CDU-DOKUMENTATION 33/1977

Berlin, 22.724. September 1977 Das Grundsatzforum der CDU - Dokumente der Diskussion -

Vom 22. bis 24. September 1977 veranstaltete die CDU ein Grundsatzforum in Berlin. Als große Volkspartei vertritt sie die Ansicht, daß eine Grundsatzdiskussion keine Routineangelegenheit in der politischen Arbeit sein kann. Sie hatte daher Sachverständige aus der Wissenschaft und allen gesellschaftlichen Gruppen zu dieser ersten Beratung des Grundsatzprogramms eingeladen. Aus der fruchtbaren Diskussion, die zu entscheidenden Anregungen führte, bringen wir folgende Auszüge: : Perspektiven freiheitlicher Politik Die Christlich Demokratische Union Deutschlands hat sich in der Präambel ihres Berliner Programms auf die Grundwerte Freiheit, Solidarität und Gerechtig- keit verpflichtet. Mit diesem Programm und mit diesen Grundsätzen werben wir um das Vertrauen unserer Bürger. Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit sind für uns keine unverbindlichen Floskeln. Sie sind die verpflichtenden Grundwerte unseres Programms und als solche Orien- tierungsmarken für unsere Politik. Aber wir haben auf diese Grundwerte kein Monopol. Auch andere bekennen sich zu ihnen. Die CDU aber ist die erste Partei, die ein Grundsatzprogramm erarbeitet hat, in dem diese Grundwerte und unser Verständnis vom Menschen in ihrem Zusam- menhang erläutert werden. CDU-Dokumentation 33/1977

Begriffe wie Freiheit oder Menschenrecht sind heutzutage alles andere als ein- deutig^ Sie sind durch inflationären Gebrauch fast entwertet. Wie sonst könnten die Charta der Vereinten Nationen oder die Schlußakte von Helsinki so viele Unterschriften tragen und so wenig Konsequenzen haben. Was hierzulande und in den sozialistischen Staaten unter Menschenrecht und Freiheit verstanden wird, hat kaum mehr gemeinsam als das Papier, auf dem diese Rechte allen Menschen in Ost und West bestätigt werden. Schwerwiegender noch als der Mißbrauch solcher Begriffe in der staatsoffiziellen Parteidoktrin ist die Sorge, daß sich auch bei den betroffenen Menschen — etwa im anderen Teil Deutschlands — die Vorstellung von Freiheit auf den Wunsch freizügigen Reisens reduzieren könnte. Wie sehr müssen sich Menschen unterdrückt und eingesperrt fühlen, daß sie — von Fernsehreportern nach ihren Erwartungen in die Belgrader Konferenz ge- fragt — häufig nur die Reisemöglichkeiten nach Westen erwähnten. Es gibt aber auch erfreuliche Anzeichen dafür, daß immer mehr Menschen, vor allem aus der jungen Generation, auf wirkliche Religionsfreiheit, auf Freiheit der Presse, auf Offenheit der politischen Diskussion und auf ein Ende der ihnen zu- gemuteten ideologischen Indoktrination hoffen. Immer mehr von ihnen sind auch bereit, ihre persönliche Existenz dafür einzusetzen. * Die Sozialdemokraten haben die Regierungsmacht dazu benutzt, ihr vielfach ideologisch verbogenes, nicht am Menschen, sondern am Kollektiv orientiertes Verständnis von Freiheit in praktische Politik umzusetzen. Das hat nicht nur Spuren im politischen Denken der Menschen hinterlassen sondern auch ganz handfest die Chancen für freiheitliches Handeln gemindert. Den ethisch-sittlichen Sinnbegriff der Freiheit haben die Sozialisten mit fatalen Folgen politisch-ideologisch vereinnahmt. „Wer für die Freiheit ist, muß für den Sozialismus sein", sagen sie. Da nach Brandt „Freiheit als Ergebnis gesellschaftlicher Leistung" zu bewerten ist, rechnen Sozialisten auch jede Freiheitsäußerung des Menschen nicht zum privaten, sondern dem gesellschaftlichen Bereich zu. Sie zu verwirklichen, ist nicht Aufgabe des einzelnen, sondern Auftrag an Staat und Gesellschaft. Freiheit ist deshalb im Verständnis der Sozialisten losgelöst von der Vorstellung individueller Verantwortung für die Verwirklichung von Freiheit. Die Leistung des einzelnen, seine Selbsthilfe und seine Pflicht dm Streben nach Freiheit bleiben ausgeblendet zugunsten von Ansprüchen und Rechten auf gesell- schaftliche Leistungen. & * Wer den Staat zu einem wohltätigen Leviathan aufbläht, erweist den Menschen 2 CDU-Dokumentation 33/1977

in Wirklichkeit keinen Dienst. Er gefährdet nicht nur ihre Freiheit, er untergräbt auch ihre soziale Sicherheit. Schon heute haben wir Grund zur Sorge um die Finanzgrundlagen unseres Systems der sozialen Sicherheit. Wer so tut, als könne der Staat dem einzelnen jedes Risiko abnehmen, der täuscht die Menschen — und schafft neue Risiken, die viel schlimmer sind als jene, die er beseitigen wollte. Wir alle erwarten vom Staat, daß er seinen Bürgern Sicherheit bietet, persönliche Sicherheit für Leib und Leben, Hab und Gut ebenso wie materielle Absicherung gegen existenzielle Risiken. Ohne Sicherheit ist das Recht auf Freiheit nichts wert, aber auch umgekehrt gilt, daß die Sicherheit ohne Freiheit zum Zwang verkommt und damit ebenfalls ihren Sinn verliert. Politik hat die Aufgabe, beide Bedürfnisse — Freiheit und Sicherheit — in einem ausgewogenen Verhältnis zu berücksichtigen. Eine Politik, die dabei nach ideolo- gischen Konzepten verfährt, muß scheitern. Menschen orientieren ihr Verhalten nicht an den Vorschriften ideologischer Schulbücher. Wir bestreiten unseren politischen Gegnern nicht die gute Absicht, daß auch sie ihre Politik in den Dienst der Freiheit stellen. Aber ihre Politik geht von falschen Voraussetzungen aus. Sde bringt den Menschen im Ergebnis nicht mehr, sondern weniger Freiheit. Falsch ist ihre Annahme, Freiheit könne sich nur im Kollektiv verwirklichen; falsch ist die Trennung individueller Freiheit von der individuellen Verantwortung; falsch ist die Vorstellung, die totale Abhängigkeit des einzelnen vom Kollektiv werde durch die Demokratisierung aller Lebensbereiche aufgehoben. Den ideologischen Postulaten der Sozialisten stellen wir in der CDU ein Men- schenbild gegenüber, das seine geistigen Wurzeln im christlichen Glauben und Sittengesetz hat. Wer sich die Geschichte des Menschen und der menschlichen Gesellschaft verge- genwärtigt, wird erkennen, daß dieses christlich geprägte Menschenbild in hohem Maße mit unserem erfahrbaren Wissen über den Menschen in Einklang steht. Wir wissen: Die Vollendung des Menschen sowie die Erfüllung einer innerweltlichen Heils- erwartung durch Geschichte und Gesellschaft sind nicht möglich. Niemand kennt das Ziel der Geschichte. Es ist deshalb müßig, dem Menschen und der Gesellschaft einen letzten Sinn ge- ben zu wollen. Die Freiheit ist dem Menschen als Aufgabe von Gott gegeben. Verantwortlich für die Verwirklichung seiner Freiheit ist der einzelne Mensch. CDU-Dokumentation 33/1977

Seine Leistungen und Fehlleistungen sind ihm — nicht bloß der Gesellschaft oder den gesellschaftlichen Lebensverhältnissen — zuzurechnen. Freiheit in der Theorie bleibt blaß. Erlebbare Freiheit muß im Alltag der Men- schen verankert sein. Richard von Weizsäcker: Selbstverantwortung und Mitverantwortung Schneidende Widersprüche kennzeichnen unsere politische Lage. Einerseits geht es uns gut, besser als den meisten anderen Ländern in der Welt. Andererseits stehen wir vor ernsten Belastungen. Unser sozialer Rechtsstaat kämpft mit den Herausforderungen der inneren und äußeren Sicherheit, mit strukturellen Zu- kunftsfragen und mit Lebensproblemen für alt und jung. In dieser Lage sucht der Bürger festen Boden unter den Füßen. Wenn es ernst wird, ist eine politische Marschroute vonnöten, die sich an gültigen Werten orientiert. Tagespolitische Ant- worten reichen nicht aus. * Im Grundsatzstreit klären sich die Maßstäbe, an denen man uns messen kann. Jeder soll wissen können, was eine Partei bewahren und was sie verändern wili und warum.

Es ist kein Zufall, sondern geschichtlicher Erfolg der demokratischen Idee, daß über die Grundwerte der Freiheit, der Solidarität und der Gerechtigkeit als Prin- zipien kein Streit besteht. Sie sind nie Monopol einer demokratischen Partei ge- wesen. In Wahrheit sind sie älter als alle Parteien, die es heute bei uns gibt. Müßig ist daher der Streit, wer sie von wem übernommen hat. Dies beantwortet aus unserer Sicht zugleich die Frage nach dem Verhältnis von Grundwerten und Parteien. Die SPD will „Grundwerte des Sozialismus". Sie bindet die Grundwerte also an ein Parteibekenntnis. Im Gegensatz hierzu hält die CDU daran fest, daß Grundwerte nicht der Politik einer Partei, sondern dem Gemeinwesen im ganzen zu dienen haben. Gegenwärtig spüren wir besonders daß unser demokratischer Staat ohne ein ausreichendes Maß an Übereinstimmung in den Grundlagen nicht mehr handlungsfähig wäre. Um so mehr hängt davon ab wie die Parteien die Auseinandersetzung um die Grundwerte führen. Ziel muß es sein, nicht die Grundwerte an eine Partei, sondern die Parteien an Grundwerte zu binden. CDU-Dokumentation 33/1977

