Plenarprotokoll 19/195

Deutscher

Stenografischer Bericht

195. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- Tagesordnungspunkt 8: neten , und Wahlvorschlag der Fraktion der AfD: Wahl Dr. ...... 24565 A eines Stellvertreters des Präsidenten Absetzung des Tagesordnungspunktes 32 d Drucksache 19/23974 ...... 24589 C und des Zusatzpunktes 12 ...... 24565 B Wahlen ...... 24590 A Zusatzpunkt 8: Ergebnisse ...... 24637 A, 24637 B Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zur Bewältigung der (SPD) ...... 24637 A Covid-19-Pandemie Dr. , Bundeskanzlerin ...... 24565 B Dr. (AfD) ...... 24569 D Tagesordnungspunkt 10: Dr. Rolf Mützenich (SPD) ...... 24571 A a) Antrag der Abgeordneten Martin (FDP) ...... 24572 B Reichardt, Mariana Iris Harder-Kühnel, (CDU/CSU) ...... 24573 D , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD: Aktive Fami- Dr. (DIE LINKE) ...... 24576 A lienpolitik durch Baby-Willkommens- Dr. (BÜNDNIS 90/ darlehen DIE GRÜNEN) ...... 24577 D Drucksache 19/24672 ...... 24590 A (SPD) ...... 24579 C b) Antrag der Abgeordneten Martin (AfD) ...... 24580 D Reichardt, Mariana Iris Harder-Kühnel, Frank Pasemann, weiterer Abgeordneter (CDU/CSU) ...... 24582 A und der Fraktion der AfD: Umsatzsteuer Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) ...... 24583 B auf Babywindeln absenken (SPD) ...... 24584 A Drucksache 19/24656 ...... 24590 B Nadine Schön (CDU/CSU) ...... 24585 A c) Antrag der Abgeordneten Mariana Iris Harder-Kühnel, , Dietmar (SPD) ...... 24586 B Friedhoff, weiterer Abgeordneter und der (CDU/CSU) ...... 24587 B Fraktion der AfD: Verwirklichung des Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) ...... 24588 B Kinderwunsches – Unterstützung der Entscheidung für ein drittes Kind Drucksache 19/24673 ...... 24590 B Tagesordnungspunkt 7: d) Antrag der Abgeordneten Mariana Iris Wahlvorschlag der Fraktion der SPD: Wahl Harder-Kühnel, , einer Stellvertreterin des Präsidenten , weiterer Abgeordneter Drucksache 19/24650 ...... 24589 B und der Fraktion der AfD: Lebensrecht II Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. , Donnerstag, den 26. November 2020

Ungeborener gewährleisten – Gesetzli- Tagesordnungspunkt 12: che Regelungen zur Schwangerschafts- a) Antrag der Abgeordneten , konfliktberatung verbessern , Dr. Gesine Lötzsch, Drucksache 19/24657 ...... 24590 C weiterer Abgeordneter und der Fraktion e) Antrag der Abgeordneten Mariana Iris DIE LINKE: Keine Kündigung für Mie- Harder-Kühnel, Martin Reichardt, terinnen und Mieter über 70 Jahre Johannes Huber, weiterer Abgeordneter Drucksache 19/10283 ...... 24618 A und der Fraktion der AfD: Wertewandel b) Antrag der Abgeordneten Caren Lay, im öffentlichen Rundfunk und an öffent- Friedrich Straetmanns, Dr. Gesine Lötzsch, lichen Schulen – Hervorhebung der weiterer Abgeordneter und der Fraktion Bedeutung von ungeborenem Leben DIE LINKE: Kündigungsschutz für Mie- und Neugeburten für Verfassung, Staat terinnen und Mieter verbessern und Gesellschaft Drucksache 19/10284 ...... 24618 A Drucksache 19/24652 ...... 24590 C c) Antrag der Abgeordneten , Martin Reichardt (AfD) ...... 24590 D Christian Kühn (Tübingen), Dr. Manuela (CDU/CSU) ...... 24591 D Rottmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: (FDP) ...... 24593 C Hilfe in der Pandemie – Mieterinnen und Mieter schützen sowie Verbrau- (SPD) ...... 24594 C cherinnen und Verbraucher als Darle- Norbert Müller (Potsdam) (DIE LINKE) . . . . . 24595 D hensnehmer unterstützen Drucksache 19/24634 (neu) ...... 24618 A Beate Walter-Rosenheimer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 24597 B Caren Lay (DIE LINKE) ...... 24618 B (CDU/CSU) ...... 24598 B Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU) ...... 24619 D Mariana Iris Harder-Kühnel (AfD) ...... 24599 D (DIE LINKE) ...... 24621 A (AfD) ...... 24621 C Sönke Rix (SPD) ...... 24600 C Dr. (SPD) ...... 24622 C Katrin Helling-Plahr (FDP) ...... 24601 C Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU) ...... 24623 C Bettina Margarethe Wiesmann (CDU/CSU) . . 24602 B (FDP) ...... 24624 B Gülistan Yüksel (SPD) ...... 24604 A Christian Kühn (Tübingen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 24625 A Carsten Müller (Braunschweig) (CDU/CSU) . 24626 C Tagesordnungspunkt 9: Marc Bernhard (AfD) ...... 24627 C Vereinbarte Debatte: Bilanz der deutschen (SPD) ...... 24628 B Mitgliedschaft im VN-Sicherheitsrat 2019/2020 Dr. Jürgen Martens (FDP) ...... 24629 A , Bundesminister AA ...... 24605 A (CDU/CSU) ...... 24629 D (SPD) ...... 24631 A Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE) ...... 24605 D Alexander Hoffmann (CDU/CSU) ...... 24632 A Dr. (AfD) ...... 24607 B Dr. Johann David Wadephul (CDU/CSU) . . . . 24608 A Bijan Djir-Sarai (FDP) ...... 24609 B Tagesordnungspunkt 31: a) Antrag der Abgeordneten Matthias Heike Hänsel (DIE LINKE) ...... 24610 A Seestern-Pauly, , Nicole (BÜNDNIS 90/ Bauer, weiterer Abgeordneter und der DIE GRÜNEN) ...... 24611 C Fraktion der FDP: Schulabsentismus ernst nehmen – Theorie und Praxis (SPD) ...... 24612 D Drucksache 19/23830 ...... 24633 A Armin-Paulus Hampel (AfD) ...... 24613 C b) Antrag der Abgeordneten Claudia Müller, Jürgen Hardt (CDU/CSU) ...... 24614 B Dr. , , weiterer Abgeordneter und der Fraktion (FDP) ...... 24615 B BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Klima- Dr. (CDU/CSU) ...... 24616 A freundliche Schifffahrt – Deutsche Rats- präsidentschaft nutzen Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU) ...... 24617 A Drucksache 19/23987 ...... 24633 B Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 III c) Antrag der Abgeordneten Dr. Kirsten in Verbindung mit Kappert-Gonther, Dr. , Dr. Bettina Hoffmann, weiterer Abgeord- Tagesordnungspunkt 31: neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Den Öffentlichen Gesund- d) Antrag der Abgeordneten , heitsdienst dauerhaft stärken, die Public , Dr. , wei- Health-Perspektive in unserem Gesund- terer Abgeordneter und der Fraktion der heitswesen ausbauen AfD: Re-Identifikationsrisiko im Digita- Drucksache 19/24436 ...... 24633 B le-Versorgung-Gesetz und in der Daten- transparenzverordnung reduzieren e) Antrag der Abgeordneten Norbert Müller Drucksache 19/24655 ...... 24634 A (Potsdam), Dr. , , weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Zuerst ein Tagesordnungspunkt 32: Dach über dem Kopf – Neue Perspekti- ven für Straßenkinder und wohnungs- a) Zweite und dritte Beratung des von den lose junge Menschen eröffnen Abgeordneten , , Drucksache 19/24642 ...... 24633 B , weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung in Verbindung mit des Gesetzes zur Ermittlung der Regel- bedarfe nach § 28 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch Drucksachen 19/23938, 19/24725 ...... 24634 C Zusatzpunkt 9: b) Beschlussempfehlung und Bericht des a) Antrag der Abgeordneten , Ausschusses für Menschenrechte und , , weiterer Abge- humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Frak- ordneter und der Fraktion der FDP: Keine tionen der CDU/CSU und SPD: Kriegs- einseitige Subventionierung für den verbrechen und Menschenrechtsverlet- Deutsche-Bahn-Konzern – Unterstüt- zungen dürfen nicht straflos bleiben zung für den Schienenverkehr wettbe- Drucksachen 19/23702, 19/24728 ...... 24634 D werbsneutral ausgestalten Drucksache 19/24639 ...... 24633 C e) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Tourismus zu dem Antrag b) Antrag der Abgeordneten Oliver Luksic, der Abgeordneten Dr. , Frank Sitta, Torsten Herbst, weiterer Abge- Michael Theurer, , ordneter und der Fraktion der FDP: Tech- weiterer Abgeordneter und der Fraktion nologieoffenheit wahren – Elektromobi- der FDP: Pandemieplan für das Gastge- lität nicht mit Euro 7 durch die werbe statt pauschaler Schließungen Hintertür erzwingen Drucksachen 19/23932, 19/24617 ...... 24634 D Drucksache 19/24640 ...... 24633 C f) Beratung der Beschlussempfehlung des c) Antrag der Abgeordneten Manuel Ausschusses für Recht und Verbraucher- Höferlin, , Grigorios schutz: Übersicht 9 – über die dem Deut- Aggelidis, weiterer Abgeordneter und der schen Bundestag zugeleiteten Streitsa- Fraktion der FDP: Verfassungskonforme chen vor dem Bundesverfassungsgericht Registermodernisierung – Ohne steuer- Drucksache 19/24744 ...... 24635 A liche Identifikationsnummer g)–u) Beratung der Beschlussempfehlungen Drucksache 19/24641 ...... 24633 D des Petitionsausschusses: Sammelüber- d) Antrag der Abgeordneten Niema sichten 674, 686, 687, 688, 689, 690, Movassat, Friedrich Straetmanns, 691, 692, 693, 694, 695, 696, 697, 698 Dr. André Hahn, weiterer Abgeordneter und 699 zu Petitionen und der Fraktion DIE LINKE: Juristische Drucksachen 19/24014, 19/24456, Ausbildung reformieren, Transparenz 19/24457, 19/24458, 19/24459, 19/24460, und Qualität erhöhen, Chancengleich- 19/24461, 19/24462, 19/24463, 19/24464, heit gewährleisten 19/24465, 19/24466, 19/24467, 19/24468, Drucksache 19/24643 ...... 24633 D 19/24469 ...... 24635 A e) Antrag der Abgeordneten Corinna Rüffer, Martina Stamm-Fibich (SPD) ...... 24635 A , Markus Kurth, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜND- Tagesordnungspunkt 11: NIS 90/DIE GRÜNEN: Selbstbestim- mung und Teilhabe ermöglichen – a) – Zweite und dritte Beratung des von der Barrierefreiheit umfassend umsetzen Bundesregierung eingebrachten Ent- Drucksache 19/24633 ...... 24634 A wurfs eines Gesetzes zur Verbesserung IV Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

der Gesundheitsversorgung und Pfle- ter und der Fraktion der AfD: Einführen, Auf- ge (Gesundheitsversorgungs- und bau und Betrieb eines nationalen Mortali- Pflegeverbesserungsgesetz – GPVG) tätsregisters für Forschungszwecke Drucksachen 19/23483, 19/24231, Drucksachen 19/19160, 19/24621 ...... 24638 A 19/24535 Nr. 9, 19/24727 ...... 24637 B , Bundesminister BMG ...... 24638 A – Bericht des Haushaltsausschusses (AfD) ...... 24639 B gemäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 19/24736 ...... 24637 C Sabine Dittmar (SPD) ...... 24640 A Dr. (FDP) ...... 24641 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit (DIE LINKE) ...... 24641 C – zu dem Antrag der Abgeordneten Detlev Dr. Kirsten Kappert-Gonther (BÜNDNIS 90/ Spangenberg, Dr. , Uwe DIE GRÜNEN) ...... 24642 B Witt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD: Testzentren und (CDU/CSU) ...... 24642 D Kostenübernahme des Bundes bei (SPD) ...... 24643 D Corona-Testungen von Reiserückkeh- rern Tagesordnungspunkt 14: – zu dem Antrag der Abgeordneten , , Mariana Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Iris Harder-Kühnel, weiterer Abgeord- schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit neter und der Fraktion der AfD: Elekt- und Entwicklung zu dem Antrag der Abgeord- ronische Dokumentationspflicht nach neten , Alexander Graf der Richtlinie für organisierte Krebs- Lambsdorff, Johannes Vogel (Olpe), weiterer früherkennungsprogramme ausset- Abgeordneter und der Fraktion der FDP: zen Deutsche EU-Ratspräsidentschaft nutzen, Ankündigungen umsetzen – Errichtung – zu dem Antrag der Abgeordneten einer Europäischen Bank für nachhaltige Dr. , , Entwicklung und internationalen Klima- Matthias W. Birkwald, weiterer Abge- schutz ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Drucksachen 19/24327, 19/24733 ...... 24645 C Kapitaleinkünfte bei der Ermittlung der Krankenversicherungsbeiträge (CDU/CSU) ...... 24645 D berücksichtigen (AfD) ...... 24647 A – zu dem Antrag der Abgeordneten Dagmar Ziegler (SPD) ...... 24647 D Dr. Kirsten Kappert-Gonther, Maria Olaf in der Beek (FDP) ...... 24648 D Klein-Schmeink, Kordula Schulz- Asche, weiterer Abgeordneter und der Helin (DIE LINKE) ...... 24649 C Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 24650 A Für einen Kulturwandel in der Dr. Lukas Köhler (FDP) ...... 24650 C Geburtshilfe – Frauen und Kinder in den Mittelpunkt Dr. (CDU/CSU) ...... 24651 B Drucksachen 19/23712, 19/23715, 19/23699, 19/19165, 19/24727 ...... 24637 D Namentliche Abstimmung ...... 24652 A c) Antrag der Abgeordneten Pia Ergebnis ...... 24661 C Zimmermann, Susanne Ferschl, Doris Achelwilm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Corona-Strate- Tagesordnungspunkt 13: gie für besonders gefährdete Menschen a) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und zum Nutzen der ganzen Gesellschaft SPD: Unterstützung der Entwicklung Drucksache 19/24453 ...... 24637 D einer langfristigen Friedenslösung in Bergkarabach in Verbindung mit Drucksache 19/24646 ...... 24652 C b) Antrag der Abgeordneten Armin-Paulus Hampel, Petr Bystron, Dr. Anton Friesen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Zusatzpunkt 10: der AfD: Keine deutsche Unterstützung Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- für neo-osmanische Großmachtträume – schusses für Gesundheit zu dem Antrag der Beschwichtigungspolitik gegenüber Abgeordneten Joana Cotar, Uwe Schulz, Erdogan beenden Dr. Michael Espendiller, weiterer Abgeordne- Drucksache 19/24651 ...... 24652 C Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 V

Dr. Barbara Hendricks (SPD) ...... 24652 D (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . 24669 B Armin-Paulus Hampel (AfD) ...... 24653 B Dr. Klaus-Peter Schulze (CDU/CSU) ...... 24670 A Nikolas Löbel (CDU/CSU) ...... 24654 C Jan Ralf Nolte (AfD) ...... 24671 A (FDP) ...... 24655 C Carsten Träger (SPD) ...... 24672 A Dr. (DIE LINKE) ...... 24656 A (FDP) ...... 24672 D (BÜNDNIS 90/ Dr. (DIE LINKE) ...... 24673 C DIE GRÜNEN) ...... 24656 D (CDU/CSU) ...... 24674 B (SPD) ...... 24657 C (SPD) ...... 24675 A Markus Grübel (CDU/CSU) ...... 24658 B (CDU/CSU) ...... 24659 A Tagesordnungspunkt 16: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Tagesordnungspunkt 15: desregierung eingebrachten Entwurfs eines – Zweite und dritte Beratung des von der Zehnten Gesetzes zur Änderung des Wein- Bundesregierung eingebrachten Entwurfs gesetzes eines Gesetzes zu dem Übereinkommen Drucksachen 19/23749, 19/24512 ...... 24675 D vom 19. Februar 2013 über ein Einheitli- Julia Klöckner, Bundesministerin BMEL . . . . . 24676 A ches Patentgericht Dr. Christian Wirth (AfD) ...... 24680 A Drucksachen 19/22847, 19/24742 ...... 24659 D – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß Isabel Mackensen (SPD) ...... 24680 D § 96 der Geschäftsordnung (FDP) ...... 24682 A Drucksache 19/24743 ...... 24659 D (DIE LINKE) ...... 24682 D Dr. (SPD) ...... 24660 A (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 24683 C Roman Johannes Reusch (AfD) ...... 24664 A (CDU/CSU) ...... 24684 B (CDU/CSU) ...... 24664 C Dr. Christoph Hoffmann (FDP) ...... 24684 C Roman Müller-Böhm (FDP) ...... 24665 D Friedrich Straetmanns (DIE LINKE) ...... 24666 B Tagesordnungspunkt 19: Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 24667 A Antrag der Abgeordneten Zaklin Nastic, Alexander Hoffmann (CDU/CSU) ...... 24667 C , Heike Hänsel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Namentliche Abstimmung ...... 24668 C Schufa und anderen privaten Auskunfteien den Riegel vorschieben Ergebnis ...... 24677 C Drucksache 19/24451 ...... 24685 D Zaklin Nastic (DIE LINKE) ...... 24686 A Tagesordnungspunkt 17: (CDU/CSU) ...... 24686 D a) Antrag der Abgeordneten Steffi Lemke, (AfD) ...... 24688 A Renate Künast, Uwe Kekeritz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD) ...... 24688 D NIS 90/DIE GRÜNEN: Naturzerstörung, Stephan Thomae (FDP) ...... 24689 D Wildtierhandel und Pelztierfarmen Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 24690 C stoppen – Risiko für zukünftige Pande- mien senken (CDU/CSU) ...... 24691 B Drucksache 19/24435 ...... 24668 D Zaklin Nastic (DIE LINKE) ...... 24692 A b) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Schutz von exotischen Tieren bei Handel und Haltung verbessern – Ursa- Tagesordnungspunkt 18: chen für Pandemien bekämpfen Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Drucksache 19/24645 ...... 24669 A desregierung eingebrachten Entwurfs eines c) Antrag der Abgeordneten Judith Skudelny, Ersten Gesetzes zur Änderung des Verpa- Frank Sitta, Grigorios Aggelidis, weiterer ckungsgesetzes Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Drucksachen 19/16503, 19/24732 ...... 24692 D Verbreitung von Zoonosen im Handel Svenja Schulze, Bundesministerin BMU . . . . . 24693 A mit Wildtieren verhindern – Bessere Regeln statt Verbote (AfD) ...... 24693 C Drucksache 19/24593 ...... 24669 A Björn Simon (CDU/CSU) ...... 24694 C VI Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Judith Skudelny (FDP) ...... 24695 D Zusatzpunkt 11: (DIE LINKE) ...... 24696 C Antrag der Abgeordneten Katrin Helling- Dr. Bettina Hoffmann (BÜNDNIS 90/ Plahr, Stephan Thomae, Grigorios Aggelidis, DIE GRÜNEN) ...... 24697 B weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Selbstbestimmte Vorsorge in Gesund- (SPD) ...... 24697 D heitsangelegenheiten stärken Dr. (CDU/CSU) ...... 24698 C Drucksache 19/24638 ...... 24706 C Rita Hagl-Kehl, Parl. Staatssekretärin BMJV . 24706 D Thomas Seitz (AfD) ...... 24707 C Tagesordnungspunkt 21: Paul Lehrieder (CDU/CSU) ...... 24708 C a) Antrag der Abgeordneten Dr. Frithjof Katrin Helling-Plahr (FDP) ...... 24709 C Schmidt, , Uwe Kekeritz, weiterer Abgeordneter und der Sören Pellmann (DIE LINKE) ...... 24710 B Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/ Neuausrichtung der europäischen und DIE GRÜNEN) ...... 24711 A deutschen Sahelpolitik – Zivile Maßnah- men und die Unterstützung demokrati- Mechthild Rawert (SPD) ...... 24711 D scher Kräfte ins Zentrum stellen Axel Müller (CDU/CSU) ...... 24712 C Drucksache 19/23986 ...... 24700 A b) Antrag der Abgeordneten Dr. Lothar Nächste Sitzung ...... 24713 D Maier, Armin-Paulus Hampel, Petr Bystron, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD: Neuordnung der deut- Anlage 1 schen Sahelpolitik anhand realpoliti- scher Richtlinien Entschuldigte Abgeordnete ...... 24715 A Drucksache 19/24653 ...... 24700 A c) Antrag der Abgeordneten Dr. Christoph Anlage 2 Hoffmann, Alexander Graf Lambsdorff, Grigorios Aggelidis, weiterer Abgeordne- Ergebnisse und Namensverzeichnis der Mit- ter und der Fraktion der FDP: Mit konse- glieder des Deutschen Bundestages, die an quenter Entwicklungspolitik Demokra- der Wahl einer Stellvertreterin und eines Stell- tie und Rechtsstaatlichkeit in Mali vertreters des Präsidenten des Deutschen Bun- schaffen destages teilgenommen haben ...... Drucksache 19/24623 ...... 24700 B (Tagesordnungspunkte 7 und 8) ...... 24715 B Dr. (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 24700 B Anlage 3 (CDU/CSU) ...... 24701 A Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. (AfD) ...... 24702 A Kerstin Kassner (DIE LINKE) zu der Abstim- Dr. (SPD) ...... 24702 D mung über die Beschlussempfehlung des Peti- tionsausschusses – Sammelübersicht 697 zu Dr. Christoph Hoffmann (FDP) ...... 24703 D Petitionen, Beschlussempfehlung 3, lfd. (DIE LINKE) ...... 24704 C Nr. 17 (Asylrecht) (Tagesordnungspunkt 32 s) ...... 24719 A Matern von Marschall (CDU/CSU) ...... 24705 B Dr. Wolfgang Stefinger (CDU/CSU) ...... 24706 A Anlage 4 Erklärungen nach § 31 GO zu der Abstim- Tagesordnungspunkt 22: mung über den von der Bundesregierung ein- Erste Beratung des von der Bundesregierung gebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Ver- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur besserung der Gesundheitsversorgung und Reform des Vormundschafts- und Pflege (Gesundheitsversorgungs- und Pflege- Betreuungsrechts verbesserungsgesetz – GPVG) Drucksache 19/24445 ...... 24706 C (Tagesordnungspunkt 11 a) ...... 24719 C (CDU/CSU) ...... 24719 C in Verbindung mit (Kleinsaara) (CDU/CSU) . . . . . 24719 D Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24565

(A) (C)

195. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Ich habe dann in meiner Regierungserklärung am Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Bitte 29. Oktober dieses Jahres erläutert, dass und warum die nehmen Sie Platz. Die Sitzung ist eröffnet. Maßnahmen, die wir ergreifen mussten, geeignet, erfor- derlich und verhältnismäßig sind und dass und warum es Vor Eintritt in die Tagesordnung gratuliere ich nach- insbesondere kein anderes, milderes Mittel als konsequ- träglich der Kollegin Veronika Bellmann zum ente Kontaktbeschränkungen gibt, um das Infektionsge- 60. Geburtstag, dem Kollegen Alois Karl zum schehen zu stoppen und umzukehren. 70. Geburtstag und dem Kollegen Dr. Hermann Otto Solms zum 80. Geburtstag. Alle guten Wünsche im Heute, vier Wochen später, können wir feststellen: Namen des ganzen Hauses! Diese Maßnahmen haben dazu geführt, dass die Kontakte (Beifall) um circa 40 Prozent zurückgegangen sind. Das dramati- sche exponentielle Wachstum der Zahl der Neuinfektio- (B) Interfraktionell wurde vereinbart, dass der Tagesord- nen konnte gestoppt werden. Es ist nicht auszudenken, (D) nungspunkt 32 d und der Zusatzpunkt 12 abgesetzt wer- wo wir heute stünden, wenn wir vor vier Wochen, als es den sollen. – Sie sind damit offensichtlich einverstanden. buchstäblich fünf vor zwölf war, nicht zu dieser nationa- Dann ist das so beschlossen. len Kraftanstrengung bereit Dann rufe ich den Zusatzpunkt 8 auf: ( [AfD]: Quatsch!) Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin und in der Lage gewesen wären. zur Bewältigung der Covid-19-Pandemie (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Für die Aussprache im Anschluss an die Regierungs- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE erklärung wurde eine Dauer von 90 Minuten beschlossen. GRÜNEN) Damit hat das Wort zur Abgabe der Regierungserklä- Zu dieser nationalen Kraftanstrengung gehörte auch – rung die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel. dafür möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich noch ein- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) mal danken – die Abstimmung zum Dritten Bevölke- rungsschutzgesetz hier im Deutschen Bundestag in der vergangenen Woche. Unsere parlamentarische Demokra- Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin: tie, sie ist leistungsfähig, sie kann Entscheidungen sehr Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mei- schnell treffen, und sie ist für die Bürgerinnen und Bürger ne Damen und Herren! Vor vier Wochen, am 28. Oktober, ein Anker des Vertrauens, gerade in Zeiten wie diesen. haben die Regierungschefinnen und -chefs des Bundes und der Länder angesichts eines damals dramatischen Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Schlimmste, die exponentiellen Anstiegs der Zahl der Neuinfektionen Überforderung unseres Gesundheitssystem mit allen mit dem Coronavirus weitreichende Kontaktbeschrän- medizinischen und in der Folge natürlich auch mit allen kungen beschlossen. Diese sind seit dem 2. November wirtschaftlichen, sozialen, gesellschaftlichen und ethi- in Kraft. Sie waren unausweichlich, weil die Gesund- schen Folgen, konnte also bislang verhindert werden. heitsämter in weiten Teilen unseres Landes trotz perso- Das ist ein erster Erfolg. Aber es ist noch kein nachhalti- neller Verstärkung und Unterstützung durch Bund und ger Erfolg; denn die bisherigen Kontaktbeschränkungen Länder nicht mehr ausreichend in der Lage waren, die haben zwar zu einer Seitwärtsbewegung der Infektions- Kontakte von Infizierten nachzuverfolgen und die Aus- zahlen geführt, noch nicht aber zu der so dringend not- breitung des Virus einzudämmen. Genau daraus resultier- wendigen Trendumkehr nach unten. Anders gesagt: Die te auch das exponentielle Wachstum. Fallzahlen stagnieren auf einem hohen, einem viel zu 24566 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) hohen Niveau, und noch immer steigen die Infektions- 19-Erkrankung oder wegen anderer Erkrankungen (C) zahlen in einigen Regionen unseres Landes an, anstatt behandelt werden müssen, die medizinische Versorgung zu sinken. bekommen können, die sie brauchen. Wir haben ein star- Außerdem wächst die Zahl der Menschen, die wegen kes Gesundheitssystem, das der Pandemie bis jetzt stand- einer Covid-19-Erkrankung intensivmedizinisch behan- gehalten hat, und wir müssen dafür sorgen, dass das auch delt werden müssen. Erst vorgestern mussten wir einen so bleibt. traurigen Rekord bei der Zahl der an oder mit Covid-19 (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem verstorbenen Menschen verzeichnen. Das muss uns mit BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sorge erfüllen. Denn unverändert gilt: Wenn wir mit kon- Vor diesem Hintergrund haben Bund und Länder ges- sequenten Maßnahmen zur Eindämmung des Infektions- tern beschlossen, dass – erstens – Lockerungen der seit geschehens warten würden, bis die Intensivstationen dem 2. November geltenden Kontaktbeschränkungen unserer Krankenhäuser voll belegt sind – belastet sind noch nicht möglich sind. Sie wären nicht verantwortbar. sie schon jetzt –, dann wäre es zu spät. Diese Prämisse Zweitens. Die seit dem 2. November geltenden Kontakt- galt bei den Beratungen von Bund und Ländern am beschränkungen müssen über den 30. November hinaus 28. Oktober, und diese Prämisse galt auch bei den Bera- fortgesetzt und an einigen Stellen durch zusätzliche Maß- tungen und Entscheidungen gestern, und zwar medizi- nahmen präzisiert und ergänzt, auch verstärkt werden. – nisch, wirtschaftlich, sozial und ethisch. Auf dieser Grundlage haben wir gestern unsere Beschlüs- Ein Blick in manche unserer Nachbarländer müsste se gefasst. eigentlich auch genügen, um davon überzeugt zu sein, Das setzt an, dass wir die Bürgerinnen und Bürger dass wir uns eine Überforderung unseres Gesundheits- noch einmal aufrufen, jeden nicht notwendigen Kontakt systems und unserer Krankenhäuser ersparen sollten. zu vermeiden. Dazu gehören auch private Reisen, touris- Was im Übrigen ein sogenannter Lockdown tatsächlich tische Reisen, die nicht stattfinden sollten. Es naht die ist und was ihn tatsächlich umfasst, das sehen wir nicht Skisaison: Wir werden uns in Europa um eine Abstim- bei uns; da können wir uns glücklich schätzen. Aller- mung dahin gehend bemühen, alle Skigebiete schließen dings – das will ich auch sagen – sehen wir inzwischen zu können. bei einigen unserer Nachbarländer auch deutlich fallende Zahlen in einem sehr hohen Tempo. (Beatrix von Storch [AfD]: Der pure Wahnsinn Ich weiß, wenn ich davon rede, dass wir nicht den ist das!) härtesten Lockdown haben, welche Härten schon unsere Es sieht leider nicht so aus, wenn man die österreichi- Maßnahmen in Deutschland für viele Menschen bedeu- schen Verlautbarungen hört, dass uns das so einfach (B) ten, welche Existenzängste sie hervorrufen. Viele Men- gelingen könnte. Aber wir werden es noch einmal ver- (D) schen, zum Beispiel aus der Kultur, der Gastronomie und suchen. dem Hotelbereich, können ihren Beruf kaum oder gar Die am 28. Oktober 2020 beschlossenen Maßnahmen nicht ausüben. Sie machen sich große Sorgen, wie die werden also verlängert. Für den Groß- und Einzelhandel, kommenden Monate aussehen. Deshalb ist es auch so der geöffnet bleibt, gilt, dass für Verkaufsflächen ab wichtig, dass der Bund mit verschiedenen Überbrü- 800 Quadratmetern in Zukunft eine Zugangsbeschrän- ckungshilfen viele Milliarden in die Hand nimmt, um kung auf einen Kunden pro 20 Quadratmeter notwendig die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie abzumildern. ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – (Dr. [FDP]: Das ist schon Dr. Marco Buschmann [FDP]: Klüger wäre einmal vor den Gerichten gescheitert!) es, das in die Hände der Betriebe zu legen!) Das gilt insbesondere für Einkaufszentren, wo die Es kann gar nicht oft genug gesagt werden: In der Gesamtverkaufsfläche angesetzt wird. Pandemiebekämpfung geht es nicht um Gesundheit oder Wirtschaft, Gesundheit oder Bildung, Gesundheit Hier wird regelmäßig gesagt: Ja, es gibt doch eine oder Kultur, Gesundheit oder Soziales. In solchen Maskenpflicht, und wenn diese Maskenpflicht da ist, Gegensätzen zu denken, ist ein häufiges Missverständnis. dann ist das Einkaufen doch ungefährlich und ohne jedes Immer geht es um beides: um Gesundheit und Wirtschaft, Risiko. – Da möchte ich noch einmal eine Bemerkung Gesundheit und Bildung, Gesundheit und Kultur, machen. Das Tragen von Masken – ich bin allen Bürger- Gesundheit und Soziales. Denn was in der Pandemiebe- innen und Bürgern dankbar, die sich daran sehr gut hal- kämpfung dem Ziel dient, das Gesundheitssystem vor ten – senkt das Risiko einer Infektion; es ist ein Schutz. Überlastung zu schützen, das dient auch allem anderen Aber solange es keine medizinische Maske von der Qua- und damit ganz besonders dem gesellschaftlichen Zusam- lität FFP2 oder 3 ist, ist es keine Sicherheit, dass es nicht menhalt. doch zu Ansteckungen kommen kann. Das genau ist der Grund, warum wir auch große Menschenmengen in Ein- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) kaufszentren vermeiden müssen. Ich finde, wir haben Unser Ziel ist und bleibt es also, die Infektionszahlen hier alle eine wirkliche Aufklärungspflicht. Wir dürfen so weit zu senken, dass die Gesundheitsämter wieder in die Menschen auch nicht in falscher Sicherheit wiegen. der Lage sind, Infektionsketten zu erkennen und zu Mund-Nasen-Schutz plus Abstand, das ist das Allerbeste. durchbrechen, das heißt eine Inzidenz kleiner als 50 Infi- Und ansonsten ist es ein Schutz für mich und für andere, zierte pro 100 000 Einwohner in 7 Tagen. Unser Ziel ist wenn alle es tun. Aber es ist keine Sicherheit; das muss und bleibt es, dass alle Menschen, die wegen einer Covid- man auch immer wieder aussprechen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24567

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem anderen und mit bis zu fünf Personen stattfinden dürfen. (C) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- Nicht mitgezählt werden dabei Kinder unter 14 Jahren, ordneten der LINKEN) weil sie für das Infektionsgeschehen nicht so relevant Wir haben gestern auch eine Prognose über das ange- sind. stellt, was zu Weihnachten und zum Neujahrstag sein (Beatrix von Storch [AfD]: Vielen Dank! Das wird. Angesichts des hohen Infektionsgeschehens gehen ist so lieb von Ihnen! Das ist so christlich!) wir davon aus, dass die Beschränkungen, die jetzt vor Das ist die Erkenntnis. Fünf Personen also aus zwei Weihnachten gelten, bis Anfang Januar weiter gelten Haushalten mit Ausnahme von Kindern unter 14 Jahren! müssen, jedenfalls für die allermeisten Teile der Bundes- republik Deutschland. Sollte sich die Infektionszahl in Es wird der Mund-und-Nasen-Schutz in allen Innen- den nächsten Wochen dramatisch verringern – wir wer- städten und außen noch einmal verstärkt. Die Pflicht dazu den das vor Weihnachten noch einmal überprüfen –, dann wird von den Ländern noch einmal verordnet. In Arbeits- können wir andere Schlussfolgerungen ziehen. Aber die und Betriebsstätten ist ein Mund-und-Nasen-Schutz Menschen haben ein Recht darauf, eine Erwartung zu sowieso verpflichtend, sofern der Abstand von 1,5 Meter haben. Da müssen wir leider sagen, dass wir für Weih- nicht eingehalten werden kann. nachten und Neujahr keine Entlastung versprechen kön- (Beatrix von Storch [AfD]: Weil er nichts nen. bringt!) (Beatrix von Storch [AfD]: Mann!) Hochschulen und Universitäten sollen zu digitaler Lehre Wir haben dann gestern noch einmal darüber gespro- übergehen, mit wenigen Ausnahmen. chen, dass wir in Deutschland ein sehr unterschiedliches Für Weihnachten und den Jahreswechsel, vom Infektionsgeschehen haben. Wir haben jetzt eigentlich 23. Dezember bis zum 1. Januar, haben wir Sonderreg- nur noch eine sehr kleine Zahl von Kreisen, in denen lungen vereinbart. Hier soll es möglich sein, dass Men- die Infektionsrate, die Inzidenz, unter 50 liegt. Wir haben schen aus dem engeren Familienkreis und engeren Freun- aber inzwischen 62 Kreise und den Stadtstaat Berlin, in deskreis sich bis zu zehn Personen treffen können, denen im Durchschnitt die Infektionsraten über 200 lie- maximal. gen. Deshalb ist neben der weiter geltenden Hotspot-Stra- tegie, die immer für alles über 50 gilt und weshalb wir (Martin Reichardt [AfD]: Das ist aber ausge- auch die umfassenden Maßnahmen gemacht haben, die sprochen großzügig!) im Augenblick gelten, noch einmal gesagt worden, dass Ich will ausdrücklich sagen: Es muss jeder mit sich abma- zusätzlich zu den umfassenden allgemeinen Maßnahmen chen, ob dieses Maximum immer ausgeschöpft werden (B) noch andere, weiter gehende Maßnahmen eingebracht muss oder ob man auch darauf verzichtet. (D) werden können. Sie wissen von Kreisen – zum Beispiel von Hildburghausen in Thüringen –, wo die Inzidenz sehr (Martin Reichardt [AfD]: Ich mache sowieso hoch ist und wo man dann bis hin zu Ausgangsbeschrän- alles mit mir selber aus!) kungen, Ladenschließungen, Schul- und Kitaschließun- Dazugehörige Kinder werden wieder nicht mitgezählt. gen gegangen ist. (Beatrix von Storch [AfD]: Oh danke!) Ich kann nur sagen: Wir können nicht vom Durch- schnittswert in Deutschland reden. Wenn Schleswig-Hol- Wir werden die Ferien in allen Bundesländern am stein und Mecklenburg-Vorpommern gut dastehen, aber 19. Dezember beginnen lassen. Es wird darum gebeten, in Thüringen und Sachsen die Infektionszahlen weiter dass bei denjenigen, die Verwandte und Familie besu- steigen, dann hilft uns der Durchschnitt nicht, sondern chen, insbesondere ältere Mitglieder der Familie, also dann muss man lokal angepasst reagieren. Großeltern zum Beispiel, dann eine Woche des Schutzes vorgeschaltet wird, in der alles darangesetzt wird, die (Dr. Marco Buschmann [FDP]: Regionalisie- Kontakte wirklich zu minimieren, damit Weihnachten rung!) ein sicheres Weihnachten ist; denn wir wollen nicht, Deshalb glaube ich oder hoffe ich, dass die Länder, deren dass über die Feiertage die Infektionszahlen hochschnel- Wunsch es war, bei einer Inzidenz von über 200 noch len, meine Damen und Herren. Ich glaube, das ist unser weiter gehende Maßnahmen zu ermöglichen, dann wirk- gemeinsamer Wunsch. lich auch Gebrauch davon machen, damit wir zu einer (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem insgesamt gesenkten Inzidenz kommen können. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- (Beifall bei der CDU/CSU) ordneten der LINKEN) Wir haben gestern noch einmal herausgearbeitet, dass Wir, Bund und Länder, werden mit den Religionsge- es das A und O des Umgangs mit dem Virus und des meinschaften sprechen, um möglichst Vereinbarungen Verhinderns einer Infektion ist, Kontakte zu reduzieren für Gottesdienste und andere religiöse Zusammenkünfte und, wenn sie stattfinden, sie unter den allgemeinen zu treffen. Regeln stattfinden zu lassen. Deshalb kommt natürlich den Zusammenkünften im privaten Raum eine ganz (Martin Reichardt [AfD]: Ja, mal sehen, wann besondere Bedeutung zu. Mit Ausnahme von Weihnach- die von Ihnen verhätschelte Religion wieder ten und der Zeit des Jahreswechsels verschärfen wir des- Feiern macht!) halb noch einmal die Ansagen und sagen, dass private Großveranstaltungscharakter dürfen solche Veranstaltun- Zusammenkünfte nur von einem Haushalt mit einem gen nicht haben. 24568 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) Wir werden im öffentlichen Bereich in Deutschland Ich halte das für absolut notwendig. Ich weiß, dass der (C) keine Feuerwerke haben, Bund für Schulen keine direkte Verantwortung hat, aber (Martin Reichardt [AfD]: Was haben denn wir haben eine Verantwortung für das gesamte Infek- eigentlich Silvesterfeuerwerke mit dem Virus tionsgeschehen. Wir können nicht so tun, als ob ältere zu tun?) Schüler gar keinen Beitrag dazu leisten. Deshalb: Schule und Kita offen, aber da, wo wirkliche Hotspots der Hot- und auch auf bestimmten Plätzen und Straßen wird das spots sind – man muss ja sagen, bei über 200 pro örtlich dann verboten sein. Es wird insgesamt empfohlen, 100 000 Einwohner sind es extreme Infektionslagen; auf Silvesterfeuerwerk zu verzichten. Wer das in kleinem wir wollen auf 50; ich will daran erinnern –, muss gehan- Umfang im privaten Bereich machen will, kann das tun; delt werden. das wollen wir nicht völlig verbieten. Aber auch hier appellieren wir an die Verantwortlichkeit der Bürgerin- Wir haben darüber gesprochen, dass Schülerverkehre nen und Bürger. entzerrt werden sollen, dass die Anfangszeiten der Schulen gestaffelt werden sollen, damit es eben nicht zu Wir bitten die Arbeitgeber und Betriebsstätten, zu prü- so vielen Kontakten kommt. Wir haben eine neue Kon- fen, ob man zwischen Weihnachten und Neujahr groß- trollstrategie für Schulen entwickelt. Ich weiß, dass auch zügige Homeoffice-Regelungen oder Betriebsferien daran mitgearbeitet hat. – Ich weiß nicht, anordnen kann, um auch hier sicherzustellen, dass wir ob er da ist, aber Sie werden es ihm weitersagen. in diesem Bereich möglichst wenig Kontakte haben, weil wir für diese Zeit ja im privaten Bereich etwas ( [DIE LINKE]: Der gibt ein Inter- mehr Kontakte wollen. view! Talkshow!) Wir wollen, dass in Einrichtungen wie Seniorenheimen Auf jeden Fall haben viele Menschen daran gearbeitet: und Behinderteneinrichtungen es kein Weihnachten der Wie können wir in Schulen gut reagieren? Es soll eine Einsamkeit wird, sogenannte Clusterisolation geben. Das heißt: Das Gesundheitsamt stellt eine Gruppe fest, wenn ein Schüler (Jürgen Braun [AfD]: Dafür sorgen Sie doch! – infiziert ist. Diese Gruppe geht geschlossen, ohne dass Martin Reichardt [AfD]: Ihnen sind doch die man jeden einzelnen Kontakt nachverfolgt, fünf Tage Menschen egal!) lang in eine häusliche Clusterquarantäne, um dann durch sondern dass Menschen auch dort die Möglichkeit haben, Antigen-Schnelltests, die uns sowieso mehr Möglichkei- Besuch zu empfangen. Es ist ganz wichtig, dass wir nicht ten bieten, nach fünf Tagen freigetestet zu werden. Das ist nur an unsere eigene Familie denken, sondern auch an ein überschaubarer Zeitraum. Die Gesundheitsämter wer- die, die es in dieser Zeit wirklich sehr, sehr schwer haben. den dadurch entlastet. Ich glaube, das ist eine gute Sache. (B) Das sollten wir alle nach außen ganz deutlich sagen. Wir werden insgesamt, weil wir jetzt die Antigen- (D) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem Schnelltests in viel größerer Zahl zur Verfügung haben, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- auch die Quarantäneanordnung insgesamt verändern, auf ordneten der LINKEN) zehn Tage verkürzen, mit Freitestung mit einem Antigen- Schnelltest nach diesen zehn Tagen. Das wird die Akzep- In diesem Zusammenhang lassen Sie mich noch ein tanz für Zeiten der häuslichen Quarantäne auch verbes- Wort zum Schutz vulnerabler Gruppen sagen. Wir haben sern. Das soll ab 1. Dezember gelten. uns überlegt, dass wir eine bestimmte Zahl von FFP2- Masken an die vulnerablen Gruppen für die Winterzeit Meine Damen und Herren, wir haben natürlich auch geben. Der Bundesgesundheitsminister hat jetzt mit dem über die wirtschaftlichen Hilfen gesprochen. Hier möchte Bundesausschuss, der dafür zuständig ist, einmal defi- ich mich nun, wie gesagt, bei diesem Hohen Hause in niert, wer dafür infrage kommt. Das sind 27 Millionen besonderer Weise bedanken. Die Bundesregierung hat Menschen. Deshalb sollte niemand so tun, als könnte man Novemberhilfen vorgeschlagen. Ich weiß, welche Belas- vulnerable Gruppen in einem Land schützen – es sind tung das jetzt auch für die Bundestagsfraktionen in den 27 Millionen Menschen! –, indem man sie einfach aus Haushaltsberatungen ist. Die werden ergänzt werden dem öffentlichen Bereich herausnimmt. Das wird bei uns müssen durch Dezemberhilfen. Wir machen das; aber nicht gehen. Ich halte das auch nicht für ethisch vertret- ich sage natürlich: Auch hier gilt der Grundsatz der Ver- bar, um das ganz klar gesagt zu haben. hältnismäßigkeit. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der LIN- (Lachen des Abg. Jürgen Braun [AfD]) KEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das heißt, bestimmte Kontaktbeschränkungen, bestimm- Einen langen Zeitraum in unseren Beratungen hat ges- te Maßnahmen müssen sein, damit wir dann auch die tern noch einmal das Thema „Schule und Kitas“ einge- Kraft aufbringen für diejenigen, die die Last für uns tra- nommen. Wir wollen, dass Kitas und Schulen offen sind; gen. Es sind jetzt bestimmte Branchen, die die Last für dabei bleibt es auch. Wir haben die Pflicht zum Masken- die ganze Gesellschaft tragen. tragen verschärft. Darüber haben wir Einvernehmen (Jürgen Braun [AfD]: Genau! Sie aber nicht!) erzielt. Wir haben gesagt – wir haben die Empfehlungen des RKI, wir haben die Empfehlungen der Leopoldina Damit Schulen offen sind, damit Kitas offen sind, damit gerade für die älteren Schüler –, dass zumindest in den wir wirtschaften können, damit Betriebe offen sind, tra- Bereichen, wo die Inzidenz über 200 Neuinfektionen pro gen die Gastronomie, die Hotellerie und die Kulturein- 100 000 Einwohner in 7 Tagen liegt, Formen wie Hybrid- richtungen eine große Last. Deshalb müssen wir ein unterricht und Wechselunterricht durchgeführt werden. gemeinsames Interesse vereinbaren, die Anzahl der Kon- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24569

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) takte wirklich so zu reduzieren, dass wir auch Wirkungen nicht glauben sollte, man könnte es irgendwie dazu zwin- (C) sehen; denn es ist ja klar, dass wir diese Art von Hilfen gen, sich anders zu verhalten, nur weil es in Deutschland nicht bis Ultimo fortführen können. Das ist ein riesiger ist oder weil es vor einer Schule ist oder weil es an irgend- Beitrag mit großer Verschuldung unserer Bundeshaushal- einem Platz ist. te 2020 und 2021. Also: Es macht uns Hoffnung, dass wir mehr wissen, (Nicole Höchst [AfD]: 1 Milliarde Euro gegen und es macht Hoffnung, dass die große Mehrheit der rechts!) Menschen in Deutschland sich an die Dinge hält, die Das ist geboten. Das ist notwendig. Aber es muss auch wir vereinbaren, und damit auch eine Eindämmung mög- hier immer darüber geredet werden, wie die Dinge alle lich macht. miteinander zusammenpassen, meine Damen und Her- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie ren. bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNIS- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) SES 90/DIE GRÜNEN) Wir haben natürlich auch über die Überbrückungshilfe III Ich sage ganz deutlich: Wir haben es in der Hand. Wir gesprochen, die neben den November- und Dezember- sind nicht machtlos. Wir haben ganz ohne Zweifel noch hilfen da ist. einmal schwierige Monate vor uns. Aber so wie wir Men- Wir haben Hoffnung, dass im Bereich der Impfstoffe schen schon so viele große Probleme in der Geschichte sehr schnell Zulassungen erteilt werden. Das wird das der Menschheit bewältigt haben, so kann auch jetzt in der Problem nicht sofort lösen; aber es ist ein Licht am Pandemie jeder und jede aktiv dazu beitragen, dass wir Ende des Tunnels. Wir werden die Wintermonate sicher- diese Zeit gut durchstehen. lich noch mit einer großen Zahl an Menschen, die nicht In meiner Regierungserklärung am 29. Oktober habe geimpft sind, so durchstehen müssen. Aber ich glaube, ich gesagt – ich möchte das wiederholen –: Der Winter dass wir da im nächsten Jahr doch einen deutlichen Fort- wird schwer, aber er wird enden. – Gerade jetzt, da wir so schritt erleben. Es kann sein, dass noch vor Weihnachten viel an Weihnachten und an den kommenden Jahreswech- Impfstoffe eintreffen. Wir haben verabredet, dass diese sel denken, wünsche ich mir und wünsche ich uns allen, Impfstoffe dann den Menschen angeboten werden, die im dass wir mehr denn je miteinander und füreinander ein- medizinischen, pflegerischen Bereich arbeiten, und sie stehen. Wenn wir das beherzigen, werden wir aus der als Erste Zugriff darauf haben. Ich glaube, das entspricht Krise kommen. auch dem Risiko, das diese Menschen eingehen werden. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem (B) (D) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem ordneten der LINKEN) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren, ich werbe noch einmal für die Corona-Warn-App. Wir haben einige Verbesserungen Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: durchgeführt. Ich weiß, dass dazu eine rege Diskussion Jetzt eröffne ich die Aussprache und erteile das Wort entstanden ist, die auch weitergeführt werden soll. Dazu der Fraktionsvorsitzenden der AfD, Frau Dr. Alice wird es ein Treffen der Ministerpräsidenten mit Fachleu- Weidel. ten geben, weil auch unter den Landesministerpräsiden- ten darüber sehr intensiv diskutiert wurde. Über 23 Mil- (Beifall bei der AfD – Britta Haßelmann lionen Menschen haben diese App heruntergeladen. Ich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch mal lade jeden ein, der uns zuhört und der sie noch nicht hat, wieder da!) doch diese App zu nutzen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Coronaviruspan- Dr. Alice Weidel (AfD): demie ist und bleibt die größte Herausforderung seit dem Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Zweiten Weltkrieg: für Deutschland, für die Europäische Herren! Die Kollateralschäden Ihrer Coronapolitik sind Union und für die ganze Welt. Aber es gibt eben auch jetzt schon größer als die Schäden, die das Virus selbst Anlass zur Hoffnung, und das verbindet sich mit den anrichtet. Den größten Schaden haben Sie unserer Wirt- Impfstoffen. Hoffnung macht auch, dass wir heute ein schaft, unserem Mittelstand und unserer Rechts- und Ver- so viel größeres Wissen über das Coronavirus und seine fassungsordnung durch das Dritte – sogenannte – Bevöl- Wirkung haben als zu Beginn der Pandemie. Dieses Wis- kerungsschutzgesetz zugefügt. In rekordverdächtiger sen ermöglicht uns manches. Dieses Wissen ernüchtert Eile haben Sie sich einen Blankoscheck für fundamentale uns aber auch sehr, weil wir wissen: Dieses Virus lässt und einschneidende Grundrechtseingriffe ausstellen las- sich nicht betrügen und nicht umgehen. Es ist so, wie es sen. ist, und hat seine Verhaltensweisen. (Christian Lindner [FDP]: Das haben wir letzte Ich finde es unglaublich beeindruckend, wie anhand Woche diskutiert!) der einfachen Zahl der Kontakte Simulationen in der Wissenschaft heute ausrechnen können, welche Infek- Dagegen haben die Menschen letzte Woche demonstriert, tionszahlen wir nach einer bestimmten Zeit haben, die Sie mit Wasserwerfern und Gewalt aufgerieben wenn wir uns wie verhalten. Deshalb weiß man, dass haben – ein Tiefpunkt für die demokratische Verfasstheit man keinen Bogen um dieses Virus machen kann und unseres Staates. 24570 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Dr. Alice Weidel (A) (Beifall bei der AfD – Ralph Brinkhaus [CDU/ Was ist das für ein Treuebruch gegenüber all den Gast- (C) CSU]: Der Rechtsbruch ist ja wohl von Ihnen ronomen, Einzelhändlern, Selbstständigen und kleinen hier gebracht worden!) Gewerbetreibenden, die bislang die Zähne zusammenge- bissen und durchgehalten haben? Viele haben in gutem Notstandsmaßnahmen müssen klaren, überprüfbaren Glauben nicht wenig investiert, um Hygienekonzepte und streng begrenzten Kriterien folgen und enger parla- umzusetzen, nur um sich wieder in einem Lockdown mentarischer Kontrolle unterliegen. Sie aber haben ein- wiederzufinden. Dieser Lockdown wird viele endgültig fach Ihre zweifelhaften Maßnahmen in ein Gesetz hinein- um ihre Existenz bringen und lässt den Einzelhandel in geschrieben, damit Sie möglichst, von Gerichten nicht verödeten Innenstädten am ausgestreckten Arm verhun- belästigt, weitermachen können wie bisher. Das Parla- gern. Die Regierung bestraft also genau diejenigen, die ment ist auch weiterhin Zaungast. alles richtig gemacht haben. Wieder hat also eine von der Verfassung nicht vorge- sehene Kungelrunde aus Kanzleramt und Ministerpräsi- (Beifall bei der AfD) denten im virtuellen Hinterzimmer getagt, Dabei geben nicht einmal die Zahlen des RKI einen Beleg (Beifall bei Abgeordneten der AfD) dafür her, dass das Schließen der Gastronomie nennens- werten Einfluss auf das Infektionsgeschehen hätte. und wieder hat diese Runde Beschlüsse ausgehandelt, die tief in das Leben und in die Rechte von Bürgern und Lockdowns ohne Ende stärken den Staatssektor und Unternehmen eingreifen. Was Sie den Bürgern zumuten, zerstören auf Dauer den Mittelstand und die Vielfalt ist inkonsistent, widersprüchlich, von zweifelhaftem Nut- selbstständiger Gewerbetreibender und Freiberufler, auf zen und durchtränkt vom undemokratischen Geist obrig- denen die Stärke unserer Marktwirtschaft beruht. Gerade keitsstaatlicher Bevormundung. deshalb kommt es auf Eigenverantwortung der Bürger an, wenn wir einen Weg finden wollen, mit dieser Situation (Beifall bei der AfD) umzugehen. Dauergängelung durch den Staat ist wirklich Es geht den Staat schlichtweg nichts an, wer in seinen keine Lösung. Unterschätzen Sie die Bürger nicht, und privaten Wohnräumen wann wen trifft und mit wem und überschätzen Sie sich selbst nicht! in welchem Rahmen jemand Weihnachten mit der Fami- (Beifall bei der AfD) lie, Angehörigen oder engen Freunden feiert. Das ist ungehörig, und das ist übergriffig. Der Staat muss sich auf seine Kernaufgaben konzen- trieren, die Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens (Beifall bei der AfD) aufrechterhalten und investieren, die Kapazitäten, wo (B) Begreifen Sie wirklich nicht, wie herablassend und erforderlich, ausbauen und die Funktionsfähigkeit sicher- (D) verletzend es auf erwachsene mündige Bürger wirkt, stellen. Darüber hinaus – darauf habe ich bereits im März wenn der Staat Gouvernante spielt und sich anmaßt, gnä- hingewiesen – muss er Vorkehrungen für den Schutz dig zuzuteilen, was an Festtagen noch erlaubt sein soll besonders gefährdeter Bevölkerungsgruppen und des und was verboten? Die staatliche Einmischung in Privat- medizinischen Personals treffen. Rechtzeitige Prävention angelegenheiten und Familienleben vergiftet das gesell- wäre der richtige Weg gewesen. schaftliche Klima und fördert Erscheinungen wie Spitz- (Beifall bei der AfD) eltum und Denunziation, Krisenbewältigung verlangt nüchterne, verlässliche (Beifall bei der AfD) Informationspolitik und muss auf klare, nachvollziehbare so wie Anfang der Woche im Söderland Bayern, als die Kriterien gegründet sein. Das bekommen Sie bis heute Polizei auf einen Hinweis hin ein Rentner- nicht hin. Vor allem aber brauchen wir einen offenen, kaffeekränzchen stürmte. Ganz ehrlich, unsere Polizeibe- ehrlichen und unaufgeregten Dialog über das, was zu amten haben wirklich Besseres zu tun. tun ist, (Beifall bei der AfD) (Lachen bei der CDU/CSU und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf vom BÜND- Keinem vernünftigen Menschen kann man das Chaos NIS 90/DIE GRÜNEN: Ja, genau!) erklären, in das Sie Schulen und Bildungseinrichtungen stürzen, obwohl die Infektionsgefahr, die von ihnen aus- und zwar bevor die Entscheidungen fallen und nicht geht, nur gering ist. Statt zu lernen, müssen Kinder sich nachher, so wie wir das heute hier tun. mit fragwürdigen Maskenpflichten herumschlagen und in ständig gelüfteten Klassenzimmern frieren. Hat irgend- (Beifall bei der AfD – [CDU/ jemand bei diesem planlosen Geschacher um Ferienver- CSU]: Da müssen Sie ja selber lachen! – Wei- längerungen an die Eltern gedacht, die oft gar keine tere Zurufe von der CDU/CSU und dem zusätzlichen Urlaubstage übrig haben, um sich um ihre BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Kinder zu kümmern? Wer soll verstehen, dass es in Ord- – Es ist mir schon klar, dass Sie das trifft. nung sein soll, in vollen Bussen und U-Bahnen zur Arbeit zu fahren, aber das Essen in Gaststätten mit weit aus- (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- einanderstehenden Tischen ein untragbares Risiko sein NEN]: Das trifft uns nicht!) soll? In diese Debatte müssen alle sachlichen und gesellschaft- (Beifall bei der AfD) lichen Positionen und Belange einfließen, Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24571

