzt jedermann will, eigentlich 626,9 Millionen DM der Etat des verzögert hat, warum das eigentlich nicht gekommen Bundesamtes für Strahlenschutz schlucken, eine satte Steigerung von ist. Nutzen wir also die Chance und kämpfen wir 27,55 %, doch nicht, um die Menschen vor Strahlen zu weiter auf diesem Felde. Die Bundesregierung hat schützen, sondern für das, was hier so nüchtern insoweit unser Vertrauen. „Endlagerung" genannt wird. Jeder weiß doch, daß es (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — kein Ende für die Lagerung von Atommüll geben Zuruf von der SPD: Aber nur insoweit!) kann, sondern daß dieser mit großer Wahrscheinlich- keit wieder in die Biosphäre zurückkehren wird. Der Atommüll steht Herrn Töpfer offensichtlich Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort bereits bis zum Kragen. Weil das so ist, soll offenkun- hat nunmehr die Abgeordnete Frau Dr. Dagmar dig noch in diesem Monat in Morsleben eingelagert Enkelmann. werden. 35 Millionen DM sind im Haushaltsentwurf für den Ausbau von Morsleben veranschlagt, 7,5 Mil- lionen DM mehr als 1993. Umweltminister Töpfer dürften die unkontrollie rten Laugenzuflüsse in das Dr. Dagmar Enkelmann (PDS/Linke Liste): Herr Lager durch das Gutachten der Gesellschaft für Reak- Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst ein torsicherheit bekannt sein. Wenn nicht, würde ich Wort zu Ihrer Rede, Herr Minister Töpfer! Ich hätte mir Ihnen dieses Buch gerne borgen; ich möchte es dann gewünscht, daß Sie aus der alten Planwirtschaft der aber gern zurückhaben. 14972 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Dr. Dagmar Enkelmann Um eine grundsätzliche Sicherheitsbeurteilung Deshalb sollten Sie, Herr Töpfer, das Verursacher- über Morsleben abgeben zu können, müßten zualler- prinzip hier ganz konsequent anwenden und die erst zusätzliche geotechnische, geomechanische so- Quelle des Atommülls stopfen: Schluß mit den Atom- wie hydrogeologische Untersuchungen durchgeführt anlagen . . . werden. Erst kürzlich hat die Landesregierung Sach- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: In Ruß sen-Anhalt ein von ihr in Auftrag gegebenes Rechts- land!) gutachten über den Schacht erhalten, das weder in Magdeburg noch in Bonn konsequent ausgewertet — Nicht nur in Rußland, auch hier. wurde. Der renommierte Umweltrechtler Michael (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Wo sind Klöpfer hatte daran herausgearbeitet, daß die zu denn die gefährlichsten?) DDR-Zeiten erteilte Betriebsgenehmigung nur für Herr Töpfer, in dem erwähnten „Spiegel" -Inter- Ostdeutschland gilt. Trotzdem verbreitet die Bundes- view sagten Sie am Schluß: „Ich will, daß in allen regierung mit großer Eile: Morsleben ist sicher, und es Ministerien kleine Umweltminister sitzen. " Ein großer darf Atommüll aus der gesamten Bundesrepublik in Ihrem Ministerium würde mir für den Anfang schon eingelagert werden. Aus ideologischen Gründen wird reichen. Mir scheint, Sie haben als Umweltminister offenbar nach dem Motto verfahren, „daß- nicht sein schon resigniert. Oder wie soll ich Ihre Kandidatur für kann, was nicht sein darf" oder „Was Recht ist, den Vorsitz der UN-Kommission für nachhaltige Ent- bestimmen wir! " wicklung verstehen? Bemerkenswert ist dabei, daß Umweltminister Töp- Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. fer von einer vorhandenen rechtmäßigen Genehmi- gung, d. h, der DDR-Regierung, für Morsleben aus- (Beifall bei der PDS/Linke Liste sowie bei geht, während die Bundesregierung sonst immer Abgeordneten der SPD) unterstellt, es hätte in der DDR nur Unrecht gegeben. Wenn es atomar pressiert, wird es offenbar nicht so genau genommen. Festzustellen bleibt: Mit Hilfe des Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort Einigungsvertrags hat sich die Bundesregierung ohne hat nunmehr der Abgeordnete Hans Georg Wagner. Planfeststellungsverfahren und ohne Öffentlichkeits- beteiligung ein Endlager genehmigt. (SPD): Herr Präsident! Meine An Gebühren sollen in Morsleben im nächsten Jahr Hans Georg Wagner 75 Millionen DM eingenommen werden. Dies sollen sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man sich „kostendeckende Gebühren" nach dem Atomgesetz den Entwurf des Bundeshaushalts 1994 ansieht, kann sein. Einmal davon abgesehen, daß ich diese Summe man unschwer erkennen, daß der Umweltminister noch nicht im Staatssäckel sehe — das DSD läßt erneut der große Verlierer ist. Das wäre um den grüßen —, bezweifle ich, daß die bis zum Ende der Minister gar nicht so schade, wenn nicht die großen Politikbereiche der Umwelt und des Naturschutzes Betriebszeit real oder geplant eingenommenen Gebühren auch nur einen Bruchteil der Kosten dek- darunter leiden würden. ken, die in den nächsten Jahrzehnten durch die Kippe (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Genauso entstehen. ist es!) Ich sage Ihnen, Herr Töpfer: Mit Morsleben wird Zwar konnte Herr Kollege Töpfer frohgemut eine nicht nur eine ökologische Zeitbombe gelegt, sondern Steigerung seines Haushaltes von 7,1 % verkünden, auch eine finanzielle. aber wenn man genau hinguckt, erkennt man den riesengroßen Trick. Denn im eigentlichen Bereich von (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Waren Sie Umwelt und Naturschutz wird dieser Haushalt vor drei Jahren auch so eifrig?) gekürzt, nämlich um 64 Millionen DM, real um 3,3 %. Was, glauben Sie, passiert, wenn diese in Staatsregie Daß der Haushalt in Wirklichkeit gar nicht um 7,1 % betriebene wilde Atomüllkippe ausläuft? Können Sie steigt, ist eben schon einmal gesagt worden. Diese auch nur ansatzweise die Kosten für die Sanierung Zahl beruht eindeutig auf Umwälzungen oder durch- einer solchen Altlast, die schon heute ein Problem ist, laufenden Posten im Bereich der Reaktorsicherheit. beziffern? Wie wollen Sie überhaupt jemals eine Nun, wenn man die Kürzungen im Haushalt 1993 auslaufende Atommüllkippe sanieren? Nach § 1 hinzunimmt, dann ist seit 1992 eine Reduzierung des Abs. 2 des Atomgesetzes hat der Staat die Verpflich- Umweltteils des Haushalts um 17 % eingetreten. Das tung, Leben, Gesundheit und Sachgüter vor den heißt: Seit 1992, als die Umweltprobleme auf Grund Gefahren der Atomenergie und der schädlichen Wir- der Situation in den neuen Ländern für uns alle kung ionisierender Strahlung unbegrenzt zu schüt- explosiv gewachsen sind, ist dieser Haushalt fast um zen. ein Fünftel geschrumpft. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Was er auch (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das stimmt tut!) nun wirklich nicht! Soviel ist in den neuen Ein Endlager für radioaktive Abfälle muß daher nicht Ländern vorher nicht geschehen!) nur „im genehmigten Zeitraum" — der geht nur bis Das, was eigentlich Umweltpolitik bedeuten sollte, zum 30. Juni 2000 —, sondern für alle denkbaren findet also nicht mehr statt. Sie sind eigentlich nur geologischen Zeiträume sicher sein. Oder: nach uns noch als Lautsprecher gut. Sie dürfen verkünden, aber die Sintflut? jedermann weiß, daß nichts dahinter ist. Zusammen- Ich sage, wer Atommüll sät, wird neben dem ökolo- gefaßt heißt das: Der Bundesumweltminister ist ledig- gischen Desaster auch ein Haushaltsdesaster ernten. lich ein Lautsprecher der Umweltpolitik. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14973

Hans Georg Wagner Kollegen von Ihnen haben sich durchgesetzt. Herr Ich nenne das Förderungsprogramm Photovoltaik: Minister, Sie haben innerhalb des Kabinetts ein man- Durch die geringe Dimensionierung des sogenannten gelndes Durchsetzungsvermögen. 1 000-Dächer-Programms kam es zu einem Auftrags- rückgang in dieser Zukunftsindustrie Nummer eins. (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Ich Wie bei der Windenergie wäre hier ein Wechsel von gehe jetzt! Das ist eine Beleidigung!) der Forschungsförderung zur großangelegten Markt- Ich bedauere das außerordentlich. Es ist aber so: Der einführung notwendig. Durch die geringe Dimensio- Verkehrsminister bringt eine Erhöhung von 22,8 nierung wurden die Preise von Photovoltaikanlagen seines Haushaltes zustande, die Wohnungsbaumini- in die Höhe getrieben und damit das Gegenteil dessen sterin sogar eine Steigerung von 32,3 %. erreicht, was eigentlich erreicht werden sollte. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das verlan (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Die Markt gen Sie doch auch!) einführung muß die Wirtschaft machen!) Ihr Haushalt weist im Bereich der Umwelt eine Kür- Nehmen wir weitere Beispiele: die Beratung für zung um 3,3 %, seit 1992 eine Reduzierung um ein kleine und mittlere Unternehmen insbesondere in den Fünftel auf. - neuen Ländern. Die Umweltberatung für Unterneh- men in den neuen Ländern ist bis Ende dieses Jahres Bedauerlicherweise geht diese Reduzierung des befristet. Eine Verlängerung ist trotz offensichtlichen Umwelthaushaltes mit einem zunehmenden Mangel Bedarfs nicht in Sicht. an Interesse in der Bevölkerung einher. Das Ergebnis einer kürzlichen Umfrage über die Prioritäten der (Monika Ganseforth [SPD]: Traurig!) Westdeutschen und der Ostdeutschen ist ebenso klar Ein weiteres Beispiel: das Umweltzeichen. Mit der wie erschreckend. Selbst im Westen zählen nur noch Auflistung des Umweltzeichens „Blauer Engel" in 7 % der Befragten den Umweltschutz zu den wichtig- Ihrem Bericht, Herr Minister, stecken Sie sich eine rote sten Prioritäten, im Osten gar 0 %. Neben dem Chaos Feder an den schwarzen Hut; denn der „Blaue Engel" in der Abfallpolitik, wo die Bevölkerung verärgert und wird seit 1977 vergeben, läßt sich also kaum, wie verunsichert ist, gibt es nun eine Verstärkung der geschehen, als Klimaschutzmaßnahme dieser Bun- Ressentiments gegen den Umweltschutz. desregierung verkaufen. Ich meine, es ist Aufgabe aller, zu versuchen, die Stichwort Verpackungsverordnung: Was die Ver- Azeptanz in der Bevölkerung für notwendige -packungsverordnung mit einer Minderung der CO2 Umweltmaßnahmen wieder zu erhöhen und damit Emissionen zu tun haben mag, bleibt das Geheimnis vernünftige, allen dienende Lösungen zu erreichen. der Bundesregierung und von Ihnen, Herr Minister. Dazu gehört auch, daß man offen und ehrlich argu- Das Ansteigen der Mülltransporte in unsere europäi- mentiert. Doch dies versucht die Bundesregierung erst schen Nachbarländer kann doch wohl damit nicht gar nicht. gemeint sein. Im ersten nationalen Bericht der Bundesregierung (Marion Caspers-Merk [SPD]: Doch! Die zur Umsetzung der Klimakonvention von Rio führt Transportkosten wahrscheinlich!) Bundesumweltminister Klaus Töpfer gleich 30 Einzel- Technische Anleitung Siedlungsabfall: Wo hier maßnahmen im Rahmen der CO2-Minderung auf, die eine CO2-Minderung erfolgen soll, bleibt ebenfalls entweder bereits in Kraft getreten sind oder deren schleierhaft. Verabschiedung noch für die laufende Legislaturpe- Die riode vorgesehen ist. Wärmeschutzverordnung wird in den 30 Punk- ten angeführt. Die lange verkündete Wärmeschutz- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Stimmt das verordnung wird erst 1995 in Kraft treten. Da der nicht?) Altbaubestand kaum erfaßt wird, bleibt die Wirkung nur sehr eingeschränkt. Ohne entsprechende Be- Wenn man sich aber die 30 Punkte genau ansieht, steuerung und damit Verteuerung des Energiever- Herr Kollege, erkennt man, daß dieser Be richt ein brauchs, Herr Minister, wird der CO2-Ausstoß nicht gnadenloses Bild des Zauderns, ja der Hilflosigkeit spürbar vermindert werden können. Hier verstecken der Bundesregierung darstellt. Wenn man sich nur Sie sich hinter der Europäischen Gemeinschaft — der einige der Punkte vergegenwärtigt, fällt nämlich auf, Kollege Baum hat eben die EG zwei-, dreimal zi- daß viele überhaupt nichts mit der Klimakonvention tiert —,weil Sie genau wissen, daß in den nächsten zu tun haben und lediglich deshalb aufgeführt worden Jahren absolut nichts passieren wird. sind, damit überhaupt etwas in den Bericht geschrie- ben werden konnte. Herr Minister, es wäre in der Tat ein mutiger Schritt nach vorne gewesen, wenn Sie unabhängig von der Ich will als Belege nennen: das Förderungspro- EG, aber ähnlich wie unsere Nachbarn Niederlande gramm Windenergie. und Dänemark eine nationale Energiesteuer einge- (Zuruf von der CDU/CSU: Wieso hat das führt hätten. nichts mit Klimaschutz zu tun?) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das sehr gut angenommene Programm, Herr Minister, Die Nichteinführung der Energiesteuer ist der ökolo- soll in zwei Jahren auslaufen. gische Offenbarungseid dieser Bundesregierung. Die von den Herren Kohl und Töpfer in der Klimakonven- (Monika Ganseforth [SPD]: Aha!) tion von Rio eingegangenen Verpflichtungen sind so Eine Verlängerung ist von dieser Bundesregierung nicht zu erfüllen, und dies vor dem Hintergrund, daß nicht zu erwarten. die Bundesrepublik Deutschland Ende 1994/Anfang 14974 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Hans Georg Wagner 1995 Gastgeber der ersten Vertragsstaatenkonferenz mit dem Ergebnis, daß das Umweltbundesamt 1993 für die Klimaschutzrahmenkonvention sein wird. Ent- kein einziges Projekt vergeben konnte. Auch die sprechende Haushaltsmittel sind im Haushalt 1994 geringfügige Steigerung wird keine Verbesserung mit einer Verpflichtungsermächtigung vorgesehen. der Forschungssituation erbringen. Im Interesse der Wenn sich diese Konferenz nicht zu einer einzigarti- deutschen Wirtschaft und der Zukunftstechnologien gen Blamage für die Bundesrepublik Deutschland im Umweltbereich wäre es jedoch das mindeste, die entwickeln soll, müssen spätestens 1994 für jeder- Forschungsförderung auf die Höhe des Jahres 1992 mann nachvollziehbare konkrete Schritte durchge- anzuheben. führt werden. Ebenso verheerend sieht die Förderung bei Gänzlich vom Minister vernachlässigt wurden die Umweltinvestitionen für die neuen Länder aus. Sie Bereiche Naturschutz und Erhaltung der Artenviel- wissen, diese sind entsprechend gekürzt worden. falt — nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil der Ich habe bereits bei der Beratung des Haushaltes Umweltminister den Konflikt mit den Ressortkollegen 1993 gesagt, daß durch die ständigen Stellenkürzun- scheut und sich weder mit der Landwirtschaft noch mit gen ein ganz erheblicher Substanzverlust in der Bau oder Verkehr anlegen will, von seinem Chef Umweltpolitik eingetreten ist. Die Stellenvernichtung - einmal ganz zu schweigen. geht im Jahre 1994 weiter, wobei jetzt schon klar ist, (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Das daß bis 1996 weitere 43 Stellen abgebaut werden Saarland kommt auf die Rote Liste!) sollen. Von diesem herben Substanzverlust her gese- hen, stellt sich erneut die Frage, weshalb die Bundes- Seit sieben Jahren kündigt Klaus Töpfer nun die regierung sich einen Bundesumweltminister hält, wo überfällige Novelle zum Bundesnaturschutzgesetz doch jedem klar ist, daß das Ministerium auf die Größe an, ohne daß sich bis heute irgendeine konkrete einer Abteilung eines anderen Resso rts reduziert Umsetzung für das „unbewaffnete" Auge erkennen worden ist, ließe. Die Zahl der ausgestorbenen, akut oder poten- tiell gefährdeten Tier- und Pflanzenarten hingegen (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Da wird immer größer. frage ich mich, warum das Saarland einen so großen Verwaltungsapparat hat!) Hinterrücks gab es natürlich eine Novellierung des deren Eingliederung in ein anderes Resso rt den Steu- Bundesnaturschutzgesetzes: Die faktische Abschaf- erzahler wesentlich billiger käme. — Ich habe Ihren fung der Eingriffsregelung im Bundesnaturschutzge- Zwischenruf nicht verstanden. Sie haben etwas zur setz durch das Investitions- und Baulandgesetz ist Seite gesprochen. Vielleicht können Sie ihn wieder- natürlich möglicherweise Ihr Beitrag zur Überwin- holen. Ich will gern darauf eingehen. dung der Probleme mit der Einheit Deutschlands. Tatsächlich aber werden damit reale blühende Land- (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Sie schaften den utopischen Ihres Chefs geopfe rt . Dessen verstehen es sowieso nicht, auch wenn ich es blühende Landschaften aber zeichnen sich vorzugs- wiederhole!) weise durch Fehlentwicklungen beim Aufbau der — Das ist also mit Nichtwissen bei Ihnen zu begrün- Verkehrs-, Wohn- und Industriestruktur in den neuen den. Ländern aus, andere Merkmale einmal außen vor gelassen. (Dr. Walter Franz Altherr [CDU/CSU]: Da fehlt ihm die Auffassungsgabe!) Aber auch in einem anderen Bereich erkennt man Wenn Herr Töpfer die eigenen Ankündigungen die mangelnde Durchsetzungsfähigkeit des Ministers. ernst nähme, dann müßten die personellen und finan- Angesichts der weltwirtschaftlichen Lage und ange- ziellen Konsequenzen gezogen werden. Das heißt, sichts der Notwendigkeit, die deutsche Wirtschaft im dem Umwelt- und Naturschutz müßte jener Rang internationalen Rahmen wettbewerbsfähiger zu ma- eingeräumt werden, der ihm als Zukunftsinvestition chen, d. h. mit Produkten an den Weltmarkt gehen zu zukommt. lassen, die Wachstums- und Zukunftschancen erwar- ten lassen — gerade im Bereich der Umwelttechnolo- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Wieso kann gien sind wir weltweit führend das bei Ihnen nur der Staat machen?) (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Dank die Die Behandlung des Umwelthaushalts durch diese ses Ministers!) Regierung und diese Koalition deutet jedoch auf das direkte Gegenteil hin. Die Aufgaben im Bereich der und sollten dies durch unterstützende Maßnahmen Umwelt sind vielfältig. Sie versprechen Arbeitsplätze soweit treiben, daß wir diese Führungsrolle weiter und weltweite Wettbewerbsfähigkeit. Von alledem ist ausbauen können; das wäre eine vernünftige arbeits- jedoch in diesem Haushalt nichts zu spüren. Sie marktbezogene Politik, die allerdings bei Ihnen nicht werden Verständnis dafür haben, daß wir ihm die stattfindet —, ist nur eine unzureichende Steigerung Zustimmung nicht geben können. der Mittel für Forschungsvorhaben vorgesehen. Schönen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Bereits im Jahre 1993 wurden diese Forschungsmittel Liste) in skandalöser Weise um 27 Millionen DM gekürzt, (Zuruf von der CDU/CSU: Weil das Saarland entschuldet werden muß! Das ist der Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile Grund!) nun dem Abgeordneten Dr. Ul rich Briefs das Wo rt. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14975

Dr. Ulrich Briefs (fraktionslos): Herr Präsident! gien wirksam betreiben, Entwicklung von Kreislauf- Meine Damen und Herren! Der Bundeskanzler ist wirtschaftsstrukturen vorantreiben und eine Beendi- trotz der ihm eigenen beachtlichen politischen Statur gung des Wachstumszwangs, u. a. durch eine Neube- ökologisch ein blinder Fleck, einfach nicht existent. wertung des Bruttosozialprodukts, zumindest in die Der Bundesumweltminister wird mit dieser Haus- Wege leiten. haltsrunde und mit dem Standortsicherungspapier Dazu sollen zweitens — das gehört dazu — vier vom Alibiminister zum Kabinettsstatisten degradie rt. konkrete Teilpläne dienen, nämlich erstens ein Klima- Ich sage das zugleich mit Respekt vor dem unbestreit- schutzteilplan durch Energieeinsparung und erneuer- bar guten Willen des Bundesumweltministers, dem bare Energien, zweitens ein Plan zur Rettung der Umweltschutz in dieser desolaten Koalition auf die Tropenwälder, drittens ein Plan zur Bevölkerungssta- Sprünge zu helfen. bilisierung und viertens ein Plan zur Ost-West- (Birgit Homburger [F.D.P.]: Das werden Umweltkooperation. gerade Sie schaffen! — Gerhart Rudolf Baum [F.D.P.]: Helfen Sie uns mal auf die Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Sprünge!) Briefs, meine roten Signale sind Ihnen doch bekannt. - Ich brauche Sie nicht aufzuklären. Der Etat des Bundesumweltministeriums steigt zwar um 7 %, real bleiben davon aber nur 2 % bis 3 % Dr. Ulrich Briefs (fraktionslos): Ich mag seit langem übrig. Außerdem wird nur beim Strahlenschutz wirk- die Farbe rot sehr gerne. lich aufgestockt. Selbst unter Einbeziehung der umweltrelevanten Positionen — davon ist aber einiges Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Aber ökologisch zweifelhaft — in anderen Etats kommt die nicht, wenn ich Ihnen Signale in dieser Farbe gebe. Umweltpolitik dieser Bundesregierung gerade auf Beachten Sie sie aber trotzdem! 1,9 % des gesamten Haushaltsvolumens, wahrhaftig ein beschämendes Bild. Dr. Ulrich Briefs (fraktionslos): Bedingte Reflexe Die Autowahnfanatiker in diesem Bundeskabinett funktionieren manchmal etwas anders. dagegen erhalten einen um 22 % aufgestockten Ver- Ich komme zum Schluß, Herr Präsident. — Das zeigt, kehrsetat, der mehr als fünfmal so groß ist wie die daß Umweltpolitiker aller Parteien im Gegensatz zu Umweltschutzausgaben insgesamt. Das Standortkon- dieser Bundesregierung in ihrer politischen Verant- zept des Bundeswirtschaftsministers, vom Kabinett wortung also einen systemimmanenten Kurswechsel akzeptiert, stellt die Weichen eindeutig in Richtung fordern. Das ist auch richtig. Doch wo bleiben die auf den Vorrang der Ökonomie gegenüber der Öko- Konzepte und insbesondere die Ansätze, wenigstens logie, und das zu einem Zeitpunkt, wo eine partei- die ersten Schritte, insbesondere auf der Ebene und im übergreifende Initiative von Umweltlandesministern Rahmen der Handlungsmöglichkeiten dieser Bundes- — darunter sind auch CDU- und F.D.P.-Landesmini- regierung? Das ist doch die Frage, die wir hier stellen ster — einen „Marshallplan" — in Anlehnung an den müssen. amerikanischen Vizepräsident Al Gore — für die Was die Bundesregierung mit Morsleben macht, ist Umwelt fordern. Aus den Punkten dieses „Umwelt- lediglich das Schaffen einer regelrechten Zeitbombe. Marshallplans" wird deutlich, wie gewaltig einerseits Das kann dazu führen — das zeigen u. a. die Ergeb- die ökologischen Probleme sind und wie geradezu nisse der Untersuchungen von Greenpeace —, daß die kläglich andererseits demgegenüber die Politik der Menschen in den angrenzenden Gebieten irgend- derzeitigen Koalition ist. wann an Leib und Gesundheit gefährdet werden. In dem „ökologischen Marshallplan" wird gefor- Dieses Morsleben darf so, wie es die Bundesregierung dert, wirksame Maßnahmen zu ergreifen: gegen die plant, nicht entstehen. selbstverschuldete Klimakatastrophe, die Ausdün- Herr Präsident, ich danke Ihnen. nung der Ozonschicht, das Artensterben, die Bevölke- (Beifall der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann rungsexplosion, die Gefahren durch unsichere Atom- [PDS/Linke Liste]) kraftwerke, die Gefahren durch regionale Gewaltkon- flikte um 01 und Wasser und einiges mehr. Das zeigt, Das Wort mit welch breitem Spektrum von Problemen wir es zu Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: hat nunmehr der Abgeordnete Ulrich Klinkert. tun haben. Dazu sollen die Industrieländer erst einmal ihre Ulrich Klinkert (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine ökologischen Hausaufgaben machen — das richtet sehr verehrten Damen und Herren! Wie in jedem Jahr sich gerade auch an uns —, d. h. Fortentwicklung zu versuchen wir auch in diesem Jahr in der Haushalts- einer wirklich ökosozialen Marktwirtschaft — sie ist debatte der Opposition beizubringen, daß der Haus- beides nicht, weder ökologisch noch sozial ist sie halt des Bundesumweltministers kein zentralstaatli- bisher in Wirklichkeit —: die ökologische Steuerre- cher Geldmittelverteilungstopf für alle Umweltpro- form vorantreiben, Energiesteuern als Anreiz zu effi- bleme dieses Landes ist. Herr Wagner, daß gerade Sie zientem Energiesparen und zur Abgabenentlastung das noch nicht verstanden haben, erfüllt mich mit für menschliche Arbeit usw. entwickeln, konkrete und einer gewissen Sorge. Deswegen noch einmal ganz wirksame Maßnahmenprogramme zur Reduktion der langsam speziell für Sie: Die Kosten für den Umwelt- CO2-Emission erstellen — dabei hinken wir in schutz in Deutschland sind nach der Philosophie Deutschland gewaltig nach, selbst gegenüber unse- dieser Regierungskoalition verursachergerecht anzu- ren eigenen Ankündigungen —, eine Klimaschutzab- lasten. Sie sind nicht planwirtschaftlich staatlich ein- gabe realisieren, Förderung der regenerativen Ener zutreiben und zu verwalten, sondern möglichst vor- 14976 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Ulrich Klinkert sorgend von dem aufzubringen, der sie verursacht Wenn Herr Feige noch hier wäre, würde ich ihn hat. fragen, ob er genau das kritisiert, wenn er von einer Dies gesetzlich und administrativ zu regeln ist eine Deindustrialisierung in den neuen Bundesländern der Aufgaben des Bundesumweltministers. Insofern spricht, ob er meint, daß die Anlagen in Bitterfeld ist ein relativ geringer Haushalt de» Bundesumwelt- hätten weiterproduzieren sollen, ob sie mit ihren ministers, verglichen z. B. mit dem Sozialhaushalt, als Emissionen weiterhin die Umwelt hätten schädigen sollen. Beweis für den Erfolg einer vorsorgenden Umwelt- politik anzusehen. Tausende Arbeitnehmer haben zunächst ihren Job Nicht der Bundesumweltminister muß das Geld für verloren. Wohl in keiner Industrieregion Deutsch- Umweltschutzmaßnahmen aufbringen, sondern der, lands, meine Damen und Herren, sind jemals so viele dessen Anlagen ohne diese Maßnahmen Schäden für Arbeitsplätze in so kurzer Zeit verlorengegangen. Mensch und Umwelt hervorrufen würden. Nicht der Aber gerade dieses Bitterfelder Gebiet hat seine Bundesumweltminister muß das Geld für die Beseiti- Herausforderungen und seine Chancen erkannt und gung von Umweltschäden aufbringen, sondern der, hat die Möglichkeiten, die über die Sanierung der der sie verursacht hat. Umwelt durch die Bundesregierung gegeben waren, genutzt. Natürlich weiß ich, daß trotz aller Vorsorge immer noch Umweltsünden begangen werden und daß für Die Region Bitterfeld hat heute, meine Damen und viele Altlasten, vor allen in den neuen Bundesländern, Herren, eine Arbeitslosenrate, die um 6 bis 7 % unter heute kein Verursacher mehr gefunden werden der der durchschnittlichen Arbeitslosenrate in den kann. neuen Bundesländern liegt. Dazu tragen im wesentli- Dafür gab es in der Tat in den ersten beiden Jahren chen folgende Mittel bei: zunächst einmal rund der deutschen Einheit spezielle Titel im Haushalt des 1,5 Milliarden DM jährlich für die Braunkohlensanie- Bundesumweltministers. Wenn Sie das Fehlen dieser rung in den neuen Bundesländern, insgesamt 2,3 Mil- Haushaltsmittel heute wehklagend kritisieren, dann liarden DM für die Sanierung von Chemiestandorten, ist Ihnen sicherlich entgangen, daß ein Vielfaches und weitere 3,5 Milliarden DM für insgesamt 14 Groß- dieser ehemaligen Mittel des Bundesumweltministers vorhaben. Dies gilt natürlich für die neue Bundeslän- inzwischen in die Haushalte der Bundesländer einge- der insgesamt, aber ein relativ erheblicher Anteil stellt wurde. Beispielsweise ist der Haushalt des davon fließt verdient in die Region Bitterfeld. sächsischen Umweltministers nahezu genauso hoch (Dr. Uwe Küster [SPD]: Und wie viele wie der Haushalt des Bundesumweltministers. Dies ABM?) war halt am Beginn der deutschen Einheit noch nicht so. Dafür wie für viele weitere Maßnahmen ist nicht eine Mark im Haushalt des Bundesumweltministers ausge- (Beifall bei der CDU/CSU) wiesen. Eine Reihe weiterer Mittel in Milliardenhöhe wer- den jährlich aus dem Bundeshaushalt, aber eben nicht Die ökologische Sanierung der neuen Bundeslän- aus dem Haushalt des Bundesumweltministers, für die der als nationales Umweltprogramm läuft auf vollen ökologische Sanierung der neuen Bundesländer Touren. Sie von der Opposition werden es nicht transferiert — übrigens unter ausdrücklicher Billigung schaffen, dies durch kleinkariertes Auseinanderpflük- derer, die sie aufzubringen haben, nämlich der bun- ken des BMU-Haushaltes kaputtzureden. desdeutschen Steuerzahler. Ganz besonders die Steu- (Beifall bei der CDU/CSU) erzahler West haben nach meiner Meinung großes Verständnis dafür, wenn mit ihren Geldern in den Der Erfolg in Bitterfeld zeigt sich u. a. in der Tatsche, neuen Bundesländern Arbeit statt Arbeitslosigkeit daß auf den bereits sanierten Flächen mehrere finanziert wird, Sanierung statt Stillstand. Sie sollten 100 Millionen DM Investitionen, z. B. in eine pharma- lieber einmal diese Tatsache würdigen, als ewig an zeutische Fabrik oder in eine Großkläranlage, in denen herumzunörgeln, die dies auf den Weg Realisierung sind. Aber auch für Kläranlagen insge- gebracht haben. samt sind im Gegensatz zu den Jahren 1990 bis 1992 im Haushalt des BMU keine Mittel mehr vorgesehen (Beifall bei der CDU/CSU) außer für Pilotanlagen, weil der Aufbau einer moder- Frau Caspers-Merk, Sie haben Erfolge der Umwelt- nen Infrastruktur, zu der nicht zuletzt Abwasserbe- politik in dieser Legislaturpe riode gesucht. Dazu will handlungsanlagen gehören, prinzipiell Landesauf- ich Ihnen ein Beispiel bringen. Der Bundesfachaus- gabe ist. Deswegen sind die dafür notwendigen Mittel schuß Umwelt der CDU war in der vergangenen in den Länderhaushalten einzustellen. Wenn die Län- Woche zu Gast in dem Gebiet Deutschlands, das der dazu aus eigenem Finanzaufkommen nicht in der einmal ein Synonym für Umweltzerstörung war, näm- Lage sind — in den neuen Bundesländern wird dies lich in Bitterfeld. Dieses Gebiet ist heute nicht mehr noch lange Zeit so sein —, dann müssen Ausgleichs- wiederzuerkennen. Die Schadstoffwerte in Luft und leistungen aus dem Bundeshaushalt erbracht werden. Wasser gleichen sich bundesdeutschem Durchschnitt Aber schon der riesige Finanzbedarf für Wasser und an, hunderte Hektar Boden wurden saniert. Abwasser — Schätzungen gehen dort auf bis zu Leider ist es wahr, daß ein erheblicher Anteil der 200 Milliarden DM — ist allein aus der öffentlichen Schadstoffreduzierung auf Betriebsschließungen zu- Hand kurz- und mittelfristig nicht zu realisieren. rückzuführen ist. (Marion Caspers-Merk [SPD]: Wer zahlt (Dr. Uwe Küster [SPD]: Eben!) denn?) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14977

