Akademisch jaar: 2007-2008

Phraseologismen und höfische Schlagwörter bei Walther von der Vogelweide

Masterarbeit

im Fachgebiet

Deutsche Sprachwissenschaft

Promotor: Verhandeling voorgelegd aan de Prof. Dr. Luc Degrauwe Faculteit Letteren en Wijsbegeerte voor het verkrijgen van de graad van Master in de historische Taal-en Letterkunde door Sylvie Van Overmeeren

Vorwort

Als ich 2003 im Gymnasium mein Studium Latein - Moderne Sprachen absolvierte, wusste ich schon genau, dass ich Sprachen, insbesondere Deutsch, weiter studieren würde, weil im Laufe der Jahre in mir eine gro e Liebe für die Deutsche Sprache entstanden war. Deshalb nahm ich das Studium „Taal- en Letterkunde 2 talen: Nederlands-Duits‟ auf. Eine fesselnde Herausforderung, die ich noch nie bereut habe. Im ersten Jahre dieses Studiums bekamen wir Unterricht über die Entstehung der germanischen Sprachen. Mich interessierten vor allem die älteren historischen Sprachen, wie das Gotische, Althochdeutsche, Altsächsische und Niederfränkische. Ich war denn auch sehr froh, wenn ich hörte, dass für diese verschiedenen Sprachen bestimmte Vorlesungen angeboten wurden. Ich habe mich ohne Zögern und so bald wie möglich zu Gotisch, Althochdeutsch und Altsächsisch angemeldet. Während der Vorlesung 2006 von Prof. Dr. L. De Grauwe habe ich ein neues gro es Interesse für Phraseologie entwickelt. Im dritten Bachelor schrieb ich schon eine Bachelorarbeit, in der meine zwei gro e Passionen, nämlich Phraseologie und die historischen Sprachen, miteinander verknüpft werden konnten. Dieses Jahr habe ich mich ohne Zögern in den Master „Historiche Taal- en Letterkunde‟ immatrikulieren lassen. Als Thema meiner Masterarbeit möchte ich selbstverständlich am liebsten wiederum meine zwei Passionen miteinander verbinden. Aber gerne hätte ich dieses Mal das Sprachliche auch mit der Literatur Walthers von der Vogelweide verknüpft. Ein Vorteil war, dass heutzutage noch nicht viel wissenschaftliche Forschung zur historischen Phraseologie bei Walther getrieben worden ist. Somit war der Ansatz für eine Studie festgelegt. Doch weil Walther von der Vogelweide einer der ersten Minnesangdichter war, der Minnesang auβerdem in der Blütezeit der mittelhochdeutschen Literatur entstanden war und diese Literatur im Zeichen der ritterlichen Höflichkeit stand, entschied ich mich, auch einen anderen Teil meiner Arbeit den höfischen Schlagwörtern bei Walther zu widmen.

An erster Stelle möchte ich Prof. Dr. Luc De Grauwe, meinem Betreuer, danken. Mit seiner gro en Sachkenntnis hat er mir mit Rat und Tat beigestanden. Weiter möchte ich meinen Dank allen denjenigen aussprechen, die in grö erem oder geringerem Ma e bei dieser Arbeit behilflich waren.

I Verwendete Abkürzungen

Jmd. Jemand jmdm. Jemandem jmdn. Jemanden jmds. Jemandes u.a. und andere u.Ä. und Ähnliches usw. und so weiter z.B. zum Beispiel bzw. Beziehungsweise

NV Nonverbales Verhalten

Walth. Walther von der Vogelweide

II Abstract

Diese Arbeit handelt einerseits von Phraseologie und Phraseologismen, andererseits von höfischen Schlagwörtern beim mittelhochdeutschen Minnesänger Walther von der Vogelweide. Es wird zunächst eine theoretische Auseinandersetzung, mit bzw. die Definition von Phraseologie gegeben. Zweck des ersten Teils dieser Arbeit ist also eine diachronische Untersuchung in Angriff zu nehmen, in welcher der Gebrauch von Phraseologismen im mittelhochdeutschen Minnesang bei Walther von der Vogelweide untersucht wird. Auβerdem wird untersucht, inwieweit Walthers Phraseologismen in der heutigen, zeitgenössischen Sprache noch vorkommen, d.h. ob sie bewahrt sind oder sich viellicht zu einer Variante entwickelt haben, wenn sie nicht verschwunden sind. Nicht alle Klassen von Phraseologismen, sondern nur die gebräuchlichsten, werden hier besprochen. Im zweiten Teil werden die abstrakten höfischen Schlagwörter, die aber nicht fest zu umreiβen sind, bei Walther besprochen. Es wird untersucht, welche Wörter des Wertes, des Schmerzes, der Hoffnung und der höfischen Tugenden vorkommen und welche Bedeutung sie bei Walther haben.

III IV Inhaltverzeichnis

1. EINLEITUNG ...... 3

2. DATEN UND METHODOLOGIE ...... 5 2.1. DIE METHODOLOGIE ...... 5 2.2. PROBLEME BEI DER METHODOLOGIE DER PHRASEOLOGIEFORSCHUNG ...... 5 2.3. ART DES MATERIALS UND VERFAHREN ...... 7

3. WALTHER VON DER VOGELWEIDE: LEBEN UND WERK ...... 11 3.1. LEBEN ...... 11 3.2. WERK ...... 14

TEIL I: ...... 19

PHRASEOLOGISMEN BEI WALTHER VON DER VOGELWEIDE ...... 19

1. BISHERIGE UND HISTORISCHE PHRASEOLOGIEFORSCHUNG ...... 21 1.1. BISHERIGE PHRASEOLOGIEFORSCHUNG ...... 21 1.2. HISTORISCHE PHRASEOLOGIEFORSCHUNG ...... 22

2. PHRASEOLOGIE: DEFINITION UND KRITERIEN ...... 23 2.1. DEFINITION ...... 23 2.2. KRITERIEN ...... 24 2.3. ENTSTEHUNG VON PHRASEOLOGISMEN ...... 31

3. KLASSIFIKATION ...... 33 3.1. BASISKLASSIFIKATION ...... 33 3.2. SPEZIELLE KLASSEN ...... 34 3.2.1. Die Formeln ...... 34 3.2.1.1. Die Paarformel ...... 34 3.2.1.2. Routineformeln ...... 35 3.2.1.3. Aufzählende Paarformeln ...... 37 3.2.2. Komparative Phraseologismen ...... 37 3.2.3. Kinegramme ...... 39 3.2.4. Somatismen ...... 42 3.2.5. Sprichwörter ...... 43 3.2.6. Bildliche Negation und Antonomasie ...... 45

4. BEFUNDE BEI WALTHER ...... 47 4.1. PAARFORMEL/ DRILLINGSFORMEL ...... 48 4.1.1. Paarformel ...... 48 4.1.2. Drillingsformel ...... 55 4.2. ROUTINEFORMEL ...... 55 4.3. SPRICHWÖRTER ...... 57 4.4. KOMPARATIVE PHRASEOLOGISMEN ...... 61 4.5. BILDLICHE NEGATION ...... 65 4.6. SOMATISMEN ...... 67 4.7. ANTONOMASIE...... 69

5. SCHLUSSFOLGERUNG ...... 70 5.1. PHRASEOLOGIEFORSCHUNG ...... 70 5.2. KLASSIFKATION ...... 70

1 5.2.1. Basisklassifikation ...... 71 5.2.2. Spezielle Klassen ...... 71

ANHANG I ...... 75

TEIL II: ...... 89

HÖFISCHE SCHLAGWÖRTER BEI WALTHER VON DER VOGELWEIDE ...... 89

1. EINFÜHRUNG ...... 91

2. BEFUNDE ...... 93 2.1. AREBEIT ...... 94 2.2. DIENEST ...... 95 2.3. ÊRE ...... 95 2.4. ÊRE UND VARNDE GUOT ...... 96 2.5. HÖVESCH ...... 97 2.6. KIUSCHE ...... 98 2.7. KUMBER ...... 99 2.8. MÂZE ...... 100 2.9. MUOT ...... 103 2.10. SAELDE, SAELIC ...... 103 2.11. SCHOENE UND GUOT ...... 108 2.12. SORGE...... 109 2.13. STAETE ...... 111 2.14. TIURE ...... 112 2.15. TRIUWE ...... 114 2.16. WÂN, TRÔST, GEDINGE ...... 114 2.17. WERT, WIRDE, WERDEKEIT ...... 117 2.18. WÜNNE, VRÖUDE ...... 122 2.19. ZUHT UND TUGENT ...... 123

3. SCHLUSSFOLGERUNGEN ...... 126

ANHANG II ...... 137

LITERATURVERZEICHNIS ...... 163

2 1. Einleitung

In meiner Arbeit will ich mich mit dem Thema höfische Schlagwörter und Phraseologismen bei Walther von der Vogelweide beschäftigen. Ziel dieser Arbeit ist also zweifach. Einerseits ist es das Ziel, eine diachronische Untersuchung in Angriff zu nehmen, in der Phraseologismen in einer historischen Sprachstufe untersucht werden. Waren Phraseologismen also schon im mittelhochdeutschen Minnesang, und zwar bei Walther von der Vogelweide im Gebrauch? Sind die Phraseologismen, die Walther von der Vogelweide verwendete, noch in unserer zeitgenössischen Sprache zurückzufinden? Und sind diese dann im Laufe der Jahre bewahrt und sogar stabil geblieben oder haben sie sich zu einer Variante entwickelt, wenn sie wenigstens nicht verschwunden sind? Andererseits hat diese Arbeit als Aufgabe, die abstrakten höfischen Schlagwörter des Wertes, des Schmerzes, der Hoffnung und der Tugende bei Walther zu untersuchen. Welche Schlagwörter und in welcher Bedeutung hat Walther in seinem Werk verwendet?

Die Aufgabe meiner Arbeit besteht also darin, die Werke Walthers einerseits auf Phraseologismen und andererseits auf höfische Schlagwörter zu analysieren und auf diese Weise den Phraseologiegebrauch und Gebrauch der höfischen Schlagwörter am Beispiel des wichtigsten Dichters des mittelhochdeutschen Minnensangsfrühlings darzustellen. Den Untersuchungszeitraum begrenzte ich also auf die Sprachstufe des Mittelhochdeutschen und nahm die geschriebene Sprache als zu untersuchende Varietät, da eine Erforschung der gesprochenen Sprache nicht möglich ist, weil ja die Informanten fehlen. Ich habe mich entschieden, die Werke Walthers von der Vogelweide näher zu untersuchen, weil u.a. auf phraseologischer Ebene sein Werk noch nicht viel erforscht worden ist.

Die Arbeit habe ich in zwei Teile unterteilt. Ihnen gehen aber erstens eine kurze Besprechung des Lebens und Werkes Walthers von der Vogelweide und zweitens eine Erörterung der allgemeinen Methodologie voran. Die spezifische Methodologie wird pro Teil gerade vor den Befunden kurz erklärt.

Der erste Teil enthält die Besprechung der Phraseologismen, die aus 5 Kapiteln besteht. Im ersten Kapitel versuche ich die bisherige und historische Phraseologie zu skizzieren. Die folgenden zwei Kapitel handeln dann von der Phraseologie im Allgemeinen, wobei im zweiten Kapitel die Besprechung der Merkmale der Phraseologismen erfolgt und im

3 dritten Kapitel die Klassifikation der Phraseologismen. Das vierte Kapitel ist den diesbezüglichen Ergebnissen bei Walther von der Vogelweide gewidmet, in dem die Befunde aufgeführt und ausgewertet werden. Schließlich folgt eine Schlussfolgerung. Neben dem ersten Teil gibt es auch einen kürzeren zweiten Teil, bestehend aus 3 Kapiteln, der wie erwähnt eine Auseinandersetzung der höfischen Schlagwörter bei Walther von der Vogelweide enthält. Das erste Kapitel ist eine Einführung in das Thema der höfischen Schlagwörter, während das zweite Kapitel den ausgewählten Leitwörtern bei Walther gewidmet ist, indem es die spezifische Bedeutung in den Walther-Stellen bespricht. Danach folgt auch in diesem Teil eine Schlussfolgerung.

4 2. Daten und Methodologie

2.1. Die Methodologie

Gegenstand der Sprachwissenschaft im Allgemeinen ist die Erforschung der menschlichen Sprache. “Es dreht sich vor allem darum, das Zustandekommen der Formen zu erklären” (Scherer 2006:1). Die Sprachwissenschaft entscheidet nicht über richtige oder falsche Formen. Sie unterscheidet zwischen Formen mit bestimmten sprachlichen Regeln, und Formen, die den sprachlichen Regeln nicht entsprechen (Scherer 2006:1). Scherer erklärt, dass die Sprachwissenschaft die Frage nach der Verbreitung oder Frequenz einer bestimmten Form, z.B. die Pluralform Praktikas, nicht beantworten kann, und man dazu den Sprachgebrauch, und nicht das Sprachsystem untersuchen muss (Scherer 2006:1). Um diesen Sprachgebrauch zu untersuchen, bildet die Korpuslinguistik eine gute Methode. Nach Scherer verwendet man bei der Erforschung von Sprachen vergangener Epochen, von denen wir keine Zeugnisse besitzen, wie in den historischen Sprachstufen, auf jeden Fall am besten ein Textkorpus, d.h. “eine Sammlung von Texten oder Textteilen, die nach bestimmten sprachwissenschaftlichen Kriterien ausgewählt und geordnet werden” (Scherer 2006:3). Warum wir bei einer historischen Untersuchung am besten ein Textkorpus benutzen, hat damit zu tun, dass man unmöglich eine Gruppe befragen oder ein Experiment durchführen kann, weil es keine Sprecher dieser Sprachen mehr gibt.

2.2. Probleme bei der Methodologie der Phraseologieforschung

Wenn man sich aber, wie ich im ersten Teil, mit der historischen Phraseologie beschäftigt, also mit der Phraseologie der älteren Sprachstufen, hat man, wie Burger sagt, “eine Reihe von methodischen Schwierigkeiten zu überwinden, die sich bei der Erforschung des heutigen Deutsch nicht oder nicht im gleichen Ma e stellen” (Burger 1885: 743). Ein erstes Problem stellt sich im Bereich der Semantik. Laut Burger verfügt der heutige Forscher nämlich nicht über eine hinreichende diesbezügliche Kompetenz. Das hei t, dass der Forscher die Phraseologizität einer Verbindung nicht richtig beurteilen kann. Au erdem heißt das, dass der Forscher nicht entscheiden kann, ob eine Verbindung, die keine lexikalische oder morphosyntaktische Unterschiede aufweist, eine Variante des gleichen Phraseologismus ist, oder ob es sich um verschiedene Phraseologismen handelt (Burger 1985: 743) Zum Beispiel bedeutet im Bild sein „auf der Kamera zu sehen sein‟ nicht das Gleiche wie im Bilde

5 sein „Bescheid wissen‟. Au erdem könnte es auch sein, dass es sich bei dieser Verbindung um eine Variante handelt, die die Normalform darstellt und Modifikationen bildet.

Eine zweite Schwierigkeit der historischen Phraseologieforschung ist das Fehlen der empirischen Methodik. Bei der Erforschung der Gegenwartssprache bietet sich immer die Möglichkeit, Informationen durch Befragung oder Experimente zu gewinnen. Diese Möglichkeit entfällt aber leider bei der historischen Phraseologie. Für das Fehlen empirischer Befragungungen oder Experimente kann jedoch eine Lösung gefunden werden:

Da es sich aber bei den Mechanismen der Phraseologisierung vermutlich um universale Prozesse handelt, ergibt sich für die historische Forschung die Aufgabe, grundsätzliche Erkenntnisse der Psycholinguistik in den diachronen Forschungsrahmen zu integrieren (Burger 1985: 743).

Drittens hat man es in älteren Sprachstufen mit einer Beschränkung der Quellentexte zu tun. Die Existenz der überlieferten Textsorten in den historischen Sprachstufen ist stark eingeschränkt. Viele Texte sind verloren gegangen oder gar nicht überliefert worden. Nur für die Epoche des Frühneuhochdeutschen (1350-1650) sind die Textsorten zahlreich. Im Gegensatz zum Frühneuhochdeutschen sind die Epochen des Althochdeutschen und Mittelhochdeutschen durch eine geringe Zahl Textsorten gekennzeichnet. Das hat zur Folge, dass zum Beispiel statistische Untersuchungen über die Frequenz von Phraseologismen nur begrenzte Aussagekraft haben (Burger 1985:743). Au erdem sagt Burger, dass “typische Situationen und Kontexte, in denen ein Phraseologismus verwendet wird, nur beschränkt zur Verfügung stehen” (Burger 1985: 743). Das hat zur Folge, dass die Möglichkeit entfällt, für die älteste Zeit (bis zum Frühneuhochdeutschen) stilistische oder soziolektale Zuordnungen vorzunehmen (Burger 1985:743). Letztlich sind auch die wissenschaftlichen Hilfsmittel in Bezug auf die Phraseologie älterer Sprachstufen nicht oder wenig nützlich. Einige Wörterbücher älterer Sprachstufen können helfen, aber sie sind nicht phraseologisch eingerichtet. Phraseologisches findet sich also in den Lexika des Althochdeutschen und Mittelhochdeutschen nicht unter den einzelnen Lemmata (Burger 1985: 743). Laut Burger bleibt dem Forscher demnach nichts anderes übrig, als die Phraseologismen für die älteste Zeit aus diesen Wörterbüchern oder aus den Quellen selbst zu exzerpieren. Burger erklärt schlie lich Folgendes:

Das vorrangige methodische Problem einer historischen Phraseologie besteht also darin, Kritierien zu finden, die festzustellen erlauben, wann eine Wortverbindung als phraseologisch zu gelten hat (Burger 1985: 744).

6 Diese Kriterien sind schon in Burger et al. (1982) aufgenommen. Es handelt sich um formale Kriterien oder pragmatische Faktoren, die die Phraseologizität eines Ausdrucks bestätigen (Burger 1985: 743).

2.3. Art des Materials und Verfahren

Wie schon gesagt, ist es wegen verschiedener Probleme nicht einfach, ein Korpus in Bezug auf eine historische Sprachstufe zusammenzustellen. Au erdem gibt es keine Liste, die ein vollständiges Verzeichnis von Phraseologismen bei Walther von der Vogelweide bietet. Für die älteren Sprachstufen sind keine oder kaum frei zugängliche Korpora verfügbar. Au erdem sind nur geschriebene und online-Korpora vorhanden und verfügt man nicht über eine gesprochene Variante. Am besten benutzt man nach Scherer für eine diachronische Untersuchung wie dieser Arbeit doch ein Textkorpus. Deswegen habe ich auch ein Textkorpus im engeren Sinne zusammengestellt.

a) Textkorpus

In Bezug auf meine Untersuchung beschäftige ich mich mit den vorhandenen begrenzten Materialien, d.h. mit denjenigen Textsorten, die die älteren Sprachstufen enthalten, die sich für phraseologische Zusammenhänge und im zweiten Teil für höfische Schlagwörter als nützlich erwiesen haben und folglich für die Fragestellung relevant sind:

- literarische Werke - historische Wörterbücher und phraseologische Sammlungen - historische Grammatiken, Stillehren, Formular- und Sprachlehrbücher

Es gibt zudem für Walther von der Vogelweide glücklicherweise doch noch verschiedene Textsorten und Hilfsmittel. Zuerst möchte ich denn auch gern die Textsorten und lexikografischen Hilfsmittel, die ich für diese Arbeit benutzt habe, angeben.

I. Für die althochdeutsche Epoche: - das althochdeutsche Wörterbuch von R. Schützeichel (6. Auflage) - Heliand und Genesis - Die Syntax des Heliand von Otto Behaghel

7 II. Für die mittelhochdeutsche Epoche: - das phraseologische Wörterbuch des Mittelhochdeutschen (1050-1350) von J. Friedrich - Gedichte. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung von Walther von der Vogelweide, herausgegeben von Schaefer (1972)

III. Für die neuhochdeutsche Epoche: - Duden – Redewendungen (2002): Wörterbuch der deutschen Idiomatik. Bd. 11. - Röhrich, Lutz (1995). Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten. 5bd. - Schemann, Hans (1998). Deutsche Idiomatik. Die deutschen Redewendungen im Kontext.

Weiter konnte ich mich auch auf Sekundärliteratur stützen: u.a. Burger, Scherer, Von Lieres, Ehrismann, Götz (cfr. Literaturverzeichnis S.165). Diese Arbeiten habe ich herangezogen, weil sie sich hauptsächlich mit Phraseologie bzw. mit höfischen Schlagwörtern befassen. Allgemeine Wörterbücher kamen nicht in Betracht, sondern nur spezifische phraseologische Wörterbücher. Das Teilgebiet, das sich mit Phraseologismen in Wörterbüchern befasst, ist die Phraseographie (Burger 2003: 170). Nach Burger soll diese Phraseographie die semantischen Probleme der Phraseologie zu illustrieren versuchen. Deswegen habe ich beim Suchen nach geeigneten Informationen, im Hinblick auf meine historische Untersuchung phraseologischer Redewendungen bei Walther, vor allem auch das historische und phraseologische Wörterbuch von Friedrich verwendet. Diese musste mir bei der Untersuchung der Phraseologismen bei Walther von der Vogelweide helfen. Daneben brauchte ich die Wörterbucher, wie z.B. Schemann und Duden, um die bestimmten Phraseologismen zu verstehen. Es ist mir auf jeden Fall klar geworden, dass die phraseologischen Lexika der deutschen Sprache im Allgemeinen ohne Zweifel noch weitere theoretische Fundierungen erfordern. Die Benutzer-Perspektive, d.h. entweder die Perspektive der Rezeption oder der Produktion, sagt Burger schlie lich, ist in den letzten Jahren immer mehr in den Vordergrund gerückt (Burger 2003: 171). Diese zwei Perspektiven bringen mit sich, dass der Benutzer entweder ein Wort nachschlägt, das er braucht, um einen Text zu produzieren, oder das Wörterbuch für die Rezeption benutzt, was manchmal zu Problemen führt, auch in meiner Arbeit.

8 Ein erstes Problem, auf das ich bei meiner Untersuchung gestoßen bin, bestand darin, dass man oft nicht wei , ob eine bestimmte Wortgruppe als phraseologisch zu werten ist oder nicht. Die Termini sind nämlich nur im Abkürzungsverzeichnis aufgeführt und sind oft verwirrende Markierungen, wie z.B. die Abkürzung „Ü‟ (übertragene Bedeutung). Diese Abkürzung wird sowohl für Phraseologismen als auch für nicht-phraseologische Metaphern verwendet. Genau das bildet ein Problem, weil diese Markierungen und ihre Unterschiede oft nicht in der Einleitung der Wörterbücher erklärt werden, wodurch die Wortgruppe für die Benutzer nicht als Phraseologismus erkennbar ist. Die einfachste Lösung besteht hier darin, dass man zum Spezialwörterbuch greift. Zweitens ist es problematisch, wenn man nicht wei , unter welchem Stichwort oder Lemma sich ein bestimmter Phraseologismus finden ließe. In DUW zum Beispiel wird ein bestimmter Phraseologismus nur unter dem ersten Substantiv besprochen, und zwar aus Raumersparnisgründen (Burger 2003: 173). Das dritte und letzte Problem, mit dem ich zu kämpfen hatte, war die Frage nach der normalen Nennform des Phraseologismus. Eine Nennform, sagt Burger, impliziert eine Reihe von semantischen und syntaktischen Entscheidungen (Burger 2003: 178). Eine Rolle spielen vor allem die externe Valenz und die morphosyntaktischen Restriktionen (Burger 2003: 180). Bei der externen Valenz sind die Phraseologismen öfters nicht von aktualisierten Beispielen zu unterscheiden. Aktualisierte Beispiele sind Beispiel-Formulierungen in Wörterbüchern, in denen die externen Valenzen des Phraseologismus durch konkrete Lexeme ausgefüllt sind (Burger 2003: 178). Z.B. in DUW du hast dir die Finger wund geschrieben mit Gesuchen. Die Pronomina du und dir stehen für die externen Valenzen jemand und sich. Die Wörter mit Gesuchen stellen dann eine verdeutlichende Aktualisierung dar. Man wei also nicht, ob die Wörter phraseologisch aneinander gebunden sind oder nicht. Unklarheiten findet man, wo es nicht deutlich ist, ob es sich um eine eigentliche Nennform oder aber um ein aktualisiertes Beispiel handelt.

b) Online-Korpora

Man kann neben den Textkorpora auch mit Online-Korpora arbeiten. Es ist für die historischen Sprachstufen, wie schon erwähnt, nicht einfach, ein repräsentatives Korpus zusammenzustellen, weil die gesprochene Sprache verloren gegangen ist und auch die geschriebene Sprache zum gro en Teil nicht mehr vorhanden ist. Jedoch verfügen wir über

9 einige historische Kopora, die leider für meine Untersuchung nicht immer verwendbar sind. Für die mittelhochdeutsche Periode kann man sich auf das online Korpus der althochdeutschen Originalurkunden bis zum Jahr 1300 stützen (http://urts52.uni-trier.de/cgi- bin/iCorpus/CorpusIndex.tcl). Dieses Korpus ist ein Projekt der Universität Trier. Es handelt sich um die Erforschung der “historischen deutschen Phraseologie im Spiegelbild der Kultur und Kommunikation”, bei der die elektronische Datenbank zur Inventarisierung und Interpretation der älteren Phraseologismen noch nicht öffentlich zugänglich ist, da sie sich noch immer im Aufbau befindet und also für meine Untersuchung noch nicht relevant ist. Für die mittelhochdeutsche Sprachstufe kann man sich auch auf die mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank stützen (http://mhdbdb.sbg.ac.at:8000/). Diese Datenbank ist tagged und also morphologisch annotiert. Sie erlaubt relativ komplexe Suchanfragen und ist au erdem ständig im Aufbau. Man kann auch das Bochumer Mittelhochdeutschkorpus (BoMiKo) zu Rate ziehen (www.ruhr-uni-bochum.de/wegera/archiv). Es enthält viele Textsorten, wie Prosa, Urkunden und Reimdichtung, und behandelt au erdem die Regionen des Mitteldeutschen, Oberdeutschen und die Übergangsgebiete. Dennoch habe ich mich entschieden, in meiner Arbeit nur mit einem Textkorpus zu arbeiten. In einem späteren Schritt möge jemand dann die elektronischen Kopora benutzen, um die älteren Phraseologismen und höfische Schlagwörter im heutigen Deutsch zu untersuchen, und vielleicht damit zusammenhängend, diese Phraseologismen und Schlagwörter mit anderen Dichtern oder Sprachen, wie z.B. dem Niederländischen, zu vergleichen und zu analysieren.

10 3. Walther von der Vogelweide: Leben und Werk1

3.1. Leben

Walther von der Vogelweide, Minnesänger und Sangspruchdichter um 1200, ist einer der bedeutendsten deutschen Lyriker des Mittelalters. Er hat diese zwei Gattungen zu Höhepunkten in der Geschichte der Gattung entwickelt und neue Ausdrucksmöglichkeiten eröffnet (Hahn 1996: 666). Ebenfalls hat er in der Sangverslyrik neue Formen wie den „Alterston‟ und die „Elegie‟ eingesetzt. Sein Werk galt noch lange nach seinem Tod als vorbildhaft. Seine wichtige Bedeutung bestätigt sich in der Überlieferung und Rezeption, wodurch sein Werk sogar zum Mythos wurde. Anders als bei vielen mittelalterlichen Autoren lässt sich für Walther ein äußerer Lebensumriß gewinnen, weil er seine Person in seine Dichtung eingebracht hat und weil seine Spruchdichtung sich auf historische Gestalten und politische Wirken bezieht (Schweikle 1999:13). Ein sicheres außerliterarisches Lebenszeugnis Walthers ist im Ausgabenregister des Passauer Bischofs Wolfger von Erla zu finden. In diesen Reiserechnungen befindet sich eine Notiz über den 12. November 1203, den Tag nach St. Martin, die erwähnt, dass in Zeiselmauer an der Donau bei Wien ein Walther cantor de Vogelweide 5 solidos longos pro pellicio, also 5 Goldmünzen/ Schillinge für einen Pelzrock, erhalten hat (Schweikle 1999: 13). An Hand dieser Notiz ist die soziale und kulturelle Existenz Walthers besser zu verstehen. Der Begriff cantor ist unscharf, aber lässt sich in die Nähe der bunten Schar von fahrenden Spielleuten stellen (Schweikle 1999:23). Auf jeden Fall ist der Begriff in der Nähe des ioculator episcopi und des bischöflichen Falkners anzusiedeln. Walther verweilte eine Zeit lang in der Umgebung des Bischofs und konnte auf diese Weise dort seine Kunst präsentieren und sein Auskommen finden, was durch das Geschenk bestätigt wurde (Schweikle 1999: 14). Walther erhält aber keine wât „Kleid/ Pelzrock‟ (Walth 63,3)2, sondern eine hohe Summe zum Kauf eines Pelzes, als Belohnung für seine herausragende künstlerische Darbietung. Das war also ein Zeichen der Wertschätzung durch Wolfger (Schweikle 1999: 14). Walther war ein Meister in den politischen Sprüchen (1., 2. Reichston, Kronenspruch 18, 19, Magdeburger

1 Vgl. dazu 1) Schweikle, Günther, Walther von der Vogelweide. Werke. Gesamtausgabe. 1 Spruchlyrik. Stuttgart: Philipp Reclam 1999, S. 14 - 31. 2) Hahn, Gerhard, Artikel Walther von der Vogelweide, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 10 Bd. Berlin: de Gruyter 1996, S. 666 – 698. 2 Diese und weitere belegen befinden sich in der Ausgabe Lachmann-Kraus (1936): Die Gedichte Walthers von der Vogelweide. Berlin: Walter de Gruyter.

11 Weihnacht 19,5), da er auf treffsichere und bildkräftige Weise die staufische Partei und ihre politischen Interessen und Ziele formulierte. Er kritisiert auch die Politik Philipps von Schwaben und seine mangelnde milte. Die Notiz zeigt, dass Walther am Wiener Hof im Herbst 1203 während des Hochzeitsfestes Herzog Leopolds VI. einen Aufenthalt hatte. Nach Walthers eigenen Worten scheint Wien sein Lebensziel gewesen zu sein: die dritte sorge […] daz ist der wünneclîche hôf ze Wiene (Walth 84,1). In Österreich hat Walther selbst seine Lehrjahre verbracht: ze Oesterrîche lernde ich singen unde sagen (Walth 32, 7). Die Herkunft von Walther wird deswegen in Österreich postuliert. Außerdem weisen verschiedene Landschafts- und Ortsbeschreibungen darauf hin, dass Österreich die Geburtsheimat Walthers ist, aber keine Hypothese ist gesichert und Walthers Herkunft und soziale Einordnung bleiben düster, denn der Geburtsort ist von dem Herkunftsnamen „von der Vogelweide‟ nicht abzuleiten (Schweikle 1999:15). Im Mittelalter bestanden ja unzählige Vogelweiden bei Städten und Burgen, denn dort fing man Falken für die Falkenjagd oder Singvögel für die Wohnräume. Der Name eines Sängers, der oft mit den Fürsten reiste, kann auch auf ihren Besitz oder Herkunftsort deuten. Sehr sinnvoll für Walther ist das aber nicht, denn es gab Südtirol und Umgebung nur eine Vogelweide, nämlich die im Grödnertal. Der Name konnte schließlich als metaphorischer Sänger-Übername verstanden werden. Im 12. und 13. Jahrhundert sind die Künstlernamen bei Spruchdichtern sehr üblich. Minnesänger aber waren grundsätzlich unter dem Adelsnamen, der sie zum Unterzeichnen der Urkunden gebrauchten, bekannt. Aus diesen Gründen gibt es verschiedene vorgeschlagene Geburtsorte (neben Österreich) Walthers; so u.a. Franken: Würzburg, Feuchtwangen, Frankfurt; in Böhmen: Dux; oder in der Schweiz: Thurgau. Walther wurde dem niederen ministerialen Adel zugewiesen, aber in seinen Sprüchen fehlen jegliche Hinweise. Sie weisen eher darauf hin, dass Walther ein Berufsdichter ohne festen Wohnsitz war, also ein vagus, der “nach dem Urteil der Kirche keinen festen Platz in der mittelalterlichen Standesgesellschaft hat” (Schweikle 1999:15). Walther war also ein fahrender Berufssänger, der an den großen Höfen durch seine Kunst Gönner und Mäzene gewann, wie z.B. Friedrich I. von Österreich, Leopold VI. und Hermann I. von Thüringen. Der Hof in Wien war dank dem Babenberger Friedrich I., Herzog von Ostarrîchi, das Zentrum der Dichtung und Kunst geworden. Walther hatte an diesem Hof als junger Dichter den Minnesang vom angesehenen Meister Reinmar erlernt. Im Herzog hat er seinen ersten Patron gefunden. Dies war für ihn eine glückliche Periode, in der er viele seiner

12 Liebesgedichte schrieb. Dieser glückhafte Lebensabschnitt endete aber mit dem Tod von Herzog Friedrich im Jahre 1198. Walther distanzierte sich danach vom Hof und musste nach dem Tod seines Gönners Wien verlassen. Seitdem wanderte er von Hof zu Hof, um Unterkunft und Essen zu bekommen, und er hoffte, dass er irgendwo einen neuen Patron finden würde. Von Wien aus ging Walther 1201 nach Thüringen zum Hof des berühmten Landgrafen Hermann I.. 1204/5 war er erneut in Thüringen, das etwas wie sein zweites Zentrum in seinem Leben war (Schweikle 1999: 17). Drei Jahre lebte Walther am Hofe von Dietrich von Meißen, und er beschwerte sich, dass seine Dienste weder mit Geld noch mit Anerkennung belohnt wurden. In Mainz wohnte er der Krönung Philipps von Schwaben bei. Zu dieser Zeit entstanden seine Reichssprüche, die eine Deutung der schlimmen Zeit nach dem Tod Heinrichs VI. waren. Sie verdeutlichen ebenfalls den Wunsch, Phillip zum neuen König gekrönt zu sehen, sowie die Vorwürfe gegenüber dem Papsttum. Der Konflikt zwischen Reich und Papsttum hatte eine neue Phase erreicht, wobei Walther deutlich für die deutsche Unabhängigkeit Partei ergriff. Als Philipp ermordet wurde, war Walther Unterstützer von Otto von Braunschweig gegen Friedrich von Staufen. Walther aber war oft gezwungen, die Seiten zu wechseln, da er im Dienste eines Herrn stand und von diesem finanziell abhängig war. Später wendete Walther sich dann auch Friedrich II., 1212 dem einzigen Repräsentanten des Reiches, zu. Walther bekam von neuem Kaiser ein kleines Lehen, das ersehnte lêhen in Franken, wodurch er endlich eine feste Position und ein Heim hatte. Walther ist bis an sein Ende ein Anhänger und Propagandist der Staufer gewesen. Er hat es aber allerdings nicht lange auf seinem Eigentum ausgehalten und hat den Hof doch verlassen, um wiederum nach Thüringen und Wien zu fahren. 1217 befand er sich wieder in Wien, und erst im Jahre 1220 ist Walther noch einmal in Frankfurt, am Hof Friedrichs II.. Nach 1220 ist es nicht mehr ganz deutlich, wo Walther sein Leben verbracht hat. Offensichtlich war er einige Zeit bei Graf Diether II. von Katzenellenbogen im Taunus, und 1224 war er bei Erzbischof Engelbrecht von Köln. Am Ende seines Lebens (1228) war er wiederum in seiner Heimat Österreich-Wien, wo sein letztes Lied, das eine Anspielung auf die Exkommunikation Friedrichs II. macht und einen Kreuzzugsappell ins Heilige Land enthält, dokumentiert wurde (Schweikle 1999: 19). Er hätte sich um 1224 auf seinem Lehen bei Würzburg niedergelassen und versuchte die deutschen Prinzen dazu anzuhalten, sich an der Kreuzzugsarmee 1228 zu beteiligen. 1230 starb Walther und wurde vermutlich in dem grasehove des Kreuzganges des Würzburger Neustifts begraben (Schweikle 1999: 19). Nach einer Legende habe Walther verfügt, dass die Vögel an seinem Grab gefüttert würden. Michael de Leone gab ein Epitaph über den Ort des Grabes und die

13 lateinische Inschrift in der Liederkompilation der Handschrift E wieder, nämlich Pascua. qui volucrum. vivus. walthere. fuisti / Qui flos eloquij. qui palladis os. obiisti. / Ergo quod aureolum probitas tua possit habere. / Qui legit. hic. dicat. deus iustus miserere - Der du eine Weide für die Vögel, Walther, im Leben bist gewesen ...). Im Münchener 2° Cod. Ms. 731 (Würzburger Liederhandschrift) fol. 191v wird diese Teilübersetzung ergänzt, nämlich Her walter uon der uogelweide. begraben ze wirzeburg. zv dem Nuwemunster in dem grasehoue. Im Grashof des Neumünster-Kreuzgangs wurde 1930 ein neues Denkmal für Walther von der Vogelweide aufgerichtet, denn dort wurde, wie bemerkt, der Dichter vermutlich auf dem Friedhof nördlich von der Neumünsterkirche im Jahre 1230 beerdigt. Es hatte als Inschrift: Sepulto in ambitu novimonasterii herbipolensis - Begraben im Kreuzgang des Neuen Klosters zu Würzburg.

Walther hat vor allem für seine künstlerische Wirkung Ruhm und Nachruhm genossen. Es sind die Dichter, die ihn und sein Werk rühmen und damit seinen Nachruhm garantieren. Die Dichter Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg, Ulrich von Singenberg, Truchseß von St. Gallen und andere Spruchdichter wie Rubin und Hermann Damen haben in ihrem Werk auf Walther verwiesen (Schweikle 1999: 21). Auch die Epiker Rudolf von Ems und Ulrich von Liechtenstein haben Walther zitiert. Die Meistersinger des 14. Jahrhunderts betrachteten Walther als einen der 12 Alten Meister, als ihren Gründer und ihr Vorbild. Die Wiederentdeckung von Walthers Werk zu dieser Zeit wurde von der Schweiz aus angefangen. Es war Melchior Goldast, der um 1611 einige politische Sprüche von Walther veröffentlichte. Später hat Martin Opitz sich im Buch von der teutschen Poeterey auf diese Sprüche gestützt. Im 18. Jahrhundert wurde an Hand der Publikationen des Codex Manesse durch die Schweizer Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Brettinger eine Neuentdeckung von Walthers gesamter Lyrik eingesetzt (Schweikle 1999: 22). Die Monographie von Ludwig Uhland (1822) bringt erst die Gedichte Walthers in eine vermutete chronologische Ordnung, wonach dann die erste wissenschaftliche Edition von Walthers Texten durch Karl Lachmann (1827) erschien.

3.2. Werk

Walthers Werk besteht aus zwei unterschiedlichen Hauptgattungen; es sind dies der Minnesang und die Sangspruchdichtung, die ausschließlich von Berufssängern vorgetragen werden. Normalerweise betätigen Dichter sich nicht auf beiden Gebieten zugleich, weil der gesellschaftliche Status des Minnesangs und der Spruchdichtung verschieden ist. Walther aber

14 ist Aussnahme von dieser Regel. Insgesamt sind 500 Strophen von Walther in 110 Tönen überliefert. Inhaltlich lassen sie sich in 90 Lieder und 150 Sprüche gruppieren. Dazu gibt es auch einen religiösen Leich, verschiedene Kreuzzugslieder, in denen der Dichter den Dienst an Gott mit dem Frauendienst kontrastriert, und eine Elegie, die alle außerhalb der obengenannten Hauptgattungen stehen.

Der Minnesang ist die schriftlich überlieferte Form der gesungenen Liebeslyrik. Diese Gattung hat ihren Ursprung in Südfrankreich, wo die Trobadors in provenzalischer Sprache den Minnesang pflegten. Dieser Minnesang der Trobadors und später derjenigen der nordfranzösischen trouvères hatte wesentlichen Einfluss auf den Minnesang Deutschlands, die ab etwa 1150 entstand. Der Einfluss besteht aus dem Gebrauch provenzalischer Töne, d.h. die Einheit von Vers, Metrum und Melodie. Der Vortrag eines Minneliedes ist vor allem als ein kultureller Kompetenzbeweis für den Ritter zu begreifen und ist also z.B. analog zu einem Jagderfolg. Es ist die Dame der Gesellschaft, die durch das Lied verehrt wird. Doch ist der Minnesang keine romantische, sondern eher eine ritterlich-ethisch geprägte Gattung. Der älteste deutsche Minnesänger ist Der von Kürenberg mit seinem berühmten Falkenlied. Diese Art von Minnesang, die aus dem Donauland kommt, ist noch nicht von der provenzalischen Trobador-Kunst beeinflusst. Die provenzalische Beeinflussung macht sich erst um 1170 im alemannischen und fränkischen Westen bemerkbar. Bekannte Dichter dieser Lyrik sind Reinmar der Alte, Heinrich von Morungen und Albrecht von Johannsdorf, die das Ideal der hohen Minne, d.h. das geduldige Ertragen des Mannes bei der Unerreichbarkeit der Frau, enthält. Es ist klipp und klar, dass Walther als Minnesänger begonnen hat: wol vierzec jâr hab ich gesungen oder mê von minnen …, mîn minnesanc der diene iu dar (Walth 66,27-31). Die konventionelleren Lieder (wie 99,6; 112,35), die Anklage an Reinmar (214,34) und Heinrich von Morungen (112,17) können auf ein Frühwerk Walther verweisen (Hahn 1999: 674). Im Frühwerk sind auch vor allem Motive des vagantischen Lebensbereichs sowie der lateinischen Scholarendichtung wiederzufinden, z.B. die Winterklage (93,1). Walther aber ging vom Ideal der hohen Minne weg und machte diese Gattung zu einem Medium kritischer Zeitanalyse, und zwar durch eine Erweiterung der Themen und Formen (Schweikle 1999: 25). Statt der hohen Minne besingt er die gleichberechtigte Liebe, also dichtet er Lieder der Herzeliebe, d.h. die Mädchenlieder.

15 Wie im Minnesang hat Walther auch in seiner Spruchdichtung sowohl formale als inhaltliche Neuerungen entwickelt (Hahn 1999: 628). Die formelle Neuerung besteht darin, dass Walther die Sangsprüche in mehreren Tönen vorträgt. Die inhaltliche Neuerungen von Walthers Spruchdichtung haben vor allem mit dem Themenkreis der Didaxe, der Fahrenden- und Weltklage zu tun. Fünfzig seiner Spruchstrophen, auβer den Strophen mit frühen politischen Tönen wie Philippston, Ottenton, zeigen diese Themen. Zu bemerken ist, dass manche Strophen durch einen resignativ-pessimistischen Blick zu Klage-, Mahn- oder Scheltstrophen werden (Schweikle 1999:26). Walther als Ethiker misst die Erscheinungen der Weltläufe sowie das Benehmen der Menschen, insbesondere der Laien und Kleriker, der Hohen und Niederen. Die christliche Ethik kommt zum Ausdruck im Wiener Hofton (Walth 22,3), in dem die prinzipielle Gleichheit der Menschen postuliert wird; im König-Friedrichs-Ton (Walth 26,3), in dem das Problem der Nächstenliebe dargestellt wird; und ebenfalls im König-Friedrichs-Ton (Walth 30, 19), wo die Frage nach Gottes Gerechtigkeit auf Erden gestellt wird (Schweikle 1999:26). In seinem Werk verweist Walther auf die Werthierarchie guot-êre- gotes hulde und auf den idealhöfischen Wertkanon mit den Tugenden mâze, staete, triuwe, zuht, milte,... Er behandelt die Verletzungen der mâze, d.h. z.B. Trunksucht, und die der triuwe, d.h. Verrat, Heuchelei in z.B. König-Friedrichs-Ton 28, 21; 30,9. Im allgemeinen wird der Zerfall der höfischen Ordnung, die im Benehmen der Herrscher und der Jugend, in der Erziehung und in den twerhen („verderblichen‟) Lebensformen wiederzufinden sind, von Walther beklagt (Schweikle 1999:27). Sehr oft befindet sich in Walthers Dichtung ein persönliches Engagement, d.h. dass er seine eigene Erfahrungen und Erlebnisse, mittels der Ironie oder anderer Stilmittel, in den Text einbringt. Die Not zum Singen schließt sich seiner Armut (28,2), seinen körperlichen Entbehrungen (28,32) und seiner Unbehaustheit (28,3) an. Dieser persönliche Beitrag führt allerdings zur Erweiterung der Spruchdichterthematik und mündet in die Gönnerpreis- und Heischestrophen ein (Schweikle 1999:27). Traditionelle Lobstrophen finden sich auf Hermann von Thüringen (Walth 35,7: Unmutston), Leopold von Österreich (Walth 25, 26: Wiener Hofton und Walth 34,34: Unmutston) und auch auf Engelbrecht von Köln (Walth 85, 1). Gegenüber diesen traditionellen Lobstrophen stehen die inhaltlich neuen starken ironischen Gönnersprüche, wie z.B. im 1. Philippston (Walth 20,4). Diese Gönnerstrophen, z.B. auch im Ludwigsdank (Walth 18,15) und im Dank an Friedrich (Walth 27, 7) sind vom Spott getragen. Walther fand, dass seine künstlerische Existenz auf ethischer Ebene der ihrigen gleichwertig ist: sô bin ich doch, swie nider ich sî,

16 der werden ein (Walth 66,37). Er ist auch der Meinung, dass er durch seine Kunst Recht auf Lohn hat, z.B. in den Lehensbitten an Friedrich (Walth 28,1), an Otto (Walth 31, 23). Bei Walther geht es vor allem um die Ehre, Achtung und Anerkennung in der höfischen Gesellschaft. Er will also nicht nur eine lebensnotwendige materielle Sicherung, sondern auch eine Aufnahme unter die hovewerden. Deswegen ist die traditionelle Lebens- und Hoflehre in der Dichtung wiederzufinden. Sie enthält die Freundschaft (30,29; 79,25), die rechte Kindererziehung (87,1), die Selbstachtung (81,15), die mâze in allen Bereichen des Lebens (29,35; 22,33; 80,19). Die Dichtung selber ist auch höfisch und versucht die weltlichiu êre mit der gotes hulde in Einklang zu bringen (Hahn 1999:686). Die Sangspruchlyrik hat Walther auch als Medium für politische Themen gebraucht, denn auf diese Weise konnte er in den aktuellen Fragen der Reichs-, Fürsten- und Kirchenpolitik Stellung nehmen (Schweikle 1999:29). Diese Erweiterung der Spruchlyrik fand 1198 am Stauferhof statt nach dem Tod Heinrichs VI.. Dessen Tod hat die ganze politische Welt involviert, und Walther erlebte durch seine Wanderungen von Hof zu Hof die Unruhe und Rechtsunsicherheit in Deutschland. Dieses politische Denken Walthers, das auch von einem ethischen Standpunkt ausgeht, ist in drei Themenkreisen wiederzufinden, nämlich in der Reichsidee, in der Tagespolitik und in der Kirchenpolitik. Sie problematisiert vor allem den Thronstreit zwischen Staufern und Welfen oder die ideologische und machtspolitische Auseinandersetzung zwischen dem Kaisertum und dem Papsttum (Hahn 1999: 689). Neben seinem Urteil über die Reichsidee ruft er auch auf zur Besinning auf die Herrschertugenden, oder er fordert zum Handeln im Kreuzzug -ein sittliches Prinzip- auf (Schweikle 1999: 30). Das alles verweist auf den Kampf gegen die klerikalen Widersacher; die religiöse Thematik ist denn auch in Walthers Dichtung ständig vertreten. Walther wirft den Klerikern nämlich Unwahrhaftigkeit, Doppelspiel und Missbrauch der kirchlichen Machtmittel vor (3. Reichston, Ottenton, Unmutston). Dem Papsttum, mit Papst Innozenz III., stellt er als neues geistliches Ideal den gottzugewandten klôsenaere entgegen. Damit will Walther nicht so sehr fordern oder belehren, als vielmehr mit seinen Spruchstrophen erziehen.

17 18

Teil I: Phraseologismen bei Walther von der Vogelweide

Walther von der Vogelweide nach einer Miniatur in der berühmten Manessischen Liederhandschrift (jetzt in der Heidelberger UB)

19 20 1. Bisherige und historische Phraseologieforschung

In diesem ersten Teil werden die Phraseologismen bei Walther von der Vogelweide untersucht und besprochen. Welche Phraseologismen verwendete Walther schon in seiner Minnesangslyrik? Sind die Phraseologismen, die Walther gebrauchte, noch in der zeitgenössischen Sprache üblich? Und sind sie, im bejahten Fall, im Laufe der Jahrhunderte stabil geblieben oder haben sie sich zu einer Variante entwickelt? Mit diesen Fragen werde ich mich im ersten groβen Teil dieser Arbeit beschäftigen. Vor der Besprechung der Befunde bei Walther ist es nützlich, tiefer auf die Begriffe „Phraseologie und Phraseologismus‟ einzugehen und über die bisherige sowie historische Phraseologieforschung zu berichten.

