Heinrich-

Zschokke-

Brief

Nr. 5 Mai 2005

–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– Mitteilungsorgan der Heinrich-Zschokke-Gesellschaft Einzelverkaufspreis: Fr. 5.– oder € 3.– ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––

Die Zschokke-Biografie ist in Arbeit

Geleitwort von Thomas Pfisterer, Präsident der Heinrich-Zschokke-Gesellschaft

ast schon ein Zschokke-Jahr! Mit gemein- gedeckt. Wir sind zuversichtlich, auch die restli- samer Anstrengung und tatkräftiger Hilfe chen Mittel zu erhalten. von Kanton und Stadt und dank einer glück- F Die Biografie wird ein Eckstein unserer Tätig- lichen Partnerschaft mit der Fachhochschule Aar- keit und ein Meilenstein der Zschokke-Forschung gau wird im September in ein besonderes sein: Sie soll gründlich, historisch präzis, mit neu- Ereignis stattfinden: das erste Zschokke-Sympo- en Erkenntnissen aufwartend, flüssig geschrieben sium! Wir haben als Thema „Erziehung zur De- und gediegen ausgestattet sein, ein Kompendium mokratie“ gewählt und hochkarätige Referentin- für die Fachwelt und ein Lesegenuss für ein ge- nen und Referenten eingeladen. Wir hoffen auf in- schichtlich und literarisch interessiertes Publikum. teressante Beiträge und einen angeregten und an- regenden Austausch unter Fachleuten und allen, Wir werden unsere Mitglieder, Sponsoren, die die an Zschokke interessiert sind. Auch Sie sind Öffentlichkeit und alle unserem Vorhaben wohl- willkommen! Bitte beachten Sie unsere Beilage gesonnenen Menschen über den Fortgang auf dem und die letzte Seite dieses Heftes. laufenden halten, auch an unserer Mitgliederver- sammlung vom 24. Juni, zu der ich Sie herzlich Im Januar haben wir an Zschokkes Wohnhaus einlade. am Rain 18 in Aarau eine Gedenktafel eingeweiht, wie wir bereits vor einem Jahr an seiner Geburts- stätte in eine schöne Erinnerungstafel Inhaltsverzeichnis Seite aufgestellt haben. Auch hier standen uns Partner- Zur Zschokke-Biografie 2 organisationen und Einzelpersonen bei der Aus- Zschokke lässt ein Foto von sich machen 4 führung und Finanzierung zur Seite. Julius Zschokke, das schwarze Schaf der Familie 7 Mittelschullehrer beschäftigen sich mit Zschokke 13 Unser Hauptziel ist es aber, Zschokkes Biogra- Gedenktafel am Haus Rain 18 in Aarau 14 fie zu realisieren. Sie soll 2009 erscheinen. Das Vom Schreibtisch der Redaktion 16 Projekt ist gut angelaufen: Dank grosszügiger Das Zschokke-Symposium am 15./16.9.2005 16 Spenden ist ein guter Teil der budgetierten Kosten

1 Zur Zschokke-Biografie

ei Diskussionen wurde oft der Wunsch Kantons Graubünden und der Einwohnergemein- nach einer modernen und umfassenden de Aarau. Die Stadt Aarau und einige Schweizer B Zschokke-Biografie laut, die alle bisheri- Kantone haben Zschokke viel zu verdanken, und gen Forschungen und heute noch auffindbaren es ist zu hoffen, dass auch Baselstadt, Baselland Quellen einbeziehen sollte. Es zeigte sich, dass und Tessin sich an der Biografie finanziell beteili- dieses Werk in absehbarer Zeit wahrscheinlich gen. Erfreulich ist auch die Unterstützung durch nicht zustande käme, wenn die Heinrich-Zschok- Aargauer Firmen und Privatpersonen. ke-Gesellschaft nicht die Initiative ergriffe. 2003 Bis jetzt wurden uns über 450'000 Fr. zuge- erteilten die Mitglieder dem Vorstand den Auf- sagt. Ein kleinerer Teil wurde bereits überwiesen, trag, eine solche Biografie in Angriff zu nehmen der Rest wird in jährlichen Tranchen ausbezahlt und mich mit der Ausführung zu betrauen. oder beim Erscheinen des Buches fällig. Diese er- Als erstes klärten wir die organisatorischen freuliche Entwicklung ermutigt uns. Die Heraus- Fragen, stellten ein Budget und einen groben Zeit- gabe der Biografie ist damit gewährleistet, auch raster auf. Dabei einigten wir uns darauf, die Ad- wenn uns noch rund 100'000 Fr. fehlen. Mit den ministration klein zu halten und es mir zu überlas- noch ausstehenden Summen werden wir in der sen, Fachleute und Helfer beizuziehen. Lage sein, für das Buch gründlich zu recherchie- Unter Berücksichtigung des Aufwands und der ren, es schön zu gestalten und zu einem günstigen zur Verfügung stehenden Zeit – bis April 2005 Ladenpreis anzubieten. war ich mit einer halben Arbeitsstelle an einem Für die Zschokke-Biografie wird ein eigenes Projekt des Schweizerischen Nationalfonds zur Konto geführt, das von unserem Kassier Ali Erforschung des Zschokke-Briefwechsels tätig – Zschokke verwaltet wird. An der jährlichen Mit- planten wir die Veröffentlichung für 2009 und gliederversammlung legen wir über Einnahmen veranschlagten Kosten von gegen 560'000 und Ausgaben und über den Fortschritt der Bio- Schweizer Franken. grafie Rechenschaft ab. Die zurückliegenden anderthalb Jahre standen Zeitplan und Fortschritte im Zeichen der Mittelbeschaffung. Die Heinrich- Zschokke-Gesellschaft, deren Vermögen sich aus Wichtige Vorarbeiten sind bereits erledigt. Erste Mitgliederbeiträgen und privaten Spenden speist, Recherchen und Transkriptionen von Briefen und kann die budgetierte Summe unmöglich aufbrin- anderen Quellen sind erfolgt; ein Konzept und ein gen. Daher sind wir auf Sponsoren angewiesen, ausführliches Inhaltsverzeichnis ist gemacht. wobei klar war, dass der Anfang am schwierigsten Wichtig war und ist die Öffentlichkeitsarbeit: Wir sein würde. Sobald die Finanzierung der ersten fühlen uns den Geldgebern gegenüber verpflich- Zeit gesichert war, konnte ich ans Werk gehen. tet, Zschokke und den Stand unserer Arbeit bei uns bietenden Gelegenheiten schriftlich oder in Erfolgreiches Fundrising Vortragsform zu präsentieren. Der Heinrich- Dank guter Kontakte und des grossen Engage- Zschokke-Brief gibt darüber einigen Aufschluss. ments unseres Präsidenten konnten wir sehr bald Mit Anfang Mai wende ich drei Tage in der den Kanton und die Generalunternehmung Woche für Besuche und Sichtung von Bibliothe- Zschokke als zwei gewichtige Sponsoren gewin- ken und Archiven, für die Abschrift und Auswer- nen. Beide fühlen sich mit Heinrich Zschokke tung von Quellen, die Beschaffung von Werken verbunden und waren bereit, unser Projekt mit ei- Zschokkes und von Sekundärliteratur (auch Zei- ner namhaften Summe zu unterstützen. Mit dieser tungs- und Zeitschriftenartikel) auf, um mir zu- Vorgabe wurde es leichter, uns an andere mögli- nächst einen genauen Überblick zu verschaffen che Geldgeber zu wenden. Wir schrieben die Mit- und eine möglichst vollständige Bibliografie zu glieder der Heinrich-Zschokke-Gesellschaft an erstellen. Ich möchte damit auch andere For- und bewarben uns bei öffentlichen Institutionen, schenden unterstützen und zu weiterführenden Stiftungen und Firmen. Einige Klippen waren und Studien verlocken. sind dabei zu überwunden. Wir hoffen, noch dieses Jahr von der Universi- Wir sind der Neuen Aargauer Bank dankbar, tätsbibliothek Bayreuth Kopien der rund 6000 dass sie uns die wie schon bei unserem letzten Briefe des Gesamtbriefwechsels Zschokkes zu Buch („Der modernen Schweiz entgegen – Hein- bekommen, die zu kontrollieren und zu ergänzen rich Zschokke prägt den Aargau“) unter die Arme sind; danach gelangen sie als Depot ins Staatsar- greift. Wichtig ist auch die Unterstützung des chiv des Kantons Aargau. Dieses mit grosszügi- 2 gen Arbeitsräumen ausgestattete Archiv ist Zen- in der er hauptsächlich aus schweizerischer Sicht trum der Zschokke-Forschung, ergänzt um den dachte und handelte. Ganz zum Schweizer wurde Bücherbestand der wenige hundert Meter entfern- er nie, obwohl er sich gut integrierte. So soll er bis ten Kantonsbibliothek. zu seinem Lebensende auch privat Hochdeutsch 2006 werde ich meine Arbeit in Archiven und gesprochen haben, und sein dichterisches Werk Bibliotheken fortsetzen und auf das Ausland richtete sich vorwiegend an ein deutsches Gross- (Magdeburg, Berlin, Frankfurt/Oder usw.) aus- stadtpublikum. dehnen; ich werde dabei gezielt Informationen zu Zum ersten Lebensabschnitt gehört die Zeit bis Zschokkes Heimat, zu seiner Kindheit und Jugend 1797/98, also bis und mit seiner Tätigkeit im In- (bis 1796) sammeln. stitut Reichenau. Den Beginn des zweiten Ab- Die historische und geistesgeschichtliche Si- schnitts kann man mit seiner Heirat und der Auf- tuation Europas und vor allem Norddeutschlands nahme seiner Aufgaben im Aargauer Forstamt im und Preussens bis zur Wende des 19. Jhs. muss Jahr 1804 ansetzen. In diesem zweiten Abschnitt untersucht werden, um festzustellen, wie Zschok- steht der Bezug zur Vergangenheit, zur Kindheit ke geprägt wurde, welche Einflüsse auf ihn ein- und zu Deutschland nur noch am Rand; Zschokke wirkten. Vieles, was Zschokke bis zu seinem Ein- ist aktiv an der Gestaltung der Schweiz beteiligt. tritt in die Schweiz tat und erlebte, liegt noch im Er betrachtet die Welt aus der Perspektive seiner Dunkeln, auch wenn Carl Günther 1918 darüber neuen Heimat und verliert zunehmend das Interes- eine vorzügliche Dissertation schrieb. Aber wäh- se an der politischen und literarischen Entwick- rend des Ersten Weltkriegs hatte er nicht zu allen lung in Deutschland. Archiven Zugang. Es bleibt abzuwarten, wieviel Die Helvetik mit ihren Umwälzungen und Material die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs Verwerfungen war für Zschokke zugleich Über- überlebt hat. gangsperiode und Schlüsselzeit. Es war die be- 2007 will ich die Recherchen abschliessen und wegteste Phase seines Lebens, in der er in die Po- mit der Niederschrift beginnen, die ich bis Ende litik geworfen wurde und sich unter grossem per- 2008 fortführe. Dazu verwende ich vom Mai 2007 sönlichen Einsatz an einer Revolution, am Expe- an fünf Tage pro Woche. 2008 kommen Verlags- riment einer neuen Schweiz mit allen Unwägbar- gespräche, die Suche nach Illustrationen und das keiten, Facetten und Folgen beteiligte. Zschokke Schreiben des Anhangs dazu; 2009 erfolgt die selbst betrachtete diese Periode für sein Leben als Schlussredaktion, Druckfassung, Schlusskorrektur zentral. Dies ergibt sich schon rein statistisch, und das Fahnenlesen, so dass die Biografie vor- wenn man die Aufteilung und Seitenzahlen seiner aussichtlich im Sommer 2009 erscheinen wird. Altersbiografie „Eine Selbstschau“ analysiert (Kästchen). Die ersten 17 Jahre seines Lebens be- Die Helvetik als Schlüsselzeit schreibt er auf 21 Seiten, aber die dreieinhalb Jah- Zschokkes Leben lässt sich in zwei grosse Ab- re im Bann der Helvetik (vom August 1798 bis schnitte einteilen: einen ersten, in der er als Deut- zum Winter 1801/1802 in ) waren ihm 113 scher fühlte und sich bewegte, und einen zweiten, Seiten wert.