Wichtigster Maßstab für die Grundwerte ist das Verständnis vom Menschen. Mit dem Godesberger Programm versucht die SPD, diesem Thema auszuweichen. Nach ihrer Auffassung fällt das Menschenbild in den Bereich der Weltanschau- ung. Es wird daher zur Privatsache deklariert, über die eine Partei nicht be- schließen könne, weil die pluralistische Demokratie dies verbiete. Der Versuch, die Frage nach dem Menschenbild programmatisch zu neutralisie- ren, mußte scheitern. Er hat nur dazu geführt, das Menschenbild zum Gegen- stand politischer Flügelkämpfe in der SPD werden zu lassen. Diese Entwicklung war ganz unvermeidlich. Es geht ja nicht um die privaten Glaubensentscheidun- gen der Bürger. Daß diese durch eine Partei zu achten sind, ist selbstverständlich, weil von der Verfassung geboten. Deshalb bindet eine Partei ihre Mitglieder auch nicht durch Beschlüsse über ein Menschenbild. Vielmehr beschließt sie über die Politik, die sie machen will. Aber das Ziel politischen Handelns ist der Mensch. Jede Politik entspricht, bewußt oder unbewußt, einem Menschenbild. Wir alle wollen Freiheit. Aber wie erreichen wir sie? Welche Freiheit meinen wir? Sind wir uns einig, wovon wir frei sein wollen? Und auch wozu? Wem fällt dabei welche Rolle zu? Was trägt der Staat, was die Gesellschaft, was der Mensch selbst dazu bei? Welchen Einfluß nimmt, mit anderen Worten, die Politik auf Be- wußtsein und Verhalten des Menschen, der frei sein soll? Dies alles sind im zen- tralen Sinn Fragen nach dem Menschenbild, und deshalb müssen Parteien sich und der Öffentlichkeit darüber Rechenschaft und Antwort geben. * Freiheit ist nach dem Orientierungsrahmen '85 der SPD lediglich eine gesellschaft- liche Aufgabe. Der Mensch ist nicht Quelle, sondern nur Empfänger der Freiheit als einer politischen Leistung der Gesamtgesellschaft. Entsprechend wird die Rolle des Staates gesehen. Auch er wird nur von den Wertvorstellungen der Gesellschaft gesteuert und ist ihr Werkzeug. Ausdrücklich wird ihm die Aufgabe abgesprochen, gesellschaftliche Gruppen auf das Gemeinwohl zu verpflichten. Vielmehr hat er die Rolle der bloßen Dienstleistung. Der Staat wird vergesellschaftet. Er wird zum Instrument für die Durchsetzung des politischen Zieles dieser Gesellschaft, näm- lich des Sozialismus. Hier stehen sich die politischen Konzepte theoretisch und praktisch gegenüber. Nach unserer Sicht ist Freiheit untrennbar von Verantwortung. Verantwortung trägt die Person, nicht ein Kollektiv. Die Person ist ein soziales, auf Gemein- schaft angelegtes Wesen. Sie ist nicht Robinson, der einsam und isoliert lebt. Sie ist auch keine Ameise, die im Kollektiv untergeht. Freiheit ist das Recht und die Aufgabe der verantwortlichen Person. Deshalb führt ein Programm in die Irre, das die Freiheit nur zur gesamtgesell- schaftlichen Aufgabe macht. Zur Freiheit gehört die Verantwortung für sich selbst. Wer dies gelernt hat, kann auch mitverantwortlich für andere handeln. Er kann solidarisch sein. CDU-Dokumentation 33/1977

Die grundsatzpolitische Auseinandersetzung gipfelt im Verständnis der Solidari- tät Im Orientierungsrahmen '85 der SPD wird eingeräumt, daß wir nur mensch- lich miteinander leben können, wenn wir uns füreinander verantwortlich fühlen Diese Passage wäre ein großer Fortschritt, wenn der Sozialismus seine Aussagen zur Solidarität auf sie stützen würde. Das ist aber nicht der Fall. Vielmehr beschreibt der Orientierungsrahmen '85 die Solidarität als Kampfge- meinschaft gegen andere. Dies ist aus der Geschichte der Arbeiterbewegung ab- geleitet und hatte zur damaligen Zeit seinen guten und notwendigen Sinn. Die heutigen Aufgaben lassen sich damit nicht lösen. Solidarität ist die wichtigste und zugleich die schwierigste Forderung für das freie Zusammenleben von Menschen, Gruppen und Staaten. Dort, wo sich die Interes- sen decken, ergibt sie sich von selbst. Wo aber Interessenkonflikte vorherrschen und wo die Macht ungleich verteilt ist, dort gewinnt Solidarität ihre Bedeutung. Solidarität unter Machtungleichen ist das zentrale Motiv für die weltweiten Ent- wicklungsaufgaben. Solidarität ist geboten, um unsere eigenen gesellschaftlichen Konflikte durch Partnerschaft zu bewältigen. Um Solidarität unter Nachbarn geht es, wenn wir menschenwürdig zusammenleben wollen.

Heiner Geißler: Das Grundsatzprogramm — Instrument einer gestaltenden Politik •pjie Erwartungen der Partei an die Grundsatzdiskussion und ihr Ergebnis, das -L' Programm, läßt sich in drei Anforderungen zusammenfassen. 1* °4! Grundsatzprogramm muß die wesentlichen gemeinsamen Überzeugungen ,eu ,U "^reiben, damit das Profil der Partei erkennbar ist. Dies ist seine klar- stellende Wirkung nach außen. Die Bevölkerung will wissen, wo wir stehen. Erklärte Grundsätze, in denen wir übereinstimmen, geben unserer Politik Kontinuität. Kontinuität macht eine Partei verläßlich und vertrauenswürdig. Wenn das Grundsatzprogramm dies leistet, brau- chen wir uns um die Unterscheidbarkeit, um die Abgrenzung von anderen Parteien nicht zu sorgen. Dann wird niemand in uns eine ständisch-soziale Alternative zur FDP sehen oder die wirtschaftsliberale Alternative zur SPD. Dann entgehen wir CDU-Dokumentation 33/1977

der Gefahr, unseren eigenen Standpunkt aus der Reaktion auf den Gegner zu bestimmen; Richtiges fallenzulassen, weil es angeblich von anderen Parteien be- setzt ist. Eine konservative Volkspartei neigt dazu, zu reagieren. Das Grundsatz- programm soll es uns ermöglichen, die anderen zur Reaktion auf uns zu zwingen. 2. Das Grundsatzprogramm muß den Zusammenhalt der Partei stärken. Es muß sie einigen. Dies ist seine integrierende Wirkung nach innen. Integration geschieht aber nicht durch Addition der Teilansichten. Wer es allen recht machen will, macht alles falsch. Er animiert Gruppeninteressen geradezu, ihre speziellen Anliegen besonders vehement vorzutragen. Lautstärke ist aber kein Beleg sachlicher Berechtigung. Wir müssen den Nachweis führen, daß die CDU nicht eine Dachorganisation von Interessenverbänden ist, sondern eine Volkspartei. Dies wird uns gelingen, wenn wir alle Forderungen an der Elle unserer gemein- samen Grundüberzeugungen messen. 3. Das Grundsatzprogramm muß anwendbar sein; und zwar für die Zeit, in der es gemacht wird und für eine voraussehbare Zukunft. Dies ist seine aufgabenorien- tierte Wirkung für das politische Handeln. Es muß von den tragenden Bedürfnissen der Menschen unserer Zeit ausgehen, nicht von dem, was dieser oder jener gerne für sich hätte. Die Devise des Grundsatzprogramms kann nicht lauten: was ihr wollt. Sie muß heißen: was die Menschen bewegt. Nur wenn das Programm Antwort gibt auf die großen Probleme der Zeit, kann es die Menschen zu einem großen politi- schen Aufbruch bewegen.

Die Mitglieder einer Partei müssen wissen, was sie zusammenhält. Sie müssen wissen, worin die Unterschiede zu den anderen Parteien bestehen. Diese Bedürf- nisse sind heute besonders aktuell. Aber dieses Bedürfnis nach Klarheit über die eigene Identität ist mit Abgrenzungs- formeln nicht zu befriedigen. Uns genügt es nicht, die eigene Position aus der Negation zu formulieren . . . Wir wissen: wer sich darauf einläßt, verliert die Kraft zum Aufbruch. Parteien, die sich aus der gegenseitigen Abgrenzung definieren, wetteifern um den Rückschritt. . . Heute ist das Konzept der Volkspartei nicht weniger chancenreich als in den Jahren nach 1945. Heute haben es Arbeitnehmer, Unternehmer, Jugendliche und alte Menschen, Mieter und Vermieter nicht weniger satt als damals, aufgrund ihres Berufes, ihrer Herkunft oder ihres Standes in das Klassenschema irgendeiner Ideologie gepreßt zu werden. Heute drängen starke Teile der SPD darauf, zur Klassenpartei zurückzukehren. Wir aber lassen uns nicht in das überständige Links- Rechts-Schema abdrängen. CDU-Dokumentation 33/1977

Rechts-links sind wohlfeile Etiketten; sie ersparen oft das Denken, sie sagen immer weniger über den politischen Inhalt aus. Sind die Unternehmer, die gemeinsam mit den Gewerkschaften in einem Kartell der Männer die Leichtlohngruppen für Frauen nicht abschaffen, links oder rechts? — Sind Gewerkschaften, die mit den Unternehmern für die Kernenergie eintreten, rechts oder links? — In welches dieser Schemata paßt Präsident Carters Eintreten für die Menschen- rechte, das zutiefst irritiert? Die Bürger der Bundesrepublik Deutschland wollen weder linke noch rechte Parteien, weil sie selbst sich weder als links noch als rechts verstehen. Nur in hochpolitisierten Randzirkeln der Gesellschaft verlieren Menschen ihre Persön- lichkeit an die totale Parteilichkeit. Der Bürger widersetzt sich dem. Wer sozial ist, will deshalb noch längst nicht links sein. Wer patriotisch ist, will deshalb noch längst nicht rechts sein. Vor allem aber will der Bürger er selbst sein. Die Strategie der CDU muß es deshalb sein, ihre Position als Volkspartei zu festi- gen. Dies entspricht unserem Charakter, unserer Geschichte, als einer Partei, die konservatives, christlich-soziales, liberales Gedankengut in sich vereinigt. Wir sind weder eine Partei der Wirtschaft noch der Gewerkschaften, sondern eine Partei für Arbeitnehmer wie für Unternehmer und wir vergessen dabei nicht die Interessengruppen jenseits von Kapital und Arbeit. Das Grundsatzprogramm muß dem Arbeitnehmer sichtbar machen, daß wir die Vollbeschäftigung nicht nur als konjunkturpolitisches Ziel anstreben, sondern auch „weil jedermann ein Recht auf Arbeit und auf Teilhabe am wirtschaftlichen Fortschritt hat" (Berliner Programm, Ziff. 62). Die Familie hat für die CDU einen eigenen Rang, denn wir verstehen den Menschen nicht nur als Wirtschaftssubjekt. Junge Menschen müssen durch das Grundsatzprogramm erfahren können, daß wir nicht erst dann anfangen, uns für sie zu interessieren, wenn sie Arbeitnehmer, Steuerzahler und Wähler geworden sind. Wir messen unsere politischen Überlegungen und Ziele nicht an der Reinheit einer Lehre, sondern an den Wirkungen für den Menschen. Deshalb ist für den Grundsatzprogrammentwurf das Verständnis vom Menschen der Ausgangspunkt. Er beschreibt den Menschen nicht, wie er sein soll. Politik bedeutet für uns nicht Umformung, Neukonstruktion des Menschen. Wir gehen vom Menschen aus, wie er ist. (Adenauer: „Nehmen Sie den Menschen, so wie er ist, Sie kriegen keinen besseren.") Dies ist unser Realismus: christlicher Realismus, der uns in Erkennt- nis des Menschen verbietet, das Paradies auf Erden zu versprechen. Der Verzicht auf die alles erklärende Formel, auf den Glauben an die Machbarkeit aller Dinge, das Wissen, daß nicht alles Menschenmögliche das den Menschen Gemäße ist, ist zugleich ein Grund unserer grundsätzlichen Überlegenheit. CDU-Dokumentation 33/1977

Sektion I „Verständnis vom Menschen, Grundwerte" „Es scheint mir unbestreitbar, daß das Verhältnis der Grundwerte zueinander nicht definitiv für alle Fälle und Zeiten festzusetzen ist. Mit Recht spricht der Programmentwurf von der Notwendigkeit, das Verhältnis immer neu zu bestimmen und um die richtige Gestaltung die politische Auseinandersetzung zu führen." (Prof. Dr. Wolfgang Kluxen)

Die Leitung hatte Prof. Dr. , Referenten waren Prof. Dr. Wolfgang Kluxen und Prof. Dr. Manfred Hättich; Berichterstatter: Dr. Stephan Reimers. Helmut Kohl hob die Bedeutung des Grundsatzprogrammentwurfs hervor: »Die CDU aber ist die erste Partei, die ein Grundsatzprogramm erarbeitet hat, in dem diese Grundwerte und unser Verständnis vom Menschen in ihrem Zusam- menhang erläutert werden." Er führte weiter aus: „Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit sind die Orientie- rungsmarken unserer Politik. Damit stellen wir nicht Systeme, Strukturen und Ideologien, sondern den Menschen in den Mittelpunkt."

