Heinrich Zschokke – sein Leben und Wirken Vortrag vor der Genealogisch-Heraldischen Gesellschaft Zürich am 4.12.2007 n der Einladung zu meinem Referat steht: „Es So beginnen Zschokkes „Schweizerlands Ge- wird behauptet, der ‚Revolutionär’ Heinrich schichten“: IZschokke habe den Bundesstaat Schweiz ‚er- „Von wunderhaften Dingen, Heldenfahrten, gu- funden’. Nachforschungen in Archiven und Biblio- ten und bösen Tagen der Väter ist viel gesun- theken ergeben, dass diese Behauptung nicht von gen und gelehrt. Nun will ich die alten Sagen der Hand zu weisen ist.“ verjüngen im Gemüth alles Volks. Und ich tra- Der Text basiert auf einer Webseite der Freimau- ge sie den freien Mannen zu in Berg und Bo- rerloge „Zur Brudertreue“ in , die Zschokke den, auf daß ihre Herzen sich entzünden in vor 197 Jahren mitbegründete. Aber auch der neuer Inbrunst zum theuerwerthen Vaterlande. Schweizer Historiker Edgar Bonjour hat vor etwa So merket auf meine Rede, ihr Alten und 60 Jahren in einem privaten Gespräch geäussert, Jungen. Die Geschichte verflossener Zeiten ist dass ohne Heinrich Zschokke die moderne Schweiz ein Baum der Erkenntniß des Guten und Bösen. nicht möglich gewesen wäre. Wo der von den Eisbergen des Wallis herab- Wir werden sehen, wie dies zu verstehen ist und fallende Rhonestrom, nachdem er einen Theil ob die Behauptung bestätigt werden kann. von Frankreich durchzogen hat, ins Meer 1. Der Mythos Schweiz stürzt, erhebt sich ein geringes Gebirg. Das dehnt sich von da gegen Sonnenaufgang hin, Heinrich Zschokke ist heute bei uns relativ unbe- dreihundert Stunden Wegs lang, an Italien vor- kannt. Das scheint ein Widerspruch zur Aussage zu bei, immer höher zu den Wolken des Himmels sein, dass er viel zur Entstehung der Schweiz beige- seine tausend Hörner streckend, von Eis und tragen habe. Allerdings ist nicht jeder, der entschei- Nebeln bedeckt, bis ins Ungarland. Dort wird dende Grundlagen für eine Entwicklung gelegt hat, es gemach wieder niedrig und zu kleinen Hü- namentlich bekannt. Wir kennen den Erfinder des glen. Das ist das Gebirg der Alpen, und Helve- Buchdrucks, den Entdecker der allgemeinen Relati- tia ist das Land genannt worden, welches im vitätstheorie. Aber wer hat die moderne Schweiz er- Schoos dieses Gebirges liegt, wo dasselbe seine funden? Die schweizerische Demokratie? Das ist beschneiten Kämme, Firsten und Zinken über selbstverständlich nicht ein einzelner gewesen; die die Länder der Menschen und über die Wolken Schweiz mit ihren Institutionen ist über eine lange des Himmels am höchsten erhebt. Zeitdauer entstanden. Wir wollen hier über Zschok- Durch enge Schluchten vom Hochgebirg her- kes Beitrag dazu reden. ab, mit den Strömen, die den Gletschern ent- Wenn wir über die Entstehung der Schweiz spre- quellen, breitet sich das Land gegen Mitter- chen, so müssen wir auch über das Bild der Schweiz nacht aus in weitere Thäler, bis zu den Kalk- reden, den Mythos Schweiz. Während meiner bergen des Jura. Diese krümmen sich in Gestalt Schulzeit war dieser Mythos verbunden mit Wil- eines ungeheuern Halbmondes vom See des helm Tell und dem Rütlischwur, mit den Schlachten Leman bis zum Bodensee. Und von Schafhau- bei Morgarten, Sempach, Murten usw. Der Chronist sen bis zieht der Rheinstrom vor dem Ju- Ägidius Tschudy hat Wilhelm Tell um 1550 zu ei- ra entlang, wie der Graben vor dem Wall. Also ner historischen Figur gemacht, der Historiker Jo- hat Gott unser Vaterland mit hohen Bergen und hannes von Müller hat in seine „Geschichten tiefen Gewässern umgürtet, wie eine große Ve- Schweizerischer Eidgenossenschaft“ den Tellen- ste. Aber die Veste ist stark, so lange es dahin- mythos übernommen und hat ihn ter der Mensch ist.“ popularisiert. Zschokke hat die Historie von Wil- helm Tell ebenfalls nacherzählt, in seinem äusserst Ein Schwabe also (Friedrich Schiller) und ein populären Buch: „Des Schweizerlands Geschichten Magdeburger (Heinrich Zschokke) brachten uns für das Schweizervolk“ (1822), erstmals in Fortset- Schweizern unserer Geschichte und den Mythos zungen in seiner Zeitung „Der Schweizerbote“, spä- Schweiz nahe. Die übereinstimmende Botschaft ter mehrfach in hohen Buchauflagen erschienen. lautet: Einigkeit, Mut, Besonnenheit, Anspruchs- Zschokkes „Schweizerlands Geschichten“ wurde losigkeit, innerer Zusammenhalt und Festigkeit gratis in Schulen verteilt und in die meisten Volks- nach aussen machen die Stärke eines Volks aus. – bibliotheken aufgenommen. Sie beeinflussten das Schiller und Zschokke haben mit diesem Mythos Bild des Schweizers und der Schweizerin von unse- aus der fernen Schweizer Vergangenheit einen rem Land bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts Spiegel geschaffen, ein Gegenbild zur Gegenwart, nachhaltig. die von Luxus, Streitereien und Feigheit geprägt war, namentlich in Deutschland und in den dortigen ausgegossen, groß und majestätisch, mit ihren Fürstentümern. himmeltragenden Gebirgen. Schimmerndes Sil- Während Schiller vor allem an eine deutsche Le- ber glänzte von der Alpen Haupt; Wolken tän- serschaft dachte, wandte Zschokke sich explizit an delten um ihre dunkeln Scheitel. Rechts vom Schweizer Leser, Elsas bis links ins Land der Tyroler schlang „damit in jeder Hütte die höchste Liebe zum Va- sich die ungeheure Schnur der Felsenthürme terlande wieder mehr erwache, und jeder Genos- herum am Himmel; in der Tiefe unten blizten se der freien Schweizerfamilie für künftige Tage die Wellen des Bodensees. der Gefahr und Noth zu neuen heldenmüthigen Mein Odem stokte bei dieser großen Erschei- Thaten sich gestärkt fühle, auch einsehen lerne nung; ein leiser Schauer umflog mich. Der sü- aus den Begebenheiten der Vergangenheit, was ßeste Traum meiner Jugend gränzte nahe an die dem Vaterlande nützlich und ehrenvoll, und was noch schönere Erfüllung – der sehnsuchtsvolle ihm verderblich wurde, und daß nur die Tugen- Wunsch meiner Jünglingsjahre ward erhört. den guter Bürger ihm heilsam werden können“.1 Wenn ein Weltumsegler nach langem Harren und Hoffen, nach langem Umherschweben Obwohl auch Zschokke in den Lobgesang auf die durch die ewige Einöde des Oceans, das Eiland, alten Zeiten einstimmte, hob er zugleich die Wich- nach welchem er so lange umsonst gen Ost und tigkeit des Bürgertums hervor und setzte die moder- West suchte, freundlich aus Nebeln und Wellen nen Schweizer Bürger in die legitimen Nachfolge endlich hervorsteigen sieht, kann er unmöglich der alten Helden ein. Damit unterschied sich sein so berauscht seyn von der Freude, als ich hier Ansatz wesentlich von dem Johannes von Müllers, war auf den Höhen von Tuttlingen.