Zolling: Heinrich V. Kleist in Der Schweiz

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Zolling: Heinrich V. Kleist in Der Schweiz H e i n r i c h v . K l e i s t i n d e r S c h w e i z Von Theophil Zolling Nebst achtunddreißig bisher ungedruckten Briefen von Heinrich von Kleist, C. M. Wieland, Ludwig Wieland, Johann Gottfried Herder, Carolina Herder, Heinrich Zschokke, Jens Baggesen, Heinrich Geßner, Franz Xaver Bronner, J. R. Meyer Stuttgart Verlag von W. Spemann 1882 Druck von Gebrüder Kröner in Stuttgart. Meinem verehrten Freunde Ludwig Speidel. Texterkennung mit Korrektur aus einem Scan von Google-Books eines Bandes der Taylor Institution. [email protected]. 2018 Vorwort. Wohl niemals hat ein Dichter gelebt, dessen Werke in solchem Maße nur durch das Medium seiner Individualität und deren menschlichen Beziehungen verständlich sind, als dies bei Heinrich von Kleist der Fall ist. Um so willkommener mag vorliegende Schrift sein, welche ein neues Licht über den peinlichen Werdeprozeß des Künstlers verbreitet und also eine Epoche behandelt, die von bisherigen Biographen aus Mangel an Materialien in notgedrungener Kürze berührt werden mußte. Diese Arbeit beruht auf sorgfältig an Ort und Stelle — in der Schweiz und in Paris — gemachten Studien und verdankt ihre Vollständigkeit der Liberalität der gegenwärtigen Besitzer von Geßners und Zschokkes handschriftlichem Nachlaß — Herrn Dr. A. Geßner in Schaffhausen und Pfarrer E. Zschokke in Aarau — sowie der gütigen Mithilfe der Herren Professoren Brunner in Zürich und Ludwig Hirzel in Bern, der Herren Pfarrer Hopf und Gerwer in Thun und des Freiherrn W. v. Maltzahn in Weimar. Es sei ihnen allen hier der Dank des Verfassers erstattet. Inhaltsverzeichniß. Seite orig. Erstes Kapitel. Der junge Kleist 1 1 Zweites Kapitel. Von Berlin über Paris nach Basel 7 9 Drittes Kapitel. Heinrich Zschokke 13 17 Viertes Kapitel. Heinrich Geßner und Ludwig Wieland 17 22 Fünftes Kapitel. Der Berner Dichterbund 22 28 Sechstes Kapitel. La cruche cassée 29 36 Siebentes Kapitel. Idyllische Pläne 35 44 Achtes Kapitel. In Thun 39 49 Neuntes Kapitel. In dem Aargau 43 54 Zehntes Kapitel. Auf der Aarinsel 50 62 Elftes Kapitel. Abschied von der Schweiz 55 70 Zwölftes Kapitel. Poetische Ergebnisse 59 75 Dreizehntes Kapitel. Die letzte Schweizerreise 65 84 Vierzehntes Kapitel. Epilog 73 95 Anhang. I. Jens Baggesen an Heinrich Geßner. Weimar, 15. März 1795 80 107 II. Jens Baggesen an Charlotte Wieland. Zürich, Ostersonntag 1795 109 III. Franz Xaver Bronner an Heinrich Geßner. Zürich. 14. Juni 1795 113 IV. Johann Gottfried und Caroline Herder an Heinrich Geßner. Weimar, 15. Juni 1796 117 V. C. M. Wieland an Heinrich Geßner. 1. Weimar, 14. August 1795 118 2. „ 14. September 1795 120 3. „ 15. December 1796 122 4. Osmanstätt, 5. Oktober 1798 124 5. „ (Ende Oktober 1798) 125 6. „ (Anfang Januar 1801) 127 7. „ 26. Januar 1801 129 8. „ 2. März 1801 132 [VIII] VI. C. M. Wieland an Charlotte Geßner, geb. Wieland. 1. Weimar, 24. August 1795 134 2. „ 11. Januar 1796 136 3. Osmanstätt, 23. März 1800 137 4. „ 8. August 1800 139 5. Tieffurt, 30. September 1801 142 6. Osmanstätt, 13. December 1801 143 7. Weimar, 20. März 1802 145 8. Tieffurt, 20. September 1802 147 VII. C. M. Wieland an Ludwig Wieland. 