Eine Selbstschau Zeitraum Jahre Seiten total pro Jahr

1. Kindheit 1771–1788 17 7-28 21 1 2. Wanderjahre 1788–1798 10 31-98 67 7 3. Revolutionsjahre 1798–1802 4 101-214 113 2 4. Des Mannes Jahre 1802–1829 27 217-300 83 3 5. Lebens-Sabbath 1830–1841 11 303-355 52 5

Dies mag damit zusammenhängen, dass Zschokke Persönlichkeiten. Die Leidenschaft für den politi- sein vergangenes Leben weitgehend aus der Erin- schen Diskurs und den öffentlichen Raum bricht nerung rekonstruierte und ihm aus der Helvetik immer wieder durch. am meisten schriftliches Material zur Verfügung stand. Aber seine Autobiografie ist nur zum Teil Schwerpunkte in der Biografie Selbstdarstellung und intime Selbstbefragung; in Selbstverständlich soll Zschokkes Biografie zu- weiten Teilen sind es Memoiren. Zschokke zeich- nächst eine exakte Lebensbeschreibung sein. Sei- net politische Ereignisse nach, gesellschaftliche ne Lebensstationen müssen festgehalten, die vie- Zustände und seine Begegnung mit interessanten lerlei Aktivitäten beschrieben, das Werk analy-

3 siert, Umstände und Beweggründe herausgearbei- Der zweite Bereich ist die Rezeption und Wir- tet werden. Das Ganze ist in seinem politischen kung von Zschokkes publizistischem und dichteri- und geistesgeschichtlichen Umfeld zu verorten. schem Werk. Zschokke war einer der meistgele- Eine Zschokke-Biografie muss Schwerpunkte senen und meistübersetzten Schriftsteller seiner setzen. Sie muss auf wichtige Entwicklungs- Zeit. Um nur einige Beispiele aufzuführen: Seine stränge und Eigenheiten, auf Hauptmerkmale ei- „Stunden der Andacht“ gehörten zum eisernen ner Epoche hinweisen, aus der sich, unter Mitbe- Bestand vieler sonst wenig lesebeflissenen Haus- rücksichtigung von Zschokkes spezieller Lage, halte; seine Volksromane wurden in Osteuropa in wenigstens teilweise sein Handeln und Verhalten zahlreichen Bearbeitungen immer wieder neu he- erklären lässt. Ein kulturgeschichtlicher Ansatz rausgegeben; das populäre Buch „Des Schweizer- muss Zschokke charakterisieren und einordnen lands Geschichte für das Schweizer Volk“ prägte helfen. Andererseits lässt sich daraus nicht alles das Geschichtsbild von Generationen. ableiten. Zschokke war eine Eigenpersönlichkeit Drittens ist Zschokkes Selbstverständnis als mit eigenständigen Vorstellungen und Plänen. Er Aufklärer und Pädagoge, seine Auffassung von verfolgte eigene Ziele, beeinflusste selber seine der Aufgabe der politischen und gesellschaftli- Zeit. Diesem personalen Einfluss muss unbedingt chen Erziehung, der Volks- und Erwachsenenbil- Rechnung getragen werden. dung von Bedeutung. Diesem Thema widmen wir Es gibt Sachverhalte, die ich besonders gern unter dem Titel „Erziehung zur Demokratie“ im untersuchen werde, weil sie in der Zschokke- und September ein zweitätiges Symposium (siehe letz- einer weiterführenden Forschung Aufmerksamkeit te Seite des Heinrich-Zschokke-Briefs). verdienen und vielleicht sogar Neuland eröffnen. Abschliessend kann gesagt werden, dass die Das eine wurde schon angetönt: Zschokkes Akti- Auseinandersetzung mit Zschokke von der Fülle vitäten in der Helvetik, von der wir erst lücken- von Material und den interessanten Themen her hafte Darstellungen besitzen. Zschokke war ein viele Möglichkeiten eröffnet. Nicht alles kann in hervorragender Mediator und Propagandist politi- eine Biografie mit ihrem notwendigerweise be- scher Ideen. Als Kriegskommissar in der Inner- grenzten Umfang aufgenommen werden. So wer- schweiz und im Tessin und als Regierungsstatthal- den Untersuchungen und Erkenntnisse auch in an- ter in entwickelte er grosses Organisations- dere Publikationen einfliessen. talent und bewegte sich mit Kaltblütigkeit und Werner Ort Improvisationsgabe auf politischem Parkett.

Zschokke lässt ein Foto von sich machen

ls Friedrich Wilhelm Genthe, Gymnasial- Gesellschaft. Alle 7 Minuten eine Station. Abends lehrer aus Magdeburg, 1846 zum zweiten in Strassburg.“2 A Mal in der Blumenhalde eintraf, fand er Am folgenden Morgen wollte Zschokke das Zschokke gealtert vor. „Die Elasticität seines gan- Dampfschiff nach Mainz besteigen, aber er war zen Wesens war vermindert, obwohl nur ein auf- nicht dazu imstande. Er litt unter heftigem Durch- merksames Betrachten dies entdecken konnte; ich fall und seine Hüftschmerzen verstärkten sich. sah nicht mehr den Mann vor mir, der vier Jahre früher zu mir sagte: ‚ich denke neunzig Jahre alt Der Arzt behandelte das Rheuma mit Opium zu werden’ und der mit großer Behendigkeit mit und einem Katzenfell und die Diarrhöe mit Gum- seiner jungen Tochter Haschen spielte.“1 Der einst mischleimdiät. Erst am dritten Tag fühlte Zschok- von Gesundheit strotzende Zschokke wurde von ke sich soweit wieder hergestellt, dass man die rheumatischen Schmerzen gequält, was ihn zwar Reise auf dem Rhein fortsetzen konnte. Bei Bibe- nicht daran hinderte, wie stets um fünf Uhr mor- rach stieg er aus, um sich im Schlangenbad bei gens an seinem Schreibpult zu stehen, aber immer Wiesbaden während zwei Wochen zu kurieren. häufiger Kuraufenthalte nötig machte. Den Rückweg nahm Zschokke über Frankfurt Am 19. Juli 1846 fuhren Zschokke und Genthe am Main, wo er alte Freunde besuchte, neue Be- in aller Frühe mit der Eilpost nach Basel und stie- kanntschaften machte und allerlei Ehrungen und gen dort in die Eisenbahn nach Strassburg ein. In Verehrungen erduldete. Er besuchte das naturhi- dem dick gepolsterten Abteil, das sich durch die storische Museum, bewunderte einen vor kurzem zahlreich zusteigenden Reisenden füllte, wurde es aus Neuseeland eingetroffenen Kiwi und begab stickig. Zschokke liess sich wenig anmerken, aber sich dann ins Kinderspital, eine Einrichtung, die in seinem Notizheft vermerkte er: „Ermattende er aus der Schweiz nicht kannte. Wie stets teilte er Hitze auf der Eisenbahn, bei höchst langweiliger seiner Frau in Briefen haarklein mit, was ihm un-

