Björn Hayer, Klarissa Schröder (Hg.) Tierethik transdisziplinär

Human-Animal Studies | Band 16

Björn Hayer, Klarissa Schröder (Hg.) Tierethik transdisziplinär Literatur – Kultur – Didaktik Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deut- schen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2018 transcript Verlag, Bielefeld

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustim- mung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Verviel- fältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: »Du sollst nicht töten«, Karl Wilhelm Diefenbach 1902, Städel Museum Frankfurt a.M. Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4259-9 PDF-ISBN 978-3-8394-4259-3 https://doi.org/10.14361/9783839442593

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected] Inhalt

Vorwort | 9 Björn Hayer und Klarissa Schröder

TIERETHIK UND PHILOSOPHIE

Alte Fragen – neue Antworten Die Kontinuität der Tierethik von den Anfängen bis zur Gegenwart Dieter Birnbacher | 25

Der Paratext in Immanuel Kants Metaphysik der Sitten und seine (tier-)ethischen Implikationen Samuel Camenzind | 43

Tom Regans Philosophie für Tierrechte Subjekte des Lebens im Kontext von intrinsischen und inhärenten Wertdiskursen Erwin Lengauer | 61

TIERETHIK UND KULTURWISSENSCHAFT

Agens oder Patiens Die semantischen Rollen von Wolf und Hund in der Kulturwissenschaft Dagmar Burkhart | 79

»¿On és la misericòrdia dels animals?« Zur Ethik des Tierverzehrs im Spanien des 16. Jahrhunderts Teresa Hiergeist | 101

Rosa Hase: Bildende Kunst und tiersensible Didaktik Ana Dimke | 119

»Ahhhhh… – I lost my appetite« Zu Isabella Rossellinis Green Porno Denise Dumschat-Rehfeldt | 133

Jägerinnen unter Jägern Rekonstruktion männlicher Herrschaft im Feld Jagd Ulrike Schmid | 151

»Irrtum und Heuchelei der Pflanzenesser« Zur Wahl sprachlicher Mittel in tierrechtsthematischen Beiträgen Daniel Gutzmann und Katharina Turgay | 169

»Tiere sind die besseren Menschen« Moralisierungen im Web 2.0 aus tierlinguistischer Perspektive Pamela Steen | 191

TIERETHIK UND LITERATURWISSENSCHAFT

Die Schwierigkeit der Wirklichkeit Cora Diamond über verschiedene Formen moralischen Denkens Friederike Schmitz | 213

Can the Animal Speak? Sprechende ›Tiere‹ in literarischen Texten Andrea Klatt | 231

(Re-)Präsentation und Narration Der Löwe in Hans Blumenbergs Poetik der Erinnerung Kevin Drews | 247

Tierversuche und Versuchstiere in Clemens J. Setz’ Indigo (2012) Jonas Meurer | 269

Gegen den Strich gelesen Gotthold Ephraim Lessings Fabeln aus Sicht der Literary Animal Studies Björn Hayer | 281

TIERETHIK UND DIDAKTIK

Literary Animal Studies: Ethische Dimensionen des Literaturunterrichts Gabriela Kompatscher | 295

Zur Relevanz des Themas »Tierethik« im kompetenzorientierten Deutschunterricht Eine Betrachtung aus curricularer Perspektive Eva Pertzel | 311

Die Entwicklung eines tiersensiblen Lehrplans für den Literaturunterricht im Rahmen der Auslandsgermanistik Eine Fallstudie aus Indien Anu Pande | 331

Skizze einer Tierdidaktik mit anschließendem Unterrichtsentwurf Julia Stetter | 347

Der Film Bärenbrüder als Praxisumsetzung einer tiersensiblen Lektüre im Deutschunterricht der 5. Klassenstufe Janine Eichler | 359

»Komm Rudi… Jetzt gehen wir schön in die Wohnung, erst duschen, dann Zähneputzen und dann ins Bett.« Tierethische Perspektiven auf Uwe Timms Kinderromane in schulischen Lehr- und Lernkontexten Torsten Mergen | 373

Tierethische und literaturdidaktische Potenziale in Paul Maars Wiedersehen mit Herrn Bello Andreas Wicke | 391

Die Letzten ihrer Art Ausgestorbene Tiere erzählen vom Artensterben Berbeli Wanning und Anke Kramer | 403

Autor_innenverzeichnis | 419

Danksagung | 425

Vorwort

Björn Hayer und Klarissa Schröder

»Für uns arme Stadtmenschen aus dem 20. Jahrhundert ist die Gefahr, in der Frage Mensch und Kreatur stecken zu bleiben, besonders groß. Die wenigsten unter uns besitzen auch nur einen Hund; die Kühe, deren Milch wir trinken, haben wir nie gesehen. Unser Zur-Miete- Wohnen hat eine chinesische Mauer zwischen dem Tier und uns aufgerichtet. Die Kinder bei uns wachsen auf und haben nie, wie die draußen auf dem Land, das Seelenvolle und Persönli- che in dem Wesen des Tieres kennen gelernt, und es fehlt ihnen die Sinnhaftigkeit und Milde des Gemütes, das auch mit Tieren gelebt hat. Das Weh der Kreatur bleibt uns etwas Fremdes. Gar vielen Menschen ist es gar nicht mehr bewusst, dass sie mithaften für das, was die Kreatur bei uns erduldet. Sie denken auch, dass wir es eigentlich sehr weit gebracht haben. Wir haben ja den Tierschutzverein, wir haben die Polizei, die werden schon die nötige Vorsorge treffen. Wer aber die Augen aufmacht, der erwacht aus dieser Sicherheit und sieht, was alles ge- schieht, weil keine Menschen da sind, die über die Kreatur wachen. Wie waren wir doch alle so gewiss, dass in unserm Schlachthaus alles aufs beste bestellt sei, weil’s ja jetzt langsam zum Dogma wird, dass Straßburg in jeder Beziehung eine Musterstadt ist. Wir waren gewiss, dass alle Tiere möglichst ohne Qual und Angst getötet würden; und als dann einer letzten Sommer der Sache auf den Grund ging und seine Beobachtungen veröf- fentlichte, da erfuhren wir plötzlich, dass unser Schlachthaus in mancher Hinsicht eine wahre Tierhölle war und dass es darin zuging, wie es in einem modernen Schlachthaus nicht zuge- hen darf.«1

Was der Friedensnobelpreisträger und Theologe Albert Schweitzer über die moder- ne Entfremdung des Menschen vom Tier schrieb, hat heute mehr denn je Geltung. Infolge der fordistischen Umstellung der Wirtschaftsstruktur im frühen 20. Jahr- hundert bleibt auch der Agrarsektor nicht von Industrialisierungsprozessen ver-

1 Schweitzer, Albert: »Die zum Leiden verurteilte Kreatur«, in: Erich Gräßer (Hg.), Albert Schweitzer. Ehrfurcht vor den Tieren, München: C.H. Beck 2006, S. 48-57, hier S. 50. 10 | Björn Hayer und Klarissa Schröder schont. Fortan wird nicht nur der Mensch verstärkt durch Maschinenkraft ersetzt. Auch das animale Wesen erfährt eine Entwertung zur bloßen Ware. Das daraus re- sultierende Leiden ist mittlerweile in allen Medien präsent.2 Immer wieder doku- mentieren Journalist/-innen und Tierschutzaktivist/-innen Bilder von dehydrierten Schweinen auf Tiertransporten, von geschredderten Küken, unzureichend betäubten Rindern3 oder gar Schlachtungen trächtiger Kühe. Aufgrund dieses in der Geschichte der Tierhaltung singulären Ausmaßes mas- senhafter Qualphänomene, aufgrund dieser – um es mit Schweitzer zu sagen, »Tierhölle« – , die durch Preisdruck und veränderte Ernährungsweisen in der Wohl- standsgesellschaft hervorgerufen wird, stellt sich mehr denn je die Frage nach einer Neuauslotung der Interspeziesverhältnisse. Welchen Beitrag können dazu die Geis- teswissenschaften wie auch universitäre oder schulische Bildungseinrichtungen leisten? Sensibilisierung? Vermessungen des Diskursfeldes? Das mitunter. Doch das Spektrum an Potenzialen bezieht weitaus mehr Aspekte ein. Für die Beiträge des vorliegenden Bandes stellen insbesondere jüngere Positio- nen der Tierethik den Referenzrahmen zur Verfügung. Nachdem Denker des extre- men respektive gemäßigten Anthopozentrismus4 bis in die frühe Moderne hinein auf dem »Eigenschaftenansatz«5 insistiert haben, um das Animalum gegenüber dem Humanum abzugrenzen, stellen behaviouristische und neurowissenschaftliche For- schungsergebnisse die kulturell gewachsenen Konstruktionen von der vermeintli- chen Inferiorität von letztgenanntem zunehmend infrage. Kriterien wie Sprachfähig- ke i t oder das Selbst- bzw. Todesbewusstsein können kaum noch als distinkte Merkmale benannt werden. Nur zwei Beispiele plausibilisieren eine Aufweichung der traditionell zementierten Grenzziehung zwischen den Spezies: Mit manchen Primaten besteht etwa 97%ige, mit Schweinen ungefähr 90%ige genetische Äquiva- lenz.6 Zudem gilt es zu diskutieren, ob überhaupt bestimmte, vom Standpunkt des Menschen formulierte Maßstäbe als moralisch relevant im Hinblick auf ein etwai-

2 Vgl. Szegin, Hilal: »›Tiere sind meine Freunde‹ – Wirklich? Ethische Überlegungen zur Haustierhaltung«, in: Viktoria Krason/Christoph Willmitzer (Hg.), Tierisch beste Freun- de. Über Haustiere und ihre Menschen, Berlin: Matthes & Seitz, S. 88-119, hier S. 92. 3 Vgl. Foer, Jonathan Safran: Tiere essen, Köln: KiWi 2009, S. 293. 4 Vgl. Schmitz, Friederike: »Tierethik – eine Einführung«, in: Dies. (Hg.), Tierethik. Grundlagentexte, Berlin: Suhrkamp 2014, S. 13-73, hier 32ff. und 37ff. 5 Ebd., S. 50. 6 Vgl. Spiegel Online vom 27.01.2011 (http://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/genom- vergleich-orang-utan-und-mensch-sind-nahezu-identisch-a-741828.html, letzter Abruf am 23.07.2018). Vorwort | 11 ges Lebensrecht oder Grundrechte im Allgemeinen angesehen werden können.7 Denn letztlich versteht sich jedwede künstlich behauptete »Dualisierung […] als Produkt diskursivierter Machtverhältnisse«,8 die allein vom Menschen etabliert wurden und diesen samt seiner ausgewählten »Haustiere« privilegiert. Dass wir die einen streicheln und verwöhnen, während wir die anderen ausbeuten, bezeichnet Garry Francione als »moralische Schizophrenie«.9 Iris Därmann spricht diesbezüg- lich von »einem affektiven Besetzungsabzug, einer radikalen Ungleichbehand- lung«.10 Darüber hinaus, so Josef H. Reichholf, »können wir keine klaren Grenzen ziehen, welche Arten nun eigentlich zu den Haustieren zu rechnen sind und welche nicht. Zwischen den echten, vom Menschen gezüchteten Haustieren und den reinen Wildtieren gibt es ein breites, sehr artenreiches Übergangsfeld.«11 Längst plädieren Philosophen wie , Robert Spaemann oder der Rechtswissenschaftler Bernd Ladwig für eine institutionell und juridisch wirksame Aufwertung der Tiere. Eine Haltung der Gnade genügt aus ihrer Sicht nicht. Denn »Tierschutz bedeutet eben immer nur Tiergnade. Was führende Tierethiker stattdes- sen verstärkt fordern, sind verbindliche, juristische Regeln.«12 Da sich schon Mit- glieder der menschlichen Gemeinschaft im Hinblick auf kognitive Fähigkeiten, mo- ralisches Bewusstsein oder Merkmale wie Religion, Ethnie etc. unterscheiden wür- den, müsse, um dennoch allen dieselben Zugänge zu Menschen- und/oder Grund- rechten zu gewähren, nach Ansicht von ersterem vom Konzept einer »fundamenta- len Ähnlichkeit«13 ausgegangen werden. Regan kapriziert diese auf den Terminus