Ulrich Klinkert Hier müssen endlich neue Wege gefunden werden, Frau Caspers-Merk, wenn Sie sich allein an der um ausreichend vorhandenes p rivates Kapital für Farbe grün des Grünen Punktes stoßen, dann geht das diese Aufgaben zu mobilisieren. In die private Wirt eher in Richtung einer Ideologisierung, die insgesamt und in privates Management wird zudem die-schaft wenig hilfreich für eine Diskussion über die stoffliche Hoffnung gesetzt, solche Bauvorhaben zügiger und Wiederverwertung von Verpackungen ist. Ihre politi- effektiver zu managen. — Daß sich diese Aussage schen Vorstellungen reichen — zumindest bei dem, nicht nur auf Kläranlagen bezieht, zeigt die Tatsache was ich bisher gehört habe — über den Ruf nach — dies möchte ich hier am Rande einmal erwähnen Verboten nicht hinaus. Meinen Sie wirklich, daß auch dürfen —, daß wir fast ein Jahr nach der feierlichen nur eine Tonne weniger Abfall ins Ausland exportiert Einweihung des neuen Plenarsaals noch immer im werden würde, wenn es das DSD, wenn es die Wasserwerk sitzen. Verpackungsverordnung nicht geben würde? (Marion Caspers-Merk [SPD]: Das ist wirk (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr rich lich beschämend! Das sagen Sie mal zur ig!) Bundesbauministerin! — Hans Georg Wag Frau Enkelmann, Ihr Ruf nach dem guten alten ner [SPD]: Besser Wasserwerk als Abwasser --t so verständlich er aus Ihrer Sicht viel- werk!) DDR-SERO, leicht sein mag, läßt sich nur so erklären, daß wir in In den letzten Wochen hat aber die deutsche Wi rt einer Zeit leben, wo die Mark nicht mehr nur 20 Pf -schaft insgesamt nicht gerade dazu beigetragen, daß wert ist, und dadurch, daß die DDR mit ihrer chroni- das Vertrauen in ihre Managementfähigkeit gestie- schen Devisenknappheit und Rohstoffknappheit je- gen ist. den Preis gezahlt hat, um das auszugleichen, was sie auf den internationalen Märkten nicht erwirtschaften (Zurufe von der SPD) konnte. Wir können es uns nicht mehr leisten, für jede — Wenn Sie vielleicht etwas weniger brüllen würden; leere Weinflasche einen Betrag zu zahlen, der ein wenn Sie eine Zwischenfrage haben, können Sie sich Vielfaches des Wertes der Flasche ist. gerne an mich wenden. Es spricht sich nur schlecht Wenn Sie, meine Damen und Herren von der gegen jemanden, der permanent brüllt. Danke. — Opposition fordern, die Verpackungsordnung müßte (Marion Caspers-Merk [SPD]: Das mußte ich insgesamt geändert werden, dann haben Sie nicht bei Ihnen auch erleben!) erkannt, daß gerade durch diese Verordnung von Umweltminister Klaus Töpfer die größte ökologische Sie hat in der Vergangenheit von der Politik und nicht Wende im Verhalten der Konsumenten seit Bestehen zuletzt von der Umweltpolitik immer wieder verlangt, der Bundesrepublik herbeigeführt würde. Mehr als marktwirtschaftlichen Prinzipien Raum zu lassen. Sie 500 000 t Verpackungen wurden eingespart. Kaum wollte weniger ordnungsrechtliche Regularien und eine Verpackung von heute hat noch die Ausmaße wie mehr Marktwirtschaft. Mit der Verpackungsverord- vor der Verpackungsverordnung. Eine 90 %ige Betei- nung hat sie dazu ein Angebot erhalten und hat dieses ligung der Bevölkerung zeigt, daß die Idee der Kreis- Angebot auch angenommen. Der Grüne Punkt und laufwirtschaft bei Verpackungen genau ins Schwarze das DSD sind marktwirtschaftliche Instrumente, sind getroffen hat. Wir werden diese Idee mit dem Kreis- Erfindungen der Wirtschaft. laufwirtschaftsgesetz, dem wichtigsten umweltpoliti- (Achim Großmann [SPD]: Sagen Sie das aber schen Vorhaben in dieser Legislaturpe riode, konse- nicht so laut!) quent fortsetzen. Daß das DSD zumindest beinahe finanziell geschei- Auch die Verpackungsverordnung und das Kreis- tert wäre, liegt nicht daran, daß der Gedanke der laufwirtschaftsgesetz erfordern keine Haushaltsmit- Verpackungsverordnung, nämlich die stoffliche Ver- tel, im Gegenteil. Sie entlasten die entsorgungspflich- wertung von Verpackungen, schlecht ist. Ursache tigen Körperschaften und legen die Kosten gerecht auf war, daß simpelste kaufmännische Gesetze durch die um, die sie verursachen, nämlich Erzeuger, Han- honorige Manager dilettantisch verletzt wurden. del und Verbraucher. Nicht mehr künftige Generatio- Diese Erfahrungen zeigen, daß die Verpackungsver- nen bezahlen unseren heutigen Wohlstand, indem wir ordnung nicht in ihrem Grundgedanken korrigiert ihnen ausgeplünderte Rohstofflager und dafür volle werden muß, sondern daß an den Stellen, an denen sie Mülldeponien zurücklassen. der Wirtschaft zuviel Spielraum gelassen hat, Korrek- Ziel christdemokratischer Umweltpolitik ist es, aus turbedarf besteht. Eine wichtige Erfahrung der Ver- der Wegwerfgesellschaft in eine verantwortungsbe- packungsverordnung — darin bin ich mit Ihnen, Frau wußte Kreislaufwirtschaft zu kommen. Dies muß Caspers-Merk, sicherlich einig — ist die, daß man natürlich heutigen ökonomischen Gegebenheiten sagen kann: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. angepaßt sein. Aber viele Beispiele gerade aus den Aber solange uns die SPD ein einziges Wirrwarr von neuen Bundesländern zeigen, daß sich Behauptungen Alternativvorschlägen vorlegt — jedes SPD-regierte der etablierten Industrie zum Trotz neue lohnens- Land hat ja eine andere Einstellung zur Verpackungs- werte Wirtschaftsfelder eröffnen. verordnung —, werden wir insgesamt kaum etwas Ein weiteres Kapitel aktiver, aber haushaltsneutra- Konstruktives aus dem, was Sie entwickelt haben, ler Umweltpolitik ist die die machen können. ökologische Bahnreform, Anfang kommenden Jahres begonnen wird. Mit maß- (Dr. Liesel Hartenstein [SPD]: Sie können vollen Benzinpreiserhöhungen und nicht mit den sich ja selber einmal etwas Vernünftiges Horrorzahlen reißerischer Medien wird die Bahn ent- einfallen lassen!) schuldet und damit die Voraussetzung für ein wettbe- 14978 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Ulrich Klinkert werbsfähiges, ökologisches und attraktives Verkehrs- das Ziel von 25 bis 30 % CO2-Emissionsreduzierung mittel geschaffen. bis zum Jahr 2005 nach wie vor für erreichbar. (Lachen bei der SPD — Zuruf von der SPD: Ich weiß, daß nicht überall bei den Menschen Das glauben Sie doch selbst nicht!) unseres Landes die Akzeptanz für die Benzinpreis- erhöhung aus ökologischen Gründen gegeben ist. Wenn auch der bereits zu verzeichnende deutliche Ganz besonders trifft dies auf die Bürger der neuen CO2-Rückgang von 1987 bis 1992 um 14,5 % vor allem Bundesländer zu, weil sie sich zu Recht fragen, warum auf die neuen Bundesländer zurückgeht, ist im laufen- sie im Jahr 4 der deutschen Einheit immer noch 5 bis -den Jahr 1993 bereits mit einem Absinken des CO2 8 Pf mehr für den Liter Benzin bezahlen müssen. Diese Ausstoßes auch in den alten Bundesländern zu rech- Frage drängt sich schon deshalb auf, weil man vermu- nen. Die Entkoppelung von Wirtschaftswachstum tet, daß hier marktbeherrschende Positionen ausge- und CO2-Ausstoß ist erreicht, der nächste Schritt ist nutzt werden. der entgegengesetzte Trend. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich Die Antworten der Mineralölindustrie sind oft der unterstützte das, was der Kollege Baum zu den Haus- Bau der vielen neuen Tankstellen und die weiten haltsmitteln für die Erhöhung der Sicherheit in osteu- Transportwege für Tanklastzüge. Aber ich frage mich, ropäischen Kraftwerken sowjetischer Bauart gesagt ob die Tankstellen im Osten unbedingt schneller hat. Das sind Investitionen, die der Umwelt, die uns refinanziert werden müssen als die im Westen und ob allen zugute kommen. Wenn wir die Möglichkeit eine Fahrt in den neuen Bundesländern mit einem haben, hier unterstützend einzugreifen, sollten wir es Tanklastzug wirklich um die 2 000 DM mehr kostet als eher auf diese Art und Weise tun als mit Belehrungen anderswo. Warum baut die Mineralölindustrie, wenn über sofortiges Abschalten, weil dies den Menschen in es denn so sein sollte, nicht endlich die entsprechen- den osteuropäischen Ländern nicht hilft, da es sie in den Raffinerien und Lager im Osten? Oder kann sie eine immer größere Verelendung treiben würde. mit dieser Situation besser leben, als wenn sie endlich Meine Damen und Herren, die Koalition kann und handelte? Ich fordere die Mineralölwirtschaft auch will Umweltpolitik nicht gegen die Wi rtschaft aus ökologischen Gründen auf, endlich vergleichbare machen, auch wenn sie mitunter die Wirtschaft zu Verhältnisse in Ost und West zu schaffen. ihrem Glück zwingen muß. Viele Att ribute des Stand- ortes Deutschland, seine Standortvorteile sind durch (Beifall bei der CDU/CSU) eine vorsorgende Umweltpolitik entstanden, haben Milliarden Investitionen gebracht und tausende Aber auch die SPD soll endlich sagen, was sie wi ll . Arbeitsplätze geschaffen. Abwasserbehandlungsan- Verteuerung von Energie ist ein Schlagwort, das sehr lagen, Rauchgasreinigung und der Pkw-Katalysator oft und sehr gern von Umweltpolitikern der SPD sind nur einige Beispiele dafür. kommt. Das klingt ökologisch, aber damit werden Sie in der SPD selbst nicht richtig ernstgenommen; denn Das Marktvolumen für Umweltschutzgüter wird in noch niemand hat aus Ihrer Partei verbindliche Zahlen Deutschland auf zur Zeit 40 Milliarden DM geschätzt, genannt und gesagt, in welche Richtung dies gehen in der EG auf über 200 Milliarden. Deutschland hat soll. Dies sollten Sie der Ehrlichkeit halber vor dem einen Anteil von 21 % am Welthandel mit Umwelt- nächsten Wahlkampf endlich einmal auf den Tisch schutzgütern. Klaus Töpfer wies darauf hin, daß rund legen. 700 000 Arbeitsplätze in Deutschland direkt oder indirekt vom Umweltschutz abhängen. Ein großer Teil der Haushaltsmittel kommt dem Die Exportnation Deutschland ist auf die Fortfüh- Umweltschutz zugute, ohne daß diese Mittel im Haus- rung erfolgreicher Umweltpolitik angewiesen. Durch halt des BMU auftauchen. Insgesamt sind dies im das Kreislaufwirtschaftsgesetz, durch verbindliche Jahre 1994 9 Milliarden DM. So laufen die vielfältigen Vorgaben zum Bodenschutz, durch weitere Be- Forderungen im Rahmen des CO2-Minderungspro- schlüsse zur Beschleunigung von Zulassungs- und gramms der Bundesregierung über die Haushalte der Genehmigungsverfahren vor allem für umweltver- Fachressorts. Diese Forderungen gibt es natürlich bessernde Maßnahmen und durch vieles andere mehr nicht nur für die neuen Bundesländer, sondern sie wird die Attraktivität des Standortes Deutschland mit werden auch in den alten Bundesländern konsequent der Umweltpolitik dieser Koalition weiter verbes- fortgesetzt. sert. Vielen Dank. Herr Wagner, wenn Sie die Frage stellen, warum die vielen Maßnahmen, die Sie hier erwähnt haben, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nichts mit CO2-Minderung zu tun haben, muß man Ihnen das sicherlich zum einen ganz simpel technisch erklären. Zum anderen müssen Sie schon davon Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine ausgehen, daß in der Bundesrepublik, zumindest Damen und Herren, weitere Wortmeldungen zum unter dieser Regierung, keine Dauersubventionstat- Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Um- bestände geschaffen werden. welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit liegen mir nicht vor. Jedermann kann sich anhand des nationalen Klima- So können wir zum Geschäftsbereich des Bundes- schutzberichts des Umweltministers davon überzeu- ministeriums für Raumordnung, Bauwesen und Städ- gen, daß das CO2-Minderungssprogramm der Bun- tebau kommen und der Bundesministerin das Wo rt desregierung konsequent umgesetzt wird. Wir halten erteilen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14979

Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin für gen. Er ist ja auch mit umfangreichen Hilfen von Bund Raumordnung, Bauwesen und Städtebau: Herr Präsi- und Ländern erleichtert worden. 25 % der Wohnun- dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der gen in den ostdeutschen Bundesländern sind inzwi- Haushalt des Bundesbauministeriums erreicht im schen im Grunde saniert. Jahre 1994 mit einem Volumen von über 10,5 Milliar- den DM eine Rekordhöhe. Mit einer Steigerung der Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Frau Mini- Ausgaben um mehr als 32 % weist dieser Einzelplan sterin, der Abgeordnete Dr. Seifert wollte gern eine den mit Abstand größten Zuwachs aller Resso rts auf. Zwischenfrage stellen. Möchten Sie diese beantwor- Der Gesamtverpflichtungsrahmen steigt sogar um ten? 47,5 %. Meine Damen und Herren, diese Zahlen machen Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin für deutlich, daß sich die Bundesregierung für die Woh- Raumordnung, Bauwesen und Städtebau: Gilt immer nungssuchenden in Ost und West, aber genauso für noch, daß das nicht auf die Redezeit angerechnet die konjunkturelle Entwicklung in der Bundesrepu- wird? blik Deutschland verantwortlich fühlt und auch die - richtigen Prioritäten setzt. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das wird nicht auf die Redezeit angerechnet. (Zuruf von der F.D.P.: Sehr richtig!) Ich zitiere immer ganz gerne aus seriösen Zeitun- Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin für gen, aber heute zitiere ich ganz besonders gern aus Raumordnung, Bauwesen und Städtebau: Dann kann einer besonders seriösen Zeitung, nämlich der der Abgeordnete Seife rt gern eine Zwischenfrage „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" , die in ihrem stellen. Wirtschaftsteil den Kommentar zur Wohnungsbaupo- litik der Bundesregierung mit dem Titel „Hoffnungs- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Bitte sehr, träger Wohnungsbau" überschreibt. Herr Dr. Seifert. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Dr. Ilja Seifert (PDS/Linke Liste): Frau Ministe rin, Wenn man nun in die Details des Einzelplans wollen Sie wenigstens der Ehrlichkeit halber dazusa- einsteigt, dann stellt man sehr schnell fest, daß ein gen, daß das Geld, das Sie den Wohnungsgesellschaf- besonders markanter Punkt herausragt, nämlich die ten und -genossenschaften hier zugestehen, praktisch Hilfen für die Wohnungswirtschaft Ost und hier nur geparkt wird, daß in Wirklichkeit die Menschen insbesondere die Überbrückung für die Altschulden- aus Ostdeutschland das doch bezahlen müssen, indem hilfe der Wohnungswirtschaft und der Wohnungsge- Wohnungen zwangsweise verkauft werden? nossenschaften im Jahre 1994. Das, meine Damen und Herren, war ja der entscheidende Durchbruch, den Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin für wir bei den Solidarpaktverhandlungen erzielt haben. Raumordnung, Bauwesen und Städtebau: Herr Auf Vorschlag der Bundesregierung haben wir die Dr. Seifert , ich bin immer ehrlich, und Sie nehmen mir Länder überzeugt, daß jetzt die Altschulden der Woh- die Argumentation, warum dieser Weg, den wir ein- nungswirtschaft zu über 50 % vom Bund übernommen geschlagen haben, richtig ist, geradezu vorweg. Mit werden und damit der wichtigste Hemmschuh für der Altschuldenhilfe ist nämlich ein umfangreicher Investitionen in den Wohnungsbau in den ostdeut- Schub zu mehr p rivatem Eigentum in den ostdeut- schen Bundesländern weggeräumt wird. schen Bundesländern verbunden. (Achim Großmann [SPD]: Zwei Jahre zu (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) spät!) Das mögen die Kommunisten nicht gerne hören; das — Wenn Sie, Herr Großmann, sagen, dies sei zwei kann ich mir wohl vorstellen. Aber für die Menschen Jahre zu spät, dann frage ich Sie: Wer hat denn in Ostdeutschland ist das eine Chance. verhindert, daß das schon früher entschieden worden Wir haben in den 31 Modellversuchen zur Privati- ist? Ganz sicher nicht die Bundesregierung, die alle sierung, die jetzt abgeschlossen sind, festgestellt, daß halbe Jahre neue Angebote gemacht hat, überall dort, wo in den Wohnungsgesellschaften und in der Gemeinde der politische Wille da ist, dem (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Privateigentum wirklich einen angemessenen Platz aber immer wieder von der Opposition kritisiert wor- einzuräumen, die Privatisierung möglich ist und den ist, die nichts vorgeschlagen hat außer der Null- erfolgreich verläuft, die Menschen nicht überfordert. Lösung! Sie sind im Gegenteil für diese Chance in vielen Fällen (Achim Großmann [SPD]: Wer regiert denn zutiefst dankbar. hier?) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne — Natürlich regieren wir! Deswegen haben wir es ja ten der CDU/CSU) durchgesetzt. Aber Ihre Miesmacherei, meine Damen Ich möchte an dieser Stelle noch darauf hinweisen, und Herren von der Opposition, die nimmt Ihnen Gott daß wir bei den Wohnungsgenossenschaften das sei Dank heute draußen auch keiner mehr ab. 15-%-Erfordernis auch weiter für notwendig halten. Aber dies ist nicht Privatisierung. Genossenschaften (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — sind ja schon privat. Wir wollen, daß Mitglieder der Zurufe von der SPD) Genossenschaften Vollanteile erwerben können. Das In den vergangenen Jahren ist der Einstieg in die ist der Weg, den wir auch in den Arbeitshilfen vorge- Modernisierung des Wohnungsbestandes Ost gelun- schlagen haben, die jetzt zur Grundlage der Anträge, 14980 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Bundesministerin Dr. Irmgard Schwaetzer die wir in den nächsten Monaten erwarten, gemacht zu dieser Veranstaltung von der Privatisierung im werden. Wohnungsbau in den neuen Bundesländern als einer (Beifall bei der F.D.P.) wichtigen und bedeutsamen Aufgabe spricht? Offen- sichtlich gibt es unter den sozialdemokratischen Kol- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Frau Mini- legen außerhalb des Hauses mehr Leute, die Privati- sterin, Sie können das Fragebedürfnis des Abgeord- sierung als eine zentrale Aufgabe in den neuen neten Janzen befriedigen, wenn Sie wollen. Bundesländern ansehen, als hier.

Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin für Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau: Gerne. Raumordnung, Bauwesen und Städtebau: Herr Kol- lege Hitschler, ich bin Ihnen dankbar für diesen Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Bitte sehr, Hinweis. In der Tat — die Friedrich-Ebert-Stiftung Herr Janzen. steht den Sozialdemokraten nicht ganz fern — wird unter diesem Titel ein solcher Kongreß veranstaltet. Dr. Ulrich Janzen (SPD): Frau Ministerin, ich hatte Aber vielleicht ist das die interne Arbeitsteilung: Der gestern die Gelegenheit, in meinem Wahlkreis auf der Herr Großmann spricht sich für die Privatisierung aus, Straße auf einem Infostand mit Bürgern zu sprechen, und der Herr Janzen spricht dagegen. Da muß die SPD und dort kam gerade diese Frage der Privatisierung vielleicht noch ihre Positionen klären. bzw. Eigentumserzwingung in den Wohnungsgenos- senschaften zur Sprache. Ich stelle an Sie die Frage: Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Aber die Hatten Sie schon die Gelegenheit, in Genossenschaf- Bemerkung, daß es sich um einen Hinweis und nicht ten direkt zu diesen Fragen Stellung zu nehmen? um eine Frage handelte, Frau Ministe rin, war berech- tigt. Dr. Irmgard Schwaetzer, Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau: Herr Abge- Bundesministerin für ordneter, ich weiß selbstverständlich, daß auch viele Dr. Irmgard Schwaetzer, Raumordnung, Bauwesen und Städtebau: Das ist Ihr Verantwortliche in den Genossenschaften die Macht, Kommentar, Herr Präsident. die damit verbunden ist, nicht gerne aus der Hand geben. Aber ich kenne aus sehr vielen Briefen, aber Lassen Sie mich noch eine letzte Bemerkung zur auch aus persönlichen Gesprächen bittere Klagen von Entwicklung in den ostdeutschen Bundesländern Genossenschaftsmitgliedern, daß ihnen ihre Genos- machen. Auch die Neubauentwicklung verläuft senschaft den Erwerb von Volleigentum verweigert. glücklicherweise jetzt positiver. Mit 21 600 Bauge- Denen möchten wir mit dem sanften Druck des nehmigungen von Januar bis Mai dieses Jahres kön- Altschuldenhilfegesetzes doch auch zu ihrem Recht nen wir praktisch eine Verdoppelung gegenüber dem verhelfen, Herr Kollege Janzen. Vorjahresergebnis erwarten. Das ist noch nicht genug, um den Bedarf zu decken, aber es zeigt, daß es auch da (Dr. Ulrich Janzen [SPD]: Es steht doch nicht aufwärtsgeht. im Gesetz, daß die Mieter die Wohnungen kaufen können!) Im Wohnungsbau West, meine Damen und Herren, werden die Erfolge der marktwirtschaftlich orientier- — Der Vorrang der Privatisierung zugunsten der ten Politik dieser Bundesregierung aus den letzten Mieter steht im Gesetz d rin. Aber wir werden sicher Jahren deutlich sichtbar. Mit ca. 500 000 Baugeneh- noch genügend Zeit haben, dies in den nächsten migungen allein im Jahre 1993 wird ein Stand erreicht Monaten weiter zu diskutieren. Nur wird aus Ihren wie in den vergangenen 15 Jahren nicht. Zwischenfragen vom Grunde her das Mißtrauen gegen das Einzeleigentum und das P rivateigentum (Achim Großmann [SPD]: Das ist unter dem deutlich, was vielleicht noch ein Stück Erblast ist. Dies alten Level!) gilt es zu durchbrechen. Ich kenne sehr viele Bürger in — Herr Großmann, selbst in Nordrhein-Westfalen hat den ostdeutschen Bundesländern, die das mit uns man 1985, als zwischen 500 000 und einer Million durchbrechen wollen. Wohnungen im Westen leerstanden, davon geredet, (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) daß man keine Wohnungen mehr bauen muß, und das waren immer Ihre Parteifreunde. Also lassen Sie doch Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Frau Mini- diese Geschichtsklitterung! sterin, ich lasse jetzt noch die Frage, wenn Sie sie 500 000 Baugenehmigungen allein im Jahr 1993 beantworten wollen, von Dr. Hitschler zu. Ich mache zeigen ganz deutlich, daß wir die Probleme nicht aber darauf aufmerksam, daß wir die Gesamtzeitpla- überwunden haben, aber daß wir hier auf einem nung schon um über eine Stunde überschritten haben. erfolgreichen Weg sind. Dieser Weg, meine Damen Ich bitte um Verständnis, daß ich weitere Zwischen- und Herren, darf nicht unterbrochen werden. Deswe- fragen an diese Bundesministerin nicht zulassen gen erfüllt es mich mit Sorge, wenn jetzt die Sozialde- werde. mokraten, wie gestern Ihr Parteivorsitzender, hier Bitte sehr, Herr Hitschler. anfangen, die Neiddiskussion auf die steuerliche Förderung von Wohnungsbau auszudehnen. Dr. Walter Hitschler (F.D.P.): Frau Ministe rin, ist Meine Damen und Herren, man kann Wohnungs- Ihnen inzwischen bekanntgeworden, daß auch die bau nicht ohne wirtschaftspolitischen Sachverstand Friedrich-Ebert-Stiftung demnächst unter der Leitung machen. Wir brauchen privates Kapital, und privates unseres Kollegen von der SPD, Herrn Großmann, in Geld ist heute selbst für Sozialdemokraten nicht mehr Berlin einen Kongreß durchführt und in der Einladung anrüchig. Also lassen Sie es uns doch in den Woh- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14981

Bundesministerin Dr. Irmgard Schwaetzer nungsbau investieren! Aber dann muß man auch — 20 % der Haushalte sind noch nicht gerade der sehen, daß die Investitionen in den Wohnungsbau mit Regelfall. 20 % der Haushalte ist viel im Osten der anderen Anlageformen konkurrieren, die ganz Bundesrepublik Deutschland. Etwa 4 % sind es im selbstverständlich nach unserem Besteuerungssystem Westen; auch das ist noch nicht der Regelfall. gefördert werden. Deswegen ist es nur Auswuchs Aber ich möchte, meine Damen und Herren, um der einer völlig verqueren Neiddiskussion, die den Neu- Verunsicherung entgegenzuwirken, die hier immer bau gefährdet, wenn Sie jetzt anfangen, dies in Frage wieder verbreitet wird, ganz klar sagen: Die Wohn- zu stellen. geldregelungen bleiben so, wie sie mit den Sozialde- mokraten im vergangenen Jahr festgelegt worden (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) sind. Wir werden, um noch ein anderes wichtiges Thema (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) im Jahre zu erwähnen, den sozialen Wohnungsbau Daran wird nichts gekürzt, nichts verändert. Die 1994 auf hohem Niveau weiter fördern, und zwar in bleiben, wie mit den Sozialdemokraten festgelegt. exakt den Ansätzen, wie mit den sozialdemokratisch regierten Ländern (West) im Solidarpakt vereinbart. (Achim Großmann [SPD]: Wie lange?) Insofern mutet es schon etwas merkwürdig- an, wenn Daß trotzdem der Ansatz für das Wohngeld 1994 etwas die Sozialdemokraten jetzt wieder auf das kurze niedriger ausfällt als 1993, meine Damen und Herren, Gedächtnis spekulieren und sagen: Aber guck mal, reflektiert steigende Einkommen in den ostdeutschen das ist doch alles viel zuwenig. — Zugestimmt haben Bundesländern. Das sind die Zusammenhänge. Ich Sie diesen Ansätzen, und ich bitte Sie, sich endlich meine, um der Verängstigung vorzubeugen, ist es dazu zu bekennen. wichtig, dies immer wieder zu erwähnen, (Vorsitz : Vizepräsidentin Renate Schmidt) Meine Damen und Herren, die Bundesregierung setzt mit diesem Haushalt Akzente für mehr Wohnun- 130 000 Wohnungen werden im nächsten Jahr gen in Ost und West. Sie setzt Akzente für die damit gefördert. Aber ich sage: Das ist mir eigentlich Konjunkturlokomotive Wohnungsbau in Ost und West nicht genug. Ich möchte gerne, daß mit dem gleichen und damit die richtigen Akzente für die Menschen in Geld 180 000 bis 200 000 Wohnungen gefördert wer- Deutschland. den. Das ist möglich, wenn hier endlich die ideologi- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) schen Barrieren gegenüber dem alten Fördersystem aufgegeben werden. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Kol- Ich habe ein neues Fördersystem mit einer Objekt- lege Achim Großmann das Wort. förderung und einer kombinierten Subjektförderung vorgeschlagen. Es führt zu einkommensorientierten Mieten. Damit wird der soziale Skandal der Fehlbele- Achim Großmann (SPD): Frau Präsidentin! Meine gung von vornherein vermieden. Damen und Herren! Man brauchte keine seherischen Gaben, um zu wissen, was die Bauministerin uns Seit einem Jahr sperren sich jetzt die Länder — au- heute vortragen wird. ßer Baden-Württemberg und Bayern —, dieses System (Dr. -Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Die einzuführen, weil sich die Minister — intern sagen sie braucht man auch nicht bei dem, was Sie uns immer: selbstverständlich ist das mit der einkommens- heute vortragen!) orientierten Förderung richtig; die Gleichmacherei können wir uns nicht mehr leisten; Subventionen von Frau Schwaetzer würde auf den Engpaß im Woh- 30 DM/qm für eine Sozialwohnung können wir uns nungsmarkt hinweisen, der nicht zu leugnen sei, und nicht mehr leisten— offensichtlich gegen ihre eigene würde darauf hinweisen, daß man auf dem richtigen Förderbürokratie und gegen ihre eigenen Ideologen Weg sei. Sie würde stolz auf die zweistelligen nicht mehr durchsetzen können. Deswegen werden Zuwachsraten bei den Wohnungsfertigstellungen wir das im nächsten Jahr mit denjenigen Ländern verweisen. Es sind 400 000 in diesem Jahr. machen, die das mit uns tun wollen. (Zuruf von der F.D.P.: Das ist doch eine Erfolgsbilanz!) (Achim Großmann [SPD]: Das ist doch Unfug! Das wird in Nordrhein-Westfalen schon Schließlich würde - auch damit hat jeder gerech lange praktiziert!) net — Frau Schwaetzer ihren eigenen Haushalt loben. Schließlich habe man ja eine Steigerung von 32,3 % Ich denke, wir werden den anderen Ländern vorfüh- auf 10,5 Milliarden DM aufzuweisen. ren, daß man mit diesem System schneller und sozial (Zuruf von der CDU/CSU: Endlich wird das gerechter die angelaufenen Probleme bewältigen einmal anerkannt!) kann. Das war völlig klar. Alles paletti im Wohnungsbau? (Beifall bei der CDU/CSU) Schlechte Karten für die Opposition? Keineswegs! Diese Geschichte von der heilen Welt glauben Ihnen Meine Damen und Herren, ein Wo rt zum Wohn- Millionen von Wohnungssuchenden, Obdachlosen, geld. Wohngeld ist die notwendige soziale Abfede- Umwandlungs- und Verdrängungsgeschädigten, kin- rung einer schwierigen wohnungspolitischen Situa- derreichen Familien, Alleinerziehenden, Studenten tion. und selbst Bauwilligen nicht mehr. (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Das wird (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und zum Regelfall!) dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 14982 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Achim Großmann Man ändert die Wirklichkeit nicht dadurch, daß man zweimal hinsehen. Der Gesamtetat steigt um man sie auf das reduziert, was einem politisch in den 4,4 %; der Etat des Bauministeriums steigt um 32,3 %. Kram paßt. Wer glaubt, daß damit die dringend notwendige Trendwende im Wohnungsbau eingeleitet worden ist, (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Listel: Richtig!) wird beim zweiten Hinsehen jäh enttäuscht. Zieht Auch Schönreden und Märchenerzählen auf tau- man nämlich die 2,3 Milliarden DM ab, die man als sendundeiner Pressekonferenz helfen nicht mehr wei- Zinsen für die Altschulden der Wohnungsunterneh- ter. men in den neuen Bundesländern zahlen muß, so Die Wirklichkeit auf dem bundesdeutschen Woh- verbleibt noch ein Plus von 230 Millionen DM. Die nungsmarkt ist gegenüber der letzten Haushaltsbera- Steigerung schrumpft auf gerade einmal 3 %. Sie liegt tung unverändert dramatisch. damit unter der Steigerung des Gesamthaushalts. (Zuruf von der F.D.P.: Es wird gebaut, Wenn man in den Finanzplan hineinschaut, stellt gebaut, gebaut!) man fest, daß 1996 mit 7,9 Milliarden DM wieder die gleiche Summe zur Verfügung steht wie 1993. Das ist Ich will das an einigen Beispielen aufzeigen. der eigentliche Skandal dieses Haushalts. - Erstens. Nach wie vor fehlen 2 bis 3 Millionen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wohnungen. Das Defizit an Wohnungen steigt. Wer angesichts der immer größer werdenden Her- (Bundesministerin Dr. Irmgard Schwaetzer: ausforderungen der Wohnungsnot zielgerichtete und Woher wissen Sie das?) längerfristig angelegte Aktivitäten der Bauministerin erwartet hatte, wird enttäuscht. Die Wohnungspolitik Das Rechenexempel ist sehr einfach: Rund 400 000 der Regierung stellt sich dar, wie sie sich in den letzten Wohnungen werden neu gebaut; etwa 100 000 ver- Jahren dargestellt hat: ideenlos, konzeptlos, orientie- schwinden durch Abriß, Zweckentfremdung oder rungslos. Sie ist, was Gift für den Wohnungsmarkt ist, Zusammenlegung. Den netto etwa 300 000 neuen sprunghaft und kurzsichtig, und sie ist, was wiederum Wohnungen steht ein Bedarf von 500 000 bis 600 000 keinen mehr überrascht, sozial ungerecht. Wohnungen gegenüber. Wie wollen Sie, Frau Bauministerin, z. B. den Zweitens. Die Mieten schießen ungebremst in den Arbeitnehmern erklären, daß Sie ihnen die Arbeit- Himmel. Bei Wiedervermietung sind in den Ballungs- nehmersparzulage beim Ansparen für das Häusle räumen, wie das Institut für Städtebau, Wohnungs- bauen streichen; ein Mehrfaches der eingesparten wirtschaft und Bausparwesen vermerkt, auch dieses Summe aber den Vielverdienern zuschieben, die ein Jahr bereits in den ersten sieben Monaten Miet- weiteres Jahr lang Schuldzinsen für das bereits sprünge von 20 bis 30 % keine Seltenheit. In den gebaute Häuschen von der Steuer absetzen kön- ersten sieben Monaten sind die Durchschnittsmieten nen? um 6,2 % gestiegen. (Zuruf von der SPD: So ist es!) Drittens. Die Zahl der sozial gebundenen Wohnun- Wie wollen Sie eigentlich einer Familie mit 3 Kin gen geht dramatisch zurück. 1987 waren es noch 4 Millionen; zur Zeit sind es noch ungefähr 2,7 Millio- dern und einem Jahreseinkommen von 56 000 DM nen, wahrscheinlich schon weniger. Jedes Jahr wer- erklären, daß sie keinen Pfennig Baukindergeld den es weniger, weil weniger Sozialwohnungen hin- bekommt, weil das nämlich nur Familien erhalten, die zugebaut werden, als aus der Bindung herausfallen. ein höheres Einkommen haben müssen? Dabei führen die zunehmende Armut und die immer schlimmer werdende Arbeitslosigkeit dazu, Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege daß natürlich immer mehr preiswerter Wohnraum Großmann, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zuzu- nachgefragt wird. lassen? Viertens. Das Heer der Obdachlosen wächst immer weiter. Inzwischen hat die Zahl der Menschen, die Achim Großmann (SPD): Aber gerne. kein ordentliches Dach über dem Kopf haben, 1 Mil- lion überschritten. Im letzten Winter sind 30 obdach- Dr. Walter Hitschler (F.D.P.): Herr Kollege Groß- lose Menschen gestorben, und alle haben davor mann, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß Angst, wie es im kommenden Winter aussieht. sich die F.D.P.-Fraktion für den Erhalt der Arbeitneh- Fünftens. Die Regierung hat über ein Jahr Maßnah- mersparzulage in den Gesprächen mit dem Koali- men gegen die spekulative Umwandlung von Miet- in tionspartner einsetzen will, dafür Kompensationsvor- Eigentumswohnungen verzögert. Tausende von Mie- schläge bei anderen Einsparungen machen wird und tern haben täglich Angst, das Dach über dem Kopf zu hoffentlich dafür sorgen wird, daß die Arbeitnehmer- verlieren. Es ist eine Wohnungsklau- statt einer Woh- sparzulage erhalten bleibt? nungsbaupolitik. Sechstens, siebtens, achtens. Die Realitätsbeschrei- Achim Großmann (SPD): Ich höre das mit Freude, bung müßte fortgesetzt werden; aber die Fakten sind und wir warten alle gespannt ab, ob Sie sich durch- bekannt. setzen können. Ist die Bundesregierung nun mit dem vorgelegten Wie, Frau Bauministerin, erklären Sie einem Polizi- Haushalt in der Lage, nach einem Jahrzehnt völlig sten oder einer Kindergärtnerin in München, daß sie verpfuschter Wohnungspolitik endlich das Ruder her- zwar nicht viel, aber leider etwas zuviel verdienen und umzureißen? Um diese Frage zu beantworten, muß deshalb keine Sozialwohnung bekommen können Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14983

Achim Großmann und dann auf dem freien Wohnungsmarkt auf Mieten haben. Das sind Mieten von 10, 11, 12, 13, 14 DM, die von über 20 DM angewiesen sind? dort teilweise zustande kommen. (Zuruf von der F.D.P.: Nach der Renovie (Bundesministerin Dr. Irmgard Schwaetzer: rung!) Mit der einkommensorientierten Miete ist das Problem gelöst!) Bei diesem Zustand kürzen Sie das Wohngeld in der Finanzplanung. Die Regierung kürzt es bis 1995 um Wie wollen Sie eigentlich denen, die Wohngeld 25 % — das sind die Eckdaten dieses Haushalts — und beantragen, Frau Bauministerin, erklären, daß die tischt uns dabei — wir haben es gerade live erlebt — Miete leider zu hoch ist, weil sie über der Höchst- noch das Märchen auf, gestiegene Einkommen mach- grenze liegt, und sie deshalb für den Mehrbetrag ten weniger Wohngeld nötig. Es sind die hohen überhaupt kein Wohngeld mehr bekommen? Mieten, die aus dem Wohngeld herausfallen, weil Sie die Miethöchstbeträge nicht rechtzeitig angepaßt Daß auch in Zukunft das Wohnungsuchen kein haben. Über 40 % der Mieten liegen bereits über den Zuckerschlecken, sondern für viele der blanke Exi- Miethöchstgrenzen für Wohngeld. Die Mieten steigen stenzkampf wird, dafür sorgt diese Bundesregierung- seit Jahren viel schneller als die Einkommen. Allein im mit weiteren tiefen Einschnitten. Die Zahl der Sozial- ersten Halbjahr — ich habe die Zahl erwähnt — um wohnungen in unserem Land geht dramatisch zurück; rund 6 %. ich habe es eben an Zahlen klargemacht. Nur noch Aufgabe einer sozialverantwortlich handelnden 10 % der Wohnungen bei uns sind sozialgebunden. Bauministerin wäre es also, das Wohngeld schleunigst Jedes westeuropäische Nachbarland hat einen größe- anzupassen und im Osten das Wohngeldsondergesetz ren Bestand an Sozialwohnungen als die Bundesrepu- zu verlängern, statt eine unsoziale Ausgabensenkung blik. Aus dem Neubau will man sich Schritt für Schritt zu betreiben. zurückziehen. (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und 30 % Kürzungen zeigt der Finanzplan für den sozia- dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) len Wohnungsbau. Man muß sich das einmal vorstel- Der dritte große Einschnitt betrifft wieder diejeni- len. Das bedeutet, um 1 Milliarde DM wird der gen, die die staatliche Förderung am meisten brau- Finanzrahmen für den sozialen Wohnungsbau in den chen. Erst mit der staatlichen Unterstützung beim nächsten drei Jahren zurückgeschnitten. Daß die Ansparen von Eigenkapital wurde es über Jahrzehnte Länder dem Vorschlag der einkommensbezogenen hinweg für die Bezieher kleinerer und mittlerer Ein- Sozialmiete sehr kritisch gegenüberstehen, den die kommen möglich, zu einem eigenen Haus zu kom- Bauministerin vorgelegt hat — nicht dem Gedanken men. stehen sie kritisch gegenüber; das wird schon lange Mit der Streichung der Arbeitnehmersparzulage z. B. in Nordrhein-Westfalen und Hessen prakti- würde die Bundesregierung also nicht nur Schaden ziert —, liegt daran, daß das Modell, von dem wir seit für die einzelnen Arbeitnehmer anrichten, sondern sie einem Jahr hören, es sei vorhanden, bis heute nicht würde den Wohnungsbau insgesamt schädigen. Man durchgerechnet worden ist und daß z. B. beim letzten muß sich das einmal vorstellen: Mit einer minimalen Mal die Gutachter, die das Modell durchrechnen staatlichen Förderung von rund 300 Millionen DM sollten, von einer Zusatzförderung sprechen mußten, Förderung werden privat 7 Milliarden DM angespart. die enorm war. Dann hat man sich darauf geeinigt, daß Das macht rund 20 % der bei den Bausparkassen wahrscheinlich ein Programmfehler vorliegen eingehenden Spareinlagen aus. Diese Summe wie- würde. derum entspricht ungefähr 30 000 Vollfinanzierun- gen. Ich habe mir noch im Juli die Frage gestellt: Wie sieht es noch aus? Was kommt auf die Länder und auf Ich komme noch einmal auf das zurück, was ich die Kommunen zu? Die Antwort war: Wir haben noch eben Herrn Hitschler sagte. Wir können nur hoffen, gar keine Modellrechnungen. Es gibt sie noch nicht. daß das rückgängig gemacht wird, weil es wirklich Legen Sie die Modellrechnungen auf den Tisch, dann ökonomischer Blödsinn wäre. können wir über das Modell sprechen. Bis dahin ist es (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Wer ist heiße Luft, die den Mietern nicht hilft, vor allem denen „wir" , Herr Hitschler?) nicht, die auf der Straße stehen. — Herr Kansy und Herr Hitschler, vielleicht können Der zweite große Einschnitt erfolgt beim Wohngeld. Sie kurz hinausgehen und sich verständigen, ob wir es Da brüstet sich die Wohnungsbauministerin gerade nun erleben dürfen, oder ob wir es nicht erleben noch, wie wichtig das Wohngeld sei, und sagt, daran dürfen. werde nichts verändert. Nur läuft im Osten das Wohn- (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Ich geldsondergesetz 1994 aus. Do rt steigt die Arbeitslo- kündige das erst an, wenn das machbar sigkeit. Es gibt immer mehr Sozialhilfeempfänger, ist!) weil nämlich die Arbeitslosenhilfe ausläuft und die Leute auf Sozialhilfe angewiesen sind. Gleichzeitig Vielleicht ist da noch eine Koalitionsrunde nötig. explodieren vielerorts die Mieten auf Grund der Der Wegfall der Arbeitnehmersparzulage würde Umlage, der Instandsetzungs- und Modernisierungs- nicht nur den Bau selbstgenutzten Eigentums gefähr- kosten. Wir haben also in vielen Städten das Problem, den, sondern auch einen gesellschaftspolitischen daß die schlechtesten Wohnungen, in die am meisten Kahlschlag bedeuten; denn schließlich hat dieses über Geld gesteckt werden mußte, die höchsten Mieten Jahrzehnte funktionierende und tarifvertraglich fest- 14984 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Achim Großmann geschriebene Konzept dazu geführt, daß Vermögens- Alternative zur Konsolidierung der maroden Staatsfi- bildung in Arbeitnehmerhand stattgefunden hat. nanzen herhalten soll. Ich habe es eben schon erwähnt: Die soziale Stoß- Konzeptionslosigkeit findet sich auch im Papier des richtung dieser finanzpolitischen Maßnahme wird Wirtschaftsministers mit dem blumigen Titel „Zu- überdeutlich, wenn man sieht, daß derselbe Gesetz- kunftssicherung des Wirtschaftsstando rtes Deutsch- entwurf die Verlängerung des Schuldzinsenabzuges land". Es enthält die wahrlich revolutionäre Forde- für selbstgenutztes Wohneigentum um ein Jahr fest- rung, die Kommunen sollten schwer zu vermittelnden schreibt. Damit kassieren gut bis sehr gut verdienende Mietern öfter eine Wohnung zuweisen. Dies ist Alltag, Bauherren, die die Förderung des Staates meistens Frau Bauministerin! Wo leben Sie eigentlich, daß Sie gar nicht nötig haben, 1 Milliarde DM Steuervorteile nichts von der beklemmenden Finanznot der meisten zusätzlich. Kommunen gehört haben? (Dr. Walter Hitschler [F.D.P.]: Das ist aber Wer diese Finanznot kennt, muß schon deutlich auch notwendig!) machen, welche konkreten finanziellen Hilfen für Beim kleinen Häuslebauer würde abkassiert, wenn den Erwerb von Belegungsrechten seitens des Bun- es so käme — ich gehe davon aus; noch steht es fest —, des zur Verfügung gestellt werden sollen, nachdem den Vielverdienern wird es nachgeworfen. Das ist Herr Eekhoff, der Ihnen ja nicht so fernsteht, gerade in wirklich Klientelpolitik, wie man sie krasser nicht seinem Buch erklärt hat, daß sei nach dem Grundge- formulieren könnte. setz gar nicht möglich. (Zuruf von der SPD: Das ist immer so bei der Klammheimlich den Kommunen die Kosten für eine F.D.P.!) verfehlte Wohnungspolitik in die Schuhe zu schie- ben Der vierte unverständliche Einschnitt ist die geplante Abschaffung des Schlechtwettergeldes, (Lisa Peters [F.D.P.]: Da gibt es aber viele — erneut eine Milchmädchenrechnung. Schwerwie- andere!) gende sozialpolitische Verwerfungen werden die ist in höchstem Maße dreist und unse riös. Folge sein; denn den kurzfristigen Einsparungen in Höhe von etwa 900 Millionen Mark jährlich stehen (Zuruf von der SPD: So ist das!) Folgekosten von knapp 3 Milliarden DM gegenüber, Völlig konzeptionslos wurstelt die Regierung bei die sich aus den erhöhten Belastungen für die Bun- der Häuslebauersteuerförderung herum. Noch nie ist desanstalt für Arbeit und die Sozialversicherungsträ- ein einziger Steuerparagraph innerhalb einer einzi- ger bzw. aus Steuerausfällen ergeben. gen Legislaturperiode so oft geändert worden wie der In den Wintermonaten werden fortan zusätzlich § 10e. etwa 300 000 arbeitslose Bauarbeiter das bereits (Dr. Walter Hitschler [F.D.P.]: Sie wollen ihn 4 Millionen Menschen betragende Heer der Arbeits- ja noch einmal ändern!) losen ergänzen. Der Baubranche wird damit als einem der wenigen expandierenden Wirtschaftszweige be- — Ja, wir müssen ihn noch einmal ändern, weil Sie es wußt Schaden zugefügt, die Schwarzarbeit wird neu nicht geschafft haben, ihn vernünftig zu ändern. aufblühen, und hochqualifizierte Beschäftigte werden Sozial gerechter ist die Sache dabei nicht geworden, wie anno 1959 zu Saisonarbeitern degradiert, und im Gegenteil. Zusammen mit dem Schuldzinsenabzug viele werden aus ihrem Beruf abwandern. kassieren die Vielverdiener viel und kräftig ab; der (Zuruf von der SPD: Skandal!) Facharbeiter schaut in die Röhre. Zu Recht kann man eine solche Politik nur als (Dr. Walter Hitschler [F.D.P.]: Die zahlen ja „ökonomischen Schwachsinn" bezeichnen, wie es auch mehr!) jüngst der Vorsitzende der IG Bau-Steine-Erden auf — Was nutzt die schönste steuerliche Förderung, Herr den Punkt gebracht hat. Hitschler, wenn Otto Normalverbraucher, und zwar (Beifall bei der SPD) erst recht der in den neuen Bundesländern, sie nicht in Anspruch nehmen kann? Kein Wunder, daß der Anteil Den Stein der Weisen will die Bundesregierung jetzt der Menschen, die im Eigentum wohnen, auf unter in der Winterbauförderung gefunden haben, ohne 40 % gefallen ist. Wir haben als Bundesrepublik allerdings bis heute ein Konzept dazu vorgelegt zu Deutschland die rote Laterne in Westeuropa. haben. Seit einem Jahr warten wir nach einem Obleu- tegespräch darauf, daß sich der Bauausschuß mit Die dringend erforderliche Umgestaltung des § 10 e Konzepten der Bundesregierung zu diesem Thema in eine sozial gerechtere Förderung blockieren Sie beschäftigt. Bis heute Fehlanzeige. wider jede Vernunft. Ein Teil des dafür nötigen Geldes haben Sie sich auch noch vom Kollegen Waigel Wer aber jetzt Hunderttausende von Menschen abnehmen lassen, Frau Ministe rin; denn statt die bewußt in die Arbeitslosigkeit treiben will, ohne daß eingesparten Steuermittel bei der Halbierung der ein langfristiges Winterbaukonzept auch nur ange- steuerlichen Förderung von Bestandskäufen für sinn- dacht ist, handelt zynisch und verantwortungslos. volle Reformen zu nutzen, lassen Sie den Bauetat (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste Stück für Stück plündern. — Zurufe von der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, fast 25 % des Haushalts Wir werden verhindern, daß das in mehr als 30 Jah- fließen in die Altschuldenhilfe der neuen Länder. Das ren bewährte Schlechtwettergeld ohne akzeptierte begrüßen wir ausdrücklich. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14985