4 terwegs begegnete und was er beobachtete. Nur Daguerreotypie, die ein Unikat blieb, eine unbe- von der Behandlung mit Opium schrieb er ihr grenzte Zahl von Abzügen hergestellt werden. nichts. Wir kennen gegen vierzig verschiedene Por- August Anton Wöhler, Präsident der polytech- träts von Zschokke, das erste eine Zeichnung des nischen Gesellschaft, führte ihn in einer Equipage Berliner Kupferstechers Johann Friedrich Bolt um „zu einem Künstler, ebenfalls ausserhalb der Stadt 1794, das letzte seine Totenmaske. Das wohl be- wohnend, der Lichtbilder macht, (eine neue Erfin- rühmteste ist das Gemälde von Julius Schrader, dung, keine Daguerrotypen, sondern das Bild, wie das 1842 in Aarau entstand und von dem es min- gemalt, auf Papier). Man nennt diese Kunst Pho- destens drei Ausgaben gibt: im Stadtmuseum Aa- tographie. Zweimahl mußt’ ich und zwar in ver- rau, im historischen Museum Magdeburg und in schiedner Stellung sitzen, weil Wöhler und der Privatbesitz in Basel. Künstler, Hr. Vogel, sich entzweiten, wie man Für jede Publikation, die Zschokkes Konterfei mich haben wollte? Nun erschienen also beide enthielt, musste sein Gesicht erneut geschnitten, Bilder, zu jedem saß ich blos 10 Secunden. Es gestochen, radiert, geätzt oder auf Stein gebracht können von jedem wohl 100 Abdrükke gemacht werden. Das hiess nicht, dass man ihn jedes Mal werden. Der Künstler braucht aber zur Vollen- neu porträtierte; man benutzte eine bereits vor- dung des Lichtbildes 3–4 Tage. Vielleicht schikt 3 handene Vorlage, die meist in Kupfer oder Stahl uns Wöhler einen Abdruk.“ gestochen wurde. Es ist möglich, eine Genealogie von Zschokke-Porträts zu machen; einige Zeich- nungen oder Stiche wurden besonders gern als Vorlagen benutzt, entweder weil sie gut gelungen, oder weil sie weit verbreitet waren. Eines der bekanntesten Porträts geht auf eine Lithographie des Zürcher Porträtisten und Aqua- rellisten Johannes Notz aus dem Jahr 1824 zurück. Sauerländer liess für den ersten Band von Zschokkes „Ausgewählten Schriften“ als Frontis- piz vom Aargauer Künstler Samuel Amsler davon einen Kupferstich machen. Zschokke war darüber nicht glücklich; er meinte, dass es ihm „nur we- nig“ gleiche (Brief an Carl August Böttiger vom 7.3.1826).

Zschokkes einzige bekannte Fotografie (1846) Einer dieser Abdrücke befindet sich im Privat- besitz von Andres Zschokke in Basel; es ist das einzige Foto, das wir von Zschokke haben, und ist der Unverstelltheit der Darstellung wegen ein be- sonderes Dokument. Zschokke wirkt von seiner Krankheit gezeichnet, das Gesicht hagerer als sonst, die Lippen zusammengepresst und die Mundwinkel nach unten gezogenen. Die Aufnahme ist grobkörnig und ohne Grau- abstufungen. Erfinder der von Zschokke beschrie- benen Technik war 1839–1844 der Engländer William Henry Fox Talbot. Im Gegensatz zu Da- guerre verwendete er nicht Kupfer- oder Silber- platten, sondern mit Chlorsilber überzogene Pa- piernegative. Nach der Belichtung wurden die Negative mit Silbernitrat und Gallussäure entwic- kelt und mit Natriumthiosulfat fixiert. Bei dieser Brustbild Zschokkes von J. Notz und S. Amsler sogenannten Calotypie konnte im Unterschied zur für die Ausgewählten Schriften (1825)

5 Für die fünfte Auflage der „Novellen und lung nach Düsseldorf, wohin der König kömmt, Dichtungen“ von 1841 liess Sauerländer vom der sich schon von ihm, als Kronprinz malen las- Zürcher Künstler Martin Esslinger nach Notz ein sen. Dann wollen es die Düsseldorfer in Kupfer neues Porträt stechen; man findet aber kaum Un- stechen; und dann erst gehts nach M[agdeburg].“5 terschiede zu jenem von Amsler. Das Ölgemälde von Schrader setzte alle bishe- Nach über 17 Jahren, in denen sich verschie- rigen Versuche in den Schatten; es wurde vielfach dene Künstler mehr oder weniger erfolgreich an kopiert und gestochen, unter anderem auch von Notz orientierten – ein Ölbild von Martin Disteli Alexander für die fünfte Auflage von „Eine von 1830 blieb praktisch unbekannt – schien es Selbstschau“ von 1853 (Gesammelte Schriften, angebracht, für Zschokkes Autobiografie „Eine Bd. 16, Frontispiz). Auch der Bildhauer Alfred Selbstschau“ das Original erneut zu zeichnen. Lanz hielt sich für sein Denkmal im Kasinopark Zschokkes Sohn Alexander machte im Mai 1841 Aarau weitgehend an diese Vorgabe. einen Stahlstich vom Kopf seines Vaters. Beinahe Merkwürdigerweise fand aber auch die für wäre dieser Stich, der markant, aber etwas unbe- Zschokke eigentlich unvorteilhafte Fotografie von holfen und kantig wirkt, obwohl Zschokke noch 4 Vogel aus Frankfurt für Publikationen und Ge- Verbesserungsvorschläge einbrachte, für einige mälde ihre Anhänger. Im Stadtmuseum Aarau Jahre zur Standardvorlage geworden. hängt ein auf Holz gemaltes farbiges Bild, das Zschokke mit Hut, Stock, Mantel und weissen Handschuhen in einem Zimmer zeigt, den rechten Arm auf ein Tischchen mit einem Blumentopf ge- stützt, links ein geraffter Vorhang.

Gemälde von Julius Schrader im Stadtmuseum Aarau, Zschokkestube (1842) Aber Magdeburger Freunde schickten im Au- gust 1842 den an der Kunstakademie Düsseldorf wirkenden Porträtisten Julius Schrader nach Aa- rau, dem Zschokke Modell sass. Am 12.8.1842 teilte Zschokke Sauerländer mit: „Seit vorgestern ist mir von den Magdeburgern ein Maler aus Düs- seldorf zugeschikt; Hr. Schrader, geb. von Berlin der meinem Sohn Alexander schon durch seinen Ruf bekannt war. Gestern grundirte er erst den Kopf und dieser ist schon schreiend ähnlich. Heut grundirt er die Kleidung. Man sollte meÿnen, er Stich von Adrian Schleicher nach der Fotografie Zschokkes für die „Feldblumen“ (1850) brauche zu Allem etwa 8 Tage; er lächelt und sagt: es währt wohl 3 Wochen. – Aber der ist Meister! Alexander nennt sich gradezu seinen Der unbekannte Maler griff nicht auf die Foto- Schüler. Er schikt das Bild nicht, wenns fertig ist, grafie selber, sondern auf einen Kupferstich von nach Magdeburg, sondern zuvor zur Kunstausstel- Adrian Schleicher zurück, welcher der Gedicht- 6 sammlung „Feldblumen“ vorangesetzt wurde, die Emil Zschokke 1850 bei Johann David Sauerlän- 1 Friedrich Wilhelm Genthe: Erinnerungen an der in Frankfurt am Main herausgab. Sauerländer Heinrich Zschokke. Ein Supplement zu Zschok- hatte, wie andere Frankfurter Freunde auch, wahr- ke’s Schriften, Eisleben 1850, S. 146 f. scheinlich einen Abdruck der Fotografie erhalten. 2 Reisenotizen 1846/47, Heft 3, StA AG, NL.A Schleicher montierte dieses Brustbild auf den 0196–018. Körper eines Wanderers, der auf einer Steinbank 3 Brief an Nanny Zschokke vom 9.8.1846. vor einem Baum rastet, den rechten Arm an einen 4 „Guten Morgen, Lieber!“ Der Briefwechsel Felsen gelehnt. Im Hintergrund ist eine Land- Zschokkes mit seinem Verleger Sauerländer, schaft mit See und Bergen angedeutet. Die Kopf- S. 248 f., Anm. 809. – Wir benutzen diese Zeich- haltung und die erschöpften Gesichtszüge stim- nung Alexanders übrigens für den Kopf des men mit der Fotografie überein, sind allerdings Heinrich-Zschokke-Briefs. 5 Ebd., S. 327 f. deutlicher zu sehen und gut herausgearbeitet.