1.1. Bisherige Phraseologieforschung

Die historische Sprachwissenschaft gehört zu den ältesten linguistischen Disziplinen. Vor allem die morphologischen, lexikalischen und phonetisch-phonologischen Merkmale wurden im 19. Jahrhundert sowohl synchron als diachron untersucht. Die Phraseologieforschung aber stellt im Gegensatz dazu eine neue Forschungsrichtung dar. Sie ist erst in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden.3 Jedoch wird die Phraseologie (d.h. der Bestand an Phraseologismen) als eine wichtige Komponente der Sprache verstanden, und zwar in Bezug auf das nominative (d.h. Benennungs-)System der Sprache, des Lexikons und der Kultur.4 Obwohl die Phraseologieforschung jungen Alters ist, verfügt sie im 21. Jahrhundert bereits doch über eine ”breite Palette an Forschungsaspekten”.5 Sie hat sich z.B. nicht nur mit terminologischen und klassifikatorischen Fragestellungen befasst, sondern lexikalisch auch mit interlingualen kontrastiven Studien in den europäischen Sprachen. Au erdem war sie auch in der Neuropsycholinguistik, die sich unter anderem mit der mentalen Verarbeitung und dem Verstehen befasst, und auf pragmatischer Ebene, die das Funktionieren der Phraseologismen untersucht, tätig. Diese verschiedenen zu untersuchenden Forschungsaspekte hatten zur Folge, dass sich die Phraseologieforschung nicht mehr von anderen wissenschaftlichen Disziplinen abgrenzen konnte.6

3 http://www.hifos.uni-trier.de/Forschungsstand.htm 4 http://www.hifos.uni-trier.de/Forschungsstand.htm 5 http://www.hifos.uni-trier.de/Forschungsstand.htm 6 http://www.hifos.uni-trier.de/Forschungsstand.htm

21 1.2. Historische Phraseologieforschung

Obwohl die Wichtigkeit der Phraseologie für die Sprachgeschichte schon im 19. und 20. Jahrhundert von u.a. Hermann Paul hervorgehoben wurde, steht die Erforschung der historischen deutschen Phraseologie ohne Zweifel noch immer an den Anfängen. Im Gegensatz zu der Parömiologie, d.h. der Untersuchung der Geschichte der Sprichwörter, enthielt die gesamte Sekundärliteratur der historischen deutschen Phraseologie im 20. Jahrhundert nur rund 250 Titel, die au erdem einen fragmentarischen Charakter besitzen und sich wiederum hauptsächlich auf die heutige Sprache beziehen.7 Einige Phraseologismus- Typen, wie z.B. Paarformeln, haben schon in der älteren Phraseologieforschung ihren Eingang gefunden. Zentrale Fragen, z.B. wie die Phraseologismen entstanden, sind noch nicht vollständig ausdiskutiert. Man hat zwar einige Erklärungsversuche, aber die empirische Fundierung, sagt das Trierer Forschungsprojekt, fehlt (http://www.hifos.uni- trier.de/Forschungsstand.htm). Au erdem bemerkt das Projekt, dass die tatsächlichen historischen Entwicklungen in den Vorschlägen nicht reflektiert werden:

Alle diese Arbeiten liefern einerseits wertvolles Material für die längst fälligen systematischen Untersuchungen, bedürfen aber andererseits empirischer Überprüfung und detaillierter Analyse mit Mitteln der modernen Historiolinguistik (Projekt Universität Trier).

Das Wissen um die historische Phraseologie und ihr System ist also, wie schon erwähnt, fragmentarisch und mosaikartig. Die meisten Untersuchungen sagen wenig über die Besonderheiten älterer Phraseologismen aus, und au erdem bilden diese Phraseologismen nur den Schwerpunkt in einigen kleineren Studien, in denen die Fragen nach ihrem Funktionieren, ihrer Identifizierung und die pragmatischen Besonderheiten bei ihrer Verwendung im Mittelpunkt stehen. Aber eine zusammenhängende Geschichte über die deutsche Phraseologie schreiben ist doch noch nicht möglich (Burger 1985: 743).

7 http://www.hifos.uni-trier.de/Forschungsstand.htm

22 2. Phraseologie: Definition und Kriterien

Da meine Arbeit sich im Rahmen der Phraseologieforschung bewegt, ist es wichtig, zu wissen, was Phraseologie genau beinhaltet. Deshalb erkläre ich zuerst die Definition von Phraseologie und werde ich in diesem Abschnitt ihre typischen Merkmale/Kriterien, wie Polylexikalität, Idiomatizität, Stabilität und Lexikalisierung bzw. Reproduzierbarkeit erörtern. Nachher werde ich auch die Entstehung von Phraseologismen unter die Lupe nehmen.

2.1. Definition

Unter Phraseologie versteht man einerseits die Gesamtheit aller phraseologischen Einheiten, d.h. Phraseologismen (feste und idiomatische Verbindungen, Redewendungen, idiomatische und feste Wendungen, Redensarten, usw.), und andererseits auch deren wissenschaftliche Erforschung.8 Die Phraseologie im letzteren Sinne ist also eine Teildisziplin der Sprachwissenschaft, die sich mit Phraseologismen und ihrer Erforschung beschäftigt. Wir können die Phraseologismen als eines der Mittel zur Erweiterung des Wortschatzes, zur Benennung und Verarbeitung der Welt in der menschlichen Sprachtätigkeit betrachten (Riedel 2005: 4). Auch an Hand von Phraseologismen werden die mentalen Größen, wie Emotionen, Einstellungen, Verhaltensweisen sprachlich zum Ausdruck gebracht und verarbeitet.

Ein Phraseologismus ist nach der Sprachwissenschaft eine zu einer festen Form geronnene Kette mehrerer Elemente, die mehreren Kriterien genügen soll (dazu weiter in 2.2.). Sie sind sprachliche Ausdrücke mit verschiedenen kombinatorischen Beschränkungen und setzen oft semantische Prinzipien au er Kraft. Die Phraseologieforschung versucht nun die Phraseologismen, d.h. die festen Wortverbindungen, die übrigens oft eine übertragene Bedeutung haben, zu erfassen. Man soll aber berücksichtigen, dass sowohl die zusammengesetzten Verbalformen (er hatte geschwommen, ich war gelobt worden), als auch die adverbialen Superlative (am besten) und reflexive Verben (sich lieben, sich eilen) nicht zu den festen phraseologischen Wortverbindungen gehören.

8 Phraseme (idiomatische Phraseologismen) und Phraseolexeme gehören auch dazu.

23 2.2. Kriterien

Die spezifischen Merkmale/ Kriterien der Phraseologismen sind a) die Polylexikalität, b) die Figuriertheit (Idiomatizität), c) die Festgeprägtheit (Festigkeit) und d) die Lexikalisierung und Reproduzierbarkeit. Diese Merkmale erfassen Einheiten sowohl auf der Wortebene und Satzebene als auch auf der Textebene; dazu werden sowohl semantische als auch formal-strukturelle Kriterien herangezogen (Danielsson 2007:11). Diese Kriterien werde ich jetzt im folgenden Abschnitt verdeutlichen.

a) Die Polylexikalität (Mehrgliedrigkeit)

Die Polylexikalität bedeutet, dass ein Phraseologismus mehr als ein Wort enthält (Burger 2003: 14). Die Minimalstruktur eines Phraseologismus besteht aus einer unteren Grenze von zwei Wörtern, die zusammen eine Einheit bilden, z.B. auf Anhieb, aber der Phraseologismus kann auch aus einem ganzen Satz bestehen, z.B. Wenn Ostern und Pfingstern auf demselben Tag fallen (d.h.. „niemals‟). Einwortphraseologismen, wie Papierkrieg, und Formeln, die routinemäβig verwendet werden, d.h. die Routineformeln, werden auch zur Phraseologie gerechnet. Diese Routineformeln (Morgen, Appetit, Mahlzeit), oft durch eine Ellipse entstanden, bilden eine pragmatische Sondergruppe der Phraseologie.

b) Die Idiomatizität

Mit der Idiomatizität wird gemeint, “dass die Komponenten eine durch die syntaktischen und semantischen Regularitäten der Verknüpfung nicht voll erklärbare Einheit bilden” (Burger 1998, S.15). Das Kriterium Idiomatizität wird als Hauptmerkmal der Phraseologismen betrachtet, die man denn auch Idiome nennen kann. Dieses Kriterium besagt, dass der Phraseologismus etwas anderes bedeutet als die reine Summe seines einzelnen Komponenten. Zwischen der wörtlichen und phraseologischen Lesart einer Wortgruppe existiert also kein eindeutiger Zusammenhang, wodurch die Phraseologismen anders interpretiert werden sollen und können, z.B.: mit Kopfschmerzen aufstehen mit dem linken Bein aufstehen

24 Mit Hilfe dieses Beispiels können wir das Kriterium der Idiomatizität besser verstehen. Beim Phraseologismus mit dem linken Fu aufstehen bekommt man nämlich auch eine nicht wörtliche Bedeutung. Das bedeutet, dass man nicht tatsächlich zuerst den linken Fu aus dem Bett setzt und danach den rechten. Nein, die Wortgruppe hat eine übersummative, eben phraseologische Bedeutung bekommen, nämlich „schlecht gelaunt sein‟. Es lässt sich also in diesem Fall ein hoher Idiomatizitätsgrad annehmen, wodurch dieser Satz als feste Wendung, d.h. Phraseologismus charakterisiert werden kann ( Argyros 2003: 6). Diese Transformation zeigt, dass sprachliche Kenntnisse nötig sind, um Phraseologismen zu verstehen. Als Muttersprachler können sie verstanden werden, aber als Nicht-Muttersprachler muss man die Bedeutung lernen (Burger 1998: 13). “Das Kriterium der Idiomatizität ist eines der wichtigsten Kriterien der Phraseologie, aber es betrifft nicht immer alle Komponenten eines Phrasems” (Argyros 2003: 6). Deswegen unterscheidet man üblicherweise 3 Idiomatizitätsgrade bei den Phraseologismen, nämlich vollidiomatische, teilidiomatische und nichtidiomatische Verbindungen (Burger 1998:31). Neben dem Grad der Idiomatizität kann man die Phraseologismen auch nach Motiviertheit differenzieren. Semantische Idiomatizität und semantische Motiviertheit sind dann zwei Gegenbegriffe, d.h. je stärker ein Phraseologismus motiviert ist, desto schwächer die semantische Idiomatizität ist.

Für die erste Teilklasse, nämlich die der vollidiomatischen Phraseologismen, ist wesentlich, dass “die Gesamtbedeutung dieser Wortverbindung nicht aus der Amalgamierung der […] Bedeutungen der einzelnen Komponenten resultiert” (Burger 2003:171). Beispiele sind z.B. an jemandem einen Narren gefressen haben „sich in jemanden verlieben‟, oder etwas auf die lange Bank schieben „etwas erst später fertigstellen‟. Diese Beispiele sind alle deutlich idiomatische oder vollidiomatische Phraseologismen. Die Bedeutung dieses Phraseologismus kann nicht aus der Bedeutung der einzelnen Komponenten abgeleitet werden und bekommt also einen übertragenen Charakter. Die Definition von Burger kann dies verdeutlichen: Phraseologisch ist eine Verbindung von zwei oder mehr Wörtern, wenn die Wörter eine durch die syntaktischen und semantischen Regularitäten der Verknüpfung eine nicht voll erklärbare Einheit bilden (Burger et.al. 1982:1).

Diese Definition gibt an, dass Phraseologismen semantisch entweder gar nicht oder nur teilweise aus den einzelnen Komponenten erklärbar sind. Idiomatizität bezieht sich m.a.W. auf den semantischen Unterschied zwischen der freien Bedeutung der Wortkette und der

25 phraseologischen (vgl. auch Danielsson 2007: 11). D.h., wie schon gesagt, dass je grö er die Diskrepanz zwischen der phraseologischen und wörtlich-analytischen Bedeutung ist, desto stärker die Idiomatizität ist (cfr. die angesprochenen Beispiele). Teilidiomatische Phraseologismen dagegen unterscheiden sich von den vollidiomatischen Phraseologismen, indem bei ersteren nur eine oder mehrere ihrer Komponenten die wörtliche Bedeutung beibehalten hat und sie also nicht als Ganzes idiomatisch aufzufassen sind, z.B. einen Streit vom Zaun brechen „einen Streit anfangen‟, worin Streit ein freies Element bleibt. Als dritte Teilklasse schlie lich haben wir die schwach idiomatischen Wortverbindungen. Diese sind Ausdrücke, “die durch keine (oder nur minimale) semantische Differenzen zwischen phraseologischer und wörtlicher Bedeutung charakterisiert sind” (Burger 2003: 172). Beispiele für diesen Grenzbereich sind hochmotiviert, d.h., dass die Bedeutung sehr durchschaubar ist, z.B. die Zähne putzen, eine Telefonnummer wählen oder auch Funktionsverbsgefüge vom Typus Dank sagen „danken‟, es handelt sich im Grunde um häufig auftretende Kollokationen.

c) Stabilität/ Invariabilität und Reihenfolge

Das dritte Merkmal/Kriterium eines Phraseologismus ist, wie schon gesagt, die strukturelle Festigkeit. Dazu wäre es zuerst interessant, auf die Verfestigung der Phraseologismen einzugehen. Seit dem 15. Jahrhundert verfügen wir über einige Informationen zu den Mechanismen der Verfestigung von Phraseologismen: Dabei wird deutlich, da diejenigen Eigenschaften von Phraseologismen, die synchron als “transformationelle” und “funktionale Defekte” beschrieben werden können, Reflexe beobachtbarer historischer Wandlungen der jeweiligen Wortverbindungen sind (Burger 1985: 746).

Bei der Verfestigung der Phraseologismen stellt sich noch immer die Frage, ob die Verfestigung ein Produkt ist der Entwicklung der sprachlichen Normierung oder nicht. Diese Hypothese wäre möglicherweise für den Bereich der Phraseologie zu bejahen. Burger schlussfolgert hieraus, dass phraseologische Wortverbindungen in den früheren Epochen in der schriftlichen Sprache einen grö eren Freiraum für Varianten aufwiesen. Burger stellt in seiner Studie von 1985 einige Typen der Verfestigung von Wortverbindungen vor. U.a. spricht er z.B. über die Reduktion von lexikalischen Varianten.

26 Als Beispiel wird von Burger der Phraseologismus Zeter und Mordio schreien verwendet. Diese Redewendung geht auf die Rechtssprache zurück: Klageruf der älteren Rechtssprache, den der Ankläger zu Beginn der Gerichtsverhandlung über Mord, Raub und ähnliche schwere Verbrechen vorbrachte (Burger 1985: 747).

Der Phraseologismus war daneben auch ein Hilferuf, und die Redewendung Zeter und Mordio schreien (oder Zeter und Mordio rufen als Variante) bedeutet heute denn auch noch „sehr laut schreien‟. Die frühere Bedeutung ist nicht mehr verwendbar, au erdem ist Zeter ein unikales Element, d.h. ein Lexem, das schon “ausgestorben” ist, d.h. in der heutigen Sprache nicht mehr frei verwendbar ist. Veraltete und seltene Wörter oder Wortgruppen, die nicht mehr frei allein stehen können, sondern im Zusammenhang mit anderen Lexemen, werden vom Kriterium der Festigkeit stark betroffen (Argyros 2003: 10).

Ein zweiter Typ der Verfestigung bezieht sich auf die Reduktion von Ad-Hoc- Modifikationsmöglichkeiten (siehe weiter). Es ist bei den Modifikationen doch schwer zu unterscheiden, ob die Erweiterung früher schon eine Abweichung von der Normalform des Phraseologismus war, oder ob wir es mit einem Sprachwandel zu tun haben (Burger 1985: 747). Drittens gibt es eine Verfestigung der morphosyntaktischen Struktur. Diese Verfestigung bedeutet, dass der Artikel oder die Numerusform fixiert wird. Heutzutage verwenden wir z.B. nur den Phraseologismus ein Auge auf jemanden werfen, also mit unbestimmtem Artikel, während früher mehrere Möglichkeiten vorkamen, wie die Augen auff jmd. werffen oder sein Aug auf jmd. werfen, usw.. Es hat also sowohl auf semantischer als auf morphosyntaktischer Ebene ein Wandel stattgefunden. Ursprünglich hatte dieser Phraseologismus zwei Bedeutungen, nämlich „etwas/jmd. ansehen‟ und „Interesse für etwas/jmd. zeigen‟. Nur diese letzte Bedeutung ist heute noch üblich. Für die erstgenannte Bedeutung hat sich ein beinahe identischer Phraseologismus entwickelt, nämlich einen Blick auf jmdn. werfen. Es ist allerdings nicht einfach, auszumachen, welche die Gründe für die phraseologische Verfestigung sind: Soweit wir bisher an unserem Belegmaterial seit dem Ahd. beobachten konnten, ist es aber auch dort, wo post factum Gründe für den Wandel anzugeben sind, kaum möglich, die Entwicklung eines Phraseologismus von einem bestimmten Zeitpunkt an aufgrund seiner semantischen oder strukturellen Beschaffenheit zu prognostizieren (Burger 1985: 750).

27 Die Festigkeit ist auf jeden Fall eines der Kriterien der Phraseologismen geworden. Argyros schreibt, dass die Stabilität die Reihenfolge bestimmt und die Kommutation der Komponenten eines Phrasems hindert (Argyros 2003:10). Das heiβt, dass man bei einem Phraseologismus wie klipp und klar „alles ist sehr deutlich‟ die Stellung der Elemente klipp und klar nicht austauschen kann. *Klar und klipp besteht also nicht. Diese formalen Strukturelemente sind stabiler als die semantischen oder lexikalischen Elemente (Fleischer 1997: 204). Die phraseologische Festigkeit müssen wir aber nicht allzu absolut nehmen. Absolute lexikalische Stabilität, sagt Burger, ist nur bei wenigen Phrasemen zu beobachten (Burger 1998: 25). Deswegen hat man in der Phraseologieforschung eine Unterscheidung zwischen Variation und Modifikation (eine Abwandlung, die nicht im allgemeinen Sprachgebrauch verankert ist und auf diese Weise einen Ad-Hoc-Charakter hat). Gerade in Zeitungen sind die phraseologischen Modifikationen häufig (Burger 1987:72). Abhängig von der Textsorte treten 35% bis 50% aller Phraseologismen als okkasionelle Modifikationen auf (Wotjak 1992:133). Damit ist eine für die Zwecke des konkreten Textes hergestellte Abweichung eines Phrasems gemeint (Wotjak 1992: 133). Diese modifizierten Phraseologismen sind im Lexikon nicht gespeichert. Burger unterscheidet bei den Modifikationen 3 verschiedene Kombinationsmöglichkeiten.

1. formale Modifikation ohne semantische Modifikation 2. formale Modifikation + semantische Modifikation 3. semantische Modifikation ohne formale Modifikation

Zum ersten Prototyp gehören nach Burger Phraseologismen, deren Nennform um ein attributives Adjektiv oder ein Genitivattribut erweitert werden, z.B. der Schnee von gestern wird der politische Schnee von gestern (Danielsson 2007: 30). In diesen Beispielen ist die formale Modifikation nicht mit einer semantischen Modifikation verbunden, weil die Hinzufügung des referentiellen Adjektives9 politisch die Spannung nur verstärkt. Die semantische Modifikation aber ist ein Sachverhalt, bei dem auch die wörtliche Lesart aktiviert ist (Burger 2003: 203). Im Beispiel politischer Schnee handelt es sich um ein metaphorisches Idiom und muss hier die wörtliche Bedeutung mit anwesend sein. Man hat es also mit einer Ambiguierung zu tun, und die formale Modifikation ist also mit einer messbaren

9 Geht auf ein Substantiv zurück. Politisch ist abgeleitet aus dem Substantiv Politik, kritisch aus dem Substantiv Kritik.

28 semantischen Modifikation verbunden (Danielsson 2007: 30). Als Beispiel dafür gibt Burger einen Beleg aus „Der Blechtrommel‟ von G. Grass. Als ich eine Woche später, an einem Sonntagsnachmittag, […] meine Pflegerinnen besuchte, mich neu, eitel und tipptopp von allen meinen besten Seiten zeigte, war ich schon Besitzer einer silbernen Krawattennadel mit Perle (G. Grass, Die Blechtrommel in: Burger 1998:152).

In diesem Beispiel wird laut Burger auf semantischer Ebene nicht nur die phraseologische Lesart, sondern vor den Lesern auch die wörtliche Lesart aktiviert.

Neben den Modifikationen war soeben auch die Rede von Variationen, bei denen sich oft ein Wandel innerhalb der Phraseologismen durchsetzt. “Unter Variation vesteht man eine usuelle strukturelle Veränderung einer standardisierten Nennform von Phraseologismen” (Danielsson 2007: 27). Diese gewisse, eingeschränkte Variabilität findet sowohl bei einfachen Idiomvarianten als auch bei Idiompaaren statt. Vor allem in der gesprochenen Sprache findet sich eine Vielzahl von Varianten und Abweichungen von den Nennformen, die wir in den Wörterbüchern antreffen (Burger 2003: 175). Es gibt zwei Arten von Idiomvarianten. Erstens haben wir den Lexemaustausch, worüber Burger Folgendes sagt: Es kann der Fall eintreten, da in einem Phraseologismus ein Lexem[…] durch ein anderes ersetzt wird, ohne da dabei eine Veränderung der Gesamtbedeutung stattfände (Burger 1985: 750).

Man findet den Lexemaustausch vor allem bei den Phraseologismen der Körperteile, in denen dann oft ein anderer Körperteil in den Mittelpunkt rückt, während die Struktur, die Bedeutung und der Bildgehalt beibehalten werden, z.B. einem etwas unter vier Augen sagen oder einem etwas ins Gesicht sagen (Burger 1985: 751). Diese Verschiebungen könnten sich durchgesetzt haben, weil sich die Funktion des Phraseologismen oder, wie Burger sagt, der Symbolgehalt einzelner Körperteile geändert hat (Burger 1985: 751). Ein anderes Beispiel ist ein schiefes Gesicht machen/ziehen „beleidigt tun‟, wobei das Verb sich geändert hat. Auch die Präposition kann variieren, z.B. mit dem Rücken zur Wand/ an der Wand stehen. Neben dem Phänomen des Lexemaustausches finden sich auch Variationen vom morphosyntaktischen Typ. So könnte es sein, dass eine Änderung im Kasus stattfindet, wie z.B. im heutigen Phraseologismus jmdm. auf dem Leder knien statt jmdm aufs Leder knien ‚jemanden zwingen, Druck auf jemanden ausüben‟. Neben der Kasusveränderung hat man etwa auch die Attributerweiterung und die Hinzufügung eines Dativobjektes, wie in jmdm. auf den Leim gehen „von jemandem betrogen werden‟. Eine andere Möglichkeit ist die deiktische Änderung, wie im Phraseologismus die Hand/ seine Hand in Spiel haben

29 „mitmachen; (heimlich) mitwirken; etwas (im Hintergrund) beeinflussen; Vorgänge manipulieren; sich (heimlich) beteiligen‟. Hier ist der bestimmte Artikel durch ein Possessivpronomen ersetzt worden. Weiter kennt man auch einen stilistischen Wandel, wobei die Umgangssprache zur neutralen Stilschicht umgewandelt ist. Die veraltenden Ausdrücke werden von Lexikographen folglich mit dem Terminus „gehoben‟ angegeben.

Allerdings stellt sich die Frage, ob alle Varianten tatsächlich als Beispiel für die usuelle Variation eines Phraseologismus gelten. Sie können auch als Modifikation einer Nennform betrachtet werden (Danielsson 2007: 28). Auch Burger weist darauf hin, dass die Abgrenzung zwischen Variation und Modifikation oft eine Ermessensfrage des Beobachters darstellt und folglich die intersubjektiv nachprüfbaren Kriterien fehlen (Burger 2003: 178). Auch die Definition von Modifikationen als “okasionelle, für die Zwecke eines Textes hergestellte Abwandlungen eines Phraseologismus” zeigt, dass man nicht immer eindeutig feststellen kann, ob eine bestimmte modifizierende Veränderung des Phraseologismus nicht doch einen Variationscharakter besitzt (Danielsson 2007: 28).

d) Lexikalisierung und Reproduzierbarkeit

Bisher sind drei Kriterien der Phraseologismen erwähnt worden: Die Polylexikalität, die Idiomatizität und die Stabilität oder Invarianz. Ein viertes Kriterium, nämlich die Lexikalisierung und Reproduzierbarkeit der Phraseologismen, ist aber noch unerwähnt geblieben. Die Lexikalisierung eines Wortes bedeutet, dass ein Wort im Lexikon (Phraseolexikon) gespeichert ist; unter Lexikalisierung einer doch primär syntaktischen Konstruktion, welche ein Phraseologismus ist, versteht man dementsprechend: Sie wird nicht mehr nach einem syntaktischen Strukturmodell in der Äußerung, sondern als fertige lexikalische Einheit reproduziert (Argyros 2003: 14).

Argyros erklärt in seiner Doktorarbeit, dass man die Lexikalisierung nicht mit dem häufigen Gebrauch identifizieren darf (Argyros 2003:15). Wenn man die okkasionelle Konstruktionen aus dem Bereich der Phraseologismen ausschliesst, zieht man, Argyros‟ Meinung nach, eine Trennwand zwischen Langue und Parole.

30 “Unter Reproduzierbarkeit der Phraseologismen versteht man, dass Wortgruppen- konstruktionen nicht jedesmal neu und originell gebildet werden, sondern als komplexe lexikalische Einheiten übernommen, d.h. reproduziert werden” (Argyros 2003: 16). Die phraseologischen Wortgruppen stehen also als fertige Einheit zur Verfügung und müssen nicht mehr neu gebildet werden. Lexikalisierung und Reproduzierbarkeit werden oft betrachtet als die entscheidensten Kriterien für die Zuordnung einer Wortverbindung zu den Phraseologismen (Argyros 2003:16). Aber man soll sich vergegenwärtigen, dass auch Sätze und Satzkomplexe wie Sprichwörter bei einer Äu erung reproduziert werden können. Deshalb ist die Reproduzierbarkeit nicht nur eine Eigenschaft der Phraseologismen alleine, auch Wortbildungskonstruktionen, wie Komposita und Präfixbildungen, werden als lexikalische Einheiten reproduziert.

2.3. Entstehung von Phraseologismen

Bei der Entstehung von Phraseologismen stellt sich die Frage, warum eine bestimmte Metapher zur Verbalisierung eines bestimmten Konzeptes gewählt wurde (Burger 1985:745). Vielmehr noch, warum diese Verbalisierung in einem bestimmten Zeitpunkt der Sprachgeschichte stattfindet. Burger bemerkt, dass der Zeitpunkt der Metaphorisierung nicht leicht zu bestimmen ist. Man kann den Zeitpunkt nur annäherungsweise ansetzen. Au erdem hängt die Bestimmung des Zeitpunktes von vorhandenen Quellen ab. Eine wichtige Rolle bei den phraseologischen Wortverbindungen spielen die Symbolfelder, die in vielen Kulturen vorkommen, z.B. das Symbolfeld der Körperteile oder der Tiere. Die Entstehung von Phraseologismen kann man nach Burgers Meinung nicht einem isolierten Prozess zuschreiben. Sie hat nur dann einen systematischen Charakter, wenn “in einer bestimmten Kultur Beziehungen zwischen “Domänen” von Bildspendern und Bildempfängern bestehen” (Burger 1985: 746). Man muss aber berücksichtigen, dass nicht alle Phraseologismen Metaphern sind und man deswegen ihre Entstehungsprozesse nicht nach dem gleichen Modell analysieren kann (Burger 1985: 746). Eine andere Typologie kann erstens nach der Struktur der derivationellen Basis des Phraseologismus erstellt werden (Burger 1985: 746). Es kann sich hier um ein Wort, einen Phraseologismus oder einen Text handeln. Manchmal kommt es vor, dass ein Phraseologismus auf der Basis eines anderen bestimmten Phraseologismus entsteht. Man spricht dann von einem sekundären Phraseologismus (Burger 1985: 746). Zweitens hat man eine Typologie nach der Art und Weise, wie die Basis umgedeutet wird. D.h., dass die Basis ihre literale Bedeutung beibehalten kann, während sie doch eine

31 Spezifizierung oder Idiomatisierung erfährt (Burger 1985: 746). Burger sagt aber dazu auch Folgendes: Wenn der Phraseologismus auf metaphorischer Ebene entstanden ist und der Sachbereich, der der Metapher als Bildspender diente, verschwunden oder vergessen ist, kann die Wortverbindung nur noch in ihrer “idiomatischen” Bedeutung weiterleben (Burger 1985: 746).

Die linguistische Phraseologieforschung hat auf jeden Fall eigene Kriterien entwickelt, um die Phraseologizität einer Wortgruppe zu bestätigen. Sie hat diese Kriterien deswegen entwickelt, weil die Phraseologismen, wie schon bemerkt, unter anderem nicht immer metaphorisch sind. Über die Entstehung der Phraseologismen fehlen aber noch hinreichende Untersuchungen.

32 3. Klassifikation

Am Anfang der Phraseologieforschung einigten sich Forscher und Forschungsrichtungen miteinander nicht über die Klassifikationen und Terminologien. Heutzutage hat die Forschung über die Klassifikationskriterien einen Konsens erreicht und werden die Klassen im Groβen und Ganzen übereinstimmend definiert (Burger 2003: 33). Meistens wird eine Kombination von semantischen, syntaktischen und pragmatischen Kriterien verwendet. Diese Klassifikation bespreche ich, weil ich die in dieser Arbeit vorkommenden Phraseologismen bei Walther von der Vogelweide untersuche und deswegen die angetroffenen Phraseologismen auch zuerst einordnen möchte, damit ich sie später einfacher besprechen kann.

3.1. Basisklassifikation

Eine Basisklassifikation besteht darin, dass eine Gliederung des Gesamtbereichs der Phraseologie vorgenommen wird, wobei das Kriterium der Zeichenfunktion, die die Phraseologismen in der Kommunikation haben, berücksichtigt wird (Burger 2003: 36). Einerseits gibt es referentielle Phraseologismen, die sich, wie Burger sagt, auf Objekte, Vorgänge oder Sachverhalte der Wirklichkeit beziehen, z.B. schwarzes Brett „das Anschlagbrett‟ (Burger 2003: 36). Es manifistiert sich in dieser Kategorie eine semantische Zweiteilung. Entweder bezeichnen sie Objekte und Vorgänge, wie im Phraseologismus das schwarze Brett, oder sie machen Aussagen über die bestimmten Objekte oder Vorgänge, wie z.B. hat Gold im Mund. Nicht nur weist diese referentielle Klasse eine semantische Zweiteilung auf, sie hat auch eine syntaktische Zweiteilung, nämlich satzgliedwertige versus satzwertige Phraseologismen, die man beide auch nach dem Kriterium der Idiomatizität gliedern kann, d.h. idiomatisch, teilidiomatisch oder Kollokation/ nicht idiomatisch (cfr. 2.2.b). Neben den referentiellen Phraseologismen hat man zweitens auch eine kleine Gruppe struktureller Phraseologismen, die nur eine Funktion innerhalb der Sprache haben. Diese Funktion hat als Ziel: das Herstellen von (grammatischen) Relationen, wie z.B. in Bezug auf, sowohl ... als auch. Drittens bestehen auch noch kommunikative Phraseologismen, die eine “bestimmte Aufgabe bei der Herstellung, Definition, dem Vollzug und Beendigung kommunikativer

33 Handlungen” haben, wie im Phraseologismus Guten Morgen und ich meine (Burger 2003: 36). Letztere Gruppe wird meistens mit dem Terminus „Routineformel‟ bezeichnet (cfr. unten 3.2.1.2.). In der Forschung gibt es auβerdem auch die Tradition, eine Subklassifikation aus zwei groβen Gruppen zu unterscheiden, nämlich der Gruppe von festen Phrasen und der Gruppe von topischen Formeln (Burger 2003: 39).

3.2. Spezielle Klassen

Die speziellen Klassen werden in der Basisklassifikation nicht erfasst, weil sie in der Klassenbildung unter einem speziellen Kriterium einzelne Gruppen herausgreifen und weil sie in verschiedenen Klassen unter 3.1. auftreten können (Burger 2003: 44). Ich werde einige dieser speziellen Klassen charakterisieren, weil gerade die Phraseologismen, die zu diesen Klassen gehören, in der Untersuchung von Phraseologismen bei Walther von der Vogelweide zurückzufinden sind und genauer zu besprechen sind.

3.2.1. Die Formeln

3.2.1.1. Die Paarformel

Zu Walther von der Vogelweide, seinen Sprüchen und Liedern ist eine Menge von Paar- oder Zwillingsformeln zurückzufinden. Die Anwendung dieser bestimmten Spracherscheinungen zeigt uns eine eingehendere Beschäftigung mit den formalhaften Fügungen der mittelhochdeutschen Lyrik (Lieres 1972: VII).

Zwillingsformeln oder Paarformeln sind Wendungen, die aus zwei oder mehreren Lexemen der selben Wortart bestehen. Sie sind syndetisch durch Konjunktionen (meistens und) oder Präpositionen miteinander verbunden. Wenn zwei verschiedene Wörter vorhanden sind, ist die Reihenfolge irreversibel, d.h. ganz festgelegt (cfr. 2.2.c): mit Ach und Krach „mit gröβer Mühe‟, sich dumm und dämlich reden „reden bis man keinen Atem mehr hat‟, toll und voll „völlig betrunken‟. Paarformeln können allerdings auch aus zwei identischen Wörtern bestehen. Man bekommt auf diese Weise eine Modellbildung mit einer festen Struktur, aber mit variablen lexikalischen Elementen, z.B. Tür an Tür wohnen „nebeneinander wohnen‟; Schulter an Schulter stehen kann buchstäblich als „gemeinsam stehen‟ verstanden werden, aber figürlich meint es „gemeinsam um etwas kämpfen‟. Neben syndetischen Paarformeln gibt es auch asyndetische Paarformeln, wie sachlich-fachlich „auf ein Sachwissen bezogen‟ und schiedlich-friedlich „versöhnlich, verträglich‟.

34 Es könnte manchmal auch vorkommen, dass nicht eine Paarformel, sondern eine Drillingsformel, wie z.B. heimlich, still und leise „sehr unbemerkbar‟ oder selbst eine Vierlingsformel, wie z.B. frisch, fromm, fröhlich, frei „sorglos, unbekümmert‟ im Text benutzt wird.

Die Zwillingsformeln vertreten im jeden Fall auch die verschiedenen Idiomatizitätsgrade. Idiomatisch ist z.B. gang und gäbe, teilidiomatisch klipp und klar und nicht-idiomatisch dick und fett. Sie sind Ausdrücke, die semantisch also in unterschiedlicher Bedeutung zueinander stehen können. Viele Ausdrücke bei den Zwillingsformeln sind nicht- idiomatisch, haben sich aber durch ihre Festigkeit ausgezeichnet, z.B. groβ und stark (Burger 2003: 52). Wenn wir diese Ausdrücke weiter analysieren, bemerken wir aber, dass sie doch schwach idiomatisch sind. D.h. nach Burger, dass sie an bestimmte Gebrauchsbedingungen gebunden sind (Burger 2003: 52). So wird die Zwillingsformel groβ und stark nicht immer verwendet, wenn jemand die Bedingungen groβ und stark erfüllt, sondern oft nur in Kontexten, in denen man Kindern empfiehlt, mehr zu essen, damit sie groβ und stark werden (Burger 2003: 52). Die Komponenten verhalten sich also auf eine synonymische oder antonymische Weise zueinander. Diese antonymische Weise bedeutet nach Friedrich, dass “eine Zusammenstellung zweier Elemente, die Begrenzungen einer bestimmten Menge markieren, verwendet werden, um die Menge zu bezeichnen” (Friedrich 2006: 39). Diese Synonyme, wie z.B. Hab und Gut „Besitz‟ oder hegen und pflegen „sorgfältig pflegen‟, Antonyme, wie auf Gedeih und Verderb „auf Glück und Unglück‟ oder Homonyme, wie Schulter an Schulter, Hand in Hand können zur Verstärkung des Ausdrucks beitragen. Die hauptsächliche Funktion einer Zwillingsformel ist allerdings die Intensivierung durch die Wiederholung eines Synonyms. Diese synonymen Paarformeln waren schon im Mittelalter häufig. Dabei zeichnen sie sich oft durch spezifische rhetorische Merkmale aus, z.B. durch Endreime, wie in Hülle und Fülle „im Überfluss‟, durch Stabreime/ Alliterationen, wie in Feuer und Flamme sein „sehr begeistert sein‟ oder durch Assonanzen, wie seit Jahr und Tag „seit langem‟ (Burger 2003:45).

3.2.1.2. Routineformeln

Die Routineformeln oder pragmatische, kommunikative Idiome bilden eine Unterklasse der Phraseologie, bei der der pragmatische Aspekt der Festigkeit ausgezeichnet wird. Die Routineformeln können in zwei Typen unterteilt werden.

35 Erstens gibt es eine Klasse, die Gruβ-, Glückwunsch- und andere Arten von Formeln, wie Schwüre, Bekräftigungs- und Beteurungsformeln, bilden (Burger 2003:29). Solch eine Formel hat in einer bestimmten Situation, z.B. innerhalb eines Gesprächs, wie Grüβ Gott, oder in der Anfangs- oder Abschlussphase eines Gesprächs, wie die Gruβ- und Abschiedsformeln Guten Tag und Auf Wiedersehen, eine bestimmte Bedeutung. Diese Ausdrücke sind also fest, was bedeutet, dass sie nur “in bestimmten Situationstypen an bestimmten, funktional definierten Stellen auftreten” (Burger 2003:29). Der Ausdruck ich eröffne die Verhandlung z.B. kann nur in einer Gerichtsverhandlung stattfinden und vom Vorsitzenden gesagt werden. Zweitens hat man eine Klasse von Formeln, wie ich meine, siehst du?, die vor allem in der mündlichen Kommunikation eine Rolle spielen. Bei diesen Formeln ist die strukturelle Festigkeit gering und gibt es eine groβe Variabilität. Die Routineformeln haben auf jeden Fall spezifische Funktionen, sowohl in der mündlichen wie in der schriftlichen Kommunikation. Der Gebrauch von Routineformeln ist also an bestimmte Situationen und situationelle Bedingungen gebunden. An Hand der Routineformeln werden immer wiederkehrende kommunikative Handlungen, d.h. „kommunikative Routinen‟ bewirkt (Burger 2003:53). Diese Art von Formeln sind syntaktisch sehr heterogen gebildet, d.h., dass sie sowohl aus zwei Wörtern als aus einem ganzen Satz bestehen können. Semantisch gesehen haben die Routineformeln, wie bei den idiomatischen referentiellen Phraseologismen, ihre wörtliche Bedeutung verloren, doch im Gegensatz zu jenen hat sich keine neue semantische beschreibbare Bedeutung entwickelt (Burger 2003: 53). Es sind also “de-semantisierte Wortverbindungen mit einer bestimmten Funktion” (Burger 2003: 53). Primär dienen die Routineformeln also dazu, Diskurse zu strukturieren und soziale Interaktionen zu beeinflussen. Funktional betrachtet sind sie in verschiedene Gruppen zu klassifizieren. Erstens hat man die Kontaktfunktion (vgl. Reif 2006), bei der die Routineformel ein konventionelles Mittel ist, um Nicht-Interaktion in Interaktion zu überführen und umgekehrt. Vor allem in der Altagssprache wird mit einer Routineformel, wie hallo, morgen, wie geht’s ? angefangen. Diese Kontaktfunktion, wo die Nicht-Interaktion in Interaktion umgedeutet wird, findet man auch in der Kirche zurück, z.B. gehet hin in Frieden. Die zweite Funktion der Routineformeln bezieht sich auf die Verhaltenssicherheit (vgl. Reif 2006). An Hand der Routineformel hat der Sprecher die Möglichkeit, sich kommunikativ zu verhalten, ohne dass er riskiert, etwas Unangemessenes zu sagen, z.B. bei einer Entschuldigung.

36 Die dritte Funktion ist die Konventionalitätsfunktion (vgl. Reif 2006), bei der Konventionen mittels Routineformeln zum Ausdruck gebracht und verstärkt werden, z.B. frohe Weihnachten oder schönes Osterfest. Dazu gehören auch die sogenannten Übergangsriten. Diese regeln im Zusammenhang mit bestimmten Lebensabschnitten, wie Geburt und Tod, das verbale Verhalten, z.B. mein herzliches Beileid oder Glückwunsch zur Hochzeit. Die vierte und letzte Funktion der Routineformeln ist die gesprächssteuernde und metakommunikative Funktion (vgl. Reif 2006). Das bedeutet, dass sie u.a. die Aufmerksamkeitssteuerung vorbereiten, wie in der Formel Hör mal oder Pass mal auf. Es könnte auch sein, dass sie den Kommunikationpartner zu einem Redebeitrag herausfordert. Zu dieser Funktion gehören auch die metakommunikativen Formeln, die eine explizite Verständnissicherung enthalten, wie z.B. Wie bitte? Können sie mir folgen? usw.. Im Allgemeinen kann jeder Ausdruck mehrere Funktionen, wie Aufmerksamheitsappelle, Beibehaltung und Übernahme der Sprecherrolle, usw. erfüllen, aber für jeden Ausdruck lässt sich eine dominante Funktion feststellen, z.B. hat die Formel wie schon gesagt wurde die dominante äuβerungskommentierende Metakommunikationsfunkion und deutet die Aussage oder nicht? auf die Übergabe der Sprecherrolle hin.

3.2.1.3. Aufzählende Paarformeln

Eine besondere Art von Paarformeln sind die aufzählenden Paarformeln, die ohne rhetorisch-stilistischen Mehrwert nach Kontext zusammengestellt werden (Friedrich 2006:40). Sie sind also völlig wörtlich zu verstehende mehrgliedrige Ausdrücke, wie z.B. der König und die Königin. Doch sind Zusammenstellungen, in der die aufzählenden Elemente nicht direkt semantisch aufeinander bezogen sind, üblich und ergeben Gesamtmengen (Friedrich 2006: 40). Sie können durch ihre Häufigkeit, ihre Alliterationen und durch das Vorhandensein in neuhochdeutschen Wendungen phraseologisch aufgefasst werden. Im Minnesang gab es vor allem aufzählende Paarformeln, mit denen die Natur und die Landschaft als Ganzes beschrieben wird, z.B. berg und tal oder bluomen und klê (Friedrich 2006: 40).

3.2.2. Komparative Phraseologismen

Komparative Phraseologismen oder phraseologische Vergleiche sind Wendungen, die einen festen Vergleich aus einem secundum oder tertium comparationis enthalten. Sie haben verschiedene Formen und Funktionen, und zwar die folgenden.

37 a) Formen

Erstens hat man einen komparativen Phraseologismus, der sich an ein Verb, Adjektiv oder Adverb anschlieβt. Einige syntaktische Strukturen sollen bei dieser Art Phraseologismen angeführt werden (vgl. Palm 1995, S. 45f.):

wie + Substantiv/ tertium comparationis10: - Aussehen wie eine gebadete Maus: „triefen vor Nässe‟. - Bekannt sein wie ein bunter Hund: „sehr bekannt sein‟. - Saufen wie ein Loch: „sehr viel trinken‟. - Dumm sein wie Bohnenstroh: „sehr dumm sein‟.

wie + Partizip: - Antworten wie aus der Pistole geschossen: „ohne Zögern antworten‟. - Aufspringen wie von der Tarantel gestochen: „so gereizt sein, dass man aufspringt‟.

wie + Satz: - Reden wie einem den Schnabel gewachsen ist: „in eigener Sprache reden‟. - Er versteht davon wie der Hahn vom Eierlegen: „er versteht nichts davon‟.

Andere Strukturen: o Konsekutivsätze - Arbeiten, dass die Schwarte kracht: „sehr angestrengt arbeiten‟. - Lügen, dass sich die Balken biegen: „sehr stark lügen‟.

o Irrealvergleich - Er tut als hätte er die Weisheit mit Löffeln gegessen: „als hätte er die Weisheit gepachtet‟.

10 Element, womit verglichen wird.

38 Zweitens haben wir den Anschluss an ein Substantiv, was nur selten vorkommt, z.B. er ist ein Kerl wie ein Baum „er ist sehr groβ‟ oder sie ist eine Hexe von Frau „sie ist eine gemeine Frau‟.

b) Funktionen

Die phraseologischen Vergleiche haben neben verschiedenen Formen auch verschiedene Funktionen. Zuerst haben wir die Funktion der Expressivität. Die komparativen Phraseologismen dienen häufig zur Verstärkung eines Verbs oder Adjektivs, z.B. dumm wie Bohnenstroh „sehr dumm‟ oder flink wie ein Wiesel „sehr flink‟, wo das Adjektiv, das hier auch das tertium comparationis ist, selbst in seiner freien Bedeutung verwendet wird. Die Wendungen/Ausdrücke können also sowohl als Kollokationen oder als Teil-Idiome auftreten, abhängig davon wie „durchsichtig‟ das tertium comperationis (der Vergleich) ist. Der Terminus Kollokation bezieht sich auf einen ganzen Bereich der festen Wortbindungen, die nicht oder nur schwach idiomatisch sind. Flink wie ein Wiesel ist eine Kollokation, während dumm wie Bohnenstroh ein Teil-Idiom ist (cfr.2.2.b). Manchmal aber wird im Vergleich das Verb nicht verstärkt, sondern semantisch spezifiziert, z.B. dastehen wie ein Eins „kräftig, selbstsüchtig dastehen‟, aussehen wie Milch und Blut „ganz jung und wohl aussehen‟. In der Umgangsprache kann auch eine Nuancierung der Verstärkung auftreten; diese ephemeren Phraseologismen tauchen kurz auf, aber verschwinden schnell, wie er gibt an wie eine offene Brause „er ist feige‟. Zweitens schlieβlich gibt es die Funktion der ironischen Umkehrung, wie z.B. in den Phraseologismen das ist Kloβbrühe „völlig klar sein, sich von selbst verstehen‟, schlank wie eine Tonne „vollschlank‟, das passt wie die Faust aufs Auge „das passt überhaupt nicht‟.

3.2.3. Kinegramme

In diesem Abschnitt behandele ich den Begriff Kinegramme, die den Körper und die Sprache miteinander verbinden. Burger meint, dass hier in erster Linie der Zusammenhang von verbalen und nicht- verbalen Kanälen von Belang ist (Burger 1976: 313). Die Gestik -also die Sprache der Arme und Hände-, die Mimik - d.h. die Sprache des Gesichtes und die Gebärden des Oberkörpers - und die Proxemik – d.h. die Sprache des ganzen Körpers -, gehören alle zu der sogenannten Körpersprache. Diese beteiligt sich an jedem Kommunikationsprozess, und zwar durch ihr nicht-verbales Verhalten. Die kognitive

39 Linguistik und die moderneren Kommunikationswissenschaften sehen im Körper denn auch ein Hilfsmittel, kulturell-soziale Verhältnisse zu regulieren (Hübler 2001:11). Das Zusammenspiel von Körper und Sprache ist auf jeden Fall ein sehr interessantes Wissenschaftsobjekt. Bei der Kopplung von Körper und Sprache spricht man von Phraseogesten und Kinegrammen. Phraseogesten (Kopplung von Wörter und Sprache) einerseits sind Wörter, die bestimmte Gefühle zum Ausdruck bringen, z.B. Angst, Verzweiflung, usw. Diese Phraseogesten, wie z.B. ganz große Augen, gesenkte Augen, verzerrter Mund oder das französische j’ai les boules „mir reicht es‟, erfüllen eine verstärkende Funktion, wenn sie an die Sprache gekoppelt sind. Jedoch können sie auch ohne Sprache gebraucht werden. Kinegramme andererseits enthalten die Verbalisierung non- verbalen Verhaltens (NV) (Burger 1976: 313): Zur terminologie: verbalisierungen von NV nenne ich, mangels eine besseren terminus und der kürze halber, “kinegramme” 11(Burger 1976: 313).

Sie beschreiben konkrete physische Vorgänge, z.B. die Stirn runzeln, aber sie präsentieren auch ganze kinetische Bilder wie mit strahlender Miene, mit ausgestreckten Händen, usw. (Saulius 2004: 1). Kinegramme werden von Burger auf formaler und semantischer Ebene charakterisiert. Aber, sagt Burger, “die Klassifizierung betrifft immer nur das Verhalten, das verbalisiert wird, nicht aber die Art und Weise der Verbalisierung” (Burger 1976: 315). Formal unterscheidet er erstens monolexematische Kinegramme, wie lächeln, nicken, u.a., zweitens phraseologische Verbindungen, wie die Achseln zücken, die Stirn runzeln, und letztens unterscheidet er lexikalisch ungebundene Beschreibungen (Bühnenanweisungen) von non-verbalem Verhalten (Burger 1976: 313). Dazu noch sagt Saulius, dass Burger betont, “dass Einzelwörter den Gesamteindruck des non-verbalen Verhaltens unterstreichen, während polylexematische Verbindungen zusätzliche Informationen über kinetische Eigenschaften liefern” (Saulius 2004: 1): Die monolexematische verbalisierung deutet bereits darauf hin, dass es hier nicht darum geht, einzelne phasen oder einzelne konstituenten des prozesses herauszuheben. Damit sei jedoch nicht gesagt, dass jedes monolexematische kinegramm eine hinsichtlich der bewegungskomponenten undifferenzierte bedeutung habe (Burger 1975: 317).

