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SWR2 Musikstunde

„Immer ran an' Speck!“ – und das Berliner (1)

Von Sylvia Roth

Sendung: Dienstag 27. Dezember 2016 9.05 – 10.00 Uhr

Redaktion: Ulla Zierau

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SWR2 Musikstunde mit Sylvia Roth „Immer ran an' Speck!“ – Claire Waldoff und das Berliner Kabarett (1) SWR 2, 27. Dezember – 30. Dezember 2016, 9h05 – 10h00

Folge I: Geburt einer Berlinerin (1906-1913)

Signet

Guten Morgen und herzlich Willkommen – mein Name ist Sylvia Roth und ich empfehle Ihnen, schnell Ihre Koffer zu packen, denn kurz vor dem Jahreswechsel begeben wir uns auf eine Reise nach .

Titelmusik

Auf eine Reise, wie sie auch eine kleine rothaarige Frau unternimmt, die an einem Spätsommertag des Jahres 1906 am Schlesischen Bahnhof in Berlin eintrifft – und aus dem Staunen nicht mehr herauskommt. So etwas hat sie noch nie erlebt! Unendlich viele Menschen, unendlich viele Straßen, unendlich viele Verkehrsmittel: Hochbahnen, die auf einer leichten Eisenkonstruktion schweben, Omnibusse, die nicht von Pferden, sondern von Motoren gezogen werden und ein offenes Verdeck besitzen. Die kleine rothaarige Frau kauft sich einen Fahrschein und steigt ein – um noch mehr zu staunen. Mit flatternden Haaren saust sie auf dem Omnibus-Verdeck die Linden hinunter und fegt unter den Baumkronen des Kudamms entlang, vorbei an hohen Stadthäusern, vorbei an Schutzpolizisten, die in eleganten Choreografien den Verkehr regeln, vorbei an rasenden Zeitungsfahrern, die beim Zusammenprall mit einem Fußgänger schnauzen: „Hau Dir selber 'n paar in die Fresse, ick hab' keene Zeit!“

Tempo, Tempo, Tempo ist in Berlin angesagt! Kaum steigt die kleine rothaarige Frau am Leipziger Platz aus dem Omnibus, weil sie zum ersten Mal in ihrem Leben ein Kaufhaus besuchen will, wird sie auch schon im Strom der Passanten weitergetrieben. Weiter, schnell weiter! Diese Stadt an der Spree, Preußens Verwaltungszentrum, hat seit der Industrialisierung ein unaufhaltsames Bevölkerungswachstum erlebt. Riesig ist sie, und: Sie hat einen eigenen Klang. Das Trippeln von Millionen Schritten dringt an die Ohren, das Geklingel der Milchverkäufer von Bolles Meierei – und noch etwas: Musik.

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I. Berlin is ja so jroß! - Otto Reutter (3'20) T und M: Otto Reutter (1913) Titel CD: Otto Reutter - Alles weg’n de Leut, Membran International 221308, LC 12281

Berlin hat Musik in sich – und einer, der die Stadt zum Klingen bringt, ist Otto Reutter, von dem wir soeben die Nummer „Berlin is ja so groß!“ gehört haben. Seit der Jahrhundertwende sind Reutters Couplets in aller Munde an der Spree. Freche Strophenlieder mit einfacher, aber pfiffiger Melodie, satirische, volksnahe Blicke auf das Zeitgeschehen, gewürzt mit einer gehörigen Prise Humor. Reutter tritt mit seinen Couplets unter anderem im Berliner Wintergarten auf, dem größten Varietétheater der Stadt, in dem Komiker, Jongleure und Tanzgirls in bunten Programmen über die Bühne wirbeln. Couplets können aber nicht nur von Reutter, sondern auch von Chansonetten vorgetragen werden: In den sogenannten Tingeltangel-Lokalen, die seit den 1870er Jahren Berlin bevölkern und von der wilhelminischen Zensur kritisch beäugt werden – gelten sie doch als Brutstätten der Prostitution. Auf Stühlen lungern die Diseusen auf der Bühne herum, die halbnackten Beine aufreizend gegrätscht. Entlohnt werden sie mit Korken- oder Biergeld, soll heißen: Von dem Preis eines Glases Bier, das der Gast der Soubrette spendiert, gibt der Wirt ihr ein Viertel ab. Blickkontakt mit dem Publikum lohnt sich also, kokettierender Augenaufschlag ebenfalls. Immerhin haben die Sängerinnen es besser als der Klavierspieler, auf dessen Perücke die besonders spendablen Gäste ihre Zigaretten ausdrücken dürfen. Ein behaarter Aschenbecher, wo hat man das schon mal gesehen ...?!