Grundwerte sind älter als Parteien Über das gemeinsame Bekenntnis aller Demokraten zu den Grundwerten sagte Richard von Weizsäcker: »Es ist kein Zufall, sondern geschichtlicher Erfolg der demokratischen Idee, daß über die Grundwerte der Freiheit, der Solidarität und der Gerechtigkeit als Prinzi- pien kein Streit besteht. Sie sind nie Monopol einer demokratischen Partei ge- wesen. In Wahrheit sind sie älter als alle Parteien, die es heute bei uns gibt. Müßig ist daher der Streit, wer sie von wem übernommen hat." Zu den einzelnen Abschnitten führten die Referenten und der Berichterstatter Stephan Reimers aus: »Die betonte Herausstellung des Christlichen im Entwurf fand allgemeine Zustim- mung, soweit es sich um weltzugewandte Aussagen des christlichen Ethos handelt. Einigen Diskussionsteilnehmern war die Verwendung christlicher Begriffe noch immer nicht ausreichend. So wurde vor allem das Wort Nächstenliebe' vermißt, weil mit ihm besonders deutlich der personale Bezug unseres Solidaritätsbegriffes sichtbar wird. CDU-Dokumentation 33/1977

Andererseits gab es auch Stimmen, die auf die Grenze legitimer christlicher Aus- sagen für das Grundsatzprogramm einer Volkspartei hinwiesen. Sie liege dort, wo dem NichtChristen Zustimmung zu bekenntnismäßigen Formulierungen abverlangt wird. Der Satz aus Ziffer 122: ,Die einigende Kraft der CDU beruht auf dem christlich geprägten Verständnis vom Menschen und seiner Wertordnung', sei un- problematisch, weil damit die Frage des Zugangs des einzelnen zu den gemein- samen Werten offen bleibe. Mit diesem Maßstab müsse besonders Kapitel 1 kri- tisch gesichtet werden." Das Verständnis vom Menschen Zum Kapitel „Verständnis vom Menschen" sagte Prof. Hättich: „Da ist immer wieder vom Menschen in recht unterschiedlicher Weise die Rede. Einmal ist wohl die Gattung, dann wieder der einzelne gemeint. Und, um dies gleich noch hinzuzunehmen, da tritt er wechselweise als Subjekt metaphysischer Bestimmungen einerseits und als Adressat von Normen andererseits auf." Er wollte diese Äußerung aber nicht als Vorwurf verstanden wissen: „Die Unge- nauigkeit bei der Verwendung des Begriffs Mensch kann man kaum zum Vor- wurf machen, da wir in diesem Punkte — wie übrigens an vielen anderen — alle an einer Verwahrlosung des Sprachgebrauchs partizipieren." Stephan Reimers fügte hinzu: „Das Verständnis vom Menschen berücksichtigt • nach Auffassung etlicher Diskussionsredner — zu wenig die Sozialnatur des Men- schen. Der einzelne wird zu einseitig in seiner Rolle als Individuum gesehen." Zu den Grundwerten führte Stephan Reimers aus: „Zahlreiche Beiträge richteten sich auf die Reihenfolge der Grundwerte. Auch ihre Umbenennung oder Ergänzung durch zusätzliche Werte wurde erörtert. Ins- gesamt läßt sich sagen, daß das Grundkonzept des Entwurfes in dieser Frage nicht erschüttert wurde. Die vorgeschlagene Vorziehung des Grundwertes Gerechtigkeit an die zweite Stelle blieb kontrovers. Die Ergänzung oder Umbenennung von Grundwerten — wie z. B. Solidarität in Geborgenheit — wurde durch den überzeugenden Hinweis von Prof. Mikat abge- schnitten, daß wir mit der willkürlichen Formulierung neuer Grundwerte von der Tradition der abendländischen Geschichte Abschied nehmen würden. Konsens bestand jedoch darin, daß im Grundwerteabschnitt noch mehr Klarheit und Logik zu fordern ist." Prof. Kluxen stellte fest: „Im Streit ist, wie im einzelnen Falle das Verhältnis der Grundwerte zueinander und ihre Maßstäblichkeit zu bestimmen ist. Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit ver- weisen aufeinander und bedingen sich gegenseitig. Der Vorrang der Freiheit ist nicht derart, daß man mit dem Satz ,1m Zweifel für die Freiheit' die Frage der Verhältnisbestimmung für jeden Fall lösen könnte. Ebenso gilt der Satz, daß Ge- 10 CDU-Dokumentation 33/1977

meinwohl vor Eigenwohl geht. Er schließt ein Freiheitsverständnis im Sinne des Individualismus aus, ohne doch die personalistische Grundposition auch nur ein- zuschränken. Es scheint mir unbestreitbar, daß das Verhältnis der Grundwerte zueinander nicht definitiv für alle Fälle und Zeiten festzusetzen ist. Mit Recht spricht der Programmentwurf von der Notwendigkeit, das Verhältnis immer neu zu bestimmen, und um die richtige Gestaltung die politische Auseinandersetzung zu führen. Wenn diese Aussage als relativistisch gedeutet wird, so fällt es schwer, an ein bloßes Mißverständnis zu glauben." Als Vorschlag erwähnte Stephan Reimers: „Innerhalb des Abschnittes .Gerechtigkeit4 störte etliche Diskussionsteilnehmer die beispielhaft angeführte Forderung nach Chancengleichheit. Vorgeschlagen wurde, diesen Abschnitt dem Bildungskapitel zuzuweisen. Sollte die Kommission dieser Anregung folgen, so bleibt von dem gegenwärtigen Abschnitt .Gerechtig- keit' nicht viel nach. Um so notwendiger wird eine materielle Auffüllung dieses Grundwertes." Er fügte hinzu: „Ebenso überfällig ist eine Aussage zur Gleichheit. Das Thema ist zu wichtig, als daß man es ausklammern könnte. Unsere Partei darf sich an der Klärung dieser Frage nicht vorbeimogeln, sondern muß Stellung beziehen." Subsidiarität Zu dem im Programm nicht enthaltenen Begriff „Subsidiarität" faßte Stephan Reimers zusammen: „Wie ein roter Faden zog sich durch die Diskussion der Wunsch, den Begriff .Sub- sidiarität' nicht nur der Sache, sondern auch dem Begriff nach im Grundwerteteil zur Sprache zu bringen. Der Hinweis darauf, daß im Abschnitt über den Staat dieser Gedanke zu seinem Recht komme, wurde als nicht ausreichend angesehen. Denn der Begriff der Subsidiarität sei zu grundlegend für unser ordnungspoliti- sches Denken. Überlegungen, den Abschnitt Staat vorzurücken, wurden begrüßt. Unabhängig davon sollte die Grundsatzkommission prüfen, ob nicht Aussagen zur Subsidiari- tät aus dem jetzigen Kapitel 6 in den Grundwerteteil vorgezogen werden können." Abschließend erwähnte Stephan Reimers noch einen Kritikpunkt: „Gegenstand häufiger Kritik war die Sprache des Entwurfes. Übereinstimmende Auffassung: Die Partei hat keine Lehrautorität, daher darf sie in ihrem Grundsatz- programm auch nicht in einem belehrenden Ton sprechen. Lieber sollte eine offene Frage auch einmal als solche gekennzeichnet werden. Die große Zahl negativer Abgrenzungen sollte zugunsten positiver Aussagen ver- ringert werden. Jeglicher pastorale Stil einer Verkündigungssprache ist zu ver- meiden."

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Sektion II (Familie) Ehe, Familie, menschliches Zusammenleben „Es ist ein Skandal, daß Familien mit mehreren Kindern und einem durchschnittlichen Arbeitnehmereinkommen gegenwärtig in der Regel auf die Sozialhilfe angewiesen sind. Keine Familie darf allein durch die Tatsache, daß sie Kinder hat, wesentlich in ihrem sozialen Status absinken." (Dr. Georg Gölter)

Die Sektion II wurde im familienpolitischen Teil von Frau Roswitha Verhüls- donk, MdB, geleitet: es referierten Dr. Georg Gölter, Sozialminister des Landes Rheinland-Pfalz und Prof. Joh. Pechstein, Direktor des Instituts für Soziale Pädia- trie in Mainz. Berichterstatter war Prof. Dr. Wolfgang Brüggemann, MdL. Es wurden 24 Wortmeldungen abgegeben.

Ehe und Familie Ausgangspunkt der familienpolitischen Diskussion war das Referat von Georg Gölter, der der Familie einen hohen Stellenwert einräumte: „Ehe und Familie haben sich im Wandel der Zeit als die beständigsten Formen menschlichen Zusammenlebens erwiesen. Die vollständige Familie gründet auf der Ehe, in der sich Mann und Frau auf Lebenszeit verbinden. Der Freiheit des einzelnen, selbst zu entscheiden, in wel- chen Formen menschlicher Gemeinschaft er leben will, steht die Verpflichtung der Rechtsordnung gegenüber, die Ehe als Grundlage der Familie zu bewahren und gegen Aushöhlung zu sichern. Der Satz in Ziffer 28, daß es zur Ehe keine Alternative gebe, könnte mißver- ständlich sein, er wird durch die soziale Wirklichkeit widerlegt. Es muß mit Nach- druck festgehalten werden, daß nicht irgendwelche freie und frei widerrufliche Wohn- und Lebensgemeinschaften unter dem im Grundgesetz verankerten beson- deren Schutz der Rechtsordnung stehen. Geschützt sind klar umrissene, der Gesellschaft vorgegebene Institutionen: die Ehe als die Verbindung eines Mannes und einer Frau zur ehelichen Lebensge- meinschaft mit der grundsätzlichen Bindung auf Lebenszeit; die Familie, die im engeren Sinne die Gemeinschaft eines Ehepaares oder eines einzelnen Eltern- teiles mit eigenen, leiblichen oder angenommenen Kindern umfaßt. Dabei ist der 12 CDU-Dokumentation 33/1977

Schutz der Familie nicht auf diese Kernfamilie beschränkt, da beide Eltern fami- liäre Bindungen zu ihren Eltern und Geschwistern haben und behalten und in die von ihnen gegründete Familie einbringen können." Hierauf wiesen auch zahlreiche Diskussionsredner hin. Die Bedeutung der Fa- milie für das Kind hob auch Prof. Pechstein hervor, indem er zitierte, „daß die Familie für die Kinder das erste und in herausragendem Maße dauer- hafte Kollektiv darstellt. Von Geburt an leben sie in Familie. In den für die Per- sönlichkeitsform so bedeutsamen ersten Jahren stellt die Familie nahezu die erste Gemeinschaft dar, in der sich das Leben der Kinder vollzieht."

