Literarische Kinderkultur Zwischen Wirklichkeit Und Phantasie
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View metadata, citation and similar papers at core.ac.uk brought to you by CORE provided by ePublications Literarische Kinderkultur Zwischen Wirklichkeit und Phantasie Von Winfred Kaminski Frankfurt a.M./Köln Oktober 2003 1 Prof. Dr. Winfred Kaminski LESEN, LITERATUR, KULTUR ............................................................................................. 3 Leseerziehung und Ich-Entwicklung.......................................................................................... 4 Kinder und Kulturkonsum........................................................................................................ 24 DIE NÄHE DER KINDER ...................................................................................................... 32 Der kindliche König. Zum Bild des Kindes in den Erzählungen Janusz Korczaks ................. 33 Die Kinderliteratur(-szene) der 50er Jahre und Erich Kästner................................................ 47 Von Deutschland aus gesehen: Russell Hoban ........................................................................ 75 Sprachspieler und Sprachkünstler >>James Krüss<< .............................................................. 83 >>Magische Lebensläufe<< Das Kindheitsbild im Werk von Janosch................................... 94 Über Peter Härtling.Nicht nur als Kinderbuchautor............................................................... 105 Die renitenten Mädchen der Christine Nöstlinger.................................................................. 114 Groteskes für Kinder: Die Bilderbücher von Nikolaus Heidelbach....................................... 127 BLICKE AUF DIE GESELLSCHAFT.................................................................................. 134 Perry Rhodan oder gender-trouble im Weltraum................................................................... 135 Der Wandel im Blick der ‚Gäste‘-- Von der Gastarbeiter- zur Migrantenliteratur für junge LeserInnen.............................................................................................................................. 142 Menschenleben Frauenleben-- Überlegungen zur literarischen Biografie............................. 152 Der Burenkrieg (1899-1902) im Kinderbuch ........................................................................ 170 Anne Frank und die Gegenwart der Vergangenheit - Kinderliteratur und Holocaust. .......... 178 KINDERLITERATUR UND SPIEL ..................................................................................... 204 Der Beitrag Walter Benjamins zur ästhetischen Erziehung................................................... 205 2 Prof. Dr. Winfred Kaminski LESEN, LITERATUR, KULTUR 3 Prof. Dr. Winfred Kaminski Leseerziehung und Ich-Entwicklung1 Die Journalistin Sabine Jörg hat vor einigen Jahren in ihrem Zeitungsbeitrag "Vom Verschwinden des Mitleids"2 auf einige Momente verwiesen, die gemahnen, sich mit den Gefahren der medialen Umwelt - einer Knopfdruck-Welt - zu befassen und dabei das Fernsehen im Blick zu behalten. Vier Einsichten teilt sie mit: 1. Daß Kinder bereit sind, so lange vor dem Fernseher auszuharren, mache, behauptet sie, der Orientierungsreflex möglich. Dieser Reflex wird beim Menschen ausgelöst, wenn in der Umgebung plötzliche Veränderungen auftauchen. Er ist ein angeborenes Frühwarnsystem für Gefahren. Das Fernsehen nun, stellt Jörg fest, nutzt diesen Orientierungsreflex aus, weil schnelle Schnittfolgen, Schwenks und Zooms immer wieder eine Orientierung, eine Hinwendung zum Fernsehen erfordern. Die Kinder "kleben" an den Fernsehbildern fest und kommen aus eigener Kraft kaum los: "Die sinnvolle Orientierungsaktion ist zu einem Wahrnehmungsgefängnis pervertiert." 2. "Das Fernsehen kappt die natürliche Koordination von Wahrnehmung und Handlung." 3. "Die Vermehrung von bildlichen Erfahrungen bei gleichzeitiger Verminderung der Handlungsmöglichkeiten kann nicht ohne Folgen bleiben". 4. Eine weitere Konsequenz ist die Entkoppelung des Tuns von seiner Bedeutung. Diese Vorwürfe erhalten um so mehr Gewicht, weil zur selben Zeit die Kinder- und Jugendbuchverleger vor dem "vollverkabelten Analphabet" 1 Zuerst veröffentlicht in: Wozu noch Germanistik? Wissenschaft, Beruf, kulturelle Praxis Hrsg. Jürgen Förster et.al Metzler:Stuttgart 1989 S.239-247 4 Prof. Dr. Winfred Kaminski warnten. Tatsächlich war damals die Jugendbuchproduktion erheblich niedriger gewesen als in den Jahren zuvor, als sie sich auf ca. 6% der Gesamtbuchproduktion belief. Zwischen 1951 und 1985 lag der Anteil der Jugendschriften am Gesamt der Produktion bei durchschnittlich 5,3%. Es war also 1985 ein so niedriger Stand wie niemals zuvor erreicht worden. Dennoch darf die buchhändlerisch vielleicht berechtigte Gleichung