Julius Zschokke, das „schwarze Schaf“ der Familie

Am 21. August 2003 erhielt die Heinrich-Zschokke-Gesellschaft von privater Seite zwei Ordner mit dem schriftlichen Nachlass von Julius Zschokke (1816–1845). Darin befinden sich über 300 Briefe, die Julius mit seinen Eltern und Geschwistern wechselte, Tagebücher, Reisenotizen und weitere Dokumente. Der folgende Aufsatz ist ein erweiterter Aufsatz des Artikels, der am 16.10.2003 in der „Aargauer Woche“ erschienen ist.

ulius Zschokke, der siebente Sohn von Hein- rich und Nanny Zschokke, studierte in Zürich J und Göttingen Jurisprudenz und begann dann in Liestal (Kanton Basellandschaft) eine erfolg- versprechende Karriere als Advokat, Publizist, Politiker und Geschäftsmann. Er starb mit 28 Jah- ren an einem Lungenleiden und liess seine 24- jährige Frau Laurentine Zschokke-Voegtly und das dreijährige Töchterchen Alice zurück. Die Witwe hütete seine Briefe und Zeugnisse wie ih- ren Augapfel und vermachte sie vor ihrem Tod ih- rer jüngeren Schwester Jeannette, Stammutter der Familie Kocher-Voegtly. Einzelheiten über die Familiengeschichte und das Schicksal des Nachlasses erfährt man aus ei- ner mehrbändigen Familienchronik, die in den 1970er Jahren vom Berner Chemiker und Mikro- biologen Vincent Kocher mit grosser Sachkennt- nis und Einfühlungsvermögen verfasst wurde. Der Stammlinie Zschokke-Voegtly sind über vierzig Seiten und einige Porträts gewidmet. Schliessen einer Lücke Im Sommer 2003 erhielt die Heinrich-Zschokke- Die schöne Laurentine (1820–1865), älteste Toch- Gesellschaft von einem Nachkommen der Familie ter des Solothurner Arztes Victor Voegtly im Jahr Kocher den Nachlass von Julius Zschokke ge- ihrer Hochzeit (1841). Radierung von Johann schenkt. Selbstverständlich gehörten diese Doku- Friedrich Detler (Familienchronik Kocher). mente ins Staatsarchiv des Kantons Aargau, wo die Nachlässe Zschokkes und seines ältesten Ausser den Werken und dem Briefwechsel von Sohns Theodor aufbewahrt werden. Es war für Heinrich Zschokke, der nun gesamthaft vorliegt uns eine grosse Freude, dem Staatsarchiv mit der und den Briefen und Tagebüchern seiner Söhne Weitergabe zu einem wertvollen Zuwachs seiner gibt auch die handgeschriebene Familienzeitung Bestände zu verhelfen. Damit werden die Zschok- „Der Blumenhaldner“, die 1831 vom damals 14- kes zu einer der am besten dokumentierten Fami- jährigen Julius gegründet und redigiert wurde, lien in der Schweiz im 19. Jahrhundert. über den Alltag und die Sorgen der Familie 7 Zschokke Auskunft. Leider sind von Nanny den Geschwistern unbeschwertes Plaudern im Zschokke und ihrer Tochter Coelestine Sauerlän- Vordergrund standen. Solche Briefe wurden in der der-Zschokke nur relativ wenige schriftliche Fremde sehnsüchtig erwartet. Die Söhne waren ja Zeugnisse überliefert – hauptsächlich der Brief- nicht viel über zwanzig Jahre alt und bisher nie wechsel zwischen Nanny und Heinrich Zschokke länger von zu Hause getrennt gewesen. –, so dass das Bild, das wir von der Familie Julius Zschokke studierte zwei Semester in Zü- Zschokke besitzen, ein fast ausschliesslich männ- rich und drei Semester in Göttingen und verbrach- lich geprägtes ist. te dann ein halbes Jahr in Edinburgh. Wie seinen Republik auf vier Pfählen Brüdern fiel es ihm schwer, sein Heimweh zu be- wältigen. Statt sich zu beruhigen, steigerte es sich Etwas ausserhalb des Städtchens residierend, in in Göttingen noch. Nach drei Monaten schrieb er der „Blumenhalde“ genannten Villa jenseits der seinen Eltern: am Jurahang, bildeten die Zschokkes eine „Republik auf vier Pfählen“, in politischer und „Die letzte Nacht traümte mir, der ersehnte geistiger Unabhängigkeit von ihrer Umgebung. Brief vom Jura sey endlich angelangt; – welche Die zwölf Söhne und die einzige Tochter wurden Freude ich hatte! – Natürlich nahm ich dieß als von „schädlichen“ Einflüssen von ausserhalb eine Vorbedeutung für heute, aber sie wurde weitgehend abgeschirmt. Sie wurden zu Hause er- jämmerlich zu Schanden, & mein Glauben und zogen und unterrichtet, die Kleineren von der Traümen & Ahnden dadurch etwas modificiert. – Mutter, die Grösseren vom Vater, der sie bis zur Hätte ich ein Königreich zu vergeben, so würde Hochschulreife führte. Danach bezogen sie die ich es jetzt jeden Augenblikk losschlagen, wenn beste ausländische Universität, um, nach freier ich dafür nur eine Stunde in der Blumenhalde er- Studienwahl, eine akademische Laufbahn einzu- kaufen könnte. – Ich glaubte schon längst Mann schlagen. Wieder zurück in der Heimat sollten sie genug zu seyn, um das nah zu kennen, was man im Sinne ihres Vaters gemeinnützig tätig sein und Heimweh nennt. – Aber diese Tage haben mich als vorbildliche Staatsbürger, Berufsleute und eines Anderen belehrt. Wenn Niemand da ist, der Familienväter hervortreten. Der Vater war stolz mit sorglichem Blikk & Wort einen pflegt & hegt, auf die „vier Fakultäten“ unter seinem Dach: zwei Niemand, den es innig freut, wenns wieder beßer Pfarrer, zwei Ärzte, zwei Bauingenieure und Ar- geht, keine liebe Mamma, die einem das Kopfki- chitekten, ein Künstler und ein Jurist. ßen unterlegt & sagt: ‚Schlaf wohl, mein liebes Kind!’ – Kein Papa, der, wenn er mit einem Nur am Rande sei bemerkt, dass die ältesten spricht, einen alle physischen Übel vergeßen Söhne zusätzlich ein Handwerk lernen mussten, macht, keine lärmenden, lustigen Buben, deren um notfalls von der eigenen Hände Arbeit leben gesunder Appetit einem Sterbenden wieder ga- zu können. Später liess der Vater davon ab, aber stronomische Freuden wekken könnte; & wenn von allen erwartete er, dass sie sich in der Praxis man zum Fenster raus schaut, kein Aarthal, keine bewährten, fleissig und ehrbar waren und den gu- rauschende Aar, keine gründen Jura-Hügel, keine ten Ruf des elterlichen Namens ehrten und ver- Alpenkette! – Ach! es giebt doch nur eine mehrten. Schweiz, ein Aargau, eine Blumenhalde. – Aber Studentenbriefe und Heimweh Geduld, mein armes Herz! Ein Paar Jährchen noch, & das Capitel, welches du hier in Deutsch- Die Familienzusammenhalt der Zschokkes war lands Ebenen sammelst, soll dir dann in der Hei- eng und herzlich und liess auch nicht nach, wenn 1 math seine Zinsen tragen. – –“ die Kinder aus der Blumenhalde auszogen. Von den auswärts lebenden Studenten wurde erwartet, dass sie fleissig studierten, anspruchslos lebten und mindestens einmal im Monat einen Bericht über ihren Studienfortgang und ihre Befindlich- keit heimschickten. Sie erhielten dafür einen Mo- natsbrief aus der Blumenhalde, meist drei eng be- schriebene Seiten – die vierte diente als Adresse und Umschlag – mit den neusten familiären Er- eignissen, Aarauer Klatsch und Ratschlägen der Eltern zu Lebensführung und Studiengestaltung. Diese Briefe von zu Hause wurden gemeinsam von Vater, Mutter und den Geschwistern verfasst. Sie sind ein Potpourri verschiedener Handschrif- ten und Ansichten, wobei von Seiten der Eltern Umschlag eines Briefs von Heinrich Zschokke an Informationen, Fragen und Ermahnungen, von seinen Sohn Julius in Göttingen.

