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STEFFEN DIETZSCH () „…die hohen nächte grüßen / mit freiheit mich“ – Hilbig im Freihafen der Romantik

für Ingrid Sonntag

Novalis, der mystischste unter allen Dichtern, fast noch mehr als Dante, mit dieser unsterblichen Jugend im Gesicht eines Engels

[…] und dessen Lebenselement die Luft ist.1

Als Wolfgang Hilbig im Jahre 1970 sein Gedicht Novalis schrieb, da war das sozusagen ein Emblem seiner poetischen Konfession, die sich im jüngst vergangenem Lustrum bei ihm herausgebildet hatte. In diesem Gedicht finden wir drei alltagsmythische Pathosfor- meln, mit denen Hilbig fortan seine Zeit und den Mensch der Mo- derne zu verstehen versucht: Das sind die Nacht, die Freiheit und das Wort. ich ging von ihren tischen voller speisen hinaus und trank im saal der schatten … trunken stieß ich auf die strasse in das dunkel … allem ledig seh ich nun vor meinen füßen licht zerspringen und die hohen nächte grüßen mit freiheit mich und ich hab raum …

1 Julien Green: Das letzte Tagebuch 1998 [Eintrag v. 20. Juni], in: Sinn und Form 52/4 (2000), 486.

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und gottesnah und frei von hab und gut

geh ich und unerschöpflich wird mein traum.2 An Novalis wird sich Hilbig acht Jahre später wieder erinnert füh- len, – in einer allerdings ganz und gar unromantischen Situation. Er wird zwischen Mai und Juli 1978 in der Untersuchungshaftan- stalt in zu seinen Verlagskontakten zum S. Fischer Verlag befragt und verdächtigt, dort etwas an den Druckgeneh- migungsprozeduren der DDR vorbei publizieren zu wollen (näm- lich seinen Gedichtband abwesenheit, der im Jahr darauf tatsäch- lich dort erscheint). – Zum Einchecken in die U-Haft gehörte es, dem neuen Kandidaten den Kopf kahl zu rasieren. Und als die Lo- ckenpracht Hilbigs niederrieselte, klagt er in seinem Gedicht bitte mein haar nach ausschwitz zu schicken über diese Erniedrigung – „wofür so lange sah ich aus wie novalis wie hölderlin.“3

I.

Als der Germanist Werner Mittenzwei im Sommer 1983 in die Akademie der Künste der DDR aufgenommen wurde, fiel ihm bei einem Vortrag von Stefan Hermlin (1915-1997) eine werbende Bemerkung über einen jungen Dichter auf: Hermlin nämlich „stell- te den Lyriker Wolfgang Hilbig vor, der trotz oder wegen seines ungewöhnlichen Talents in unserem Land nicht zum Zuge kam und Repressionen ausgesetzt war.“4 Hilbig war Hermlin dankbar für seinen Zuspruch (der wohl dann im gleichen Jahr zu der Veröffentlichung von stimme stimme bei Leipzig führte). Hilbig widmete ihm 1986 (als er schon im Westen war) sein Gedicht merigarto, wohl auch als Erinnerung an „die sonne des scheiterns“5, die hier evoziert wird und die – in ei- nem Blick von heute her – das Schicksal beider Protagonisten war. Von dieser Akademiesitzung (vom 22. Juni 1983) notierte auch Ulrich Dietzel – ein Literaturkundiger von Graden – in sein Tage- buch von seinem Versäumnis, von Hilbig zuvor noch nichts gehört

2 WHW I, 53. 3 WHW I, 468. 4 Werner Mittenzwei: Zwielicht. Auf der Suche nach dem Sinn einer vergangenen Zeit, Leipzig 2005, 400. 5 WHW I, 150.