II. Max hat'n Knax - Margarete Wiedeke (2'12) T und M: Wilhelm Aletter (1909) Titel CD: Berlin - Großstadtklänge, Rare Schellacks 1908-1953, Trikont US 0256, LC 4270

Max hat'n Knax, aber der Hans, der kann's ... Frivoler Tingeltangel vom Feinsten, gesungen von der Soubrette Margarete Wiedeke in einer Schellack-Aufnahme von 1909.

Doch zurück zu der kleinen rothaarigen Frau, die gerade in einem Omnibus durch die Berliner Straßen des Jahres 1906 gondelt. Sie interessiert sich weder für Tingeltangel noch für Gesang, nein: Sie versteht sich als Theaterschauspielerin. Claire Waldoff – denn wir sollten unsere Heldin nun langsam beim Namen nennen – ist zu diesem Zeitpunkt 22 Jahre alt und stammt aus einer kinderreichen Gelsenkirchener Familie. Ihr Vater verdient sein Geld zunächst als Bergarbeiter, bevor er eine Kneipe eröffnet, in der sich die müden Kumpel abends den Kohlenstaub aus der Kehle spülen. Die kleine Clara Wortmann, wie sie eigentlich 4 heißt, ist ein wildes Mädchen, liebt es, sich mit Jungs zu prügeln und – obwohl es sich für Frauen nicht ziemt – auf dem Fahrrad die Stadt unsicher zu machen. Zugleich fällt ihre Intelligenz auf. Schon früh weiß sie, dass sie Ärztin werden will – ein kühner Plan, denn zu einer Zeit, in der Frauen noch in Korsette gezwängt werden, sind weder Universität noch Abitur eine Selbstverständlichkeit. Clara jedoch lässt sich von solchen Hürden nicht einschüchtern und schreibt kurzerhand einen Brief nach Hannover, um sich an einem der ersten Mädchengymnasien des Deutschen Reichs zu bewerben. 1899, gerade einmal 14 Jahre alt, zieht sie alleine in die Welfen-Stadt, büffelt Griechisch, Latein, Mathematik – und begegnet außerdem den emanzipatorischen Lehren der Frauenrechtlerin Helene Lange. Gleiche Bedingungen, gleiche Bildung für beide Geschlechter – diese Forderung Helene Langes ist ganz in Claras Sinn. Denn eines steht fest: In die Rolle des Heimchens am Herd wird sich ein „modernes Mädel“ wie sie ganz bestimmt nicht zwingen lassen!

III. Das moderne Mädel - Claire Waldoff (2'59) T: Erich Kersten, M: Claire Waldoff (1930) Titel CD: Claire Waldoff, Die Königin der Kleinkunst, Folge I, Membran Music 223226-354/A, LC 12281

Komponiert und gesungen von Claire Waldoff – „Das moderne Mädel“ aus dem Jahre 1930.