8 Erlebnisse in Göttingen warum ich so lange mich gegen diese Ehrenstelle 4 Wir nehmen in den Briefen von Julius Anteil an mit sovieler Selbstverleugnung gewehrt hatte.“ all seinen Freuden und Leiden. Sein Leben in Göt- Noch vor dem Fest war Ernst August neuer tingen beschränkte sich nicht auf die Studierstube. König von Hannover geworden. Er hob die Staats- Er besuchte Theater und Konzerte, traf sich gern verfassung auf, und als einige Professoren – die mit Freunden auf seiner Bude oder im Wirtshaus, „Göttinger Sieben“, darunter die Germanisten politisierte, trank Bier, rauchte Pfeife und spielte Jakob und Wilhelm Grimm –, Einspruch erhoben, Klavier. Ein typischer Student also. Kein Wunder, wurden sie abgesetzt und drei von ihnen, die von dass die 200 Franken, die ihm wie all seinen Brü- auswärts kamen, des Landes verwiesen. Dies war dern im Quartal zustanden, nie ausreichten. Die ein Schlag gegen den liberalen Geist, der stets an finanzielle Ebbe war denn auch eine dauernde der Universität gewaltet hatte. Leidenschaftlich Klage, auch wenn er wusste, dass er nicht auf nahm Julius Anteil an den Geschehnissen. In lan- mehr Geld hoffen durfte: gen Briefen schilderte er den Widerstand und die „Ach, verzeihet mir theuerste Aeltern, daß ich Solidarität der Studenten, ihren Versuch, sich mit einen solchen Brief schreiben mußte. – O’ ich den entlassenen Lehrern zu solidarisieren, sie we- weiß wohl, daß Ihr sagen werdet, ich hätte mich nigstens an der Landesgrenze zu verabschieden. etwas mehr einschränken können. Allein, doch In einem Nachtmarsch zogen 400 Studenten ins hessische Städtchen Witzenhausen und harrten hoffe ich, werden Euch die obigen Angaben ge- 5 nug belehren, daß dieß fast unmöglich war. – Da- den folgenden Morgen ihrer Lehrer. gegen dachte ich, es sey beßer, Euch sogleich of- fen Alles mit zu theilen, als etwa Schulden zu ma- chen, die sich von Woche zu Woche haüfen wür- den.“2 Die Verlockungen waren aber auch zu gross. So schrieb er an einem Januartag: „Wir haben hier treffliche Schlittenbahn; doch fährt man immer unten in der Stadt herum, & so hört man alle Nachmittage nichts anderes, als die Glokken & Schellen der Pferde & das Knallen der Hatzpeit- schen. Indeßen sind meine öconomischen Verhält- niße diesem Vergnügen nicht gewachsen, indem ein zweispänniger Schlitten per Stunde 2 Reichs- thaler kostet. Lezte Woche war ich zu Prof. Mühlenbruch zu einem Thee dansante eingeladen, wohin ich aber, wegen Mangel eines neumodischen Ballkleides Die „Göttinger Sieben“, die im November 1837 nicht gieng. – Meine Gesundheit ist fortwährend ihrer Professur enthoben wurden. Oben die Mär- in floribus – durchaus nie Zahnweh – außer lezt- chenforscher Wilhelm und Jakob Grimm. hin zwei Tage lang etwas Diarrhöe, wahrschein- lich vom hiesigen Bier. – Dieß gieng also für eine „Um 11 Uhr begaben wir uns sämtlich vor die Sennesblättermixtur.“3 Stadt, auf das jenseitige Ufer der Weser, um die drei Verbannten zu empfangen. Zuerst kammen Lebhaft und ausführlich erzählte er von der indeßen die sechs Profeßoren, welche nachträglich Hundertjahrfeier der Georgia Augusta, der Göt- protestiert hatten, angefahren, um ihren Kollegen tinger Universität, im September 1837, bei der er noch das Lebewohl zu sagen. – Wir bildeten Spa- als Abgeordneter der Schweizer Studenten an der liere, & ließen sie, unter vielfachen Hoch’s durch- königlichen Tafel sitzen durfte und sich auch mit paßieren. – Endlich gegen 12 Uhr erschienen auch dem berühmten Alexander von Humboldt unter- die sehnlichst Erwarteten in zwei Kutschen. Die hielt. Dazu musste Julius sich standesgemäss ein- Begeisterung & der Enthusiasmus dieses Augen- kleiden, was ihm erneut Kosten verursachte: blikks Euch zu beschreiben, würde vergeblich „Vorerst einen schwarzen, kurzen Sammtrokk; seyn! Wir spannten die Pferde aus, & zogen die ein schwarzes, silbergestiktes Sammtbarett, mit Kutschen selbst, unter fortwährenden Vivat- roth & weißen Straußenfedern, eine breite, roth & Rufen, über die Brükke in die Stadt vor dem weiße seidene Schürze, die quer über die Brust Gasthof – jeder glaubte schon viel erlangt zu ha- hieng, endlich weiße Hosen, & Sporren an den ben, wenn er nur mit einem Finger den Wagen be- Stiefeln. Und dazu gab mir kein Mensch einen rühren konnte. Wir giengen wieder in den Pfennig. Jetzt könnt Ihr Euch wohl vorstellen, wa- Rathshaussaal zurük, wo auch bald die Gefeierten

9 erschienen, & jeder mit einigen Worten, von uns nedig’ von Heinrich Zschokke. – Ich habe mich Abschied nahmen & uns dankten. ‚Da sah’ man da herrlich amüsiert. Abällino, ein dikker, alter kein Auge thränenleer!’ – Den Augenblikk ver- Kerl, der mit einer etwas gebrochnen Stimme mit geß’ ich nie! – er gehört zu den schönen meines der schönen, etwas stark geschminkten Rosamun- Lebens.“ de koste, schien offenbar ein Liebling des Publi- Die Blütezeit der Universität Göttingen war jäh cums zu seyn, & daßelbe vollkommen zu kennen. zu Ende: Auch die beiden Juristen Dahlmann und – Denn je ärger er brüllte & auf den Brettern her- Albrecht waren weg, und ihre Lehrstühle blieben umstampfte, desto donnernder war der Applaus. – vakant. Zahlreiche Studenten zogen sich zurück, Und als er es am Ende dahin brachte, daß sämmt- was den König, der sich mit Armee- und Verwal- liche Nobilis noch unter den Augen des Publi- tungsfragen befasste, herzlich wenig bekümmerte. cums auf der Bühne eines jämmerlichen Todes sterben mußten, ward er mit allgemeinem Enthu- Auch Julius verliess Ende Semesters ohne Ab- 7 schlussprüfung Göttingen. Sein Blick war bereits siasmus hervorgerufen.“ auf die nächste Etappe gerichtet. Mit dem Dampfschiff James Watt, das den Pendelverkehr zwischen Hamburg und Leith be- Reiseberichte trieb, gelangte Julius nach Grossbritannien. Auch Er jubelte in seinem Brief: „Ich freue mich wie in Edinburgh beschäftigte er sich nicht hauptsäch- ein Kind auf Schottland, & werde es ausbeuten, lich mit Jurisprudenz. Er begleitete einen Medi- wie du, lieber Papa, es von mir erwarten kannst. zinstudenten in die Elendsviertel dieser grossen Das wird ein Sommer für mich werden! … Rei- Industriestadt, und da sah er Szenen, „wovon man sen! Reisen! Das ist ein Ruf, der frisches Leben sich weder in Deutschland, noch in der Schweiz durch mich strömt.“6 Er fuhr mit der Kutsche nach einen Begriff macht, & wovon man in der Blu- Hamburg, wo er sich gründlich umsah und die menhalde nichts traümt; Scenen, so widernatürlich Brieffreunde seines Vaters aufsuchte. Wie ein & empörend, daß jedes menschliche Gefühl mit Schwamm saugte er auf, was sich ihm darbot. Schauder sich abwendet, & überall ist Whisky die Hauptbasis! – Nur ein Beispiel in kurzen Zügen, aus den Höhlen der Cowgate: ein enges finsteres Gemach, worin nichts zu sehn ist, was einer Be- quemlichkeit gleicht, als ein roher Stein beim feu- erlosen Kamin, Stuhl & Tisch zugleich. In einer Ekke, auf faulem Stroh, bedekkt mit einigen Lumpen, liegt ein Weib – … Um sich Muth zu machen, hat sie sich im Whisky berauscht. In Kopf eines Briefes von Julius Zschokke mit der demselben Gemach prügeln sich ihr Mann & die alten Börse von Hamburg, vier Jahre vor dem beiden Schwestern, alle drei auf’s Höchste be- verheerenden Brand der Altstadt. trunken bis auf’s Blut, & sind kaum von einander zu bringen. Ein Haufen halbnakkter, schreiender „Ich bin nun schon so ziemlich herumgekro- Kinder drängt sich in einer Ekke zusammen, zit- chen, allenthalben, wo ein Reisender gewesen ternd vor den brutalen Kämpfen.“8 seyn muß, um daheim genügende Auskunft dar- über zu geben. – So sah ich z. B. vorgestern Nachmittag das hiesige Krankenhaus von oben bis unten, bewunderte die zwekkmäßige Einrichtung & Reinlichkeit deßelben & zugleich den thatkräf- tigen Wohlthätigkeitssinn der Hamburger. Meine Lieblingssache aber ist das hiesige Leben & Trei- ben bis in seine aüßersten Zweige zu beobachten. Täglich ein Paar Stunden treib ich mich im Hafen herum, wo man stets, wie beim babylonischen Thurmbau, mehr als 20 verschiedne Sprachen Der Pferdemarkt in Hamburg, ebenfalls Kopf ei- hört. – Das originelle Matrosenvolk ist einer nes Briefes von Julius vom April 1838. scharfen Beobachtung werth, & verdiente jeden- falls mehr Bewunderung, als jede kriegsgeübte In dieser Schilderung spürt man den Keim für Landarmee. – Ebenso war ich nicht nur in beiden das sozialreformerische Engagement aller Zschok- städtischen Theatern, sondern gestern auch auf ei- kes, das Bestreben, der armen, vernachlässigten ner Winkelbühne der St. Georgs Vorstadt, wo Unterschicht zu einem menschenwürdigen Dasein eben aufgeführt wurde: Abällino; oder: der große zu verhelfen. Wäre Julius nicht schon mit 28 Jah- Bandit; oder: ‚die grausame Verschwörung in Ve- ren gestorben – wer weiss, vielleicht hätte er sich