Dr. Alice Weidel (A) (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE der Tiefpunkt in der Geschichte der parlamentarischen (C) GRÜNEN]: Sie wissen doch überhaupt nicht, Demokratie war Ihr Verhalten. was das Wort „sachlich“ bedeutet!) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, und nicht nur diejenigen, die der Kanzlerin und einigen der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE Ministerpräsidenten genehm sind. Kehren wir also zu- GRÜNEN) rück zur demokratischen Normalität. Sie haben es erlaubt, dass es einen Angriff auf ein Ver- (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE fassungsorgan gegeben hat. GRÜNEN]: Sie wissen auch nicht, was demo- (Zuruf von der AfD: Lügner!) kratisch ist!) Ich kann nur noch mal sagen: Sie sind nur noch provoka- Vielen Dank. tiv und bösartig. Anders ist Ihre Politik nicht mehr zu (Beifall bei der AfD) erklären. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE Nächster Redner ist der Fraktionsvorsitzende der SPD, GRÜNEN – [AfD]: Haben Dr. Rolf Mützenich. Sie die Rede nicht gehört?) (Beifall bei der SPD) Dennoch, liebe Kolleginnen und Kollegen: Zuversicht ist angebracht. Frau Bundeskanzlerin hat dies gesagt. Ich will an erster Stelle an die vielen, an die Mehrzahl der Dr. Rolf Mützenich (SPD): Menschen erinnern, die bereit sind, vernünftige Regeln, Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und wenn sie dann erklärt werden, einzuhalten. Solidarität Kollegen! Die Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonfe- und Nachbarschaften existieren fort, und die Menschen renz sind angemessen, nachvollziehbar und lebensnah. werden auch in den nächsten Tagen und Wochen vor dem Meine Fraktion unterstützt die Ergebnisse. Weihnachtsfest zeigen, dass Solidarität in diesem Land (Beifall bei der SPD) möglich ist. Es war richtig, liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Die wichtigste Nachricht, die wir in den letzten Tagen Woche noch abzuwarten. Wir brauchten Klarheit über die erhalten haben, ist doch, dass es offensichtlich Impfstoffe Folgen der Beschlüsse, die wir Anfang dieses Monats gibt, die schützen, und dass sie bald zur Verfügung gefasst hatten. Wir mussten wissen, wie sich die Zahlen gestellt werden können. Deutsche Wissenschaftler, deut- entwickeln, und wir müssen leider feststellen: Die Zahlen sche Kenntnisse, deutsches Wissen waren mit dafür ver- (B) (D) bleiben zu hoch. Die Intensivkapazitäten und das antwortlich, dass wir diese Hoffnung bekommen haben. Gesundheitssystem werden wahrscheinlich noch zusätz- Das bestätigt doch noch mal, dass dieses Land es schaffen lich belastet. Und deswegen, meine Damen und Herren, kann, sich auch aus dieser Krise herauszubewegen. war das der Zeitpunkt, so zu handeln. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Deswegen will ich auch sagen: Die Überlegungen, die der CDU/CSU) gestern und in den Tagen zuvor angestellt worden sind, Die entscheidende damit verbundene Botschaft ist, sind immer eine Güterabwägung, nicht mehr und nicht dass wir gleichzeitig gesagt haben, dass wir nicht dem weniger. Ich möchte davor warnen, zu glauben, dass es nationalen Reflex nachgeben, sondern auf internationale die eine Entscheidung gibt, die alles besser macht. Diese Hilfe setzen, dass wir im Rahmen einer Impfstoffallianz eine Entscheidung, liebe Kolleginnen und Kollegen, gibt helfen wollen, damit eben auch die Menschen in anderen es nicht. Andere Länder in Europa haben dies in diesen Ländern, die nicht diese Voraussetzungen haben, in Zu- Wochen schmerzlich feststellen müssen. Bei der Bewer- kunft über diesen Impfstoff verfügen. Das ist gelebte tung dieser Ergebnisse gelten die Schlüsselbegriffe fort: internationale Solidarität, meine Damen und Herren. Verhältnismäßigkeit auf der einen Seite und Verantwor- tung auf der anderen Seite. Ich bin der festen Überzeu- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gung, dem wurde gestern Rechnung getragen. der CDU/CSU) Bedrückend, meine Damen und Herren, ist die große Ich sage auch: Die Vorbereitungen zur gestrigen Mi- Zahl der Menschen, die infolge bzw. an dem Virus gestor- nisterpräsidentenkonferenz waren überzeugend und weit- ben sind. Hinter dieser Zahl verbergen sich tragische gehend konstruktiv. Es gab wenige öffentliche Zwischen- Momente. Sie werden weder durch Zynismus noch durch rufe, zumindest waren sie auf nur wenige hyperaktive absurde Vergleiche kleiner. Akteure begrenzt. (Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Na ja! Da (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten widerspreche ich Ihnen aber!) der CDU/CSU und der Abg. Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]) Das gibt auch Grund zur Hoffnung. Deswegen sage ich: Es gibt Ernsthaftigkeit in den Beratungen, auch wenn sie Ich muss sagen, Kollegin Weidel, der Tiefpunkt in der gestern etwas länger gedauert haben. Aber das zeigt vergangenen Woche war nicht der Beschluss eines wich- doch – ich sage es noch mal –, dass es wichtig gewesen tigen Infektionsschutzgesetzes, ist, in einem System, das die föderale Machtbegrenzung (Beatrix von Storch [AfD]: Jetzt bin ich kennt, zu Verbindlichkeit und Rechtssicherheit zu kom- gespannt, was kommt!) men. 24572 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Dr. Rolf Mützenich (A) Deswegen will ich mich noch mal dafür bedanken, Aus Hessen haben wir die Statistik gehört, dass zwei (C) dass es in der letzten Woche gelungen ist, in einem breite- Drittel der Sterbefälle Pflegeeinrichtungen zugeordnet ren Konsens Rechtssicherheit und letztlich Verbindlich- werden mussten. Generell konzentriert sich das Risiko keit herzustellen, nämlich beim Bevölkerungsschutzge- eines schweren Krankheitsverlaufs auf ältere Menschen setz. Ich bedanke mich ausdrücklich bei der Fraktion und Menschen mit einer Vorerkrankung. Bündnis 90/Die Grünen, die trotz mancher Bedenken Letzte Woche habe ich meine 91 Jahre alte Oma am Ende diesem Gesetzentwurf zugestimmt hat. Ich hätte besucht, in einer Einrichtung. Natürlich wurde auf alles mir gewünscht, dass auch Sie, Kolleginnen und Kollegen geachtet: Maske, Abstand, man musste sich anmelden. von der Linksfraktion, das getan hätten. Und dennoch war der Unterschied zu einer Medienpro- (Jan Korte [DIE LINKE]: Das ging leider duktion augenfällig, zu der ich ebenfalls jüngst eingela- nicht!) den worden war. Dort wurden die Teilnehmer nämlich zuerst in einer Schleuse separiert und einem Schnelltest Bei uns war der Ministerpräsident Ramelow, der einige unterzogen, und zwar zusätzlich zu Abstand und Maske. Wochen vorher um diese Rechtssicherheit gebeten hat. Ich bin dankbar, dass das Land Thüringen am Ende im Ich behaupte nicht, dass die gesamtstaatliche Krisen- Bundesrat diesem Gesetz zugestimmt hat. strategie die vulnerablen Gruppen vergisst. Aber im Kern ist doch der Ansatz, mit großem Aufwand, mit hohen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Kosten, mit besonderer Strenge in der Breite Maßnahmen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zu verhängen, um ein Übergreifen auf besonders Gefähr- Ich sage zum Schluss: Ich glaube, dass wir gerade dete zu verhindern. Von der Wirksamkeit beispielsweise durch die Herstellung dieser Möglichkeiten, dieser Be- eines Böllerverbots bin ich dabei allerdings nicht über- schlüsse, aber auch durch großzügige Hilfen Hoffnung zeugt und auch nicht von der diskutierten pauschalen schöpfen können. Gleichzeitig wollen wir die soziale Halbierung des Schulunterrichts – was in dieser Form Demokratie in Deutschland erhalten. Das machen die abgewendet werden konnte. Maßnahmen deutlich: auf der einen Seite für den Arbeits- Die Qualität der Coronapolitik misst sich nicht an der markt, aber auf der anderen Seite auch für den Wirt- Strenge der Verbote oder an der Höhe der Schulden für schaftsstandort Deutschland. Ich bin überzeugt, dass wir Finanzhilfen – die Qualität der Coronapolitik muss sich im Rückblick – hoffentlich – erkennen werden, dass wir daran bemessen, wie gut sie die wirklich Gefährdeten verantwortungsvoll und mit dem richtigen Maß gehandelt schützt, haben. (Beifall bei der FDP) Vielen Dank. und hier besteht Nachholbedarf. Wie wäre es daher, die (B) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (D) beschworene nationale Kraftanstrengung darauf zu kon- der CDU/CSU) zentrieren, einen Schutzschirm für besonders gefährdete Menschen aufzuspannen? Ja, das ist ein großer Teil der Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Bevölkerung; allein 850 000 Menschen sind in stationä- Nächster Redner ist der Fraktionsvorsitzende der FDP, ren Pflegeeinrichtungen. Frau Merkel hat die vom Ge- Christian Lindner. meinsamen Bundesausschuss genannte Zahl – 27,35 Mil- lionen Menschen – ebenfalls erwähnt. (Beifall bei der FDP) Die Herausforderung ist fraglos groß; sie ist auch des- Christian Lindner (FDP): halb groß, weil ja aus Schutz nicht Isolation werden darf. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Dennoch: Kosten und Aufwand wären gerechtfertigt, ernsthaften gesundheitlichen Risiken der Coronapande- weil wir dort die schweren Krankheitsverläufe sehen mie bestehen fort. Die Infektionszahlen sind unverändert und weil es zugleich ein Baustein sein könnte, um insge- hoch, und leider müssen wir auch schwere Krankheits- samt wieder mehr öffentliches, kulturelles und wirt- verläufe und tödliche Krankheitsverläufe beklagen. In schaftliches Leben zu öffnen. dieser Lage kann es keinen Zweifel geben, dass die (Beifall bei der FDP) Beschränkung unserer Kontakte, das Tragen von Masken Nicht ohne Regeln, aber mit klar definierten und behörd- und das Halten von Abständen genauso wichtig sind, wie lich überwachten Regeln wäre es eine Chance für Teile die Beachtung der Regeln zur Hygiene notwendig ist. der Gastronomie, für die Kultur und den Sport und andere Unser aller Disziplin entscheidet über den Gang dieser Betriebe. Pandemie. Deshalb stimmen Regierung und Opposition FFP2-Masken werden jetzt zur Verfügung gestellt, überein beim Appell an die Bevölkerung, das Leben wei- Testkapazitäten auch. Aber dabei und darüber hinaus ter mit Verantwortungsgefühl, mit Vernunft und gegen- wäre mehr möglich und nötig. Wir bieten gerne einen seitiger Rücksichtnahme zu führen. Gedankenaustausch darüber an, was Bund, Länder, (Beifall bei der FDP) Gemeinden und Zivilgesellschaft zum Schutz vulnerabler Der bayerische Ministerpräsident Söder hat gestern die Gruppen noch zusätzlich auf den Weg bringen könnten. tägliche Zahl der durch und mit Corona Verstorbenen mit Stattdessen gibt es nun aber verlängerte und neue Ein- Flugzeugabstürzen verglichen. Zu diesem Sprachbild schränkungen, beispielsweise im Handel. Die einst von mag sich jeder seine Meinung bilden. Den Blick auf die den Gerichten verworfene 800-Quadratmeter-Regel ist in besonders Gefährdeten zu richten, ist aber notwendig. neuer Form zurück. Zukünftig stehen die Menschen also Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24573

Christian Lindner (A) eng im Bus nebeneinander und danach in der Schlange Es wurde im Vorfeld der gestrigen Bund-Länder-Run- (C) vor dem Geschäft, um hernach, nach dem Einlass, de angekündigt, es werde eine langfristige Gesamtstrate- 20 Quadratmeter für sich allein zu haben. Ist das sinn- gie vorgelegt, die Planbarkeit erlaubt. Das Resultat ist voll? Wo ist die wissenschaftliche Evidenz dafür, dass dagegen hinsichtlich der Langfristigkeit auch ernüch- das Virus mit zunehmender Verkaufsfläche gefährlicher ternd. Unsere Befürchtungen – hier Ende Oktober vorge- wird? tragen – haben sich bewahrheitet: Aus dem November- wellenbrecher, zeitlich eng befristet, ist ein Frau Merkel, Sie haben über die Maskenpflicht gespro- Dezemberstillstand geworden. Und wie lange muss die- chen. Natürlich bringt die Alltagsmaske keinen Aus- ser dauern, bis wir von der aktuellen Inzidenzzahl auf schluss eines jeden Risikos. Aber es geht auch nicht um unter 50 oder sogar auf unter 35 kommen? Im Januar das Risiko null, sondern es geht um das verantwortbare sicher nicht. Risiko. Und wenn man die Alltagsmaske für ein nicht verantwortbares Risiko hält, dann müssen wir die Bevöl- (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE kerung flächendeckend mit medizinischen Masken aus- GRÜNEN]: Ihr wolltet doch mehr aufmachen statten können. statt zumachen!) (Beifall bei der FDP) Eine hinreichende Zahl von Impfungen werden wir ver- Oder wie wäre es, wenn wir für die besonders Gefährde- mutlich auch im Frühjahr nicht erreichen. ten Taxigutscheine ausgeben würden, damit sie nicht mit dem Bus fahren müssen, oder exklusive Zeitfenster für (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE den Einkauf ermöglichen würden? GRÜNEN]: Haben Sie denn irgendeine Lösung?) (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Der Kanzleramtsminister sagte nach der Runde im Unsere Befürchtung ist jedenfalls, dass Ihre Maßnahmen Kanzleramt heute Morgen in den Medien, dass man bis nur ein Beitrag zur Verödung der Innenstädte und zur mindestens März mit diesem Stillstand rechnen müsse. Erhöhung der Marktanteile von Amazon sind, ohne für Gibt es demnach dann auch im Januar, Februar und die Pandemiebekämpfung wirklich wirksam zu sein. März Hilfen aus dem Bundeshaushalt für die von Schlie- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ßung betroffenen Unternehmen? Heute ist eine Bereini- der AfD) gungssitzung für den Bundeshaushalt 2021, und am Mor- gen dieser Bereinigungssitzung wird angedeutet, dass der Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung Stillstand bis März 2021 andauern könnte, vielleicht so- (B) prägt die gesamtstaatliche Krisenstrategie. Sie tut dies gar noch länger. Die sozialen und wirtschaftlichen Kosten (D) teilweise mit anderen Ansätzen, als wir sie empfehlen der Pandemiebekämpfung explodieren. Jedenfalls ist das würden. Ich habe in den letzten Tagen wahrgenommen, keine langfristig durchhaltbare Strategie, die Sie verfol- dass die Unionsfraktion sich stärker in die Krisenbewäl- gen. tigung einschaltet und dabei eher auf Verschärfung drängt. Es kann also kein Zweifel bestehen, dass die Kri- (Anhaltender Beifall bei der FDP – Beifall bei senpolitik der Regierung voll parlamentarisch durch die Abgeordneten der AfD) Mehrheit legitimiert ist, und das akzeptieren wir. Aber dann müssen Sie auch die Konsequenzen aus Ihrer Politik Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: vollständig ziehen. Sie haben zumindest die Kompensa- tion der Schäden durch Hilfen angekündigt. Von der Jetzt hat das Wort der Fraktionsvorsitzende der CDU/ Novemberhilfe ist indessen aber noch nichts ausgezahlt. CSU, Ralph Brinkhaus. Die Bundesregierung und die sie tragende Mehrheit (Beifall bei der CDU/CSU) sollten also die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die nun notwendigen Dezemberhilfen unbürokratisch fließen, am besten dadurch, dass nicht ein neues Antrags- Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): verfahren für den Dezember erfolgt, sondern die Novem- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Fünf berhilfe einfach verdoppelt ausgezahlt wird. Anmerkungen zum gestrigen Gipfel. Lassen Sie mich als erste Anmerkung einfach noch mal Dank ausspre- (Beifall bei der FDP) chen – weil man das gar nicht oft genug sagen kann –: Viele Menschen in diesem Land kämpfen, viele Men- Unverändert bliebe zudem richtig, die Verluste des Jahres schen in diesem Land kämpfen erfolgreich, und gerade 2020 bei der Steuer mindestens gegen die Gewinne der in den letzten vier Wochen gab es eine besondere Belas- Jahre 2019 und 2018 voll anzurechnen. tung auch für viele Branchen. Das waren nicht nur die Die Regierung und die sie tragende Mehrheit müssen Gastronomen, das waren nicht nur die Hotelbesitzer, son- der Bevölkerung zudem die Frage beantworten, unter dern – wir kriegen das hier als Abgeordnete täglich mit – welchen Bedingungen und wie und wann der Stillstand das waren die Brauereien, das war der Einzelhandel, das im Land aufgehoben werden kann. Der Gesundheitsmi- waren viele, viele Zulieferer für diese Bereiche. Sie nister hat gesagt, das Virus habe eine lange Bremsspur. haben echt eine Last, wie die Bundeskanzlerin gesagt Umgekehrt gilt aber auch, dass das erneute Hochfahren hat, auch für das ganze Land getragen, und dafür müssen des Landes einen Anlauf benötigt, etwa in der Kultur. wir einfach noch mal Danke sagen an dieser Stelle. Das Stillstand geht sofort, Neustart braucht Vorbereitung. ist nicht selbstverständlich. 24574 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Ralph Brinkhaus (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ich hätte es mir zwei Wochen früher gewünscht. Hier (C) neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE haben wir zwei Wochen verloren; auch das gehört zur GRÜNEN) Wahrheit dazu. Aber gut, dass was geschehen ist. Ich möchte auch noch mal Danke sagen an die Men- Dritte Bemerkung. Was ist die Währung, die im Kampf schen, die im Ehrenamt tätig sind, im Sport und im Kul- gegen die Pandemie entscheidend ist? Das ist natürlich turbereich, die jetzt auch alles runterfahren mussten und die Reduktion von Kontakten. Wenn wir uns darüber die versuchen, irgendwie diese Zeit zu überbrücken und einig sind, dass die Reduktion von Kontakten Infektionen zu überwinden. Auch da ist Großartiges geleistet wor- vermeidet, weil wir aufgrund der Zahlen nicht mehr jeden den – wie übrigens auch vom Großteil der Bevölkerung, Einzelfall nachverfolgen können, weil wir nicht mehr bei die unglaublich diszipliniert mit einem unglaublichen jedem Einzelfall wissen, wo sich die Leute angesteckt Beharrungsvermögen mitmacht. haben, dann haben wir drei Bereiche, wo wir Kontakte reduzieren können: Was ich sehr, sehr schade finde, meine Damen und Herren, ist, dass die kleine, aber laute Minderheit in der Der erste Bereich ist die Wirtschaft, von der Fabrik bis Öffentlichkeit mehr vorkommt als die übergroße Mehr- zum Einzelhandel. Zu dem zweiten Bereich, Schule und heit der Menschen, die dieses Konzept mitträgt. Kita, sagen wir zu Recht: Wir wollen die Schulen und Kitas so lange wie möglich offen halten. Und der dritte (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Bereich ist der Freizeit- und Privatbereich. Wenn ich im Natürlich ist Widerspruch in einem demokratischen Sys- ersten Bereich – Wirtschaft – und im zweiten Bereich – tem notwendig; das ist klar. Aber manchmal habe ich das Schule und Kitas – so viel wie möglich offen halten Gefühl, dass die Grenze zwischen Widerspruch, der not- möchte, dann muss ich im dritten Bereich die Kontakte wendig ist, und dem politischen Geschäftsmodell, das reduzieren. Das ist eine sehr einfache Rechnung. Deswe- daraus gemacht wird, ziemlich verschwommen ist. gen sind diese Maßnahmen, die beschlossen worden sind, auch richtig, liebe Kolleginnen und Kollegen. ( [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) Das finde ich sehr, sehr schade, und das finde ich sehr, sehr unangemessen, weil es der Situation überhaupt nicht Bei der vierten Bemerkung geht es um die Bewertung angemessen ist und überhaupt nicht passt. der gestern beschlossenen Maßnahmen im Einzelnen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Verlängerung der Maßnahmen: Ja, das ist richtig, und ordneten der SPD) das ist notwendig. Ich habe schon Anfang November (B) gesagt, dass wir keine Garantie haben, dass wir im (D) Zweite Bemerkung. Am Ende entscheiden die Zahlen, Dezember die Maßnahmen nicht verlängern müssen. und die Zahlen sind immer noch schlecht. Ja, sie sind Das wurde nicht gerne gesehen. Es war aber leider wahr. besser geworden. Ja, wir haben den Anstieg der Dynamik gestoppt. Aber trotzdem reicht es nicht. Wer sich heute (Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE Morgen die RKI-Zahlen und insbesondere die Zahl der GRÜNEN]: Nein! „Wahr“ nicht!) Menschen, die gestorben sind, angeguckt hat, der weiß: Was ich mir gewünscht hätte, wäre vielleicht, dass man Wir sind noch lange nicht am Ende beim Kampf gegen nicht um jeden Quadratmeter – bei allem Verständnis für die Pandemie, den Einzelhandel – gefeilscht hätte. Ich weiß nicht, ob das (Zuruf von der AfD: Wir haben Untersterb- am Ende richtig war. lichkeit!) Was ich mir vor allen Dingen gewünscht hätte, wäre, auch wenn der eine oder andere da was anderes behaup- dass wir die sogenannte Hotspot-Strategie ein bisschen tet, meine Damen und Herren. einheitlicher organisiert hätten, als das gestern im Papier der Fall war. Denn eines ist auch richtig: Ein Landkreis, Dieser Kampf geht auch ins medizinische System der ein Hotspot ist, trägt nicht nur die Verantwortung für hinein. Ich weiß nicht, wer von Ihnen Kontakte zu Mitar- die eigene Bevölkerung, sondern auch für die Nachbar- beiterinnen und Mitarbeitern aus dem medizinischen Sys- landkreise, für die Nachbarbundesländer. Insofern ist es tem gehabt hat. Die machen sich Sorgen, in den Haus- eine überregionale Aufgabe, diese Hotspots einzudäm- arztpraxen, die Helferinnen, die Krankenpfleger, die men, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ärzte und insbesondere die Menschen, die jeden Tag diesen Dienst auf den Intensivstationen leisten. Auch (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dafür ein Dankeschön! Auch ihnen sind wir es schuldig, neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE dass wir diese Pandemie bekämpfen, meine Damen und GRÜNEN) Herren. Ein weiterer Bereich – da sind zusätzliche Maßnahmen auf den Weg gebracht worden – sind die Wintermaßnah- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem men. Darüber, ob die jetzt erst zum 1. Dezember kommen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sollten oder nicht vielleicht schon früher hätten in Kraft Deswegen ist es auch richtig, dass sich die Minister- treten müssen, kann man sich streiten. Es ist richtig, dass präsidenten gestern mit der Bundesregierung getroffen wir die Zahl der Kontakte noch mal reduzieren. Und es ist haben, um Maßnahmen auf den Weg zu bringen. Ganz richtig, dass die Maskenpflicht noch mal erweitert wird. ehrlich – ich weiß, es lag nicht an der Bundesregierung –, Insofern waren das gestern gute Beschlüsse. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24575

Ralph Brinkhaus (A) Dann ist auch über Weihnachten gesprochen worden; ze beschlossen, im Rahmen derer die Bundesregierung (C) ein unglaublich emotionales Thema: Weihnachten als und die Landesregierungen handeln können. Wir haben Fest der Familie. Ich würde mir wünschen, dass auch die Gesetze durch das Infektionsschutzgesetz noch mal mal mehr über Weihnachten als christliches Hochfest geschärft. Wir debattieren darüber nicht nur heute hier, geredet würde; aber okay, das ist vielleicht schwierig. sondern wir haben mehr als 70-mal über dieses Thema Das hat eine Bedeutung. Und natürlich ist es gut, dass debattiert. Insofern ist das auch alles in Ordnung. gesagt wird: Ja, wir wollen da mehr Kontakte zulassen. – Aber es gibt einen Bereich, Frau Bundeskanzlerin – Ich finde es aber ambitioniert, das heute schon zu ver- das gilt auch für die Bundesratsbank bzw. die Länder –, sprechen, weil wir nicht wissen, wie sich die Situation im der nicht in Ordnung ist: dass dort finanzielle Beschlüsse Dezember entwickeln wird. getroffen werden, ohne den Bundestag zu konsultieren. Und ob man Weihnachten und Silvester zusammen mit Das Haushalts- und Budgetrecht hat der Deutsche Bun- Lockerungen belegen muss, weiß ich nicht. Das ist ein destag. Ich frage mich, auf welcher Rechtsgrundlage dort doppeltes Risiko. Und ganz ehrlich, meine Damen und entschieden wird, dass Hilfen verlängert werden. Herren: Wir sind in der schwersten Krise in dieser Repu- blik seit 75 Jahren. Da ist es wohl auch mal zumutbar, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und dass man Silvester nicht böllert, liebe Kolleginnen und der FDP und des Abg. Dr. Dietmar Bartsch Kollegen. [DIE LINKE]) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Ich will nicht in Zweifel stellen, dass Hilfen verlängert der SPD – Zurufe von der AfD) werden; das ist überhaupt keine Frage. Wir wollen diese Auseinandersetzung zwischen Bund und Ländern auch Dementsprechend sollte man wirklich gucken, über was nicht auf Kosten der Gastwirte und Hoteliers austragen. man sich an der einen oder anderen Stelle unterhält. Aber ich finde es nicht in Ordnung, wie die Lasten- Jetzt kommen wir zu dem Bereich Schule. Wir alle teilung im Bereich Finanzen zwischen Bund und Ländern wollen die Schulen und Kitas so weit wie möglich offen ist. halten. Da sind wir uns auch, glaube ich, alle einig. Aber zwischen „offen halten“ und „ganz schließen“ gibt es (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- Zwischenstufen. Dazu gehört Wechselunterricht. Dazu NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- gehört ein vernünftiges Schulbusmanagement. Dazu ten der SPD und der FDP) gehören auch Konzepte für das Distanzlernen. Die Bun- Die Länder und die Kommunen kriegen über die Hälfte desländer – es tut mir leid, wenn ich das jetzt sagen muss – der Steuereinnahmen. Ich erwarte von den Ländern, dass hatten monatelang Zeit und Geld dafür, das umzusetzen, (B) sie sich jetzt endlich mal finanziell in diese Sache ein- (D) liebe Kolleginnen und Kollegen. bringen und nicht immer nur Beschlüsse fassen und die (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- Rechnung dann dem Bund präsentieren. Das ist schlicht- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- weg nicht in Ordnung, liebe Kolleginnen und Kollegen. ten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Dementsprechend würde ich mich wirklich freuen, wenn neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE wir im Bereich Schule noch etwas differenzierter an die GRÜNEN) ganze Sache herangehen; denn ich glaube, da ist noch Kommen wir zur letzten und fünften Anmerkung; das Potenzial. ist nämlich die entscheidende. Reicht das alles? Erst mal Ich finde es gut, dass wir über vulnerable Gruppen, wie muss man eines sagen: Diejenigen, die da gestern geses- es so schön heißt, reden. Sie sind ja übrigens viel größer, sen haben, diejenigen, die auch in den letzten Wochen als das hin und wieder dargestellt wird. Es ist gut, dass es gerungen haben, tun das mit viel Verantwortung. Ich Masken für diese vulnerablen Gruppen gibt. Trotzdem habe großen Respekt davor. Ich habe auch großen Res- finde ich: Wir haben noch keine flächendeckende, über- pekt vor der föderalen Ordnung, und ich habe großen zeugende Strategie für Pflegeheime. Respekt vor der Arbeit der Ministerpräsidenten. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und des Es ist gestern mal das passiert – zumindest weitestge- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) hend –, was wir immer angemahnt haben, nämlich dass es Einigkeit gab. Das ist gut, und das ist richtig. Aber trotz- Das ist einfach so. Wir haben keine flächendeckende, dem beschleicht mich das Gefühl, dass die Maßnahmen überzeugende Strategie für Schnelltests. Auch das ist ein- nicht ausreichen, um diese Welle wirklich nachhaltig zu fach so. Und wir brauchen ganz schnell – der Bundesge- brechen und die Zahlen nach unten zu treiben. Ich lasse sundheitsminister hat angekündigt, dass das jetzt erfolgt – mich da gerne eines Besseren belehren. Ich persönlich eine Strategie, wer zuerst geimpft wird; denn das sind die hätte mir konsequentere Maßnahmen gewünscht; denn Fragen, die die Menschen – mir zumindest – im Wahl- eines ist nämlich auch richtig, liebe Kolleginnen und Kol- kreis stellen, liebe Kolleginnen und Kollegen. legen: Dieses scheibchenweise Immer-einen-Draufsetzen (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- zermürbt uns doch alle. NIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der AfD) Wir müssen jetzt eines hinkriegen: dass wir schnell aus Kommen wir zu einem weiteren Bereich: die Rolle das dieser Krise herauskommen, dass wir konsequent heraus- Parlamentes. Ich glaube, in den Sachmaßnahmen ist die kommen, dass wir das Licht am Horizont sehen und kon- Rolle des Parlamentes angemessen. Wir haben die Geset- sequent darauf zulaufen. Das ist natürlich schwierig, weil 24576 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Ralph Brinkhaus (A) es Widerstände gibt. Das ist auch aus politischen Gründ- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (C) en schwierig. Es gibt die eine oder andere Landesregie- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) rung, die eine problematische Koalition hat. Ehrlich gesagt, wenn man das Verfahren sieht, wie hier (Christian Lindner [FDP]: War das jetzt ein Politik gemacht und kommuniziert wird: Da fassen sich Kompliment?) die Leute doch an den Kopf. So geht das nicht! So wird nicht Vertrauen gewonnen, sondern so wird Vertrauen Das ist alles richtig. Es ist schwierig, weil es Widerspruch gestört, meine Damen und Herren. Der bayerische Minis- gibt. Und es ist schwierig, liebe Kolleginnen und Kol- terpräsident scheint genauso wenig die Kontrolle über legen, weil man den Menschen was zumuten muss. seine Worte zu haben wie über das Virus in Bayern. Aber eines ist auch richtig: Führen in der Krise heißt Das ist die Wahrheit! eben auch, den Menschen was zuzumuten. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Danke schön. neten der AfD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Dann entscheidet das Gremium der Ministerpräsiden- ordneten der SPD) ten mit der Bundeskanzlerin. Ja, wir zeigen Respekt gegenüber den Ministerpräsidenten, überhaupt keine Fra- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: ge. Es ist auch richtig, dass entschieden wird. Aber es Nächster Redner ist der Fraktionsvorsitzende der Frak- wird immer auch über die Einschränkung von Grund- tion Die Linke, Dr. Dietmar Bartsch. rechten entschieden. Es tut mir leid, aber dafür ist dieses Gremium nicht legitimiert – es ist dafür nicht legitimiert! (Beifall bei der LINKEN) Und der Bundestag darf dann im Nachhinein, also heute, noch ein bisschen darüber debattieren. Frau Bundeskanz- Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE): lerin, ich erwarte, dass Sie Ihre Erklärung nicht nach, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In sondern vor diesen Zusammenkünften abgeben. großer Regelmäßigkeit wird darüber geredet, dass wir (Beifall bei der LINKEN) vergleichsweise gut durch die Krise gekommen sind. Ja, ich würde sagen, das stimmt für einige sehr. Es ist so, dass Ansonsten ist das eine Missachtung des Parlaments. man feststellen kann: Je höher die Einkommen, desto Was den Begriff „Regierungserklärung“ angeht, liegt besser kommen die Menschen durch die Krise. bei Ihnen offensichtlich ein Missverständnis vor. Sie Nehmen Sie das wirklich empörende Beispiel der haben hier nicht zu erklären, nein, sondern hier muss Supermarktketten. Die Löhne der Kassiererinnen und Regierungspolitik begründet und gerechtfertigt werden, (B) Kassierer, denen wir alle hier im Frühjahr Applaus aber nicht nach dem Motto: Die Klassenlehrerin erklärt (D) gezollt haben, die wir als Heldinnen und Helden bezeich- uns allen die Welt. – So geht das nicht. Ich freue mich im net haben, sind trotz der Rekordumsätze gefallen, und bei Übrigen, dass Herr Brinkhaus zu Recht darauf hingewie- Lidl, Aldi und Co gab es frische Milliarden Euro auf die sen hat, dass hier im Parlament die Hoheit über Finanz- Konten. Das ist unfassbar, meine Damen und Herren. entscheidungen liegt. Das kann nicht mal so eben neben- bei passieren. Das, finde ich, geht so nicht, und da muss (Beifall bei der LINKEN) es Veränderungen geben. Der Bundespräsident ruft auf, dass das Virus das Land (Beifall bei der LINKEN) nicht spalten möge. Er wird Gründe dafür haben. Ich habe die große Sorge, dass es dank des Bevölke- Wir leben jetzt seit fast einem Jahr mit der Krise. Die rungsschutzgesetzes, das vergangene Woche hier be- Bundeskanzlerin sagt: Wir wissen mehr. – Rolf schlossen worden ist, bei diesem Vorgehen bleibt und Mützenich sagt: Es gibt nicht nur die eine Maßnahme. – dass es im Dezember noch weniger Debatten hier im Das ist alles in Ordnung. Aber der Umgang mit der Krise Deutschen Bundestag gibt. Ich fordere Sie auf, vor der muss doch mit der Zeit professioneller, nachvollziehbarer nächsten Runde hier zu erklären, was Ihre Herangehens- und vorausschauender werden, und das ist wirklich nicht weise ist. Es bleibt dabei: Bei schweren Grundrechtsein- der Fall. schränkungen muss der Bundestag entscheiden, egal wie (Beifall bei der LINKEN) sehr Sie das nervt. Hier ist das Gremium, das darüber entscheidet. Alles andere ist demokratieschädigend, ist Wir erleben vor jedem Beschluss, der von der Runde inakzeptabel und reduziert das Vertrauen der Bevölke- der Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin gefasst wird, rung in die Akzeptanz der Maßnahme. das gleiche Schauspiel: Da ist der bayerische Minister- präsident, der den Schlauberger gibt, der Ratschläge (Beifall bei der LINKEN) erteilt und der immer neue Vorschläge macht. Geplante Meine Damen und Herren, nicht nur das Verfahren ist Maßnahmen kann man dann zuallererst über die Medien problematisch. Wir erleben zunehmend eine Kluft zwi- lesen – auch ein Verfahren, das völlig inakzeptabel ist –, schen dem, was die Bundesregierung leistet, und dem, und dann wird Angst verbreitet. Am Sonntag sagt Herr was Sie den Bürgerinnen und Bürger abverlangen. An Söder auf einmal: Maskenpflicht für alle in den Kitas. – zentralen Stellen der Pandemiebekämpfung zeigen Sie Jetzt redet er sogar von einem „Flugzeugabsturz“. Im sich offensichtlich überfordert. Sie wurden Ihrer Verant- Gegensatz zu Christian Lindner sage ich hier deutlich: wortung in vielen Fragen seit dem Sommer nicht gerecht Diese martialische Sprache sollte man in dieser Situation und schieben alles auf die Bürgerinnen und Bürger und wirklich nicht anwenden. vielfach auch auf das Private. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24577

Dr. Dietmar Bartsch (A) Frau Karliczek, Sie sprechen über warme Pullover in (Beifall bei der LINKEN) (C) Schulklassen – Wochen nachdem die Kinder schon mit Wo ist die Impfstrategie, die endlich entwickelt und vor- der Situation umgehen müssen. Wo aber sind denn die gelegt werden muss? Warum erhalten die Pflegerinnen Luftfilter in den Schulen? und Pfleger nicht deutlich mehr Geld, damit auch frühere (Beifall bei der LINKEN) Pflegeaussteiger zurückkommen? Das muss doch mög- lich sein; da muss man doch die Attraktivität erhöhen! 9 Milliarden Euro für die Lufthansa und nicht 1 Milliarde Euro für ein Bundesprogramm für Luftfilter, das ist doch (Beifall bei der LINKEN) nicht in Ordnung! Ob in Schulen, in Zügen, in Pflegeheimen oder Kran- Herr Scheuer, wann sind Sie das letzte Mal Bus oder kenhäusern, die Bundesregierung hat in den vergangenen Bahn gefahren? In den S-Bahnen und in den Regional- acht Monaten deutlich zu wenig getan. Jedes Theater hat bahnen ist so gut wie nichts passiert nach der Pandemie; sich besser auf den Coronawinter vorbereitet als die Bun- die sind voll. In den Schulbussen ist teilweise weniger desregierung. Platz als in Ölsardinenbüchsen. Dass Sie da jetzt endlich (Beifall bei der LINKEN) etwas tun, dass Sie das entzerren wollen: Na Donnerwet- ter, kurz vor dem Dezember! Das hätte schon längst pas- Appellieren Sie nicht nur, sondern machen Sie Ihre Haus- sieren müssen! aufgaben; sonst verspielen Sie die Akzeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern. Und das ist unser wichtigstes (Beifall bei der LINKEN) Gut: nicht die Runde, sondern die Akzeptanz und das Frau Grütters, wann helfen Sie der Kultur? Wann fließt Mittun der Bürgerinnen und Bürger. das Geld an die Theater und in die Veranstaltungsbran- (Beifall bei der LINKEN) che? Nach deren Pleite? Frau Bundeskanzlerin, Sie haben für diese Woche ein (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) mittelfristiges Konzept gegen Corona versprochen; das Da herrscht Alarmstufe Rot. Ohne Kultur wird es still und wollten Sie vorlegen. Ich zitiere Sie: „eine geschlossene, düster in unserem Land, und der Winter, der kommt erst gemeinsame Antwort“, das haben Sie versprochen. Wo noch. ist denn nun der Plan bis zum Frühjahr, über die Krise hinaus? Oder ist es das, was Herr Braun mitteilt: „Bis Herr Altmaier – beste Grüße in die Quarantäne; Sie März bleibt alles zu“? werden sicherlich bei Phoenix der Debatte zuschauen –: Wie lange braucht Ihr Ministerium, um eine Homepage Wir brauchen einen Stufenplan. Wir brauchen für die zu programmieren? Offenbar länger, als andere für die Menschen Planungssicherheit. Ich weiß, dass man nicht (B) Entwicklung eines Impfstoffes brauchen. Sie hatten alles prognostizieren kann. Aber wir brauchen wenigs- (D) aber zugesagt, dass das umgehend passiert, und erst ges- tens ein paar Leitplanken, wohin die Entwicklung gehen tern ist es umgesetzt worden. Bis heute ist kein Cent aus- könnte, festgemacht an Zahlen, und das fehlt hier aus- gezahlt; die Novemberhilfen werden frühestens im drücklich. Das geht so nicht. Dezember kommen, aber nur als Abschlagszahlung. (Beifall bei der LINKEN) Was ist denn das für eine Professionalität? Das muss doch schneller gehen. Die Menschen in unserem Land handeln vielfach dis- zipliniert und weitsichtig. Das ist gut, ja. Der Begriff der Genauso ist es mit den Restaurantbetrieben. Denen ist Solidarität spielt wieder eine andere Rolle in unserem Ende Oktober erzählt worden: befristete Schließungen Land, und das ist wirklich gut. Ja, es gibt Hoffnung, bis Ende November, und Hilfen sofort. Aber beides ist auch im Hinblick auf den Impfstoff. Ich sage aber auch nicht eingetreten. Jetzt wird verlängert. Ich will über- ganz deutlich: Die Bundesregierung muss auf dieses haupt nicht an der Maßnahme zweifeln. Aber: Wer Niveau erst noch kommen. Denn nur gemeinsam können schließt, der muss auch umgehend helfen. Das aber schaf- wir Corona besiegen. fen Sie nicht, und das ist eben nicht in Ordnung. Herzlichen Dank. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Herr Seehofer – nicht nur aufs Handy gucken! –: Ich habe Ihr Ministerium gefragt, wie viele Menschen aus Risikogebieten nach Deutschland eingereist sind und Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: getestet wurden. Antwort: Sie haben keinerlei Kenntnis- Jetzt hat das Wort der Fraktionsvorsitzende von Bünd- se. – Wie will man eigentlich die Pandemie bekämpfen, nis 90/Die Grünen, Dr. Anton Hofreiter. ohne zu wissen, wie viele Menschen aus Risikogebieten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ungetestet einreisen? Es sind doch die Grenzregionen, wo wir so große Probleme haben. Das ist für mich unfassbar. Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Spahn – um ihn auch noch zu erwähnen –: Wann Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Bun- kommen denn nun die flächendeckenden Schnelltests in deskanzlerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dunk- den Pflegeheimen? Jetzt sollen sichere FFP2-Masken an len Zeiten ist Hoffnung etwas Unerlässliches, und die Risikogruppen verteilt werden. In Bremen ist das im Hoffnung zeigt sich jetzt das erste Mal in dieser Pande- Übrigen schon passiert. Das ist eine richtige Maßnahme. mie als konkrete Perspektive. Voraussichtlich werden Aber warum sind die Masken nicht vor der zweiten Welle noch dieses Jahr mehrere Impfstoffe zugelassen, und verteilt worden? das ist für uns alle ein sehr gutes Zeichen. 24578 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Dr. Anton Hofreiter (A) Noch nie in der Geschichte der Menschheit ist es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) gelungen, einen Virus so schnell zu entschlüsseln und sowie bei Abgeordneten der SPD) so schnell wirkungsvolle Impfstoffe zu entwickeln. Das Wenn ich mir die Infektionszahlen anschaue, dann ist ein eindrucksvoller Beleg dafür, welche Kraft For- stelle ich fest, dass durch den sogenannten Wellenbre- schung und Wissenschaft entfalten kann und wozu wir cher-Lockdown im November, der ein sehr milder war, Menschen fähig sind, wenn wir wollen. zwar die exponentielle Entwicklung gebrochen worden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – ist, dass die Zahlen aber dennoch viel, viel zu hoch Dr. Marco Buschmann [FDP]: Gentechnik ist sind. Durch die täglichen Neuinfektionen besteht nämlich ein Segen!) immer noch die Gefahr, dass unser Gesundheitssystem überlastet wird. Und man kann da nur den Pflegerinnen Das Licht am Ende des langen Tunnels wird heller, wie und Pflegern, den Ärztinnen und Ärzten für das danken, WHO-Chef Tedros Anfang dieser Woche sagte. Wir wer- was sie in den immer häufiger volllaufenden Intensivsta- den diese Pandemie überwinden. Wir werden die Dinge tionen leisten. zurückgewinnen, die uns lieb und teuer sind: Nähe, Begegnung, Feiern, Reisen und vieles mehr. Und, liebe (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Kolleginnen und Kollegen, so wie die Entwicklung des bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abge- Impfstoffs eine wissenschaftliche Großtat war, so wird ordneten der CDU/CSU) die Verteilung, insbesondere die globale Verteilung, eine Bewährungsprobe, und zwar eine ganz entscheiden- Die Nachverfolgung der Kontakte kann nicht funktio- de Bewährungsprobe. Es wird sich nämlich die Frage nieren bei diesen hohen Zahlen. Es besteht vor allem das stellen, ob das globale Recht oder Unrecht des Stärkeren Risiko – es ist eigentlich kein Risiko mehr; es ist längst gilt oder ob wir die Impfstoffe solidarisch verteilen. eingetroffen –: Die hohen Zahlen führen zu viel zu viel menschlichem Leid. Es sterben im Moment im Schnitt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) über 200 Menschen am Tag – gestern sogar 400 Men- Da sich die Pandemie so heftig in fast allen Ländern schen – mit und an Corona. dieses Planeten auswirkt, wird es sich in die Milliarden (Beatrix von Storch [AfD]: 2 500! – Weitere von Köpfen von Menschen einbrennen, wie wir damit Zurufe von der AfD) umgehen: Machen wir das solidarisch? Machen wir das gerecht? Machen wir das gemeinsam? Oder machen wir Alle diese Menschen haben Angehörige, alle diese Men- es nach nationalen Egoismen? – Das wird die internatio- schen haben Freunde, und es ist einfach viel zu viel nale Ordnung für die nächsten Jahre entscheidend prägen. menschliches Leid. (B) Wir als reiche Länder, als Westen haben da eine große Tausende und Abertausende infizieren sich und haben (D) Chance, für Solidarität zu sorgen. schwere Folgen. Dieser Virus ist nämlich nicht einfach (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nur eine Lungenerkrankung. Es ist ein systemischer sowie bei Abgeordneten der SPD) Virus, wo man monatelang mit den Folgen kämpfen kann, wenn man Pech hat. Deshalb müssen diese Zahlen Und, sehr geehrte Frau Kanzlerin, es war gut, dass Sie endlich runter! beim G-20-Gipfel davon gesprochen haben, dass es eine gerechte Verteilung braucht. Aber es genügt nicht, das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nur anzukündigen, sondern wir erwarten, dass sich sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und Deutschland, dass sich die Europäische Union darum der SPD) kümmert, dass das wirklich auch der Fall ist; denn es Insofern sind die Maßnahmen, die ergriffen worden sind, macht einen Riesenunterschied für ärmere Länder, ob insbesondere die Verlängerung und die Verschärfung, sie von Demokratien unterstützt werden oder ob sie in richtig. Klar sind diese Maßnahmen eine Zumutung für die Fänge von autokratischen Regimen wie Russland die Bürgerinnen und Bürger in ihrem Alltag. Sie sind oder China geraten. insbesondere hart für die Branchen, die davon betroffen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sind: für die Gastronomie, für Kulturschaffende, für die sowie des Abg. Dr. Dietmar Bartsch [DIE LIN- Freizeit- und Tourismusbranche. Selbstverständlich sind KE]) die hart. Aber die Maßnahmen sind notwendig, und im Vergleich mit Frankreich oder Italien sind die Maßnah- Liebe Kolleginnen und Kollegen, da wir so gute Chan- men auch noch ziemlich mild. cen haben, in den nächsten Monaten einen Impfstoff zu haben – das wird noch dauern; man muss den produzie- Wenn wir mal ehrlich sind: Diese Maßnahmen sind ren; man muss nach und nach durchimpfen; aber die Per- eine ziemliche Gratwanderung. Ich wäre nämlich, meiner spektive ist erkennbar –, sollte uns das doch alle motivie- naturwissenschaftlichen Intuition folgend, mal sehr vor- ren, für die restlichen Monate dieser Pandemie auf sichtig, Solidarität zu setzen, darauf zu setzen, dass man mit (Lachen bei der AfD) den Einschränkungen leben kann, auch wenn es noch so schwerfällt – aus Solidarität mit den schwächeren Grup- ob diese Maßnahmen ausreichen werden, damit die Zah- pen, mit den vulnerablen Gruppen, die, wenn man sie alle len ausreichend sinken. Deshalb sage ich: Diese Maß- zusammenzählt, ein Drittel bis die Hälfte dieser Bevölke- nahmen sind das Mindeste, was notwendig ist, und vor rung umfassen. Das, glaube ich, sollte eine Motivation allem müssen diese Maßnahmen konsequent durchge- für uns alle sein. setzt werden. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24579