“3 der eine Neigung für aristokratische Verhältnisse hatte. Die Ernüchterung auf seiner Schweizer Reise war Es ist übrigens interessant und zeigt eindrück- gross: statt Freiheit eines zivilisierten Volks fand lich, wie Zschokke in Vergessenheit geraten ist, er Ungleichheit zwischen Stadt und Land, Armut, dass Jean-François Bergier in seinem Standardwerk Rückständigkeit, Rohheit der Sitten und Despotie „Wilhelm Tell. Realität und Mythos“ (1988) einer Priesterkaste, die ihre Schutzbefohlenen in Zschokke mit keinem Wort erwähnt, obwohl dessen geistiger Abhängigkeit hielten. Darstellung bis zum Bundesstaat von 1848 und dar- „In den Hauptstädten wohnen Herrn; auf dem über hinaus die sicherlich verbreitetste und meistge- Lande aber Heloten. … Im Allgemeinen hatte lesene Schweizergeschichte war. ich schon ein freieres Volk in den preußischen 2. Zschokke kommt nach Zürich Staaten gesehen, denn hier, in der Schweiz, wo die große Mehrheit der Gesamtbevölkerung in Der Mythos Schweiz war auch für Zschokke per- erblicher Dienstbarkeit von reichsstädtischen sönlich von Gewicht. Er fand darin die Gegenwelt Patriziaten und Zunftherrn eines Hauptstädt- zum absolutistisch-militaristischen Preussen, wo der chens, lebte; oder in trauriger Geistesknecht- Untertanengeist zu oberst stand, nach dem Motto: schaft eines gebietrischen Priesterthums.“4 „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht.“2 Die Schweiz war für Zschokke bereits als Kind ein Ort der Sehn- Vor allem die politischen Verhältnisse im schein- sucht, der landschaftlichen Idylle, der Naturschön- bar so aufgeklärten und fortschrittlichen Kanton heit, geprägt durch Berge, Wasserfälle und Seen, Zürich enttäuschten ihn: eine Felsenburg der Freiheit. Diese Vorstellung war „Die Bevölkerung des ganzen Kantons diente geprägt von Abbildungen einer pastoralen Schweiz zur Bereicherung von etwa 1500 städtischen und genährt durch das Alpengedicht Albrecht von Haushaltungen. Sogar Handel mit selbstverfer- Hallers, das bei seinem Erscheinen einen wahren tigten Baumwollen- und Seidenfabrikaten, war Sog nach dem Alpenland Schweiz auslöste. dem Landmann verboten. Er mußte die rohen Zschokke schilderte seinen Eindruck und seine Stoffe in der Stadt kaufen; das Gewebe in der Gefühle, als er auf seiner Reise durch Deutschland Stadt färben lassen und seine Waare wieder an erstmals in die Nähe der Schweizer Grenze kam, so: Stadtbürger verkaufen, die damit allein Handel 5 „Überraschend entwikkelte sich mit einemmale führten.“ die reizendste, prachtvollste, mannigfaltigste So hart und präzise urteilte Zschokke erst später, Landschaft vor unsern Augen in ferner Tiefe. Die 1842, als er seine Autobiografie „Eines Selbst- Schweiz lag da! am Raum des Horizontes lag sie schau“ veröffentlichte. Diese Selbstdarstellung ist eine packend erzählte Schweizer Geschichte von der Helvetik bis 1841 und diente auch der eigenen 1 Aus der Einleitung des Verlegers zur 1. Aufl. von 1822, abgedruckt auch im Schweizerboten Nr. 41, 10.10.1822, Nachläufer. 3 Meine Wallfahrt nach Paris, Zürich 1796, S. 395 f. 2 Proklamation an die Untertanen vom 14. Oktober 1806 4 Zschokke, Eine Selbstschau, S. 59-61. nach der Schlacht von Jena. 5 Zschokke, Eine Selbstschau, S. 64. 2 Legendenbildung. Fast 46 Jahre vorher, im Herbst Zschokke las in dieser Runde aus dem Manuskript 1795, war das Schweizerbild Zschokkes noch kei- seiner „Salomonischen Nächte“ vor, eines Ro- neswegs so kritisch. mans, der die Lehren Immanuel Kants in unterhal- Angenehm überrascht war er vor allen Dingen tender Form vermittelte und existenzielle Fragen von der Stadt Zürich und beglückt, wie herzlich er daran anschloss. Zschokke erwarb sich unter den willkommen geheissen wurde und wie schnell er in Zürchern den Ruf, „ein wahres philosophisches Gelehrtenkreisen Aufnahme fand. Genie“ zu sein.7 „Als ich im Jahr 1795 von meiner ersten Durch- 3. Zschokke in der Helvetik wanderung der Schweiz, noch trunken von dem In der Einladung zu meinem Referat ist von wunderreichen Schauspiel der Gebirgswelt und Zschokke als einem „Revolutionär“ die Rede; der Seelandschaften, das erste Mal in das allbe- Zschokke war nie ein Revolutionär, selbst wenn er rühmte Zürich kam, ging ich, möcht ich sagen, auf seine Gegner so wirkte. Er war durch und mit einem Schauern frommer Ehrfurcht durch die durch ein Liberaler, ein gemässigter Reformer, Straßen. Ich kannte die Stadt nur als die Heimath auch wenn er der Meinung vertrat, dass diese Re- so vieler unsterblichen Männer und großen Ge- formen von oben erfolgen und vorangetrieben lehrten voriger Jahrhunderte und heutiger Zeiten. werden mussten, wenn die Zeit dafür reif war. Nun schienen sie mir noch alle zu leben; jedes Der konservative Berner Staatsphilosoph Carl Haus schien die Herberge eines Weisen zu seyn, Ludwig von Haller, sein ideologischer Erzfeind, und die Menge der Handwerker, Künstler, Krä- Vater des Begriffs „Restauration“, bezeichnete mer und Kaufleute nur für das Bedürfniß