10 wie sein Vater und seine älteren Brüder in diesem Kraft reibt u. mißt ergözt mich, – u. ich werde Bereich einen Namen gemacht. nicht ruhen, bis ich es zu einem Ziele gebracht.“9 Julius Zschokke machte es seinen Feinden leicht, ihn persönlich zu attackieren. Er leistete sich gern etwas Luxus, mietete ein Haus in zentra- ler Lage und schaffte sich ein Klavier an. Lange sah er nicht oder wollte nicht wahrhaben, dass er sich mit Aufgaben überladen hatte. Er war in fi- nanziellen Fragen leichtsinnig und musste Kredite aufnehmen, um Verpflichtungen nachzukommen und seiner jungen Frau, dem hübschen Arzttöch- terchen aus Solothurn, ein standesgemässes Leben zu bieten. Seit seiner Jugendzeit litt er an Zahn- schmerzen und Kieferentzündungen, die er mit Alkohol betäubte, und war eher kränklich. In ei- nem Städtchen wie Liestal hatten die Wände Au- gen und Ohren, und der Klatsch verbreitete sich mit Windeseile. Die Kunde von seinen Schulden und dem nicht immer tadellosen Lebenswandel Frühe Fotografie, die angeblich Julius Zschokke drang nach Aarau und erschütterte die Blumen- zeigt, aufgenommen um 1840 in Würzburg (aus halde in ihren Grundfesten. der Familienchronik Kocher). Das schwarze Schaf der Familie Geschäftsmann in Liestal Julius entsprach in seiner Lebensführung so ziem- Nach seiner Rückkehr in die Schweiz liess sich lich dem Gegenteil von dem, was sein Vater in Julius, wie schon sein älterer Bruder Emil, in seinen volkspädagogischen Schriften und im Liestal nieder, um im jungen Kanton Baselland Schweizerboten vertrat. Dort bekämpfte er vehe- Karriere zu machen. Er wurde zweimal in den ment Prozesssucht, politische Leidenschaften, Landrat (das Parlament) gewählt, und, obwohl er Branntweinkonsum und Schuldenmachen, was er kein juristisches Staatsexamen aufzuweisen hatte, vor allem auf dem Land verbreitet sah und als Ur- amtete er als Strafrichter und war sogar Vizeprä- sache für Armut und den Niedergang von Fami- sident des Kriminalgerichts. Er eröffnete eine Ad- lien, ja ganzer Dorfgemeinschaften betrachtete. vokatur mit Notariat, betrieb ein Kauf- und Spedi- Sparsamkeit, Fleiss und Frömmigkeit waren das tionsgeschäft, übernahm Inkassoaufträge, war einzige Schutzschild, das die Menschen unbe- Vertreter der schweizerischen Mobiliarversiche- schadet durch ökonomische Rückschläge und mo- rung für Baselland und Redaktor des „Baselland- ralische Fährnisse trug. Diesem puritanisch- schaftlichen Wochenblatts“. Er überlegte sich, ei- sittlichen Lebensstil kam er selber eisern nach, ne Druckerei und eine Buchhandlung zu eröffnen, und er sollte auch für seine Söhne gelten. und liess sich dazu vom Verleger Sauerländer be- Gegen diesen väterlichen Grundsatz hatte Ju- raten. Publizistisch und politisch unterstützte er lius verstossen. Nanny, welche die Schwierigkei- die Regierung als Anhänger der „Ordnungspartei“ ten ihres Sohnes vor ihrem Mann lange ver- und wurde so zur Zielscheibe der radikalen Oppo- schwieg, um ihn zu schonen, war bitter enttäuscht, sition, der „Bewegungspartei“, die mit ihrem als alle Ermahnungen und seine Besserungs- Sprachrohr, dem „Basellandschaftlichen Volks- schwüre nichts fruchteten. Ob ihre lebensbedroh- blatt“ vor Verunglimpfungen nicht zurückscheute. liche Darmverschlingung mit der Sorge um ihren Julius war der umtriebigste der Zschokke- Sohn zusammenhing, ist nicht ganz sicher. Den Tod vor Augen, sagte sie zu ihrem Mann: „Ich Söhne, initiativ und risikofreudig in Geschäften, 10 ungestüm im persönlichen Umgang und kämpfe- weiß mir ja keine Vorwürfe zu machen!“ risch in politischen Fragen. Ihn reizte die Ausein- Sie genas und beichtete Julius’ Fehltritt. Er- andersetzung mit den politischen Gegnern. „Drei schüttert schrieb Heinrich Zschokke seinem Sohn: Mächtige Waffen stehn mir zu Gebote: Die freie „Sie weinte die schmerzlichsten Thränen, wie sie Rede im Landrath, – vor Gerichtsschranken, u. über keinen ihrer Söhne geweint hat, als sie mir das Wochenblatt; vor Allem aber das Gefühl in sagte, wie durch leichtsinnigen Umgang mit übel- meiner Brust, daß ich nicht für mich, sondern für geachteten Menschen, Verkehr in gemeinen Krei- Recht u. Wahrheit u. für das Wohl des Volkes sen, Meidung besserer Gesellschaft, du unsrer streite. Dieser Kampf, worin sich Kraft gegen bisher unbescholtenen, sogar gefeierten Familie

11 wenig Ruhm, dich aber bedeutend um den ersten ten, sogar Schlechtigkeiten; dem armen durchaus Credit gebracht habest.“11 nicht. Mehr als alle Vorwürfe des Vaters traf Julius Ich verlange von dir keine Versprechungen für ein Hausverbot zum Geburtstag seiner Mutter am die Zukunft; ich kann nicht, sondern du nur selbst 3. September 1843, dem wichtigsten Familienfest durch sie getaüscht werden. Beim ersten Rükfall in der Blumenhalde. Man wollte die Nerven der in deine zeitherige Lebens- und Handlungsweise Kranken nicht durch seinen Anblick erschüttern. würde dir das Vaterherz absterben; ich könnte nur dein Richter seyn und würde meine Bürgschaft für dich wieder zurükziehn. Bewahre dies feierliche Wort!“12 Es war zu spät. Julius zog sich bald darauf eine Lungenkrankheit zu, von der er sich nicht mehr erholte; seine Frau erlitt eine Fehlgeburt. Ange- sichts dieser Schicksalsschläge traten die Ver- stimmungen in den Hintergrund. In Krisenzeiten hielt die Familie Zschokke zusammen. Der Vater Aufdruck auf den Geschäftsbriefen von Julius steckte Julius zu Weihnachten Geld zu, und Mut- Zschokke ter Nanny liess ihre anderen Kinder und ihren Julius war in einem Schuldenzirkel gefangen Mann im Stich, um ihn zu pflegen und nach dem und kam nicht mehr daraus heraus. Seine ange- Tod die Haushaltsauflösung zu organisieren. Lau- schlagene Gesundheit erlaubte es ihm nicht mehr, rentine zog mit ihrer Tochter Alice zu ihren Eltern sich ganz seinen verschiedenen Geschäften zu nach Solothurn und eröffnete einen Laden. widmen. Er hatte einen Sekretär eingestellt, der ihm Kosten verursachte, führte Prozesse, die ihm ausser Ärger nichts einbrachten, die Redaktion ei- ner Zeitung, mit der er seine Kräfte weiter verzet- telte, plante einen Hausbau … Sein Vater war bereit, eine Bürgschaft für den Hauptgläubiger, Baron von Seckendorf, zu über- nehmen, unter der Bedingung dass Julius seine Lebensweise radikal ändere. Grosse Hoffnung setzte er auf die junge Ehefrau. „Fange von iezt an, wie deine Ältern, wie deine drei Brüder, durch Laurentine ein tägliches Ausgaben- und Einnah- men-Buch über jeden Kreuzer zu führen, und, jährlich in der lezten Woche, die Ausgaben der einzelnen Rubriken, Brod, Fleisch, Wein, Kleider u.s.w. zu summiren, um zu wissen, wo Ersparnis- Laurentine Zschokke um 1865, gemalt von Jo- se möglich zu machen sind. Und Laurentine sollte hann Friedrich Detler (Familienchronik Kocher). sich’s zur unabänderlichen Regel machen, gleich wie die Mama immer thut, nichts, ohne sogleich Verhängnisvoll war, dass Heinrich Zschokke, zu zahlen, zu kaufen, lieber zu darben. Hüte dich den seine Söhne über alles liebten und bewunder- besonders, und das war der wohlthätige Zaum, ten und wohl auch fürchteten, ihnen nicht mittei- den ich mir selbst anlegte, von allenfalls durch len konnte, wie sehr auch er an ihnen hing, und deinen Verdienst eingehenden Geldern mehr wie stolz er auf ihre Erfolge war. Lob mache sie Baarschaft im Hause zu behalten, als zur Haushal- eitel und anfällig für Schmeicheleien, dachte er. tung höchst dringend nothwendig ist. Hr. v. Sek- „Der Bursch fängt mir an zu gefallen, aber ich kendorf wird z.B. dir nicht zürnen, wenn du ihm lass’ es nicht merken; thue, als seÿ das nichts be- einmahl den Zins ein Vierteljahr vorauszahlst, und sonderes“, schrieb er einem Freund über Julius.13 du verliest dabei nichts, gewinnst aber innere Be- Heinrich Zschokke tilgte die Schulden von Ju- ruhigung. lius, was ihn selbst vorübergehend in finanzielle Nur durch ein exemplarisches Leben und Schwierigkeit brachte, da zur gleichen Zeit Söhne mannhaftes Streben, kannst du dein verlornes An- Nr. 9 bis 11 (Eugen, Achilles und Alfred) im Aus- sehn in privaten und öffentlichen Angelegenheiten land studierten und der Absatz der neusten schrift- wieder herstellen. Dem Verschwender, der reich stellerischen Erzeugnisse harzte. Die Vorfälle um ist, verzeiht das Publicum wohl Unbesonnenhei- Julius’ und seine Schulden wurden vertuscht. Sie