Dr. Anton Hofreiter (A) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Es muss nicht noch mal so passieren, dass man die (C) SES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der AfD: Monate verstreichen lässt. Nach einer zweiten Welle Das ist Ihre Intuition!) kann es nämlich zu einer dritten Welle kommen. Daher sollte man vorbeugen. Deshalb kann ich Sie nur noch Wir teilen die Priorität, dass Schulen und Kitas offen einmal auffordern: Lassen Sie uns das gemeinsam tun! gehalten werden sollen. Aber dann müssen Schulen und Kitas auch unterstützt werden. Da darf man Schülerinnen Genauso gehört dazu, dass man gemeinsam diese Hil- und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer nicht alleine lassen, fen schnell und konsequent beschließt. Ich habe eigentlich keine Zeit mehr. Daher nur noch (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- ganz kurz: Endlich einen Unternehmerlohn, endlich auto- SES 90/DIE GRÜNEN) matische Hilfen, endlich Abschlagszahlungen und end- lich Geld, wenigstens temporär, für die Ärmsten in unse- sondern dann muss man dafür sorgen, dass die Schulen rem Land. Das heißt für die Hartz-IV-Empfänger eine nicht bei der gleichen überlasteten Nummer eines temporäre Erhöhung. Das wäre einfach sinnvoll und Gesundheitsamtes – ja, das geht auch an die Länder – gerecht. Wir geben gerade so viel Geld aus. Geben Sie anrufen müssen wie jemand, der sich Sorgen macht, sich einen Ruck! Ja, wir als Haushaltsgesetzgeber sind weil sein Hals ein bisschen kratzt. auch für diese finanziellen Dinge zuständig. Lassen Sie Man muss dafür sorgen, dass bei den Schulbussen was uns das gemeinsam beschließen. Das würde für die Men- passiert. Man muss all das organisieren, und da braucht es schen Planbarkeit und Sicherheit bedeuten. eine gemeinsame Kraftanstrengung. – Ja, wir sind für Vielen Dank. Bildung nicht zuständig. Aber es braucht trotzdem eine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gemeinsame Kraftanstrengung von Bund, Ländern und Kommunen, dass es in den Schulen besser läuft, dass man die Zeit für Vorbereitungen nutzt. Es sind viele Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Monate vergangen; aber wenigstens jetzt sollte man die Nächste Rednerin ist die Kollegin Katja Mast, SPD. Zeit nutzen, damit Schülerinnen und Schüler, Lehrerin- (Beifall bei der SPD) nen und Lehrer nicht weiter alleine gelassen werden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Katja Mast (SPD): sowie des Abg. Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich Herr Brinkhaus, ich gebe Ihnen ja recht: Wir brauchen (B) finde gut, dass wir heute hier diese Debatte führen. Diese (D) einen Stufenplan. Wir brauchen eine Hotspot-Strategie. Debatte gehört in das deutsche Parlament, in den Deut- Das ist viel zu wenig, was da beschlossen worden ist. Das schen Bundestag; denn Demokratie braucht Debatte. alles ist wieder zu sehr Auf-Sicht-Fahren. Das ist viel zu (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Ach! Aber die wenig Planbarkeit und Vorausschau. Länder hören nicht zu, Frau Mast! Keiner ist Wenn Sie das alles so beschreiben, dann bieten wir mehr da von den Bundesländern!) Ihnen an: Dann beschließen wir es doch hier im Parla- Wir vertreten die Bürgerinnen und Bürger in der Bun- ment, desrepublik Deutschland. Wir müssen darüber reden, wie wir dieses Land solidarisch zusammenhalten. Wir müs- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- sen darüber reden, wie wir Familien im Fokus behalten in SES 90/DIE GRÜNEN) dieser Pandemie. Und wir müssen darüber reden, wie wir gestärkt aus dieser Krise hervorgehen können. Genau das eine Hotspot-Strategie, durch die klar wird, was bei einer tun wir in dieser Debatte, und genau das ist der richtige Inzidenz von 50 passiert, was bei der Inzidenz von 100 Zeitpunkt dafür. und was bei einer Inzidenz von 200 passiert. Dann beschließen wir das hier gemeinsam und transparent (Beifall bei der SPD) und beschließen es im Bundesrat, damit wir endlich Corona betrifft alle Lebensbereiche; kein einziger eine vorausschauende Strategie haben. Die Kanzlerin Lebensbereich ist ausgenommen. Da gibt es natürlich hat es vor zehn Tagen versprochen. Wieder ist nichts große Fragen: Es gibt die Frage nach den sozialen Folgen. umgesetzt worden; wieder finden sich da eh nur allge- Es gibt die Frage, ob das Gesundheitssystem alldem meine Worte. standhält. Es gibt die Frage, wie wir Arbeit und Wirt- Deshalb: Wir sind hier der Gesetzgeber. Ich gebe Ihnen schaft schützen. Und ja, wir fragen uns auch, was Corona in vielen Punkten recht. Dann lassen Sie uns das gemein- für unsere Demokratie bedeutet. sam beschließen. Lassen Sie uns einen Antrag einbrin- Genau der letzte Punkt treibt mich dabei ganz beson- gen. Es ist möglich. Lassen Sie uns das Gesetz verändern, ders um; alle anderen natürlich auch. Wir erleben doch und dann lassen Sie es uns im Bundesrat diskutieren. eine Polarisierung in dieser Gesellschaft. Wir erleben auf Bundestag und Bundesrat beschließen all das, was Sie der einen Seite, dass die Mehrheit der Bevölkerung hinter angemahnt haben, hier gemeinsam. Dann setzen wir es den Maßnahmen steht, die wir in den Parlamenten verab- um, und dann sind die Möglichkeiten da. schieden. Sie sagen: Wir finden das richtig; wir gehen diesen Weg mit. – Auf der anderen Seite erleben wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wie in der letzten Woche, dass Tausende von Menschen 24580 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Katja Mast (A) auf Demonstrationen ihre Sorgen zum Ausdruck brin- tigt bei der Verabschiedung des Infektionsschutzgesetzes. (C) gen – das müssen wir gemeinsam auch ernst nehmen –, Ich glaube, es ist so wichtig, dass wir klarmachen, was da wobei diese Demonstrationen aber auch geprägt sind von eigentlich sonst noch so drinsteht. Gerüchten, von Lügen und davon, dass Rechtsextreme mitdemonstrieren. Wir wissen, Familien wollen Weihnachten feiern. Wir alle wollen Weihnachten feiern, und zwar nicht nur, weil (Uwe Witt [AfD]: Und Linksextreme!) es ein christliches Fest ist, sondern weil es in Deutschland eine Tradition ist, eine Zeit der Stille, der Familien, der Ich will nur auf ein paar Punkte eingehen, die einfach Besinnung, der Gemeinschaft und der Solidarität. Es ist schlichtweg falsch sind: Da wird von „Impfpflicht“ unsere Aufgabe, dafür einen Rahmen zu schaffen. Das gesprochen; da wird von „Gleichschaltung der Parlamen- wurde gestern getan, und das finde ich auch gut so. te“ gesprochen; da wird von „dauerhafter Aussetzung der Grundrechte“ gesprochen. Das alles ist falsch: F – A – L – Ich bin davon überzeugt, dass wir gemeinsam gestärkt S – C – H! aus dieser Krise herauskommen können, wenn wir solida- risch zusammenhalten, wenn wir die Probleme lösen, auf (Beifall bei Abgeordneten der SPD) die Corona den Scheinwerfer wirft, zum Beispiel bei den Wir müssen diese Dinge hier auch aussprechen, um ge- Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie; um mal ein meinsam klare Linien zu ziehen. anderes Thema anzusprechen. Ja, auch die AfD verbreitet diese Falschmeldungen. Sie tut das auch hier im Parlament. Und wenn die AfD Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Menschen die Hand reicht, damit frei gewählte Abge- Frau Kollegin, achten Sie bitte darauf, dass Ihre Rede- ordnete im Deutschen Bundestag durch sie bedrängt zeit vorüber ist. und auf dem Weg zu wichtigen Entscheidungen unter Druck gesetzt werden, dann reicht es nicht, dass man Katja Mast (SPD): sich hier entschuldigt; dann erwarte ich, dass es in der Einen Satz noch. Danke. – Wenn wir die Prioritäten auf AfD Konsequenzen gibt. Die gibt es nicht. eine gerechte Gesellschaft legen und die Pflegenden, die (Dr. Alice Weidel [AfD]: Natürlich! Die hat es Paketzusteller und die Verkäuferinnen in den Fokus doch schon längst gegeben!) rücken, dann ist das eben kein Stillstand, sondern ein solidarisches Miteinander, das wir gemeinsam organisie- Also versammelt man sich dahinter, dass es hier Angriffe ren müssen. auf das Verfassungsorgan gab. Vielen Dank. (B) (Beifall bei der SPD) (D) Das, was da passiert ist, zersetzt unsere Demokratie. (Beifall bei der SPD – Uwe Witt [AfD]: Tragen Sie eine Maske! Ganz wichtig! – Claudia Roth (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: GRÜNEN]: Ja, das ist ein Unterschied!) Herr Witt, schämen Sie sich!) Während Sie von der AfD pöbeln und aufwiegeln, suchen wir hier nach Lösungen, und wir sind Problemlö- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: serinnen und Problemlöser in unterschiedlichen Funktio- Nächster Redner ist der Kollege Tino Chrupalla, AfD. nen, in unterschiedlichen Rollen. Aber darum geht es: Es geht darum, Lösungen für Probleme zu finden, damit (Beifall bei der AfD) dieses Land solidarisch zusammenbleibt. Das unterschei- det uns fundamental von Ihnen. Tino Chrupalla (AfD): (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Herren! Liebe Landsleute! Es ist viel passiert in den letz- ten Tagen. All diese Ereignisse werfen Fragen auf, die Ja, wir halten dieses Land zusammen. Mit dem Kurz- mich als Politiker, Unternehmer, Familienvater und arbeitergeld schützen wir Arbeitsplätze und Arbeit. Staatsbürger umtreiben und nicht mehr ruhig schlafen lassen. Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, ich bin (Zuruf von der AfD: Sie belügen die Leute mit bestürzt über die Verlängerung der Maßnahmen. Sie dem Unterhalt!) legen Deutschland damit sprichwörtlich still. Mit dem Überbrückungsgeld und den Überbrückungshil- fen schützen wir Existenzen. So sorgen wir auch konkret (Beifall bei der AfD) für die Familien. Wir wissen, dass Familien dieses Land Und bitte, wir sind uns darüber im Klaren, dass die durch die Krise tragen. Sie sind die kleinste Keimzelle gefährdeten Gruppen geschützt werden müssen; das der Solidarität. Deshalb ist das ja so wichtig. Wir wissen haben wir hier ja auch oft genug gefordert. auch, wie es ist, wenn Kinder jetzt nur wegen einem kleinen Schnupfen zu Hause bleiben müssen und nicht (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE mehr in die Schule oder in die Kita gehen können. Wir GRÜNEN]: Was? – Britta Haßelmann [BÜND- müssen daher dafür sorgen, dass die Eltern unsere Unter- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben Sie nicht! stützung haben – weit über das hinaus, was vor Corona Manche von Ihnen leugnen Corona immer möglich war. Das alles haben wir gemeinsam berücksich- noch!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24581

Tino Chrupalla (A) Aber welchen Wert hat für Sie die Lebensleistung derer, Herr Linnemann, als Vorsitzender der Mittelstandsver- (C) die Sie mit Ihren Entscheidungen abhängen? Wo ist Ihr einigung der CDU haben Sie doch im letzten Jahr richtig- Respekt vor der Würde der Menschen, vor unserem erweise darauf hingewiesen: Der Mittelstand benötigt Grundgesetz? Planungssicherheit. Wie erklären Sie den Gewerbetreib- enden, den Unternehmern und den Gewerken die Ent- (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE scheidung Ihrer Partei? Spielt die soziale Marktwirtschaft GRÜNEN]: Sie wissen überhaupt nicht, was überhaupt noch eine Rolle in Ihrem Denken und Han- die Würde des Menschen ist!) deln? Wirtschaftlich und mental hinterlässt diese Bundesre- Angesichts der Aussetzung der Insolvenzpflicht bis gierung ein Trümmerfeld. 31. März 2021 spricht man mittlerweile von über (Beifall bei der AfD) 800 000 Unternehmen, die irgendwie künstlich am Leben erhalten werden. Wie planen Sie, das aufzufangen, Herr Nun, Frau Dr. Merkel, haben Sie den gesamten Prozess Bundeswirtschaftsminister? Auch werden schon Hilfen wirklich vom Ende her gedacht? Das entspricht doch bis Mitte 2021 avisiert. Herr Altmaier, ein erfolgreiches eigentlich Ihrem Credo. Warum werden nicht auch für Unternehmen braucht Kapital, Kunden, Umsatz und Mut. Sie kritische Stimmen in die Entscheidungsfindung ein- Wie möchten Sie die alten und neuen Unternehmen bezogen? Wie wissenschaftlich ist dieses Vorgehen? eigentlich motivieren, weiterzumachen? Für mich als Unternehmer ist Motivation die treibende Kraft. Auf Als Oppositionspartei streiten wir als AfD für vernünf- Ihre Garantien hingegen – das haben Sie bewiesen – soll- tige und verhältnismäßige Lösungen. te man sich als Selbstständiger wirklich nicht verlassen. (Lachen der Abg. Claudia Roth [Augsburg] (Beifall bei der AfD) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Werte Kabinettsmitglieder, wer oder was ist für Sie Sie diffamieren uns an jeder Stelle mit allen Mitteln; Herr eigentlich systemrelevant? Und womit unterstützen Sie Mützenich hat heute wieder das beste Beispiel gegeben. diese Menschen, beispielsweise das medizinische Fach- Wir sind gewählte Abgeordnete. Wir repräsentieren die personal, das seit Jahren funktioniert und heute in völl- Teile der Bevölkerung, die uns ihre Stimme gegeben iger Unterbesetzung die Umsetzung Ihrer unverhältnis- haben. Als Mitglied der größten Oppositionspartei im mäßigen Maßnahmen garantieren soll? Deutschen Bundestag kann ich nur sagen: Das sind über 12 Prozent oder 6 Millionen Wähler. Mit Ihrem Vorgehen Herr Brinkhaus, Sie haben heute x-mal Danke gesagt. diffamieren Sie also nicht nur die AfD; Sie spalten unsere Die Menschen haben ihre Schränke voll mit „Danke“. Mein Vorschlag: Schaffen Sie endlich Entlastung, indem (B) Wähler von der Gesellschaft ab und bieten ihnen trotz- (D) dem keine überzeugenden Konzepte an. das systemrelevante Personal aller Branchen ab sofort von der Lohnsteuer befreit wird. Ich garantiere Ihnen: (Beifall bei der AfD) Diese Menschen halten das Geld nicht fest. Sie bringen es nicht in Steuerparadiese. Sie werden es sofort wieder Wir alle, liebe Kollegen, sind hier, um als Politiker im eigenen Land ausgeben. Denn sie brauchen es, um gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu gestalten. Da- ihren Lebensunterhalt zu finanzieren und ihre Familien bei sollten wir die breiten gesellschaftlichen Diskurse zu unterstützen. Mit solchen Maßnahmen würden Sie einbeziehen. Aber Sie, Frau Bundeskanzlerin, entschei- eine wahre Verbundenheit dem Volk gegenüber zeigen. den nur zwischen Schwarz und Weiß. Und dabei glauben Sie sich immer im Recht. Sie und Ihre Bundesregierung (Beifall bei der AfD) setzen sich über die parlamentarische Demokratie hin- Frau Bundeskanzlerin, eines muss ich Ihnen ja zuge- weg. stehen: Sie scheinen Ihren Willen bedingungslos durch- ( [SPD]: Bullshit!) zusetzen. (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE Die Mitglieder dieses Hohen Hauses erfahren schon am GRÜNEN]: Das wäre schön!) Dienstagmittag aus der Presse, auf welche Maßnahmen sich die Ministerpräsidenten geeinigt haben. Es erscheint Aber Ihr Handeln hat Unsicherheit und Ängste bei den wie aus einem Drehbuch, dass diese am darauffolgenden Menschen unseres Landes erzeugt. Nicht Corona hat die- Tag hier nur noch durchgewunken werden. ses Land in eine tiefe Depression versetzt; das waren Sie, Frau Merkel, Sie mit Ihrer Politik, die Sie als alternativlos Apropos Drehbuch, Herr Bundesfinanzminister: Den ansehen. wievielten Nachtragshaushalt wollen Sie eigentlich noch stricken? Wer bezahlt die immer neuen Rechnungen (Beifall bei der AfD – Michael Grosse-Brömer für die erkauften Hilfsleistungen? Es sind wieder – ich [CDU/CSU]: Flüchtlinge auch noch! – Gegen- kann es Ihnen sagen – die Arbeiter, der Mittelstand und ruf der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜND- die kleinen Handwerker – heute, morgen und in der Zu- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Flüchtlinge kunft. Es ist mir wirklich schleierhaft, wie ein Sozial- auch noch!) demokrat so unsozial den Arbeitern gegenüber sein kann. Aber geschieht das wirklich noch zum Wohle des deut- schen Volkes? Sind das nicht nur verzweifelte Versuche, (Beifall bei der AfD) die eigene Macht zu erhalten? Und werden Sie eigentlich Eines steht fest: Europa, das Ihnen ja so am Herzen liegt, dem Anspruch noch gerecht, dieses Land zu führen? Das schaden Sie damit nachhaltig. sollten Sie sich wirklich fragen. 24582 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Tino Chrupalla (A) Vielen Dank. Infektionsherde entstehen, müssen wir in der Lage sein, (C) (Beifall bei der AfD) konsequent zu handeln und die Ausbreitung der Pande- mie zu verhindern. Deswegen werden wir auch sehr genau hinschauen, wie die Länder jetzt mit der Möglich- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: keit einer erweiterten Hotspot-Strategie umgehen und ob Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Alexander sie die Maßnahmen, die auch im Infektionsschutzgesetz Dobrindt, CDU/CSU. vorgesehen sind, dann ausführlich nutzen. (Beifall bei der CDU/CSU) Dazu gehört übrigens auch der Bereich der Schule. Ich weiß, dass darüber intensivst gestritten und gerungen Alexander Dobrindt (CDU/CSU): worden ist. Aber wenn wir über eine Hotspot-Strategie Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe reden, dann wird auch die Schule ein Thema sein müssen, Kolleginnen und Kollegen! dann wird es eine Betroffenheit der Schule geben, um (Der Redner trägt noch seine Mund-Nase- Infektionszahlen zu verringern. Bedeckung – Claudia Roth [Augsburg] Meine Damen und Herren, da darf man schon mal die [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Maske! – Frage stellen: Wo sind die Konzepte und Instrumente für Lachen bei Abgeordneten der AfD) den digitalen Unterricht? Auch wenn man nicht in die Natürlich ist es so, dass sich viele Menschen dieses Schule gehen kann, muss ein Unterricht möglich sein. Jahr 2020 anders vorgestellt haben. Es ist natürlich so, Wir reden von „Hotspot“; das heißt, dass man in sehr dass auch wir uns dieses Jahr ganz anders vorgestellt schnellen zeitlichen Abläufen zu hohen Infektionszahlen haben. Und natürlich ist es für viele ein Eingriff in ihr kommt und sehr schnell handeln muss. Wo ist eigentlich persönliches Leben, wenn sie mit den Entscheidungen der Schalter, mit dem man dann auf einen hybriden der Politik zurechtkommen müssen. Sehr viele empfin- Unterricht umstellen kann? den es als Belastung, ihr Leben jetzt nicht vollkommen (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe der Abg. frei und selbstbestimmt wie gewohnt führen zu können. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE] und Margarete Viele sind wirtschaftlich belastet, ja. Viele fühlen sich Bause [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) und sind emotional belastet, ja. Aber genau deswegen wollen und müssen wir die Perspektive für einen unein- Da sei schon mal daran erinnert: Der Bund hat den geschränkten Alltag geben. Das gibt uns die Zuversicht DigitalPakt Schule auf den Weg gebracht. Er hat noch und die Kraft, jetzt die Einschränkungen zu akzeptieren. mal deutlich mehr Geld zur Verfügung gestellt. Er hat Wir wollen 2021 zu dem Jahr machen, in dem wir Corona Tablets für die Schüler beschafft. Er hat das Geld für (B) hinter uns lassen, und die Erfolge bei der Impfstoffent- die Laptops für die Lehrer zur Verfügung gestellt. Ich (D) wicklung geben uns genau diese Perspektive, meine darf hier schon klar festhalten: Es gibt keine Zeit mehr Damen und Herren. für Ausreden an dieser Stelle. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Wir wissen, dass wir das Virus besiegen werden. Aber Dass die wirtschaftlichen Hilfen jetzt auch im Dezem- der Kampf ist noch nicht gewonnen. Auf dem Weg dahin ber notwendig sind und nicht hinter denen des Novem- ist das Schutzgut, das all diesen Belastungen gegenübers- bers zurückbleiben dürfen, ich glaube, das ist richtig und teht, die Gesundheit und das Leben vieler Menschen, und notwendig. Wir als Bund haben einen sehr großen Willen, die Gesundheit und das Leben dieser Menschen wollen für finanzielle Unterstützung zu sorgen. Wir dürfen aber wir jetzt besonders achten. Kollege Chrupalla, das ist der auch sagen, dass die finanziellen Möglichkeiten, Herr Respekt vor der Würde des Menschen, nicht das Ignorie- Bundesfinanzminister, nicht unbeschränkt sind. ren eines Virus. Wir sind in den Haushaltsverhandlungen, und wir wer- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem den in zwei Wochen einen Haushalt beschließen. Die BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dezemberhilfen sind in den aktuell zu beratenden Haus- Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]) haltszahlen wohl noch nicht untergebracht. Als Fraktion haben wir vorgeschlagen, dass es eine (Christian Lindner [FDP]: Die bis März auch offensive Strategie geben muss, auch im Dezember. Wir nicht!) haben sie eingefordert, weil wir erkennen müssen, dass die Novembermaßnahmen nicht so erfolgreich waren, Das heißt, da muss nachgesteuert werden. Um dies sehr wie wir es erhofft haben. Wir haben ein stärkeres Abfla- deutlich zu sagen: Es wird dann wahrscheinlich für 2021 chen der Kurve erwartet. Wir sehen eine Seitwärtsbewe- eine Neuverschuldung in Höhe von deutlich über gung. Aber wir wissen: Wenn wir das Infektionsgesche- 160 Milliarden Euro notwendig sein. Ich bitte, sehr hen wirklich kontrollieren wollen, dann brauchen wir schnell entsprechend Klarheit zu schaffen und auch zur niedrigere Infektionszahlen, als wir sie in weiten Teilen Kenntnis zu nehmen, dass wir uns an diese Zahlen nicht Deutschlands sehen. gewöhnen dürfen. Deswegen: Ja, wir unterstützen die Entscheidungen Es kommt nach der Krisenbekämpfung die Zeit der der Ministerpräsidentenkonferenz von gestern. Wir hät- Haushaltskonsolidierung. Aber diese Haushaltskonsoli- ten uns an der einen oder anderen Stelle auch etwas mehr dierung kann nicht mit einem Coronasoli erreicht werden, vorstellen können, vor allem in der Beschreibung der sondern nur mit mehr wirtschaftlichem Wachstum, meine Hotspot-Strategie, weil es genau darum geht: Da, wo Damen und Herren. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24583

Alexander Dobrindt (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. (C) Dr. [AfD]) Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]) Den Coronasoli – das sei all denjenigen ins Stamm- Ich bin stolz auf mein Bundesland Schleswig-Holstein, buch geschrieben, die darüber diskutieren – haben unsere das sich von Anfang an klar für eine regionale, differen- Bürgerinnen und Bürger schon längst bezahlt. Mit all zierte Betrachtungsweise eingesetzt hat. Schleswig-Hol- dem, was wir an wirtschaftlichen Erfolgen, an Steuerein- stein bleibt bei den bewährten Kontaktregeln. Eine nahmen, an Senkung der Gesamtverschuldung in der Ver- Verschärfung für den Einzelhandel gibt es in Schleswig- gangenheit hatten, ist die Grundlage erbracht worden, Holstein nicht. Das ist verantwortbar, wenn ich von den damit wir jetzt die finanziellen Beiträge leisten können, Sieben-Tage-Inzidenzwerten in meinem Kreis Rends- um diese Pandemie zu bekämpfen. Diese Beiträge der burg-Eckernförde von 18 oder im Kreis Schleswig-Flens- Bürger sind schon geleistet worden und können nicht burg von 7 ausgehe. Das ist Politik, die nah an den Men- für die Zukunft noch mal verlangt werden. schen ist und die zum Beispiel jetzt wieder ermöglicht, dass Tierparks, Zoos und weitere solche Einrichtungen (Beifall bei der CDU/CSU) besucht werden können. Das ist Politik, die verantwort- Ich will hier noch meinen ausgesprochenen Dank an bar ist. diejenigen Kolleginnen und Kollegen zum Ausdruck (Beifall bei der FDP) bringen, die sich in den letzten Monaten engagiert haben, dass wir die Wirtschaft, die Wissenschaft, die Forschung Das ist Politik, die die richtige Balance zwischen dem massiv unterstützen, damit eine schnelle Gewinnung des nötigen Gesundheitsschutz und den verantwortbaren Öff- Impfstoffes möglich ist. Der Bund hat Milliardenbeträge nungsmöglichkeiten hält, meine Damen und Herren. dazu aufgewandt. (Beifall bei der FDP – Michael Grosse-Brömer Jetzt geht es noch um einen anderen Bereich, der uns [CDU/CSU]: Wer ist da Ministerpräsident?) sehr wichtig ist, nämlich das Thema „Therapeutika“, das Ich finde – und ich glaube, da sind wir uns hier alle Thema „Medikamente gegen Covid“, um den Verlauf der einig –, es ist schwer zu ertragen, dass wir letzte Woche Krankheit entsprechend zu lindern. Ich will ausdrücklich gehört haben, dass zwei Drittel der Covid-19-Todesfälle ein Dankeschön richten an die Haushälter, an Ecki in Hessen in Pflegeeinrichtungen aufgetreten sind. Und Rehberg, an , die aktuell dafür kämpfen, es ist schwer zu ertragen, wenn wir wissen, dass 88 Pro- dass wir bei den Verhandlungen noch die nötigen Mittel zent der Todesfälle Menschen über 70 Jahre betreffen; bei in den Haushalt hineinbekommen, damit wir die Thera- den über 80-Jährigen wird es noch schlimmer. peutikaentwicklung machen können. Aber ich frage mich: Wo ist denn in Ihrem Beschluss (B) (Christian Lindner [FDP]: Gegen wen kämpfen die Strategie für diese besonders gefährdete Gruppe? (D) die? Wer ist dagegen?) Herr Brinkhaus, Sie haben es ja auch angemahnt. Aber warum wird denn da nichts getan? Es sind zwei Strategien. Die eine betrifft den Impfstoff, der notwendig ist. Aber wir brauchen auch die Medika- (Beifall bei der FDP) mente gegen Covid, damit wir den Verlauf so einer FFP2-Masken sind ja richtig; aber der 1. Dezember ist Krankheit lindern und in den Griff bekommen können. viel zu spät. Antigen-Schnelltests, die durch das Personal Herzlichen Dank für die große Kraftanstrengung! in den Pflegeeinrichtungen, das sowieso schon überlastet ist, selbst vorgenommen werden müssen, sind doch auch (Beifall bei der CDU/CSU – Alexander nicht der richtige Weg. Dobrindt [CDU/CSU], an die Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Haben Sie schon mal an den Einsatz mobiler Schnell- NEN] gewandt: Danke für den Maskenhin- testteams gedacht? Haben Sie schon mal an zentrale Test- weis! – Gegenruf der Abg. Claudia Roth stellen für das Personal in Pflegeeinrichtungen oder [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ambulanten Pflegediensten gedacht? Das ist doch der Ja, ich bin eine Nette!) richtige Weg. (Beifall bei der FDP) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Wir müssen doch das Ansteckungsrisiko dieser Risiko- Nächste Rednerin ist die Kollegin Christine gruppen auch außerhalb von Pflegeeinrichtungen redu- Aschenberg-Dugnus, FDP. zieren. Christian Lindner hat dazu konkrete Vorschläge (Beifall bei der FDP) gemacht, meine Damen und Herren. Im Einzelhandel bei 800 Quadratmetern Verkaufsfläche weniger Kunden zuzulassen oder ein Böllerverbot hilft diesen Gruppen Christine Aschenberg-Dugnus (FDP): überhaupt nicht. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nein, es gibt keine Entwarnung bei Covid-19. (Beifall bei der FDP) Aber umso wichtiger ist doch eine langfristige, differen- Wenn wir die Risikogruppen konsequent schützen, zierte Strategie zur Bekämpfung der Coronapandemie. dann sorgen wir gleichzeitig dafür, dass die Überlastung Ich bleibe dabei: Die Bundesregierung ist gerade auch der Intensivkapazitäten in den Kliniken reduziert wird, nach dem gestrigen Beschluss meilenweit von so einer meine Damen und Herren. Das ist doch unser gemein- differenzierten und langfristig angelegten Strategie ent- sames Ziel. Also lassen Sie uns das mit differenzierten fernt, meine Damen und Herren. Strategien gemeinsam anpacken! 24584 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Christine Aschenberg-Dugnus (A) Vielen Dank. Wir bestimmen durch unser Verhalten, wie sich die Zahl (C) der Neuinfektionen, der Krankenhauseinweisungen und (Beifall bei der FDP) die Auslastung der Intensivstationen entwickeln. Deshalb mein eindringlicher Appell: Bleiben Sie eigenverant- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: wortlich und solidarisch! Uns alle eint doch die Sorge Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Sabine Dittmar, um Erkrankte, chronisch Erkrankte und ältere Angehöri- SPD. ge. Deshalb: Nutzen Sie, wann immer möglich, die Vor- quarantäne! So verringern wir das Risiko, Infektionen da (Beifall bei der SPD) einzutragen, wo sie besonders fatale Folgen hätten. Wir alle müssen einen verantwortungsvollen Weg des Mitei- Sabine Dittmar (SPD): nanders finden, auch an den Festtagen. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Sehr geehrte Damen und Herren, es gibt aber auch gute Kollegen! Seit fast vier Wochen befinden wir uns im Nachrichten. Die Antigen-Schnelltests werden immer Lockdown light. Das waren vier Wochen, in denen uns zuverlässiger in ihrer Aussagekraft und unkomplizierter allen erneut viel abverlangt worden ist. Aber dank der in ihrer Anwendung. Das ist eine gute Perspektive. Auch Disziplin, der Solidarität und der Rücksichtnahme der im Bereich der Impfstoffentwicklung tut sich Gewaltiges. allermeisten Mitbürger und Mitbürgerinnen ist es uns Einige Impfstoffe durchlaufen derzeit die üblichen klini- gelungen, den exponentiellen Anstieg der Infektionszah- schen Studien, die notwendig sind, um einen Impfstoff len zu stoppen. Wir haben eine Stabilisierung, wir haben auf Verträglichkeit und Wirksamkeit zu testen, und die eine Seitwärtsbewegung der Zahl der Neuinfektionen Ergebnisse sind vielversprechend. Wenn alles gut läuft, erreicht. Das ist ein wichtiger Etappensieg. Dafür sage haben wir noch in diesem Jahr die ersten Chargen eines ich herzlichen Dank. Impfstoffes zur Verfügung. Das wäre ein Meilenstein im Kampf gegen die Pandemie. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Aber ich sage auch: Es war die erste Etappe; das Ziel haben wir noch nicht erreicht. Die Neuinfektionen müs- Leider werden immer wieder bewusst Fehlinformatio- sen signifikant weiter sinken, um unser Gesundheitssys- nen über die Impfungen verbreitet. Deshalb will ich es tem nicht an seine Grenzen zu führen. Deshalb begrüße noch einmal ganz klar und deutlich sagen: Nein, es wird ich ausdrücklich die gestern beschlossenen Vereinbarun- keine Impfpflicht geben. Das Gegenteil wird der Fall gen, die nun in Länderverordnungen transparent, begrün- sein: Wir werden sehr genau überlegen müssen, wer det und befristet umgesetzt werden. Das haben auch wir zuerst geimpft wird; denn der Bedarf wird in der ersten (B) als Gesetzgeber in der vergangenen Woche in der Novelle Phase wesentlich höher sein als die Verfügbarkeit der (D) des Infektionsschutzgesetzes so bestimmt. Impfstoffdosen. Die Ständige Impfkommission, der Deutsche Ethikrat und die Nationale Akademie der Wis- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Karin senschaften Leopoldina haben Empfehlungen erarbeitet, Maag [CDU/CSU]) und an diesen haben wir uns in der Gesetzgebung orien- Wir haben aktuell nur zwei Werkzeuge zur Hand: das tiert. konsequente Einhalten der Hygieneregeln AHA+A+L Menschen, die Covid-19-Erkrankte versorgen und sich und die Kontaktreduzierung. Das Virus hat nur die Chan- damit selbst einem Infektionsrisiko aussetzen, alte und ce, sich zu verbreiten, wenn wir es durch unser Verhalten chronisch kranke Menschen, also die für schwere und zulassen. Deshalb ist es weiterhin notwendig, uns im tödliche Krankheitsverläufe besonders anfällige Bevöl- privaten und im beruflichen Bereich kontaktmäßig einzu- kerungsgruppe, und Personen, die für das Gemeinwesen schränken. So schwer es auch ist, wir dürfen in unseren besonders relevante Funktionen erfüllen, werden die Anstrengungen nicht nachlassen. Wir können nur ge- Impfung als Erstes angeboten bekommen, und das ist meinsam gewinnen, durch verantwortungsvolles und richtig so. solidarisches Verhalten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD) Bund, Länder, Öffentlicher Gesundheitsdienst und Gerade jetzt in der Vorweihnachtszeit wünschen wir Ärzteschaft bereiten sich aktuell mit großem Engagement uns alle unseren Alltag zurück, so wie wir ihn kannten. auf die Umsetzung der nationalen Impfstrategie vor. Ab Aber ich glaube, es ist auch jedem klar: Dieses Weih- Mitte Dezember sollen die Impfzentren in allen Bundes- nachten wird anders. – Ich habe Verständnis für die gelo- ländern aufgebaut sein, damit es dann auch direkt los- ckerten Kontaktbeschränkungen während der Feiertage; gehen kann, wenn ein Impfstoff zur Verfügung steht. Weihnachten hat für viele von uns eine ganz besondere Das ist eine enorme logistische Herausforderung in der Bedeutung. Aber als Medizinerin weiß ich auch: Das ist Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. ein Ritt auf der Rasierklinge. Das Virus kennt kein Weih- nachten und kein Silvester. Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Bürgerinnen und Bürger, jetzt und in den nächsten Monaten ist die Es muss uns deshalb allen klar sein: Wir haben es in Solidarität gefragt. Gemeinsam können wir die Pandemie der Hand, nicht nur Weihnachten zu retten, sondern auch überwinden. Bleiben Sie gesund! Schützen Sie sich und die Wochen und Monate nach Weihnachten. andere! (Beifall bei der SPD) Ich danke für die Aufmerksamkeit. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24585

Sabine Dittmar (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sie lebensnah sind, dann bitte exakt! Von (C) der CDU/CSU) „Schülern“ sprach keiner! – Weitere Zurufe) – Alles gut. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Sie haben außerdem gefordert, dass wir die vulnerab- Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Nadine Schön, len Gruppen besonders schützen. Das ist auch das Kon- CDU/CSU. zept der AfD; falls man es überhaupt „Konzept“ nennen (Beifall bei der CDU/CSU) kann. Ich frage mich: Wie soll das denn funktionieren? Vulnerable Gruppen sind für mich die Seniorinnen und Senioren, natürlich diejenigen in den Pflegeheimen, aber Nadine Schön (CDU/CSU): auch diejenigen, die zu Hause leben, das sind die Men- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und schen in den Behinderteneinrichtungen. All diese Men- Kollegen! Ja, es ist hart. Es ist eine Advents- und eine schen kann man ja nicht unter einer Käseglocke einsper- Weihnachtszeit, wie wir sie nicht kennen: ohne ren. Weihnachtsmarktbesuche, ohne Besuch vom Nikolaus, ohne Treffen von Freunden, die man lange nicht gesehen (Zuruf des Abg. Ulrich Lechte [FDP]) hat. Ja, es ist hart. Der Dauerausnahmezustand in den Da sind überall Menschen. Sie arbeiten in den Pflege- Familien: Ständig ist ein Kind krank und kann nicht in heimen, in den Behinderteneinrichtungen; sie haben Schule oder Kindergarten, oder es ist ein Kind in Quaran- selbst Familie, Kinder, Kontaktpersonen, bei denen sie täne, oder die Arbeitskollegen sind krank oder in Quaran- sich anstecken können. Diese Menschen kann man nicht täne. Der Druck auf der Arbeit und in den Familien aussperren. Deshalb brauchen wir eine Strategie, um die- nimmt zu, und die üblichen Betreuungsmöglichkeiten, se Gruppe besonders zu schützen, aber zusätzlich zu die- die zur Entlastung dienen, wie die Omas und Opas fallen sen Maßnahmen und nicht stattdessen. auch noch weg. Das ist hart. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Es ist hart für Jugendliche, die ins Ausland wollten, SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- sich ausprobieren wollten, die in einem Lebensalter NEN) sind, wo man Freunde trifft, wo man Neues entdeckt, wo man sich auch auf die Abschlüsse vorbereitet. All Die Maßnahmen, die gestern beschlossen wurden, sind das ist nicht möglich. Es gibt Kinder, die diffuse Ängste lebensnah. Das eine oder andere, was im Vorfeld disku- haben, es gibt Senioren, die einsam sind, und es gibt vor tiert worden ist, war es nicht. Man kann einem Kind nicht allem Frauen und Kinder, die zu Hause Gewalt erfahren. erklären, dass es morgens mit 20 Kindern in der Kinder- Das ist schrecklich. gartengruppe zusammen ist, aber nachmittags nur noch (B) ein Kind sehen kann. Es ist gut, dass man darüber eine (D) Und Ihre Antwort, Frau Weidel, ist jetzt: Genau das Diskussion führen kann und solche Vorschläge auch ver- alles ist der Grund dafür, die Maßnahmen nicht zu ergrei- worfen werden. fen. – Das Gegenteil ist aber der Fall. Das Virus ist da, und wir müssen mit dem Virus umgehen und es bekämp- (Ulrich Lechte [FDP]: Kinder dürfen nachmit- fen. Wenn wir nichts tun, werden wir mehr Infektionen tags auch nur einen weiteren Haushalt sehen, haben, mehr Quarantänen, mehr Überforderungen und Frau Kollegin!) mehr Todesfälle. Deshalb müssen wir die Maßnahmen, Es ist gut, dass die Quarantänezeit auf zehn Tage redu- die gestern beschlossen wurden, durchführen, damit die ziert wird; das erspart auch einiges. Auch in den Schulen Zustände, die wir alle nicht wollen, nicht noch schlimmer darf es nicht nur Schwarz oder Weiß geben, nicht nur werden. Präsenz oder digital. Wir müssen die Möglichkeiten, die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- die Digitalisierung uns bietet, ausnützen, und zwar jeder neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE so, wie es zu seinem Standort passt. Es gibt Schulen, da GRÜNEN) geht es besser, und es gibt Schulen, da geht es nicht so gut. Und unser Bestreben muss doch sein, dass wir alles, Es geht – das wurde gestern gesagt – um eine empa- was irgendwie möglich gemacht werden kann, auch mög- thische Balance; es geht um lebensnahe und möglichst lich machen. Wir als Bund bringen uns da ein. Wir haben ausgewogene Lösungen. Und wenn ich dann die Reden den DigitalPakt Schule entschlackt; wir haben außerdem heute von der Opposition höre, muss ich sagen: Da ist noch mal jeweils eine halbe Milliarde Euro draufgesattelt vieles nicht lebensnah. Herr Lindner, Ihr Vorschlag, die für Lehrerlaptops, Schülerlaptops und auch für die Admi- Kinder mit dem Taxi zur Schule zu bringen, funktioniert nistratoren. vielleicht noch ein bisschen in Berlin-Mitte; aber in mei- nem Flächenlandkreis, wo es, glaube ich, 20 Taxibetriebe (Zuruf des Abg. Dr. Jens [Rhein- gibt, die dann mehrere Tausend Schüler in die Schulen Neckar] [FDP]) bringen sollen, funktioniert das nicht. Das ist nicht Wir tun und unterstützen, wo wir können, und gemeinsam lebensnah. können wir es schaffen, dass wir auch in Schulen zu besseren Zuständen kommen, als es derzeit der Fall ist. (Beifall bei der CDU/CSU – Christian Lindner [FDP]: Das war nicht mein Vorschlag! Frau (Ulrich Lechte [FDP]: Da hatten Sie ein halbes Schön, mein Vorschlag war, dass die Gefährde- Jahr Zeit für, und es ist nichts passiert! Gar ten Taxigutscheine bekommen! Sie zitieren nichts! – Gegenruf der Abg. Britta Haßelmann mich falsch! Lesen Sie das Protokoll! Wenn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fragen Sie 24586 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Nadine Schön (A) mal Ihre Frau Gebauer in Nordrhein-Westfa- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ (C) len!) CSU und der FDP – Ulrich Lechte [FDP]: Wenigstens die SPD hat es begriffen!) Als Bund unterstützen wir all die betroffenen Gruppen und vor allem die Familien. Wir können nicht jede Belas- Es ist auch wichtig, weil wir wissen, dass, wenn wir die tung nehmen; aber wir haben dafür gesorgt, dass die Schulen schließen, diejenigen am meisten davon betrof- größten finanziellen Belastungen wegfallen, dass es in fen sind, die es im Alltag und in der Schule ohnehin am den Familien Kurzarbeitergeld gibt, dass die Familien schwersten haben. Es geht jetzt nicht um irgendwelche mit besonders kleinem Einkommen den Kinderzuschlag Metaphern, sondern es geht darum, dass tatsächlich kein beantragen können, den wir noch mal entbürokratisiert Kind in dieser Krise zurückbleibt. Deshalb lohnt es sich, haben. Das wird auch rege genutzt. Wir haben dafür für das Recht auf Bildung zu kämpfen. gesorgt, dass es mehr Tage gibt, an denen man für die (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Betreuung der Kinder zu Hause bleiben kann. Die Lohn- ersatzleistungen im Infektionsschutzgesetz haben wir Wir wissen: Wir müssen dafür gute Rahmenbedingun- eingeführt. Wir haben die Familienpflegezeit und die gen schaffen. Und wir wissen genauso gut, dass wir das Pflegetage angepasst für die Familien, die zu pflegende noch nicht ganz geschafft haben. Das hat damit zu tun, Personen zu Hause haben. dass Deutschland zu spät mit der Digitalisierung in den Schulen angefangen hat, und zwar nicht nur der Bund, Und wir tun alles – das ist mir besonders wichtig –, und sondern auch die Länder. In den Landesregierungen sind vor allem die Kommunen tun alles, um die Jugendhilfe ja auch ziemlich viele Parteien beteiligt, die auch hier aufrechtzuerhalten. Die Jugendhilfe aufrechtzuerhalten, vertreten sind. die Betreuung von Familien mit Schwierigkeiten sicher- zustellen, das muss unser Ziel sein; das muss an oberster Jetzt nehmen wir aber sehr viel Geld in die Hand – Stelle stehen. Das sind eben auch vulnerable Gruppen, darüber ist hier gerade referiert worden –: Der Digital- und um die müssen wir uns besonders kümmern; deshalb Pakt Schule wurde von 5 auf 6,5 Milliarden Euro aufge- tun wir gemeinsam alles, um die Jugendhilfe offen zu stockt. Im Übrigen: Zu Beginn der Wahlperiode waren halten. wir bei 0 Euro. Das ist ein enormer Schub, den wir der Digitalisierung geben. Wir sind getragen von der Ein- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sicht, dass das digital unterstützte Lernen auch nach der Krise bleiben wird. Es wird den Schulalltag, den Unter- Liebe Kolleginnen und Kollegen, es sind empathische richt positiv verändern und erweitern. Wir hoffen, dass Lösungen; den Satz will ich unterstreichen. Es ist trotz- der DigitalPakt mit 6,5 Milliarden Euro jetzt in der Krise dem hart, vor allem für die Familien in unserem Land. schnell hilft; aber wir verbinden damit auch die Hoff- (B) Deshalb bedanke ich mich bei allen, die das mittragen, (D) nung, dass in Deutschland das digital unterstützte Lernen die gemeinsam durch diese schwere Zeit gehen, die viel- nachhaltig gefördert wird und wir auf Augenhöhe mit leicht auch mal das Positive darin sehen: die Ruhe, die anderen Ländern kommen. Das ist auch notwendig, damit Zeit und auch die Muße, sich um diejenigen zu kümmern, wir Schule positiv in die Zukunft entwickeln können. die es besonders schwer haben. Das ist unsere gemein- same Aufgabe in den nächsten Wochen bis Weihnachten (Beifall bei der SPD) und darüber hinaus. Da sollten wir zusammenstehen und nicht spalten. Ich habe in den Beschlüssen von gestern gelesen, dass auch Einzelentscheidungen der Länder und Schulen mög- (Beifall bei der CDU/CSU – lich sind, wie sie, je nach Infektionsgeschehen, den [AfD]: Sollen wir die Zeit zur Meditation nut- Unterricht gestalten. Ich verstehe das als Bekenntnis der zen, oder was?) Länder zum Präsenzunterricht. Wir von der SPD hätten uns mehr gewünscht im Hinblick auf Wechsel- und Hyb- ridunterricht. Wir sind auch überrascht, dass in den Län- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: dern die entsprechenden Vorkehrungen noch nicht getrof- Jetzt hat das Wort der Kollege Oliver Kaczmarek, fen worden sind. Wenn die Schulen jetzt tatsächlich in die SPD. Verantwortung gehen, selbst Entscheidungen treffen, weil sie wissen, was für ihre Schülerinnen und Schüler (Beifall bei der SPD) gut ist, dann müssen die Länder und die Schulaufsicht als ihre Partner agieren. Schulen dürfen damit nicht alleinge- Oliver Kaczmarek (SPD): lassen werden. Die Länder sind jetzt gefordert, dafür die Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn die entsprechenden Voraussetzungen zu schaffen. Regierungschefs von Bund und Ländern in ihren Be- (Beifall bei der SPD) schlüssen von gestern dem Offenhalten von Schulen und Kitas höchste Priorität einräumen, dann ist das auch Über 8 Millionen Schülerinnen und Schüler an allge- ein Bekenntnis zum Recht auf Bildung. Das ist auch not- meinbildenden Schulen können jeden Tag trotz vieler wendig; denn wir wissen, dass, wenn Schulen geschlos- Quarantänefälle ihr Recht auf Bildung wahrnehmen; sie sen werden, Lernrückstände bei Schülerinnen und können jeden Tag in die Schule gehen. Es sind übrigens Schülern eintreten, die langfristig zu Nachteilen führen. auch mehr als dreieinhalb Millionen Kinder, die jeden Wir wollen dagegen ankämpfen, dass es eine Corona- Tag in den Kindergarten gehen. Das ist eine großartige generation gibt; deswegen ist es wichtig, die Schulen Leistung, die unsere Schulen und Kitas jeden Tag aufs offen zu halten. Neue erbringen. Dafür, dass das gelingt, herzlichen Dank Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24587

Oliver Kaczmarek (A) an Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer, deutschen Gesundheitswesen. Solidarität und Subsidiari- (C) die sich für unsere Kinder in dieser schwierigen Situation tät sind auch die Grundprinzipien unseres Kampfes gegen einsetzen! Corona. Laufenlassen ist keine Antwort, die geht. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und CDU/CSU) der SPD) Eine andere Anmerkung: Der erste Impfstoff weltweit Ich sage nicht, dass die USA es laufen lassen würden, mit Erfolgsaussicht wurde in Deutschland von deutschen weil ja auch in den USA viele, viele Maßnahmen ergrif- Forschern entwickelt. Das hat nicht die Große Koalition fen worden sind. Aber ich will einmal die 262 000 Coro- gemacht, sondern das haben Forscherinnen und Forscher natoten bei 328 Millionen Einwohnern in den USA mit gemacht; aber das hat etwas mit langfristig angelegter den Verhältnissen hier vergleichen. Wenn das die Ver- Forschungspolitik zu tun, die jetzt über mehr als zwei hältnisse hier wären, dann hätten wir bei 82 Millionen Jahrzehnte von verschiedenen Regierungskoalitionen Einwohnern 65 000 Tote statt der – schlimm genug und getragen worden ist. Sie gibt der Forschung Sicherheit, in jedem Einzelfall kaum zu ertragen – 15 000 Toten. übrigens auch dem Unternehmen, das in Rede steht, das Deswegen haben wir dank der Maßnahmen mindestens in der Frühphase – was, glaube ich, noch wichtiger als diese Differenz von 50 000 Menschenleben. Ich glaube, jetzt ist – auch mit Mitteln des Bundes gefördert worden gegenüber dem, was an uns herangetragen wird, dass wir ist. es eigentlich machen sollten – alles laufen lassen –, haben wir hunderttausend Menschenleben in diesem Jahr geret- Deswegen ist es so wichtig, dass wir in dieser Koali- tet. tion dafür gesorgt haben, dass der Rahmen für Forschung auch im nächsten Jahrzehnt gut bleibt. Denn – das ist für Dafür bin ich allen dankbar, die daran mitgewirkt uns wichtig, das ist auch für die SPD besonders wichtig – haben: Forschung ist auch in Krisen kein Schmuck, sondern ein (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Fundament für unsere Gesellschaft, ein Fundament für neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE den Fortschritt unserer Gesellschaft. Deshalb ist es wich- GRÜNEN und des Abg. Dr. Dietmar Bartsch tig, dass wir weiterhin eine hohe Priorität auf Forschung [DIE LINKE]) legen und Geld für Forschung bereithalten. den Menschen, die sich an die Regeln halten, den Men- Herzlichen Dank. schen in den Praxen, den medizinischen Fachangestell- ten, den Ärztinnen und Ärzten, die dafür sorgen, dass (Beifall bei der SPD) nicht jeder ins Krankenhaus geschickt wird, denen, die (B) in den Krankenhäusern ihren Dienst tun, denen, die in den (D) Vizepräsident : Gesundheitsämtern ihren Dienst tun, aber auch denen, die Vielen Dank, Herr Kollege Kaczmarek. – Nächster im politischen Raum, im Bundesministerium für Gesund- Redner ist der Kollege Rudolf Henke, CDU/CSU-Frak- heit, in den Länderministerien, im RKI und wo auch sonst tion. noch überall, ihre Leistung dafür erbracht haben, dass hunderttausend Menschen in diesem Jahr das Leben (Beifall bei der CDU/CSU) gerettet worden ist. Ich finde, das ist Teil einer guten Bilanz. Rudolf Henke (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mei- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE ne Damen und Herren! Vor wenigen Tagen hat digital, GRÜNEN) nicht wie sonst hier in Berlin, die 32. Konferenz der Fach- berufe im Gesundheitswesen stattgefunden. Vor den 40 Jetzt stellt sich die Frage: Wie wird es denn in Zukunft beteiligten Organisationen hat das Mitglied des Präsi- sein? Machen wir weiter mit einem Lockdown nach dem diums des 3. Ökumenischen Kirchentages 2021 in Frank- anderen? – Ja, es ist wahr: Wir waren im ersten Lock- furt, Herr Professor Eckhard Nagel, daran erinnert, was down innerhalb von sechs Wochen von dem Schwellen- Gesundheit eigentlich ist. wert 50 Infizierter pro 100 000 Einwohner in sieben Tagen bei Verhältnissen von unter 5 – innerhalb von sechs Gesundheit ist wie Frieden, Sicherheit und Freiheit ein Wochen. Jetzt haben wir es in den vergangenen sechs besonderes, ein transzendentales, ein konditionales Gut. Wochen geschafft, dazu zu kommen, dass wir eine Seit- Konditionale Güter sind die Bedingung der Möglichkeit wärtsentwicklung haben. Das weist darauf hin, dass wir zum Genuss aller anderen Güter. Der Einzelne kann eine Erfahrung gemacht haben, die wir jetzt vielleicht selbst zum Erhalt seiner Gesundheit beitragen, allerdings noch einmal umsetzen sollten, aber nicht als dauerhafte nur bedingt und nur in dem Umfang, in dem auch andere Perspektive. auf den Erhalt seiner Gesundheit Rücksicht nehmen. Und Die dauerhafte Perspektive besteht vielmehr darin, eine Gesellschaft ohne ausreichende Versorgung mit kon- dass wir uns vorbereiten auf die Impfkampagnen, mit ditionalen Grundgütern ist keine gerechte Gesellschaft. denen wir die Situation ändern können. Die Impfstoffe Deshalb bedarf es gesellschaftlicher Regelungen. an die Menschen zu bringen, wird, wenn es genügend Laufenlassen, ob im Allgemeinen oder ob in dieser Dosen gibt, kein Hexenwerk sein. Es wird sehr davon konkreten Situation der Coronapandemie, ist ein Verstoß abhängen, welche Impfstoffe in welcher Menge verfüg- gegen diesen Gedanken. Was wir brauchen, sind Solida- bar sind. Aber im Kern sind wir in Deutschland mit den rität und Subsidiarität. Das sind die Grundprinzipien im niedergelassenen Ärzten, mit denen in den Krankenhäu- 24588 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Rudolf Henke (A) sern und mit den Betriebsärzten natürlich in der Lage, am das auch richtig zu erklären und den Nebelkerzen, die (C) Tag bis zu 500 000 Menschen zu impfen. Wir können in ganz rechts ständig gezündet werden, auch entschlossen kurzer Zeit einen Immunitätsschutz für eine hohe Zahl entgegenzutreten. von Menschen zustande bringen. Bei mir steht ganz oben ein hehres gesundheitspoliti- Weil diese Perspektive da ist, sollten wir nach allem, sches Ziel. Unserem Gesundheitswesen, meine Damen was wir über die erlangbaren Dosierungen wissen, in der und Herren, ist eine Rationierung fern; Gott sei Dank. Lage sein, die 27 Millionen Menschen, die besonders Wir überlegen uns nicht: Ist der alte, ist der multimorbide gefährdet sind, und die Menschen, die im Gesundheits- Mensch die Maßnahme, den Eingriff noch wert? Und das wesen, im Pflegewesen, in Behinderteneinrichtungen muss so bleiben, auch in der Pandemie. Das halte ich für besonders exponiert sind, auch in einer kurzen Zeit zu ganz wesentlich. Deshalb freue mich, dass es uns jeden- impfen. Wir haben ja jetzt in wenigen Monaten über falls mit den bisher getroffenen Maßnahmen gelungen ist, 20 Millionen Menschen gegen Grippe geimpft. Warum zu verhindern, dass die Ärzte eine Triage durchführen soll das bei der Coronaimpfung nicht möglich sein? und entscheiden müssen, wer beatmet wird und wer nicht, Natürlich ist das in wenigen Monaten stemmbar. Und wer sterben muss und wer leben darf. Das halte ich für dann ändert sich die Situation. ganz zentral. Wenn man das den Menschen erklärt, dann Deswegen trete ich dafür ein, dass wir bis dahin, mög- verstehen sie auch unser Engagement an dieser Stelle. lichst noch in diesem Jahr, einen neuen Coronaindex ent- Zweitens. Wir haben immer über ein Ziel gesprochen, wickeln, in dem wir nicht nur Infektionszahlen auflisten, das heute von manchen als Licht am Ende des Tunnels sondern mindestens auch die Zahl jener, die aus dem qualifiziert wurde, nämlich über das Ziel, impfen zu kön- Kreis der Gefährdeten und aus dem Kreis derer, die in nen. Nun tun einige ganz gezielt so, als sei das Licht am Berufen arbeiten, wo sie mit Menschen in Kontakt kom- Ende des Tunnels der entgegenkommende Zug. Das men und sich besonders exponieren, bereits Immunitäts- ärgert mich; denn das Entscheidende, meine Damen und schutz genießen. Wenn uns das gelingt, haben wir ein Herren, ist doch, dass wir letztendlich mit Viren nur auf gutes Steuerungsinstrument in der Hand: Dann können diese Art und Weise umgehen können. Wir müssten mitt- wir die Maßnahmen erstens an der Infektionshäufigkeit – lerweile doch eigentlich wissen, dass Impfen die große gesundheitsstrategische Leistung der Menschheit ist. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss bitte. der SPD)