7 Vgl. Francione, Garry L.: »Empfindungsfähigkeit, ernst genommen«, in: Schmitz, Tie- rethik (2014), S. 153-174, hier S. 173. 8 Schröder, Klarissa/Hayer, Björn: Tierethik in Literatur und Unterricht. Ein Plädoyer, in: Dies. (Hg.), Didaktik des Animalen. Vorschläge für einen tierethisch gestützten Literatu- runterricht, Trier: WVT 2016, S. 1-14, hier S. 1. 9 G. Francione: Empfindungsfähigkeit, S. 159. 10 Därmann, Iris: Haustiere und Tierfreunde. Über Nähe und Ferne von Menschen und Tie- ren, in: Viktoria Krason/Christoph Willmitzer (Hg.), Tierisch beste Freunde. Über Hau- stiere und ihre Menschen, Berlin: Matthes & Seitz, S. 12-48, hier S. 14. 11 Reichholf, Josef H.: Leben mit Tieren. Eine Vorbemerkung, in: Ders. (Hg), Haustiere. Unsere nahen und doch so fremden Begleiter, Berlin: Matthes & Seitz 2017, S. 7-11, hier S. 11. 12 Hayer, Björn: »Das große Fressen. Ernährung artet derzeit in Glaubenskrieg aus. Vor al- lem zulasten derer, denen Tier und Klima am Herzen liegen. Ein Plädoyer für Verantwor- tung«, in: Neues Deutschland vom 24.09.2016 (https://www.neues-deutschland.de/artikel /1026539.das-grosse-fressen.html, letzter Abruf am 20.07.2018). 13 Regan, Tom: »Von Menschenrechten zu Tierrechten«, in: Schmitz, Tierethik (2014), S. 88-114, hier S. 101. 12 | Björn Hayer und Klarissa Schröder

»Subjekt eines Lebens«.14 Diese Gemeinsamkeit teilt der Mensch mit Tieren, inso- fern »wir […] alle der Welt gewahr [sind]« und das, »was mit uns geschieht, […] für uns von Bedeutung [ist].«15 Somit ist bereits die Fähigkeit, die eigene Situation und Umwelt wahrzunehmen, relevant:

»Wenn Kühe vor dem Schlachthof flüchten, verfügen sie augenscheinlich über ein Mindest- mass an Bewusstsein. Sie erkennen ihre Feinde samt der Bedrohungslage und treffen auf- grund der Umstände eine Entscheidung. Wer nun behauptet, dass sich Bewusstsein durch ei- nen höheren Grad beispielsweise an mathematischem oder räumlichem Denken auszeichne, ist unredlich und unfair. Denn er erklärt damit menschliche Fähigkeiten zum Mass aller Din- ge.«16

Bewusstsein wird somit niederschwellig als eine elementare Art der Perzeptions- fähigkeit definiert, die keinerlei rechtlichen Ausschluss mehr von animalen Kreatu- ren legitimiere. Für Ladwig und Spaemann ist eine Ausweitung des Moralbegriffs relevant, um die Besserstellung von Tieren – wohlgemerkt ohne die Reduzierung des Menschen – zu begründen. So schließt dieser aus Sicht von ersterem nicht nur Moralfähigkeit, sondern gleichsam Moralbedürftigkeit ein,17 wobei ein weiterer wichtiger Gesichts- punkt des Diskurses, jener von Interessen, hinzukommt. Wohingegen Moral im klassischen Sinne, wie der Rechtswissenschaftler nachweist, den mündigen Men- schen voraussetzt und somit per se anthropozentrisch sei,18 stelle das Interesse am Wohlergehen eine speziesübergreifende Konstante dar.19 Der Umstand, dass wir al- le verletzlich sind und den Wunsch hegen weiterzuleben, schafft im Sinne einer Moralbedürftigkeit die Basis für einen rechtlichen Rahmen. Klargestellt wird in dieser »nicht-idealen« Theorie der Tierrechte20 jedoch, dass dadurch nicht automa-

14 Ebd. 15 Ebd. 16 Hayer, Björn: »Denk auch an die Tiere. Die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier ist willkürlich gezogen. Veganer sind keine Moralapostel, sondern Kritiker dieses Hierar- chiedenkens«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 16.05.2017 (https://www.nzz.ch/feuilleton/ veganismus-denk-auch-an-die-tiere-ld.1293394, letzter Abruf am 20.07.2018). 17 Vgl. Ladwig, Bernd: »Warum manche Tiere Rechte haben – und wir nicht die einzigen sind«, in: MRM – MenschenRechtsMagazin (2015) 2, S. 75-86, hier S. 80. 18 Vgl. ebd., S. 83. 19 Vgl. ebd., S. 84. 20 »Nicht-ideal« bedeutet, dass der Ansatz nicht per se eine vollständige rechtliche Gleich- stellung zwischen Mensch und Tier vorsieht. Er geht zwar auch von einer Aufwertung Vorwort | 13 tisch für alle dieselben Zugangsmöglichkeiten und Schutzmaxime gelten müssen.21 So weist Ladwig darauf hin, dass selbst in der menschlichen Gesellschaft juristische Differenzierungen vorzufinden seien. Man denke beispielsweise an das lediglich den Erwachsenen vorbehaltene Wahlrecht. An Ladwigs Ansatz knüpft unmittelbar die Frage nach der »Würde der Kreatur« an, wie sie sie in den Verfassungen der Schweiz (seit 1992) und Luxembourg (seit 2018) verankert ist. Um sie zu behaupten, müsse zunächst, so Robert Spaemann, von der Würde des Menschen ausgegangen werden, die nicht nur mit Privilegien, sondern, ausgehend etwa von der Definition im Grimmschen Wörterbuch, ebenfalls mit Pflichten verbunden sei.22 Indem der Mensch somit Verantwortung gegenüber den Tieren wahrnehme, manifestiere sich überhaupt erst dessen Würde.23 Wie eine mögliche Verwirklichung einer rechtlichen Institutionalisierung aus- sehen kann, ist Gegenstand einer neueren Richtung, die Versuche einer staatspoliti- schen bzw. politikwissenschaftlichen Ausarbeitung unternimmt. Hierbei ist vor al- lem auf Sue Donaldsons und Will Kymlickas Zoopolis hinzuweisen. Auch sie grun- dieren ihren Ansatz zunächst auf elementare Annahmen des Tierrechtsdiskurses: »Tiere existieren nicht, um menschlichen Zwecken zu dienen. Sie sind weder Die- ner noch Sklave der Menschen, sondern sie haben ihre eigene moralische Bedeu- tung, ihr eigenes subjektives Dasein«.24 Daraus folgten »moralischen Grundrechte auf Leben und Freiheit«.25 Obwohl in dieser Vorannahme auf den ersten Blick kei- nerlei Differenz zu Regan in Erscheinung tritt, distanzieren sich die Autorin und der Autor in einem wesentlichen Punkt von einer »idealen« Tierrechtstheorie. Denn de- kliniert man ihnen zufolge die Konsequenzen, die sich aus einer strengen Egalisie- rung zwischen den Spezies (im Sinne einer »idealen« Theorie) ergäben, weiter

der Tiere aus, jedoch können rechtliche Differenzierungen zwischen den Spezies möglich sein. 21 Vgl. dazu Schmitz, Friederike: »Tierschutz, Tierrechte oder Tierbefreiung?«, in: MRM – MenschenRechtsMagazin (2015) 2, S. 87-96, hier S. 95. 22 Hier wird eine Sittlichkeit annotiert, wonach »die wahre würde des menschen in der ge- nauen beobachtung seiner pflichten bestehe«, s. Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deut- sches Wörterbuch, Bd. 14, Leipzig: Hirzel 1984, Sp. 2077f. 23 Vgl. Spaemann, Robert: »Tierschutz und Menschenwürde«, in: Ursula M. Händel (Hg.), Tierschutz, Testfall unserer Menschlichkeit, Frankfurt a.M. 1984, S. 71-81, hier S. 76f; vgl. auch Hayer, Björn: »Jenseits der Legitimation: Ein Plädoyer für die Würde des Tie- res«, in: Billo Heinzpeter Suder (Hg.), Tiere nutzen? Und Pflanzen?, Winterthur: edition mutuelle 2017, S. 306-309, hier S. 308f. 24 Donaldson, Sue/Kymlicka, Will: Zoopolis. Eine politische Theorie der Tierrechte, Berlin: Suhrkamp 2013, S. 16. 25 Ebd., S. 17. 14 | Björn Hayer und Klarissa Schröder durch, so würden zum einen alle Beziehungen zwischen Menschen und den bislang domestizierten Tiere gekappt und zum anderen verschiedene Arten wie die »Milch- kuh« etc. aussterben. Die Argumentation in Zoopolis hält im Wissen um die jahr- tausendealte human-animalische Interdependenz dagegen:

»Diese Vorstellung ist […] nicht nur in empirischer Hinsicht von vorneherein zum Scheitern verdammt – denn es ist unmöglich, Menschen und Tiere so voneinander zu trennen, daß sie hermetisch gegeneinander abgeriegelten Bereichen angehören –, sondern sie ist auch in poli- tischer Hinsicht eine Belastung.«26

Alternativ dazu schlagen Donaldson und Kymlicka vor: »Unser langfristiger Plan ist nicht darauf ausgerichtet, die Verbindungen zwischen Mensch und Tier zu tren- nen, sondern es geht darum, die reichen Möglichkeiten solcher Verbindungen zu erkunden und zu bejahen.«27 Intendiert ist mittels spezifischer Ausgestaltung unter- schiedlicher Rechtsstatus, die zwischen den mit uns am nächsten zusammenleben- den Arten und jenen etwa der Wildnis oder im Wald unterscheiden, der »Aufbau neuer Beziehungen der Gerechtigkeit«.28 Was Sympathie für diese Theorie hervor- ruft, ist eine markante Ambivalenz: Einerseits mutet sie utopisch an, insofern ein Teil der Tiere mitunter wie Staatsbürger/-innen zu behandeln sei, andererseits wohnt ihr ein nötiger Pragmatismus inne. Indem Relationen nicht verschwinden, sondern eben neu ausgehandelt werden, ergeben sich Potenziale für einen sinnstif- tenden, gesellschaftlichen Dialog zwischen bis heute oftmals verfeindeter Oppositi- onen wie Jäger/-innen und Tierrechtsaktivist/-innen. Bis hierhin soll ein grober Überblick über zentrale Positionen und Diskussionen innerhalb der Ethik genügen, da der Hauptfokus des Bandes primär auf deren Im- plementierung in oder Bezugnahme durch künstlerische Werke liegt. Insbesondere immersive Medien wie Literatur und Film können, so die Grundüberlegung dieser Beiträge, transdisziplinär dazu beitragen, Empathie und Verständnis für andere Kreatur zu befördern. Sie laden zur Identifikation mit dem anderen ein und schaffen somit eine breite Basis für Sensibilisierungsprozesse. Jene Fragen, welche die spä- ter noch vorzustellenden Beiträge behandeln, stehen dabei in einem inzwischen klar umrissenen methodischen Rahmen, welcher über die theoretische Ebene der Tie- rethik hinausgeht. So bewegen sich die Texte in den Koordinaten der Human oder Cultural Animal Studies. Sie sind Ausweis des noch jungen Animal turns in den Kulturwissenschaf- ten. Ihre Ausrichtung versteht sich als Disziplinen übergreifend: Sie umfassen Fä-

26 Ebd., S. 562. 27 Ebd., S. 563. 28 Ebd. Vorwort | 15 cher wie Geschichte, Zoologie, Theologie und eben auch die Literatur- und Medi- enwissenschaft. Als einschlägige Werke dieser neuen Perspektivierung von Arte- fakten sind exemplarisch Roland Borgards (teilweise et al.) Herausgeberbände Ro- binsons Tiere (2016), Tiere. Ein kulturwissenschaftliches Handbuch (2016), Tier – Experiment –Literatur. 1880 – 2010 (2013), Jochen Thermanns Kafkas Tiere. Fähr- ten, Bahnen und Wege der Sprache sowie der Einführungsband Human-Animal Studies (2017) von Gabriela Kompatscher et al. zu erwähnen. Einen besonderen Mehrwert generieren Sichtweisen des New Materialism: Statt Tiere in kulturellen Artefakten wie bisher als reine Motivspender und Zweckobjekte zu sehen, wird man ihnen zunehmend als Akteuren gewahr.29 Borgards spricht diesbezüglich von »diegetische[n] Tiere[n] […] die auch als Lebewesen, als fassba- re Elemente der erzählten Welt auftauchen«.30 Damit verbunden ist der Terminus der »Animal agency«: »Dieses Konzept besagt, dass Tiere Akteure mit Wirkmacht bzw. Handlungsmacht sind und daher menschliche Gesellschaften beeinflussen und verändern können.«31 Als Folge daraus ergibt sich wiederum eine Aufwertung der animalen Kreatur. Donna Harraway, bezeichnenderweise auch Feminismusforscherin und poststruktu- ralistisch orientierte Intellektuelle, prononciert dafür die Beziehung als konstitutives Moment für die Zuschreibung eines Subjektstatus:

»Durch ihr Ineinandergreifen, durch ihr ›Erfassen‹ oder ihren Zugriff konstituieren Wesen ei- nander und sich selbst. Sie existieren nicht vor ihren Verhältnissen und Beziehungen. Das ›Erfassen‹ hat Konsequenzen. Die Welt ist ein Knoten in Bewegung. Biologischer und kultu- reller Determinismus sind beides Fälle von fehlplatzierter Konkretheit«.32

29 Vgl. Kompatscher, Gabriela: »Literaturwissenschaft. Die Befreiung ästhetischer Tiere«, in: Reingard Spannring/Karin Schachinger et al. (Hg.), Disziplinierte Tiere? Perspektiven der Human-Animal Studies für die wissenschaftlichen Disziplinen, Bielefeld: transcript 2015, S. 137-159, hier S. 143. 30 Borgards, Roland: »Tiere in der Literatur. Eine methodische Standortbestimmung«., in: Herwig Grimm/Carola Otterstedt (Hg.), Das Tier an sich. Disziplinen übergreifende Per- spektiven für neue Wege im wissensbasierten Tierschutz, Göttingen: Vandehoeck & Rupprecht 2012, S. 87-118, hier S. 96ff. 31 Kompatscher, Gabriela/Spannring, Reingard et al.: Human-Animal Studies, Münster/New York: Waxmann 2017, S. 220. 32 Harraway, Donna: Das Manifest für Gefährten, Berlin: Merve 2016, S. 12f. 16 | Björn Hayer und Klarissa Schröder

Damit schließt sich der Kreis der Animal Studies mit der Tierethik – eine Dyade, die in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung noch immer als Deside- rat angesehen werden muss. Die Diskussionen der vorliegenden Beiträge gehen dabei stets über einen Wer- tediskurs hinaus. Im Mittelpunkt steht der Anspruch, die eng damit verknüpften äs- thetischen Dimensionen zu verhandeln. Dass Ethik und Ästhetik zusammen gehö- ren, ja, einander geradezu bedingen, ist eine wichtige Vorannahme. Welch gelin- gende Kombination sie eingehen können, demonstriert ein Gedicht von Markus Hallinger, das in der wegweisenden kookbooks-Anthologie All dies Majestät ist deins. Lyrik im Anthropozän erschienen ist.

»Der Hase schießt, Piff Paff mit dem Gewehr. Der Jäger fällt vom Baum.

Das reimt sich nicht, kein Sieg, die Waffe passt zum Hasen nicht, geht schief. Das ganze Ding schlägt quer, ein Störfall, überhaupt, ein anderes Kaliber, grad Heckler/Koch, das wird kein Grün, das ist kein Wald, wo s spielt, ein anderes Szenarium, mit echten Waffen drin, und anderen Wörtern und Begriffen. Nix das verfängt, in Fängen wie von Wild; der Hasenfuß, die Pfote weiß der Schnee, der Weißdorn blüht das zynisches Gelände, voll Stacheln, weil die Jäger sind wie sie, – ein jeder Herr ist schrecklich; trägt Beute aus, von Ruß geschwärzt, von Pulverdampf, vom Licht der Sichtgeräte: blau und hungernd … (: Magere Typen, sportlich, Rennfahrer, alle- samt nicht vom Aussterben bedroht, keine Elefanten, keine Nashörner, aber blutig, und mit einer Träne im Knopfloch, von ungefähr). Nur ihrer Sprache mächtig.«33

Um die Verfahrensweise der nachfolgenden Beiträge zu exemplifizieren, soll hier eine kurze Analyseskizze vorgestellt werden.

33 Hallinger, Markus: »Der Hase schießt, Piff Paff / mit dem Gewehr. Der Jäger fällt vom Baum«, in: Anja Bayer/Daniela Seel (Hg.), Lyrik im Anthropozän. Anthologie, Berlin: kookbooks 2016, S. 185. Vorwort | 17

Der Titel lässt uns zunächst an den Struwwelpeter denken, in dem sich das be- schriebene Szenario in ähnlicher Weise abspielt. Die poetische Miniatur erzählt von einer utopischen Begebenheit: Ein Hase erschießt einen Jäger, der Gejagte, eigent- lich ein sogenanntes »Fluchttier«, wird selbst zum Jäger, zum Rächer und Herrscher über Natur und Mensch. Würde diese unmöglich anmutende Vorstellung in der Re- alität ihre Entsprechung finden, könnte buchstäblich ein Reim daraus entstehen. Doch »die Waffe passt zum Hasen nicht, geht schief. / Das ganze Ding schlägt quer, ein Störfall, / überhaupt, ein anderes Kaliber«, lesen wir. Verstärkend wirken die Figura etymologica »Nix das verfängt, in Fängen wie von Wild« oder gramma- tikalischen Dissonanzen wie »der Weißdorn blüht / das zynisches Gelände«. Paral- lelistisch und anaphorisch verfestigt, wird im zweiten Teil statt der Umkehr der Verhältnisse die triste Wirklichkeit konturiert: »ein jeder Herr ist schrecklich; / trägt Beute aus, von Ruß geschwärzt, von Pulverdampf, / vom Licht der Sichtgerä- te«. Jäger werden zunächst als grausam und – für den Standpunkt eines ökosozialen Gender-Diskurses – als maskulin markiert. Wo sie agieren, dominiert phallogozent- ristisches Machtgehabe mit dem Gewehr. Somit werden Attribute eines klassisch, machistischen Männlichkeitsbildes wachgerufen. Sie sind charakterisiert durch die fehlende Empathie mit ihren Opfern, erweisen sie sich doch letztlich als »nur ihrer Sprache mächtig«, wie die Schlusspointe konstatiert. Man könnte diesen Text mit seiner umgangssprachlichen und anfangs onomato- poetischen Note als allzu leichtfüßig und vielleicht gar kindisch aburteilen, würde man die Verschränkung der tierethischen Implikation mit dem poetologischen Aus- sagegehalt übersehen. Denn wovon das Poem kundtut, ist die Inkonformität zweier Kommunikations- und Sprachsysteme. Es thematisiert in Analogie zu Rassismus und Sexismus den »Speziesismus«,34 der auf vom Menschen definierte Hierarchi- sierungs- und Diskriminierungsmerkmale gründet. Der Reim misslingt zu Beginn, weil innerhalb des (traditionellen) humanen Denk- und Sprachkosmos die Ermäch- tigung der Vierbeiner nicht vorkommen kann oder darf. Der Jäger als extremstes Beispiel zivilisatorischer Hegemonie führt vor Augen, dass der Mensch nie ganz wissen wird, was Tiere wollen oder wie sie sich im Kern verständigen. Viele von ihnen mögen ihm ähnlich erscheinen, aber beide Spezies bleiben auch im Anthro- pozän Gefangene ihres Wirkungsraumes. Die Grenze der Sprache fällt mit der Grenze des Bewusstseins bzw. der Erkenntnisfähigkeit zusammen. Und dennoch veranschaulicht dieses Gedicht die Leistungsfähigkeit von Litera- tur: Sie unterstützt trotz der natürlichen wie künstlichen Grenzziehungen emotiona- le und kognitive Auseinandersetzungen mit dem Fremden. Sie kann den Leser/die Leserin zwar nicht vollends in den Hasen hineinversetzen, aber sie vermag eine

34 Vgl. Ryder, Richard: » Again: The original leaflet«, in: Critical Society 1 (2010) 2, S.1-2, hier S. 1. 18 | Björn Hayer und Klarissa Schröder

Imagination seines subjektiven Empfindens zu konstruieren und einen Raum für Um- und Neudenken zu gewähren. Sprache und Sprachvermögen bilden in diesem Sinn die Voraussetzung für eine Ethik und eine Ethik bildet wiederum die notwen- dige Grundlage für eine Vorstellungskraft und Aussagefähigkeit, die nicht an der Speziesgrenze Halt macht. Literarische Werke in den Fokus zu nehmen, führt dem- nach zu praktischen Einsichten, sodass keinerlei Gefahr einer durch Theoriediskus- sionen beförderten Ablenkungsstrategie, die Friederike Schmitz zurecht benennt,35 zu erwarten ist. Im Gegenteil: Jenseits hermeneutischer Akrobatik bietet der didak- tische Teil im letzten Kapitel der vorliegenden Studie einen unmittelbaren Nutzen an: Wie Schröder an Bilderbüchern verdeutlicht, ergibt sich die »Möglichkeiten zur Perspektivübernahme« gerade aus der Beobachtung einer leidenden Kreatur.36 Dadurch, dass Tiere in literarischen Texten und Medien als Ich-Erzähler oder per- sonale Reflektorfigur in Erscheinung treten, vermitteln sie Lesenden nicht nur Wis- senswertes aus deren Leben, sondern berühren gleichzeitig durch das persönliche Schicksal und können somit einen rücksichtsvolleren Umgang mit Tieren anregen.37 In welcher Weise dieser Umgang innerhalb eines tierethischen Diskussionsrahmens auch kritisch im Unterricht aufgegriffen und reflektiert werden kann, veranschauli- chen insbesondere die Beiträge im letzten Abschnitt. Doch welche Möglichkeitshorizonte zur Perspektivenübernahme entwickeln die Aufsätze im Einzelnen? Dieter Birnbacher zeichnet zunächst die Entwicklungslinie der tierethischen Debatten und Positionen von der Antike bis in die Gegenwart nach. Besonders do- kumentiert werden dabei sowohl die Begründungsmuster für den Anthropozentris- mus bzw. Speziesismus als auch Argumentationslinien, die eine rechtliche Aufwer- tung des Tieres legitimieren können. Daran anknüpfend beleuchtet Samuel Camenzind Immanuel Kants Pflichten- semantik, wobei allen voran dem Epitext zur Tugendlehre eine forcierte Bedeutung zukommt. Es wird deutlich, dass animale Wesen entgegen klassischer Kant- Interpretationen, welche oftmals primär auf dessen Vorlesungen rekurrieren, eine herausragende Stellung innerhalb der Moralphilosophie einnehmen.

35 Vgl. Schmitz, Friederike: Tierethik, Münster: compassion media 2017, S. 8f. 36 Schröder, Klarissa: »Moralische Handlungsanforderungen am Beispiel der Haustierhal- tung in ›tierfreundlichen Kinderbüchern‹«, in: Dies./Hayer, Tierethik in Literatur und Un- terricht (2016), S. 197-211, hier S. 209. 37 Vgl. Bonacker, Maren: »Von mutige Mäusen, wandernden Wölfen und einem dichtenden Schwein. Wenn Tiere zu Kinderbuchhelden werden – Ein Vorwort«, in: Dies. (Hg), Ha- senfuß und Löwenherz. Tiere und Tierwesen in der phantastischen Kinder- und Jugendli- teratur. Wetzlar: Happel 20011, S. 7-12. Vorwort | 19