derer Zschokke allerdings, in Anspielung auf seine Tä- versammelt, welche hieher zu den Unsterblichen, tigkeit in der Helvetik und seine Herkunft, als Ja- wie fromme Christen zu einem Gnadenort wall- kobiner, als ein „Preusse, der von Land zu Land fahrteten. … Der als Schriftsteller bekannte Le- läuft, wo er nur Revolutionen sehen oder beför- onhard Meister, ein geistreicher und gefälliger dern kann“.8 Mann, führte mich eines Tages in eine Abendge- In der Helvetik spielte Zschokke eine wichtige sellschaft ein, wo ich unter mehrern Gelehrten Rolle: Anfang November 1798 wurde er von Phi- Zürichs auch Heinrich Pestalozzi finden würde. lipp Albert Stapfer, dem Minister der Künste und Diese Gesellschaft versammelte sich wöchentlich Wissenschaften, zum Chef des Bureaus für Natio- ein Mal bei dem Greisen Dr. Hirzel, dem Verfas- nalkultur (bureau de l’esprit publique) gemacht, ser des philosophischen Bauers. mit der Aufgabe, die Bevölkerung für die helveti- Ich trat schüchtern zu ihm in das Heiligthum. sche Einheitsrepublik einzunehmen. Es war ein großes Zimmer, von den brennenden Das war nicht einfach, denn die helvetische Kerzen des Theetisches nur matt beleuchtet; von Republik, obwohl von fortschrittlichen Schwei- Bücherschränken die Wände bedeckt; alles Ge- zern begrüsst, entsprach gar nicht den föderalisti- räth schwer und alterthümlich, aber reich und schen Gepflogenheiten der Schweiz. Die Bauern glänzend erhalten. Seitwärts aus dem Dunkeln hatte man teilweise für sich gewonnen, indem die erhob sich auf einem Gesell die schwärzliche Bü- Abgaben und Zehnten aufgehoben wurden, aber ste Steinbrüchels in Bronze, dessen Name noch damit hatte man dem jungen Staat finanziell das heut den Philologen werth ist. Ich fand hier meh- Genick gebrochen und den Pfarrern, auf deren rere angesehene Gelehrte Zürichs versammelt. Unterstützung man angewiesen war, ihre materiel- Ihre Gespräche, ihre Scherze selbst wurden mir le Grundlage entzogen. Trotz aller schönen Reden lehrreich. Diese Theegesellschaft mahnte mich an von Gleichheit und Freiheit trug die helvetische sokratische Gastmahle. Auch Pestalozzi erschien Republik den Makel, durch das Eingreifen der und ich ward ihm vorgestellt. Er sagte mir nur französischen Armee entstanden zu sein und sich wenige Worte; eilte von einem der Anwesenden nur dank ihrer Besetzung halten zu können. zum andern; blieb unstätt und flüchtig, bis man Zschokke packte seine Sache als Propaganda- sich anschickte, die Vorlesung von der Arbeit ei- chef der helvetischen Republik von verschiedenen nes der Gäste zu hören. Da verschwand er. Der- Seiten her an: Er gründete drei Zeitungen: eine gleichen Vorlesungen wurden regelmäßig und gemässigte, welche die Beschlüsse der Regierung abwechselnd von den Mitgliedern dieses freund- und die Beratungen des Parlaments wiedergeben schaftlichen Kreises gehalten. Ich erinnere mich, sollte, eine gehobene, die sich grundsätzlich mit hier auch unter andern zuerst Bruchstücke aus der helvetischen Revolution befasste und Refor- der Lebensgeschichte Salomon Geßners gehört zu haben, welche der Professor Joh. Jak. Hottin- 7 ger damals bearbeitet hatte und vortrug.“6 Brief von Hans Jakob Hirzel an Johann Baptista von Tscharner, Zürich, 1.10.1796, StA GR, D V/144.339. 8 Carl Ludwig von Haller: Geschichte der Wirkungen und Folgen des Österreichischen Feldzugs in der 6 Aus Prometheus 1, Aarau 1832, S. 245 f. Schweiz, Teil 1, S. 319. 3 men im Bildungswesen und in anderen Bereichen populistisch und undifferenziert vor; dem Direkto- diskutierte. Die dritte Zeitung richtete sich an die rium zu respektlos und kritisch. Nach einem hal- einfache Bevölkerung und war ein geniales Instru- ben Jahr wurde Zschokke als Propagandachef ent- ment der Agitation für die neue Ordnung. Sie trug lassen und als Kriegskommissär in den kriegsver- den Titel „Der aufrichtige und wohlerfahrne sehrten Bezirk Stans geschickt. Schweizerbote, welcher nach seiner Art einfältiglich Kaum in Stans angekommen, trat Zschokke ins erzählt, was sich im lieben Vaterlande zugetragen, nächste Fettnäpfchen: Er schloss das Waisenhaus, und was ausserdem die klugen Leute und die Narren das Johann Heinrich Pestalozzi seit einem halben in der Welt thun“. Jahr führte. Die Regierung in wurde vor Zschokke versteckte seine propagandistische vollendete Tatsachen gestellt. Zschokke redete Überzeugungsarbeit hinter der Figur eines etwas sich damit heraus, dass er das Gebäude der fran- einfältigen, aber schlagfertigen und unerschrocke- zösischen Armee als Lazarett überlassen musste. nen Landboten, der durch die Dörfer zog, seine Wa- Aber es war kein Geheimnis, dass er nicht viel re ablieferte und dabei mit den Leuten plauderte. von Waisenhäusern hielt und, wenigstens damals, Seine anschauliche, einfache, plakative Sprache, die auch nicht viel von Pestalozzi. Tatsache, dass er den Leser duzte und ihm von Es ist sehr die Frage, ob das Waisenhaus unter gleich zu gleich begegnete, erlaubte es dem Leser, Pestalozzis Leitung noch lange weiterbestanden sich mit dem „Schweizerboten“ zu identifizieren, hätte, wenn Zschokke nicht aufgetaucht wäre. Pe- zumal er scheinbar Unabhängigkeit von der Regie- stalozzi hatte ohne Plan gearbeitet, rastlos, prak- rung wahrte, die Stimmung im Volk zum Ausdruck tisch ohne Mitarbeiter, und sich gesundheitlich brachte und kein Blatt vor den Mund nahm, wenn dabei ruiniert. Von der Stanser Bevölkerung wur- ihm etwas nicht passte. de er seines Auftretens und seiner nachlässigen Diese Zeitung, die wöchentlich zu acht Seiten, in Kleidung wegen „für einen gutmüthigen Halbnar- einem handlichen Format auf dickem Papier und in ren, oder armen Teufel“ angesehen, wie Zschokke grosser Schrift herauskam, war neu für Schweiz und einem Freund schrieb.9 hatte sofort Erfolg. Die