Rudolf Henke (CDU/CSU): Ich füge hinzu: Ich bin immer ein bisschen skeptisch, (B) – und zweitens an der Zahl der in der Impfkampagne wenn in der politischen Debatte neue Subziele nach oben (D) Immunisierten orientieren. Dann wird es besser, und es ist geschoben werden. Ob es uns in absehbarer Zeit gelingt, Licht am Horizont. mit Blick auf die Nachvollziehbarkeit, unter den Wert von 50 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner zu kom- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. men, das sei dahingestellt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Ich sage auch: Wenn man den Menschen erklären will, ordneten der SPD) warum wir das tun, dann ist es schon wichtig, dass man alles ganz genau abwägt. Ich sage offen: Die 800-Quad- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: ratmeter-Grenze im Einzelhandel ärgert mich schon Vielen Dank, Herr Kollege Henke. – Letzter Redner zu allein deshalb, weil man diesen Versuch schon einmal diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Georg unternommen hat und schon einmal vor dem Verwal- Nüßlein, CDU/CSU-Fraktion. tungsgericht bei ähnlicher Ausgestaltung gescheitert ist. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. (Beifall des Abg. Ulrich Lechte [FDP]) Sabine Dittmar [SPD]) Das wird uns an dieser Stelle wieder blühen. Darum ver- stehe ich nicht, warum man so etwas wiederholen muss. Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Am (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Ende der Debatte will ich noch einmal unterstreichen, der FDP) dass – jedenfalls meiner Wahrnehmung nach – eine breite Das Gleiche betrifft die Thematik Böllerverbot. Ich Mehrheit in diesem Hohen Haus der Meinung ist, dass die meine jetzt nicht die vorgesehene Ausgestaltung – mit Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz verant- der kann man umgehen – sondern die Vorschläge, die wortlich, verantwortbar und in ihren Konsequenzen ursprünglich im Raum standen. Da haben wir letzte auch zumutbar sind. Nur, meine Damen und Herren, ent- Woche über das Thema „Geeignetheit, Verhältnismäßig- scheidend ist, dass all das durch die Eigenverantwortung keit“ diskutiert, und dann kommt so ein Vorschlag, der der Menschen mit begleitet wird. Wir werden nicht in der offenkundig ganz wenig mit der Thematik zu tun hat. Das Lage sein, an Weihnachten schon gar nicht, zu kontrol- dient geradezu dazu, das Thema zu verunglimpfen. lieren, wie viele Menschen sich letztendlich treffen – bis ins Letzte. Wir werden darauf setzen müssen, dass die Das Thema, dass ein Kind nur ein weiteres Kind am Menschen all das nachvollziehen und verstehen. Deshalb Nachmittag treffen darf, hat die Kollegin Schön vorhin ist es unsere Verantwortung, meine Damen und Herren, schon richtig ausgeführt. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24589

Dr. Georg Nüßlein (A) Und deshalb weise ich an dieser Stelle ganz nach- Drucksache 19/23974 (C) drücklich darauf hin. Ich verstehe den Pandemieverdruss der Menschen. Ich verstehe, dass manche nervös werden. Die Fraktion der SPD schlägt auf der Drucksache Deshalb müssen wir bei unserer Argumentation schon 19/24650 die Abgeordnete Dagmar Ziegler vor. Die Frak- sehr genau aufpassen, was wir tun. Insbesondere verstehe tion der AfD schlägt auf der Drucksache 19/23974 den ich es bei denen, die ökonomisch maßgeblich von den Abgeordneten Dr. vor. Beide Wahlen erfol- Maßnahmen betroffen sind. Und davon gibt es eine Men- gen mit verdeckten Stimmkarten, also geheim. Gewählt ge. Die Bundeskanzlerin hat es heute vollkommen richtig ist jeweils, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder formuliert: Etliche tragen hier eine besondere Last, und des Bundestages erhält, also mindestens 355 Jastimmen. das tun sie für uns. Deshalb sind die Hilfen, meine Damen Die Wahlen erfolgen in der Abgeordnetenlobby. Um und Herren, keine Almosen; vielmehr ist es unsere ver- größere Ansammlungen von Personen vor den Wahlkabi- dammte Pflicht, die Einbußen dann auch entsprechend zu nen zu vermeiden und um den notwendigen Abstand von- entschädigen. Und Entschädigungsleistungen müssen einander wahren zu können, haben Sie nach Eröffnung beizeiten ankommen. Mich ärgert dann schon, wenn die der Wahlen drei Stunden Zeit, um Ihre Stimmen abzu- Diskussion mit der Europäischen Kommission letztend- geben. lich dazu führt, dass sich die Einleitung der Maßnahmen verzögert. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das (Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Die ist müsste zu machen sein!) nicht das Problem! Das wissen Sie auch!) Ich wäre Ihnen dankbar, wenn in den ersten eineinhalb Das ärgert mich schon deshalb, weil, ich gerade gesagt Stunden möglichst nur die Kolleginnen und Kollegen zur habe, dass es Schadensersatz ist und logischerweise keine Wahl gehen, deren Nachnamen mit den Buchstaben A bis Beihilfe. K beginnen, und anschließend diejenigen, deren Nach- namen mit den Buchstaben L bis Z beginnen, folgen. (Zuruf des Abg. Alexander Dobrindt [CDU/ CSU]) Für beide Wahlen benötigen Sie den Wahlausweis in Und deshalb glaube ich, meine Damen und Herren, der Farbe Weiß aus Ihrem Stimmkartenfach. In der Ab- dass wir etwas auf dem Tisch liegen haben, das richtig geordnetenlobby erhalten Sie an den Ausgabetischen und wichtig ist, das uns in den nächsten Wochen helfen nach Vorzeigen Ihres Wahlausweises zwei Stimmkarten wird, gerade gesundheitspolitisch helfen wird, das uns in den Farben Grün und Gelb. Da die Wahlen geheim aber ökonomisch logischerweise weiter in Schwierigkei- durchzuführen sind, erhalten Sie zusätzlich einen Wahl- ten bringt und das natürlich eine Menge an Geld kostet. umschlag, in den beide Stimmkarten einzulegen sind. Am (B) Deshalb werden wir in den nächsten Wochen auch über Ausgabetisch erhalten Sie also zwei Stimmkarten und (D) die Frage diskutieren müssen: Wie ist eigentlich der einen Wahlumschlag in einem Paket. Anspruchsrahmen rechtlich zu gestalten? Die Wahl ist geheim, das heißt, Sie dürfen Ihre Stimm- karten nur in der Wahlkabine ankreuzen und müssen bei- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: de Stimmkarten ebenfalls noch in der Wahlkabine in den Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss bitte. Umschlag legen. Ich weise explizit darauf hin, dass das Fotografieren oder Filmen der ausgefüllten Stimmkarte Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): einen Verstoß gegen das Wahlgeheimnis darstellt und die Und insbesondere: Welchen Beitrag haben die Bundes- Ordnung und Würde des Hauses verletzt. Für den Fall, länder an der Stelle zu leisten? dass ich von solchen Verstößen gegen das Wahlgeheimnis in dieser Sitzung oder später Kenntnis erlange, behalte Vielen herzlichen Dank. ich mir schon jetzt vor, Ordnungsmaßnahmen zu ergrei- (Beifall bei der CDU/CSU – Jan Korte [DIE fen. LINKE]: Das war ja nicht so strukturiert argu- mentiert! Nicht ganz leicht, zu folgen! – (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sehr Gegenruf des Abg. Dr. Georg Nüßlein [CDU/ gut!) CSU]: Sie haben es nicht verstanden!) Die Schriftführerinnen und Schriftführer sind ver- pflichtet, alle, die ihre Stimmkarten außerhalb der Wahl- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: kabine kennzeichnen oder in den Umschlag legen, Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Nüßlein. – Damit zurückzuweisen. Die Stimmabgabe kann in diesem Falle schließe ich die Aussprache über die Regierungserklä- jedoch vorschriftsmäßig wiederholt werden. Gültig sind rung der Bundeskanzlerin. nur die Stimmkarten mit einem Kreuz entweder bei „ja“, „nein“ oder „enthalte mich“. Ungültig sind Stimmen auf Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 und 8 auf: nichtamtlichen Stimmkarten sowie Stimmkarten, die Wahlvorschlag der Fraktion der SPD mehr als ein Kreuz, kein Kreuz, andere Namen oder Wahl einer Stellvertreterin des Präsidenten Zusätze enthalten. Drucksache 19/24650 Bevor Sie den Wahlumschlag mit den darin enthalte- nen Stimmkarten in die Wahlurne werfen, müssen Sie der Wahlvorschlag der Fraktion der AfD Schriftführerin oder dem Schriftführer an der Wahlurne Wahl eines Stellvertreters des Präsidenten Ihren Wahlausweis übergeben. Die Abgabe des Wahl- 24590 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Vizepräsident Wolfgang Kubicki (A) ausweises dient als Nachweis für die Beteiligung an der d) Beratung des Antrags der Abgeordneten (C) Wahl. Kontrollieren Sie daher bitte, ob der Wahlausweis Mariana Iris Harder-Kühnel, Martin auch wirklich Ihren Namen trägt. Reichardt, Johannes Huber, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der AfD (Heiterkeit des Abg. Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]) Lebensrecht Ungeborener gewährleisten – Gesetzliche Regelungen zur Schwanger- – Herr Kollege Grosse-Brömer, Sie müssen gar nicht schaftskonfliktberatung verbessern lachen. Das ist regelmäßig bei Abstimmungen vorge- kommen. Drucksache 19/24657 Überweisungsvorschlag: (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Präsi- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) diale Fürsorge, ich weiß!) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Gesundheit Bitte gehen Sie nicht alle gleichzeitig zur Abstim- e) Beratung des Antrags der Abgeordneten mung. Denken Sie an die Pflicht zum Tragen der Mariana Iris Harder-Kühnel, Martin Mund-Nase-Bedeckung, und halten Sie bitte den Sicher- Reichardt, Johannes Huber, weiterer Abge- heitsabstand ein. ordneter und der Fraktion der AfD Da die Schriftführerinnen und Schriftführer, wie mir Wertewandel im öffentlichen Rundfunk mitgeteilt worden ist, die Plätze bereits eingenommen und an öffentlichen Schulen – Hervorhe- haben, eröffne ich die Wahlen. Die Schließung der Wah- bung der Bedeutung von ungeborenem len erfolgt um 14.18 Uhr.1) Leben und Neugeburten für Verfassung, Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 10 a bis 10 e Staat und Gesellschaft auf: Drucksache 19/24652

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Überweisungsvorschlag: Martin Reichardt, Mariana Iris Harder- Ausschuss für Kultur und Medien (f) Kühnel, Frank Pasemann, weiterer Abgeord- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe neter und der Fraktion der AfD Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- zung Aktive Familienpolitik durch Baby-Will- kommensdarlehen Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- ner dem Kollegen Martin Reichardt, AfD-Fraktion, das (B) Drucksache 19/24672 Wort. (D) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) (Beifall bei der AfD) Finanzausschuss Haushaltsausschuss Bevor der Kollege Reichardt zum Rednerpult kommt, will ich noch darauf hinweisen, dass für die Aussprache b) Beratung des Antrags der Abgeordneten eine Dauer von 60 Minuten beschlossen worden ist. – Martin Reichardt, Mariana Iris Harder- Herr Kollege, einen ganz kleinen Moment bitte. Kühnel, Frank Pasemann, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der AfD (Martin Reichardt [AfD]: Aber gerne!) Umsatzsteuer auf Babywindeln absenken Mir ist mitgeteilt worden, dass der Kollege Magnitz das Plenum ohne Maske erreicht hat. Ich nehme an, Drucksache 19/24656 dass das ein Versehen gewesen ist, und bitte darum, auf Überweisungsvorschlag: das Tragen der Maske zu achten; denn die Maskenpflicht Finanzausschuss (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gilt auch für die Abgeordneten des Deutschen Bundes- tages. Das Präsidium hat sich darauf verständigt, dass bei c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Verstößen neben Ordnungsrufen auch weiter gehende Mariana Iris Harder-Kühnel, Marc Bernhard, Ordnungsmaßnahmen bis zum Sitzungsausschluss ergrif- Dietmar Friedhoff, weiterer Abgeordneter fen werden sollen. Darauf weise ich ausdrücklich hin. Es und der Fraktion der AfD macht tatsächlich keinen Sinn, diese Form der Demonst- Verwirklichung des Kinderwunsches – ration hier vorzunehmen. Unterstützung der Entscheidung für ein Herr Kollege, Sie haben das Wort. drittes Kind Drucksache 19/24673 Martin Reichardt (AfD): Überweisungsvorschlag: Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Herren! Eine Gesellschaft, in der immer weniger Kinder Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz geboren werden, zeigt einen Mangel an Zuversicht. Der Finanzausschuss Mut zu Kindern, der Mut zur Zukunft sind eng miteinan- Haushaltsausschuss der verknüpft. In Deutschland gibt es leider wenig Mut zur Zukunft, wenig Zuversicht; denn unter den 226 Län- 1) Ergebnisse Seite 24637 A und Seite 24637 B dern weltweit sind wir bei der Geburtenrate auf Rang 213. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24591

Martin Reichardt (A) Mit unserem Antrag für ein zinsloses und ab dem drit- rungen der letzten Jahre hauptsächlich ihr Augenmerk (C) ten Kind nicht rückzahlbares Baby-Willkommensdarle- gelegt haben. Nein, es geht auch um die soziale Wert- hen wollen wir besonders jungen Paaren in Deutschland schätzung von Familien. Mut machen: Mut zur Zukunft mit Kindern, Mut zur Zukunft Deutschlands. (Beifall bei der AfD) Aus einem halben Jahrhundert deutscher Familienpo- (Beifall bei der AfD) litik sind Eltern und Kinder leider mit dem Image von Nachdem Sie unseren Antrag auf Mehrwertsteuersen- Almosenempfängern hervorgegangen. Die Wahrheit kung für Kinderprodukte abgelehnt haben, fordern wir aber ist eine andere: Das Kindergeld, das der Staat aus- heute, wenigstens die Mehrwertsteuer für Babywindeln zahlt, wird bereits durch die Familien selbst über indirek- auf 7 Prozent zu reduzieren. Damit wollen wir die Dis- te Steuern wieder aufgebracht. Die Wahrheit ist, dass kriminierung von Babys beenden. Dies ist wichtiger als Eltern Transferleistungen für Kinderlose erbringen; Ihre feministische Tamponsubvention. denn ihre Kinder zahlen die Renten von denen, die – viel- leicht auch mit Blick aufs Klima – keine Kinder haben (Beifall bei der AfD – Lachen der Abg. Leni wollen. Breymaier [SPD]) Eine Gesellschaft, die immer weniger Kinder be- Seit 1972 gibt es in Deutschland ein Geburtendefizit. kommt, zeigt einen Mangel an Zuversicht, zeigt einen Das heißt, es werden weniger Kinder geboren, als Men- Mangel an Mut zur Zukunft. Wir als AfD haben Zuver- schen sterben. Im vergangenen Jahr sind 170 000 Men- sicht, wir haben Mut, wir haben Mut zur Zukunft mit schen mehr gestorben, als geboren wurden. Kindern. Deutschland überaltert, und das hat weitreichende Fol- (Zurufe der Abg. Norbert Müller [Potsdam] gen für unsere Sozialsysteme, für unsere Rentenkasse [DIE LINKE] und Dr. Wolfgang Strengmann- und damit für den sozialen Frieden in Deutschland. Sie Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) reden von Überalterung, nicht von Kinderlosigkeit. Das ist kein Wunder; denn leider scheint die Eingangsqualifi- Für ein familienfreundliches Deutschland! Für mehr Kin- kation für unsere politischen Eliten zunehmend die Kin- der! derlosigkeit zu sein. Leider kümmern sich die Merkels, Vielen Dank. Roths, Spahns und Scholz’ nicht genügend um Kinder. (Beifall bei der AfD) Auch der heute vielzitierte Fachkräftemangel ist eine Folge der Kinderlosigkeit. Er ist nicht zu bekämpfen, (B) indem man anderen Ländern die Fachkräfte entzieht, son- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (D) dern indem man den Kinderwunsch in Deutschland end- Vielen Dank, Herr Kollege Reichardt. – Mir ist soeben lich unterstützt. vom Sitzungsdienst mitgeteilt worden, dass der Kollege Magnitz den Saal ohne Maske verlassen hat. (Beifall bei der AfD) (Zuruf: Er hat ein Attest vorgelegt! Das wird Deutschland braucht mehr Kinder. Dazu brauchen erst mal geprüft!) wir – ich zitiere hier Markus Söder von 2004 – „eine aktive Bevölkerungspolitik“. Bevölkerungspolitik heißt – Wir prüfen jetzt, ob er ein gültiges Attest hat. Sollte er aber auch, den Menschen offen zu sagen, dass wir mehr kein gültiges Attest haben, bekommt er nicht nur einen Kinder brauchen. Das heißt auch, dass kinderfeindliche Ordnungsruf, sondern die Androhung eines Ordnungs- Aktivisten, die propagieren, dass der Verzicht auf Kinder geldes. gut für das Klima sei, nicht ins Kanzleramt eingeladen Ich sage noch einmal: Nehmen Sie das bitte ernst. Wir werden, meine Damen und Herren. werden die Maskenpflicht durchsetzen, notfalls auch (Beifall bei der AfD) durch Sitzungsausschluss. Wenn es Mitglieder des Hau- ses gibt, die ihre Maske vergessen haben sollten: Wir sind Sie sollten diesen Aktivisten lieber erklären, dass nicht in der Lage, auszuhelfen – sowohl hier vorne als auch geborene Kinder auch nicht für die Rente der heutigen durch die Bediensteten des Deutschen Bundestages vor Fridays-for-Future-Generation einzahlen werden. dem jeweiligen Zugang zum Plenarsaal. Das Verleugnen der Auswirkungen auf unsere Zukunft Herr Kollege, vielen Dank für Ihren Beitrag. ohne genug Kinder ist das größte politische Versagen der letzten Jahrzehnte. Das Hinnehmen des Geburtenrück- (Martin Reichardt [AfD]: Gerne! – Beifall bei gangs ist nur eine von mehreren – laut Regierung – alter- der AfD) nativlosen Positionen deutscher Politik. Das Dogma in Nächste Rednerin ist die Kollegin Ingrid Pohlmann, Deutschland heißt leider Einwanderung statt Kinder: Ein- CDU/CSU-Fraktion. wanderung in die Sozialsysteme, Einwanderung von Gewalt und Frauenfeindlichkeit. (Beifall bei der CDU/CSU) Eine aktive Bevölkerungspolitik für ein kinderfreund- liches Deutschland: Dafür müssen wir alle politischen Ingrid Pahlmann (CDU/CSU): und gesellschaftlichen Kräfte gemeinsam bündeln. Dabei Sehr geehrter Herr Präsident! Ich heiße Pahlmann, aber geht es nicht nur um Betreuungsplätze, auf die die Regie- das ist okay; das wird öfter mal falsch gesagt. 24592 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Ingrid Pahlmann (A) Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Die AfD unterstellt den Frauen aber generell, dass sie (C) Herren! Schauen wir uns einmal genau an, welche Fami- diese verantwortungsvolle gewissenhafte Entscheidung lienpolitik die AfD-Fraktion mit ihren heute zu beraten- nicht treffen können oder vielleicht bestenfalls zu leicht- den Anträgen propagiert. Ist es eine zeitgemäße, positive fertig treffen. Ja, sagen Sie mal, welches Bild von Frauen und zukunftsweisende Familienförderung, die unsere haben Sie eigentlich? Denken Sie wirklich, dass Frauen moderne Gesellschaft im 21. Jahrhundert auch verdient? leichtsinnig mit ihrer Sexualität umgehen, leichtfertig Oder haben Herr Gauland und Frau Weidel mal wieder ungewollt schwanger werden und Abtreibungen einfach tief in die Mottenkiste gegriffen? Ich gebe zu, die Ant- so billigend in Kauf nehmen, dass sie es sich mit so einer wort auf meine Fragen kann man wahrscheinlich schon Entscheidung insgesamt leicht machen? erahnen – leider; denn das scheint konstant zu bleiben. Ich glaube, Sie haben sich die polnische Rechte zum (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Mot- Vorbild genommen, die wieder einmal den Versuch unter- tenkiste! – [AfD]: Geht es noch nimmt, den eh schon minimalen Handlungsrahmen für billiger?) ungewollt Schwangere noch restriktiver zu gestalten. Lassen Sie uns dennoch mal ins Detail gehen: Welche (Widerspruch des Abg. Martin Reichardt familien- und frauenpolitischen Maßnahmen schlägt [AfD]) denn die AfD-Fraktion vor? Ein Vorschlag bezieht sich Obwohl Polen ein ausgesprochen strenges Abtreibungs- auf weitergehende Regelungen zur Schwangerschafts- recht hat, liegt die Geburtenrate dort unter der Fertilitäts- konfliktberatung. Die AfD überhöht dabei die Austra- rate in Deutschland. Vielleicht merken Sie daran, liebe gungspflicht der Schwangeren und zielt mit ihrem Antrag Kollegen der AfD, dass weitergehende Restriktionen und darauf ab, Abtreibung weiter zu erschweren. tiefgreifendes Misstrauen gegen unsere Beratungsinstitu- (Beifall der Abg. Leni Breymaier [SPD]) tionen ganz sicher nicht der richtige Weg sind, dem demografischen Wandel zu begegnen. Wie sieht denn die rechtliche Situation zurzeit aus? Das Bundesverfassungsgericht hat im Jahr 1993 klar ent- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- schieden, dass das Grundgesetz den Staat verpflichtet, neten der SPD, der FDP, der LINKEN und des menschliches Leben, auch das ungeborene, zu schützen. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Menschenwürde komme schon dem ungeborenen Meine Damen und Herren, lassen Sie uns eine weitere menschlichen Leben zu. familienpolitische Maßnahme, die uns die AfD schmack- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – haft machen will, betrachten. Die Volksrepublik China Zuruf von der AfD: Genau!) hatte schon mal die Einkindpolitik. Die AfD will nun (B) anscheinend eine Dreikindpolitik. (D) Das sehe ich natürlich ganz genauso. Selbstverständlich folge ich deshalb der Argumentation des Bundesverfas- (Enrico Komning [AfD]: Ja, wollen wir!) sungsgerichts, dass sich daraus dann auch eine Schutz- Damit schießt sie sich vollends ins familienpolitische pflicht des Staates ergibt. Abseits. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich habe So hat der Gesetzgeber im Jahr 1995 entsprechend selbst drei Kinder, und ich finde das superklasse. Aber: reagiert und Vorkehrungen getroffen. Eine besondere Paare entscheiden eigenverantwortlich, ob, wann und wie Rolle kommt dabei der Schwangerschaftskonfliktbera- viele Kinder sie bekommen wollen. tung zu. So legt § 219 Strafgesetzbuch fest – ich zitiere –: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Die Beratung dient dem Schutz des ungeborenen neten der SPD, der FDP, der LINKEN und des Lebens. Sie hat sich von dem Bemühen leiten zu BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Enrico lassen, die Frau zur Fortsetzung der Schwanger- Komning [AfD]: Ja, man darf das aber för- schaft zu ermutigen und ihr Perspektiven für ein dern!) Leben mit dem Kind zu eröffnen; sie soll ihr helfen, Dabei kann und muss ihnen Politik natürlich eine Viel- eine verantwortliche und gewissenhafte Entschei- zahl von Unterstützungsmaßnahmen flankierend zur Sei- dung zu treffen. te stellen. Und genau das hat die Koalition in den vergan- genen Jahren getan. Und dann heißt es weiter: Unsere familienpolitischen Leistungen helfen nämlich Die Beratung soll durch Rat und Hilfe dazu beitra- Kindern, helfen Eltern bei der Entscheidung für ein Kind. gen, die in Zusammenhang mit der Schwangerschaft So werden wir zum Beispiel gleich morgen hier im Ple- bestehende Konfliktlage zu bewältigen und einer num einen Gesetzentwurf zur Änderung der Elterngeld- Notlage abzuhelfen. regelung in erster Lesung beraten. Nach dieser Beratung muss die schwangere Frau eine (Martin Reichardt [AfD]: Dazu werde ich Überlegensfrist von mindestens drei Tagen einhalten. einiges zu sagen haben!) Wenn sie sich nach der umfassenden ermunternden und Hilfe bietenden Beratung und der Bedenkzeit dennoch Das Elterngeld ist eine zentrale Familienleistung und ein zum Schwangerschaftsabbruch entscheidet, ist dieser unerlässlicher Baustein moderner Familienpolitik. Es persönliche und sicherlich wohlüberlegte Entschluss ermöglicht Müttern und Vätern, sich Zeit für Familie auch zu respektieren. Die betroffene Frau hat offensicht- und Zeit für den Beruf zu nehmen, so wie es sich viele lich ihre schwerwiegenden Gründe dafür. junge Eltern wünschen. Die geplanten Änderungen sollen Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24593

Ingrid Pahlmann (A) die Angebote zur Nutzung des Elterngeldes noch flexib- Der Kollege Donth kann es bezeugen: Der Name war (C) ler und passgenauer machen. Eltern von Frühchen erhal- falsch notiert – nicht vom Kollegen Donth. Ich bitte viel- ten weitergehende Unterstützung. mals um Entschuldigung. Die allermeisten Paare in Deutschland wollen ihr (Sönke Rix [SPD]: Etwas mehr Eigenverant- Familienleben mit ihrer Berufstätigkeit unter einen Hut wortlichkeit von der FDP) bringen. Frauen wollen sich nicht zwischen Kindern und Beruf entscheiden müssen. Sie wollen beides, und das ist – Ja, klar. Wir wollten uns wenigstens einmal auf die ihr gutes Recht. Solidarität verlassen. Schon ist es schiefgegangen, um es einmal so zu sagen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE (Heiterkeit) GRÜNEN – Zuruf von der AfD) Nächste Rednerin ist die Kollegin Nicole Bauer, FDP- Dazu schaffen wir den nötigen Rahmen. Nach dem Aus- Fraktion. bau der Kinderbetreuung im Krippen- und Kitabereich ist (Beifall bei der FDP) ein weiteres Instrument der Ausbau ganztägiger Bil- dungs- und Betreuungsangebote für Kinder im Grund- schulalter. Genau vor einer Woche haben wir als Deut- Nicole Bauer (FDP): scher Bundestag beschlossen, dass der Bund den Ländern Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Frau Ministerin! dazu eine Finanzhilfe in Höhe von 3,5 Milliarden Euro Liebe Kolleginnen und Kollegen! Familie ist für uns zur Verfügung stellt. Das ist ein eindeutiges und starkes Freie Demokraten überall dort, wo Menschen Verantwor- Bekenntnis des Bundes für Familien, für Kinder und für tung füreinander übernehmen. Egal ob Vater, Mutter, Alleinerziehende. Kind oder Alleinerziehende, ob Patchwork- oder Regen- bogenfamilie: Für uns sind sie alle wertvoller Teil unserer (Beifall bei der CDU/CSU) Gesellschaft. Es ist eine höchst individuelle Entschei- Darüber hinaus kümmern wir uns auch um die Digita- dung und nicht Aufgabe des Staates, vorzuschreiben, lisierung von Familienleistungen. Damit wollen wir die welches Familienmodell besser ist. Wir möchten die frischgebackenen Eltern von Bürokratie entlasten; denn Vielfalt der Lebensentwürfe stärken. die knappe Zeit soll den Familien, den Kindern zugute- kommen und nicht bürokratischen Handlungen. Solche (Beifall bei der FDP) Maßnahmen helfen Paaren, sich den Wunsch nach Nach- Was für Familien zentral ist, ist, in die Zukunft ver- wuchs zu erfüllen. (B) trauen zu können. Dafür brauchen sie sichere Rahmen- (D) Auch in der Pandemie haben wir zahlreiche Initiativen bedingungen und gleichzeitig größtmögliche Wahlfrei- ergriffen, um Familien mit Kindern gezielt zu unterstüt- heit. Finanzielle Entlastung und Unterstützung sind zen. Wir haben den Zugang zum Kinderzuschlag stark wichtig. Deshalb fordern wir Freie Demokraten das Kin- vereinfacht. Analog zum erhöhten Kindergeld wird ein derchancengeld, um Zukunftschancen für alle Kinder zu Kinderbonus in Höhe von 300 Euro pro Kind gezahlt. ermöglichen, unabhängig in welchem Elternhaus sie Alleinerziehende werden steuerlich entlastet. Wir haben geboren wurden. Das hilft Familien wirklich, meine die Dauer der Entschädigungszahlung für Eltern verlän- sehr geehrten Damen und Herren. gert und Anpassungen beim Elterngeld vorgenommen. In (Beifall bei der FDP) den Jahren 2020/21 stellen wir 1 Milliarde Euro zusätz- lich für den Kitaausbau zu Verfügung usw. Die Liste ließe Doch noch nachhaltiger ist es, Familien selbst die sich noch beliebig verlängern. Möglichkeit zu geben, aus eigenen Kräften für sich zu sorgen. Deshalb wollen wir eine bessere Vereinbarkeit Meine Damen und Herren, so sieht krisenfeste, von Familie und Beruf. Familien brauchen nicht nur zukunftsweisende, aufbauende Familienpolitik aus. Wir Geld, sondern mehr Zeit; denn in einer modernen Gesell- schaffen den erforderlichen Rahmen, der auf die Bedürf- schaft wie der, in der wir uns befinden, muss beides nisse unserer modernen Gesellschaft zugeschnitten ist. möglich sein. Deshalb fordern wir beste Kinderbetreu- Ich kann nur sagen: Auf die Union können sich die Fami- ung, flexiblere Arbeitsmodelle und eine Reform des lien verlassen. Sie können selber beurteilen, was es mit Arbeitszeitgesetzes. den Vorschlägen der AfD auf sich hat. (Beifall bei der FDP) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Nur wenn Eltern wissen, dass ihre Kinder gut aufge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- hoben sind, können sie mit einem guten Gefühl motiviert ordneten der SPD) ihrer Arbeit auch entsprechend nachgehen. Genauso wichtig ist es aber auch, dass ich als Mutter oder als Vater Vizepräsident Wolfgang Kubicki: selbst entscheiden kann, wie viel Zeit ich mit meinen Vielen Dank, Frau Kollegin Pahlmann. Bitte entschul- Kindern nachmittags verbringe, um mich abends noch digen Sie, dass ich Sie falsch aufgerufen habe. Aber auch mal an den Schreibtisch zu setzen, während die Kleinen der beste Präsident ist auf die Mitwirkung der Schriftfüh- schlafen. Gesetze dürfen das nicht länger verhindern, rer angewiesen. sondern sie müssen es künftig viel mehr ermöglichen. (Heiterkeit) (Beifall bei der FDP) 24594 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Nicole Bauer (A) Als frauenpolitische Sprecherin der FDP-Bundestags- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (C) fraktion möchte ich noch einen wesentlichen Punkt in die Vielen Dank, Frau Kollegin Bauer. – Nächste Rednerin Debatte einbringen. Selbstbestimmung in der Familien- ist die Kollegin Leni Breymaier, SPD-Fraktion. planung: Sie ist wesentliche Grundlage für die Gleich- berechtigung. Ob oder wie viele Kinder jemand be- (Beifall bei der SPD) kommt, ist eine höchst individuelle Entscheidung. Deshalb brauchen wir einerseits für ungewollte Kinder- Leni Breymaier (SPD): lose eine Chance, sich den Kinderwunsch zu erfüllen. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Dafür müssen wir die Grundlagen schaffen. Wir Freie Ministerin Franziska Giffey, heute Vormittag befassen Demokraten fordern, Kinderwünsche unabhängig vom wir uns mit einem bunten Strauß familienpolitischer Wohnort zu fördern. Dazu haben wir Ihnen einen Antrag Anträge der AfD. In keinem einzigen Antrag geht es vorgelegt. Sie von der AfD-Fraktion könnten den mal darum, das Leben der Menschen einfacher zu machen, lesen: Das wäre wenigstens konstruktiv, während Ihr ras- sondern in den Anträgen geht es darum, gesellschaftliche sistischer Humbug definitiv in die falsche Richtung geht. Entwicklungen der letzten Jahrzehnte zurückzudrehen und sich im Mief der 50er-Jahre zu suhlen. Das Bild ist (Beifall bei der FDP und der LINKEN sowie ein wenig so wie in der Sanella-Werbung: Mama, Papa bei Abgeordneten der SPD – Jan Korte [DIE und zwei Kinder, gerne auch drei, deutsch; vielleicht LINKE]: Das stimmt! – Zuruf des Abg. Martin christlich, hellhäutig, blond wäre nett. Papa arbeitet. Reichardt [AfD]) Mama bleibt bei den Kindern. Sie bekommt das Haus- Andererseits ist es genauso notwendig, Schwanger- haltsgeld zugeteilt. Eigenes Konto? – Fehlanzeige! Eige- schaftsabbrüche weiterhin zu ermöglichen; denn wir wol- ne Rentenansprüche? – Wozu? Partnerschaftliche Teilung len nicht die Zustände wie in Polen auf unseren Straßen. der Erwerbs- und der Hausarbeit? – Nicht vorgesehen! (Martin Reichardt [AfD]: Wo steht denn das?) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNIS- Das bisschen Haushalt macht sich schließlich von allein. SES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Marcus Wenn er abends nach Hause kommt, wartet auf ihn ein Weinberg [Hamburg] [CDU/CSU] – Wider- harmonisches Heim. spruch des Abg. Martin Reichardt [AfD]) Diesem Bild, das vor allem in der Werbung vorkam, Seit Tagen kämpfen dort die Frauen gegen das neue hechelt die AfD nach. Trennungen, Krisen, Aufbrüche, Abtreibungsurteil des polnischen Verfassungsgerichtes gar andere Partnerschaftsmodelle sind nicht vorgesehen. und für ihre Rechte. Ich stehe hier ganz klar Auch Menschen aus anderen Kulturkreisen stören das (B) schöne Bild, genauso wie sich überhaupt die Politik und (D) (Martin Reichardt [AfD]: Als Hetzerin gegen die Anträge der AfD in allen Lebensbereichen gegen die Polen stehen Sie da!) Selbstbestimmung der Frauen richten. Man hetzt tatsäch- für die mutigen Frauen in Polen. Selbstbestimmung über lich gerne so, wie es in Polen geschieht. Man kann es den eigenen Körper und die Rechte dieser Frauen müssen auch hier im Parlament nicht oft genug sagen: Ich erkläre verteidigt werden, in Polen, weltweit, aber auch bei uns. mich ausdrücklich solidarisch mit dem Kampf der Frauen in Polen um Abtreibung, mit dem Kampf, dass Verhü- (Beifall bei der FDP, der SPD, der LINKEN tungsmittel auch unter 18-Jährigen verschrieben werden und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – können, mit dem Kampf, dass Sexualaufklärung in Martin Reichardt [AfD]: Ihre Hetze ist eine Schulen nicht unter Strafe gestellt wird. Da geht es um Schande vor unserer Geschichte! Hetzen Sie Selbstbestimmung, und das ist das, was wir wollen. Und ruhig weiter gegen Polen!) das ist das, was Sie nicht wollen. Da schielen Sie nach Polen. Was Sie uns aber hier mit Ihren Anträgen zumuten, ist einmal mehr frauenfeindlich, fremdenfeindlich und rück- (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie wärtsgewandt. So was wollen wir nicht, so was brauchen bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNIS- wir nicht. SES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Ingrid Pahlmann [CDU/CSU]) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des Die AfD verpackt unter dem Deckmäntelchen Fami- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) lienpolitik ihre eigentlich völkische, nationale Bevölke- rungspolitik. Maß und Maßstab sind die heterosexuelle Wir leben in einer modernen Gesellschaft mit mündigen Liebe zwischen Männern und Frauen, aus der auch Kin- Bürgern, die freiheitlich entscheiden können, was sie der hervorgehen. Das ist für sie die einzige politisch wollen. Deshalb werden wir ganz klar Ihre Anträge hier schützenswerte Form der Partnerschaft. ablehnen. Ja, Frauen bekommen und vor allem erziehen dann (Martin Reichardt [AfD]: Na, so was!) Kinder. Ich brauche nicht zu suchen, wo die benötigten Fachkräfte sind, wenn wir nicht dafür sorgen, dass wir Danke schön. Rahmenbedingungen für Erwerbsarbeit haben, unter de- nen die Frauen nicht kaputtgehen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNIS- (Martin Reichardt [AfD]: Sie haben die Frauen SES 90/DIE GRÜNEN) doch in Hartz IV getrieben! Sie haben den Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24595

Leni Breymaier (A) Niedriglohnsektor geschaffen! Übernehmen (Beifall bei der SPD – Nicole Höchst [AfD]: (C) Sie Verantwortung!) Hunderttausende Abtreibungen im Jahr! Da können Sie wirklich stolz sein! – Weiterer Entweder sie haben – das hat die Tage jemand so nett Zuruf der Abg. [AfD] – formuliert – nur Kinder – dann ist nicht vorgesehen, Lachen bei Abgeordneten der SPD, der LIN- dass sie berufstätig sind –, oder sie sind berufstätig; KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- dann ist nicht vorgesehen, dass sie Kinder haben. Unser NEN – Gegenruf des Abg. Sönke Rix [SPD]: Job ist hier, die entsprechenden Rahmenbedingungen zu Was für eine Unverschämtheit! – Weiterer schaffen. Wir brauchen nicht über den Fachkräftemangel Gegenruf des Abg. Sven Lehmann [BÜND- zu jammern, wenn wir es schaffen, die Frauen in den NIS 90/DIE GRÜNEN]: Unglaublich! – Wei- Berufen arbeiten zu lassen, die sie tatsächlich gelernt terer Gegenruf der Abg. Nicole Bauer [FDP]: haben. Unverschämt ist das! Dumm wie Brot!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Vizepräsident Wolfgang Kubicki: GRÜNEN) Vielen Dank, Frau Kollegin Breymaier. – Nächster Zu einem richtigen Frauenbild gehören aber nicht nur Redner ist für die Fraktion Die Linke der Kollege Norbert Beruf und Kinder, sondern auch Ehrenamt und Politik Müller. und vieles andere mehr. Aber der AfD gefällt es, zum Beispiel in Sachsen dieses Jahr nachzuzählen, wie viele (Beifall bei der LINKEN) Frauen es im gebärfähigen Alter gibt – das wird die dor- Entschuldigung, Herr Kollege, bevor Sie mit Ihrer tige Landesregierung gefragt –, aufgeschlüsselt nach Rede beginnen: Frau Gminder, Ihr Zwischenruf „Als Nationalität. Klar, Kinder sollen ja deutsch und blond Nichtmutter sind Sie nicht berechtigt, hier zu sprechen“ sein. ist einen Ordnungsruf wert, weil es eine Unverschämtheit Jetzt arbeite ich mich nicht länger an Ihnen ab. ist. (Martin Reichardt [AfD]: Ja, das lassen Sie (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, mal! Das ist nämlich danebengegangen! Dafür der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE fehlt Ihnen einfach das nötige Rüstzeug!) GRÜNEN) Ich finde, wir könnten mal darüber reden, was Familien Jeder Abgeordnete des Deutschen Bundestages hat das bei uns brauchen. Was Familien brauchen, das ist einfach Recht, zu jedem Thema hier zu sprechen. Unterstützung. (B) Herr Kollege Müller, Sie haben das Wort. (D) (Martin Reichardt [AfD]: Wenn man über eine Quote irgendwo reinrutscht, dann fehlt es einem eben an etwas!) Norbert Müller (Potsdam) (DIE LINKE): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Das ist das, was wir machen. Das ist das, was unsere Herren! Vielen Dank für die Klarstellung gerade. Ministerin macht, und zwar mit dem Starke-Familien- Gesetz für Familien mit kleinen Einkommen und für Die AfD unternimmt heute den Versuch, mit einer Alleinerziehende, mit dem Gute-Kita-Gesetz für mehr Vielzahl von Anträgen uns ihre Familienpolitik zu be- Qualität und weniger Gebühren bei der Kinderbetreuung, schreiben. Dabei lässt sich die Haltung dieser Fraktion mit dem Bundesprogramm „Mehrgenerationenhaus“, mit kurz zusammenfassen: Hilfe, wir sterben aus! – Die dem Aktionsprogramm „Gemeinsam gegen Gewalt an AfD sorgt sich um den – Zitat aus diesen Anträgen – Frauen“, mit dem Notfallkinderzuschlag während der „Erhalt des deutschen Volkes“ und um die fehlende Kin- Pandemie, mit dem Kinderbonus in der Pandemie, mit derfreundlichkeit. Mit Kinderfreundlichkeit ist bei der Sonderregelungen zur Lohnfortzahlung wegen Schul- AfD – das haben wir gerade gehört – nur die Freund- und Kitaschließungen, mit der Digitalisierung von Fami- lichkeit gegenüber deutschen Kindern gemeint, was lienleistungen, mit der Elterngeldreform, mit dem Recht immer das in den Augen dieser rassistischen Partei nun auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter. so genau ist. Auf nichtdeutsche Kinder wollen Vertreter- Die Förderung von Frauen in Führungspositionen ist innen und Vertreter der AfD – das ist bekannt – an der nun der letzte große Schritt, den wir jüngst gemacht Grenze ja schließlich schießen lassen, und das ist nun haben. Denn auch Frauen in Führungspositionen sind nicht allgemein kinderfreundlich. Frauen, die Kinder wollen. Deshalb ist es gut, dass wir (Dr. Rainer Kraft [AfD]: Ihr habt immer da eine Quote machen. Das ist praktische Politik der reichlich geschossen!) Sozialdemokratie, die sich an den Notwendigkeiten und an den Lebensrealitäten der Familien orientiert, und nicht Die Annahme, dass Deutschland bald entvölkert sei, ist ein Wunschkonzert von Schlagern aus den 50er-Jahren. ja auch ganz offensichtlicher Unsinn. Versuchen Sie mal, in einer größeren Stadt einen Kitaplatz zu ergattern, einen Lassen Sie uns die Fenster weiter aufmachen! Lassen Platz in einer Musikschulgruppe oder ihr Kind neu bei Sie uns den Mief rauslassen! Lassen Sie uns Politik einem Kinderarzt anzumelden. Oder fragen Sie zum Bei- machen für Familien, für Frauen, für alle Lebensformen, spiel in meiner Heimatstadt Potsdam nach, was die Lan- die wir gerne unterstützen! deshauptstadt Potsdam in den letzten Jahren allein für Besten Dank für die Aufmerksamkeit. Kita- und Schulneubauten ausgegeben hat. Da reden wir 24596 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Norbert Müller (Potsdam) (A) über eine halbe Milliarde Euro für eine Stadt mit (Martin Reichardt [AfD]: Wir haben schon eine (C) 180 000 Einwohnern, vermutlich, weil die Deutschen Mehrwertsteuersenkung auf alle Kinderpro- gerade aussterben. dukte gefordert! Die haben Sie abgelehnt! In Wahrheit ist die Geburtenziffer, also die durch- Aber Ihre Tampon Tax, die haben Sie als groß- schnittliche Zahl von Geburten je Frau, im Alter von 15 en Sieg verkauft!) bis 49 Jahren so hoch wie seit den frühen 70er-Jahren Ich war gestern selber Windeln kaufen und habe das nicht mehr. In Brandenburg ist sie zuletzt 1988 so hoch direkt mal an der Kasse überschlagen: Würde dieser gewesen, und sie ist doppelt so hoch wie in Ostdeutsch- Mehrwertsteuersatz von 19 auf 7 Prozent gesenkt wer- land Anfang der 90er-Jahre. Das kann man ja vielleicht den, ergäbe es pro gewickeltem Kind und Jahr round auch einfach mal zur Kenntnis nehmen. about 25 Euro. Sie würden also pro Kind und Jahr jeder (Beifall bei der LINKEN – Zuruf des Abg. Familie ungefähr 25 Euro wiedergeben. Da ist selbst die Martin Reichardt [AfD]) Koalition mit ihrer Kindergelderhöhung zehnmal muti- ger. Das muss man erst mal schaffen, bei der Bekämpfung Im Familienausschuss hat die AfD vor einem Jahr be- von Armut zehnmal weniger mutig zu sein als Angela antragt, dass der Ausschuss eine Reise nach Ungarn Merkel. unternehmen solle, weil die Familienpolitik der Orban- Regierung dort so interessant sei. Ich habe daraufhin im (Beifall bei der LINKEN – Martin Reichardt Ausschuss, während das vorgetragen wurde, die Stich- [AfD]: Das ist doch alles Unsinn, was Sie da worte „Familienpolitik Ungarn“ gegoogelt und bin auch sagen!) sogleich fündig geworden. Erster Treffer bei Google – Sinnvoller zur Bekämpfung der Kinderarmut wäre oder auch einer anderen Suchmaschine; probieren Sie dagegen eine Kindergrundsicherung. Die lehnen Sie es aus – ist ein Artikel aus der „Welt“ vom 22. Mai natürlich ab. Natürlich wäre auch ein höherer Mindest- 2019 mit der Überschrift „Orbans Familienpolitik erin- lohn sinnvoll. Den wollen Sie auch nicht. Kampfstarke nert an die NS-Zeit“. Schnell zusammengefasst: Die Gewerkschaften, die hohe Tarifabschlüsse durchsetzen ungarische Regierung hat Sorge, dass die Ungarn aus- können? Der blanke Horror im Weltbild der AfD. sterben, weswegen sie Ehestandsdarlehen einführen – so was Ähnliches wollen Sie auch –, die abgekindert werden, und sie geht repressiv gegen Schwangerschaft- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: sabbrüche vor. Einen unabhängigen öffentlichen Rund- Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage aus der funk in Ungarn gibt es übrigens auch nicht mehr. Wie AfD-Fraktion? der Zufall es so will, beantragen Sie all das genau heute (B) auch. Vielleicht haben Sie diese Reise ja eigenständig Norbert Müller (Potsdam) (DIE LINKE): (D) durchgeführt. Nein, ich möchte keine Zwischenfrage; vielen Dank. – Den öffentlich-rechtlichen Rundfunk wollen Sie ein- Die AfD findet nicht nur die Familienpolitik von Viktor mal mehr zum Propaganda-Rundfunk umbauen, der Kin- Orban und den Nazis klasse, sondern auch sonst manch derlosigkeit als etwas Negatives darstellen und den anderes aus dieser Zeit. Dass dabei ihre Anträge in sich Wunsch nach Kindern wecken soll. Offenbar halten Sie unschlüssig und widersprüchlich sind, überrascht wohl die Menschen für ziemlich dumm und manipulierbar. hier im Hause niemanden mehr. Gefährlich wird es dann, wenn Sie den Öffentlichen Ich will Ihnen nur ein Beispiel geben. Sie fordern – ernsthaft mit Ihren Anträgen untersagen wollen, Sexual- Zitat –, „der Stigmatisierung … von Mehrkindfamilien aufklärung zu betreiben. Informationen über Verhütungs- … entgegenzutreten“. Jetzt weiß ich nicht genau, an wel- mittel und Familienplanung wollen Sie im öffentlich- che Stigmata Sie denken. Vielleicht haben Sie einfach zu rechtlichen Rundfunk verbieten. Das ist völlig absurd, viel Thilo Sarrazin gelesen. und das ist auch absolut unverantwortlich. (Beifall der Abg. Claudia Roth [Augsburg] (Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Martin bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Reichardt [AfD]: Das hätten Sie auch mal lesen GRÜNEN und der Abg. Ingrid Pahlmann sollen! Das hätte Sie wirklich gebildet!) [CDU/CSU]) Leider führen Sie das auch nicht genau aus. Wer drei Kinder bekommt, soll mit 10 000 Euro für das erste oder sogar für jedes Kind – das steht nicht ganz Jedenfalls fordern Sie zwei Absätze später, dass insbe- genau in Ihrem Antrag – belohnt werden. Nicht zuletzt sondere Akademikerinnen bitte mehr als zwei Kinder wollen Sie die Mehrwertsteuer für Windeln senken, um bekommen sollen. Dieser Logik nach hätten also alle Kinderarmut zu bekämpfen. Nichtakademikerinnen drei oder mehr Kinder. Merken Sie was? Sie selbst stigmatisieren Mehrkindfamilien als (Jan Korte [DIE LINKE]: Und das Mutterkreuz mehr oder minder bildungsfern. Das ist nämlich der logi- verleihen!) sche Schluss aus Ihrem Antrag. Als Vater von drei Kin- Letzteres ist bemerkenswert, weil die AfD ja bisher im dern sage ich Ihnen: Herzlichen Dank dafür! Bundestag mit ihrem Redner mehrfach So bleibt mir, zum Ende nur zu sagen: Ich habe eine bestritten hat, dass es Kinderarmut überhaupt gibt. Jetzt schlechte Nachricht für die AfD. wollen Sie sie bekämpfen? Sie haben sich dabei zieltref- fend das untauglichste und wirkungsloseste Mittel ausge- (Martin Reichardt [AfD]: Von Ihnen kommen sucht: den Mehrwertsteuersatz auf Babywindeln. immer nur schlechte Nachrichten!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24597

Norbert Müller (Potsdam) (A) Sie haben hier nicht zu entscheiden, wer wie viele Kinder tens jedes siebte Kind lebt in Armut. Das ist in einem (C) bekommt. doch so reichen Land sehr schade. Ich finde, da kann (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem man wirklich noch zulegen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ordneten der CDU/CSU) Diesen Zustand wollen wir nicht länger hinnehmen. Es Und Sie haben auch überhaupt nicht zu entscheiden, wie darf auch nicht länger ein großes Armutsrisiko sein, mehr diese Kinder sind, und haben darüber auch kein Wertur- als ein Kind zu haben oder Kinder allein zu erziehen. Alle teil zu fällen. Eltern und Familien brauchen Unterstützung. Sie müssen Unsere Kinder werden mal wie wir. Und selbst wenn darauf vertrauen dürfen, dass wir sie nicht im Regen Sie bei den Sozis oder – Gott bewahre – bei FDP und stehen lassen. Wir vergessen eines nicht, liebe Kollegin- Union landen – Menschen machen ja Fehler –, dann nen und Kollegen: Kinderarmut ist immer auch Ausdruck wüsste ich wenigstens, dass ich mit denen hinterher der Armut der Eltern. Und eine Windelsteuer hilft dage- noch vernünftig reden kann. gen sicher nicht. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) steht Ihnen aber auch nicht zu, zu sagen, wie Wir müssen etwas ändern, und zwar dringend. Wir Ihre Kinder mal werden! Das wäre ja noch wollen faire Chancen für jedes Kind. Familienförderung schöner!) muss bei allen Familien ankommen. Wir fordern deshalb – Hören Sie zu, Herr Grosse-Brömer. Wir können ja auch eine Kindergrundsicherung, die auf einer Neuberechnung miteinander vernünftig reden. – Bei Ihnen von der AfD der Bedarfe von Kindern basiert. habe ich diese Hoffnung schon lange aufgegeben. Gute Familienpolitik – wir haben es heute oft gehört – Herzlichen Dank. beinhaltet auch die Vereinbarkeit von Beruf und Privat- leben. Kinder brauchen die Zeit und die Aufmerksamkeit (Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie ihrer Eltern. Ein Großteil der Eltern von Kindern im Alter der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜND- zwischen einem und drei Jahren – das betrifft immerhin NIS 90/DIE GRÜNEN]) ca. 1,7 Millionen Familien – beklagt die schlechte Ver- einbarkeit von Familie und Beruf in unserem Land. Unse- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: re Lösung, damit Eltern beim Spagat zwischen Beruf, Vielen Dank, Herr Kollege Müller. – Nächste Rednerin Kindern, Meetings, Einkaufen, Kochen, Hausaufgaben- ist die Kollegin Beate Walter-Rosenheimer, Bündnis 90/ betreuung und Homeschooling nicht völlig die Puste aus- (B) Die Grünen. geht, heißt KinderZeit Plus. Wir wollen das bestehende (D) Elterngeld weiterentwickeln. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Beate Walter-Rosenheimer (BÜNDNIS 90/DIE Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen sicherstel- GRÜNEN): len, dass junge Eltern sich wirklich um ihre Kinder küm- Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Lie- mern können, dass die Rushhour des Lebens entzerrt wird be Zuhörer und Zuhörerinnen! „Hilfe, wir sterben aus!“ – und Familien mehr Zeit füreinander bekommen; denn das Norbert Müller hat es gerade gesagt –, schreien Sie hier ist das, was Kinder in Deutschland sich am meisten wün- populistisch in die Welt und fordern Dinge, die wirklich schen, wenn man sie befragt. ins letzte Jahrhundert gehören. Mit der grünen KinderZeit Plus hätten Eltern größere Wir reden hier anscheinend über eine Willkommens- Entscheidungsspielräume, sie könnten schneller wieder kultur für Kinder, und ich sage: Kindern – allen Kindern – in den Job einsteigen, und schließlich unterstützt unsere eine Zukunft zu geben, optimale Bedingungen dafür zu KinderZeit Plus auch eine vollzeitnahe Teilzeit beider schaffen, dass sie gut ins Leben starten können, und ein Elternteile nach dem ersten Lebensjahr des Kindes. Das gutes Aufwachsen sicherzustellen, das ist für uns Grüne ist es doch, was Familien wirklich helfen würde. Wir eine der zentralen Aufgaben unserer Zeit. brauchen außerdem hochwertige Betreuungsangebote (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und Öffnungszeiten, die sich an den Realitäten der Fami- lien anpassen, nicht umgekehrt. Das ist etwas ganz Wich- Was brauchen Kinder und ihre Eltern? tiges, was aber noch nicht so gegeben ist. Welche Rahmenbedingungen muss die Politik schaffen, Wir müssen Fortschritte machen, um diese Vereinbar- damit das gelingt? Wir müssen auf die Menschen keit zu ermöglichen. Dazu brauchen wir Ganztagsange- schauen, die heute in Familien leben, und nicht zurück bote für alle Kinder im Grundschulalter, weil sie mehr auf ein vermieftes und veraltetes Modell. Bildungsgerechtigkeit und bessere Startchancen garantie- (Dr. Götz Frömming [AfD]: Ah!) ren. – Sie können ruhig laut gähnen. Es ist schlimm, dass Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) solche Sachen überhaupt im Kopf haben. Leider sehen wir diesen Rechtsanspruch noch nicht mit Ein großes Thema ist die Kinderarmut. Ich sage hier in höchster Priorität umgesetzt. Das ist ein erster Schritt, aller Offenheit: Frau Ministerin, ich hätte mir gewünscht, dem weitere folgen müssen. Da stehen Bund und Länder dass wir dieses Problem noch stärker angehen. Mindes- gemeinsam in der Verantwortung. Die Kommunen müs- 24598 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Beate Walter-Rosenheimer (A) sen für diese Langzeitaufgaben gut ausgestattet werden der Grundrechtsträger sind; ihre Rechte werden, solange (C) und Angebote mit hoher pädagogischer Qualität sicher- sie selber nicht sagen können, was sie wollen, von ihren stellen können. Eltern wahrgenommen, und ansonsten wacht die Allge- Zu einer guten Familienpolitik, die diesen Namen ver- meinheit darüber. dient, gehört auch, dass wir Politik für ein kindergerech- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) tes Land machen. Damit Rechte, Interessen und Perspek- tiven von Kindern in Deutschland tatsächlich ausreichend Das möchte ich hier noch mal klarstellen: Kinder sind berücksichtigt werden, wollen wir die Kinderrechte ins Grundrechtsträger. Grundgesetz aufnehmen. Als Nächstes möchte ich sagen: Ich finde es sehr (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schwer zu verstehen, wenn die AfD hier behauptet, dass sowie bei Abgeordneten der LINKEN und der Großfamilien derzeit vom Staat keine Anerkennung be- Abg. Leni Breymaier [SPD]) kommen. Ich kann das nicht bestätigen. Ich habe fünf Für uns bedeutet gute und gerechte Familienpolitik Brüder, ich bin also in einer großen Familie aufgewach- natürlich auch zeitgemäße Familienpolitik, die den sen. Ich habe selber auch fünf Kinder großgezogen mit gesellschaftlichen Wandel im Blick hat. Immer mehr meinem Mann. Insofern weiß ich, worauf wir damals Kinder leben in Patchwork- und Regenbogenfamilien. verzichten mussten – wir waren trotzdem glücklich – Immer mehr Erwachsene leisten elterliche Fürsorge, und was wir bis heute an familienpolitischen Leistungen obwohl sie mit den Kindern nicht verwandtschaftlich vorangebracht haben. Ich finde, wir alle können sehr stolz oder rechtlich verbunden sind. Soziale Eltern überneh- auf das sein, was wir mittlerweile alles für unsere Fami- men über Jahre Verantwortung, geben Halt und sind emo- lien in Deutschland leisten. tionale Anker für ihre Kinder. Deshalb brauchen sie die (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. gleichen Rechte. Sie lieben diese Kinder, unterstützen Dr. [SPD]) sie – Blutsverwandtschaft ist nicht der Hauptpunkt in einer Eltern-Kind-Beziehung –, Mittlerweile gibt es wieder mehr Familien mit drei (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN oder mehr Kindern in Deutschland. Ich bemerke einen sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- spürbaren Mentalitätswechsel, auch in der Politik. Vielen KEN) Kolleginnen und Kollegen ist die Bedeutung von Fami- lien, gerade auch von Familien mit vielen Kindern, sehr aber bei alltäglichen Entscheidungen in der Kita, in der wohl bewusst; hier möchte ich ganz klar auch diejenigen Schule, beim Arzttermin, da bleiben sie außen vor. Da- einbeziehen, die selber keine Kinder haben, aus welchen durch entsteht große Unsicherheit, auch bei den Kindern. (B) Gründen auch immer. Eine allgemeine Stigmatisierung (D) Da fehlen dann Stabilität und Vertrauen. Wir Grüne for- und Herabwürdigung von Mehrkindfamilien, von der dern, den gesellschaftlichen Entwicklungen endlich die AfD in ihrem Antrag schreibt, stelle ich gerade derzeit gerecht zu werden und soziale Elternschaft rechtlich ein- in unserer Gesellschaft nicht fest, eher eine Wertschät- deutig abzusichern. zung von Familienarbeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Im Jahre 2015 gab es 871 000 Haushalte mit Mehr- sowie der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]) kindfamilien. Im Jahre 2019 sind es schon 977 000 Haus- Es wird deutlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, das halte. Auch die Geburtenziffer entwickelt sich im lang- Thema ist sehr komplex und erfordert ein ganzes Bündel fristigen Trend positiv. 1995 hatten wir in Deutschland an wirkungsvollen Maßnahmen. Mit populistischen den historischen Tiefstand von 1,25 Geburten pro Frau, Schnellschüssen ist es hier nicht getan. Es ist auch nicht 2005 waren es schon 1,34 Geburten pro Frau, und im damit getan, „Nicht-Eltern“ den Mund zu verbieten. Das, Jahre 2019 lagen wir bei 1,54 Geburten pro Frau. Im was Sie fordern, erschüttert das Vertrauen von vielen langfristigen Vergleich steigt also die Geburtenrate in Hunderttausend Familien in eine seriöse und wirklich Deutschland. Das ist ein Erfolg gegen den demografi- lösungsorientierte Politik. Deshalb lehnen wir Ihre Anträ- schen Wandel, und das hat auch etwas mit einer guten, ge ab. verlässlichen Familienpolitik zu tun. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- sowie des Abg. [CDU/CSU]) ordneten der SPD) Der Antrag der AfD „Aktive Familienpolitik durch Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Baby-Willkommensdarlehen“ wäre hingegen keine kluge Vielen Dank, Frau Kollegin Walter-Rosenheimer. – Familienpolitik. Warum sollten sich Eltern zusätzlich mit Nächste Rednerin ist die Kollegin Sylvia Pantel, CDU/ 10 000 Euro auf fünf Jahre beim Staat verschulden? Wir CSU-Fraktion. hingegen haben ab 2021 erneut eine Erhöhung des Kin- (Beifall bei der CDU/CSU) dergeldes durchgesetzt. Das sind bei einem Kind auf fünf Jahre gerechnet 13 000 Euro, bei zwei Kindern Sylvia Pantel (CDU/CSU): 26 000 Euro und bei drei Kindern fast 40 000 Euro, und Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und von diesem Geld fordert der Staat kein bisschen zurück. Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau (Beifall bei der CDU/CSU) Walter-Rosenheimer, als Erstes möchte ich klarstellen: Kinderrechte sind im Grundgesetz vorhanden, weil Kin- Damit entlasten wir Familien wirklich. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24599