Achim Großmann Die SPD hat jahrelang darauf gedrängt, zu einer ist die höchste Steigerungsrate, die überhaupt ein wirklich akzeptablen Lösung zu kommen. Daß die Einzeletat vorzuweisen hat. Lösung eindeutig zu spät kommt und den Steuer- (Zuruf von der SPD: Haben Sie gerade nicht zahler zusätzliche Milliarden kostet, bestätigt mit zugehört?) Zahlen aus dem Bundesbauministerium auch das Bundeskanzleramt. In einem Papier an die Abgeord- — Ja, nun warten Sie einmal. neten heißt es wörtlich: Wir erreichen damit die höchsten Volumen an Einen entscheidenden Impuls für diese Investi- Bundesmitteln, die bislang für diesen Aufgabenbe- tionsoffensive hat sicherlich die Lösung der Alt- reich zur Verfügung gestellt worden sind. Ich hatte schuldenproblematik gegeben. Dadurch wird, so eigentlich gedacht, daß der Kollege Großmann seine schätzt das Bundesbauministerium, das Bauvolu- Rede mit den Worten beginnen würde: Hochachtung, men im Wohnungsbestand von gegenwärtig Frau Ministerin, für diese großartige Leistung. 13 Milliarden auf voraussichtlich über 30 Milliar- (Zurufe von der SPD) den DM ansteigen. Das ist, meine Damen und Herren, nichts anderes Wir sind der Regierung sehr dankbar dafür, daß es zu als das Eingeständnis, daß die von der Bundesregie-- einer solchen Ausweitung des Etats kommt. rung verschuldete Verzögerung der Altschuldenfrage (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Un über mehrere Jahre hinweg Investitionen in zweistel- dank ist der Welten Lohn!) liger Milliardenhöhe blockiert hat. Oder: Das ist ein großartiger Kraftakt, Frau Ministerin. (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Irgend so etwas hatte ich jetzt erwartet. Aber der Herr Liste) Großmann: Nörgeln und keine Freude an der Ent- Der Entwurf des Haushalts 1994 und der Finanzpla- wicklung; wir bringen den Staat in Ordnung. nung zeigen: Im Wohnungsbau nichts Neues. Die Sie bringen ja immer diese Vergleiche, lieber Herr Wohnungsnot wird ebenso weiter steigen wie die Großmann. Mieten. Das Umverteilen von unten nach oben geht lustig weiter; eine schlimme Enttäuschung für alle, die (Achim Großmann [SPD]: Die Rede halten eine sozial gerechte Wohnungspolitik so dringend Sie doch, die Sie von mir wollten!) nötig haben. Wenn Sie diese Vergleiche bringen: Der letzte Etat, Mit der Sichtweise von Frau Schwaetzer habe ich der letzte Haushaltsentwurf für Bauen und Wohnen, meine Rede begonnen, aber auch Herr Kansy soll der unter sozialdemokratischer Verantwortung ent- noch zu Wort kommen. Er sieht — Zitat — „Anzeichen stand, erreichte nicht einmal die 5-Milliarden-Grenze; von Obdachlosigkeit in Deutschland, die wir uns es waren 4,95 Milliarden DM. bislang nur in Manchester oder in der Bronx vorstellen (Achim Großmann [SPD]: Damals wurden konnten." Über Ihre, Frau Bauministerin, gesamte aber auch 450 000 Wohnungen gebaut!) Wohnungspolitik fällt der Kollege Kansy das vernich- tende Urteil: „Eine Kiste voller Krücken". Wenn man diese Zahlen liest, meine Damen und Herren, und dann hört, daß die Sozialdemokraten ein (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Nein, Papier vorgelegt haben, das den Titel „Für einen nicht über Frau Schwaetzer, sondern über Wechsel in der Wohnungspolitik" haben soll, dann unsere Instrumente!) fragt man sich natürlich: Wohin denn wechseln? Auf Dieser regierungsinternen Sicht der Dinge ist aus die alten Positionen der Sozialdemokraten? Um Gottes oppositioneller Sicht nichts hinzuzufügen. willen! Ihr Verhältnis zur Wohnungspolitik haben Sie Vielen Dank. doch damals nachgewiesen. Das ist doch die größte (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Lachnummer der Jahre bis 1982 gewesen. dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — Dr. -Ing. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Sie sind zu Zurufe von der SPD) „Spiegel"-gläubig!) — Reizen Sie mich nicht! Sonst lese ich Ihnen vor, was Sie bis 1982 gebaut haben. Da würde es Ihnen aber Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster schlecht. spricht der Kollege Dieter Pützhofen. Angesichts dieser Daten der Bundesregierung von einem Abbau der Leistungen zu sprechen, ist also schlicht falsch oder zumindest kühn. Dieter Pützhofen (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Entwurf für den Die enorme Steigerung der Bundesmittel für den Haushalt 1994 des Bundesbauministeriums, der heute Wohnungs- und Städtebau im kommenden Jahr zur Beratung eingebracht wird, hebt sich in vielen — trotz aller Sparzwänge — hat guten G rund. Sie ist Daten deutlich von den Eckdaten ab, die den Bundes- einmal Ausdruck der sozialen Verantwortung der haushalt insgesamt prägen oder prägen müssen. Wäh- Bundesregierung, die die Wohnung als eine der rend der Gesamthaushalt von Sparnotwendigkeiten, Grundvoraussetzungen für ein menschenwürdiges von dem Bemühen um ein Eindämmen der Staatsaus- Leben sieht. Das gilt gleichermaßen für Ost und West. gaben bestimmt ist, steigen die Mittel, die die Bundes- Gerade dieser Haushalt ist ein guter Beleg dafür, wie regierung für den Wohnungs- und Städtebau mit abwegig der ständig wiederholte Vorwurf ist, es diesem Etat 1994 zur Verfügung stellt, um 32 % — von werde eine Sparpolitik einseitig zu Lasten der sozial knapp 8 Milliarden DM auf 10,6 Milliarden DM. Das Schwachen betrieben. 14986 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Dieter Pützhofen Der zweite Grund für die Steigerung liegt in der Beitrag zum Strukturwandel in den neuen Ländern wirtschaftlichen Bedeutung, die gerade dieser Haus- geleistet. halt hat. Wir kennen die Daten in Ost und West. Im Wohnungs- und Städtebau gehen wi rtschaftliche und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) soziale Ziele wie in kaum einem anderen Bereich 80 Millionen DM für die alten Bundesländer: Ich zusammen. Dieser Haushalt trägt mit der großen weiß, das ist kein hoher Ansatz. Steigerung der investiven Mittel dafür Sorge, daß die Bauwirtschaft Stütze und Motor der gesamten Wi rt (Zuruf von der SPD: Das ist Kahlschlag!) -schaft bleibt. — Ich weiß. Ich kenne diese Position. Sie kennen Wenn heute die bauwirtschaftliche Entwicklung meine Meinung zu diesem Thema, die ich hier an gegenüber vielen anderen Wirtschaftsbereichen in dieser Stelle im letzten Jahr geäußert habe. Ich habe den alten Bundesländern nach wie vor positiv verläuft, im letzten Jahr gesagt: Das gesamte Geld geht voll in wenn die Bauwirtschaft in den neuen Bundesländern die neuen Länder, gar nichts geht in die alten Länder. weiterhin einen rasanten Aufschwung nimmt, dann ist Die jetzigen 80 Millionen DM, Frau Ministe rin, sehe das im wesentlichen der Haushaltspolitik des Bundes ich auch ein wenig als Ermahnung an uns. Vielleicht und damit auch Ihrer Haushaltspolitik, Frau Ministe- sind sie ein Signal dafür, daß die Bundesregierung rin, zu verdanken. auch weiterhin die Aufgaben sieht, die sich auf diesem Feld in den alten Bundesländern stellen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Während sich die Wohnungspolitik der Opposition im Ruf nach dirigistischen staatlichen Eingriffen Trotzdem muß — und das will ich in aller Deutlich- erschöpft, die den Wohnungsmarkt strangulieren und keit sagen — der Schwerpunkt der Städtebauförde- Neubau verhindern, handelt diese Bundesregierung rung in den nächsten Jahren eindeutig bei den neuen mit den Mitteln einer sozialen Wohnungsmarktwirt- Bundesländern liegen. Nachdem wir in den alten schaft, die die ja nur scheinbaren Gegensätze zwi- Bundesländern 40 Jahre lang Städtebau bet rieben schen sozialen und ökonomischen Ansprüchen über- haben, werden wir es verkraften können — und ich brücken. sage das als Kommunalpolitiker —, daß diese Mittel fast ausschließlich in die neuen Länder gehen. Der Weg, den die Bundesregierung im Wohnungs- und Städtebau eingeschlagen hat und den sie mit dem (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Haushaltsentwurf 1994 fortsetzt, zeigt inzwischen Für den sozialen Wohnungsbau stellt die Bundesre- deutliche Erfolge. Die Zahl der Wohnungsbaugeneh- gierung im nächsten Jahr Finanzhilfen in Höhe von migungen allein in den alten Bundesländern ist im insgesamt 3,5 Milliarden DM zur Verfügung. 2,5 Mil- vergangenen Jahr auf 460 000 gestiegen. In diesem harden DM für die alten Bundesländer, 1 Milliarde Jahr nehmen wir an, daß die Zahl der Neubaugeneh- DM für die neuen Bundesländer. Auch diese Zahlen migungen 500 000 überschreiten wird. Zum Ver- widerlegen den Vorwurf des sozialen Abbaus. Sie sind gleich: Vor vier Jahren waren es nur wenig mehr als Garant dafür, daß das Wohnen bezahlbar bleibt, daß 200 000. der Wohnung in ihrem Charakter als Sozialgut ebenso Der Aufschwung im Wohnungsneubau hat auch die wie in ihrem Charakter als Wirtschaftsgut Rechnung neuen Bundesländer, in denen zunächst ganz notwen- getragen wird. dig Instandhaltung und Modernisierung im Vorder- Erhebliche Bedeutung für die Verbesserung der grund standen, erfaßt. 1992 wurde der Bau von über Wohnsituation in den neuen Ländern hat in den 25 000 Wohnungen genehmigt, im Jahre 1993, von kommenden Jahren darüber hinaus das außerordent- Januar bis Mai, 21 500, davon allein im Ap ril und Mai lich erfolgreiche Zinsverbilligungsprogramm, dessen über 10 000. Das heißt: Bis Mai 1993 wurden beim Kreditvolumen wir schon im Rahmen des Nachtrags- Wohnungsneubau bereits 84 % des Vorjahresergeb- haushalts von 30 Milliarden auf 60 Milliarden DM nisses erreicht. verdoppelt haben. Ich will hier nur kurz auf die wichtigsten Daten des Ein letzter wichtiger Eckpunkt im umfangreichen Haushaltsentwurfs eingehen. Für die Städtebauförde- Maßnahmepaket der Bundesregierung für den Auf- rung veranschlagt dieser Haushalt einen Verpflich- schwung des Wohnungsbaus in den neuen Ländern tungsrahmen von insgesamt 1 Milliarde DM. Davon war die Lösung der Altschuldenproblematik. Damit sind 920 Millionen DM für die neuen Bundesländer hat die Bundesregierung eines der gravierendsten vorgesehen, das kleinere Kontingent von 80 Millionen Investitionshemmnisse für die Wohnungswirtschaft — DM geht — jedenfalls nach Meinung der Regierung beseitigt. Damit steht — wie die Wohnungswirtschaft in die alten Bundesländer. Das Schwergewicht liegt übrigens selbst sagt — eine Investitionsoffensive in damit ganz eindeutig wieder bei den neuen Ländern. zweistelliger Milliardenhöhe bevor. Möglich ist dies Damit verstetigt der Bund seine Finanzhilfen in den nur dank der im Haushalt 1994 dokumentierten enor- neuen Ländern für städtebauliche Sanierungs- und men Anstrengungen der Bundesregierung, die mit Entwicklungsmaßnahmen und für den Denkmal- diesem Etat an Zinshilfen für die Altschulden mehr als schutz auf hohem Niveau. Förderhilfen für die 2,3 Milliarden DM einsetzt. Erschließung von Wohnbauland und die städtebauli- che Weiterentwicklung der Plattensiedlungen kom- Unvermindert in seiner Bedeutung bleibt — trotz men hinzu. Gerade von diesen Mitteln werden erheb- aller Unkenrufe beim letzten Mal von der Seite der liche wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Anstoß- SPD — die soziale Absicherung über das Wohngeld effekte ausgehen. Gerade hier wird ein besonderer mit insgesamt 3,6 Milliarden DM. Diese Wohngeldlei- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14987

Dieter Pützhofen stungen sind nach wie vor unverzichtbar für die in ihrer Lebensumwelt in Bonn von der Hauptstadt- soziale Flankierung. entscheidung berührt sind. (Zuruf von der SPD: Reparaturbetrieb!) Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Diese Entscheidungen haben politischen Mut gefor- dert. Dieser Mut zahlt sich jetzt aus und dokumentiert sich in der überall sichtbar werdenden Verbesserung Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster der Wohn- und Lebensverhältnisse in den neuen spricht nun der Kollege Dr. Ilja Seifert. Ländern. Die Entwicklung am Wohnungsmarkt können wir Dr. Ilja Seifert (PDS/Linke Liste): Frau Präsidentin! natürlich nicht nur durch Haushaltsentscheidungen Meine Damen und Herren! Herr Kollege Pützhofen, beeinflussen. Eine positive Entwicklung am Woh- ich bin zwar nicht der Herr Großmann, aber ich kann nungsmarkt ist von vielen Rahmenbedingungen einmal versuchen, die Frau Bauministerin zu loben. abhängig — Sie kennen sie —: bau- und planungs- Ich bitte Sie allerdings schon vorher, mich nicht des rechtlichen, gesamtwirtschaftlichen, mietrechtlichen, Zynismus zu zeihen. steuerrechtlichen usw., um einige zu nennen. Frau Minister, ich bin begeiste rt, wie Sie hier mit Gemeinsames Ziel aller Maßnahmen auf diesen Fel- großer Geste 32,2 % Zuwachs verkünden können, dern ist für die Bundesregierung die Steigerung des während Herr Großmann vorhin eindeutig nachge- Angebots am Wohnungsmarkt, weil allein damit die wiesen hat, daß es im Grunde überhaupt keinen Lösung der nach wie vor bestehenden Probleme Zuwachs gibt. Ich kann mich insofern auf Herrn möglich ist. Großmann beziehen und brauche die Zahlen nicht zu wiederholen. Die Opposition wird nicht müde, auf diesen Feldern Entscheidungen der Bundesregierung einzufordern. Frau Ministerin, ich bin begeistert, daß Sie die Die Bundesregierung hat auf diesen Feldern Entschei- „Nacht der Obdachlosen" schon wieder vergessen dungen getroffen. Es sind wichtige gesetzliche Neu- haben, wo uns Menschen, die keine Wohnung haben, regelungen in Kraft getreten. Ich nenne das Wohn- einmal gezeigt haben, wie das ist, und wo sie uns sehr, bauerleichterungsgesetz, das den Gemeinden die sehr deutlich aufgefordert haben, etwas dagegen zu notwendigen Instrumente für die schnelle Auswei- tun. sung von Bauland an die Hand gibt. Ich nenne auch Frau Ministerin, ich bin begeiste rt, daß Sie nicht auf die neuen mietrechtlichen Regelungen, die gerade zu die Idee kommen, die Beschaffenheitszuschläge in Beginn dieses Monats in Kraft getreten sind. Mit Höhe von 60 Pfennig auszusetzen, die Sie den Men- diesen Neuregelungen haben wir einen der aktuellen schen in Ostdeutschland ab nächstes Jahr auch noch Marktsituation angemessenen Ausgleich zwischen aufbürden wollen. Die Beschaffenheitszuschläge sind Interessen von Mietern und Vermietern geschaffen, ja extra für Ossis „erfunden" worden. Dafür, daß das während Sie, meine Damen und Herren von der SPD, Haus ein Dach hat, dafür, daß das Haus eine Wand hat, mit Ihren Reden nur ein Klima der Zwietracht zwi- und dafür, daß das Haus Fenster hat, bezahlt man schen Mieter und Vermieter aufschaukeln, das für Zuschläge, weitere Investitionsvorhaben ausgesprochen hinder- (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: So ein lich ist, und die Mieter haben davon überhaupt Quatsch!) nichts. während bei allen seriösen Verträgen höchstens (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Abschläge dafür gezahlt würden, daß das Dach nicht Achim Großmann [SPD]: Deshalb gibt es in Ordnung ist, daß die Wand nicht in Ordnung ist oder auch 500 000 Baugenehmigungen!) daß das Fenster nicht in Ordnung ist. Wie gesagt: Ab dem 1. Januar 1994 dürfen die Ossis auch noch dafür Der Haushalt 1994 muß ein notwendiges Signal in Zuschläge zahlen, daß eine Treppe im Haus ist und Richtung Berlin setzen. Die damit zusammenhängen- daß Strom und Wasser vorhanden sind. Ich bin wirk- den Fragen sind nicht Gegenstand der heutigen lich begeiste rt . Debatte. Für mich ist aber eines entscheidend — und das muß seinen Niederschlag auch im Haushalt 1994 (Zuruf von der CDU/CSU) finden —: Es muß ein konkretes Datum festgelegt — Ich bin ja von Ihrem Koalitionskollegen aufgefor- werden. dert worden, die Bauministerin einmal zu loben. Ich bin auch begeiste rt, Frau Ministerin, daß Sie gar (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nicht zu sagen brauchen, daß die eigentlich schlim- Aber es muß ein Datum sein, meine Damen und men Dinge im Wohnungswesen erst nach dem Wahl- Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, das kriti- marathon, nämlich Mitte 1995, kommen, wenn das schen Überprüfungen standhält. Es darf nicht von sogenannte Vergleichsmietensystem über die Ossis Wunschdenken in die eine oder andere Richtung hereinbrechen wird. geprägt sein, sondern muß sich aus den realistischen Frau Ministerin, ich bin auch unheimlich begeistert und nachprüfbaren Schritten einer abgeschlossenen davon, daß Sie überhaupt nicht sagen, daß die steu- Planung und einer Realisierung ergeben. Dieses erliche Förderung natürlich mit voller Wucht alle die Datum muß gesetzt werden, weil wir nur so Planungs- trifft, die Wohnungen aus dem Bestand kaufen. Ob sie sicherheit — vor allem auch für die Wirtschaft — in das blockweise machen oder erst einmal nur zehn Berlin schaffen und auch nur so sichere Grundlagen Wohnungen, spielt keine Rolle. Jedenfalls, die wenig- für die Lebensplanung all derer schaffen können, die sten jetzigen Mieterinnen und Mieter können sich das 14988 Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Dr. Ilja Seifert leisten. — Von den Löhnen und den Benzinpreisen in Carl-Ludwig Thiele (F.D.P.): Sehr geehrter Herr Ostdeutschland war ja schon die Rede, auch wenn Sie Präsident! — Entschuldigung! Sehr geehrte Frau Prä- zu dem Zeitpunkt noch nicht da waren. sidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Das neue Wunderwort „Wirtschaftsstandort Deutschland" ist hier hundertmal im Mund geführt Vizepräsidentin Renate Schmidt: Es ist eindeutig. worden. Auch ich finde, Deutschland könnte ein hervorragender Arbeitsstandort sein, könnte ein her- Carl -Ludwig Thiele (F.D.P.): Es ist eindeutig, Frau vorragender Wohnort sein, könnte ein prima Lebens- Präsidentin, dem kann ich nur zustimmen. Ich möchte ort sein. Denn der Wohnungsbau ist natürlich eine Sie auch zu Ihrer heutigen Kleidung beglückwün- ortsgebundene Industrie; man kann das nicht so leicht schen; sie steht Ihnen. nach Südostasien verlagern. (Beifall bei der SPD — Zuruf von der F.D.P.: Für Sie ist es aber leider wichtig, daß in Ihrem Aber nicht zu ihrer Rede heute morgen!) Haushalt 10 Millionen DM dafür eingestellt werden, Die Diskussion über den Wohnungsbauetat möchte daß der Palast der Republik nun endlich abgerissen ich zum Anlaß nehmen, Ihnen einen Sachverhalt zu wird — eine rein ideologische Entscheidung.- schildern, der wahrscheinlich für relativ viele Berei- che unseres zwischenzeitlich ausufernden sozialen (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das ist Systems und seiner Mißbräuche symptomatisch ist. doch Quatsch!) Ich habe das zuständige Amt meiner Heimatstadt Für Sie ist es wichtig, daß die neue Wunderwaffe Osnabrück gebeten, fiktiv zu überprüfen, ob ein „Expertenkommission Wohnungspolitik" noch Bundestagsabgeordneter mit einer steuerpflichtigen 1 Million DM dazubekommt. Bis jetzt weiß keiner Entschädigung in Höhe von 121 536 DM brutto, keine — jedenfalls ich nicht und wahrscheinlich kein ande- fünf Jahre verheiratet, drei Kinder, Anspruch auf eine rer Abgeordneter —, was diese Kommission über- Sozialwohnung hätte. Die Antwort lautete, daß in dem haupt macht. Ich bin gespannt, ob wir im Dezember dargestellten Beispielfall einer jungen Familie mit tatsächlich einmal etwas erfahren. Ich wäre jedenfalls drei Kindern und Bruttojahreseinkünften von insge- froh darüber. samt 121 536 DM eine Bescheinigung zum Bezug einer im Rahmen des Mietwohnungsbaus in Regionen (Gabriele Wiechatzek [CDU/CSU]: Dann mit erhöhter Wohnungsnachfrage geförderten Woh- müssen Sie aber auch einmal in den Aus nung erteilt werden kann. schuß kommen!) (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: — Aber ich war doch da. Es ist natürlich bedauerlich, Haben Sie da ein Foto mitgeschickt? — daß wir vorläufig nur eine kleine Gruppe sind. Wir Achim Großmann [SPD]: Schicken Sie mir können uns leider nicht teilen. Der Frau Kollegin das mal zu!) Schenk geht es ja leider genauso. Hierzu möchte ich anmerken — ich kann Ihnen das (Peter Kittelmann [CDU/CSU]: Dann sollte gleich geben, ich habe es hier —, daß dieser fiktive man aber mit Kritik zurückhaltender sein!) Beispielfall meine persönliche Situation bis Dezem- — Aber Herr Kittelmann! Sie sind doch noch viel ber letzten Jahres betraf. Ich möchte ferner anmerken, seltener da als ich. Es ist leider so, daß ich in mehreren daß ich weder jemals die Absicht hatte, eine solche Ausschüssen tätig sein muß; ich muß nachher noch Bescheinigung anzufordern, noch dieses zukünftig einmal reden, wenn es um die Post geht. tun werde. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich halte dies für Das ist auch nicht das Problem. Das Problem ist, daß einen handfesten Skandal. Ich habe inzwischen aller- die Menschen weder im Osten noch im Westen dings den Eindruck, daß es mehrere Bereiche gibt, in genügend Wohnungen haben. Insofern, Frau Ministe- denen solche skandalösen Situationen bestehen. Es rin — das ist mein letzter Satz zu diesem Thema —, bin zeigt eben, daß unser soziales Netz an einigen Stellen ich begeistert und danke Ihnen ganz herzlich, daß Sie so ausgedehnt ist, daß Abstauber richtig absahnen wenigstens die 2 Millionen fehlenden Wohnungen können. Wie soll man dieses Beispiel wirklich in Not nicht auch noch den 40 Jahren SED-Politik zuschu- geratenen Menschen erklären, die eine Wohnung stern. Dafür muß ich Ihnen danken. Sie sind ehrlich, suchen und einen Anspruch darauf haben, sie aber bleiben Sie so! möglicherweise deshalb nicht erhalten, weil andere (Dr. -Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Da gibt — einkommensstärkere — Bürger ebenfalls Anspruch es ja überhaupt keinen Beifall!) auf eine Sozialwohnung haben und diesen dann möglicherweise auch wahrnehmen? — Sie dürfen ja klatschen, Herr Kansy, das ist ja nicht verboten. Wie soll man einen solchen Tatbestand ferner denjenigen erklären, die durch ihre Leistungskraft (Dr. -Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Um dazu beitragen, daß die finanziellen Grundfesten Gottes willen, wir sind doch nicht im Karne unseres Staates überhaupt funktionieren? val! — Heiterkeit bei der CDU/CSU und der Wenn allerdings die Opposition angesichts solcher F.D.P.) Sachverhalte im Rahmen einer Sozialneidkampagne die Behauptung aufstellt, daß die Überprüfung solcher Vorschriften unterbleiben muß, verschließt sie die Augen vor der Realität in unserem Lande. Sie weiß gar Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster nicht mehr, was hier in Deutschland eigentlich spricht der Kollege Carl-Ludwig Thiele. geschieht. In dieser Situation fordert der Bundesrat in Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14989