1. Osmanstätt (Juli 1801) 149 2. „ 10. Juni 1802 160 VIII. C. M. Wieland an Judith Geßner, geb. Heidegger. Weimar, 3. April 1802 152 IX. Ludwig Wieland an Heinrich Geßner. Osmanstätt, 26. September 1800 155 X. Heinrich Zschokke an Heinrich Geßner. Basel, 30. Mai 1801 156 XI. Heinrich Zschokke an Gottlieb Lamme. Bern, 25. Februar 1802 157 XII. Heinrich von Kleist an Heinrich Zschokke. Thun, 1. Februar 1802 158 XIII. J. R. Meyer an Heinrich Zschokke. Aarau, 8. März 1802 160 XIV. Heinrich Geßner an Heinrich Zschokke. Bern, 20. Oktober 1802 161 Nachtrag. I. C. M. Wieland an Heinrich Geßner. 1. Weimar, 9. Januar 1804 130 165 2. „ 26. März 1804 166 3. „ (Sommer 1804) 168 4. „ 18. December 1805 169 5. „ 6. Juli 1810 170 6. „ 10. December 1810 172 7. „ 29. April 1811 173 II. C. M. Wieland an Charlotte Geßner. 1. Weimar, 18. September 1804 176 2. „ (21. September 1809) 177 1 Erstes Kapitel. Der junge Kleist. Während die Franzosen auf den Trümmern des ancien régime einen neuen Staat, eine neue Gesellschaft, eine neue Religion, aber auch eine neue Tyrannei schufen, um sich am Ende vor lauter Gleichheitssinn gegenseitig um einen Kopf kürzer zu machen, da vollzog sich auch in deutschen Landen eine nicht minder tief eingreifende, aber friedliche, geistige Revolution: die Wiedergeburt der Nation von innen heraus durch die ästhetische Erziehung. Es war eine merkwürdige Zeit, deren begeisterndes Pathos wie Posaunenton die überschwenglichen, empfindsamen Schalmeienklänge der vor revolutionären Jahrzehnte zum Schweigen brachte. Eine Ahnung großer Dinge durchschauerte die junge Generation. Sie lauschte wonnebebend Schillers erhabenen Worten vom Rechte des Einzeldaseins, vom Erneuern der Totalität der menschlichen Natur im Individuum, vom Bau der wahren politischen, sozialen und geistigen Freiheit durch die veredelte Kultur und im fröhlichen Reiche des schönen Scheins. Aber der leidende Messias des ästhetischen Staates, der in verzehrendem Feuer sein Evangelium verkündete und seines Freundes Goethe Leben und Werke als Muster des kunstvoll subjektiven Gleichmaßes pries, er entzündete zugleich ein verderbliches Selbstbewußtsein, einen prometheischen Trotz und infolgedessen einen selbstverwüstenden Weltschmerz in vielen seiner Jünger. Mancheiner konnte in der Abwehr der schnöden Wirklichkeit den festen Mittelpunkt in den tausend Konflikten seines Ich nicht finden; die disharmonischen Elemente seines Wesens waren weder untereinander noch mit der umgebenden Welt in Einklang zu bringen, und statt das zerstückelte Bild der Menschheit in seinem Individuum aufzubauen, zertrümmerte er in sich das stolze Ebenbild Gottes. Der ästhetische Stürmer und Dränger, welcher Zerstörer statt Bildner seines Selbst wird, heißt poetisch objektiviert: Werther. Durch die Schar unsrer großen Dichter wandelt er als Heinrich von Kleist. Sein Leben ist die Geschichte eines herrlich begabten Geistes, eines edlen Herzens und eines kranken Gemütes. Der Biograph hat den traurigen Prozeß [2] zu beschreiben, wie diese unselige Gemütsanlage seine Seele überwuchert, sein Genie verdunkelt, seinen Körper zerrüttet und mit grauenhafter Folgerichtigkeit den freiwilligen Tod herbeiführt. Schon in jungen Jahren hat er vorahnend die Geschichte seines Elends geschrieben: „Der Zustand, ohne Lebensplan, ohne feste Bestimmung, immer schwankend zwischen unsicheren Wünschen, immer in Widerspruch mit meinen Pflichten, ein Spiel des Zufalls, eine Puppe am Drahte des Schicksals — dieser unwürdige Zustand scheint mir so verächtlich und würde mich so unglücklich machen, dass mir der Tod bei weitem wünschenswerter wäre.”1 Aber gerade dieses konsequente Streben nach einem einzigen Ziele hin sollte ihm unerreichbar sein. Seine innere Anlage und seine äußeren Verhältnisse verhinderten es. Familientraditionen und Standesvorurteile hatten seine Erziehung, ein schwacher Körper und ein, wie er beschönigend sagt, „seltsam gespannter”, d. h. überspannter Geist seine Entwickelung gehemmt. Ein kleinstädtischer Junker, war er als Knabe nach Berlin gekommen. Mit achtzehn Jahren (1795) soll er noch ganz schwerfälliger, gezierter, „ehrpusseliger” Offizier gewesen sein. Als eleganter und lebensfrischer Fähndrich machte er den Rheinfeldzug mit. Die Legende erzählt, dass um jene Zeit sein erstes Herzensverhältnis zu einem jungen, adligen Fräulein rückgängig wurde, was ihn von nun an zur Vernachlässigung seines Aeußern bewogen habe. Der Grund mochte wohl tiefer sitzen. Gewiß war ihm 1 Heinrich von Kleists Briefe an seine Schwester Ulrike, herausgegeben von Dr. A. Koberstein. Berlin 1860. S. 20. 2 die Barbarei des damaligen Soldatenstandes zum Ekel geworden und ein neues Ideal, die Wissenschaft, aufgegangen. Schon seine Leutnants-Briefe verraten ein dilettantisches Studium Kants. Jetzt sollte das doppelte Leid des Herzens und des Verstandes durch die Schulphilosophie geheilt werden, welche schon mehr als einen Dichter zu Grunde gerichtet hat. Ohne weiteres nahm er seinen Abschied und studierte in seiner Vaterstadt Frankfurt an der Oder. Man sagte ihm, er sei mit dreiundzwanzig Jahren zu alt dazu, aber er meinte mit schwermütigem Lächeln: Er sehe sein Schicksal voraus, einst als Schüler zu sterben, und wenn er auch als Greis in die Gruft führe. Jedenfalls war er ein seltsamer Student, welcher, erzogen für den Soldatenstand und in ihm aufgewachsen, jeder harmonischen Gymnasialbildung entbehrte. Er scheint übrigens seine Zeit wohl angewendet zu haben, denn Dahlmann, der seine Kollegienhefte sah, versichert, Kleist habe ordentliche und nicht nur dilettantische Studien gemacht.2 Es war wohl ein ziemlich planloses, gewaltsames, ganz autodidaktisches Lernen, wobei das Nebensächliche oft eine übertriebene Bedeutung gewann und das Ziel verdeckte; jedenfalls nichts weniger als ein Brotstudium nach dem Herzen seiner Anverwandten, sondern eher ein akademisches Streben nach kunstvoller Ausbildung seines Ich, eine ästhetische [3] Erziehung. Jetzt griffen aber die äußern Umstände wieder störend in seinen Entwickelungsgang ein. Er verlobte sich und mußte schon nach einem Jahre aus Rücksicht auf seine Braut und deren Familie seine Studien unterbrechen, um sich in Berlin auf den Staatsdienst vorzubereiten. Sein einzig erhaltenes Bild von dem damals beliebten Miniaturisten Krüger stammt aus dieser Epoche; es besitzt, trotz Treitschkes gegenteiliger Versicherung,3 durchaus künstlerischen Wert. Seine Braut schätzte es gerade um seiner Aehnlichkeit willen hoch, und Kleist
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