Sylvia Pantel (A) Darüber hinaus steigt 2021 auch die Gesamthöhe der das ist besonders bedeutsam – kindbezogene Dienstleis- (C) Freibeträge, der Kinderfreibetrag sowie der Freibetrag tungen wie zum Beispiel die Tagesbetreuung im Kinder- für Betreuung, Erziehung, Ausbildung. Werden die Eltern garten oder die Leistungen der Jugendhilfe gemeinsam veranlagt, steigen die Freibeträge für 2021 (Zuruf des Abg. Martin Reichardt [AfD]) insgesamt um 576 Euro auf 8 388 Euro im Jahr. nach dem SGB VIII grundsätzlich von der Umsatzsteuer Auch das Elterngeld hat sich als Familienleistung in befreit. Die Lieferungen von Lebensmitteln, Schulbü- Deutschland bewährt. Von der Bevölkerung wird es sehr chern und Malbüchern unterliegen ebenfalls dem ermä- geschätzt. Unsere Varianten – Basiselterngeld, Elterngeld ßigten Steuersatz. Plus und Partnerschaftsbonus – bedeuten eine große Wahlmöglichkeit für die Familien. Elterngeld bekommen Der Europäische Gerichtshof hat aber in seinem Urteil Mütter und Väter, die nach der Geburt ihres Kindes nicht bereits festgestellt, dass wir bei der Umsatzsteuerermäßi- oder vorerst nur wenig berufstätig sind. Der Staat unter- gung wie zum Beispiel bei Säuglingsbekleidung und Kin- stützt die Familien mit mindestens 300 Euro und maximal derschuhen gegen die vereinheitlichten Vorgaben der 1 000 Euro im Monat, abhängig vom jeweiligen Netto- Mehrwertsteuerrichtlinie verstoßen. Deshalb wäre die einkommen. Das Elterngeld ist ein Erfolgsmodell. Gera- Begünstigung von Lieferungen von Babywindeln, Kin- de in diesem Haushalt haben wir den Etat des Elterngel- derbekleidung oder Spielzeug ebenso nicht zulässig. des um 88 Millionen Euro auf nunmehr über 7 Milliarden Es ist nicht eine einzelne Maßnahme, die gute Rah- Euro erhöht. menbedingungen für Familien schafft. Wir bieten ein (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) vielfältiges Angebot und unterstützen unsere jungen Eltern. Wir wollen ihnen mit unseren Rahmenbedingun- Mit dem Schulbedarfspaket entlasten wir Eltern nicht gen Lust auf Familie machen, und das zeigen wir; das nur beim Schulstart. Wir bieten einen Zuschuss für den habe ich gerade ausgeführt. Deshalb lehnen wir, wie Sie Kauf von Schulmaterialien. Eltern und Alleinerziehende sich denken können, die AfD-Anträge ab. haben Anspruch auf 150 Euro Unterstützung pro Schul- Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. jahr, wenn sie den Kinderzuschlag oder Wohngeld erhal- ten. Nicht nur junge Schüler haben einen Anspruch auf (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- dieses Geld und diese Unterstützung, sondern auch ordneten der SPD) Jugendliche bis 25 Jahre, wenn sie eine Berufsschule oder eine allgemeinbildende Schule besuchen. Vizepräsident in Claudia Roth: Um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu unter- Vielen Dank, Frau Kollegin Pantel. – Eine Maske! (B) stützen, fördern wir den Kitaausbau bis 2021 mit insge- (D) (Sylvia Pantel [CDU/CSU]: Ja!) samt bis zu 5,4 Milliarden Euro. Für die Ganztagsbetreu- ung in den Grundschulen stellen wir von 2020 bis Schönen Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen, von mir 2021 3,5 Milliarden Euro zur Verfügung. Für die Eigen- Ihnen! tumsbildung haben wir das Baukindergeld eingeführt – Nächste Rednerin: für die AfD-Fraktion Mariana nun gibt es für den Zeitraum bis März 2021 insgesamt Harder-Kühnel. 10 Milliarden Euro –, und das nehmen sehr, sehr viele Familien in Anspruch. (Beifall bei der AfD) Meine Damen und Herren, das sind finanzielle Unter- stützungsleistungen, die zeigen, dass uns die Familien Mariana Iris Harder-Kühnel (AfD): wichtig sind. Wir leisten viel für unsere jungen Familien Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und unterstützen die Wahlfreiheit in Bezug auf die Ver- und Herren! Mehr Kinder braucht das Land, und die einbarkeit von Beruf und Familie. So treten wir auch dem Deutschen wollen Kinder kriegen. Statistisch gesehen demografischen Problem wirklich wirksam entgegen. wünschen sich 37 Prozent aller Männer und 40 Prozent aller Frauen zwei Kinder. 44 Prozent der Männer und Mit unseren familienpolitischen Leistungen sind wir 37 Prozent der Frauen wünschen sich sogar mindestens im EU-Vergleich gut aufgestellt. Die AfD lobt Frankreich 3 Kinder. Nur etwa 7 Prozent möchten kinderlos bleiben. besonders. Aber das französische Kindergeld wird erst ab dem zweiten Kind gewährt. Zwar ist die Geburtenrate in Und dennoch ist die Geburtenrate zu niedrig; sie liegt Frankreich noch höher; aber seit 2014 sinkt sie konti- mit circa 1,5 Kindern pro Frau deutlich unter dem nuierlich. Unsere Familienleistungen sind deutlich höher bestandserhaltenden Niveau. Woran liegt das? Liegt es und besser als die in Frankreich, gerade für einkommens- daran, dass sich viele Deutsche Kinder schlichtweg nicht schwache Familien sind wir Spitze in Europa. leisten können? Liegt es daran, dass Abtreibungen mitt- lerweile als etwas völlig Normales oder gar Gutes propa- Lassen Sie mich zuletzt auf den Antrag auf Einführung giert werden, für das Ärzte nach Meinung vieler hier im eines ermäßigten Steuersatzes für Babywindeln ein- Hause sogar werben dürfen? Liegt es daran, dass im gehen. Der Gesetzgeber hat bei der Einführung der öffentlich-rechtlichen Rundfunk unverhohlen für die Ste- Umsatzsteuer nach dem Mehrwertsteuersystem eine rilisation junger Frauen geworben wird, dass Kinder dort Gesamtkonzeption, die bereits Grundbedürfnisse des als karrierehemmender und freiheitseinschränkender Bal- Familienkonsums umsatzsteuerlich begünstigt. Also last dargestellt werden? Oder liegt es daran, dass die sind wir nicht „familienblind“, wie Sie schreiben, son- ARD sogar die Frage aufwirft, ob man künftig auf Kinder dern wir sehen sehr wohl genau hin. Dabei werden – verzichten sollte, um das Klima zu retten? 24600 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Mariana Iris Harder-Kühnel (A) (Zuruf von der AfD: Pfui!) (Beifall bei der AfD) (C) Meine Damen und Herren, Deutschland ist nicht von einer klimatischen, sondern von einer demografischen Vizepräsident in Claudia Roth: Katastrophe akut bedroht, Nächster Redner: Sönke Rix für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der SPD) einer Katastrophe, die dafür sorgt, dass unser Renten-, Gesundheits- und Sozialsystem kurz vor dem Kollaps Sönke Rix (SPD): steht. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kinderreichtum wird in Deutschland mittlerweile mit Meine Damen und Herren! Gleich vorweg: Meine Vor- Armut bestraft. Kinder sind im reichen Deutschland zum rednerin hat gerade von einer Klimakatastrophe gespro- Luxusgut geworden. Dabei sind Kinder eigentlich vor chen, die ja verschärft in unserer Gesellschaft stattfindet. allem eines: das Schönste, was es gibt, und unser aller Es ist fatal, wie Sie mit Beiträgen aus Ihren Reihen zu Zukunft. einem Klima beitragen, das zur Spaltung führt. Und wenn (Beifall bei der AfD) Sie sich wünschen, dass Ehepaare und Paare wieder mit gutem Gewissen Familien gründen, dann sollten Sie dazu Familien mit Kindern waren, sind und bleiben system- beitragen, dass das Klima in diesem Land nicht zu Spal- relevant; sie umfassend zu fördern, ist Verpflichtung und tung und Hass beiträgt. Auftrag zugleich. Eine aktivierende Familien- und Bevölkerungspolitik muss daher wieder zu den vorrangi- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem gen Aufgaben von Parlament und Regierung gehören; BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- denn unsere primäre Aufgabe ist es, Politik für das eigene ordneten der CDU/CSU – Martin Reichardt Volk zu machen. [AfD]: Dafür sind Sie doch zuständig!) (Beifall bei der AfD) Ich will auf etwas hinweisen – und ich bitte Sie, Frau Deshalb brauchen wir eine Familienpolitik, die diesen Präsidentin, dass Sie Ihrem Vorgänger im Präsidium mit- Namen auch verdient und junge Menschen ermutigt und teilen, dass ich ihm dankbar bin, dass er der Kollegin der es ihnen wirtschaftlich möglich macht, sich auf dieses AfD einen Ordnungsruf erteilt hat –: Wir reden hier über Abenteuer Familie einzulassen, eine Familienpolitik, Familienpolitik. In diesem Zusammenhang finde ich den die dafür sorgt, dass die Geburtenrate der einheimischen Hinweis auf Mitglieder in der Bundesregierung – es ist Bevölkerung endlich wieder steigt. übrigens auch schon im Ausschuss passiert, dass Sie die Kollegin Schauws darauf hingewiesen haben, dass sie (B) (Beifall bei der AfD) eigentlich gar keine Ahnung von Familienpolitik hat, (D) Eine Kultur des Todes lehnen wir ab. Ein Menschen- weil sie ja keine Kinder hat –, recht auf Abtreibung gibt es für uns nicht. Wir stehen (Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: Das stattdessen für eine Kultur des Lebens. war pure Absicht!) Also heißen wir Babys willkommen! Erleichtern wir die Entscheidung für ein drittes Kind! Entlasten wir auf die kinderlosen Minister und den Zwischenruf vorhin Familien! Sorgen wir für einen Wertewandel in den wieder an Frau Breymaier eine ganz perfide Art. Sie Medien, und starten wir Imagekampagnen für ein positi- spalten, Sie säen Hass. Sie sind wirklich widerlich mit ves Familienbild! Schaffen wir so eine Willkommenskul- Ihrer Art, wirklich widerlich! tur für Kinder! Denn Zukunft geht nun einmal nur mit (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, Kindern. der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Martin Reichardt [AfD]: Was wir Vizepräsident in Claudia Roth: uns hier alles anhören müssen ohne Ordnungs- Frau Kollegin. ruf!) – Ja, widerlich sind Sie mit Ihrer Art, einfach widerlich. Mariana Iris Harder-Kühnel (AfD): Deutschland muss für Familien und Kinder wieder (Dr. [AfD]: Wenn man die attraktiv werden; denn die bevölkerungspolitische Ant- Wahrheit sagt, ist man nicht widerlich!) wort auf die demografische Katastrophe, auf die wir Und dann will ich noch etwas zu Ihren Anträgen sagen. zusteuern, darf nicht länger und allein Zuwanderung hei- Da schreiben Sie davon, dass gezielt dazu beigetragen ßen. Machen wir neue – werden soll, dass Akademikerinnen und Akademiker Familien gründen. Was ist das wiederum für eine Spal- Vizepräsident in Claudia Roth: tung! Sie gerieren sich hier als Partei der angeblich Frau Kollegin, kommen Sie zum Ende! Schwachen und der sozial nicht so gut Gestellten; aber den Kinderwunsch wollen Sie nur bei den Akademikern stärken. Und was ist mit den anderen Familien? Was ist Mariana Iris Harder-Kühnel (AfD): mit den Krankenpflegerinnen und Krankenpflegern? Was – Deutsche lieber selber. Sagen wir Ja zum Leben! ist mit den Erzieherinnen und Erziehern? Den Polizisten? Sagen wir Ja zu Kindern! Und sagen wir Ja zur Familie! Das sind keine Akademiker. Deren Kinderwunsch ist Vielen Dank. Ihnen egal. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24601

Sönke Rix (A) (Martin Reichardt [AfD]: Das ist doch alles Zu guter Letzt: Kinderrechte ins Grundgesetz. Frau (C) Quatsch! – Nicole Höchst [AfD]: Märchen!) Pantel, Sie hatten gesagt: Die sind ja quasi schon drin. – Das ist wiederum eine Spaltung, die Sie vorantreiben. Nein, sie sind noch nicht ausreichend drin. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie (Sylvia Pantel [CDU/CSU]: Doch!) bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Wir formulieren sie noch mal deutlicher. Ich appelliere BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wider- deshalb auch an dieser Stelle an die Unionsfraktion: Bitte spruch bei der AfD) sorgen Sie dafür, dass das, was wir im Koalitionsvertrag Dann schreiben Sie in Ihrem Antrag von einem Werte- aufgeschrieben haben, auch umgesetzt wird mit konkre- wandel im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Sie wollen ten Formulierungen, die tatsächlich dazu beitragen, dass einerseits dazu beitragen, dass da ein Wertewandel pas- die Kinderrechte gestärkt werden. Wir halten uns an die siert. Andererseits beschweren Sie sich, dass Ihre Mei- Abmachung im Koalitionsvertrag. nungsfreiheit und die Pressefreiheit eingeschränkt wer- (Dr. Götz Frömming [AfD]: Elternrechte den. schwächen wollen Sie!) (Dr. Götz Frömming [AfD]: Die haben den Mit gestärkten Kinderrechten schaffen wir auch gute Kontakt zu den Menschen verloren!) Bedingungen für Familiengründungen. Wir haben das hohe Gut der Meinungs- und Pressefrei- Danke schön. heit, und wir als Bundestag sollten nicht in den öffentlich- (Beifall bei der SPD) rechtlichen Rundfunk reinregieren, sondern wir sollten auch da die Presse- und Medienfreiheit hochhalten und keinen Wertewandel in Ihrem Sinne fordern! Vizepräsident in Claudia Roth: Vielen Dank, Sönke Rix. – Nächste Rednerin: für die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten FDP-Fraktion Katrin Helling-Plahr. der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP) Und dann schreiben Sie davon, dass Sie quasi eine – so wird hier suggeriert – staatlich verordnete Bevölkerungs- Katrin Helling-Plahr (FDP): politik haben wollen. Lassen Sie sich vielleicht noch Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Her- mal – vielleicht von Ihren Kindern oder Enkelkindern – ren! Die AfD-Fraktion legt heute ein Konvolut an Papier- erklären, wie das ist mit den Bienen und den Blumen! chen vor, Nicht wir sind diejenigen, die dazu beitragen, dass Kinder (Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: Das (B) geboren werden, sondern das wird schon ganz allein in trifft es: „Papierchen“! (D) den Familien und von den Paaren entschieden. Das ist auch gut so, und da wollen wir gar nicht reinregieren. die wohl alle irgendetwas mit Familie zu tun haben sol- len. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Martin Reichardt [AfD]: Nein? Aber zu Weihnachten, Worum geht es der AfD wirklich, wenn sie vorgibt, da dürfen wir uns nicht treffen? Da regieren Sie Familienpolitik machen zu wollen? Sie schreibt es selbst rein!) in einem der Papiere: Dem Gesetzgeber obliege es – es ist heute schon zitiert worden –, „den Erhalt des deutschen Aber wir wollen die Voraussetzung für vernünftige Staatsvolkes zu sichern“. Aha! Meine Damen und Her- Rahmenbedingungen für Familien schaffen. ren. (Zuruf von der AfD: Machen Sie es doch end- Und wie will die AfD das machen? Mit Einschnitten in lich!) die freie Presse; denn es passt ihr nicht, wenn medial Da will ich auch mit einer Mär aufräumen. Sie behaupten Lebenswege ohne Kinder diskutiert werden. Mit einem immer, dass die Familien keine Wahlfreiheit haben, dass staatlichen Zwangsdarlehen, das beim ersten Kind ausge- wir sie in bestimmte Richtungen stoßen. Nein, wir sorgen zahlt wird und erst nach fünf Jahren zurückgezahlt wer- dafür, dass die Familien Wahlfreiheit haben, den darf. Ist dann das Geld weg, können die Darlehens- schuldner einfach zwei weitere Kinder bekommen, dann (Beifall der Abg. Ulli Nissen [SPD]) gibt es den Schuldenerlass. Und natürlich, indem sie ver- indem wir Infrastruktur ausbauen, damit sie sich ent- sucht, die Möglichkeit zur Abtreibung einzuschränken. scheiden können für Familie und Beruf oder eben auch Meine Damen und Herren von der AfD-Fraktion, Sie nur Familie. wollen, dass die Leute Kinder kriegen, weil sie nicht (Dr. Götz Frömming [AfD]: Oder nur arbeiten! umfassend informiert sind, weil sie kein Geld haben Die haben keine Zeit mehr!) oder weil sie nicht abtreiben dürfen. Aber sie müssen sich entscheiden können. Deshalb sor- Wir Freie Demokraten möchten, dass die Menschen gen wir für eine gut ausgebaute Kinderbetreuung, meine Kinder bekommen, die sich das aus tiefstem Herzen Kolleginnen und Kollegen. heraus wünschen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Dr. Götz Frömming [AfD]: Das tun viele!) der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE Wir möchten Menschen darin unterstützen, den für sie GRÜNEN – Zuruf der Abg. Nicole Höchst richtigen Weg zu gehen – mit wie vielen Kindern auch [AfD]) immer. Wir möchten, dass Menschen Kinder bekommen, 24602 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Katrin Helling-Plahr (A) weil sie ein unglaublich großartiges Geschenk sind und es Aktuelle Stunde gehabt, weil Ihnen die Kindersendung (C) großartig ist, sie beim Aufwachsen und bei ihrem indivi- „logo!“ nicht gepasst hat. Deshalb dazu nur wenige Wor- duellen Weg ins Leben begleiten zu dürfen. Wir stehen te. deshalb an der Seite derjenigen, die sich ganz selbstbe- (Dr. Götz Frömming [AfD]: Ist auch schlecht!) stimmt sehnlichst ein Kind wünschen. Nehmen Sie doch bitte zur Kenntnis: Der Rundfunk- Wir setzen uns dafür ein, dass die Kosten für Kinder- staatsvertrag wurde inzwischen vom Medienstaatsvertrag wunschbehandlungen wieder vollumfänglich von der abgelöst. Wenn man bei einer Rundfunksendung Ver- Krankenversicherung getragen werden; denn die Ver- dacht auf entwicklungsbeeinträchtigende Inhalte hat, wirklichung eines Kinderwunsches darf nicht am Geld- dann wendet man sich an den Rundfunkrat des Senders beutel scheitern. oder an die Seite programmbeschwerde.de. (Beifall bei der FDP) (Dr. Götz Frömming [AfD]: Wer kontrolliert Wir wollen die Möglichkeiten der modernen Reproduk- das denn?) tionsmedizin auch in Deutschland zugänglich machen. Im Übrigen gilt: Nicht nur in der Schule, sondern auch Wir wollen Eizell- und Embryonenspenden, die fast über- im öffentlich-rechtlichen Rundfunk macht der all in Europa bereits legal sind, erlauben. Wir möchten Beutelsbacher Konsens Sinn. Er verlangt, unterschiedli- die Möglichkeit zu nichtkommerzieller Leihmutterschaft, che Meinungen darzustellen, zu diskutieren und zu die aus reiner Nächstenliebe erfolgt, schaffen. Es kann reflektieren, nicht sein, dass wir Betroffene ins Ausland verweisen und hier so tun, als gäbe es all das nicht. Wir müssen (Dr. Götz Frömming [AfD]: Wer hält sich denn endlich das veraltete Embryonenschutzgesetz durch ein daran noch?) zeitgemäßes Chancengesetz ersetzen. nicht überwältigend von vorne, sondern schülerorientiert und kontrovers. Das ist übrigens das, was in anderen (Beifall des Abg. Dr. h. c. [FDP] – Dr. Götz Frömming [AfD]: Kurz: Sie Medien, auf denen Sie fleißig unterwegs sind, eher nicht passiert. wollen Designerbabys!) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Wir wollen das Adoptionsrecht auf die Agenda nehmen bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE und das Familienrecht ganz grundsätzlich der heutigen GRÜNEN) Lebensrealität anpassen, beispielsweise das Wechselmo- dell als Leitbild implementieren. Diskussion statt Hate Speech. Vielfalt statt Einfalt. Lassen Sie uns diejenigen unterstützen, die Eltern sein Deshalb wird – zu einem anderen Thema, das Sie inte- (B) wollen! ressiert – zum Beispiel im hessischen Lehrplan Sexual- (D) erziehung sowohl auf die Vielfalt sexueller Orientierun- (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Gülistan gen als auch – und das ist sehr wichtig – auf die Yüksel [SPD]) Bedeutung des Schutzes des ungeborenen menschlichen Lebens eingegangen. Was Sie hier fordern, gibt es längst Vizepräsident in Claudia Roth: schon. Vielen Dank, Katrin Helling-Plahr. – Die nächste Red- Aber wichtiger als Ihre Einzelanträge ist das Bild vom nerin: für die CDU/CSU-Fraktion . Menschen, von Familie und vom Staat, das Sie uns hier (Beifall bei der CDU/CSU) immer wieder präsentieren und das sogar manche viel- leicht nachvollziehbare Frage in eine Sphäre zieht, in die sie nicht gehört. Bettina Margarethe Wiesmann (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich möchte noch mal aus Ihren Anträgen ein paar Wir haben hier heute Vormittag ein vertrocknetes Sträuß- Dinge zitieren: „Eine Gesellschaft kann nur fortbestehen, chen an Wünschen der AfD an die Familienpolitik zu wenn sie aus sich heraus gedeiht“, schreiben Sie. Nein, besprechen, das Sie erkennbar unter großen Mühen eine Gesellschaft gedeiht im Austausch mit anderen. zusammengepflückt haben. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des Sönke Rix [SPD]: Das ist ihnen zu hoch!) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Norbert Sie behaupten, Bundesregierung und Koalition würden Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: Sehr lieblos!) dem demografischen Wandel – Zitat – „ausschließlich Zumeist sind es schlappe Wiederholungen des immer mit gesteuerter oder ungesteuerter Zuwanderung … Gleichen. Ihr Wunsch nach Umsatzsteuerabsenkung für begegnen“. Sie würden das Thema ignorieren und über Babywindeln war ja schon Teil Ihres Antrags vom März Lösungen nicht nachdenken. Schon einmal vom Bericht 2019, den der Bundestag abgelehnt hat. der Kommission „Verlässlicher Generationenvertrag“ ge- hört? Lohnt, gelesen zu werden. Auch Ihr Wunsch nach Zensur des öffentlich-rechtli- chen Rundfunks, wenn Ihnen eine Sendung – genauer (Martin Reichardt [AfD]: Nein, lohnt nicht!) gesagt: ein kleiner Teil, eine Meinungsäußerung inner- Sie behaupten weiter, kinderreiche Familien würden halb eines größeren Formats – nicht passt, ist nicht neu. hierzulande herabgewürdigt und stigmatisiert. Einiges Vor ziemlich genau einem Jahr haben wir hier eine ist dazu schon gesagt worden. Eine genaue Betrachtung Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24603

Bettina Margarethe Wiesmann (A) der Studie von Bujard und anderen, die Sie erwähnen, ten müssen. Das sind erstens Familienzeitkonten, die es (C) zeigt: Die Vermutung, Kinderreiche würden gering erlauben, dass ein Teil der geleisteten Arbeitszeit zurück- geschätzt, hegen 82 Prozent der Befragten, aber lediglich gelegt werden kann, zum Beispiel die geleisteten Über- knapp 10 Prozent stimmen der Aussage selber zu. Ich stunden, die man dann später für weniger Arbeit bei selbst habe mich mit vier Kindern – ganz im Gegenteil – gleichem Lohn einsetzen kann. Das wäre ein Konzept, oft besonders anerkannt gefühlt. Also hören Sie doch wie die Familie sich aus eigener Leistung versorgen bitte auf, zum Schlechtreden beizutragen. kann. Es verspricht Wahlfreiheit und bietet Flexibilität (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem und Verlässlichkeit. Dazu gehören zweitens digitale BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Familienleistungen und Familienbüros, in denen über Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]) diese Leistungen informiert wird und wo auch direkt die Beantragung erfolgen kann. Das schont die Nerven Verlangen Sie nicht in einem Antrag, Eltern beim drit- und bringt Zeit für die Familien. ten Kind 10 000 Euro zu schenken, und im nächsten An- trag, Eltern sollten aus eigener Leistung ihre Kinder ver- Die Koalition hat diesen Weg begonnen, und jetzt muss sorgen können. Ihre Agenda ist offensichtlich, etwas er kraftvoll fortgesetzt werden. Familienpolitik ist für uns schlechtzureden und dann irgendwelche widersprüchli- nicht Bevölkerungspolitik. Sie soll Familien dort entlas- chen Forderungen zu erheben. ten, wo sie es brauchen. Familien wollen sich frei ent- falten – ohne Bevormundung, ohne für andere Zwecke in (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Anspruch genommen zu werden. Das macht – es ist bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE schon gesagt worden, aber man kann es nicht oft genug GRÜNEN) sagen, liebe Sylvia – Lust auf Familie. Wahrscheinlich – und das ist noch die mildeste Interpre- Familien haben Anerkennung verdient, egal ob sie ein, tation – wissen Sie selber nicht, was Sie wirklich wollen. zwei, drei, sechs oder mehr Kinder haben. Sie haben (Dr. Götz Frömming [AfD]: Was tun Sie denn Anspruch auf Unterstützung, um nicht in Notlagen zu für Kinder?) geraten. Genauso müssen sich Kinderlose nicht entschul- digen; denn sie tragen in aller Regel überproportional zur Deshalb – sehr gutes Stichwort – sollten wir hier ein- Gesamtleistung der Gesellschaft bei, und auch sie haben mal klarstellen, was dieser Staat für Familien tut. Er selbstverständlich die freie Wahl. unterstützt sie nämlich jährlich mit über 120 Milliarden Euro, wenn man die ehebezogenen Leistungen, die wir (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie sehr wichtig finden, noch dazu nimmt, sogar mit über bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNIS- 200 Milliarden Euro. Die kommen teilweise in Form SES 90/DIE GRÜNEN) (B) (D) von finanziellen Leistungen, teilweise als Infrastruktu- Für uns heißt Familienpolitik auch: Eltern stärken, rangebote. Zu den Details haben wir hier schon wirklich Kindern mehr zuhören, Kinder und Jugendliche systema- viel Wichtiges gehört. tisch und altersgerecht beteiligen, zum Beispiel über die (Dr. Götz Frömming [AfD]: Man hört ja von der Bundesregierung dankenswerterweise vermehrt nichts!) geförderten Jugendparlamente. Familienpolitik bedeutet aber auch, das Engagement für andere zu stärken, und das Was tatsächlich aber fehlt, haben Sie bestimmt nicht im beginnt bereits in der Familie. Ich will hier nur das Stich- Blick. Es gehört nämlich Vertrauen in die eigene Stärke wort „Freiwilligendienste“ erwähnen. und in die unterstützende Solidarität der Gesellschaft dazu, ein Kind großzuziehen. Es gehört auch Zeit dazu, Das ist unser Bild von Familie und vom Zusammenhalt die man haben oder sich nehmen muss. Hier sehe ich die der Gesellschaft. Sie von der AfD dagegen grenzen aus, große Aufgabe für die Familienpolitik der nächsten Jahre, Sie spalten, Sie vergiften, und zwar jeden Tag mit ande- die auch noch nicht vollständig erledigt ist: Zeit zu ren Überschriften, aber meist in derselben Tonart. Es geht gewinnen für Familie, für Erziehung, für Sorge in der Ihnen nicht ums deutsche Volk, das sich nach den furcht- Familie, für die man Verantwortung hat, barsten Erfahrungen den besten Staat gegeben hat, der je existiert hat, (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Götz Frömming [AfD]: Wie soll das gehen, wenn (Dr. Harald Weyel [AfD]: Aber nicht die beste beide Eltern arbeiten müssen?) Regierung!) und Eltern zu ermöglichen, Kinder als Teil ihrer Familie der weltoffen und bescheiden, in vielem vorbildlich für zu erleben und umgekehrt. Sie alle wünschen sich das die Welt ist, der aber nicht auftrumpft. nämlich. Das geht nur schwer mit permanenter, unflexibler Vizepräsident in Claudia Roth: Doppel-Vollerwerbstätigkeit. Deshalb müssen Familien Frau Kollegin. flexibler als bisher ihre Zeit einteilen können und das über den gesamten Lebensverlauf. Viele Arbeitgeber bie- Bettina Margarethe Wiesmann (CDU/CSU): ten hier schon Spielräume, übrigens in den meisten Letzter Satz. – Deutschland ist ein Land, das seit Jahr- Gehaltsstufen. Dafür gibt es auch Rechtsansprüche. hunderten von Einwanderung, Handel und Austausch Es fehlen aber noch Instrumente – damit beschäftigen profitiert und dessen Reichtum ohne die Vielfalt seiner wir uns als Unionsfraktion –, die bewirken, dass sich Gruppen und Regionen nicht zum Vorteil des Ganzen junge Paare nicht vor familiären Verpflichtungen fürch- hätte nutzbar gemacht werden können. 24604 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Bettina Margarethe Wiesmann (A) (Dr. Götz Frömming [AfD]: Wir müssen die (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, (C) Einwanderung regeln!) der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Familien sind das Herz dieser Gesellschaft, die zusam- menhält; ihre Vielfalt ist ein Bollwerk gegen Vereinnah- Als gewählte Abgeordnete des Deutschen Bundestages mung, wie Sie sie wohl wollen, eine ständige Quelle von vertrete ich ohne Wenn und Aber die Interessen aller Zukunft – – Menschen hier in Deutschland, und ich mache im Gegen- satz zu Ihnen keine Unterschiede zwischen den Men- Vizepräsident in Claudia Roth: schen. Vielen Dank, Frau Kollegin! (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE Bettina Margarethe Wiesmann (CDU/CSU): GRÜNEN) Damit können wir getrost in die Zukunft blicken. Sie wollen die Selbstbestimmung der Frauen ein- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- schränken, insbesondere die reproduktiven Rechte. Sie ordneten der SPD) reden über Frauenrechte, geben ihnen aber keine. Sie wollen mit Ihrem frauenfeindlichen Populismus Frauen zurück in traditionelle Geschlechterrollen zwingen. Wir Vizepräsident in Claudia Roth: aber halten dagegen – hier im Parlament und auch in Vielen herzlichen Dank, Bettina Wiesmann. – Letzte unserer Gesellschaft. Rednerin in dieser Debatte: Gülistan Yüksel für die SPD- Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD) Wir unterstützen Frauen und Männer in ihrem Kinder- wunsch, weil sie es selbst wollen, und nicht, weil es eine Gülistan Yüksel (SPD): Bevölkerungsideologie ist. Wir arbeiten für mehr Unter- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und stützungsangebote für Frauen und Familien, also mehr Herren vor den Bildschirmen! Liebe Kolleginnen und Hilfen für Alleinerziehende, mehr kostenlose Kitaplätze Kollegen! Grundsätzlich freue ich mich immer, wenn und Betreuungsangebote, mehr Teilzeitmöglichkeiten wir hier im Deutschen Bundestag zu prominenter Stunde auch in Führungspositionen. Das ist gute Familienpolitik. über wichtige frauen- und familienpolitische Themen dis- kutieren. Was mich aber weniger freut, ist, wenn die AfD Es ist auch gute Frauenpolitik, wenn es neben den Unterstützungsangeboten für junge Mütter und Familien (B) unsere Zeit damit vergeudet, eine rassistische Bevölke- (D) rungspolitik zu propagieren. auch Hilfen für Frauen gibt, die ungewollt schwanger geworden sind. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der GRÜNEN – Dr. Götz Frömming [AfD]: Müs- Abg. Kerstin Kassner [DIE LINKE]) sen Sie ja nicht!) Um es klarzustellen: Wenn sich ungewollt Schwangere für einen Abbruch entscheiden, fällen sie diese Entschei- Schon aus dem AfD-Grundsatzprogramm und auch aus Ihren Anträgen in Landtagen und hier im Deutschen dung nicht leichtfertig. Als SPD ist für uns klar: Betrof- Bundestag wird immer wieder deutlich: Sie hängen fene Frauen und ihre Ärztinnen und Ärzte brauchen Rechtssicherheit und eine flächendeckende Versorgungs- einem völkischen Weltbild nach. Sie schwadronieren von einer „aktivierenden Familienpolitik“ als „einzige lage. tragfähige Lösung“, um „eine höhere Geburtenrate der (Beifall bei der SPD) einheimischen Bevölkerung“ zu bewirken. Sie schreiben Um Frauen in einer Not- und Konfliktsituation beisei- vom „Erhalt des deutschen Staatsvolkes“. tezustehen, haben wir in unserem Land gute Beratungs- (Martin Reichardt [AfD]: Sie müssen richtig angebote und gute Beratungsstellen. Wir haben ein Hilfe- lesen! Das steht da nicht drin!) telefon „Schwangere in Not“, das rund um die Uhr anonym und kostenfrei erreichbar ist. Wir haben die Bun- Ihr AfD-Verband aus meinem Wahlkreis schrieb un- desstiftung Mutter und Kind, die Müttern in Notlagen mit längst, dass ich nicht die Belange der deutschen Bürger- Erstausstattung oder Betreuungskosten hilft. Wir haben innen und Bürger in Deutschland vertreten könne. die Frühen Hilfen, die Hilfsangebote von der Schwanger- ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schaft bis in die ersten Lebensjahre bieten. Wir haben ein NEN]: Unverschämtheit!) Informationsportal für Familienplanung und den Weg- weiser für Familien. Das ist gute Familien- und Frauen- „Der letzte Deutsche wird von einem Moslem beerdigt“, politik, meine sehr verehrten Damen und Herren! wurde da öffentlich getönt. (Beifall bei der SPD) (Sönke Rix [SPD]: Schweinerei von der AfD! – Zuruf von der LINKEN: Schweinerei!) Wir stellen uns gegen ein diskriminierendes Frauen- bild, gegen Antifeminismus und gegen ein völkisches Nun, meine Herrschaften von der AfD, ob Sie wollen Weltbild. oder nicht: Deutschland ist meine Heimat, und das seit mehr als 50 Jahren. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24605

Gülistan Yüksel (A) Wir stehen für Frauenrechte, für Gleichstellung und Frei- Ich erinnere mich noch gut an die schwierigen Gesprä- (C) heit für alle. che etwa mit Sergej Lawrow, dem russischen Außen- minister, als Russland und China während unserer Herzlichen Dank. Präsidentschaft im Juli damit drohten, die grenzüber- (Beifall bei der SPD) schreitende humanitäre Hilfe in Syrien auslaufen zu las- sen. Vizepräsident in Claudia Roth: Und natürlich war es schmerzhaft, dass wir den Zu- Vielen Dank, Gülistan Yüksel. – Damit schließe ich die gang für die humanitären Helfer in Syrien am Ende auf Aussprache. einen Grenzübergang beschränken mussten. Aber der Unterschied zwischen diesem einen und keinem Grenz- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf übergang ist für Tausende von Syrerinnen und Syrern ein den Drucksachen 19/24672, 19/24656, 19/24673, Unterschied zwischen Leben und Tod gewesen. Deshalb 19/24657 und 19/24652 an die in der Tagesordnung auf- haben wir – und das ist nur ein Beispiel – Tage und Näch- geführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Andere Vorschlä- te über dieses eine Thema durchverhandelt, und so ging ge haben wir nicht. Dann wird genau so verfahren. es bei vielen anderen auch. Und deshalb haben wir am Ich rufe den nächsten Tagesordnungspunkt, und zwar Ende auch, und zwar zusammen mit anderen, einen Kom- Tagesordnungspunkt 9, auf: promiss erzwungen. Gleiches gilt etwa für den Sudan. Manch ein Sicher- Vereinbarte Debatte heitsratsmitglied hatte schon auf die endgültige Abwick- Bilanz der deutschen Mitgliedschaft im VN- lung der UN-Mission in Darfur spekuliert. Sicherheitsrat 2019/2020 Für die Aussprache haben wir 60 Minuten beschlossen. Vizepräsident in Claudia Roth: Herr Minister, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder Bevor ich den ersten Redner aufrufe, warte ich, bis Sie -bemerkung vom Kollegen Dr. Neu aus der AfD, Ent- die Plätze getauscht haben. schuldigung, von der Linken? – Entschuldigung! Dann erteile ich das Wort dem Bundesaußenminister (Zuruf von der CDU/CSU: Das kann man ver- Heiko Maas. wechseln!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Heiko Maas, Bundesminister des Auswärtigen: (B) Von wem jetzt? (D) Heiko Maas, Bundesminister des Auswärtigen: Meine sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegin- Vizepräsident in Claudia Roth: nen und Kollegen! Der Sicherheitsrat der Vereinten Vom Kollegen aus der Fraktion Die Linke, von Nationen ist nichts anderes als ein Spiegel der Weltpoli- Dr. Neu. tik, und die hat ganz sicherlich das Prädikat „schwierig“ in den letzten Jahren mehr als verdient. Nicht anders kann Heiko Maas, Bundesminister des Auswärtigen: man auch die Arbeit im Sicherheitsrat der Vereinten Dr. Neu, bitte, sehr gerne. Nationen selbst beschreiben. Der Rückzug der USA aus multilateralen Strukturen Vizepräsident in Claudia Roth: unter Donald Trump, der wachsende amerikanisch-chine- Entschuldigung. sische Gegensatz auf allen Ebenen und die Missachtung des Völkerrechtes, und zwar auch durch ständige Mit- glieder: Das alles ist nicht spurlos am Sicherheitsrat vor- Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE): beigegangen. Und natürlich ist der Raum für Fortschritte Herr Außenminister Maas, ein kleiner Blick nach links und Kompromisse in dieser Zeit aus diesen Gründen auch reicht aus, und Sie können mich erkennen. mehr als geschrumpft. Ich hatte vor Kurzem schon mal beim Auswärtigen Amt herauszufinden versucht, wie viele Resolutionsent- Dennoch: Wer nun den Abgesang auf den Sicherheits- würfe von Russland, China oder den USA oder Groß- rat anstimmt, dem will ich beispielhaft mal eine Zahl britannien, also den ständigen Mitgliedern, jeweils abge- entgegenhalten, und diese Zahl lautet: 101. So viele lehnt worden sind, mit einem Veto oder einem Hidden Resolutionen hat der Sicherheitsrat der Vereinten Natio- Veto sozusagen verhindert worden sind. Eine solche Auf- nen trotz aller Kontroversen und trotz schwieriger Rah- listung wurde mir vom Auswärtigen Amt verweigert. menbedingungen während unserer Mitgliedschaft verab- schiedet – von Afghanistan bis Jemen, von Sudan bis zur Meine Frage: Würden Sie sich in Ihrem Haus dafür Zentralafrikanischen Republik –, und oft waren es die einsetzen, dass wir als Abgeordnete mal einen Überblick Europäer im Sicherheitsrat, die immer wieder Kom- über die abgelehnten oder Hidden Vetoes der Sicherheits- promisse vorgeschlagen haben, in unendlichen Gesprä- ratsmitglieder seit 2010 bis heute bekommen? Das würde chen nach Lösungen gesucht haben, aber auch, wo es für die Politikwissenschaft, für die Geschichtswissen- nötig gewesen ist, ganz entschieden dagegengehalten schaft und für die Parlamentarier in diesem Hause sicher- haben. lich dazu beitragen, einen Überblick zu bekommen. 24606 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Dr. Alexander S. Neu (A) Vielen Dank. worum es uns geht, nämlich darum, das Gewicht Europas (C) und vor allen Dingen der Europäischen Union im Sicher- Vizepräsident in Claudia Roth: heitsrat der Vereinten Nationen zu stärken. Und ich bin froh, dass uns mit Norwegen und Irland ab Januar zwei Vielen Dank. – Herr Minister, bitte. Länder nachfolgen, die diesen Weg ganz konsequent wei- tergehen wollen. Heiko Maas, Bundesminister des Auswärtigen: Sehr geehrter Herr Abgeordneter, ich kann Ihnen zusi- Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch inhaltlich sind chern, dass ich mich mit Nachdruck in meinem Hause wir uns in diesen zwei Jahren treu geblieben. In jeder und auch bei der Vertretung in New York dafür einsetzen einzelnen der 101 Resolutionen der letzten Monate haben werde, dass man dem Genüge tut. Das ist eine ganze sich unsere Kolleginnen und Kollegen in New York und Menge, zurückblickend bis 2010. Aber ich bin mir sicher, Berlin immer für einen vorausschauenden umfassenden dass wir in absehbarer Zeit eine solche Übersicht für Sie Sicherheitsbegriff eingesetzt, der zum Ziel hat, dass sich zustande bringen, und ich hoffe, dass sie dazu führt, dass der Sicherheitsrat nicht immer erst dann mit Themen Sie in Zukunft bei dem einen oder anderen Thema viel- befasst, wenn vor Ort bereits geschossen wird, sondern leicht auch zu anderen Schlüssen kommen. viel früher, um solche Konflikte möglicherweise zu ver- hindern. Also, Menschenrechte, die Verfolgung von (Heiterkeit des Abg. Bijan Djir-Sarai [FDP]) Kriegsverbrechen, die Beteiligung von Frauen an Frie- densprozessen, ihr Schutz vor sexueller Gewalt, all das Vizepräsident in Claudia Roth: wäre ohne diesen Einsatz oft schlicht und einfach unter Vielen Dank. den Tisch gefallen, weil nicht alle Mitglieder im Sicher- heitsrat der Vereinten Nationen – auch permanente Mit- glieder des Sicherheitsrates – bereit sind, diese Prioritäten Heiko Maas, Bundesminister des Auswärtigen: und damit auch diese Realitäten in der internationalen Meine Damen und Herren, ich würde gerne auf einige Politik anzuerkennen. Beispiele zurückkommen, bei denen man sehen kann, dass der Sicherheitsrat zumindest nicht gänzlich seine Wegen der gravierenden Folgen für die Menschen, die Handlungsfähigkeit verloren hat. Ich habe Syrien ange- unter Kriegen und Konflikten leiden, ist das Thema, dass sprochen und würde gerne auch den Sudan und insbeson- der Sicherheitsrat auch viel mehr präventiv arbeitet, ganz dere die UN-Mission ansprechen, die für viele schon besonders wichtig. Und genau diese Menschen, Vertre- beendet gewesen ist. Doch letztlich durften wir im Sudan terinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft, haben wir im nach der Absetzung al-Baschirs einen neuen demokrati- Rat zu Wort kommen lassen. Häufiger als irgendein ande- (B) schen Sudan mit all dem, was es an Hoffnung in diesem res Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (D) Land gibt, eben nicht im Stich lassen. Und so haben wir haben wir immer wieder Zivilorganisationen, Menschen- es auch gemeinsam mit Großbritannien geschafft, eine rechtsorganisationen als Briefer im Sicherheitsrat vortra- völlig neue UN-Mission aus der Taufe zu heben, die gen lassen. Gemeinsam mit Frankreich haben wir den nun den politischen Reformen Unterstützung leistet und sogenannten Call for Humanitarian Action angestoßen. auch den laufenden Friedensprozess begleitet. Das alles Er steht für unseren Einsatz zum Schutz des humanitären sah am Anfang der Diskussion ganz anders aus. Völkerrechts und zum Erhalt des humanitären Raumes. Das gilt auch für Libyen. Ohne den Berliner Prozess, Meine Damen und Herren, auch das Thema „Abrüs- den wir ja hier mit der Libyen-Konferenz zu Beginn des tung und Nichtverbreitung“ haben wir erstmals seit acht Jahres gestartet haben, und ohne unser ständiges Nach- Jahren überhaupt wieder auf die Tagesordnung im Sicher- halten der eingegangenen Verpflichtungen im Sicher- heitsrat gesetzt. Darüber ist acht Jahre lang im Sicher- heitsrat und auch im Sanktionsausschuss würden wir heu- heitsrat der Vereinten Nationen nicht gesprochen worden. te nicht über eine politische Friedenslösung und freie Es gab viel Skepsis auch wiederum bei permanenten Mit- Wahlen im Dezember in Libyen sprechen. Was der gliedern des Sicherheitsrates, ob man überhaupt wieder Sicherheitsrat als Ergebnis von Berlin, der Libyen-Kon- über dieses Thema reden sollte. Dass das in einer Zeit ferenz hier in Berlin, indossiert hat, bildet heute die Basis notwendig ist, in der wieder an der Rüstungsspirale für das Libysche Politische Dialogforum. gedreht wird, ist uns, glaube ich, allen klar. Wir haben auch berechtigte Hoffnungen, dass sich dies in den nächs- Und dass wir trotz aller Polarisierung des Sicherheits- ten Monaten auszahlt, etwa bei der Vorbereitung der rates in der Lage gewesen sind, solche Fortschritte zu Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrages, erzielen, hat auch etwas damit zu tun, dass wir Kurs die im nächsten Jahr stattfinden wird. gehalten und uns an dem orientiert haben, was wir als Zweijahresprogramm dort vorgelegt hatten. Wir hatten Meine Damen und Herren, wir haben natürlich nicht von Beginn an immer großen Wert darauf gelegt, dass immer alles erreicht, schon gar nicht so, wie wir uns das wir eine starke europäische Stimme im Sicherheitsrat gewünscht hätten. Aber unter unserer Präsidentschaft ist sein wollen. im Juli endlich der Aufruf zu einer weltweiten Waffen- ruhe während der Coronapandemie beschlossen worden. (Beifall bei Abgeordneten der AfD) Bedauerlicherweise hat es viel zu lange gedauert, näm- Wir haben uns nicht nur täglich mit unseren europä- lich komplette vier Monate, bis sich der Sicherheitsrat ischen Partnern abgestimmt, wir haben auch gemeinsam dazu überhaupt durchringen konnte. Und auch eine ambi- Sondersitzungen einberufen, gemeinsam abgestimmt und tionierte Resolution zu den Folgen des Klimawandels für damit der Weltöffentlichkeit auch gemeinsam erklärt, Frieden und Sicherheit war mit der Trump-Administra- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24607