Partnerschaft Eine breite Diskussion entzündete sich an dem Begriff „Partnerschaft", wie er im Grundsatzprogrammentwurf verwendet wird. Dr. Gölter sagte dazu: „Was Partnerschaft bedeutet, ist aber, so meine ich, in Ziffer 29 nur sehr unzu- länglich zum Ausdruck gekommen. Partnerschaft in der Ehe bedeutet, daß Mann und Frau einander annehmen, und zwar als Personen, die je ihre eigene Ent- faltung und Erfüllung in der Familie und außerhalb der Familie suchen, aber in gegenseitiger Rücksichtnahme und Zuwendung und im Vertrauen auf die Bin- dung, die sie miteinander eingegangen sind. Die Selbstentfaltung des einen darf nicht einseitig auf Kosten der Selbstentfaltung des anderen geschehen." Frau Dr. Wex kritisierte: „Der in diesem Kapitel zentral gebrauchte Begriff Partnerschaft ist im Grund- satzprogrammentwurf mit anderem Inhalt gefüllt als in anderen zu diesem Thema vorliegenden gültigen Programmen." Frau Dr. Hellwig dazu: „Das Programm geht einseitig zu Lasten der Frau. Die Diskussion will das bisher bestehende Familienbild manifestieren." Zu der Frage der Partnerschaft in der Beziehung von Eltern und Kindern sagte Dr. Gölter: „Die Einleitung der Ziffer 31 finde ich offen gesagt recht unglücklich. Damit will ich gar nicht bestreiten, daß der Partnerschaft in der Beziehung von Eltern und Kindern außerordentliche Bedeutung zukommt. M. E. müßte jedoch der Begriff der elterlichen Verantwortung an die Spitze gestellt werden. Diese Verantwor- tung von Mann und Frau bezieht sich aber nicht nur auf die Erziehung ihrer Kinder, sondern zunächst auf die Beantwortung der Frage, ob und wieviel Kinder sie haben wollen. Es liegt auf der Hand, daß die Beantwortung dieser Frage für den Fortbestand unserer Gesellschaft von großer Bedeutung ist. 13 CDU-Dokumentation 33/1977

Es ist nicht Aufgabe der gesellschaftlichen Ordnung, auf eine gesellschaftspoli- tisch vielleicht wünschbare Geburtenzahl unmittelbar hinzuwirken. Die Freiheit der Eltern, über die Zahl der Kinder in eigener Verantwortung zu entscheiden, erfordert aber den sozialen Ausgleich von Hemmnissen, die der Verwirklichung eines vorhandenen Wunsches der Eltern, ein Kind zu bekommen, häufig entge- genstehen. Kein Ehepaar soll auf ein von .ihm gewünschtes Kind verzichten müssen, weil die damit verbundenen wirtschaftlichen und sozialen Belastungen unzumutbar hoch sind.

Staat und Familie Es geht also nicht darum, ob der Staat in den Schlafzimmern der Eltern etwas ver- loren habe, wie die für Familie zuständige Bundesministerin zu diesem Problem meinte, sondern lediglich darum, daß an die Stelle der negativen Bevölkerungs- politik, die durch die gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklung vorgezeichnet ist die freie Entscheidung der Eltern für das Kind besser abgesichert wird." Prof. Pechstein unterstrich die Forderung nach gesellschaftlicher Anerkennung der Familie: „Hier handelt es sich aber vielfach um ein Geflecht psycho-hygienisch bedeutsamer Faktoren, in dem die beruflichen Erwartungen junger Frauen, die Tendenz zu kinderarmen Familien, die ungünstigen materiellen Startbedingungen junger Ehepaare, eine weitgehend automatisierte Haushaltstätigkeit und die geringe öffentliche Geltung der innerhäuslichen Arbeit eine besondere Rolle spielen. Die Erziehungstätigkeit eines der beiden Elternteile in den ersten Lebensjahren des Kindes und die damit notwendige mehrjährige Pause in der Erwerbstätigkeit als eine gesellschaftliche Leistung ersten Ranges aufzuwerten und in das System sozialer Sicherung miteinzubeziehen, das bisher nur über die außerhäusliche Er- werbstätigkeit gegeben ist, muß als eine der wichtigsten Aufgaben der Psycho- hygiene für das junge Kind in unserer Zeit angesehen werden. Hierbei ist es notwendig, vor allem die jungen Mütter in dieser Phase familiärer Absorption nicht in Isolation, Unzufriedenheit und Resignation fallen zu lassen und auch Konzepte einer späteren gestuften Wiedereinbeziehung in- das Berufs- leben zu entwickeln." In diesem Zusammenhang wurden auch die Probleme des Familienlastenausgleichs diskutiert: Dr. Gölter: • „Zur konkreten Begründung des Familienlastenausgleichs wird dann aber nur die Aufgabe des Staates genannt, unterschiedliche Lebensbedingungen durch entspre- chende soziale Leistungen zu berücksichtigen. Diese Formulierung könnte den Verdacht aufkommen lassen, der Entwurf verstünde Sozialpolitik nur als eine Nivelherung von Unterschieden. Ich möchte den Entwurf gegen diesen Verdacht ausdrucklich in Schutz nehmen; trotzdem könnte der Familienlastenausgleich im 14 CDU-Dokumentation 33/1977

Grundsatzprogramm besser und zusätzlich begründet werden. Die Gesellschaft ist verpflichtet, den Eltern die Erfüllung ihrer Erziehungsaufgabe zu ermöglichen. Deshalb muß sie die wirtschaftliche Belastung angemessen ausgleichen, die Fami- lien mit minderjährigen Kindern zunehmend einengt. Es ist ein Skandal, daß Familien mit mehreren Kindern und einem durchschnittlichen Arbeitnehmerein- kommen gegenwärtig in der Regel auf die Sozialhilfe angewiesen sind, um den not- wendigen Lebensbedarf weit unter dem sonst üblichen Lebensstandard gesichert zu erhalten. Keine Familie darf allein durch die Tatsache, daß sie Kinder hat, wesentlich in ihrem sozialen Status absinken." Prof. Pechstein dazu: „Für junge Familien muß die Politik bessere geistige und materielle Hilfen bei der Gründung und für ihren Bestand bereitstellen, sowie die Freisetzung vom Erwerbs- zwang für einen der beiden Elternteile in den ersten Lebensjahren erreichen." Dr. Geißler faßte die Ergebnisse der Diskussion in seiner Schlußrede folgender- maßen zusammen: „Leitbild der Familienpolitik der Christlich Demokratischen Union ist die partner- schaftliche Familie. Dazu haben wir uns bereits eindeutig bekannt. Daraus müssen Konsequenzen gezogen werden. Dies gilt besonders für die Stellung der Frau in Beruf, Familie und Gesellschaft." Weiter führte Dr. Geißler aus: „Für die Wichtigkeit der Erziehungsaufgaben ein- zutreten, ist deshalb eine Aufgabe des Grundsatzprogramms. Dies kann aber nur glaubwürdig geschehen, wenn dabei die zweite Aufgabe nicht vergessen wird.

Die Frau in Familie und Beruf

Niemand hat das Recht, von Frauen als Preis für eine 15jährige Erziehungs- tätigkeit, die ohnehin mit vielen Verzichten verbunden ist, anschließend zusätz- lich eine 30jährige Passivität und Resignation zu verlangen. Der Wert unserer familienpolitischen Bekenntnisse entscheidet sich deshalb an den konkreten Hilfen, die wir Frauen bei der Suche nach einer Aufgabe für die zweite Lebens- hälfte geben und z. B. an der eigenständigen sozialen Sicherung der Frau. Wer seinen Kindern als Mutter Sprachschatz, Denkvermögen, soziales Verhalten, Kreativität und Liebe vermittelt, darf sozialversicherungsrechtlich nicht bestraft werden, weil er in dieser Zeit keine Leistung im Sinne der RVO erbringt. Deshalb schlagen wir die Partnerrente vor. Erst alle drei Forderungen zusammen ergeben glaubwürdig ein politisches Handeln nach unserem personalen Verständnis des Menschen." In der Diskussion wurden zahlreiche Punkte aufgegriffen, die im Programment- wurf unbedingt berücksichtigt werden sollten. Dazu sagte Prof. Brüggemann in sei- nem Bericht: 15 CDU-Dokumentation 33/1977

„Der Defizitkatalog umfaßt folgende Punkte: # Im Hinblick auf die Entfaltung der Person wurde darauf hingewiesen, daß diese nicht nur in den Bereichen „Familie" und „Bildung" erfolgt, sondern auch in der Arbeitswelt und in der Freizeit. # Es wurde der Vorwurf erhoben, daß das Programm einseitig die Nützlichkeit der Familie propagiert. Es darf nicht nur die Alternative Familie—Beruf gesehen werden. Vielen alleinstehenden Frauen und Männern stellt sich diese Wahl nicht; für sie ergibt sich ein erfülltes und sinnvolles Leben auch außerhalb der Familie. # Familienpolitik darf sich nicht auf Eltern und Kinder beschränken. Die Gefahr der Isolation unserer älteren Mitbürger dürfen wir nicht aus den Augen verlieren. # Moniert wurde das Fehlen jugendpolitischer Perspektiven. # Beachtenswert ist die Forderung nach einem Bundesfachausschuß für Familie und Jugend und die Anregung, das Jahr 1978 seitens der CDU zu einem Familien- jahr zu erklären. # Die Substanz der familienpolitischen Programme der CDU sollte in das Grund- satzprogramm der CDU eingehen. Der in diesem Sektor vorhandene Erkenntnis- vorsprung vor dem politischen Gegner darf nicht verspielt werden."

Sektion II (Bildung) Bildung und Erziehung „Bildung ist mehr als Funktionsfähigkeit des Menschen. Daher gehören Kultur und Kunst, Kritikfähigkeit, Wertgebundenheit, Sinnfrage und Geschichtsbewußtsein zum Menschen und seiner Bildung hinzu." (Dr. Werner Remmers)

Die grundlegende Bewertung dieses Teils des Grundsatzprogramms wurde vom Berichterstatter der II. Sektion, Herrn Prof. Dr. Brüggcmann, so zusammen- gefaßt: „In der von Kultusminister Dr. Remmers und Prof. Dr. Ipfling eingeleiteten Dis- kussion des bildungspolitischen Kapitels wurde die Forderung, diesen Abschnitt neu zu formulieren, in der Sektion mit differenziertem Beifall aufgenommen. Ursache dafür mögen sowohl ein umfangreicher Defizitkatalog wie der Wunsch nach schärferer Konturierung und Abgrenzung der vorhandenen Aussagen gewe- sen sein." 16 CDU-Dokumentation 33/1977

