Heinrich Zschokke – Sein Leben Und Wirken
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Heinrich Zschokke – sein Leben und Wirken Vortrag vor der Genealogisch-Heraldischen Gesellschaft Zürich am 4.12.2007 n der Einladung zu meinem Referat steht: „Es So beginnen Zschokkes „Schweizerlands Ge- wird behauptet, der ‚Revolutionär’ Heinrich schichten“: IZschokke habe den Bundesstaat Schweiz ‚er- „Von wunderhaften Dingen, Heldenfahrten, gu- funden’. Nachforschungen in Archiven und Biblio- ten und bösen Tagen der Väter ist viel gesun- theken ergeben, dass diese Behauptung nicht von gen und gelehrt. Nun will ich die alten Sagen der Hand zu weisen ist.“ verjüngen im Gemüth alles Volks. Und ich tra- Der Text basiert auf einer Webseite der Freimau- ge sie den freien Mannen zu in Berg und Bo- rerloge „Zur Brudertreue“ in Aarau, die Zschokke den, auf daß ihre Herzen sich entzünden in vor 197 Jahren mitbegründete. Aber auch der neuer Inbrunst zum theuerwerthen Vaterlande. Schweizer Historiker Edgar Bonjour hat vor etwa So merket auf meine Rede, ihr Alten und 60 Jahren in einem privaten Gespräch geäussert, Jungen. Die Geschichte verflossener Zeiten ist dass ohne Heinrich Zschokke die moderne Schweiz ein Baum der Erkenntniß des Guten und Bösen. nicht möglich gewesen wäre. Wo der von den Eisbergen des Wallis herab- Wir werden sehen, wie dies zu verstehen ist und fallende Rhonestrom, nachdem er einen Theil ob die Behauptung bestätigt werden kann. von Frankreich durchzogen hat, ins Meer 1. Der Mythos Schweiz stürzt, erhebt sich ein geringes Gebirg. Das dehnt sich von da gegen Sonnenaufgang hin, Heinrich Zschokke ist heute bei uns relativ unbe- dreihundert Stunden Wegs lang, an Italien vor- kannt. Das scheint ein Widerspruch zur Aussage zu bei, immer höher zu den Wolken des Himmels sein, dass er viel zur Entstehung der Schweiz beige- seine tausend Hörner streckend, von Eis und tragen habe. Allerdings ist nicht jeder, der entschei- Nebeln bedeckt, bis ins Ungarland. Dort wird dende Grundlagen für eine Entwicklung gelegt hat, es gemach wieder niedrig und zu kleinen Hü- namentlich bekannt. Wir kennen den Erfinder des glen. Das ist das Gebirg der Alpen, und Helve- Buchdrucks, den Entdecker der allgemeinen Relati- tia ist das Land genannt worden, welches im vitätstheorie. Aber wer hat die moderne Schweiz er- Schoos dieses Gebirges liegt, wo dasselbe seine funden? Die schweizerische Demokratie? Das ist beschneiten Kämme, Firsten und Zinken über selbstverständlich nicht ein einzelner gewesen; die die Länder der Menschen und über die Wolken Schweiz mit ihren Institutionen ist über eine lange des Himmels am höchsten erhebt. Zeitdauer entstanden. Wir wollen hier über Zschok- Durch enge Schluchten vom Hochgebirg her- kes Beitrag dazu reden. ab, mit den Strömen, die den Gletschern ent- Wenn wir über die Entstehung der Schweiz spre- quellen, breitet sich das Land gegen Mitter- chen, so müssen wir auch über das Bild der Schweiz nacht aus in weitere Thäler, bis zu den Kalk- reden, den Mythos Schweiz. Während meiner bergen des Jura. Diese krümmen sich in Gestalt Schulzeit war dieser Mythos verbunden mit Wil- eines ungeheuern Halbmondes vom See des helm Tell und dem Rütlischwur, mit den Schlachten Leman bis zum