Während der Denkkosmos des Königsberger Philosophen jedoch noch einem anthropozentrischen Weltbild verhaftet bleibt, weisen die Schriften Tom Regans be- reits auf das posthumane Zeitalter hin. Dieser repräsentiert einen juridischen Dis- kurs. Im Zentrum stehen, wie Erwin Lengauer erläutert, die Postulierung individu- eller Rechte auf Basis eines angenommen »inhärenten Werts« eines jeden Tieres. Nachdem mit den ersten drei Beiträgen philosophische Basistexte und -annahmen der Ethik besprochen werden, eröffnet Dagmar Burkharts Aufsatz das Kapitel zu den kulturwissenschaftlichen Analysen von Mensch-Tier-Beziehungen. Anhand einer diachronen Darstellung des Wolfes in Literatur und Film exemplifi- ziert sie Deutungsstrategien der Cultural Animal Studies. Der gängigen Lesart von Tieren als Motive stellt sie dabei den Ansatz der semantischen Rollen von agens und patiens aus der Kasus-Grammatik entgegen. Da die diskursive Betrachtung der Mensch-Tier-Beziehungen unmittelbar Fra- gen zur Ernährung aufwirft, geht Teresa Hiergeist in ihrem Beitrag ¿On és la mi- sericòrdia dels animals? Zur Ethik des Tierverzehrs im Spanien des 16. Jahrhun- derts der Diskussion um Quantität und Legitimation des Fleischessens im spani- schen Raum der frühen Neuzeit nach. Kontroversen, die hierin aufgedeckt werden, reichen bis in die Gegenwart hin- ein, wenn etwa das paradoxe Verhältnis zwischen den sogenannten »Haustieren« und den »Nutztieren« in den Fokus gerät. Besonders anschaulich bringt die Installa- tion »Hase« der Künstlergruppe Gelitin die gesellschaftlichen Widersprüche auf den Punkt. Als überlebensgroßes »Kuscheltier« in der freien Natur lädt es zur Be- gehung und Reflexion ein, wobei sich, wie Ana Dimke herausstellt, das Potenzial zur Empathie ergeben kann. Dass im transdisziplinären Spektrum der Tierethik gerade das Medium Film in besonderer Weise dazu geeignet ist, emotionale Erfahrungen zu vermitteln, de- monstriert Denise Dumschat-Rehfeldts Analyse von Isabella Rossellinis Green Porno über den Umgang des Menschen mit den Ökosystemen der Weltmeere. In- dem sie darin für ein differenziertes Tierbild wirbt, sensibilisiert sie das Bewusst- sein der Zuschauer/-innen für die Schutzwürdigkeit des reichhaltigen und individu- ellen Lebens in der Tiefsee. Untersuchen die vorigen drei Beiträge Interspeziesbeziehungen innerhalb der Welten künstlerischer Artefakte, verhandelt Ulrike Schmid in ihrer Studie die kapi- talistischen und patriarchalen Motive der Jagd. In diesem Rahmen gelingt es ihr, ei- ne Typologie unterschiedlicher Jagdbedürfnisse zu veranschaulichen. Ebenfalls an empirischen Befunden orientiert sind die beiden folgenden sprachwissenschaftlichen Aufsätze. Daniel Gutzmann und Katharina Turgay richten ihre Aufmerksamkeit auf die sprachlichen Mittel in theoretischen Texten, die Argumentationen zur Tierethik zum Gegenstand haben. Kritisieren die Pro- Vertreter/-innen eher mit sachlichen Argumenten den Status quo der beklagenswer- 20 | Björn Hayer und Klarissa Schröder ten Haltung animaler Wesen, unternimmt die Contra-Seite vor allem den Versuch der Diffamierung ihrer Gegner/-innen. Das linguistische Interesse des sich anschließenden Beitrags gilt den Alltagsmo- ralisierungen auf der Internetplattform Facebook, in die Tiere als moralische oder moralisierte Akteure involviert sind. Pamela Steen zeigt dabei auf, wie letztere zu Teilen virtueller Kommunikationsdramaturgien werden. Gerade die menschlichen Deutungsbemühungen für animale Verhaltensweisen geben ideologisch verfestigte Strukturen und Stereotypen zu erkennen. Das literaturwissenschaftliche Kapitel eröffnet Friederike Schmitz’ Text zur Schriftstellerin Cora Diamond, an deren Werken sich zugleich die Stärke fiktionaler Texte für die tierethische Sensibilisierung aufzeigen lässt. Jenseits der rational be- gründeten Argumentationsstrategien für Rechte und Bedürfnisse unserer Mitwesen machen insbesondere die Aufsätze der Schriftstellerin deutlich, dass ein anderes Mensch-Tier-Verhältnis aus Einstellungen hervorgeht, die letztlich animalische Subjekte schon an sich als moralisch begreifen. Dazu kann die Möglichkeit zur Übernahme der Perspektive des anderen in lite- rarischen Werken einen wichtigen Beitrag leisten, wie Andrea Klatt in ihrer Annä- herung sowohl an Beispielen angloamerikanischer Prosa als auch deutschsprachiger Texte von Musil oder Tawada indiziert. In ihrem Beitrag Can the Animal Speak? zeigt sie auf, dass literarische Texte einen Beitrag zum »Tier-Erkennen« leisten können und Tiere durch unterschiedliche Formen des Eintauchens in deren Be- wusstsein, obwohl sie selbst nicht sprechen können, eine »ethische Berechtigung« erlangen. Dass diese mit der ästhetischen Komposition eines Werks zusammenhängen kann, belegt Kevin Drews in seiner Untersuchung des Löwen in Hans Blumenbergs Poetik der Erinnerung. Darin wird die Raubkatze nicht als bloßer Symbolträger ge- oder missbraucht. Vielmehr vermittelt sich gerade durch die Akzentuierung von dessen spezifisch physiologischen Eigenheiten ein Erzählen des anderen, des »Tier[s] jenseits determinierender Attributionen«. Eine Problematisierung von deren Verzwecklichung bietet der von Jonas Meu- rer analysierte Roman Indigo von Clemens J. Setz. Anhand von Schilderungen ver- schiedener Tierversuche im 20. Jahrhundert entfaltet der Gegenwartsautor moti- visch zentrale Momente seines literarischen Anliegens, die Reflexion von »Leiden und Schmerzen, Mitleid und Verantwortung, Einsamkeit und Entfremdung«. Betrachtet man Tiere als eigenständige Subjekte, so lassen sich kanonische Tex- te und Textsorten, in denen sie vorkommen, neu interpretieren. Exemplarisch unter- zieht Björn Hayer daher die Fabeln Gotthold Ephraim Lessings einer Relektüre, wobei stereotype Kreaturen wie Esel oder Bär zu kommunikationsfähigen Trägern ihrer Interessen werden. Die tierethische Diskussion im Unterricht zu verankern bzw. zu legitimieren, forcieren die didaktischen Beiträge, welche Gabriela Kompatscher einleitet. Vorwort | 21

Nachdem sie zunächst die Literary Animal Studies methodologisch umreißt, eruiert sie an Beispielen lateinischer Zeugnisse des Mittelalters »Konzepte der Annähe- rung« an »Tiertexte«, woran sich Didaktisierungspotenziale anschließen. Hierbei kommt der Kultivierung von Empathie sowie dem Nachdenken über ethisch fun- dierte Mensch-Tier-Beziehungen eine wesentliche Bedeutung zu. Um tierethische Gesichtspunkte in den Deutschunterricht zu implementieren, bedarf es auch einer Begründung auf Basis der geltenden Curricula. Nachdem Eva Pertzel in ihrem Beitrag zunächst Potenziale und Grenzen des Lehrplans am Bei- spiel Nordrhein-Westfalens auslotet, knüpft sie an Erprobungsformen für das Ler- nen des Argumentierens an. Da animalische Gefährt/-innen gerade in der Lebens- welt von Jugendlichen einen hohen Stellenwert einnehmen, ermöglicht ihnen dieser persönliche Bezug auf leichte Weise tierethische Positionen nachzuvollziehen oder gegeneinander abzuwägen. Auch im folgenden Beitrag steht die Entwicklung eines »tiersensiblen Lehr- plans«, allerdings aus internationalen Perspektive, im Zentrum. Anu Pande stellt eine Fallstudie der Germanistikabteilung der English and Foreign Languages Uni- versity in Hyderabad vor, bei der junge Studierende neun Hundewelpen vor dem Ertrinken retteten und diese anschließend während der Lektüre tierethischer Texte im Unterrichtsraum versorgten. Pande zeigt auf, dass »tiersensible Texte und die Sensibilisierung der Studierenden in einer Wechselbeziehung stehen.« Daran schließt sich Julia Stetters Korpus möglicher literarischer Werke zur Behandlung in der Schule an. Sie bieten »Anlass zur Kontroverse« und erlauben in besonderem Maße rezeptionsästhetische Zugänge. Gerade die Offenheit der Texte, was das Schicksal der Tiere im Einzelnen anbetrifft, provoziert ein Nachdenken über das rechte Verhalten des Menschen gegenüber seinen Mitwesen. Wie eine konkrete Aufarbeitung eines kulturellen Produkts unter tiersensiblen Vorzeichen erfolgen kann, diskutiert Janine Eichler im Hinblick auf den Film Bä- renbrüder. Hierin wird »die Geschwisterlichkeit von Mensch und Tier, die sich auf einem Gleichheitsverständnis gründet«, prononciert. Das Medium lädt zum Per- spektivwechsel, zur Aufdeckung von Anthropomorphismen sowie zur Reflexion ei- ner theologisch grundierten Verantwortungsethik ein. Eine besondere Betrachtung der tierischen Andersartigkeit erlaubt Torsten Mergens Untersuchung der Kinderromane Uwe Timms. Im Vordergrund der Wer- ke Rennschwein Rudi Rüssel sowie Die Zugmaus stehen Kreaturen, die entweder vom Menschen vornehmlich als Schädlinge inferiorisiert werden oder als Objekte im Rahmen der Nahrungsmittelproduktion Verwendung finden. Indem die Texte hingegen für Verständnis für vermeintlich niedere Arten sorgen, problematisieren sie zugleich die von Widersprüchen und Ambivalenzen bestimmten Mensch-Tier- Beziehungen der industriellen Spätmoderne. Geeignet für die Kultivierung des Mitgefühls sind beispielsweise Schreibaufga- ben oder szenische Verfahren, in denen sich junge Leser/-innen mit Tieren identifi- 22 | Björn Hayer und Klarissa Schröder zieren. Solcherlei methodische Strategien schlägt Andreas Wicke in seinem Auf- satz zu Paul Maars Wiedersehen mit Herrn Bello vor. Hierin trägt mitunter das Durchbrechen der Sprachgrenzen zur Überwindung des Speziesismus bei. Erzählen die bisherigen literarischen Zeugnisse zumeist von animalen Wesen unserer unmittelbaren Lebenswelt, gehen Berbeli Wanning und Anke Kramer Kinderbüchern auf den Grund, die bereits ausgestorbene Arten fokussieren. Letzte- re werden dabei als Erzählfiguren revitalisiert und avancieren somit zu Identifikati- onsfiguren. Neben der Vermittlung von evolutionärem Grundwissen bildet allen vo- ran die Sensibilisierung für den Artenschutz ein Kernanliegen der vorgestellten Primärwerke.

Tierethik und Philosophie

Alte Fragen – neue Antworten Die Kontinuität der Tierethik von den Anfängen bis zur Gegenwart