Auflage betrug schon nach Erschwerend für die Akzeptanz des Waisen- kurzer Zeit 3000 Exemplare. Hier hatte Zschokke hauses war, dass in der katholischen Innerschweiz ein Tätigkeitsfeld gefunden, in dem ihm so schnell das Gerücht umlief, die helvetische Regierung keiner gewachsen war: als Volksaufklärer und Po- wolle die Religion abschaffen. Pestalozzi, aus pularisierer von Ideen, als humorvoller Plauderer dem reformierten Zürich, tat nicht viel, um diesen mit einem bilderreichen Wortschatz. Ich zitiere den Argwohn zu entkräften. Anfang aus der ersten Nummer des Schweizerboten Von den 80 Kindern, die sich im Waisenhaus vom November 1798, der den volkstümlich-witzi- befanden, wurden sechzig von Verwandten aufge- gen Ton erkennen lässt: nommen und die restlichen zwanzig weiterhin von „Was bringst du Neues, Schweizer-Bote? der Regierung betreut, was ein Hinweis darauf ist, Mit Erlaubniß, man fällt einander nicht mit der dass sich vielleicht nicht alle Kinder freiwillig im Thür ins Haus. – Zuvörderst reich ich euch die Waisenhaus aufgehalten hatten. Hand zum freundschaftlichen Grusse, liebe Pestalozzi, nachdem er sich im Gurnigelbad Landsleute, und meld euch, daß ich selbst das Al- erholt hatte, erhielt die Gelegenheit, seine Schul- lerneuste bin, was ich mitbringe. experimente fernab vom Kriegsgeschehen in Gelt, da schaut ihr mich an, und mögtet mir Münchenbuchsee und Burgdorf fortzusetzen. Für gerne ins Auge sehen, und fragen: was bist du für Zschokke war die Schliessung des Waisenhauses einer? – Bist du ein Oligarch? Nein ich bin kein nur eine kleine Episode, die ihm aber übel ange- ausgedrückter Schwamm, den da dürstet. – Bist kreidet wurde, weit über seinen Tod hinaus, ja in du ein Patriot nach der Mode? Nein, denn ich der Pestalozziliteratur teilweise bis heute. weiß, daß meine leeren Taschen nicht das Vater- Davon abgesehen bewährte sich Zschokke als land sind. – Bist du ein Aristokrat? behüte mich Kriegskommissär, zunächst im Bezirk Stans, dann Gott, die Todten sollen erst am jüngsten Tage im Kanton Waldstätten, darauf im Tessin, und auferstehn. – Bist du ein Freund der alten Ord- schliesslich, für mehr als ein Jahr, als Regierungs- nung? Nein, ich liebe keine verrostete Flinte, die, statthalter in Basel, wo er der höchste Vertreter wenn man schiessen will, nicht los geht. – Bist der helvetischen Regierung war. Überall, wo er du Liebhaber der neuen Ordnung? Neue Schuhe aufkreuzte, verschaffte er sich schnell einen Über- drücken zwar anfangs, doch sind sie besser, als blick, stellte Ruhe und Ordnung her, reorganisier- die Zerrissenen; und das Gute ist besser, als das te Behörden, verbesserte die Kommunikation, Neue; drum lieb ich die gute Ordnung.“ vermittelte zwischen den Parteien, nahm Klagen Das helvetische Direktorium und der Minister der Künste und Wissenschaften waren nicht erfreut über 9 Brief an J. P. Nesemann, Stans, 21.5.1799, zitiert diese Vorstellung. Dem Minister Stapfer kam sie zu nach der Selbstschau, S. 127 f. 4 und Beschwerden entgegen und sorgte für Abhilfe, Es ist nun an der Zeit, etwas über Zschokkes schlug Reformen vor – vorzüglich im Polizei- und Herkunft und seinen Werdegang zu sagen, bevor Schulwesen – und zeigte sich als Menschenfreund, wir auf seine weiteren Leistungen für die Schweiz besonders, als er einen „Aufruf zum Erbarmen für zu sprechen kommen. die leidende Menschheit im Kanton Waldstätten“ 4. Zschokkes Namen und Werdegang erliess und erfolgreich Mittel zur Unterstützung der Innerschweiz sammelte. Johann Heinrich Daniel Zschokke wurde am 22. Die Menschen konnten sich glücklich schätzen, März 1771 in geboren, als jüngstes einen solch tatkräftigen, engagierten und besonne- von 11 Kindern des Tuchmachers Johann Gott- nen Beamten erhalten zu haben. Seine Umtriebig- fried Schocke. Die Mutter starb, als er ein Jahr alt keit und unzureichende Kenntnis der lokalen Bräu- war, der Vater, als er acht Jahre zählte. Der Vater che führten dazu, dass er weiterhin hie und da in war als junger Mann von Oschatz (in der Nähe Fettnäpfchen trat. So liess er in Basel den Lällekö- von Leipzig) nach Magdeburg gekommen, hier nig abmontieren, der an der Mittleren Brücke den 1746 ins Bürgerrecht aufgenommen worden und Kleinbaslern die Zunge herausstreckte, und verbot hatte im gleichen Jahr die Tochter eines ansässi- das Schlittenfahren auf steilen Strassen und die Fas- gen Tuchmachers geheiratet. Er kam selber aus nachtsumzüge, die ihm zu gefährlich schienen. Die einer Tuchmacherdynastie: Vater und Grossvater Basler, obwohl auch sie sicherlich nicht unter hatten in Oschatz diesen Beruf ausgeübt. Zschokke zu leiden hatten, waren froh, als er im In Magdeburg erlosch der Name Zschokke November 1801 seinen Dienst quittierte und in die 1812 mit Heinrichs einzigem Bruder Johann An- Hauptstadt Bern verreiste. dreas, dessen Söhne entweder früh starben oder Dort verbrachte Zschokke einen Winter, der, von ausgewandert waren und ledig blieben. seiner Biografie her gesehen, harmlos, aber mit ei- In Oschatz blühte die Familie weiter, wurde ner Begegnung verbunden war, die ihm auch unter aber anders geschrieben: Tzschucke, Tzschocke, den Germanisten, von denen er sonst ignoriert wird, Zschocke, Zschucke, Zschuck oder Zschock. Von Nachruhm verschaffte. Der junge Dichter Heinrich dieser Seite her, über Heinrich Zschokkes Gross- von Kleist, von Paris her kommend, suchte Zschok- vater oder Urgrossvater, ist der Name erhalten ge- ke in Basel, und als er erfuhr, es sei weg, reiste er blieben. Auch heute noch findet man in Deutsch- ihm nach Bern nach. Zschokke hatte sich von der land Verwandte Heinrich Zschokkes aus Oschatz, Öffentlichkeit zurückgezogen, um die Memoiren die sich aber Zschocke, Zschucke, Tschucke, der vergangenen Jahre zu schreiben, die „Histori- Tschocke