Heinrich-

Zschokke-

Brief

Nr. 2 Mai 2002

–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– Mitteilungsorgan der Heinrich-Zschokke-Gesellschaft Einzelverkaufspreis: Fr. 5.– oder € 3.– ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––

Zschokke im Bewusstsein verankern

Geleitwort von Thomas Pfisterer, Präsident der Heinrich-Zschokke-Gesellschaft

it Genugtuung und Stolz stelle ich fest, Hand geben und sind deshalb froh, dass die Neue dass unsere Gesellschaft eine wichtige Aargauer Bank und die Baufirma Zschokke den MAufgabe erfüllt. Sie ist zur Ansprech- Ladenpreis mit einem finanziellen Beitrag niedrig partnerin geworden, an die man sich gerne wen- halten helfen. Nur soviel sei vom Inhalt gesagt: det, wenn Fragen im Umfeld von Heinrich Man wird erstaunt sein, wie vielseitig Zschokke Zschokke auftauchen. Als in vergan- tätig war und wie modern, ja visionär manches genes Jahr eine Strasse nach ihm benannt wurde, seiner Anliegen wirkt. bat man uns, den Bürgern Zschokkes hauptsächli- Die Auseinandersetzung mit Heinrich Zschok- che Leistungen vorzustellen und so Interesse für ke muss weiter angeregt und der jungen Genera- den wenig bekannten Magdeburger zu wecken. Im tion dabei besondere Achtung geschenkt werden. Mai und Juni werden wir ihn in zwei Referaten Darüber hinaus dürfen wir die Sicherung des wir als Politiker und Erzieher würdigen. Der An- wertvollen Zschokke-Bestandes nicht vergessen. lass bietet eine gute Gelegenheit, Beziehungen Des Briefwechsels nimmt sich das Staatsarchiv zwischen dem und Sachsen-Anhalt, mit lobenswertem Eifer an. Wichtig ist ferner der und Magdeburg zu knüpfen. Oberbürgermeister „Blumenhaldner“ im Stadtmuseum Aarau, eine Dr. Lutz Trümper erklärte sich gerne bereit, eine handgeschriebene Familienzeitung von einzigarti- Delegation von uns zu empfangen. gem kulturhistorischem Wert. Ihn der Forschung Im kommenden Jahr feiert der Kanton Aargau zu erhalten, werden wir uns ebenfalls bemühen. mit zahlreichen Festlichkeiten die 200 Jahre seit der Gründung. Wir fanden, dass Zschokke, der Inhaltsverzeichnis Seite den Aargau im ersten halben Jahrhundert wesent- Mit Heinrich Zschokke durch Aarau 2 lich mitgeprägt und -gestaltet hat, in diesem Rah- Zschokkes erste Autobiographie 5 men einen gebührenden Platz erhalten sollte. Mit Besuch in bei einer unbekannten Person 8 Unterstützung des Regierungsrats dürfen wir ein Museo-Logisches zur Zschokkestube Buch herausgeben, das Zschokkes Wirken im im Schlössli Aarau 11 Aargau von 1802 bis 1848 darstellt. Wir möchten Magdeburg, eine Heimat in der Fremde 14 dieses Buch möglichst zahlreichen Lesern in die Vom Schreibtisch der Redaktion 16 1 Mit Heinrich Zschokke durch Aarau Ein kleiner Stadtrundgang in Wort und Bild

einrich Zschokke spürt man in Aarau, mehr als man ihn sieht. Die Geschichte H Aaraus seit der Gründung des Kantons Aargau im Jahr 1803 ist geprägt durch Heinrich Zschokke und seine Dynastie. Er und seine Freunde haben den Kanton zu dem gemacht, wo- durch er im 19. Jahrhundert allenthalben bekannt wurde: zu einem Kulturkanton, und die Stadt Aa- rau zu ihrem Zentrum. Von Zschokkes Hand flogen Publikationen und Briefe in die ganze Welt, und kaum ein Fremder von Rang und Namen, der in der Gegend vorbeikam, liess es sich nehmen, in Aarau kurz anzuhalten, um den berühmten Volksschriftsteller, Politiker und Pädagogen zu sprechen oder minde- stens von weitem zu sehen. Jeder Bürger, jeder Landsasse, von der einfachen Magd bis zum Rats- herrn, wusste den Weg zur „Blumenhalde“, Zschokkes Wohnsitz. Und heute? Die Probe aufs Exempel: Einem Freund aus Magdeburg gaben wir als Adresse Stadtplan von Aarau mit den einzelnen Etappen „Blumenhalde, Küttigerstrasse 21“ an. Aarau ist 1. Zschokkestrasse ein kleines Städtchen. Aber selbst in den umlie- genden Läden konnte man ihm nicht auf Anhieb Wir biegen nach rechts in die Bachstrasse ein und sagen, wo sich die Blumenhalde befindet. stehen schon bald an unserem ersten Ziel: dem Heinrich Zschokke ist vielen Aarauern kein Eingang der Zschokkestrasse. In diesem Villen- Begriff mehr. Er ist aus dem Bewusstsein der letz- viertel, das ehrwürdig und etwas verschlafen ten beiden Generationen verschwunden, ein Relikt wirkt, trägt jede zweite Strasse einen berühmten aus vergangenen Zeiten. Wo er lebte, was er tat, Namen aus dem 19. Jahrhundert. Einst war es ist weitgehend unbekannt. Zeichen für die Expansion einer sich kräftig ent- wickelnden Industriestadt. Was tun, wenn heute ein Fremder nach Aarau kommt und nach Zschokke fragt? Wen will er fra- gen? Wir laden Sie zu einer kleinen Bildreportage auf den sichtbaren Spuren Heinrich Zschokkes durch Aarau ein. Wir beginnen am Ausgangspunkt fast jeder Reise von früher: am Bahnhof. Wir wenden uns zunächst aber nicht zur Bahnhofstrasse und Alt- stadt, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Wenn wir die Hauptunterführung südwärts verlas- sen, sehen wir rechterhand, an der Frey-Herosé- Strasse 12, das Wielandhaus. Dort befindet sich im Untergeschoss die Freimaurerloge „zur Bru- dertreue“, die von Zschokke 1810 mitbegründet wurde. Schon mit zwanzig Jahren trat Zschokke in Wann die Zschokkestrasse ihren Namen bekam Frankfurt an der Oder in die Loge „Au cœur sin- und ob sie überhaupt von Anfang an nach Hein- cère“ ein und wurde drei Jahre später Meister vom rich Zschokke benannt wurde, ist strittig. 1875 er- Stuhl. Seine Gedanken waren zeitlebens von der baute sich ein Enkel, Buchhändler Guido Zschok- Freimaurerei geprägt, obwohl er nur kurze Zeit ke-Sauerländer, hier ein Wohnhaus, Nr. 995 im aktives Mitglied der Aarauer Loge war. In einer „Neuen Quartier“, das mittlerweile nicht mehr Vitrine ist ein Brief von ihm ausgestellt, und das steht. Im Adressbuch taucht der Name Zschokke- Logenarchiv enthält manche Kostbarkeiten. strasse 1888 zum ersten Mal auf. Zu jener Zeit

2 liess sich gegenüber der Strasse ein anderer Enkel, von Heinrich Zschokkes Frau Anna Elisabeth der Bauunternehmer Conradin Zschokke, nieder. (Nanny) findet man an einer ganz anderen Stelle: Im gleichen Haus richtete Hermann Zschokke, der an der Nordwand des ehemaligen Leichenhauses, jüngste Bruder Guidos, eine Versicherungsagentur das heute von der Friedhofsgärtnerei benutzt wird. ein. Heute ist die kurze Quartierstrasse keine po- stalische Adresse mehr, und so wird auch kein 3. Haus am Rain Taxifahrer in die Verlegenheit kommen, sie su- Weiter in Richtung Stadt kommen wir am Gross- chen zu müssen. ratsgebäude und an der Kantonsbibliothek vorbei, Hinter der grosszügigen Villa von Conradin wo Heinrich Zschokkes wertvolle Flugschriften- Zschokke, die heute eine Abteilung des kantona- sammlung, seine „Schweizerbibliothek“, und sei- len Baudepartements beherbergt, ist der Buchen- ne Werke in vielerlei Auflagen und Sprachen zu hof, ein moderner Komplex, in dem auch das finden sind. Wir überqueren beim Kunsthaus und Staatsarchiv seinen Sitz hat. Es enthält die welt- beim Regierungsgebäude den Aargauerplatz und weit grösste und wichtigste Sammlung von Brie- gelangen an den „Rain“. In der heutigen Nr. 18 fen und Dokumenten Heinrich Zschokkes aus ver- bezog Heinrich Zschokke 1807 mit seiner Frau schiedenen Nachlässen, und wer einen der beiden und dem ältesten Sohn Theodor seine erste Aa- Lesesäle benutzt, darf unter seiner bronzierten rauer Wohnung. Er kaufte das bereits eingerichte- Büste arbeiten. te Haus mit dem dahinter liegenden Garten und Schuppen für 900 Louisdor oder 14'400 Franken 2. Zschokkes Grab und bezahlte 100 Louisdor bar, den Rest verteilt bis 1824. Im Jahr darauf verkaufte er das Haus Da wir das Staatsarchiv in der ersten Ausgabe des 2 Heinrich-Zschokke-Briefs vorgestellt haben, las- wieder. sen wir es links liegen, gehen in Richtung Stadt und biegen nach 150 Metern in den Rosengarten- weg ein. Wohl jeder Aarauer kennt diese Strasse: Sie ist mit dem Friedhof verbunden. Am 30. Juni 1848 wurde Zschokke, begleitet von einem langen Geleit, hier zur letzten Ruhe gebracht.