Doch: Wir greifen der Geschichte vor, denn noch drückt Clara ja die Schulbank. Oder sollten wir besser sagen: Die Schulbank drückt Clara? Immer öfter jedenfalls flieht sie aus dem hannöverschen Mädchengymnasium – an einen Ort, der sie magisch anzieht: Das Café Kröpcke, in dem die Schauspieler des Königlichen Theaters Hannover sitzen und debattieren. Über Rollen zum Beispiel – ein aufregendes Thema für eine emanzipierte junge Frau auf der Suche nach sich selbst. Es dauert nicht mehr lange, bis sie ihre roten Zöpfe in einen kessen Pagenkopf verwandelt, sich von Clara Wortmann in Claire Waldoff umtauft, die Schule hinschmeißt und ihre ersten Engagements als Schauspielerin antritt, zunächst in Bad Pyrmont, dann in Kattowitz. Ohne jegliche Ausbildung wird die blutige Anfängerin nicht nur ins kalte Wasser, sondern in unzählige verschiedene Rollen geworfen. Sie gibt die Naive ebenso wie die Sentimentale, die derbe Soubrette ebenso wie den frechen Pikkolo. Learning Theater by doing. Wie in einem Rausch saugt sie die Welt der Bühne in sich auf, muss aber auch erfahren, immer wieder vor dem Nichts zu stehen, wenn der Vertrag nach einem Jahr ausläuft. Als sie im Sommer 1906 erneut ohne Engagement ist, beschließt sie, die Provinz hinter sich zu lassen und in eine Stadt zu ziehen, in der die Straßen mit Theatern gepflastert sind. Kurzerhand versetzt sie ihre goldene Armbanduhr im 5

Pfandhaus und kauft sich ein Ticket: Wohin die Reise führt, wissen wir bereits. Ganz genau – nach Berlin.

IV. Das macht die Berliner Luft - Comedian Harmonists (2'00) T: Heinrich Bolten-Baeckers, M: Paul Lincke (1904) Titel CD: Die Berlin Comedian Harmonists besuchen Frau Luna, Duophon Records, EAN 4012772061833, LC 08681

Die Comedian Harmonists interpretierten Paul Linckes Renner von 1904, „Das macht die Berliner Luft“ – und in eben dieser Berliner Luft hatten in den Jahren vor Claire Waldoffs Ankunft tiefgreifende Umbrüche stattgefunden.

Die Unterhaltungsprogramme an der Spree hatten sich neu entdeckt, nachdem vom Pariser Montmartre Impulse eines Genres namens „“ herübergeschwappt waren – repräsentiert durch Aristide Bruant oder Yvette Guilbert. Letztere konnten die Berliner 1889 bei einem Gastspiel im Wintergarten erleben – ein Schlüsselmoment für viele deutsche Künstler. Denn das klang anders als das abgehobene deutsche Kunstlied, aber auch anders als der frivole Tingeltangel. Das klang nach einer aufregenden Verbindung von Kunst – und Leben!

V. Le Fiacre - Yvette Guilbert (1'40) T und M: Léon Xanrof (1888) SWR 1925277 013, 1‘40

Yvette Guilbert sang „Le Fiacre“ – und beeindruckt von dieser französischen Sängerin sowie dem Pariser Cabaret nahm eine Schar junger Berliner Intellektueller 1901 den Kampf gegen die artifiziellen Kunstformen des wilhelminischen Kaiserreichs auf.

Der Schriftsteller Ernst von Wolzogen heckte sein Konzept eines „Überbrettl“ aus, um in der Secessionsbühne am Berliner Alexanderplatz Tingeltangel und Kunst miteinander zu verschmelzen. Und der junge Regisseur Max Reinhardt gründete das „Schall und Rauch“, wo er deftige Parodien klassischer Theaterstücke zeigte. Zwar wiesen diese ersten Gehversuche satirischer Unterhaltung noch kein politisches Bewusstsein auf – doch der Versuch, die hehre Kunst von ihrem Sockel zu reißen, brachte eine Entwicklung ins Rollen, die in Berlin auf fruchtbaren Boden stieß und nicht mehr aufzuhalten war: Die zehnte Muse, das Kabarett, war geboren.

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VI. Mahnung - Heinz Zednik (2'45) T: Gustav Hochstetter, M: Arnold Schönberg (1901) SWR 1950174 012

Auch der Komponist Arnold Schönberg stattete Wolzogens „Überbrettl“ sporadische Besuche ab – Sie hörten aus seinem Brettl-Lieder-Zyklus die „Mahnung“, gesungen von Heinz Zednik, am Klavier begleitet von Konrad Leitner.

