Helene Christaller
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Helene Christaller Als Mutter ein Kind war Eine Geschichte aus dem Leben Reproduziert von J. M. Schubert und E. F. Schubert, 2005 Titelfoto zeigt Gertrud („Trudel“) Christaller, Tochter von Helene Christaller, im Alter von 17 Jahren. Helene Christaller (1872–1953) Helene Christaller (1872–1953) circa 1925 circa 1940 Die vier Kinder von Helene Christaller („Enne“) und Erdmann Gottreich Christaller: Erika Christaller (jüngstes Kind), Else Christaller (ältestes Kind), Walter Christaller (zweites Kind), und Gertrud („Trudel“) Christaller (drittes Kind). 2 Das Blaue Haus in Jugenheim an der Bergstraße 3 WIDMUNG Euch den drei Kindern meiner geliebten Tochter Gertrud schrieb ich dieses Buch. Denkt ihr noch an das Weihnachtsfest 1924, als ihr alle krank waret? Micha hatte angstvolle Tage im Krankenhaus durchgemacht, die ihn knapp am Kehlkopfschnitt vorbeiführten, und durfte nun wieder zu Hause gesund werden, Andreas hatte Fieber und geschwollene Drüsen, und Ulla lag an den Folgen einer schweren Grippe. Da hatte der Vater mir telegraphiert, daß ich helfen solle zu pflegen. Wir rückten die Bettchen zusammen in dem sonnigen Kinderzimmer, ich setzte mich mit einem bunten Strickzeug zu euch, das noch ein Weihnachtsgeschenk werden sollte, und nun hieß es: «Enne, erzähl uns was!» Es war gerade so die rechte Zeit zum Erzählen; die Sonne war am Untergehen und sandte ihre letzten schrägen Strahlen durch das Fenster. Ulla hatte einen feuchten Wickel bekommen und sollte schwitzen, Andreas klemmte das Ärmchen, unter dem das Fieberthermometer steckte, fest, Micha lag nur noch zur Vorsicht im Bett, das heißt, man mußte aufpassen, daß er mit seinem hellgrünen Wollwams nicht allzu viel in seinem Gitterbettchen herumturnte. «Was soll ich euch denn erzählen?» fragte ich und fühlte meine Phantasie etwas lahm und gar nicht bereit, die Flügel zu breiten. «Erzähl uns von der Mutter», sagte die Ulla und blickte nach dem Bild, das über jedem der Kinderbettchen hing. «Wie sie ein kleines Mädchen war», kam es heiser aus Andreas’ Bettchen. Und Micha hopste mit einem Satz in die Höhe, gab dem Bild einen Kuss und echote: «Von unserer lieben Mutter erzähl uns.» «Ja», sagte ich willig, und mein Geist sank und sank in alte Zeiten, sah ein zierliches, braunhaariges Kind durch einen alten Garten tollen, auf Tannen und Kirschbäume steigen, einen großen schwarzen Hund am Halsband führen, zahme Hühner streicheln, sich ein Kränzlein aus roten Röschen flechten, Geschwister und Kameraden sich zu ihm gesellen; ich hörte die süße, ach nun verstummte Stimme alte Volkslieder singen, den Geigenbogen streichen mit dem entrückten Gesichtchen innerer Versunkenheit, ich sah ... «Fang an», drohte Ulla, «sonst strecke ich den Fuß unter der Decke heraus.» «Und ich, ich hopse aus dem Bett», verkündete Micha mit einem Spitzbubenlächeln. Dem Andreas tat der Hals weh, und er stöhnte leise. Da fing ich schnell an zu erzählen, und Andreas vergaß seine Schmerzen, Ulla schwitzte geduldig, Micha blieb gehorsam unter der Decke. Wisst ihr’s noch? Jeden Abend erzählte ich euch in diesen Krankheitswochen von Mutters Kinderzeit, als sie noch Trudel hieß und nicht wie später Gertrud, da sie im Pfarrhaus und Garten eine glückliche, unbeschwerte Kindheit leben durfte und allen zur