Die phraseologische ausdrücke sind das gängigste mittel, um auffallende merkmale des kinetischen ablaufs zu artikulieren (Burger 1975: 313).

11 Burger hat in dieser Arbeit die Substantive nicht gro geschrieben.

40 Auf semantischer Ebene macht Burger einen Unterschied zwischen einschichtig und zweischichtig kodierten Kinegrammen. Die Kodierung kann auf verschiedene Weisen stattfinden. Man hat u.a. die ikonische Kodierung, die auf der Ähnlichkeit zwischen signifiant und signifié hinweist. Daneben haben wir auch die arbiträre und die natürliche Kodierung. Natürliche Kodierung bedeutet, dass das NV ein biologisch gegebener Ausdruck eines signifié darstellt (Burger 1976: 313). Diese natürlichen NVs, z.B. lächeln, sind folglich, nach Burger, auf mimische Prozesse reduziert. Aber man soll aufmerksam sein und berücksichtigen, dass das Lächeln neben der Art der Mimik auch einen seelischen Zustand darstellen kann. Au erdem kann die Mimik zur Fassade, zur Maske werden, wodurch die natürliche Bedeutung verloren geht.

Wie schon gesagt, macht Burger bei der Kodierung einen Unterschied. Die einschichtige Kodierung, wie lächeln, erbleichen, hat es mit der reinen körperlichen Bewegung zu tun, während die zweischichtigen Kinegramme nicht nur den äu eren und also den körperlichen Vorgang beschreiben, sondern auch die auslösende Emotion (Burger 1976: 316). Den grö ten Bereich lexikalisierter Kinegramme bilden also phraseologische Verbindungen. So meint der Phraseologismus mit dem Faust auf den Tisch schlagen „sehr wütend sein‟, au erdem wird diese Emotion durch die körperliche Bewegung unterstützt. Die emotionale Bedeutung ist in den meisten Fällen konventionell. Das NV kann also mehrere Bedeutungen haben, es ist, wie man sagt, polysem konventionalisiert. Man hat au erdem Kinegramme, bei denen nur die literale oder nur die symbolische/phraseologische Bedeutung anwesend ist, z.B. Jemanden mit Blicken durchbohren, eine Handlung, die in der Realität nicht realisierbar ist. “Die Gebärde ist also nur als Bild denkbar” (Burger 1976: 318). Es handelt sich hier um Pseudo- Kinegramme, weil die zwei Bedeutungen (die literale und die symbolische) im Gegensatz zu echten Kinegrammen nicht zugleich anwesend sind. Die symbolische Bedeutung bei den Pseudo-Kinegrammen ist also viel stärker und die literale Bedeutung, sagt Burger, “kann nur unter grotesken Umständen realisiert werden” (Burger 1976: 320). Weiter unterscheidet Burger beim polyvalenten non-verbalen Verhalten zwischen erstens konventionell polysemem non-verbalem Verhalten, d.h., dass das Verhalten durch die Verbalisierung im Kinegramm weiterhin polysem bleibt, und zweitens einem Verhalten, das wegen seiner vielschichtigen Struktur nur schwer beschrieben werden kann (vgl. Saulius 2004:1).

41 Es ist eine Tatsache, dass phraseologische Wendungen und vor allem Kinegramme beim Übersetzen, sei es von der Fremdsprache in die Muttersprache oder umgekehrt, Probleme bereiten. Oft ist es der Fall, dass der Informationswert der Kinegramme beim Übersetzen geändert wird. Solche Abänderungen kann man auf linguistische und kulturelle Unübersetzbarkeit zurückführen. Kinegramme kann man in jeder Textsorte zurückfinden, aber die Wahrscheinlichkeit des Auftretens variiert (Burger 1976: 316). Burger sagt dazu Folgendes: In realen gesprächsituationen werden kinegramme nur insofern eine rolle spielen als man im dialog NV thematisch macht: “warum lächelst du?” (Burger 1976: 316).

Die Interpretation der Kinegramme variiert letztlich in den verschiedenen Textsorten. In den Dramentexten müssen sie vom Zuschauer verstanden werden, während sie in narrativen Texten imaginiert werden können. In vielen Fällen sind sie denn auch aus dem Kontext erschlie bar.

3.2.4. Somatismen

Somatismen sind Phraseologismen, die einen oder mehrere Körperteile als nominale Komponenten enthalten, z.B. auf gro em Fu leben „gut/ teuer/ aufwändig leben‟ oder von der Hand in den Mund leben „arm sein, verdientes Geld direkt wieder ausgeben‟ (Danielsson 2007: 16). Typologisch lassen sich die vollidiomatischen und teilidiomatischen Somatismen von metaphorischen Idiomen mit einer Körperteilkonstituente unterscheiden (Danielsson 2007: 17). Die Entscheidung für die eine oder andere Subklasse fällt also nicht immer leicht, z.B. bei den folgenden Beispielen: mit dem Rücken zur Wand stehen, alle Hände voll zu tun haben, für etwas ein Auge haben, nicht auf den Mund gefallen sein. Beim Somatismus mit dem Rücken zur Wand stehen handelt es sich um ein metaphorisches Idiom; das ist der Fall, weil sich eine reale Verwendungssituation für die freie Lesart findet (Danielsson 2007: 17). Bei alle Hände voll zu tun haben handelt es sich um einen teilidiomatischen Somatismus, weil zu tun haben eine nichtidiomatische/freie Verbalkomponente ist. Es ist aber nicht sicher, ob die Komponente alle Hände voll von Sprechern des Deutschen nicht im Sinne von „viel‟ verstanden wird. Eine Art von metaphorischem Zusammenhang zwischen der wörtlichen Bedeutung und viel in der phraseologischen Lesart wird also nicht wahrgenommen. Wenn das in diesem Beispiel der Fall ist, würde es sich um einen metaphorischen Phraseologismus und nicht um einen teilidiomatischen Phraseologismus handeln (Danielsson 2007: 17). Der

42 Somatismus für etwas ein Auge haben ist ein Sonderfall der metaphorischen Beziehung. Wir haben es bei diesem Somatismus zu tun mit einer metonymischen Bedeutungsverschiebung. Das Wort Auge steht hier für die phraseologisch-übertragene Bedeutung „Blick‟. Bei nicht auf den Mund gefallen sein kann man die Wortgruppe wörtlich verstehen, da das in unserer Welt erfahrbar ist. Jedoch ist es üblicher, diesen Somatismus als vollidiomatisch zu bezeichnen, weil der Sprecher oder Hörer die Bedeutung des Phraseologismus, nämlich „schlagfertig sein‟, bereits kennt. Ohne diese Kenntnis wäre die Beziehung zur phraseologischen Lesart nicht möglich. Eine Sonderklasse schlie lich der Somatismen sind die Phraseologismen, die Emotionen darstellen, z.B. „jemandem das Herz brechen’. Mit diesem Somatismus und seiner verbalen Handlung werden stark konventionalisierte Gefühlsausdrücke realisiert (Danielsson 2007: 17).

3.2.5. Sprichwörter

Die vorletzte spezielle Klasse, die ich bespreche, ist die Klasse der Sprichwörter, deren Erforschung in der Volkskunde schon eine lange Tradition kennt. Dieser Wissenschaftszweig wird oft mit dem Namen Parömiologie angegeben. Das Wort Parömie wurde früher in seltenen Fällen benutzt, um ein altgriechisches Sprichwort zu bezeichnen, heutzutage versteht man darunter einen Denkspruch, wie z.B. das englische Beware of False Friends. Die Parömiologie beschäftigt sich im Allgemeinen mit Sprichwörtern, geflügelten Wörtern, Zitaten, Aphorismen und Sentenzen. Ich werde mich aber nur mit den Sprichwörtern beschäftigen, erstens weil nur die für die Untersuchung der Phraseologismen bei Walther von der Vogelweide wichtig sind, und zweitens weil sie auch als eine wichtige Gruppe von Phraseologismen betrachtet werden können. Der Terminus Sprichwort ist sowohl eine alltägliche als eine wissenschaftliche Benennung. Andere Begriffe in der Alltagsprache sind Redensart oder Idiom. Sie werden zur Phraseologie gerechnet, weil sie die Grundmerkmale des Phraseologismus, d.h. die Polylexikalität, die Festigkeit, Idiomatizitätsgrade enthalten. Doch könnte es sein, dass sie sowohl wörtlich als übertragen verstanden werden können, z.B. Wie der Vater, so der Sohn „der Sohn ist dem Vater im Handeln ähnlich‟. In der wörtlichen Bedeutung wird das Vater- Sohn-Verhältnis gemeint, während es sich in der übertragenen Bedeutung um das Verhältnis zwischen Erzeuger und Produkt handelt. Es muss allerdings berücksichtigt werden, dass im Sprichwort nur eine Lesart zurückzufinden ist, nämlich eben die phraseologische.

43 Sprichwörter sind feste Satzkonstruktionen, die auf semantischer Ebene als selbstständige Mikrotexte aufgefasst werden müssen, d.h., dass sie keine textlinguistische Anpassung an einen Kontext benötigen und auβerdem mehr oder weniger kontextfrei verstanden werden, z.B. Lügen haben kurze Beine „es lohnt nicht, zu lügen, denn die Wahrheit kommt rasch zutage‟ (Burger 2003: 101). Nach Permjakov sind Sprichwörter in erster Linie “Zeichen und Modell für typenhafte reale oder gedachte Situationen des Lebens” (Burger 2003:101). Dieser Wissenschaftler hat versucht aus 50.000 Sprichwörtern verschiedener Völker eine Grammatik des Sprichworts zusammenzustellen, wobei die verschiedenen Modelle in abstrakteren Klassen zusammengefasst werden. In den modellierten Situationen sind die Sprichwörter Anweisungen für das Handeln oder Deutungen des Handelns, das zwei Dimensionen hat (Burger 2003:102). Burger erklärt in seiner Arbeit, dass die Sprichwörter als Formulierungen von Überzeugungen, Werten und Normen gelten können, was die soziale Funktion des Sprichworts genannt wird, weil sie “in einer bestimmten Kultur und Zeit soziale Geltung beanspruchen” (Burger 2003:102). Im Gegensatz zur anderen Bereichen der Phraseologie hat sich bei den Sprichwörtern in der deutschen Sprachgeschichte ein ausgeprägter Funktionswandel von Epoche zur Epoche durchgesetzt. Im Spätmittelalter z.B. wird die Anwendung von Sprichwörtern in der Literatur als Zeichen poetischer Meisterschaft betrachtet (Burger 2003: 106). Sie haben dann dort “die Funktion des Redeschmucks”, sagt Burger, während in der Aufklärung ein abundanter Gebrauch von Sprichwörtern nicht nur in der Literatur, sondern auch in der Alltagsprache verpönt war (Burger 2003: 107). Im 19. Jahrhundert hat das Sprichwort wegen des ständigen Gebrauchs von „geflügelten Worten‟ und „Zitaten‟, seine Rolle etwas einbüβen müssen. Die soziale Funktion des Sprichworts kann auf jeden Fall also als eine historische und kulturspezifische Kategorie betrachtet werden. Diese soziale Funktion enthält vor allem die Charakterisierung der Wahrheit des Sprichworts, die übrigens nicht absolut, sondern relativ ist. Sailer sagt, dass die Wahrheit entweder “eine ewige, unbedingte, notwendige, allgemeine, oder eine zeitliche, bedingte, zufällige, besondere Wahrheit ist” (zitiert in Burger 2003: 109). Damit das Sprichwort eine Wahrheit billigt, bekommt es auch eine Anleitung zum Handeln, was oft eine lehrhafte Tendenz enthält, weil das Sprichwort entweder eine Erziehungslehre oder eine Weisheit in sich trägt. Deswegen spricht man von einer regulativen Funktion. Auf jeden Fall ist es so, dass die soziale Funktion eines Sprichworts sich nur in der Interaktion verschiedener Kontexte mit ihren Funktionen äuβert und realisiert (Burger 2003: 110). D.h., dass feststellende, behauptende Sprichwörter also nur in warnenden, drohenden

44 Kommunikationen verwendet werden. Daraus kann man feststellen, dass der Sinn eines Sprichworts erst durch den Kontext und die Situation bestimmt wird (Burger 2003: 110). Doch ist das keine Bedingung, um das Sprichwort richtig zu verstehen, auch wenn es noch so häufig verwendet wird. Neben der sozialen Funktion können Sprichwörter andererseits in den Kommunikationssituationen verschiedene Aufgaben erfüllen, z.B. als Warnung, Überredung, Bestätigung, usw. und auf diese Weise eine pragmatische kontextuelle Funktion innehaben. Burger gibt für diese kontextuelle Funktion die Argumentation als Beispiel, in der Sprichwörter als Stütze für Argumente oder Begründung für Handlungen dienen. Vor allem in älteren Texten steht diese Funktion des Sprichworts im Vordergrund. Auch in der heutigen Sprache sind Sprichwörter noch nicht ausgestorben, spielen sie nach wie vor eine wichtige Rolle und sind sie dem Sprecher bekannt, wie z.B. Wer A sagt, muss auch B sagen „wer etwas beginnt, muss es fortsetzen und damit auch unangenehme Folgen auf sich nehmen‟ (vgl. Duden 2003:25) oder Mann soll den Tag nicht vor dem Abend loben „von anfänglichem Glück soll man sich nicht in Sicherheit wiegen lassen‟ (Duden 2003: 753). Charakteristisch ist, dass sie vor allem in der Werbung und in den Medien von ihrem Verwendungsmuster, obwohl ihre Festigkeit und Metaphorizität wichtige Elemente sind, abweichen (Burger 2003: 118). Mieder (vgl.1985) nennt diese Sprichwörter Antisprichwörter, wo es sich um Modifikationen von bekannten Sprichwörtern handelt, z.B. Überstund hat Gold im Mund statt Morgenstund hat Gold in Mund. Deswegen auch werden Sprichwörter im Rahmen der Phraseologie behandelt, aber doch gibt es einen klaren Unterschied zwischen Sprichwörtern und Phraseologismen, weil letztere unterhalb der Satzgrenze bleiben (Burger 2003: 120). Einerseits formulieren Sprichwörter vollständige Aussagen, was nur bei festen Phrasen, z.B. die Flinte ins Korn werfen „vorschnell versagen‟, auch der Fall ist (Duden 2003: 231). Andererseits werden Sprichwörter, im Gegensatz zu den Phraseologismen, nur nach einem kleinen Set von Strukturmustern gebildet. Auβer diesen zwei Hauptunterschieden ist doch auf jeden Fall klar geworden, dass die Sprichwörter nicht nur innerhalb der Parömiologie zu betrachten sind, sondern auch als spezielle Klasse der Phraseologie.

3.2.6. Bildliche Negation und Antonomasie

Eine letzte Sondergruppe ist die der bildlichen Negation und der Antonomasie. In bildlichen Negationen werden Begriffe verwendet, die kleine, wertlose Gegenstände oder geringfüßige Mengen bezeichnen (Friedrich 2006: 44). Am häufigsten findet man

45 Verbindungen mit hâr, vuoz und wort. Da diese Negation semantisch mit einer Vielzahl von Wörtern funktioniert, muss die Gebräuchlichkeit über die Häufigkeit des Auftretens erschlossen werden (Friedrich 2006: 44). Eine Antonomasie (Benennung) daneben ist eine Redefigur, eine Metonymie, wobei man statt den Eigennamen eine bezeichnende Eigenschaft oder Apposition hinsetzt, z.B. der Sohn der Aphrodite statt Amor. An Hand einer Antonomasie wird eine rhetorische Stilfigur dargestellt, nämlich ein Ersatz des Eigennamens durch ein Synonym, während normalerweise ein Personalpronomen verwendet wird.

46 4. Befunde bei Walther

Ich schreite jetzt zum eigentlichen Untersuchungsmaterial bei Walther von der Vogelweide, aber bevor ich die Ergebnisse präsentiere, will ich kurz eingehen auf die Auswahl der Phraseologismen. Um ein deutliches Bild über die Phraseologismen bei Walther von der Vogelweide zu bekommen, wurden zuerst alle Fälle, die aus seinem OEuvre im Phraseologischen Wörterbuch des Mittelhochdeutschen von Jesko Friedrich (2006) aufgenommen sind, herausgesucht. Die gefundenen Phraseologismen habe ich sodann nach den phraseologischen Untergruppen, wie z.B. Paarformeln, Routineformeln, Sprichwörtern klassifiziert. Nicht nur das Wörterbuch von Friedrich war eine Quelle, um die Phraseologismen bei Walther aufzufinden, auch das Werk von Marianne von Lieres und Wilkau, Sprachformeln in der mittelhochdeutschen Lyrik bis zu Walther von der Vogelweide (1972), war eine sehr hilfreiche Quelle, vor allem für die Untersuchung von Paarformeln bei Walther. Sowohl bei Friedrich als bei von Lieres und Wilkau wird auf die Stelle, wo sich der Phraseologismus befindet, verwiesen. Beide verwenden dabei die Ausgabe von Lachmann-Krauss, Gedichte Walthers von der Vogelweide (1936). Friedrich aber benutzt außerdem noch die Ausgabe von Cormeau, Walther von der Vogelweide. Leiche, Lieder und Sangsprüche (1996). Weil ich auch untersuche, inwieweit Walthers Phraseologismen auch jetzt noch vorkommen (eventuell in anderer Form), war es nötig, zuerst die genaue Bedeutung der vorgefundenen mittelhochdeutschen Phraseologismen zu kennen. Um diese ausfindig zu machen, zog ich das Buch von Schaefer, Walther von der Vogelweide. Werke (1972) heran, in dem sowohl Walthers Originaltexte wie auch eine moderne Übersetzung aufgenommen sind. Nur ein kleines Problem hat sich dabei eingestellt, und zwar stimmte die Nummerierung von Walthers Versen in den beiden Ausgaben (Schaefer, Lachmann-Kraus) nicht überein. Glücklicherweise befand sich am Ende von Schaefers Buch eine Vergleichstabelle der Nummerierung bei Schaefer, Lachmann-Kraus und Maurer (1936, Gedichte Walthers von der Vogelweide). Auf diese Weise war es meistens doch möglich, die bewusste Stelle und ihre Übersetzung wiederzufinden.12 Wenn einmal die Übersetzung gefunden war, konnte die Phase des Vergleichens mit der heutigen Sprache anfangen. Dazu verwendete ich hauptsächlich zwei groβe Werke, nämlich

12 Wenn die Übersetzung einer Stelle aus Walther von der Vogelweides Werke in meiner Analyse nicht zitiert wird, ist die Übersetzung nicht vorhanden.

47 Röhrichs Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten (1995), Dudens Redewendungen (2003) und selten auch Schemann (1998). An Hand dieser Werke wurde es ermöglicht, zu untersuchen, ob die Phraseologismen bei Walther von der Vogelweide heute auch noch gebräuchlich sind und mit den heutigen in Form und/oder Bedeutung übereinstimmen. Es ist selbstverständlich unmöglich, in dieser Arbeit alle Klassen von Phraseologismen zu untersuchen und zu besprechen. Daher musste ich mich auf die gebräuchlichsten Untergruppen der Phraseologie beschränken. Es handelt sich um die wichtigen Gruppen der Paarformeln, Routineformeln, Vergleiche, Sprichwörter, Somatismen und Kinnegramme, die ich jetzt im Einzelnen behandeln werde. Dabei wird die Bedeutung jedes Phraseologismus bei Walther mit Stellenangabe erklärt, um ihn nachher mit dem Äquivalent in der heutigen deutschen Sprache zu vergleichen.

4.1. Paarformel/ Drillingsformel

Die erste Gruppe, die ich besprechen werde, ist die der Paar- und Drillingsformeln. Es handelt sich hier um synonyme, antonyme und aufzählende Paarformeln. Oft kann es geschehen, dass eine Paarformel z.B. sowohl aufzählend als antonym ist, in diesem Fall werden zwar beide Charakteristika erwähnt und behandelt, aber die Paarformeln nur in einer einzigen Subkategorie untergebracht.

4.1.1. Paarformel

a) Synonyme Paarformeln

Weder haz noch nît

Weder haz noch nît ist eine synonyme Paarformel, die bei Walther im 40. Lied, in der 4. Strophe, im 2. Vers wiederzufinden ist13: Die schamelôsen, liezen si mich âne nôt, sô hæt ich weder haz noch nît (Walth 40, IV,2). Schaefer hat diesen Satz als folgt übersetzt: „Hätte ich vor ihnen Ruhe, die solche Scham nicht kennen, dann träfen Haβ und Feindschaft mich nicht‟ (Schaefer, S.141, Gedicht 53). Schaefer hat das Wort nît in seiner Worterklärung aufgenommen (vgl. S.543) und erläutert dort, dass nît in der Bedeutung „feindselige Gesinnung‟ verstanden werden muss. Das Wort ist, wie er sagt, eingeengt auf „miβgünstige Wut‟. Aus dieser Übersetzung und Erklärung kann die Bedeutung

13 Ausgabe Cormeau

48 der Paarformel weder haz noch nît sicherlich verstanden werden, nämlich dass es zwischen Personen einfach keinen Hass und keine Feindseligkeit gibt (Friedrich 2006: 206). An anderen Stellen bei Walther von der Vogelweide ist die synonyme Paarformel haz unde nît, also mit der Konjunktion und statt weder-noch, zurückzufinden: - Walth L59,1: Ich bin iu eines dinges holt, haz unde nît. „Bosheit und Haβ, eins gefällt mir an euch‟ (Schaefer 117, Gedicht 44). - Walth L26,20: Nît unde haz die hânt sich ûf den wec geleit. „Zorn und Haβ liegen auf der Straβe‟ (Schaefer 321, Gedicht [151]). - Walth L60,38: Al mîn ungelücke wil ich schaffen jenen die sich hazzes unde nîdes gerne wenen. „All mein Unglück vererbe ich denen, die Haβ und Zorn lieben‟ (Schaefer 215, Gedicht [75]). Diese Begriffspaarung ist sicher auch noch in der zeitgenössischen Umgangssprache gebräuchlich.

Lanc unde breit

In den Gedichten von Walther treffen wir verschiedene Male die Paarformel lanc unde breit an, u.a. im folgenden Vers: mehtiger got, dû bist sô lanc und sô breit (Walth L3,I,1), zu übersetzen als „Gewaltiger Gott, du bist so groβ und weit‟ (Schaefer, S.347, Gedichte 180). Diese synonyme und aufzählende Paarformel wird von Walther auch in Gedicht 7 in einer Variante verwendet: gelîche lanc, gelîche breit, liep unde leit, der wolte ouch daz wir trüegen (Walth L7,5ff). Die Hinzufügung der Variante sô im ersten Beispiel und gelîche im zweiten ändern die Bedeutung der Paarformel, nämlich „groβ, weiträumig‟ überhaupt nicht. Auch heutzutage wird diese Paarformel noch immer benutzt und zwar in der Bedeutung „in aller Ausführlichkeit‟, z.B. „Er lieβ sich lang und breit über unwichtige Einzelheiten aus‟ (Duden 2002: 461).

Lop unde ere

Eine hochfrequente aufzählende bzw. synonyme Paarformel, die von Walther verwendet wird, ist die Formel lop und êre in z.B. des sî dir lop und êre geseit, Mariâ künigîn (Walth C12a, III, 8). Mit dieser Aussage wird gemeint, dass Maria „eine groβe Ehre‟ oder „ein groβes Ansehen‟ bei den Menschen haben möge. Heute verwendet man statt Lob und Ehre vor allem die Paarformel Lob und Preis (Schemann 1998: 494).

49 Lûter unde klâr

Ein Phraseologismus, der nicht mehr in der heutigen Sprache zurückzufinden ist, ist die synonyme Paarformel lûter unde klâr, bei Walther von der Vogelweide in der Wendung ir [die Herrin] lop ist lûter unde clâr angewendet (Walth L11, VI, 7). Damit wird gemeint, dass der Lob völlig rein oder makellos ist, deswegen übersetzt Schaefer auch diesen Satz als „rein und lauter ist ihr Preis‟ (Schaefer, S.323, Gedicht [153]).

Michel unde grôz

Mit dem Satz sîn junger lîp wart beide michel und grôz (Walth 11, III, 9) meint Walther, dass der Leib überaus groβ und gewaltig ist. Diese synonymische Paarformel ist heutzutage nicht mehr üblich, weil ersteres Adjektiv aus der Sprache verschwunden ist.

Prîs unde ere

Die aufzählende synonyme Paarformel prîs unde êre „Ruhm und Ehre/ groβe Ehre‟ ist bei Walther im 9. Gedicht anzutreffen: dir ist niht kunt,/wie man mit gâbe erwibet prîs und êre (Walth 9, III, 6) „Du weiβt nicht, wie man durch Schenken zu Ruhm und Ansehen kommt‟ (Schaefer, S.233, Gedicht 82). Der Begriff Ehre stammt aus dem Französischen und wurde im 12. Jahrhundert heimisch, deswegen ist es nicht wunderlich, dass diese Paarformel im Minnesangsfrühling und bei Walther spärlich auftritt (Von Lieres 1972: 87). Der Begriff weist sowohl auf den Selbstwertgefühl einer einzelnen Person als auf die Achtung und Wertschätzung der Gesellschaft hin (Röhrich 1995: 352). Von Lieres sagt, dass der Begriff “äuβere Aspekte der höfischen Wert-und Vorstellungswelt bezeichnet und mit bestimmten Nuancierungen die Inhalte “Ansehen”, “Würde”, “Erfolg”, “Besitz”, “Ruhm” vertritt” (Von Lieres 1972: 90). Diese sogenannte ritterliche Tugend wird auch im zweiten Teil besprochen (vgl. S.89). Auch die Paarformel von Walther gehört zu dem Vorstellungsinhalt “Anerkennung/ Ruhm”. Die Ehre, die sich meistens auf die gesellschaftliche Stellung und nicht oft auf den persönlichen Wert bezieht, wird verletzt, wenn ein Mensch der Lüge oder des Wortbruchs bezichtigt wird. Solche Formeln, d.h. sprachlich geläufige Wortkoppelungen wie prîs unde êre (vgl. Wolframs êre und prîs im Parzival), werden von Walther nicht als Bezeichnung eines

50 einheitlichen Wertes benutzt, sondern, wie Von Lieres sagt, „stellt er sie trotz formelüblicher Bindung als eigenständige Sinnträger in die dichterische Aussage, die unterschiedlichen Inhalte beider Formelpole damit einzeln unterstreichend‟ ( Von Lieres 1972: 91). Heutzutage ist die Paarformel nicht mehr zurückzufinden, dennoch sind noch viele Redewendungen mit Ehre üblich, wie z.B. Auf seine Ehre achten; seine Ehre verteidigen; mit halber Ehre davon kommen „vor Gericht freigesprochen werden, aber dennoch nicht ohne Makel sein‟ (Röhrich 352) und Ehre, dem Ehre gebührt.

b) Antonyme Paarformeln

Junc unde Alt

Junc unde Alt „viele, alle, alle Anwesenden, alle Leute‟ ist eine auch heute noch hochfrequente antonyme komplementäre Paarformel, die Walther in seinen Liedern verwendet hat, nämlich in Walth 31, VI, 3: dû [=minne] twingest beide junc unde alt, was bedeutet „Alle bezwingst du, Junge unde Alte‟ (Schaefer, S.69, Gedicht 26). Selten, sagt Friedrich (S.238), ist diese Paarformel ein Indiz für einen möglicherweise eher polar-strukturierenden Charakter von junc und alt. Auch in der gegenwartigen Sprache ist diese Paarformel Alt und Jung „jedermann‟ noch wiederzufinden.

Pfaffen unde leien

In dô sich begunden zweien die pfaffen unde leien (Walth 9, 24) schrieb Walther die antonyme komplementäre Paarformel pfaffen unde leien „Laien und Kleriker; Geistliche und Nichtgeistliche‟. Im Allgemeinen bedeutet die Paarformel „viele, alle, jeder, alle Leute‟, z.B. auch in: Muget ir schouwen, waz dem meien/wunders ist beschert?/ seht an pfaffen, seht an leien,/ wie daz allez vert (Walth 28, I, 3) „Schaut doch, wieviel Wunderbares sich dem Maien schenkt. Schaut alle Welt in buntem, glücklichem Leben‟ (Schaefer, S.43, Gedicht 16). Erst im Bereich des Minneliedes findet diese Formulierung allmählich Eingang. Wegen ihres religiösen Charakters ist sie ja selten in der Epik verwendet worden (Von Lieres 1972: 59). Walther wird hier oft als Schrittmacher gesehen und demonstriert mit dieser Wendung den Zwiespalt zwischen der Welt der leien und der Welt der pfaffen. Diese zwei Substantive zeigen, wie Von Lieres erörtert, die Diskrepanz zwischen Idealität (wort) und Realität (werc), und das innerhalb des geistlichen Standes: Nû seht ir waz der pfaffen werc und waz ir lêre sî „Seht doch, was die Pfaffen uns sagen und was sie tun‟ ( Von Lieres 1972: 59). In erster Linie

51 ist bei Walther denn auch diese Gegenüberstellung aus der Thematik seiner kritischen Überlegungen erwachsen. Nachher hat sich auch die Sprachformel pfaffen und leien entwickelt, die aber nicht mehr in der heutigen Sprache vorkommt. Auch das Sprichwort mit dem Substantiv Pfaffen, nämlich Grozen hort zerteilet selten pfaffen hant (Walth 34, I, 8), übersetzt „selten bringen Pfaffen groβe Schätze unter die Leute‟ (Schaefer, Gedicht 135, S.305) ist nicht mehr im Neuhochdeutschen anwesend.

Offenbar unde tougen

Offenbar unde tougen ist ein weitgehendes Synonym zur antonymen komplementären Paarformel offen unde tougen, was „öffentlich und heimlich; offen und verhohlen, nicht sichtbar‟ bedeutet. Manchmal wird die Paarformel verallgemeinernd oder intensivierend- bekräftigend im Sinne von „in aller Öffentlichkeit; vor aller Augen‟ verwendet (Friedrich 2006: 314). In den Liedern von Walther ist die erste Bedeutung „öffentlich und heimlich‟ gemeint: Hüetent iuwere ougen/ offenbâr unde tougen (Walth 58,III,2) „Eure Augen nehmt in acht, wenn sie offen und heimlich schauen‟ (Schaefer, S.359, Gedicht 187).

Spreu und Weizen

Die antonyme Paarformel Spreu und Weizen, zu finden in Walth 8a, A, 8: er solt ez doch iemer hân vor iu/ alsô der weize vor der spriu [Kontext: er kann besser singen] und in der Übersetzung von Schaefer: „Ist er Euch noch immer weit voraus, wie beim Sieben Weizen vor der Spreu‟ (Schaefer, S.267, Gedicht [105]), steht exemplarisch für die Unterscheidung von Wertlosem und Wertvollem. Im Duden und bei Röhrich ist die Formel noch immer anzutreffen in die Spreu vom Weizen trennen/scheiden/sondern „das Wertlose vom Wertvollen scheiden‟. Duden verweist dabei auf einen Vers aus dem Matthäusevangelium, welcher der Wendung zugrunde liegt, nämlich „und er hat seine Wurfschaufel in der Hand: er wird seine Tenne fegen und den Weizen in seine Scheune sammeln; aber die Spreu wird er verbrennen mit ewigem Feuer‟ (Mattheüs 3,12).

52

c) Aufzählende Paarformeln

Golt unde silber

Die konkrete Begriffskoppelung Golt unde silber benutzt Walther in der allgemeinen Bedeutung „äuβerer Besitz‟. Es ist also eine aufzählende Paarformel, die teilweise verallgemeinernd „groβen Reichtum‟ bezeichnet. In Walth 10, XII,12 wird die Paarformel nicht durch eine Kopula verbunden, sondern asyndetisch aneinander gefügt: golt, silber, ros und dar zuo kleider,/ die gap ich unde hât ouch mê „Gold, Silber, Pferde und Gewänder verschenkte ich und hatte noch viel mehr zu geben‟ ( Schaefer, S.247, Gedicht 91). Gold und Silber ist auch in der heutigen Sprache noch ganz üblich (Schemann 1998: 278a).

Hût unde hâr

Die mittelhochdeutsche aufzählende alliterierende Zwillingsformel „Hût und hâr’ oder im neuhochdeutschen „Haut und Haar’ hat gerade ein hohes Alter und ist als rechtssprachlicher Terminus bei Leibes- und Züchtigungsstrafen zu bezeichnen. Konkret bezog es sich auf verschiedene Prügelstrafen durch Rutenschläge und das Abschneiden der Haare (Friedrich 2006: 232). Es ist die Höchststrafe für Schwangere und Diebe, die weniger als drei Schillinge oder bei Tage stehlen (Von Lieres 1972: 55). Z.B. darf eine Frau in guter Hoffnung nicht höher gestraft werden als zu Haut und Haar. Sie wird dann an den Pranger gestellt, wird gestäupt und geschoren (Röhrich 1995: 680). Diese Rechtsbedeutung wird auch bei Walther mit der Paarformel deutlich zum Ausdruck gebracht: wê ir hiuten und ir hâren (Walth 10,X,11) „Das Fell sollte man ihnen gerben und das Haar abschneiden’ (Schaefer, S.247, Gedicht 92). Auβerhalb der rechtlichen Kontexte wird hût unde hâr auch als pars pro toto für den „Körper, das Leben und die Gesundheit eines Menschen‟ bezeichnet. In der Epik verschmelzen schon die beiden Formelglieder zum Begriff „der ganze Mensch, der ganze Körper‟ (Von Lieres 1972: 55). Jetzt ist die Paarformel nur noch in der präpositional vorkommenden Wendung mit Haut und Haar „vollständig; ganz und gar; mit allem, was drum und dran hängt‟ üblich.

53 Kriechen unde vliegen

Die Zwillingsformel kriechen und vliegen bezeichnet die Gesamtheit aller Lebewesen: Swaz kriuchet unde vliuget/ und bein zer erden biuget,/daz sach ich unde sag iu daz:/ der dekeinez lebet âne haz (Walth 2,II,5), übersetzt „Ich sah, was kriecht und fliegt und auf der Erde geht, und sage: ihnen allen ist Feindschaft nicht fremd‟ (Schaefer, S.225, Gedicht 77). Im Neuhochdeutschen kennen wir diese Paarformel noch in der Form alles, was da kreucht und fleucht „alle Lebewesen zu Lande und in der Luft‟. Die Paarformel hat auch jetzt noch die alten Beugungsformen der Verben „kriechen‟ und „fliegen‟ bewahrt.

Nôt unde arebeit

Die Doppelformel nôt unde arebeit, die bei Walther in lîde ich nôt unde arebeit (29,III,5) wiederzufinden ist, kennen wir heutzutage nicht mehr. Diese aufzählende synonyme Wendung bedeutet „Not und Mühsal; (groβe) Mühsal/Not; (groβes) Leiden‟, deswegen übersetzt Schaefer den Satz ebenfalls mit Zwillingsformel als „Not und Mühe beklage ich nicht‟ (Schaefer, S.83, Gedichte 32); man vergleiche aber auch noch die moderne präpositionale Wendung mit [knapper] Mühe und Not „gerade noch‟ (Duden 2002: 525).

Wort unde werc

Das gesamte Spektrum des menschlichen Handelns wird mit der Paarformel Wort und Werk, die biblischer und lateinischer Herkunft (vgl. verbum et opus) ist, geäuβert (Friedrich 2006: 479). Sie ist gerade im altsächsischen Heliand anwesend, nämlich in Hêt thô thea ambahtman idiso scôniost, skenkeon endi scapuuardos, thea thar scoldun thero scolu thionon, that sie thes ne uuord ne uuerc uuiht ne farlêtin, thes sie the hêlogo Crist hêtan uueldi lêstean far them liudiun „Sie, die schönste der Frauen, befahl dann die Diener, die Schenker und Kellermeister, die dort die Schar bedienen sollten, dass sie weder in Wort noch im Werk etwas desjenigen unterließen, was sie der heilige Christus für die Leute zu leisten befehlen wollte‟ (Heliand V. 2032-2036; ähnlich V. 2116)14. Verschiedene Male hat Walther diese Zwillingsformel in seinen Liedern verwendet, und zwar in verschiedenen Variationen: sô pflegent die knehte gar unhövescher dinge/ mit worten und mit werken ouch (Walth 10,X,4). Hier ist zu bemerken, dass eine Präposition mit hinzugefügt ist. Auch in einem anderen Beispiel hat Walther eine Variante mit Präposition verwendet, nämlich in Swelch kristen kristentuomes giht an worten und an werken niht, der

14 Siehe auch O. Behaghel, die Syntax des Heliands, S.166 C.)

54 ist wol halp ein heiden (Walth 1,II,*b4,4). In der Übersetzung von Schaefer bleibt die Präposition im Allgemeinen behalten, wie im letzten Beispiel „Ein Christ, der sich zum Christentum bekennt mit Worten, nicht mit Werken, der ist halb ein Heiden‟ (Schaefer, S.381, Gedicht 192; 8, 2a); manchmal aber hat Schaefer eine freiere Übersetzung verwendet, wie es im ersten Beispiel der Fall ist: „Und um so wüster führen sich die Knappen auf in dem, was sie reden und tun‟ (Schaefer, S.247, Gedicht 92). Diese Formel steht bei Walther für den kirchlich-religiösen Hintergrund. Für das zweite Beispiel (Walth 1,II,*b4,4) kann Jakobus 2,17 als biblische Vorlage angeführt werden, nämlich Sic et fides, si non habeat opera, mortua est in semetipsa (Vulgata). Im ersten Beispiel (Walth 10,X,4) wird die Formel in säkularisierter Bedeutung auf das unhövische Verhalten der Knappen bezogen (Von Lieres 1972:71). Die knehte benehmen sich im Wort nicht ritterlich und gleichzeitig damit wird ihr Tun/Werk auch unbotmäβig. Auch in unserer zeitgenössischen Sprache ist diese synonyme aufzählende formelhafte Verknüpfung mit Worten und Werken „mit Reden und Handeln‟ noch üblich (Duden 2002: 883).

4.1.2. Drillingsformel

Muot, lîp und guot

Drillingsformeln werden bei Walther von der Vogelweide nicht häufig verwendet. Die am meisten vorkommende ist muot, lîp und guot, z.B. in nieman ritter wesen mac […], im gebreste muotes,/ lîbes alder guotes (Walth 58,VI,3) „Niemand kann Ritter sein, wenn es ihm an (der richtigen) Gesinnung, Leben/Körper oder Gut fehlt‟. Die Bedeutung ist dieselbe wie in der hochfrequenten aufzählenden Paarformel lîp und guot, nämlich „Leben/ Körper und Besitz‟ (Friedrich 2006: 274).

4.2. Routineformel

Sô dir got hëlfe; sô/als hëlfe iu got

Zweimal hat Walther die Routineformel sô dir Got hëlfe in seinem Werk verwendet, nämlich im Vers sô helfe iu got, herre junger man (Walth 49, V,5) und im Vers nû helf iuch got, her junge man (Walth 49a, III,5). Diese Formel ist meistens eine Bekräftigung einer Frage, Bitte oder Aussage und wird noch im Neuhochdeutschen mit einer Variante, nämlich so wahr dir Gott helfe, verwendet.

55 Im Allgemeinen bedeutet diese Wendung „so wahr Gott Euch beistehen soll; um Gottes Willen‟, wie es im Beispiel Walthers der Fall ist: „Gott stehe Euch bei, Herr Jüngling‟ (Schaefer, S.89, Gedicht 34), aber teilweise kann sie auch eher als direkte Fürbitte gelten, nämlich „Gott möge euch helfen‟. Im Duden wird diese Routineformel eher als Eidesformel bezeichnet: Schwören Sie, die Wahrheit zu sagen und nichts als die Wahrheit? – Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe ( Duden 2002: 836).

Bei Röhrich wird die Formel in der Variante helf dir Gott als Niesformel betrachtet. Einem Niesenden Glück, Gesundheit und Gottes Segen wünschen, ist schon sehr alt und weit verbreitet. Heute handelt es sich dabei nur um Formeln, die schon seit langem erstarrt sind und nur aus Höflichkeit gebraucht werden (Röhrich 1995: 571). Unbewusst könnte auch der Wünsch, dem Niesenden zur Gesundheit zu verhelfen, mitschwingen. Manchmal werden die Formeln mit Zusätzen erweitert, um das Altertümliche in der religiösen Form abzuschwächen, bzw. wenn man nicht als fromm erscheinen will. Diese alte Formel ist jetzt durch Gesundheit! abgelöst worden.

Got, gebe iuch guote naht

Heutzutage brauchen wir als Abschiedsgruβ zur Nachtruhe die Wendung gute Nacht oder schlaf(t) gut, aber im Mittelhochdeutschen war noch die religiöse Routineformel Got, gebe iuch guote naht üblich. Auch Walther hat diese Formel nicht ausgelassen: got gebe iu, frowe, guote naht (Walth 70, IV,9) „Gott schenke Euch, werte Dame, eine gute Nacht‟ (Schaefer, S.201, Gedicht 70).

Got gebe dir/iuch guoten tac

Nicht nur hat Walther die Begrüβung zur Nachtruhe Got gebe iuch guote naht verwendet, sondern er kannte auch den Gruβ bei Tage, nämlich Got gebe iuch guoten tac im Vers Got gebe ir iemer guoten tac (Walth 92, I, 1) „Gott, gib ihr immer gute Tage‟ (Schaefer, S.11, Gedicht 4).

Bi mînen triuwen, bî den triuwen mîn

Die alte Beteuerungsformel bi mînen trîuwen wird angewendet, wenn man versucht, eine als Wahrheit dargestellte Aussage im Sinne von „bei meinem Ehrenwort‟ zu bekräftigen.

56 Oft wird sie auch als Ausruf des Erstaunens gebraucht. Bei Walther spielt nur die erste Bedeutung eine Rolle, z.B. in ich wil ez bî mînen triuwen sagen ( Walth 55, III, 4). Auch heute werden diese Beteuerungsformel und dieser Ausruf des Erstaunens (bei meiner Treu) häufig benutzt. Im Duden aber kommt diese Wendung nur in der Variante ohne Präposition vor, nämlich meiner Treue, und wird sie als veraltet betrachtet (Duden 2002: 783).

4.3. Sprichwörter

Anegenge

Anegenge ist ein mittelhochdeutsches Wort, das im Neuhochdeutschen von Anfang ersetzt worden ist. Oft wurde es im Mittelalter in einem Sprichwort verwendet, und das war auch bei Walther der Fall, nämlich in Walth 55, V, 13: Man hœret an der rede wol, wie ez umbe daz herze stât./ daz anegenge ist selten guot, daz bœsez ende hât. In der Übersetzung von Schaefer lautet dieses Sprichwort wie folgt: „Man hört aus den Worten das Herz, und: niemals ist ein Anfang gut, der ein schlimmes Ende hat‟ (Schaefer, S.273, Gedicht 109). In der zeitgenössischen Sprache kennen wir nur noch das Sprichwort das ist der Anfang vom Ende, was bedeutet, dass „der Untergang nicht weit weg mehr ist‟. Dieses Sprichwort ist in den hundert Tagen der zweiten Regierungszeit Napoleons I. nach seiner Rückkehr 1815 von Elba zu Stande gekommen (Röhrich 1995: 384). Daneben findet man aber im Duden auch Ende gut, alles gut, was bedeutet, dass die Schwierigkeiten, die vorausgingen, bei einem glücklichen Ausgang nicht mehr wichtig sind (Duden 2002: 191).

Arm

Ein typisches mittelalterliches Sprichwort bezüglich der ritterlichen Tugenden, die im zweiten Teil besprochen werden (cfr. S. 96, Nr. 4), ist das Sprichwort aus Walth 10, I, 7, in dem die Ehre berücksichtigt wird, nämlich Armen man mit guoten sinnen/sol man für den rîchen minnen,/ob er êren niht engert. Mit dieser sprichwörtlichen Wendung wird gemeint, dass man den Armen mehr als den Reichen lieben soll, weil der Arme edel denkt und der Reiche nicht in Ehre leben will (cfr. Schaefer, S.241, Gedicht 87: „Den Armen, der edel denkt, soll man mehr lieben als den Reichen, der nicht in Ehre leben will‟).

57 Bœse

Ein Bild, das in sehr unterschiedlichen Wendungen formuliert wird, ist dasjenige von dem Bösen, der den Anständigen hasst. Vermutlich ist die Wendung der Böse/ Schlechte hasst den Anständigen ein Sprichwort und kommt sie bei Walther in einer anderen Wendung vor: swen die bœsen hazzent âne sîne schult,/ daz kümet von sîner frumecheit (Walth 50, III, 3). Diese Aussage hat die Bedeutung, dass wenn die Bösen einen hassen, ohne dass er Böses tat, dieses nur geschieht, weil er gut und edel ist (cfr. Schaefer, S.149, Gedicht 56: „Wenn einen die Bösen hassen, ohne daβ er Böses tat, dann nur weil er gut und edel ist‟).

Honig im Mund, Galle im Herzen

Das sprichwörtliche Bild Honig im Mund, Galle im Herzen bezeichnet „trügerisches Schmeicheln und Schönreden‟ (Friedrich 2006: 225). Im Minnesang ist dieses Bild auch bei Walther anzutreffen, in einer etwas anderen Form, nämlich ohne Präposition im und mit den Verben honegen bzw. als verbonominale Gruppe gallen hâben: [...] diu zunge honeget und daz herze gallen hât (Walth 11, XII, 5). Galle und Honig sind zwei entgegengesetzte Stoffe, die doch im Aussehen manches gemeinsam haben. Sie sind beide nämlich dickflüssig und zäh und beide haben auch eine gelbe Grundfarbe. Der Kontrast zwischen Galle und Honig liegt im Geschmack und in der Verwertbarkeit. Während Galle bitter schmeckt, hat Honig einen süβen Geschmack; während der Genuss von Galle schaden kann, wird der Honig vom Blut leicht aufgenommen (Röhrich 1995: 500). Wenn die Galle statt in den Darm, ins Blut aufgenommen, wird die Galle dem Körper zum Gift und führt zu Gelbsucht. Wenn Galle und Honig miteinander vermischt werden, nimmt die Galle dem Honig den Geschmack, wodurch der Honig „vergällt‟ wird. In der Wendung symbolisiert die Galle das Schädliche, den Neid, den Hass, den Zorn. Die Galle-Honig-Formel wird meistens gebraucht, wenn eine Hoffnung zunichte wird. Im Althochdeutschen kommt diese Formel nocht nicht vor, erst mit der Dichtung der mittelhochdeutschen Blütezeit war sie üblich und trat mit Walther zum ersten Mal in der mittelhochdeutschen Lyrik auf (Von Lieres 1972: 45) (cfr. auch S. 66).

Wer die Rute schont, hasst sein Kind

Das Sprichwort wer die Rute schont, hasst sein Kind ist biblischer Herkunft und schon im Lateinischen, nämlich qui parcit virgae, odit filium suum (Proverbia 13,24; Vulgata)

58 gebräuchlich. Es hat die Bedeutung, dass „die Erziehung ohne Schläge misslingt und das das Kind später davon Nachteile hat‟. Bei Walther wird die Rute durch die Variante besmen „Besem‟ ersetzt: [Salomon] sprichet, swer den besmen spar, / daz der den sun versûme [vernachlässigt] gar (Walth 10, IX, 4). Schaefer übersetzt besmen mit dem zeitgenössischen Wort Rute: „Der sagt, daβ, wer die Rute spart, seinen Sohn vernachlässigt und ihn verdirbt‟ (Schaefer, S.249, Gedicht 94). Im Sprichwort spielt die Rute als Züchtigungsinstrument eine groβe Rolle, denn die liebe Rute tut alles Gute (Röhrich 1995: 1266). Walther aber verwendet auch noch ein anderes Sprichwort im Vers 87,1, das genau das Entgegengesetzte sagen will, nämlich Nieman kan mit gerten/ kindes zuht beherten (Walth 87,1) „Niemand kann mit Ruten Kindererziehung erzwingen‟(Schaefer, S.359, Gedicht 187).