Theaterschauspielerin Claire Waldoff weiß nichts von Cabaret und nichts von Kabarett, fühlt sich aber seit ihrer ersten Omnibusfahrt pudelwohl in Berlin. Die Schnoddrigkeit der Spree-Bewohner entspricht perfekt ihrem eigenen Temperament – und auch der Jargon färbt schnell auf sie ab. In einem ihrer ersten Engagements spielt sie im Theater am Nollendorfplatz einen Liftboy, der nur einen einzigen Satz zu sagen und dann die Türe zu knallen hat: „Wat jeht mir Jelbsiegel an?!“, schnauzt sie in astreinem Berlinerisch und sahnt dafür jeden Abend Applaussalven ab. Sogar der von allen gefürchtete Theaterkritiker Alfred Kerr zeigt sich beeindruckt: „Man muss sich einen neuen Menschen merken“, schreibt er nach der Premiere 1907 im „Berliner Tagblatt“. „Claire Waldoff, ein originelles Talent, auf das man neugierig sein muss.“ Claire ist nun Teil der Berliner Bohème, die sich bevorzugt im Café Größenwahn trifft. Unzählige Ideen werden an den Marmortischen des kleinen verrauchten Eckcafés geboren, in das die Künstler aus ihren kalten Ateliers gespült werden, um sich stundenlang an einer einzigen Tasse Kaffee aufzuwärmen. Literaten wie Else Lasker-Schüler oder Gottfried Benn halten sich dort auf, es gibt aber auch einen eigenen Tisch für die Maler – und für die Komponisten. Die Operettenkönige und Paul Lincke werden häufig gesehen. Ebenso wie , der mit seinem Lied „Das Ladenmädel“ einen wahren Ohrwurm in die Berliner Straßen gepflanzt hat.

VII. Das Ladenmädel - Bully Buhlan (3'35) T: Willy Wolff, M: Rudolf Nelson (1904) Titel CD: Bully Buhlan - Die Lichter von Berlin, Bear Family Records BCD16188, LC 0309

Das war Rudolf Nelsons „Ladenmädel“-Evergreen, den Kaiser Wilhelm II. sich gleich mehrfach vorspielen ließ und den wir in der Interpretation von Bully Buhlan aus dem Jahre 1961 hörten.

Rudolf Nelson leitet gemeinsam mit dem Chansonnier Paul Schneider-Duncker die Kabarettbühne „Der Roland von Berlin“. Solange, bis die beiden Impresarii sich 1907 verkrachen und Schneider-Duncker beschließt, die kleine Bühne auf eigene Faust weiterzuführen. Mit neuem Programm und neuem Profil. 7

Bei der Suche nach frischen Künstlern stellt sich ihm auch eine Frau namens Claire Waldoff vor, die auf die Frage, ob sie singen könne, trompetet: „Klar kann ick singen. Wat wollen Se hören? Een feste Burch is unser Jott?!“ Schneider-Duncker verpflichtet sie vom Fleck weg. Sie soll ein paar Monologe von Paul Scheerbart sowie ein paar Volkslieder vortragen und sich um ihr Kostüm selbst kümmern. Das lässt Claire sich nicht zweimal sagen: Einen Etonboy-Anzug will sie tragen, einen echten englischen mit Nadelstreifen, piekfein! Doch: Drei Tage vor der Premiere rückt der Zensor an. Freiherr von Glasenapp, Polizeipräsident vom Alexanderplatz. Und der hat nichts Besseres zu tun, als seinen Rotstift ausgerechnet bei den Programmpunkten von Claire Waldoff anzusetzen: Scheerbarts Gedichte seien antimilitaristisch, gefährlicher Zündstoff. Und Damen in Herrenkleidung? Es sei doch bekannt, dass dies nach 23 Uhr nicht erlaubt sei, weder auf Kabarettbühnen noch sonstwo. Gestrichen. Direktor Schneider-Duncker knickt ein und will Claire kurzerhand wieder entlassen, aber die lässt sich nicht so leicht von der Bühne wischen. Ins Gezeter der beiden Streithähne greift ein Mann ein, der mit seinem ausgeprägten Theatergespür ahnt, dass in dieser kleinen lautstarken Göre ein Unikum steckt, das man fördern sollte. Der Hauskomponist und Pianist des neuen „Roland von Berlin“: .