Pfarrer Rudolf Wernly schrieb ein halbes Jahr- hundert später über das Grab: „Wer den prächtig angelegten und weihevollen Friedhof, den ‚Ro- sengarten’ von Aarau betritt, der kommt auf ei- nem der ersten Wege, die vom Eingang westwärts führen, zu einem eigenartigen älteren Grabe. Kein stattliches Monument verkündet uns den Namen noch die Werke des darin Ruhenden. Zu Häupten ragt ein dürrer Baumstrunk empor, dicht und schwer von rankendem Epheu überwachsen. Auf dem kleinen Hügel selbst, von dunkelgrünem Blätterwerk dicht umsponnen, liegt eine schlichte 1 Da für die (noch nicht zahlreiche) Familie zu- Steintafel.“ nächst reichlich Platz war, fanden hier auch die Der Grabstein Zschokkes wurde nach dem Sitzungen der von Zschokke gegründeten „Gesell- Ausbau des Friedhofs in die Südwestecke ver- schaft für vaterländische Kultur“ und der Loge schoben. Seit 1998 steht er an der Westmauer un- „zur Brudertreue“ statt, diese in einem blau tape- weit von demjenigen seines Sohns Emil. Das Grab zierten Raum. Leider fehlt am Haus am Rain eine 3 Gedenktafel, die an den berühmten Bürger der 1894 konnte das Denkmal eingeweiht werden. Stadt erinnert. Gipsabgüsse des Modells befinden sich im Stadt- museum und neuerdings, von einer Künstlerin ge- 4. Zschokke-Denkmal staltet, in der Schalterhalle der Neuen Aargauer Durch die Vordere Vorstadt mit den wunderschö- Bank an der Bahnhofstrasse 49, die damit ihren nen Giebelhäusern und über den Graben gelangen Mitgründer ehrt. wir zum Kasinoplatz und zum Standbild Zschok- kes: einer Bronzestatue auf einem Granitsockel 5. Stadtmuseum Alt-Aarau mit einer Gesamthöhe von über 5 Metern, um- Wenige Schritte vom Denkmal entfernt ist der rahmt von Kastanienbäumen. Schlossplatz, wo vor uns eine Feste aufragt, die auf das 11. Jahrhundert zurückgeht: das „Schlöss- li“, seit 1938 Stadtmuseum. Über eine Holzbrücke erreichen wir den Eingang und kommen über eine Wendeltreppe in die Zschokke-Stube im ersten Stock. Dr. Martin Pestalozzi, Direktor des Muse- ums und Stadtarchivar, führt uns herum. Er hat sich freundlicherweise bereit erklärt, in diesem Heft für uns exklusiv eine kleine Beschreibung der Zschokke-Stube zu geben. Wir werfen noch rasch einen Blick durch ein Nordfenster auf unser nächstes Ziel, die Blumenhalde auf der anderen Seite der , am Jurahang.

6. Blumenhalde Wir überqueren den Fluss über die Aarebrücke und steigen die Weinbergstrasse hinan. Die Blu- menhalde ist eine freistehende Villa mit hervor- springendem Mittelteil und zwei Flügeln mit Flachdächern. Das originalgetreue Dachgeländer wirkt wie Zinnen. Es ist verblüffend, mit welch einfachen Mitteln sich die Harmonie und Eleganz dieses Gebäudes entfaltet. Zschokke selbst ent- warf die Pläne und überwachte auch ihre Ausfüh- rung.

Zschokkes Statue nimmt die Pose eines römischen Staatsmanns und Gelehrten ein, das Gesicht kon- zentriert, sinnend und wach, den Blick vorwärts gerichtet. In der rechten Hand hält Zschokke eine Schreibfeder, in der linken ein halb gerolltes Schriftstück. Die Haltung strahlt Würde aus und Kraft. In Goldbuchstaben ist auf dem Postament zu lesen: „Heinrich Zschokke. 1771–1848. Schriftsteller, Staatsmann und Volksfreund. Das Vaterland.“ Am 25.4.1817 war Grundsteinlegung, und am 1881 hatte der Einwohnerverein von Aarau den 10.8.1818 zog die Familie in die Blumenhalde ein. Beschluss gefasst, Zschokke „auf einem öffentli- Das Haus blieb im Besitz der Familie bis zum Tod chen Platze, sofern die städtischen Behörden hie- der Witwe des jüngsten Sohns, Olivier, und wurde zu ihre Einwilligung geben, ein Denkmal zu er- 1919 an Ingenieur Alfred Oehler verkauft. 1946 richten, das in antikem Sinne durchaus auch eine wurde es unter Denkmalschutz gestellt und 1956 Manifestation der Kunst sein soll“. Ein Komitee von der Ortsbürgergemeinde Aarau erworben. mit Bundesrat Welti als Ehrenpräsidenten sam- 1989–1990 wurde es renoviert.3 Es ist seither kan- melte im In- und Ausland Geld. Sechs Jahre spä- tonales Didaktikum für Bezirkslehrer unter der ter wurde das Projekt ausgeschrieben, und im Juli Leitung von Prof. Rudolf Künzli. Mit seinem hel- 1891 fiel die Wahl der Jury auf den Entwurf des len Lichthof lädt es zum Verweilen ein und wird Schweizer Bildhauers Alfred Lanz. Am 13. Juli auch rege für kulturelle Veranstaltungen genutzt. 4 Die Mitglieder der Heinrich-Zschokke-Gesell- vom Schweizerischen Forstverein „dem grossen schaft kennen die Blumenhalde von unseren Ver- Forstpionier unseres Landes“ Heinrich Zschokke anstaltungen. geweiht. Prof. Albert Hauser würdigte in seiner Rede die Leistung Zschokkes, der, zunächst als 7. Gedenkstein am Hungerberg Oberforst- und Bergrat, dann als Oberforstinspek- Wir steigen den steilen Weg weiter hinauf und tor, ein Vierteljahrhundert lang mit der Organisa- biegen links in den Alpenzeiger-Fussweg ein. In tion und Bewirtschaftung der Aargauer Staatswal- einer grossen Wiese rechts, noch bevor der Weg dungen betraut war. in den Wald mündet, steht eine einsame Sommer- Der kleine Abstecher auf die Anhöhe des Hun- linde. Ein kaum mehr sichtbarer Kiesweg führt gerbergs lohnt sich. Von hier oben geniessen wir dorthin. einen schönen Ausblick auf die Stadt Aarau. Werner Ort

1 R. Wernly: Vater Heinrich Zschokke. Ein Le- bens- und Charakterbild, Aarau 1894, S. 1. 2 Heinz Sauerländer: Heinrich Zschokke und Heinrich Remigius Sauerländer, zwei Häupter der „Aarauer Partei“. Aarauer Neujahrsblätter 1996, Sonderdruck, S. 10 f. 3 [Ernst Zschokke:] Die Blumenhalde 1817–1917; Rolf Zschokke: 150 Jahre Blumenhalde. Zschok- kes Blumenhalde und ihre Bewohner, Separat- druck aus dem „Aargauer Tagblatt“, August 1968; Die Blumenhalde – Ein Haus, ein Begeg- Hier befindet sich ein grauer, moosbewachsener nungsort, eine Einrichtung, Mappe, o. J. Stein aus Jurakalk. Er wurde am 27. Oktober 1973

Zschokkes erste Autobiographie

is zum Vorliegen einer wissenschaftlich ze meines Lebens verarbeiten will, er solle nicht sorgfältigen Biographie ist die Hauptquel- loben und preisen. So etwas schadet mehr.“ B le zur Kenntnis von Zschokkes Leben Wir können den Brief zeitlich einigermassen noch immer seine eigene Darstellung, der erste einordnen, denn am 25.6.1823 schrieb Johann Band von „Eine Selbstschau“ aus dem Jahr 1842, David Sauerländer seinem Bruder: „Sende mir das den Prof. Rémy Charbon in einem fotomechani- Mscpt directe hierher: Es wird doch nicht viel ge- schen Nachdruck 1977 neu auflegte. Die Entste- ben? Und bis wann glaubst du, dass ich es erhal- hung von „Eine Selbstschau“ durchlief mehrere ten kann?“ Zwei Wochen später, am 8.7.1823, Phasen, an deren Anfang die folgende, bisher un- konnte Johann Valentin Adrian, Redaktor des bekannte kleine Skizze liegt. Ich bin in der Aus- Rheinischen Taschenbuchs, seinem Freund Fried- gabe des Briefwechsels zwischen Zschokke und rich von Matthisson mitteilen: „Der Druck des Sauerländer bereits einmal darauf zu sprechen ge- 1 Taschenbuchs ist fast vollendet. Zschokke’s kommen. Selbstbiographie wird Dich erfreuen … Zschok- Das Rheinische Taschenbuch ke’s Gesicht wird das Titelkupfer zieren.“ Johann David Sauerländer wünschte im „Rheini- Hier nun der handschriftliche Text Zschokkes schen Taschenbuch auf das Jahr 1824“ von sei- aus dem Archiv Haus Sauerländer in Aarau. nem Autor Eduard Hufnagel eine kurze biographi- sche Skizze Zschokkes und fragte wegen der Le- Heinrich Zschokkes Lebensskizze im Wortlaut bensdaten seinen älteren Bruder Heinrich Remi- „Heinr. Zschokke ward den 22 März 1771 zu gius in Aarau, der sich mit diesem Anliegen wie- Magdeburg geboren, studirte auf der Universität derum an Zschokke wandte. Dieser Brief ist nicht Frankfurt an der Oder Philosophie, Theologie, mehr vorhanden, wohl aber Zschokkes (undatier- dann auch Cameralien; nahm den philosophischen te) Antwort an Sauerländer: „Hier, Lieber, dem Doctorgrad an, und hielt seit dem Herbst 1792 auf ich nichts abschlagen kann und will, die genauen derselben Universität mit Beifall Vorlesungen Hauptdata aus meinem Leben. Ich erstaune selbst über Naturrecht, Aesthetik, Kirchengeschichte über das Durcheinander. Schikke mir mein und Exegese mehrerer Schriften des neuen Testa- Brouillon wieder; sage dem der daraus eine Skiz- ments.