oder Tzschucke schreiben. schen Denkwürdigkeiten der helvetischen Staats- Zschokkes Vater wurde 1722 in Oschatz auf umwälzung“ in drei Bänden.10 den Namen Johann Gottfried Tzschocke getauft. Kleist schloss sich Zschokkes kleinem Dichter- Er liess in Magdeburg die beiden ersten Buchsta- zirkel an. Nach einem französischen Kupferstich in ben weg und nannte sich Schocke, vermutlich, Zschokkes Zimmer entstand die Idee zur Komödie weil sich dies einfacher schreiben liess. In den „Der zerbrochene Krug“. Auslöser war ein Wett- Kirchenbüchern und Bücherrollen Magdeburgs streit zwischen Zschokke, Ludwig Wieland (einem finden sich im 18. Jahrhundert deshalb die Namen Sohn des Dichters Christoph Martin Wieland) und Schocke und Schock. Kleist; Zschokke beteiligte sich mit einer Erzäh- Heinrich Zschokke machte die Germanisierung lung, Kleist mit seinem Lustspiel, das, wie Zschok- des slavischen Namens wieder rückgängig, indem ke zugab, den ersten Preis davontrug.11 er ein Z an den Anfang fügte. Ausserdem beharrte Es mag erstaunen, dass Kleist Zschokkes er darauf, „kk“ statt „ck“ zu verwenden. Schon als Freundschaft suchte sich an ihn klammerte und ihn Jüngling schrieb er sich Zschokke und behielt die- bewunderte. Er war 24 Jahre alt und machte mit der se Schreibweise ein Leben lang bei. „Familie Schroffenstein“ gerade seine ersten drama- Dazu gibt es eine Anekdote. Ein Magdeburger tischen Gehversuche; Zschokke, sechs Jahre älter, Bürgermeister, der die Examen am Altstadtgym- war bereits ein erfahrener Politiker und gefeierter nasium betreute, bemerkte die Namensänderung Dichter. Sein Drama „Abällino der grosse Bandit“ und meinte zu Zschokke: „Warum hat Er denn vor gehörte zum Repertoire des deutschen Theaters, und Seinen Namen noch ein Z gesetzt? Sein Vater war sogar Goethe, der es in Weimar aufgeführt hatte, ein ehrlicher Mann und schrieb sich Schocke; wenn die Erbschaft aus Lissabon kommt, soll Er musste zugestehen, dass es den Theaterstücken von 13 Schiller vom Publikum „ziemlich gleichgestellt“ nichts abhaben!“ wurde.12 Diese ungewöhnliche Schreibweise hat auch ihr Gutes: Man kann davon ausgehen, dass alle Zschokkes mit ZS und zwei K in der Schweiz von 10 Winterthur 1803-1805. 11 Zschokke, Eine Selbstschau, S. 205. 13 Brief von Andreas Gottfried Behrendsen an Zschok- 12 Goethe, Tag- und Jahreshefte 1795. ke, Magdeburg, 7.4.1841. 5 Heinrich Zschokke abstammen. Er selber hatte sprechenden Anfänge ab und wagte in der zwölf Söhne, die ihm 26 männliche Enkel schenk- Schweiz einen Neubeginn. Hier wollte er etwas ten, so dass dieser Name in der Schweiz noch rela- Neues verwirklichen, sein Leben neu gestalten; tiv häufig ist (im elektronischen Telefonbuch findet hier, meinte er, werde er gebraucht und habe mit man derzeit 32 Eintragungen). seiner Einsatzbereitschaft und den vielen Talenten Weil an dieser Stelle oft die Frage nach der Bau- mehr Aufstiegschancen als zu Hause. firma Zschokke kommt, die seit letztem Jahr Imple- 5. Neubeginn im nia heisst: Auch sie wurde von einem Nachfahren Zschokkes gegründet, und zwar von Conradin Wir haben Zschokkes Tätigkeit als Beamter der Zschokke, dem ältesten Sohn von Alexander, von Helvetik kurz gestreift. Schon im November 1801 dem das Porträt auf unserem Titelblatt stammt. war seine politische Karriere zu Ende. Die helve- Kommen wir auf Zschokkes Werdegang zurück. tische Revolution ging nach einigen Staatsstrei- Im März 1790 schrieb er sich an der Universität chen kläglich unter. Die meisten Kantone restau- Frankfurt (Oder) als Theologiestudent ein. Zwei rierten 1803 ihre früheren Zustände, installierten Jahre später machte er sein Examen als Doktor der die alten Regimes und führten die Pressezensur Philosophie und Magister der schönen Künste. We- wieder ein. Nur in den neuen Kantonen, die in der nige Tage darauf liess er sich in Theologie prüfen Helvetik und durch das Machtwort und erhielt die licentia concionandi, die Erlaubnis, entstanden waren (Waadt, Aargau, Thurgau, St. in Preussen zu predigen. Er bewarb sich sogleich Gallen und Tessin) blieb noch etwas vom fort- um eine Pfarrstelle in Magdeburg, wurde aber nicht schrittlichen Geist der Helvetik bestehen. Der akzeptiert. Drei Jahre wirkte er darauf als Privatdo- Aargau übernahm bereitwillig Regierungsmitglie- zent an der Universität weiter. Weil dies eine unbe- der und Beamte der Helvetik, die ihm beim Auf- zahlte Stelle war, hielt er sich als Schriftsteller über bau des jungen Kantons halfen. Wasser, schrieb Romane und Dramen und gab zwei Auch Zschokke fand Unterschlupf im Aargau, eigene Zeitschriften heraus. musste sich aber wieder neu orientieren und wur- Zschokke war sehr produktiv, veröffentlichte je- de Oberforst- und Bergrat. Er war verantwortlich des Jahr vier bis fünf Bücher und orientierte sich für die Staatswälder und Bergwerke und die Aus- ganz am Geschmack des grosstädtischen Publi- bildung der Förster, verfasste ein Forstgesetz und kums. Dieses liebte Räuber- und Schauerromane, Lehrbücher, liess die Wälder kartographieren, re- Geheimbund- und utopische Romane. Zschokke be- gelte komplizierte Eigentums- und Nutzungsver- diente diese Bedürfnisse und schrieb für den verfei- hältnisse, förderte Aufforstungen und teilte die nerten Geschmack sogar einen erotischen Roman. Wälder in Schläge ein, um ihr Holz nachhaltig Alle diese belletristischen Werke erschienen an- und effizient nutzen zu können. onym. Wir können uns heute kaum mehr vorstellen, In seinen beiden Zeitschriften veröffentlichte wie wichtig Holz als Baustoff und Energieliefe- Zschokke schöngeistige, philosophische und politi- rant damals war. Zudem waren die Erträge aus sche Aufsätze, zeigte sich dabei als Anhänger der dem Holzverkauf eine der stärksten Einkommens- französischen Revolution und prangerte