Freude war, die zu ihr gehörten. Die Erzählungen von damals sind nun ein Buch geworden, das ich euch Dreien widme. Und mit euch mögen sich andere an ihm freuen, denn alles wahrhaftig Erlebte und Gefühlte ist wert, gekannt zu sein. 4 ERSTE KINDHEIT PROPHEZEIUNG In diesem Jahr wollte es gar nicht Winter werden. Wohl hatte im Oktober eine Frostnacht die Georginen zerstört, daß ihre schwarzen Leichen traurig an den Stützen hingen, aber die Monatsrosen waren immer noch voll halberblühter Knospen, an denen unter den Sonnenstrahlen der Reif der Nacht sich in Tautröpfchen auflöste. Das Schönste waren aber doch die Chrysanthemen. Sie standen wie eine Hecke dem ganzen Haus entlang, übermannshoch und waren von einer märchenhaften Fülle großer blaßlila Blumen überdeckt. Das Pfarrhaus war wie im Festschmuck und als habe es sich eine lila Seidenschärpe um die Hüften geschlungen; auch das grünste kleine Knöspchen war in diesem Jahr zur Blüte gekommen und ließ sich von der Dezembersonne zur Freude wachküssen. Es war ein einfaches schlichtes Haus, das sie so schmückten, und es hatte von außen keine Merkwürdigkeit; innen aber war es über einen uralten gewölbten Kreuzgang gebaut, und es hieß, daß ein unterirdischer Gang vom Pfarrhaus hinüber ins Schloß führe. Unternehmende Buben waren ihn schon ein Stück von der ändern Seite her gekrochen, aber dann fanden sie ihn verschüttet. Außerdem spukte es im Haus, aber das störte niemand, sondern war nur interessant. Das Schönste am Haus war der Garten. Es gab keinen schöneren Pfarrgarten im ganzen Land. Er hatte eine Himbeerhecke und über hundert Obstbäume, unter denen dann noch gewiss ebensoviel Johannisbeeren und Stachelbeerbüsche wuchsen. Er hatte einen Kirschbaum, zu dem man die größte Leiter im Dorf entlehnen mußte, zwei Nussbäume und die mächtigsten alten Tannen, die wie ernsthafte Großväter über die blühenden Syringenbüsche und Goldbällchen sahen. In diesem Herbst hingen sie voll von langen braunen Zapfen, und wenn der Wind sie schüttelte, polterte es im Gras und auf den gekiesten Wegen; die Kinder suchten nach ihnen, denn sie konnten damit herrliche Spiele machen. An einem Morgen, in den ersten Dezembertagen, stand die junge Frau des Hauses vor dem violetten Märchenwald der Blumen, und rechts hing ihr ein blondgelocktes blauäugiges zartes Mädchen am Arm, und links hielt sich ein noch helleres dickes Bübchen an den Falten ihres Rockes fest. «So schön sind diese Blumen, es ist wie ein Himmelswunder», sagte die Mutter andächtig und umschloß mit heißem Liebesblick die violette Blumenhecke, die so hungrig und dankbar die spärliche Wintersonne trank. Das Gartenpförtchen klang, und Schritte kamen über den Hof. «Ein Bettler», dachte die Frau und suchte seufzend nach einer Münze in der Kleidertasche. Es kamen so viele in den Pfarrhof, und die wenigsten waren erfreulich. Es war ein alter Mann mit einem langen silbernen Bart, der langsam den Weg herauf kam. Da sah er die Blumen und blieb stehen. «Ach, ist das schön!» sagte er leise und nahm eine Blüte in die Hand und blickte sie an. Als die fragenden Augen der Pfarrfrau ihn trafen, ließ er sie fahren, nahm den Hut ab und stand vor ihr in der demütigen Stellung des Bittenden. «Ich wollte eigentlich um ein Almosen fragen, ich bin alt und krank, aber jetzt. .» Er schlug plötzlich ein paar edelsteinblaue Augen