5 schrieb er seinem Freunde Aloys Reding, unter ihm, als Volontair, gegen die Franzosen dienen zu wollen. Der Kampf der kleinen Kanton[!] war zu bald geendet; ein französisches Heer erschien auf der einen, ein österreichisches Heer auf der andern Seite Bündens und drohte einzudringen. Die Frage war, ob Bünden für sich allein bestehn, oder sich der Schweiz anschliessen wolle? Zu der Parthei, welche Vereinigung mit der Schweiz begehrte, gehörte auch er; sie aber unterlag, und die Mit- glieder derselben wurden von der obsiegenden Parthei verfolgt. Er hob das Seminarium auf. Die- jenigen Gemeinden des Landes, welche für Verei- nigung mit der Schweiz gestimmte hatten, ernann- ten den Altbürgermeister Tscharner von Chur und ihn zu Deputirten bei den helvetischen und franz. Behörden in Aarau, damaligen Hauptort der Schweiz. Bald, da sich Tscharner zurük zog, be- sorgte er die Geschäfte allein. Die Österreicher rükten indessen in Bünden ein. Dadurch ganz von seinen Comittenten getrennt, benuzte der damali- ge Minister der Wissenschaften Stapfer den An- las, ihn als Chef für das Departement des Schul- wesens [sic!] anzustellen. Doch nach einigen Mo- naten ernannte ihn das helvetische Vollziehungs- directorium im May 1799 zum bevollmächtigten Erste Seite von Zschokkes Lebensskizze Regirungscommissair nach dem von den Franzo- sen und der politischen Partheiwuth verwüsteten Damals, und schon als Student machte er mehrere und mishandelten . Er versuchte die schriftstellerische Versuche, besonders im drama- Leiden des Landes, so viel in seiner Macht lag, zu tischen Fach, von denen der Abellino und einige mildern, lies alle Gefangenen, über 100 die wegen andre noch izt, ungeachtet ihrer tiefen Mittelmäs- polit. Meinungen in den Kerkern von Stans und sigkeit, auf den Bühnen fortdauern. Weil ihm der Aarburg waren zurük kehren (Siehe hist. Denk- damalige preuss. Minister Wöllner eine Anstel- würd. der schweiz. Staatsumwälzung 2 Theil) stif- lung als ausserordentlicher Professor verweigerte, tete Frieden und gewann allgemeines Vertrauen. unter dem Vorwand seiner allzugrossen Jugend, Bald darauf wurden seine Vollmachten auch über unternahm er zu seiner Belehrung eine Reise die Kantone Uri, und Zug ausgedehnt. Er durch Deutschland, die Schweiz und Franckreich machte von denselben gleichen Gebrauch. Durch im Jahre 1795. Bei seiner Rükkehr von Paris in seine gedrukte Aufforderung zur Unterstützung die Schweiz im J. 1796 beschloß er sich in einem dieser verheerten Gegenden verschaffte er ihnen democratischen Kanton, und zwar in Glarus, auf grosse Hülfe an Lebensmitteln, Kleidungsstükken immer anzusiedeln, vorher aber noch einen guten und beträchtlichen Geldsummen, die aus allen Theil Italiens zu sehn. Auf der Reise dahin wurde Enden Europas herbeiströmten, nur nicht aus er zu Chur in Graubünden von seinen Bekannten Frankreich; der Moniteur begnügte sich seinen und Freunden überredet, dort zu bleiben und sich Aufruf einen beau morceau d'éloquence zu nen- an die Spitze des ehmahligen Seminariums von nen. Die achtbarsten Männer aller dieser Kanto- Marschlins und Haldenstein zu stellen. Es befand nen wurden seine persönl. Freunde u. Rathgeber. sich dies damals in Reichenau. Er übernahm es, Nachdem hier Friede, Sicherheit u. gesezliche als Miteigenthümer, in Verbindung mit dem Hln. Ordnung hergestellt war, legte er seine Stelle nie- Altbürgermeister Joh. Bapt. Tscharner und brach- der und lebte bei seinem Freunde Aloys Reding, te es bald in Flor. Er genos soviel Freundschaft dessen Haus er von der Zerstöhrung durch die und Achtung, daß ihn Räthe und Gemeinden der Wuth der Franzosen gerettet, den und dessen Fa- drei Bünde mit dem Staatsbürgerrecht beschenk- milie er vom Bodensee in die sichre Heimath zu- ten, ohne daß er sich darum beworben. Die an- rükgerufen hatte, – als ihn die Centralregirung zu sehnliche Gemeinde Malans beschenkte ihn nach- zum Regirungscommissär ernannte, der den her mit ihrem Gemeinds- und Ortsbürgerrecht. ersten Consul Bonaparte über den St. Bernhards- Als im Jahr 1798 die Staatsumwälzung der berg begleiten sollte. Da er dies ablehnte, ernannte Schweiz begann, und die Franzosen eindrangen, sie ihn in gleicher Eigenschaft, um den General-

6 lieutenent Moncey, iezzigen Duc de Conegliano, zur Herstellung des Föderalismus that. Er legte über den Gotthard zu begleiten und die italieni- seine Stelle nieder, weil er nicht ohne Grund in sche Schweiz, die Kantone Lugano und Bellinzo- der Wiederkehr des Föderalismus die Wiederkehr na zu reorganisiren. aller Gebrechen fürchtete, durch welche die Schweiz zu Grunde gegangen war. Eben darum lehnte er auch die Anträge des Landammanns der Schweiz Aloys Reding ab, als helvetischer Ge- sandter nach Lüneville zu gehn. Er begab sich im Frühling 1802 ins Privatleben aufs Schloss Biber- stein im K. Aargau. Hier lebte er in der Stille den Wissenschaften, ohne alle Theilnahme an den öffentl. Händeln u. Verwirrungen, bis die Vermittlungsurkunde des ersten Consuls das Loos der Schweiz auf die damals ihr allerdings wohlthuendste Weise entschied. Da ernannte ihn die Regierung des Kantons Aargau, zum Mitglied des Oberforst- und Bergamtes 1804; beschenkte ihn mit dem Staats- bürgerrecht, so wie ihn die Gemeinde Üken im Frikthal mit dem Geschenk des Gemeindsbürger- rechts überraschte. Hier und in diesem Jahr war es auch, wo er das Volksblatt „der Schweizerbote“ begann, um vermittelst der Öffentlichkeit, und auf den Geist des Volks einwirkend, die bessern Früchte der Revolution zu retten. Das übrige weißt du.“

Zschokke-Porträt von Friedrich Fleischmann2 im Rheinischen Taschenbuch auf das Jahr 1824 Er begleitete Moncey Ende May, Anfang Juny 1800 durch Uri über den Gotthard, übernahm die Verwaltung der italiänischen Schweiz, stellte die gesezliche Ordnung und öffentliche Sicherheit wieder her und verlies das Land im Herbst dessel- ben Jahres vollkommen beruhigt unter wakkern von ihm vorgeschlagnen Regirungsstatthaltern und Verwaltungskammern. Dann ging er nach Bern zurük, um wegen der Willkühren und Korn- wuchereien die in Massena's Namen verübt wur- den, beim franz. Gesandten Reinhard Vorstellung zu machen. Sie waren sowohl bei diesem als beim General Matthieu Dumas, damals Chef des Gene- ralstabs der 2ten Reservearmee nicht ohne Wir- kung. – Die helvet. Regirung lies ihn aber nicht wieder nach Italien zurük kehren, sondern ernann- te ihn [im] Spätjahr 1800 sogleich zum Regi- rungsstatthalter des Kantons Basel, wo das Volk in der Gegend von Gelterkinden im Begriff stand, wegen der Bodenzinse u. Zehnden Aufruhr zu be- ginnen. Dieser brach, da der Regstatth. kaum 14 Tage in Basel war aus. Er wagte sein Leben mit- Titelblatt des Rheinischen Taschenbuchs ten unter die bewaffneten Aufrührer, um Vergies- sung von Bürgerblut zu verhüten. Die Gemeinde Zschokkes Reaktion wurde nachher entwaffnet. Er bekleidete die Stelle Diese Darstellung wurde im „Rheinischen Ta- bis gegen Ende des folgenden Jahrs, da die Cen- schenbuch“ ausgeschmückt und ergänzt um die tralregirung zu Bern, an deren Spitze Aloys Re- Jahre nach 1804, mit Hinweisen auf die wichtig- ding nun stand, die ersten, entschiedenen Schritte sten Werke Zschokkes und viel Lob für seine