Bodensee. Und von Schafhau- bei Morgarten, Sempach, Murten usw. Der Chronist sen bis Basel zieht der Rheinstrom vor dem Ju- Ägidius Tschudy hat Wilhelm Tell um 1550 zu ei- ra entlang, wie der Graben vor dem Wall. Also ner historischen Figur gemacht, der Historiker Jo- hat Gott unser Vaterland mit hohen Bergen und hannes von Müller hat in seine „Geschichten tiefen Gewässern umgürtet, wie eine große Ve- Schweizerischer Eidgenossenschaft“ den Tellen- ste. Aber die Veste ist stark, so lange es dahin- mythos übernommen und Friedrich Schiller hat ihn ter der Mensch ist.“ popularisiert. Zschokke hat die Historie von Wil- helm Tell ebenfalls nacherzählt, in seinem äusserst Ein Schwabe also (Friedrich Schiller) und ein populären Buch: „Des Schweizerlands Geschichten Magdeburger (Heinrich Zschokke) brachten uns für das Schweizervolk“ (1822), erstmals in Fortset- Schweizern unserer Geschichte und den Mythos zungen in seiner Zeitung „Der Schweizerbote“, spä- Schweiz nahe. Die übereinstimmende Botschaft ter mehrfach in hohen Buchauflagen erschienen. lautet: Einigkeit, Mut, Besonnenheit, Anspruchs- Zschokkes „Schweizerlands Geschichten“ wurde losigkeit, innerer Zusammenhalt und Festigkeit gratis in Schulen verteilt und in die meisten Volks- nach aussen machen die Stärke eines Volks aus. – bibliotheken aufgenommen. Sie beeinflussten das Schiller und Zschokke haben mit diesem Mythos Bild des Schweizers und der Schweizerin von unse- aus der fernen Schweizer Vergangenheit einen rem Land bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts Spiegel geschaffen, ein Gegenbild zur Gegenwart, nachhaltig. die von Luxus, Streitereien und Feigheit geprägt war, namentlich in Deutschland und in den dortigen ausgegossen, groß und majestätisch, mit ihren Fürstentümern. himmeltragenden Gebirgen. Schimmerndes Sil- Während Schiller vor allem an eine deutsche Le- ber glänzte von der Alpen Haupt; Wolken tän- serschaft dachte, wandte Zschokke sich explizit an delten um ihre dunkeln Scheitel. Rechts vom Schweizer Leser, Elsas bis links ins Land der Tyroler schlang „damit in jeder Hütte die höchste Liebe zum Va- sich die ungeheure Schnur der Felsenthürme terlande wieder mehr erwache, und jeder Genos- herum am Himmel; in der Tiefe unten blizten se der freien Schweizerfamilie für künftige Tage die Wellen des Bodensees. der Gefahr und Noth zu neuen heldenmüthigen Mein Odem stokte bei dieser großen Erschei- Thaten sich gestärkt fühle, auch einsehen lerne nung; ein leiser Schauer umflog mich. Der sü- aus den Begebenheiten der Vergangenheit, was ßeste Traum meiner Jugend gränzte nahe an die dem Vaterlande nützlich und ehrenvoll, und was noch schönere Erfüllung – der sehnsuchtsvolle ihm verderblich wurde, und daß nur die Tugen- Wunsch meiner Jünglingsjahre ward erhört. den guter Bürger ihm heilsam werden können“.1 Wenn ein Weltumsegler nach langem Harren und Hoffen, nach langem Umherschweben Obwohl auch Zschokke in den Lobgesang auf die durch die ewige Einöde des Oceans, das Eiland, alten Zeiten einstimmte, hob er zugleich die Wich- nach welchem er so lange umsonst gen Ost und tigkeit des Bürgertums hervor und setzte die moder- West suchte, freundlich aus Nebeln und Wellen nen Schweizer Bürger in die legitimen Nachfolge endlich hervorsteigen sieht, kann er unmöglich der alten Helden ein. Damit unterschied sich sein so berauscht seyn von der Freude, als ich hier Ansatz wesentlich von dem Johannes von Müllers, war auf den Höhen von Tuttlingen.