Carl-Ludwig Thiele einem Gesetzentwurf, die Einkommensgrenzen für überhaupt kein Dissens. Ich halte es allerdings für den Anspruch auf Sozialwohnungen zu erhöhen. abenteuerlich, wenn mit gut 120 000 DM steuerpflich- tigem Bruttoeinkommen eine Familie mit fünf Kindern Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege, Anspruch auf eine Sozialwohnung hat. Ich brauche es gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen nicht; ich benötige es nicht; ich nehme es nicht in Hitschler? Anspruch. Und ich gehe davon aus, daß andere bei dieser Einkommensgröße eine solche Förderung im

Carl - Ludwig Thiele (F.D.P.): Gerne. Grunde genommen überhaupt nicht wollen — nur: Das ist Tatbestand. Diesen Tatbestand gilt es aufzu- Dr. Walther Hitschler (F.D.P.): Herr Kollege Thiele, decken und auch abzuschaffen. sind Sie auch bereit, der staunenden Zuhörerschaft zu (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) erklären, daß Grundlage der Berechnung, auf die Sie sich stützen, nicht § 25 des Wohnungsbaugesetzes ist, Vizepräsidentin Renate Schmidt: Gestatten Sie eine sondern eine spezielle Vorschrift des von der SPD zweite Zusatzfrage des Kollegen Großmann? regierten Landes Niedersachsen? - Carl - Ludwig Thiele (F.D.P.): Gerne. Carl - Ludwig Thiele (F.D.P.): Das ist § 88a des Wohnungsbaugesetzes. (SPD): Sie haben leider meine (Dr. Walter Hitschler [F.D.P.]: In Verbindung Achim Großmanmn Frage nach der Quadratmetermiete nicht beantwor- mit einem Sozialprogramm des Landes Nie tet. Deshalb frage ich Sie: Ist Ihnen bekannt, daß z. B. dersachsen!) in Berlin sozialer Wohnungsbau über die vereinbarte — In Verbindung mit einem Spezialprogramm, aber Förderung zu Quadratmetermieten von 18 DM statt- es ist § 88a des Bundesgesetzes. findet? Sind Sie nicht der Meinung, daß eine Woh- (Heiterkeit bei der F.D.P.) nung, die 18 DM pro Quadratmeter kostet, gemeinhin Dieses Beispiel zeigt allerdings auch, daß innerhalb nicht als Sozialwohnung angesehen wird, auch wenn des sozialen Wohnungsbaus Mißstände bestehen, die sie unter diesem Begriff läuft? dringend zu überprüfen sind. Hierzu gehört für mich auch, daß dieser Berechtigungsschein lediglich bei Carl - Ludwig Thiele (F.D.P.): Gerade dieses Beispiel Bezug der Wohnung vorgelegt werden muß. Sollte zeigt, Herr Großmann — hier sind Sie möglicherweise sich danach das Einkommen erheblich erhöhen, mit mir nicht der gleichen Ansicht —, daß die Förde- erlischt nicht der Anspruch auf diese Wohnung. Des- rung im sozialen Wohnungsbau zwar für bestimmte halb wäre es hier sinnvoll, den sozialen Wohnungsbau Bevölkerungsgruppen erforderlich ist, daß sie aber endlich von der Objektförderung auf die Subjektför- auf Grund des immensen Aufwandes öffentlichen derung umzustellen, wie das seitens der F.D.P. schon Kapitals überhaupt nicht geeignet ist, die Wohnungs- seit langem gefordert wird. probleme der Gegenwart und der Zukunft zu beseiti- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne gen. ten der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Wir müssen ganz andere Wege gehen und wegkom- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege, men von diesem antiquierten System, welches in der gestatten Sie auch eine Zwischenfrage aus einer Vergangenheit schon dazu führte, daß eine Wohnung, anderen Fraktion? die vielleicht 250 000 DM kostete, mit 100 000 DM staatlicher Gelder gefördert wurde. Das ist eine Ver- Carl - Ludwig Thiele (F.D.P.): Gerne. Ich vermute, Sie schleuderung von Geldern. Die kann man ein bißchen meinen Herrn Kollegen Großmann. intelligenter einsetzen. Was wir benötigen, ist eine Befreiung des Bürgers Vizepräsidentin Renate Schmidt: Ja. von den Fesseln des Staates, die zwischenzeitlich überholt, unzweckmäßig, unwirtschaftlich und wirk- Achim Großmann (SPD): Herr Kollege Thiele, sind lichkeitsfremd sind. Als Abgeordneter habe ich häufig Sie in der Lage, uns zu sagen, welche Quadratmeter- den Eindruck, bei gewissen Dingen, die man erfährt miete Sie hätten zahlen müssen, und sind Sie bereit, oder aufdeckt, mit dem Kopf gegen die Wand zu zuzugestehen, daß alle Fraktionen der Meinung sind, laufen. Die eigenen Bordmittel und die Fülle der daß bei der einkommensabhängigen Sozialmiete Themen lassen einem Abgeordneten eben nicht die — über die nachgedacht wird — es völlig klar ist, daß Möglichkeit, sich eines jeden Themas — auch in der kinderreiche Familien — sicherlich, den Sonderfall, gebotenen Beharrlichkeit — anzunehmen. den Sie aus Niedersachsen genannt haben, muß man einmal überprüfen — zu Recht eine höhere Einkom- (Achim Großmann [SPD]: Das merkt man!) mensgrenze haben müssen als z. B. die deutsche Man könnte sich ja als Außenstehender denken, Normalfamilie mit einem Kind oder ein kinderloses daß die Verwaltung selbst darangeht, solche aufge- Ehepaar, die bereits bei einem Einkommen von unter deckten Mißstände auszuräumen. Ich habe auch den 30 000 DM keinen Anspruch auf Sozialmiete Eindruck, daß viele Mitarbeiter in der Verwaltung haben? bereit wären, einen solchen Weg zu gehen. Es sind dann allerdings der alte Trott, die Bequemlichkeit, die

Carl - Ludwig Thiele (F.D.P.): Ich halte es für absolut mangelnde Bereitschaft zu Konflikten und häufig richtig, daß Familien mit Kindern eine besondere auch die Hierarchie, die solche Ansätze zunichten Förderung erhalten. Hierüber besteht zwischen uns machen. 14990 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Carl-Ludwig Thiele Ich begrüße es deshalb, daß die Bundesbauministe- derjenigen verwendet werden, die finanziell nicht in rin Dr. Irmgard Schwaetzer eine Kommission zur der Lage sind, sich aus eigenen Kräften auf dem Kostensenkung und Deregulierung im Wohnungs- sogenannten freien Markt selbst zu versorgen. Es bau einsetzt. In dieser Kommission sollten nach mei- kommt außerdem darauf an, daß der Staat diesen ner Meinung sämtliche Vorschriften gnadenlos über- sogenannten freien Markt durch eine entsprechende prüft und entrümpelt werden. Gesetzgebung dahin gehend beeinflußt, daß er für (Beifall bei der F.D.P.) Umwandler und Knappheitsprofiteure weniger frei wird, für Mieterinnen und Mieter jedoch Freiheit von Hierzu gehört auch und insbesondere das Planungs- Angst, d. h. mehr Sicherheit, gewährleistet. recht. Das Bauen muß einfacher und billiger werden, und das Planungsrecht darf sich in Deutschland nicht Die Art und Weise, wie staatliche Wohnungsbau- als ein Investitionshemmnis größter A rt darstellen. mittel in der Bundesrepublik bisher angewendet wur- Wir wissen alle, daß Deregulierung und Privatisierung den, hat genau das Gegenteil bewirkt. Gefördert eine Sisyphusarbeit sind. Aber es war selten so wichtig werden erstens die Erhöhung des Flächenverbrauchs wie heute, daß sie auch konkret getan wird. finanzkräftiger Haushalte über Steuererleichterun- Ich möchte der Ministerin dafür danken, daß es gen, d. h. über indirekte Subventionen, die in keinem durch ihre beharrliche Arbeit gelungen ist, festgefah- Haushaltsplan auftauchen; zweitens der sogenannte rene Probleme, z. B. die Altschuldenfrage, die Verbes- frei finanzierte Wohnungsbau, der gar nicht frei finan- serung der Finanzierungsspielräume, die Pflicht zur ziert ist, da auch er von enorm hohen indirekten Privatisierung von mindestens 15 % der Wohnungen Steuersubventionen lebt, die ebenfalls nirgendwo in den neuen Bundesländern, zu lösen. Gerade dieses auftauchen; drittens der soziale Mietwohnungsbau, Engagement hat dazu beigetragen — wie es auch die der deswegen nicht sozial ist, weil er nicht dauerhaft, „FAZ" vom heutigen Tage kommentiert —, den sondern nur befristet sozial gebunden ist und weil die Wohnungsbau als Hoffnungsträger und die Stütze Mieten nicht einkommensabhängig sind, was heißt, der Wirtschaft und der Konjunktur überhaupt zu daß sie für die einen unbezahlbar sind und für die sehen, insbesondere aber in den neuen Bundeslän- anderen unnötig hoch subventioniert werden. dern. Die Konstruktion aus Wohngeld und Fehlbele- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) gungsabgabe ist Flickschusterei. Ich habe den Ein- druck, daß sich diese Erkenntnis mittlerweile durch- Gerade für den Wohnungsbau ist die beabsichtigte gesetzt hat. Konsolidierung des Bundeshaushalts von entschei- dender Bedeutung, weil hierdurch der Bundesbank Ich möchte in diesem Zusammenhang klar sagen: die Möglichkeit weiterer Zinssenkungen gegeben Wir, die Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, haben wird. Es gibt kein staatlich aufgelegtes Konjunktur- ein besseres Konzept. Die GRÜNEN haben schon in programm für die Wirtschaft und den Wohnungsbau, der letzten Legislaturperiode in ihrem Antrag mit dem welches auch nur annähernd eine solche Wachstums- Titel „Für einen neuen Sozialen Mietwohnungsbau" perspektive eröffnet wie ein bescheidener Staat und dargelegt, wie der kommunale Wohnungsbau organi- dadurch sinkende Zinsen. siert und finanziert werden kann. Von der Bundes- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) tagsgruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, die sich der Probleme im Osten in besonderer Weise annimmt, ist dieses Konzept für den Bestand der ehemals volksei- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächste genen Wohnungen, hauptsächlich also für die Platten- spricht die Kollegin Christina Schenk. bauten, weiterentwickelt worden. Wir wollen, daß die ehemals volkseigenen Wohnun- Christina Schenk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gen — ausgenommen natürlich diejenigen, für die Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Restitutionsansprüche geltend gemacht worden Bundesregierung beabsichtigt, im Rahmen der mittel- sind — in der Hand der Kommunen bleiben. fristigen Finanzplanung die Mittel für den sozialen Wohnungsbau zu kürzen. Mietervereine haben das Die Privatisierungskonzepte der Bundesregierung beklagt, die SPD hat es beklagt, und es ist auch sind ohnehin gescheitert. Folglich hat der Sozialstaat schlimm. jetzt die Aufgabe, die Kommunen bei der Instandset- zung und der Modernisierung dieser Wohnungen Viel schlimmer, meine ich, ist es jedoch, daß die finanziell zu unterstützen. Wenn er das nicht tut, wird Wohnungsbaumittel insgesamt, seien es nun ein paar den Kommunen nichts anderes übrig bleiben, als die Milliarden mehr oder weniger, in einer Weise ausge- Wohnungen doch noch zu verkaufen, allerdings zu geben werden, die ausgesprochen kontraproduktiv, einem Preis, der weit unter dem liegt, was sie objektiv ökologiefeindlich und für alle diejenigen, die nicht zu wert sind, und zu Bedingungen, die für die jetzigen den Bessersituierten in dieser Gesellschaft gehören, Mieterinnen und Mieter verheerend sein werden. absolut schädlich ist. Die Mittel der Kreditanstalt für Wiederaufbau Diejenigen, die meinen, viel Geld bewirke automa- konnten von den Kommunen im Osten für die Instand- tisch eine gute Wohnungspolitik, irren sich. Es kommt setzung und Modernisierung bisher kaum in auch nicht allein darauf an, möglichst viele Wohnun- Anspruch genommen werden, weil die Zinsen dafür gen zu bauen — daher sind die von der Ministerin noch zu hoch sind und weil eine 100-%-Finanzierung ausgestreuten Zahlen der geförderten oder bewillig- nicht möglich war. ten Wohnungen für uns wenig eindrucksvoll —; es kommt, meine ich, vielmehr darauf an, daß staatliche Ich meine, das muß anders werden. Der Zins für Wohnungsbaumittel für die Wohnungsversorgung diese Kredite muß weiter fallen — was durch Bund Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14991

Christina Schenk und Länder subventioniert werden muß —, und der senschaften und die privaten Hauseigentümer sowie Bund muß die Bürgschaften für 100-%-Finanzierun- die Gesellschaften leben können. gen übernehmen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Unserem Konzept entsprechend, dem genaue Berechnungen zugrunde liegen, könnten alle ehe- Daß der Bund ab Juli 1995 weitere 31 Milliarden DM mals volkseigenen Wohnungen sowie die Wohnun- Schulden aus der ostdeutschen Wohnungswirtschaft gen der Genossenschaften im Osten bis zum Jahre übernehmen muß, um sie in den Erblastfonds aufzu- 2001 instandgesetzt und modernisiert werden, wenn nehmen, möchte ich an dieser Stelle nur noch einmal die Regierung dazu bereit wäre, innerhalb der näch- erwähnen. Insofern, Frau Schenk, ist mir ihre Rech- sten 29 Jahre — also bis zum Jahre 2022 — insgesamt nung nicht bündig. Wenn ich Ihre Zahlen auf Quadrat- 7,3 Milliarden DM mehr auszugeben. Das, meine meter umrechne, komme ich auf andere Zahlen. Ich Damen und Herren, ist allein eine Frage des politi- glaube, das, was Sie uns hier vorgeführt haben, ist schen Willens. Augenwischerei. Wir wollen, daß die Kommunen das alleinige Bele- (Beifall bei der CDU/CSU — Martin Gött sching [CDU/CSU]: Kann es sein, daß Frau gungsrecht für die ehemals volkseigenen Wohnungen- bekommen, und wir wollen, daß diese Wohnungen, so Schenk nicht rechnen kann?) eine Neubelegung ansteht, allein nach Dringlich- Möglich ist das. keitskriterien vergeben werden. Somit sind Grundvoraussetzungen geschaffen wor- Außerdem wollen wir einkommensabhängige Mie- den, um die Wohnungen zu sanieren und zu moder- einführen, um auf die Flickschusterei mit Wohn- ten nisieren. Es sind Voraussetzungen geschaffen wor- geld und Fehlbelegungsabgabe verzichten zu kön- den, damit das heimische Handwerk und die Bauin- nen. Niemand soll ausziehen müssen, niemand soll dustrie den Motor des Aufschwungs auf Touren brin- wegen eines zu niedrigen Einkommens daran gehin- gen. dert werden, einzuziehen. Aber alle sollen entspre- chend ihren finanziellen Möglichkeiten an der Finan- Mit diesen Voraussetzungen ist auch der Weg zierung der Wohnungen beteiligt werden. Vorausset- geebnet, um verstärkt an die Privatisierung von zung dafür sind allerdings Ausgleichszahlungen an Wohnungen herangehen zu können. Unterstützt die Kommunen, die von Bund und Ländern dann aus durch die Privatisierungshilfe des Bundes ist hier den Mitteln bezahlt werden können, die diese beim ebenfalls die Möglichkeit geschaffen worden, Eigen Wohngeld einsparen. tum zu erwerben. Daß die Länder gerade in der Frage Meine Damen und Herren, unser wohnungspoliti- Altschuldenhilfe ebenfalls einen gleichen Beitrag zur Zinstilgung einbringen, möchte ich bei der ange- scher Appell richtet sich im Grunde genommen an spannten Haushaltslage als besonders wertvoll unter- alle Fraktionen in diesem Hause: Auf Versuche, die jeweiligen wohnungspolitischen Lieblingskonzepte streichen. — Marktwirtschaft pur oder sozialer Wohnungsbau Ich halte es für wichtig, gerade im Zusammenhang herkömmlicher Art, was beides schon im Westen mit der Wohnungsbauprivatisierung nochmals darauf gescheitert ist auf den Osten zu übertragen, sollte hinzuweisen, daß diese Unterstützungen befristet sind verzichtet werden. Es gibt bessere Konzepte, und und daß Zuschüsse nur noch bis zum 31. Dezember gerade die Situation im Osten bietet die Chance dazu, 1994 möglich sind. sie zu realisieren. Vor einer Privatisierung von Wohnungen ist eine umfangreiche Aufklärung und Beratung erforderlich. Landein und Landauf bestätigen dies viele Gespräche Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun spricht der mit den Bürgern, aber auch die begonnenen Maßnah- Kollege Rolf Rau. men. Ich halte es deshalb für wichtig, daß gerade in diesem Bereich die zur Verfügung stehenden 6,5 Mil- lionen DM Anwendung finden, und, wenn das nicht ausreicht, gegebenenfalls erhöht werden. Denn ohne Rolf Rau (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsiden- Aufklärung und konkrete Hinweise, ohne Vertrauen tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im ist es schwer, die Privatisierung in einem Umfang zu vorliegenden Regierungsentwurf des Haushaltes vollenden wie sie von uns gewünscht ist. 1994 für den Bereich des Bauwesens ist ein Zeichen gesetzt worden, wie der Weg zur inneren Einheit Kollege Dr. Janzen ist nicht mehr da, aber das kann Deutschlands weiter beschritten werden kann. So ist ja übermittelt werden: Zwischen Rostock und Leipzig die Entscheidung, im Rahmen des Föderalen Konsoli- ist ja ein Stückchen Weg. Da es bei uns schon dierungsprogramms die Zinshilfen nach dem Alt- Genossenschaften gibt, die privatisieren wollen schuldenhilfegesetz für die jungen Bundesländer mit (Achim Großmann [SPD]: Stralsund!) 2,35 Milliarden DM aufzunehmen, wohl der größte Erfolg. — in Stralsund ist die gleiche gute Luft —, denke ich doch, daß das möglich ist. Ich erinnere Sie daran, daß wir in diesem Hause die erste Debatte zur Altschuldenhilfe im Juni 1991 Ein Ausrufezeichen möchte ich hinter die Städte- geführt haben und heute im Rahmen des Föderalen bauförderung setzen. Insbesondere — ich glaube, es Konsolidierungsprogramms ein Ergebnis auf dem ist gut, wenn man das anspricht halte ich es für Tisch liegen haben, mit dem die Bürger in den neuen richtig und im Hinblick auf die alten Länder für Bundesländern, die Kommunen, aber auch die Genos dankenswert, daß für die neuen Länder 920 Millionen 14992 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Rolf Rau DM und für die alten, wie bereits angesprochen, wäre. Ich glaube auch, daß in diesem Zusammenhang 80 Millionen DM vorgesehen sind. die Modernisierung und Sanierung wichtig ist. Ich (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) meine, wir müssen an dieser Stelle mehr als bisher dafür Sorge tragen, daß besonders in den neuen Meine sehr verehrten Damen und Herren, jeder, der Ländern die Voraussetzungen dafür geschaffen wer- sich unser Vaterland anschaut, weiß, welch ein hoher den, daß das Kapital auch kommt. Bedarf in den neuen Ländern besteht. Insofern ist es (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Wohnung wichtig, daß diese 920 Millionen DM im Rahmen der ist Menschenrecht!) Städtebauförderung in den Bereichen städtebauliche Sanierungs- und Entwicklungsmaßnahmen, städte- Im Zusammenhang mit der Modernisierung und baulicher Denkmalschutz sowie städtebauliche Mo- Sanierung möchte ich eine Forderung an das BMF dellvorhaben zur Wiederbelebung unserer Städte aufmachen, die sich aus den Erkenntnissen zahlrei- Anwendung finden. cher Gespräche mit Fachleuten ergibt. Es ist meiner Ansicht nach erforderlich, daß trotz eines ansprechen- (Martin Göttsching [CDU/CSU]: Sehr gut!) den zusätzlichen Kreditvolumens und Zinshilfen die Dabei weiß ich, daß gerade hier unsere Städte eine Bundesprogramme einschließlich des Programms der ganze Menge Vorleistung erbringen müssen, um Kreditanstalt für Wiederaufbau mit den Landespro- diese Mittel sach- und inhaltsgerecht einzusetzen. grammen kompatibel gestaltet werden. Das ist erst- malig im Zusammenhang mit dem KfW-Kredit und (Uwe Lühr [F.D.P.]: Auch das ist richtig!) dem Plattenbau ermöglicht worden. Aber in Zukunft Die Bemühungen in den Kommunen sind jedoch sollte dies bei der Modernisierung und Sanierung riesengroß. auch von monolithischen Altbauten gegeben sein. Diese Veränderung hilft nicht nur den Genossen- An dieser Stelle möchte ich einfügen, daß bei der gesamten Frage Stadtentwicklung, Wohnungsbau schaften und Gesellschaften, sondern auch den priva- ten Vermietern, die nicht die Chance haben, durch und Wohnungsbausanierung ein großes Problem vor mehrere Objekte Ausgleich zu schaffen. uns hergetragen wird: Es ist die Entsorgung von Wasser und Versorgung mit Frischwasser. Allein im Noch ein Wort zu Schlechtwetterregelung, obwohl Freistaat Sachsen haben wir hochgerechnet einen dieses Problem in unserem Haushalt nicht erkennbar Bedarf von etwa 43 Milliarden DM, für die nächsten ist: Für meine Begriffe ist die Streichung des Schlecht- zehn Jahre von 30 Milliarden DM. wettergeldes ohne alternativen Lösungsvorschlag falsch. Hier müssen wir gemeinsam, da das weder vom Bund noch vom Land zu finanzieren ist, für das private (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — Kapital solche Rahmenbedingungen schaffen, daß für Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Sehr gut!) die Bürger bezahlbare und für die Städte transparent Die Arbeit auf dem Bau darf nicht zur Saisonarbeit begleitbare Betreibermodelle in größerer Anzahl ver- schrumpfen. Die Sicherheit einer zur Stunde als Motor einbart werden. sich bewegenden Industrie mit großen Möglichkeiten in den Ausbildungsplätzen muß gewährleistet blei- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ben. Deshalb sind in den nächsten Wochen Gespräche Ein dritter Komplex ist die Bereitstellung der Mittel zwischen den Tarifpartnern und dem Gesetzgeber für den sozialen Wohnungsbau. Bei dem vorhande- erforderlich, um bei allen Einsparerfordernissen eine nen Bedarf sind die vorgesehenen Zahlen natürlich Harmonisierung dieses Problems zu schaffen. immer zu gering, so daß es wichtig ist, daß die Mittel Vielen Dank. besonders dort eingesetzt werden, wo der Wohnungs- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. markt, so z. B. in Ballungsräumen, überaus strapaziert sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke ist. In den neuen Ländern ist der Verpflichtungsrah- Liste]) men kontinuierlich bis 1997 bei jährlich 1 Milliarde DM festgeschrieben. Ich freue mich, daß der Freistaat Sachsen meine Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Wortmel- Idee unterstützt, wesentlich mehr Mittel des sozialen dungen zu diesem Themenbereich liegen nicht vor. Wohnungsbaus als bisher in die Modernisierung und (Dr. Ilja Seifert [PDS/Linke Liste]: Jetzt kriegt Sanierung einfließen zu lassen. Dadurch besteht die Herr Rau einen Ordnungsruf von Herrn Chance, sozial verträglichen Wohnraum auch in Kansy!) Zukunft zu erhalten — nur dort ist es möglich — und — Irritieren Sie mich doch bitte nicht so arg. durch diesen Fördermitteleinsatz dämpfend auf die Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bun- Mietpreisentwicklung einzuwirken. desministeriums für Post und Telekommunikation. Der Neubau sollte sich im wesentlichen durch die Das Wort hat Herr Bundesminister Dr. Wolfgang steuerlich begünstigte Regelung der Sonderabschrei- Bötsch. bung aus privatem Kapital gestalten. Ich glaube, Dr. Seifert, in diesem Zusammenhang ist Dr. Wolfgang Bötsch, Bundesminister für Post und die beste Lösung, daß wir mehr Wohnungen bauen Telekommunikation: Frau Präsidentin! Meine sehr und daß wir das Problem auf dem Wohnungsmarkt so verehrten Damen und Herren Kollegen! Der Herr angehen, daß das Kapital eine Chance hat, für den Kollege Thiele hat vorhin Ihr nettes Kleid bewundert, Bau von Wohnungen überhaupt eingesetzt zu wer- Frau Präsidentin. Ich genieße das Privileg, zu wissen, den, was für die Mieter dort der beste Mieterschutz zu welchem Anlaß Sie es sich heute ausgewählt Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14993