7 Vielseitigkeit, seine Bedeutung als Volksschrift- Angesichts dieser Lebensskizze, welche die steller und seine charakterlichen Qualitäten.3 Wertschätzung seiner Verehrer und Freunde zum Zschokke war geschmeichelt ob dieser Huldi- Ausdruck brachte und bestimmt ehrlich gemeint, gung und schrieb an Johann David Sauerländer aber nicht ganz vorurteilslos war, fühlte sich am 5.10.1823, als er den frisch gedruckten Alma- Zschokke veranlasst, die Darstellung seiner Bio- nach in den Händen hielt: „Ich bin gestern Abend graphie künftig selber an die Hand zu nehmen, im Kreise meiner Buben, als ich den ersten Blik in und liess sie in wesentlich erweiterter Form 1825 Ihr schönes Geschenk warf, und die andern mir in den ersten Band seiner „Ausgewählten Schrif- ten“ als „Lebensgeschichtliche Umrisse“ aufneh- über die Achsel sahn, roth geworden, wie ein 4 Mädchen, dem man zum erstenmahl sagt, es wäre men. eine Art Engel, wovon es bisher selber nichts ge- Werner Ort wusst und wovon ihm der ehrliche Spiegel kein Wort gemeldet hatte. Und es geht mir zur Stunde 1 „Guten Morgen, Lieber!“ Der Briefwechsel noch, wie dem verblüfften Mädchen; weiß nicht, Heinrich Zschokkes mit seinem Verleger Sauer- ob ich aufrecht stehn bleiben, oder mich verbeu- länder, Bern etc. 2001, S. 70 f. gen, oder freundlich, oder böse thun soll? Ich sage 2 Friedrich Fleischmann (1791–1834), Nürnberger Thun, denn es ist doch mit dem Thun und Seÿn Kupfer- und Stahlstecher, Erfinder einer Linier- ein Andres. Kein Mädchen nimmts im vollen maschine, Schöpfer zahlreicher Vignetten und Almanachbilder. Ernst übel, wenn man ihm die Ehre erweist, es ar- 3 tig zu finden; und es geht auch wohl den beschei- Rheinisches Taschenbuch auf das Jahr 1824, densten Männern nicht besser. – Also von Allem 14. Jg., Frankfurt/Main, S. 272-303. 4 Ausgewählte Schriften, Band 1, S. 3-62. still!“

Besuch in Basel bei einer unbekannten Person

ur Zeit der vorvorletzten Jahrhundertwen- ner Winterthurer, der sich als Kunsthistoriker und de, also um 1800, war es geradezu Mode, Literat schon einen gewissen Namen geschaffen Z nach Paris zu reisen oder nach Paris gereist hatte. 1801 entschloss er sich zu einer Reise nach zu sein, und noch besser war es, wenn der Reisen- Paris, und es ist anzunehmen, dass er seinen de auch einen Bericht über seine Reise vorlegen grossen Roman über die Revolution in der konnte. Denn die Leute in ganz Europa hatten den Schweiz, die zur Etablierung der Helvetischen Eindruck, dass Paris die überhaupt wichtigste Republik von 1798 führte, nämlich „Saly’s Revo- Stadt der Welt war, vor allem auch darum, weil luzionstage“, schon weitgehend abgeschlossen sie der Schauplatz der grossen Französischen Re- hatte. volution geworden war. Was hatte sich da nicht Was ihn in Paris interessierte, war weniger die alles ereignet: die Enthauptung des Königs, die Politik, als dass er sich als kunsthistorisch interes- Schreckensherrschaft der Jakobiner, die Macht- sierter Tourist mit Land und Leuten vertraut ma- übernahme durch das Direktorium und zuletzt, chen wollte, die für das Geschick Europas die be- 1799, der Aufstieg . Wer nach Paris stimmenden geworden waren. reiste, musste Zeuge werden von Ereignissen, die Die Reise nach Paris führte über Basel; man ganz Europa bewegten. reiste in grossen Postkutschen, die im Hinblick Auch Heinrich Zschokke war rund fünf Jahre auf den Komfort einige Wünsche offen liessen. vorher in Paris gewesen und hatte als junger Mann Unvermeidlich war es auch, dass man an den von weniger als 25 Jahren seine Erlebnisse ge- Poststationen, wo die Kutschen gewechselt wur- habt. Wenn sich ältere Zeitgenossen aus der den, zu längeren Aufenthalten gezwungen war. Schweiz ebenfalls Richtung Paris aufmachten, so Das war auch in Basel der Fall, und so überlegte geschah das gelegentlich mit mehr Skepsis; denn sich Ulrich Hegner, wen er in Basel besuchen die Schnelligkeit, mit der sich in Paris die Ereig- könnte. Hegner war selber von 1798 bis 1801 hel- nisse überstürzten, war nicht nach jedermanns Ge- vetischer Kantonsrichter gewesen, hatte sich dar- schmack. über hinaus dank seinem Roman mit den ver- schiedensten Aspekten der helvetischen Staats- Ulrich Hegner, der Literat aus Winterthur umwälzung beschäftigt – also war es naheliegend, Ein solcher Reisender war Ulrich Hegner, rund dass er in Basel jemand besuchen würde, der in 12 Jahre älter als Heinrich Zschokke, ein gebore- einer erkennbaren Beziehung zu dieser Helveti-

8 schen Republik stand oder von dem Hegner dank schon ist, wofern ihm nicht der unauslöschliche seinen eigenen Erfahrungen schon eine gewisse Hass der aristokratischen Partey gegen alle homi- Vorstellung besass. nes novos, und die damit verbundene leiden- schaftliche Verkleinerung alles Guten, das nicht der alten Quell enttröpfelt, im Wege steht. Aber ach! so lange noch auf der einen Seite dieser blin- de Hass des aristokratischen Haufens, nicht nur gegen Sachen sondern auch gegen persönliches Verdienst, fortdauert, und auf der andern Seite die krasseste Selbstsucht die Schritte der Demagogen leitet, so steht es noch schlecht um das Vaterland, und es ist zu befürchten, dass wenn nicht bald ein erfahrner Gärtner kommt, der dieses Unkraut aus- zutilgen vermag, oder ein treuer Hirt, der sich der wenigen noch unangesteckten Schafe erbarmet, gar alles zu Grunde gehe, und das viele Böse auch das Gute mit sich ins Verderben ziehe.“ Anonymität von Hegners Gegenüber Heinrich Zschokke ist mit Namen nicht genannt, aber er ist ohne jeden Zweifel gemeint. Wen gäbe es sonst in Basel, der 1801 durch seine politische und belletristische Schriftstellerei bekannt wäre und zugleich als Politiker gilt? Wer ist es, der – offensichtlich in noch jugendlichem Alter – seine eigentliche Bestimmung noch nicht kennt, doch Stahlstich von Johann Ulrich Hegner voll grosser Eigenschaften ist? Wer blickt im Ba- sel von 1801 auf lehrreiche Erfahrungen der Re- Hegners Aufenthalt in Basel volution zurück, wenn man einmal annimmt, dazu