“3 der eine Neigung für aristokratische Verhältnisse hatte. Die Ernüchterung auf seiner Schweizer Reise war Es ist übrigens interessant und zeigt eindrück- gross: statt Freiheit eines zivilisierten Volks fand lich, wie Zschokke in Vergessenheit geraten ist, er Ungleichheit zwischen Stadt und Land, Armut, dass Jean-François Bergier in seinem Standardwerk Rückständigkeit, Rohheit der Sitten und Despotie „Wilhelm Tell. Realität und Mythos“ (1988) einer Priesterkaste, die ihre Schutzbefohlenen in Zschokke mit keinem Wort erwähnt, obwohl dessen geistiger Abhängigkeit hielten. Darstellung bis zum Bundesstaat von 1848 und dar- „In den Hauptstädten wohnen Herrn; auf dem über hinaus die sicherlich verbreitetste und meistge- Lande aber Heloten. … Im Allgemeinen hatte lesene Schweizergeschichte war. ich schon ein freieres Volk in den preußischen 2. Zschokke kommt nach Zürich Staaten gesehen, denn hier, in der Schweiz, wo die große Mehrheit der Gesamtbevölkerung in Der Mythos Schweiz war auch für Zschokke per- erblicher Dienstbarkeit von reichsstädtischen sönlich von Gewicht. Er fand darin die Gegenwelt Patriziaten und Zunftherrn eines Hauptstädt- zum absolutistisch-militaristischen Preussen, wo der chens, lebte; oder in trauriger Geistesknecht- Untertanengeist zu oberst stand, nach dem Motto: schaft eines gebietrischen Priesterthums.“4 „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht.“2 Die Schweiz war für Zschokke bereits als Kind ein Ort der Sehn- Vor allem die politischen Verhältnisse im schein- sucht, der landschaftlichen Idylle, der Naturschön- bar so aufgeklärten und fortschrittlichen Kanton heit, geprägt durch Berge, Wasserfälle und Seen, Zürich enttäuschten ihn: eine Felsenburg der Freiheit. Diese Vorstellung war „Die Bevölkerung des ganzen Kantons diente geprägt von Abbildungen einer pastoralen Schweiz zur Bereicherung von etwa 1500 städtischen und genährt durch das Alpengedicht Albrecht von Haushaltungen. Sogar Handel mit selbstverfer- Hallers, das bei seinem Erscheinen einen wahren tigten Baumwollen- und Seidenfabrikaten, war Sog nach dem Alpenland Schweiz auslöste. dem Landmann verboten. Er mußte die rohen Zschokke schilderte seinen Eindruck und seine Stoffe in der Stadt kaufen; das Gewebe in der Gefühle, als er auf seiner Reise durch Deutschland Stadt färben lassen und seine Waare wieder an erstmals in die Nähe der Schweizer Grenze kam, so: Stadtbürger verkaufen, die damit allein Handel 5 „Überraschend entwikkelte sich mit einemmale führten.“ die reizendste, prachtvollste, mannigfaltigste So hart und präzise urteilte Zschokke erst später, Landschaft vor unsern Augen in ferner Tiefe. Die 1842, als er seine Autobiografie „Eines Selbst- Schweiz lag da! am Raum des Horizontes lag sie schau“ veröffentlichte. Diese Selbstdarstellung ist eine packend erzählte Schweizer Geschichte von der Helvetik bis 1841 und diente auch der eigenen 1 Aus der Einleitung des Verlegers zur 1. Aufl. von 1822, abgedruckt auch im Schweizerboten Nr. 41, 10.10.1822, Nachläufer. 3 Meine Wallfahrt nach