Schwerpunkte der Diskussion innerhalb des Kapitels Reden und Diskussionsbeiträge befaßten sich schwerpunktmäßig mit der Orien- tierung von Bildung und Erziehung am Menschen und ihrer Bindung an grund- legende Werte. Dazu erklärte Kultusminister Dr. Remmers: „Ich plädiere also dafür, ein umfassenderes Menschenbild in die Vorstellung von der Entfaltung der Person und in den Begriffen von Leistung einzubringen und diese Gedanken an den Beginn des Kapitels Bildung zu stellen. Etwas mehr von dieser grundsätzlichen Ausrichtung könnte dann in die nachfol- genden Abschnitte hineinwirken. Die jetzt unter Nr. 36 vorangestellten Sätze über den Einfluß der Qualität des Bildungswesens auf die Gesellschaft und über den jungen Menschen als Maßstab für Bildungspolitik und Pädagogik sind solange nichtssagend wie offen bleibt, was den jungen Menschen eigentlich ausmacht, der als solcher zum Maßstab der Bildungspolitik und damit auch zum Maßstab der Qualität des Bildungswesens erhoben wird. Die Ausführungen unter Nr. 41—44, die ich in einem anderen Zuschnitt unter Einbeziehung der obengemachten Ausführungen voranstellen würde, wirken in ihrer jetzigen Form etwas lose aneinandergereiht. Der Grundgedanke ist offenbar: Bildung ist mehr als Funktionsfähigkeit des Menschen. Daher gehören Kultur und Kunst, Kritikfähigkeit, Wertgebundenheit, Sinnfrage und Geschichtsbewußtsein zum Menschen und seiner Bildung hinzu. Ich halte es allerdings für eine fatale Formulierung, wenn es zu Beginn von Nr. 41 heißt, der Mensch solle nicht nur selbst funktionieren. Das Funktionieren ist, selbst in dieser eingeschränkten Form, in keiner Weise eine angemessene Vorstellung vom Menschen. Abgesehen davon werden aber auch hier wiederum etwas optimi- stisch Bereiche aufgezeigt, in denen das bloße Funktionieren überschritten werden soll. Dabei darf aber nicht der Eindruck entstehen, daß man die Sache mit der Kunst, der Wertgebundenheit, der Sinnfrage und der Geschichte nur ordentlich betreiben müsse, damit unsere Gesellschaft ihre technokratische Härte, ihr Kon- kurrenzdenken und ihre Anonymität und Kollektivierung überwindet. Wir müssen uns davor hüten, Kunst, Wertgebundenheit, Sinnfrage und Ge- schichte, also das, was den geschlossenen Kreis des bloßen Funktionierens über- schreitet, insgeheim dort wieder zu funktionalisiercn und unter vorgegebene Zwecke zu stellen. Wenn wir einem reinen Zweckdenken entkommen wollen, dürfen wir nicht den Versuch machen, über das Unverfügbare zu verfügen. Wenn wir uns auf die genannten Bereiche einlassen sollen und müssen, lassen wir uns auf ungelöste Fragen, Probleme und Risiken ein." Auf die Orientierung der Bildungspolitik an den individuellen Bedürfnissen der Menschen und auf die Verpflichtung zu Wertgebundenheit und Wertkonsens war bereits Dr. von Weizsäcker in seiner Eröffnungsrede eingegangen: „Bildungspolitische Aufgabe ist es, jedem seinen Weg zu ermöglichen. Das wich-

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tigste Gebot der Gerechtigkeit für die staatliche Politik ist es dabei, soziale und regionale Nachteile auszugleichen. Im Wahlkampf eines nördlichen Nachbarlandes sagte vor einem Jahr der dortige ehemalige Erziehungsminister: Ziel sei nicht eine Wiese mit bunten Blumen, son- dern ein gleichmäßig geschorener Rasen. Hier scheiden sich die Geister. Wir wol- len nicht mit gleichmäßig geschorenen Köpfen durchs Leben ziehen. Gerechtigkeit ist das Fundament des freien Zusammenlebens. Gleichheit der Lebenswege da- gegen ist weder gerecht noch frei. Sie ist unmenschlich. Wir wollen jedem seinen, nicht jedem den gleichen Weg eröffnen. In der Erziehung wollen wir lernen, miteinander zu leben, nicht gegeneinander. Dies geschieht nicht durch kollektive Emanzipation und Konflikttheorie. Denn beides führt nicht zu Selbst- und Mitverantwortung. Wir gehen vielmehr von der Erkenntnis aus, daß Freiheit und Bindung einander bedingen. Es gibt Abhän- gigkeiten, die den Menschen entwürdigen, und es gibt Bindungen, ohne die er als Mensch verkümmert."

Fehlende oder unzureichende Aussagen des Kapitels Der von Professor Dr. Brüggemann erstattete Bericht der Sektion erhält eine umfangreiche Aufzählung von Aussagen, die im Grundsatzprogramm vermißt wurden: „Bedauert wurde das Fehlen von Aussagen zum Bildungsbegriff. Stichworte dazu waren: Bereitschaft und Mut zum Tradieren der als richtig erkannten Wertord- nung, Aushalten der Spannung zwischen Humanität und Leistung, Hinweis auf den Dualismus von Zweckrationalität und zweckfreier Bildung. Nachdrücklich gefordert wurde die Verankerung des Elternrechts mit dem Hinweis, daß die CDU iin den grundsatzpolitischen Aussagen nicht hinter Verfassungsgarantien und höchstrich- terlicher Rechtsprechung zurückbleiben dürfe. Hervorgehoben wurde insbesondere die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts,'~daß staatliche Verantwortung für die Schule und elterliche Erziehungsrechte gleichgeordnet sind. Einmütigkeit bestand bei den Teilnehmern der Sektionen, daß die unverzichtbare Wertbindung von Erziehung und das Elternrecht Pluralität auch in der Schul- organisation erforderlich machen. Von daher wurde das Fehlen einer offensiven Würdigung der Bedeutung von freier Trägerschaft im Bildungswesen als besonderer Mangel des vorliegenden Entwurfs empfunden. Betont wurde auch, daß in der Vergangenheit pädagogische Neu- ansätze meist von Einrichtungen freier Träger ihren Ausgang genommen hätten. In gleicher Weise erfolgte der Hinweis auf eindringlichere Herausstellung der Vor- züge eines schulformspezifisch gegliederten Schulwesens, das dem Erfordernis der Begabungsgerechtigkeit Rechnung trägt. Dies müsse auch für musisch Begabte gelten, denen Chancengerechtigkeit in der Schulstruktur nicht verweigert werden dürfe. 18 CDU-Dokumentation 33/1977

Eine Ergänzung des Grundsatzprogrammentwurfs forderte die Sektion für die in ihrer Bedeutung zunehmend wachsenden Bereiche der Erwachsenen- und Weiter- bildung und für die außerschulische Jugendbildung. Vermißt wurden die Perspek- tiven, die Jugendpolitik außerhalb institutionalisierter Bildungsvermittlung für die persönliche Entfaltung junger Menschen bietet, wie z. B. die erzieherische Funk- tion von sozialem und politischem Engagement junger Menschen. Im Hinblick auf weitere Konkretisierung des Programmentwurfes wurde der Wunsch nach einer angemesseneren Ausformung der Aussagen zur beruflichen Bildung deutlich. In den Aussagen zur Hochschulpolitik wurde auf den Umstand verwiesen, daß die Hochschulen inzwischen 20 statt einstmals 5 % eines Alters- jahrganges ausbilden; dem werde bisher nicht hinreichend Rechnung getragen. Dies erfordere eine stärkere Differenzierung des gesamten Hochschulbereichs." Eine schärfere Aussage wünschte die zuständige Sektion auch hinsichtlich des Verhältnisses zu Kunst und Künstlern. Dazu der Bericht von Prof. Brüggemann: „Im Zusammenhang mit den defensiven Verhältnis der CDU zu Kunst und Künstlern wurde auf die Notwendigkeit des Dialogs zwischen den Künstlern, dem einzelnen und der Gesellschaft verwiesen. Hier kommt es darauf an, Vor- urteile und Mißverständnisse auf Seiten der Politik und Gesellschaft ebenso zu überwinden wie eine teilweise elitäre Selbstisolation im Bereich der Kunst. Auch für die Politik ist es von Bedeutung, welche Rolle Politik dem Künstler und der Künstler sich selbst in unserer Gesellschaft beimißt."

Sektion III Wirtschafts- und Sozialpolitik „Soziale Marktwirtschaft verbindet in hervorragender Weise die ethischen und ökonomischen Anforderungen an eine menschengerechte Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. In der Sozialen Markt- wirtschaft bilden unter dem Ordnungsprinzip der Freiheit Wirtschafts- und Sozialpolitik eine Einheit. Eine unsoziale Wirtschaftspolitik ist nicht leistungsfähig. Eine Sozialpolitik, die die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft überfordert, ist unsozial." (Dr. Philipp von Bismarck) jn der Sektion III „Wirtschafts- und Sozialpolitik" wurden unter der Leitung von J-Herrn Ministerpräsident Dr. Ernst Albrecht fünf Grundsatzreferate gehalten in folgender Reihenfolge: Prof. Dr. Kurt H. Biedenkopf, MdB, Wolfgang Vogt, MdB Prof. Dr. Wolfram Fischer, Prof. Dr. Hans Karl Schneider und Prof. Dr. Eduard 19 CDU-Dokumentation 33/1977

Pestel. Berichterstatter dieser Sektion war , MdB. In der Aussprache zu den Einzelreferaten wurden insgesamt 35 Wortmeldungen abgegeben. Die erste Stellungnahme zu dem Bereich Wirtschafts- und Sozialpolitik wurde von Herrn Prof. Dr. Kurt H. Biedenkopf, MdB, abgegeben: „Der im Entwurf gewählte Ansatz schließt es nach meiner Überzeugung aus, die zentralen Aussagen im Abschnitt Soziale Wirtschaftsordnung durch bloße neue Formulierungen zu verändern." Weiterhin erklärte er, daß „über die Vielzahl der Aussagen des Entwurfs erst sinnvoll" diskutiert werden kann, „wenn wir eine klare Entscheidung über die politische Rangordnung von Freiheit, Selbslverwirklichung, Verantwortung, Lei- stung, gemeinschaftliche Risikobewältigung, Gleichbehandlung unter dem Gesichts- punkt der sozialen Gerechtigkeit und der Rolle des Staates getroffen haben". Er warf dem Kapitel vor: „Vergleichbare Prioritäten sind auch im Orientierungs- rahmen '85 der SPD enthalten." Als erster Diskussionsredner wies Ministerpräsident Dr. Ernst Albrecht diese Kritik zurück. Wolfgang Vogt, MdB, erklärte: „Die Grundentscheidungen des Entwurfs stimmen. Er ist verbesserungsbedürftig. Ergänzungen und Präzisierungen sind unerläßlich." Elmar Pieroth, MdB, fügte hinzu, „viele Einzelpunkte des Entwurfs können bei der Überarbeitung beibehalten werden, wenngleich sich der Entwurf zu sehr am Leit- bild eines sozialen Wohlbefindens orientiert". Norbert Blüm, MdB, wandte sich gegen einen Pauschalvorwurf der Unzulänglich- keit des ganzen Kapitels zur Wirtschafts- und Sozialpolitik. Einzelpunkte des Entwurfs bedürften einer Präzisierung. Minister Johann Wilhelm Gaddum, MdL, wies darauf hin, daß das Berliner Programm und der Entwurf eines Grundsatzprogramms nicht zu vergleichen seien. Beide verfolgten unterschiedliche Zwecke. Die grundsätzlichen Aussagen zur Sozialen Marktwirtschaft im Berliner Programm würden durch den vorliegenden Entwurf nicht in Frage gestellt. Prof. Dr. Wolfram Engels erklärte, daß manche Probleme im Entwurf zu einer kontroversen Diskussion Anlaß gäben. Aber der Entwurf enthielte „sehr viel Gutes". Hans Heinz Hauser sagte: „Der Entwurf ist im großen und ganzen gut"; das Bekenntnis zu mehr Selbständigkeit müsse aber deutlicher zum Ausdruck kommen. Prof. Dr. Wilhelm Krelle wies in seinem Eröffnungsreferat am Vortage auf eine große Reihe kritischer Punkte hin. Er sagte aber auch, daß er die Punkte herausgegriffen hätte, „die mit verbesserungswürdig erscheinen. Mit vielen Punkten bin ich einverstanden." Dr. Philipp Bismarck, MdB, erklärte: „Der Entwurf hat auf die Bedeutung und die 20 CDU-Dokumentation 33/1977

langfristige Wirkung unseres Grundsatzprogramms aufmerksam gemacht. Insge- samt werte ich die Diskussion um den Entwurf als sehr fruchtbar." '

Wirtschaftsordnung und Neue Soziale Frage Breites Einvernehmen in der Sektion Wirtschafts- und Sozialpolitik bestand dar- über, daß Wirtschaftspolitik und die Neue Soziale Frage zusammen gesehen werden müssen und deshalb in einem Kapitel dargestellt werden sollten. Prof. Dr. Kurt H. Biedenkopf schlug vor, das Kapitel mit folgender Überschrift zu versehen: „Frei- heitliche Wirtschafts- und Sozialordnung". Andere, besonders Dr. Philipp von Bismarck, MdB, schlugen vor, den Titel: „Soziale Marktwirtschaft" zu wählen. Übereinstimmung bestand jedoch darüber, daß die beiden Bereiche in einem Kapitel abgehandelt werden sollten.