zu der Frau auf, «jetzt bitte ich Sie lieber um ein paar Blumen.» Die Pfarrerin lächelte freundlich und wurde sehr froh, denn diese Bitte verband sie innerlichst mit dem Alten. Sie schüttelte die Kinder ab und brach einen großen Strauß, von dem ein herber, bitterlicher Duft aufstieg. Der Alte und die Kinder standen aufmerksam dabei, und als sie nun zu ihm trat und ihm die Blumen bot, mit einem lieben, fraulichen Lächeln, da blickten seine Augen sie so merkwürdig mild und sanft an; sie waren so durchsichtig wie Wasser und sie schauten ihr bis auf den Grund der Seele, daß sie erschauerte. 5 Er nahm die Blumen, sah darauf nieder, zögerte zu gehen. Dann sagte er mit halblauter Stimme: «Das Kind, das Euch geschenkt wird, wird sein wie diese Blumen: es wird der Menschen Herz erquicken durch seine Schönheit und Anmut, und die Liebeskraft seines Herzens wird so stark sein, daß sie blüht und glüht auch unter kalter Sonne. Schön, liebend und tapfer wie diese Blumen ...» Es war, als verschlucke er noch ein Wort, er senkte die Augen, neigte sein Gesicht über die Blumen, daß es aussah, als ob er sie küßte, dann kehrte er sich um und ging bloßen Hauptes den Blumenweg hinunter aus dem Garten hinaus. Fast erschrocken blickte die Frau ihm nach, und seine Worte hafteten in ihrem Herzen. Sie glaubte nicht daran, aber immer ging ein feiner Schmerz durch alle Freude hindurch, wenn sie an diese Prophezeiung dachte. Obgleich seine Worte wie ein Segen geklungen hatten. In dieser Nacht wurde ihr ein Kind geschenkt, und als der Vater am ändern Morgen auf ihren Wunsch einen Strauß der lila Blumen holen wollte, da hatte der Frost in der Nacht sie vernichtet, und er trat mit leeren Händen ans Bett der Mutter. «Schön, liebend, tapfer und — vergänglich», sagte sie mit zitternder Stimme. Aber sind wir das nicht alle — vergänglich? Und sie schüttelte die schweren Gedanken ab und blickte auf ihr schwarzhaariges Mägdlein, das in ihrem Arm lag und sein braunes Gesichtlein an ihre weiße Brust schmiegte. DAS CHRISTKIND So hatten Else und Walter ein Schwesterlein bekommen, das Gertrud hieß. Da das aber so ein feierlicher erwachsener Name war, nannte man sie Trudel, und wenn man zärtlich war, so rief man Trudele. Die Mutter war gerade zu Weihnacht wieder gesund geworden, und der Vater hatte auf ihre Bitten all die erfrorenen Blumen vor dem Haus abgeschnitten, es tat ihr weh, sie zu sehen. Als sie aber am Grund der Stöcke grüne, junge, zarte Blättchen und Triebe aufkeimen sah, wurde sie fröhlich über das neue Leben und dachte nicht mehr an die gestorbenen Blüten. Sie hatte auch so viel anderes zu tun, Am elften Dezember war das Trudenkind geboren, und jetzt waren nur noch zwei Tage bis zum Fest. Da gab es noch Nüsse zu vergolden und Elses Holzpuppe das Gesicht frisch zu malen. Walters erste Hosen waren noch ohne Knöpfe, und das Bild, das sie im Herbst heimlich für den Vater gemalt hatte, mußte noch gefirnißt werden. So weihnachtlich wie diesmal war ihr das Fest noch nie erschienen, und während der Vater den Baum putzte und die zwei größeren Kinder sich um Großmutters Knie drängten, die natürlich zu dem großen Familienereignis herbeigekommen war, da schlich sich die junge Mutter leise ins Kinderzimmer, wo es dämmerig und still war und wo nur die spielenden Flammen des Ofens zuckende Lichter auf den Fußboden warfen.