Bundesminister Dr. Wolfgang Bötsch haben; denn wir mußten zu unserem Leidwesen selbst einmal zu loben — mit großem Schwung in vorhin gemeinsam eine Veranstaltung verlassen, um Angriff genommen hat. hier jetzt im Schutz der Dunkelheit den Haushalt für Post und Telekommunikation zu beraten. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Heiterkeit) Ich will die Gelegenheit nicht verstreichen lassen, mich zunächst bei allen Kolleginnen und Kollegen — es sind in diesem Fall hauptsächlich Kollegen — dafür zu bedanken, daß sie in schwierigen Einzelbe- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege, hier ist es ziemlich hell. Dunkel war es da drüben in dem ratungen im vergangenen halben Jahr an dieser Zelt. Arbeit mitgewirkt haben. Das gilt sowohl für die Kollegen der Koalition als auch für die der Opposition. Von den unmittelbar handelnden Personen sehe ich allerdings im Moment keine, wenn ich auch weiß, was Bundesminister für Post und Dr. Wolfgang Bötsch, der Kollege Börnsen in der Kommission, die bis Ende Telekommunikation: Draußen meine ich natürlich; 1992 hier tätig war, im einzelnen geleistet hat. hier ist es schon beleuchtet. - (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Waren Sie (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) mit der Frau Präsidentin im Dunkeln? — Diese Aufgabe ist auch notwendig, Heiterkeit) Ich bin jedenfalls den Parlamentarischen Geschäfts- (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Sehr not wendig!) führern sehr dankbar, daß sie diese Debatte so gelegt haben. Allerdings, das Licht braucht dieser Haushalt denn eine moderne und leistungsfähige Post- und natürlich überhaupt nicht zu scheuen. Telekommunikationsinfrastruktur ist für eine so hoch (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) entwickelte Industrienation wie die Bundesrepublik Deutschland von herausragender, ja eigentlich von Ich freue mich, daß ich zum erstenmal seit Januar als lebenswichtiger Bedeutung. der für die Post- und Telekommunikationspolitik in der Bundesrepublik Deutschland zuständige Minister (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) die Gelegenheit habe, einige kurze Ausführungen vor diesem Hause zu machen, insbesondere vor einem Aus diesem Grunde sind gerade auch im Rahmen interessierten Kollegenpublikum. der Sicherung des Wirtschaftsstandortes Deutschland die Post- und Telekommunikationspolitik sowie die Über den jetzigen Kreis der Abgeordneten hinaus Zukunft der drei Unternehmen der Deutschen Bun- hat unser Haushalt so großes Interesse gefunden, daß despost nicht nur für die Bundesregierung, sondern der ehemalige Kollege aus dem Deutschen Bundes- auch für Wirtschaft und Gesellschaft von größtem tag, der Kollege Heinz Schwarz, auf der Ehrentribüne Interesse. Und, meine Damen und Herren, Sicherung Platz genommen hat, worüber ich mich besonders des Wirtschaftsstando rtes Deutschland heißt Siche- freue. rung von Arbeitsplätzen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich will mich bei der Betrachtung des Haushalts auf zwei Aussagen beschränken. Erstens. Der besonders Wir treiben hier keine l'a rt pour l'art , keine Kunst schwierigen Situation dieses Haushalts wurde im um der Kunst willen. Viele von uns haben das ja alles Entwurf des Einzelplans 13 eindeutig Rechnung bis 1990 als selbstverständlich hingenommen und getragen. Das Haushaltssoll ist gegenüber 1993 um dann in den neuen Bundesländern und in den Ländern 16,1 % von 559 Millionen DM auf 469 Millionen DM des ehemaligen Ostblocks gemerkt, daß wirtschaftli- vermindert worden. ches Handeln, wirtschaftlicher Fortschritt überhaupt Wirtschaften nur möglich ist, wenn Kommunikation (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Im Ent stattfindet. Das heißt, die Menschen müssen entweder wurf!) unmittelbar zueinanderkommen, per Straße, per — Im Entwurf. Flugzeug, per Eisenbahn — per Schiff nicht so leicht, Ich habe vernommen, daß sich die Berichterstatter das geht zu langsam —, oder, wo dies nicht möglich, heute auch schon etwas Mühe gegeben haben, diese nicht notwendig oder unzweckmäßig ist, im Wege der Minuszahl von 16,1 % noch etwas nach unten zu Telekommunikation — das griechische „tele" heißt fahren. Wenn es dabei bleibt, á la bonne heure; aber fern. Deshalb ist dieser Bereich so wichtig. ich wäre dankbar, wenn man nach Möglichkeit die Die Postreform von 1989 war ein erster und richtiger Arbeitsfähigkeit des Hauses nicht in Frage stellen Schritt einer Politik, die dem Wettbewerb auf den würde. Telekommunikationsmärkten die Türe geöffnet hat. (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Bei dem Die durch diese Reform geschaffenen Voraussetzun- Minister völlig undenkbar!) gen sind allerdings noch längst nicht ausreichend und verlangen dringend und umgehend eine Anpas- Zweitens. Die Personalausgaben, die beim Einzel- sung. plan 13 die Hälfte der Ausgaben ausmachen — das ist in der Struktur so begründet —, sinken um 9,3 % von Meine Damen und Herren, am 16. Juni 1993 hat sich 258 Millionen DM auf 234 Millionen DM. Und das der EG-Postministerrat in Luxemburg darauf verstän- geschieht, obwohl mein Ministe rium das überaus digt, das Telefondienstmonopol zum 1. Januar 1998 wichtige Projekt der Postreform II — um mich aufzuheben. Es wird also von diesem Zeitpunkt an 14994 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Bundesminister Dr. Wolfgang Bötsch möglich sein, auf einem bisher geschützten Markt größte Einzelinvestor in den neuen Bundesländern. Wettbewerb zu veranstalten. Ich hoffe, daß der Kollege Seifert, der auch zu diesem Haushalt spricht, seine Begeisterung hier vielleicht ed Hornung [CDU/CSU]: So ist es (Siegfri weniger ironisch zum Ausdruck bringen kann. recht!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Und wenn Deutschland künftig einen starken natio- ordneten der F.D.P.) nalen Anbieter behalten will, muß man sich heute schon für diesen Zeitpunkt präparieren. Indirekt wurden hier im Jahre 1992 50 000 Aufträge im Wert von 2,7 Milliarden DM an ostdeutsche Firmen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) vergeben. Dabei will ich auch darauf hinweisen, daß Nur durch eine Privatisierung werden wir in diesem die Telekom in den neuen Bundesländern rund 40 000 Bereich den Anforderungen eines sich stetig verschär- Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt und fenden Wettbewerbs im In- und Ausland gewachsen durch Investitionen weitere 50 000 Arbeitsplätze in sein. Handwerk, Handel und Industrie sichert. Sie wissen, eine interfraktionelle Verhandlungs- Meine Damen und Herren, lassen Sie mich schlie- kommission — ich habe das bereits erwähnt- — hat ßen mit dem Dank an jene Kolleginnen und Kollegen Lösungsansätze für eine Reform ausgearbeitet. Sie des Hauses, die in den zuständigen Ausschüssen an wurden vor der Sommerpause von den Fraktionen der Aufstellung des Einzelplanes 13 mitarbeiten wer- — zustimmend, billigend, jedenfalls — zur Kenntnis den und den Belangen der Post und Telekommunika- genommen und sehen die Umwandlung aller drei tion diese große Aufmerksamkeit entgegenbringen. Unternehmen der Deutschen Bundespost in Aktien- Vielen Dank. gesellschaften vor. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Meine Damen und Herren, das Ergebnis ist ein Kompromiß. Im Deutschen Bundestag braucht man für Verfassungsänderungen eine Zweidrittelmehr- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Kol- heit, und da muß man auch Kompromisse schließen. lege Arne Börnsen das Wort. Wir haben die ersten Rohentwürfe für die notwen- digen Gesetze als Formulierungshilfe für die Fraktio- nen jetzt erarbeitet; denn wir müssen die fertigen Arne Börnsen (Ritterhude) (SPD): Frau Präsidentin! Gesetzentwürfe bald einbringen, wenn die Postre- Meine Damen und Herren! form II noch in dieser Legislaturpe riode Gesetz wer- (Zuruf von der CDU/CSU: Zeigen Sie mal Ihr den soll. Ich hoffe, daß wir die notwendige Einigung linkes Handgelenk, Herr Börnsen!) mit der SPD erreichen und das Reformvorhaben auch — Darauf kommen wir noch. Ich werde sicherlich entsprechend den Grundsätzen des Standortsiche- nicht nur auf das Handgelenk, sondern auch auf die rungskonzepts rechtzeitig realisieren können. Postreform II noch zu sprechen kommen. Für mich — ich sage das noch einmal — ist das keine Herr Minister, es freut mich, daß wir heute erstmalig Veranstaltung, die man einfach so macht, sondern wir die Möglichkeit haben, uns hier auszutauschen. Aber haben auch hier den Belangen der Beschäftigten in erst einmal muß ich einleitend ordentlich Frust abla- den Unternehmen hohe Aufmerksamkeit zu schen- den. Ich glaube, ich spreche da für eine Vielzahl von ken. Deshalb werden wir das natürlich bei den anste- Kollegen nicht nur von der einen Seite, sondern mit henden Gesetzesberatungen zu berücksichtigen ha- Sicherheit auch bei Ihnen, für eine Vielzahl von ben. Aber — das betone ich auch — die Kompromiß- Beschäftigten der Deutschen Bundespost und für viele bereitschaft beschränkt sich natürlich auf sinnvolle Kunden. Lösungen. Das, was uns in den vergangenen Monaten seitens (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Und auf das der Unternehmen der Deutschen Bundespost teil- Machbare!) weise zugemutet wurde, ging über jede Hutschnur. Es Ich habe zu einem sehr frühen Zeitpunkt gesagt — ich ist zwar richtig, daß die Unternehmen der Deutschen sage es jetzt so, wie ich es damals formuliert habe —: Bundespost unabhängig von der Politik arbeiten sol- Einen Schmarren beschließen wir natürlich nicht, len und daß sich die Einflußnahme der Politik auf die dann lassen wir es lieber bleiben. Unternehmen auf sehr wenige zentrale Positionen beschränken sollte, aber die Unternehmen der Deut- Meine Damen und Herren, ich darf vielleicht noch schen Bundespost müssen mehr als in der Vergangen- einige Bemerkungen zu einem Umstand machen, der heit erkennen, daß sie in einem hochsensiblen politi- angesichts des niedrigen Posthaushalts von weniger schen Raum tätig sind und daß das, was an Entschei- als 500 Millionen DM vielleicht übersehen werden dungen auch den Bürgern zugemutet wird, oftmals könnte: Die Unternehmen der Deutschen Bundespost, der Politik angelastet wird. vor allen Dingen Telekom, haben im Rahmen des Aufbaus Ost eine große Leistung vollbracht. (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) Die Unternehmen der Deutschen Bundespost wür- (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der den sich selbst einen sehr großen Gefallen tun, wenn SPD) sie stärker, als das bisher der Fall war, versuchten, Im letzten Jahr und in diesem Jahr wird die Bundes notwendige, oftmals auch unpopuläre Entscheidun- post Telekom jeweils 11 Milliarden DM in den neuen gen mit der Politik rückzukoppeln. Das sind nicht Ländern investiert haben. Sie ist damit erneut der allein die Kollegen hier im Hause, das sind die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14995

Arne Börnsen (Ritterbude) Kollegen in den Landesparlamenten, in den Landes- verbindliche Konzeptionen vorlegen, die mit den regierungen, aber auch in den Kommunen selber. Beschäftigten diskutiert werden können, damit sie Wenn die Deutsche Bundespost und in diesem Falle wissen, was die Politik denn eigentlich wi ll. insbesondere der Postdienst meint, ohne jegliche In vielen Diskussionen mit Vertretern der Beschäf- Information der Öffentlichkeit, ohne jegliche Koope- tigten kommt zum Ausdruck, daß die Unkenntnis ration mit den verschiedenen politischen Ebenen eine darüber, was an Konzeptionen erarbeitet wird, die Vielzahl von Postämtern schließen zu können, dann Unsicherheit schürt und daß sich insbesondere im tut sich das Unternehmen damit selbst keinen Gefal- einfachen und mittleren Dienst bei der Deutschen len, weil die Kollegen auf der politischen Ebene Bundespost die Beschäftigten allmählich verschaukelt geradezu provoziert werden, dagegen Stellung zu fühlen. nehmen. Das auch angesichts der Tatsache, daß sich die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Unternehmen und damit die Beschäftigten bei der der CDU/CSU) Deutschen Bundespost seit ungefähr 1986 in einer Ich will gar nicht verhehlen, daß dabei auch oftmals permanenten Diskussion über die mögliche künftige eine Portion Opportunismus eine Rolle spielt. Aber ich Struktur ihrer Unternehmen befinden. Seit sieben möchte auch daran erinnern, daß in einem Beschluß Jahren wird den inzwischen 700 000 Beschäftigten des Bundestages vom Mai 1981 — zwar bezogen auf zugemutet, daß ihre Perspektive und die des Unter- die Postversorgung auf dem Lande, aber immerhin — nehmens immer wieder neu in Frage gestellt wird. davon die Rede ist, daß Veränderungen der Infra- Also nicht nur aus den objektiv notwendigen Grün- struktur, für die wir mitverantwortlich sind, von den den, die Sie zum Teil auch genannt haben, sondern Unternehmen der Deutschen Bundespost im Beneh- auch aus der Sicht der Beschäftigten müssen wir do rt men mit den Betroffenen, mit der Politik, mit den endlich zu einer klaren Beschlußfassung kommen, Kommunen vorgenommen werden. „Benehmen" damit dann auch die persönliche Perspektive des bedeutet für mich nicht, daß die Entscheidung bereits einzelnen Beschäftigten ausgearbeitet werden gefallen und nicht mehr veränderbar ist. kann. Ich sage das hier sehr deutlich, weil wir gerade Ich wollte darauf hinweisen, Herr Minister, daß es dann, wenn es um betriebswirtschaftlich notwendige eine Menge von der Politik beeinflußbare Punkte gibt, Entscheidungen geht, die nicht immer ganz einfach durch die es den Betroffenen auf der regionalen umzusetzen sind, uns auch engagieren wollen für Ebene, auf der Landesebene schwergemacht wird, diese Notwendigkeiten. Aber wir können das natür- sich positiv über eine mögliche Postreform II zu lich nur, wenn wir einbezogen werden. äußern, weil sie geradezu in eine ablehnende Position gezwungen werden. Hier sollten wir vorsichtig sein; Das gilt auch — ich will einige Punkte kurz nen- denn wir wissen ganz genau: Wir sind auf die Zustim- nen — für die Zusammenlegung der Verwaltungs- mung der Bundesländer angewiesen. dienststellen in Rheinland-Pfalz. Das betrifft ebenso die dauernden neuen Arbeitsplatzverluste die für die Ich will mich noch auf einige andere Punkte kon- Unternehmen der Deutschen Bundespost prognosti- zentrieren, die Sie, Herr Minister, auch angesprochen ziert werden. haben. Sie haben darauf hingewiesen, daß die Post- reform I, 1988 beschlossen, vieles auf den Weg Es ist auch darauf hinzuweisen, daß eine etwas gebracht habe, das nun von der Postreform II mögli- sorgfältigere Vorbereitung bei neuen Gebührenstruk- cherweise zu einem Abschluß gebracht werden soll. turen manchmal ganz angemessen wäre, um späteren Wenn ich allerdings heute einige Erwartungen — es Ärger zu vermeiden. sind ja nicht nur politische Sprüche —, die mit der (Beifall bei der SPD) Postreform I verbunden waren, zitiere, werden sie Das, was wir im Zusammenhang mit der neuen merken, daß es genau dieselben Erwartungen waren, die jetzt mit der Postreform II in Verbindung gebracht Gebührenstruktur bei der gelben Post an Korrespon- werden. denz- und Bereinigungsaktionen nach dem Beschluß zum 1. April 1993 zu bewältigen hatten, war ja nicht Es wurde uns ein goldenes Zeitalter nach der von schlechten Eltern. Auch das, Herr Minister, was Postreform I versprochen. Es wurde darauf hingewie- an unterschiedlichen Ankündigungen hinsichtlich sen, daß die Wettbewerbsstellungen der Unterneh- möglicher neuer Gebührenstrukturen bei der Tele- men der Deutschen Bundespost wesentlich verbessert kom jetzt kommt, sollte vielleicht durch ein verbindli- werden sollen, daß die Finanzkraft der Unternehmen ches Konzept abgelöst werden. Das wäre sehr hilf- gestärkt werden soll — immer Postreform I —, die reich. Dienstleistungsqualität erhöht werden soll, die politi- Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, meine sche Unabhängigkeit erhöht werden soll, die Motiva- Damen und Herren — das geht uns alle an —, daß die tion der Mitarbeiter gefördert werden soll. Unsicherheit bei den Beschäftigten der Deutschen (Dr. Uwe Küster [SPD]: Richtig!) Bundespost nicht mehr lange hingenommen werden kann. Das ist allerdings eine Forderung an uns selber. Meine Damen und Herren, ich will das jetzt nicht Denn Unsicherheit hinsichtlich künftiger Perspekti- wiederholen, aber ein Unternehmen lebt auch von ven kann nur dann beseitigt werden, wenn die Politik einer positiven Motivation der Mitarbeiter. klar sagt, was sie will, welche Veränderungen im (Beifall bei der SPD und der F.D.P.) Personalbereich bei der Post tatsächlich beabsichtigt sind. Hier wird es wirklich bannig Zeit, daß wir endlich Um so wichtiger ist das, was ich eingangs nannte. 14996 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Arne Börnsen (Ritterhude) Daß Deregulierungspolitik nach der Postreform I Die Telekom braucht einen Handlungsspielraum oftmals auch zu Lasten der Unternehmen ausgeführt für das Eingehen in diese Allianzen, und dafür braucht wurde, weist auf die Notwendigkeit einer Postre- es Kapital. Der Eigenkapitalanteil der Telekom sinkt form II hin. Aber vieles von dem, was uns vorgegau- mehr und mehr. Er befindet sich bei 24 %; gesetzlich kelt wurde — mit der Postreform I sei das zu errei- vorgeschrieben — das weiß ja allmählich jeder — sind chen —, ist jetzt die Begründung dafür, daß wir die 33%. Postreform II machen sollen. Es ist in dieser Situation widersinnig, daß Telekom, (Beifall bei der SPD) Post und Postbank in dieser Höhe und in diesem Ich möchte einmal sagen, auch wenn ich weiß, daß das System Abgaben an den Bund zu leisten haben. vielleicht ein leiser Appell an uns alle sein sollte: Ein (Beifall bei der SPD) bißchen Ehrlichkeit bei der Begründung der jeweili- gen Vorhaben hilft in der Zukunft manchmal wei- Meine Damen und Herren, wenn man mit Bürgern ter. ab und zu darüber spricht, wie das mit der Finanz- (Beifall bei der SPD) situation der Postunternehmen ist, dann sagen die: Die leben ja von unseren Steuern. Dann muß man sie erst Ich will gar nicht davon ablenken, daß die Zeit für einmal darauf hinweisen, daß das Gegenteil richtig ist. die Postreform II drängt. Ich möchte — und Sie sehen, Wenn man sich zusätzlich vor Augen führt, daß der daß meine Fraktion diese Aussagen unterstützt, sonst Eigentümer eigentlich verpflichtet wäre, in einer wären mehr hier, die dem widersprechen würden — solchen Situation das Eigenkapital des Unternehmens (Heiterkeit und Beifall bei der SPD, der zu erhöhen, um es wettbewerbsfähig zu halten, muß CDU/CSU und der F.D.P.) man feststellen: Dazu ist er nicht in der Lage. Das ist eine objektiv richtige Feststellung. Überlegungen ganz klar eine Absage erteilen, die möglicherweise — ich will das nicht unterstellen — bei Wenn man feststellen muß, daß der Postdienst dem einen oder anderen vorhanden sein könnten, daß 2 Milliarden DM Abgaben zahlen muß, obwohl er man diese Postreform auf die Zeit nach den Neu- auch 2 Milliarden DM Verlust hat, dann ist das schon wahlen 1994 verschieben könnte. Ich sage ganz klar: nicht mehr ganz nachvollziehbar. Jeder Monat, den wir bei der Schaffung einer neuen Organisationsstruktur für die Bundespostunterneh- Wenn die Telekom 5 Milliarden DM an den Bund men verlieren, ist ein Verlust an Marktanteilen und zahlen muß, was einer systemübertragenen Steuerbe- damit auch ein Verlust an Arbeitsplätzen. lastung von ca. 75 % entspricht — einer wesentlich höheren als bei anderen im Wettbewerb tätigen (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Unternehmen —, und wenn man zugleich bedenkt, F.D.P. — Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Wo daß auf Grund dieser finanziellen Belastung — bei hat die SPD-Fraktion geklatscht? — Dr. Uwe aller Wertschätzung dessen, was in Ostdeutschland Küster [SPD]: Da ist auch geklatscht worden! getan wird — Telekom und Post Investitionen in — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Aber Ostdeutschland zurücknehmen mußten, weil diese nur zu 30 %!) nicht mehr finanzierbar waren, weil die Unternehmen — Alle, die seitens der SPD-Fraktion fehlen, haben zu hohe Abgaben an den Bund zu leisten haben, dann sich namentlich bei mir entschuldigt. Das ist selbstver- ist das ein Punkt, der schleunigst bereinigt werden ständlich. muß. Dieser Punkt führt in vielen Bereichen zu Pro- blemen, die nicht nur die künftige Entwicklung der (Heiterkeit) Unternehmen gefährden, sondern auch Einfluß haben Meine Damen und Herren, die Zeit einer nationalen auf den Industriestandort Bundesrepublik Deutsch- Telefonverwaltung ist vorbei. Die Telefonverwaltung land. wird sich in der Zukunft nicht auf Sprachvermittlung konzentrieren können, sondern muß zusätzliche neue Ich will nur einmal drei vergleichende Zahlen intelligente Angebote im Bereich der Telematik, neue nennen hinsichtlich der Forschungsausgaben im Dienste im Bereich Information und Kommunikation Bereich der fernmeldetechnischen Industrie ein- geben. Wenn ein Unternehmen wie die Telekom ihre schließlich Telekom. Ich gebe zu, daß die Vergleiche Marktanteile und ihre Stellung auf dem Markt in hinken, weil die Grundlagen nicht ganz identisch Deutschland erhalten will, dann ist das Unternehmen sind. In Japan gab es im Jahre 1992 18 000 Patentan- auf strategische internationale Allianzen angewie- meldungen, in den USA immerhin noch knapp 10 % sen. dieses Werts, nämlich 1 450, und in Deutschland 730. Ich habe darauf hingewiesen, daß das nicht ganz Die Wettbewerber zeigen, wie dies gemacht wird vergleichbar ist. Die Größenordnungen weisen aber und daß wir allmählich hinterherhinken. Das ist auch darauf hin, daß hier in den letzten Jahren eine ein Hinweis darauf, daß wir keine Zeit zu verschenken Entwicklung eingetreten ist, die gefährlich sein haben: AT & T in Amerika in der Kooperation mit der kann. Computerfirma NCR, der Einstieg von AT & T in den Mobilfunkmarkt in den Vereinigten Staaten, der das Sie, Herr Minister, haben auf den Zeitplan hinge- ganze Gefüge do rt durcheinanderwirbelt, B ritish wiesen. Wir haben, teilweise auch durch eigene Telecom und MCI, der andere international tätige Schuld, viel Zeit verloren. Wir haben uns vorgenom- Anbieter in den USA, wo es die Telekom auch ganz men, daß wir bis spätestens Ostern nächsten Jahres gerne gehabt hätte, wo sie aber nicht in der Lage ist, die Postreform II durchbringen wollen. Sie haben diese strategische Allianz einzugehen, weil sie finan- heute abend erwähnt, daß die ersten Rohentwürfe ziell zu schwach ist. — Sie nannten es „Formulierungshilfen für die Frak- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14997