1 gehöre auch ein Aufenthalt in Paris? Wer gilt in In seinem Reisebericht las ich die Schilderung dieser Stadt als homo novus, der vom alten Patri- dieses Besuches wie folgt: „Auch hier lernte ich ziat (eine klassische Aristokratie war Basel nicht) wieder aus der persönlichen Bekanntschaft mit ei- schräg angesehen wird? Peter Ochs ist um diese nem trefflichen Manne, wie sehr man sich oft in Zeit vermutlich gar nicht in Basel, den jugendli- dem Bilde irren kann, das man sich von einem chen Enthusiasmus hat er verloren. Peter Burck- Menschen, wenn man ihn nach seinen Schriften hardt, Johann Heinrich Wieland, Peter Vischer beurtheilt, macht. Ich hatte einige Vorurtheile ge- sind alles keine Leute, die eine sowohl politische gen ihn wegen seiner politischen und belletristi- wie belletristische Schriftstellerei betreiben. Es schen Schriftstellerey, indem mir dünkte, er lasse gibt im damaligen Basel neben dem jungen helve- sich als Politiker zu schnell von dem günstigen tischen Statthalter keine Person, auf die Hegners Scheine des Augenblicks und als Schriftsteller zu Beschreibung passen könnte. sehr von dem Glanze fremder Autorität hinreis- sen, und opfere seinem lebhaften Sinne für frem- Warum nennt er ihn nicht mit Namen? Offen- des Verdienst und seiner Gabe der schnellen bar hat ihm Zschokke auch eröffnet, dass er seine Vollendung zu oft die Originalität der Wahrheit Stelle als helvetischer Statthalter als eine vorüber- und den guten Geschmack auf. Aber mancher gehende betrachte, und dann ist das politische An- kann noch kein Glück mit seinen Büchern ge- sehen dieses über Graubünden in die Schweiz ge- macht haben, weil er seine eigentliche Bestim- flüchteten Magdeburgers, der im Auftrag der hel- mung noch nicht kennt, und doch voll grosser Ei- vetischen Behörden ein Büro für Nationalkultur genschaften seyn, so wie dieser, der sich mir im leitete, ja doch ziemlich kontrovers – kontrovers Umgange bald als einen Mann von eigenthümli- wohl auch insofern, als die Schicksale und Karrie- chem Geiste, grossem Verstand und kräftigem ren in den Monaten und Jahren nach 1801 äusserst Willen zeigte, dessen jugendlicher Enthusiasmus, belebt waren. Beim erstmaligen Druck des Reise- abgekühlt durch die lehrreichen Erfahrungen der berichtes von Hegner würde Zschokke ziemlich Revolution, einer wohlmeinenden Klugheit Platz sicher nicht mehr in Basel sein. gemacht zu haben scheint, welche, durch seinen Welches die Gespräche waren, die Hegner und emporstrebenden Geist getrieben, seinen politi- Zschokke führten, lässt sich nur vermuten. Hegner schen Wirkungskreis in unserm Vaterlande noch spricht davon, dass ein erfahrener Gärtner kom- mehr erweitern könnte, als er es gegenwärtig men sollte, um das Unkraut, das Aristokraten und 9 Demagogen im Vaterland wachsen liessen, auszu- helvetische Verfassung. Es ist ihm zuzutrauen, tilgen – es kann damit eigentlich nur Napoleon dass er sie nicht nur dem Innenminister Rengger gemeint sein. Die andere Variante wäre der treue und seinem Freund Aloys Reding anvertraute, Hirt, der sich der wenigen noch unangesteckten sondern auch Bonaparte persönlich sandte. Schafe erbarmt – Aloys Reding könnte gemeint Er hatte seinen Verfassungsentwurf gerade fer- sein. Also haben Hegner und Zschokke ziemlich tiggestellt, als Hegner bei ihm eintraf, und es wäre riskante Gespräche geführt, die man auch mit kurios, wenn er mit ihm nicht hauptsächlich dar- subversiv bezeichnen könnte. über gesprochen hätte. Die anfangs zitierte Stelle Auch von daher war es naheliegend, dass Heg- aus Hegners Reisebericht deutet daraufhin. Was ner den Namen seines Gesprächspartners ver- beide nicht wussten: Bonaparte hatte seine eigene schwieg. Aber den guten Eindruck, den ihm Vorstellung darüber, wie die zukünftige Schweiz Zschokke machte, wollte er nicht verschweigen. aussehen sollte. Als „Vorschlag eines Unbekann- ten“ teilte er sie den Schweizern am 29.4.1801 in Markus Kutter Malmaison mit und duldete keinen Widerspruch. Ergänzung Wenn Hedwig Waser weiter schreibt, dass Bonaparte nicht auf Zschokkes Brief reagierte, ist Am folgenden Tag, dem 16. Mai 1801, reiste das unter diesen Umständen verständlich. Hegner Hegner mit der Diligence weiter nach Paris, wo er wartete vergeblich auf eine Antwort und hatte an Pfingsten ankam. Am Dienstag sprach er beim später keine Lust, das Thema seines Gesprächs Schweizer Botschafter Stapfer vor, um sich eine mit Zschokke und seiner gescheiterten Mission Audienz beim Ersten Konsul Bonaparte zu ver- bei Bonaparte an die grosse Glocke zu hängen. schaffen. So weit werden wir durch Hegner in seinem Werk „Auch ich war in Paris“ selber un- Hegner und Zschokke standen später in einem terrichtet. Dass er Bonaparte aufsuchte, erwähnt er anregenden literarischen Briefverkehr; Hegner hier nicht, erst in seinen gesammelten Schriften, schrieb auch Beiträge für Zschokkes verschiedene wenn auch nur kurz.2 Zeitschriften. Obwohl die beiden politisch nicht gleicher Auffassung und auch vom Temperament Hegner hatte wichtige Post an Bonaparte bei her verschieden waren, schätzten sie einander sich. Hedwig Waser schreibt in ihrer Biographie sehr. Die Winterthurer Dichterin Esther Schellen- über Hegner:3 „An diesen Allgewaltigen trug berg-Biedermann schreibt in ihren „Erinnerungen Hegner einen Brief in der Tasche, von Zschokke, 4 an Ulrich Hegner“: dem unermüdlich für sein Adoptivvaterland Be- sorgten.“ „Mit interessanten Besuchen von hohen oder berühmten Personen hörte man Hegner sich nie- Durch Recherchen im Staatsarchiv des Kan- mals brüsten. Dem scharfsinnigsten Spiessbürger, tons Baselstadt ist Folgendes zum möglichen In- wie Heinrich Zschokke ihn einst nannte, gewährte halt dieses Briefes zu finden: Aus Erlangen, dem indessen manche Erscheinung hohen Genuss. Zu Hauptquartier der Schweizer Emigranten, schickte diesen gehörte Zschokke selbst; nie fehlte Hegner Junker und Hauptmann Hans Jakob Gonzenbach in dem Kreise, wo er diesen zu finden hoffte. Es (1754–1811) im Frühling 1801 Warnungen über war interessant, diese beiden Männer neben ein- ein gegen Bonaparte geplantes Attentat an ander zu sehen: die Lebendigkeit, das Gebehr- Zschokke. Die Weiterleitung dieser Nachricht denspiel, der, ich möchte sagen, von einer Welt duldete keinen Aufschub. Der Brief wurde von zur andern fliegende Geist Zschokkes bildete ei- Zschokke, nach Rücksprache mit dem Justizmini- nen auffallenden Contrast zu Hegners anschei- ster, abgeschickt. Zschokke bat Gonzenbach um nender Ruhe, die nur zuweilen durch einen ener- weitere Enthüllungen über das Treiben der Emi- gischen Ausdruck, oder ein gewisses ihm eigenes granten. Gonzenbach, der damit eine Rückkehr in Lächeln unterbrochen ward.“ die Schweiz und die Rückgabe seiner Landgüter erwirken wollte, versorgte Zschokke in der Folge Werner Ort weiterhin mit eher zweifelhaftem geheimdienstli- chen Stoff. Es ist durchaus denkbar, dass Hegner einen solchen Brief mit sich nahm und versprach, 1 U. Hegner: Auch ich war in Paris, Bd. 1, Winter- ihn Bonaparte persönlich auszuhändigen. thur 1803, S. 57-59. 2 Eine weitere, fast noch wahrscheinlichere U. Hegner: Gesammelte Schriften, Bd. 1, Berlin Möglichkeit: Nach dem Frieden von Lunéville 1828, S. 322. 3 Hedwig Waser: Ulrich Hegner. Ein Schweizer (9.2.1801) herrschte in der Schweiz Jubel und ei- Kultur- und Charakterbild, Halle 1901, S. 107. ne Verfassungseuphorie. Allenthalben hoffte man, 4 Esther Schellenberg-Biedermann: Erinnerungen den Kurs der Schweiz neu festlegen zu können. an Ulrich Hegner, Zürich und Winterthur 1843, Auch Zschokke entwickelte Ideen für eine neue S. 43.

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Museo-Logisches zur Zschokkestube im Schlössli Aarau Von Martin Pestalozzi, Museumsleiter und Stadtarchivar

