Claire Waldoff Und Das Berliner Kabarett (2)
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SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Musikstunde „Immer ran an' Speck!“ – Claire Waldoff und das Berliner Kabarett (2) Von Sylvia Roth Sendung: Mittwoch 28. Dezember 2016 9.05 – 10.00 Uhr Redaktion: Ulla Zierau Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Musik sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für € 12,50 erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert.Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2 2 SWR2 Musikstunde mit Sylvia Roth „Immer ran an' Speck!“ – Claire Waldoff und das Berliner Kabarett (2) SWR 2, 27. Dezember – 30. Dezember 2016, 9h05 – 10h00 Folge II: Kriegsgeschrei und Liebesgeflüster (1913-1919) Signet Sylvia Roth begrüßt sie zu einer neuen Folge von „Immer ran an' Speck! - Claire Waldoff und das Berliner Kabarett“. Nachdem wir gestern erlebten, wie Clara Wortmann zu Claire Waldoff und eine Gelsenkirchener Rabaukin zur Berliner Göre wurde, hören wir heute Kriegsgeschrei und Liebesgeflüster – und lernen die Freunde kennen, die Claire Waldoff an der Spree gewinnt. Titelmusik Einer dieser Freunde ist der Maler Heinrich Zille. Ein Original. Obwohl ursprünglich nicht von der Spree, sondern aus der Nähe von Dresden stammend, kennt er Berlin wie seine Westentasche. Und die Westentasche wiederum kennt Berlin, ist sie doch stets angefüllt mit kleinen Papierschnipseln, auf denen der Meister seine urbanen Momentaufnahmen skizziert – Notizen nennt er die flüchtig hingeworfenen Miniaturen. Rund 25 Jahre älter als Claire Waldoff, übernimmt Zille die Rolle des väterlichen Kumpels und holt die Sängerin nach der Vorstellung ab, um gemeinsam das nächtliche Berlin unsicher zu machen. Mal stranden die beiden in Zilles Lieblingskneipe, dem Nussbaum am Molkemarkt, mal in einer Destille im Wedding, um dort das geliebte Kiwakosta zu bestellen, eine hochprozentige Höllenmischung aus Kirschwasser, Wacholder und Kognak. Egal, wo sie landen: Man kennt Zille, den Künstler mit dem flauschigen Bart, der auch beim Trinken seinen Zeichenstift nur selten aus der Hand legt. Und der viele seiner spontan entstandenen Skizzen einfach im Wirtshaus lässt – weil sie dort seiner Meinung nach besser aufgehoben sind als im Museum. Seiner Freundin Claire gibt Zille den Namen Karl, hält er sie doch für einen „Kerl wie Samt und Seide“, „rauchend und fluchend wie ein Müllkutscher“. I. Einmal lebt man nur - Claire Waldoff (2'58) T: Hermann Frey, M: Rosendahl (1928) Titel CD: Claire Waldoff, Die Königin der Kleinkunst, Folge I, Membran Music 223226-354/C, LC 12281 3 Das Trinklied „Einmal lebt man nur“, gesungen von Claire Waldoff – die sich mit Heinrich Zille Nacht für Nacht die Kiwakostas die Kehle hinunterkippt. Doch: Die beiden sind nicht nur Trinkgenossen. Vielmehr erweist sich Zille auf künstlerischer Ebene als ein wichtiger Impulsgeber für Claire. Als Mitglied der Berliner Sezession, zusammen mit Max Liebermann, Lovis Corinth und anderen Malern, hatte Zille sich bereits 1899 ins Kreuzfeuer der kaiserlichen Kritik begeben. Der unverhohlene Realismus, den die Werke der Sezessionisten zeigten, hatten Wilhelm II. zu einer warnenden Kriegserklärung an die moderne Kunst veranlasst: „Warum das Elend deutlicher darstellen, als es ist?“, so seine vorwurfsvolle Frage. Kunst habe doch eine ganz andere Funktion: Sie sei dazu da, sich zu erheben, anstatt 'in den Rinnstein niederzusteigen'. Die kaiserliche Moralpredigt bewirkte bei Zille genau das Gegenteil und gab ihm den entscheidenden Anstoß, seine künstlerische Mission zu finden: Als er in der folgenden Sezessionsausstellung seine Radierung „Im Arbeiterviertel“ präsentierte, ritzte er in die linke untere Ecke das Etikett „Rinnsteinkunst“. Ein bekennender Rinnsteinkünstler wollte er sein, ein Rinnsteinkünstler, der die Armut in Berlin dokumentiert. Und so lernt Claire Waldoff durch Heinrich Zille die andere Seite des wilhelminischen Berlin mit seinen prachtvollen Boulevards kennen: Die dunklen Ecken der wachsenden Industriemetropole, die Mietskasernen mit ihren Wohnungen, die wie Zellen wirken und in denen mehrköpfige Familien auf engstem Raum hausen. Zille findet ebendort das 'Milieu' für seine Zeichnungen – um aufzurütteln und anzuklagen. II. Das Mädchen mit den Schwefelhölzern - Dagmar Manzel (5'30) T und M: Friedrich Hollaender (1920) M0357654 003 Zille öffnet Claire die Augen für das Elend in Berlin – und eben diesem Elend widmet sich viele Jahre später auch der Komponist Friedrich Hollaender mit den „Liedern eines armen Mädchens“. Wir hörten aus jenem Zyklus „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ in einer Interpretation von Dagmar Manzel. Den Spuren Zilles folgend, ist es Claire immer wichtiger, mit ihrer Musik die einfachen Menschen zu erreichen. Obwohl sie im glamourösen Linden-Cabaret auftritt, erzählt sie in ihren Couplets von Köchinnen und Dienstmädchen, vom Alltag des niederen Volks. Sie singt von den Gestalten, die Zille malt und schleust sie in die mondäne Welt des Kabaretts. Als 'Rinnsteinsängerin' wird sie zwar nicht bezeichnet, dafür aber immer häufiger als 'Volkssängerin'. 