12 sind erst dank der jetzt erschlossenen Familiendo- Spuren hinterlassen hätten, Regungen, die uns kumente rekonstruierbar. vertraut, und Dinge, die uns fremd sind. Nicht dies allein macht den Zugang zu ihnen schwierig. Briefwechsel als Zeitzeugnisse Das hauptsächliche Hindernis ist die alte deutsche Im Briefwechsel von Julius Zschokke mit seinen Kursivschrift, die unsere Grosseltern vielleicht Eltern, der ergänzt wird durch Geschwisterbriefe, noch in der Schule gelernt haben, die heutzutage öffnet sich ein Fenster zum Verständnis einer kul- aber fast nur noch Spezialisten geläufig ist. turellen Epoche und des bürgerlichen Lebens zu Beginn der Industrialisierung. Noch war man Das Staatsarchiv als Anlaufstelle meist zu Fuss und über längere Distanzen mit Auf manchen Dachböden schlummern in Koffern Pferd, Schiff oder Kutsche unterwegs, aber die und Kisten Bündel von Briefen und alten Doku- Pionierzeit der Eisenbahn stand vor der Tür. menten, die von ihren Besitzern nicht mehr zu Aus Göttingen teilte Julius seinem Vater eine entziffern sind. Es reut einen, sie wegzuwerfen, Vision mit: „Mit der Zeit wird man von Aarau aber ihren Wert kann man auch nicht beurteilen, nach Zürich zum Frühstükk, oder ins Theater gehn solange ihr Inhalt nicht bekannt ist. Es empfiehlt können! & wenn Eugen & Achilles ihre Universi- sich, sie einmal hervorzunehmen und von Exper- tätsstudien machen, werden sie Morgens aus der ten prüfen zu lassen. Für solche Fällen bieten sich Blumenhalde nach Zürich ins Kolleg fahren, & die Staatsarchive als Anlaufstelle an. Wie Gold- auf’s Abendtrinken wieder zurükkehrn.“ So schmiede den Wert alten Schmucks, so können träumte Julius und fragte seinen Vater: „Hat die deren Mitarbeiter den Wert alter Papiere einschät- Blumenhalde auch Actien genommen?“14 Die zen. Ein Anruf lohnt sich, um einen Termin für Blumenhalde hatte keine Eisenbahnaktien ge- eine kompetente Beurteilung zu vereinbaren. kauft; Heinrich Zschokke misstraute Spekulatio- Werner Ort nen und investierte sein Geld lieber in die Ausbil- dung der Söhne.

1 Im 18. und noch bis weit ins 19. Jahrhundert Julius an Zschokke, Göttingen, 3.-16.2.1837. 2 Julius an seine Eltern, Göttingen, 26.8.1837. war das Briefeschreiben das wichtigste Kommu- 3 nikationsmittel. Neben dem Reisen war es die ein- Julius an seine Eltern, Göttingen, 17.1.1837. 4 Julius an seine Eltern, Göttingen, 3.10.1837. zige Möglichkeit der Kontaktpflege unter Freun- 5 Julius an seine Eltern, Göttingen, 22.12.1837. den und Bekannten. Tausende Briefe wurden im 6 Julius an Zschokke, Göttingen, 29.3.1838. Lauf eines Lebens verfasst und gelesen; ohne Post 7 Julius an Zschokke, Hamburg, 16.4.1838. fühlten die Menschen sich von der Welt abge- 8 Julius an Zschokke, Hamburg 10.7.1838. schnitten. Mit Gänsekiel und Tinte entstanden 9 Julius an Zschokke, 18.12.1840. kleine Kunstwerke. Die Menschen hatten wenig 10 Zschokke an Sauerländer, 29.8.1843. Ablenkung und nutzten ihre Zeit, um sich in Ta- 11 Zschokke an Julius, 31.8.1843. 12 gebüchern und Briefen mitzuteilen. Zschokke an Julius, 15.8.1844. 13 Zschokke an B. R. Fetscherin, 21.2.1839. In diesen schriftlichen Erzeugnissen kommen 14 Julius an Zschokke, Göttingen, 22.11.1837. Menschen zur Sprache, die sonst vielleicht kaum

Mittelschullehrer beschäftigen sich mit Zschokke

ie Geschichtslehrer der Neuen Kantons- Im Staatsarchiv bestand die Gelegenheit, ver- schule Aarau nahmen sich am 4. März schiedene Nachlässe einzusehen und Spuren D 2005 einen ganzen Tag Zeit, um sich mit Zschokkes nachzuspüren, so Dokumenten seiner Heinrich Zschokke auseinanderzusetzen. Ziel war Aufhebung von Pestalozzis Waisenhaus in Stans es, diese interessante Aargauer Persönlichkeit nä- im Juni 1799. her kennen zu lernen und herauszufinden, was Am Nachmittag wurde Pressegeschichte be- man im Unterricht umsetzen könnte. trieben und Zschokkes volkstümliche Zeitung Zunächst erhielten sie einen Überblick über „Der Schweizer-Bote“ nach verschiedenen Krite- Zschokkes Leben und Wirken und sahen sich eine rien untersucht. Eine komplette Folge von den Folge von Zschokke-Porträts an, die verschiedene Anfängen (1798) bis 1836 befindet sich in hervor- seiner Eigenschaften betonten, vom Künstler über ragenden Zustand in der Schulbibliothek. den Politiker bis zum alten Mann. Prägnante Aus- Das Interesse und Engagement der Lehrer- sagen aus Zschokkes „Eine Selbstschau“ erlaub- schaft war erfreulich und lebhaft. Es ist zu hoffen, ten es, das Selbstbild Zschokkes zu diskutieren. dass ihr Beispiel Schule macht.

13 Gedenktafel am Haus Rain 18 in Aarau m September 1807 zog Zschokke mit seiner Unmittelbar darüber war das Schlafzimmer Frau Nanny und dem kleinen Theodor nach Zschokkes und der älteren Knaben, nach hinten I Aarau an den Rain 18 in ein stattliches Bür- sein Arbeitszimmer und die Bubenstube, wo die gerhaus. Die räumliche Nähe zu Heinrich Remi- Söhne, die von ihm unterrichtet wurden, ihren gius Sauerländer, der seit 1803 an der Halde eine Aufgaben oblagen. Hinter dem Garten fiel das Ge- Druckerei und einen Verlag betrieb, gab offenbar lände gegen die Aare steil ab, so dass Zschokke den Ausschlag, Schloss Biberstein, in das sich einen wundervollen Blick auf die Jurakette besass. Zschokke 1802 eingemietet hatte, zu verlassen, abgesehen davon, dass es weitläufig und etwas unpraktisch war, zumal das junge Ehepaar es mit einigen Gelehrten teilte, die dort unter der Leitung von Johann Rudolf Meyer jr. an einer Enzyklopä- die der gesamten Naturwissenschaften arbeiteten.

Bronzeguss in der Firma Rüetschi Auch den Rain 18 hatten Zschokkes nicht für sich, denn das Parterre bewohnte eine Witwe Strauss mit ihren zwei Töchtern. Im ersten Stock regierte die züchtige Hausfrau; hier befand sich, Begrüssung der Gäste durch Thomas Pfisterer von der Strasse aus gesehen links, das Zimmer von Nanny, dahinter ein Alkoven mit Betten für Bald füllte das Haus sich mit Leben: Sechs die Mutter und die kleineren Kinder und gegen Söhne wurden hier geboren. Im Sommer 1812 zog den Garten die Küche, das Esszimmer und eine die von Zschokke gegründete Gesellschaft für va- hölzerne Laube.1 Zur rechten Seite gegen die terländische Kultur, die den Aargau bald nachhal- Strasse war die gute Stube, die für Besuche und tig veränderte, hier ein. Die Kulturgesellschaft, Feste benutzt wurde. welcher Institutionen wie die Aargauische Erspar- niskasse, eine Taubstummenanstalt, die histori- sche und die naturwissenschaftliche Gesellschaft entsprangen, tagte durchschnittlich zweimal in der Woche hinter den vier Fenstern links im zweiten Stock. 1819 kam der Bürgerliche Lehrverein dazu, eine private Schule für junge Männer, an der so berühmte Männer wie der Philosoph und Arzt Ig- naz Paul Vital Troxler und der Nationalökonom Friedrich List wirkten, und die von später bedeu- tenden Politiker und Schulmänner wie Augustin Keller und Johannes Ketterer besucht wurden. Das Haus auf dem Rain 18 atmet noch heute den Geist jener Zeit. Wer die Erlaubnis erhält, es zu besuchen, wird von einem geräumigen steiner-

nen Treppenhaus aufgenommen. Auch die Korri- Die Stifter mit der polierten fertigen Tafel. dore sind mit Steinfliesen versehen. Küche und Gewicht: 20 Kilogramm Alkoven im ersten Stock, die Laubengänge, der