Arne Börnsen (Ritterhude) tionen" — auf dem Wege seien. Es freut mich zu hören; Postbank vereinbart worden sind, den ersten Schritt ich habe allerdings noch nichts bekommen. hin zu einer Abkoppelung der Postbank von der Post sehen. Wenn blaue Schalter in insgesamt 350 Einrich- (Zuruf von der CDU/CSU: Sie werden mit der tungen vorgesehen werden und wenn blaue Schalter Post versandt! — Gegenruf von der SPD: gegebenenfalls sogar unabhängig von den Postein- Wahrscheinlich!) richtungen eingerichtet werden können, dann fürchte Ich bedaure etwas, daß wir in den Sommermonaten ich, daß, wenn wir nicht politisch tätig werden, die viel Zeit verloren haben, in denen vielleicht etwas Postbank tatsächlich von der Post abgekoppelt wird. intensiver und mit mehr Kooperation hätte gearbeitet Das würde mit Sicherheit dazu führen, daß die heute werden können. Ich hoffe sehr, daß wir in der notwen- selbstverständliche Präsenz beider Institutionen in der digen Kooperation und der konstruktiven Arbeit auch Fläche nicht mehr gewährleistet wäre. Das würden im Ausschuß diese Zeit werden so nutzen können, daß wir auf keinen Fall akzeptieren. Um so mehr ist das wir ein vernünftiges Ergebnis erzielen. Niemand im eine Forderung an uns, durch politische Entscheidun- Hause wird Ihnen widersprechen: Es kann nur ein gen, unternehmensrechtliche Entscheidungen Post Ergebnis herbeigeführt werden, welches, wenn es und Postbank wieder miteinander zu verknüpfen, so sich um Kompromisse handelt, solche Kompromisse- daß unter dem Dach eines gemeinsamen Unterneh- nur im sachlichen Bereich erlaubt; denn politische mens solche Sondereinrichtungen sehr wohl geschaf- Kompromisse würden sich zu Lasten der Unterneh- fen werden können. Dann ließe sich darüber reden. men auswirken, und das können wir uns nicht lei- Aber dieses ist eine der Hauptforderungen, die wir bei sten. der Postreform II mit einbringen. (Zuruf von der F.D.P.: Sehr richtig!) (Zuruf des Abg. Manfred Kolbe [CDU/ CSU]) Ich möchte noch einige andere Bemerkungen zu aktuellen Entwicklungen machen. Ich habe einleitend — Na gut, Hauptforderungen liegen auf einer anderen ja schon zu der Frage der Optimierung des Filialnet- Ebene. Da gebe ich Ihnen recht. Aber es ist eine zes der Bundespost, Postdienste, gesprochen. Das will wesentliche Forderung deswegen, weil hier deutlich ich jetzt nicht wiederholen, um die Leute nicht allzu wird, ob diese Postreform II nur an den Interessen des sehr einzuschüchtern. Ich möchte in diesem Zusam- Industriestandortes, an den ohne Zweifel berechtig- menhang noch einmal auf das hinweisen, was mir ten, aber nicht nur den Interessen der Wi rtschaft heute aus meinem eigenen Wahlkreis hinsichtlich ausgerichtet ist. Da werden die Bürger nämlich fest- einer kleinen Poststelle do rt genannt wurde. Es ist stellen, ob die Postreform II auch nach ihren Interessen eine Poststelle, die zwei Stunden am Tag geöffnet ist. ausgerichtet ist — nicht nur deswegen, bei den Der Kostenfaktor wird sich also wohl in Grenzen Gebühren werden wir auch Auswirkungen haben. halten. Sie ist außerordentlich gut angenommen. Aber wenn die Bürger den Eindruck haben, mit der Postreform II zieht sich die Post aus der Fläche zurück, (Zuruf von der CDU/CSU: Immer da, wo dann werden wir in der Öffentlichkeit keine Akzep- Abgeordnete sind, läuft es!) tanz haben. Deswegen ist es einer der Hauptpunkte Sie befindet sich übrigens in einem größeren Super- für uns. markt, genauso wie man sich das für die Zukunft Lassen Sie mich zum Schluß noch zwei Themen vorstellt. Die Poststelle befindet sich in einer Ecke. Es kurz ansprechen. Meine Damen und Herren, ich habe gibt dort einen hervorragenden Kundenstrom. Die einen umfangreichen Schriftverkehr bekommen we- Poststelle ist wenig geöffnet, wird aber sehr gut gen strafrechtlicher Ahndung der Nutzung nicht post- angenommen. Sie soll geschlossen werden. Dazu zugelassener Modems. Es ist ein Modem zur Integra- habe ich mich schon geäußert. Bei einem Informa- tion verschiedener Dienste, die gerade bei p rivaten tionsbesuch, den ich do rt vor 14 Tagen durchführte, EDV-Nutzern ein selbstverständliches technisches berief man sich darauf, daß die Generaldirektion sich Hilfsmittel darstellen. Es ist nicht legal, wenn diese noch nicht entschieden habe. Wenn ich heute gesagt nicht zugelassen sind, sie zu verwenden. Es ist aber bekomme, daß zu diesem Zeitpunkt schon der Auftrag genauso unstrittig, daß sie keinen störenden Einfluß zum Abriß dieser Einrichtung erteilt worden ist, und auf das Netz haben. Es ist nicht angemessen, wie die wenn ich unterstelle, daß davon auch nur ansatzweise Staatsanwaltschaft auf diesen Kauf zahlenmäßig etwas stimmt, dann habe ich den Eindruck, daß man beschränkter Modems reagiert. Meine Damen und sich hier leicht verschaukelt fühlen könnte und daß Herren, ich meine, daß wir hier tätig werden müssen, das mit Benehmensregeln wirklich nichts zu tun und dort , wo es möglich ist, diese Hürde der Zulassung hat. durchlässiger zu machen, daß auch im Rahmen der In diesem Zusammenhang noch einige Worte zu Novellierung des Fernmeldeanlagengesetzes gehan- den geplanten Postagenturen und zu dem Koopera- delt werden muß. Ansonsten würde ein Bereich, eine tionsmodell, welches zwischen Post und Postbank Szene kriminalisiert, wo es keinerlei Rechtfertigung vereinbart worden ist und die Bereitschaft vorsieht, hat. Wir sollten, auch anderen Sprüchen entspre- auch dort als eine Art Probeeinrichtung blaue Schalter chend, hier Liberalisierung durchführen und nicht zu schaffen. Kriminalisierung indirekt unterstützen. Herr Minister, meine Damen und Herren, ich Zum zweiten, meine Damen und Herren, ein kurzes erkläre für meine Fraktion, daß wir diese Kooperation Wort noch zu der schlimmen Telekomaffäre, der dahin gehend begrüßen, daß endlich der Streit zwi- Vorwurf der Veruntreuung, des Betrugs, der Bestech- schen Post und Postbank aus der Welt ist, daß wir aber lichkeit. Das ist ein schwebendes Verfahren, auf das in der Art, wie blaue Schalter zugunsten der ich selbstverständlich nicht eingehen werde. Aber ich 14998 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Arne Börnsen (Ritterhude) muß doch hier sagen, wenn inzwischen auch mit bank — ein weiterer Beweis für Ihre untadelige gebremstem Schaum und nicht mit der Erregung, die Dienstauffassung. vor 14 Tagen, vor i Woche herrschte: Ich finde es (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — merkwürdig, in welcher Form spekulative Berichte Zuruf von der SPD: Das ist doch wohl selbst über die Einbeziehung von Mitgliedern des Postaus- verständlich, daß er hier ist!) schusses in diesem Skandal an die Öffentlichkeit kamen. Ich finde es merkwürdig. Das möchte ich nur Sparen und Konsolidieren ist das Motto dieses einmal feststellen und möchte abschließend dafür Haushalts, und der Bundesfinanzminister hat deshalb danken, daß Bundesregierung und Sie persönlich, der auch einen Sparhaushalt vorgelegt. Unser Einzel- Vorstand der Telekom und der Ausschußvorsitzende plan 13 leistet als reiner Verwaltungshaushalt dazu Peter Paterna, der heute abend wirklich entschuldigt einen hervorragenden Beitrag. Herr Bötsch, Sie haben ist, in Abstimmung mit der Staatsanwaltschaft die es schon erwähnt — die Ausgaben gehen von 559 Mil Feststellung getroffen haben, daß überhaupt keine lionen DM in 1993 auf 469 Millionen DM in 1994 Anhaltspunkte vorliegen, die eine solche Verdächti- zurück. Das sind sage und schreibe minus 16 %. Damit gung rechtfertigen. Der Presseerklärung des Aus- geht der Posthaushalt am zweitstärksten zurück. schußvorsitzenden ist insofern nichts hinzuzufügen,- Trotzdem hat die Arbeitsgruppe Haushalt noch außer wirklich der Dank für die schnelle Klärung. einmal den Entschluß gefaßt, weitere Einsparungen Auch Ihnen Dank für die Aufmerksamkeit. vorzunehmen. Herr Bundesminister Bötsch, wie (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der immer habe ich mich als gehorsamer Fraktionskollege F.D.P.) strikt an die Vorgaben des Arbeitsgruppenvorsitzen- den und der Fraktionsführung gehalten Vizepräsidentin Renate Schmidt: Und was ist jetzt (Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Ganz was mit der Hand? Neues!) und das durchgeführt, Herr Thiele. Wir haben es auch Arne Börnsen (Ritterhude) (SPD): Frau Präsidentin, in gutem Einvernehmen erreicht und, wie ich glaube, ich finde es nett, daß Sie mich hier noch einmal auch die Arbeitsfähigkeit des Hauses bewah rt. zurückrufen. Alle Ausgabenbereiche des Einzelplans 13 haben dazu ihren Beitrag geleistet — Personalausgaben Vizepräsidentin Renate Schmidt: Erst Sachen minus 9,3 %, sächliche Verwaltungsausgaben minus ankündigen und dann nicht sagen. 16,4 %, Zuweisungen an internationale Organisatio- nen minus 27 %, Investitionen minus 24 %. Arne Börnsen (Ritterhude) (SPD): Da sehen Sie Besonders bemerkenswe rt sind die Personaleinspa- einmal, welch disziplinierende Wirkung Sie hier aus- rungen im Ministerium selbst. Als ehemaliger Mini- üben. Sehen Sie, wie es hier blinkt? sterialbeamter weiß ich, daß das mit die geheiigsten Horte sind, Vizepräsidentin Renate Schmidt: Bekommen wir (Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Das stimmt!) das jetzt in einem Satz erzählt? bei denen man sich bis zuletzt wehrt. Arne Börnsen (Ritterhude) (SPD): Der Kollege fragte (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Von mich, und deswegen möchte ich Ihnen eine Uhr denen man sich nicht gern trennt!) übergeben, eine gelbe, auf der steht: Postdienst. Ich Wir hatten 1992 nach der Umstrukturierung ein möchte Sie fragen, ob Sie feststellen, ob darauf Gutachten des Rechnungshofes, in dessen Ergebnis Edelsteine sind. wir 40 Planstellen von 472 kw-gestellt haben. Weitere vier hatten wir nach einem allgemeinen Beschluß Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nein. kw-gestellt, also insgesamt 44 Planstellen. Das sind 10 % kw, darunter acht der begeh rten B-Stellen. Das Arne Börnsen (Ritterhude) (SPD): Es gibt Uhren, die muß man auch einmal sagen: Stelle ist ja nicht gleich wir bekommen haben, aber diese hier habe ich Stelle. meinem Sohn wieder abgenommen, der 7 Jahre alt ist, (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das ist eine und der ist darüber beleidigt. Das sind Kinderuhren. Leistung!) Mit Cartier usw. wurden wir „leider" nicht belä- stigt. Wir haben also den Personalhaushalt des Ministeri- ums kegelgerecht um 10 % gekürzt. Schönen Dank. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) F.D.P.) Infolge der personellen Fluktuation sind auch tat- sächlich bereits 35 dieser Stellen eingezogen worden. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Jetzt hat der Kol- Allein die acht eingezogenen B-Stellen bringen jähr- lege Manfred Kolbe das Wo rt. liche Einsparungen von 1,2 Millionen DM. — Jetzt warte ich hier eigentlich auf den Beifall der SPD- Fraktion, Manfred Kolbe (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Sehr geehrter Herr Bundesminister Bötsch! (Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Da kannst du Trotz Bonner Oktoberfest heute auf der Regierungs lange warten!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 14999

Manfred Kolbe denn Ihre finanzpolitische Spreche rin sieht man ja Handlungsbedarf besteht auch bei einer weiteren jede Woche im Fernsehen, und dann ist immer ihr Behörde des Einzelplans 13, dem Bundesamt für Spruch: Sparen, sparen, sparen! — Hier haben wir Zulassungen und Telekommunikation. 1990, damals gespart, und jetzt müssen Sie auch einmal klatschen war mein erstes Berichterstattergespräch, war eine und Ihre finanzpolitische Sprecherin unterstützen! Kostendeckung angedacht. Jetzt sind wir in einer Das müssen Sie einmal tun. schwierigeren Situation. Auf Grund der europaweiten Konkurrenz lassen sich diese Gebühreneinnahmen (Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Sie wis nicht realisieren. Wir müssen hier gemeinsam nach sen, wie gewaltig die Dimensionen des Post Lösungen suchen. haushaltes sind!) Abschließend ist es mir noch ein besonderes Bedürf- Herr Bötsch, alle reden von der schlanken Verwal- nis als sächsischer Abgeordneter, kurz — der Kollege tung oder auf Neuhochdeutsch „lean administration". Göttsching macht das sicher noch ausführlicher — die Ich glaube, hier haben wir ein gutes Stück praktiziert. Leistungen der Telekom beim Aufbau Ost herauszu- Da sage ich allerdings auch: Mit diesen Kürzungen stellen. haben wir in gewissem Umfang auch eine Schmerz- grenze erreicht. Das gilt insbesondere vor- dem Hin- (Zuruf von der CDU/CSU: Auf jeden Fall! — tergrund des Wachstumsbereichs Telekommunika- Zuruf von der SPD: Viele Telefonhäuschen! tion und der Postreform II. Wir werden jetzt unsere — Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Aufmerksamkeit darauf verwenden, daß auch die Man kann doch hören, daß Sie aus Sachsen anderen Häuser uns da folgen. kommen!) Herr Bötsch, Sie haben es gesagt: 11 Milliarden DM (Mehrere F.D.P.-Abgeordnete betreten den Investitionen; größter Einzelinvestor. Ein zweites Fak- Saal) tum: Innerhalb von drei Jahren erfolgte eine Verdop- — Ich begrüße die F.D.P.-Fraktion. pelung der Zahl der Telefonanschlüsse. Das wi ll etwas heißen. In der ehemaligen DDR hat man ja auf ein (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Telefon noch länger als auf ein Auto gewartet. Wir sind immer noch mehr als die meisten anderen!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der F.D.P.) Zum Einzelplan 13 gehört auch die Bundesdrucke- rei, die Rechtsnachfolgerin der 1879 in Berlin gegrün- Mit den blühenden Landschaften haben wir ja alle deten Reichsdruckerei. Sie erledigt Druckaufträge im hier im Haus so unsere Probleme. Aber: Bei der Zusammenhang mit Hoheits- und Verwaltungsaufga- Telekommunikation, Herr Minister, sind wir voll im ben, also Banknoten, Briefmarken, Personalaus- Zeitplan, und dafür möchte ich Ihrem Vorgänger, weise. Herrn Christian Schwarz-Schilling, (Zuruf von der F.D.P.: Und Willi Rawe!) (Zuruf von der CDU/CSU: Und Bundestags okumente!) -d seinem Staatssekretär Wilhelm Rawe und allen Mitar- beitern der Telekom vor Ort noch einmal ganz herz- Anders als im Bereich Telekom haben wir hier eine lich danken, und ich bin mir auch sicher, daß Sie wirtschaftlich besorgniserregende Entwicklung. Hat- dieses Werk fortsetzen werden und wir 1997 gleiche ten wir ursprünglich 1991/92 Gewinne, so drohen uns Verhältnisse in West und Ost haben werden. Wir sind 1993/94 größere Verluste. Allein ein Blick in den damit wahrscheinlich die ersten in Deutschland, die Erfolgsplan für 1994 zeigt Handlungsbedarf. Wir das geschafft haben. haben Umsatzerlöse von 364 Millionen DM. Denen steht ein Personalaufwand von 293 Millionen DM Danke. gegenüber. Das ist kein gutes Verhältnis. Hier besteht (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Handlungsbedarf. Wir müssen die Bundesdruckerei sanieren, wobei Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun spricht der ich persönlich der Auffassung bin, daß ein Staat wie Kollege Jürgen Timm. die Bundesrepublik Deutschland, wie alle anderen vergleichbaren Staaten auch, eine Druckerei betrei- ben muß, allerdings in einer anderen Rechtsform. Jürgen Timm (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine sehr Angedacht ist hier eine GmbH-Lösung, um kurze verehrten Damen und Herren! Entscheidungswege und ein aktives Marketing zu gewährleisten. (Weitere Abgeordnete der F.D.P. betreten den Sitzungssaal) Notwendig ist nach Auffassung aller Beteiligten — Ich freue mich natürlich persönlich auch ganz auch — ich war am Freitag in Berlin, und das haben besonders, daß die liberale mobile Einsatzgruppe aus alle Anwesenden bestätigt — ein Personalabbau. Do rt dem Erdgeschoß hochgekommen ist, um mir zuzuhö- hat sich in den letzten Jahrzehnten auf Grund der ren. besonderen politischen Lage West-Berlins, wo bis 1990 ein Personalabbau tabu war, ein Überhang (Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P. und der herausgebildet, den wir im Interesse der Zukunft der CDU/CSU) Bundesdruckerei abbauen müssen. Für solche Überraschungen sind wir allemal gut. Herr Minister, ich darf Sie ganz herzlich bitten, Das zweite ist, Frau Präsidentin: Ich besitze tatsäch- diese Sanierung tatkräftig anzupacken, damit die lich eine Uhr mit einem echten Stein. Was soll ich nun Bundesdruckerei eine gute Zukunft hat. machen? Das ist ein Stein der Dresdner Frauenkirche, 15000 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Jürgen Timm mit dem man in dieser Uhr für den Wiederaufbau Anlagen der Telekommunikation — für die Mitarbei- wirbt. ter in ihrem Arbeitsleben nicht ohne Bedeutung ist. (Zuruf von der F.D.P.: Jawohl! — Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) Vizepräsidentin Renate Schmidt: Ich weiß nicht, Wir haben beim Thema Post natürlich das Problem was Sie alle mit Ihren Uhren haben. Sie können mir der Postabführung an den Staat. Das sollen etwas jetzt alle Ihre Uhren zeigen. Das ist mir Wurscht. mehr als 6 Milliarden DM werden. Ich denke — und das hat die Postreform I eigentlich auch schon vorge- sehen —, daß es Zeit wird — auch da stimmen wir Jürgen Timm (F.D.P.): Das Positive daran ist, Kol- überein, Kollege Börnsen —, daß aus diesen Unter- lege Börnsen, die gehört sogar noch mir. nehmen normale steuerzahlende Unternehmen wer- den, auch damit nicht immer wieder die Hoffnung des (Heiterkeit) Staates in den Vordergrund gerückt wird, hier könne Wirtschaftsstandort Deutschland, das ist das Wort man aus dem Staatsunternehmen, aus dieser Hoheits- - des Jahres 1993. Das möchte ich einmal so behaupten. aufgabe, Geld ziehen und es für andere Zwecke Man sollte dieses Wort zumindest für 1993 anmelden, gebrauchen. damit es eingeht. Die Unternehmen müssen so schnell wie möglich Wenn es doch bloß nicht so schwierig wäre, sich vom Kopf auf die Füße gestellt werden, damit sie nicht darauf zu verständigen, wie man den Wirtschafts- nur gewinnorientiert, sondern auch in ihrem Infra- standort Deutschland verbessern, befördern oder viel- strukturauftrag für die Nutzer, für unsere Bevölkerung leicht sogar in Einzelfällen aus dem Schlaf erwecken wirtschaften können, damit sie auch Investitionen könnte. Aber das ist wohl nach dem gleichen Ritual tätigen und Innovationen für die Zukunft darstellen zumindest bei der ersten Lesung des Haushalts so können. nicht möglich. (Beifall bei der F.D.P. und bei Abgeordneten (Lothar Fischer [Homburg] [SPD]: Ich bin der CDU/CSU) auch da! Ich möchte begrüßt werden!) Denn die Wettbewerber im europäischen und interna- — Mache ich gleich. tionalen Bereich stehen ja nicht nur vor der Tür, Es ist wohl so, daß dieses Ritual immer dasselbe ist, sondern sie haben den Fuß schon in der Tür. Es wurde nämlich daß die Regierung wissen müßte, wie es geht, eben schon gesagt: Wenn dann auf europäischer und daß die Opposition immer besser weiß, wie es Ebene Monopole fallen, dann müssen unsere Postun- geht, und wir uns erst im Laufe der Beratungen in den ternehmen in den Stand versetzt werden, Normen zu Ausschüssen auf irgend etwas verständigen oder auch setzen, und zwar so schnell, wie es geht. nicht. Ich gehe einmal davon aus, daß wir es schaffen (Zuruf von der F.D.P.: Sehr richtig!) werden, einen Haushalt zu beschließen, der dem Wo rt „Wirtschaftsstandort Deutschland" gerecht wird. Dazu müssen wir sie befähigen, dazu brauchen wir Kapital. Dieses Kapital können wir nicht aus einem In diesem Wirtschaftsstandort ist selbstverständlich Bundeshaushalt herausschneiden. die Deutsche Bundespost ein Unternehmen — für mich immer noch ein Markenzeichen —, das von (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!) großer Bedeutung ist, allein schon wegen der Größe Wir können mit den Postunternehmen nicht „eine dieser Unternehmen und wegen der Vielzahl der zweite Bundesbahn" aufbauen — das kann nicht Arbeitsplätze, die es für die Zukunft nicht nur zu angehen —, sondern wir müssen gewinnorientierte erhalten, sondern, wenn es geht, durch Innovation und an ihrer Aufgabe zu messende Unternehmen und Kreativität auszubauen, zumindest aber so zu strukturieren. sichern gilt — da stimme ich mit dem Kollegen Börnsen durchaus überein —, daß den Mitarbeiterin- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) nen und Mitarbeitern heute schon eine Perspektive Dazu gehört — und das ist auch eine Folge der für die Zukunft gegeben wird. Das ist unsere Auf- Postreform I —, daß die Postunternehmen natürlich gabe. jetzt schon gefordert sind, sich zu modernisieren. Sie (Beifall bei der F.D.P. und bei Abgeordneten müssen jetzt schon Wettbewerbsfähigkeit herstellen. der CDU/CSU) Das ist nicht in jedem Fall gelungen. Bei der Postbank und beim Postdienst ist es nicht gelungen. Aber es ist Das führt mich dazu, daß ich an dieser Stelle gern absehbar, daß es sein muß. Denn wir können Unter- auch einmal ein Dankeschön an diejenigen sagen nehmen natürlich nicht eine privatrechtliche Struktur möchte, die unter diesen schwierigen Bedingungen geben, wenn nicht sicher ist, daß sie mit Wettbewer- den Wiederaufbau nicht nur in den jungen Bundes- bern aus allen Bereichen Europas und international ländern, sondern ja auch in den alten Bundesländern Schritt halten können. in Angriff genommen haben. Ich denke, daß die Möglichkeiten, die damit geschaffen wurden, durch- Zu dieser Modernisierung gehören natürlich auch aus einen Motivationsschub bedeuten können. Denn Entscheidungen wie „5 ist Trümpf". ich stelle mir vor, daß eine wi rtschaftliche Neustruk- turierung — und in dieser befindet sich ja zweifellos (Zuruf von der SPD: Was heißt das?) die Deutsche Bundespost z. B. mit dem Aufbau von — Das heißt, daß die neuen fünfstelligen Postleitzah neuen Brief- und Frachtzentren, mit modernsten len eine zukunftsorientierte Entscheidung sind, damit Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 15001

Jürgen Timm die Postunternehmen mit modernen Hilfsmitteln Ich denke, daß wir in der Pflicht sind. Ein Zurück arbeiten können. kann es nicht mehr geben. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Das gehört dazu, und dazu gehört auch, daß wir (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU andere Wege finden, als sie bisher möglich waren, daß sowie des Abg. Lothar Fischer [Homburg] Post auch in der Fläche erhalten bleibt. Soweit ich es [SPD]) beurteilen kann, hat die Einrichtung der ersten klei- nen Agenturen zu einem großen Erfolg geführt. Wenn Vizepräsidentin Renate Schmidt: Dann hat Kollege das so ist, dann müssen wir auch diesen Weg in einer Dr. Ilja Seife rt das Wort. Vielzahl von Fällen beschreiten dürfen. Wir müssen auch — da bin ich etwas im Wider- Dr. Ilja Seifert (PDS/Linke Liste): Frau Präsidentin! spruch zum Kollegen Börnsen — bei der Postbank den Meine Damen und Herren! Herr Minister Bötsch, Sie Weg beschreiten, daß sie eine Koalitionsmöglichkeit, möchten von mir gelobt werden. eventuell eine Fusionsmöglichkeit erhält, um über- - (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Jetzt wird haupt als Bankinstitut für die Post weiter existieren zu es Zeit!) können. Das setzt auch voraus — das ist nun einmal liberale Auffassung —, daß die Unternehmen Post- Das wäre so, als wenn ich die Eleganz des Degensto- dienst und Postbank in freier Vereinbarung entschei- ßes, der mich tötet, auch noch hervorheben müßte. den können müssen, wie sie in Zukunft miteinander Dies ist nicht so richtig der Stoff, aus dem die Dinge umzugehen haben. gemacht sind, die ich loben kann. Bei allen Bewertungen, mit der der von der Bundes- (Beifall bei der F.D.P.) regierung vorgelegte Haushaltsplanentwurf in den Wir sind bei den Verhandlungen zur Postreform II vergangenen beiden Tagen hier schon bedacht wor- ein gutes Stück vorangekommen. Ich finde, es ist den ist, pflichtgemäß begleitet vom Beifall lediglich eigentlich müßig, daß wir uns darüber streiten, ob der Fraktionen der Regierungskoalition, kann man schon die Postreform I einen weiteren Schritt hätte mit der Regierung eines nicht absprechen, nämlich die sich bringen können. Ich denke, daß damals — ich war Unbeirrbarkeit, mit der die Axt an die Existenzgrund- damals nicht dabei; daran hat es wahrscheinlich lagen vieler Bürgerinnen und Bürger dieses Staates gelegen — eine Mehrheit zu einer Verfassungsände- gelegt wird. Den Haushalt durch noch tiefere Griffe in rung nicht gegeben war. Ich bin mir noch nicht einmal die Taschen vor allem derjenigen, die ohnehin schon ganz sicher, ob wir den Zug jetzt schon so in Fahrt bald nicht mehr wissen, wie sie ihr Leben finanzieren haben, daß wir sie dann auch durchsetzen können. sollen, zu sanieren, ist wirklich keine o riginelle Idee. Bereits vor Jahrhunderten war es übliche Verfahrens- (Zuruf von der F.D.P.: Schieb noch!) weise. Wenn die Staatsfinanzen ausgingen oder aus- Die Bundesländer haben unsere Marschrichtung in zugehen drohten, wurden flugs die Steuern erhöht einer Entschließung — sogar einstimmig — eigentlich oder neue Abgaben oder Postgebühren und andere bestätigt. Gut, in einigen Politikbereichen gibt es Gebühren erfunden. Man war gar nicht so fein beim natürlich noch unterschiedliche Auffassungen, die wir Eintreiben der Gebühren von denjenigen, die nicht miteinander aushandeln wollen. Deswegen werden soviel besaßen. die Bundesländer in Zukunft mehr daran beteiligt. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Wie haben Sobald das, was in der Sommerpause aufgearbeitet Sie das denn gemacht? Sie haben doch alles worden ist, den Fraktionen schriftlich vorliegt, werden kaputtgemacht, alles!) wir es auch den Bundesländern offerieren, so daß wir gemeinsam weitere Schritte unternehmen können. — Aber ja, natürlich. Ich denke, daß uns die grundsätzliche Zustimmung (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Die Men — ich gehe einmal davon aus, daß sie in allen drei schen noch dazu!) Fraktionen erfolgt ist —, wie wir die Postreform II denn — Da sind Sie gerade fleißig dabei. Schauen Sie sich umsetzen wollen, auch befähigt, auf dem Rest der einmal die Selbstmordrate im Osten an — wohlge- Strecke zu guten Ergebnissen zu kommen. Es geht um merkt: die von jetzt. die Arbeitsplätze, es geht um unsere Postbenutzer, (Zuruf von der F.D.P.: Der Postbeamten?) und es geht um unsere deutsche Wirtschaft, um den Aber damit nicht genug. Zur Erfüllung Ihrer ord- Wirtschaftsstando rt Deutschland. nungspolitischen Zielvorgabe — sparen, sparen, spa- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) ren! — sind die finanzpolitischen Hexenmeister der Regierung auf einmal auf ein ziemlich gefährliches Wir befinden uns auch in einem Zwang, denn wir Rezept verfallen, übrigens auch für Sie. Sie trennen können an diesem Problem nicht noch über diese sich von traditionellen staatlichen Einrichtungen, die Legislaturperiode hinaus herumoperieren. Es muß in nicht unbedeutende Einnahmen bringen. dieser Periode entschieden werden, und zwar defini- tiv. Ich rede jetzt einmal rein unter Haushaltsaspekten: Mittels der Zauberformel Privatisierung soll eine (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Gesundung der Staatsfinanzen erreicht werden, aber Sonst — da gebe ich Kollegin Frau Peters recht — ist in Wirklichkeit geben Sie doch wunderbare Einnah- nicht nur der Fuß in der Tür, sondern der Wettbewer- memöglichkeiten aus der Hand. Natürlich ist es wie ber oder die Wettbewerber sind schon durch die Tür immer: Die Gewinne werden privatisiert, die Verluste hindurch. werden sozial gerecht verteilt. Es geht in diesem Falle 15002 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Dr. Ilja Seifert um die Post. Die Reichsbahn und die Bundesbahn, — wohlgemerkt, nicht an die auf Staatssekretärs- Autobahnen, das Gesundheitswesen sollen folgen — ebene, sondern an die auf der Ebene der Briefträger — alles soll privatisiert werden. als auch an die Kunden, die jeden Tag ihre Post haben Aber ich muß noch einmal sagen: Bei der Post geht wollen, auch wenn sie auf dem letzten Dorf wohnen. es in meinen Augen zuerst einmal darum, wie die Sie wollen jeden Tag ihre Briefmarken kaufen und ihr Telegramm aufgeben können. Bürgerinnen und Bürger mit Postleistungen versorgt werden. Das ist für mich der entscheidende Punkt. (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Das machen dann die Agenturen!) (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Jetzt sagen Sie doch etwas dazu, wie sie vorher versorgt — Die Agenturen möchte ich erst einmal sehen. Dann waren!) kommt es wie in Amerika, wo die Briefmarke 20 % mehr kostet, als man auf den B rief kleben muß. Das — Lassen Sie mich doch bitte einmal ausreden. kann es doch wohl nicht sein, daß die Agenturen auch (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das ist nicht noch mitverdienen. Fahren Sie doch einmal nach mit anzuhören, was Sie sagen!) Amerika, dann sehen Sie es. — In wie vielen Dörfern gibt es denn keine- Post mehr? (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Ich reise Reden Sie doch nicht so einen Unsinn, als ob jetzt alles vielleicht nicht soviel!) besser wäre. Wie viele Leute, die — wie ich — nicht Dort können Sie im Supermarkt eine Briefmarke laufen können, kommen jetzt nicht mehr zur Post? kaufen, die einen Dollar we rt ist, aber sie bezahlen dafür 1,20 Dollar. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Sie haben heute ein Telefon, früher waren sie arme Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Es war Leute!) immerhin eine lebhafte Debatte. (Bundesminister Dr. Wolfgang Bötsch: Das — Das mit dem Telefon finde ich ja auch gut. Ich sage war aber nicht so doll!) ja gar nicht, daß alles schlecht ist. Ich bin doch kein Miesmacher. Nur, warum sind Sie denn nicht auf die Idee gekommen, die Angleichung der Verhältnisse Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun spricht der zwischen Ost und West so zu gestalten, daß im Westen Kollege Martin Göttsching. so viele Poststellen eingerichtet werden wie im Osten? Nein, hier wird mit einem Zirkel ein Kreis von 2 km gezogen, und die Leute müssen laufen, laufen, laufen. Martin Göttsching (CDU/CSU): Frau Präsidentin, Manche aber können gar nicht soviel laufen. Denken ich habe Ihnen natürlich auch meine Uhr zu offerieren, Sie doch bitte einmal nach, und reden Sie nicht so wie das meine Kollegen gemacht haben, muß aber einen Unsinn, daß hier alles besser ist als im Osten. So neidvoll eingestehen, daß meine 21 Steine hat. ein Quatsch! Gucken Sie sich lieber an, was do rt (Zuruf des Abg. Dr. Ulrich Briefs [fraktions vernünftig war und hier vernünftig ist. Dann bin ich los]) dafür, daß wir hier einmal darüber reden. — Nein, Herr B riefs, ich habe das nicht nötig. (Zuruf von der CDU/CSU: Die Leute dürfen jetzt ihre Zeitungen kaufen und müssen sie Vizepräsidentin Renate Schmidt: Darf ich einmal nicht bei der Post abholen!) ganz sanft unpräsidentinnenhaft fragen, ob ihr alle Erzählen Sie doch nicht so einen Unsinn, daß früher einen Schlag habt. alles nur mies war. (Heiterkeit bei der SPD, der CDU/CSU und (Zuruf des Abg. Siegfried Hornung [CDU/ der F.D.P.) CSU]) — Ich komme doch von do rt. Reden Sie doch nicht so Martin Göttsching (CDU/CSU): Sicherlich, aber einen Unsinn! vielleicht ist es günstig, daß ich noch etwas dazu sage, wenn die Presse berichtet hat, was es mit den Uhren Ich merke schon, Sie haben es geschafft, mir ein auf sich hat: Meine ist eine gute alte Glashütte-Uhr, bißchen die Redezeit wegzunehmen. Gut, das kann die ich in Mark der DDR bezahlt habe. Herr Briefs, ich verschmerzen. — Wichtig ist, daß die Bürgerinnen vielleicht haben Sie auch eine Uhr, aber die haben Sie und Bürger nicht noch weiter geschröpft werden: Die sicherlich in D-Mark bezahlt. Postgebühren werden erhöht, und nur der Standard- brief, der nicht einmal 10 % des ganzen Aufkommens (Zurufe von der CDU/CSU: Nein, in Gulden! ausmacht, wird im Preis nicht erhöht. Was kommt — Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Oder in denn davon unten bei den Briefträgern an? Wenig- Yen!) stens dazu wollte ich noch ein Wo rt sagen. Sie arbeiten — Oder in holländischen Gulden. mehr als 40 Stunden in der Woche und trauen sich Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Postreform II nicht, krankzumachen, weil sie gar nicht wissen, wie ist für den Wirtschaftsstandort Deutschland wichtig. sie es sonst schaffen sollen; sonst müßten ihre Kolle- Als lebensnotwendig hat sie der Postminister bezeich- ginnen und Kollegen ihre Arbeit machen. net. Das ist richtig. Ich ergänze dies als Thüringer Das ist Sanierung auf Kosten Ihrer Mitarbeiterinnen Abgeordneter: Ohne das Engagement des Unterneh- und Mitarbeiter, über die Sie hier so tolle Worte gesagt mens Telekom liefe bei uns fast nichts. haben, Herr Bötsch. Ich finde, Sie sollten sowohl an (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter denken der F.D.P.) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 15003