Despotis- quellen für den Aargau, der noch ohne Einkom- mus und Herrscherwillkür an. mens- und Vermögenssteuern auskommen musste Preussen erlebte damals unter Kulturminister und seine Ausgaben hauptsächlich aus den Ein- Wöllner eine Säuberungswelle an den Universitäten nahmen seiner Regalien und Domänen bestritt. und Gymnasien, welche die fortschrittlichen Lehrer Unter Zschokkes Leitung stiegen die Gewinne aus ausmerzen wollte. Mit seiner liberalen Einstellung den Staatswäldern Jahr für Jahr. verscherzte sich Zschokke die akademische Karrie- Im Herbst 1810 gründete Zschokke in Aarau re, und so gab er die Stelle auf, als sein Gesuch um die Freimaurerloge „Zur Brudertreue“, hauptsäch- eine Professor abgelehnt wurde. Er emigrierte, wie lich in der Absicht, eine Plattform zu schaffen, aus mancher Landsmann, der in seiner Heimat keine der gemeinnützige und wissenschaftliche Organi- Chance mehr sah, sich zu verwirklichen oder auf ei- sationen herausgehen könnten. Bereits ein halbes nen grünen Zweig zu kommen. Jahr später wurde die „Gesellschaft für vaterländi- sche Kultur im Kanton Aargau“ aus der Taufe ge- Damals war die Schweiz für viele Intellektuelle hoben, die bald eine ganze Palette von Tätigkeiten das gelobtes Land, da man bei uns, aus Mangel an entfaltete und in verschiedenen Abteilungen oder ausgebildeten Akademikern, auch Männer aufnahm, Klassen Fragen der Landwirtschaft, Staatswissen- die zu Hause politisch verfemt waren oder andere schaft, Naturforschung, Technik, Wirtschaft, Ge- Schwierigkeiten hatten. schichte, Pädagogik, Sprachforschung usw. disku- Drei Berufsziele nahm Zschokke ins Visier, als tierte. Das war in der Schweiz keine Novität, son- er noch in Preussen lebte: Pfarrer, Professor und dern ein Nachvollzug dessen, was es in anderen Dichter. In allen dreien hätte er zu viele Konzessio- Kantonen bereits gab und was der Aargau von nen erbringen müssen, also brach er seine vielver- Staats wegen nicht zu leisten vermochte. 6 Auch die 1812 entstandene Ersparniskasse in Lange Zeit war im Buchhandel nichts mehr Aarau und die 1835 gegründete Taubstummenan- von Heinrich Zschokke erhältlich. Nun gerät ein stalt orientierten sich nach Zürcher Vorbildern. An Dichter leicht in Vergessenheit, wenn von ihm all diesen Aktivitäten war Zschokke an vorderster nichts mehr greifbar ist, ob berechtigt oder nicht. Front mitbeteiligt. – Wenn Sie mehr über Zschok- Bei Zschokke, der sehr gut und humorvoll erzählt, kes Verdienste beim Aufbau des Kantons Aargau ist die Absenz auf dem Buchmarkt sicher nicht be- wissen möchten, so bitte ich Sie, dies in meinem rechtigt. Ich bitte Sie, sich dieses Buch anzuschaf- Buch „Der modernen Schweiz entgegen. Heinrich fen, falls Sie sich ein Urteil über Zschokkes erzäh- Zschokke prägt den Aargau“ nachzulesen, das 2003 lerische Qualitäten bilden wollen. in Baden erschienen ist. Von unseren Grosseltern wurden Zschokkes Hier geht es darum zu verstehen, was Zschokke Novellen und Dichtungen und seine Romane zur für den Aufbau der modernen Schweiz und die Ent- Schweizer Geschichte „Addrich im Moos“ und stehung des Bundesstaates von 1848 geleistet hat. „Der Freihof von Aarau“ gern gelesen, ebenso Bei all seiner Vielseitigkeit und Rührigkeit als sein religiöses Hauptwerk „Die Stunden der An- Politiker, Dichter, Historiker, Forstmann – die Liste dacht“, das im 19. Jh. in fast keinem religiösen liesse sich noch um einiges fortsetzen – lag sein Haushalt fehlte. Hauptverdienst im publizistischen und pädagogi- Man kann sich den immensen Erfolg der schen Bereich, bei seinen Zeitungen, Zeitschriften „Stunden der Andacht“ heute kaum mehr vorstel- und politischen Aufsätzen. len. Trotz ihres Umfangs von ursprünglich mehr 6. Zschokkes Zeitschriften als 6600 Seiten erschienen sie ungekürzt in 34 Auflagen und über 180'000 Exemplaren. Die ka- Im Aargau gab es bis 1824 kein Zensurgesetz. Es tholische Kirche fühlte sich von diesem Werk be- herrschten unklare Verhältnisse, was gedruckt wer- droht und setzte es auf den Index der verbotenen den durfte und was nicht. Eine Vorzensur existierte Bücher; die orthodoxiekritischen Kreise stellten es nicht; beanstandet wurde ein Artikel, wenn eine Be- im Büchergestell gleich neben die Bibel. schwerde dagegen einlief. Zudem herrschte Gewer- Es war ein taktisches Meisterwerk Sauerlän- befreiheit. ders, wie es ihm gelang, die Nachdrucker von den Das waren ideale Umstände für den jungen „Stunden der Andacht“ fernzuhalten. Wenn ein Frankfurter Buchdrucker Heinrich Remigius Sauer- Raubdruck erschien, unterbot er einfach den Preis. länder (1776–1847), der zusammen mit seinem Bas- Er band die Buchhandlungen durch gezielte Wer- ler Kompagnon Samuel Flick 1803 in Aarau eine bung, Appelle und Rabatte an sich und kämpfte Filiale eröffnete, 1806 dorthin übersiedelte und vehement für ein Copyright seiner Verlagswerke. 1807, vor genau 200 Jahren, seinen eigenen Verlag „Die Stunden der Andacht“ atmen wie alle an- gründete. Von Anfang an war Zschokke Sauerlän- deren Werke Zschokkes auch den Geist der Frei- ders Hauptautor. Sauerländer schuf einen der bedeu- heit, Toleranz und Aufklärung. Sie waren zuerst tendsten Verlage der Schweiz im Bereich Sprach- während acht Jahren als Wochenblatt bei Sauer- lehrbücher, populäre Sachliteratur, Volksschriften länder herausgekommen (1809-1816). und Periodika. Sauerländers einflussreichstes Presseorgan war Sauerländer hätte ohne Zschokkes publizistische die „Aarauer Zeitung“ (1814-1821) die vom Zür- Produktivität nie diese Bedeutung erlangt, während cher Journalisten Paul Usteri redigiert wurde. Sie umgekehrt Zschokke sehr von Sauerländers Innova- hat also mit Zschokke unmittelbar nichts zu tun. tionskraft und Geschäftstüchtigkeit profitierte, die Sie machte Aarau zu einem Zentrum des fort- ihm über eine