Liebe

Das bekannte neuhochdeutsche Sprichwort Liebe macht blind ist schon seit langem im Gebrauch, auch im Minnesang wurde es von Walther in seinen Liedern verwendet: Swen die minne blendet, wie mac der gesehen? (Walth 44, V, 7), von Schaefer übersetzt als „Wen die Liebe blendet, wie soll der sehen können?‟ (Schaefer S. 73, Gedicht 28). Das Sprichwort ist in diesem Vers in eine rhetorische Frage, auf der die Antwort „gar nicht‟ lautet, umgestaltet. Walther verwendet auch das Sprichwort liebe machet schoene wip (Walth 50, 5), was bedeutet, dass Liebe die Frauen schön macht (Schaefer, S.92, Gedicht 35). Weiter gibt es auch noch das Sprichwort Swer guotes wîbes minne hât, der schamt sich aller missetât (Walth 93, 17), übersetzt als „Wem eine wahre Frau ihre Liebe gab, der schämt sich, je Böses zu tun‟ (Schaefer, S.129, Gedicht 48). Wenn jemand also die Liebe einer edlen Frau besitzt, schämt er sich über jeden Fehltritt (Ehrismann 1999: 208). Im Neuhochdeutschen kennt man das erste Sprichwort auch noch in der Wendung vor Liebe blind sein, was bedeutet, dass der Liebende für die Schwächen und Fehler des Geliebten blind ist. Das Neuhochdeutsche hat außerdem ein Sprichwort, das gerade die umgekehrte Perspektive zum Ausdruck bringt, nämlich dass wo Liebe fehlt, man alle Fehler erblickt (Röhrich 1995: 964).

Jemandes ôsterlicher tac sîn

Jemandes ôsterlicher tac sîn ist eine Wendung, die Bezug nimmt auf das Osterfest als den höchsten christlichen Feiertag, deswegen bedeutet dieses Sprichwort „für jemanden das

59 Erfreulichste, Höchste, Beste sein‟. Dieser Bezug wird deutlich im Walthers Vers geäuβert, nämlich er giht, wenne sîn ouge ein wîp ersiht,/ si sî sîn ôsterlîcher tac (Walth 81, I, 4) und bedeutet also, wie bei Schaefer zu lesen, dass die Frau das Beste oder sprichwörtlich gesagt das Osterfest für ihn ist: „Wenn er die eine Frau erblickt, so sagt er nämlich, sie sei sein Osterfest‟ (Schaefer, S. 21, Gedicht 7). Man vergleiche hiermit noch Niederländisch op zijn paasbest.

Schade

Ein schade ist guot, der zwêne frumen gewinnet schrieb Walther in einem seiner Lieder (vgl. Walth 9, III, 12). Ob dieser Vers ein Sprichwort ist, ist nicht deutlich, aber doch sehr wahrscheinlich. Wenn wir uns die Übersetzung von Schaefer ansehen, nämlich „Gut ist ein Schaden, der zweifach nützt‟ (Schaefer, S.233, Gedicht 82), dann können wir bemerken, dass das heutige Sprichwort selten ein Schaden, wo nicht ein Nutzen dabei ist dieser Bedeutung noch sehr nahe kommt. Auch darf man noch an das neuhochdeutsche Sprichwort durch Schaden wird man klug erinnern.

Sëlbe tæte, sëlbe habe

Es ist schwierig zu sagen, ob beim Sprichwort sëlbe tæte, sëlbe habe Formen der Verben tuon und haben vorliegen oder aber zwei Substantive. Am wahrscheinlichsten, wenn wir die Bedeutung des Sprichworts berücksichtigen, ist die erste Möglichkeit, denn das Sprichwort bedeutet, dass „man für die (schädlichen) Folgen des eigenen Handelns selbst verantwortlich ist‟ (Friedrich 2006: 418). Gerade bei Walther kam dieses Sprichwort vor, nämlich in sol mir an ir misselingen/sô muoz in [der mich bei ihr verleumdet hat] mîn sorge twingen./ tôre, kum dîns fluoches abe,/ selbe tæte, sëlbe habe! (Walth 108,III,8). Wörtlich kann man sagen, dass „das Eigentum wie die Tat ist‟ oder dass „man die Folgen, von etwas, was man selbst getan hat, ertragen muss‟. Im Neuhochdeutschen kann man es mit dem Sprichwort Wie man sich bettet, so liegt man vergleichen.

Niht visch unz/biz an den grât sîn

Im Walthers 12. Vers vom 43. Lied ist das Sprichwort niht visch unz/biz an den grât sîn zurückzufinden: lîp, lâ die minne, diu dich lât,/ und habe die stæten minne wert./ mich dunket,

60 der dû hâst gegert,/ diu sî niht visch unz an den grât (Walth 43,IV,12). Schaefer übersetzt diesen Satz als „Leib, lass die Liebe fallen, die dich fallen lässt, und liebe die ewige Liebe. Ich glaube, die du suchtest war nicht bis in die Tiefe wahr und ganz‟ (Schaefer, S.199, Gedicht 69). Die Wendung bedeutet eigentlich, dass „etwas unbeständig und trügerisch ist‟ (Friedrich 2006: 428). Ein anderes Sprichwort bei Walther erzählt uns, dass zehn Nein besser sind als ein gelogenes Ja und man das Trügerische besser vermeidet: Zehen Versagen sint bezzer danne ein liegen (Walth 80,14).

Sumen schât dem snit und schât er saete

Im Vers 85, 24 will Walther dem Leser mitteilen, dass man am besten nicht zögert, denn sumen schât dem snit und schât er saete (Walth 85, 24), was bedeutet, dass zögern der Ernte und der Saat schadet (Schaefer, S.347, Gedicht 178: „Zögern schadet der Ernte und schadet der Saat‟).

4.4. Komparative Phraseologismen

Slëht/ëben als am ein zein

Der Vergleich slëht/ëben als am ein zein „völlig glatt/eben‟ (und zwar „wie ein Aal‟) hat als prototypische Eigenschaften die Schärfe und die gerade Form. Auch Walther hat diesen Vergleich im Vers êst al ein, sleht und ebener danne ein zein (Walth 7,VI,6) verwendet, um anzuzeigen, dass Aale eins, glatt und gerade wie ein Pfeil sind (vgl. Schaefer, S. 191, Gedicht 68). Im Neuhochdeutschen findet man im Duden noch die Wendung glatt wie ein Aal sein (bzw. univerbiert aalglatt sein) zurück (Duden 2002: 253).

Jemandem aus der Hand winden, wie ein Aal

Der Aal ist in der Sprache zum Bild des leicht Entgleitenden und Lebhaften geworden, und zwar wegen seiner Beweglichkeit (Röhrich 1995: 51). Wegen seiner schleimigen Haut aber ist er auch zum Bild des Glatten und Schlüpfrigen geworden (Röhrich 1995: 51). Der Vergleich jemandem aus der Hand winden wie ein Aal bedeutet, dass „sich jemand jemandem feige oder durch Lügen entzieht‟ (Friedrich 2006: 198). Walther hat dieses Bild auf jeden Fall in seinem Werk zum Ausdruck gebracht: der [Lügner, der] sich dem man windet ûz der hant reht als ein âl, /owê, daz got niht zorneclîchen sêre an deme wundert! (Walth 11, XVI,6) „Die uns wie Aale aus den Händen gleiten, ach, dass der Wundertäter Gott sie nicht schlägt in seinem Zorn!‟ (Schaefer, S.313, Gedicht 141).

61 Heute brauchen wir vor allem die Wendung sich winden wie ein Aal oder aalglatt sein, was bedeutet, dass „jemand jemandem durch die Finger schlüpft‟. Sie bezieht sich auf einen schlauen Menschen, der sich immer entwindet, wenn man ihn gefasst zu haben glaubt (Röhrich 1995: 51). Gerade wie ein Aal ist auch der Aalglatte nicht mit den Händen zu greifen. Schon bei den Römern hat man diese Wendung in einer Variante, nämlich anguilla est: elabitur „er ist ein Aal: er entwischt‟. Es ist also die Beweglichkeit des Aals, die in der Sprache bildlich auf den Menschen übertragen wird (Röhrich 1995: 51).

Arsch

Das derb-anstöβige Wort Arsch kommt in der Umgangssprache in zahlreichen Wendungen vor. Im Mittelhochdeutschen bei Walther von der Vogelweide kennt man vor allem den Vergleich sich gelîchen alse ars unde mâne, in z.B. singet ir einez, er singet driu,/ daz gelîchet sich rehte alse ars und mâne (Walth 8a, A,10), von Schaefer mit der Variante Steiβ übersetzt: „Singt Ihr ein Lied, so singt er drei, Ihr gleicht ihm wie der Steiβ dem Mond‟ (Schaefer, S.267, Gedicht [105]). Mit dieser Wendung sich gleichen wie Arsch und Mond wird gemeint, dass „etwas/jemand sich überhaupt nicht gleicht‟. Heutzutage ist diese Wendung nicht mehr üblich.

Slipfic als ein is

In formelhaft-intensivierenden Vergleichen wird als secundum comparationis oft das Substantiv îs, wie in z.B. grôs als ein îs, benutzt. Die prototypische Eigenschaften dieser Vergleichskomponente sind Kälte, Reinheit und das Schmelzen in der Hitze (Friedrich 2006: 233). Im Walth 54,VII,1 swer mir ist slipfic als ein îs/und mich ûf hebt in balles wîs (cfr. infra) meint Walther aber, dass jemand schlüpfrig ist wie ein Stuck Eis (Schaefer, S. 337, Gedicht 168).

Lewen krefte, eines lewen kraft

In verschiedenen, teilweise formalhaft-intensivierenden Vergleichen beschreibt das Bild der Kraft eines Löwen als secundum comparationis die allgemein aggressiven, aber positiv dargestellten Eigenschaften, wie Zorn und lautes Brüllen, Mut und Tapferkeit im Kampf. Oft können die prototypischen Eigenschaften in einer Übersetzung als Adverbien zu dem tertium comparationis Kraft gestellt werden (Friedrich 2006: 268). Mit dem Vergleich lewen krefte/

62 eines lewen kraft wird gemeint, dass jemand über eine sehr große Kraft verfügt. Walther hat diesen Vergleich angewendet, als er über die Vorstellung der kaiserlichen Macht auf dem Waffenschild redete: ir tragt zwei keisers ellen:/ des arn tugent, des lewen craft,/ die sint des hêrren zeichen an dem schilte (Walth 4,V,8), von Schaefer übersetzt als „Zweifach tragt Ihr kaiserliche Kraft: des Adlers edlen Sinn, des Löwen Stärke: das sind auf dem Schild die Wappentiere des Herrn‟ (Schaefer, S.279, Gedicht 113). Die Abbildung der Wappentiere Löwe und Adler auf dem Schild zeigen uns also die große Macht der kaiserlichen Herren. Auch heute wird dieses Bild noch oft verwendet, um anzudeuten, dass jemand eine große Kraft besitzt.

In ballen wîs

Das tertium comparationis im Vergleich in ballen wîs ist das Substantiv Ball. Die protoypischen Eigenschaften dieses Elements sind die runde Form und die Funktion als Spielgerät. Der Ball wird hochgehoben und geworfen. Oft geschieht das in schnellem Wechsel von einem zum anderem (Friedrich 2006:110). Wenn Walther diesen Vergleich in seinem Werk aufnimmt, meint er, dass jemand als Spielball betrachtet wird. Im Vers (cfr. oben) Swer mir ist slipfic als ein îs/ und mich ûf hebt in ballen wîs (Walth 54,VII,2) wird also gemeint, dass die Person machtlos hin- und hergeworfen wird (Röhrich 1995: 1502). Auch in der heutigen Sprache finden wir vor allem den Ausdruck zum Spielball werden. Diese Wendung hat dieselbe Bedeutung wie das Bild in ballen wîs und bedeutet also, dass jemand machtlos zu einem willenlosen Werkzeug wird und den Launen oder Willen der Mächtigen unterworfen und ausgeliefert ist (Röhrich 1995: 1502).

Rœter denne ein rôse

Zur Bezeichnung einer intensiven Rotfärbung wird der formelhaft-intensivierende Vergleich rœter denne ein rôse gebraucht. Rôse ist in dieser Redewendung das secundum comparationis, aber auch bluot, rôsenblatt, rûbîn und viur können die Vergleichskomponente bilden. Der Vergleich dient zur Bezeichnung, dass „etwas ganz/völlig (leuchtend) rot‟ ist (Friedrich 2006: 333). Wenn Walther den Mund der Geliebten beschreibt, sagt er: Dîn munt ist rœter danne ein liehte rôse in touwes blüete (Walth 11,VI,3), „Rot sind deine Lippe wie die leuchtende Rose in der Feuchtigkeit des Taus‟ (Schaefer, S.323, Gedicht [153]). Im Minnesang kommt diese Wendung mit rôt sehr viel vor, z.B. auch im Gedicht Unter der Linden: Seht wie rôt mir ist der munt (Walth 39, 28), von Schaefer mit dem Personalpronomen meine statt des Pärtinenzdativs mir übersetzt „Seht, wie rot meine Lippen sind‟ (Schaefer, S.98, Gedicht 38).

63 Heute kennen und verwenden wir noch immer diesen Vergleich, aber bekannt ist der Vergleich mit als secundum comparationis Blut in so rot wie Blut/ blutrot.

Unsenfte als ein sîde

Der Vergleich unsenfte als ein sîde (buchstäblich: „unsanft wie Seide‟) ist eigentlich ein Oxymoron. Ein Oxymoron ist eine Stilfigur, in der zwei Begriffe, die einander in ihrer wörtlichen Bedeutung widersprechen, zu einem Begriff kombiniert werden, z.B. die schreiende Stille. Das Verb schreien impliziert einen Laut, während die Stille eine lautlose Ruhe impliziert. Wenn die zwei Begriffe aber in ihrer Kombination betrachtet werden, bedeutet das Ganze „sehr still‟. So geschieht es auch mit dem Vergleich unsenfte als ein sîde. Wörtlich bedeutet unsenfte selbstverständlich „nicht sanft‟ und sîde impliziert die Zartheit. Die Kombination der zwei Begriffe aber hat die Bedeutung „sehr weich/ zart‟ bekommen. In dieser Bedeutung wird es auch bei Walther aufgenommen: dîn süezer lîp ist unsenfte als ein sîde,/swarz als ein snê (Walth 113, VI, 3).

Swarz als ein snê

Im Vers dîn süezer lîp ist unsenfte als ein sîde,/swarz als ein snê hat man neben dem Oxymoron unsenfte als ein sîde, auch das parallele Oxymoron swarz als ein snê, was „völlig weiβ, hell, blass‟ bedeutet. Die Kombination des Begriffes swarz mit snê hat also den Gegensatz zwischen beiden Begriffen aufgehoben.

Veste als ein stein

Veste als ein stein sowie das Synonym herte als ein stein enthaltet als secundum comparationis Stein, der als prototypische Eigenschaften einerseits die Härte, Festigkeit, das ungebremste Fallen enthält und andererseits die Kälte, Schwere und den Magnetismus (Friedrich 2006: 372). Gemeint bei Walther ist, dass etwas oder jemand hart, fest und unzerbrechbar ist, wie in des mannes muot sol veste sîn als ein stein (Walth 11, XVI, 9) und übersetzt von Schaefer in der Variante „Fest wie ein Fels soll das Herz der Menschen sein‟ (Schaefer, S.313, Gedicht 141). Heute ist vor allem die zum Adjektiv univerbierte Wendung steinhart noch in der Sprache zurückzufinden.

64 Vinster sam der tôt

Um anzuzeigen, dass etwas „sehr finster‟ ist, macht Walther den Vergleich mit dem Tod in diu welt ist ûzen schœne [...] und innan swarzer varwe, vinster sam der tôt (Walth 97, III, 4) „Die Welt ist auβen schön [...] und innen schwarz und dunkel wie der Tod‟ (Schaefer, S.205, Gedicht 72).

Valke

Der Falke wurde im Mittelalter oft und gern als Bild für den ritterlichen Geliebten angeführt, denn der Falke zieht aus und kehrt siegreich zur Dame zurück. Am frühesten wurde der Falke als Bild im Falkenlied des Kürenbergers verwendet (Röhrich 1995: 412).15 In Vergleichen steht der Falke oft exemplarisch für einen mutigen, überlegenen Kämpfer, aber das Bild kommt auch in Vergleichen vor, die eine schnelle, in die Höhe gehende Bewegung beschreiben. Ob die Verwendung des Falkenbildes bei Walther in Swâ nû zuo hove dienet der hêrre sîme knechte/unde swâ der valke vor dem raben stêt zuo rechte,/dâ spürt man offenlîch unart, unadel unde ungeschlechte (Walth, 11,XVII,2) als Vergleich oder als Sprichwort aufgefasst werden muss, ist leider nicht deutlich.

4.5. Bildliche Negation

Ie vuoz

Der Fuß steht in der bildlichen Negation exemplarisch für eine kleine Entfernung. Oft bezeichnet das Substantiv Fuß mit Verben der Bewegung in verneinten Wendungen eine Bewegung, die nicht gemacht wird oder gemacht werden soll (Friedrich 2006: 441). Diese bildliche Negation ie vuoz hat die Bedeutung „jemals auch nur einen Schritt; je auch nur im geringsten‟. In dieser Bedeutung hat auch Walther diesen Phraseologismus im seinen Werk aufgenommen: obe ich ie getræte/ fuoz von miner stæte (Walth 35, II, 6). Schaefer (S.175, Gedicht 64) übersetzt buchstäblicher „Ob je mein Fuβ den Weg der Treue verlieβ‟, was bedeutet, dass die Person den Weg der Treue mit keinem Fuß verlassen hat.

15 Einen ausführlichen Kommentar zum Thema des Falken in diesem Gedicht findet man in: Agler-Beck, Gayle (1978) : Der von Kürenberg: Edition, Notes, and Commentary. S. 114-119.

65 Ein wint sîn

Der Wind in der Wendung ein wint sîn steht exemplarisch für Wertloses, Wirkungsloses, Unwichtiges und hat also die Bedeutung „nichts sein, wertlos sein‟ (Friedrich 2006: 235). Wenn Walther diese bildliche Negation verwendet in so ist mîn schœne ein wint (Walth 88,III,4), bedeutet das, dass die Schönheit der Person gar nichts bewirkt (vgl. Schaefer, S.65, Gedicht 25: „Wohl ist‟s mit meiner Schönheit nichts‟).

Jemandem als ein wint sîn

Als Synonym für die Negation ein wint sîn wird bei Walther oft auch jemandem als ein wint sîn gebraucht, z.B. in lâ dîr [deine Feinde] den Kristen zuo den heiden sîn als den wint (Walth 3,II,3), übersetzt von Schaefer als „doch nicht die Heiden, auch die Christen achte für nichts‟ (Schaefer, S. 349, Gedicht 181). Diese bildliche Negation ist vor allem aus der Sangspruchdichtung Nr.31 von Reinmar von Zweter bekannt. Er schrieb nämlich Alle schuole sint gar ein wint (Roethe 1887: S. 426), was bedeutet: „Alle Schulen sind gänzlich bedeutungslos‟.

Bi der wide

Wenn wide in der Wendung bi der wide die Bedeutung „Strick/Strang‟ hat, steht wide metonymisch für die Todesstrafe durch Erhängen. Bi der wide bedeutet also „bei der Strafe des Erhängens; bei Todesstrafe durch den Strang‟ (Friedrich 2006: 469). In Her keiser, swenne ir Tiuschen fride/ gemachet stæte bî der wide/ sô bietent iu die fremeden zungen ere (Walth 4, V, 2), übersetzt „Herr Kaiser, wenn Ihr bei Strafe des Stranges Deutschland einen dauernden Frieden gegeben habt, dann huldigen Euch alle Völker‟ (Schaefer, S.278, Gedicht 113 ), ist die Erklärung der Todesstrafe durch Erhängen gemeint.

Honig wird zu Galle gemacht

Um eine Veränderung vom äußerst Guten oder Angenehmen zum äußerst Schlechten oder Unangenehmen zu bezeichnen, wird sehr frequent die bildliche Negation Honig wird zu Galle gemacht verwendet. Wie schon bei den Sprichwörtern hervorgehoben (vgl. S.58), hat das Substantiv Galle in verschiedenen Wendungen eine antonymische Funktion. Walther gebrauchte diese Negation in ez stuont diu kristenheit mit zühten schône, [...] [doch jetzt] ir

66 honec ze gallen (Walth 10, XIII, 8) „Einst lebte die Christenheit und hatte wahren Glanz, doch ist ihr Honig zu Galle geworden‟ (Schaefer, S.251, Gedicht 96).16

Galle zum/im/beim/statt Honig

Mit der Negation Galle im Honig im Vers owê, wie uns mit süezen dingen ist vergeben!/ ich sihe die bittern gallen mitten in dem honige sweben (Walth 97, III, 2), von Schaefer übersetzt als „Ach, wie wir Gift aus Bechern voller Süβe trinken! Und in dem Honig seh‟ ich bittere Galle schweben‟ (Schaefer, S.205, Gedicht 72), will Walther sagen, dass die Freude verdorben und das Glück verloren ist.

4.6. Somatismen

Zuo dem beine, ze beine binden

Der Somatismus mit dem Lemma Bein in zuo dem/ ze beine binden, bedeutet jetzt einerseits „etwas auf sich nehmen, sich etwas aufbürden‟ oder andererseits „etwas nicht ernst nehmen‟. Im Walthers Vers (71,I,9) ich barc dîn ungefüege in friundes schôz,/ dîn leit bant ich ze beine,/mînen rugge ich nâch dir brach wird die erste Bedeutung gemeint. Die Übersetzung lautet also „Deine Wildheit schützte ich wie ein treuer Freund; was dich schmerzte, machte ich zu meinem Schmerz, meinen Rücken brach ich für dich‟ (Schaefer, S.353, Gedicht 184). Der Schmerz einer Person wird also von einer anderen Person auf sich genommen. Duden erwähnt noch immer die Wendung etwas ans Bein binden (umgangsprachlich) „etw einbüβen‟ (Duden 2002: 103) und auch Röhrich hat sie aufgenommen, aber mit einer anderen Erklärung, nämlich „etwas verloren geben, einen Verlust verschmerzen‟ (Röhrich 1995: 168). Diese Bedeutung wird von Geldsummen gebraucht. Röhrich gibt das Beispiel die 100 Mark binde ich ans Bein, was bedeutet, dass ich sie verloren gebe (Röhrich 1995: 168). Die richtige Erklärung des Somatismus etwas ans Bein binden ist, dass man „etwas nicht ans Herz gehen lassen will‟. Es besteht auch eine Wendung, die gerade den Gegensatz bedeutet, nämlich einem etwas auf die Seele binden und auch einem etwas ans Herz legen. Im heutigen Sprachgebrauch hat etwas ans Bein binden eine weitere und konkretere Bedeutung als im Mittelalter angenommen, nämlich „eine Sorge aufbürden‟ oder auch „einen behindern‟. Dieser Somatismus erinnert uns auf jeden Fall an die Bestrafung der Festungsgefangenen und Wilddiebe. Einen eisernen Ring mit einer schweren Kugel wurde

16 Schaefer übersetzt honec ze gallen als ‚Honig zu Galle‟ ohne Artikelgebrauch.

67 ihnen um das Fußgelenk gebunden. Auf diese Weise wurde eine Flucht behindert (Röhrich 1995: 169). In der zweiten Bedeutung „etwas nicht ernst nehmen‟ können wir diesen Somatismus im Neuhochdeutschen mit der Wendung etwas auf die leichte Schulter nehmen vergleichen.

Zwô zungen

Das Sprichwort und der Somatismus zwô zungen kennen wir heute noch in der Wendung mit gespaltener Zunge (mit zwei Zungen) reden. Sie hat die Bedeutung, dass jemand zum eigenen Vorteil je nach Situation gegenüber mehreren Personen verschiedene Aussagen äußert und also lügt und unaufrichtig, ohne Bedenken ist (Röhrich 1995: 1778). Zweimal hat Walther diesen Somatismus mit dem Lemma Zunge verwendet, nämlich innerhalb eines Sprichworts in zwo zunge stânt unebene in einem munde (Walth 4, VI, 12) und im Vers sîn valscheit tuot vil manegem dicke leit./ zwô zungen habent kalt und warm, die ligent in sîme rachen (Walth 29, 11). Schaefer übersetzt „Zwei Zungen passen schlecht in einen Mund‟ (Schaefer, S.283, Gedicht 116) bzw. „Zwei Zungen, kalt und warm, liegen ihm im Rachen‟ (Schaefer, S.313, Gedicht [142]).

Mit sëhenden ougen blint

Wenn „jemand unfähig ist, etwas eigentlich Sichtbares zu sehen‟ oder „jemand verblendet ist und das Offensichtliche nicht begreifen oder akzeptieren will‟, wird oft der Somatismus mit sëhenden ougen blint angeführt (Friedrich 2006: 319 ) Das ist auch der Fall bei Walther: ich was mit gesehenden ougen blint/ und aller guoten dinge ein kint,/ swie ich mîne missetât der welte hal (Walth 96, IV, 9), übersetzt als „Mit sehenden Augen war ich blind, kindisch verwirrt war mein Geist, da ich mein böses Leben vor der Welt verbarg‟ (Schaefer, S.203, Gedicht 71). Heute kennt man die Wendung noch einigermaßen in der Variante mit sehendem Auge in sein Unglück rennen/ laufen (Schemann 1998, S. 41b).

Niht ein hâr

Die Wendungen, die mit dem Wort Haar gebildet sind, haben oft Bezug auf die Feinheit oder auf die Menge des Haares (Röhrich 1995: 603). In daz entrœstet ni ein hâr/einen unsæligen lîp (Walth 90b, I, 3) bedeutet die Wendung ni ein hâr „nicht im Geringsten; überhaupt nicht(s); kein bisschen‟.

68 Heutzutage finden wir die Wendung in der Variante nicht [um] ein Haar im Duden zurück (Duden 2002: 307).

Ougenweide

Ougenweide, (jemandes) ougen weide, ist kompositionell univerbiert und bedeutet „der für jemanden schönste Anblick‟, bei Walther in die ougenweide sehent die fürsten gerne (Walth 9, I, 9) oder in sô möhte ich loben die süezen ougenweide (Walth 10,II,14) zurückzufinden. Auch das Neuhochdeutsche kennt noch immer das Wort Augenweide in der angegebenen Bedeutung.

Jemandem mit twërchen ougen ane sëhen

Der Somatismus jemandem mit twërchen ougen ane sëhen oder das Synonym von jemanden twërhes ane sëhen wird verwendet, wenn „jemand jemanden skeptisch oder abschätzig ansieht‟ (Friedrich 2006: 319). Im Neuhochdeutschen kennt man diese Wendung noch als jemanden schief/scheel ansehen. Deswegen hat Schaefer Walthers Vers sô wirde ich mit twerhen ougen/ schilhend an gesehen (Walth 33, II, 5) übersetzt als „Dann schielt man mich verächtlich und mit schiefem Blick an‟. (Schaefer, S.167, Gedicht 61). Im Duden hat die Wendung die Erklärung „jemandes Verhalten, Äuβerung missbilligen und ihm das [durch Blicke, Mienenspiel, o.a.] zu verstehen geben‟ bekommen (Duden 2002: 660).

4.7. Antonomasie

(Der) megde barn

Der reinen magede barn ist eine Antonomasie, ist eine Bezeichnung für Jesus und kommt einmal bei Walther im Vers hilf, frowe maget, hilf, megde barn (Walth 71, III, 6) vor.

69 5. Schlussfolgerung

5.1. Phraseologieforschung

Die Erforschung der Phraseologie ist hauptsächlich ein Bereich der neueren Linguistik. Erst in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts ist sie als Forschungsrichtung entstanden. Obwohl sie nur spät entstanden ist, verfügt sie doch über eine breite Palette an Forschungsaspekten. Sie befasst sich mit terminologischen und klassifikatorischen Fragestellungen und lexikalisch auch mit interlingualen kontrastiven Studien zu den europäischen Sprachen. Au erdem ist sie auch in der Neuropsycholinguistik tätig. Diese Forschungsrichtungen deuten darauf hin, dass die Phraseologieforschung nicht mehr von anderen wissenschaftlichen Disziplinen abzugrenzen ist.

Teil der Phraseologieforschung ist der historische Aspekt, wobei man ohne Zweifel noch an den Anfängen steht. Die gesamte Sekundärliteratur zum Deutschen enthielt im 20. Jahrhundert nur rund 250 Titel, die alle nur einen fragmentarischen Charakter haben und sich wiederum hauptsächlich auf die heutige Sprache beziehen. Zentrale Fragen, z.B. wie die einzelnen Phraseologismen entstanden, sind noch nicht ausdiskutiert. Man hat zwar Erklärungsversuche, aber die empirische Fundierung fehlt noch weitgehend.

Ziel von diesem Teil meiner Arbeit ist denn auch eine diachronische Untersuchung in Angriff zu nehmen, in der Phraseologismen in einer historischen Sprachstufe untersucht werden. Waren Phraseologismen schon im mittelhochdeutschen Minnesang, und zwar bei Walther von der Vogelweide im Gebrauch? Sind die Phraseologismen, die Walther von der Vogelweide verwendete, noch in der zeitgenössischen Sprache wiederzufinden? Und sind diese dann im Laufe der Jahre bewahrt und sogar stabil geblieben oder haben sie sich zu einer Variante entwickelt, wenn sie wenigstens nicht verschwunden sind?

Unter Phraseologie versteht man sowohl die Gesamtheit aller phraseologischen Einheiten wie auch deren wissenschaftliche Erforschung. Die spezifischen Merkmale der Phraseologismen sind die Figuriertheit (Idiomatizität), die Festgeprägtheit (Festigkeit) und die Lexikalisierung und Reproduzierbarkeit.

5.2. Klassifkation

Im Laufe der Zeit haben sich Forscher über die Klassifikation und Terminologien geeinigt. Die Klassen werden im Großen und Ganzen übereinstimmend definiert, wobei

70 meistens eine Kombination von semantischen, syntaktischen und pragmatischen Kriterien verwendet wird.

5.2.1. Basisklassifikation

Die Basisklassifikation besteht darin, dass der Gesamtbereich der Phraseologie gegeliedert wird. Vor allem das Kriterium der Zeichenfunktion wird berücksichtigt.

Die referentiellen Phraseologismen beziehen sich auf Objekte, Vorgänge oder Sachverhalte der Wirklichkeit. Die strukturellen Phraseologismen haben nur eine Funktion innerhalb der Sprache. Zweck dieser Funktion ist das Herstellen von (grammatischen) Relationen. Die kommunikativen Phraseologismen haben eine bestimmte Aufgabe bei der Herstellung, dem Vollzug und der Beendigung kommunikativer Handlungen.

5.2.2. Spezielle Klassen

In der Basisklassifikation werden die speziellen Klassen nicht erfasst, weil sie unter einem speziellen Kriterium einzelne Gruppen herausgreifen; diese können außerdem in verschiedenen Klassen auftreten.

(i) Erstens hat man die Paar- oder Zwillingsformeln, die entweder syndetisch durch Konjunktionen oder Präpositionen, oder asyndetisch miteinander verbunden sind. Zwillingsformeln vertreten die verschiedenen Idiomatizitätsgrade und sind also Ausdrücke, die semantisch in unterschiedlicher Bedeutung zueinander stehen.

Neben den Paarformeln hat man die Routineformeln, die in zwei Typen unterteilt werden, nämlich eine Klasse der Gruß-, Glückwunsch- und andere Arten von Formeln, und eine Klasse von Formeln, die in der mündlichen Kommunikation eine Rolle spielen. Die Routineformeln kann man funktional in vier Gruppen klassifizieren, nämlich nach der Kontaktfunktion, der Verhaltenssicherheit, der Konventionalitätsfunktion und nach der gesprächssteuernden und metakommunikativen Funktion.

Eine letzte Art von Formeln sind die aufzählenden Paarformeln, wo die aufzählenden Elemente nicht direkt aufeinander bezogen sind; sie können aber doch als phraseologisch aufgefasst werden.

(ii) Neben den Paarformeln hat man zweitens die komparativen Phraseologismen, die einen festen Vergleich mit einem secundum oder tertium comparationis enthalten.

71 (iii) Somatismen drittens sind Phraseologismen, die einen oder mehrere Körperteile als nominale Komponenten enthalten. Eine Sonderklasse der Somatismen sind die Phraseologismen, die Emotionen darstellen. Beim Zusammenspiel von Körper und Sprache spricht man von Phraseogesten oder Kinegrammen.

(iv) Viertens haben wir die spezielle Klasse der Sprichwörter. Sie werden zur Phraseologie gerechnet, weil sie die Grundmerkmale eines Phraseologismus erfüllen.

Die soziale Funktion des Sprichworts enthält die Formulierungen von Überzeugungen, Werten und Normen. Die regulative Funktion enthält die Anleitung zum Handeln. Die pragmatische kontextuelle Funktion ist die Erfüllung verschiedener Aufgaben in den Kommunikationssituationen. *

Um nun ein deutliches Bild über die Phraseologie bei Walther von der Vogelweide zu bekommen, wurden alle Phraseologismen, die aus seinem Oeuvre und bei Jesko Friedrich aufgenommen sind, herausgesucht. Es war selbstverständlich unmöglich, in dieser Arbeit alle Klassen von Phraseologismen zu untersuchen und zu besprechen. Daher musste ich mich auf die gebräuchlichsten Untergruppen der Phraseologie beschränken. Es handelt sich um die wichtigen Gruppen der Paarformeln, Routineformeln, Vergleiche, Sprichwörter, Somatismen, bildliche Negationen und Antonomasien.

Die Befunde zeigen, dass die Phraseologismen schon im mittelhochdeutschen Minnesang und bei Walther von der Vogelweide reichlich anwesend waren. Es ist oft so, dass im Neuhochdeutschen derselbe Phraseologismus, manchmal aber in einer einigermaβen anderen Variante, wiederzufinden ist.

Von den untersuchten Phraseologismen sind bei den Paar- und Drillingsformeln noch 9 von den 16 Wendungen im Neuhochdeutschen üblich. Es handelt sich um die Formeln: weder haz noch nît, lanc unde breit, lôp unde êre, Junc unde Alt, spreu und weizen, hût unde hâr, kriechen unde vliegen, nôt unde arebeit und wort unde werc. Von diesen Formeln gibt es Wendungen, die heutzutage in einer wie auch immer gearteten Variante vorkommen, nämlich spreu unde weizen ist nur noch anzutreffen in die Spreu vom Weizen trennen. Auch bei hût unde hâr hat sich eine Variante durchgesetzt; jetzt ist die Paarformel nämlich nur noch in der präpositionalen Wendung mit Haut und Haar üblich. Kriechen unde vliegen kennen wir in der Form alles, was da kreucht und fleucht, wobei die alten Bedeutungsformen der Verben

72 bewahrt sind. Nôt unde arbeit schlieβlich ist noch in der modernen präpositionalen Wendung mit [knapper] Mühe unde Not anwesend.

Bei den Routineformeln werden noch 2 (vom 4) Wendungen in der heutigen Sprache verwendet, aber nur in einer veralteten Variante. Es handelt sich hier um die Routineformeln sô dir got hëlfe/ sô hëlfe iu got und bi mînen triuwen. Für die erste Routineformel gibt es die alte Variante helf dir Gott und für die zweite gibt es nur die Variante ohne Präposition, nämlich meiner Treue.

Von den mittelhochdeutschen Sprichwörtern ist im Neuhochdeutschen kaum ein einziges unverändert bewahrt geblieben. Entweder ist das Sprichwort völlig verschwunden, wie z.B. bei Armen man mit guoten sinnen sol man für den rîchen minnen, daz anegenge ist selten guot, daz boesez ende hât, der Böse hasst den Anständigen, jemandes ôsterlicher tac sîn, und niht visch biz an den grât sîn, oder es hat sich eine kleine Variante entwickelt, wie im heutigen Sprichwort Honig im Mund, Galle im Herzen, wo die Präposition im hinzugekommen ist, sowie in wer die Rute schont, hasst sein Kind, wo die Rute den mittelhochdeutschen besmen ersetzt. Es könnte aber auch sein, dass sich ein anderes Sprichwort mit derselben oder ungefähr derselben Bedeutung entwickelt hat, nämlich vor Liebe blind sein neben Liebe macht blind, durch Schaden wird man klug/ selten ein Schaden wo nicht ein Nutzen dabei ist statt des mittelhochdeutschen ein schade ist guot, der zwêne frummen gewinnet, sowie wie man sich bettet, so liegt man statt selbe taete, selbe habe.

Die komparativen Phraseologismen bei Walther sind in der zeitgenössischen Sprache noch stark vertreten. Nicht mehr üblich sind die Vergleiche wie alse ars unde mâne, slipfic als ein îs, vinster sam der tôt und der Vergleich mit dem Falken. Völlig bewahrt ist das Bild der Kraft eines Löwen, aber auch die Oxymora swarz als ein snê und unsenfte als ein sîde können heutzutage, z.B. schwarzer Schnee sehen, verwendet werden. Bewahrt in einer einigermaβen anderen Variante oder einem Sprichwort sind sich winden wie ein Aal, wo die Elemente aus der Hand aus dem Mittelhochdeutschen verschwunden sind, sowie zum Spielball werden, wo nur noch das Element Ball bewahrt ist, die Bedeutung aber dieselbe ist als in ballen wîs. Die Vergleiche mit rot, vor allem so rot wie blut/blutrot, werden in der zeitgenössischen Sprache auch noch frequent verwendet. Veste als ein stein ist heute vor allem in dem zum Adjektiv univerbierten Wort steinhart üblich.

Die bildlichen Negationen, die Walther in seinem Werk verwendet hat und die ich herausgesucht habe, sind im Neuhochdeutschen völlig verschwunden.

73 Die Somatismen sind im Neuhochdeutschen noch sehr stark vertreten. Alle Somatismen, die ich untersucht habe, sind noch gewissermaβen heutzutage wiederzufinden. Zuo dem beine binden kommt heute noch in der Wendung etwas ans Bein binden vor, hat aber eine konkretere Bedeutung als im Mittelalter bekommen, nämlich „eine Sorge aufbürden‟ oder „einen behindern‟. Auch der Somatismus zwô zungen kennen wir heute noch in der Wendung mit gespaltener Zunge (mit zwei Zungen) reden. Mit sëhenden ougen blint kennt man heute noch einigermaβen in der Variante mit sehendem Auge in sein Unglück rennen. Niht ein hâr hat heutzutage auch noch eine Variante mit fakultativem um: nicht [um] ein Haar. Das Neuhochdeutsche kennt heute auch noch immer das Wort Augenweide und der Somatismus jemandem mit twërhen ougen ane sëhen kennt das Neuhochdeutsche noch in der Wendung jemanden schief/scheel ansehen.

Schlieβlich ist auch die Antonomasie (der) megde Barn „Kind der Magd‟ noch in der neuhochdeutschen biblischen Sprache anwesend.

Die Bedeutung der Phraseologismen blieb im Neuhochdeutschen normalerweise beibehalten, aber, wie im 5. Kapitel angezeigt, kann bei einer neu entstandenen Variante auch die Bedeutung manchmal eine andere geworden sein. So hat z.B. die Paarformel lanc unde breit im Neuhochdeutschen eine spezifischere Bedeutung, nämlich „in aller Ausführlichkeit‟ statt „groβ‟ bekommen.

Die Phraseologismen bei Walther von der Vogelweide sind also im Neuhochdeutschen noch weitgehend vertreten. Von den 55 Phraseologismen werden noch 31 Phraseologismen verwendet, doch meistens nicht mehr in ihrer ursprünglichen mittelhochdeutschen Form. Im Laufe der Jahrhunderte hat sie vorwiegend eine leicht abweichende Variante entwickelt und wurde manchmal eine andere Bedeutung angenommen.

Es ist noch immer viel zu untersuchen im Bereich der Phraseologie und vor allem in der historischen Phraseologie. Viele andere phraseologische Bereiche müssen bei Walther noch analysiert und verglichen werden in anderen Sprachstufen, anderen Sprachen und Textsorten. Vielleicht könnte diese Arbeit ein Ansatz zu einer weiteren oder neuen Untersuchung sein.

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Anhang I

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76 Aal - Der sich dem man windet ûz der hant reht als ein âl, /owê, daz got niht zorneclîchen sêre an deme wundert! (Walth 11, XVI,6). „Die uns wie Aale aus den Händen gleiten, ach, dass der Wundertäter Gott sie nicht schlägt in seinem Zorn!‟ (Schaefer, S.313 Gedicht 141).

Anfang - Man hœret an der rede wol, wie ez umbe daz herze stât./ daz anegenge ist selten guot, daz bœsez ende hât (Walth 55, V, 13). „Man hört aus den Worten das Herz, und: niemals ist ein Anfang gut, der ein schlimmes Ende hat‟ (Schaefer, S.273, Gedicht 109).

Arm - Armen man mit guoten sinnen/sol man für den rîchen minnen,/ob er êren niht engert (Walth 10, I, 7). „Den Armen, der edel denkt, soll man mehr lieben als den Reichen, der nicht in Ehre leben will‟ (Schaefer, S. 241, Gedicht 87).

Arsch - Singent ir einez, er singet driu,/ daz gelîchet sich rehte alse ars und mâne (Walth 8a, A,10). „Singt Ihr ein Lied, so singt er drei, Ihr gleicht ihm wie er Steiβ dem Mond‟ (Schaefer, S. 267, Gedicht [105]).

Auge - Ich was mit gesehenden ougen blint/ und aller guoten dinge ein kint,/ swie ich mîne missetât der welte hal (Walth 96,IV,9). „Mit sehenden Augen war ich blind, kindisch verwirrt war mein Geist, da ich mein böses Leben vor der Welt verbarg‟ (Schaefer, S.203, Gedicht 71).

- Die ougenweide sehent die fürsten gerne (Walth 9,I,9). „Die Fürsten lieben dieses Bild des Glücks‟ (Schaefer, S. 231, Gedicht 80).

77 - Sô möhte ich loben die süezen ougenweide (Walth 10,II,14). „So könnte ich loben und preisen, was so strahlend die Augen beglückt‟ (Schaefer, S. 245, Gedicht 89).

- Sô wirde ich mit twerhen ougen/ schilhend an gesehen (Walth 33,II,5). „Dann schielt man mich verächtlich und mit schiefem Blick an‟ (Schaefer, S. 167, Gedicht 61).

Ball - Swer mir ist slipfic als ein îs/und mich ûf hebt in balles wîs (Walth 54,VII,1). „Wer selber schlüpfrig ist wie ein Stück Eis und mich aufheben will wie einen Ball‟ (Schaefer, S. 337, Gedicht 168).

Barn - Hilf, frowe maget, hilf, megde barn (Walth 71,III,6). „Helft, Herrin, Jungfrau und der Jungfrau Kind‟ (Schaefer, S. 355, Gedicht 186).

Bein - Ich barc dîn ungefüege in friundes schôz,/ dîn leit bant ich ze beine,/mînen rugge ich nâch dir brach (Walth 71,I,9). „Deine Wildheit schützte ich wie ein treuer Freund; was dich schmerzte, machte ich zu meinem Schmerz, meinen Rücken brach ich für dich‟ (Schaefer, S.353, Gedicht 184).

Besmen - [Salomon] sprichet, swer den besmen spar, / daz der den sun versûme gar (Walth 10, IX, 4). „Der sagt, daβ, wer die Rute spart, seinen Sohn vernachlässigt und ihn verderbt‟ (Schaefer, S.249, Gedicht 94).

78 Böse - Swen die bœsen hazzent âne sîne schult,/ daz kümet von sîner frumecheit (Walth 50, III, 3). „Wenn einen die Bösen hassen, ohne daβ er Böses tat, dan nur weil er gut und edel ist‟ (Schaefer, S. 149, Gedicht 56).

Breit - Mehtiger got, dû bist sô lanc und sô breit (Walth L3,I,1). „Gewaltiger Gott, du bist so groβ und weit‟ (Schaefer, S. 347, Gedichte 180).

- gelîche lanc, gelîche breit, liep unde leit, der wolte ouch daz wir trüegen (Walth L7,5ff).

Ehre - Des sî dir lop und êre geseit, Mariâ künigîn (Walth C12a, III, 8).

- Dir ist niht kunt,/wie man mit gâbe erwibet prîs und êre (Walth 9, III, 6). „Du weiβt nicht, wie man durch Schenken zu Ruhm und Ansehen kommt‟ (Schaefer, S. 233, Gedicht 82).

Falke - Swâ nû zuo hove dienet der hêrre sîme knechte/unde swâ der valke vor dem raben stêt zuo rechte,/ dâ spürt man offenlîch unart, unadel unde ungeschlechte (Walth, 11,XVII,2).

Fisch - Lîp, lâ die minne, diu dich lât,/ und habe die stæten minne wert./ mich dunket, der dû hâst gegert,/ diu sî niht visch unz an den grât (Walth 43,IV,12). „Leib, lass die Liebe fallen, die dich fallen lässt, und liebe die ewige Liebe. Ich glaube, die du suchtest war nicht bis in die Tiefe wahr und ganz‟ (Schaefer, S.199, Gedicht 69).

79 Frau - Swer guotes wîbes minne hât, der schamt sich aller missetât (Walth 93, 17). „Wem eine wahre Frau ihre Liebe gab, der schämt sich, je Böse zu tun‟ (Schaefer, S. 129, Gedicht 48).

Fuβ - Obe ich ie getræte/fuoz von miner stæte (Walth 35,II,6). „Ob je mein Fuβ den Weg der Treue verlieβ‟ (Schaefer, S.175, Gedicht 64).

- Wir volgen ime und komen niemer fuoz ûz sînem spor (Walth 12,XVII,4). „Und wir folgen seinen Spuren, Schritt für Schritt‟ (Schaefer, S. 301, Gedicht 131).

Galle - Diu zunge honeget und daz herze gallen hât (Walth 11, XII, 5). „Die Zunge honig, und Galle das Herz‟ (Schaefer, S. 311, Gedicht 140).

- Ez stuont diu kristenheit mit zühten schône, [...] [doch jetzt] ir honec zegallen, den ungeluck also die krumbe furte [dass er im Kampf starb] (Walth 10,XIII,8). „Einst lebte die Christenheit, wie sich‟s gebührt, und hatte wahren Glanz, doch dieses Geschenk ist ihr zu Gift geworden, ihr Honig zu Galle‟ (Schaefer, S.251, Gedicht 96).

- Owê, wie uns mit süezen dingen ist vergeben!/ ich sihe die bittern gallen mitten in dem honige sweben (Walth 97,III,2). „Ach, wie wir Gift aus Bechern voller Süβe trinken! Und in dem Honig seh‟ ich bittere Galle schweben‟ (Schaefer, S. 205, Gedicht 72).

Gerte - Nieman kan mit gerten kindes zuht beherten (Walth 87,1). „Niemand kann mit Ruten Kindererziehung erzwingen‟ (Schaefer, S.359, Gedicht 187).

80 Gold - Golt, silber, ros und dar zuo kleider,/ die gap ich unde hât ouch mê (Walth 10, XII,12). „Gold, Silber, Pferde und Gewänder verschenkte ich und hatte noch viel mehr zu geben‟ ( Schaefer, S.247, Gedicht 91).

Groβ - Sîn junger lîp wart beide michel und grôz (Walth 11, III, 9). „Sein junger Körper wurde hoch und groβ‟ (Schaefer, S.315, Gedicht 145).

Haar - Wê ir hiuten und ir hâren (Walth 10,X,11). „Das Fell sollte man ihnen gerben und das Haar abschneiden‟ (Schaefer, S. 247, Gedicht 92).

- Daz entrœstet ni ein hâr/einen unsæligen lîp (Walth 90b, I, 3).

Hass

- Die schamelôsen, liezen si mich âne nôt, sô hæt ich weder haz noch nît (Walth 40, IV,2). „Hätte ich vor ihnen Ruhe, die solche Scham nicht kennen, dann träfen Haβ und Feindschaft mich nicht‟ (Schaefer, S.141, Gedicht 53).

- Ich bin iu eines dinges holt, haz unde nît (Walth L59,1). „Bosheit und Haβ, eins gefällt mir an euch‟ (Schaefer, 117, Gedicht 44).

- Nît unde haz die hânt sich ûf den wec geleit (Walth L26,20). „Zorn und Haβ liegen auf der Straβe‟ (Schaefer, 321, Gedicht [151]).

- Al mîn ungelücke wil ich schaffen jenen die sich hazzes unde nîdes gerne wenen (Walth L60,38). „All mein Unglück vererbe ich denen, die Haβ und Zorn lieben‟ (Schaefer, 215, Gedicht [75]).

81 - Bi der schoene ist dicke haz (Walth 50: 1). „Oft stehen bei der Schönheit die bösen Gedanken‟ (Schaefer, S. 92, Gedicht 35).

Helfen - Sô helfe iu got, herre junger man (Walth 49, V,5). - Nû helf iuch got, her junge man (Walth 49a, III,5). „Gott stehe Euch bei, Herr Jüngling‟ (Schaefer, S.89, Gedicht 34).

Jung - Dû twingest beide junc unde alt (Walth 31, VI, 3). „Alle bezwingst du, Junge und Alte‟ (Schaefer, S.69, Gedicht 26).

Kriechen - Swaz kriuchet unde vliuget/ und bein zer erden biuget,/daz sach ich unde sag iu daz:/ der dekeinez lebet âne haz (Walth 2,II,5). „Ich sah, was kriecht und fliegt und auf der Erde geht, und sage: ihnen allen ist Feindschaft nicht fremd‟ (Schaefer, S. 225, Gedicht 77).