Martin Göttsching Das klingt im ersten Moment vielleicht etwas übertrie- ment zu wenden, gerade auch in Sachen Abführung ben, bei genauerem Hinsehen aber wird schnell an die Telekommunikation. ersichtlich, welch wirklich herausragende Rolle Tele- (Zuruf von der SPD: Sie sollten die Abfüh kom beim Aufbau eines funktionierenden Telekom- rung an den Bund reduzieren!) munikationsnetzes in den neuen Ländern gespielt hat. Insgesamt aber kann dies das positive Gesamtbild nicht trüben. Das Engagement der Postunternehmen Seit der Wiedervereinigung unterstützt Telekom in den neuen Ländern wird auf dem hohen Niveau der den wirtschaftlichen Aufbau mit — Zahlen sind vergangenen Jahre fortgesetzt. genannt worden — Milliardenbeträgen, um die Infra- (Beifall bei der CDU/CSU) struktur und damit die Gesundung bzw. den wirt- schaftlichen Aufschwung zu gewährleisten. Aber Allerdings sollte die Postbank ganz besonders daran — das sage ich auch — bei Telekom sollte manche denken, daß sie ein gutes Geschäft machen würde, Investition durchschaubarer sein. wenn sie z. B. in der Computerbranche einen Auftrag in Millionenhöhe an ostdeutsche Unternehmen ver- Ich meine aber auch, daß das Unternehmen Tele- gibt. Dadurch würde sie helfen, in wi rtschaftlich kom mal ganz intensiv die Augen auf Anbieter- von gebeutelten Regionen Arbeitsplätze zu schaffen bzw. Telekommunikationsendgeräten — das sind die alten zu erhalten. In einem Bet rieb, in einer Kreisstadt der Telefone — in den neuen Ländern richten sollte. Da Computer herstellt und in dem es einmal 12 500 gibt es nämlich ausgezeichnete Anbieter, aber leider Arbeitsplätze gab, von denen jetzt noch 300 bis 500 da scheinen die Gleise für die Einkäufer an der alten sind, würde ein solcher Auftrag wirklich ein gutes innerdeutschen Grenze zu enden, und lediglich eine Zeichen setzen. Schmalspurbahn führt in den Osten. Der Haushalt des BMPT befindet sich auf Talfahrt. (Zuruf von der SPD: Jawohl! — Zuruf von der Das haben auch Herr Kolbe und andere schon gesagt. CDU/CSU: 20 % der Apparate sind von uns! Der Ansatz ist um 16 % verringert. Aber die Investitio- — Zuruf von der SPD: Dafür arbeitet Alcatel nen der Postunternehmen bleiben gleich bzw. steigen. kurz, wenn Siemens die Aufträge nicht Das ist das, was ich gedanklich und inhaltlich sehr gut erfüllt! ) nachvollziehen kann. 11 Milliarden DM flossen in die neuen Länder. Daß (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Telekom der größte Einzelinvestor ist, muß einfach Denn die überdurchschnittliche Senkung des Einzel- noch einmal gesagt werden. plans 13 gibt dem Finanzminister die Möglichkeit, bei anderen Resso rts sanfter zuzulangen, etwa bei Arbeit (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Sehr gut!) und Soziales. Dieser Gedanke erleichtert es mir Man muß es sich einfach mal auf der Zunge zergehen gewissermaßen, die Kürzungen zu ertragen, wenn es lassen — ich sage es ganz langsam —: 540 000 neue auf Dauer mit den Kürzungen beim BMPT auch nicht Telefonanschlüsse bis zum 30. Juni 1993. so weitergehen kann. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Danke. Zuruf von der CDU/CSU: Herrn Seifert müs (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sen Sie es schreiben! Er ist nicht mehr hier!) Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Kol- — Vielleicht ist er aus dem berühmten Postamt 5 in lege Dr. Ulrich Briefs das Wort. Berlin, womit manche so ihre Probleme haben. (Arnulf Kriedner [CDU/CSU]: Briefs, jetzt (Zuruf von der SPD: Du sprichst in Gleichnis mal was Positives!) sen, aber ich verstehe sie nicht!) — Ich bin Theologe, da kann ich auch in Gleichnissen Dr. Ulrich Briefs (fraktionslos): Frau Präsidentin! reden. Meine Damen und Herren! Ich würde ganz gerne die Wenn man bedenkt, wie lange man früher auf einen launige Tonart, die sich hier eingeschlichen hat, Telefonanschluß gewartet hat—Jahre, Jahrzehnte —, weiterführen. Aber es geht nicht. Es gibt auch noch ein dann kann man sich vorstellen, welchen Stellenwert paar andere Probleme in diesem Zusammenhang. der Aufschwung Ost hat und wie real er hier umge- (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Keiner setzt wird. Ich erlebe in dieser Frage ganz konkret kann für seine Persönlichkeitsdefekte!) auch in meinem Umfeld, daß es in dieser Sache Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die vorangeht. Die Investitionen von Telekom und von Post ist ein weiteres Beispiel für die durch und durch der Post im Osten sind für die Akzeptanz der Politik unsoziale Politik dieser Bundesregierung. Nach der der Bundesregierung insgesamt von nicht zu unter- Zerschlagung der früheren Bundespost ist das einge- schätzender Bedeutung. treten, wovor Kritiker bei der ersten Poststrukturre- Natürlich weiß ich, daß es regional große Unter- form gewarnt haben. schiede gibt und mancher Bürger und vor allem auch Es sind bereits Arbeitsplätze in großer Zahl abge- Existenzgründer auf ihren Anschluß oft länger warten baut worden. Weiterer Abbau steht bevor: allein müssen, als ihnen lieb ist, aber auch mir lieb ist. Im 20 000 im Briefdienst bis zum Jahre 2000, 3 000 im Petitionsausschuß beschäftige ich mich in diesem Frachtdienst bis 1996. Bei der Telekom soll jeder achte Zusammenhang sehr mit den Grundrechten der Bür- Arbeitsplatz — insgesamt 30 000 Arbeitsplätze, ger, sich mit Bitten und Beschwerden an das Parla 100 000 Menschen sind betroffen — bis zum Jahre 15004 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Dr. Ulrich Briefs 2000 verschwinden. Das Arbeitsplatzangebot der hoffe, es wird nicht zu dem gelegentlich feststellbaren Postbank soll bis 1996 fast halbiert werden. Wackelkurs kommen. Diese Arbeitsplatzabbaupolitik alleine schon ist — Ich komme zu meiner Schlußbemerkung, Frau Prä- besonders in dieser Zeit mit bundesweit 7 Millionen sidentin. fehlenden Arbeitsplätzen — falsch. Sie ist verantwor- Auch hierbei ist es wie bei der sonstigen Politik, tungslos. Sie belegt aber auch wie andere Erfahrun- insbesondere der Wirtschaftspolitik dieser Bundesre- gen, daß die Informationsgesellschaft der Zukunft, die gierung und dieser Koalition: Geradezu mit Brachial- vor allem auf der Expansion der Informations- und gewalt — das ist die harte, brutale Logik dieser ganzen Kommunikationstechniken beruht, vor allem eine Entwicklung — Gesellschaft der fehlenden Erwerbsmöglichkeiten sein wird. (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Es geht aufwärts!) Doch diese Bundesregierung und diese Koalition sollen rentable Kapitalanlagemöglichkeiten für die treiben die Entwicklung noch weiter. Die Poststruk- riesigen und trotz Rezession und Massenarbeitslosig- turreform II soll den Einstieg und schließlich die keit weiter anfallenden Profite eröffnet werden. Das völlige Privatisierung von Post und Telekom bringen. ist schlicht und einfach der Punkt. Die Telekommuni- Alles das haben die Bundesregierung und die Koali- kationsmärkte sind der große Expansionsbereich der tion übrigens 1987/88 weit von sich gewiesen. Ich Zukunft, mit entsprechenden, zum Teil sehr proble- weiß noch, wie empört damals die Reaktionen waren, matischen Konsequenzen für die vielen Arbeitsplätze, als von verschiedenen Seiten geäußert wurde: Das ist z. B. in den Anwenderbereichen. der Einstieg in die Privatisierung. Jetzt werden wir sie bekommen. Auf der Strecke bleiben womöglich die Interessen aller Bürgerinnen und Bürger — die der Wi rtschaft (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Gott sei bleiben nicht auf der Strecke — an einer preisgünsti- Dank!) gen und ausreichenden Telekommunikation und Wir bekommen sie mit den entsprechenden Folgen. Postversorgung. Damit werden nicht nur weitere Arbeitsplätze der Auf der Strecke bleibt — ich denke, das ist ganz Ideologie der marktwirtschaftlichen Effizienz ge- besonders problematisch — ein wichtiges Element opfert. Ob das im weiteren nicht zum Aufbau privat- gesellschaftlicher Gestaltungspolitik. wirtschaftlicher Wasserköpfe führen muß, für die Noch eine kurze Anmerkung. Ich könnte mir vor- letzten Endes die Verbraucher über die Gebühren stellen, daß wir vielleicht in zehn Jahren oder etwas zahlen müssen, ist auch noch nicht heraus. später gezwungen sein werden, Teile dieser Post- (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Wer hier strukturreform II in wesentlichen Aspekten wieder Wasser im Kopf hat, ist eine offene Frage!) rückgängig zu machen, wieder mehr gesellschaftliche Transparenz, wieder mehr öffentliche Transparenz Durch die geplante Privatisierung werden auch und auch öffentliche Interventionsmöglichkeiten in dringend notwendige Interventions- und Kontroll- diesem Bereich einzuführen. möglichkeiten im Hinblick auf die Anwenderberei- che der IuK-Techniken — das ist ein besonderes Frau Präsidentin, ich danke Ihnen. Anliegen, denke ich— aus der Hand gegeben. Das gilt (Arnulf Kriedner [CDU/CSU]: Jetzt kommt für den Datenschutz, das gilt für den Arbeitsschutz, „erleichtertes Aufstöhnen" ins Protokoll!) das gilt sogar für bestimmte Aspekte der Qualifika- tions- und Bildungspolitik und nicht zuletzt für die Forschungs- und Technologiepolitik. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Es ist auch zu Der Rückzug der Gesellschaft aus dem Kommuni- diesem Bereich keine weitere Wortmeldung vorhan- kationswesen bringt zudem die Gefahr der Unterver- den. sorgung des flachen Landes und sonstwie benachtei- (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Es reicht ligter Wohngebiete und Regionen mit sich. Der Infra- auch!) strukturauftrag der früheren Post bleibt womöglich ganz auf der Strecke. Auf der Strecke bleiben auch dringend notwendige Mitbestimmungsrechte der Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 und die Zusatz- Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften, z. B. in den punkte 2j bis 2 m auf: Aufsichtsräten der privatisierten Unternehmen. 2. Überweisungen im vereinfachten Verfahren e Börnsen [Ritterhude] (Zuruf des Abg. Arn a) Erste Beratung des von der Bundesregie- [SPD]) rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- — Kollege Börnsen, wenn Sie sich ein bißchen mit dem zes zu dem Abkommen vom 29. Juli 1992 Elend der Mitbestimmung nach dem 76er Gesetz zwischen der Bundesrepublik Deutschland vertraut machen würden — gegen das Sie ja sind —, und der Republik Polen über Erleichterun- dann wüßten Sie das. gen der Grenzabfertigung (Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Ich habe — Drucksache 12/5279 — da gearbeitet! Sie nie!) Überweisungsvorschlag: rt, wenn ich das richtig mitbekommen Finanzausschuß (federführend) Die SPD forde Auswärtiger Ausschuß habe, weitere Mitbestimmungsrechte. Das ist auch Ausschuß für Verkehr richtig. Ich hoffe, Sie bekommen da etwas durch. Ich Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 15005

Vizepräsidentin Renate Schmidt b) Erste Beratung des von der Bundesregie- Überweisungsvorschlag: rung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Innenausschuß Gesetzes zur Änderung des Patentgebüh- Rechtsausschuß rengesetzes Finanzausschuß — Drucksache 12/5280 — Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Familie und Senioren Rechtsausschuß (federführend) Ausschuß für Frauen und Jugend Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfol- Ausschuß für Bildung und Wissenschaft genabschätzung Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO h) Beratung des Antrags des Bundesministeri- c) Erste Beratung des von der Bundesregie- ums der Finanzen rung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 Bundes- Gesetzes zur Änderung des Gentechnikge- haushaltsordnung in die Veräußerung der setzes bundeseigenen Liegenschaft Gendarme- — Drucksache 12/5614 — - rie-Kaserne in Mannheim-Schönau Überweisungsvorschlag: — Drucksache 12/5291 — Ausschuß für Gesundheit (federführend) Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft Haushaltsausschuß Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten i) Beratung des Antrags des Bundesministeri- Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- ums der Finanzen heit Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfol- Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 Bundes- genabschätzung haushaltsordnung in die Veräußerung der EG-Ausschuß bundeseigenen Liegenschaft Fahnenberg Haushaltsausschuß gemäß § 96 platz 4 in Freiburg/Br. d) Erste Beratung des von der Bundesregie- — Drucksache 12/5292 — rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Vereinfachung und Beschleunigung Überweisungsvorschlag: registerrechtlicher und anderer Verfahren Haushaltsausschuß (Registerverfahrensbeschleunigungsge- ZP2 j) Erste Beratung des von den Abgeordneten setz — RegVBG) Dr. Wolfgang Ullmann, Ingrid Köppe, Kon- — Drucksache 12/5553 — rad Weiß (Berlin), weiteren Abgeordneten und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Überweisungsvorschlag: NEN eingebrachten Entwurfs eines Geset- Rechtsausschuß (federführend) zes zur Finanzausschuß Verlängerung strafrechtlicher Ver- Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau jährungsfristen bei DDR-Unrechtstaten e) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- — Drucksache 12/5628 — brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ver- Überweisungsvorschlag: längerung strafrechtlicher Verjährungsfri- Rechtsausschuß sten k) Erste Beratung des von den Fraktionen der — Drucksache 12/5613 — CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Überweisungsvorschlag: Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinheitli- Rechtsausschuß chung strafrechtlicher Verjährungsfristen — Drucksache 12/5637 — f) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Ge- Überweisungsvorschlag: setzes zur sozialen Absicherung des Risikos Rechtsausschuß der Pflegebedürftigkeit (Pflege-Versiche- 1) Erste Beratung des von der Bundesregie- rungsgesetz — PflegeVG) rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- — Drucksache 12/5617 — zes über den Bau des Abschnitts Könnern- Löbejün der Bundesautobahn A 14 Magde- Überweisungsvorschlag: burg-Halle (Saale) Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Innenausschuß — Drucksache 12/5000 — Rechtsausschuß Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Verkehr (federführend) Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Rechtsausschuß Ausschuß für Familie und Senioren Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Frauen und Jugend Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- Ausschuß für Gesundheit heit Ausschuß für Bildung und Wissenschaft m) Erste Beratung des von der Bundesregie- Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- g) Erste Beratung des von der Bundesregie- zes über den Bau des Abschnitts Wismar rung eingebrachten Entwurfs eines Entgelt- West-Wismar Ost der Bundesautobahn fortzahlungsgesetzes A 20 Lübeck-Bundesgrenze (A 11) — Drucksache 12/5616 — — Drucksache 12/5001 — (v. 29. 6. 1993) 15006 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993

Vizepräsidentin Renate Schmidt Überweisungsvorschlag: c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Ausschuß für Verkehr (federführend) Berichts des Auswärtigen Ausschusses Rechtsausschuß (3. Ausschuß) Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- zu dem Entschließungsantrag der Gruppe heit der PDS/Linke Liste zu der Unterrichtung Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. Interfraktio- durch die Bundesregierung Bericht zum nell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Stand der Bemühungen um Rüstungskon- Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überwei- trolle und Abrüstung sowie der Ver- sen. Der Entwurf zur Änderung des Gentechnikgeset- änderungen im militärischen Kräftever- zes auf Drucksache 12/5614 soll zusätzlich dem Haus- hältnis haltsausschuß gemäß § 96 der Geschäftsordnung (Jahresabrüstungsbericht 1990/91) überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? — — Drucksache 12/2442, 12/2891, 12/5211 — Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so Berichterstattung: beschlossen. Abgeordnete Peter Kurt Würzbach Günter Verheugen Dr. Dr. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 auf: 3. Abschließende Beratungen ohne Aussprache Wir kommen zunächst zur Abstimmung über Tages- ordnungspunkt 3 a. Der Auswärtige Ausschuß emp- a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung fiehlt auf Drucksache 12/5209, den Gesetzentwurf zu des von der Bundesregierung eingebrach- dem Vertrag über den offenen Himmel unverände rt ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent- vom 24. März 1992 über den offenen Him- wurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer mel stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Das hätte — Drucksache 12/4074 — ich jetzt gern gewußt, Kollege B riefs: Was haben Sie gegen den offenen Himmel? — (Erste Beratung 134. Sitzung) (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Der hat die aa) Beschlußempfehlung und Be richt des Vorlage mal wieder nicht gelesen!) Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- schuß) Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig bei einer — Drucksache 12/5209 — Enthaltung angenommen. Berichterstattung: Abgeordnete Katrin Fuchs (Verl) Wir kommen zur Abstimmung über Tagesord- Dr. nungspunkt 3 b. Der Auswärtige Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 12/5307, den Gesetzentwurf unverän- bb) Bericht des Haushaltsausschusses dert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem (8. Ausschuß) gemäß § 96 der Geschäfts- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erhe- ordnung ben. — Wer stimmt dagegen? — Stimmenthaltun- — Drucksache 12/5290 — gen? — Berichterstattung: Abgeordnete Adolf Roth (Gießen) (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Wieder Dr. Sigrid Hoth eine Vorlage nicht gelesen!) Ernst Waltemathe Der Gesetzentwurf ist wiederum einstimmig bei einer b) Zweite Beratung und Schlußabstimmung Enthaltung angenommen. des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zu den Noten- Wir kommen zur Abstimmung über Tagesord- wechseln vom 25. September 1990 und vom nungspunkt 3c. Der Auswärtige Ausschuß empfiehlt 23. September 1991 über die Rechtsstellung auf Drucksache 12/5211, den Entschließungsantrag der in Deutschland stationierten verbünde- abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfeh- ten Streitkräfte und zu dem Übereinkom- lung? — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — men vom 25. September 1990 zur Regelung Damit ist diese Beschlußempfehlung angenom- bestimmter Fragen in bezug auf Berlin men. — Drucksache 12/4021 — Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tages- (Erste Beratung 134. Sitzung) ordnung. Ich wünsche Ihnen mit Ihren Uhren viel Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- Spaß. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen wärtigen Ausschusses (3. Ausschuß) Bundestages auf morgen, Freitag, den 10. September 1993, 9 Uhr ein. — Drucksache 12/5307 — Berichterstattung: Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend und Abgeordnete Peter Kurt Würzbach schließe die Sitzung. Karsten D. Voigt (Frankfurt ) Dr. Olaf Feldmann (Schluß der Sitzung: 21.50 Uhr) Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 173. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. September 1993 15007*

Anlage zum Stenographischen Bericht

Anlage entschuldigt bis Abgeordnete(r) Liste der entschuldigten Abgeordneten einschließlich Lenzer, Christian CDU/CSU 9. 9. 93 ** entschuldigt bis Dr. Lieberoth, Immo CDU/CSU 9. 9. 93 Abgeordnete(r) einschließlich Lüder, Wolfgang F.D.P. 9. 9. 93 Andres, Gerd SPD 9. 9. 93 Dr. Meyer zu Bentrup, CDU/CSU 9. 9. 93 Antretter, Robert SPD 9. 9. 93 * Reinhard Bartsch, Holger SPD 9. 9. 93 Michels, Meinolf CDU/CSU 9. 9. 93 * Dr. Bergmann-Pohl, CDU/CSU 9. 9. 93 Dr. Müller, Günther CDU/CSU 9. 9. 93 * Sabine Müller (Düsseldorf), SPD 9. 9. 93 Bindig, Rudolf SPD 9. 9. 93 Michael Blunck (Uetersen), SPD 9. 9. 93 ** Neumann (Gotha), SPD 9. 9. 93 Lieselott Gerhard Dr. Blunk (Lübeck), F.D.P. 9. 9. 93 Dr. Pfennig, Gero CDU/CSU 9. 9. 93 Michaela Pfuhl, Albert SPD 9. 9. 93 Böhm (Melsungen), CDU/CSU 9. 9. 93 ** Reddemann, Gerhard CDU/CSU 9. 9. 93 * Wilfried Reuschenbach, Peter W. SPD 9. 9. 93 Börnsen (Bönstrup), CDU/CSU 9. 9. 93 Dr. Riedl (München), CDU/CSU 9. 9. 93 Wolfgang Erich Bühler (Bruchsal), Klaus CDU/CSU 9. 9. 93 * Dr. Scheer, Hermann SPD 9. 9. 93 * Clemens, Joachim CDU/CSU 9. 9. 93 Schloten, Dieter SPD 9. 9. 93 Doss, Hansjürgen CDU/CSU 9. 9. 93 Stachowa, Angela PDS/LL 9. 9. 93 Ebert, Eike SPD 9. 9. 93 Steiner, Heinz-Alfred SPD 9. 9. 93 Feilcke, Jochen CDU/CSU 9. 9. 93 Dr. von Teichman, F.D.P. 9. 9. 93 Ferner, Elke SPD 9. 9. 93 Cornelia Dr. Fischer, Ursula PDS/LL 9. 9. 93 Uldall, Gunnar CDU/CSU 9. 9. 93 Fischer (Hamburg), Dirk CDU/CSU 9. 9. 93 Dr. Vondran, Ruprecht CDU/CSU 9. 9. 93 Gattermann, Hans H. F.D.P. 9. 9. 93 Weis (Stendal), Reinhard SPD 9. 9. 93 Dr. Gautier, F ritz SPD 9. 9. 93 Welt, Jochen SPD 9. 9. 93 Dr. Haussmann, Helmut F.D.P. 9. 9. 93 Dr. Wieczorek, Norbe rt SPD 9. 9. 93 Jaunich, Horst SPD 9. 9. 93 Wohlrabe, Jürgen CDU/CSU 9. 9. 93 Dr. Klejdzinski, SPD 9. 9. 93 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- Karl-Heinz lung des Europarates Lambinus, Uwe SPD 9. 9. 93 ** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union