Niedergang des Bücherkaufs = Niedergang der Lesekultur nicht mitgemacht werden. Das wäre kurzschlüssig. Verbreitungsgrad und Nutzungsgrad eines Mediums sind nicht identisch. Eine Lösung des Dilemmas scheint mir erst dann möglich, wenn sich die Buchmarktforschung zur Lese(r)forschung emanzipiert. Dadurch, daß sie Marktforschung ist, werden ihre Ergebnisse fast durchweg verzerrt. Erst wenn es gelingt, den lebensgeschichtlichen Stellenwert des Lesens in qualitativer Dimension zu erschließen, könnte eine Lese(r)forschung etabliert werden, die nicht unter dem Druck von Angebots- und Nachfrage-Prämissen steht. Schließlich hat die Qualität und Intensität eines Leseerlebnisses nur bedingt etwas mit dem Buchkaufverhalten zu tun3. Überlegungen zum Zusammenhang von Kinder- und Jugendliteratur, Leseerziehung und Ich-Entwicklung stehen deshalb schnell vor der Frage, ob es diesen Zusammenhang gibt? Ob er nicht gar etwas ist, das erst noch herzustellen wäre? Ein Grund, den Konnex dieser drei Themenfelder als problematisch anzusehen, ist der, daß es in den vergangenen Jahren zu einer radikalen Dynamisierung des Verhältnisses von Erwachsenen und Kindern gekommen ist. Wobei der Berliner Erziehungswissenschaftler Dieter Lenzen4, zu recht wie ich 2 .Sabine Jörg: Vom Verschwinden des Mitleids. Die Möglichkeiten des Knöpfedrückens verändern die Kindheit in: Frankfurter Rundschau vom 27.2.1988 S. ZB5 3 Winfred Kaminski: Was lesen Kinder eigentlich in: Demokratische Erziehung Nr.7/8.1988.S.17-19 4 Dieter Lenzen: Mythologie der Kindheit. Die Verewigung des Kindlichen in der Erwachsenenkultur Rowohlt: Reinbek 1985 S.379 5 Prof. Dr. Winfred Kaminski meine, einwarf, daß es wohl so ist, daß die Erwachsenen sich selbst mehr und mehr zum Problem geworden seien und nicht die Kindheit. Ein zweiter Grund ist der, daß Kindheit heute zuallererst Medienkindheit ist, mit der Folge, daß viele Erzieher und eben auch die literarischen Kindererzieher Kinder als Defizitbündel bestimmen und anklagend formulieren, daß heute Kinder schon fernsehen, ehe sie noch lesen könnten. Und wenn, wie häufig geschehen, gegen die audiovisuellen Medien der Einwand erhoben wird, sie böten nur "Wirklichkeit aus zweiter Hand", so ist schlicht daran zu erinnern, daß derselbe Vorwurf seit gut zwei Jahrhunderten genauso gegen das (Medium) Buch vorgebracht wird5. So monokausal wie in der Nachfolge Neil Postmans6 gern gefolgert wurde, läßt sich der Konnex von Kindern und Medien nicht abhandeln. Viel eher scheinen die Kinder heutzutage an sich ein Wohlstandsparadox erfahren. Auf der einen Seite nämlich erleben sie eine Reduktion von Eigentätigkeit und die Verarmung an Realerlebnissen, auf der anderen Seite erfahren sie zugleich eine Erweiterung von Wissen und Information, z.B. durch das Fernsehen. Diese Entwicklung betrachtend - und sie als Gefahr wahrzunehmen fällt leicht -, sollte man sich vergewissern, daß das Lesen nicht von vornherein die demokratische Kulturtechnik war, als die wir es gern ansehen. Im Altertum und noch im Mittelalter war es beschränkt auf die zahlenmäßig kleine Gruppe der Priester, die die "Heilige Schrift" zu lesen verstanden. Erst mit der Profanierung des Lesens in der frühen Neuzeit im Gefolge der Reformation, in Verbindung mit dem Wechsel von der intensiven Lektüre zur extensiven, breitete sich die Lesefähigkeit in weiteren Bevölkerungskreisen aus. Jetzt wurde nicht mehr ein Buch, zumeist die Bibel, wieder und wieder gelesen, sondern verschiedene Bücher wurden einmal gelesen. Das Lesen wurde von einem geheiligten Akt zu 5 Heinz Steinberg:Die Helfer brauchen Hilfe. Wie das Lesen ungefördert blieb und wie man es endlich fördern sollte in: Die Zeit Nr.10. vom 4.3.1988 S.59 6 Neil Postman: Das Verschwinden der Kindheit S.Fischer: Frankfurt/Main 1983 6 Prof. Dr. Winfred Kaminski einer Tätigkeit, die der Zerstreuung diente. Wenn Aufklärung und Lektüre zusammenzugehören scheinen, so fällt doch auf, daß schon zur Zeit des Philanthropinismus und der entstehenden Kinder- und Jugendliteratur, vor dem Lesen gewarnt wurde, weil es den Menschen zerstöre und Ansprüche wecke, die nicht eingelöst werden könnten. Insbesondere der Vorwurf >zerstörerisch zu wirken< begleitet die neu hinzukommenden und mit dem Lesen konkurrierenden Medien, sei es die Photographie, sei es der Film, sei es Radio, das Fernsehen oder gegenwärtig Video und die anderen elektronischen Medien. Es ist kein Zufall, daß N. Postman behauptet, daß das Fernsehen die Familien zerstöre: Denn es gebe keine Geheimnisse mehr und die Grenze zwischen Kindheit und Erwachsensein werde aufgehoben, ja die Erwachsenen würden kindisch. Postman hatte Erfolg, weil er - medienunterstützt - die audiovisuellen Medien angriff und als die Ursache schlechthin für die verschiedensten Probleme begreifen wollte. Aber seine Kritik kann nur deshalb funktionieren, weil er Kindheit und