Bundesminister Heiko Maas (A) tion bedauerlicherweise überhaupt nicht machbar gewe- „Frauen, Frieden und Sicherheit“, das ist ein ideologisch (C) sen. Doch wir haben erhebliche Vorarbeit geleistet, erst- getriebenes Wohlfühlthema. mals eine informelle Expertengruppe des Sicherheitsrates ins Leben gerufen und sogenannte Referenzdokumente (Beifall bei der AfD – Zuruf der Abg. Kerstin zusammengetragen, die die sicherheitspolitischen Risi- Kassner [DIE LINKE]) ken des Klimawandels eindeutig belegen, und darauf Es trägt nichts zur Sicherheit bei, umso mehr zu Selbst- wird die Arbeit unserer irischen und norwegischen gefälligkeit und Selbstzufriedenheit. Freunde ab dem nächsten Jahr aufsetzen. Meine Damen und Herren, ich bin auch froh, dass (Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Resolu- unsere Nachfolger im Sicherheitsrat nicht nur darauf auf- tion 1325 sollten Sie vielleicht mal lesen!) bauen können, sondern auch auf eine Biden-Administra- Die NGOs der sogenannten Zivilgesellschaft können tion, die sich endlich wieder zum Multilateralismus jubeln, wenn unter dem Deckmantel des Einsatzes für die bekannt hat. Nicht nur die ersten Personalvorschläge VN-Agenda 1325 ihre radikalfeministischen Ziele umge- des künftigen amerikanischen Präsidenten machten uns setzt werden. Hoffnung, dass die USA ihre Rolle als überzeugter Multi- lateralist und Stütze der internationalen Ordnung endlich (Beifall bei der AfD) wieder einnehmen. Das Wissen aus einer Lektion der letzten Jahre sollten wir als Europäer dennoch bewahren, So sollen nach dem Willen Deutschlands, Frankreichs nämlich dass es – darüber müssen wir uns alle klar wer- und Schwedens die Geschlechterstereotype hinterfragt den – viel stärker als früher auch auf uns ankommen wird, werden, worunter sich die Zerstörung der traditionellen in dieser Welt Regeln zu verteidigen und neue zu setzen, Familie und der Einsatz für die lautstarke LGBTQ-Lobby Regeln, die eben allen Menschen zugutekommen. Auch verbergen. Die sogenannte Zivilgesellschaft, die von Deutschland muss sich dieser Verantwortung weiter stel- Heiko Maas getätschelten NGOs klatschen da in die Hän- len – in den Vereinten Nationen und natürlich auch im de. Dutzende Staaten auf dieser Welt wenden sich ange- Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. widert ab. Sie wollen zu Recht keinen deutschen Werte- imperialismus, sie wollen zu Recht die Konzentration auf Dass wir einen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten klassische sicherheitspolitische Themen, von denen es Nationen auch auf Dauer auszufüllen wissen, das haben auch mehr als genug gibt auf dieser Welt. wir in den letzten beiden Jahren bewiesen. Deshalb wol- len wir nicht nur in acht Jahren erneut für einen nicht- (Beifall bei der AfD) ständigen Sitz im Sicherheitsrat kandidieren, sondern wir wollen bis dahin ein ständiges Mitglied im Sicherheitsrat Wenn es allerdings um die wirklich wichtigen Themen (B) (D) der Vereinten Nationen werden. geht, dann versagt diese Bundesregierung. Sind wir durch unsere Mitgliedschaft im Sicherheitsrat etwa dem Ziel Herzlichen Dank. eines ständigen deutschen Sitzes nähergekommen? (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wohl kaum. Dabei heißt es im deutsch-französischen der CDU/CSU) Aachener Vertrag in Artikel 8 Absatz 2 – ich zitiere –, dass die „Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland als Vizepräsident in Claudia Roth: ständiges Mitglied des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen … eine Priorität der deutsch-französischen Dip- Vielen Dank, Heiko Maas. – Nächster Redner: für die lomatie“ sei. Wo war Deutschland denn im Sicherheitsrat, AfD-Fraktion Dr. Anton Friesen. als es um Bergkarabach ging? Bekanntlich gab es erst (Beifall bei der AfD) dann eine vorläufige Lösung, als sich die Russen und die Türken bilateral zusammensetzten. Bei all den Dr. Anton Friesen (AfD): 101 Resolutionen, wo bleibt die eine Resolution, die die Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen Gefährdung des internationalen Friedens, der internatio- und Herren Abgeordnete! Liebe Bürger! „Die Vereinten nalen Sicherheit durch die Türkei ganz klar verurteilt – in Nationen wurden nicht geschaffen, um die Menschheit in Libyen, in Syrien, in Bergkarabach und in der Ostägäis? den Himmel zu führen, sondern um sie vor der Hölle zu (Beifall bei der AfD) retten“, sagte einst einer der herausragenden Generals- ekretäre der Vereinten Nationen, Dag Hammarskjöld. Zu guter Letzt noch eine Bemerkung zu Israel. Diese Bundesregierung jedoch will die Menschheit über Bekanntlich war es dieses Land, das durch das Zurück- die Vereinten Nationen in den Himmel ihrer utopistischen ziehen der eigenen Bewerbung die deutsche Mitglied- Vorstellungen führen. schaft im Sicherheitsrat überhaupt erst ermöglicht hat. Das beste Beispiel dafür ist die deutsche Agenda wäh- Im November hat Deutschland Israel bei sieben gegen rend der Mitgliedschaft im Sicherheitsrat der Vereinten Israel gerichteten UN-Resolutionen im Stich gelassen. Nationen, also dem zentralen Gremium der UN, in dem es Bis Dezember wird es bis zu 20 Israel-feindliche Reso- um existenzielle Fragen wie Krieg und Frieden geht. Und lutionen geben, denen Deutschland fast immer zuge- was macht diese Bundesregierung? Sie setzt das Thema stimmt haben wird. Insgesamt hat Deutschland in der „Frauen, Frieden und Sicherheit“ auf die Agenda. UN-Generalversammlung in 73 Prozent aller Fälle – also fast immer – gegen den jüdischen Staat gestimmt. (Dr. Andreas Nick [CDU/CSU]: Das interes- siert Sie nicht! Das ist klar!) (Dr. Götz Frömming [AfD]: Schande!) 24608 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Dr. Anton Friesen (A) Herr Maas, Sie sind ein Heuchler. Sie meinten einmal, sagen: Die Vereinten Nationen sind heute nicht zuletzt (C) Sie seien wegen Auschwitz in die Politik gegangen. Dort, deswegen in einem äußerst schlechten Zustand, in einem wo es allerdings wirklich um die Unterstützung Israels so schlechten Zustand wie schon lange nicht. geht, da versagen Sie auf ganzer Linie. Wo liegen die Hauptprobleme? Das möchte ich etwas (Beifall bei der AfD) deutlicher ansprechen, Herr Außenminister, als Sie das Treten Sie ab, und überlassen Sie die Außenpolitik denen, getan haben. Russland und China blockieren im Sicher- die es wirklich können, der AfD! heitsrat immer wieder in entscheidenden Momenten. Die Kriege in Syrien, Libyen oder der Konflikt um das irani- Vielen Dank. sche Atomwaffenprogramm, immer sind es diese beiden (Beifall bei der AfD – Kerstin Kassner [DIE Vetomächte, die echte multilaterale Lösungen im VN- LINKE]: Da sei der liebe Gott vor! – Christoph Rahmen verhindern. Russland hat – Herr Kollege Neu, Matschie [SPD]: Das möchte sich keiner vor- Sie haben nach Statistiken gefragt – in den letzten zehn stellen, wie das aussieht! – Zuruf von der CDU/ Jahren 20-mal formell Veto eingelegt, davon 15-mal in CSU: Herr, lass Weisheit regnen!) Bezug auf Syrien, wo Russland einen Krieg führt, der humanitären und Völkerrechtsgrundsätzen nicht ent- spricht, bei dem Krankenhäuser und Zivilisten bombar- Vizepräsident in Claudia Roth: diert werden. Das ist ein Verhalten, das wir in jedem Fall Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion verurteilen und das überhaupt nicht vereinbar ist mit einer Dr. . an Humanität ausgerichteten multilateralen Ordnung. (Beifall bei der CDU/CSU) China hat zehnmal Veto eingelegt. Nach meiner Rech- nung haben die USA fünfmal ihr Veto eingelegt, Groß- Dr. Johann David Wadephul (CDU/CSU): britannien und Frankreich – insofern teile ich die Auf- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und fassung des Herrn Außenministers – kein einziges Mal. Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland Das heißt, Europa zeigt sich als Kraft, die dieser wichti- wird regelmäßig mit großer Mehrheit in den Sicherheits- gen Institution wirklich Strahlkraft verleihen will. rat gewählt. Das beweist das große Vertrauen, das unser Land genießt. Die Vereinten Nationen bilden für uns das (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Herzstück der auf multilateralen Vereinbarungen gegrün- Christoph Matschie [SPD]) deten regelbasierten Weltordnung, deren Stärkung in Die Herausforderungen sind größer. China bekennt unserem deutschen Interesse liegt. sich zwar in Worten zur multilateralen Ordnung, höhlt (B) Die Mitgliedschaft war erfolgreich. Mein Dank gilt diese aber de facto immer wieder aus und schwächt diese (D) den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Auswärtigen Weltordnung. Herr Außenminister, ich hätte mir ge- Dienstes in der Vertretung in New York und im Haus hier wünscht, dass Sie dies auch ansprechen; denn es ist keine in Berlin sowie in Bonn. Kleinigkeit, dass China versucht, die Werte und Regeln der Vereinten Nationen umzudefinieren. Beispielsweise (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- versucht China, den Demokratiebegriff neu zu definieren ordneten der SPD) und an soziale Rechte zu binden, die wichtiger seien als Ich möchte in Sonderheit, liebe Kolleginnen und Kolle- der Rechtsstaat, oder die Souveränität des Staates über gen, Herrn Botschafter Christoph Heusgen danken, der das Völkerrecht zu setzen; Stichwort: Einmischung in diese Position in herausragender Art und Weise ausgefüllt innere Angelegenheiten. Vor allem aber lehnt China die hat und seit vielen Jahren im Auswärtigen Dienst für die Universalität der Menschenrechte als politisches Konzept Bundesrepublik Deutschland wie auch als außenpoliti- ab, obwohl China das Regelwerk der Menschenrecht- scher Berater der Bundeskanzlerin Herausragendes für scharta eigentlich mitaufgebaut hat. Wir begrüßen des- unser Land geleistet hat. halb sehr, dass auf Initiative Deutschlands 39 Mitglied- staaten der Vereinten Nationen am 6. Oktober die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- schweren Einschränkungen der Religions-, Versamm- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE lungs-, Meinungs- und Bewegungsfreiheit in China und GRÜNEN) insbesondere die grausame Behandlung und willkürliche Während der Mitgliedschaft im Sicherheitsrat standen Internierung der Uiguren als eklatante und inakzeptable Themen wie die Stärkung des humanitären Völkerrechts Verstöße gegen elementare Menschenrechte verurteilt in den blutigen Auseinandersetzungen dieser Welt sowie haben. China muss hier klar die Grenzen aufgrund einer akute Konflikte und Bürgerkriege wie in Syrien und werte- und regelbasierten internationalen Ordnung aufge- Libyen im Mittelpunkt. Wir mussten in den letzten Jahren zeigt bekommen. miterleben, wie die Bedeutung, die Handlungsfähigkeit (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie und erst recht die Strahlkraft der Vereinten Nationen des Abg. Christoph Matschie [SPD]) infrage gestellt und unterminiert wurden, insbesondere durch Russland und China. Wir haben zudem in den letz- Selbstverständlich haben wir die Erwartung und die ten knapp vier Jahren mit Fassungslosigkeit mitansehen Hoffnung, dass wir mit der neuen Administration die müssen, wie die amerikanische Regierung diese Ord- Vereinigten Staaten von Amerika wieder an der Seite nung, die sie einst selbst geschaffen hat, Schritt für Schritt haben, um die Wirksamkeit der Vereinten Nationen zu infrage stellte und schwächte; ich nenne nur die Beispiele stärken. Die USA müssen wissen: Sie haben uns dann Klimaabkommen, WHO und WTO. Um es deutlich zu an ihrer Seite. Das gilt auch für wichtige internationale Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24609

Dr. Johann David Wadephul (A) Herausforderungen, die wir nur dort lösen können. Wir um Kompromisse gerungen. Deutschland hatte in den (C) begrüßen, dass der zukünftige Präsident Biden angekün- letzten gut zwei Jahren die Gelegenheit, einen wichtigen digt hat, wieder ins Klimaabkommen einzusteigen. Beitrag zu leisten. Wo, wenn nicht in den Vereinten Nationen, in diesem Die Krisen, Kriege und Konflikte, für die im Sicher- Forum der Staaten der Welt, können wir die globale heitsrat Lösungen gesucht werden, haben sich in ihrer Herausforderung des Klimawandels annehmen und Komplexität in den vergangenen Jahrzehnten stets Gegenstrategien entwickeln und durchsetzen? Wo, gewandelt. Vom Kalten Krieg über islamistischen Terror wenn nicht gemeinsam dort? Wo können wir den Heraus- und um sich greifende autokratische Regime: Ein Patent- forderungen von Pandemien wie der jetzigen Covid-19- rezept für Frieden hat es nie gegeben. Entsprechend sehen Pandemie entgegentreten, wenn nicht in der Weltgesund- heute die Antworten auf Konflikte anders aus als vor heitsorganisation? Und wo können wir für fairen und 50 Jahren. Vor diesen Realitäten stand auch die deutsche gerechten Handel und faire Wettbewerbsbedingungen Mitgliedschaft. sorgen, wenn nicht in der WTO? Und auch wenn viele Studien besagen, dass die Welt Das heißt: Deutschland sollte gemeinsam mit seinen immer friedlicher wird, immer mehr Menschen in Wohl- europäischen Partnern mutig dafür eintreten, dass die stand leben, mehr Freiheiten genießen, so stehen die Ver- Vereinten Nationen, dass der Sicherheitsrat, aber auch einten Nationen nach wie vor vor einer Mammutaufgabe. alle internationalen Ordnungen gestärkt werden und Denn nicht nur die Auseinandersetzungen werden kom- dass die Amerikaner, dass die Vereinigten Staaten hier plexer, sondern auch das Erreichte scheint fragiler. Das wieder einsteigen und ein positiver, konstruktiver Partner haben zuletzt die US-Wahlen gezeigt, das sehen wir in werden. Das sollte unsere Politik sein. Wenn wir uns in Hongkong, in Bergkarabach und auf eine Art und Weise dem Sinne engagieren, glaube ich, werden wir auch für auch durch die Covid-19-Pandemie. mehr Strahlkraft sorgen. (Beifall bei der FDP) Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Deshalb, meine Damen und Herren, liegt es in der Natur (Beifall bei der CDU/CSU) der Sache, dass wir alles dafür tun müssen, um die Ver- einten Nationen und insbesondere den VN-Sicherheitsrat Vizepräsident in Claudia Roth: zu stärken. Dringend nötige Reformen dürfen nicht län- ger verschoben werden. Der Sicherheitsrat muss endlich Vielen Dank, Dr. Wadephul. – In diesem Zusammen- im 21. Jahrhundert ankommen. hang sei mir erlaubt, zu sagen, dass wir uns sehr freuen, dass António Guterres am 18. Dezember zu uns in den (Beifall bei der FDP) (B) Deutschen Bundestag kommt. Ich hoffe, Sie sind dann Zu hoch ist die Anzahl der Konflikte, bei denen sich (D) alle vollzählig – und noch ein paar mehr – hier im die internationale Gemeinschaft nicht einigt. Zu hoch ist Haus. Das ist ein wichtiger Besuch, und es ist eine hohe das Leid, wenn der Sicherheitsrat nicht handlungsfähig Anerkennung, dass er dieser Einladung nachkommt. ist. Syrien, Libyen, Afghanistan, Ukraine – die Liste der (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, Konflikte, zu deren Lösung der Rat nur geringe Beiträge der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE leisten konnte, ließe sich weiter fortführen. Und da, wo es GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Anton Friesen in letzter Zeit Fortschritte gab, konnten die Erfolge oft [AfD]) einzelne Staatsregierungen verbuchen. Ich komme zurück zu den Tagesordnungspunkten 7 Der Sicherheitsrat hat leider ganz eindeutig ein Glaub- und 8. Die ersten anderthalb Stunden sind vorbei. Es würdigkeitsproblem. Seine zahlreichen Resolutionen geht um zwei wichtige Wahlen. Ich bitte nun die Abge- werden leider nur selten eingehalten. Daran hat sich ordneten, deren Nachnamen mit den Anfangsbuchstaben auch während der deutschen Mitgliedschaft nicht viel L bis Z beginnen, zur Wahl zu gehen. Selbstverständlich verändert. Dieses Glaubwürdigkeitsproblem haben Staa- haben alle anderen Abgeordneten mit den Anfangsbuchs- ten wie China und Russland längst erkannt. Sie weiten taben A bis K auch noch die Möglichkeit, zu wählen. Wir ihre Einflussräume vor den Augen der Weltöffentlichkeit schließen um 14.18 Uhr die Wahlen ab. aus, verletzen internationales Recht, treten Menschen- rechte mit den Füßen. Jetzt kommt als nächster Redner für die FDP-Fraktion Bijan Djir-Sarai. Herr Kollege, Sie haben das Wort. China baut systematisch seinen Einfluss innerhalb internationaler Gremien aus; zuletzt wurde das am Bei- (Beifall bei der FDP) spiel der WHO ganz deutlich. Auch auf solche Entwick- lungen muss dringend reagiert werden. Denn abgesehen Bijan Djir-Sarai (FDP): davon, dass der wachsende chinesische Einfluss eine Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrte Damen Herausforderung für unsere Sicherheit und Interessen und Herren! Ohne Frage gehört die Gründung der Ver- darstellt, darf es nicht möglich sein, multilaterale Orga- einten Nationen mit zu den größten Leistungen der nisationen zu unterwandern. Menschheitsgeschichte. Zu ihrem maßgeblichen Gre- mium gehört der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. (Beifall bei der FDP) Er ist unverzichtbar für den Erhalt und die Förderung von Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hätte Frieden, Sicherheit und Stabilität. Theoretisch werden in auch mehr über die Reform des Sicherheitsrates sprechen seinen Sitzungen Entscheidungen von globaler Tragweite müssen. Die Sitzverteilung im Sicherheitsrat ist nicht getroffen, wird über Krieg und Frieden entschieden, wird repräsentativ und kein Spiegelbild der heutigen Welt. 24610 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Bijan Djir-Sarai (A) Man könnte aus dem ständigen französischen Sitz einen (Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Da hat er (C) europäischen Sitz machen. Herr Macron hält regelmäßig einmal recht!) historische Reden; aber über dieses konkrete Thema Herr Außenminister, mit solch einer Politik schwächen möchte er nicht reden. Sie vor allem atomare Abrüstungsbemühungen. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der LINKEN) Meine Damen und Herren, es müssen viele Hausaufga- ben gemacht werden, um der Mammutaufgabe des Deutschland sollte in den Vereinten Nationen mit Sicherheitsrates ansatzweise gerecht zu werden. Auch gutem Beispiel vorangehen und die US-Atomwaffen end- im Nachgang zur deutschen Mitgliedschaft muss die lich aus Deutschland abziehen lassen, statt diese auch Bundesregierung im Interesse unserer Sicherheit den noch zu modernisieren. Druck zu Reformen erhöhen. Gerade jetzt, nach der (Beifall bei der LINKEN) US-Präsidentschaftswahl, könnte ein guter Zeitpunkt sein, um dem Multilateralismus frischen Wind zu verlei- Die USA haben sich seit der Jahrtausendwende aus hen und Frieden und Freiheit weltweit eine neue Chance fünf völkerrechtlichen Abkommen zur Abrüstung und zu geben. Rüstungskontrolle zurückgezogen und damit die Welt Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. erheblich unsicherer gemacht. Es droht eine neue Runde atomarer Aufrüstung. Jüngst haben sich die USA sogar (Beifall bei der FDP) die Wiederaufnahme von Nukleartests vorbehalten. Statt diese Politik der US-Administration öffentlich klar zu Vizepräsident in Claudia Roth: verurteilen und zur Rückkehr zur Rüstungskontrolle auf- Vielen Dank, Bijan Djir-Sarai. – Nächste Rednerin: für zufordern, hat sich die Bundesregierung sehr schnell die die Fraktion Die Linke Heike Hänsel. Argumentation der Trump-Regierung zu eigen gemacht, Russland zum Beispiel die Schuld für das Aufkündigen (Beifall bei der LINKEN) des INF-Vertrages zu geben, (Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Das The- Heike Hänsel (DIE LINKE): ma ist „Deutschland im Sicherheitsrat“!) Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- legen! Deutschland war nun zwei Jahre Mitglied im und damit leider, leider eine wichtige Vermittlerrolle ver- Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Die Bilanz fällt spielt. aus friedenspolitischer Sicht jedoch sehr mager aus. Nun sind das zum Teil bilaterale Verträge. Trotzdem (B) Nach Angaben der Bundesregierung war ja einer der (D) Schwerpunkte Abrüstung, Krisenprävention und der hätte Deutschland das im Sicherheitsrat der Vereinten Erhalt der internationalen Ordnung. Nationen auf die Tagesordnung setzen können; denn es gibt ja mittlerweile den Vorschlag Russlands für eine frei- Deutschland bekennt sich auch zum Ziel einer atom- willige Selbstverpflichtung, keine atomaren Mittelstre- waffenfreien Welt. Umso unverständlicher ist es, dass ckenraketen auf eigenem Boden zu stationieren, wenn ausgerechnet die Bundesregierung den Atomwaffenver- auch die USA und andere NATO-Staaten mitziehen. Statt botsvertrag, die wichtigste Abrüstungsinitiative der Ver- diesen Vorschlag aufzugreifen und zu prüfen, lehnte die einten Nationen für eine atomwaffenfreie Welt, immer Bundesregierung den Vorschlag als unglaubwürdig ab, noch nicht unterzeichnet hat. noch bevor die USA ihn abgelehnt haben. Da muss ich (Beifall bei der LINKEN – Alexander Graf sagen: Ein ernsthaftes Bemühen um Rüstungskontrolle Lambsdorff [FDP]: Der kommt aus der Gene- und Abrüstung sieht anders aus. ralversammlung, und wir reden über den (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Sicherheitsrat! Thema verfehlt!) Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Dieser Vertrag wird von mehr als 120 Ländern unter- Es geht hier nämlich um unsere Sicherheit in Europa, und stützt. Nachdem ihn nun 50 Länder ratifiziert haben, wir dürfen nicht in einen neuen Kalten Krieg schlittern. kann er im Januar 2021 in Kraft treten. Deutschland ist nicht dabei. Was für ein Armutszeugnis! Leider sprechen auch die aktuellen Militärausgaben der Bundesregierung eine andere Sprache als Abrüstung. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Der Verteidigungshaushalt wurde seit 2014 um sage und Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) schreibe 44 Prozent erhöht. Stattdessen erneuerte die Bundesregierung ihr Bekenntnis zur nuklearen Teilhabe der NATO. Heiko (Beifall des Abg. Christian Schmidt [Fürth] Maas – wo ist er jetzt eigentlich? - [CDU/CSU]) (Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Wählen!) Im bevorstehenden Dezember soll der neue Haushalt nochmals um rund 1,3 Milliarden Euro erhöht werden. – er wählt gerade; oh, Entschuldigung – erteilte ja sogar Die Friedensbewegung ruft deshalb bundesweit für den dem Vorstoß aus den eigenen Reihen der SPD, nämlich 5. Dezember zu dezentralen Aktionen auf: „Abrüsten des Fraktionsvorsitzenden und der Parteivorsitzenden, statt Aufrüsten“. Die Linke unterstützt diesen Aufruf; für einen Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland denn auch wir wollen Abrüstung. eine klare Absage. Solche einseitigen Schritte sind seiner Meinung nach eine Schwächung unserer Bündnisse. (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24611

Heike Hänsel (A) Dieses Geld benötigen wir gerade in Zeiten der Pandemie Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) dringend für Schulen, Pflegekräfte und das Gesundheits- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutsch- system. lands Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat fiel in sehr Eine politische Initiative der Bundesregierung bei den schwierige Zeiten, Zeiten, in denen die internationale Vereinten Nationen ist die neu geschaffene Allianz für Ordnung erodiert, in denen die Pandemie wütet. Genau den Multilateralismus. Dies ist ein informelles Netzwerk deswegen kam und kommt Deutschland eine besondere lose mitarbeitender Staaten. Die Bundesregierung sieht Verantwortung zu. Kurz vor dem Ende dieser Mitglied- es als ein Vehikel für die Durchsetzung einer regelbasier- schaft lohnt es sich, Bilanz zu ziehen. ten Ordnung. Es gibt aber bereits eine regelbasierte Ord- In den letzten zwei Jahren gab es viele Ankündigun- nung; das sind die UN-Charta und das Völkerrecht. Die- gen, viel Symbolpolitik und leider ganz wenig vorzuwei- ses muss endlich wieder gestärkt werden. Dazu könnte sen. Das sieht man an den Schwerpunkten, die auch von auch die Bundesregierung einen entscheidenden Beitrag dieser Bundesregierung selbst gesetzt worden sind. Zum leisten: durch den Austritt aus den militärischen Struktu- Beispiel: die vollmundig angekündigte Allianz für den ren der NATO, deren Mitgliedstaaten für völkerrechts- Multilateralismus – ein schöner Titel, zweifelsohne. widrige Kriege und auch für Militärinterventionen ver- Was ist denn damit eigentlich erreicht worden? Mal wie- antwortlich sind. der fehlt es einer Initiative an Tiefgang und auch an (Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Aha! Es finanziellem Unterbau. Wenn man genau hinschaut, wird immer wilder!) erweist sie sich als reine Luftnummer. Die Kolleginnen und Kollegen der FDP haben in einer Kleinen Anfrage Dazu gehört auch das NATO-Mitglied Türkei, das Völ- gefragt: Was ist das eigentlich? – Die Antwort aus dem kerrecht bricht und als ein Aggressor in Syrien, Irak, Auswärtigen Amt ist – ich zitiere –: Diese Initiative treibe Libyen und im Mittelmeerraum auftritt. Dafür sollte die „mit einer Vielzahl von Staaten in wechselnder Zusam- Türkei nicht noch mit deutschen Waffenlieferungen mensetzung ... konkrete Initiativen voran“. Mit Verlaub, belohnt werden. das ist keine Initiative, sondern das, was das Alltagsge- (Beifall bei der LINKEN) schäft von Diplomatie sein sollte. Auch bereits genehmigte Rüstungsexporte in die Türkei (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) müssen gestoppt werden. Meine Damen und Herren, nun hören wir von der Deutsche Rüstungsexporte in alle Welt sind leider auch Bundesregierung: Es war so schwierig, auch wegen ein großes Hindernis für den als Resolution verabschie- Corona. – Ja, das stimmt; aber zur Wahrheit gehört deten Appell des UN-Generalsekretärs António Guterres auch, dass die Bundesregierung vor Corona nicht aktiver (B) für eine globale Waffenruhe angesichts der Covid-19- war. Der Herr Außenminister hat gerade gesagt, entschei- (D) Pandemie. UN-Generalsekretär Guterres wird am dend sei, dass im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen 18. Dezember im Bundestag sprechen. Ich denke, das beraten wird, bevor beschlossen wird. Es gibt vom Leib- wäre die beste Gelegenheit, einen Stopp deutscher Waf- niz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktfor- fenexporte zu verkünden. schung eine sehr lange Liste von Konflikten, die die (Beifall bei der LINKEN) Bundesregierung nicht einmal auf die Tagesordnung des Sicherheitsrates gesetzt hat, unter anderem Konflikte, die Auch Appelle der Hohen Kommissarin der UN Bache- den Weltfrieden bedrohen, wie zum Beispiel die Eskala- let für ein Aussetzen aller Wirtschaftssanktionen ange- tion an der Straße von Hormus, wie beispielsweise die sichts der Coronapandemie wurden von der Bundesregie- Krise in Kaschmir. Es drängt sich also die Frage auf: rung in den Vereinten Nationen nicht aufgegriffen und Wenn Sie als GroKo sowieso nichts wollten, warum aktiv vorangebracht. Dabei wäre es so wichtig, dass end- haben Sie dann eigentlich die Mitgliedschaft im Sicher- lich diese tödlichen Sanktionen beendet werden, die die heitsrat angestrebt? Bevölkerung in vielen Ländern wie zum Beispiel Kuba, Venezuela und Syrien hart treffen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das Fazit: Der Gründungsgeist der UNO „Frieden sowie bei Abgeordneten der LINKEN) durch Diplomatie“ muss endlich wieder gestärkt werden. Das sieht man aktuell an vielen Orten. Ein Beispiel ist Die Bundesregierung hat leider mit ihrer Politik in den der Westsahara-Konflikt. Seit zwei Wochen eskaliert die Vereinten Nationen mehr geostrategische NATO-Politik Lage dort. Ein fast 30 Jahre alter Waffenstillstand ist nun denn eine aktive UNO-Friedenspolitik betrieben. Dazu aufgekündigt. Zuletzt hat der ehemalige Bundespräsident braucht es unseres Erachtens keinen ständigen Sitz im Horst Köhler dankenswerterweise als UN-Sonderbeauf- UN-Sicherheitsrat. tragter in dem Konflikt vermittelt. Aus gesundheitlichen Danke. Gründen musste er leider im Mai 2019 von diesem Posten zurücktreten, fast ein Jahr, bevor die Pandemie eskaliert (Beifall bei der LINKEN – Dr. Alexander S. ist. Was ist seitdem passiert? Nichts. Es gibt keinen neuen Neu [DIE LINKE]: Sehr gute Feststellung!) Sonderbeauftragten und auch sonst hat die Bundesregie- rung dieses Thema im Sicherheitsrat völlig verschlafen. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Weitere Beispiele sieht man bei anderen Schwerpunk- Der nächste Redner ist der Kollege Omid Nouripour, ten. Herr Außenminister Heiko Maas hat, bevor die Mit- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. gliedschaft begann, gesagt, dass das Thema Jemen ein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Schwerpunktthema sein würde und dass politische 24612 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Omid Nouripour (A) Lösungen von Deutschland im Sicherheitsrat entschieden der Bundesregierung nicht, dass sie sich gegen Trump (C) vorangebracht werden würden. Zwei Jahre später ist die hätte durchsetzen müssen; aber ich frage Sie: Wo blieb Bilanz eher ein Scherbenhaufen. Der Jemen bleibt laut da Ihr Aufschrei? den Vereinten Nationen der derzeit schlimmste humani- täre Katastrophenfall der Welt mit knapp einer Viertel- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – million Toten. Die humanitäre Lage ist verheerend. Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Genau! Sicher liegt es nicht in der Verantwortung des Außen- Viel zu wenig!) ministers, dass es gerade dort weiterhin eskaliert; aber Das ist doch die zentrale Frage. Das gilt auch im Hinblick es ist offensichtlich nicht geschafft worden, ein stabiles darauf, dass LGBTIQ-Rechte keine Erwähnung finden Dialogformat zu schaffen, bei dem die Konfliktparteien oder dem Internationalen Strafgerichtshof aberkannt miteinander sprechen. Das liegt natürlich auch am Willen wird, die Strafverfolgung sexualisierter Gewalt in der Konfliktparteien. Aber wenn hier ein Schwerpunkt bewaffneten Konflikten anzugehen. gesetzt worden ist, dann muss man sich als Bundesregie- rung daran messen lassen. Die Messlatte ist da hart geris- Ich schließe mich der Bewertung von Medica Mond- sen worden. iale an, die feministische Außenpolitik hätte eine Agen- da, und die Agenda sei nicht nennenswert vorangebracht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) worden von der Bundesregierung. Diese Bewertung gilt für die gesamte Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat. Ich Ein anderes Beispiel ist die Schwerpunktsetzung bei bedaure das zutiefst; denn gerade gekoppelt mit der Rats- der Gewährleistung des humanitären Zugangs in Kon- präsidentschaft in der Europäischen Union hatte diese fliktregionen. Im Jemen sieht man das: Die Blockade Bundesregierung eine Fülle an Möglichkeiten zur Gestal- für humanitäre Güter ist nicht nur nicht aufgehoben; sie tung, die nicht genutzt worden sind. So ist Ihre Bilanz hat sich in den letzten Monaten sogar verschlimmert. schlicht ungenügend. Aber das ist ja nicht alles. Es ist noch dramatischer: Die Bundesregierung hat in dieser Zeit weiter Waffen an Staa- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ten geliefert, die am Jemen-Konflikt beteiligt sind. Mit Verlaub, das ist eine Bankrotterklärung, vor allem für Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: eine sozialdemokratische Partei, die angetreten ist, um eine restriktivere Rüstungsexportpolitik durchzusetzen. Vielen Dank, Kollege Nouripour. – Der nächste Red- ner ist für die Fraktion der SPD der Kollege Christoph (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Matschie. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der SPD) (B) Im Übrigen ruiniert die Bundesregierung auf dieselbe (D) Art und Weise ihre eigene Libyen-Initiative. Kern dieser Christoph Matschie (SPD): Initiative ist es, dass keine Waffen mehr ins Land kom- Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es men. Die Embargobrecher werden benannt, aber ist vielleicht auch Aufgabe der Opposition, zumindest Deutschland liefert weiterhin Waffen an die Türkei, an keine Überraschung, immer ein besonders kritisches die VAE und an Ägypten. Das ist schlicht verheerend. Bild zu zeichnen; ich finde aber, die Farben waren etwas (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sehr düster. Diese Mitgliedschaft im Sicherheitsrat fiel in sowie bei Abgeordneten der LINKEN) eine schwierige Zeit; das ist klar. Sie war insbesondere deshalb schwierig, weil die amerikanische Administra- Einen weiteren Schwerpunkt will ich noch benennen. tion, die in der Vergangenheit eine wesentliche Stütze Er ist vollkommen richtig gesetzt. Der Herr Außenminis- des internationalen Systems war, als Partner eigentlich ter hat gesagt, dass die feministische Außenpolitik ein ausgefallen ist. Trotzdem ist es gelungen, den Sicher- Schwerpunkt der Mitgliedschaft Deutschlands im Sicher- heitsrat in wichtigen Fragen handlungsfähig zu halten. heitsrat sein würde. Zwei Jahre später: Substanz – Fehl- Der Außenminister hat hier beschrieben, bei wie vielen anzeige, ganz viel PR. Die Resolution 1325 „Frauen, Resolutionen der Sicherheitsrat trotz schwerwiegender Frieden und Sicherheit“ war und ist ein Meilenstein der Konflikte zu Einigkeit gefunden hat und wichtige Wege Menschheitsgeschichte. Die von Deutschland vorange- geebnet hat. Ich will nur ein Beispiel aufgreifen: Es brachte Resolution 2467 ist es eher nicht. Aus dem Ent- macht am Ende einen Unterschied, ob es gelingt, im wurf sind auf Druck der Trump-Administration, die wie- Sicherheitsrat zu beschließen, einen humanitären Korri- derum von den radikalen Evangelikalen im Hintergrund dor für Syrien offenzuhalten, oder ob das nicht gelingt. Es unter Druck gesetzt wurde, elementare Teile gestrichen ist gelungen, auch durch den Einsatz der Bundesregie- worden, vor allem zu reproduktiven und sexuellen Rech- rung. Ich finde, das ist eine starke Leistung. ten von Frauen in Konfliktsituationen. Das, was erreicht worden ist, ist beschämend und keine feministische (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Außenpolitik. Werte Kolleginnen und Kollegen, ja, neben der unmit- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) telbaren Konfliktdebatte sind die strategischen Aufgaben im Sicherheitsrat wichtig. Herr Kollege Nouripour, ich Frauen, die im Krieg vergewaltigt wurden, die medizi- finde, es war richtig – Sie haben das hier angegriffen nische Versorgung zu verweigern, die zur Vermeidung und kritisiert –, die Rolle von Frauen in Konflikten, die weiterer Traumata physischer und psychischer Art uner- Rolle von Frauen bei der Friedenssicherung wieder auf lässlich ist, ist schlicht unmenschlich. Ich verlange von die Agenda zu setzen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24613

Christoph Matschie (A) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Omid Wir sind nicht hier, um zu feiern. Wir sind hier, um (C) Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: zu handeln. Das habe ich gesagt! Das Ziel war richtig! Das ist auch der richtige Satz für die deutsche Außen- Das Resultat hat nicht gestimmt!) politik. Wir sind hier, um zu arbeiten; denn nur im Han- Und wenn es unter den gegenwärtigen Umständen nicht deln kann man die Welt besser machen. gelingt, den gleichen Text wieder zu verabschieden Vielen Dank. (Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der SPD) NEN]: Dann sollte man keine Rückschritte ver- abschieden! Wenn man Rückschritte verab- schiedet, verschlechtert sich die Rechtslage!) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Als Nächstes hat das Wort der Abgeordnete Armin- – wir haben das Ringen miterlebt –, dann muss man Paulus Hampel, AfD-Fraktion. zumindest das möglich machen, was im Moment geht, und das hat der Sicherheitsrat hinbekommen. Ich glaube, (Beifall bei der AfD – Ulli Nissen [SPD]: Der das ist mehr wert, als einfach abzuwarten. schon wieder!) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Armin-Paulus Hampel (AfD): Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich Ganz entspannt! will noch einen Gedanken aufgreifen. Die Bundesregie- rung hat sich mit den europäischen Partnern sehr eng (Ulli Nissen [SPD]: Nee! Wenn Sie reden, ganz abgestimmt. Ich glaube, das ist auch eine strategische bestimmt nicht!) Entscheidung. Die Aufgabe, weiter eine gemeinsame Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- europäische Außenpolitik zu formulieren und dafür die ren! Die UN-Charta benennt es in ihrer Präambel einfach notwendigen Institutionen zu schaffen, weist weit über und klar: Es sind „Bedingungen zu schaffen, unter denen die Sicherheitsratsmitgliedschaft hinaus. Die Debatte Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen um einen europäischen Sicherheitsrat, die Debatte um aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts ein Mehrstimmigkeitsprinzip in der Außenpolitik ist gewahrt werden können“. Diesem gemeinschaftlich längst nicht beendet; sie hat begonnen und muss jetzt erklärten Ziel und Gedanken müssen sich alle Mitglied- konsequent weitergeführt werden. staaten der Vereinten Nationen unterordnen. Der Kollege Werte Kolleginnen und Kollegen, es ist ja kein Dr. Friesen hat eben richtigerweise darauf hingewiesen, Geheimnis: Der Sicherheitsrat ist nur dann stark, wenn dass durch die Aufnahme immer neuer Themen wie (B) die Mitglieder konstruktiv zusammenarbeiten, wenn sie Genderziele, Compact for Migration, Frauenrechte, Kli- (D) ein Interesse an der Durchsetzung gemeinsamer Regeln ma- und Energiewende die ursprüngliche Bedeutung der haben. Das war in den letzten Jahren oft nicht der Fall. VN verwässert und damit geschwächt wird. Deshalb, finde ich, war es richtig, zu schauen, ob man (Beifall bei der AfD) eine Allianz von Staaten bilden kann, die eine regelba- sierte Ordnung unterstützen. Auch wenn die Allianz für Deutschlands Ziele sind ganz klar: Wir wollen eine den Multilateralismus nicht alle Probleme lösen kann, ist umfassende Reform der UN, finanziell, strukturell und sie doch ein wichtiges Instrument der Absprache und des personell. Das bedeutet auch eine Konzentration auf die gemeinsamen Handelns in den Vereinten Nationen und von mir erwähnten Kernziele der Vereinten Nationen. ist alle Anstrengungen wert. Genauso wichtig ist eine Neustrukturierung des Weltsi- cherheitsrates. Der Kalte Krieg ist spätestens mit dem (Beifall bei der SPD) Zusammenbruch der Sowjetunion vorbei. Im Weltsicher- Nach der Wahl in den USA bekommt diese Allianz in heitsrat müssen diejenigen Länder vertreten sein, die Zukunft vielleicht wieder einen starken Verbündeten. Ich nicht nur militärisch, sondern eben auch wirtschaftlich finde, die Wahl von Joe Biden zum nächsten US-Präsi- zu den stärksten unseres Globus gehören. denten verändert die Möglichkeiten von Außenpolitik Für uns Deutsche ist es aber genauso wichtig – meine fundamental. Fraktion hat es immer wieder gefordert –, dass sich die Bundesregierung endlich für die ersatzlose Streichung ( [SPD]: Ja!) der Feindstaatenklausel einsetzt. Damit werden nicht alle Konflikte hinfällig, die wir mit den Vereinigten Staaten haben, damit wird nicht der geo- (Ulrich Lechte [FDP]: Bitte?) politische Wettbewerb wegfallen, der die globale Politik Die Bundesregierungen haben in den letzten Jahrzehnten prägt; aber es öffnet sich ein neues Fenster der Zusam- bei diesem Thema völlig versagt. Unser Anspruch muss menarbeit. Dieses Fenster müssen wir jetzt nutzen, um sein, gemeinsam mit Japan und Italien diesen völlig ana- gemeinsam etwas gegen die globale Pandemie Covid-19 chronistischen Passus zu streichen. Die Feindstaatenklau- zu unternehmen, um gemeinsam etwas für mehr Klima- sel, meine Damen und Herren – ich erinnere daran –, schutz, für eine gerechte Welthandelsordnung zu tun. Das besagt nach wie vor, dass die alliierten Siegermächte sind die Aufgaben, die jetzt vor uns liegen, auch jenseits ohne einen UN-Beschluss politisch wie militärisch inter- der Mitgliedschaft im Sicherheitsrat. venieren können, wenn sie es denn für richtig halten. Es gibt einen schönen Satz in der politischen Erklärung (Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Die ist zu 75 Jahre VN und damit möchte ich schließen: völkerrechtlich längst obsolet!) 24614 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Armin-Paulus Hampel (A) – Jetzt kommen Sie mir mit: Das ist obsolet. – Obsolet, (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Übererfüllt!) (C) Herr Kollege, ist kein juristischer Begriff; das müssten Sie wissen, Graf Lambsdorff. die die Partnerinnen und Partner der UN an uns gerichtet haben, erfüllt. Wir haben mit dem hervorragenden Ergeb- (Beifall bei der AfD – Ulrich Lechte [FDP]: nis der Wahl zum nichtständigen Mitglied Erwartungen Mann! Mann! Mann!) geweckt. Ich glaube, dass wir diesen Erwartungen trotz Ich darf Sie übrigens darauf hinweisen, dass es nach aller Schwierigkeiten gerecht geworden sind. wie vor zur Ausbildung in West Point, USA, gehört, zu üben, wie man militärisch und politisch reagieren will, Die eine Schwierigkeit besteht darin, dass wir in den wenn eine nicht genehme Regierung in Deutschland an letzten Jahren und Jahrzehnten verstärkt erleben, dass der Macht ist. Vetomitglieder des UN-Sicherheitsrates dieses Veto rück- sichtslos nutzen, wenn sie selbst betroffen sind. Ich denke Die Krönung haben uns in diesen Tagen aber die Grü- da an den Konflikt in Syrien, die Situation im Südkauka- nen beschert, indem sie das Vetorecht des Weltsicher- sus, an Libyen und natürlich an den Konflikt in der Ukrai- heitsrates, so es denn missbraucht wird, dahingestellt ne. Die Vereinten Nationen sind nur so stark, wie die fünf sein lassen und auf ihrem Parteitag für eine aktive Rolle ständigen vetoberechtigten Mitglieder im Sicherheitsrat Deutschlands ohne ein UN-Mandat votiert haben. Damit ihrer Verantwortung gerecht werden. Die Vereinten legitimiert die Partei, mit der Sie von der Union in Zu- Nationen sind der Ort, wo internationale Konflikte mög- kunft gemeinsam Regierungsverantwortung übernehmen lichst auf friedliche Weise beigelegt werden. Wenn man wollen, Einsätze deutscher Soldaten in Kriegsgebieten dies durch den Missbrauch von Veto bzw. einen vetoge- ohne Mandat der Vereinten Nationen. Meine Damen stützten Einfluss schwächt, untergräbt man das Funda- und Herren, das ist ein Tabubruch und ein einzigartiger ment dieser Institution. Wir dürfen nicht müde werden, Vorgang in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands! das in den einzelnen Fällen zu benennen, wenn dem so (Beifall bei der AfD) ist. hat es gesagt: Die Kriegsgeilheit der Grünen ist nicht zu überbieten. – Mittlerweile wollen die Ich glaube im Übrigen, dass Deutschland sich anschi- Grünen den völkerrechtswidrigen Krieg zur Regel cken sollte, eine Reform der Vereinten Nationen weiter machen. Ich stimme dem ehemaligen Staatssekretär Wil- offensiv zu unterstützen, aber für den Fall, dass uns das in ly Wimmer zu: Die aktuelle Entwicklung zeigt, dass die den nächsten Jahren nicht gelingt, sich durchaus wieder ehemalige Partei der eingesammelten Friedensfreunde in um einen nichtständigen Sitz im Sicherheitsrat bewerben Zukunft zu einer Kriegspartei wird. – Meine Damen und und dazu mit entsprechenden Partnernationen Abspra- Herren von der Union, mit denen wollen Sie in den nächs- chen treffen sollte. (B) (D) ten Jahren eine Koalition eingehen! Ich glaube, dass die Vereinten Nationen in den nächs- Ich kann Ihnen nur zurufen: Hier sitzen keine Nazis. ten Jahren in einem Punkt deutlich gestärkt werden könn- (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ten. Wir hatten bisher einen amerikanischen Präsidenten, der offen gegen multilaterale Lösungen von Weltkonflik- Hier sitzen viele ehemalige CDU-Mitglieder und -Wäh- ten war. Wir werden zukünftig einen Präsidenten haben, ler. Nicht sie haben Ihre Union verlassen, Sie haben Ihre der nicht in Worten, sondern auch durch das, was er Werte und Ihre konservativen Fundamente verlassen. bereits als Vizepräsident gezeigt hat, klar zu diesen multi- Deshalb sitzt die AfD im Deutschen Bundestag. Merken lateralen Lösungsansätzen steht. Dass die designierte Sie sich das. UN-Botschafterin der Vereinigten Staaten von Amerika Danke schön. Linda Thomas-Greenfield wieder einen Kabinettsrang in Washington bekommen soll, ist, glaube ich, ein klares (Beifall bei der AfD) positives Zeichen in diese Richtung.

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Ich finde, dass es Deutschland gut gelungen ist, die Der nächste Redner ist der Kollege Jürgen Hardt für europäische Geschlossenheit sicherzustellen. Wir haben die CDU/CSU-Fraktion. mit unseren europäischen Partnern, auch mit den nicht- ständigen Mitgliedern Belgien und Estland, vertrauens- (Beifall bei der CDU/CSU) voll zusammengearbeitet. Das ist auch Teil der Antwort, die wir unseren Freunden in Israel geben, wenn es um Jürgen Hardt (CDU/CSU): entsprechende Resolutionen geht. Wir haben leider eine Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich starke Mehrheit gegen Israel, die von außen orchestriert möchte jetzt mit Herrn Hampel kein kleines Seminar über und organisiert wird, auch mit Druck auf Staaten. Wir Völkerrecht halten – sind uns mit vielen politischen Kräften in Israel einig, (Ulrich Lechte [FDP]: Das habe ich schon beim dass Deutschlands Rolle auch darin bestehen muss, zu letzten Mal gemacht!) erreichen, dass entsprechende Resolutionen abge- schwächt oder gar verhindert werden. Dafür muss die Rede, die wir gerade gehört haben, war intellektuell Deutschland erstens sicherstellen, dass es idealerweise eine ziemliche Tiefflugübung –, sondern mich dem eine gemeinsame europäische Position gibt, und zweitens eigentlichen Thema zuwenden. im Zweifel auch bereit sein, den einen oder anderen Deutschland hat in den zwei Jahren Mitgliedschaft im Kompromiss einzugehen. Ich bin sicher, dass wir jedes Sicherheitsrat aus meiner Sicht die hohen Erwartungen, einzelne Abstimmungsverhalten Deutschlands zum The- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24615

Jürgen Hardt (A) ma Israel in den Gremien der UN gegenüber unseren Heusgen und Schulz haben dort gute Arbeit geleistet, (C) israelischen Freunden guten Gewissens begründen kön- ebenso wie bei uns die Ministerialdirektorin Baumann nen. samt Team; das war alles wunderbar. Sie haben auch Der nächste Punkt, der mir wichtig ist – das ist hier in dem Unterausschuss Vereinte Nationen in der ganzen mehreren Redebeiträgen angeklungen –, ist das Thema Zeit sehr gut Bericht erstattet. Wir haben dort in jeder „Frauen in der Außenpolitik“ bzw. die Rolle der Frauen, Sitzung über den Sicherheitsrat gesprochen. – Botschaf- wenn es um den Frieden in der Welt geht. Wenn wir auf ter Schulz wünsche ich bei seiner neuen Aufgabe in die Länder der Erde gucken, die politisch, wirtschaftlich Ankara viel Erfolg. Das ist ein Posten, der auch Kraft und gesellschaftlich unter ihren Möglichkeiten bleiben – und Diplomatie erfordert. Ich glaube, dass wir den Rich- um es einmal vorsichtig zu formulieren –, sind es aller- tigen dort hingeschickt haben. meist Länder mit patriarchischen Gesellschaften, in de- Die Messlatte, die wir uns gelegt haben, war natürlich nen die Frauen nicht ihren gebührenden Anteil an der für zwei Jahre Sicherheitsrat sehr hoch. Es wurde hier gesellschaftlichen Entwicklung haben. schon oft darüber gesprochen, dass es Schwierigkeiten (Beifall der Abg. Mechthild Rawert [SPD]) gegeben hat. Sie liegen im System der Vereinten Natio- nen, und daran werden wir relativ wenig ändern können. Ich bin fest davon überzeugt: Wenn wir die Frauen der Dass eine Reform notwendig ist, ist uns allen klar. Aber Welt ermutigen – damit blicke ich zum Beispiel in den wir wissen ebenfalls, dass man die Staaten, die in der Mittleren Osten, aber auch nach Afrika, ja auch nach UNO organisiert sind, mit Sicherheit nicht dazu bekom- Lateinamerika –, ihre Rechte in Anspruch zu nehmen men wird, einem europäischen Weg zu folgen. Genauso und sich in die politischen Prozesse in ihren Ländern wird es Europa und auch unserem Verbündeten USA und in der Weltpolitik einzumischen, dann werden wir wohl kaum gelingen, China und Russland davon zu über- eher zu einer guten und friedlichen Welt kommen, als zeugen, dass unsere Vorstellung von Demokratie und das heute der Fall ist. Deswegen, glaube ich, ist es eine Frieden in der Welt besser ist. richtige Themensetzung gewesen, die wir da vorgenom- men haben. Kollegin Hänsel sage ich, dass es wieder sehr faszinie- rend war, zu hören, dass alle sozialistischen Staaten die- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) ser Welt wunderbar sind und dass am Ende des Tages Deutschland wird in der internationalen Politik weiter natürlich der Kreml immer alles richtig macht, aktiv entscheidende Rollen übernehmen. Wir haben ge- genwärtig den Vorsitz im Ministerkomitee des Europa- (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Das ist aber kein rates. Wir bemühen uns um personelle Verstärkung aus sozialistischer Staat!) Deutschland für die OSZE. Und wir werden übernächstes (B) dass die Politik Russlands in den Vereinten Nationen ja (D) Jahr bei der G 7 die Präsidentschaft haben. Es gibt inter- offensichtlich großartig ist und wir das alle unterstützen national viel zu tun. Dem Außenminister und der Bun- müssen. Das sehe ich als FDPler natürlich schlicht und desregierung alles Gute dafür! ergreifend anders. Herzlichen Dank. (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Nein! Friedens- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- politik machen, darum geht’s!) ordneten der SPD) – Auch bei der Friedenspolitik. Also bitte, Frau Kollegin Hänsel, als ob Russland in den letzten Jahrzehnten seit Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: dem Zweiten Weltkrieg jemals dafür gesorgt hätte, dass Vielen Dank, Kollege Hardt. – Der nächste Redner ist auf der Welt irgendwo Frieden herrscht. Das ist ja der für die Fraktion der FDP der Kollege Ulrich Lechte. lächerlichste Kommentar, den ich hier im Bundestag bei (Beifall bei der FDP) einer Rede von mir jemals gehört habe. (Beifall bei der FDP) Ulrich Lechte (FDP): Also so weit kommt es noch. Es ist unglaublich, wie Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und immer wieder die Kolonnen von Moskau durchkommen. Kollegen! Dem Kollegen Hampel empfehle ich meine Das ist wirklich fürchterlich. letzte Rede zur UN, in der ich mich dezidiert zur Feind- staatenklausel geäußert habe. Da kann man einfach ein- Ich freue mich auf die Allianz für den Multilateralis- mal nachschauen, und zwar wunderbarerweise unter mus. Wir werden das fortführen müssen. Ich hoffe, der www.bundestag.de in der Mediathek. Das geht ganz her- Minister hat eine Vorstellung davon, wie er das fortführen vorragend. Dann erfährt man, was eigentlich Sache ist. – möchte, da die Allianz am Ende des Tages dazu führen Außerdem noch ein Kommentar zu Ihnen: In dem muss, dass der Multilateralismus von der Intensivstation Moment, in dem Sie Ihre Reden frei halten, sind diese herunterkommt. Wir haben große Hoffnung, dass Biden meistens besser. So verkorkst und vermurkst, wie sie ein paar Probleme auf der Welt lösen wird. Alles auf heute war, kam sie offensichtlich von irgendeinem einmal, das wird nicht klappen; das ist uns allen klar. Redenschreiber. Ich hoffe auch, dass die neue US-Regierung und die Bevor ich zur Bilanz der UN-Mitgliedschaft komme, neue Bundesregierung, die wir im kommenden Jahr bil- möchte ich zunächst einmal meinen herzlichen Dank an den werden, für Frieden und Sicherheit in der gesamten alle, die daran mitgewirkt haben, richten. Es gab ein wun- Welt zusammenarbeiten werden. Es ist unsere Aufgabe, derbares Team in New York. Die beiden Botschafter auch in diesem Haus, dies zu unterstützen. 24616 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Ulrich Lechte (A) Herzlichen Dank. klar: Die Bewahrung und die Weiterentwicklung dieser (C) (Beifall bei der FDP) regelbasierten internationalen Ordnung ist und bleibt das überragende strategische Interesse unseres Landes und aller Europäer. Während es die USA unter Präsident Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Trump in den vergangenen Jahren an internationalem Der nächste Redner: der Kollege Dr. Andreas Nick, Engagement schmerzlich haben vermissen lassen, haben CDU/CSU. wir viel investiert, um die Strukturen einer regelbasierten (Beifall bei der CDU/CSU) internationalen Ordnung zu erhalten und zu festigen, zum Beispiel mit der Allianz für den Multilateralismus, die auch Wertepartner aus Lateinamerika und dem Indopazi- Dr. Andreas Nick (CDU/CSU): fik umfasst. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Rahmen der deutschen Mitgliedschaft im UN-Sicher- Auch wenn sich Multilateralismus stets an einer ge- heitsrat hat die Bundesregierung klare und ambitionierte meinsamen Grundlage zum Interessenausgleich und Schwerpunkte gesetzt. Neben dem Kerngeschäft der Kompromiss orientieren muss, ist er wesentlich mehr Behandlung aktueller Konflikte – wir waren federführend als punktuelle Zusammenarbeit. Es geht darum, mit für die Erstellung der Dossiers über Syrien und Sudan gleichgesinnten Partnern gemeinsam zur Lösung konkre- zuständig – ging es ausdrücklich darum, im Sinne eines ter globaler Probleme und Herausforderungen beizutra- erweiterten Sicherheitsbegriffs ganz bewusst auch solche gen. Themen auf die Agenda zu bringen, die unter den ständi- Es ist daher wichtig, dass das Auswärtige Amt derzeit gen Mitgliedern durchaus umstritten sind. ein Weißbuch „Multilateralismus“ nach norwegischem Ich will bewusst beginnen mit der Resolution 2467 zur Vorbild entwickelt. Die Beteiligung von Bevölkerung Beendigung sexueller Gewalt in Konflikten. Was ich und Parlament an diesem Prozess kann aber sicher noch hierzu heute gehört habe, ist wirklich beschämend. Das umfassender gestaltet werden. Laut einer Umfrage der ist eine knallharte Menschenrechtsverletzung und nicht Körber-Stiftung konnten 2019 zwei Drittel der Bevölke- Gedöns, wie Sie es hier versucht haben darzustellen. rung mit dem Begriff „Multilateralismus“ noch nichts (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, Greifbares anfangen. Es gibt aber einen großen Konsens – der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE jedenfalls unter den demokratischen Fraktionen in die- GRÜNEN) sem Haus –, dass Multilateralismus für unser Land als Mittelmacht ein geradezu schicksalhafter Handlungsim- Wir haben im Juli eine Grundsatzdebatte über Klima perativ ist. Demokratische Außenpolitik benötigt den und Sicherheit auf den Weg gebracht. Die Verteidigungs- Rückhalt der Bevölkerung. Lassen Sie uns daher gemein- (B) ministerin Kramp-Karrenbauer hat eine Sitzung zu Pea- sam mit Regierung und Parlament noch stärker für die (D) cekeeping und Menschenrechten geleitet. Auch die Bedeutung des Multilateralismus auch hierzulande wer- Indossierung der Berliner Konferenz zu Libyen war ben. eine wichtige Errungenschaft dieser Präsidentschaft. Meine Damen und Herren, vor einigen Wochen, als wir Unser herzlicher Dank gilt Botschafter Christoph hier anlässlich des 75. Jahrestages der UN-Charta disku- Heusgen, aber auch seinen Stellvertretern, Botschaftern tierten, habe ich klar gesagt: Wir brauchen einen starken Jürgen Schulz und Günter Sautter, sowie dem gesamten Westen in handlungsfähigen Vereinten Nationen. – Mit Team der Ständigen Vertretung in New York und natür- dem Ergebnis der Wahl in den USA können wir hoffen, lich auch den zuständigen Kollegen hier in der Zentrale dass sich die Vereinigten Staaten künftig wieder kon- des AA mit Frau Baumann an der Spitze. struktiv in die Arbeit der Vereinten Nationen einbringen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Die Benennungen von Antony Blinken als Außenminis- neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- ter und von Linda Thomas-Greenfield als VN-Botschaf- SES 90/DIE GRÜNEN) terin mit Kabinettsrang sind vielversprechend, genauso wie die von Joe Biden angekündigte Initiative für einen Als Deutscher Bundestag haben wir die Aktivitäten „global summit of democracies“. des Sicherheitsrates auch parlamentarisch aufmerksam begleitet in mehreren Plenardebatten, insbesondere in Uns muss klar sein: Nur wenn sich die P 5 als Hüter Vorsitzmonaten, durch einen ständigen Tagesordnungs- einer gemeinsamen Ordnung verstehen, können Effekti- punkt zum Sicherheitsrat im Unterausschuss Vereinte vität und Legitimität der Vereinten Nationen insgesamt Nationen und – solange das vor Corona möglich war – wieder gestärkt werden. Dazu müssen wir Europäer ge- durch die Begleitung des Außenministers nach New York meinsam mit den USA und gleichgesinnten Partnern in zu Sitzungen des Sicherheitsrates, zuletzt im Februar. der Welt in Zukunft einen erheblichen Beitrag leisten, Es ist schon angesprochen worden: Ein besonderes auch und vor allem durch entschlossenes wie vorbildhaf- strategisches Ziel war die Europäisierung unseres Auf- tes Handeln. tritts in den Vereinten Nationen. Gemeinsam mit Frank- Deutschland wird sich auch weiterhin konstruktiv und reich und Großbritannien, aber auch mit den anderen kreativ in die Arbeit der VN einbringen. Ob das in einigen nichtständigen Mitgliedern Polen, Belgien und Estland Jahren als ständiges Mitglied oder spätestens in acht Jah- haben wir dies, finde ich, gut erreicht. Das sollte in den ren im Zuge einer Bewerbung um einen nichtständigen kommenden Jahren verstetigt werden, damit Europa in Sitz sein wird, bleibt abzuwarten, aber klar ist: Das Enga- den Vereinten Nationen weiterhin mit einer deutlichen gement für die Vereinten Nationen ist Kern unserer und vernehmbaren Stimme spricht. Denn für uns ist Außenpolitik. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24617