VIII. Immer an der Wand lang - instrumental, Paul Kuhn 2‘44 T: Hermann Frey, M: Walter Kollo (1906) 1011530 03-A-010, Radio Bremen (RB)

Walter Kollo ist zu diesem Zeitpunkt kein Unbekannter mehr – wie Rudolf Nelson gehört er zu den Ohrwurmkönigen .

Seinen Schlager „Immer an der Wand lang“, der soeben in der SWR2 Musikstunde einer Instrumentalversion von Paul Kuhn zu erleben war, trällert die ganze Stadt. Kollo jedenfalls beschwichtigt Schneider-Duncker und bietet an, auf die Schnelle ein paar Couplets mit der Waldoff einzustudieren. Gesagt, getan. Ab ans Klavier, Tonleitern üben, ein Drei-Tages-Crashkurs im Singen. Die Zeit läuft ... Am Tag der Neueröffnung des „Roland von Berlin“ füllt sich der Zuschauerraum mit befrackten Aristokraten, Offizieren aller Ränge, Damen, von oben bis unten mit Schmuck behängt. Aber auch neugierige Künstlerkollegen kreuzen auf: Freunde von Kollo sind da, die beiden Stars aus dem Metropol-Theater, Fritzi Massary und Josef Giampietro, oder die spanische Tänzerin La Belle Otéro, die mit ihren langen Varieté-Beinen sämtliche Männer Berlins nervös macht. Als der Conférencier Claire Waldoff ansagt, legt diese ihre qualmende Tonstummelpfeife beiseite und betritt die Bühne. In einem schlichten braunen Samtkleid, geliehen aus einem billigen Modesalon. Doch dass sie mehr in sich hat als biederen Samt zeigt sich schnell, als sie den Mund aufmacht ...

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IX. Wenn die Soldaten durch die Stadt marschieren - Claire Waldoff (2'26) T und M: Traditionell Titel CD: Perlen der Kleinkunst, Claire Waldoff, Membran International 222232- 311/B, LC 12281

Ein Soldatenlied eröffnet den Waldoffschen Auftritt im „Roland von Berlin“ – und im Publikum wird getuschelt. Man weiß nicht recht, was man denken soll. Da steht eine kleine Göre, den Kopf in den Nacken gelegt, das rechte Auge zusammengekniffen – und singt. Oder röhrt. Wie ein Reibeisen. Die Haare sind rot, die grünen Augen blitzen aus dem blassen Teint. Ganz anders als man es sonst von den Chansonetten der Zeit gewöhnt ist, tritt diese Göre ohne jegliche Koketterie auf. Stur wie ein Stier haut sie ihr Lied ins Publikum – eine Kanone, eisern und unverrückbar. Doch der eigentliche Clou kommt erst noch: Ein Lied, das Kollo eigens für das Waldoffsche Debüt komponiert hat – zu einem Text des Dichters Hermann Frey. Ein absurdes Couplet über einen Enterich, der für einen Schilfstengel schwärmt, welcher aber mit einem Schwan fremdgeht, so dass der Enterich sich vor Liebeskummer fast das Herz im Teich ertränkt: „Mein geliebtes Schmackeduzchen, komm zu deinem Enterich“, seufzt das gefiederte Tier im Refrain. Und was macht die seltsame Sängerin währenddessen? Die dreht sich langsam im Kreis und führt einen seltsamen Ententanz auf. Erst kichert das Publikum verhalten, dann tobt es. Und jubelt. Ganze neun Mal müssen Claire Waldoff und Walter Kollo das Lied an jenem Abend des Jahres 1908 wiederholen. Und wenige Tage später wissen es auch sämtliche Litfasssäulen, denn auf den neuen Werbeplakaten des „Roland von Berlin“ ist zu lesen: „Claire Waldoff. Der Stern von Berlin, mit ihrem Schmackeduzchen.“

X. Schmackeduzchen - Graham Bonney (1'55) T: Hermann Frey, M: Walter Kollo (1908) M0348509 026, 1‘55

Ein knappes Jahr lang gibt Claire Waldoff im „Roland von Berlin“ ihr „Schmackeduzchen“ – Sie hörten es, da eine Originalaufnahme leider nicht mehr existiert, gesungen von Graham Bonney –, dann wechselt sie zur Konkurrenz, ausgerechnet zu Schneider-Dunckers ehemaligem Kompagnon und Erzfeind Rudolf Nelson.