Zum Verständnis der Sozialen Marktwirtschaft Prof. Dr. Kurt H. Biedenkopf erklärte: „Ein Vergleich des Abschnittes ,Soziale Wirtschaftsordnung' im Grundsatzprogramm mit den Aussagen zur politischen Gestaltung der Wirtschaftsordnung im Berliner Programm offenbart eine tiefgrei- fende Veränderung in Grundfragen der Wirtschaftspolitik. Diese Veränderung läßt sich vereinfacht beschreiben als eine zunehmende Betonung verteilungspolitischer und versorgungsorienticrter Zielsetzungen auf Kosten freiheitlicher Aufgaben- stellungen." Und weiter: „Die im Berliner Programm eindeutig gesetzten Prioritäten: Freiheit, persönliche Entfaltung, Entscheidungsmöglichkeiten der Bürger und Wohlstand, denen die Mannheimer Erklärung im wesentlichen folgt, werden im Entwurf des Grundsatzprogramms nicht nur nicht beibehalten. Im Ergebnis werden sie sogar umgekehrt." Dazu erklärte Wolfgang Vogt, MdB: „Die Partei hat in beiden Dokumenten (Berliner Programm, Mannheimer Erklärung), um die Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft darzulegen, jeweils zwei Begriffe miteinander verbunden, die in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander stehen: Der eine Begriff steht für die freiheitliche Säule, der andere für die soziale Säule der Wirtschaftsverfassung, die die CDU vertritt. Leistung, Wettbewerb, Eigenverantwortung, dezentrale Steuerung durch Märkte, Machtkontrolle durch Gewaltenteilung, — sie bilden das eine Bein. Soziale Gerechtigkeit, Solidarität, soziale Sicherung, Tarifautonomie mit staat- licher Aufsicht, — sie bilden das andere Bein. Soziale Marktwirtschaft kann auf keine dieser Säulen verzichten." Elmar Pieroth, MdB, erklärte: „Die für die Soziale Marktwirtschaft konstitutive Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik muß systematisch dokumentiert wer- den."

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Norbert Blüm, MdB, erklärte: „Zur Freiheit gehört auch die soziale Sicherung, nicht nur Wettbewerb und Leistung." Weiterhin erklärte er, daß es hier nicht der richtige Tummelplatz sei für Freiheitsbefürworter oder Freiheitsgegner. Es gehe hier nicht um Verteilungspolitiker kontra Ordnungspolitiker. Dr. Philipp von Bismarck, MdB, erklärte: „Soziale Marktwirtschaft verbindet in hervorragender Weise die ethischen und ökonomischen Anforderungen an eine menschengerechte Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. In der Sozialen Markt- wirtschaft bilden unter dem Ordnungsprinzip der Freiheit Wirtschafts- und Sozial- politik eine Einheit. Eine unsoziale Wirtschaftspolitik ist nicht leistungsfähig. Eine Sozialpolitik, die die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft überfordert, ist unsozial." Prof. Dr. Wolfram Engels erklärte: „Wer für Freiheit ist, ist für-die Soziale Marktwirtschaft." Die Trennung im Entwurf zwischen Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik sei unglücklich. Der Generalsekretär, Dr. Heiner Geißler, erklärte: „Es kann eine theoretische Debatte darüber geführt werden — sie ist in der gegenwärtigen Grundsatzdiskus- sion aufgekommen —, ob die Soziale Marktwirtschaft instrumentalen Charakter besitzt oder ein Wert an sich bedeutet. Dies ist in der CDU ein fruchtloser Streit. Wir alle verstehen die Soziale Marktwirtschaft als eine Wirtschaftsordnung im Dienste des Menschen; insoweit ist sie instrumental. Aber als eine gute Ordnung besitzt sie gleichzeitig Wertcharakter. Darin unterscheiden wir uns von den Sozialisten, daß wir um den Wert von Ordnungen und Institutionen wissen und sie deshalb nicht beliebig zur Disposition stellen. Lassen wir also einen unnützen Schulstreit, zerstören wir nicht den breiten Konsens in der CDU über Bedeutung und Werte der Sozialen Marktwirtschaft, was nicht ausschließt, daß um die konkreten Maßnahmen in der jeweils konkreten Situation gerungen werden muß."

Zur Neuen Sozialen Frage Zur Neuen Sozialen Frage erklärte Prof. Dr. Kurt H. Biedenkopf: Es zeigte sich unmißverständlich, „daß mit der Neuen Sozialen Frage kein soziales Problem im Sinne sozialer Vorsorge oder verteilungspolitischer Art, sondern ein ordnungspolitisches, ein machtpolitisches Problem angesprochen worden ist. Wir wollten nicht neue verteilungspolitische Erwartungen wecken, sondern Freiheitsge- fährdung durch die ordnungspolitische Einbindung entstandener Macht- und Organisationsstrukturen abwenden und das System sozialer Sicherheiten neu orientieren." Wolfgang Vogt, MdB, erklärte dazu: „Natürlich ist die Neue Soziale Frage ein ordnungspolitisches Problem, aber doch ein Problem mit verteilungspolitischen Konsequenzen. Die CDU hat in Mannheim nicht nur ein ordnungspolitisches Problem definiert, sie ist es verteilungspolitisch angegangen. Die CDU ist eben eine politische Partei und nicht bloß ein politisches Seminar. Auch die Neue Soziale 22 CDU-Dokumentation 33/1977

Frage erfordert den Sozialstaat. Es kann gar nicht anders sein." Und weiter: „Die CDU tut gut daran, den Sozialstaat nicht in die Ecke zu stellen." In seinem Schlußreferat erklärte der Generalsekretär Dr. Heiner Geißler: „Zu dem Konflikt zwischen Kapital und Arbeit sind neue schwere Konflikte getreten: Zwi- schen organisierten und nicht organisierten Interessen, zwischen Minderheiten und Mehrheiten, zwischen Stadt und Land, zwischen Machtausübenden und Machtun- terworfenen innerhalb der organisierten gesellschaftlichen Gruppen. Konflikte, die insbesondere die nicht organisierten kinderreichen Familien, alleinstehende Mütter mit Kindern, alte Menschen, die nicht mehr arbeitsfähigen Behinderten betreffen, die im inflationären Verteilungskampf um das Bruttosozialprodukt in der Regel den organisierten Verbänden unterlegen sind. Wer daher die Sozial- und Einkommenspolitik auf den alten Konflikt zwischen Kapital und Arbeit konzentriert, ist unfähig, die wirklich vorhandenen Probleme zu erkennen und schafft neue Armut. Die Neue Soziale Frage umfaßt daher nicht nur das Problem veränderter Konfliktfelder, sondern eben auch die daraus resultierenden neuen sozialen Herausforderungen und unsere Antwort darauf."

Schwerpunkte der Diskussion O Der Entwurf des Grundsatzprogramms enthält den Begriff des „Sozialen Wohlbefindens". Dieser Begriff wurde kritisiert, weil er zu Mißverständnissen führen könnte. Die Autoren des Entwurfs hielten an dem Wort nicht fest, betonten aber, daß das dahinter stehende Anliegen der Befriedigung immaterieller Bedürf- nisse beibehalten werden müsse. 0 Der Aufbau wird vielfach als unbefriedigend empfunden. Eine logisch konse- quentere Abfolge des Kapitels wird dringend empfohlen. Besonders wurde ange- merkt, daß am Anfang des Kapitels eine Definition der Sozialen Marktwirtschaft mit den konstitutiven Elementen stehen sollte. Hier sollten die Elemente, zum Beispiel Privateigentum, Wettbewerb, stärker hervorgehoben werden. Hinzu kom- men sollte eine stärkere Betonung der Freiheitskomponente, ohne daß dabei der soziale Anspruch der Sozialen Marktwirtschaft verschüttet werde. Dadurch würde auch die von vielen geforderte Unverwechselbarkeit zum politischen Gegner noch deutlicher. 0 Das Instrument der Vermögensbildung als Weg zu mehr Selbständigkeit wurde häufig angeführt und als zu vertiefend bezeichnet. O Übereinstimmend wurde verlangt, den Zusammenhang zwischen Wachstum und Beschäftigung zu verdeutlichen. Arbeitslosigkeit dürfe nicht gleichsam als unabwendbares Naturereignis akzeptiert werden. Wachstumspessimismus sei nicht angebracht, Wachstumschancen gäbe es genug. Erforderlich sei allerdings, daß die zum Beispiel durch Bürokratisierung verschüttete marktwirtschaftliche Dynamik neu belebt werde. Dem Markt müsse wieder eine größere Chance gegeben werden.

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© Es wurde gewünscht, daß eine vertiefte Aussage über die Stellung zu den Gewerkschaften in den Entwurf aufgenommen werden sollte. Das Bekenntnis zur Tarifautonomie sei nach vielfacher Auffassung in Verbindung mit der sozialen Verpflichtung der Tarifpartner zu sehen.

Ergänzungsvorschläge 1. Einen breiten Raum in der Diskussion nahm die Forderung nach einer stärkeren Berücksichtigung des Begriffs der Selbständigkeit ein. Übereinstimmend wurde die Auffassung vertreten, daß hierzu weitergehende Ausführungen gemacht werden sollten. 2. Die drängenden Probleme der Umwelt und der technologischen Entwicklung müßten Eingang in das Grundsatzprogramm finden. 3. Die Fragen des Steuersystems und der Finanzverfassung müßten ebenso ihrer Bedeutung entsprechend behandelt werden wie das Verhältnis von Staat und Markt. 4. Nach übereinstimmender Auffassung müßten die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen der demographischen Entwicklung (insbesondere wurde dies von Prof. Dr. Wolfram Fischer betont) im Grundsatzprogramm verstärkt berücksichtigt werden. Gravierende Änderungen in diesem Bereich stünden bevor. Die heutige Szene — überfüllte Universitäten, in den Beruf drängende Jugendli- che ohne ausreichende Arbeitsplätze — werde sich in absehbarer Zeit grundle- gend ändern. Schwierige Probleme in der Altersversorgung und der Gesundheits- fürsorge, überfüllte Altersheime erforderten dann Antworten. Die Politik müsse sich schon heute auf diese Entwicklung einstellen. Eine flexible Politik, die sich keine Optionen verbaut, sei gefragt. 5. Das Energieproblem sollte im Entwurf stärker Berücksichtigung finden. Zu dem Spezialthema Energiepolitik wurden zwei Grundsatzreferate gehalten von Prof. Dr. Eduard Pestel und von Prof. Dr. H. K. Schneider. Prof. Dr. Pestel stellte die längerfristige Entwicklung auf dem Energiesektor an Hand ausführlichen Zahlen- materials bis zum Jahre 2025 dar. Er vertrat die Meinung, daß die auf absehbare Zeit knapper und teurer werdenden Primärenergieträger zur Sicherstellung eines ausreichenden Wachstums fortlaufend substituiert werden müßten. Die wichtigsten Energieträger in der Zukunft seien Kohle und Kernenergie. Diese Umstrukturierung bedürfe aber eines hohen Kapitalaufwandes, um die technologi- schen Möglichkeiten umzusetzen. Prof. Dr. H. K. Schneider stellte die Frage, ob die Marktwirtschaft auch in dem Energiesektor Anwendung finden sollte. Da die notwendigen Entscheidungen unter Ungewißheit getroffen werden müs- sen, sollte ein marktwirtschaftlicher Suchprozeß nach den besten Lösungen veranstaltet werden. Die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit einer marktwirt- 24 CDU-Dokumentation 33/1977