Hoffnung, später irgendwo Museumsräume zu finden. Sie ist 1939 – nicht komplett – als Fundus ins Schlössli eingebracht worden. Die Bestände verdanken einer andern, frühern Personalunion um 1900/1920 eine teilweise nicht mehr ganz nachvollziehbare Verteilung auf das Gewerbemu- seum/Schloss Lenzburg (Kanton Aargau) und Schlössli (Stadt Aarau). Damals waren jedoch an- scheinend noch keine Zschokkeana betroffen. Die Zschokkestube entstand 1943–1945; sie gehört damit sowohl in die Aera des ersten Kon- servators, des Ingenieurs Frikart, wie auch zu den ersten eingerichteten Wohnräumen. Noch früher waren bloss die Kadetten- und die Archivausstel- lung entstanden. Doch geben die erhaltenen Akten des Stadtrates keinen Aufschluss darüber, wie die Stube damals eingerichtet war, denn ein 1943 er- wähntes Inventar blieb unauffindbar. Viele der besten Stücke erreichten unsere Burg erst in drei späteren Wellen. Zur ersten gehören die Schen- kungen des 1950 verstorbenen Optikers Walther Zschokke, des früheren Entwicklungschefs der Alte Postkartenansicht vom Schlössli Aarau Optik bei Kern; eine zweite folgte in den 1950er Jahren, eine dritte in den 1990ern. Leider sind die Die Entstehung der Zschokkestube Nachweisakten zu einzelnen Stücken lückenhaft. Dass das historische Museum der Stadt Aarau – Die bloss feierabend(amt)lich tätigen ersten Kon- wesentlich ein Wohnmuseum – auch Zschokke servatoren Frikart, Guido Fischer und Theo Elsas- einen Raum widmen sollte, war der Museums- ser haben viel erreicht, jedoch muss jemand – kommission seit der Schenkung des Schlössli möglicherweise viel später – einmal viele Akten 1930 durch die Familie Rothpletz klar. Allein die ent- oder versorgt haben. Im neuen Schlösslifüh- Krisenzeit liess wenige Mittel frei; bei seiner Er- rer (Heft 1) hat die Stube wieder ihren festen öffnung 1939 besass das Museum kaum Zschok- Platz. keana, wie wir sie vom heutigen Erscheinungsbild der Zschokkestube kennen. Immerhin war der Kreis jener Aarauer in der damals massgebenden Generation der im 3. Viertel des 19. Jahrhunderts Geborenen, die den Schweizerboten in ihrer Ju- gend gelesen hatten, noch gross. Ausserdem gab es in der Kantonsbibliothek die Signatur Zschok- kestübchen. Offenbar ist ein Teil der Bücherbe- stände vor dem II. Weltkrieg dorthin gewandert und verhältnismässig spät (1970er Jahre) dort ka- talogisiert worden. Bei der um 1940 herrschenden Personalunion von Kantonsbibliothekar, Staatsar- chivar und Präsident der Schlösslikommission in der Gestalt von Hektor Ammann ist das auch nicht verwunderlich. So kommt es, dass das Schlössli zwar viele, aber nicht alle Werke und schon gar nicht die Bi- bliothek Heinrich Zschokkes besitzt. Eine Samm- lung Alt Aarau, die alle Aroviana umfassen sollte, ist 1879 vom Stadtrat gegründet worden in der Die Zschokkestube im Schlössli Aarau 11 Ein Glanzlicht im Museumsbestand bilden die dell des Zschokke-Denkmals; diese Ausführung Bände des Blumenhaldners. Diese von Kindern ist speziell angefertigt worden für die Mu- Zschokkes geschriebenen Unikate einer Familien- seumsbesuche von Sehbehinderten, aber auch für zeitschrift sind aber durchaus einen eigenen Arti- Kinder, damit sie Heinrich Zschokke auch daktyl kel wert. Da Tintenfrass droht, ist baldige Restau- erfassen können. ration geboten! – Der Blumenhaldner findet heute Daneben fällt der Blick bald auf zwei in eines auch in der Forschung wieder Anklang; 1999 hat Schriftstellers Heim ungewöhnlichere Relikte. An z.B. Ursula Huber eine erste Arbeit aus dieser der Wand hängt Zschokkes Säbel. Genau in dem Quelle geschrieben; sie ist als Lizentiatsarbeit je- Moment, als Mode und Politik Rittertum und De- doch nicht veröffentlicht worden. Der Bedeutung gentragen abschafften, verlangte 1798 die Amts- und dem schlechten Zustand des Blumenhaldners tracht der Helvetik Bewaffnung der Beamten. entsprechend, wird dieser nicht ausgestellt, steht Martialisch und so gar nicht dem hohen Rang aber der Forschung auf Anfrage zur Verfügung. Zschokkes als Regierungsstatthalter (Präfekt) ent- Das Nämliche gilt für die Korrespondenz oder an- sprechend wertvoll ausgefallen, präsentiert sich dere Schriftstücke im Museum. Ausgewählte Sei- seine einfache Hiebwaffe. Offenbar ist niemand ten aus dem Schweizerboten und aus den Stunden während der hektischen Helvetik auf die Idee ge- der Andacht sollten BesucherInnen im Museum kommen, ihm eine ziselierte oder tauschierte auf Wunsch lesen können. Klinge zuzueignen. So blieb es beim einfachen Erscheinungsbild der Zschokkestube Säbel nach französischem Muster, so ganz zum Die Porträts des Ehepaars Heinrich und Nanette wuchtigen Wanderstock passend, den Zschokke Zschokke-Nüsperli fangen den Blick aller Eintre- 1795 bei seinem Eintritt in die Schweiz mitgeführt tenden. Manche Besucher fragen sich, ob das Paar hatte. im Alter so verschieden gewesen sei. Eine Krank- heit war am etwas mitgenommenen Eindruck schuld, den die Herrin der Blumenhalde auf die- sem Bild erweckt; dazu wissen wir natürlich auch um ihre 13 Schwangerschaften und Geburten. In der Grösse nicht dem Wohnraum in der Zschokkes Schwert im Schlössli Aarau Blumenhalde gemäss, vermittelt der freundliche, Diese Gebrauchsgegenstände von einst sind, wie in biedermeierlich-pastellfarbigem Hellgrün ge- auch die von Ali Zschokke 2001 geschenkte haltene Raum eine intime Atmosphäre. Er liegt im wundervolle Pendule, in ihrer Abstammung nördlichen Schlössli-Palas. Gerade die bescheide- durchgehend belegt. Diese Uhr ist von Jacques ne Dimensionierung dieser einstigen Lieblings- Duvoisin in St.-Blaise hervorragend restauriert stube der letzten Schlossherrin aus der Familie worden und damit wieder gangfähig. Ihr Dekor Rothpletz mit viel Morgenlicht erlaubt einen Be- mit Blumen ist hochelegant und wirkt ganz anders zug zu Zschokkes Lebensgeschichte. als das etwas flächige ihres Gegenübers. Diese Vom wenig geeigneten Schloss Biberstein über zweite Uhr, von Jacobin aus dem Val-de-Ruz, die das Bürgerhaus am Rain zur Blumenhalde am ebenfalls aus dem letzten Viertel des 18. Jahrhun- Südhang ergibt sich ein Aufstieg zu einer der Fa- derts stammt, hat ein – sehr ähnliches – Repetiti- milie gemässen Wohnform. Unser Schlössli ver- onswerk. Stundenschlag untermalt die grössere mittelt gleichzeitig etwas Schloss-Stimmung, aber Bedeutung, welche der gemessenen Zeit ab dem auch etwas von den zeitweise engern Verhältnis- Beginn des 19. Jahrhunderts zukam. Die Herkunft sen, als der Oberforstrat des Kantons Aargaus und dieser zweiten Uhr ist unbekannt. Redaktor des Schweizerboten von diesem seinem Gegenstände erzählen Geschichten Einkommen nicht leben konnte und zusätzlich in der Leitung einer Gerberei mitwirkte. Uns Museumsführern gibt just der Gegensatz von Säbel zu Buch und Stehpult Gelegenheit, den Neben den Porträts der Schweizer Stammeltern Geist der Zeit durch passend angebrachte Bemer- dominieren Tafelklavier und Bücherschrank. kungen plastischer werden zu lassen. Insofern ist Spinnrocken und Stehpult deuten die Hauptaktivi- die Zschokkestube von besonderem Wert, als die täten von Hausherr und Hausfrau an. Zahl echter Zschokkeana sowie die Widersprüche Die 13 Kinder und ihre direkten Nachkommen innerhalb der Zeit um 1800 klar hervortreten: Die erfasst ein Stammbaum aus den Jahren um 1902 Helvetik schuf nicht nur den ersten Gesamtstaat rechts von der Tür. Das gleiche Unterfangen Schweiz, sie verdammte ihre Beamten auch zu könnte für das zweite Familien-Jahrhundert unglaublich viel Schreibarbeit. Die Kantonsstatt- zeichnerisch gar nicht mehr so dargestellt werden. halter, obwohl oberste Beamte eines Kantons, er- Der Stammvater ist weiterhin präsent im Gipsmo- füllten ihre Funktion eben gerade nicht als Waf-

12 fentragende. Vielleicht finden später Seiten des hard Herzog, um 1840 entstanden und 2001 von Schweizerboten in einer bislang erst im Kopf des Klavierbauer Daniel Müller für das Schlössli ko- Museumsleiters vorhandenen Präsentiermaschine stenlos renoviert, dient dazu, in der angrenzenden ebenfalls noch Platz in diesem Raum, der sonst Meyerstube Biedermeierkonzerte zu geben. In der keinesfalls überladen werden sollte. Zschokkestube ist diese Musik immer noch ange- Die Sitzmöbel in der Raummitte stammen aus nehm zu hören. Zschokkes Tafelklavier von 1796 der Linie Emil-Guido-Ernst-Rolf Zschokke und ist leider nicht gleichartig renovierbar, auch fehlt sind, wie auch das Stehpult, die Bände des Blu- ihm eine Oktave Klangumfang. Eine Renovation menhaldners und weitere Gegenstände, von den verliehe dem Instrument eine nicht mehr echte Erben für das Museum bestimmt worden. Das So- Halbantiquität. fa dazu mit seiner eigenartig hohen Lehne aus ge- drechselten Stäben hat, da die einzige passende Wand für das Tafelklavier reserviert worden ist, vorläufig einen prominenten Platz in der Her- zogstube gefunden, ist aber für die daneben lie- gende Meyerstube vorgesehen.