Dieter Birnbacher

EINLEITUNG: DIE TRENDWENDE IN DER TIERETHIK

In allen früheren Epochen dominierte in unserem Kulturbereich die Auffassung, dass die Beweispflicht bei demjenigen liegt, der meint, nicht nur Menschen, son- dern auch Tiere seien um ihrer selbst willen schützenswert. Der Mainstream der eu- ropäischen Ethik war bis ins 19. Jahrhundert hinein nahezu durchweg anthropozent- risch orientiert. Dem Menschen wurde nicht nur eine Sonderstellung innerhalb der animalischen Natur zugewiesen, sondern eine Alleinstellung als Gegenstand morali- scher Berücksichtigungswürdigkeit. Die Tiere kamen nahezu ausschließlich als Ob- jekte, nicht als Subjekte in den Blick. Die beherrschende Auffassung war, dass ge- genüber ihnen allenfalls eine indirekte, aber keine direkte moralische Verantwor- tung besteht. Wer ein Tier schädigt, ist danach möglicherweise gegenüber den Be- sitzer/-innen oder Halter/-innen des Tiers verantwortlich, nicht aber gegenüber dem Tier selbst. Das hat sich gründlich geändert. Seit längerem sind derjenige und diejenige be- weispflichtig, die meinen, Tiere seien nicht um ihrer selbst willen schützenswert. Selbst in das in Deutschland geltende, stark vom Anthropozentrismus Kants inspi- rierte Grundgesetz ist im Jahr 2002 – nach langjährigen Widerständen u. a. von Sei- ten der Forschungsförderinstitutionen – in Art. 20a der Schutz der Tiere aufge- nommen worden. Erst damit wurde der Tierschutz ein Staatsziel mit Verfassungs- rang. Bis dahin hatte sich das Verfassungsrecht zu der im Grunde paradoxen Kon- struktion genötigt gesehen, den Tierschutz mit dem Menschenwürdeprinzip aus Art. 1 GG zu begründen, wenn es darum ging, die mit Verfassungsrang ausgestattete Forschungsfreiheit entsprechend zu begrenzen. Eine der Konsequenzen des neuen Rechtsstatus der Tiere ist aus meiner Sicht eher beklagenswert: Mit der Novellie- 26 | Dieter Birnbacher rung des Tierschutzgesetzes ist die in Deutschland seit langem nicht mehr strafbare Sexualität mit Tieren erneut zu einem Strafdelikt geworden – nicht zum Schutz der Menschenwürde, sondern zum Schutz der tierlichen Würde. Bisher hat sich die rechtliche Aufwertung des Tierschutzes allerdings nur ge- ringfügig auf das in der Praxis geforderte Schutzniveau ausgewirkt. Das Staatsziel Tierschutz koexistiert weiterhin mit Praktiken – und der weitgehenden Akzeptanz von Praktiken –, die unter Tierschutzaspekten als problematisch gelten müssen: der vielfach tierquälerischen Aufzucht, Haltung, Transportierung und Schlachtung von hochgradig empfindlichen Säugetieren in der Fleischproduktion, der mangelnden Kontrolle von Qualzüchtungen bei Schoßtieren, der ausgesprochen forschungs- freundlichen Umsetzung der EU-Tierversuchsrichtlinie in die nationale Gesetzge- bung und der Zoohaltung von Menschenaffen und Meeressäugern. Zwischen der hochherzigen Beschwörung der »Mitgeschöpflichkeit« des Tiers in § 1 des Tier- schutzgesetzes und der Praxis des Umgangs mit Tieren besteht weiterhin eine tiefe Kluft. Ablesen lässt sich die gegenwärtige Trendwende und ihre Vorboten u. a. an der philosophischen Diskussion um Tierrechte. Die Idee, Tieren Rechte zuzuschreiben, ist nicht neu. Aber sie hat seit dem 18. Jahrhundert erheblich an Stoßkraft gewon- nen. Den Anfang machte Rousseau, der im Vorwort zu seiner Abhandlung über die Ungleichheit von 1755 davon spricht, dass auch die Tiere am Naturrecht teilhaben.1 30 Jahre später forderte Wilhelm Dietler in einem in Mainz erschienenen Traktat mit dem Titel Gerechtigkeit gegen Thiere zum ersten Mal ausdrücklich die Aner- kennung von Tierrechten. Diese sollten nicht so weit gehen, dass es dem Menschen verboten wäre, Tiere zu seiner Nahrung und zu seiner Sicherheit zu töten. Aber der Mensch solle die Tiere lediglich »auf die schnellste, gelindeste, schmerzenloseste Art«2 töten dürfen. Auch dürfe er sie nicht allein zum Zweck des Vergnügens jagen oder seine Launen an Haustieren abreagieren. Während es sich bei den von Dietler postulierten Rechten um moralische, nicht unmittelbar justiziable Rechte handelte, wurde kurz darauf für Tiere auch die Anerkennung juridischer, gesetzlicher oder anderweitig im Rechtssystem verankerter Rechte gefordert. Einer der ersten war der Hegelianer Karl Christian Friedrich Krause, bekannt durch den südamerikanischen Krausismo. In Vorlesungsmanuskripten, die vermutlich zwischen 1820 und 1830 entstanden und später unter dem Titel System der Rechtsphilosophie herausgegeben wurden, spricht Krause von dem »Recht der Thierheit im Verhältnisse zu dem Rechte der Menschheit« und weist den Tieren ein »bestimmtes Gebiet ihres

1 Rousseau, Jean-Jacques: »Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen«, in: Ders., Schriften zur Kulturkritik. Hamburg: Meiner 1978, S. 61-269, hier: S. 72f. 2 Dietler, Wilhelm: Gerechtigkeit gegen Thiere (1787), Neudruck Bad Nauheim: Asku- Presse 1997, S. 26. Alte Fragen – neue Antworten | 27

Rechts« zu, zu dem u. a. das Recht auf leibliches Wohlbefinden, das Recht auf Schmerzlosigkeit und sogar das Recht auf die »erforderlichen Lebensmittel«3 ge- hörten. In der Folgezeit sind die für die Tiere eingeklagten Rechte – analog zu den Menschenrechten – erheblich ausgeweitet worden. Tierschutzdenker und -aktivisten wie Henry Salt, Albert Schweitzer und Leonard Nelson haben den weiteren Schritt getan und für Tiere – mit unterschiedlichen Begründungen – ein Lebensrecht (im Sinne des Rechts, nicht getötet zu werden) postuliert. Seitdem ist der Begriff »Tier- rechte« und insbesondere der Begriff »Tierrechtler/-in« für die Vertreter dieser Rechte unauflösbar mit der Forderung nach einer weitgehenden Ausdehnung der im allgemeinen nur Menschen zugestandenen Rechte auf Tiere verbunden, einschließ- lich des Rechts auf Leben, des Rechts auf körperliche Unversehrtheit, Schutz vor Gefangenschaft und des Rechts auf art- und würdegemäße Behandlung.

DIE ANTHROPOZENTRISCHE TRADITION

Die Begründung für die Leugnung einer moralischen Verantwortung für Tiere wur- de in der westlichen Tradition der Ethik hauptsächlich darin gesehen, dass Tiere be- stimmter für den Menschen wesentlicher Fähigkeiten ermangeln: Vernünftigkeit (Augustinus, Descartes, Kant), Zukunftsbewusstsein (Origines), Sprachfähigkeit (Descartes) oder Religionsfähigkeit (Augustinus). Das Nichtverfügen über die je- weiligen Fähigkeiten wurde als hinreichender Grund gesehen, Tieren den Status von Subjekten abzusprechen, gegenüber denen eigenständige menschliche Pflichten bestehen. Allerdings waren die Argumente, die zu diesem Zweck vorgetragen wur- den, vielfach nicht besonders überzeugend. Es ist kaum zu glauben, dass sie akzep- tiert worden wären, hätte nicht von vornherein ein Vorurteil in dieser Richtung be- standen. Einige der Argumente sind kaum mehr als eine Abfolge von non sequiturs, wie etwa das folgende, mit dem Descartes dafür argumentiert, dass Tieren die Be- wusstseinsfähigkeit (cogitatio) abgeht:

»Würden Tiere denken wie wir, hätten sie eine unsterbliche Seele; dies wiederum ist nicht wahrscheinlich, gibt es doch keinen Grund dafür, dies für einige Tiere zu postulieren, ohne es für alle zu postulieren. Es gibt aber Tiere, die für eine derartige Annahme schlicht zu unvoll- kommen sind, man denke nur an Austern und Schwämme.«4

3 Krause, Karl Christian Friedrich: Das System der Rechtsphilosophie. Hg. von Karl David August Röder, Leipzig: Brockhaus 1874, S. 246. 4 Descartes, René: Correspondance. Hg. von Charles Adam und Gérard Milhaud. Bd. 7, Paris: Vrin 1936, S. 227. 28 | Dieter Birnbacher

Descartes’ Argument entspricht einem beliebten rhetorischen Kniff: der unzulässi- gen Verallgemeinerung der gegnerischen Position. Sachlich ist es schlicht ungültig. Aber auch Kant, der wirkmächtigste Vertreter einer rein anthropozentrischen Ethik in der bisherigen Geistesgeschichte, geht von zutiefst zweifelhaften Prämissen aus, wenn er meint, der Mensch könne keine Pflichten gegenüber den Tieren haben, weil diese selbst keine Pflichtsubjekte sein können:

»Nun kennen wir aber mit aller unserer Erfahrung kein anderes Wesen, was der Verpflich- tung (der aktiven oder passiven) fähig wäre, als bloß den Menschen. Also kann der Mensch sonst keine Pflicht gegen irgendein Wesen haben als bloß gegen den Menschen.«5

Kant setzt voraus, dass Pflichten auf einer wechselseitigen Verpflichtung beruhen und insofern stets reziprok sein müssen: Wem keine Pflichten zugeschrieben wer- den können, gegenüber dem sollen auch keine Pflichten bestehen. Er bedenkt nicht, dass Pflichten auch gegenüber Menschen bestehen, die schon deshalb als Pflicht- subjekte nicht in Frage kommen, weil sie dauerhaft unmündig sind. In der stoischen und christlichen Tradition wurde der ethische Anthropozent- rismus zusätzlich durch die metaphysische Annahme gestützt, dass die Tiere aus- schließlich um des Menschen willen da seien. Weil sie für den Menschen geschaf- fen seien, dürfe der Mensch über sie nach Belieben verfügen. Man kann in diesem Fall von – einem »starken Anthropozentrismus« – sprechen. Nach Seneca existieren »die Tiere (und die gesamte übrige nicht-menschliche Natur) ... um des Menschen, des einzigen vernünftigen Wesens willen«. Nach Thomas von Aquin sind die We- sen, die nur Leben haben,

»im allgemeinen für alle Tiere da und die Tiere für den Menschen»...»Unter den verschieden- artigen Verwendungsmöglichkeiten ... scheint jener Gebrauch am meisten notwendig zu sein, bei dem die Tiere sich der Pflanzen, die Menschen sich der Tiere zur Nahrung bedienen, was nicht ohne Tötung jener geschehen kann.«6

Es bleibt jedoch unerklärt, warum – bei Seneca – die Vernunft eine so hohen Rang gegenüber dem Unvernünftigen beanspruchen kann, dass sie sich alles Übrige zu eigen machen kann, und warum – bei Thomas von Aquin – die hierarchische Stu- fung der Naturwesen eine unbegrenzte Lizenz für die »höherrangigen« Wesen be- deutet, die jeweils »niederrangigen« für sich zu nutzen.

5 Kant, Immanuel: Werke. Akademie-Textausgabe. Bd. 6, Berlin: de Gruyter 1968, S. 442. 6 Bondolfi, Alberto: Mensch und Tier. Ethische Dimensionen ihres Verhältnisses, Fri- bourg: Universitätsverlag 1994, S. 59. Alte Fragen – neue Antworten | 29

Zur Ehrenrettung vieler Vertreter der anthropozentrischen Tierethik sei darauf hingewiesen, dass das, was sie persönlich über Tiere dachten, nicht immer ihren Prinzipien entsprach. So verurteile Thomas von Aquin die bereits zu seiner Zeit in Italien übliche Jagd auf Singvögel. Kant ging sogar noch weiter und postulierte in der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten, dass einem langgedienten Nutztier – aus »Dankbarkeit für lang geleistete Dienste eines alten Pferdes oder Hundes (gleich als ob sie Hausgenossen wären)«7 – das Gnadenbrot nicht verweigert wer- den sollte. Die Begründung einer eigentlichen Ethik des Tierschutzes ist – wie der Men- schenrechte – wesentlich eine Leistung der Aufklärungsphilosophie, insbesondere von Philosophen, die der christlichen Lehre skeptisch bis kritisch gegenüberstanden und die Moral weniger in der Vernunft als in den Empfindungen begründet sahen: Hume, Voltaire, Rousseau, Bentham und Schopenhauer. Vor dem Zeitalter der Aufklärung waren schutzorientierte Normen nur ganz vereinzelt vertreten worden, häufig aufgrund religiöser Überzeugungen mit außereuropäischen oder pantheisti- schen Wurzeln: bei dem vom Pythagoreismus beeinflussten Plutarch, bei dem Neu- platoniker Porphyrius und bei dem christlichen Außenseiter Franz von Assisi. Die stärkste Stütze hat die Idee des Tierschutzes in Europa durch die Philoso- phie Schopenhauers erfahren. In dezidierter Opposition gegen die anthropozentri- sche Tradition stellt Schopenhauer statt den Differenzen zwischen Mensch und Tier die Übereinstimmungen zwischen beiden in den Mittelpunkt seiner Philosophie. Die menschliche Vernunft ist für Schopenhauer – wie später für Freud – lediglich ein Instrument, dessen sich die animalische Triebnatur des Menschen zur Steige- rung ihrer Wirksamkeit bedient. Aber auch Schopenhauer postuliert keine völlige Rechtsgleichheit zwischen Mensch und Tier. Er geht vielmehr von der Annahme aus, dass »in der Natur die Fähigkeit zum Leiden gleichen Schritt hält mit der Intel- ligenz«.8 Schopenhauer schloss sich insbesondere zwei Auffassungen an, die auch heute weit verbreitet sind: erstens, dass Tiere ohne Erinnerung und Voraussicht in einer ausdehnungslosen Gegenwart leben9 – und sich insofern von Natur aus in dem Zustand befinden, den Mystiker und Heilige erst noch anstreben: sie scheinen »wirklich weise«;10 zweitens, dass sich die Intensität des Leidens wesentlich nach der Fähigkeit zu Erinnerung und Voraussicht bemisst.11 Beide Annahmen sind aus heutiger Sicht nur mit Einschränkungen aufrechtzuerhalten. Nicht nur bei Primaten