Lauter - Ir lop ist lûter unde clâr (Walth L11, VI, 7). „rein und lauter ist ihr Preis‟ (Schaefer, S. 323, Gedicht [153]).

Leien - Dô sich begunden zweien die pfaffen unde leien (Walth 9, 24). „Als Kirche und Welt sich entzweiten‟ ( Schaefer, S. 225, Gedicht 78).

- Muget ir schouwen, waz dem meien/wunders ist beschert?/ seht an pfaffen, seht an leien,/ wie daz allez vert (Walth 28, I, 3). „Schaut doch, wieviel Wunderbares sich dem Maien schenkt. Schaut alle Welt in buntem, glücklichem Leben‟ (Schaefer, S. 43, Gedicht 16).

82 Liebe - Swen die minne blendet, wie mac der gesehen? (Walth 44, V, 7). „Wenn die Liebe blendet, wie soll der sehen können?‟ (Schaefer, S. 73, Gedicht 28).

- liebe machet schoene wip (Walth 50, 5). „Liebe macht Frauen schön‟ (Schaefer, S. 92,Gedicht 35).

Liegen - Zehen Versagen sint bezzer danne ein liegen (Walth 80,14). „Zehn Nein sind besser als ein gelogenes Ja‟ (Schaefer, S. 333, Gedicht 163).

Löwe - Ir tragt zwei keisers ellen:/ des arn tugent, des lewen craft,/ die sint des hêrren zeichen an dem schilte (Walth 4,V,8). „Zweifach tragt Ihr kaiserliche Kraft: des Adlers edlen Sinn, des Löwen Stärke: das sind auf dem Schild die Wappentiere des Hern‟ (Schaefer, S. 279, Gedicht 113).

Mut - Nieman ritter wesen mac […], im gebreste muotes,/ lîbes alder guotes (Walth 58,VI,3).

Nacht - got gebe iu, frowe, guote naht (Walth 70, IV,9). „Gott schenke Euch, werte Dame, eine gute Nacht‟ (Schaefer, S.201, Gedicht 70).

Not - lîde ich nôt unde arebeit ( Walth 29,III,5). „Not und Mühe beklage ich nicht‟ (Schaefer, S. 83, Gedichte 32).

83 Offen - Hüetent iuwere ougen/ offenbâr unde tougen (Walth 58,III,2). „Eure Augen nehmt in acht, wenn sie offen und heimlich schauen‟ (Schaefer, S.359, Gedicht 187).

Rose - Dîn munt ist rœter danne ein liehte rôse in touwes blüete (Walth 11,VI,3). „Rot sind sein Lippe wie die leuchtende Rose in der Feuchtigkeit des Taus‟ (Schaefer, S. 323, Gedicht [153]).

Schaden - Ein schade ist guot, der zwêne frumen gewinnet (Walth 9, III, 12). „Gut ist ein Schaden, der zweifach nützt‟ (Schaefer, S.233, Gedicht 82).

Schwarz - Dîn süezer lîp ist unsenfte als ein sîde,/swarz als ein snê (Walth 113, VI, 3).

Seide - Dîn süezer lîp ist unsenfte als ein sîde,/swarz als ein snê (Walth 113, VI, 3).

Spreu - Er solt ez doch iemer hân vor iu/ alsô der weize vor der spriu (Walth 8a, A, 8). „Ist er Euch noch immer weit voraus, wie beim Sieben Weizen vor der Spreu‟ (Schaefer, S. 267, Gedicht [105]).

Stein - Des mannes muot sol veste sîn als ein stein (Walth 11, XVI, 9). „Fest wie ein Fels soll das Herz der Menschen sein‟ (Schaefer, S. 313, Gedicht 141).

84 Strang - Her keiser, swenne ir Tiuschen fride/ gemachet stæte bî der wide/ sô bietent iu die fremeden zungen êre (Walth 4,V,2). „Herr Kaiser, wenn Ihr bei Strafe des Stranges Deutschland einen dauernden Frieden gegeben habt, dann huldigen Euch alle Völker‟ (Schaefer, S. 278, Gedicht 113).

Tag - Got gebe ir iemer guoten tac (Walth 92, I, 1). „Gott, gib ihr immer gute Tage‟ (Schaefer, S. 11, Gedicht 4).

- Er giht, wenne sîn ouge ein wîp ersiht,/ si sî sîn ôsterlîcher tac (Walth 81, I, 4). „Wenn er die eine Frau erblickt, so sagt er nämlich, sie sei sein Osterfest‟ (Schaefer, S. 21, Gedicht 7).

Tat - Sol mir an ir misselingen/sô muoz in [der mich bei ihr verleumdet hat] mîn sorge twingen./ tôre, kum dîns fluoches abe,/ selbe tæte, sëlbe habe! (Walth 108, III, 5).

Tod - Diu welt ist ûzen schœne [...] und innan swarzer varwe, vinster sam der tôt (Walth 97, III, 4). „Die Welt ist auβen schön [...] und innen schwarz und dunkel wie der Tod‟ (Schaefer, S. 205, Gedicht 72).

Treue - Ich wil ez bî mînen triuwen sagen ( Walth 55, III, 4). „Doch sag‟ ich‟s frei heraus‟ ( Schaefer, S. 275, Gedicht 111).

Wind - So ist mîn schœne ein wint (Walth 88,III,4). „Wohl ist‟s mit meiner Schönheit nichts‟ (Schaefer, S. 65, Gedicht 25).

85 - Lâ dîr den Kristen zuo den heiden sîn als den wint (Walth 3,II,3). „Doch nicht die Heiden, auch die Christen achte für nichts‟ (Schaefer, S. 349, Gedicht 181).

Wort - Sô pflegent die knehte gar unhövescher dinge/ mit worten und mit werken ouch (Walth 10,X,4). „Und um so wüster führen sich die Knappen auf in dem, was sie reden und tun‟ (Schaefer, S. 247, Gedicht 92).

- Swelch kristen kristentuomes giht an worten und an werken niht, der ist wol halp ein heiden (Walth 1,II,*b4,4). „Ein Christ, der sich zum Christentum bekennt mit Worten, nicht mit Werken, der ist halb ein Heiden‟ (Schaefer, S. 381, Gedicht 192; 8, 2a).

Wunder - Mich nimt immer wunder, waz ein wîp/an mir habe ersehen/Dazs ir zouber leit an mînen lîp (Walth 88,I,1). „Immer muss ich mich fragen: was sieht diese Frau an mir, dass sie mich so verzaubert‟ (Schaefer, S.65, Gedicht 25).

Zein - Êst al ein, sleht und ebener danne ein zein (Walth 7,VI,6). „Alle sind eins, glatt undgerade wie ein Pfeil‟ (Schaefer, S. 191, Gedicht 68).

Zögern

- Sumen schât dem snit und schât er saete (Walth 85, 24). „Zögern schadet der Ernte und schadet der Saat‟ (Schaefer, S. 347, Gedicht 178).

Zunge - Zwo zunge stânt unebene in einem munde (Walth 4, VI, 12). „Zwei Zungen passen schlecht in einen Mund‟ (Schaefer, S. 283, Gedicht 116).

86 - Sîn valscheit tuot vil manegem dicke leit./ zwô zungen habent kalt und warm, die ligent in sîme rachen (Walth 29,11). „Zwei Zungen, kalt und warm, liegen ihm im Rachen‟ (Schaefer, S. 313, Gedicht [142]).

87

88

Teil II: Höfische Schlagwörter bei Walther von der Vogelweide

Walther von der Vogelweide nach einer Miniatur in der berühmten Manessischen Liederhandschrift (jetzt in der Heidelberger UB)

89 90 1. Einführung

In diesem Teil meiner Arbeit wird versucht, die mittelalterliche deutsche Sprache und Kultur an Hand von Wörtern und Begriffen, die in der Dichtung von Walther von der Vogelweide anwesend sind, zu illustrieren, denn Minnesanc als Ausdruck ist zuerst bei Walther von der Vogelweide (Walth 66,31) wiederzufinden. Es handelt sich um die höfischen Wörter, die mit den Wertvorstellungen des Adels verbunden sind. Diese Wörter zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte verfügen selten über ein festes semantisches Profil, deswegen muss sich der Leser der semantischen Offenheit der Wörter bewusst sein. Der Minnesang hat als Standespoesie im höfischen Kreis eine festgefügte Sprache, in der der Wortschatz besonders charakterisiert ist. Der Wortschatz des Minnesangs steht im Zeichen der mâze, und die Minnesänger verwenden viele Variationen, um die hergebrachten Motive in überkommenen Ausdrücken, wie z.B. minne, liebe, êre, triuwe, staete, zu schildern. Diese Begriffe gehören alle zum ritterlichen Tugendsystem, d.h. dem höfischen Ritterideal, dem Ideal der Courtoisie und der höfischen Vollkommenheit. Schon in der Epik zu König Artus und in den Liedern der Trobadors und Minnesänger wurde das Ideal, wo die Liebe als höchster gesellschaftlicher Wert steht, verwirklicht (Bumke 1987: 381). Im Minnedienst und auch im Ritterkampf hatten die Helden vor, höfische Vorbildlichkeit zu erwerben. Dieser höfische Dichter und auch die höfische Dame waren jahrhundertelang die gesellschaftlichen Leitbilder. Die höfische Tugendlehre wurde kaum in einer anderen Form als die poetische vorgetragen, und obwohl von den Dichtern ganze Tugendkataloge aufgeführt wurden, hatten sie kaum Interrese an einem System der Begriffe (Bumke 1987: 416). Über die Grundlage des höfischen Gesellschaftsideals auf historischer Ebene gibt es noch immer eine wissenschaftliche Diskussion (Bumke 1987: 382). Gustav Ehrismann glaubte missverständlich, die antike Tugendlehre von Cicero bildete die Grundlage für das System der höfischen Ritterethik. Genau diese Aussage Ehrismanns war der Ansatz zu dieser groβen wissenschaftlichen Diskussion in der Germanistik, die vom Romanisten Ernst Robert Curtius ausgelöst wurde (Bumke 1987: 416). Doch konnte der Streit im Laufe der Geschichte nicht aufgeklärt werden und, sagt Bumke, “ein [möglicher] Zusammenhang zwischen der Ausbildung des adligen Gesellschaftsideals und der Antikrezeption im 12. Jahrhundert konnte nicht erklärt werden” (Bumke 1987: 416). Deswegen hat die Forschung keine andere Möglichkeit als, gerade wie Ehrismann (1916), die Vorstellungen und Begriffe der ritterlichen Vorbildlichkeit in der Literatur in einen Bestand aufzunehmen und zu analysieren.

91 Das Spektrum, das den Rittern den Weg zur Vollkommenheit zeigte, war breit. Bumke gibt als Beispiel für die Lehre in der Literatur, das Gedicht aus dem 13. Jahrhundert Der Lehrer, der die jungen Adligen anwies, wie sie sich richtig verhalten sollten: Minne in von allem mute/ wene dich der tugent/ vlis dich schoner gebere/ sag niht schalkhaft mere/ wis biberbe und wol gezogen/ den geburen nit den vertrage/ nige im der dir rehte sage/ lerne tugent alle tage/ furht die helle/ volge Gotes lere/ dinen vater und dine muter ere/ hore gernen der wisen rat/ beschirme die armen [...]

„Liebe Gott aus ganzer Kraft/gewöhne dich an Tugend/bemühe dich um gutes Benehmen/ Rede nicht bosartig/ Sei brav und anständig/ Ertrage den Haβ der Bauern/ Danke dem, der aufrichtig zu dir spricht/ Laβ dich jeden Tag von der Tugend belehren/ Fürchte die Hölle/ Folge der Lehre Gottes/ Ehre Vater und Mutter/ Höre auf den Rat der Weisen/ Beschütze die Armen [...]‟ (Bumke 1987: 417).

Die gemeinsame Grundlage der Lehren der höfischen Vollkommenheit in der Literatur bildet eine Basis von christlichen Geboten. Die höfische Dichter haben durch die geistlichen Quellen wahrscheinlich Kenntniss davon genommen. In diesen religiösen Rittertugenden hat der Begriff Demut eine wichtige Stelle eingenommen. Diese Demut des Ritters äuβert sich in Mitleid und Barmherzigkeit gegenüber den Menschen, d.h. u.a. im Schutz der Hilfsbedürftigen und Notleidenden. Vor allem aber darf der Ritter, selbst wenn er sich selber verloren hatte, Gott nicht die Treue versagen. Er soll “regelmäβig die Kirche besuchen und den Geistlichen mit Ehre begegnen” (Bumke 1987: 418). Die adlige Gesellschaftskultur und die Verbindung der weltlichen Werte mit ihren Tugendbegriffen, sowohl des Herrscherideals als der religiösen Kreuzzugsethik, kennzeichnet die poetische Darstellung des höfischen Rittertums (Bumke 1987: 419). Um die Vollkommenheit und Vortrefflichkeit des Ritters auszudrücken, verwendeten die Dichter verschiedene, auszeichnende Prädikate, wie z.B. guot (cfr. S.96), tiure (cfr. S.112), wert (cfr. S.117), mâze (cfr. S.100), staete (cfr. S.111), usw. Es ist der Gebrauch dieser höfischen Schlagwörter, besonders der abstrakten höfischen Leitwörter des Schmerzes, des Wertes und der Hoffnung bei Walther von der Vogelweide, die ich im nächsten Abschnitt untersuchen werde.

92 2. Befunde

Jetzt schreite ich, wie im ersten Teil, wiederum zum Untersuchungsmaterial, aber bevor ich die Ergebnisse bei Walther von der Vogelweide präsentiere, will ich kurz auf die spezifische Auswahl der Schlagwörter eingehen. Da es unmöglich wäre, alle höfischen Schlagwörter bei Walther zu besprechen und zu untersuchen, bevorzugte ich die Abstrakta. Ich beschränkte mich auf die Wörter des Wertes wie saelde, tiure und wert/wirde/werdekeit, auf die Wörter des Schmerzes, nämlich sorge, arebeit und kumber, auf die der Hoffnung: wân, trôst, gedinge und auf die der höfischen Tugende: muot, êre und varnde guot, mâze, dienest, hövesch, kiusche, schoene, staete, triuwe, zuht, tugent, wünne/ vröude und hôher muot. Die vielen mittelhochdeutschen Abstrakta sind aber nicht fest zu umreiβen.Um die Wörter bei Walther zu ermitteln und zu untersuchen, zog ich drei wichtige Arbeiten heran. Im Buch von Otfrid Ehrismann Ehre und Mut, aventiure und Minne. Höfische Wortgeschichten aus dem Mittelalter (1999) werden verschiedene höfische Schlagwörter besprochen, die auch in meiner Untersuchung eine wichtige Rolle spielen. Zweitens war die Arbeit von Heinrich Götz Leitwörter des Minnesangs (1957) eine sehr hilfreiche Quelle, insbesondere für die Wörter des Schmerzes, der Hoffnung und des Wertes. Die dritte Quelle ist das Mittelhochdeutsches Reimwörterbuch. Glossarium zu den Gedichten Walthers von der Vogelweide von Georg Holms (1979), das alle Stellen, wo sich ein bestimmtes obengenanntes Schlagwort befand, vermerkt. Deswegen war das Buch sehr nützlich, weil ich auf diese Weise leichter verschiedene Belege in meiner Arbeit aufnehmen konnte. Für weitere Beispiele verweise ich am Ende des besprochenen Wortes immer auf die diesbezügliche Seite aus Holms Glossarium. Das Buch von Schaefer Walther von der Vogelweide. Werke (1973) zog ich wiederum heran, um die genaue moderne Übersetzung der Belege aus Walthers Originaltexten zu finden. Wenn die Übersetzung einer Stelle aus Walther von der Vogelweides Werke in meiner Analyse aber nicht zitiert wird, war die Übersetzung nicht vorhanden An Hand aller dieser Werke wurde es also ermöglicht, zu untersuchen, welche abstrakte Schlagwörter bei Walther von der Vogelweide gebräuchlich sind.

93 2.1. Arebeit

Arebeit wurde im Minnesang sowohl auβerhalb als innerhalb des Minnebereichs verwendet. Auβerhalb des Minnebereichs hat es bei Walther die Bedeutung „Mühe, Anstrengung, die der Mensch auf etwas verwendet‟: lât mich an eime stabe gân/ und werben umbe werdekeit/ mit unverzageter arebeit (Walth 66, 35) „Ginge ich auch am Bettelstab- suche ich dabei mit unverdrossener Mühe Ehre und Wert‟ (Schaefer, S.195, Gedicht 69). Arebeit kann auβerdem auch eine Sicherung der materiellen Existenz sein, wie in aller arebeite heten wir vergezzen (Walth 13, 21) „Wir vergaβen alles Tun‟ (Schaefer, S.183, Gedicht 66). Manchmal handelt es sich auch um eine geistige arebeit, wie z.B. in mehtiger Got, dû bist sô breit,/ gedaeht wir dâ nâch, daz wir unser arebeit/ verlürn! dir sint ungemezzen maht und êwekeit! (Walth 10, 2) „Gewaltiger Gott, du bist so groβ und weit; vergebens wäre alle Mühe, dein Maβ zu begreifen, denn unermeβlich sind deine Macht und Ewigkeit‟ (Schaefer, S.180, 347). Es handelt sich hier also um den Versuch, Gottes Gröβe verstandesmäβig zu erfassen (Götz 1957: 121). Eine Verblassung von arebeit, die im Althochdeutschen übrigens noch nicht zu finden ist, ist bei Walther in der Wendung ân arebeit wiederzufinden: hêr keiser, swenne ir tiuschen fride/ gemachet staete bî der wîde,/ sô bietent iu die fremeden zungen êre./ die sult ir nemen ân arebeit (Walth 12, 21) „Herr Kaiser, wenn Ihr bei Strafe des Stranges Deutschland einen dauernden Frieden gegeben habt, dann huldigen Euch alle Völker. Ohne Mühe erreicht Ihr das‟ (Schaefer, S.279, Gedicht 113). Der Gebrauch von arebeit innerhalb des Minnebereichs ist viel häufiger. Allgemein verwendet man im Minnesang auch die AKTIVE Bedeutung „Mühe, die der Mensch auf etwas verwendet‟, in der PASSIVEN Bedeutung bezeichnet arebeit „Beschwernis, die der Mensch erleidet‟ (Götz 1957: 125). Diese Mühe gibt sich der Minnesänger aber, um die Gunst der Frau zu erringen. Arebeit kann auf diese Weise auch identisch mit dem dienest auftreten. Beide Begriffe unterscheiden sich aber voneinander. Arebeit unterscheidet sich vom dienest (cfr. unten Nr. 2) durch den Grundzug des Mühevollen und der des Leidvollen. Arebeit ist also auf jeden Fall ein dienest, der aber vom Minnesänger als mühevoll und als leidvoll verstanden sein will. Diese arebeit wird als süeze bezeichnet und der höfische Ritter muss sie ertragen: swer ouch die süezen arebeit/ dur sie ze rehte kan getragen,/ der mac von herzeliebe sagen (Walth 92, 30) „Und wer die süβe Not um ihretwillen wahrhaft tragen kann, der darf sagen, daβ er herzlich frohe Liebe hat‟ (Schaefer, S.129, Gedicht 48). Es ist die Frau, die das Leidvolle herbeiführt, das getragen werden muss und derjenige, der diesen mühevollen Dienst ze rehte auf sich nimmt, der hat die wirkliche Liebe und kennt neben Leid auch die Beglückung (Götz 1957:123).

94 Da arebeit zum Schmerzwort geworden ist, stellt es sich bei Walther auch neben anderen Schmerzwörter wie kumber, leit, nôt, riuwe, sorge (vgl. S. 108 oben) wie in waz hân ich erworben?/ anders niht wan kumber den ich dol (Walth 52, 29) „Was hab‟ ich behalten? Nur Schmerzen und Leid‟ (Schaefer, S.83, Gedicht 32) und z.B. auch in sagte mir ein ander maere,/ des mîn herze inneclîchen kumber lîdet iemer sît./ owê wie süeze ein arebeit!/ ich hân ein sanfte unsenftekeit (Walth 119, 24) „und mir ganz anderes sagte. So trägt mein Herz seit diesem Tage groβes Leid. Ach, welch süβer Schmerz! Ich fühle selige Qual‟ (Schaefer, S.11, Gedicht 4). In diesen Beispielen bedeutet arebeit den Liebeskummer des Mannes, aber es kann ebenso den Liebeskummer der Frau bezeichnen. Ihre arebeit ist eigentlich nur das ungemach des Mannes, die durch die schmerzliche Sehnsucht geläutert wird (Götz 1957:124). Bei Walther ist diese Bezeichnung wiederzufinden in daz ist senender muot mit gerender arebeit (Walth 117, 13) „das ist ein liebend sehnendes Herz und eine verlangend sehnende Not‟ (Schaefer, S.173, Gedicht 63). Der Liebeskummer als schmerzliche Liebessehnsucht wird von Walther schlieβlich oft mit der Wendung senendiu kumber (vgl. Nr.6) bezeichnet, wie in mich hât ein wünneclîcher wân und ouch ein lieber friundes trôst in senelîchen kumber brâht (Walth 71, 37) „Süβe Träume und die liebe Hoffnung, die die Geliebte meinem Herzen gab, weckten in mir Sehnsuchtschmerzen‟ (Schaefer, S.23, Gedicht 9). Für weitere Belege siehe Holms Glossarium S.19.

2.2. Dienest

Dienest bezeichnet die Tätigkeit, die der Mann gegenüber seiner Herrin zu erbringen hatte, und war der Dienst dem Status nicht angemessen, dann verbot ihm die êre, ihn auszuführen (Ehrismann 1999: 42). Denjenigen, der den Dienst ungelohnt lieβ, durfte man schelten. Walther klagte beispielsweise über Kaiser Otto IV. in Ich hân hêrn Otten triuwe, er welle mich noch rîchen: wie nam abe er mîn dienest ie sô trügelîchen? (Walth 26, 23) „Herr Otto gab mir sein Wort, er mache mich noch reich; doch wie konnte er meine Dienste annehmen und mich so betrügen?‟ (Schaefer, S.315, Gedicht 144). Dienest bezieht sich auch auf den Dienst für den Freund oder die Verwandte, und das Leben des Ritters soll auβerdem ein in arebeit (cfr. Nr. 1) vollzogener dienest sein. Für weitere Belege siehe Holms Glossarium S.57.

2.3. Êre

Grundthema ritterlichen Lebens ist diu êre, der man Curtius nach nicht mit dem ciceronianischen honestum gleichsetzen darf. Otfrid Ehrismann setzt honestum mit den

95 Kardinaltugenden und staufischem êre, mit dem Inhalt von staete, triuwe, maze, usw, gleich. Maurer aber sagt, dass êre in der staufischen Zeit die Bedeutung „Ansehen, Anerkennung und Würde‟ hat, wodurch das Wort êre nicht das lateinische honestum, sondern honos wiedergibt (Maurer 1971:35). Wenn Walther guot und êre verwendet, wird nicht der Konflikt zwischen triuwe, staete und guot gemeint, sondern die Gefährdung durch Gelderwerb. Êre und guot müsste bei Cicero dem Paar honos et utile entsprechen, tugent und guot wäre bei Cicero honestum et utile, was nach Maurer 1971:35 beide Mal nicht der Fall ist. Doch gibt es enge Beziehungen zwischen êre und tugent, honos und honestum (vgl. Maurer S.35). Der Besitz der êre ist nämlich eine Voraussetzung, um den Wert des honestum auszuüben und darzustellen. Umgekehrt aber sind die Werte die Voraussetzung für die êre, d.h. z.B., dass ein Ritter, dem die triuwe fehlt, die êre verliert. Die Ehre beinhaltet das hohe Rechtsgut, d.h. das Selbstwertgefühl der Person und seine tugendhafte Haltung, und die Achtung, die die Person von der Gemeinschaft bekommt. Manchmal bezieht sich die Ehre auch auf seine gesellschaftliche Stellung. Die Ehre erfordert, dass der Ritter seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen nachkommt. Bei Walther blieb diu êre auf jeden Fall ein Glücksgeschenk Gottes und ist das Höchste, das ein Mann einzusetzen vermöchte (Ehrismann 1999:66). Metaphorisch kann Ehre sich auf alles beziehen, nämlich auf Gott, Maria und das Kreuz (Ehrismann 1999: 66). Für weitere Belege siehe Holms Glossarium S.83 und S.125.

2.4. Êre und varnde guot

Drei Dinge, die der Sänger in einem Schrein vereinen wollte, zählt Walther auf, nämlich êre, varnde guot und gotes hulde: diu zwei sint êre und varnde guot/ daz dicke ein ander schaden tuot,/ daz dritte ist gots hulde,/ der zweier übergulde (Walth 8, 14) „Zwei sind Ehre und Güter der Welt, die beide sich oft befeinden, das dritte ist Gottes Gnade in ihrem Goldglanz beide überstrahlend‟ (Schaefer, S.223, Gedicht 76). Weiter im Gedicht verwendet er wiederum diese drei Begriffe: jâ leider desn mac niht gesîn,/ daz guot und weltlich êre und gotes hulde mêre zesamene in ein herze komen (Walth 8, 14) „Doch ach, es kann nicht sein, daβ weltliche Güter und Ehre und dazu Gottes Gnade in einem Herzen sich finden‟ (Schaefer, S. 223, Gedicht 76). Varnde guot und êre beziehen sich auf die Welt, meistens auf den Adel, insofern er am guot teilhatte (Ehrismann 1999: 65): Armen man mit guoten sinnen/ sol man für den rîchen minnen,/ ob er êren niht engert (Walth 20, 22) „den Armen, der edel denkt, soll man mehr lieben als den Reichen, der nicht in Ehre leben will‟ (Schaefer, S.241, Gedicht 87) (vgl. auch Teil I, S. 54).

96 Für weitere Belege siehe Holms Glossarium S.83 und S.125.

2.5. Hövesch

Hövesch ist die Ableitung von Hof mit dem Herkunftsmorphem –isch und bedeutet buchstäblich „zum Hof gehörig‟. Da es sich von Anfang an auf den Fürstenhof bezog, gibt es die These, dass das Wort eine Lehnbildung aus dem altfranzösischen cortois oder mittellateinischen curialis ist (Ehrismann 1999: 103). Das Substantiv Hof (aus dem germanischen *hufa) hat verschiedene ineinanderflieβende Bedeutungen, wie z.B. „zum Haus gehörender Platz; fürstlicher Wohnsitz; Mitglieder des Hofstaates‟. Das Adjektiv höfisch bezieht sich nur auf die ethische Fazette einer Person (Ehrismann 1999: 105). Mit hövesch wird die vorbildliche Lebensform des Fürstenhofes, die als zuht (vgl. Nr. 19) erlernbar ist, gemeint. Hövesch enthält sowohl die sportliche und ritterliche Betätigung als den Umgang mit den Untergebenen. Dieser Umgang soll mit milte ausgeführt werden (Ehrismann 1999: 107). Der Gebrauch des Wortes hövesch und verwandter Bildungen wie hövescheit, höveschlich, hovelich, gehovet usw., ist nur langsam in die Texte eingedrungen. Das Walther- Corpus liefert für hövesch, hövescheit, hovelîch und höveschen siebzehn Belege, für die Negation unhövesch (Walth 24,5) und unhövescheit (Walth 90, 16) nur drei. Bei Walther treffen wir auch eine Verbindung zwischen dem höfischen Sang und vröude an, nämlich im Vers swer höveschen sanc und fröide stoere, daz der werde unfrô (Walth 31, 36) „Jedem‚der höfische Lieder und Freude stört, Lust und Freude vergehen‟ (Schaefer, S.29 Gedicht 121). Gerade wie die Freude ist auch der höfische Sang gestört, wodurch es erlaubt ist, traurig zu werden. Der höfische Sang ist durch den unhöveschen Sang ersetzt worden: ich hân wol und hôvelichen her gesungen: mit der hövescheit bin ich nû verdrungen, da die unhöveschen nû ze hove genaemer sint dann ich (Walth 32, 1) „mit all meinem Benehmen seh‟ ich mich nun an die Wand gedrängt; am Hofe mag man die plumpen Unhöfischen lieber als mich‟ (Schaefer, S. 293, Gedicht 121). Die Person in diesem Lied wird folglich den scharpfen sanc und also das unhöfische Verhalten anheben, weil er das hêrren guot und wîbes gruoz nur ungezogenlîch, d.h. ohne zuht, ersingen muss: Nû will ich mich des scharpfen sanges ouch genieten/dâ ich ie mit vorhten bat, dâ wil ich nû gebieten./ ich sihe wol daz man hêrren guot und wîbes gruoz/ gewalteclîch und ungezogenlîch erwerben muoz (Walth 32,7) „Nun will auch ich in grellen Tönen singen! Wo ich einst furchtsam bat, da will ich nun gebieten. Ich sehe, daβ man die Gaben der Herren und den Dank der Damen rücksichtslos und mit Gewalt zu sich nehmen muβ‟ (Schaefer, S.293, Gedicht 122). Weiter

97 im Lied sucht der Sänger höveschen trôst bei Herzog Leopold IV.. Dieser trôst bedeutet hier (Walth 32,16) „Schutz‟ oder vielleicht auch etwa „Zuversicht auf Hilfe‟. Diese Klage ist auch in anderen Liedern von Walther wiederzufinden, wie in owê, hovelîchez singen,/ daz dich ungevüege doene/solten ie ze hove verdringen!/daz die schiere got gehoene [...] frô Unfuoge, ir habt gesiget (Walth 64, 31) „Ach, ihr Lieder, die zum Hofe passen, warum durften schrille, grobe Klänge euch je vom Hof vertreiben? Schande über diesen Unfug, lieber Gott! [...] Frau Tölpelei, Ihr habt gewonnen‟ (Schaefer, S.169, Gedicht 62). Hövesch bezeichnet in diesen Liedern deutlich die Summe materieller und ideeller Wertvorstellungen, die sich mit der ritterlichen Zivilisation verbunden haben (Ehrismann 1999:110). Es gibt eine Erneuerung des Bildes des Verdrängens, also das vom Hofe Verdrängtwerden. Der hövesche Sang und die Freude sind auβerdem verloren. Auch in Walth 65, 1 wird dieses Bild erneut von Walther aufgenommen: swer unfuoge swîgen hieze-/waz man noch von fröiden sunge!/ und si abe den bürgen stieze,/daz si dâ die frôn niht twunge! „Welche Freudenlieder sänge man, wenn man plumpen Unfug schweigen hieβe und ihn von den Schlössern jagte! Dann lieβe er die wahrhaft Fröhlichen in Ruhe‟ (Schaefer, S.171, Gedicht 62). Der höfische Sang präsentiert eigentlich das Höfische selbst; dass es jetzt zusammen mit der Freude verdrängt ist, hat auch die Jugend schon bemerkt. Auch ihr Denken ist nicht mehr so höfisch wie vorher: owê, wie jaemerlîche junge liute tuont,/den ê vil hovelîchen ir gemüete stuont! (Walth 124, 21) „Ach, wie kläglich führt sich die Jugend auf, die einmal froh und gut erzogen war‟ (Schaefer, S.205, Gedicht 72). Für weitere Belege siehe Holms Glossarium S.144.

2.6. Kiusche

Das mittelhochdeutsche Wort kiusche „keusch‟ hat eine ungeklärte Etymologie. Schon vor der schriftlichen Überlieferung akzentuierte dieses Wort den allgemeinen, von der Kirche verbreiteten Tugendkanon (Ehrismann 1999: 118). In der Dichtung der Achsenzeit (Blütezeit der Dichtung) wurde kiusch(e) als Adjektiv und Substantiv, mit seinen Verwandten wie unkiusch, kiuscheit, kaum eingesetzt. Doch repräsentierte das Wort die Kontaktweise zwischen Kirche und Hof. Walther bevorzugt kiusch(e) auch in religiösem Kontext, wie in die pfaffen solten kiuscher dan die leien wesen (Walth 34,1) „Priester sollten keuscher als Laien sein‟ (Schaefer, S.307, Gedicht [137]). Einmal ist es im Verbund mit triuwe, schœne und reine sitten verwendet, nämlich in dâ liebez herze in triuwen stât, in schœne, in kiusche, in reinen siten (Walth 93, 1) „wenn ein liebes, liebendes Herz Treue, Schönheit, Unschuld, Reinheit hat‟ (Schaefer, S.129, Gedicht 48). Walther hat schlieβlich auch einmal kiusche für die Religiosität erotischen

98 Sprechens dargestellt: Vil süeze frouwe hôhgelopt, mit reiner güete/ dîn kiuscher lîp gît wünneberndez hôhgemüete, dîn munt ist rœter danne ein liehtiu rôse in touwes flüete (Walth 27, 27) „Süβe Herrin, hoch gepriesen, rein und vollkommen, deine Keuschheit gibt dem Herzen hohe Freude und reiches Glück. Rot sind deine Lippen wie die leuchtende Rose in der Feuchtigkeit des Taus‟ (Schaefer, S.323, Gedicht [153]). Für weitere Belege siehe Holms Glossarium S.160.

2.7. Kumber

Kumber ist ein Leitwort nicht-germanischen Ursprungs, denn es stammt aus dem Gallo- Romanischen und enthält die indogermanische Wurzel *bher, was „tragen‟ bedeutet (Götz 1957:126). Schon im Altfranzösischen hat kumber (encombrier) die Bedeutung „Last, Beschwernis‟. Vom Französischen aus ist das Wort über die Niederlande nach Deutschland in der äuβeren Bedeutung „Bedrängnis, Not‟ gelangt (Götz 1957:126). Im Minnesang finden wir bei Walther drei Stellen in dieser äuβeren Bedeutung, und zwar erstens in ich hân vereischet, die der wenke hânt gepflegen,/ daz sie der kumber wider ûf die erbornen friunt gewande (Walth 30, 35), zweitens mit der Bedeutung „wirtschaftliche Notlage‟ in wie diu saelde kleiden kan,/ daz si mir gît kumber unde hôhen muot!/ sô gits einem rîchen man/ ungemüete: owê was sol dem selben guot? [...] Mîn kumber stüende im dort bî sînen sorgen baz (Walth 43, 2) „Wie seltsam uns das Glück beschenkt, die wunderliche Frau! Mir gibt sie Armut und ein frohes Herz, und einem Reichen gibt sie Verdruβ- was hilft ihm dann sein Geld? [...] dagegen stünde meine Armut ihm und seinen Sorgen gut‟ (Schaefer, S.37, Gedicht 13). Walther stellt hier dem kumber den Besitz irdischen Gutes gegenüber. Drittens verwendet Walther kumber im allgemeinen Sinne „Notlage‟ in hilf, frouwe maget, hilf megde barn,/ den drîn noch wider in den rinc./ lâ si niht lange ir sedeles irre gân:/ ir kumber manicvalter/ der tuot mir von herzen wê (Walth 102, 23) „Helft Herrin, Jungfrau und der Jungfrau Kind, führt sie in ihren Kreis zurück, laβt sie nicht allein und fern den Stühlen, die man ihnen nahm. Ihr groβes Leid tut mir von Herzen weh‟ (Schaefer, S. 355, Gedicht 186). Kumber bedeutet bei Walther neben dem äuβerlichen Belastenden und Bedrückenden auch die innere Belastung: swaz kumbers an dem winter lît,/ den wânde ich ie des sumers hân verborn./ Sus sazte ich allez bezzerunge für:/ swie vil ich trôstes ie verlür, sô hât ich doch ze fröiden wân (Walth 95, 19) „Ich hoffte, im Sommer sei die Sorge des Winters vorbei; immer glaubte ich, es würde besser werden und hoffte trotz aller Enttäuschung auf Freude‟ (Schaefer, S.131, Gedicht 49). Kumber ist im Minnebereich also der ,-kummer, und zwar im allgemeinen der des Mannes und nur in einzelnen Beispielen der der Frau (Götz 1957: 127). Meistens ist das Verhalten der Frau die Ursache für den Liebeskummer des Mannes (vgl. Nr. 1 arebeit, Nr. 12

99 sorge). Die Motive für den Liebeskummer sind erstens die Dame, die den dienest des Minnesängers nicht lohnt (vgl. Nr. 12 sorge, Nr. 2 dienest): waz hân ich erworben?/ anders niht von kumber den ich dol (Walth 52, 30) „Was hab‟ ich behalten? Nur Schmerzen und Leid‟ (Schaefer, S.83, Gedicht 32). Weil sie den dienest nicht lohnt, wird sie von Walther ungenaedic geheiβen, wie in mîn frouwe ist ein ungenaedic wîp (Walth 52, 23) „Meine Herrin ist eine harte Frau‟ (Schaefer, S. 81, Gedicht 32). Zweitens kann der kumber entstehen, weil die Dame das Liebesglück versagt oder drittens den Mann nicht erhört. Die Dame ist also gleichgültig und hartherzig, eine Beschreibung die im ganzen 34. Gedicht wiederzufinden ist: und swes si gern, daz sol ich tuon: sô suln si mînen kumber klagen (Walth 72, 37) „was sie von mir wollen; dafür sollen sie mit mir klagen um mein Leid‟ (Schaefer, S. 87, Gedicht 34). Schlieβlich wird der kumber durch die Ablehnung verursacht, wodurch das Werben erfolglos geworden ist: swie noch mîn fröide an zwîvel stât,/ den mir diu guote mac vil wol,/ gebüezen, ob sis willen hât,/ son ruoche eht waz ich kumberes dol (Walth 121, 18) „Wenn auch bei meiner Freude noch der Zweifel steht, die Liebste kann mir, wenn sie will, allen Zweifel nehmen; dann kümmere ich mich nicht um Schmerzen, die ich leide‟ (Schaefer, S.213, Gedicht 73). Manchmal ist der kumber als ein sehnsuchtsvoller Liebesschmerz erkennbar und die Minnesänger sprechen deswegen von einem senden/ senelîchen kumber (vgl. Nr. 1 senendiu arebeit): mich hât ein wünneclîcher wân/ und ouch ein lieber friundes trôst/ in senelîchen kumber brâht (Walth 71, 37) „Süβe Träume und die liebe Hoffnung, die die Geliebte meinem Herzen gab, weckten in mir Sehnsuchtsschmerzen‟ (Schaefer, S.23, Gedicht 9). Kumber ist in der Verwendung im Minnesang nicht von anderen Schmerzwörtern wie sorge (Nr. 12) und arebeit (Nr. 1) zu unterscheiden. Kumber stellt sich also als Import-Wort neben die anderen altheimischen Wörter, die die Minnesänger als Bezeichnung für den Minneschmerz gebrauchen (Götz 1957: 129). Für weitere Belege siehe Holms Glossarium S.166.

2.8. Mâze

Das mittelhochdeutsche Wort mâze führt etymologisch auf das griechische medimnos und lateinische modius „Scheffel‟ zurück (Ehrismann 1999: 128). Wir kennen das mittelhochdeutsche diu mâze im Neuhochdeutschen noch als das Maβ. Die mâze war schon in der antiken und frühchristlichen Zeit eine der Grundtugenden. Ritter und Dame, König und Königin mussten nach den Normen der mâze leben. Es gab in der höfischen Zeit für das Wort mâze sowohl eine ästhetische, als auch eine ethische Bedeutungsvariante. Die ästhetische Variante soll man im Sinne von „messen‟, „abwagen‟

100 interpretieren. Vor allem in der Architektur und im Bau der Dichtung ist dieses Maβ, als Vollkommenheitsvorstellung und Harmoniegedanke in Gröβenverhältnisse leicht zu fassen (Ehrismann 1999: 128). Wichtiger für uns ist die zweite Bedeutungsvariante, die ethische. Diese qualitative Variante zielt auf die sittliche Mäβigung und die Beherrschung von Leidenschaften und Affekten (Ehrismann 1999: 128). Sie lässt sich aber nicht leicht von der quantifizierenden, ästhetischen trennen. Während letztere Variante sich auf ein externes Maβ bezog, war das interne qualitative Maβ auf charakterliche Eigenschaften und Tugenden, die selten konkret benannt wurden, bezogen (Ehrismann 1999: 129). In unmâze lebt jemand, in dem das Maβ abwesend ist. Im Mittelalter machten die Menschen noch keinen groβen Unterschied zwischen Auβen und Innen. Auβen und Innen, Hässlichkeit und moralische Defizienz gingen ineins. Deswegen sind beide semantischen Varianten, die ästhetische und ethische, nur heuristisch voneinander zu trennen (Ehrismann 1999: 129). Diu mâze in seinem messenden quantifizierenden Prinzip wurde sowohl vom Dichter selbst als von seinen literarischen Figuren gefordert. Die ethische Bedeutung, die sich aber noch nicht ganz vollzogen hat, ist vor allem in der Dichtung der Achsenzeit (vgl. S. 98) üblich. Oft wird das Verb mezzen/mâzen verwendet, z.B. bei Hartmann. Aber auch Walther benutzt dieses Verb in ich maz daz selbe kleine strô [...] swie dicke sô ich maz, daz ende was ie guot (Walth 66, 7-11). Manchmal wurde mâze, wie bei Gottfried, auch auf das Aüβere, auf Kleidung, Schmuck und Waffen bezogen, aber er hat das Maβ oft auch mit dem charakterlichen Verhalten verknüpft. Wie schon erwähnt, gehört diu mâze zum Katalog der Tugenden, die der mittelalterliche Mensch besitzten muss, wenn er Ruhm und Ehre erwerben wollte. Das Maβ ist schon bei Walther als die Grundlage der Tugenden verwendet: Aller werdekeit ein füegerinne, daz sît ir zewâre, frowe Mâze. Er saelic man, der iuwer lêre hât! der endarf sich iuwer niender inne, weder ze hove schamen noch an der strâze (Walth 46, 32-36), übersetzt von Schaefer als „Ihr, Frau Maβe, schenkt und ordnet allen Wert und Sinn. Ein Mann ist glücklich, wenn Ihr ihn lehrt; er braucht sich nirgends auf der Welt zu schämen, nicht am Hof noch auf der Straβe‟ (Schaefer, S. 121, Gedicht 45). Die mâze ist also das Hauptmerkmal jeder einzelnen Tugend (Ehrismann 1999: 130). Wenn die Minne z.B. mit unmâze verbunden ist, endet sie in Unglück und Tod, denn Walther sagt swer der mâze brechen wil ir strâze, dem gevellet lîhte ein einger pfat (Walth 80, 6f) „Wer den maβvollen Mittelweg verläβt, gerät nur allzu leicht auf enge Straβen‟ (Schaefer, S.331, Gedicht 160). Wo die Grenze zwischen mâze und unmâze liegt, kann man aber nicht sagen. Die Semantik von mâze ist wie die vielen mittelhochdeutschen Abstrakta nicht fest zu umreiβen (Ehrismann 1999: 131).

101 Schon seit der antiken Zeit Platos hatte diese Tugend eine doppelte Modalität, denn das Maβ wurde mit Polis und Kosmos verknüpft (Ehrismann 1999: 130). Er war die Meinung, dass Lustempfindungen und harmonische Einheit im Menschen selbst und auch zwischen Mensch und Welt nur zu realisieren waren, wenn die Verhältnisse wohlgeordnet waren (Ehrismann 1999: 130). Aristoteles hat die Verknüpfung mit dem Kosmos aufgehoben und die harmonieorientierende Funktion des Maβes gelöst, und folglich das Maβ quantifizierend als Mitte zwischen zwei Extremen definiert. Das Maβ steht bei Aristoteles also zwischen Über-Maβ und Mangel (Ehrismann 1999: 130). In der christlichen Zeit wurde Maβhalten als Schütz vor Hochmut gesehen, mehr noch, die Seele wurde durch das Maβhalten gereinigt und zu Gott geführt. In der christlichen Ethik hat das Maβ (temperantia) unter den vier Kardinaltugenden, d.h. neben Weisheit (Prudentia), Gerechtigkeit (Justitia) und Starkmut (Fortitudo), eine Stelle eingenommen. Die temperantia realisierte eine Selbstbeherrschung, Milde und Bescheidenheit. Sie versuchte die Leidenschaften, die nach Lust und Leistung strebten, zu ordnen. Die temperantia kann man auch in der äuβerlichen Zurückhaltung in Essen, Trinken und Geschlechtsleben wiederfinden, wie bei Walther 29,25 ich trinke gerne dâ man bî der mâze schenket verwendet wird (Ehrismann 1999: 131) „Gerne tränke ich, wo man maβvoll schenkt‟ (Schaefer, S.323, Gedicht [154]). Aus der antiken Auffassung von Maβ und der christlichen Lehre hat sich die zentral ritterlich-höfische Tugend mâze entwickelt. Die Regeln der mâze sind für Mann und Frau unterschiedlich. Für den Mann besteht sie darin, dass er ausgewogen mit Rede und Schweigen, mit Frauennähe und -ferne umgeht. Wenn er nach Ehre strebt, soll er das mit guten Taten machen und dabei sichselber nicht loben, nicht lügen, nicht jammern und vor allem die Wut beherrschen (Ehrismann 132: 1999). Erst dann wird er Ruhm und Anerkennung erfahren. Die Maβ-Regeln für die Frau beziehen sich vor allem auf den Bereich der Minne, damit die Identität von Innen und Auβen nicht aufgebrochen wird. Eine maβvolle Frau sinnt nicht, wie Kriemhild im Nibelungenlied auf Rache und kennt im Gegensatz zur Kriemhild, keinen Neid. Unmâze bezog sich vor allem auf die Jugend, die sich nicht zur mâze erziehen will. Denen, den Jugendlichen, wirft Walther unmâze in die Arme, wie die Verse 80, 19-26 uns zeigen: Unmâze, nim dich beidiu an, manlîchiu wîp, wîplîche man, pfaflîche ritter, ritterlîch pfaffen, mit den solt dû dînen willen schaffen. ich wil dir si gar ze stiure geben, und alte junghêrren für eigen, ich wil dir junge althêrren zeigen: daz si dir twerhes helfen leben (Walth 80, 19-26) „Unmaβ, diese Paare sind für dich: Mannweiber, weibische Männer, pfäffische Ritter, Ritter spielende Pfaffen. Mit denen tue, was du willst, ich schenk‟ sie dir, auch alte Jünglinge und junge Greise sollst du haben; sie alle sollen dir helfen, verkehrt zu leben‟ (Schaefer, S.331, Gedicht 161).

102 Für weitere Belege siehe Holms Glossarium S.192.

2.9. Muot

Ein Schlüsselwort der germanischen Dichtung und ebenfalls eines der „Seelenwörter‟ war muot „Gesinnung, Sinn, Mut, Inneres‟. Es ist vielleicht mit dem lateinischen mos „Sitte‟ verwandt. Muot glossiert u.a. das Lateinische mens, anima, animus, cor, spiritus, die verschiedene psychische, geistige und voluntative Kräfte bezeichnen können. Die heutige Bedeutung von muot „Kühnheit, Tapferkeit‟ war im Mittelhochdeutschen kaum ausgebildet. Muot steht im Mittelhochdeutschen für den Gedanken, den Sinn. Es gibt also eine semantische Gleichwertigkeit von muot und sinn. Die alte Bedeutung „Sinn‟ ist auch heute noch nicht ganz verloren gegangen. Viele feste Verbindungen als froher Mut, guter Mut und Komposita wie Demut, Anmut, Hochmut, sind bewahrt geblieben (Ehrismann 1999:148). Muot ist ein „Seelenwort‟ und umfasst das menschliche Innenleben. Das enthält sowohl die geistige, seelische Grundbegriffe wie Seele, Herz, Geist als auch seelische Zustände wie Gemüt und Gemütsverfassung (Ehrismann 1999:149). Der muot kann steigen und fallen, sinken, schwinden oder wachsen und stark werden. Für weitere Belege siehe Holms Glossarium S.214.