Dr. Andreas Nick (A) Herzlichen Dank. Wir kommen beim Blick in die Zukunft an Samuel (C) Huntington nicht vorbei. Man muss kein Anhänger seiner Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Theorie vom Zusammenprall der Zivilisationen sein. Aber man spürt, dass die Ausgangsvoraussetzungen des Vielen Dank, Kollege Andreas Nick. – Der letzte Red- Jahres 1945, die unbedingte Anerkennung der Rechte der ner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Individualität, der Respekt und der Schutz des Einzel- Christian Schmidt, CDU/CSU-Fraktion. nen – das wurde in der Charta der Vereinten Nationen (Beifall bei der CDU/CSU) beim Gewaltverzicht mitgenannt –, infrage gestellt wer- den. Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Wenn wir in 20 Jahren oder, sagen wir, in acht Jahren, Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- wo wir dann hoffentlich ein ständiges Mitglied im Sicher- gen! Es geht um 75 Jahre Vereinte Nationen in diesem heitsrat sein werden, einen Blick auf die Vereinten Natio- Jahr, aber auch um zwei Jahre deutsche Sicherheits- nen werfen, dann könnte es sein, dass das Verständnis für ratsmitgliedschaft. Ich möchte mich vorneweg dem das, was Menschenrechte, individuelle Rechte, subjekti- Dank an jene anschließen, die, angeführt von Botschafter ve, soziale, ökonomische Rechte sind, von dem heutigen Christoph Heusgen, in einer intensiven Art und Weise die Verständnis sehr stark divergiert. Alleine ein Blick nach Resolutionen, die Sie, Herr Außenminister, angesprochen China zeigt bei den Verantwortlichen eine Mentalität und haben, im Wesentlichen mitgestaltet haben. Ich will die eine Situation, in der nicht mehr erkannt wird, dass Indi- Diskussion über die Sorge, wie Zugang für humanitäre vidualität auch in Asien genau die gleiche Rechtsgrund- Hilfe in Gebiete Syriens gewährleistet werden kann, lage hat, nämlich die Charta der Vereinten Nationen. herausgreifen. Ja, dazu gab es unterschiedliche Auffas- sungen; manche haben blockiert. Es wurde über die Frage Lassen Sie uns bei dieser Gelegenheit an den kräftigen diskutiert, ob es einen, zwei oder drei Grenzübergänge und beachtlichen Widerstand der kämpfenden Studenten, geben soll. Es blieb bei nur einem, aber der wurde gut die den Rechtsstaat in Hongkong erhalten wollen, erin- orchestriert. Es wäre ohne die Leistungen der Bundesre- nern und darauf hinweisen, dass hier für uns natürlich ein gierung und unserer Diplomaten schwer gewesen, diesen ganz großes Handlungsspielfeld besteht. Das Handlungs- Weg im Sinne der Humanität zu öffnen. Deswegen aus- spielfeld heißt, dass wir als ein Land, das von Anfang drücklich: Herzlichen Dank an alle, die daran gearbeitet seiner Mitgliedschaft an, also seit 1973, immer den haben! Weg des Multilateralismus gegangen ist und die Notwen- digkeit des ausgleichenden Zusammenführens – nicht die (Beifall bei der CDU/CSU) 100-Prozent-Lösung, sondern die Reduzierung von Kon- (B) Natürlich ist die Frage: Zwei Jahre Sicherheitsratsmit- fliktherden – gesehen und dies massiv unterstützt hat, die (D) gliedschaft, und was kommt dann? Diese Frage stellt sich Menschenrechte und die Rechte der Charta der Vereinten nach 75 Jahren immer noch. Wenn Sie so wollen: Wir Nationen verbessern. sind an einem Punkt, an dem wir das Zurückblicken sein lassen sollten, lieber Herr Kollege Hampel. Zum Das heißt, dass wir diese gesellschaftspolitischen Thema der Feindstaatenklausel kann ich Ihnen sagen, Punkte, die theoretischen Grundlagen ernst nehmen und dass die 50. Generalversammlung der Vereinten Nationen wieder zusammenführen müssen. Das heißt auch, dass bereits im Rahmen dessen, was ohne eine Chartaände- wir die Reform der Vereinten Nationen, so wie sie uns rung möglich war, eine „non-binding resolution“, also Kofi Annan 2005 vorgelegt hatte, endlich wieder voran- eine nichtbindende Resolution, verabschiedet hatte treiben und umsetzen sollten. Pérez de Cuéllar hat einmal in einer speziellen Konfliktsituation seiner Zeit gesagt: (Armin-Paulus Hampel [AfD]: „Nichtbin- Der Patient liegt auf der Intensivstation, aber er lebt. – dend“, Herr Schmidt! Das ist das Zauberwort!) Wir müssen alles dafür tun, dass der Patient wieder von und dass der politische Wille überall vorhanden ist, dass der Intensivstation herunterkommt. Das bedarf einer diese obsolete Regelung gestrichen wird. Reform der Vereinten Nationen mit neuen Mitgliedern im Sicherheitsrat, zum Beispiel den G 4 und damit auch (Zuruf des Abg. Armin-Paulus Hampel [AfD]) der Bundesrepublik Deutschland. – Ja, ja, ja. Herzlichen Dank. Wenn Ihnen das noch nicht reicht, dann nehmen Sie die Aussage des großen Völkerrechtlers, des polnischen (Beifall bei der CDU/CSU) Außenministers und späteren Richters am IGH, Krzysz- tof Skubiszewski, zur Kenntnis, der bei der Generalver- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: sammlung der Vereinten Nationen im Jahr 1993, übrigens Vielen Dank, Kollege Schmidt. – Ich schließe die Aus- in seinem Beitrag auf Deutsch, in New York gesagt hat: sprache. Lasst uns gemeinsam politisch die Feindstaatenklausel dorthin werfen, wo sie hingehört, auf den Müllhaufen Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 12 a bis der Geschichte. – Nachdem Sie, Herr Hampel, kein Müll- 12 c: haufenwühler sind, sollten Sie sich anderen Dingen a) Beratung des Antrags der Abgeordneten zuwenden. Caren Lay, Friedrich Straetmanns, Dr. Gesine (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der ordneten der SPD) Fraktion DIE LINKE 24618 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich (A) Keine Kündigung für Mieterinnen und erst recht nicht, wenn der Lockdown dazu führt, dass man (C) Mieter über eben keinen Job mehr hat oder weniger Einkünfte hat. Ich 70 Jahre finde es einfach unverantwortlich, dass die Union dieses Drucksache 19/10283 Thema seit Monaten aussitzt.

Überweisungsvorschlag: (Beifall bei der LINKEN) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wir als Linke wollen einen besseren Kündigungs- Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen schutz während der Pandemie, aber nicht nur da. Wir b) Beratung des Antrags der Abgeordneten wollen an das Thema grundsätzlich ran. Warum? Ein Caren Lay, Friedrich Straetmanns, Dr. Gesine paar Beispiele. Eine Familie aus mit drei Kin- Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der dern erhält eine Eigenbedarfskündigung, als das vierte Fraktion DIE LINKE Kind unterwegs ist. Eine bezahlbare Wohnung für sechs Personen kurzfristig in Frankfurt zu finden, ist nahezu Kündigungsschutz für Mieterinnen und aussichtslos. Mieter verbessern (Ulli Nissen [SPD]: Das stimmt!) Drucksache 19/10284 Die junge Familie musste die Wohnung räumen und Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) rutschte in die Wohnungslosigkeit. Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen Oder eine alleinerziehende Mutter in Stuttgart: Ihre c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wohnung wurde an eine neue Eigentümerin verkauft. Canan Bayram, Christian Kühn (Tübingen), Diese forderte eine deutlich überzogene Miete. Als sich Dr. , weiterer Abgeordne- die Mieterin wehrte, wurde auch sie per Eigenbedarfs- ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE kündigung rausgeschmissen. Am Ende zog aber nicht GRÜNEN die neue Eigentümerin ein, sondern ein Mieter, der bereit Hilfe in der Pandemie – Mieterinnen und war, den überzogenen Preis zu zahlen. Mieter schützen sowie Verbraucherinnen (Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Das ist und Verbraucher als Darlehensnehmer doch alles rechtswidrig! Das wissen Sie doch! unterstützen Alles rechtswidrig!) Drucksache 19/24634 (neu) Meine Damen und Herren, die Mietervereine könnten Überweisungsvorschlag: mit solchen Beispielen von unfairen Kündigungen und Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) (B) Ausschuss für Wirtschaft und Energie vorgetäuschtem Eigenbedarf Bände füllen. Das können (D) Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen wir nicht länger akzeptieren. Ich begrüße insbesondere die Rechtspolitiker, die jetzt (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. den Saal betreten. Ich darf Sie bei der Gelegenheit fragen, Mechthild Rawert [SPD]) ob Sie schon alle gewählt haben. Wenn nicht, sollten Sie das jetzt machen. Dann können Sie der weiteren Debatte Der Mieterbund geht inzwischen von 80 000 Kündig- ganz entspannt lauschen. – Haben alle gewählt? Sie ungen wegen Eigenbedarfs aus, und das in einem ein- schauen alle entspannt aus, gut. zigen Jahr. Für die Aussprache ist eine Dauer von 60 Minuten (Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: In Ihrem beschlossen. Antrag steht 13 000!) Ich eröffne die Aussprache, und es beginnt die Kolle- Das ist die Größenordnung einer ganzen Stadt. gin Caren Lay, Fraktion Die Linke. (Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: 13 000 (Beifall bei der LINKEN) steht in Ihrem Antrag!) – Herr Luczak, Sie rufen dauernd dazwischen, ich darf Caren Lay (DIE LINKE): Sie beruhigen: Wir als Linke wollen die Möglichkeit der Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- Eigenbedarfskündigung nicht abschaffen. Aber dieser ren! Die Kanzlerin hat heute neue Coronamaßnahmen ausufernde Missbrauch ist das Problem, und das müssen vorgestellt. Aber was darin fehlt – mal wieder –, sind wir endlich angehen. Hilfen für Mieterinnen und Mieter. Deswegen freue ich mich sehr, dass ein Bündnis von Mieterbund, von (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Gewerkschaften, von Sozialverbänden und Verbraucher- neten der SPD] – Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/ zentralen gefordert hat, dass wenigstens ein neues Kündi- CSU]: Sie wollten nur die Zahl nicht nennen!) gungsmoratorium für Mieterinnen und Mieter kommt. Da waren auch die Gerichte in den letzten Jahren nicht (Beifall bei der LINKEN) besonders hilfreich. Allerlei Unrecht wurde da meiner Auffassung nach gesprochen. Eigenbedarfskündigungen Ich finde, das ist das Mindeste: Niemand soll während wurde stattgegeben: wegen des Zweitwohnsitzes, weil der Pandemie seine Wohnung verlieren; ein Au-pair-Mädchen einziehen wollte, weil in der Woh- (Beifall bei der LINKEN – Dr. Jan-Marco nung ein nur gelegentlich genutztes Arbeitszimmer oder Luczak [CDU/CSU]: Das steht doch gar in eine gelegentlich – zwei Wochen im Jahr – genutzte Ihrem Antrag!) Ferienwohnung eingerichtet werden sollte. Aus all diesen Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24619

Caren Lay (A) fadenscheinigen Gründen verlieren Menschen ihr Zuhau- Deswegen, meine Damen und Herren, müssen wir auch (C) se und nicht selten ihr Dach über dem Kopf. Das können diese vulnerablen Gruppen, müssen wir vor allen Dingen wir nicht akzeptieren. ältere Menschen besser schützen. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. (Christian Dürr [FDP]: Frau Kollegin, was ist Mechthild Rawert [SPD]) denn Ihre Meinung zum Tempelhofer Feld?) Eigenbedarf wird nicht nur wegen der eigenen Kinder Ich finde, so kann man mit den Leuten, die hart gearbeitet und Eltern – so weit, so gut –, sondern auch wegen der haben, die dieses Land mit aufgebaut haben, nicht umge- Neffen, wegen des Schwagers, wegen der Ex-Frau gel- hen. tend gemacht oder auch dann, wenn ein Mitglied eines (Christian Dürr [FDP]: Zum Tempelhofer Feld, Unternehmens, einer GbR, für sich Eigenbedarf anmel- was ist Ihre Meinung dazu?) det. Das ist doch wirklich absurd. Diese Leute werden an ihrem Lebensabend aus ihren (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Wohnungen geschmissen. Das ist einfach unsozial. Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der LINKEN – Christian Dürr [FDP]: Aber Sie sind gegen Wohnungsbau! Auch an anderer Stelle ist der Kündigungsschutz in Das macht doch keinen Sinn!) Deutschland mangelhaft. Wenn ein Mieter Schulden beim Vermieter hat, kann er eine fristlose Kündigung Deswegen sagen wir als Linke: Niemand, der über 70 abwenden, wenn er nachzahlt, eine ordentliche Kündi- ist, darf aus seiner Wohnung geschmissen werden. gung, die dann gerne hinterhergeschoben wird, aber (Beifall bei der LINKEN) nicht. Das heißt, wer nur einmal nicht pünktlich gezahlt hat, fliegt raus. Das kann nicht sein. Auch diese Gesetzes- Denn nicht umsonst heißt es doch im Volksmund: Einen lücke müssen wir endlich schließen. alten Baum verpflanzt man nicht. – Das sollten wir uns zu Herzen nehmen und das Mietrecht endlich nachbessern. (Beifall bei der LINKEN) Vielen Dank. Und warum das Ganze? Lassen Sie uns doch auf die Gründe zu sprechen kommen. Wohnungskonzerne und (Beifall bei der LINKEN – Christian Dürr Rentenfonds, Spekulanten und Glücksritter: Sie alle wol- [FDP]: Sie haben gar nichts zum Tempelhofer len ihr Geld auf Kosten der Mieterinnen und Mieter ver- Feld gesagt, Frau Kollegin! Das wäre sinnvoll mehren. Wo sonst kann man denn so hohe Renditen gewesen! – Gegenruf der Abg. Caren Lay [DIE machen wie auf dem Mietwohnungsmarkt? Aber das Ein- LINKE]: Das ist ja heute nicht beantragt! Sie (B) zige, was bei diesem beispiellosen Beutezug stört, sind sind ja gleich dran! Dann können Sie was dazu (D) eben die Altmieter, also Menschen mit alten, mit günsti- sagen!) gen Mietverträgen. Diese ausufernden Kündigungen haben System. Wir wollen dem einen Riegel vorschieben. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (Beifall bei der LINKEN) Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Dr. Jan-Marco Luczak. Deswegen wollen wir die Eigenbedarfskündigung auf die engsten Familienmitglieder im Hauptwohnsitz ein- (Beifall bei der CDU/CSU) schränken. Wer die Miete zurückzahlt, dem darf nicht gekündigt werden. Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- (Beifall bei der LINKEN) ren! Liebe Frau Kollegin Lay, ich muss wirklich sagen: Die Möglichkeit, jemandem aufgrund eines Mietrück- Was Sie hier präsentiert haben, das war unter aller Kano- standes von nur zwei Monaten zu kündigen, muss ne. zukünftig ausgeschlossen werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Meine Damen und Herren, am unwürdigsten finde ich ordneten der FDP) dieses ganze Kündigungssystem dann, wenn es um ältere So wie Sie das darstellen, das ist so was von der Realität Menschen geht, die wegen Ihrer unfairen Rentenpolitik entfernt. Sie sagen – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsi- ohnehin mit dem Rücken an der Wand stehen, und dem denten aus dem Antrag Ihrer Fraktion –, dass der miet- gleichzeitig ungebremsten Mietenwahnsinn in den Groß- rechtliche Kündigungsschutz so verbessert werden muss, städten. „dass Mieterinnen und Mieter besser vor Willkür (Beifall bei der LINKEN) geschützt und nicht länger unverschuldet in die Woh- So musste eine 93-jährige Schlaganfallpatientin aus Bonn nungslosigkeit gedrängt werden“. ihre Wohnung nach 30 Jahren wegen Eigenbedarfs räu- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) men. Auch eine 80-jährige Demenzkranke aus Berlin darf Sie wissen doch ganz genau – das finde ich richtig –, dass aus ihrer Wohnung geschmissen werden. Mal ganz im wir ein wirklich außerordentlich soziales Mietrecht Ernst: Würden Sie Ihre Oma auf dem Mietwohnungs- haben, dass wir starke soziale Leitplanken haben, dass markt in Bonn oder in Berlin suchen lassen? Doch wohl wir wahrscheinlich das beste Mietrecht in ganz Europa kaum! haben, weil es genau das tut, was Sie nicht machen. Wir (Beifall bei der LINKEN) spielen die Menschen nicht gegeneinander aus. Wir spie- 24620 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Dr. Jan-Marco Luczak (A) len nicht die Alten gegen die Familien aus. Wir spielen das schreiben Sie auch in Ihrem Antrag –, dass Vermieter (C) auch nicht Mieter gegen Vermieter aus, sondern wir ver- mehr oder weniger willkürlich agieren können, dann ver- suchen, die Interessen gegeneinander abzuwägen. Das, kaufen Sie die Menschen draußen für dumm. Ich finde es was Sie hier präsentiert haben, ist genau das Gegenteil unredlich, dass Sie so etwas machen. davon. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Caren Lay [DIE LINKE]: Das ist die Wahr- Sie argumentieren, wir dürften die älteren Menschen heit!) nicht aus den Wohnungen drängen. Da bin ich sofort An dieser Stelle muss man auf unsere Rechtsprechung bei Ihnen. Aber was machen Sie denn mit der Familie, verweisen. Sie hält die Rechte von Mieterinnen und Mie- die fünf Kinder hat und eine neue Wohnung sucht? Die tern zu Recht hoch. Sie alle kennen die Rechtsprechung steht jetzt bei Wohnungsbesichtigungen in der Warte- des Bundesverfassungsgerichtes, die besagt: Mieter schlange, die immer länger wird, weil Sie mit Ihrer Poli- haben wegen der starken sozialen Stellung, die wir ihnen tik verhindern, dass mehr Wohnungen gebaut werden und durch das Gesetz eingeräumt haben, sogar eine eigentü- dass wir nachhaltig an der Lösung dieses Problems arbei- merähnliche Position. – Das ist absolut richtig; denn ten. Sie machen das Gegenteil. Wohnen ist nicht ein Gut wie jedes andere. Es geht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) auch immer um ein Stück persönlichen Rückzugraum, es geht um ein Stück Heimat, und deswegen ist das gut. Sie argumentieren auch mit völlig falschen Zahlen. Sie Aber natürlich gibt es auch die Rechte der Eigentümer. haben gerade gesagt, dass der Deutsche Mieterbund von Das ist ebenfalls ein schützenswertes Gut. Das Eigentum 80 000 Eigenbedarfskündigungen ausgeht. In Ihrem An- wird in Artikel 14 des Grundgesetzes gewährleistet, was trag ist hingegen von 13 389 Fällen die Rede. Was ist auch Freiheitsraum gegenüber staatlicher Einflussnahme denn jetzt richtig? Sie sagen im Übrigen: Das sind ist. Diese beiden Dinge muss man gegeneinander abwä- Gerichtsprozesse. – Dann sagen Sie aber auch, wie die gen. Gerichtsprozesse ausgegangen sind. Nur weil eine Kün- digung ausgesprochen wird, heißt das noch lange nicht, Sie sagen nun: Wir wollen das Recht auf Eigenbedarfs- dass sie am Ende durchgeht. kündigung ja nicht abschaffen. – Schauen Sie sich doch einmal an, was Sie in Ihrem Antrag fordern! Damit meine (Caren Lay [DIE LINKE]: Habe ich doch ich noch nicht einmal den von Ihnen geforderten absolu- gerade vorgelesen!) ten Schutz vor Eigenbedarfskündigungen ab einer Alters- Das ist auch richtig so. Unsere Gerichte sind zu Recht grenze von 70 Jahren. Wenn man sein gesetzlich verbrief- streng. Auch wir als Union wollen nicht, dass die Men- tes Recht ausübt, eine Eigenbedarfskündigung geltend (B) (D) schen ihr Dach über dem Kopf verlieren. Das ist in unse- macht und nachweist, dass man Eigenbedarf hat, das rem Mietrecht auch sehr gut abgebildet. Die Gerichte am Ende auch gerichtlich durchsetzt und ein Gericht im machen eine umfassende Interessenabwägung und Rahmen der beschriebenen Interessenabwägung fest- schauen sich sehr genau an, wie lange jemand in einer stellt: „Ja, die Familie mit fünf Kindern hat das Recht, Wohnung wohnt, wie der Betreffende im Kiez verwurzelt ihre eigene Wohnung zu beziehen“, dann sagen Sie: Die ist und wie es um seine gesundheitliche Situation bestellt Mieter müssen aber dafür entschädigt werden. – Da ist ist. Das wird den Interessen des Eigentümers gegenüber- zukünftig ein Entschädigungsanspruch fällig wegen der gestellt, der die betreffende Wohnung möglicherweise Umzugskosten, der Maklerkosten und der neuen Woh- nutzen will. Das kann man als Gesetzgeber nicht pau- nung, die möglicherweise teurer ist. Wozu führt denn schal für alle Fälle festschreiben. das am Ende? Die Familie mit den fünf Kindern überlegt Es gibt natürlich 70-Jährige, die krank sind, schon sich dann sehr genau, ob sie eine Eigenbedarfskündigung lange in einer Wohnung leben und in ihrem Kiez ver- ausspricht, weil sie sich das am Ende vielleicht gar nicht wurzelt sind. Das berücksichtigen die Gerichte auch bei leisten kann. Damit höhlen Sie das Recht auf Eigenbe- der Interessenabwägung. Aber es gibt auch 70-Jährige, darfskündigung faktisch aus, und Sie höhlen damit am die noch richtig fit sind und die auch finanziell richtig Ende das Eigentumsrecht aus. Genau das ist es, was Sie gut dastehen. Jetzt sagen Sie diesen Menschen: Ihr dürft wollen. Sie sind damit eigentumsfeindlich, und das in jedem Fall dort wohnen bleiben. – Aber die Familie mit machen wir an dieser Stelle nicht mit, meine Damen den fünf Kindern muss dann draußen bleiben? Das ist und Herren. doch keine soziale Politik, Frau Lay. Das ist das Gegen- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) teil davon. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Ich wende mich dagegen, dass Sie hier mit falschen Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage? juristischen Dingen argumentieren. Sie haben als Bei- spiel genannt, dass eine Eigenbedarfskündigung ausge- Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU): sprochen wird, dass dann aber nicht derjenige einzieht, Selbstverständlich, vom Kollegen Meiser immer ger- für den Eigenbedarf geltend gemacht wurde, sondern ne. jemand ganz anderes. Das ist heute schon vorgetäuschter Eigenbedarf, und das ist verboten. Das führt am Ende zu Schadensersatzansprüchen; das ist auch richtig. Wenn Sie Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: aber jetzt den Menschen so entgegentreten und sagen – Bitte schön. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24621

(A) Pascal Meiser (DIE LINKE): auf den Weg gebracht. Ich nenne als Beispiele Wirt- (C) Es freut mich sehr, Herr Luczak, dass Sie die Zwi- schaftshilfen und Kurzarbeitergeld. Wir haben des Wei- schenfrage zulassen und sich, wie ich vermute, innerlich teren das ALG II flexibilisiert. Wir haben Soloselbststän- sehr darauf gefreut haben. digen und Unternehmen geholfen. Sie haben in Ihrem Redebeitrag im Grunde sehr stark Ich will Ihnen sagen: Diese Maßnahmen wirken. Denn die Position der Eigentümer deutlich gemacht, die darun- was sind denn die konkreten Zahlen? Ich nenne als Bei- ter leiden würden, wenn man die Möglichkeit der Eigen- spiel BBU, ein großes Wohnungsunternehmen hier in bedarfskündigung einschränken würde. Wir wollen sie Berlin, ein Verband mit 700 000 Wohnungen. Gerade ein- nicht komplett abschaffen – das hat Frau Lay schon deut- mal 0,3 Prozent der Mieterinnen und Mieter mussten sich lich gemacht –, sie aber missbrauchsunanfälliger machen. mit ihren Vermietern in Verbindung setzen, weil sie Ich frage mich schon, warum Sie sich überhaupt nicht auf Schwierigkeiten hatten. Dann hat man am Ende auch diese Logik einlassen. Mir ist eine Sache eingefallen, die Lösungen gefunden. Deswegen, liebe Grüne, geht euer das möglicherweise begründen könnte. Ihnen ist wahr- Antrag einfach an der Realität vorbei. Wir helfen den scheinlich Ihr Parteifreund Herr Ernst Brenning bekannt. Mieterinnen und Mietern mit unseren Wirtschaftshilfen Er ist – für die, die ihn nicht kennen – der Justiziar der und wollen hier keine Dominoeffekte erzeugen. Berliner CDU. Er hat in meinem Wahlkreis in Kreuzberg Vielen Dank. mehrfach mit vorgetäuschtem Eigenbedarf Mieterinnen und Mieter, die dort seit Jahren wohnen, gekündigt und (Beifall bei der CDU/CSU) sie aus ihren Wohnungen geworfen. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Der nächste Redner ist der Abgeordnete der AfD-Frak- Herr Kollege, was ist Ihre Frage? tion Jens Maier. (Beifall bei der AfD) Pascal Meiser (DIE LINKE): Herr Präsident, ich darf mir, wenn ich recht informiert Jens Maier (AfD): bin,- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- ren! Von Winston Churchill soll das Zitat stammen: Wer Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: mit 18 kein Kommunist war, hat kein Herz. Wer mit 40 Ja, aber nicht ewig lang, zwei Minuten. immer noch Kommunist ist, hat keinen Verstand. (Ulli Nissen [SPD]: Das sagt einer von der (B) (D) Pascal Meiser (DIE LINKE): AfD!) – zwei Minuten Zeit lassen. Genau in diese Kiste kann man das packen, was die Lin- Meine Frage ist, Herr Luczak: Ist Ihnen das bekannt? ken hier wieder zum soundso vielten Male zum Thema Könnte es sein, dass Ihre Position, die Position der CDU Mieterschutz in die Plenardebatte eingeführt haben, Berlin, die sich gegen die Einschränkungen von Eigen- wobei darauf hinzuweisen wäre, dass beide Anträge der bedarfskündigungen ausspricht, möglicherweise damit Linken vom Mai 2019 stammen und damit als überholt zu tun hat, dass der Justiziar der Berliner CDU auch angesehen werden müssen, weil sie die aktuelle Problem- sehr davon profitiert, wie die momentane Rechtslage ist? lage gar nicht erfassen. Corona war im Mai 2019 noch kein Thema. Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU): Nach den Vorstellungen der Linken soll eine Kündi- Herr Kollege, ich habe davon in der Zeitung gelesen; gung eines Wohnraummietvertrages bei über 70-jährigen mehr weiß ich darüber nicht. Was ich aber gelesen habe, Mietern wegen Eigenbedarfs ausgeschlossen sein. Da war, dass die Gerichte am Ende den Mietern recht gege- wird jeder sagen: Ältere Menschen aus der Wohnung zu ben haben. Das zeigt doch genau, dass wir eine gute setzen, das ist aber gemein; das gehört sich nicht. – Ich Rechtslage haben und dass die Gerichte in der Lage glaube, es dürfte hier niemanden mit gutem Gewissen sind, eine Interessenabwägung vorzunehmen. Wenn ein geben, der ältere Menschen auf die Straße setzen will. Vermieter – ganz egal, wer es ist – Eigenbedarf vor- Hier spricht das Herz: Das wollen wir nicht. – Nun täuscht, dann bekommen die Mieterinnen und Mieter kommt aber der Verstand, der sagt: So etwas generell am Ende recht. Genau so muss es auch sein, lieber Kolle- gesetzlich zu regeln, das ist aber sehr unklug. – Warum? ge Meiser, und nicht anders. Ganz einfach: Wer wird denn an einen 65-Jährigen noch (Beifall bei der CDU/CSU) eine Wohnung vermieten, wenn man befürchten muss, Ich habe leider nicht mehr viel Zeit. Deswegen kann dass man den Mieter bei Erreichen des 70. Lebensjahres ich zum Antrag der Grünen leider nicht mehr so viel nicht mehr loswird, vor allem dann, wenn zu erwarten ist, sagen. Er beschäftigt sich mit einem anderen Thema, dass man die Wohnung für sich selber benötigt? Bei einer dem Kündigungsausschluss im Zuge von Corona. Dazu Lebenserwartung von mittlerweile deutlich über 80 Jah- will ich nur ganz kurz sagen: Natürlich wollen wir den ren kann das eine lange Wartezeit nach sich ziehen. Mietern helfen, auch und gerade in Coronazeiten. Genau Es wird bei bestehenden Mietverhältnissen dann auch das haben wir als Große Koalition gemacht. Wir haben das Bestreben gefördert, Mieter vor Erreichen des die Kündigung für die ersten drei Monate ausgeschlos- 70. Lebensjahres aus der Wohnung zu setzen, um gar sen, und wir haben vor allen Dingen umfassende Hilfen nicht in diese Problematik hineinzukommen. Hier zeigt 24622 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Jens Maier (A) sich wieder, was dabei herauskommt, wenn man so wie Anspruch genommen. Daran kann sich jetzt nach dem (C) die Linken denkt und allein von der Gesinnungsethik zweiten Lockdown aber etwas geändert haben. Wir wer- ausgeht, die zwar den guten Willen oder moralische Kate- den sehen. gorien in den Vordergrund stellt, die Folgen aber gar nicht bedenkt und ausblendet. Vielen Dank. Wir als AfD gehen nicht von der Gesinnungsethik, (Beifall bei der AfD) sondern von der Verantwortungsethik aus. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (Widerspruch bei Abgeordneten der SPD und Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege der LINKEN – Ulli Nissen [SPD]: Verantwor- Dr. Johannes Fechner. tungsethik und AfD geht nicht zusammen!) Wir fragen nicht danach, was gut und was böse ist, wir (Beifall bei der SPD) fragen danach, was richtig und was falsch ist, und vor allem fragen wir danach, was dabei herauskommt. Da Dr. Johannes Fechner (SPD): kann man bezogen auf diesen generellen Kündigungs- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lie- schutz für über 70-jährige Mieter nur sagen: Es kommt be Mieterinnen und Mieter, die uns jetzt hier zuhören! dabei das Gegenteil von dem heraus, was man will, näm- Ganz unabhängig von der Coronapandemie ist die Lage lich älteren Mietern die Wohnung zu erhalten. Darum in vielen Gemeinden und nicht nur in Großstädten drama- kann man auch diesen Antrag der Linken einfach nur in tisch, was den Wohnungsmarkt angeht. In meiner Hei- die Tonne treten. matregion etwa ist es mittlerweile so, dass im Schnitt in vielen Gegenden und Stadtvierteln die Hälfte vom Netto- (Beifall bei der AfD) einkommen für die Miete ausgegeben werden muss. Das Eine gesetzliche Regelung ist im Übrigen gar nicht sind dramatische Zahlen. Das kann nicht so bleiben, und notwendig, weil die Rechtsprechung Grundsätze entwi- deswegen müssen wir mehr für bezahlbaren Wohnraum ckelt hat, die eine Kündigung des Mietvertrages bei älte- hier in Deutschland tun, liebe Kolleginnen und Kollegen. ren Menschen erschweren. So hat das Landgericht Berlin in einem Berufungsurteil vom März 2019 festgestellt: (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Dazu gehört nicht nur Bauen, sondern dazu gehört Der kündigungsbedingte Verlust der gemieteten auch, dass wir das Mietrecht verbessern. Da hat die Wohnung stellt für Mieter hohen Alters grund- SPD in den letzten Jahren schon eine Menge auf die sätzlich eine Härte i. S. d. § 574 Abs. 1 Satz 1 (B) Beine gestellt. Zum Beispiel haben wir die Mietpreis- (D) BGB dar, die – im Regelfall – die Fortsetzung des bremse geliefert. Es war richtig, dass wir die Mietpreis- Mietverhältnisses … gebietet. bremse in dieser Wahlperiode noch verbessert haben. Wir Im Regelfall! Damit ist an diesem Beispiel auch wider- haben nämlich dafür gesorgt, dass in Zukunft nicht erst ab legt, was in dem anderen Antrag der Linken suggeriert der Rüge, sondern 30 Monate nach Abschluss des Miet- wird, nämlich dass eine generelle Überarbeitung des vertrages Überzahlungen vom Vermieter zurückzuzahlen Kündigungsschutzes geboten sei, weil die Rechtspre- sind. Das war, glaube ich, ein ganz wichtiges Signal und chung sich als zu vermieterfreundlich entwickelt habe. ein wichtiges Gesetz, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir brauchen keine generelle Überarbeitung des Kün- (Beifall bei der SPD) digungsschutzes. Die bestehenden Regelungen reichen aus und werden von der Rechtsprechung auch sachge- Wir haben dafür gesorgt, dass die Berechnungsgrund- recht angewendet. lage für die Mietspiegel ausgeweitet wurde: bisher vier Jahre, jetzt sechs Jahre. Auch das hat den Mietenanstieg (Beifall bei der AfD) gedämpft. Und es war enorm wichtig, dass wir die Umla- ge der Modernisierungskosten deutlich begrenzt haben. Das Einzige, was neu geregelt werden sollte – die AfD Ich will Sie nicht mit Zahlen langweilen; aber es ist doch hat dazu selbst einen Gesetzentwurf vorgelegt –, ist, dass wirklich wichtig, das hier mal zu sagen: In sechs Jahren auch bei ordentlichen Kündigungen die Möglichkeit darf die Miete wegen Modernisierungskosten nur 3 Euro einer Schonfristzahlung im Gesetz eingeführt werden pro Quadratmeter steigen, und bei günstigen Wohnungen, soll, um Widersprüche in den Rechtsfolgen zwischen die 7 Euro pro Quadratmeter oder weniger kosten, sind es einer ordentlichen und einer außerordentlichen Kündi- nur 2 Euro pro Quadratmeter. gung auszuräumen; das war ja hier beim letzten Mal das Thema. Auch im WEG-Recht haben wir viel für die Mieter getan: dass die Mieter jetzt einen Rechtsanspruch darauf Bei dem Antrag der Grünen wird im Ausschuss zu haben, für eine E-Ladestation, Einbruchschutz oder einen prüfen sein, ob der Schutz der Mieter und Verbraucher barrierefreien Zugang die Zustimmung vom Vermieter zu während der staatlich verordneten Coronamaßnahmen in bekommen. Auch das ist, glaube ich, ein ganz wichtiges dem behaupteten Umfange benötigt wird. Die Erfahrun- Gesetz. Da hat die SPD eine Menge für Mieterinnen und gen im Sommer dieses Jahres deuten darauf hin, dass Mieter durchgesetzt; das will ich hier ausdrücklich sagen, befristete Moratoriumslösungen eher nicht benötigt wer- liebe Kolleginnen und Kollegen. den. So haben die Mieter nur in ganz wenigen Ausnahme- fällen den Kündigungsschutz nach dem Coronarecht in (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24623

Dr. Johannes Fechner (A) Aber ganz klar – den Vorwurf muss ich den Kollegen Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU): (C) von der Union durchaus machen –: Wir hätten mehr Vielen Dank, lieber Kollege Fechner, dass Sie die Fra- gemacht, und es wäre mehr nötig gewesen, ge zulassen. – Es ist ja ein bisschen unüblich, innerhalb (Beifall bei Abgeordneten der SPD) der Koalition Zwischenfragen zu stellen. Sie haben aber gerade auf den Berliner Mietendeckel abgehoben, was ja zum Beispiel den alten SPD-Vorschlag umzusetzen, den ein Projekt der rot-rot-grünen Koalition hier in Berlin ist, Wucherparagrafen, § 5 Wirtschaftsstrafgesetz, endlich zu das ja auch sehr streitig ist und verfassungsrechtlich schärfen, damit er anwendbar ist. Da gab es in der Union – angezweifelt wird, und sagten, dieser Mietendeckel wirke überraschenderweise – leider nur von der Bayerischen in Berlin. Wie bringen Sie das denn damit zusammen, Landesregierung Unterstützung. dass gerade eine Studie gezeigt hat, dass im letzten Jahr (Ulli Nissen [SPD]: Guter Vorschlag aus die Angebotsmieten in 28 von 50 Städten gesunken sind – Bayern!) nicht nur in Berlin –, also mindestens 27 Städte dabei sind, in denen der Mietendeckel nicht gilt? Ich finde, bei Wucher können wir als Staat die Mieter nicht alleinlassen. Dr. Johannes Fechner (SPD): (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich kenne die genannte Studie nicht; aber offensicht- Da ist es staatliche Aufgabe, Sanktionen festzusetzen, lich ist es der Mix aus Mietendeckel und Mietpreisbrem- damit Mietwucher nicht stattfindet, liebe Kolleginnen se – beides SPD-Projekte –, der dazu führt, dass in Berlin und Kollegen. die Mieten nicht so stark ansteigen, wie sie ohne diese beiden Instrumente angestiegen wären. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Christian Kühn [Tübingen] [BÜND- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) NIS 90/DIE GRÜNEN]) Ich bin ein bisschen enttäuscht. Ich dachte, Sie nutzen Leider gilt auch die Mietpreisbremse nicht bundesweit. die Frage, um mir recht zu geben und anzukündigen, dass Auch das müssen wir regeln; denn die Mietpreisbremse wir jetzt manche Projekte umsetzen. Dennoch herzlichen wirkt dort, wo sie gilt. Das zeigen die Urteile. Da konnten Dank für Ihre Frage, Herr Kollege Luczak. Mieterinnen und Mieter mit unserer Mietpreisbremse den (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der Anstieg stoppen. Deswegen sollte sie bundesweit gelten, SPD) damit nicht, wie in Schleswig-Holstein durch die Grünen und Robert Habeck geschehen, die Mietpreisbremse in Wenn wir hier über Wohnungsmieten diskutieren, ist einem Bundesland einfach abgeschafft werden kann. das richtig und gut. Aber ich möchte dabei auch die (B) Chris Kühn, den Vorwurf müsst ihr euch hier gefallen Gewerbemieten in den Blick nehmen; denn ich finde: (D) lassen. Gerade die kleinen Gewerbetreibenden, die Soloselbst- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ständigen müssen wir in den Blick nehmen, weil die nicht nur seit Corona, sondern auch vorher schon Probleme Zum Berliner Mietendeckel will ich eines festhalten: hatten. Ich glaube, wir müssen mehr für deren Schutz Er wirkt ja ganz offensichtlich. im Kündigungsrecht tun. (Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: In 28 von (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) 50 Städten sind die Mieten ohne Mietendeckel gesunken! Nicht nur in Berlin!) Beginnen sollten wir wirklich damit, dass wir schnell und glasklar im Gesetz regeln, dass eine Betriebsschließung Wir schauen auch gespannt darauf, wie das Bundesver- wegen einer Pandemie eine Störung der Geschäftsgrund- fassungsgericht die Zuständigkeiten beurteilen wird. lage ist, Wenn das Bundesverfassungsgericht zu dem Ergebnis kommt, dass nur der Bund eine solche Regelung treffen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kann, dann sollten wir das auch hier im Bund machen, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE zumindest in den Gegenden, wo Wohnungsnot herrscht. GRÜNEN) Dort sollte das Modell des Berliner Mietendeckels gelten, die einen Rechtsanspruch auf die Minderung der Miete weil es offensichtlich dazu beiträgt, dass die Mieten nicht gibt. Das sollten wir schnell und zügig ins Gesetz hinein- ansteigen. schreiben, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Christian Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage vom NEN]: Höchste Zeit!) Kollegen Luczak? Eine gravierende Ungerechtigkeit möchte ich auch noch nennen: Ich finde, es geht nicht, dass der Mieter Dr. Johannes Fechner (SPD): eine fristlose Kündigung aus der Welt schaffen kann, Ja, gerne. Wir haben ja so wenig Gelegenheit, uns aus- indem er die Mietrückstände bezahlt, aber die ordentliche zutauschen. Kündigung eben nicht. Das, finde ich, ist nicht gerecht- fertigt. Das sollten wir auch ändern. (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Christian Dürr [FDP]: In einer (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Beziehung muss man viel miteinander reden!) neten der SPD) 24624 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Dr. Johannes Fechner (A) Das ist im Übrigen auch im Sinne der Vermieter; denn Katharina Willkomm (FDP): (C) es gibt ja dadurch einen Anreiz für den Mieter, dass er die Nein. – Stellen Sie sich für einen Moment vor, das Mietrückstände bezahlt. Gerade wenn die Mieter erheb- Weiße Haus wäre ein Mietshaus, für das Ihr Mietrecht liche Zahlungsschwierigkeiten haben oder gar zahlungs- gilt. Joe Biden bekäme Donald Trump, einfach weil er unfähig sind, kann das ein Anreiz sein, das Geld zusam- über 70 ist, bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag nicht aus menzukratzen, damit man die Wohnung behält. dem Weißen Haus – und dabei würden noch nicht einmal Sie Eigenbedarf bestreiten. (Beifall der Abg. Ulli Nissen [SPD]) (Heiterkeit und Beifall bei der FDP sowie bei Also ist das auch im Sinne der Vermieter, liebe Kollegin- Abgeordneten der CDU/CSU – Christian Dürr nen und Kollegen. [FDP]: Sehr guter Vergleich! – Kerstin Kassner Unterm Strich: Ich glaube, dass der Markt alleine nicht [DIE LINKE]: Das ist ja wirklich sehr lustig!) für mehr bezahlbaren Wohnraum sorgen wird. Deswegen Mich ärgert die gedankliche Schlichtheit hinter Ihrer brauchen wir im Mietrecht in einer sozialen Marktwirt- Kündigungsgrenze bei einem Alter von 70 Jahren. Was schaft Leitplanken. Die müssen wir verbessern. Auch würde denn gerade der Miethaivermieter, an dem Sie sich wenn wir hier schon einiges getan haben, gibt es einiges, so sehr abarbeiten, Ihrer Vorstellung nach machen? Wenn was wir noch tun müssen, liebe Kolleginnen und Kol- er nicht für immer und ewig über den 70. Geburtstag legen. hinaus an seinen Mieter gebunden bleiben will, Vielen Dank. (Mechthild Rawert [SPD]: Darüber reden wir (Beifall bei der SPD) doch gar nicht!) dann überreicht er wohl rein prophylaktisch zum 69. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Geburtstag die Kündigung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte darauf (Christian Dürr [FDP]: So ist es!) hinweisen, dass wir in acht Minuten die Wahlen schlie- ßen. Wer also noch nicht gewählt hat, möge jetzt bitte die Solch ein Geschenk lehnen wir Freien Demokraten ab. Gelegenheit nutzen. Das gilt auch für die Kollegen, die (Beifall bei der FDP – Kerstin Kassner [DIE jetzt in ihren Büros sitzen. Sie sollten sich auf den Weg LINKE]: Das ist eine tolle Konstruktion!) machen. Der Gesetzgeber hat mit § 574 BGB bereits eine Rege- Die nächste Rednerin: für die FDP die Kollegin lung geschaffen, die die sozialen Belange der Mieter Katharina Willkomm. (B) berücksichtigt. Das Gericht, bei dem die Sache landet, (D) (Beifall bei der FDP) muss abwägen. Der Mieter kann die Fortsetzung des Mietverhältnisses verlangen, wenn die Beendigung für ihn, seine Familie oder andere Haushaltsangehörige Katharina Willkomm (FDP): eine Härte bedeuten würde, die auch unter Würdigung Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und der berechtigten Interessen des Vermieters nicht zu recht- Kollegen! Es ist erfreulich, wenn immer mehr Bürger- fertigen ist. Für die über 70-Jährigen tauschen Sie also innen und Bürger ein hohes Alter erreichen. Ende 2019 das Abwägungsgebot des § 574 BGB gegen ein Kündi- waren rund 16 Prozent der Bevölkerung 70 oder älter. gungsgebot für den Vermieter. Das ist nicht im Sinne Das sind rund 13 Millionen Bürgerinnen und Bürger. Ihrer vermeintlichen Zielgruppe, meine Damen und Her- Ein guter Teil davon ist Mieter. ren. Mancher zieht in diesem Alter noch mal um, etwa weil (Beifall bei der FDP) das Haus ohne die Kinder zu groß geworden ist. Andere bleiben gerne in der Wohnung, zum Beispiel, weil die Ihr zweiter Antrag enthält zusätzliche Forderungen Nachbarschaft lebendig und die Infrastruktur gut ist. von gleicher Qualität. Dieser Antrag will letztlich eines: Die Gründe für das Gehen und für das Bleiben sind so die Erstarrung des Wohnungsmarktes und die Beschnei- verschieden wie die Menschen. Aber für die Linken sind dung des Eigentumsrechts. Jetzt gilt eine zehnjährige sie alle gleich, und allen geht es schlecht. In Ihrem Welt- Kündigungsbeschränkung bei Wohnungsumwandlung. bild sind auf der einen Seite ein paar superreiche Raffkes, Sie wollen daraus eine Ewigkeitsgarantie machen. Jetzt alles Vermieter, und auf der anderen Seite gibt es ein Heer gilt eine fixe monatliche Mietzahlungsfrist. Sie wollen von les Misérables in tristen Mietskasernen. Diese Welt- daraus einen schwammigen Achtwochenkorridor ansicht ist einseitig und unterkomplex. machen. Zugleich aber erwarten Sie, dass der Vermieter seinen Zahlungspflichten gegenüber Handwerkern, Gärt- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nern und anderen Dienstleistern für das Mietshaus pünkt- der CDU/CSU – Caren Lay [DIE LINKE]: Wo lichst nachkommt. Und wenn es zum Streit kommt, for- steht das denn?) dern Sie, dass der Vermieter dem gekündigten Mieter den Mietrechtsprozess ebenso bezahlt wie bei Erfolg die Genauso einseitig und unterkomplex ist Ihr Antrag. Umzugskosten und die überschießenden Neumietkosten.

