Claire Waldoff Und Das Berliner Kabarett (1)
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SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Musikstunde „Immer ran an' Speck!“ – Claire Waldoff und das Berliner Kabarett (1) Von Sylvia Roth Sendung: Dienstag 27. Dezember 2016 9.05 – 10.00 Uhr Redaktion: Ulla Zierau Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Musik sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für € 12,50 erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert.Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2 2 SWR2 Musikstunde mit Sylvia Roth „Immer ran an' Speck!“ – Claire Waldoff und das Berliner Kabarett (1) SWR 2, 27. Dezember – 30. Dezember 2016, 9h05 – 10h00 Folge I: Geburt einer Berlinerin (1906-1913) Signet Guten Morgen und herzlich Willkommen – mein Name ist Sylvia Roth und ich empfehle Ihnen, schnell Ihre Koffer zu packen, denn kurz vor dem Jahreswechsel begeben wir uns auf eine Reise nach Berlin. Titelmusik Auf eine Reise, wie sie auch eine kleine rothaarige Frau unternimmt, die an einem Spätsommertag des Jahres 1906 am Schlesischen Bahnhof in Berlin eintrifft – und aus dem Staunen nicht mehr herauskommt. So etwas hat sie noch nie erlebt! Unendlich viele Menschen, unendlich viele Straßen, unendlich viele Verkehrsmittel: Hochbahnen, die auf einer leichten Eisenkonstruktion schweben, Omnibusse, die nicht von Pferden, sondern von Motoren gezogen werden und ein offenes Verdeck besitzen. Die kleine rothaarige Frau kauft sich einen Fahrschein und steigt ein – um noch mehr zu staunen. Mit flatternden Haaren saust sie auf dem Omnibus-Verdeck die Linden hinunter und fegt unter den Baumkronen des Kudamms entlang, vorbei an hohen Stadthäusern, vorbei an Schutzpolizisten, die in eleganten Choreografien den Verkehr regeln, vorbei an rasenden Zeitungsfahrern, die beim Zusammenprall mit einem Fußgänger schnauzen: „Hau Dir selber 'n paar in die Fresse, ick hab' keene Zeit!“ Tempo, Tempo, Tempo ist in Berlin angesagt! Kaum steigt die kleine rothaarige Frau am Leipziger Platz aus dem Omnibus, weil sie zum ersten Mal in ihrem Leben ein Kaufhaus besuchen will, wird sie auch schon im Strom der Passanten weitergetrieben. Weiter, schnell weiter! Diese Stadt an der Spree, Preußens Verwaltungszentrum, hat seit der Industrialisierung ein unaufhaltsames Bevölkerungswachstum erlebt. Riesig ist sie, und: Sie hat einen eigenen Klang. Das Trippeln von Millionen Schritten dringt an die Ohren, das Geklingel der Milchverkäufer von Bolles Meierei – und noch etwas: Musik. 3 I. Berlin is ja so jroß! - Otto Reutter (3'20) T und M: Otto Reutter (1913) Titel CD: Otto Reutter - Alles weg’n de Leut, Membran International 221308, LC 12281 Berlin hat Musik in sich – und einer, der die Stadt zum Klingen bringt, ist Otto Reutter, von dem wir soeben die Nummer „Berlin is ja so groß!“ gehört haben. Seit der Jahrhundertwende sind Reutters Couplets in aller Munde an der Spree. Freche Strophenlieder mit einfacher, aber pfiffiger Melodie, satirische, volksnahe Blicke auf das Zeitgeschehen, gewürzt mit einer gehörigen Prise Humor. Reutter tritt mit seinen Couplets unter anderem im Berliner Wintergarten auf, dem größten Varietétheater der Stadt, in dem Komiker, Jongleure und Tanzgirls in bunten Programmen über die Bühne wirbeln. Couplets können aber nicht nur von Reutter, sondern auch von Chansonetten vorgetragen werden: In den sogenannten Tingeltangel-Lokalen, die seit den 1870er Jahren Berlin bevölkern und von der wilhelminischen Zensur kritisch beäugt werden – gelten sie doch als Brutstätten der Prostitution. Auf Stühlen lungern die Diseusen auf der Bühne herum, die halbnackten Beine aufreizend gegrätscht. Entlohnt werden sie mit Korken- oder Biergeld, soll heißen: Von dem Preis eines Glases Bier, das der Gast der Soubrette spendiert, gibt der Wirt ihr ein Viertel ab. Blickkontakt mit dem Publikum lohnt sich also, kokettierender Augenaufschlag ebenfalls. Immerhin haben die Sängerinnen es besser als der Klavierspieler, auf dessen Perücke die besonders spendablen Gäste ihre Zigaretten ausdrücken dürfen. Ein behaarter Aschenbecher, wo hat man das schon mal gesehen ...?! II. Max hat'n Knax - Margarete Wiedeke (2'12) T und M: Wilhelm Aletter (1909) Titel CD: Berlin - Großstadtklänge, Rare Schellacks 1908-1953, Trikont US 0256, LC 4270 Max hat'n Knax, aber der Hans, der kann's ... Frivoler Tingeltangel vom Feinsten, gesungen von der Soubrette Margarete Wiedeke in einer Schellack-Aufnahme von 1909. Doch zurück zu der kleinen rothaarigen Frau, die gerade in einem Omnibus durch die Berliner