2.10. Saelde, saelic

Das höfische Schlagwort saelde ist mit dem Adjektiv saelic, saelec verwandt und hat als Grundbedeutung „Glück‟. Die Wortgeschichte von mittelhochdeutschem saelde ist noch nicht ohne Fragezeichen. Das althochdeutsche sâlida, das Adjektiv-Abstraktum zu sâlig, tritt in weltlichen und kirchlichen Normsetzungen auf. Es wird also vor allem durch den Gegensatz weltlich-geistlich, innerlich-äuβerlich gekennzeichnet. Für den Minnesang darf man aber nicht vorschnell eine abgegrenzte Gegenbedeutung erwarten. Es gibt im Minnesang und bei Walther von der Vogelweide nämlich viele Bedeutungen und Bedeutungsschattierungen. Das mittelhochdeutsche saelde ist vor allem auβerhalb der Minnesphäre die Fortsetzung des althochdeutschen sâlida, das verwendet wurde, um dem Glücksgefühl, den glücklichen Lebensverhältnissen Ausdruck zu verleihen (Ehrismann 1999: 183). Es kann ebenfalls das Gelingen und den Erfolg im Handeln bedeuten. Walther hat diu saelde in seinen Werken auch verwendet als Personifikation oder im Sinne der Fortuna, wie z.B. in wie diu saelde kleiden kan,/ daz si mir gît kumber unde hôhen muot!/ sô gîts einem rîchem man/ ungemüete: owê waz sol dem selben guot?/mîn frou Saelde, wie si sich vegaz,/daz si mir sîn

103 guot ze mînem muote,/niene schriet (Walth 43,1) „wie seltsam uns das Glück beschenkt, die wunderliche Frau! Mir gibt sie Armut und ein frohes Herz, und einem Reichen gibt sie Verdruβ- was hilft ihm dann sein Geld? Die Dame Glück, wie hat sie sich vertan, die Gute, daβ sie nicht meiner Munterkeit sein Geld anpaβte wie ein Kleid‟ (Schaefer, S.37, Gedicht 13). Diese Personifikation von saelde findet man auch in einem Beispiel mit Phraeologismus: frou Saelde teilet umbe sich,/ und kêret mir den rugge zuo (Walth 55,35) „Auf allen Seiten teilt das Glück Geschenke aus, doch mir kehrt es den Rücken zu‟ (Schaefer, S.69, Gedicht 26). Walther hat allerdings nicht darauf verzichtet, auf die Formen des Glücks anzuspielen: ez waer uns allen/einer hande saelden nôt,/daz man rehter fröide schône pflaege als ê (Walth 97,35) „Dies eine Glück wäre uns allen not: wieder wahrhaft froh zu sein wie in früheren Tagen‟ (Schaefer, S.137, Gedicht 52). Saelde steht bei Walther oft für die Gesamtheit der Glücksgüter wie z.B. in zuo flieze im aller saelden fluz (Walth 18, 25) „ein Strom allen Glücks soll zu ihm strömen‟ (Schaefer, S.265, Gedicht 104), und er benutzt saelde auch in Verbindung mit anderen Glück und Heil bezeichnenden Wörtern, wie z.B. in liez er sich volleclîche bî der mâze wern,/ sô möht im gelücke, heil und saelde und êre ûf rîsen (Walth 29,31) „doch lieβe er sich reich von der Maβe beschenken, dann würde ihm viel Gutes, Segen, Glück und Ansehen zuteil‟ (Schaefer, S. 325, Gedicht 154). Zwischen den einzelnen Begriffen gibt es keinen groβen Unterschied, denn saelde und heil bedeuten ganz allgemein den sich im Besitz ausdrückenden Lebenserfolg (Götz 1957: 39). Im geistlichen Bereich verweist saelic auf „die himmlische Seligkeit‟, denn der Ursprung der saelde, wie irdisch die Zielvorstellung auch wäre, liegt in Gott (Ehrismann 1999: 182). Die saelde ist in den geistlichen Belegen im allgemeinen Sinne und in der Minnesangssituation der von Gott kommende Segen (Götz 1957:50). Das Gesegnetsein kann eine Voraussetzung des Erfolges sein, denn Gott allein kann das Gelingen und den Erfolg im Handeln bescheiden, wie z.B. in mit witzen sol er allez wegen,/ und lâze got der saelden pflegen (Walth 105,10) „er soll es prüfen mit Verstand, doch das Gelingen dann in Gottes gnädige Hände legen‟ (Schaefer, S.367, Gedicht 191) und in mit saelden müeze ich hiute ûf stên,/got hêrre, in dîner huote gên/und rîten, swar ich in dem lande kêre (Walth 24,18) „Unter deinem Segen, laβ mich heute aufstehen, o Herr, und gehen in deinem Schutz, wohin ich mein Pferd auch wende‟ (Schaefer, S.239, Gedicht 84). Saelic zielt auch auf die Erfüllung hoher Wünsche, die das Glück realisieren: er saelic man, si saelic wîp, der herze ein ander sint mit triuwen bî (Walth 95, 37) „Glücklich der Mann und die Frau, die einander mit treuem Herzen gehören‟ (Schaefer, S.131, Gedicht 49). In dem Heilswunsch vil saelic sîn ir jâr und al ir zît (Walth 96,3) steht saelic für das lateinische felix, beatus, also

104 für die aktive Bedeutung „Glück und Segen bringend, glücklich machend, beglückend‟. Im geistlichen Bereich hat saelic also die aktive Bedeutung „Segen, Heil, Seligkeit bringend‟, wie z.B. in sîn lop gêt vor allem prîse:/ daz lop ist saelic, des er gert (Walth 78,31) „allem Rühmen geht sein Lob voran; gesegnet ist der Lobpreis, den er von uns will‟ (Schaefer, S.329, Gedicht 156). Außerhalb des Minnebereiches setzten saelde und saelic das althochdeutsche sâlida und sâlig fort, aber auch für den Minnebereich blieben die alten Bedeutungen im Großen und Ganzen Grundlage. Innerhalb des Minnebereichs steht die saelde für das persönliche Geschick, das zum Erfolg oder Misserfolg im Minnewerben führt (Götz 1957:50). In geistlicher Sicht ist der Minne-Erfolg vom Schicksal begünstigt und von Gott gesegnet und begnadet. Saelde kann aber auch das Gelingen und den Erfolg in der Minne selbst meinen. Dieser Erfolg, dieses Gelingen äuβert sich dann in der Beglückung von Seiten der Dame, der dem Minnesänger Liebesgunst und -gnade schenkt (Götz 1957:42). Die frouwe besitzt die Macht, das Liebesleid abzuwenden und den Minnesänger glücklich zu machen, wie z.B. in Walth 97,9: alsô habe ich staete her gerungen:/ noch enist mir niht gelungen./ daz wende, saelic frouwe mîn,/ daz ich der valschen ungetriuwen spot/ von mîner staete iht müeze sîn und in Walth 100,10: ôwê wollte ein saelic wîp alleine,/ sô getrûrte ich niemer tac (Götz 1957:45). Wer also in der Minne im Dienen und Werben um die Gunst der Frau erfolgreich ist, ist saelic. Saelic-sein kann also neben dem Äußeren des Minne-Erfolges auch das innere Glücklichsein einbeziehen (Götz 1957 50). Im Minnesang ist auch die Rede vom Lohn, der dem Minnesänger für sein Dienen zuteil wird. Ein Lohn, der am Ende des Liebesleids erteilt wird: swelch saelic man daz hât erstriten,/ ob er daz vor den vremden lobet,/ sô wizzet daz er niht entobet (Walth 93,4) „wenn ein Glücklicher ein solches Herz gewann, der ist kein Narr, wenn er‟s vor den Menschen preist‟ (Schaefer, S.129, Gedicht 48). Wer Erfolg in der Minne hat, wird folglich saelic gepriesen: Siehe Walth 95,37 (S.105). Glücklich preist Walther auch denjenigen, der sich eine aufrichtige Liebe zum Vorbild nimmt: er ist ouch saelic sunder strît,/ der nimt ir tugende rehte war,/sô daz ez in sîn herze gêt (Walth 96, 4) „auch der ist glücklich, der ihren Wert versteht und aufnimmt in sein Herz‟ (Schaefer, S.131, Gedicht 49). Saelic wird in der Preisbedeutung meist auf den Mann bezogen, doch gibt es Stellen, wo die Frau auf Grund ihres Beglücktseins in der Minne saelic gepriesen wird (Götz 1957:50). Ein Beispiel dafür findet man bei Walther in der Preisformel saelic sî diu mir daz wol verstê ze guote (Walth 109,3) „Gepriesen sei die Frau, wenn sie‟s aufnimmt mit freundlichem Herzen‟ (Schaefer, S.33, Gedicht 11).

105 Die Bedeutung von saelde/saelic ist aber manchmal doppeldeutig. Erotische und religiöse Sprache standen und stehen nahe beieinander, deshalb kann man die Semantik von saelde nicht ausschlieβlich geistlich oder weltlich interpretieren. Wenn die Akzente nicht eindeutig auf Gott, wie z.B. bei Walther in got gebe uns saelikeit (Walth 122,18) oder auf die Welt gesetzt sind, ist die Interpretation für beide Sphären rezeptiv offen. Das Publikum kann dann selbst ausmachen, welcher der beiden Sphären es vorzieht (Ehrismann 1999: 183). Es könnte aber auch sein, dass sich beide Sphären, weil z.B. der Freiraum rezeptiv offen bleibt, miteinander verknüpfen lassen, z.B. in mir ist verspart der saelden tor (Walth 20, 31). Das Tor ist die Paradiespforte (porta paradisi), wie es in sowohl den geistlichen als fürstlichen Häusern genannt wurde (Ehrismann 1999:183). Ein zweites Beispiel für die Vernetzung beider Sphären findet man im Vers 24, wo die Hauptfigur sich nach der Liebe saelic fühlt und dabei die Wörter hêre frouwe, die ebenso eine Evokation Mariens sein könnten, ausruft: dâ wart ich empfangen ’hêre frouwe’! daz ich bin saelic iemer mê (Walth 39, 24) „Und er empfing mich: „Du schöne Herrin!‟, da bin ich nun glücklich auf immer‟ (Schaefer, S.99, Gedicht 38). Schon im Althochdeutschen wurde sâlîg auf die Gottesmutter Maria bezogen. Sie ist nicht nur die Begnadete, sondern auch die Heils-und Gnadenspenderin, denn saelic kann, wie schon erwähnt, auch eine aktive Bedeutung (aus dem lateinischen beatus) haben. Sie macht also den Minnesänger saelic. Die Gnadenspenderin ist im Minnesang die frouwe und Grundlage ihrer gnadenspendenden Kraft und Fähigkeit ist ihre güete, ihre bonitas und qualitas (Götz 1957:45). Der Minnesänger bittet die frouwe, ihm güete, Erhörung und Liebeserfüllung zuteil werden zu lassen. Dass dieser Vers zweiseitig analysiert werden kann, wird deutlich, wenn der Vergleich zwischen Maria und der Dame gemacht wird. Denn wie Maria wegen ihrer guotî gepriesen wird, wird die frouwe wegen ihrer güete vom Minnesänger gepriesen, oder wie man sich an Maria mit der Bitte um Trost und Gnade richtet, bittet er auch die Dame um trôst. Die Bitte an die Frau kann einen beschwörenden Charakter haben, wie in frouwe, daz ir saelic sît!/ lât mit hulden/ mich den gruoz verschulden,/ der an friundes herzen lît (Walth 14, 34) „Herrin, habt Glück und Segen! Dürfte ich einen Gruß verdienen, den mir Eure Huld aus liebendem Herzen schenkt‟ (Schaefer, S.15, Gedicht 5). Dieser beschwörende Charakter ist auch wiederzufinden im Vers scheidet, frouwe, mich von sorgen,/ daz ir saelic sît! (Walth 52,18) „Herrin, erlöst mich von meinem Kummer, wolltet Ihr doch glücklich sein!‟ (Schaefer, S. 45, Gedicht 16). Wenn für frouwe die Bedeutung der Frau und nicht Maria angenommen wird, könnte die güete auf die höfischen Tugenden hinweisen, sodass frouwe/ saelic wîp die höfische Dame, die bona domina, die nach höfischer Wertung lebt, bezeichnet (Götz 1957: 47). Dass ist sicher der Fall bei Walther im Vers 43,20, wo die Frau sagt, dass sie eine höfische Dame ist, nämlich zuo der werlte ein

106 saelic wîp, wenn sie diu mâze verstand. Die mâze, eine Voraussetzung, um die hövescheit zu erwerben und ein saelic wîp zu werden, besaß sie aber noch nicht. Die Bezeichnung frouwe/ saelic wîp wurde immer mehr zur feststehenden formelhaften Bezeichnung für die höfische Dame. Saelic wird ein höfische Wertbezeichnung und die Vorstellung der Gnadenspendung tritt dabei zurück (Götz 1957:48). Die saelde wird damit ein Bildungsziel (Götz 1957:51). Zu bemerken, ist auch noch, dass saelic als höfische Wertbezeichnung vor allem im Zusammenhang mit einer weiblichen Person auftritt. Für den Mann tritt dieses Schlagwort nicht so in den Vordergrund, da im Minnesang der Mann kaum das Objekt des Preisens und Lobens war. Doch findet man Belege, wo der saelic man verwendet wird als höfische Wertbezeichnung für den Mann. Sie hat die Bedeutung eines mit höfischen Tugenden ausgestatteten, vortrefflichen Kavaliers, z.B. im Vers owê deich niht vergezzen mac/ wie rehte frô diu liute wâren!/ dô kunde ein saelic man gebâren (Walth 120,12) „Ach, daβ ich nicht vergessen kann, wie froh die Menschen waren! Da konnte ein glücklicher Mann schön und freudig leben‟ (Schaefer, S.11, Gedicht 4), wo der Verfall höfischer Geselligkeit von Walther beklagt wird. Saelic meint für den Mann also nicht mehr den Besitz des Minneglückes, sondern den Besitz jener höfischen Qualitäten, die eine Vorraussetzung des Minneerfolges und Minneglücks sind, z.B. die Wohlerzogenheit, das geduldige Ertragen des Liebesleids, höfisch sein, d.h. nach Ehre und Ansehen streben und den Frauen dienen, usw. (Götz 1957:51).

Es zeigt sich, dass eine geschlossene Auffassung für saelde im Minnesang nicht nachweisbar ist. Das Wort saelde hat sich mit mannigfachen Inhalten gefühlt, und sowohl weltliche wie geistliche Vorstellungen können sich mit der saelde verbinden. Saelde kann „zufälliges Glück‟, „göttliche Fügung‟ und „Gnade‟ bedeuten. Auch das Bild der gnadenspendenden Maria, die die frouwe inspiriert hat, wirkt nach. Man kann aber nicht sagen, ob die saelde des Minnesangs weltlich oder geistlich fundiert ist. Obwohl die saelde semantisch schließlich eine Fortsetzung aus dem Althochdeutschen ist, hat sie im Minnesang eine weitere Bedeutung hinzubekommen. Sie hat sich nämlich zu einer höfischen Wertbezeichnung entwickelt. Der Untergang des Leitworts saelde liegt in der Überladung mit Inhalten seit dem Althochdeutschen. Sâligheit wurde im Laufe der Zeit als Wort direkt zu sâlig gebildet und später wurde gelücke für den anderen Teil der Bedeutung der sâlida/saelde aufgenommen. Für weitere Belege siehe Holms Glossarium S.255.

107 2.11. Schoene und guot

Schoene und guot macht vom Ideal der Kalokagathia Teil aus. Kalokagathia kommt aus dem Hendidyoin kalos kai agathos. Der Kalokagathia war es eigen, dass die Schönheit und die äuβeren Güter wie Reichtum und Gesundheit nicht als Selbstzweck erstrebt wurden (Ehrismann 1999: 189). Später übersetzte Cicero den griechischen Begriff Kalokagathia durch das lateinische bonum et honestum, wobei die äuβeren Güter zum moralischen Guten verengt wurden (Ehrismann 1999: 183). Das mittelhochdeutsche guot/güete befand sich zwischen dem materiellen guot „Besitz‟ und ethischen guot im Sinne von „Gut-sein‟ (Ehrismann 1999: 183). Auch das mittelhochdeutsche schoen nahm, neben seiner Grundbedeutung „klar, glänzend, deutlich sichtbar‟, eine ethische Bedeutung „rein‟ an (Ehrismann 1999: 183). Die schoene wurde im Gegensatz zu guot von den mittelhochdeutschen Dichtern häufiger als Thema gewählt, weil die Schönheit als Selbstzweck anwesend war und weil vor allem die weibliche Schönheit ambivalente Züge hat (Ehrismann 1999: 183). Die weibliche Schönheit konnte ja auch auf den Mann wirken, aber nicht immer verderblich. Mit ihrer Schönheit machte den Ritter mutig und spornte ihn zum Kampf an. Erst verderblich wird die weibliche Schönheit, wenn die Erotik hinzutritt (Ehrismann 1999: 184). Die Schönheit und auch das weltliche Ansehen eines Helden konnte also mit seinem Sündenfall verschwinden. In Walthers Lied-Corpus gibt es drei Modelle des schoene und guot. Das erste Modell präsentiert das antike Ideal der Kalokagathie, z.B. in schoener lîp entouc nicht âne sin (Walth 86, 14), was bedeutet, dass ein schöner Körper ohne rechte Gesinnung, ohne Geist und Seele, wertlos ist (vgl. Schaefer, S.57, Gedicht 22). In einem zweiten Modell wird das herze von lîp getrennt, denn körperliche Schönheit ist vergänglich. Ein gutes Benehmen, die Schönheit des inneren Herzens, ist also wichtiger als die Schönheit des Körpers: wil si fuoge für die schoene nemen, so ist si wol gemuot (Walth 116, 17) „Will sie statt Schönheit Anstand von mir, dann fühlt sie, wie sie soll‟ (Schaefer, S. 65, Gedicht 25). Die Aussage über den Vorzug des guten Benehmens vor äuβerlicher Schönheit trifft vor allem die Frauen, denn für Männer bedeutet diese nicht viel. Frauen, schreibt Walther, legen groβen Wert darauf: An wîbe lobe stêt wol daz man si heize schoene: manne stêt ez übel, ez ist ze weich und ofte hoene (Walth 35:27) „Schön - ein Wort, das gut zum Lob der Frauen paβt; für Männer paβt es schlecht, es klingt zu schwach und oft verächtlich‟ (Schaefer, S.307, Gedicht 138). Auf jeden Fall sitzt die wahre unvergängliche Schönheit tief im Herzen und äuβert sich als die Liebe: liebe tuot dem herzen baz, der liebe gêt diu schoene nâch. liebe machet schoene wîp. desn mac diu schoene niht getuon, sin machet niemer lieben lîp (Walth

108 50, 3-6). Wenn man m.a.W. Liebe kennt, folgt die Schönheit von selbst, denn Liebe macht schöne Frauen und gerade das kann die Schönheit nicht tun (vgl. Schaefer, S. 93, Gedicht 35). Die Herzensgüte wird also zu einem weiblichen Merkmal, und im dritten Modell wird die Kalokagathie nicht mehr der adligen Geliebten zugesprochen: daz hât ir schoene und ir güete gemachet und ir roter munt, der sô lieplîchen lachet (Walth 110,18) „das hat ihre Schönheit und Vollkommenheit getan und ihr roter Mund, er so schön und freundlich lacht‟ (Schaefer, S.51, Gedicht 20) und ebenfalls wird die antike Kalokagathie nicht vertreten, sondern die neue, d.h. die Vermischung von geistlicher und irdischer Schönheit und Güte. Schlieβlich hat Walther auch einmal seinen Sänger das Motiv der Nacktheit zitieren lassen, nämlich in Frouwe, ir habet ein vil werdez tach an iuch geslouft, den reinen lîp: wan ich nie bezzer kleit gesach, ir sît ein wol bekleidet wîp (Walth 62, 36) „Herrin, ein kostbares Kleid habt Ihr angezogen, Euer reines Wesen und Sein. Nie sah ich ein schöneres Gewand. Ihr seid eine Frau, die Edles trägt‟ (Schaefer, S.147, Gedicht 55). Die Akzentuierung zwischen Ethik und Ästhetik bleibt aber offen; deswegen vertritt dieser Vers das antike Ideal der Kalokagathie (Ehrismann 1999:193). Für weitere Belege siehe Holms Glossarium S.263.

2.12. Sorge

Gerade wie die anderen Leitwörter hat auch sorge verschiedene Bedeutungen, die sich derjenigen der althochdeutschen Belege anschlieβt. Sorge bedeutet erstens „Kummer, seelischer Schmerz, Bekümmernis‟, eine Bedeutung die bei Walther verschiedene Male vorkommt, wie z.B. in nû mugen si doch bedenken die gemeinen nôt,/ wie al diu werlt mit sorgen ringe (Walth 58, 24) „Doch sie sollen nicht vergessen, wie groβ die Not ist überall, und wie die Welt mit der Sorge kämpft‟ (Schaefer, S.117, Gedicht 44) oder in bî dem brunnen ich gesaz,/ mîner sorgen ich vergaz (Walth 94, 27) „am Quell setzte ich mich nieder und vergaβ alle Sorgen‟ (Schaefer, S. 101, Gedicht 39) und in froïde und sorge erkenne ich beide:/ dâ von singe ich swaz ich sol (Walth 110, 34) „Ich weiβ von Freude, ich weiβ von Sorge- und so singe ich, wie man‟s will‟ (Schaefer, S.41, Gedicht 15). Zweitens bedeutet sorge, wie bereits im Althochdeutschen, „Besorgnis, Befürchtung‟ (Götz 1957: 98). Im geistlichen Bereich bezeichnet sorge, wie die althochdeutschen Belege zeigen, die Besorgnis, die der Mensch hinsichtlich des Endes und des Jüngsten Gerichtes empfindet (Götz 1957: 98). Walther hat auch diese Bedeutung manchmal verwendet, nämlich in mîn armez leben in sorgen lît:/ der buoze waere michel zît (Walth 123, 7) „Mein armes Leben liegt in

109 Angst und Sorge, zur Umkehr drängt die Zeit‟ (Schaefer, S.201, Gedicht 71) und verbal in swer ime iht sol, der mac wol sorgen (Walth 100, 28) „Wer ihm noch etwas schuldet, dem muβ bange sein‟ (Schaefer, S. 199, Gedicht 70). Im letzten Beispiel steht das Verb (be)sorgen, was bedeutet, dass man etwas mit Besorgnis bedenken muss (Götz 1957: 98). Sorge ist also auch das angelegentliche Denken an etwas. Man muss auf etwas bedacht sein und sich bemühen, etwas zu erreichen: drî sorge habe ich mir genomen (Walth 84, 1). Dieser Vers mit dem Phraseologismus sorge nehmen bedeutet, dass er sich in dreifacher Hinsicht bemüht (vgl. Schaefer, S. 273, Gedicht 109). Walther verwendet sorge in dieser Bedeutung auch im Vers gotes hulde und mîner frouwen minne,/ dar umbe sorge ich, wie ich die gewinne (Walth 84, 8) „Ich sorge mich, wie ich Gottes Gnade und die Liebe meiner Herrin finde‟ (Schaefer, S.273, Gedicht 109). Neben den Belegen, wo sorge sich dem Althochdeutschen anschlieβt, gibt es die zahlreicheren Belege, die im Minnesang als fester Terminus auftreten. Der Minnesang verwendet das Schmerzwort sorge für den Minneschmerz und Liebeskummer (vgl. provenzalischem cura) (Götz 1957: 99). Erstens haben wir den Liebeskummer der FRAU, die bei Walther nur einmal belegt ist: got hât vil wol ze mir getân,/ sît ich mit sorgen minnen sol,/ daz ich mich underwunden hân/ dem alle liute sprechent wol (Walth 119,27) „Da ich mit Sorgen lieben muβ, hat Gott es gut gefügt, daβ ich mir den erwählte, den jeder preist‟ (Schaefer, S.13, Gedicht 4). In diesem Gedicht leiden sowohl der Mann als die Frau. Ursache dieses beiderseitigen Liebeskummers ist, dass den Liebenden die Erfüllung versagt blieb (Götz 1957:100). Der Liebeskummer des MANNES kommt vor allem zu Stande durch das Verhalten der Frau, wobei sie dem Mann gleichgültig begegnet oder ihn schroff zurückweist. Aber auch das Getrenntsein von der Geliebten bewirkt den Liebeskummer: scheidet, frouwe, mich von sorgen,/ liebet mir die zît (Walth 52, 15) „Herrin, erlöst mich von meinem Kummer und macht auch mir den Maitag lieb!‟ (Schaefer, S.45, Gedicht 16). Walther nennt Liebeskummer manchmal auch sende (Partizip I. von senen „sich sehnen‟) sorge, wie in sende sorge kunde ich ni vertrîben/ minneclîcher danne alsô (Walth 100, 5) „Nie vergaβ ich meinen Liebesschmerz so liebevoll und so schön‟ (Schaefer, S.63, Gedicht 24). Sorge steht auch neben anderen Bezeichnungen wie arebeit, kumber, leit, nôt, riuwe und die Opposita fröide und wünne, z.B. ein mannes heil mir dâ geschach,/ dâ si mit rehten triuwen spach,/ ich müese ir herzen nâhe sîn./ nu endarf es nieman wunder nemen,/ ob âne sorge lebt daz mîn (Walth 72, 30) „Als sie in Wahrheit und Treue bekannte, immer sei ich ihrem Herzen nah, da fand ich die schönste Erfüllung, die ein Mann sich wünscht. Nun soll sich niemand wundern, wenn mein Herz keine Sorgen mehr kennt‟ (Schaefer, S.25, Gedicht 9). Die ermunternden Worte der Frau haben den Mann also von sorge befreit. Die Geliebte gibt also sowohl Leid als Freude: Sist ein wîp

110 diu schœne und êre hât,/ dâ bî liep und leit./ Dazs iht anders künne,/ des sol man sich gar bewegen,/ wan daz mir ir wünneclîchez leben pflegen/ machet sorge unde wünne (Walth 116, 32) „Sie ist eine Frau, die Schönheit und Tugend hat, und Glück und Leid. Glaubt nicht, daβ sie noch andere Künste weiβ: ihr Lieben allein gibt Schmerz und Freude‟ (Schaefer, S.67, Gedicht 25). Walther hat sorge schlieβlich auch als Bezeichnung für die der höfischen froïde und dem hôhen muot entgegengesetzte Gemütsverfassung verwendet (Götz 1957:103). Sorge ist dann Ausdruck dieses daraus entstehenden unfrohen Verhaltens und ist dann identisch mit trûren und ungemüete (Götz 1957: 103). Walther beklagt z.B. das unfrô sein der Jungen in wil ab iemen wesen frô,/ daz wir in den sorgen iemer niht enleben?/ wê wie tuont die jungen sô,/ die von fröiden solten in den lüften sweben? (Walth 42, 32) „Will denn niemand wieder fröhlich sein- wir wollen doch nicht immer in Sorge leben! Ach, wie führt sich die Jugend auf, die doch vor Freude hoch zum Himmel fliegen sollte‟ (Schaefer, S.37, Gedicht 13). Schmerzlich beklagt Walther auch den Verfall der höfischen fröide in owê wie jaemerlîche junge liute tuont!/ den unvil riuweclîche ir gemüete stuont,/ die kunnen nû wan sorgen: owê wie tuont si sô?/ swar ich zer werlte kêre, dâ ist nieman frô:/ der megede tanzen, singen zergât mit sorgen gar (Walth 124, 20) „Ach wie kläglich führt sich die Jugend auf, die einmal froh und gut erzogen war. Jetzt können sie sich bloβ noch sorgen, ach, warum denn nur? Wohin ich schaue auf der Welt, niemand ist mehr froh. Tanzen, Lachen und Singen geht in Sorgen unter‟ (Schaefer, S.205, Gedicht 72). Es fehlt den Jungen also an höfischer Hochgestimmtheit und geselliger Freude. Für weitere Belege siehe Holms Glossarium S.294.

2.13. Staete

Die Substantive staete und staetecheit (Letztens abgeleitet vom Adjektiv staetec/staetic) sind etymologisch mit dem Verb stên „stehen‟ verwandt und bedeuten „Stetigkeit, Festigkeit, Beständigkeit‟ (Ehrismann 1999: 209). Die staete hat eine dominante Stelle in der Ethik erworben und garantiert die Dauer der Tugenden. Sie wird als Schwester der mâze und als die Ratgeberin aller Tugenden gesehen (Ehrismann 1999: 209). Sie wird oft mit der Tugend triuwe verbunden, wie z.B. in diech mit staeten triuwen her gemeinet hân (Walth 94, 3) „die ich immer in Treue liebte‟ (Schaefer, S.137, Gedicht 51). Da triuwe und staete das Minneverhältnis festigen, spielt die staete im Minnelied eine groβe Rolle. Ohne staete und triuwe wäre Herzeleid ja immer anwesend: hâst dû triuwe und staetekeit, sô bin ich sîn ân angest gar, daz mir iemer herzeleit mit dînem willen widervar (Walth 50, 13-16) „Hast du Treue und Beständigkeit, so habe ich keine Furcht; ich weiβ, du willst nicht, daβ ich traurig bin‟ (Schaefer, S.93, Gedicht 35). Dieser Vers beschreibt, dass der Geliebte keine Angst hat, Herzeleid zu bekommen, wenn

111 der/die Partner(in) Treue und einen festen Charakter hat. Doch versichert die staete nicht immer eine Glükseligkeit, denn staet ist ein angest und ein nôt (Walth 96, 29). Sie verlangt die hôhe minne und wenn sie fehlt, wird der Person von der unstaete geschadet. Manchmal wird die unstaete allegorisch für die Hölle stehen, während die staete wieder auf den Himmel hindeutet (Ehrismann 1999:211). Für weitere Belege siehe Holms Glossarium S.298.

2.14. Tiure

Im Minnesang ist das Adjektiv tiure und das Verb tiuren stark vertreten. In den Belegen, wo das ADJEKTIV tiure auβerhalb des Minnebereichs bleibt und auf Unpersönliches bezogen wird, verbindet sich es mit der althochdeutschen Bedeutung, nämlich den materiellen Wert (Götz 1957:60). Dieser Gebrauch auβerhalb des Minnebereichs ist bei den mittelhochdeutschen Minnesängern nur bei Walther belegt, z.B. in got hâte ir wengel hôhen flîz,/ er streich sô tiure varwe dar (Walth 53,36) „Mit Sorgfalt schuf Gott ihre Wangen, mit kostbaren Farben malte er sie‟ (Schaefer, S.53, Gedicht 21). Auch das Adverb tiure wird in diesem Sinne bei Walther verwendet, nämlich in gedenke an den von Engellant,/ wie tiure er wart erlôst von sîner gebenden hant (Walth 19,27) „Denke an den von England, wie seine schenkenden Hände ihn loskauften mit teurem Geld‟ (Schaefer, S.233, Gedicht 81). Die Wendung tiure wesen kann in der Vorstellung äuβerster Seltenheit des Kostbaren fast die Bedeutung „fehlen‟ erreichen, wie z.B. in nû ist uns riuwe tiure,/ si sende uns got ze stiure/ bî sînem minnefiure (Walth 6, 17) „Reue fehlt, wenn Gott mit seinem Liebesfeuer sie nicht zu uns sendet und uns hilft‟ (Schaefer, S. 379, Gedicht 192), oder auch in under frouwen sint unwîp,/ under wîben sint si tiure (Walth 49,4) „Manch adlige Dame ist keine wahre Frau, Frauen dagegen können wohl nicht unfraulich sein!‟ (Schaefer, S.113, Gedicht 42). Auf Personen bezogen, bedeutet tiure „vorzüglich, hervorragend, herrlich‟ oder „angesehen, bedeutend‟. Tiure ist also neben der äuβeren auch die innere Vornehmheit, wie in ich bin des milten lantgrâven ingesinde./ ez ist mîn site daz man mich iemer bî den tiursten vinde (Walth 35,8) „Ich bin im Gefolge des groβzügigen Landgrafen. Das ist so meine Art: man wird mich immer bei den Besten finden‟ (Schaefer, S.299, Gedicht 130). Bî den tiursten bedeutet nicht nur diejenigen, die in der höfischen Gesellschaft „angesehen, bedeutend‟ sind, sondern auch diejenigen, die die höfischen Pflichten erfüllen (Götz 1957: 63). Die Freigebigheit der Herren ist ein Zeichen ihrer höfischen Wohlerzogenheit. Tiursten hat, wie in Schaefers Übersetzung deutlich ist, die Bedeutung „besten‟, doch hält diese Bedeutung auch das Angesehensein und

112 Geehrtwerden mit ein. Tiure ist hier also ein Wertprädikat, das nach dem höfischen Wertmaβstab verliehen wird (Götz 1957: 60). Das zeigt auch folgender Vers: nû wil ich (iemer) deste tiure sîn,/ und bite iuch, frouwe,/ daz ir iuch underwindet mîn (Walth 43,13) „Um so reicher will ich nun sein: bitte, Herrin, helft mir dabei‟ (Schaefer, S.125, Gedicht 47). Durch den Frauendienst wird man nämlich tiure. Man bekommt die Tugend und die werdekeit (cfr. Nr. 16 und Götz 1957:60). Man wird selbst tiure bei ungelohntem, erfolglosem Dienst: dar an gedenke, junger man,/ und wirp nâch herzeliebe: dâ gewinnest an./ ob dus danne niht erwirbest,/ dû muost (doch) iemer deste tiure sîn (Walth 91,30). Mit tiure wesen ist sowohl die eigene Vervollkommnung der höfischen Qualitas, als das Angesehensein von der höfischen Gesellschaft gemeint (Götz 1957: 60). Das VERB tiuren ist semantisch im Mittelalter die Fortsetzung des Althochdeutschen und hat viele Bedeutungen. Eine erste Bedeutung ist „Ansehen verleihen, auszeichnen, adeln‟, wie bei Walther in süenet al die kristenheit:/ daz tiuret iuch, und müet die heiden sêre (Walth 12,23) „Dann schenkt Frieden der ganzen Christenheit, Euch zur Ehre, den Heiden zu Leide‟ (Schaefer, S. 279, Gedicht 113). Im Vers wîp muoz iemer sîn der wîbe hôhste name,/ und tiuret baz dan frouwe, als ichz erkenne (Walth 48,39), von Schaefer übersetzt als „Wort und Begriff der “Frau” sind doch für alle Frauen am höchsten und schönsten; ehrenvoller und kostbarer, so meine ich, als “adlige Dame” und “Herrin” ‟(Schaefer, S.113, Gedicht 42). Tiuren hat die Bedeutung „adeln‟, denn wîp bedeutet für die Frau die höchste Auszeichnung und adelt sie am meisten, während für die Dame „Herrin‟ die höchste Auszeichnung ist, wie verwendet in ‘friundin’ dast ein süezez wort:/ doch sô tiuret ‘frouwe’ unz an daz ort (Walth 63,25) „Geliebte ist ein liebes Wort, doch “Herrin” ehrt über alles‟(Schaefer, S.135, Gedicht 50). Eine zweite Bedeutung des Verbs tiuren ist glorificare „loben, preisen, rühmen‟, die schon im Althochdeutschen im Gebrauch war (Götz 1957:61). Walther zeigt diese Bedeutung in ir tuot als ein wol redender man,/ daz ir sô hôhe tiuret mînen lîp (Walth 43,22) „ihr seid ein wahrer Künstler, wenn Eure Worte mich so hoch erheben‟ (Schaefer, S.125, Gedicht 47). Tiuren kann aber auch das öffentliche Loben der Dame in der Gesellschaft durch den Dichter beinhalten und bedeutet also „ein Loblied singen‟, wie in sô hân ich getobet,/ daz ich die getiuret hân/ und mit lobe gekrœnet,/ diu mich wider hœnet (Walth 40,23) „dann war ich ein Narr, daβ ich sie, die mich zum Dank erniedrigt, besang und krönte mit meinem Lob‟ (Schaefer, S.77, Gedicht 30). In dieser Bedeutung verwendet Walther tiuren auch in kan mîn frouwe süeze siuren?/ waenet sî daz ich ir liep gebe umbe leit?/ sol ich sie dar umbe tiuren,/ daz siz wider kêre an mîne werdekeit (Walth 69, 24) „Kann meine Herrin denn Süβes bitter machen? Glaubt sie, ich gebe ihr Freude für Leid? Soll ich sie besingen, nur daβ sie mich zum Dank erniedrigt und verhöhnt?‟ (Schaefer, S.72, Gedicht 27).

113 Im Minnesang kommt die Spezifizierung der Bedeutung von tiuren aus der Grundbedeutung tiure machen „wertvoll machen, wert verleihen‟ (Götz 1957: 61). Die entsprechende spezielle Bedeutung von tiure im Minnesang ist „höfischen Wert habend‟ oder „tugent und werdekeit besitzend‟. Die faktitive Bedeutung des Verbs bleibt sonst gewahrt und tiuren meint im Minnesang also „im höfischen Sinne wertvoll machen‟, „tugent und werdekeit verleihen‟ und damit auch „im höfischen Sinne läutern‟(Götz 1957: 61). Z.B. wird diese Bedeutung bei Walther gezeigt in er saelic man, sî saelic wîp,/ der herze ein ander sint mit triuwen bî!/ ich wil daz daz ir beider lîp/ getiuret und in hôher wirde sî (Walth 96, 2) „Glücklich der Mann und die Frau, die einander mit treuem Herzen gehören. Ich will, daβ man sie beide achtet und in hohen Ehren hält‟ (Schaefer, S.131, Gedicht 49). Für weitere Belege siehe Holms Glossarium S.317.

2.15. Triuwe

Im Zusammenhang mit der staete (cfr. oben) gibt es die Tugend der Treue. Treue könnte vielleicht mit dem indogermanischen Wort *trewa „Baum, Holz‟ verbunden werden, deshalb könnte die adjektivische Grundbedeutung „fest wie Holz‟ angenommen werden (Ehrismann 1999: 211). Auf jeden Fall gehört die triuwe zu den höchsten Tugenden und spielt eine wichtige stiftende Rolle in der ethischen Identität. Sie steht also für die Ethik des Individuums und für das Individuum selbst, wie z.B. noch immer in den Formeln bî mînen triuwen „meiner Treu!‟ (cfr. Teil I, S.57) zurückzufinden ist (Ehrismann 1999:212). Die Antipoden der Treue sind untriuwe „Betrug‟, haz „Haβ‟ und nît „Miβgunst, Feindseligkeit‟. Wenn Untreue entstand, konnte nach der Lehre Walthers keine geordnete Welt mehr bestehen, und er beklagt, dass triuwe, zuht und êre tot sind: wir möhten balde klagen von schulden ander nôt, daz triuwe zuht und êre ist in der welte tôt (Walth 38,18). Ohne Treue, Zucht und Ehre kennt das Herz auβerdem keine Freuden: Sît man triuwe, milte, zuht und êre wil verplegen sô sêre, sô verzagt an fröiden maneges muot (Walth 112, 4) von Schaefer übersetzt als „Wenn man Treue, Groβmut, Sitte und Ehre ganz aus den Händen gibt, dann verzweifelt an der Freude manches Herz‟ (Schaefer, S.49, Gedicht 19). Für weitere Belege siehe Holms Glossarium S.320.

2.16. Wân, trôst, gedinge

Diese drei Begriffe wân, trôst und gedinge bezeichnen ungefähr in gleicher Weise die Hoffnung. Doch sind die drei Wörter voneinander abzugrenzen. Götz hat diese drei Begriffe

114 dann auch gesondert zu definieren versucht. Gedinge ist die Hoffnung, die auf etwas Bestimmtes gericht ist. Trost ist die Hoffnung, die einen erhebenden Eindruck auf das Gemüt macht. Wân schlieβlich ist die Hoffnung, die der Wirklichkeit entgegengesetzt ist und die Phantasie beschäftigt (Götz 1957: 163). Diese drei Begriffe lassen sich jedoch in der Bezeichnung der Hoffnung des Minnesängers nicht voneinander unterscheiden. Wân hat einerseits die Bedeutung „Hoffnung auf Liebeslohn‟ und andererseits „Hoffnung auf Erlösung vom Liebeskummer, und zwar durch die Geliebte‟, z.B. im Walthers Vers waz danne, ob sî mir leide tuot? Daz kan si wol verkêren./ daz enkunde nieman mir/ gerâten daz ich schiede von dem wâne (Walth 119, 6) „was schadet es, wenn sie mir Leid zufügt? Sie kann es auch wenden. Niemand könnte mich bewegen, meine Hoffnung fallenzulassen‟ (Schaefer, S.35, Gedicht 12). Trôst bezeichnet bei Walther ebenso die „Hoffnung auf Liebesglück‟, wie in ein wernder trôst ze fröiden mir (Walth 121, 22) „Ach, wenn doch diese Hoffnung sich erfüllte!‟ (Schaefer, S.213, Gedicht 73). Trôst ist auch die Hoffnung auf einen guten Ausgang des Dienens, wie in ich wolte von ir dienste gân;/ wan daz ein trôst mich brâhte./ trôst mag ez rehte niht geheizen, owê des!/ ez ist vil kûme ein kleinez trœstelîn (Walth 65, 36) „sollte ich sie verlassen, da hielten mich Trost und Hoffnung zurück. Ach, Trost kann man‟s gar nicht nennen; ein kleines Tröstlein, mehr ist es kaum‟ (Schaefer, S.97, Gedicht 37). Diese Hoffnung soll also Freude bereiten, wie es bei Walther zu lesen ist in mich fröit iemer daz ich alsô guotem wîbe/ dienen sol ûf minneclîchen danc./ mit dem trôste ich dicke trûren mir vertrîbe (Walth 110, 7) „Immer freut mich, daβ ich einer so vollendet guten Frau dienen darf und auf Erfüllung hoffen. Oft, wenn icht traurig bin, gibt mir diese Hoffnung Trost, und all mein Leid vergeht‟ (Schaefer, S.35, Gedicht 11). Manchmal wird auch die Dame selbst als trôst betrachtet: sist iemer mêr vor allem wîben/ ein wernder trôst ze fröiden mir (Walth 121, 22) „Mehr als alle Frauen gibt sie mir stete Hoffnung auf bleibendes Glück‟ (Schaefer, S.213, Gedicht 73). Die Hilfe der Dame im Minneleid, ihre Gnade erbittet also der Minnesänger. Trôst steht bei Walther also auch für den Trostspender und Tröster. In eine seiner Strophen bezeichnet die Frau den Sommer als trôst: sô trœste, trôst, ouch mîne klâge (Walth 64, 19) „So hilf mir, schenke mir Trost in meiner Klage‟ (Schaefer, S.143, Gedicht 53). Zuweilen werden für den trôst in Walthers Versen superlative Wendungen gebraucht, wie z.B. in genâde suoch ich an ir lîp:/ enpfâhe ich wünneclîchen trôst,/ der mac wol heizen friundes gebe (Walth 72, 24) „Ich bitte sie um ihre Liebe. Ihre Antwort, wenn sie mich beseligt, ist eine Gabe, wie sie Liebende einander schenken‟ (Schaefer, S.25, Gedicht 9). Wie wân und trôst bedeutet auch gedinge „die Hoffnung auf guten Ausgang des Dienens‟ und diese Hoffnung erfreut. Gedinge ist nicht zu unterscheiden von der wân-

115 hoffnung in ungelücke mir verkêret/ daz ein saelic man volenden mac./ doch tuot mir der gedinge wol/ der wîle, den ich hân, deichz noch erwerben sol (Walth 92, 7). Da der wân-Charakter der Hoffnung und ihre beglückende Wirkung eine vom Minnesänger eingebildete Hoffnung ist, wird sie oft als liep, minneclîch, trôstlich, wünneclich bezeichnet (Götz 1957:166). Ein Beispiel dafür ist Walthers Vers mich hât wünneclîcher wân,/ und ouch ein lieber friundes trôst/ in senelîchen kumber brâht (Walth 71, 35) „Süβe Träume und die liebe Hoffnung, die die Geliebte meinem Herzen gab, weckten in mir Sehnsuchtsschmerzen‟ (Schaefer, S.23, Gedicht 9). Die beiden Wendungen wünneclîcher wân und lieber friundes trôst bedeuten hier wiederum dasselbe, nämlich dass die liebliche Hoffnung auf den Besitz der Geliebten schmerzliche Sehnsucht bewirkt. Da die drei Wörter dieselbe Bedeutung haben, wechselt der Dichter innerhalb eines Liedes oft den Ausdruck für die Hoffnung: mich müet, sol mîn trôst zergân./ mîn gedinge ist, der ich bin/ holt mit rehten triuwen, dazs ouch mir daz selbe sî./ triuget dar an mich mîn sin,/ sô ist mînem wâne leider lützel fröiden bî (Walth 14, 13) „Es schmerzt mich, wenn meine Hoffnung so zerrinnen soll. Ich liebe sie in wahrer Treue und hoffe von Herzen, daβ auch sie mich in Treue liebt‟ (Schaefer, S.13, Gedicht 5). Auch im Vers 95, 22 werden die Begriffe umgewechselt: sus sazte ich allez bezzerunge für: swie vil ich trôstes ie verlür,/ sô hât ich doch ze fröiden wân (Walth 95,22) „immer glaubte ich, es würde besser werden und hoffte trotz aller Enttäuschung auf Freude‟ (Schaefer, S.131, Gedicht 49). Trôst ist hier das feste Vertrauen, während wân hier die eingebildete Hoffnung bedeutet (Götz 1957: 167). Wân, trôst und gedinge bezeichnen also in gleicher Weise die Hoffnung des Minnesängers, aber eine Hoffnung, die eingebildet ist und also in der Wirklichkeit ein bloβer‚ Wahn‟ ist. Walther will diese Hoffnung aber als Tugend und Ausdruck seiner staete sehen. Nur ab und zu spricht er offen aus, dass seine Hoffnung eingebildet ist. Die Wahnhoffnung ist eigentlich Tugend und Torheit zugleich (Götz 1957: 167). Wân ist für den Minnesänger ein Mittel, um sich Glück und Freude, die in der Wirklichkeit nicht realisiert worden ist, zu verschaffen: muoz ich nû sîn nâch wâne frô,/ son heize ich niht ze rehte ein saelic man (Walth 95,27) „Wenn meine Freude wieder nur ein Trugbild meiner Hoffnung ist, so darf ich mich nicht wahrhaft glücklich nennen‟ (Schaefer, S.131, Gedicht 49). Dieses Glück und diese Freude ist durch die eingebildeten Liebesbeziehungen zu seiner frouwe entstanden: wân unde wunsch daz wolde ich allez ledic lân (Walth 62,20) „Alles Wünschen und Träumen hätte ich so gern vergessen‟(Schaefer, S.147, Gedicht 55). Trotz diesem Glück ist der Dichter sich doch des Trügerischen bewusst: und ich mich selben niht enkan/ getrœsten, mich entriege

116 ein wân (Walth 120,37) „und mir nun selbst nicht helfen kann, es sei denn durch Phantasien und Träumereien‟ (Schaefer, S.211, Gedicht [73]). Auch auβerhalb des Minnebereichs ist der wânbegriff sowohl im spes-Bereich als im opinio-Bereich wiederzufinden. Im spes-Bereich gibt es bei Walther den Vers dâ bî sô swachet iuwer êre,/ und ziuhet doch ûf smaehen wân (Walth 81,22) „euer Ansehen und euer Ehre leiden, denn sie bauen auf trügerische Hoffnung’ (Schaefer, S.335, Gedicht 165). Es handelt sich also hier um eine schnöde, trügerische Hoffnung. Im opinio-Bereich ist bei Walther oft die Rede vom hôhvertiger wân, wie in sich wolte ein ses gesibent hân/ ûf einen hôhvertigen wân: sus strebte ez sêre nâch übermâze (Walth 80,4) „Die Sechs wollte eine Sieben sein; hochfahrende Flausen hatte sie im Kopf und wollte übers rechte Maβ hinaus‟ (Schaefer, S.331, Gedicht 160). Dieser hôhvertige wân bedeutet hier die überhebliche Selbsteinschätzung (Götz 1957: 170). Wie im Althochdeutschen gibt es also im Minnesang für wân auch eine Zweiteilung, nämlich wân als Liebes-Hoffnung und wân als Liebes-wahn, also als Illusion. Für weitere Belege siehe Holms Glossarium S.321, S.365, S.106.