Denn der hat ein mondänes, nach dem legendären Pariser Cabaret „Chat noir“ benanntes Etablissement eröffnet, wo er als Direktor, Komponist und Pianist in einem fungiert. Wie bei Schneider-Duncker auch, stehen Kommerz und 9

Unterhaltung an erster Stelle, politisches Tagesgeschehen spielt höchstens am Rand eine Rolle. In seinem Ensemble, in dem er Claire Waldoff als „neue Note“ mit offenen Armen empfängt, versammelt Nelson die Crème de la Crème des Berliner . Fritz Grünbaum moderiert – und keiner beherrscht das Handwerk des Conférenciers so gut, wie er. Geistreich und blitzgescheit kündigt er die Nummern des Abends an, wobei er sich manchmal auch gerne über sich selbst lustig macht.

XI. Der Conférencier - Fritz Grünbaum (3'10) (Von Grünbaum gesprochener Sketch, wie Grünbaum den Grünbaum als Conférencier engagiert) Titel CD: Hoppla, wir leben! Töne aus dem Kabarett 1901-1933, Patmos 3-491- 91153-2, LC 04176

Das war Fritz Grünbaum mit seinem Sketch „Der Conférencier“.

Angekündigt vom Conférencier Grünbaum treten im „Chat noir“ Nelsons Ehefrau, die Sängerin Käthe Erlholz auf, und komische Talente wie Gussy Holl, die alles kopiert, was ihr vor die Flinte kommt. Sie imitiert den Conférencier Grünbaum, sie imitiert die Waldoff – ja, sie glänzt sogar mit der Imitation eines Damenimitators. Und dazwischen springt Willy Prager herum, der begnadete Max-Reinhardt-Schauspieler, der auch mit seinen Chansons große Erfolge landet.

XII. Fräulein, woll'n Se nich mit mir nach Hause gehn? - Willy Prager (2'26) T und M: Willy Prager (1924) 6037505 // DRadio Köln (DR)

Willy Prager mit einem Chanson, das er für Claire Waldoff gedichtet und vertont hat: „Fräulein, woll'n Se nich mit mir nach Hause gehn?“

So viele reißen sich um Claire Waldoff, dass ein Auftritt pro Abend nicht genügt, sondern sie nach der Vorstellung im „Chat noir“ noch rüber ins Linden-Cabaret huscht, wo sich zur späten Stunde die wohlhabenden Berliner treffen, um die Nacht auszuläuten. Was aber hat sie bei ihren Auftritten eigentlich an? Noch immer das biedere braune Samtkleid? Nein! Man höre und staune: Sie trägt ihren Etonboy-Anzug. Denn seit sie berühmt ist, drückt die Zensur ein Auge zu, ja, fast könnte man meinen, der ein oder andere Wachmann habe sogar sein Herz an sie verloren. „Die rothaarige Claire Waldoff mit einem süßen Gamingesicht verzeichnete durch ihren drastischen Vortrag einen Seperatapplaus“, ist in den Polizeiberichten über das Linden-Cabaret zu lesen. „Dieser niedliche Fratz ist künstlerisch zweifellos die stärkste Persönlichkeit des Ensembles.“ 10

XIII. Nach meene Beene is janz Berlin verrückt - Claire Waldoff (2'41) - 1. Strophe T: Hardt, M: Walter Kollo (1911) Titel CD: Claire Waldoff, Die Königin der Kleinkunst, Folge II, Membran Music 223227-354/C, LC 12281

Drei Lieder singt Claire Waldoff im „Linden Cabaret“, auf Zugaben verzichtet sie. Gefeiertes Schlusslicht ihrer Darbietung ist jedes Mal der neue Schlager von Walter Kollo: „Nach meene Beene is janz Berlin verrückt“.