Viertelmillion Schweizer Franken an schrittlichen Geistes und wurde von konservativen Honorar einbrachte. Zeitweise gab Zschokke bei Schweizer Regierungen und europäischen Fürsten Sauerländer vier Zeitschriften gleichzeitig heraus, richtiggehend gefürchtet. Es hagelte Beschwerden mit denen er die Presselandschaft in der Schweiz dagegen, und mit allen diplomatischen Mitteln völlig neu gestaltete. versuchte man, Sauerländer zu zwingen, die „Aa- Mit seiner Zeitschrift „Erheiterungen“ redigierte rauer Zeitung“ einzustellen, was im Juni 1821 ge- er 18 Jahre lang eine literarische Monatsschrift, in lang. Das ist insofern interessant, weil Paul Usteri der er auch die meisten seiner eigenen Erzählungen danach die Redaktion der „Zürcher Zeitung“ über- und Romane veröffentlichte, von denen viele heute nahm und sie zur führenden Schweizer Zeitung noch mit Genuss zu lesen sind. Einige der schönsten machte. Nicht die politisch belanglose „Zürcher hat Holger Böning neu herausgegeben, in einem Zeitung“, wie immer behauptet wird, sondern die Buch mit dem Titel „Weiß wie der Teufel!“, das 14 „Aarauer Zeitung“ war also die ideelle Vorgänge- eben erschienen ist. rin der NZZ. Zschokkes Zeitschrift mit der grössten interna- 14 Weiß wie der Teufel! Erzählungen von Heinrich tionalen Wirkung waren die „Überlieferungen zur Zschokke, hrsg. von Holger Böning, Bremen: edition lu- Geschichte unserer Zeit“ (1817-1823), die im re- mière 2. Aufl. 2008. 7 pressiven Deutschland der Metternichschen Ära und informierte, zunächst noch gegen den Widerstand der Karlsbader Beschlüsse von 1819 einzigartig wa- der Regierungen, in wöchentlichen Abständen ren, wie ein Leuchtturm aufragten und uner- über wichtige Ereignisse des Landes, ein Publi- schrocken liberales Gedankengut verbreiteten. Die kum, das sonst nicht durch Zeitungen, sondern Schweiz und der Aargau waren leider politisch zu staatliche Autoritäten oder am Sonntag vom Pfar- schwach, um dem vereinten Druck der Heiligen Al- rer instruiert wurde oder sich durch zufällige In- lianz und der patrizischen Kantone zu widerstehen. formationsfetzen und aus der Gerüchteküche eini- Es war ein Schmach für die Schweiz und ein Stoss germassen auf dem laufenden hielt. für ihre Souveränität, als die Tagsatzung im Juni Es gibt Belege dafür, dass der „Schweizerbote“ 1823 ein Presse- und Fremdenkonklusum beschloss, in Wirtshäusern auflag, von Gästen vorgelesen dem sich auch der Aargau fügen musste. und diskutiert wurde. Durch seine Aufmachung, Zschokke gab seine „Überlieferungen zur Ge- seinen günstigen Preis und weil er von Hand zu schichte unserer Zeit“ auf, wie zehn Jahre zuvor ei- Hand ging, war der „Schweizerboten“ nicht, wie ne andere Zeitschrift, die „Miszellen für die neueste andere Zeitungen, eine Lektüre für Stadtbürger Weltkunde“ (1807-1813), und 1827 auch seine Lite- und Besitzenden, sondern auch für Tagelöhner, raturzeitschrift „Erheiterungen“. Zum Abschluss er- Knechte, Mägde und Handwerksburschen verfüg- schien eine kurze Notiz des Verlegers: „Die Erhei- bar. Wenn die Schweiz im 19. Jahrhundert das terungen, im Jahr 1811 begonnen, hören nun mit Land der politischen Zeitungen wurde, so war es Ende 1827 auf, da Herr Zschokke sich für die Her- nicht zuletzt der Pionierleistung Zschokkes und ausgabe derselben nun nicht mehr geneigt findet. seinem „Schweizerboten“ zu verdanken. Heiterkeit – Erheiterung – und – Zensur sind völlig Zschokke liess sich nach der Helvetik nie mehr unvereinbare Dinge, und das eine oder andere muss in ein politisches Amt einspannen. Er war wäh- weichen oder aufhören.“ rend 25 Jahren Mitglied im Kantonsrat und drei- 7. Der Schweizerbote mal aargauischer Gesandter in der Tagsatzung. Stets trat er für die Interessen des Volks ein, das Nur seinem „Schweizerboten“ blieb Zschokke ein er als den eigentlichen Souverän betrachtete; er Vierteljahrhundert lang treu, auch wenn der zweifelte Entscheide der Regierungen an, be- „Schweizerbote“ in Basel, Solothurn und Luzern kämpfte ihre Machtfülle und machte sich so bei zeitweise verboten war, in Bern sogar während an- ihnen unbeliebt. Der „Schweizerboten“ wurde derthalb Jahrzehnten. Der Druck dieser Kantone auf zum Sprachrohr des Volks, schaute den Regieren- die Aargauische Regierung war sehr gross und diese den auf die Finger und etablierte sich als vierte gab ihn unvermindert an den Verleger und den Re- Macht im Staat. daktor – Sauerländer und Zschokke – weiter. Zschokke erteilte in seinem „Schweizerboten“ Mit dem „Schweizerboten“, den Zschokke als Lektionen zur Staatsbürgerkunde, in denen er die Wochenzeitung 1804 in Aarau wieder aufleben liess Leser über die Grundsätze der Demokratie, über und bis 1836 redigierte, knüpfte er an ein Bestreben Institutionen, über ihre Rechten und Pflichten der Helvetik an, das Volk aufzuklären und zu beleh- aufklärte. Dazu schrieb er Beiträge wie: „Was ren. Es ging Zschokke um eine politische Bildung noch zur Freiheit fehlt“ (1832), „Ein politisches der einfachen Bevölkerung, die des Lesens unkun- ABC“ (1832), „Unser Souverän“ (1834), „Politi- dig und der Teilnahme an politischen Prozessen un- sche Prisen aus der Dose eines Republikaners“ gewohnt war. (1834) oder „Politisches Glaubensbekenntniß ei- Der „Schweizerbote“ ist Zschokkes wichtigste nes Schweizers“ (1828). Zeitung und seine grösste Erfindung. Er war in der Aus dem „politischen Glaubensbekenntnis“ ein ganzen Schweiz beliebt und fand auch in ländlichen kurzes Zitat: „3. Ich glaube an die öffentliche und armen Regionen Aufnahme, wo das eigentliche Meinung, welche ist eine heilige Stimme des Vol- Zielpublikum wohnte. Es war die erste Zeitung für kes, durch Öffentlichkeit geboren, durch Wahrheit die Landbevölkerung, die diese auch wirklich er- genährt und gepflegt, und welche durch Geheim- reichte, so konzipiert, dass sie nicht nur gelesen, nißkrämerei und Schlechtigkeit zwar gefährdet, sondern auch sehr gut vorgelesen werden konnte. aber nie ganz verloren gehen kann.