Straßen des Jahres 1906 gondelt. Sie interessiert sich weder für Tingeltangel noch für Gesang, nein: Sie versteht sich als Theaterschauspielerin. Claire Waldoff – denn wir sollten unsere Heldin nun langsam beim Namen nennen – ist zu diesem Zeitpunkt 22 Jahre alt und stammt aus einer kinderreichen Gelsenkirchener Familie. Ihr Vater verdient sein Geld zunächst als Bergarbeiter, bevor er eine Kneipe eröffnet, in der sich die müden Kumpel abends den Kohlenstaub aus der Kehle spülen. Die kleine Clara Wortmann, wie sie eigentlich 4 heißt, ist ein wildes Mädchen, liebt es, sich mit Jungs zu prügeln und – obwohl es sich für Frauen nicht ziemt – auf dem Fahrrad die Stadt unsicher zu machen. Zugleich fällt ihre Intelligenz auf. Schon früh weiß sie, dass sie Ärztin werden will – ein kühner Plan, denn zu einer Zeit, in der Frauen noch in Korsette gezwängt werden, sind weder Universität noch Abitur eine Selbstverständlichkeit. Clara jedoch lässt sich von solchen Hürden nicht einschüchtern und schreibt kurzerhand einen Brief nach Hannover, um sich an einem der ersten Mädchengymnasien des Deutschen Reichs zu bewerben. 1899, gerade einmal 14 Jahre alt, zieht sie alleine in die Welfen-Stadt, büffelt Griechisch, Latein, Mathematik – und begegnet außerdem den emanzipatorischen Lehren der Frauenrechtlerin Helene Lange. Gleiche Bedingungen, gleiche Bildung für beide Geschlechter – diese Forderung Helene Langes ist ganz in Claras Sinn. Denn eines steht fest: In die Rolle des Heimchens am Herd wird sich ein „modernes Mädel“ wie sie ganz bestimmt nicht zwingen lassen! III. Das moderne Mädel - Claire Waldoff (2'59) T: Erich Kersten, M: Claire Waldoff (1930) Titel CD: Claire Waldoff, Die Königin der Kleinkunst, Folge I, Membran Music 223226-354/A, LC 12281 Komponiert und gesungen von Claire Waldoff – „Das moderne Mädel“ aus dem Jahre 1930. Doch: Wir greifen der Geschichte vor, denn noch drückt Clara ja die Schulbank. Oder sollten wir besser sagen: Die Schulbank drückt Clara? Immer öfter jedenfalls flieht sie aus dem hannöverschen Mädchengymnasium – an einen Ort, der sie magisch anzieht: Das Café Kröpcke, in dem die Schauspieler des Königlichen Theaters Hannover sitzen und debattieren. Über Rollen zum Beispiel – ein aufregendes Thema für eine emanzipierte junge Frau auf der Suche nach sich selbst. Es dauert nicht mehr lange, bis sie ihre roten Zöpfe in einen kessen Pagenkopf verwandelt, sich von Clara Wortmann in Claire Waldoff umtauft, die Schule hinschmeißt und ihre ersten Engagements als Schauspielerin antritt, zunächst in Bad Pyrmont, dann in Kattowitz. Ohne jegliche Ausbildung wird die blutige Anfängerin nicht nur ins kalte Wasser, sondern in unzählige verschiedene Rollen geworfen. Sie gibt die Naive ebenso wie die Sentimentale, die derbe Soubrette ebenso wie den frechen Pikkolo. Learning Theater by doing. Wie in einem Rausch saugt sie die Welt der Bühne in sich auf, muss aber auch erfahren, immer wieder vor dem Nichts zu stehen, wenn der Vertrag nach einem Jahr ausläuft. Als sie im Sommer 1906 erneut ohne Engagement ist, beschließt sie, die Provinz hinter sich zu lassen und in eine Stadt zu ziehen, in der die Straßen mit Theatern gepflastert sind. Kurzerhand versetzt sie ihre goldene Armbanduhr im 5 Pfandhaus und kauft sich ein Ticket: Wohin die Reise führt, wissen wir bereits. Ganz genau – nach Berlin. IV. Das macht die Berliner Luft - Comedian Harmonists (2'00) T: Heinrich Bolten-Baeckers, M: Paul Lincke (1904) Titel CD: Die Berlin Comedian Harmonists besuchen Frau Luna, Duophon Records, EAN 4012772061833, LC 08681 Die Comedian Harmonists interpretierten Paul Linckes Renner von 1904, „Das macht die Berliner Luft“ – und in eben dieser Berliner Luft hatten in den Jahren vor Claire Waldoffs Ankunft tiefgreifende Umbrüche stattgefunden. Die Unterhaltungsprogramme an der Spree hatten sich neu entdeckt, nachdem vom Pariser Montmartre Impulse eines Genres namens „Cabaret“ herübergeschwappt waren – repräsentiert durch Aristide Bruant oder Yvette Guilbert. Letztere konnten die Berliner 1889 bei einem Gastspiel im Wintergarten erleben – ein Schlüsselmoment für viele deutsche Künstler. Denn das klang anders als das abgehobene deutsche Kunstlied, aber auch anders als der frivole Tingeltangel. Das klang nach einer aufregenden Verbindung von Kunst – und Leben! V. Le Fiacre - Yvette Guilbert (1'40) T und M: Léon Xanrof (1888) SWR 1925277 013, 1‘40 Yvette Guilbert sang „Le Fiacre“ – und beeindruckt von dieser französischen Sängerin sowie dem Pariser Cabaret nahm eine Schar junger Berliner Intellektueller 1901 den Kampf