7 I. Kant: Werke. Bd. 6, S. 443. 8 Schopenhauer, Arthur: Sämtliche Werke. Hg. von Arthur Hübscher. Bd. 4.2, Mannheim: Brockhaus. 1988, S. 245. 9 Vgl. ebd., Bd. 3, S. 64. 10 Ebd., Bd. 6, S. 314. 11 Vgl. ebd., Bd. 3, S. 64. 30 | Dieter Birnbacher und Meeressäugern, auch bei vielen anderen Spezies (und nicht nur bei Säugetie- ren) sind Verhaltensweisen beobachtet worden, die auf eine beträchtlich weiter entwickelte Fähigkeit zur Erinnerung und Antizipation schließen lassen, als Scho- penhauer annahm. Und aus der Tatsache der begrenzten Intelligenz von Tieren folgt nicht zwingend, dass sie unter Schmerzen, Ängsten und Frustrationen weniger lei- den. Wie u. a. Berichte aus der tierärztlichen Praxis nahelegen, spricht viel dafür, dass gerade die mangelnde Fähigkeit, das Zugemutete zu verstehen, es als harmlo- ses oder notwendiges Übel zu erkennen und ein Ende des Leidens abzusehen, die Intensität des Leidens steigert. Die Trendwende zu einer mehr oder weniger selbstverständlichen Anerkennung von Tieren als »moral patients« spiegelt sich nicht zuletzt in der sukzessiven Ver- schärfung der Kriterien, die an belastende Tierversuche angelegt worden sind. Wie die Debatte über den moralisch angemessenen Umgang mit Tieren insge- samt ist auch die Debatte um die Zulässigkeit und die Grenzen wissenschaftlicher Tierversuche keine neue Debatte. Sie reicht bis zum Beginn der tierexperimentellen Forschung im 17. Jahrhundert zurück. An dieser Debatte waren stets auch Philoso- phen beteiligt, unter ihnen einige, die selbst Tierversuche durchgeführt haben, wie etwa Descartes mit Versuchen zu Herzfunktion und Blutkreislauf.12 Bemerkenswert ist dabei, dass sich bereits im 17. und 18. Jahrhundert nicht nur im Wesentlichen die heutigen Positionierungen finden lassen, sondern auch die dafür ins Feld geführten Argumente. So betont bereits Descartes’ englischer Briefpartner Henry More, dass Tiere, anders als Descartes annahm, empfindungsfähig seien und ihren Empfindun- gen in ähnlicher Weise körperlichen Ausdruck verleihen wie Menschen.13 Bereits Kant vertrat hinsichtlich Tierversuchen ein strenges Subsidiaritätsprinzip und verur- teilte Vivisektionen, »wenn ohne sie der Zweck erreicht werden könnte«.14 Und Schopenhauer, der während seines Medizinstudiums in Göttingen an Vorlesungen mit Tierversuchen teilgenommen hatte, wurde noch um Einiges konkreter – in der für ihn typischen sarkastischen Weise:

»Als ich in Göttingen studirte, sprach Blumenbach, im Kollegio der Physiologie, sehr ernst- lich zu uns über das Schreckliche der Vivisektionen, und stellte uns vor, was für eine grausa- me und entsetzliche Sache sie wären; deshalb man zu ihnen höchst selten und nur bei sehr wichtigen und unmittelbaren Nutzen bringenden Untersuchungen schreiten solle; dann aber müsse es mit größter Oeffentlichkeit, im großen Hörsaal, nach an alle Mediciner erlassener Einladung geschehn, damit das grausame Opfer auf dem Altar der Wissenschaft den größt-

12 Maehle, Andreas-Holger: Kritik und Verteidigung des Tierversuchs. Die Anfänge der Diskussion im 17. und 18. Jahrhundert, Stuttgart: Steiner 1992, S. 114. 13 Vgl. R. Descartes: Correspondance, S. 174. 14 I. Kant: Werke, Bd. 6, S. 443. Alte Fragen – neue Antworten | 31 möglichen Nutzen bringe. Heut zu Tage hingegen hält jeder Medikaster sich befugt, in seiner Marterkammer die grausamste Thierquälerei zu treiben, um Probleme zu entscheiden, deren Lösung längst in Büchern steht, in welche seine Nase zu stecken er zu faul und unwissend ist.«15

Zu einem erheblichen Teil geht das »Unwissen«, von dem Schopenhauer spricht, heute nicht auf Faulheit zurück, sondern auf den publication bias, die Tendenz zur Veröffentlichung der Ergebnisse erfolgreich durchgeführter, aber nicht der Ergeb- nisse erfolglos durchgeführter Versuche. Die Folge ist, dass viele Versuche unter- nommen werden, deren Erfolg von vornherein fraglich ist. Schopenhauers Haltung gegenüber Tierversuchen war im Übrigen ambivalent.16 Ein vollständiges morali- sches Verdikt über Tierversuche lag ihm fern, da er von der Nützlichkeit einiger weniger Tierversuche überzeugt war, auch solcher, die ohne Narkose durchgeführt werden müssen, da sie neurologische Fragen beantworten sollen und die Narkose »das hier zu Beobachtende« aufheben würde.17 Auf dem Hintergrund seiner Prinzipien lehnte Schopenhauer nicht nur Tierver- suche, sondern auch die menschliche Nutzung von Tieren zu anderweitigen Zwe- cken nicht grundsätzlich ab. Entscheidend für ihn war, wie weit die den Tieren ver- ursachten Leiden durch die den Menschen ersparten Leiden aufgewogen werden. Bei Misshandlungen von Tieren, wie sie zu seiner Zeit gang und gäbe waren, sah er die Grenze des moralisch Erträglichen allerdings überschritten. Besonders am Her- zen lagen ihm dabei die geplagten Zugpferde: »Die größte Wohlthat der Eisenbah- nen ist, daß sie Millionen Zug-Pferden ihr jammervolles Daseyn ersparen«.18 Als erster Philosoph forderte er strafrechtliche Sanktionen für die Überforderung von Nutztieren.

EINE ZEITGENÖSSISCHE THEORIEDEBATTE: DER STREIT UM DEN »SPEZIESISMUS«

Der Streit um den Speziesismus ist ein Streit darum, wie weit die zwischen Mensch und Tier bestehenden Unterschiede die Ungleichheit der in Bezug auf beide gelten- den moralischen Prinzipien rechtfertigen. Das Spektrum der Meinungen in diesem

15 A. Schopenhauer: Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 396 f. 16 Vgl. Birnbacher, Dieter: »Schopenhauer«, in: Tina-Louisa Eissa/Stefan Lorenz Sorgner (Hg.), Geschichte der Bioethik. Eine Einführung, Paderborn: mentis 2011, S. 197-212, hier: S. 208. 17 A. Schopenhauer: Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 400. 18 Ebd., S. 399. 32 | Dieter Birnbacher

Punkt ist weitgespannt: An dem einen Pol fordern Tierrechtler/-innen, Tieren die- selben Rechte zuzuschreiben, die wir üblicherweise Menschen zuschreiben, soweit sie auf Tiere sinnvoll anwendbar sind. An dem entgegengesetzten Pol lehnen kon- sequente Anthropozentriker/-innen nicht nur die Zuschreibung von Rechten an Tie- re als sinnlos oder ethisch unbegründet ab, sondern leugnen auch, dass wir gegen- über Tieren irgendeine direkte moralische Verantwortung haben. Es ist nicht immer ganz klar, worum im Streit um den Speziesismus gestritten wird. Mit dem unschönen Ausdruck »Speziesismus« können nämlich zwei ver- schiedene Auffassungen gemeint sein: erstens die Auffassung, dass die Zugehörig- keit zu einer biologischen Gattung für sich genommen moralisch relevant und hin- reichend ist, die vorherrschende Differenzierung in den moralischen Ansprüchen von Menschen und Tieren zu rechtfertigen (starker Speziesismus); zweitens die Auffassung, dass die Zugehörigkeit zu einer biologischen Spezies mit bestimmten wertungsrelevanten Merkmalen korreliert ist, die ihrerseits eine unterschiedliche Behandlung von Menschen und Tieren rechtfertigen (schwacher oder moderater Speziesismus). In der ersten Bedeutung führt »Speziesismus« – analog zu »Rassis- mus«, »Sexismus« oder »ageism« – eine pejorative Konnotation mit sich und belegt die ungleiche Behandlung von Mensch und Tier mit dem Vorwurf der Diskriminie- rung. In diesem Sinn ist der Ausdruck insbesondere durch die Verwendung in Peter Singers fulminanter Streitschrift von 1974 bekannt geworden.19 In seiner zweiten Bedeutung ist »Speziesismus« analog zu Normen des Umgangs mit Inhabern bestimmter Positionen und Funktionen: Den Individuen bestimmter Spezies kommt danach ein höherer moralischer Status zu, weil sie Fähigkeiten auf- weisen, die andere nicht aufweisen, oder weil sie weitergehende Bedürfnisse haben als andere. Wie weit dieserart Speziesismus berechtigt ist, hängt davon ab, wie plausibel die Argumente dafür sind, dass mit den jeweils deskriptiven Eigenschaf- ten (Fähigkeiten, Bedürfnisse) entsprechende normative Eigenschaften (intrinsi- scher Wert, Rechte) einhergehen. Die kritische Verwendung des Ausdrucks »Speziesismus« scheint, soweit damit der Speziesismus in seiner starken Form gemeint ist, gut begründet. Es ist nicht zu sehen, dass die Zuordnung eines Wesens zu einer bestimmten biologischen Spezies für sich genommen ein hinreichender Grund sein kann, ihm einen besonderen Wert zuzusprechen. Erstens kann man bezweifeln, dass Menschen überhaupt im strengen Sinn eine eigene biologische Spezies ausmachen und nicht vielmehr eine Untergat- tung der Schimpansen.20 Zweitens darf die Gattungszugehörigkeit nicht als eine

19 Vgl. Singer, Peter: Animal Liberation. Die Befreiung der Tiere. Neudruck, Reinbek: Ro- wohlt 1996. 20 Vgl. Diamond, Jared: Der dritte Schimpanse. Evolution und Zukunft des Menschen, Frankfurt a.M.: Fischer 2006. Alte Fragen – neue Antworten | 33 verbindliche ontologische Vorgegebenheit missverstanden werden. Gattungsbegrif- fe sind, anders als die aristotelische Naturphilosophie meinte, keine in den Dingen selbst liegende Unterteilungen, sondern menschengemachte Klassifikationen, die sich auf dem Hintergrund der Erfahrung als revisionsbedürftig erweisen können.21 Drittens kann weder die Art des Genoms noch der Phänotyp dafür entscheidend sein, wie wir mit einem Individuum umgehen sollten. Ein Wesen mit menschenty- pischem Genom, das im biologischen Sinne Mensch ist, muss nicht die für den Menschen charakteristischen Fähigkeiten besitzen oder zu ihrem Erwerb fähig sein. Auch wenn die typischen Vertreter dieser Gattung über die Fähigkeit der Vernunft verfügen bzw. auf den Erwerb dieser Fähigkeit angelegt sind, braucht ein bestimm- tes Individuum weder über diese Fähigkeit noch das Potenzial dazu zu verfügen.22 Andererseits kann ein Wesen mit einem eindeutig nicht-menschlichen Genom Fä- higkeiten ausprägen, die nahelegen, ihm eine dem Menschen vergleichbaren mora- lischen Status zuzusprechen. Ein androider Roboter mit Leidensfähigkeit, mensch- licher Reflexionsfähigkeit und menschlichem Ausdrucksverhalten würde zweifellos selbst dann, wenn man zögerte, ihm die Menschenrechte zuzubilligen, nicht viel anders zu behandeln sein als ein Mensch. Ihm würden zu Recht dieselben morali- schen Privilegien zugeschrieben, die gemeinhin Menschen zugeschrieben werden. Ähnliches würde für hypothetische tierische Mutanten mit typisch menschlichen Eigenschaften wie Vernunft und Moralbewusstsein gelten. Weder ihr Genom noch ihr Phänotyp würde darüber entscheiden, wie wir sie behandeln würden, sondern die Art und Weise, in der sie auf eine bestimmte Behandlung reagieren, wie diffe- renziert ihr Verhalten ist und welche weiteren Potenziale sie aufweisen. Der schwache Speziesismus hat demgegenüber von vornherein bessere Karten. Er begründet die unterschiedliche normative Wertung von Mensch und Tier nicht mit der Gattungszugehörigkeit selbst, sondern mit einigen der mit ihr zusammenge- henden Eigenschaften. Danach entscheiden nicht rein biologische Merkmale wie Gattungszugehörigkeit oder Abstammungsbeziehungen über die besondere Wertig- keit des Menschen, sondern die für die Gattung Mensch als Ganze charakteristi- schen und von den typischen Exemplaren der Gattung auch tatsächlich gezeigten