4 Ab 1911 manifestiert sich das Waldoffsche Repertoire nicht mehr nur auf der Bühne. Claires Lieder sind so beliebt, dass sie in Schellack gepresst werden. Noch sind Grammophon und Schallplatte recht junge Phänomene, die Aufnahmetechnik steckt in den Kinderschuhen – und die Interpreten benötigen für das komplizierte Prozedere ein besonderes handwerkliches Geschick. Stellt der Gesang vor dem Trichter doch gänzlich andere und sensiblere Anforderungen als der auf der Bühne. Nichts wird im Aufnahmestudio mehr gefürchtet, als eine Sängerin, die durch zu schrilles Singen zur „Schallplattenmörderin“ wird ... III. Wenn der Bräutgam mitte Braut - Claire Waldoff (2'52) - 1. und 2. Strophe T: Hardt, M: Walter Kollo (1911) Titel CD: Claire Waldoff, Die Königin der Kleinkunst, Folge II, Membran Music 223227-354/D, LC 12281 Kaum ist das Lied „Wenn der Bräutgam mit der Braut mang de Wälder geht“ – komponiert von Walter Kollo, gesungen von Claire Waldoff – in Schellack gepresst, wird es auch schon wie eine warme Schrippe tausendfach über die Ladentheke gereicht. Doch ausgerechnet dieses Lied bringt Claire 1913 vor Gericht. „Gefährdung der Sittlichkeit“ lautet der Vorwurf der Zensur. Die Libido in der freien Natur zu beschreiben und von der 18-jährigen Lene zu berichten, die nach einem fröhlichen Liebesausflug ins Grüne plötzlich ganz elend aussieht – das ist zu viel für die Justiz. Ein solcher Text sei Gift für die Jugend. Wenn der Bräutgam mitte Braut - 3. Strophe Zum Glück für Claire, kommt sie aus dem Prozess mit einer Geldstrafe davon – inklusive Verwarnung. Der Richter appelliert an ihre Moral, zukünftig bitte weniger aus der Gosse heraus zu singen. Aha, da haben wir sie also wieder, die Rinnsteinkunst – und offensichtlich wird sie weder in der Malerei noch in der Musik geschätzt. Doch was, so mag Claire sich gefragt haben, soll eigentlich unmoralisch daran sein, von der Liebe zu erzählen? Nicht von der hehren, idealen, absoluten, die die wilhelminische Zensur fordert – sondern von der ganz realen, handfesten Liebe, die jeden Menschen betrifft? Ist nicht genau das die Aufgabe von Kunst: ein Spiegel des Alltags zu sein? „Ich will gerade vom Leben singen, vom Volke für das Volk, von der Zeit und ihren Nöten“, beschreibt Claire Waldoff viele Jahre später ihre künstlerische Mission. „Zur Erfüllung dieser schönen und schweren Aufgabe gehört, das können Sie mir glauben, viel Menschenkenntnis und Einfühlung ins Zeitgeschehen, eine feine Witterung dafür, was Freude machen könnte und nicht zuletzt ein großer Fleiß und eine tiefe Liebe zu den Menschen und Dingen“, so die Waldoff. 5 IV. Hermann heeßt er - Claire Waldoff (1'57) T und M: Ludwig Mendelssohn (1913) Titel CD: Claire Waldoff, Die Königin der Kleinkunst, Folge I, Membran Music 223226-354/D, LC 12281 Richterliche Verwarnung hin oder her: Claire Waldoff hört nicht auf, in ihren Couplets von der Liebe zu erzählen – von der erotischen statt der pathetischen – und mit einem Lied erfüllt sie ihre Mission ganz besonders leidenschaftlich. „Hermann heeßt er“ wird zu einem der größten Hits aus dem Waldoffschen Repertoire. Warum ausgerechnet dieses Lied so sehr einschlägt? Ob es am Text liegt, der sich in schamloser Direktheit dem Liebesakt widmet? Oder an der Melodie, die zwischen banalem Sprechgesang und plötzlichem orgiastischem Aufjuchzen eine solche stimmliche Vielfalt eröffnet? Kurt Tucholsky alias Peter Panter schreibt in der Oktober-Ausgabe der „Schaubühne“ 1913 eine ganze Kolumne über das Hermann-Lied: „Aber dann: Klea Waldoff“, so beginnt der Artikel: „Was Deutschland an der besitzt, wußten wir. Aber diesmal hat ihr Ludwig Mendelssohn ein Lied gedichtet und unter Musik gesetzt – das scheint das Letzte zu sein. Buttrig, quäkend und tugendsam singt sie erst eine Menge Dinge von ihrem Liebsten, ob und wie und wo – und auf einmal, über die bewegten Köpfe der lachenden Zuschauer und durch den Zigarrenrauch und den Lärm brüllt ihre Stimme andante: „Hermann heeest a ...“ Und noch einmal,