14 grosse Versammlungsraum im zweiten Stock mit Es gab viel zu planen, und es verstrich über ein dem Kunstofen, der Pavillon im Garten, der Blick Jahr, bis das Projekt realisiert werden konnte. aus dem Fenster von Zschokkes ehemaliger Stu- Aber dann setzten alle sich ein, und es lief wie am dierstube lassen die zwei Jahrhunderte, die seither Schnürchen, wobei Max O. Schmid trotz seiner verstrichen sind, in Vergessenheit geraten. anspruchsvollen zahnärztlichen Praxis das meiste zum Gelingen beitrug. Wenn der Tag nicht reich- te, nahm er die Nacht dazu. Es musste ein Bauge- such gestellt und bewilligt werden; die Denkmal- pflege war zu begrüssen, die Polizei sollte wäh- rend der Feier die Strasse absperren und den Ver- kehr umleiten usw. Ich übernahm den Kontakt zur Presse, die erfreulicherweise bereit war, zum An- lass einige längere Artikel zu veröffentlichen. Die Tafel wurde der ehrwürdigen Glockengie- sserei Rüetschi in Auftrag gegeben und Ende No- vember letzten Jahres in Bronze gegossen. Am 22. Januar, einem kalten, sonnigen Wintermorgen, wurde sie unter dem Beifall von gegen achtzig Zuschauern enthüllt. Thomas Pfisterer als Präsi- Die Tafel unmittelbar nach der Enthüllung dent der Heinrich-Zschokke-Gesellschaft, Max O. Schmid im Namen der Stifter, Stadtammann Mar- Hier also entstanden Werke wie „Die Stunden cel Guignard, Jürg Andrea Bossardt, der Denk- der Andacht“, „Das Goldmacherdorf“ oder die malpfleger des Kantons, und ich hielten kurze An- populäre Zeitung „Der Schweizer-Bote“; hier sprachen. Dazwischen erfreuten uns die Aarauer wurden grundlegende pädagogische, politische, Turmbläser mit musikalischen Einlagen. wissenschaftliche und ökonomische Fragen disku- tiert.

Alt und Jung an der würdigen Feier Am Schluss wärmten sich alle Teilnehmer die durchfrorenen Hände und den Magen mit einem Die Aarauer Turmbläser in historischer Tracht Teller Rumfordscher Sparsuppe, die vom Restau- Die ganze Häuserzeile auf dem Rain steht un- rant Affenkasten nach einem Rezept aus dem ter Denkmalschutz, und das Haus Rain 18 wird Hungerjahr 1817 ausgezeichnet, aber etwas ver- von der Familie Brack als Eigentümer in seinem edelt angerichtet wurde. ursprünglichen Charme erhalten und von aussen Werner Ort und innen mit Liebe gepflegt. Ein Aufsatz im Heinrich-Zschokke-Brief 2 gab drei Aarauer Bürgern den Anlass, eine Gedenkta- 1 Angaben von Ernst Zschokke auf einer alten Fo- fel zu stiften. Zwei ehemalige und der jetzige tografie aus dem Atelier von F. Gysi; Privatbe- Meister vom Stuhl der von Zschokke mitbegrün- sitz Marianne Oehler-Zschokke, Aarau. deten Freimaurerloge „Zur Brudertreue“, Max O. 2 Heinrich-Zschokke-Brief Nr. 2, S. 2-5: Mit Hein- Schmid, Urs Hochstrasser und Bernhard Hüsser, rich Zschokke durch Aarau. Ein kleiner Stadt- rundgang in Wort und Bild. machten der Stadt Aarau und uns damit ein Ge- schenk. Ihnen sei Dank! 15 Vom Schreibtisch der Redaktion

Fuhlrott teil, der sich seit Jahrzehn- Heinrich-Zschokke-Gesellschaft, Am Freitag, 24. Juni 2005, um ten in Magdeburg um Zschokke besorgt. 18.00 Uhr: verdient macht und auch die Be- Jahresversammlung der nennung einer Zschokke-Strasse Heinrich-Zschokke- angeregt hat. Die Ausführung der Zschokke-Symposium Gesellschaft gediegenen Tafel übernahm die Erziehung zur Demokratie Kunstgiesserei von Hans P. H. Donnerstag und Freitag, 15. und Schuster, der am gleichen Tag für in Aarau in der Zunftstube 16. September 2005 in der Aula seine Bemühungen um die städti- zum Stadtbach der Neuen Kantonsschule Aarau sche Denkmalpflege das Bun- (Schachen 18) (Schanzenmättelistr. 32) desverdienstkreuz entgegennehmen Musikalische Begleitung: durfte. Nach der verregneten Feier Alle Interessenten sind zu die- Das "Troisemble" Marion fand im Restaurant Ratswaage ein sem Anlass herzlich eingeladen. Wagner, Ursi Felder und Vere- Bankett statt, an dem der Vertreter Bitte beachten Sie beiliegenden na Oehler spielt das Trio in B- der Heinrich-Zschokke-Gesell- Prospekt. schaft wertvolle Kontakte knüpfen Dur für Altblockflöten von Carl Teilnehmergebühr: 60 Fr. für konnte. Philipp Emanuel Bach: Alle- Vollzahlende, 30 Fr. für Studie- gretto – Andantino – Allegro. Zschokke-Symposium vom rende. Anschliessend gemeinsames 15. und 16. September 2005 ––––––––––– Abendessen im Restaurant Öffentliche Veranstaltungen am Mürset (bitte rechtzeitig in Aarau Freitag, 16.9.2005: anmelden) Schon lange bestand das Bedürfnis „Über Zschokke reden“. nach einer internationalen und in- Zschokke-Gedenktafel terdisziplinären Fachtagung zu Podiumsgespräch mit Peter von Heinrich Zschokke. Fachleute und Matt, Thomas Pfisterer, Rudolf in Magdeburg weitere interessierte Kreise sollen Künzli und Markus Kutter, Mo- Am 22. März 2004, an seinem Gelegenheit erhalten, sich kennen- deration: Lucien Criblez. Aula 233. Geburtstag, wurde in der Nä- zulernen, Referate zu hören und der Neuen Kantonsschule, 15.30 he des längst verschwundenen Ge- miteinander über Zschokke zu dis- bis 17 Uhr. burtshauses eine Gedenktafel zu kutieren. Beabsichtigt sind Impulse * Ehren Zschokkes eingeweiht. Die für die künftige Zschokke- Charlotte Corday oder die Bronzeplatte, auf einem Sandstein- Biografie und das Wecken des In- Rebellion von Calvados. sockel an der Zschokkestrasse, am teressens an Zschokke in Öffent- Eingang des Parks gegenüber der lichkeit und Wissenschaft. Ein republikanisches Trauer- Universität Magdeburg ange- An unserer Jahresversamm- spiel in vier Akten von Heinrich bracht, trägt die Inschrift: Heinrich lung beschlossen die Mitglieder, Zschokke. Szenische Lesung Zschokke / 1771 bis 1848 / Bürger das Zschokke-Symposium in Aarau mit Marianne Burg und Hansru- von Magdeburg / Volksschriftstel- stattfinden zu lassen, da von Prof. dolf Twerenbold vom Theater ler, / Pädagoge, / Schweizer Dr. Lucien Criblez, Leiter des Insti- Tuchlaube. Ratssaal des städti- Staatsmann // Gestiftet von der / tuts Wissen & Vermittlung an der schen Rathauses Aarau, 18 bis Heinrich-Zschokke-Gesellschaft / Fachhochschule Aargau Nordwest- 19 Uhr. in Aarau, Schweiz / 22. März schweiz das Angebot kam, die Ta- Beide Veranstaltungen sind gra- 2004. gung gemeinsam mit uns durchzu- tis und können ohne Voran- führen. Die Einwohnergemeinde meldung besucht werden.

der Stadt Aarau sagte uns ihre fi- nanzielle Unterstützung zu. Als Referenten konnten u.a. gewonnen werden: Prof. Dr. Tho- mas Fleiner, Universität Freiburg i. Ü.; Prof. Dr. Holger Böning, Foto: Magdeburger Volksstimme, 23.3.2004 Universität Bremen; Prof. Dr. Lu- IMPRESSUM An der Enthüllung nahmen Vertre- cien Criblez; PD Dr. Béatrice Zieg- Heinrich-Zschokke-Gesell- ter der Stadt Magdeburg (der Kul- ler und PD Dr. Alfred Messerli, schaft, Seebacherstr. 36, 8052 turbeauftragte Dr. Rüdiger Koch), beide Universität Zürich. Zürich, Tel. 044 301 47 11 der Universität (Prorektor Prof. Die Organisation des Zschokke- [email protected] Dieter Krause), die Präsidenten Symposiums wird von Dr. Anna Druck: Dietschi AG und Geschäftsleiter der Magde- Bütikofer, Fachspezialistin Bildung Mitteldorfstr. 35 burgischen Gesellschaft von 1990, am Institut Wissen & Vermittlung, 5033 Buchs der Literarischen Gesellschaft und und Dr. Werner Ort, Aktuar und des Literaturhauses und Prof. Otto wissenschaftlicher Berater der

16