Viele Jahre später wird dieses Lied in ihr Repertoire aufnehmen. Doch was die Dietrich mit erotischer Stimme als verführerische Nummer interpretiert, präsentiert die Waldoff als ironische Schmonzette. Denn anders als die Dietrich hat sie keine langen Beine. Wie kurz und stämmig sie sind, lässt sich auch unter dem Etonboy-Anzug nicht verbergen. Genau darin aber liegt der Witz. In ihrem Chanson tut sie so, als sei sie eine männerverschlingende Femme fatale – stattdessen fällt es ihr nicht im Traum ein, erotisch zu kokettieren. Sie ist, wie sie ist und singt, wie ihr die Schnauze gewachsen ist. Jeder kann sich mit ihr identifizieren.

Nach meene Beene is janz Berlin verrückt - 2 und 3. Strophe

Nur wenige Jahre nach ihrer Ankunft in Berlin ist Claire Waldoff nicht mehr wegzudenken aus der Spree-Metropole. „Kesse Bolle“ oder „dolle Molle“ wird sie von den Berlinern getauft, „Krawallschleife“ und „Revolverschnauze“, manche nennen sie auch den „Berliner Spatz“. Für die meisten aber ist sie einfach nur „die Waldoff“. Eine Type, nach der ganz Berlin verrückt ist, eine dolle Mischung aus Bodenständigkeit und Frechheit, aus Rotzigkeit und Herz. Eine eigenwillige Nummer, die es an Schnoddrigkeit mit der frechsten Berliner Göre aufnimmt und die über ein Organ verfügt, das wie geschaffen ist für die raue Berliner Ausdrucksweise. Denn, so paradox es auch klingen mag – ausgerechnet die Ruhrgebietsstimme der Waldoff liefert den Berlinern die vollkommene Heimat.

Berlin und die Waldoff – das ist von nun an eine Einheit. Und morgen erzählen wir mehr davon, fest versprochen. Machen Se't juht und bleib'n Se knorke, sagen Sylvia Roth und Claire Waldoff.

XIV. Es gibt nur ein Berlin - Claire Waldoff (3'04) T: Hans Pflanzer, M: Walter Kollo (1932) Titel CD: Claire Waldoff, Die Königin der Kleinkunst, Folge I, Membran Music 223226-354/C, LC 12281

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Literaturangaben zu Claire Waldoff :

Bemmann, Helga. Wer schmeißt denn da mit Lehm? Das Leben der Claire Waldoff. Frankfurt, Berlin 1994

Bröhan, Nicole: Heinrich Zille. Eine Biographie, Berlin 2014

Goetz, Wolfgang: Im „Größenwahn“, bei Pschorr und anderswo... Berlin 1936

Greul, Heinz. Bretter, die die Zeit bedeuten. Die Kulturgeschichte des Kabaretts. Ko ln 1967

Hösch, Rudolf: Kabarett von gestern. Nach zeitgenössischen Berichten, Kritiken und Erinnerungen, Berlin 1967

Hollaender, Friedrich: Von Kopf bis Fuß. Mein Leben mit Text und Musik, hg. von Volker Kühn, Bonn 1996

Kollo, Willi: „Als ich jung war in Berlin ...“ Musikalisch-literarische Erinnerungen, Mainz 2008

Koreen, Maegie: Claire Waldoff: Die Königin des Humors, 2014.

Kühn, Volker (Hg.): Deutschlands Erwachen. Kabarett unterm Hakenkreuz 1933- 1945, Weinheim, Berlin 1989

Ringelnatz, Joachim: Briefe, hg. von Walter Pape, Berlin 1988

Roth, Sylvia: Claire Waldoff. Ein Kerl wie Samt und Seide, Romanbiografie, Freiburg 2016

Schoppmann, Claudia: Zeit der Maskierung. Lebensgeschichten lesbischer Frauen im „Dritten Reich“, Berlin 1993

Tucholsky, Kurt. Gesammelte Werke, Bd. 1-3, Frankfurt/M. 2005

Zilles Vermächtnis, hg. von Hans Ostwald unter Mitarbeit seines Sohnes Hans Zille, Berlin 1930