2.17. Wert, Wirde, Werdekeit

a) Wert

Das Adjektiv wert hat auβerhalb des Minnebereichs dieselben Bedeutungen wie im Althochdeutschen. Wert steht wie schon im Althochdeutschen mit dem Genitiv der Sache „einer Sache wert‟, wenn das Adjektiv eine Wertentsprechung enthält, z.B. in wer waere danne lobes sô wol wert (Walth 78, 28), was bedeutet, dass Gott des Lobpreises wert ist, denn „wen sollte man so loben wie ihn‟ (Schaefer, S. 329, Gedicht 156) oder in ihr sît wol wert daz wir die gloggen gegen iu liuten (Walth 28,14), was bedeutet, dass er [der Herzog von Österreich] einer besonderen Ehrung wert ist, denn die Glocken lauten beim Einzug in die Stadt „Ihr habt verdient, daβ die Glocken Euch entgegenläuten‟ (Schaefer, S.321, Gedicht 150). Das Adjektiv wert kann auch im Sinne eines Geldwertes benutzt werden, wie z.B. ez (das Pferd) was wol drier marke wert (Walth 104,11). Walther verwendet wert auch in der unpersönlichen Bedeutung „kostbar, wertvoll‟, wie in frouwe, ir habet ein vil werdez tach/ an iuch geslouft, den reinen lîp (Walth 62, 36) „Herrin, ein kostbares Kleid habt Ihr angezogen, Euer reines Wesen und Sein‟ (Schaefer, S.147, Gedicht 55). Auch die Wendungen wert werden „in Ansehen kommen, Gültigkeit erlangen‟ und wert hân „wert halten, wegen seines Werten hochschätzen‟ sind bei Walther wiederzufinden, nämlich in dâ hin dâ her wart nie sô wert in allen tiuschen landen (Walth 107, 10) und in lîp,

117 lâ die minne diu dich lât,/ und habe die staeten minne wert (Walth 67,29) „Leib, laβ die Liebe fallen, die dich fallen läβt, und liebe die ewige (d.h. die wertvolle) Liebe‟ (Schaefer, S.197, Gedicht 69). Wenn wert auf Personen bezogen ist, werden vor allem Angehörige des Adelgeschlechts gemeint, d.h. sowohl weltliche als geistliche Fürstlichkeiten, wie in künd ich swaz ieman guotes kan,/ daz teilte ich mit dem werden man (Walth 18, 22) „Könnt‟ ich, was Menschen Schönes schaffen können, ich gäb es dem edlen Mann‟ (Schaefer, S. 265, Gedicht 104) oder in sô wê im der den werden fürsten habe erslagen von Kölne! (Walth 85,10) „Weh dem, der den edlen Fürsten von Köln erschlug‟ (Schaefer, S.345, Gedicht 176). Dem werden man steht hier für den Herzog Ludwig von Bayern und den werden fürsten für den Erzbischof Engelbert. Substantivisch kommt die Wendung vil werde oft als Anrede an Maria, die Himmelskönigin, vor: des mane wir dich, vil werde,/ und biten umb unser sünde dich,/ daz dû uns sîst genaediclich (Walth 7,32) „So rufen wir zu dir, du Herrliche, und flehen um unserer Sünden willen, daβ du uns gnädig bist‟( Schaefer, S.381,Gedicht 192). Wenn man das Leitwort wert innerhalb des Minnebereichs untersuchen, bemerken wir vergleichbare Verwendungen. Die Bedeutung von wert als „wert einer Sache‟ steht im Minnebereich in Formulierungen wie „des Liebeslohns, der Gunst, Gnade der Dame, der Erfüllung und Erhöhung wert’ (Götz 1957: 81). Wenn wert im Minnesang NICHT auf PERSONEN bezogen ist, ist es das allgemeine Wertprädikat der Sprache der höfischen Gesellschaft und wird stereotyp verwendet, z.B. in nû wünschen ime dur sînen werden höveschen sanc, daz sîn der süeze vater nâch genâden pflege (Walth 108,11). Für den Minnesänger ist wert eigentlich alles, was von der Dame ausgeht und zu ihr gehört, z.B. der gruoz in mich mant singen ir vil werder gruoz (Walth 109,4) „ihr lieber Gruβ hat mich zu meinen Liedern ermuntert‟ (Schaefer, S.33, Gedicht 11). Auf PERSÖNLICHES bezogen erscheint wert im Minnebereich als allgemeine Wertbezeichnung im höfisch-ritterlichen Sinne und als Bezeichnung für innere Vorzüglichkeit, z.B. in der Bezeichnung werden wîp, d.h. die höfische Dame in all ihrer Vorzüglichkeit (Götz 1957: 82). Walther bietet dieses Bild in wir lâzen alle bluomen stân,/ und kapfen an daz werde wîp (Walth 46,20) „Wir lassen alle Blumen und sind versunken im Anblick der edlen Frau‟ (Schaefer, S. 123, Gedicht 46). Die Frau ist edel, denn sie besitzt die verschiedenen Tugenden wie edel, schœne, reine, wol gekleidet und wol gebunden, und sie hat keine hovelîche hôhgemuot. Manchmal steht wert als Bezeichnung des inneren Wertes neben schœne (provenzalisch bel e pros): frouwe, ir sît schœne und sît ouch wert (Walth 62,16) „Herrin, Ihr seid schön und edel‟ (Schaefer, S.147, Gedicht 55).

118 Werder Mann wird im Minnebereich bei Walther zweimal verwendet, und zwar im Zusammenhang mit ir reiniu wîp, nämlich in ir reiniu wîp, ir werden man,/ ez stêt alsô daz man mir muoz/ êr unde minneclîchen gruoz/ noch volleclîchen bieten an (Walth 66, 21) „Ihr reinen Frauen, ihr edlen Männer, jetzt kommt die Zeit, da man mich freundlicher grüβen und reicher ehren muβ, heute mehr als einst, mit gutem Grund‟ (Schaefer, S.195, Gedicht 69) und in wolveile unwirdet manegen lîp./ ir werden man, ir reiniu wîp,/ niht ensît durch kranke miete veile (Walth 81, 16) „Sich billig herzugeben macht manchem Schande. Ihr edlen Männer, reinen Frauen, gebt euch nicht hin für geringen Lohn‟ (Schaefer, S.335, Gedicht 165). Substantivisch gebraucht Walther wert in der Bedeutung eines inneren Wertseins, das durch eine geistige Haltung in der höfischen Gesellschaft bedingt ist (Götz 1957:83): sô bin ich doch, swie nider ich sî, der werden ein (Walth 66, 37) „dann bin ich edel in aller Niedrigkeit‟ (Schaefer, S.195, Gedicht 69).

b) Wirde

Im Minnesang wurde das Substantiv wirde als Fortsetzung des Althochdeutschen zur Bezeichnung der höfischen Dignität belegt. Im Allgemeinen ist das abgeleitete Leitwort werdekeit vorherrschend. Während die Minnesänger alle werdekeit verwendeten, gebrauchte Walther in seiner Spruchdichtung doch das Leitwort wirde. Wirde benutzt Walther vorwiegend für die Männer, während er für die Frauen werdekeit gebraucht. Werdekeit kann aber auch die Vortrefflichkeit des Mannes bedeuten. Werdekeit ist eigentlich der „moderne‟ und deswegen gebräuchlichere Terminus. UNPERSÖNLICH bedeutet wirde die „glanzvolle Herrlichkeit‟, wie in der hof ze Wiene sprach ze mir/ ‘Walther, ich solte lieben dir,/ nû leide ich dir: daz müeze got erbarmen./ mîn wirde diu was wîlent grôz:/ dô lebte niender mîn genôz,/ wan künec Artûses hof’ (Walther 24, 36) „Der Wiener Hof sprach zu mir: “Walther, ich sollte dir lieb sein, nun bin ich dir leid; möge sich Gott erbarmen. Einst war ich hoch geehrt, da kam mir niemand gleich, nur König Artus‟ Hof” (Schaefer, S.247, Gedicht 91). In derselben Bedeutung ist wirde auch wiederzufinden in ist nâch ir wirde gefurrieret/ diu schœne diu si ûzen zieret/ kam ich ir denne gedienen iht,/ des wirt bi solhen êren ungelônet niht (Walth 121,11) „Ist die Schönheit, die ihr Äuβeres schmückt, gefüttert mit der edlen Seide ihres innern Werts, dann wird mir hohe Ehre und hoher Lohn, wenn ich ihr wohl zu dienen weiβ‟ (Schaefer, S.213, Gedicht 73). Wirde wird von Walther auch in der Bedeutung „Ansehen, Geltung‟ verwendet, nämlich in ôwê, daz dîn wirde alsô geliget!/ des sint alle dîne friunde unfrô (Walth 64, 35) „Ach, ihr

119 schönen Lieder, all eure Freunde sind traurig, weil eurer Wert und eure Ehre am Boden liegen!‟ (Schaefer, S.169, Gedicht 62). Wenn Walther wirde auf PERSONEN bezieht, meint er die innere Werthaftigkeit, wie in sît milde, fridebœre, lât iuch in wirde schouwen:/ sô lobent iuch die reinen süezen frouwen (Walth 36, 15). Die wirde fasst hier die Einzeltugenden zusammen, nämlich Treu, Mitleid, Dankbarkeit gegen Gott, Ehrgefühl, usw (Götz 1957:85). Im Minnebereich bedeutet wirde sowohl die äuβere Vorzüglichkeit als vor allem die innere Vortrefflichkeit. Manchmal ist bei Walther selbst die Rede von hôhe wirde, wie in hôhiu minne reizet unde machet/ daz der muot nâch hôher wirde ûf swinget (Walth 47, 9) und in ich wil daz ir beider lîp/ getiuret und in hôher wirde sî (Walth 96,2) „ich will, daβ man sie beide achtet und in hohen Ehren hält‟ (Schaefer, S.131, Gedicht 49). Getiuret und in hôher wirde wesen bedeutet hier also innere Läuterung und Veredelung (Götz 1957:85). Walther stellt manchmal auch wirde neben froïde und meint damit innere Beglückung und innere Bereicherung/ Veredelung: sich wœnet maneger wol begên/ sô daz er guoten wîben niht enlebe:/ der tôre kan sich niht verstên/ waz ez fröide und ganzer wirde gebe (Walth 96, 12) „Mancher glaubt, er führe ein gutes Leben, wenn er es edlen Frauen verschlieβt. Der Narr weiβ nicht, wieviel Freude und Vollkommenheit es geben kann‟ (Schaefer, S.133, Gedicht 49). Schlieβlich verwendet Walther auch die wernde wirde in diu wernde wirde diust sô guot,/ daz man irz hœhste lop sol geben (Walth 67,4), von Schaefer übersetzt als „Unvergänglicher Wert ist so schön, er verdient den höchsten Preis‟ (Schaefer, S.195, Gedicht 69). Dieses bezeichnet das höfische Wertsein, und zwar das Wertsein, das man sich über das ganze Leben hinweg erhalten hat (Götz 1957: 85). Später im Lied setzt Walther diese Wendung in Beziehung zur wâren minne, die man in der Gottesliebe und nicht in der weltlichen, irdischen Liebe erwirbt (Götz 1957: 85).

c) Werdekeit

Wie schon erwähnt, wurde werdekeit im Minnesang häufiger verwendet als wirde. Vor allem wiederum bei Walther findet sich werdekeit. Aus wirdîg, eine Ableitung von mittelhochdeutschem wert, wurde mittels des Morphems –heit das Substantiv werdekeit gebildet. Diese Neubildung entstand in der Mitte des 12. Jahrhunderts zuerst in der geistlichen Literatur (Ehrismann 1999: 238). Die Semantik von werdekeit hat inhaltlich viel mit êre gemeinsam. Sie verweist auf die Wertvorstellungen, die das adlige Individuum sich nach den Erwartungen der Gesellschaft

120 stellte. Der Gebrauch dieses Wortes ist sehr häufig, und manchmal wurde es aus seiner geistlichen Bindung herausgeführt. Öfters geschah es, dass das Wort im Verbund mit êre gebraucht wurde, und nicht nur mit êre, sondern auch mit den anderen Prädikaten des Adels, wie minne, triuwe, kiusche, .... Die spezifische soziale Akzentuierung des Wortes werdekeit wurde also verlassen, und eine Verallgemeinerung auf ‘hohe werte’ hat sich durchgesetzt, und zwar auch bei Walther: Aller werdekeit ein füegerinne, daz sît ir zewâre, frowe Mâze (Walth 46, 32) „Ihr, Frau Maβe, schenkt und ordnet allen Wert und Sinn‟ (Schaefer, S.121, Gedicht 45). Die Frau Maβe hat nicht nur die werdekeit, sondern auch alle hohen Werte, von denen die Maβe den Wertkodex bestimmt, geschöpft (cfr. S.100). Die frouwe auβerdem besitzt immer schon die werdekeit und kann auch dem Mann durch Arbeit, d.h. durch ritterlichen Kampf und Frauendienst, werdekeit beibringen: diu liebe stêt der schoene bî baz danne gesteine dem golde tuot: nû jehet waz danne bezzer sî, hânt dise beide rehten muot. Si hoehent mannes werdekeit: swer ouch die süezen arebeit dur si ze rehte kan getragen, der mac von herzeliebe sagen (Walth 92,25). „Anmut steht bei der Schönheit wie der Edelstein beim Gold, doch kommt ein edles Herz dazu, sagt, was könnte vollkommener sein? Sie geben einem Mann tieferen Wert und reicheres Glück. Und wer die süβe Not um ihretwillen wahrhaft tragen kann, der darf sagen, daβ er herzlich frohe Liebe hat‟ (Schaefer, S.128-129, Gedicht 48). Objektiv bedeutet werdekeit also die Geltung oder das Ansehen, die man genieβt. Es handelt sich also um das Ansehen der hochgestellten Persönlichkeit, das man durch Dienst und Verdienst erworben hat (Götz 1957: 86), z.B in sî iuwer werdekeit dekeinen bœsen zagen swœre,/ fürsten meister, daz sî iu als ein unnütze drô (Walth 85,4) „Wenn, Herr der Fürsten, Euer hohes Amt dem gemeinen Feigling lästig ist und er Euch droht, beachtet seine leere Drohung nicht‟ (Schaefer, S.343, Gedicht 175). Das Ziel ist also, werdekeit in der Gesellschaft zu erwerben, also Ansehen und Geltung als höfisch gebildeter Ritter. Dem Dichter selber wird auch Ansehen verliehen, wenn die Augen des Hofes auf die Herrlichkeit und Vortrefflichkeit seiner Dame gelenkt werden, z.B. treit iuch mîn lop ze hove, daz ist mîn werdekeit (Walth 62, 25). Das Streben nach werdekeit wird bei Walther auch mit der Wendung werdekeit erjagen „Ansehen in der Gesellschaft erringen‟ angegeben: sô ich ie minre werdekeit bejage (Walth 91, 4) „desto geringer achten sie mich‟ (Schaefer, S. 87, Gedicht 33). Walther selber hat schon von der Kindheit nach werdekeit gestrebt und schreibt in seinen Werken, dass er das weiterhin auch tun will: lât mich an eime stabe gân/ und werben umbe werdekeit/ mit unverzageter arebeit (Walth 66, 34) „Ginge ich auch am Bettelstab- suche ich dabei mit unverdrossener Mühe Ehre und Wert‟ (Schaefer, S.195, Gedicht 69).

121 Dass Lügner und Verleumder in Ansehen stehen, beklagt Walther sehr: ich lepte wol und âne nît,/ wan durch der lügenaere werdekeit (Walth 44, 24) „ich würde glücklich und ohne Feinde leben, wenn man nicht so sehr auf die Lügner hörte‟ (Schaefer, S.143, Gedicht 54). Damit einhergehend beklagt Walther den Verfall der höfischen Sitte und die Entwertung, wie z.B. in hie vor dô berte man die jungen,/ die dâ pflâgen frecher zungen:/ nû ist ez ir werdekeit (Walth 24, 11) „Früher gab man den Jungen eins aufs freche Maul, heute bewundert man ihr Geschrei‟ (Schaefer, S.247, Gedicht 92). Es sind die Frauen, die Schuld daran haben, weil sie die Wohlerzogenheit bei den Männern gering achten (cfr. oben Walth 91, 4). Neben einer objektiven hat werdekeit auch eine subjektive Bedeutung, nämlich „Vortrefflichkeit, Herrlichkeit‟ (vgl. prov. pretz, prœza, valors). Man hat sowohl die werdekeit der Frau, wo werdekeit mit schœne einhergeht (vgl. das provenzalische Paar bontat e beltat), als die werdekeit des Mannes. Die werdekeit der FRAU ist die Summe äuβerer wie innerer Vorzüge und steht, wie erwähnt, neben der schœne als der körperlichen Schönheit, wie in mîner frouwen darf niht wesen leit,/ daz ich rîte und frâge in fremediu lant/ von den wîben die mit werdekeit/ lebent.../ und die schœne sint dâ zuo (Walth 53, 19) „Meine Herrin braucht gar nicht gekränkt zu sein, wenn ich in fremde Länder reite und nach den Frauen frage, die dort geachtet sind... auch schön sind sie‟ (Schaefer, S.83, Gedicht 32). Die werdekeit des MANNES beruht mehr als bei den Frauen auf einer geistigen Haltung und ist ein Ergebnis eines inneren Veredlungsprozesses. Wenn ein Mann diese Vortrefflichkeit erworben hat, hört und verkündet der Dichter gerne deren Lob: ich wil guotes mannes werdekeit/ vil gerne hœren unde sagen (Walth 41,21) „gerne höre und verkünde ich den Preis eines edlen Mannes‟ (Schaefer, S.177, Gedicht 65). Die werdekeit kann der Mann auf jeden Fall im höchsten Grade im Minnedienst erwerben. Der Mann muss aber die Werterhöhung und Veredlung entbehren, solange er nicht die Möglichkeit hat, einer edlen Dame zu dienen: ich hœr iu sô vil tugende jehen/ daz iu mîn dienest iemer ist bereit./ enhaet ich iuwer niht gesehen,/ daz schâte mir an mîner werdekeit (Walth 43, 12) „Ich habe so viel Gutes von Euch gehört, daβ mein Herz immer bereit ist, Euch zu dienen. Wär‟ ich Euch nie begegnet, mein Herz und mein Leben wären ärmer geblieben‟ (Schaefer, S.124, Gedicht 47). Für weitere Belege siehe Holms Glossarium S.376, S.380, S. 387.

2.18. Wünne, vröude

Die Substantive wünne und vröude sind semantisch schwer auseinanderzuhalten, weil sie beide den Begriff Freude beinhalten und beide sowohl eine ältere objektive Bedeutung, nämlich „dasjenige, das Freude bereitet‟, als auch eine jüngere subjektive Bedeutung, nämlich „Äuβerung der Freude‟, besitzen (Ehrismann 1999: 245). Eine Möglichkeit, um

122 wünne und vröude zu trennen, ist die Bevorzugung von wünne für den Begriff der Weltfreude, z.B. in swer dirre wünne volget, hât jene dort verlorn (Walth 124, 33). Wenn Freude aber im Zusammenhang mit der Gesellschaft steht, wird eher vröude als wünne gewählt. Bei Walther z.B. werden für die Klage über den Verlust der Freude in der Welt doch die Wörter vrô und vröide verwendet, wenn konkret vom Zustand der Gesellschaft die Rede war: uns ist erloubet trûren und fröide gar benomen (Walth: 124,27), was bedeutet, dass das Trauern jetzt erlaubt ist, denn die Freude ist geraubt ( vgl. Schaefer, S.205, Gedicht 72). Wenn das Substantiv vröude, wie oben gesagt, im Zusammenhang mit der Gesellschaft verwendet wird, wird klar, dass vröude als persönliche Haltung zum gesellschaftlichen Imperativ gehört, denn Walther schreibt sît daz nieman âne fröide touc (Walth 99,13), was bedeutet, dass da ohne Freude niemand etwas taugt, denn ohne Freude kann niemand leben (vgl. Schaefer, S. 5, Gedicht 1). Da vröude eine Bindung mit der Gesellschaft hat, trat wünne als die mögliche Bindung an das höfische Gesellschaftskonzept zurück und entwickelte allmählich eine eigene Bedeutung, nämlich eine, die im individuellen Bereich des Gefühls der Freude und Lust lag, z.B. in da ist wünne vil (Walth 57,13), wo Walther das deutsche Land rühmt. (Ehrismann 1999:247). In diesem Vers wollte er das höfische Land nur feiern. Wenn man aber wieder den Glückzustand des Landes selbst darstellen will, benutzt man das Wort vröude. Vröude und wünne sind also doch semantisch unterschiedlich. Aber nicht nur die Semantik, sondern auch der Hintergrund des Wortes ist unterschiedlich. Vröude ist eine Ableitung vom indogermanischen Bewegungsverb *preu „springen, hüpfen‟. Der Ursprung von Wünne liegt in der indogermanischen Wurzel *uen- (Ehrismann 1999: 247). Die schwundstufige Form *unio hat im Althochdeutschen zu wunna/wunni „Freude‟ geführt, während die vollstufige Form *uenio zu althochdeutschen winne „Laubweide, mit Baum-und Strauchwuchs‟ führte (Ehrismann 1999: 247). Für weitere Belege siehe Holms Glossarium S.395, S.93.

2.19. Zuht und tugent

Das mittelhochdeutsche tugent kommt aus dem germanischen *dugundi, eine Ableitung vom Verbalstamm *dug, woraus sich die Grundbedeutung „das Taugliche‟ entwickelt hat. Die tugent kann sowohl eine einzelne Qualität einer Person als die Tugenden in ihrer Gesamtheit bedeuten (Ehrismann 1999: 250). Die höfische Literatur legte ihrem Helden eine ganze Liste rühmenswerter Eigenschaften an. Meistens standen die Herrschertugenden, wie milte, êre, Tapferkeit, Demut und Barmherzigkeit im Vordergrund (Ehrismann 1999:250).

123 Das mittelhochdeutsche zuht, aus dem germanischen *tuhti „Zucht, Aufzucht‟ ist ein Verbalabstraktum auf -ti mit dem indogermanischen Basis *deuk- (Ehrismann 1999: 248). Der Zusammenhang von zuht mit ziehen „erziehen‟ ist bei Walther noch spürbar in tiuschiu zuht gât vor in allen (Walth 56, 37) „denn deutsche Lebensart übertrifft die andern alle‟ (Schaefer, S.61, Gedicht 23), wo zuht bewusst in die Bedeutung von Erziehung und Bildung gerückt wird, wie z.B. auch deutlich ist im Walthers Vers tiusche man sint wol gezogen, rehte als engel sint diu wîp getân (Walth 57,7). Aus letzterem Vers erhellt, dass zuht geschlechtsspezifisch verwendet wird (Ehrismann 1999: 249). Die deutschen Männer haben zuht, denn sie sind edel und gebildet, die Frauen dagegen sind wie Engel (Schaefer, S.61, Gedicht 23). Am Ende des Liedes wird der Lob mit dem allgemeinen Wort Tugend beschlossen, nämlich in tugent und reine minne (Walth 57,11). Im Mittelhochdeutschen haben beide Wörter sich also weiter entwickelt, und die Grenze zwischen diesen beiden Wörtern wurde so flieβend, dass beide Substantive oft getauscht wurden, weil die höfische Etikette und die Selbstbeherrschung eine semantische Einheit gebildet hatten (Ehrismann 1999: 249). Bedeutungsgeschichtlich, sagt Ehrismann, sind drei Traditionslinien in tugent zusammengelaufen, nämlich die heimische der Tauglichkeit, die christliche von lateinischem virtus und die antike mit virtus als dynamischer und sittlicher Tugend (Ehrismann 1999: 251). Im Althochdeutschen, erst seit dem 11. Jahrhundert, hat sich der Gebrauch von tugent für virtus ausgebildet. Die Bedeutungsentwicklung des mittelhochdeutschen zuht fing an mit der Grundbedeutung „Zucht‟ im Bereich der Pflanzen und Tiere. Wenn das Wort im geistigen Bereich übertragen wurde, hat das Wort die Bedeutung „Erziehung‟ angenommen (Ehrismann 1999: 251). Mit dieser Bedeutung lässt sich auch der Wortinhalt „Strafe, Züchtigung‟ verbinden, wie es bei Walther in nieman kan gerten kindes zuht beherrten (Walth 87, 1) „Kindererziehung erzwingen kann niemand mit Ruten‟ (Schaefer, S.359, Gedicht 187) deutlich wird (cfr. Teil I, S.59). Aus diesem Vers ist die Bedeutung des Wortes zuht deutlich als „Anstand, Bildung, usw.‟ zu verstehen. In dem Zusammenhang mit dieser Erziehungsbedeutung gehören auch die Hof- und Tischzuchten. In der Vervollkommnung des Menschen spielen nämlich auch die äuβeren Formen eine groβe Rolle (Ehrismann 1999: 252). Der Mensch hat ein äuβeres und inneres Verhalten. Dieses Auβen und Innen sind im späteren Mittelalter auseinandergetreten, wie die Bedeutungsentwicklung von tugent zeigt (Ehrismann 1999: 252). Das ist auch schon bei Walther merkbar in ir müezet in die liute sehen, welt ir erkennen wol: nieman ûzen nâch der varwe loben sol. Vil manic môre ist innen tugende vol: wê wie der wîzen herze sint, der si wil umbe kêren (Walth 35, 33), übersetzt von Schaefer als „Schaut

124 Menschen ins Herz, wollt ihr die Wahrheit wissen; lobt nicht nach der Farbe und ihrem äuβeren Schein. Mancher Schwarze ist innen edel und gut; ach, wie sehen die Herzen der Weiβen aus, wenn man sie nach auβen wendet!‟ (Schaefer, S.307, Gedicht 138). Man muss also in die Menschen hineinblicken, wenn man die Wahrheit erkennen will. Für weitere Belege siehe Holms Glossarium S.323, S.401.

125 3. Schlussfolgerungen

Die mittelalterliche Sprache und Kultur ist, wie aus der Untersuchung der abstrakten höfischen Schlagwörter hervorgeht, in der Dichtung Walther von der Vogelweide reichlich anwesend. Es war selbstverständlich unmöglich, in dieser Arbeit alle Schlagwörter zu untersuchen und zu besprechen. Daher habe ich mich auf die abstrakten höfischen Schlagwörter beschränkt. Es handelt sich um die wichtigen Gruppen der Wörter des Schmerzes, des Wertes und der Hoffnung, denn diese sind bei Walther stark vertreten. Die mittelhochdeutschen Abstrakta sind aber nicht fest zu umreiβen. Sie verfügen nur selten über ein festes semantisches Profil. Im Vergleich zum Althochdeutschen haben diese Schlagwörter im Minnesang einen Bedeutungswandel erfahren. Die Wörter des Schmerzes (sorge, riuwe, arebeit, kumber), des Wertes (saelde, tiure, wert) und der Hoffnung (wân, trôst, gedinge) schließen sich semantisch mehr oder weniger der Bedeutung im Althochdeutschen an. Selbstverständlich aber sind die Wörter in Walthers Minnesang auf den Bereich der Minne übertragen und haben sie sich neue, spezifische Bedeutungen und Konnotationen angeeignet. Die untersuchten Wörter haben bei Walther folgende semantische Nuancen:

AREBEIT hat Auβerhalb des Minnebereichs bei Walther die Bedeutung „Mühe, Anstrengung, die der Mensch auf etwas verwendet‟. Arebeit kann hier auch eine Sicherung der materiellen Existenz sein. Manchmal handelt es sich in diesem Bereich um eine geistige arebeit, wo es sich um den Versuch, Gottes Gröβe verstandesmäβig zu erfassen, handelt. Der Gebrauch von arebeit innerhalb des Minnebereichs ist bei Walther viel häufiger. Allgemein verwendet er die aktive Bedeutung von arebeit, aber auch in der passiven Bedeutung kommt arebeit bei Walther vor und bezeichnet „Beschwernis, die der Mensch erleidet‟. Diese Mühe gibt sich der Minnesänger, um die Gunst der Frau zu erringen. Deswegen kann arebeit identisch mit dem dienest auftreten. Arebeit ist ein dienest, der vom Minnesänger als mühevoll und leidvoll verstanden sein will. Da arebeit zum Schmerzwort geworden ist, stellt es sich bei Walther neben andere Schmerzwörter wie kumber, leit, nôt, riuwe, sorge. Arebeit bedeutet vorwiegend den Liebeskummer des Mannes, aber es kann manchmal auch denjenigen der Frau bezeichnen. Ihre arebeit ist bei Walther eigentlich nur das ungemach des Mannes, die durch die schmerzliche Sehnsucht geläutert wird.

126 DIENEST verwendet Walther, wenn er die Tätigkeit des Mannes gegenüber seiner Herrin, bezeichnen will. Wenn der Dienst aber dem Status nicht angemessen war, dann verbot ihm die êre, ihn auszuführen. Und denjenigen, der den Dienst außerdem ungelohnt lieβ, durfte man schelten. Dienest bezieht sich bei Walther auch auf den Dienst für den Freund oder die Verwandte. Das Leben des Ritters soll ein in arebeit vollzogener dienest sein.

ÊRE ist das Grundthema ritterlichen Lebens. Wenn Walther guot und êre verwendet, wird nicht der Konflikt zwischen triuwe, staete und guot gemeint, sondern die Gefährdung durch Gelderwerb. Die Ehre beinhaltet das hohe Rechtsgut, d.h. das Selbstwertgefühl der Person und seine tugendhafte Haltung, und die Achtung, die die Person von der Gemeinschaft bekommt. Manchmal bezieht sich die Ehre bei Walther auch auf seine gesellschaftliche Stellung. Die Ehre erfordert, dass der Ritter seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen nachkommt. Bei Walther blieb diu êre ein Glücksgeschenk Gottes und ist das Höchste, das ein Mann einzusetzen vermöchte.

Nach Walther gibt es drei Dinge, die der Sänger gerne in einem Schrein vereinen wollte, nämlich ÊRE UND VARNDE GUOT und gotes hulde, wobei varnde guot und êre sich auf die Welt beziehen, meistens auf den Adel, insofern er am guot teilhatte.

Der Gebrauch des Wortes HÖVESCH ist nur langsam in Walthers Texte eingedrungen. Wir treffen vor allem eine Verbindung zwischen dem höfischen Sang und vröude an. Der höfische Sang ist durch den unhöveschen Sang ersetzt worden. Die Person im Lied wird den scharpfen sanc und das unhöfische Verhalten anheben, weil er das hêrren guot und wîbes gruoz nur ungezogenlîch, d.h. ohne zuht, ersingen muss. Weiter sucht der Sänger in einem Lied höveschen trôst bei Herzog Leopold IV.. Dieser trôst bedeutet „Schutz‟ oder vielleicht auch etwa „Zuversicht auf Hilfe‟. Diese Klage über die unhövescheit ist in vielen Liedern von Walther wiederzufinden. Hövesch bezeichnet in Walthers Liedern die Summe materieller und ideeller Wertvorstellungen, die sich mit der ritterlichen Zivilisation verbunden haben. Es gibt eine Erneuerung des Bildes des Verdrängens, also das vom Hofe Verdrängtwerden. Der hövesche Sang und die Freude sind verloren. Und das hat selbst die Jugend schon bemerkt, denn auch ihr Denken ist nicht mehr so höfisch wie vorher.

127

KIUSCH(E) repräsentiert in der Dichtung der Achsenzeit (ritterlichen Blütezeit) die Kontaktweise zwischen Kirche und Hof. Walther bevorzugt kiusch(e) auch in religiösem Kontext. Einmal ist es im Verbund mit triuwe, schœne und reine sitten verwendet. Walther hat kiusche auch einmal für die Religiosität erotischen Sprechens dargestellt.

Vom Französischen aus ist KUMBER nach Deutschland in der äuβeren Bedeutung „Bedrängnis, Not‟ gelangt. Im Minnesang wurden bei Walther drei Stellen in dieser äuβeren Bedeutung gefunden. Mit der Bedeutung „wirtschaftliche Notlage‟ wurden bei Walther mehrere Belege gefunden, in denen Walther dem kumber den Besitz irdischen Gutes gegenüber stellt. Kumber bedeutet bei Walther auch die innere Belastung und ist im Minnebereich der Liebesschmerz,-kummer. Meistens ist das Verhalten der Frau die Ursache für den Liebeskummer des Mannes. Die Motive für den Liebeskummer sind erstens die Dame, die den dienest des Minnesängers nicht lohnt. Zweitens kann der kumber entstehen, weil die Dame das Liebesglück versagt oder drittens den Mann nicht erhört. Schlieβlich wird der kumber durch die Ablehnung verursacht, wodurch das Werben erfolglos geworden ist. Kumber ist in der Verwendung im Minnesang nicht von anderen Schmerzwörtern wie sorge und arebeit zu unterscheiden. Kumber stellt sich also als Import-Wort neben die anderen altheimischen Wörter, die den Minneschmerz bezeichnen.

Die MÂZE war schon in der antiken und frühchristlichen Zeit eine der Grundtugenden. Ritter und Dame, König und Königin mussten nach den Normen der mâze leben. Es gab in der höfischen Zeit für das Wort mâze sowohl eine ästhetische, als auch eine ethische Bedeutungsvariante. Diu mâze wurde sowohl vom Dichter selbst als von seinen literarischen Figuren gefordert. Die ethische Variante lässt sich dabei nicht leicht von der ästhetischen trennen. Die ethische Bedeutung ist vor allem in der Dichtung der Achsenzeit üblich. Das Maβ ist schon bei Walther das Hauptmerkmal jeder einzelnen Tugend. Wenn die Minne z.B. mit unmâze verbunden ist, endet sie in Unglück und Tod. Wo die Grenze zwischen mâze und unmâze liegt, kann man nicht sagen, denn die Semantik von mâze ist wie die vielen anderen mittelhochdeutschen Abstrakta nicht fest zu umreiβen. Unmâze bezog sich vor allem auf die Jugend, die sich nicht zur mâze erziehen will.

128 In der christlichen Zeit wurde Maβhalten als Schütz vor Hochmut gesehen, mehr noch, die Seele wurde durch das Maβhalten gereinigt und zu Gott geführt. In der christlichen Ethik hat das Maβ unter den vier Kardinaltugenden eine Stelle eingenommen. Die Regeln der mâze sind für Mann und Frau unterschiedlich. Für den Mann besteht sie darin, dass er ausgewogen mit Rede und Schweigen, mit Frauennähe und -ferne umgeht. Wenn er nach Ehre strebt, soll er nicht jammern und die Wut beherrschen. Die Maβ-Regeln für die Frau beziehen sich vor allem auf den Bereich der Minne. Eine maβvolle Frau sinnt nicht auf Rache und kennt keinen Neid.

MUOT „Gesinnung, Sinn, Mut, Inneres‟ ist das Schlüsselwort der germanischen Dichtung und ebenfalls eines der „Seelenwörter‟. Die heutige Bedeutung von muot „Kühnheit, Tapferkeit‟ war im Mittelhochdeutschen kaum ausgebildet. Muot steht im Mittelhochdeutschen bei Walther für den Gedanken, den Sinn. Es gibt also eine semantische Gleichwertigkeit von muot und sinn. Die alte Bedeutung „Sinn‟ ist auch heute noch nicht ganz verloren gegangen. Viele feste Verbindungen, die bei Walther schon Eingang fanden, wie froher Mut, guter Mut und Komposita wie Demut, Anmut, Hochmut, sind bewahrt geblieben.

Das höfische Schlagwort SAELDE hat als Grundbedeutung „Glück‟, aber es gibt bei Walther von der Vogelweide viele Bedeutungen und Bedeutungsschattierungen. Vor allem auβerhalb der Minnesphäre ist das mittelhochdeutsche saelde die Fortsetzung des althochdeutschen sâlida, das verwendet wurde zum Ausdruck des Glücksgefühls. Es kann ebenfalls das Gelingen und den Erfolg im Handeln bedeuten. Saelde steht bei Walther oft für die Gesamtheit der Glücksgüter, und er benutzt saelde auch in Verbindung mit anderen Glück und Heil bezeichnenden Wörtern. Zwischen den einzelnen Begriffen gibt es keinen groβen Unterschied, denn saelde und heil bedeuten beide den Lebenserfolg dank dem Besitz. Im geistlichen Bereich verweist saelic bei Walther auf „die himmlische Seligkeit‟, denn der Ursprung der saelde liegt in Gott. Die saelde ist der Segen, der von Gott kommt und über das Gelingen und den Erfolg im Handeln entscheidet. Im Minnebereich steht die saelde für das persönliche Geschick, das zum Erfolg oder Misserfolg im Minnewerben führt. In geistlicher Sicht ist der Minne-Erfolg vom Schicksal begünstigt und von Gott gesegnet und begnadet. Saelde kann das Gelingen und den Erfolg in der Minne selbst meinen. Dieser Erfolg, dieses Gelingen äuβert sich in der Beglückung von Seiten der Dame, die die Macht, das

129 Liebesleid abzuwenden, besitzt, und den Minnesänger glücklich machen kann. Saelic beinhaltet also neben dem Äußeren des Minne-Erfolges auch das innere Glück. Die Bedeutung von saelde/saelic ist bei Walther manchmal doppeldeutig. Erotische und religiöse Sprache stehen nahe beieinander. Die Interpretation für beide Sphären ist dann rezeptiv offen, wodurch das Publikum selbst ausmachen kann, welcher der beiden Sphären es vorzieht. Es könnte auch sein, dass sich beide Sphären, miteinander verknüpfen lassen. Die Gnadenspenderin ist im Minnesang die frouwe und Grundlage dafür ist ihre güete. Der Minnesänger bittet die frouwe, ihm güete, Erhörung und Liebeserfüllung zuteil werden zu lassen. Wie Maria wegen ihrer guotî gepriesen wird, wird die frouwe vom Walther wegen ihrer güete gepriesen, oder wie man sich an Maria mit der Bitte um Trost und Gnade richtet, bittet er auch die Dame um trôst. Die güete könnte bei Walther auf die höfischen Tugenden hinweisen, sodass frouwe/ saelic wîp die höfische Dame, die bona domina, die nach höfischer Wertung lebt, bezeichnet. Zu bemerken, ist auch, dass saelic für den Mann nicht so in den Vordergrund tritt. Doch findet man Belege, wo der saelic man verwendet wird als höfische Wertbezeichnung für den Mann. Saelic meint für den Mann also den Besitz der höfischen Qualitäten. Es zeigt sich, dass eine geschlossene Auffassung für saelde im Minnesang nicht nachweisbar ist. Man kann nicht sagen, ob die saelde des Minnesangs weltlich oder geistlich fundiert ist. Obwohl die saelde semantisch eine Fortsetzung aus dem Althochdeutschen ist, hat sie im Minnesang eine weitere Bedeutung hinzubekommen. Sie hat sich zu einer höfischen Wertbezeichnung entwickelt.

Die SCHOENE wurde im Gegensatz zu GUOT von Walther häufiger als Thema gewählt, weil die Schönheit als Selbstzweck anwesend war und weil vor allem die weibliche Schönheit ambivalente Züge hat. Verderblich wird die weibliche Schönheit, wenn die Erotik anfängt, eine Rolle zu spielen. In Walthers Lied-Corpus gibt es drei Modelle des schoene und guot. Das erste Modell präsentiert das antike Ideal der Kalokagathie, das zweite zeigt die Vergänglichkeit der körperlichen Schönheit. Ein gutes Benehmen, d.h. die Schönheit des inneren Herzens, ist bei Walther wichtiger als die Schönheit des Körpers. Vor allem Frauen, schreibt Walther, legen groβen Wert darauf. Die wahre unvergängliche Schönheit, sagt Walther, liegt tief im Herzen und äuβert sich als die Liebe. Wenn man m.a.W. Liebe kennt, folgt die Schönheit von selbst, denn Liebe macht schöne Frauen und gerade das kann die Schönheit nicht tun. Die Herzensgüte wird also zu einem weiblichen Merkmal. Im dritten Modell wird die

130 Kalokagathie nicht mehr der adligen Geliebten zugesprochen und wird die Vermischung von geistlicher und irdischer Schönheit und Güte vertreten.

Auch das Leitwort SORGE hat bei Walther verschiedene Bedeutungen. Eine Bedeutung von sorge die bei Walther verschiedene Male vorkommt ist „Kummer, seelischer Schmerz, Bekümmernis‟, aber auch die althochdeutsche Bedeutung „Besorgnis, Befürchtung‟ ist bei Walther vertreten. Im geistlichen Bereich bezeichnet sorge bei Walther die Besorgnis, die der Mensch empfindet. Sorge ist auβerdem das angelegentliche Denken an etwas. Man muss auf etwas bedacht sein und sich bemühen, etwas zu erreichen. Im Bereich des Minnesangs verwendet Walther das Schmerzwort sorge für den Minneschmerz und Liebeskummer. Erstens für den Liebeskummer der Frau, die bei Walther nur einmal belegt ist. Der Liebeskummer des Mannes zweitens kommt durch das Verhalten der Frau, wobei sie dem Mann gleichgültig begegnet oder ihn schroff zurückweist. Aber auch das Getrenntsein von der Geliebten bewirkt den Liebeskummer. Sorge steht bei Walther auch neben anderen Bezeichnungen wie arebeit, kumber, leit, nôt, riuwe und die Opposita fröide und wünne. Walther hat sorge schlieβlich auch als Ausdruck des entstehenden unfrohen Verhaltens verwendet und ist dann identisch mit trûren und ungemüete.

Die STAETE wird von Walther als Schwester der mâze und als Ratgeberin der Tugenden gesehen. Oft wird sie von Walther mit der Tugend triuwe verbunden. Da triuwe und staete das Minneverhältnis festigen, spielt die staete im Minnelied eine groβe Rolle. Ohne staete und triuwe wäre Herzeleid ja immer anwesend. Der Geliebte hat keine Angst, Herzeleid zu bekommen, wenn der/die Partner(in) Treue und einen festen Charakter hat. Doch versichert die staete nicht immer eine Glükseligkeit, denn sie verlangt die hôhe minne, und wenn sie fehlt, wird der Person von der unstaete geschadet. Manchmal steht die unstaete in Walthers Liedern allegorisch für die Hölle, während die staete auf den Himmel hindeutet.

Das Adjektiv TIURE in der Bedeutung auβerhalb des Minnebereichs und auf Unpersönliches bezogen, ist bei den mittelhochdeutschen Minnesängern nur bei Walther belegt. Auch das Adverb tiure wird bei Walther verwendet. Auf Personen bezogen, bedeutet tiure „vorzüglich, hervorragend, herrlich‟ oder „angesehen, bedeutend‟. Tiure wird von Walther auch als Wertprädikat verwendet. Durch den

131 Frauendienst bekommt man die tiure und die werdekeit. Man wird nach Walther selbst tiure bei ungelohntem, erfolglosem Dienst. Das Verb tiuren ist semantisch im Mittelalter die Fortsetzung des Althochdeutschen und hat viele Bedeutungen. Eine erste Bedeutung, die bei Walther üblich ist, ist „Ansehen verleihen, auszeichnen, adeln‟. Eine zweite Bedeutung des Verbs tiuren ist „loben, preisen, rühmen‟. Tiuren kann aber auch das öffentliche Loben der Dame in der Gesellschaft durch den Dichter beinhalten und bedeutet also „ein Loblied singen‟, Im Bereich der Minnesang hat tiure bei Walther die Bedeutung „höfischen Wert habend‟ oder „tugent und werdekeit besitzend‟. Die faktitive Bedeutung des Verbs bleibt sonst gewahrt und tiuren meint also „im höfischen Sinne wertvoll machen‟, „tugent und werdekeit verleihen‟.

TRIUWE, eine der höchsten Tugenden, steht für die Ethik des Individuums und für das Individuum selbst. Ihre Antipoden sind untriuwe „Betrug‟, haz „Haβ‟ und nît „Miβgunst, Feindseligkeit‟. Wenn Untreue entstand, konnte nach der Lehre Walthers keine geordnete Welt mehr bestehen, und er beklagt dann auch, dass triuwe, zuht und êre tot sind, und ohne Treue, Zucht und Ehre kennt das Herz auβerdem keine Freuden.

Die drei Begriffe WÂN, TRÔST und GEDINGE lassen sich in der Bezeichnung der Hoffnung des Minnesängers nicht voneinander unterscheiden. Wân hat bei Walther einerseits die Bedeutung „Hoffnung auf Liebeslohn‟ und andererseits „Hoffnung auf Erlösung vom Liebeskummer, und zwar durch die Geliebte‟. Trôst bezeichnet bei Walther ebenso die „Hoffnung auf Liebesglück‟, aber trôst ist auch die Hoffnung auf einen guten Ausgang des Dienens. Manchmal wird die Dame selbst von Walther als trôst betrachtet, und diese Hilfe der Dame im Minneleid, ihre Gnade erbittet der Minnesänger. Trôst steht bei Walther also auch für den Trostspender und Tröster. Wie wân und trôst bedeutet auch gedinge „die Hoffnung auf guten Ausgang des Dienens‟, und diese Hoffnung erfreut. Da die drei Wörter dieselbe Bedeutung haben, wechselt Walther innerhalb eines Liedes oft den Ausdruck für die Hoffnung. Wân, trôst und gedinge bezeichnen in gleicher Weise die Hoffnung des Minnesängers, aber eine Hoffnung, die eingebildet ist und also in der Wirklichkeit ein bloβer „Wahn‟ ist.

132 Walther will diese Hoffnung aber als Tugend und Ausdruck seiner staete sehen. Nur ab und zu spricht er offen aus, dass seine Hoffnung eingebildet ist. Wân ist für Walther ein Mittel, um sich Glück und Freude, die in der Wirklichkeit nicht realisiert worden ist, zu verschaffen. Diese Freude ist durch die eingebildeten Liebesbeziehungen zu seiner frouwe entstanden. Trotz diesem Glück ist Walther sich doch des Trügerischen bewusst. Auch auβerhalb des Minnebereichs ist der wânbegriff sowohl im spes-Bereich als im opinio-Bereich wiederzufinden. Im spes-Bereich handelt es sich um eine schnöde, trügerische Hoffnung, während im opinio-Bereich bei Walther oft die Rede vom hôhvertiger wân ist, was die Selbsteinschätzung zeigt.

Das Adjektiv WERT hat auβerhalb des Minnebereichs in Walthers Minnesangsliedern dieselben Bedeutungen wie im Althochdeutschen. Wert steht mit dem Genitiv der Sache „einer Sache wert‟, wenn das Adjektiv eine Wertentsprechung enthält. In der unpersönlichen Bedeutung verwendet Walther wert für „kostbar, wertvoll‟. Die Wendungen wert werden „in Ansehen kommen, Gültigkeit erlangen‟ und wert hân „wert halten, wegen seines Werten hochschätzen‟ sind auch bei Walther wiederzufinden. Wenn wert auf Personen bezogen ist, werden vor allem Angehörige des Adelgeschlechts gemeint. Innerhalb des Minnebereichs bemerken wir bei Walther vergleichbare Verwendungen. Die Bedeutung von wert als „wert einer Sache‟ steht im Minnebereich in Formulierungen wie „des Liebeslohns, der Gunst, Gnade der Dame, der Erfüllung und Erhöhung wert‟. Wenn wert im Minnesang nicht auf Personen bezogen ist, ist es das Wertprädikat der Sprache der höfischen Gesellschaft. Auf Persönliches bezogen erscheint wert im Minnebereich als allgemeine Wertbezeichnung im höfisch-ritterlichen Sinne und als Bezeichnung für innere Vorzüglichkeit.

WIRDE benutzt Walther vorwiegend für die Männer, während er für die Frauen werdekeit gebraucht. Werdekeit kann aber auch die Vortrefflichkeit des Mannes bedeuten. Werdekeit ist eigentlich der „moderne‟ und deswegen gebräuchlichere Terminus. Unpersönlich bedeutet wirde die „glanzvolle Herrlichkeit‟, aber wirde wird von Walther auch in der Bedeutung „Ansehen, Geltung‟ verwendet.

133 Wenn Walther wirde auf Personen bezieht, meint er die innere Werthaftigkeit, wo die wirde die Einzeltugenden zusammenfasst. Im Minnebereich bedeutet wirde sowohl die äuβere Vorzüglichkeit als die innere Vortrefflichkeit. Manchmal ist bei Walther selbst die Rede von hôhe wirde. Walther stellt manchmal auch wirde neben froïde und meint damit innere Beglückung und innere Bereicherung/ Veredelung.

WERDEKEIT wurde bei Walther häufiger verwendet. Die Semantik von werdekeit hat inhaltlich viel mit êre gemeinsam. Sie verweist auf die Wertvorstellungen, die das adlige Individuum sich nach den Erwartungen der Gesellschaft stellte. Öfters geschah es bei Walther, dass das Wort im Verbund mit êre gebraucht wird, und auch mit den anderen Prädikaten des Adels, wie minne, triuwe, kiusche, .... Die spezifische soziale Akzentuierung des Wortes werdekeit wurde verlassen, und eine Verallgemeinerung auf ‘hohe werte’ hat sich bei Walther durchgesetzt. Objektiv bedeutet werdekeit die Geltung oder das Ansehen. Das Ziel ist in Walthers Dichtung, werdekeit in der Gesellschaft zu erwerben, also Ansehen und Geltung als höfisch gebildeter Ritter. Dass Lügner und Verleumder in Ansehen stehen, beklagt Walther. Er beklagt den Verfall der höfischen Sitte und die Entwertung. Es sind die Frauen, die Schuld daran haben, weil sie die Wohlerzogenheit bei den Männern gering achten. Neben einer objektiven hat werdekeit auch eine subjektive Bedeutung „Vortrefflichkeit, Herrlichkeit‟. Man hat dabei sowohl die werdekeit der Frau als die werdekeit des Mannes. Die der Frau ist die Summe äuβerer wie innerer Vorzüge und steht neben der schœne als der körperlichen Schönheit. Die werdekeit des Mannes beruht auf einer geistigen Haltung und ist ein Ergebnis eines inneren Veredlungsprozesses. Wenn ein Mann die Vortrefflichkeit erworben hat, hört und verkündet Walther gerne deren Lob. Der Mann muss aber die Werterhöhung und Veredlung entbehren, solange er nicht die Möglichkeit hat, einer edlen Dame zu dienen.

Die Substantive WÜNNE und VRÖUDE sind semantisch schwer auseinanderzuhalten. Eine Möglichkeit, wünne und vröude zu trennen, ist die Bevorzugung von wünne für den Begriff der Weltfreude. Wenn Freude aber im Zusammenhang mit der Gesellschaft steht, wird eher vröude als wünne gewählt. Bei Walther werden für die Klage über den Verlust der

134 Freude in der Welt doch die Wörter vrô und vröide verwendet, wenn konkret vom Zustand der Gesellschaft die Rede war. Da vröude eine Bindung mit der Gesellschaft hat, trat wünne als die mögliche Bindung an das höfische Gesellschaftskonzept zurück und entwickelte allmählich eine eigene Bedeutung.