Ansichten und Porträts Die Zschokkestube enthält verschiedene Porträts des Dichters und Politikers; sie erlauben einen bessern Einblick in das Sehen seiner Zeitgenos- sen. Am augenfälligsten sind die beiden schon Das von Josef Howard in Bern stammende Tafel- erwähnten Ölbilder des Berliner Malers Julius klavier Heinrich Zschokkes aus dem Jahr 1796 Schrader von 1842, die das alternde Ehepaar Zschokke zeigen und anscheinend die Gesichts- Vertiefte Betrachtungsweise züge sehr genau wiedergeben. Die beiden Darstel- lungen Zschokkes durch den radikalen Politiker Der Fundus des Schlössli enthält ebenfalls viel und Karikaturisten Martin Disteli strahlen viel Material. Das Schriftgut eignet sich wenig zur Energie aus. Das Gleiche gilt für die kleine Feder- Ausstellung, doch bildet die Abteilung Zschok- zeichnung von Nanny Nüsperli als Braut. Die keana einen familiengeschichtlichen Pol. Interes- siebzehnjährige Pfarrerstochter wirkt im Profil sierte BetrachterInnen könnten sich in vier The- ganz anders als en face. Bezaubernd ist ihre einzi- men vertiefen: ge Tochter Coelestine, 1834 als Sechsjährige von Inhalt und Wirkungsgeschichte von Zschokkes ihrem Bruder Alexander (23) festgehalten. Ganz einzelnen Werken gesetzte Würde strahlen Pfarrer Emil und seine Studiensammlung (nicht ausgestellt) bzw. Su- Frau Elise Zschokke geb. Offenhäuser aus, die che nach anderswo vorhandenen Erbstücken Alexander 1845 verewigt hat. Von Olivier das Leben der Nachkommen Zschokke findet sich eine Gouache von 1852 mit Geschichten, die nur im Zusammenhang mit dem Grabmal des Vaters vor der Jurakette. Und die Blumenhalde öffnet sich ganz anders vom anderen Familien oder Orten Wirkung zeigen. Hang her, so wie sie Isenrings Stift vor die Stadt- silhouette platziert hat. Der neue Schlössliführer Von Zschokkes Freunden sehen wir seinen Arzt J. Heinrich Schmuziger (1776–1830), dessen Der neue Schlössliführer erscheint ab 2002 in Nachfolger Fisch (1834) sowie den Politiker A- 4 Heften: loys Reding, der 1802 politische Kurswechsel ▪ Wohnen (2002, bereits erschienen) vollzog. Symbolisch für den Wunsch des Volkes nach einer heilen Schweiz mag ein Idyll des Vil- ▪ Kunst/Figurinen/Uhren ... (2002) lageois content dazugehören. Es veranschaulicht ▪ Handwerk und Industrialisierung (2003) das Zielpublikum des Schweizerboten. ▪ Industriezeit / 20. Jahrhundert (2004) Alte Klänge Bestellungen: Fax 062 836 06 38 / Schlössli, Gelegentlich erklingt im Schlössli Musik in origi- Schlossplatz 23, 5000 Aarau / e-mail schlöss- naler Tonalität. Das Aarauer Klavier von Bern- [email protected] Preis: je Fr.10.– plus Porto.

13 Magdeburg, eine Heimat in der Fremde

„Bei mir im Herzen lebt alles noch so frisch, was Gelüst der regierenden Klasse wohnt, ist ein Her- mir sonst in Magdeburg theuer war, als wäre es renland. – Unser Geburtsland ist nicht immer un- nur seit zwanzig Tagen, daß ich Magdeburg ver- ser Vaterland.“2 lies. – Und Tage oder Jahre – am Ende ist alles Die Schweiz, mit all ihren Mängeln und das Gleiche. Der Geist ist ewig, darum das längste Gebrechen, wurde fortan Zschokkes Vaterland, Leben ein aüsserst kleiner Traum für das, was wir und von hier aus verfolgte er, wie die preussische noch zu leben haben. Was Sie mir von Magdeburg Aristokratenarmee von Napoleons Bürgerheer be- aüssern, nicht angenehmen Veränderungen sagen, drängt und gedemütigt wurde, wie die stolze Fe- find’ ich nicht halb so betrübt als daß man sich stung Magdeburg sich widerstandslos ergab (am darüber, wie es scheint, so sehr betrübt. Was liegt 11.11.1806) und der König vor dem korsischen zulezt an der Hülse? bleibe nur der Kern gesund, Eroberer bis an die Ostgrenze seines Reichs floh. das Gemüth der Magdeburger!“ So schrieb Hein- Zschokke war innerlich zerrissen: Der Stadt rich Zschokke am 8.8.1815, zwanzig Jahre, nach- Magdeburg mit den vertrauten Strassen und Win- dem er Magdeburg für immer verlassen hatte.1 keln gehörten seine kindlichen Gefühle. Nord- Immer war Zschokkes Verhältnis zur Vater- deutschland war der Kulturraum, in dem er sich stadt von Ambivalenz geprägt. Er erinnerte sich geistig bewegte und schrieb. Aber dem politischen gern an Episoden aus der Kindheit, die er in Er- Preussen kehrte er den Rücken zu. Nie mehr zählungen wieder aufleben liess. Doch diese betrat er seinen Boden. Noch 1845, als weltbe- Kindheit war überschattet vom Schmerz früher El- rühmter Autor, mied er Magdeburg, um einer ternlosigkeit. Die Mutter starb ein Jahr nach seiner Verhaftung zu entgehen. Seine Magdeburger Be- Geburt, der Vater, als der Knabe noch keine acht kannten traf er in Harzburg jenseits der Grenze. Jahre alt war. Unter der Aufsicht seiner älteren Seine Angst war irreal, gewiss, aber sie gründete Geschwister, Lehrer und des Vormunds fühlte der auf Erfahrungen aus der Restaurationszeit, als sei- phantasievolle Junge sich eingeengt, so dass er ne Schriften, gleich jenen Heines, in Preussen schon mit 17 davonlief, um sich auf eigene Faust verboten waren und er seiner liberalen Überzeu- durchs Leben zu schlagen. Dies war ein erster gung wegen wie ein Staatsfeind behandelt wurde. Bruch mit der Familie, mit Magdeburg. Zschokkes Kontakte zur alten Heimat, die Dieses Verhältnis beruhigte sich in der Fremde nicht mehr sein Vaterland war, rissen nie ab; aber allmählich, so dass Zschokke sogar daran dachte, sie beschränkten sich auf wenige Verwandte und sich als Pfarrer in Magdeburg niederzulassen und Freunde, auf Briefe in jährlichen Abständen, in seine Jugendliebe zu heiraten. Obwohl er in der denen sich Zschokke angelegentlich nach familiä- Katharinenkirche mit Erfolg predigte, bekam er ren Neuigkeiten erkundigte und seinerseits über die Pfarrei jedoch nicht, und ohne eine Anstellung seine vielfältigen Tätigkeiten und den Familien- war die Heirat ausgeschlossen. Lag es an Zschok- zuwachs Auskunft gab. Er glaubte sich in Magde- kes Jugend, dass ein anderer Bewerber ihm vorge- burg mehr und mehr vergessen, zumal seine Ge- zogen wurde – oder etwa doch am politischen Sy- schwister nach und nach starben. Wie ein freudi- stem? Unter König Friedrich Wilhelm II. wurde ger Schock traf ihn deshalb die Mitteilung, dass der liberale friderizianische Geist durch Unter- Magdeburg ihn am 14.3.1830 zum Ehrenbürger drückung der öffentlichen Meinung abgelöst. ernannt hatte. Zschokke, der sich zeitlebens von Staat oder „Wir Ober-Bürgermeister und Rath der alten Kirche oder sonst wem nie gängeln lassen wollte, Stadt Magdeburg beurkunden und bekennen hielt es in Preussen nicht länger. Er reiste ins re- hiermit, daß wir dem Herrn Ober-Forst-Rath Jo- volutionäre Frankreich und in die freie Schweiz, hann Heinrich Zschokke in Aarau zum Beweise um die Staatsform der Republik zu studieren, zu der hohen Achtung, welche derselbe sich durch der er sich im Herzen schon länger bekannt hatte. seine lange rühmliche Wirksamkeit für Wahrheit Scharf formulierte er 1796 in seinen „Metapoliti- und Recht als Gelehrter und Staatsmann bei allen schen Ideen“: Freunden des Lichts in seiner Vaterstadt erwor- „Vaterland heisst der Staat, in welchem man ben, das hiesige Bürgerrecht ertheilt, und ihn in mit dem Gefühl der Freiheit, und derjenigen Zu- die Rolle der Bürger hiesiger Stadt als Ehrenbür- friedenheit lebt, die man im Kreise einer freundli- ger haben eintragen lassen, so daß er alle einem chen Familie, unter der Belehrung und Obhut ei- Bürger der alten Stadt Magdeburg zustehenden nes liebenden Vaters (des Gesetzes) empfindet. Rechte von jetzt an zu genießen haben soll.“ Da, wo man gezwungen nicht für sich und das Unterschrieben war der Bürgerbrief von Au- Heil der Gesellschaft, sondern für das Heil und gust Wilhelm Francke (1785–1851; Oberbürger-