schaftlichen Organisation ermöglichte einen optimalen fortschreitenden Sub- stitionsprozeß. Staatliche Interventionen hätten den Nachteil, daß möglicherwei- se Optionen in der Zukunft verbaut würden. Zusammenfassung Der Generalsekretär, Dr. Heiner Geißler, erklärte zusammenfassend in seinem Schlußreferat: „Es ist richtig, daß es grundsätzliche Probleme gibt, die bei der weiteren Beratung des Entwurfs stärker zu beachten sind. Die Berichte aus den Sektionen haben diese Felder umrissen. Dabei wird es wichtig sein, daß wir in der weiteren Diskussion nicht vor selbst gestellten Frageverboten stehen bleiben oder um politische Tabuzo- nen herumgehen. Zum Beispiel im Bereich der Wirtschaft gilt es, auf die Fragen der Energie, des Wachstums, der Umwelt, der weltwirtschaftlich bedingten Strukturver- änderungen deutlicher einzugehen." Und weiter erklärte er: „Die Soziale Marktwirtschaft beschränkt sich nicht auf eine Ordnung des Marktes, sondern sie umfaßt auch die Ordnung der sozialen Leistungen." Er fügte hinzu: „Ist die Ordnung in einem Bereich gestört, hat dies schwerwiegende Folgen im anderen Bereich und damit für die Soziale Marktwirtschaft im ganzen. Die ordnungspolitischen Kriterien im marktwirtschaftlichen Bereich: Wettbewerb, Dezentralisation, Steuerung durch Angebot und Nachfrage, Autonomie der Betei- ligten, Eigentum sind anerkannt. Im sozialen Bereich sind vergleichbare Kriterien erst in Ansätzen entwickelt und noch nicht zu einem ordnungspolitisch Ganzen zusammengefügt."

Sektion IV Deutschland in der Welt „Nicht ohne Grund hat die CDU dieses Forum in Berlin durchgeführt. Im Brennpunkt der Konfrontation eines totalitären Regimes mit unserer freiheitlichen Ordnung ist diese Begegnung freier und unabhängiger Menschen auch ein Signal für die geistige Auseinander- setzung mit der marxistischen Philosophie und dem totalitären Kommunismus. Auf dem Düsseldorfer Parteitag hatte die CDU beschlossen: Wir werden die weltanschauliche politische Auseinandersetzung, zu der uns

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die kommunistische DDR-Führung herausfordert, offensiv führen. Ich gehe noch einen Schritt weiter: Durch das Beispiel eines freiheit- lichen und sozial gerechten Staates werden wir die DDR herausfordern. Ziel unserer Außenpolitik muß es sein, den Frieden zu erhalten, aber in Freiheit." (Dr. Heiner Geißler)

In der Sektion IV des Grundsatzforums diskutierten unter Leitung von Dr. , MdB, rund 60 Teilnehmer das 5. Kapitel des Grundsatzprogramm- entwurfes, „Deutschland in der Welt". Einleitend legten die Referenten Dr. Werner Marx, MdB, Prof. Dr. Ulrich Scheuner, Dr. Karl-Heinz Narjes, MdB, und Prof. Dr. Theodor Hanf (in dieser Reihenfolge) ihre Stellungnahmen dar. In der anschlie- ßenden Diskussion ergriffen 26 Teilnehmer das Wort. Prof. Dr. Werner Weidenfeld erstattete den Bericht über die Arbeit der Sektion. Nachdrücklich empfahlen etliche Diskussionsteilnehmer, das besondere Gewicht der Außen- und Deutschlandpolitik im Verständnis der CDU durch einen hervor- gehobenen Platz in der Gliederung des Programms zu betonen. Dazu Dr. Marx: „Ich finde — und nicht nur ich, sondern sehr viele in unserer Partei, die sich in der Nachfolge Adenauers verstehen —, daß das ganze Kapitel 5, „Deutschland in der Welt", am falschen Platz steht. Wenn man schon glaubt, die Außenpolitik solle in der Ordnung der Grundwerte hinter der Neuen Sozialen Frage zurückstehen ..., so schlage ich doch vor, daß man dieses ganze Kapitel ans Ende stellt, weil wenigstens auf diese Weise der breite Problemkreis doch stark herausgehoben wäre und nicht unter ,ferner liefen' abgehandelt würde." Freiheit und Frieden Eingehend auf die Grundlage deutscher Außenpolitik wurde die Verengung auf die Erhaltung des Friedens als ungenügend angesehen: Dr. Marx: „Natürlich ist der Friede ein besonders hohes Gut. Aber es muß für die Christlichen Demokraten klar sein, daß wir nicht jeden Preis zahlen, also nicht Frieden in Unfreiheit." Er leitete daraus die Grundaussage ab: „Der Wille zum Frieden in Freiheit ist Grundlage deutscher Außenpolitik." Unter Berufung auf Kant führte Prof. Hanf in seinem Referat dazu aus: „Nur die Verwirklichung der Prinzipien der Freiheit, des Rechtsstaats und der staatsbürgerli- chen Gleichheit in allen Staaten kann dauerhaften Frieden zwischen den Staaten sichern. Wer den Frieden will, der hat demnach ein legitimes Interesse daran Demokratie in möglichst vielen Staaten verwirklicht zu sehen." Der Aussage im Programmentwurf, eine zusammenwachsende Welt verstärke den Zwang zum Kompromiß, stellte Prof. Scheuner entgegen: 26 CDU-Dokumentation 33/1977

„Es ist der Grundirrtum der sozial-liberalen Bundesregierung, daß man zentrale Lebensfragen durch Kompromisse aus der Welt schaffen könne." Dr. Marx: „ ,Wandel durch Annäherung' ist nicht unsere Maxime." Einen zentralen Punkt nahm in der Diskussion die Menschenrechtsfrage ein. Dazu Dr. Marx: „Die Einhaltung der Menschenrechte ist heutzutage nicht mehr sozusagen die Privatsache der einzelnen Staaten. Da auch die Führer dieser Staaten der UN beigetreten sind und damit die dort fixierten Grundsätze anerkannt haben, da sie die übernationalen Pakte über bürgerliche und politische Rechte ratifiziert und die politischmoralischen Erklärungen der KSZE-Schlußakte unterzeichnet haben, sind sie vielfältige Bindungen eingegangen, die einzuhalten ihnen abgefor- dert werden darf." In bezug auf die Menschenrechtsfrage in der Deutschland- und Ostpolitik hatte Dr. Kohl in seiner Plenumsrede deutlich unterstrichen: „Wir halten nichts von einer Politik, die die Verletzung von Menschenrechten und den Entzug von Freiheit im Tausch gegen kleine Schritte menschlicher Erleichterungen verschweigt." Auch in der Diskussion über die Entwicklungspolitik stand die Menschenrechts- frage im Mittelpunkt: „Entwicklungspolitik als Demokratiepolitik". Prof. Hanf führte dazu weiter aus: „Deutsche Außenpolitik kann sich ihre Partner nicht nach dem Grad ihrer demokratischen Reife aussuchen. Deutsche Entwicklungspolitik kann jedoch sehr wohl ihre Projekte und Maßnahmen unter dem Gesichtspunkt aussuchen, prioritär fördern und planend wie durchführend beeinflussen, daß sie zu mehr sozialer Gerechtigkeit und mehr Freiheit beitragen." Der Freiheitsbegriff und das daraus abgeleitete Demokratieverständnis der CDU hatten ebenfalls in der Aussprache über die Europapolitik zentrale Bedeutung. Dazu Prof. Weidenfeld in seinem Bericht: „Europa ist kein bloß geographischer, sondern ein geistig-politischer Begriff. Europa soll die Idee des demokratischen Verfassungsstaates auf einer neuen Ebene realisieren. Der Gedanke ,Europa' ist in seiner tief wirkenden Tradition untrennbar verbunden mit der politischen Freiheit. Soll Europa seine Identität bewahren, dann darf und kann es nicht zu einer Va- riante des Sozialismus werden." Zum Verhältnis Europa und der Bundesrepublik zu den USA äußerte Dr. Marx: „Wir müssen auch offen sagen, daß wir aus vitalen Gründen mit den Vereinigten Staaten zusammenarbeiten wollen, sowohl im Verband der freien Europäer als auch bilateral als Deutsche."

Entwicklungspolitik

Zu den Problemen der Entwicklungspolitik faßte Prof. Weidenfeld zusammen: „In einer Welt, die immer dichter zusammenrückt, sprengt Entwicklungspolitik den Rahmen außenwirtschaftlicher Hilfe und wird zur Frage nach der Gestaltung der

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gemeinsamen Zukunft. Auch im Weltmaßstab bieten Dirigismus und Bürokratie keine Alternative zum freien und sozial gesicherten Markt. Wir wollen die Entwicklungsländer in die Lage versetzen, ihre Probleme in Zukunft selbst meistern zu können." Zum Zusammenhang von Wirtschafts-, Entwicklungs- und Außenpolitik hob Prof. Scheuner hervor: „Es geht um die Sicherung von Rohstoffzufuhren, der Absatzmärkte, aber auch um Verlagerung von Produkten in billiger produzierende Länder, Abnahme von Waren, alles das vermag sehr bedeutende Rückwirkungen auf die künftige wirtschaftliche Entwicklung in Europa und den erreichten Lebens- standard haben. . . Die Solidarität, der soziale Ausgleich, die wir in der inneren Politik zu weit ausgebaut haben, hier treten sie uns als Forderung im internationa- len Rahmen, als Verantwortung gegenüber anderen Völkern entgegen." Dr. Narjes zog den Schluß: „Ich schlage vor, daß im Grundsatzprogramm im Rahmen des Abschnittes Deutschland in der Welt' die Grundsätze der CDU für die Außenwirtschafts- und Entwicklungspolitik zusammenhängend dargestellt wer- den ... Ich fordere weiter, daß konkrete Aussagen zur Energiepolitik in das Grundsatzprogramm aufgenommen werden, die diesem für die Gesamtwirtschaft wichtigen Bereich gerecht werden."