Der Zusammenhang von ZUHT mit ziehen „erziehen‟ ist bei Walther noch spürbar, wobei er zuht bewusst in die Sphäre von Erziehung und Bildung rückt. Zuht wird bei Walther geschlechtsspezifisch verwendet. So haben die deutschen Männer zuht, denn sie sind edel und gebildet, die Frauen dagegen sind wie Engel. Im Mittelhochdeutschen haben ZUHT und TUGENT sich weiter entwickelt, und die Grenze zwischen diesen beiden Wörtern wurde so flieβend, dass beide Substantive getauscht wurden. In tugent sind drei Traditionslinien zusammengelaufen: die heimische der Tauglichkeit, die christliche von lateinischem virtus und die antike mit virtus als dynamischer und sittlicher Tugend. Die Bedeutungsentwicklung des mittelhochdeutschen zuht fing an mit der Grundbedeutung „Zucht‟ im Bereich der Pflanzen und Tiere, und das Wort hat im geistigen Bereich die Bedeutung „Erziehung‟ angenommen. Mit dieser Bedeutung lässt sich bei Walther auch der Wortinhalt „Strafe, Züchtigung‟ verbinden. Im Zusammenhang mit dieser Erziehungsbedeutung gehören auch die Hof- und Tischzuchten. Der Mensch hat ein äuβeres und inneres Verhalten, die im späteren Mittelalter, und auch schon bei Walther auseinandergetreten sind. Man muss nach Walther in die Menschen hineinblicken, wenn man die Wahrheit erkennen will.

* Die abtrakten höfischen Leitwörter sind, wie die Befunde zeigen, semantisch nicht geschlossen. Die verschiedenen Bedeutungen stellen vor allem kulturelle Nuancierungen dar. So ist eine geschlossene semantische Bedeutung von z.B. saelde bei Walther nicht nachweisbar. Das Wort hat u.a. eine besondere Funktion, d.h. die Bezeichnung höchster Werthaftigkeit, angenommen; in diesem Sinne sind einige Kollokationen wie saelic man, saelic wîp gebildet. Auch arebeit z.B. hat in Walthers Minnesang eine weitere, aber keine einzige, geschlossene Bedeutung angenommen. Arebeit kommt in seiner aktiven Bedeutung bei Walther selbst in die Nähe von dienest. Dienest verwendet Walther dann als neutrale Bedeutung und arebeit benutzt er, wenn er den Minnedienst als mühevoll und leidenschaft

135 markieren will. In seiner passiven Bedeutung schließt arebeit sich der Reihe der Wörter des Liebeskummers und Liebesschmerzes, d.h. kumber, leit, nôt, riuwe, sorge, usw. an. Vor allem die Wörter der Hoffnung weisen auf die ambivalenten Bedeutungen des Schlagwortes hin. So können wân, trôst und gedinge bei Walther die Hoffnung auf Liebeserfüllung bezeichnen. Wân aber bedeutet bei Walther auch den Liebeswahn, die Hoffnung, die nicht zur Wahrheit verwirklicht wird.

Die Befunde zeigen, dass die höfischen abstrakten Schlagwörter schon im mittelhochdeutschen Minnesang Walthers von der Vogelweide reichlich anwesend waren. Es könnte aber noch immer viel untersucht werden, um ein deutliches Bild über die sonstigen höfischen Schlagwörter bei Walther von der Vogelweide zu bekommen. Auch könnten diese abstrakten und die anderen Leitwörter bei anderen Minnesängern betrachtet und miteinander verglichen werden. Vielleicht könnte diese Arbeit dazu ein Ansatz gewesen sein.

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Anhang II

137 138 Arebeit

- lât mich an eime stabe gân/ und werben umbe werdekeit/ mit unverzageter arebeit (Walth 66, 35). „Ginge ich auch am Bettelstab- suche ich dabei mit unverdrossener Mühe Ehre und Wert‟ (Schaefer, S.195, Gedicht 69).

- aller arebeite heten wir vergezzen (Walth 13, 21). „Wir vergaβen alles Tun‟ (Schaefer, S.183, Gedicht 66).

- mehtiger Got, dû bist sô breit,/ gedaeht wir dâ nâch, daz wir unser arebeit/ verlürn! dir sint ungemezzen maht und êwekeit! (Walth 10, 2). „Gewaltiger Gott, du bist so groβ und weit; vergebens wäre alle Mühe, dein Maβ zu begreifen, denn unermeβlich sind deine Macht und Ewigkeit‟ (Schaefer, S.180, 347).

- hêr keiser, swenne ir tiuschen fride/ gemachet staete bî der wîde,/ sô bietent iu die fremeden zungen êre./ die sult ir nemen ân arebeit (Walth 12, 21). „Herr Kaiser, wenn Ihr bei Strafe des Stranges Deutschland einen dauernden Frieden gegeben habt, dann huldigen Euch alle Völker. Ohne Mühe erreicht Ihr das‟ (Schaefer, S.279, Gedicht 113).

- swer ouch die süezen arebeit/ dur sie ze rehte kan getragen,/ der mac von herzeliebe sagen (Walth 92, 30). „Und wer die süβe Not um ihretwillen wahrhaft tragen kann, der darf sagen, daβ er herzlich frohe Liebe hat‟ (Schaefer, S.129, Gedicht 48).

- waz hân ich erworben?/ anders niht wan kumber den ich dol (Walth 52, 29). „Was hab‟ ich behalten? Nur Schmerzen und Leid‟ (Schaefer, S.83, Gedicht 32).

- sagte mir ein ander maere,/ des mîn herze inneclîchen kumber lîdet iemer sît./ owê wie süeze ein arebeit!/ ich hân ein sanfte unsenftekeit (Walth 119, 24). „und mir ganz anderes sagte. So trägt mein Herz seit diesem Tage groβes Leid. Ach, welch süβer Schmerz! Ich fühle selige Qual‟ (Schaefer, S.11, Gedicht 4).

139 - daz ist senender muot mit gerender arebeit (Walth 117, 13). „das ist ein liebend sehnendes Herz und eine verlangend sehnende Not‟ (Schaefer, S.173, Gedicht 63).

- mich hât ein wünneclîcher wân und ouch ein lieber friundes trôst in senelîchen kumber brâht (Walth 71, 37). „Süβe Träume und die liebe Hoffnung, die die Geliebte meinem Herzen gab, weckten in mir Sehnsuchtschmerzen‟ (Schaefer, S.23, Gedicht 9).

Dienest

- Ich hân hêrn Otten triuwe, er welle mich noch rîchen: wie nam abe er mîn dienest ie sô trügelîchen? (Walth 26, 23). „Herr Otto gab mir sein Wort, er mache mich noch reich; doch wie konnte er meine Dienste annehmen und mich so betrügen?‟ (Schaefer, S.315, Gedicht 144).

Êre und varnde guot

- diu zwei sint êre und varnde guot/ daz dicke ein ander schaden tuot,/ daz dritte ist gots hulde,/ der zweier übergulde (Walth 8, 14). „Zwei sind Ehre und Güter der Welt, die beide sich oft befeinden, das dritte ist Gottes Gnade in ihrem Goldglanz beide überstrahlend‟ (Schaefer, S.223, Gedicht 76).

- jâ leider desn mac niht gesîn,/ daz guot und weltlich êre und gotes hulde mêre zesamene in ein herze komen (Walth 8, 14). „Doch ach, es kann nicht sein, daβ weltliche Güter und Ehre und dazu Gottes Gnade in einem Herzen sich finden‟ (Schaefer, S.223, Gedicht 76).

- Armen man mit guoten sinnen/ sol man für den rîchen minnen,/ ob er êren niht engert (Walth 20, 22). „den Armen, der edel denkt, soll man mehr lieben als den Reichen, der nicht in Ehre leben will‟ (Schaefer, S.241, Gedicht 87).

140 Hövesch

- swer höveschen sanc und fröide stoere, daz der wede unfrô (Walth 31, 36). „Jedem‚der höfische Lieder und Freude stört, Lust und Freude vergehen‟ (Schaefer, S.29 Gedicht 121).

- ich hân wol und hôvelichen her gesungen: mit der hövescheit bin ich nû verdrungen, da die unhöveschen nû ze hove genaemer sint dann ich (Walth 32, 1). „mit all meinem Benehmen seh‟ ich mich nun an die Wand gedrängt; am Hofe mag man die plumpen Unhöfischen lieber als mich‟ (Schaefer, S.293, Gedicht 121).

- Nû will ich mich des scharpfen sanges ouch genieten/dâ ich ie mit vorhten bat, dâ wil ich nû gebieten./ ich sihe wol daz man hêrren guot und wîbes gruoz/ gewalteclîch und ungezogenlîch erwerben muoz (Walth 32,7). „Nun will auch ich in grellen Tönen singen! Wo ich einst furchtsam bat, da will ich nun gebieten. Ich sehe, daβ man die Gaben der Herren und den Dank der Damen rücksichtslos und mit Gewalt sich nehmen muβ‟ (Schaefer, S.293, Gedicht 122).

- owê, hovelîchez singen,/ daz dich ungevüege doene/solten ie ze hove verdringen!/daz die schiere got gehoene [...] frô Unfuoge, ir habt gesiget (Walth 64, 31). „Ach, ihr Lieder, die zum Hofe passen, warum durften schrille, grobe Klänge euch je vom Hof vertreiben? Schande über diesen Unfug, lieber Gott! [...] Frau Tölpelei, Ihr habt gewonnen‟ (Schaefer, S.169, Gedicht 62).

- swer unfuoge swîgen hieze-/waz man noch von fröiden sunge!/ und si abe den bürgen stieze,/daz si dâ die frôn niht twunge! (Walth 65, 1). „Welcher Freudenlieder sänge man, wenn man plumpen Unfug schweigen hieβe und ihn von den Schlössern jagte! Dann lieβe er die wahrhaft Fröhlichen in Ruhe‟ (Schaefer, S.171, Gedicht 62).

141 - owê, wie jaemerlîche junge liute tuont,/den ê vil hovelîchen ir gemüete stuont! (Walth 124, 21). „Ach, wie kläglich führt sich die Jugend auf, die einmal froh und gut erzogen war‟ (Schaefer, S.205, Gedicht 72).

Kiusche

- die pfaffen solten kiuscher dan die leien wesen (Walth 34,1). „Priester sollten keuscher als Laien sein‟ (Schaefer, S.307, Gedicht [137]).

- dâ liebez herze in triuwen stât, in schœne, in kiusche, in reinen siten (Walth 93, 1). „wenn ein liebes, liebendes Herz Treue, Schönheit, Unschuld, Reinheit hat‟ (Schaefer, S.129, Gedicht 48).

- Vil süeze frouwe hôhgelopt, mit reiner güete/ dîn kiuscher lîp gît wünneberndez hôhgemüete, dîn munt ist rœter danne ein liehtiu rôse in touwes flüete (Walth 27, 27). „Süβe Herrin, hoch gepriesen, rein und vollkommen, deine Keuschheit gibt dem Herzen hohe Freude und reiches Glück. Rot sind deine Lippen wie die leuchtende Rose in der Feuchtigkeit des Taus‟ (Schaefer, S.323, Gedicht [153]).

Kumber

- ich hân vereischet, die der wenke hânt gepflegen,/ daz sie der kumber wider ûf die erbornen friunt gewande (Walth 30, 35).

- diu saelde kleiden kan,/ daz si mir gît kumber unde hôhen muot!/ sô gits einem rîchen man/ ungemüete: owê was sol dem selben guot? [...] Mîn kumber stüende im dort bî sînen sorgen baz (Walth 43, 2). „Wie seltsam uns das Glück beschenkt, die wunderliche Frau! Mir gibt sie Armut und ein frohes Herz, und einem Reichen gibt sie Verdruβ- was hilft ihm dann sein Geld? [...] dagegen stünde meine Armut ihm und seinen Sorgen gut‟ (Schaefer, S.37, Gedicht 13).

142 - hilf, frouwe maget, hilf megde barn,/ den drîn noch wider in den rinc./ lâ si niht lange ir sedeles irre gân:/ ir kumber manicvalter/ der tuot mir von herzen wê (Walth 102, 23). „Helft Herrin, Jungfrau und der Jungfrau Kind, führt sie in ihren Kreis zurück, laβt sie nicht allein und fern den Stühlen, die man ihnen nahm. Ihr groβes Leid tut mir von Herzen weh‟ (Schaefer, S.355, Gedicht 186).

- swaz kumbers an dem winter lît,/ den wânde ich ie des sumers hân verborn./ Sus sazte ich allez bezzerunge für:/ swie vil ich trôstes ie verlür, sô hât ich doch ze fröiden wân (Walth 95, 19). „Ich hoffte, im Sommer sei die Sorge des Winters vorbei; immer glaubte ich, es würde besser werden und hoffte trotz aller Enttäuschung auf Freude‟ (Schaefer, S.131, Gedicht 49).

- waz hân ich erworben?/ anders niht von kumber den ich dol (Walth 52, 30). „Was hab‟ ich behalten? Nur Schmerzen und Leid‟ (Schaefer, S.83, Gedicht 32).

- mîn frouwe ist ein ungenaedic wîp (Walth 52, 23). „Meine Herrin ist eine harte Frau‟ (Schaefer, S.81, Gedicht 32).

- swes si gern, daz sol ich tuon: sô suln si mînen kumber klagen (Walth 72, 37). „was sie von mir wollen; dafür sollen sie mit mir klagen um mein Leid‟ (Schaefer, S.87, Gedicht 34).

- swie noch mîn fröide an zwîvel stât,/ den mir diu guote mac vil wol,/ gebüezen, ob sis willen hât,/ son ruoche eht waz ich kumberes dol (Walth 121, 18). „Wenn auch bei meiner Freude noch der Zweifel steht, die Liebste kann mir, wenn sie will, allen Zweifel nehmen; dann kümmere ich mich nicht um Schmerzen, die ich leide‟ (Schaefer, S.213, Gedicht 73).

- mich hât ein wünneclîcher wân/ und ouch ein lieber friundes trôst/ in senelîchen kumber brâht (Walth 71, 37). „Süβe Träume und die liebe Hoffnung, die die Geliebte meinem Herzen gab, weckten in mir Sehnsuchtsschmerzen‟ (Schaefer, S.23, Gedicht 9).

143

Mâze

- ich maz daz selbe kleine strô [...] swie dicke sô ich maz, daz ende was ie guot (Walth 66, 7-11).

- Aller werdekeit ein füegerinne, daz sît ir zewâre, frowe Mâze. Er saelic man, der iuwer lêre hât! der endarf sich iuwer niender inne, weder ze hove schamen noch an der strâze (Walth 46, 32-36). „Ihr, Frau Maβe, schenkt und ordnet allen Wert und Sinn. Ein Mann ist glücklich, wenn Ihr ihn lehrt; er braucht sich nirgends auf der Welt zu schämen, nicht am Hof noch auf der Straβe‟ (Schaefer, S.121, Gedicht 45).

- swer der mâze brechen wil ir strâze, dem gevellet lîhte ein einger pfat (Walth 80, 6f). „Wer den maβvollen Mittelweg verläβt, gerät nur allzu leicht auf enge Straβen‟ (Schaefer, S.331, Gedicht 160).

- ich trinke gerne dâ man bî der mâze schenket (Walth 29,25). „Gerne tränke ich, wo man maβvoll schenkt‟ (Schaefer, S.323, Gedicht [154]).

- Unmâze, nim dich beidiu an, manlîchiu wîp, wîplîche man, pfaflîche ritter, ritterlîch pfaffen, mit den solt dû dînen willen schaffen. ich wil dir si gar ze stiure geben, und alte junghêrren für eigen, ich wil dir junge althêrren zeigen: daz si dir twerhes helfen leben (Walth 80, 19-26). „Unmaβ, diese Paare sind für dich: Mannweiber, weibische Männer, pfäffische Ritter, Ritter spielende Pfaffen. Mit denen tue, was du willst, ich schenk‟ sie dir, auch alte Jünglinge und junge Greise sollst du haben; sie alle sollen dir helfen, verkehrt zu leben‟ (Schaefer, S.331, Gedicht 161).

144 Saelde/saelic

- wie diu saelde kleiden kan,/ daz si mir gît kumber unde hôhen muot!/ sô gîts einem rîchem man/ ungemüete: owê waz sol dem selben guot?/mîn frou Saelde, wie si sich vegaz,/daz si mir sîn guot ze mînem muote,/niene schriet (Walth 43,1). „wie seltsam uns das Glück beschenkt, die wunderliche Frau! Mir gibt sie Armut und ein frohes Herz, und einem Reichen gibt sie Verdruβ- was hilft ihm dann sein Geld? Die Dame Glück, wie hat sie sich vertan, die Gute, daβ sie nicht meiner Munterkeit sein Geld anpaβte wie ein Kleid‟ (Schaefer, S.37, Gedicht 13).

- frou Saelde teilet umbe sich,/ und kêret mir den rugge zuo (Walth 55,35). „Auf allen Seiten teilt das Glück Geschenke aus, doch mir kehrt es den Rücken zu‟ (Schaefer, S. 69, Gedicht 26).

- ez waer uns allen/einer hande saelden nôt,/daz man rehter fröide schône pflaege als ê (Walth 97,35). „Dies eine Glück wäre uns allen not: wieder wahrhaft froh zu sein wie in früheren Tagen‟ (Schaefer, S. 137, Gedicht 52).

- zuo flieze im aller saelden fluz (Walth 18, 25). „ein Strom allen Glücks soll zu ihm strömen‟ (Schaefer, S.265, Gedicht 104).

- liez er sich volleclîche bî der mâze wern,/ sô möht im gelücke, heil und saelde und êre ûf rîsen (Walth 29,31). „doch lieβe er sich reich von der Maβe beschenken, dann würde ihm viel Gutes, Segen, Glück und Ansehen zuteil‟ (Schaefer, S. 325, Gedicht 154).

- mit witzen sol er allez wegen,/ und lâze got der saelden pflegen (Walth 105,10). „er soll es prüfen mit Verstand, doch das Gelingen dann in Gottes gnädige Hände legen‟ (Schaefer, S.367, Gedicht 191).

145 - mit saelden müeze ich hiute ûf stên,/got hêrre, in dîner huote gên/und rîten, swar ich in dem lande kêre (Walth 24,18). „Unter deinem Segen, laβ mich heute aufstehen, o Herr, und gehen in deinem Schutz, wohin ich mein Pferd auch wende‟ (Schaefer, S.239, Gedicht 84).

- er saelic man, si saelic wîp, der herze ein ander sint mit triuwen bî (Walth 95, 37). „Glücklich der Mann und die Frau, die einander mit treuem Herzen gehören‟ (Schaefer, S.131, Gedicht 49).

- sîn lop gêt vor allem prîse:/ daz lop ist saelic, des er gert (Walth 78,31). „allem Rühmen geht sein Lob voran; gesegnet ist der Lobpreis, den er von uns will‟ (Schaefer, S.329, Gedicht 156).

- alsô habe ich staete her gerungen:/ noch enist mir niht gelungen./ daz wende, saelic frouwe mîn,/ daz ich der valschen ungetriuwen spot/ von mîner staete iht müeze sîn (Walth 97,9).

- ôwê wollte ein saelic wîp alleine,/ sô getrûrte ich niemer tac (Walth 100,10).

- swelch saelic man daz hât erstriten,/ ob er daz vor den vremden lobet,/ sô wizzet daz er niht entobet (Walth 93,4). „wenn ein Glücklicher ein solches Herz gewann, der ist kein Narr, wenn er‟s vor den Menschen preist‟ (Schaefer, S.129, Gedicht 48).

- er ist ouch saelic sunder strît,/ der nimt ir tugende rehte war,/sô daz ez in sîn herze gêt (Walth 96, 4). „auch der ist glücklich, der ihren Wert versteht und aufnimmt in sein Herz‟ (Schaefer, S.131, Gedicht 49).

- saelic sî diu mir daz wol verstê ze guote (Walth 109,3). „Gepriesen sei die Frau, wenn sie‟s aufnimmt mit freundlichem Herzen‟ (Schaefer, S.33, Gedicht 11).

- got gebe uns saelikeit (Walth 122,18).

146

- mir ist verspart der saelden tor (Walth 20, 31).

- dâ wart ich empfangen ’hêre frouwe’! daz ich bin saelic iemer mê (Walth 39, 24). „Und er empfing mich: ‚Du schöne Herrin!‟, da bin ich nun glücklich auf immer‟ (Schaefer, S.99, Gedicht 38).

- frouwe, daz ir saelic sît!/ lât mit hulden/ mich den gruoz verschulden,/ der an friundes herzen lît (Walth 14, 34). „Herrin, habt Glück und Segen! Dürfte ich einen Gruß verdienen, den mir Eure Huld aus liebendem Herzen schenkt‟ (Schaefer, S.15, Gedicht 5).

- scheidet, frouwe, mich von sorgen,/ daz ir saelic sît! (Walth 52,18). „Herrin, erlöst mich von meinem Kummer, wolltet Ihr doch glücklich sein!‟ (Schaefer, S.45, Gedicht 16).

- zuo der werlte ein saelic wîp (Walth 43,20).

- owê deich niht vergezzen mac/ wie rehte frô diu liute wâren!/ dô kunde ein saelic man gebâren (Walth 120,12). „Ach, daβ ich nicht vergessen kann, wie froh die Menschen waren! Da konnte ein glücklicher Mann schön und freudig leben‟ (Schaefer, S.11, Gedicht 4).

Schoene und guot

- schoener lîp entouc nicht âne sin (Walth 86, 14). „denn Schönheit ohne Geist und Seele ist nichts‟ (Schaefer, S.57, Gedicht 22).

- wil si fuoge für die schoene nemen, so ist si wol gemuot (Walth 116, 17). „Will sie statt Schönheit Anstand von mir, dann fühlt sie, wie sie soll‟ (Schaefer, S.65, Gedicht 25).

147 - An wîbe lobe stêt wol daz man si heize schoene: manne stêt ez übel, ez ist ze weich und ofte hoene (Walth 35:27). „Schön - ein Wort, das gut zum Lob der Frauen paβt; für Männer paβt es schlecht, es klingt zu schwach und oft verächtlich‟ (Schaefer, S.307, Gedicht 138).

- liebe tuot dem herzen baz, der liebe gêt diu schoene nâch. liebe machet schoene wîp. desn mac diu schoene niht getuon, sin machet niemer lieben lîp (Walth 50, 3- 6). „Viel lieber ist dem Herzen die Liebe, ihr folgt Schönheit von selbst. Die Liebe macht Frauen schön; das kann die Schönheit nicht, sie kann keine liebe Liebende schaffen‟ (Schaefer, S.93, Gedicht 35).

- daz hât ir schoene und ir güete gemachet und ir roter munt, der sô lieplîchen lachet (Walth 110,18). „das hat ihre Schönheit und Vollkommenheit getan und ihr roter Mund, er so schön und freundlich lacht‟ (Schaefer, S.51, Gedicht 20).

- Frouwe, ir habet ein vil werdez tach an iuch geslouft, den reinen lîp: wan ich nie bezzer kleit gesach, ir sît ein wol bekleidet wîp (Walth 62, 36). „Herrin, ein kostbares Kleid habt Ihr angezogen, Euer reines Wesen und Sein. Nie sah ich ein schöneres Gewand. Ihr seid eine Frau, die Edles trägt‟ (Schaefer, S.147, Gedicht 55).

Sorge

- nû mugen si doch bedenken die gemeinen nôt,/ wie al diu werlt mit sorgen ringe (Walth 58, 24). „Doch sie sollen nicht vergessen, wie groβ die Not ist überall, und wie die Welt mit der Sorge kämpft‟ (Schaefer, S.117, Gedicht 44).

- bî dem brunnen ich gesaz,/ mîner sorgen ich vergaz (Walth 94, 27). „am Quell setzte ich mich nieder und vergaβ alle Sorgen‟ (Schaefer, S.101, Gedicht 39).

148 - froïde und sorge erkenne ich beide:/ dâ von singe ich swaz ich sol (Walth 110, 34). „Ich weiβ von Freude, ich weiβ von Sorge- und so singe ich, wie man‟s will‟ (Schaefer, S.41, Gedicht 15).

- mîn armez leben in sorgen lît:/ der buoze waere michel zît (Walth 123, 7). „Mein armes Leben liegt in Angst und Sorge, zur Umkehr drängt die Zeit‟ (Schaefer, S.201, Gedicht 71).

- swer ime iht sol, der mac wol sorgen (Walth 100, 28). „Wer ihm noch etwas schuldet, dem muβ bange sein‟ (Schaefer, S.199, Gedicht 70).

- drî sorge habe ich mir genomen (Walth 84, 1). „Ich sorge mich m drei Dinge‟ (Schaefer, S.273, Gedicht 109).

- gotes hulde und mîner frouwen minne,/ dar umbe sorge ich, wie ich die gewinne (Walth 84, 8). „Ich sorge mich, wie ich Gottes Gnade und die Liebe meiner Herrin finde‟ (Schaefer, S. 273, Gedicht 109).

- got hât vil wol ze mir getân,/ sît ich mit sorgen minnen sol,/ daz ich mich underwunden hân/ dem alle liute sprechent wol (Walth 119,27). „Da ich mit Sorgen lieben muβ, hat Gott es gut gefügt, daβ ich mir den erwählte, den jeder preist‟ (Schaefer, S.13, Gedicht 4).

- scheidet, frouwe, mich von sorgen,/ liebet mir die zît (Walth 52, 15). „Herrin erlöst mich von meinem Kummer und macht auch mir den Maitag lieb!‟ (Schaefer, S.45, Gedicht 16).

- sende sorge kunde ich ni vertrîben/ minneclîcher danne alsô (Walth 100, 5). „Nie vergaβ ich meinen Liebesschmerz so liebevoll und so schön‟ (Schaefer, S.63, Gedicht 24).

149 - ein mannes heil mir dâ geschach,/ dâ si mit rehten triuwen spach,/ ich müese ir herzen nâhe sîn./ nu endarf es nieman wunder nemen,/ ob âne sorge lebt daz mîn (Walth 72, 30). „Als sie in Wahrheit und Treue bekannte, immer sei ich ihrem Herzen nah, da fand ich die schönste Erfüllung, die ein Mann sich wünscht. Nun soll sich niemand wundern, wenn mein Herz keine Sorgen mehr kennt‟ (Schaefer, S.25, Gedicht 9).

- Sist ein wîp diu schœne und êre hât,/ dâ bî liep und leit./ Dazs iht anders künne,/ des sol man sich gar bewegen,/ wan daz mir ir wünneclîchez leben pflegen/ machet sorge unde wünne (Walth 116, 32). „Sie ist eine Frau, die Schönheit und Tugend hat, und Glück und Leid. Glaubt nicht, daβ sie noch andere Künste weiβ: ihr Lieben allein gibt Schmerz und Freude‟ (Schaefer, S.67, Gedicht 25).

- wil ab iemen wesen frô,/ daz wir in den sorgen iemer niht enleben?/ wê wie tuont die jungen sô,/ die von fröiden solten in den lüften sweben? (Walth 42, 32). „Will denn niemand wieder fröhlich sein- wir wollen doch nicht immer in Sorge leben! Ach, wie führt sich die Jugend auf, die doch vor Freude hoch zum Himmel fliegen sollte‟ (Schaefer, S.37, Gedicht 13).

- owê wie jaemerlîche junge liute tuont!/ den unvil riuweclîche ir gemüete stuont,/ die kunnen nû wan sorgen: owê wie tuont si sô?/ swar ich zer werlte kêre, dâ ist nieman frô:/ der megede tanzen, singen zergât mit sorgen gar (Walth 124, 20). „Ach wie kläglich führt sich die Jugend auf, die einmal froh und gut erzogen war. Jetzt können sie sich bloβ noch sorgen, ach, warum denn nur? Wohin ich schaue auf der Welt, niemand ist mehr froh. Tanzen, Lachen und Singen geht in Sorgen unter‟ (Schaefer, S.205, Gedicht 72).

Staete

- diech mit staeten triuwen her gemeinet hân (Walth 94, 3). „die ich immer in Treue liebte‟ (Schaefer, S.137, Gedicht 51).

150 - hâst dû triuwe und staetekeit, sô bin ich sîn ân angest gar, daz mir iemer herzeleit mit dînem willen widervar (Walth 50, 13-16). „Hast du Treue und Beständigkeit, so habe ich keine Furcht; ich weiβ, du willst nicht, daβ ich traurig bin‟ (Schaefer, S. 93, Gedicht 35).

- staet ist ein angest und ein nôt (Walth 96, 29).

Tiure

- got hâte ir wengel hôhen flîz,/ er streich sô tiure varwe dar (Walth 53,36). „Mit Sorgfalt schuf Gott ihre Wangen, mit kostbaren Farben malte er sie‟ (Schaefer, S.53, Gedicht 21).

- gedenke an den von Engellant,/ wie tiure er wart erlôst von sîner gebenden hant (Walth 19,27). „Denke an den von England, wie seine schenkenden Hände ihn loskauften mit teurem Geld‟ (Schaefer, S.233, Gedicht 81).

- nû ist uns riuwe tiure,/ si sende uns got ze stiure/ bî sînem minnefiure (Walth 6, 17). „Reue fehlt, wenn Gott mit seinem Liebesfeuer sie nicht zu uns sendet und uns hilft‟ (Schaefer, S.379, Gedicht 192).

- under frouwen sint unwîp,/ under wîben sint si tiure (Walth 49,4). „Manch adlige Dame ist keine wahre Frau, Frauen dagegen können wohl nicht unfraulich sein!‟(Schaefer, S.113, Gedicht 42).

- ich bin des milten lantgrâven ingesinde./ ez ist mîn site daz man mich iemer bî den tiursten vinde (Walth 35,8). „Ich bin im Gefolge des groβzügigen Landgrafen. Das ist so meine Art: man wird mich immer bei den Besten finden‟ (Schaefer, S.299, Gedicht 130).

151 - nû wil ich (iemer) deste tiure sîn,/ und bite iuch, frouwe,/ daz ir iuch underwindet mîn (Walth 43,13). „Um so reicher will ich nun sein: bitte, Herrin, helft mir dabei‟ (Schaefer, S.,125 Gedicht 47).

- dar an gedenke, junger man,/ und wirp nâch herzeliebe: dâ gewinnest an./ ob dus danne niht erwirbest,/ dû muost (doch) iemer deste tiure sîn (Walth 91,30).

- süenet al die kristenheit:/ daz tiuret iuch, und müet die heiden sêre (Walth 12,23). „Dann schenkt Frieden der ganzen Christenheit, Euch zur Ehre, den Heiden zu Leide‟ (Schaefer, S. 279, Gedicht 113).

- wîp muoz iemer sîn der wîbe hôhste name,/ und tiuret baz dan frouwe, als ichz erkenne (Walth 48,39). „Wort und Begriff der “Frau” sind doch für alle Frauen am höchsten und schönsten; ehrenvoller und kostbarer, so meine ich, als “adlige Dame” und “Herrin” ‟(Schaefer, S. 113, Gedicht 42).

- ‘friundin’ dast ein süezez wort:/ doch sô tiuret ‘frouwe’ unz an daz ort (Walth 63,25). „Geliebte ist ein liebes Wort, doch “Herrin” ehrt über alles‟(Schaefer, S.135, Gedicht 50).

- ir tuot als ein wol redender man,/ daz ir sô hôhe tiuret mînen lîp (Walth 43,22). „ihr seid ein wahrer Künstler, wenn Eure Worte mich so hoch erheben‟ (Schaefer, S.125, Gedicht 47).

- sô hân ich getobet,/ daz ich die getiuret hân/ und mit lobe gekrœnet,/ diu mich wider hœnet (Walth 40,23). „dann war ich ein Narr, daβ ich sie, die mich zum Dank erniedrigt, besang und krönte mit meinem Lob‟ (Schaefer, S.77, Gedicht 30).

152 - kan mîn frouwe süeze siuren?/ waenet sî daz ich ir liep gebe umbe leit?/ sol ich sie dar umbe tiuren,/ daz siz wider kêre an mîne werdekeit (Walth 69, 24). „Kann meine Herrin denn Süβes bitter machen? Glaubt sie, ich gebe ihr Freude für Leid? Soll ich sie besingen, nur daβ sie mich zum Dank erniedrigt und verhöhnt?‟ (Schaefer, S.72, Gedicht 27).

- er saelic man, sî saelic wîp,/ der herze ein ander sint mit triuwen bî!/ ich wil daz daz ir beider lîp/ getiuret und in hôher wirde sî (Walth 96, 2). „Glücklich der Mann und die Frau, die einander mit treuem Herzen gehören. Ich will, daβ man sie beide achtet und in hohen Ehren hält‟ (Schaefer, S.131, Gedicht 49).

Triuwe

- wir möhten balde klagen von schulden ander nôt, daz triuwe zuht und êre ist in der welte tôt (Walth 38,18).

- Sît man triuwe, milte, zuht und êre wil verplegen sô sêre, sô verzagt an fröiden maneges muot (Walth 112, 4). „Wenn man Treue, Groβmut, Sitte und Ehre ganz aus den Händen gibt, dann verzweifelt an der Freude manches Herz‟ (Schaefer, S. 49, Gedicht 19).

Wân, trôst, gedinge

- waz danne, ob sî mir leide tuot? Daz kan si wol verkêren./ daz enkunde nieman mir/ gerâten daz ich schiede von dem wâne (Walth 119, 6). „was schadet es, wenn sie mir Leid zufügt? Sie kann es auch wenden. Niemand könnte mich bewegen, meine Hoffnung fallenzulassen‟ (Schaefer, S. 35, Gedicht 12).

- ein wernder trôst ze fröiden mir (Walth 121, 22). „Ach, wenn doch diese Hoffnung sich erfüllte!‟ (Schaefer, S.213, Gedicht 73).

153 - ich wolte von ir dienste gân;/ wan daz ein trôst mich brâhte./ trôst mag ez rehte niht geheizen, owê des!/ ez ist vil kûme ein kleinez trœstelîn (Walth 65, 36). „sollte ich sie verlassen, da hielten mich Trost und Hoffnung zurück. Ach, Trost kann man‟s gar nicht nennen; ein kleines Tröstlein, mehr ist es kaum‟ (Schaefer, S.97, Gedicht 37).

- mich fröit iemer daz ich alsô guotem wîbe/ dienen sol ûf minneclîchen danc./ mit dem trôste ich dicke trûren mir vertrîbe (Walth 110, 7). „Immer freut mich, daβ ich einer so vollendet guten Frau dienen darf und auf Erfüllung hoffen. Oft, wenn icht traurig bin, gibt mir diese Hoffnung Trost, und all mein Leid vergeht‟ (Schaefer, S.35, Gedicht 11).

- sist iemer mêr vor allem wîben/ ein wernder trôst ze fröiden mir (Walth 121, 22). „Mehr als alle Frauen gibt sie mir stete Hoffnung auf bleibendes Glück‟ (Schaefer, S.213, Gedicht 73).

- sô trœste, trôst, ouch mîne klâge (Walth 64, 19). „So hilf mir, schenke mir Trost in meiner Klage‟ (Schaefer, S.143, Gedicht 53).

- genâde suoch ich an ir lîp:/ enpfâhe ich wünneclîchen trôst,/ der mac wol heizen friundes gebe (Walth 72, 24). „Ich bitte sie um ihre Liebe. Ihre Antwort, wenn sie mich beseligt, ist eine Gabe, wie sie Liebende einander schenken‟ (Schaefer, S.25, Gedicht 9).

- ungelücke mir verkêret/ daz ein saelic man volenden mac./ doch tuot mir der gedinge wol/ der wîle, den ich hân, deichz noch erwerben sol (Walth 92, 7).

- mich hât wünneclîcher wân,/ und ouch ein lieber friundes trôst/ in senelîchen kumber brâht (Walth 71, 35). „Süβe Träume und die liebe Hoffnung, die die Geliebte meinem Herzen gab, weckten in mir Sehnsuchtsschmerzen‟ (Schaefer, S. 23, Gedicht 9).

154 - mich müet, sol mîn trôst zergân./ mîn gedinge ist, der ich bin/ holt mit rehten triuwen, dazs ouch mir daz selbe sî./ triuget dar an mich mîn sin,/ sô ist mînem wâne leider lützel fröiden bî (Walth 14, 13). „Es schmerzt mich, wenn meine Hoffnung so zerrinnen soll. Ich liebe sie in wahrer Treue und hoffe von Herzen, daβ auch sie mich in Treue liebt‟ (Schaefer, S. 13, Gedicht 5).

- sus sazte ich allez bezzerunge für: swie vil ich trôstes ie verlür,/ sô hât ich doch ze fröiden wân (Walth 95,22). „immer glaubte ich, es würde besser werden und hoffte trotz aller Enttäuschung auf Freude‟ (Schaefer, S. 131, Gedicht 49).

- muoz ich nû sîn nâch wâne frô,/ son heize ich niht ze rehte ein saelic man (Walth 95,27). „Wenn meine Freude wieder nur ein Trugbild meiner Hoffnung ist, so darf ich mich nicht wahrhaft glücklich nennen‟ (Schaefer, S.131, Gedicht 49).

- wân unde wunsch daz wolde ich allez ledic lân (Walth 62,20). „Alles Wünschen und Träumen hätte ich so gern vergessen‟ (Schaefer, S.147, Gedicht 55).

- und ich mich selben niht enkan/ getrœsten, mich entriege ein wân (Walth 120,37). „und mir nun selbst nicht helfen kann, es sei denn durch Phantasien und Träumereien‟ (Schaefer, S.211, Gedicht [73]).

- dâ bî sô swachet iuwer êre,/ und ziuhet doch ûf smaehen wân (Walth 81,22). „euer Ansehen und euer Ehre leiden, denn sie bauen auf trügerische Hoffnung‟ (Schaefer, S.335, Gedicht 165).

- hôhvertiger wân, wie in sich wolte ein ses gesibent hân/ ûf einen hôhvertigen wân: sus strebte ez sêre nâch übermâze (Walth 80,4). „Die Sechs wollte eine Sieben sein; hochfahrende Flausen hatte sie im Kopf und wollte übers rechte Maβ hinaus‟ (Schaefer, S.331, Gedicht 160).

155 Wert/ wirde/ werdekeit

- wer waere danne lobes sô wol wert (Walth 78, 28). „wen sollte man so loben wie ihn‟ (Schaefer, S. 329, Gedicht 156).

- ihr sît wol wert daz wir die gloggen gegen iu liuten (Walth 28,14). „Ihr habt verdient, daβ die Glocken Euch entgegenläuten‟ (Schaefer, S.321, Gedicht 150).

- ez (das Pferd) was wol drier marke wert (Walth 104,11).

- frouwe, ir habet ein vil werdez tach/ an iuch geslouft, den reinen lîp (Walth 62, 36). „Herrin, ein kostbares Kleid habt Ihr angezogen, Euer reines Wesen und Sein‟ (Schaefer, S.147, Gedicht 55).

- dâ hin dâ her wart nie sô wert in allen tiuschen landen (Walth 107, 10).

- lîp, lâ die minne diu dich lât,/ und habe die staeten minne wert (Walth 67,29). „Leib, laβ die Liebe fallen, die dich fallen läβt, und liebe die ewige Liebe‟ (Schaefer, S.197, Gedicht 69).

- künd ich swaz ieman guotes kan,/ daz teilte ich mit dem werden man (Walth 18, 22). „Könnt‟ ich, was Menschen Schönes schaffen können, ich gäb es dem edlen Mann‟ (Schaefer, S. 265, Gedicht 104).

- sô wê im der den werden fürsten habe erslagen von Kölne! (Walth 85,10). „Weh dem, der den edlen Fürsten von Köln erschlug‟ (Schaefer, S.345, Gedicht 176).

156 - des mane wir dich, vil werde,/ und biten umb unser sünde dich,/ daz dû uns sîst genaediclich (Walth 7,32). „So rufen wir zu dir, du Herrliche, und flehen um unserer Sünden willen, daβ du uns gnädig bist‟( Schaefer, S. 381,Gedicht 192).

- nû wünschen ime dur sînen werden höveschen sanc, daz sîn der süeze vater nâch genâden pflege (Walth 108,11).

- mich mant singen ir vil werder gruoz (Walth 109,4). „ihr lieber Gruβ hat mich zu meinen Liedern ermuntert‟ (Schaefer, S.33, Gedicht 11).

- wir lâzen alle bluomen stân,/ und kapfen an daz werde wîp (Walth 46,20). „Wir lassen alle Blumen und sind versunken im Anblick der edlen Frau‟ (Schaefer, S. 123, Gedicht 46).

- frouwe, ir sît schœne und sît ouch wert (Walth 62,16). „Herrin, Ihr seid schön und edel‟ (Schaefer, S. 147, Gedicht 55).

- ir reiniu wîp, ir werden man,/ ez stêt alsô daz man mir muoz/ êr unde minneclîchen gruoz/ noch volleclîchen bieten an (Walth 66, 21). „Ihr reinen Frauen, ihr edlen Männer, jetzt kommt die Zeit, da man mich freundlicher grüβen und reicher ehren muβ, heute mehr als einst, mit gutem Grund‟ (Schaefer, S.195, Gedicht 69).

- wolveile unwirdet manegen lîp./ ir werden man, ir reiniu wîp,/ niht ensît durch kranke miete veile (Walth 81, 16). „Sich billig herzugeben macht manchem Schande. Ihr edlen Männer, reinen Frauen, gebt euch nicht hin für geringen Lohn‟ (Schaefer, S. 335, Gedicht 165).

- sô bin ich doch, swie nider ich sî, der werden ein (Walth 66, 37). „dann bin ich edel in aller Niedrigkeit‟ (Schaefer, S.195, Gedicht 69).

157 - der hof ze Wiene sprach ze mir/ ‘Walther, ich solte lieben dir,/ nû leide ich dir: daz müeze got erbarmen./ mîn wirde diu was wîlent grôz:/ dô lebte niender mîn genôz,/ wan künec Artûses hof’ (Walther 24, 36). „Der Wiener Hof sprach zu mir: “Walther, ich sollte dir lieb sein, nun bin ich dir leid; möge sich Gott erbarmen. Einst war ich hoch geehrt, da kam mir niemand gleich, nur König Artus‟ Hof” (Schaefer, S.247, Gedicht 91).

- ist nâch ir wirde gefurrieret/ diu schœne diu si ûzen zieret/ kam ich ir denne gedienen iht,/ des wirt bi solhen êren ungelônet niht (Walth 121,11). „Ist die Schönheit, die ihr Äuβeres schmückt, gefüttert mit der edlen Seide ihres innern Werts, dann wird mir hohe Ehre und hoher Lohn, wenn ich ihr wohl zu dienen weiβ‟ (Schaefer, S.213, Gedicht 73).

- ôwê, daz dîn wirde alsô geliget!/ des sint alle dîne friunde unfrô (Walth 64, 35). „Ach, ihr schönen Lieder, all eure Freunde sind traurig, weil eurer Wert und eure Ehre am Boden liegen!‟ (Schaefer, S.169 , Gedicht 62).

- sît milde, fridebœre, lât iuch in wirde schouwen:/ sô lobent iuch die reinen süezen frouwen (Walth 36, 15).

- hôhiu minne reizet unde machet/ daz der muot nâch hôher wirde ûf swinget (Walth 47, 9).

- ich wil daz ir beider lîp/ getiuret und in hôher wirde sî (Walth 96,2). „ich will, daβ man sie beide achtet und in hohen Ehren hält‟ (Schaefer, S.131, Gedicht 49).

- sich wœnet maneger wol begên/ sô daz er guoten wîben niht enlebe:/ der tôre kan sich niht verstên/ waz ez fröide und ganzer wirde gebe (Walth 96, 12). „Mancher glaubt, er führe ein gutes Leben, wenn er es edlen Frauen verschlieβt. Der Narr weiβ nicht, wieviel Freude und Vollkommenheit es geben kann‟ (Schaefer, S. 133, Gedicht 49).

158 - diu wernde wirde diust sô guot,/ daz man irz hœhste lop sol geben (Walth 67,4). „Unvergänglicher Wert ist so schön, er verdient die höchste Preis‟ (Schaefer, S.195, Gedicht 69).

- Aller werdekeit ein füegerinne, daz sît ir zewâre, frowe Mâze (Walth 46, 32). „Ihr, Frau Maβe, schenkt und ordnet allen Wert und Sinn‟ (Schaefer, S.121, Gedicht 45).

- diu liebe stêt der schoene bî baz danne gesteine dem golde tuot: nû jehet waz danne bezzer sî, hânt dise beide rehten muot. Si hoehent mannes werdekeit: swer ouch die süezen arebeit dur si ze rehte kan getragen, der mac von herzeliebe sagen (Walth 92,25). „Anmut steht bei der Schönheit wie der Edelstein beim Gold, doch kommt ein edles Herz dazu, sagt, was könnte vollkommener sein? Sie geben einem Mann tieferen Wert und reicheres Glück. Und wer die süβe Not um ihretwillen wahrhaft tragen kann, der darf sagen, daβ er herzlich frohe Liebe hat‟ (Schaefer, S.128-129, Gedicht 48).

- sî iuwer werdekeit dekeinen bœsen zagen swœre,/ fürsten meister, daz sî iu als ein unnütze drô (Walth 85,4). „Wenn, Herr der Fürsten, Euer hohes Amt dem gemeinen Feigling lästig ist und er Euch droht, beachtet seine leere Drohung nicht‟ (Schaefer, S.343, Gedicht 175).

- treit iuch mîn lop ze hove, daz ist mîn werdekeit (Walth 62, 25).

- sô ich ie minre werdekeit bejage (Walth 91, 4). „desto geringer achten sie mich‟ (Schaefer, S.87, Gedicht 33).

- lât mich an eime stabe gân/ und werben umbe werdekeit/ mit unverzageter arebeit (Walth 66, 34). „Ginge ich auch am Bettelstab- suche ich dabei mit unverdrossener Mühe Ehre und Wert‟ (Schaefer, S.195, Gedicht 69).

159 - ich lepte wol und âne nît,/ wan durch der lügenaere werdekeit (Walth 44, 24). „ich würde glücklich und ohne Feinde leben, wenn man nicht so sehr auf die Lügner hörte‟ (Schaefer, S.143, Gedicht 54).

- hie vor dô berte man die jungen,/ die dâ pflâgen frecher zungen:/ nû ist ez ir werdekeit (Walth 24, 11). „Früher gab man den Jungen eins aufs freche Maul, heute bewundert man ihr Geschrei‟ (Schaefer, S.247, Gedicht 92).

- mîner frouwen darf niht wesen leit,/ daz ich rîte und frâge in fremediu lant/ von den wîben die mit werdekeit/ lebent.../ und die schœne sint dâ zuo (Walth 53, 19). „Meine Herrin braucht gar nicht gekränkt zu sein, wenn ich in fremde Länder reite und nach den Frauen frage, die dort geachtet sind... auch schön sind sie‟ (Schaefer, S.83, Gedicht 32).

- ich wil guotes mannes werdekeit/ vil gerne hœren unde sagen (Walth 41,21). „gerne höre und verkünde ich den Preis eines edlen Mannes‟ (Schaefer, S.177, Gedicht 65).

- ich hœr iu sô vil tugende jehen/ daz iu mîn dienest iemer ist bereit./ enhaet ich iuwer niht gesehen,/ daz schâte mir an mîner werdekeit (Walth 43, 12). „Ich habe so viel Gutes von Euch gehört, daβ mein Herz immer bereit ist, Euch zu dienen. Wär‟ ich Euch nie begegnet, mein Herz und mein Leben wären ärmer geblieben‟ (Schaefer, S.124, Gedicht 47).

Wünne/vröide

- swer dirre wünne volget, hât jene dort verlorn (Walth 124, 33).

- uns ist erloubet trûren und fröide gar benomen (Walth: 124,27). „wir dürfen traurig sein, doch froh sein dürfen wir nicht‟ (Schaefer, S.205, Gedicht 72).

160 - sît daz nieman âne fröide touc (Walth 99,13). „Niemand kann ohne Freude leben‟ (Schaefer, S.5, Gedicht 1).

- ist wünne vil (Walth 57,13).

Zuht und tugent

- tiuschiu zuht gât vor in allen (Walth 56, 37). „denn deutsche Lebensart übertrifft die andern alle‟ (Schaefer, S.61, Gedicht 23).

- tiusche man sint wol gezogen, rehte als engel sint diu wîp getân (Walth 57,7). „Deutsche Männer sind edel und gebildet, wie Engel sind die Frauen‟ (Schaefer, S.61, Gedicht 23).

- tugent und reine minne (Walth 57,11).

- nieman kan gerten kindes zuht beherrten (Walth 87, 1). „Kindererziehung erzwingen kann niemand mit Ruten‟ (Schaefer, S.359, Gedicht 187).

- ir müezet in die liute sehen, welt ir erkennen wol: nieman ûzen nâch der varwe loben sol. Vil manic môre ist innen tugende vol: wê wie der wîzen herze sint, der si wil umbe kêren (Walth 35, 33). „Schaut Menschen ins Herz, wollt ihr die Wahrheit wissen; lobt nicht nach der Farbe und ihrem äuβeren Schein. Mancher Schwarze ist innen edel und gut; ach, wie sehen die Herzen der Weiβen aus, wenn man sie nach auβen wendet!‟ (Schaefer, S.307, Gedicht 138).

161 162 Literaturverzeichnis

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