21 Vgl. Rippe, Klaus Peter: »Primatenhirne. Was soll das Affentheater?«, in: Helmut Fink/Rainer Rosenzweig (Hg.), Künstliche Sinne, gedoptes Gehirn. Neurotechnik und Neuroethik, Paderborn: mentis 2010, S. 241-274, hier: S. 261f. 22 Allerdings kann es sich aus pragmatischen Gründen empfehlen, den betreffenden Indivi- duen den entsprechenden Status in einer uneigentlichen Form zuzuschreiben, etwa als »Quasi-Personen«, vgl. Feinberg, Joel: »Die Rechte der Tiere und zukünftiger Generatio- nen«, in: Dieter Birnbacher (Hg.), Ökologie und Ethik, Stuttgart: Reclam 1980, S. 140- 179, hier: S. 165. 34 | Dieter Birnbacher

Merkmale, darunter die spezifisch menschlichen kognitiven und moralischen Fä- higkeiten und Potenziale. Welche Eigenschaften kommen dafür in Frage? Es ist leichter zu sagen, welche Eigenschaften dafür nicht in Frage kommen. Nicht in Fragen kommen etwa die Eigenschaften, faktisch anerkannt zu werden oder bestimmte metaphysische Alleinstellungsmerkmale aufzuweisen. Das Argu- ment der faktischen Anerkennung begründet die Sonderstellung des Menschen da- mit, dass diese de facto so gut wie universal anerkannt ist. Die weitverbreitete Nei- gung, Angehörige unserer Spezies besser zu behandeln als die Angehörigen anderer Spezies, sei für sich selbst ein starker Grund, sie besser zu behandeln.23 Aber gegen diesen Begründungsansatz sprechen zwei schwerwiegende Argu- mente. Erstens ist nicht klar, ob der behauptete consensus gentium existiert. Zumin- dest bei einer historischen Betrachtung ist offensichtlich, dass wechselnden Grup- pen von Menschen keineswegs derselbe Wert zugesprochen worden ist. Menschen- rechte und Menschenwürde wären nicht die Kampfbegriffe, die sie bis heute waren und weiterhin sind, wäre der besondere Status des Menschen in der Tat universal akzeptiert.24 Zweitens ist es grundsätzlich problematisch, Akzeptabilität durch Ak- zeptanz zu begründen. Auch weitverbreitete Einstellungen können nicht umstands- los und allein deshalb, weil sie verbreitet sind, als berechtigt gelten. John Stuart Mill verwies im Zusammenhang mit dem Status der Tiere etwa auf das unter Aris- tokraten über Jahrhunderte selbstverständliche Prinzip, dass noch das geringfügigs- te Leiden eines Aristokraten mehr zähle als die Leiden noch so vieler Kleinbau- ern.25 Aber auch metaphysische Eigenschaften, die dem Menschen als Alleinstel- lungsmerkmal zugeschrieben werden, etwa Gottesebenbildlichkeit, Unsterblichkeit oder der Besitz eines »intelligiblen«, jenseits der Erfahrung liegenden Wesenskerns, kommen für eine Begründung nicht in Frage. Alle diese Zuschreibungen greifen auf spekulative Annahmen zurück (der Existenz eines anthropomorphen Gottes, einer unsterblichen Seele, eines »intelligiblen Selbst«), die keine Aussichten haben, von jedem Verständigen akzeptiert zu werden. Falls sich die wertmäßige Sonderstellung menschlicher Lebewesen plausibel machen lässt, müssen diese Plausibilitäten wo- anders als in diesen weit über die Erfahrungswelt hinausgehenden Voraussetzungen

23 Vgl. Warren, Anne: »The rights of the nonhuman world«, in: Robert Elliot/Arran Gare (Hg.), Environmental philosophy. A collection of readings. Milton Keynes: Open University Press 1983, S. 109-134, hier: S. 112. 24 Vgl. Sapontzis, S. F.: Morals, reason, and animals, Philadelphia: Temple University Press 1987, S. 59. 25 Mill, John Stuart: »Whewell on moral philosophy«, in: John Stuart Mill, Collected Works. Bd. X, Toronto: University of Toronto Press/London: Routledge 1969, S. 165- 201, hier: S. 168. Alte Fragen – neue Antworten | 35 liegen. Nur empirisch aufweisbare Eigenschaften können die Beweislast für diese Sonderstellung tragen. Das weitaus häufigste Argument dafür, dass der menschlichen Gattung eine Sonderstellung innerhalb der Lebewesen zukommt, beruft sich auf die besonderen Fähigkeiten, über die der Mensch verfügt, und zwar diejenigen Fähigkeiten, die gemeinhin mit dem Besitz des Status einer Person verknüpft werden. Diese beste- hen im Wesentlichen aus drei – teilweise miteinander zusammenhängenden – Gruppen von Fähigkeiten: kognitive Fähigkeiten, Fähigkeiten der Selbstbestim- mung und moralische Fähigkeiten. Zu den ersteren gehören Zukunftsbewusstsein, Selbstbewusstsein und Rationalität, zu den zweiten Willensfreiheit im Sinne der Fähigkeit, Wollen und Handeln durch Prinzipien und andere längerfristige Orientie- rungen zu steuern, zur dritten die Fähigkeit zu Moralbewusstsein, zur Übernahme von Verpflichtungen und zu moralischer Selbstbewertung. Das Argument besteht darin, dass der Besitz dieser besonderen Fähigkeiten nicht ohne den Besitz eines besonderen normativen Status gedacht werden könne. Diese Fähigkeiten reichen so weit über das, wozu nicht-menschliche Lebewesen fähig sind, hinaus, dass sie förmlich dazu zwingen, den Wesen, die über diese Fähigkeiten verfügen, eine be- sondere Wertigkeit (etwa die für die Gattung Mensch spezifische »Menschenwür- de«) zuzuschreiben, die sie über alle übrigen Naturwesen erhebt. Diesen Wesen sehr viel weitergehende Rechte zuzuschreiben als anderen Naturwesen, sei insofern keine einseitige Privilegierung, sondern eine Würdigung dieses besonderen Status. Wie den Inhaber/-innen höherer Ämter weitergehende Rechtsbefugnisse zukommen als den Inhaber/-innen niederer Ämter, müsse dem Menschen als Gattung bereits aufgrund seiner überlegenen Fähigkeiten auch axiologisch – und daraus resultierend auch normativ – ein höherer Status eingeräumt werden. Aber auch wenn man von der Annahme ausgeht, dass diese besonderen Fähig- keiten einen Wert darstellen, an den Tiere nicht heranreichen, kann man bezweifeln, dass Menschen deshalb besondere Rechte zukommen. Ist die Zuschreibung von Rechten abhängig von den Zuschreibungen von Wert oder sogar proportional der Position in einer wie immer gearteten Werthierarchie – so dass diejenigen, die in dieser Hierarchie höher zu stehen kommen, deshalb auch mehr Rechte haben als diejenigen auf unteren Stufen? Ist der Besitz einer Fähigkeit für sich genommen ein Grund, einem Menschen ein bestimmtes Recht zuzuschreiben, etwa auf die Aus- übung dieser Fähigkeit oder auf die dazu erforderlichen Mittel? Das erscheint zwei- felhaft. Die Tatsache, dass jemand über eine bestimmte Fähigkeit verfügt, ist für sich genommen kein Grund, ihm die Ausübung dieser Fähigkeit zu ermöglichen. Es könnte ja sein, dass er keinerlei Interesse an der Ausübung dieser Fähigkeit hat oder dass zu erwarten ist, dass er diese Fähigkeit überwiegend zum Schaden anderer ausübt. Sehr viel plausibler ist es, die Zuschreibung von Rechten an den Bedürfnis- sen und Interessen des betreffenden Menschen zu orientieren, das heißt daran, was er benötigt, um diejenigen Fähigkeiten auszuüben, an deren Ausübung er entweder 36 | Dieter Birnbacher ein intrinsisches Interesse hat oder deren Ausübung ihm zur Erfüllung anderweiti- ger Interessen dienen kann, sowie daran, wie weit die Ausübung der betreffenden Fähigkeit den Bedürfnissen und Interessen anderer entgegenkommt. Ausschlagge- bend für die Zuschreibung von Rechten sind Bedürfnisse und Interessen und weder Fähigkeiten und Potenziale noch eine irgendwie geartete Wertigkeit des Bedürf- nissubjekts. Der Hunger ist der Grund für das Recht, mit dem zum Leben Notwen- digen versorgt zu werden, und nicht die besonderen Fähigkeiten oder der besondere Wert des Hungrigen. Selbstverständlich sind Fähigkeiten auch dann, wenn man Bedürfnisse und Inte- resse als primäre Rechtsgründe annimmt, weiterhin relevant. Relevant sind sie aber lediglich indirekt, d. h. soweit die Art und Intensität der jeweiligen Bedürfnisse und Interessen von ihnen abhängen. Selbstverständlich unterscheiden sich Wesen, die über Selbstbewusstsein und die Fähigkeit zu einer differenzierten inneren Repräsen- tation ihrer persönlichen Zukunft verfügen, in ihren Bedürfnissen und Interessen grundlegend von Wesen, die über diese Fähigkeiten nicht verfügen. Aber wenn sie infolgedessen über weitergehende Rechte verfügen, dann nicht deswegen, weil sie über die weitergehenden Fähigkeiten oder einen auf diesen basierenden höheren Wert verfügen, sondern weil sie weitergehende und differenziertere Bedürfnisse haben und unter Bedürfnisversagungen nicht nur akut stärker leiden, sondern anders als die allermeisten Tiergattungen unter diesen auch dann leiden, wenn sie noch nicht eingetreten, sondern lediglich erwartet oder befürchtet werden. Insofern gibt es gute Gründe, Menschen in der Tat weitergehende Rechte als Tieren zuzuschreiben. Aber diese weitergehenden Rechte kommen Menschen nicht primär deswegen zu, weil sie diese aufgrund eines besonderen Wertes oder einer besonderen Würde verdienen (so wie sich ein »verdienter« Staatsmann oder eine »verdiente« Wissenschaftlerin Ehre, Würde und bestimmte Privilegien verdient ha- ben) oder weil ihnen bestimmte Fähigkeiten einen besonderen Status verleihen. Ihnen kommen Rechte primär deswegen zu, weil sie sie für ein befriedigendes und erfülltes Leben brauchen, weil die Respektierung dieser Rechte eine notwendige Bedingung eines guten Lebens ist. Nicht ein besonderer Wert ist die Grundlage der Sonderstellung des Menschen innerhalb der Sphäre des Lebendigen, sondern seine infolge seiner überlegenen Fähigkeiten weitergehenden Bedürfnisse. Zwei dieser Gründe sind meiner Meinung nach die wichtigsten: die im Allge- meinen höhere Leidensfähigkeit von Menschen und die größere Teilnahme, die menschliche Zustände in der Regel bei anderen Menschen finden.26

26 Vgl. Birnbacher, Dieter: »Gibt es überzeugende Gründe für eine axiologische Sonderstel- lung des Menschen?«, in: Adrian Holderegger/Siegfried Weichlein et al. (Hg.), Huma- nismus. Sein kritisches Potential für Gegenwart und Zukunft, Fribourg: Schwabe 2011, S. 99-116, hier: S. 112 ff. Alte Fragen – neue Antworten | 37

Es ist klar, dass die höhere Leidensfähigkeit von Menschen Ungleichbehandlun- gen von Menschen und Tieren auch dann rechtfertigt, wenn man vom Prinzip der Interessengleichheit ausgeht, demzufolge gleiche Bedürfnisse und Interessen nor- mativ gleich viel zählen, gleichgültig ob sich diese bei Menschen oder Nicht- Menschen finden. Vieles aber spricht dafür, dass Menschen im allgemeinen leidens- fähiger sind als Tiere, insbesondere Menschen, die in einer Kultur aufwachsen, die Kinder und Jugendliche in einer Weise vor Leiden schützt, wie dies in der bisheri- gen Geschichte kaum je der Fall gewesen sein dürfte. Auch wenn nur wenige so weit gehen dürften wie Nietzsche, der auf seine überspitzte Art behauptet hat, dass gegen