“15 Wir müssen uns eine Mehrheit der Schweizer Bevölkerung vorstellen, die mit Lesestoff nicht ver- 8. Politische Bildung und Erwachsenenbildung traut war, „ein Volk ohne Buch“, wie Rudolf Schen- Der „Schweizerbote“ war nicht Zschokkes einzi- da es nannte. Diese Leute zum regelmässigen Lesen ges Medium, um Volksaufklärung zu betreiben. zu bringen, sie an politische oder philosophische Er vertrat die Auffassung, für das Gedeihen einer Fragen heranzuführen, war ein langer Prozess, zu Republik sei ein gesundes, selbstbewusstes Bür- dem Zschokke einen wesentlichen Beitrag leistete. gertum notwendig. Er versuchte, die sozialen Un- Zuerst versuchte er, das Interesse am Geschehen terschichten aus ihrer politischen, ökonomischen ausserhalb des engen Kreises der Familie, der Dorf- gemeinschaft oder des Berufsstandes zu wecken. Er 15 Schweizerbote Nr. 35, 28.8.1828, S. 273 f. 8 und sozialen herauszuholen, setzte sich für bessere allmählich ein politisches Gewicht, aber Zschokke Schulen auf dem Land ein, für Berufs- und Weiter- gab ihnen bereits 25 Jahre vorher eine Stimme. bildung, förderte Berufsschulen für Knaben und Nun könnte man einwenden, dass die Inner- Haushaltsschulen für Mädchen und unterstützte die schweiz schon seit vielen Jahrhunderten eine di- Gründung von Volksbibliotheken. „Volksbildung ist rekte Demokratie kannte. Aber diese Demokratie Volksbefreiung!“ hiess eine Rede, die er 1836 an war vergangenheitsorientiert und passte nicht einer Versammlung des Schweizerischen Vereins mehr recht in eine Welt, wie sie von den politi- für Volksbildung in Lausen hielt. schen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen In Aarau gründete er eine Schule für junge Män- Entwicklungen seit der 2. Hälfte des 18. Jhs. ge- ner, in der sie das nötige theoretische Rüstzeug für schaffen wurde. ihre Zukunft in technischen Berufen oder als Beam- Zschokke war ein Vertreter des Liberalismus te holten, inbegriffen Staatsbürgerkunde. An diesem und des Fortschritts, jener Schweiz, die im Bun- „bürgerlichen Lehrverein“ nahmen Genossen aus desstaat von 1848, in Zschokkes Todesjahr, ihre der ganzen Schweiz teil. „Genossen“ wurden die Erfüllung fand. Zschokke hatte schon lange auf Schüler genannt, weil sie wie Erwachsene behandelt diesen Bundesstaat hingearbeitet. Bereits 1824 wurden und selbständig lernten. Die Ausbildung im schlug er in seinem Aufsatz „Betrachtung einer Lehrverein, die von Berufspraktikern erteilt wurde, großen Angelegenheit des eidsgenössischen Va- war begehrt; dieser Schule, einer eigentlichen Uni- terlandes“, einen starken Staat mit einem sieben- versität, entsprangen eine ganze Reihe Politiker und köpfigen Bundesrat an der Spitze vor, statt des Pädagogen. Allein fünf nachmalige Aargauer Re- ständig wechselnden Vororts und einer impoten- gierungsräte waren Absolventen des Lehrvereins, ten Tagsatzung. Diese Schrift wurde verboten; sie eine Anzahl schweizerischer National- und Stände- kam zehn Jahre zu früh. räte, Seminardirektoren und Schulleiter. Zschokkes Hauptverdienste liegen im pädago- Voraussetzung dafür, dass die Menschen über gischen Bereich, wo er sich der Bildung und Er- den Tellerrand schauten, war für Zschokke auch, ziehung der Erwachsenen annahm, und in seiner dass sie genügend im Teller selber vorfanden. Er schriftstellerischen und publizistischen Tätigkeit. entwarf ein detailliertes Programm, um ein fiktives Er war ein leidenschaftlicher Vertreter der Mei- Dorf aus Armut, Verwahrlosung und Schulden her- nungs- und Pressefreiheit und leistete einen auszuholen und zu materiellem Wohlstand zu füh- grossen Beitrag dafür, dass dieses Grundrecht der ren. Dieses Programm packte er in den Roman „Das Menschen sich in der Schweiz durchsetzen konn- Goldmacher-Dorf“ ein, den er im „Schweizerboten“ te. Virtuos propagierte und popularisierte er die in Fortsetzungen abdruckte. Idee einer demokratischer Gemeinschaft gleichbe- „Das Goldmacher-Dorf“ ist eine der wichtigsten rechtigter Menschen, eines Bürgertums, das sein Volksschriften deutscher Sprache im 19. Jahrhun- Schicksal in die eigene Hand nimmt und dank dert. Zschokkes Roman erlebte zahlreiche Auflagen, Fleiss, Bildung und Innovationskraft materiellen wurde von gemeinnützigen Gesellschaften gratis Wohlstand und die Achtung der Mitmenschen er- verteilt, erfuhr im Berner Oberland sogar eine Thea- ringt. teraufführung mit Laienschauspielern, wurde in vie- Man kann durchaus behaupten, dass Zschokke le Sprachen übersetzt und in Osteuropa von den den schweizerischen Bundesstaat, wenn schon Bauernbewegungen für ihre Emanzipationsbestre- nicht erfand, so doch mitprägte und vorzubereiten bungen benutzt. half. Er sorgte dafür, dass das Bürgertum sich zah- Holger Böning und ich haben diesen zu Unrecht lenmässig erweiterte und sein politisches Gewicht vergessenen Roman nach der Erstausgabe neu he- sich verstärkte, dass die Schweizerinnen und rausgegeben und mit anderen Beiträgen aus dem Schweizer sich ihres Schweizertums bewusst „Schweizerboten“ bereichert.16 wurden und die Bürger auf die Zukunft, eine mo- 9. Fazit derne Gesellschaft und den modernen Staat vorbe- reitet waren. Wenn man Zschokkes Leistung für die moderne Werner Ort, Zürich Schweiz beurteilt, steht im Mittelpunkt sicherlich die Öffnung der demokratischen Chancen für jene über 80 % der Bevölkerung, die auf dem Land oder in untergeordneten Stellungen lebten. Erst nach 1830, in der Regeneration, bekamen diese Schichten

16 Das Goldmacherdorf oder wie man reich wird. Ein hi- storisches Lesebuch von Heinrich Zschokke, hrsg. von Holger Böning und Werner Ort, Bremen: edition lumière 2007 9