Beständige Ordnung Neben der Behandlung der Menschenrechtsfrage beanspruchte die Deutschland- und Ostpolitik einen wesentlichen Teil der Diskussion. Prof. Scheuner: „Der heutige Zustand, der zwei gegenläufige politisch-soziale Ordnungen gegeneinander- stellt und die Deutschen durch eine waffenstarrende Mauer trennt, kann keine beständige Ordnung darstellen." „Der Gedanke der Nation sollte nicht aufgegeben werden." "Rechtliche Verzichte können oftmals die Lage nur stärker problematisieren. Eben darum ist das aufmerksame Festhalten der rechtlichen Positionen, vor allem derer, die Berlin sichern, ein Gebot, das letztlich auch dem nüchternen Ausgleich mit den anderen Beteiligten dient." Dr. Marx: „Selbstverständlich bleibt das Ziel unserer Deutschlandpolitik die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands in freier Selbstbestimmung." „Es muß auch im Grundsatzprogramm darauf hingewiesen werden, daß ... für uns die eine deutsche Staatsangehörigkeit nicht zur Disposition steht." „Hier muß die CDU auch an die grundsätzliche Bedeutung, die für sie die Westverträge, insonderheit der Deutschlandvertrag, haben, erinnern, an die Briefe zur deutschen Einheit, an die gemeinsame Entschließung des Deutschen Bundesta- ges vom 17. Mai 1972 und an die Urteile des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Juli 1973 und 7. Juli 1975." Das Fazit der Diskussion in der Sektion IV gab der Generalsekretär der CDU, Dr. Heiner Geißler, in seiner Schlußrede vor dem Plenum: 28 CDU-Dokumentation 33/1977

„Bevor ich dazu übergehe, einige Kriterien und Maßstäbe für die weitere Diskus- sion des Grundsatzprogramms zu nennen, möchte ich die besondere Bedeutung hervorheben, die die Außen- und Deutschlandpolitik für die Grundfragen unseres Volkes wegen der besonderen weltpolitischen Lage in der Bundesrepublik Deutsch- land besitzt. Ihr gebührt ein hervorragender Platz im Rahmen unseres Grundsatz- programms. Nicht ohne Grund hat die CDU dieses Forum in Berlin durchgeführt. Im Brennpunkt der Konfrontation eines totalitären Regimes mit unserer freiheitlichen Ordnung ist diese Begegnung freier und unabhängiger Menschen auch ein Signal für die geistige Auseinandersetzung mit der marxistischen Philosophie und dem totalitären Kommunismus. Auf dem Düsseldorfer Parteitag hatte die CDU beschlossen: Wir werden die weltanschauliche politische Auseinandersetzung, zu der uns die kommunistische DDR-Führung herausfordert, offensiv führen. Ich gehe noch einen Schritt weiter: Durch das Beispiel eines freiheitlichen und sozial gerechten Staates werden wir die DDR herausfordern. Ziel unserer Außenpolitik muß es sein, den Frieden zu erhalten, aber in Freiheit. Wir erklären in und für Berlin: Diese Stadt verkörpert die Einheit Deutschlands. Wer die Einheit Deutschlands freigibt, gefährdet den Status Berlins und damit die Existenz des freien Teils dieser Stadt. Eine von der Union geführte Bundesregierung wird sich in ihrer Politik nicht nur von der Einhaltung der geschlossenen Verträge leiten lassen. Sie wird ebenso die sie begleitenden und stützenden Erklärungen und Urteile zur Richtschnur ihrer Deutschland- und Ostpolitik machen. In diesem Zusammenhang unterstreichen wir die fortdauernde Bedeutung des Deutschlandvertrages vor dem Hintergrund der nach wie vor offenen deutschen Frage. Zu unserem Freiheitsverständnis gehört die Forderung nach der Verwirklichung der Menschenrechte in der Welt. Dies schließt auch ein die Sicherung menschen- würdiger Lebensbedingungen für die unter kommunistischer Herrschaft lebenden Deutschen. Dies gilt ebenso für den Bereich unserer Entwicklungspolitik. Frei- heit und Menschenrechte sind unteilbar."

Sektion V Staat „Denn im Gegensatz zu manchen volkstümlichen Meinungen, die mehr Staatsautorität verlangen und in Wirklichkeit mehr Einsatz staatlicher Gewaltmittel meinen, ist Autorität zunächst ein geistiger 29 CDU-Dokumentation 33/1977

Sachverhalt. Sie ist eine Führungsfähigkeit, die nicht aus Furcht vor der Staatsgewalt, sondern aus dem Vertrauen in den Staat gespeist wird." (Prof. Herzog) Die Leitung der V. Sektion hatte Prof. Dr. Wilhelm Kewenig. Die einleitenden Referate hielten Prof. Dr. Roman Herzog und Prof. Dr. Karl Doehring. Berichterstatter dieser Sektion im Schlußplenum war Prof. Dr. Dieter Oberndörfer. Grundlagen der ersten großen Diskussionsrunde waren neben dem Entwurf des Grundsatzprogramms die Rede von Helmut Kohl und das Einführungsreferat von Prof. Herzog. Der Parteivorsitzende zu den Aufgaben des Staates: „Der Staat muß die äußere und innere Sicherheit garantieren, er muß soziale Sicherheit gewährleisten, auch für Wohlstand und Gemeinwohl sorgen. Staatliche Maßnahmen können diese Ziele schrittweise verwirklichen." Prof. Herzog: „Dann aber müßte sich das Grundsatzprogramm, wie gesagt, mit den Aufgaben des Staates in der modernen Gesellschaft auseinandersetzen . . . Die Spiegelsätze, die die Nummer 101 in ihrem dritten Absatz enthält, sind meines Erachtens zwar ein anerkennenswerter Versuch. Sie beziehen sich aber vorwiegend auf die sogenannte Gesellschaftspolitik. So wichtig dieser Bereich moderner Staatstätigkeit zweifellos ist, so wenig ist von dieser Seite allein einerseits dem Sicherheitsproblem beizukommen, das in den letzten Monaten ungeahnte Dimensionen angenommen hat, noch dem weiteren Problem, das — von seiner negativen Seite her — mit dem Schlagwort „Schwund des Vertrauens in die staatlichen Institutionen" zu umreißen ist. Damit bietet sich fast von selbst ein Katalog von drei klassischen Staatsfunktionen an, der m. D. in das Grundsatzprogramm der CDU Eingang finden sollte. 1. Der moderne Staat hat — wie jeder Staat überhaupt — zunächst einmal die ihm zugeordnete Gesellschaft vor Feinden von außen und vor Friedensbrechern von innen zu schützen . . . 2. Aufgabe des modernen Staates ist es weiterhin, die gesellschaftlichen Gesche- hensabläufe — vor allem in der Wirtschafts- und Sozialpolitik — dann zu beeinflussen oder zu ergänzen, wenn von ihren Selbststeuerungskräften allein ein unzureichendes oder gar ungerechtes Ergebnis zu erwarten ist .. . Die Sicherung des inneren und äußeren Friedens ist ausschließlich Sache des Staates, dem dazu das Monopol an physischer Gewalt zusteht. Mithilfe des Bürgers (etwa bei der Verbrechensbekämpfung) hat stets nur subsidiären Charakter . . . 3. Der Staat hat schließlich die Aufgabe der Staatserhaltung."

Zur Durchsetzung staatlicher Aufgaben Prof. Herzog: „Die Staatsgewalt besteht nicht nur, um die Rechte der Bürger zu schützen, sondern sie besteht auch, um dem Staat die Chance zu geben, die von ihm 30 i CDU-Dokumentation 33/1977

für richtig gehaltenen Ziele nötigenfalls auch gegen den Widerstand von Interessen- ten durchzusetzen." Dr. Geißler in seiner Schlußrede: „Wer aber die Legitimität staatlicher Macht- und Gewaltausübung heute in der Bundesrepublik anzweifelt, schwächt den Staat in kritischen Situationen und bewirkt seine Wehrlosigkeit gegen seine Feinde."

Zum Funktionieren der Rechts- und Staatsordnung

Prof. Herzog: „Die Rechts- und Staatsordnung funktioniert nur, wenn die große Mehrzahl der Bürger aus Einsicht in die Notwendigkeit staatlicher Maßnahmen und im Vertrauen auf die Führungsfähigkeit der obersten Staatsorgane freiwillige Loyalität übt." Im Anschluß an diese Diskussion ergab sich die Frage nach der Autorität des modernen Staates. Prof. Herzog: „Denn im Gegensatz zu manchen volkstümlichen Meinungen, die mehr Staatsautorität verlangen und in Wirklichkeit mehr Einsatz staatlicher Ge- waltmittel meinen, ist Autorität zunächst ein geistiger Sachverhalt. Sie ist eine Führungsfähigkeit, die nicht aus Furcht vor der Staatsgewalt, sondern aus dem Vertrauen in den Staat gespeist wird." Im Entwurf wird mehrfach auf die Grenzen staatlichen Handelns hingewiesen. Dr. Kohl: „Wer so tut, als könne der Staat dem einzelnen jedes Risiko abnehmen, der täuscht die Menschen — und schafft neue Risiken, die viel schlimmer sind als jene, die er beseitigen wollte ... Der Staat kann der Freiheit des einzelnen Chancen sichern, er kann aber nicht diese Freiheit selbst darstellen." Ausgehend von dem Referat von Prof. Doehring stand im Mittelpunkt der weiteren Erörterung die in Ziffer 114 behauptete These eines „notwendigen Spannungsver- hältnisses" von Sozialstaat und Rechtsstaat. Prof. Doehring: „Keines der sogenannten Institute, weder Rechtsstaat noch Sozialstaat, noch die Grundrechte, bestehen um ihrer selbst willen, sondern sollen jeweils und zusam- men die Freiheit des Individuums sichern." Von einigen Teilnehmern wurde angeregt, noch folgende Punkte in den Entwurf aufzunehmen. Dazu Prof. Oberndörfer in seinem Bericht: „Übereinstimmend wurde kritisiert, daß der Föderalismus und die kommunale Selbstverwaltung lediglich als Element des Rechtsstaates und nicht als konstitutive Elemente der demokratischen Ordnung behandelt werden. Angesichts der Bedeu- tung des Föderalismus im Grundgesetz wurde ein eigener Abschnitt über den Bundesstaat gefordert. . . Es wurde angeregt, auch die Problematik der öffentlichen Planung im Grundsatz- programm zu behandeln. Als Begründung wurde angeführt, daß sich gerade hier

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die CDU deutlich von der SPD abgrenze. Die Freiheit dürfe nicht verplant, es müsse vielmehr für die Freiheit geplant werden."

Die politische Ordnung In seinem Bericht vor dem Schlußplenum wies Prof. Oberndörfer auf zwei Hauptergebnisse der Diskussion in der Sektion V. hin: „1. Zustimmung fand der Vorschlag, dem Abschnitt V. nicht die Überschrift ,Der Staat', sondern die Überschrift ,Die politische Ordnung' zu geben. Denn einerseits werden hier nicht nur staatliche Organe im klassischen Sinne (z. B. Parlament, Regierung, Verwaltung) behandelt, sondern auch ein weites Spektrum von gesell- schaftlichen Gruppierungen, Einrichtungen und Organen, die für unsere politische Ordnung und ihren politischen Prozeß konstitutiv sind, thematisiert (z. B. Verbän- de, Bürgerinitiativen, Medien). Andererseits werden durch die Einführung des Begriffs „politische Ordnung" etatistische Mißverständnisse vermieden, die durch die jetzige Nomenklatur provoziert werden. 2. Zur Darlegung des Demokratieverständnisses im Entwurf des Grundsatzpro- gramms wurden zwei Alternativen vorgeschlagen: Die eine wählt als Ausgangspunkt die großen aktuellen politischen Kontroversen (repräsentative Demokratie versus direkte Demokratie, Handlungsfähigkeit des Staats, parteipolitische Durchführung immer weiterer Bereiche, Sozialpflichtigkeit der Verbände). Die andere Alternative will die Institutionen (z. B. Regierung, Parlament, Justiz, Verwaltung) in den Mittelpunkt der Vorstellung des Demokratieverständnisses rücken; nicht zuletzt mit der Absicht, die mit dem umfassenden Staatsbegriff verbundene Anonymität zu überwinden, Verantwortlichkeit präziser zu verorten und damit eine Identifikation des Bürgers mit der demokratischen Ordnung zu erleichtern."

CDU-Dokumentation — Verantwortlich: Heinz Winkler, 5300 Bonn, Konrad-Adenauer-Haus. Verlag: Union Betriebs GmbH, 53 Bonn, Argelanderstraße 173. Geschäftsführer: Peter Mül- lenbach, Gerhard Braun. Druck: WA-Druck Düsseldorf. 32