»eine schmerzhafte Nacht eines einzigen hysterischen Bildungs-Weibchens gehalten, die Lei- den aller Thiere insgesammt, welche bis jetzt zum Zweck wissenschaftlicher Antworten mit dem Messer befragt worden sind, einfach nicht in Betracht kommen«,27 wird man doch annehmen dürfen, dass etwa ein Zugpferd weniger unter seiner Last leidet als ein zu ähnlichen Zwecken eingespannter Mensch. Bei Einschätzungen dieser Art muss man sich allerdings vor Übertreibungen hüten, die bereits deshalb verdächtig sind, weil sie dem menschlichen Wunsch nach Ausbeutung von Tieren entgegenkommen. Ebenso spricht einiges dafür, dass der Tod und das Leiden von Menschen nicht nur von ihren Subjekten als schwerwiegender erlebt werden, sondern auch gravie- rendere Nebenwirkungen haben, und zwar für das Subjekt selbst infolge seiner Fä- higkeit zur Antizipation und für andere aufgrund ihrer Fähigkeit und Neigung zur Identifikation. Menschlicher Tod und absehbares menschliches Leiden werfen auf das Leben ihrer Subjekte einen Schatten, der sich bei Tieren nicht oder nur in Aus- nahmefällen findet. Die Antizipation des eigenen Todes und die Tatsache, dass Menschen Todesangst und Angst vor zukünftigem Leiden weit im Vorfeld ihres tat- sächlichen Eintretens ausgesetzt sind, ist eines der stabilsten Kennzeichen der con- ditio humana. Menschlicher Tod und menschliches Leiden wird in höherem Maße zum Gegenstand von Identifikation. Die menschlichen Züge eines Wesens, mag es sich in seinen Fähigkeiten noch so sehr hinter denen der höchstentwickelten Tiere zurückbleiben, laden in einem Maße zur Identifikation und zum Mitfühlen ein, wie es die tierischen Züge eines Tiers nicht tun, und zwar weder bei Tieren noch bei Menschen.28

27 Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Bd. 5, München: dtv/Berlin: de Gruyter 1980, S. 303. 28 Fichte drückt diese Bereitschaft zur Identifikation mit allem, was »menschliches Antlitz« trägt, so aus: »Dies alles [...] ist es, was jeden, der menschliches Angesicht trägt, nötigt, 38 | Dieter Birnbacher

DER STREIT UM DIE BEWUSSTSEINSFÄHIGKEIT

Ein Problem, das die Anwendung von tierethischen Prinzipien betrifft und sowohl hochgradig komplex ist als auch hochgradig kontrovers diskutiert wird, ist die Fra- ge, welche Tiere bewusstseinsfähig sind und – zumindest auf der Grundlage »pa- thozentrischer« ethischer Prinzipien – als um ihrer selbst willen schutzwürdig gel- ten können. Die Praxis des Tierschutzes und das Tierschutzrecht sind weitgehend von der Überlegung bestimmt, dass Tiere, soweit sie bewusstseinsfähig sind, auch zu Zuständen von Freude und Leid fähig sind, und dass die beiden von Schopen- hauer als Grundlage der Moral bezeichneten Prinzipien der Unterlassung von Schädigung (neminem laede) und des Wohltuns (omnes quantum potes juva) inso- fern auf sie nicht weniger anwendbar sind als auf Menschen. Die Frage, ob und wie weit Tiere leiden können, lässt sich in drei Teilfragen zergliedern, die allesamt, wenn auch in unterschiedlichem Maße, für die Tier- schutzdebatte von Bedeutung sind. Die erste Teilfrage betrifft die Reichweite des Leidens: Welche Tiere sind überhaupt leidensfähig? Wo verläuft die Grenze zwi- schen Tiergattungen, deren Mitglieder leidensfähig sind, und anderen, die nicht lei- densfähig sind? Sind alle Wirbeltiere leidensfähig, oder gibt es Ausnahmen, etwa Reptilien und Fische? Sind zusätzlich – wie es das deutsche Tierschutzgesetzt nahe- legt – auch einige Weichtiere mit ausgeprägt hohem sensorischen Funktionsniveau, etwa Tintenfische, leidensfähig? Zweitens die Teilfrage der Kategorialität des Lei- dens: Empfinden diejenigen Tiere, die leidensfähig sind, Schmerzen, Angst und Stress lediglich in Form eines phänomenalen Bewusstseins – als sensorische Zu- stände – , oder ist ihr Leiden darüber hinaus auch Gegenstand eines intentionalen Bewusstseins, etwa in Form von Gedanken, Einstellungen oder Erinnerungen? Ver- fügen sie zusätzlich auch über Selbst- oder Ichbewusstsein, sodass sie ihre inneren Zustände auf sich selbst beziehen und sich selbst als Subjekte gegenwärtigen, ver- gangenen oder zukünftigen Leidens denken können? Die dritte Teilfrage ist die Frage nach der Qualität des subjektiven Empfindens, die »Anfühlfrage«29 – analog zu Thomas Nagels berühmter Frage, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Diese Teil- frage ist von allen dreien wohl am schwersten zu beantworten. Aber auch die bei- den ersten Teilfragen geben Rätsel auf.

die menschliche Gestalt überall, sie sei bloß angedeutet [...] oder sie stehe schon auf einer gewissen Stufe der Vollendung anzuerkennen und zu respektieren. Menschengestalt ist dem Menschen notwendig heilig.« Fichte, Johann Gottlieb: Grundlage des Naturrechts, Hamburg: Meiner 1960, S. 84. 29 Wild, Markus: Fische. Kognition, Bewusstsein und Schmerz. Eine philosophische Per- spektive (= Beiträge zur Ethik und Biotechnologie, Bd. 10), Bern: Eidgenössische Kom- mission für die Biotechnologie im Ausserhumanbereich 2012, S. 53. Alte Fragen – neue Antworten | 39

Die nicht überwindbare Grenze ist die begrenzte Evidenz, die wir für tierliches Empfinden haben. Die Stellung einer Tiergattung in der Evolution ist in dieser Hin- sicht nur begrenzt aufschlussreich. Es ist es nicht ausgemacht, dass sich die Lei- densfähigkeit, die sich in einer Tiergattung zeigt, auch in allen daraus evolutiv ent- standenen weiteren Tiergattungen zeigt. Sie könnte im Laufe der Evolution auch wieder verlorengehen, so wie sich ja auch die Intelligenz einer Tiergattung (etwa bei einigen Vögeln) nicht immer auf die Gattungen, die aus diesen evolutiv entstan- den sind, überträgt. Zuverlässigere Evidenzquellen sind in dieser Hinsicht die Ähn- lichkeiten des tierlichen Verhaltens mit menschlichen Verhalten (dessen »Innenan- sicht« wir als einzige kennen) und die von der Neuroanatomie und Neurophysiolo- gie gelieferten Anhaltspunkte. Auch hier ist Vorsicht angesagt, denn wir haben kei- ne Sicherheit, dass die Korrelationen zwischen neuronalen und mentalen Zustän- den, die wir beim Menschen finden, auf Tiere mit teilweise ganz anderer Organisa- tion des Gehirns eins zu eins übertragbar sind. Es ist insofern nicht verwunderlich, dass unter Etholog/-innen und Zoolog/-innen zwar weitgehende Einigkeit über die Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten zwischen Mensch und Tier besteht, nicht aber darüber, wie diese im Einzelnen zu deuten sind. »Realisten/-innen« unter den Etho- log/-innen, die sich aller Deutungen enthalten und Verhalten und neurowissen- schaftliche Befunde lediglich beschreiben, beschuldigen gelegentlich andere, die Tieren psychische Zustände und Akte zuschreiben, des Anthropomorphismus, diese umgekehrt die Behaviorist/-innen des Reduktionismus. Zu einer »Kampfzone« unterschiedlicher Deutungen sind gegenwärtig insbe- sondere die Fische geworden, die, soweit es sich um Knochenfische handelt, in den Schutzbereich der Tierschutzgesetze fallen, bei denen der Schutz aber weltweit ver- nachlässigt wird, nicht zuletzt auf dem Hintergrund der Bedeutung der Fische für die Welternährungssituation, der wirtschaftlichen Bedeutung des Fischfangs und der Interessen der Sportangler/-innen. Falls Fische leidensfähig sind, kann die Tat- sache, dass gefangene Fische auf den Trawlern zu Tausenden einen Erstickungstod sterben, nicht dauerhaft außerhalb des Fokus des Tierschutzes und einer entspre- chenden Politik bleiben, wie immer verständlich deren Zögerlichkeit angesichts der bei alternativen Fangmethoden zu erwartenden Kosten sein mag. Sind Fische empfindungsfähig? Eine ganze Reihe von Forschungsergebnissen zu Verhalten und Neurophysiologie von Fischen30 legen das nahe. Was das Verhal- ten betrifft, so zeigen Fische sowohl Anzeichen für sinnlichen Genuss (z. B. wenn man sie in der Nähe des Mauls kitzelt) als auch für Schmerzen (z. B. wenn der An-

30 Vgl. Braithwaite, Victoria: Do fish feel pain? Oxford: Oxford University Press. 2010 und Segner, Helmut: Fish. Nociception and pain. A biological perspective (= Beiträge zur Ethik und Biotechnologie, Bd. 9), Bern: Eidgenössische Kommission für die Biotechno- logie im Ausserhumanbereich 2012. 40 | Dieter Birnbacher gelhaken die Unterlippe durchbohrt). Manche Fische zeigen eine ausgeprägte Lern- fähigkeit, Verhaltensflexibilität (etwa koordiniertes Jagdverhalten) und Impulskon- trolle (Belohnungsaufschub) – alles Eigenschaften, die »höhere Tiere« auszeichnen. Was Neuroanatomie und -physiologie betrifft, so entbehren Fische zwar eines Ne- ocortex, dieser fehlt allerdings auch bei Reptilien und Vögeln. Das Fischgehirn be- sitzt jedoch Organe analog zu Hippocampus und Amygdala, die für Gedächtnis und Angst zuständig sind. Der Ausfall der Amygdala führt zu ähnlichen Verhaltenswei- sen wie bei Säugetieren. Im Kontext des Tierschutzes ist vor allem bedeutsam, dass die Schmerzleitung bei Fischen der bei Säugetieren analog ist. Auch wenn sich diesen Indizien nicht schlüssig entnehmen lässt, dass Fische Schmerzen empfinden, wenn nicht sogar, dass sie unter diesen leiden können, legen sie diese Annahme doch zumindest nahe.31 Es bleibt die Frage, wie mit den zwangsläufigen Unsicherheiten in der Ein- schätzung der Leidensfähigkeit umzugehen ist. Der Commonsense und die kulturel- len Traditionen sind in dieser Hinsicht gleichermaßen unzuverlässig. Gemeinhin wird die Leidensfähigkeit von warmblütigen Tieren als höher eingeschätzt als die von kaltblütigen, was bereits aufgrund der evolutionären Zusammenhänge wenig glaubwürdig ist (schließlich stammen die warmblütigen Vögel von den kaltblütigen Reptilien ab). Tiere, die als Schoßtiere gehalten werden, werden gemeinhin eher für schützenswert gehalten, als Tiere, die gegessen werden. Größere Tiere werden übli- cherweise für schutzwürdiger gehalten als kleine, symbolträchtige Tiere für schutzwürdiger als Tiere ohne kulturelle Bedeutung. Da sich Tiere über ihre inneren Zustände nicht in einer für Menschen verständlichen Weise äußern, sind Hypothe- sen über diese Zustände systematisch riskant. Aber wie mit diesem Risiko umzuge- hen ist, dafür bietet die Risikoethik keine eindeutige Handlungsempfehlung. Soviel lässt sich jedenfalls sagen, dass ein ausgeprägt risikofreudiger Umgang mit Tieren, bei denen Leidensfähigkeit nicht ausgeschlossen werden kann, ebenso unangemes- sen wäre wie ein ausgeprägt risikoaversiver, der, wie es Thomas H. Huxley einmal empfohlen hat,32 im Zweifelsfall stets zugunsten derer entscheidet, die sich über ih- re inneren Zustände nicht äußern können. Die erste Strategie würde nicht- äußerungsfähige Wesen ungebührlich diskriminieren, die zweite jede Nutzung von Tieren zu menschlichen Zwecken unmöglich machen. Wo das »richtige« Maß eines nach pathozentrischen Maßstäben erforderlichen Schutzes vor Schmerzen und Lei- den liegt, ist letztlich nicht vollständig empirisch zu begründen. Aber die Fortschrit- te, die die Ethologie gegenwärtig gerade auch im Bereich der Fische macht, lassen

31 Vgl. M. Wild: Fische. 32 Vgl. Huxley, Thomas H.: »Animals and human beings as conscious automata« (1874), in: Joel Feinberg (Hg.), Reason and Responsibility. Encino/Belmont, CA: Dickenson 1978, S. 264-272, hier: S. 270. Alte Fragen – neue Antworten | 41 darauf hoffen, dass diese Einschätzungen stets fundierter werden und aus ihnen dann auch Konsequenzen für die Praxis gezogen werden.