14 meister von Magdeburg 1817–1848). „Es war der tung der „Zschokke-Stiftung“, die sich für die schönste Kranz“, erinnerte sich Zschokke später, Verbreitung guter Volksschriften einsetzte und „welchen die Vaterstadt auf das Leben eines ent- vermutlich bis 1854 bestand.5 fernten Sohnes niederlegen konnte, den sie wieder Das Geburtshaus Zschokkes an der Schrot- unter ihre eingebornen Kinder zurücknehmen dorferstrasse ist nicht mehr vorhanden und damit wollte. Wär’ ich jemals ein menschenfeindlicher auch nicht mehr die Gedenktafel, die darauf hin- Timon gewesen, dieser Tag würde mich wieder 3 wies. Die St. Katharinenkirche, in der Zschokke zum Menschenfreund gemacht haben.“ und Jahrzehnte später auch sein Sohn Emil Gast- predigten hielten, wurde im September 1944 von Bomben getroffen und brannte aus. 1964 wurde das Kirchenschiff gesprengt und zwei Jahre später mit Federstrich des Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht auch der Rest abgerissen.6 Seither existiert Zschokke in Magdeburg nur noch in der Erinnerung, etwa in zwei Aufsätzen von Otto Fuhlrott in den „Magdeburger Blättern“7 oder in Martin Wiehles Buch „Magdeburger Per- sönlichkeiten“8. Aber am 15.3.2001 beschloss der Stadtrat von Magdeburg auf Anregung der „Lite- rarischen Gesellschaft Magdeburg e. V.“ und auf Antrag des Oberbürgermeisters, ein Strassenstück gegenüber der Universität im Norden der Altstadt in Zschokkestrasse umzutaufen. Dieser Beschluss trat ein Jahr später in Kraft. Er führte dazu, dass sich die „Magdeburgische Gesellschaft von 1990 zur Förderung der Künste, Wissenschaften und Gewerbe e. V.“ an die Hein- rich-Zschokke-Gesellschaft wandte, mit der Bitte, in zwei Vorträgen ihren Bürger und Ehrenbürger Heinrich Zschokke vorzustellen (dazu auch die folgende Seite). Geburtshaus Zschokkes in Magdeburg Werner Ort 1842 widmete Zschokke sein wichtiges Alters- werk, „Eine Selbstschau“, der Stadt Magdeburg und schenkte Francke und dem Stadtrat zwölf 1 Verwandtschaftsbrief mit ungeklärtem Magde- Prachtausgaben. Sein Geburtstag wurde dort bei- burger Adressaten. Neuerwerbung des Staatsar- nahe hymnisch gefeiert. Die Magdeburger ver- chivs des Kantons Aargau im November 2001. fassten am 22.3.1842 eine Geburtstagsadresse mit 2 Metapolitische Ideen § 46; geschrieben in Paris 62 Unterschriften, wobei Francke als Erster unter- und erstmals abgedruckt in „Humaniora“, 1. Bd. zeichnete. Am 29.3.1842 schickten ihm 64 Bürger (1796), 1. Stück, S. 33. 3 Magdeburgs, darunter die Pastoren Sintenis und Heinrich Zschokke: Eine Selbstschau, Aarau 1842, S. 304. Uhlich, im Namen der „Lichtfreunde“ eine Dan- 4 kesadresse und Würdigung seines religiösen Heinrich Zschokke’s Geburtstagsfeier in Magde- burg am 22. März 1842 und 1843. Als besonde- Werks – Zschokke hatte sich kurz zuvor als Ver- rer Abdruck auch Freunden in der Schweiz nah fasser der „Stunden der Andacht“ bekannt. und fern gewidmet. Die Geburtstagsfeiern von 1842 und 1843 5 Michael Knoche: Volksliteratur und Volks- führten zu einer Broschüre mit Zschokke- schriftenverein im Vormärz. Literaturtheoreti- Gedichten, die bei diesem Anlass rezitiert wurden. sche und institutionelle Aspekte einer literari- Dieser Broschüre verdanken wir eine Federzeich- schen Bewegung. Sonderdruck aus dem Archiv nung von Zschokkes Geburtshaus, die hier wie- für Geschichte des Buchwesens Bd. 27, Frank- 4 furt/Main 1986. dergegeben wird. Die Bürger von Magdeburg be- 6 Magdeburgs zerstörte Altstadtkirchen. Kuratori- schlossen, einen Maler in die Schweiz zu senden, um 1200 Jahre Magdeburg, Magdeburg 2000, der Zschokke im August 1842 porträtierte. Das S. 28-31. gut getroffene Ölgemälde, von dem es mehrere 7 Otto Fuhlrott: Johann Heinrich Daniel Zschokke, Exemplare gibt, hängt im Stadtmuseum in Aarau. Magdeburger Blätter 1988, S. 56-63. 8 Oberbürgermeister Francke und die Stadt 1. Aufl. 1993, S. 50 f.

Magdeburg übernahmen auch Patronat und Lei-

15 Vom Schreibtisch der Redaktion Veranstaltungen vermutet der Autor, quittierte Thomas Pfisterer beleuchtete in sei- Zschokke seinen ner Einführung die Haltung Zschok- Dienst und ver- kes zu den Ereignissen. Samstag, 22.6.2002, 10.00 Uhr liess Basel über- Pirmin Meier: Mord, Philosophie Jahresversammlung der stürzt. Ein kolo- und die Liebe der Männer, Pendo riertes Porträt aus Verlag Zürich, 389 S. Heinrich-Zschokke- der Sammlung Gesellschaft der Universitäts- Zschokkes Korrespondenz in Aarau an der Küttigerstr. 21 bibliothek zeigt Texte Heinrich Zschokkes werden (Blumenhalde) ihn in Uniform seit einiger Zeit für Forschungen in vor einem romantischen Hintergrund. verschiedene Richtungen benutzt. Referent: Matthias Zschokke, Werner Ort: Heinrich Zschokke als Der „Schweizer-Bote“ wurde von Schriftsteller in Berlin, Nach- Regierungsstatthalter der Helvetik in Holger Böning 1983 für seine Studi- fahre von Heinrich Zschokke Basel (1800–1801), Sonderdruck aus en zur Volksaufklärung entdeckt. Die Bd. 100 der „Basler Zeitschrift für Familienzeitung „Blumenhaldner“ Geschichte und Altertumskunde“, nutzte eine Lizentiandin der Univer- Zschokke in Magdeburg Aarau 2001. sität Basel in geschlechterspezifi- scher Hinsicht. In diesen Monaten findet in Magde- Eros oder über die Männerliebe Auch der Briefwechsel Heinrich burg eine Veranstaltung zu Heinrich Der neuste Roman von Pirmin Meier Zschokkes wird als erstrangige kul- Zschokke statt. Organisiert durch die bietet eine Mischung von Obsession turgeschichtliche Quelle erkannt. Der „Magdeburgische Gesellschaft von und Verbrechen, spannend erzählt Schweizerische Nationalfonds ver- 1990“, die „Literarische Gesell- und historisch fundiert. Meier nimmt längerte die Erforschung der Zschok- schaft“ und das „Literaturhaus“, hält sich nach Büchern über Paracelsus, ke-Korrespondenz neulich um drei die Heinrich-Zschokke-Gesellschaft Niklaus von der Flüe und den Jahre. Zunächst ist die Edition des zwei Vorträge: „Staatsverbrecher“ Micheli du Crest integralen Briefwechsels mit dem Am 10. Mai um 19 Uhr spricht jetzt dem Thema Männerliebe an, um Berner Politiker und Historiker Fet- Thomas Pfisterer im Grossen Rats- wiederum Aussenseiter in Grenzer- scherin geplant, danach eine Aus- saal des Rathauses zum Thema „Der fahrungen zu schildern: Franz Des- wahl der Briefe mit seinen Söhnen. gouttes, Advokat in Langenthal, tötet Aufbau der modernen schweizeri- Leider ist die Zschokkefor- aus Eifersucht einen jungen Ange- schen Demokratie – Beiträge des schungsstelle Bayreuth, die sich zehn stellten und wird dafür hingerichtet, Magdeburgers Heinrich Zschokke“. Jahre lang der Suche und Erfassung und der Glarner Damenmodist Hein- der Zschokke-Briefe annahm, seit Am 3. Juni um 17.15 Uhr orientiert rich Hössli träumt davon, die Homo- vergangenen Herbst geschlossen. Wir Rudolf Künzli im „Karl-Rosenkranz- sexualität mit einem Buch zu rehabi- wünschen ihrem Leiter Prof. Robert Gebäude“ der Universität Magdeburg litieren. über „Nützliche Bildung – Ein Mag- Hinderling, der diesen Frühling eme- deburger erzieht die Schweiz“. Die Eine wichtige Figur in Meiers ritierte, einen schönen Ruhestand. Veranstaltung wird von der pädago- Roman ist Heinrich Zschokke, der gischen Abteilung durchgeführt. unter dem Eindruck des Mords und der Enthauptung von Desgouttes in Bildnachweis: seiner Erzählung „Der Eros, oder ü- S. 2 oben: Verkehrsverein Aarau (als Neue Bücher, neue Texte ber die Liebe“ (1821) auf eine für Grundlage); S. 6, 11: Archiv Haus Heinrich Zschokke als Regierungs- seine Zeit erstaunlich tolerante Weise Sauerländer; S. 9: Stadtbibliothek statthalter der Helvetik in Basel die verschiede- Winterthur; S. 12: Schlössliführer 1, Zschokkes Biographie hat viele Lük- nen Arten der S. 11. Übrige Abb.: Werner Ort. ken. Eine von ihnen betrifft die in- Liebe diskutiert. tensive und für ihn prägende Zeit, die Anstoss dafür er 1800–1801 als oberster Vertreter gab ein Gespräch IMPRESSUM der Helvetischen Regierung in Basel mit Hössli und Herausgeber: Heinrich-Zschokke- verbrachte. Wie er sich in seiner dem Philosophen Gesellschaft, Seebacherstr. 36, Aufgabe zurechtfand, was er bewirk- Troxler, die ihn 8052 Zürich, Tel. 01 / 301 47 11 te und wo er scheiterte, untersucht 1819 in der „Blu- [email protected] eine Studie, die vorwiegend Quellen menhalde“ auf- Redaktion: Werner Ort im Staatsarchiv Baselstadt und in der suchten. Mit Lokalkolorit und viel Thomas Pfisterer Universitätsbibliothek auswertet. Gespür für die Psyche der Beteiligten Markus Kutter zeichnet Pirmin Meier ein stim- Veronika Günther Ausser von Zschokkes politischen mungsvolles Bild dieses Treffens. Taten erfahren wir Neues aus seinem Druck: Pluto Druck AG Privatleben. Dazu gehört das Werben Eine ausgezeichnete Idee war es, Mitteldorfstr. 72 um die schöne, reiche Baslerin Sybil- die Vernissage des Buches ebenfalls 5033 Buchs la Heitz. Weil sie ihn verschmähte, in die „Blumenhalde“ zu verlegen.

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