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Ihre Anträge zeigen nur eins: Sie verachten das Privat- eigentum. Um die Mieter geht es Ihnen nicht. Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Bayram? Vielen Dank. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24625

Katharina Willkomm (A) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Zahl der Wohnungslosen steigen. Wir müssen vorher (C) der CDU/CSU – Pascal Meiser [DIE LINKE]: handeln. Wir müssen dafür sorgen, dass das Kind erst Ihre Rede zeigt: Sie verachten die Mieterinnen gar nicht in den Brunnen fällt. und Mieter!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Pascal Meiser [DIE LINKE] – Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Katharina Willkomm [FDP]: Nein! Wir müs- Der nächste Redner ist für Bündnis 90/Die Grünen der sen für mehr Wohnungen sorgen!) Kollege Christian Kühn. Und wir brauchen eine Erneuerung des sozialen Charak- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ters des Mietrechts. Ich glaube, das ist ganz notwendig. Es wurde in den Vorreden schon sehr viel über die Christian Kühn (Tübingen) (BÜNDNIS 90/DIE Frage der Eigenbedarfskündigung gesprochen. Darauf GRÜNEN): möchte ich jetzt auch eingehen. Herr Luczak, Sie haben Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und gesagt, da gibt es gar kein Problem. Das ist sozusagen Kollegen! Selten zuvor war eine Wohnung als Schutz- Ihre Standardleier: Wir haben doch schon alles; alles ist und Lebensort so wichtig wie in dieser Zeit der Corona- rechtlich wunderbar; es funktioniert. pandemie. Jetzt seine Wohnung zu verlieren, ist eine wahre Katastrophe. Viele Mieterinnen und Mieter in Sie als Koalition ringen doch gerade um die Frage, wie Deutschland sind im Augenblick in Kurzarbeit oder es bei der Umwandlung von Mietwohnungen in Eigen- haben ihren Job schon verloren. Es ist klar: Wer jetzt tumswohnungen weitergeht. Das ist sozusagen Ihr großer auf den Wohnungsmarkt geht, findet keine günstige Woh- Streitpunkt im Augenblick. Es ist völlig absurd, dass Herr nung; es ist nahezu unmöglich, eine günstige Wohnung Seehofer einen Gesetzentwurf einbringt und danach kurz zu finden. Deswegen, weil wir in dieser Pandemie sind, erklärt, dieser müsse aber jetzt noch durch den Bundestag weil das Virus da draußen tobt, weil wir nicht wollen, aufgeweicht werden, und Sie gleich darauf reagieren. dass ein Mieter oder eine Mieterin auf die Straße gesetzt Ich sage Ihnen eines: Die andere Seite der Medaille ist wird, braucht es jetzt ein Kündigungsschutzmoratorium; der Kündigungsschutz bei Eigenbedarf, weil man die das ist unerlässlich. Mieter aus diesen umgewandelten Wohnungen nur dann loswird, wenn man wegen Eigenbedarf kündigt. Das ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN doch das Geschäftsmodell, das dahintersteht. Ich verstehe sowie bei Abgeordneten der LINKEN) natürlich, dass Sie hier auf die Bremse treten. Aber das ist In Zeiten der Pandemie darf niemand seine Wohnung ein Problem in Deutschland; das können Sie an der Zahl (B) verlieren – dieses Versprechen haben wir alle gemeinsam der Eigenbedarfskündigungen in Deutschland sehen. (D) im März gegeben. Ich verstehe nicht, was an diesem Das Geschäftsmodell der Umwandlung wollen wir als Lockdown jetzt anders ist als an dem Lockdown im Grüne beenden. Wir wollen den Eigenbedarf auf einen März. Ich verstehe nicht, warum wir dieses Versprechen tatsächlichen Eigenbedarf zurückführen. nicht auch jetzt aussprechen, gerade in dieser kalten Jah- reszeit. Ich glaube, wir sollten das Versprechen aus dem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN März erneuern: Kein Mieter darf jetzt seine Wohnung sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- verlieren. KEN – Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Und dann Umwandlung erlauben, oder wie? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das passt ja gar nicht zusammen!) und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Eigenbedarf muss auf Familienmitglieder ersten und zweiten Grades zurückgeführt werden. Ich verstehe nicht, Es ist doch ganz klar: Dieser Lockdown ist sozial noch warum eine Gesellschaft bei Wohnungen Eigenbedarf härter als der erste, weil die Reserven aufgebraucht sind. anmelden kann. Ich finde, das macht keinen Sinn. Hier Die Löhne in Deutschland sinken, und zwar dramatisch, braucht es dringend eine Reform des Mietrechts. und die Mietentwicklung in den großen Ballungsräumen ist sehr stabil. Der Gap zwischen Mietentwicklung und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Lohnentwicklung wird größer. Auch deswegen braucht es jetzt dieses Kündigungsschutzmoratorium, weil die Wir brauchen aber auch – auch das wurde eben schon Gefahr, dass Menschen jetzt ihre Wohnung verlieren, ausgeführt – eine Erneuerung des sozialen Schutzes im viel größer ist als im Frühjahr. Lassen Sie uns dieses Mietrecht, und zwar gerade für besonders schutzbedürf- Moratorium deswegen gemeinsam schnell auf den Weg tige Menschen. Auch ich bin dagegen, dass wir starre bringen und den Menschen in unserem Land Sicherheit Altersgrenzen in die Regelung hineinschreiben, aber geben. dass wir das Alter der Menschen oder Vorerkrankungen oder die Tatsache, dass es sich um einen Haushalt mit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) minderjährigen Kindern handelt, als Gründe in das Ge- setz schreiben, damit die Gerichte besser abwägen kön- Wir haben das im Fachausschuss, im Bau- und Woh- nen, das ist dringend notwendig. Das wollen wir als grüne nungsausschuss, besprochen, aber auch im Rechtsaus- Fraktion machen. schuss. Ihre Argumente, Herr Luczak, sind immer wieder vorgebracht worden. Ich sage Ihnen eines: Wir dürfen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – doch nicht warten, bis die Kündigungszahlen und die Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Das ist 24626 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Christian Kühn (Tübingen) (A) doch heute schon der Fall! Das ist doch null Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht (C) Mehrwert!) abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Wir brauchen zudem die Möglichkeit, eine ordentliche Wahl und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Die Ergebnisse gebe ich Kündigung bei Zahlungsrückständen zu heilen, gerade in 1) der heutigen Zeit. Ich habe die soziale Situation beschrie- Ihnen später bekannt. ben: Wir setzen die Aussprache fort mit dem Kollegen (Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Falsch Carsten Müller, CDU/CSU-Fraktion. beschrieben!) (Beifall bei der CDU/CSU) Immer mehr Menschen rutschen im Augenblick in die soziale Sicherung hinein. Deswegen brauchen wir hier Carsten Müller (Braunschweig) (CDU/CSU): eine Klarstellung, auch weil viele Ämter gerade nicht in Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- der Lage sind, die Mieten pünktlich zu zahlen. Dass da- ren! Wohnen hat im Leben eine ganz zentrale Bedeutung. durch Mieterinnen und Mieter unverschuldet ihre Woh- Wir haben in dieser Legislaturperiode wahrscheinlich nung verlieren, muss dringend unterbunden werden. Des- über kein Thema so häufig geredet wie über Wohnen, wegen braucht es auch hier eine Klarstellung im Gesetz. Bauen, Mieten. Ich glaube, das wird von allen geteilt in diesem Haus, Herr Luczak, außer von Ihnen in der Unionsfraktion Ich wollte eigentlich sagen, dass es in diesem Hause und in der FDP-Fraktion. absolut unstrittig ist, dass man das Problem am besten löst, wenn man einfach mehr baut. Das muss ich korri- (Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Ein biss- gieren: Weite Teile dieses Hauses kommen gar nicht auf chen Sachverstand muss ja auch noch sein!) die Idee, dem Bedarf durch mehr Angebot zu begegnen. Deswegen muss sich hier etwas ändern. Das gilt leider auch für die Kollegen des Koalitionspart- ners SPD. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) (Ulli Nissen [SPD]: Was heißt „leider“? Mechthild Rawert [SPD]: Es kann nicht jeder Ich finde es unerträglich, dass Familien in Deutschland „Bauen, bauen, bauen“ schreien!) in dieser Pandemie zwangsgeräumt werden. Auch da, finde ich, sollten wir uns als Bundestag einen Ruck geben Deswegen will ich darauf noch etwas Zeit verwenden. und sagen: Eine Zwangsräumung von Familien in dieser Meine Damen und Herren, die Koalition hat mit Blick Phase darf es nicht länger geben. auf den Mietwohnungsmarkt eine ganze Menge ange- (B) Es wurde viel über die privaten Wohnverhältnisse fasst. Wir haben die Mietpreisbremse verlängert – Sie (D) gesprochen. Der Kollege Fechner hat aber auch noch haben verfolgt, dass das kein leichtes Thema für die mal die Gewerbemieten angesprochen. Wir als grüne Unionsfraktion war –, wir haben das Mietrechtsanpas- Fraktion unterstützen Sie da gerne, eine Klarstellung für sungsgesetz auf den Weg gebracht, und wir haben vor die Gewerbetreibenden in Deutschland hinzubekommen, allen Dingen – das will ich noch mal ausdrücklich erwäh- die im Augenblick unter dieser Coronapandemie massiv nen – eine kräftige Erhöhung beim Wohngeld beschlos- leiden. Ich verstehe überhaupt nicht, dass die Unionsfrak- sen. tion das Gewerbe und den Einzelhandel dermaßen aus Die dadurch gewonnene Zeit hätte in weiten Teilen – in dem Blick verloren hat. Sonderheit im Übrigen auch in Berlin, wo Sie die Verant- (Ulli Nissen [SPD]: Gute Frage!) wortung mittragen – dazu genutzt werden müssen, neu zu Es geht hier nicht um irgendein Geschenk, sondern bauen, schneller zu bauen, ansprechend zu bauen und darum, dass die Lasten dieser Pandemie richtig verteilt soziale Not zu lindern. Nur mit mehr Wohnungen kom- werden, und zwar zwischen den Mieterinnen und den men wir dem Thema des steigenden Wohnraumbedarfs Eigentümern auf der gleichen Seite. Deswegen braucht insbesondere in den Ballungsräumen entgegen. es die Reform des § 313 im BGB. Hier braucht es eine (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gesetzgeberische Klarstellung. Wenn das Justizministe- rium hier einen guten Vorschlag machen wird, werden Meine Damen und Herren, ich habe mir mal die wir als grüne Fraktion dem natürlich zustimmen, weil Begründungen der Linkenanträge durchgelesen. Da wir das Gewerbe im Blick haben, weil wir die Innenstädte wird auf das sogenannte Wiener Modell rekurriert. Da im Blick haben und weil wir glauben, dass jetzt Men- ist es lohnenswert, sich mit diesem Wiener Modell schen geholfen werden muss, bei den privaten Mieten genauer zu beschäftigen. und bei den Gewerbemieten. (Christian Dürr [FDP]: Ja!) Danke schön. Wodurch ist es denn gekennzeichnet? Es ist dadurch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gekennzeichnet, dass Mieträume sozusagen dynastisch sowie der Abg. Mechthild Rawert [SPD]) weitervererbt werden. Es entsteht in Wien der sogenannte Mietadel. Es gibt jahrelange Wartelisten. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Jahr- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zurück zehntelange!) zu den Tagesordnungspunkten 7 und 8. Die Zeit für die Wahl ist jetzt gleich vorbei. Ich darf fragen: Ist noch ein 1) Ergebnisse Seite 24637 A und Seite 24677 C Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24627

Carsten Müller (Braunschweig) (A) Es gibt dramatische Mietpreissteigerungen auf dem pri- gewöhnliche Ausweitung des Kurzarbeitergeldes. Das (C) vaten Wohnungsmarkt, um über 50 Prozent seit 2008. Im hat gewirkt. Der Kollege Luczak hat Ihnen die Zahlen Übrigen gibt es auch auf dem öffentlichen Wohnungs- genannt. Sie wussten dazu nichts zu entgegnen. markt dramatische Mietpreissteigerungen: über 20 Pro- Welche Lehre ziehen wir aus dieser Debatte? Woh- zent in diesem Zeitraum. Darüber gehen Sie einfach hin- nungsbaupolitik und Mieterinteressen, das kriegt man weg. Neuankömmlinge, junge Familien, sozial Schwache nicht mit links hin und schon gar nicht mit linken Ideen. haben praktisch keine Chance, in Wien eine Wohnung zu Deswegen werden wir Ihren Anträgen nicht zustimmen finden. Das ist Ihr Wunsch – unser Wunsch ist es nicht. können. Ich habe überlegt: Woran liegt es, dass Sie diesem Vielen Dank. Modell so zusprechen? Und da habe ich eine Erklärung gefunden: weil der Schlüssel zu einer neuen öffentlichen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Mietwohnung in Wien bei der Partei liegt, und zwar der des Abg. Christian Dürr [FDP]) Partei, die in Wien schon seit vielen Jahrzehnten regiert, und das ist ein System, an das Sie gut gewöhnt sind: Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Wohnungsvergabe über Parteibeschluss. Meine Damen Der nächste Redner ist für die Fraktion der AfD der und Herren, das wollen wir nicht. Abgeordnete Marc Bernhard. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei der AfD) der FDP – Zuruf von der LINKEN: Sie haben doch keine Ahnung! -Christian Kühn [Tübin- Marc Bernhard (AfD): gen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schlim- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie von den mer Unsinn, den Sie gerade reden, Herr Linken fordern heute angebliche Nachbesserungen im Müller! Schlimmer Unsinn!) Mieterschutz. Ich komme jetzt gar nicht auf die Frage, in welchem (Pascal Meiser [DIE LINKE]: Tatsächliche!) Zustand sich dieser öffentliche Wohnraum befindet, weil – Na, ganz so wichtig kann es Ihnen damit allerdings wir dann sehr schnell auch das Erreichen der Klimaziele nicht sein; denn obwohl Sie die Anträge bereits im Mai diskutieren müssten. 2019 gezeichnet haben, haben Sie sie anschließend ein- einhalb Jahre in der Schublade verschwinden lassen – um Ich will allerdings auf ein paar andere Punkte zu spre- sie dann heute doch noch zu stellen. Entweder sind Sie chen kommen. Meine Damen und Herren, Sie zeichnen sich im Hinblick auf die Qualität Ihrer eigenen Anträge ein Zerrbild des Verhältnisses zwischen Mieterinnen und selbst nicht so sicher, oder es zeigt ganz deutlich Ihre (B) Mietern auf der einen Seite und Vermietern auf der ande- (D) Scheinheiligkeit und dass es Ihnen überhaupt nicht darum ren Seite, weit weg von der Realität. In der Regel sind die geht, den Menschen da draußen wirklich zu helfen. Vertragsverhältnisse weitgehend unproblematisch. Im Übrigen besteht schon heute ein hochwirksamer Rechts- (Beifall bei Abgeordneten der AfD) schutz, gekennzeichnet von Ausgewogenheit. Nach Mietpreisbremse, Mietpreisbindung, Mieten- Es gibt auch andere Beispiele: Da gibt es die Fälle, dass spiegelsimulation, Mietendeckel versuchen Sie es heute Heuschrecken über den Markt gehen. Ich will Ihnen eines mit angeblichem Mieterschutz. Dabei haben alle, aber nennen: 2004 in Berlin, eine rot-rote Landesregierung wirklich alle Ihre sozialistischen und planwirtschaftli- verschleudert 65 000 Wohnungen für 400 Millionen chen Instrumente immer nur ein einziges Ergebnis: dass Euro an Finanzinvestoren. So weit, so verantwortungslos. weniger Wohnungen gebaut werden und weniger Woh- nungen vermietet werden. Allein Ihr Mietendeckel führt (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und dazu, dass hier in Berlin 12 000 dringend benötigte Woh- der FDP – Widerspruch der Abg. Canan nungen nicht gebaut werden. Ihre angeblich soziale Poli- Bayram [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) tik führt also dazu, dass weitere 12 000 Familien keine bezahlbare Wohnung finden. Und 2019 holt eine rot-rot-grüne Landesregierung weit aus und kauft ein Zehntel dieser Wohnungen zum zwei- (Beifall bei der AfD) einhalbfachen Preis zurück. Meine Damen und Herren, Heute wollen Sie einen Eigenbedarfskündigungs- diese Kapitalvernichtung ist schlimm genug. Es wurde schutz für über 70-Jährige einführen. Das hört sich auf keine neue Wohnung geschaffen. Das Ganze ist verant- den ersten Blick sozial an. Aber zu was führt es denn wortungslose Haushaltspolitik, gesponsert im Übrigen wirklich? Zu was führt es? über den Länderfinanzausgleich. Das ist das Gegenteil (Pascal Meiser [DIE LINKE]: Dass über 70- von vorbildlicher Wohnungsbaupolitik, Herr Kollege Jährige geschützt werden! Zu was sonst?) Fechner – weil Sie hier eben einen anderen Eindruck erwecken wollten –; da müssten Sie noch mal genau In Deutschland sind 24 Millionen Menschen im hingucken. Rentenalter. Und genau diese Menschen drängen Sie mit Ihren Anträgen aus dem Wohnungsmarkt hinaus. Meine Damen und Herren, ich will einen ganz kurzen Augenblick noch verwenden auf den Grünenantrag, der (Beifall bei der AfD) außergewöhnlich kurzfristig vorgelegt worden ist, und Es führt nämlich dazu, dass niemand mehr an einen 70- sagen: Der Weg der Union ist es, den Mieterinnen und Jährigen vermieten wird – aus Angst davor, ihm nicht Mietern direkt zu helfen, beispielsweise über die außer- mehr kündigen zu können, falls die Wohnung tatsächlich 24628 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Marc Bernhard (A) einmal dringend selbst gebraucht wird. Mit Ihrem Vor- In einigen Ballungsräumen in Niedersachsen wer- (C) schlag würden Sie also nichts anderes erreichen als eine den laut einer Studie viel zu wenige Wohnungen faktische Diskriminierung von älteren Menschen. gebaut. (Beifall bei der AfD) (Carsten Müller [Braunschweig] [CDU/CSU]: Ja!) Grund für die wohnungspolitische Katastrophe in Deutschland sind aber nicht die bei Ihnen so verhassten So sei der jährliche Bedarf an Neubauwohnungen in Vermieter, sondern ein jahrzehntelanges Regierungsver- Braunschweig sagen, gescheiterte Wohngipfel, überbordende Bürokra- (Carsten Müller [Braunschweig] [CDU/CSU]: tie und vor allem ein Staat, der der größte Kostentreiber SPD-Oberbürgermeister! Der kriegt es einfach des Bauens und Wohnens ist. nicht hin!) (Beifall bei der AfD) seit 2016 nur zu rund einem Drittel gedeckt … Ihr Antrag würde einzig und allein dazu führen, dass noch (Carsten Müller [Braunschweig] [CDU/CSU]: weniger Menschen das Risiko des Bauens eingehen wür- SPD-Oberbürgermeister!) den. – Ich weiß, dass dort die SPD regiert. Was wir jedoch brauchen, ist eine echte Wohnraumof- fensive, die die Menschen unterstützt, Wohnungen zu (Carsten Müller [Braunschweig] [CDU/CSU]: bauen. Dazu müssen die Grunderwerbsteuer gesenkt, Mit den Linken und Grünen! Das ist der gleiche die Grundsteuer abgeschafft und bürokratische Regeln Senat wie in Berlin!) entrümpelt werden. Ich wollte nur darauf hinweisen, dass Sie alle nicht so tun (Beifall bei der AfD – sollten, als hätten Sie kein eigenes Zuhause, sondern nur [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was sollen Ihre Zweitwohnsitze hier in Berlin. denn die Kommunen dazu sagen?) (Beifall bei der SPD – Carsten Müller [Braun- Denn gegen Wohnungsnot hilft einzig und allein nur schweig] [CDU/CSU]: Wir leiden auch unter bauen, bauen, bauen und nochmals bauen und nichts Rot-Rot-Grün!) anderes, meine sehr geehrten Damen und Herren. Wir als SPD treten schon seit Langem für ein soziales Herzlichen Dank. Mietrecht ein. Es geht um Kündigungsschutz, um bezahl- bare Mieten, um den Kampf gegen Mietwucher und Ver- (B) (Beifall bei der AfD – Ulli Nissen [SPD]: Gut, drängung. Corona macht doch letztendlich Probleme nur (D) dass diese Rede vorbei ist! – Daniela Wagner noch deutlicher, Probleme, die wir auch vorher schon [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie sollen die hatten, und zwar sowohl im Hinblick auf den Wohnungs- Kommunen das ersetzen? Schlaumeier! – markt als auch auf Gewerberäume. Gegenruf des Abg. Marc Bernhard [AfD]: – Sie sind doch in der Regierung! Was haben Wir als SPD-Fraktion sind der Meinung, dass eine Ver- Sie bisher geleistet? Nichts!) längerung des Mietmoratoriums dringend notwendig gewesen wäre. Aber es hat nicht geklappt; andere standen auf der Bremse. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Die nächste Rednerin ist für die SPD-Fraktion die (Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Gab es da Abgeordnete Mechthild Rawert. nicht eine Kleine Anfrage?) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir als SPD-Fraktion setzen uns aber auch weiterhin für einen nachhaltigen Schutz für Mieterinnen und Mieter ein. Alle Menschen brauchen angemessenen und bezahl- Mechthild Rawert (SPD): baren Wohnraum. Herr Präsident! Liebe Mieterinnen! Liebe Mieter! Lie- be Kolleginnen und Kollegen! Einmal als Berlinerin: Ich (Beifall der Abg. Ulli Nissen [SPD]) freue mich ja so, dass Sie sich so intensiv mit meiner Niemand darf Angst haben, aus der Nachbarschaft ver- Regierung hier, Rot-Rot-Grün, drängt zu werden. Als 63-Jährige sage ich Ihnen: Ich möchte, dass das auch für unter 70-Jährige gilt. (Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Ja, nicht mehr lange!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) auseinandersetzen und vor allen Dingen mit unserem Ich bin zwar keine Mutter, fünf Kinder habe ich auch Mietrecht. Ich kann Ihnen versichern: Wir wissen nicht nicht, aber 16 Nichten und Neffen; deswegen kenne ich nur, „bauen, bauen, bauen“ zu schreiben, sondern auch mich mit Großfamilien also durchaus aus. mehr: Wenn Sie in Ihrem Zweitzuhause herumgehen, Wir sind vor allen Dingen auch dafür, dass Mieter- sehen Sie, dass was passiert. höhungen nach Modernisierungen nicht mehr möglich Herr Kollege Müller, ich habe mich gerade erst mal sind. Sie müssen untersagt werden. Wir wollen in ange- erkundigt, woher Sie kommen; das weiß ich nicht immer spannten Wohnungsmärkten auch weiterhin vor allen bei jedem. Ich zitiere – mit Genehmigung des Präsiden- Dingen überhöhte Neuvertragsmieten verbieten, und wir ten –: wollen Mietpreisbremsen selbstverständlich ausbauen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24629

Mechthild Rawert (A) Wer meint, das wäre nur ein wirksames Instrument für (Beifall bei der FDP) (C) Berlin, ist sehr herzlich eingeladen, es im jeweils eigenen Ihre Vorschläge erscheinen eher als Teil eines hoch- Zuhause durchaus noch weiter auszubauen. ideologischen Gesamtkonzeptes zur Bekämpfung priva- Bevor mich der Präsident hier abmahnt, muss ich lei- ten Wohnungseigentums, meine Damen und Herren. der Gottes aufhören. Darin hat Die Linke bzw. die SED historisch schon eine (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist nicht gewisse Expertise entwickelt; schlimm!) (Zurufe von der LINKEN: Oah!) Ich sage aber: Wir machen weiter an der Seite der Mieter das ist richtig. Die Ergebnisse konnte man sehen. Ja, es und der Mieterinnen. Wir wollen ein Risikoverhältnis, war tatsächlich ideologisch begründetes Ziel, privates das auch im Sinne des § 313 BGB gerecht ist. Deswegen: Wohneigentum zurückzudrängen. Entsprechend sah die Verlassen Sie sich auf die SPD, liebe Mieter und Miete- DDR 1990 aus, meine Damen und Herren. rinnen und liebe sozial engagierte Vermieter. (Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Oah!) Danke. Ich sage nicht, dass Sie Gleiches hier vorhaben. Aber ich (Beifall bei der SPD – Zurufe von der CDU/ warne vor den Nebenwirkungen einer verfehlten Miet- CSU: Maske auf!) politik, meine Damen und Herren. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Carsten Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Müller [Braunschweig] [CDU/CSU] – Der nächste Redner: der Kollege Dr. Jürgen Martens, Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/ FDP-Fraktion. DIE GRÜNEN]: Nebelkerzen!) (Beifall bei der FDP) – Das gilt auch für den Antrag der Grünen. Eines ist besorgniserregend. Sie werden mit diesem Dr. Jürgen Martens (FDP): Antrag hier keine Mehrheit finden; das wissen Sie. Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- ren! An diesem Nachmittag ist das schon ein beachtliches (Pascal Meiser [DIE LINKE]: Noch nicht!) Schaulaufen der verschiedenen ideologischen Konzepte Aber vielleicht haben Sie nicht daran gedacht, was auf- zur Rettung und Glücklichmachung der Mieter. grund dieser Anträge draußen passiert, wie viele Vermie- (Ulli Nissen [SPD]: Das macht die FDP ter verunsichert sind und wie viele Mieter nicht mehr bestimmt nicht mit! – Gegenruf des Abg. wissen, was nun in Zukunft passieren wird. Könnte es (B) [CDU/CSU]: Nur in Frank- sein, dass sich Vermieter in der Zwischenzeit überlegen: (D) furt!) „Moment mal, bevor so etwas kommt, kündige ich mei- nen Mietern, solange sie noch 69 und nicht 70 Jahre Nur: Die gesamten ideologischen Konzepte – das hat die sind“? Oder könnte es sein, dass Vermieter überhaupt Geschichte gezeigt – haben bisher den Mietern in der auf die Idee kommen, zu sagen: Sowie jemand 70 Jahre Regel nichts geholfen, eher im Gegenteil. oder auch nur in der Nähe der 70 Jahre ist, vermiete ich (Beifall bei der FDP – Christian Kühn [Tübin- ihm überhaupt keine Wohnung mehr. gen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In wel- (Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Das ist chem Geschichtsbuch steht das denn?) unglaublich!) Wir alle wollen, dass Mieter angemessen versorgt sind Damit hätten Sie den Mietern wirklich einen Bärendienst mit Wohnraum, mit günstigem Wohnraum. Und wir alle erwiesen, alleine mit der Diskussion. Man sollte sich wollen auch nicht, dass Eigenbedarfskündigungen miss- auch immer vor Augen halten, was man mit einer Diskus- braucht werden. Frau Lay, was Sie als Beispiele gebracht sion in diesem Haus unter Umständen anrichten kann, haben, um Eigenbedarfskündigungen unzulässig erschei- nämlich genau das Gegenteil von dem, was man vorgibt, nen zu lassen, ist sämtlich bereits jetzt rechtswidrig. Das erreichen zu wollen. war Missbrauch und wird auch Missbrauch bleiben; daran ändert sich durch Ihre Vorstellungen überhaupt Wir werden Ihren Anträgen sicherlich nicht zustim- nichts. men. Was Sie gleichzeitig vorschlagen, ist aber bemerkens- (Beifall bei der FDP – Ulli Nissen [SPD]: Das wert – das ist hier noch nicht angesprochen worden –: wundert mich jetzt aber!) eine Prozessklausel. Danach soll eine Kündigung erst dann ausgesprochen werden können, wenn unterschied- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: liche Rechtsauffassungen zwischen Mieter und Vermieter Die Kollegin Mechthild Heil ist die nächste Rednerin rechtlich abschließend – das heißt unter Umständen für die CDU/CSU-Fraktion. durch alle Instanzen – geklärt sind. Was heißt das? Der Mieter muss nur behaupten, er sei einer anderen Rechts- (Beifall bei der CDU/CSU) auffassung als der Vermieter, und schon begeben wir uns in einen mindestens drei, vier, fünf Jahre lang währenden Mechthild Heil (CDU/CSU): Prozessmarathon mit ungewissem Ausgang. Erst dann Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und darf der Vermieter kündigen. – Wenn das keine Einladung Kollegen! Mieterschutz ist auch ganz unabhängig von zum Missbrauch ist, dann weiß ich auch nicht weiter. Corona wirklich ein wichtiges und auch ernstes Thema: 24630 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Mechthild Heil (A) wichtig, weil es in Deutschland viele angespannte Woh- Was aber Ihre Anträge so unglaublich unglaubwürdig (C) nungsmärkte gibt – da ist es egal, ob das in Göttingen, in macht, ist: Legt man die Anträge mal nebeneinander und Braunschweig oder hier in Berlin ist –, und ernst, weil schaut sich beide gleichzeitig an, zeigt sich erstaunlicher- Mietwohnungen für jeden von uns natürlich auch ein weise, dass ganze Sätze, ganze Passagen in beiden Anträ- Stück Zuhause, ein Stück Heimat sind. Es ist nicht rich- gen komplett gleich sind. tig, wenn man aus einer Mietwohnung – und zwar unge- rechtfertigt oder leichtfertig – herausgeworfen wird. Die Forderung, Mieter und Mieterinnen über 70 zu schüt- zen, (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Caren Lay [DIE LINKE]: Ist ja auch wahr! In SES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Ulli beiden Anträgen!) Nissen [SPD]) steht in beiden Anträgen wortgleich drin. Ich selbst kom- Allerdings werden vor allen Dingen die Linken mit me aus einer Weinregion. Bei mir würde man sagen: Das ihren Anträgen der Ernsthaftigkeit des Themas überhaupt ist der gleiche Wein mit zwei verschiedenen Etiketten. nicht gerecht. Das finde ich nicht nur schade – darüber Man könnte auch sagen: Das ist Etikettenschwindel. könnte man hinwegsehen –, sondern das ärgert mich auch richtig, weil es vertane Zeit ist, sich mit so einem Kram (Beifall bei der CDU/CSU) hier zu beschäftigen. Ich will das jetzt gar nicht so hart rüberbringen, sondern (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ich will Ihnen nur sagen: Das ist das, was Sie wollen: Ihnen kommt es aufs Etikett an, Ihnen kommt es aber Ich mag diesen Ausdruck nicht, aber ich nenne ihn: Was nicht auf den Inhalt an. Sonst würden Sie anders mit Sie hier vorlegen, das sind Schaufensteranträge. Ich diesen Themen umgehen. beweise Ihnen auch gerne meine Aussage dazu. (Caren Lay [DIE LINKE]: So wie Sie schon Schauen wir uns jetzt mal wirklich den Antrag der mal gar nicht!) Linken an: Keine Kündigungen für Mieterinnen und Mie- ter über 70 Jahre. Die Kollegen haben hier schon erklärt, Der Antrag der Grünen ist anders: Er ist viel substan- wie unlogisch diese Grenzziehung ist, die Sie hier vor- zieller; er setzt sich auch mit der Pandemie und dem nehmen; es wurde ausreichend dargelegt. Die wohlha- Mieterschutz auseinander. Es sei mir ein kleiner Hinweis bende 71-Jährige, die ist schutzbedürftig, aber die 68- zu Ihrem Antrag erlaubt: Nach meiner Überzeugung Jährige oder 69-Jährige, die vielleicht sogar Sozialhilfe- muss man die Not da lindern, wo sie entstanden ist, und empfängerin ist, die ist nach Ihrer Lesart nicht schutzbe- man sollte nicht anfangen, die Probleme durch die ganze (B) dürftig. Wertschöpfungskette und durch die ganze Wirtschafts- (D) kette hindurch zu verlängern. Die Kollegen haben es Sie akzeptieren keinen Kündigungsgrund; das kann schon angesprochen: Wir haben das so gemacht mit man hier nachlesen. Es könnte aber Kündigungsgründe dem Wohngeld oder dem Kurzarbeitergeld. Das sind spe- geben, zum Beispiel die pflegebedürftige Mutter, die eine zifische Lösungen an Stellen, wo man wirklich anpacken Wohnung braucht. Davon liest man in Ihren Anträgen muss. nichts. Man liest nichts davon, dass es auch nur einen Liebe Kolleginnen und Kollegen, Mieterschutz ist ein Grund gibt, warum es wirklich gerechtfertigt sein kann, wichtiges Thema. Aber hören wir doch endlich auf, stän- eine Wohnung zu kündigen. dig dieses Zerrbild zu malen, dass auf der einen Seite Bei Ihnen ist man mit 70 hilfsbedürftig, oder, wie Sie immer nur die bösen Vermieter stehen und auf der ande- gesagt haben, Frau Lay: Man steht mit dem Rücken an ren Seite immer nur diese hilfsbedürftigen, armen Men- der Wand. Ich wundere mich wirklich, was das für ein schen, die Mieter, die wirklich keinen Schutz haben und Menschenbild und was das auch für ein Gesellschaftsbild die wirklich immer nur Opfer sind. Das ist nicht meine ist. Sicht der Dinge. Wenn wir das mal hinbekommen könn- ten, dass das auch Ihre Sicht ist, dann können wir auch (Beifall bei der CDU/CSU – Caren Lay [DIE wieder substanziell über solche Themen sprechen wie LINKE]: Es gibt aber viele solche Menschen! Wohnungen, Rückzug in das eigene Zuhause und Heimat. Das ist eine völlig andere Lebenswelt!) Diese Themen haben wirklich etwas Besseres verdient als diese Anträge, die uns hier vorliegen. Ihr Antrag umfasst eine einzige Seite. Der Antrag ist in jeder Hinsicht dünn. Vielen Dank. Sie haben dann noch einen zweiten Antrag vorgelegt: (Beifall bei der CDU/CSU – Caren Lay [DIE „Kündigungsschutz für Mieterinnen und Mieter verbes- LINKE]: Dann macht doch mal selber einen sern“. Der Antrag hat drei Seiten, und Sie gehen im guten Antrag!) Schweinsgalopp durch alle wichtigen und weniger wich- tigen Themen rund um den Kündigungsschutz. Darin Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: finden sich ein paar wirklich gute Punkte, die diskus- Vielen Dank, Mechthild Heil, auch für das punktge- sionswürdig sind und über die wir hier im Plenum und naue Einhalten der Redezeit. – Nächste Rednerin: für auch in den Ausschüssen schon oft und zahlreich disku- die SPD-Fraktion die Abgeordnete Ulli Nissen. tiert haben. Dazu haben wir schon ganz viele Beschlüsse gefasst. Dieses Thema ist wirklich der Betrachtung wert. (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24631

(A) Ulli Nissen (SPD): (Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Das ist ja (C) Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr auch rechtswidrig!) Präsident! Unter Coronabedingungen haben wir jetzt Schon im letzten Jahr hatten wir die Möglichkeit der umso mehr festgestellt, wie wichtig die eigene Wohnung, Umlage von Modernisierungskosten auf die Mieterinnen unser Zuhause ist. In der Agenda 2030 für nachhaltige und Mieter reduziert; jetzt sind es maximal 3 Euro pro Entwicklung wurden 17 Nachhaltigkeitsziele – SDGs – Quadratmeter innerhalb von sechs Jahren. In Frankfurt festgelegt, und Ziel 11 fordert nachhaltige Städte und hatten wir eine Erhöhung von 14 Euro pro Quadratmeter Gemeinden. Dazu gehört auch bezahlbares Wohnen; das pro Monat – grausig! ist ein elementares Bedürfnis, ein Grundbedürfnis. Die deutliche Reduzierung war sehr wichtig und hat (Beifall bei der SPD) vielen Menschen geholfen. Mein Ziel besteht darin, dass Deshalb war es der rot-schwarzen Bundesregierung auch nur noch warmmietenneutral erhöht werden darf. Wenn extrem wichtig, in der Coronapandemie schnell zu han- man also eine Heizkostenersparnis von 50 Euro hat, darf deln. dann die Miete auch nur um 50 Euro erhöht werden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Dr. Jan-Marco Luczak [CDU/CSU]: Noch ist des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sie schwarz-rot! Aber macht ja nichts!) Gut ist auch, dass wir bei der Mietpreisbremse Wir haben die Bedingungen für das Kurzarbeitergeld 30 Monate rückwirkend zu viel gezahlte Miete zurück- deutlich verbessert, und wir haben den Zugang zum fordern können. Jetzt werden sich Vermieterinnen und Wohngeld erleichtert. Um den Antrag fristgerecht zu stel- Vermieter genau überlegen, ob sie noch eine erhöhte len, reicht ein Telefonanruf oder eine Mail. Miete fordern. Vorher konnte die Miete erst ab dem Zeit- Besonders wichtig ist mir auch der vereinfachte Zu- punkt des Widerspruchs reduziert werden; das bedeutete gang zur Grundsicherung. Die Vermögensprüfung ist kein Risiko für Vermieterinnen und Vermieter. weitgehend ausgesetzt; sie findet nur statt, wenn jemand Wir müssen aber noch mehr tun, um die Menschen vor über mehr als 60 000 Euro Vermögen verfügt, das kurz- dem Verlust ihrer Wohnung zu schützen. Eigenbedarfs- fristig verwertbar ist. Für jede Person im Haushalt erhöht kündigungen darf es maximal noch für engste Familien- sich dieser Betrag um 30 000 Euro. Zusätzlich bleiben angehörige geben. Außerdem soll der Ausgleich eines Altersvorsorgeanlagen wie Renten- und Lebensversiche- Mietrückstandes – neben der fristlosen Kündigung – rung unabhängig von der Höhe frei. Viele wissen das auch durch die fristgerechte Kündigung unwirksam wer- nicht und stellen deshalb keinen Antrag. Die Wohnkos- den. Das haben schon mehrere angesprochen; das kann ten, also Miete plus Heizung, werden übernommen, ohne (B) ich nur unterstützen. (D) dass die Angemessenheit der Wohnung überprüft wird. Bitte geben Sie diese Information zur Grundsicherung Aktuell erhielt ich die Anfrage einer Vermieterin: Ich weiter, damit die Menschen das erfahren. sollte ihr einen vernünftigen Grund nennen, warum sie die Miete nicht einfach so erhöhen darf, wie es ihr gefällt. Wohngeld und Grundsicherung sind in Frankfurt stark Die Antwort war einfach: In Deutschland gilt das soziale nachgefragt. Bei den Anträgen zum Wohngeld gab es Mietrecht, und in Artikel 14 unseres Grundgesetzes steht: einen Anstieg um 60 Prozent. Bei der Grundsicherung „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem gab es gegenüber dem Vorjahr gut 10 000 Anträge Wohle der Allgemeinheit dienen.“ mehr, und trotzdem lag die Bearbeitungsdauer nur bei (Beifall bei der SPD) etwa sieben Tagen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Wohngeldstellen, der Arbeitsagenturen und der Job- Gerade in der Coronapandemie wird bei vielen Men- center leisten Großartiges. Dafür gilt allen mein großer schen das Geld knapp; deshalb sind Mieterhöhungen zur- Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen. zeit das völlig falsche Signal. Das gilt nicht nur für pri- vate Vermieterinnen und Vermieter, sondern natürlich (Beifall bei der SPD) auch für öffentliche Unternehmen. Die AGB Frankfurt Wir hatten für Mieterinnen und Mieter ein Kündi- Holding und die Nassauische Heimstätte wollen aktuell gungsmoratorium bis zum 30. Juni 2020 erlassen, wenn die Mieten bis zu 3,5 Prozent erhöhen. Das geht gar nicht! sie pandemiebedingt ihre Miete nicht zahlen konnten. Die Die öffentlichen Wohnungsbaugesellschaften müssen mit SPD hätte dieses Moratorium gerne verlängert; aber lei- gutem Beispiel vorangehen und auf Mieterhöhungen ver- der hat unser Koalitionspartner da nicht mitgemacht. zichten. Dies gilt nicht nur für Frankfurt, sondern überall. Es gibt natürlich auch Erfreuliches. Das Bundeskabi- Die SPD ist auf der Seite der Mieterinnen und Mieter. nett hat das Baulandmobilisierungsgesetz verabschiedet. Wir setzen uns dafür ein, dass die geplanten Mieterhö- Die Umwandlungen von Miet- in Eigentumswohnungen hungen ausgesetzt werden. Ich selber bin seit 2006 Ver- sollen deutlich reduziert werden. Das bedeutet, dass dann mieterin und habe bisher ein einziges Mal bei Neuver- das neoliberale Vertreiben von Mieterinnen und Mietern mietungen die Miete um 20 Euro angehoben, aber nie im erschwert wird, und das ist auch gut so. Das trägt nicht Bestand. Deshalb verlassen mich die Mieter wohl auch zur Freude bei den Vermietern bei, die Häuser aufgekauft nicht. und dann die Mieter drangsaliert haben, um die Wohnung Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns alles freizubekommen. Ziel war, die Wohnungen dann teuer dafür tun, dass die Menschen ihre Wohnung, ihre Heimat als Eigentumswohnung zu verkaufen. Das wollen wir nicht verlieren. Darum bitte ich Sie alle. Lassen Sie uns deutlich erschweren. das gemeinsam tun. 24632 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Ulli Nissen (A) Danke für die Aufmerksamkeit, und bleiben Sie alle Der dritte Kritikpunkt. Man bemerkt bei Ihnen keiner- (C) gesund! lei Lernprozess. Da will ich Ihnen schon sagen: Das ist genau das, was wir Ihnen abverlangen. Wir werden nach- (Beifall bei der SPD) her noch über Berlin reden. Wir erwarten schon – hier verändert sich etwas auf dem Markt –, dass Sie mal Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: hingucken und überlegen, ob die Instrumente, die Sie Vielen Dank, Frau Kollegin. – Der letzte Redner zu dort etablieren, tatsächlich zum gewünschten Ziel führen. diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Alexander Aber erst noch mal ganz kurz zu den Grünen. Die Hoffmann, CDU/CSU. Grünen haben ja die Gewerbemieter für sich entdeckt. Die Kollegin Rottmann und auch der Kollege Kühn ver- (Beifall bei der CDU/CSU) gießen im Rechtsausschuss hin und wieder, wenn wir über Gewerbemieter reden, eine Krokodilsträne und Alexander Hoffmann (CDU/CSU): sagen, wie wichtig es ist, diese Mieter zu schützen. Da Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten gebe ich ihnen auch recht. Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aber gehen wir doch mal in die Länder und vor allem Wieder liegen uns hier Anträge der Grünen und der Lin- in die Kommunen, wo die Grünen Mitentscheidungs- ken zum Mietrecht vor. Die Anträge haben seit Monaten kompetenz in Kommunalparlamenten haben. Was ist immer ein gleichbleibendes Niveau, und deswegen wird denn da? Da poppen Pop-up-Radwege auf, Einbahnstra- es Sie nicht überraschen, dass unsere Gegenargumente ßenregelungen gibt es, das Auto wird aus der Innenstadt eigentlich immer dieselben sind. verbannt, und Parkplätze werden zugunsten von Grün- Zunächst einmal sind die Anträge handwerklich ein- flächen geopfert. Da habe ich – Entschuldigung – noch fach schlecht gemacht. Die Linken wollen für Mieter ab nicht erlebt, dass Sie tatsächlich ein offenes Ohr für einem Alter von 70 Jahren die Eigenbedarfskündigung Ladenbetreiber in der Innenstadt haben, die nämlich ausschließen. Sie bleiben jedwede Erklärung schuldig, darauf angewiesen sind. warum ausgerechnet ab 70, warum nicht ab 65, warum nicht ab 75. Das müssen Sie aber erklären können, um (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. später dem Verdacht einer Diskriminierung vorbeugen zu Katharina Willkomm [FDP]) können. Und das macht die aktuelle Rechtsprechung in Weil wir bei dem Begriff des Lernprozesses sind, sage diesem Bereich eben sehr viel besser, die Sie ja kritisie- ich Ihnen: Es wird ab jetzt jedes Mal geschehen, dass wir ren, weil sie diese Fälle sehr einzelfallgerecht abarbeitet. dann, wenn wir von Ihnen solche Anträge bekommen, die (B) neuesten Nachrichten aus Berlin durchgehen. Eine breite (D) Der Antrag von den Grünen geht tatsächlich noch wei- Auswahl habe ich Ihnen mal mitgebracht. In Berlin kann ter: Keine Zwangsräumungen mehr, zunächst befristet – man nämlich sehen, wie Ihre Mietenpolitik wirkt. Die so steht es drin – bis zum 30. April. – Das ist schon, muss Schlagzeilen sind erschreckend. Da heißt es zum Beispiel man sagen, harter Tobak. Nehmen Sie mal den Fall, dass einmal – Herr Präsident, Sie gestatten –: „Studie enthüllt: der Mieter mit einem Beil auf seinen Vermieter losgeht – Der Mietendeckel deckelt nur die Zahl der Wohnungs- das ist ein Kündigungsgrund; das wird jetzt hier nieman- inserate“. Herzlichen Glückwunsch! den überraschen –, und dann geht es an die Zwangsräu- mung, weil der Mieter die Wohnung nicht verlassen will. (Christian Kühn [Tübingen] [BÜNDNIS 90/ Die Umsetzung Ihres Vorschlages würde dazu führen, DIE GRÜNEN]: Welche Zeitung?) dass man ihn nicht einmal zwangsräumen lassen kann. Bei dem Beispiel merkt man eigentlich, was Sie Vermie- Sie bekommen Leserbriefe in Berlin. Dort heißt es in der tern in diesem Land tatsächlich zuzumuten bereit sind. Überschrift: „Wer saniert denn noch für 6 Euro Kaltmie- te?“ Herzlichen Glückwunsch! Sie bekommen Kommen- Der zweite Kritikpunkt – auch immer derselbe –: Mit tare in Berlin. Der Mietendeckel bleibt falsch. Nicht am all dem, was Sie regeln, erzeugen Sie eigentlich exakt das beeindruckendsten, sondern am erschreckendsten finde Gegenteil von dem, was wir haben wollen, nämlich be- ich eigentlich die Zahlen, und das sind Ihre Zahlen von zahlbaren Wohnraum. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Mitt- Rot-Rot-Grün. Darin steht: Um 72 Prozent gehen die lerweile habe ich ernsthaft Zweifel, ob Sie das Problem Investitionen zurück, um 61 Prozent die geplanten Sanie- unbezahlbarer Mieten in Deutschland tatsächlich lösen rungen und um 59 Prozent die Modernisierungen. wollen. Anders kann man Anträge dieser Art nämlich nicht mehr erklären. Ich glaube, wir erreichen einen Punkt, an dem Sie ernsthaft nachweisen müssen, dass Sie ein echtes Interes- Vielleicht liegt es auch daran, dass Sie das Thema se haben, dieses Problem zu lösen. Also, hören Sie auf weiterhin brauchen und gar kein Interesse an einer Ver- mit solchen Anträgen! besserung der Situation haben. Denn das, was hier als Problem aufschlägt, das liegt doch jedem auf der Hand. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Wenn Sie jetzt sagen: „Ab 70 keine Eigenbedarfskündi- (Beifall bei der CDU/CSU) gung“, und wir das heute beschließen, was glauben Sie, welcher 69-Jährige dann morgen in diesem Land noch eine Mietwohnung bekommt? Denn jeder Vermieter Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: sagt doch: Da nehme ich lieber den 40-jährigen Mitbe- Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich schließe die Aus- werber, weil ich da das Problem nicht habe. sprache. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24633

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich (A) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Überweisungsvorschlag: (C) den Drucksachen 19/10283, 19/10284 und 19/24634 Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales (neu) an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüs- Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- se vorgeschlagen. Gibt es andere Überweisungsvorschlä- zung ge? – Das ist nicht der Fall. Dann verfahren wir wie vor- Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen geschlagen. ZP 9 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Torsten Herbst, Frank Sitta, Oliver Luksic, Ich rufe die Tagesordnungspunkte 31 a bis 31 e und die weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Zusatzpunkte 9 a bis 9 e auf. Es geht dabei um Über- FDP weisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Wir kommen zunächst zu den unstrittigen Überwei- Keine einseitige Subventionierung für den sungen. Tagesordnungspunkte 31 a bis 31 c und 31 e Deutsche-Bahn-Konzern – Unterstützung und die Zusatzpunkte 9 a bis 9 e: für den Schienenverkehr wettbewerbs- neutral ausgestalten 31 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias Seestern-Pauly, Katja Suding, Drucksache 19/24639 Nicole Bauer, weiterer Abgeordneter und Überweisungsvorschlag: der Fraktion der FDP Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie Schulabsentismus ernst nehmen – Theorie Haushaltsausschuss und Praxis b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Drucksache 19/23830 Oliver Luksic, Frank Sitta, Torsten Herbst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Überweisungsvorschlag: FDP Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- zung Technologieoffenheit wahren – Elektro- Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen mobilität nicht mit Euro 7 durch die Hin- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten tertür erzwingen Claudia Müller, Dr. Franziska Brantner, Drucksache 19/24640 Matthias Gastel, weiterer Abgeordneter und Überweisungsvorschlag: der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie Klimafreundliche Schifffahrt – Deutsche Ausschuss für Gesundheit (B) Ratspräsidentschaft nutzen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (D) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- Drucksache 19/23987 zung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f) c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ausschuss für Wirtschaft und Energie Manuel Höferlin, Stephan Thomae, Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- Grigorios Aggelidis, weiterer Abgeordneter zung und der Fraktion der FDP Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Verfassungskonforme Registermoderni- Dr. Kirsten Kappert-Gonther, Dr. Janosch sierung – Ohne steuerliche Identifika- Dahmen, Dr. Bettina Hoffmann, weiterer Ab- tionsnummer geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ Drucksache 19/24641 DIE GRÜNEN Überweisungsvorschlag: Den Öffentlichen Gesundheitsdienst Ausschuss für Inneres und Heimat (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz dauerhaft stärken, die Public Health-Per- Ausschuss Digitale Agenda spektive in unserem Gesundheitswesen ausbauen d) Beratung des Antrags der Abgeordneten , Friedrich Straetmanns, Drucksache 19/24436 Dr. André Hahn, weiterer Abgeordneter und Überweisungsvorschlag: der Fraktion DIE LINKE Ausschuss für Gesundheit (f) Finanzausschuss Juristische Ausbildung reformieren, Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen Transparenz und Qualität erhöhen, Chan- e) Beratung des Antrags der Abgeordneten cengleichheit gewährleisten Norbert Müller (Potsdam), Dr. Petra Sitte, Drucksache 19/24643 Doris Achelwilm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Zuerst ein Dach über dem Kopf – Neue e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Perspektiven für Straßenkinder und woh- Corinna Rüffer, Anja Hajduk, Markus Kurth, nungslose junge Menschen eröffnen weiterer Abgeordneter und der Fraktion Drucksache 19/24642 BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 24634 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich (A) Selbstbestimmung und Teilhabe ermögli- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- (C) chen – Barrierefreiheit umfassend umset- neten Jens Beeck, Pascal Kober, Michael zen Theurer, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Drucksache 19/24633 zur Änderung des Gesetzes zur Ermittlung Überweisungsvorschlag: der Regelbedarfe nach § 28 des Zwölften Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Buches Sozialgesetzbuch Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Drucksache 19/23938 Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen Drucksache 19/24725 Interfraktionell wird hier vorgeschlagen, die Vorlagen Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/24725, überweisen. Gibt es andere Vorschläge? – Das ist nicht den Gesetzentwurf der Fraktion der FDP auf Drucksache der Fall. Dann verfahren wir so. 19/23938 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge- setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wir kommen zu einer Überweisung, bei der die Feder- Das ist die FDP. Wer stimmt dagegen? – Das sind CDU/ führung strittig ist. CSU und SPD. Enthaltungen? – AfD, Grüne und Linke. Tagesordnungspunkt 31 d: Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung abge- lehnt. Nach unserer Geschäftsordnung entfällt eine wei- Beratung des Antrags der Abgeordneten Joana tere Beratung. Cotar, Uwe Schulz, Dr. Michael Espendiller, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der AfD Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 32 b: Re-Identifikationsrisiko im Digitale-Versor- Beratung der Beschlussempfehlung und des gung-Gesetz und in der Datentransparenzver- Berichts des Ausschusses für Menschenrechte ordnung reduzieren und humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD Drucksache 19/24655 Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverlet- Überweisungsvorschlag: zungen dürfen nicht straflos bleiben (B) Ausschuss für Gesundheit (f) (D) Ausschuss Digitale Agenda (f) Drucksachen 19/23702, 19/24728 Ausschuss für Inneres und Heimat Federführung strittig Hier empfiehlt der Ausschuss in seiner Beschlussemp- Interfraktionell wird Überweisung des Antrags der fehlung auf Drucksache 19/24728, den Antrag der Frak- Fraktion der AfD auf Drucksache 19/24655 mit dem Titel tionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 19/23702 „Re-Identifikationsrisiko im Digitale-Versorgung-Gesetz anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- und in der Datentransparenzverordnung reduzieren“ an lung? – Das sind CDU/CSU, SPD und Grüne. Gegen- die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- probe! -Keine Gegenstimmen. – Enthaltungen? AfD, schlagen. Die Fraktionen CDU/CSU und SPD wünschen FDP und Linke. Die Beschlussempfehlung ist damit Federführung beim Ausschuss für Gesundheit. Die Frak- angenommen. tion der AfD möchte, dass der Ausschuss Digitale Agen- Tagesordnungspunkt 32 e: da federführend darüber berät. Beratung der Beschlussempfehlung und des Wir stimmen zuerst ab über den Überweisungsvor- Berichts des Ausschusses für Tourismus (20. Aus- schlag der Fraktion der AfD. Wer stimmt für diesen Über- schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten weisungsvorschlag? – Das ist die AfD. Wer stimmt dage- Dr. Marcel Klinge, Michael Theurer, Grigorios gen? – Das sind alle übrigen Fraktionen des Hauses. Aggelidis, weiterer Abgeordneter und der Frak- Enthaltungen? – Keine. Der Überweisungsvorschlag ist tion der FDP abgelehnt. Pandemieplan für das Gastgewerbe statt pau- Ich lasse abstimmen über den Überweisungsvorschlag schaler Schließungen der Fraktionen CDU/CSU und SPD: Federführung beim Gesundheitsausschuss. Wer stimmt für diesen Vor- Drucksachen 19/23932, 19/24617 schlag? – Das sind alle Fraktionen mit Ausnahme der AfD. Wer stimmt dagegen? – Die AfD. Enthaltungen? – Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- Keine. Der Überweisungsvorschlag ist angenommen. lung auf Drucksache 19/24617, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/23932 abzulehnen. Wer Ich rufe die Tagesordnungspunkte 32 a und 32 b sowie stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind 32 e bis 32 u auf. Es handelt sich um die Beschlussfas- CDU/CSU, SPD, Linke und AfD. Gegenprobe! – FDP sung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorge- und Grüne. Enthaltungen? – Keine. Die Beschlussemp- sehen ist. fehlung ist angenommen. Tagesordnungspunkt 32 a: Tagesordnungspunkt 32 f: Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24635

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich (A) Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- Ich danke allen Kolleginnen und Kollegen im Aus- (C) schusses für Recht und Verbraucherschutz schuss, dass wir dies jetzt einstimmig so beschließen (6. Ausschuss) können. Übersicht 9 Vielen Dank. über die dem Deutschen Bundestag zugeleite- (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs- gericht Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Drucksache 19/24744 Vielen Dank, Frau Kollegin. – Dann kommen wir jetzt Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Das sind zur Abstimmung über Sammelübersicht 674 auf Druck- alle Fraktionen des Hauses. Gegenstimmen? – Keine. sache 19/24014. Wer stimmt dafür? – Dagegen? – Keiner. Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom- Dann stelle ich fest: Sammelübersicht 674 ist einstimmig men. angenommen. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Peti- Tagesordnungspunkt 32 h: tionsausschusses, Tagesordnungspunkte 32 g bis 32 u. Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Tagesordnungspunkt 32 g: tionsausschusses (2. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Sammelübersicht 686 zu Petitionen tionsausschusses (2. Ausschuss) Drucksache 19/24456 Sammelübersicht 674 zu Petitionen Es handelt sich um 159 Petitionen. Wer stimmt dafür? – Drucksache 19/24014 Dagegen? – Auch keiner. Dann ist auch diese Sammel- Bevor wir hier zur Abstimmung über die Sammelüber- übersicht einstimmig angenommen. sicht kommen, erteile ich der Kollegin Martina Stamm- Tagesordnungspunkt 32 i: Fibich das Wort zu einer ergänzenden Berichterstattung. Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- tionsausschusses (2. Ausschuss) Martina Stamm-Fibich (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Sammelübersicht 687 zu Petitionen Kollegen! Ich stehe heute hier als Vertreterin des Peti- Drucksache 19/24457 tionsausschusses und spreche zu einer Petition, die uns Es sind 118 Petitionen. Wer stimmt dafür? – Dage- (B) alle sehr beschäftigt hat. Menschen, die mit ihrem Ehren- (D) gen? – Keiner. Dann ist auch Sammelübersicht 687 ein- amt uns allen einen Dienst erweisen, dürfen dadurch beim stimmig angenommen. Elterngeld nicht benachteiligt werden. Genau das ist pas- siert. Die Petentin, eine Stadt- und Kreisrätin aus meinem Tagesordnungspunkt 32 j: Wahlkreis, hat vor der Geburt ihres Kindes eine Gehalts- Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- erhöhung bekommen. Darüber hat sie sich auch gefreut, tionsausschusses (2. Ausschuss) weil sich das ja gut und positiv auf das Elterngeld aus- wirkt. Nur ist dann bei der Berechnung das passiert, was Sammelübersicht 688 zu Petitionen nicht hätte passieren dürfen: Die Vergütung für ihre Drucksache 19/24458 ehrenamtliche Tätigkeit als Stadt- und Kreisrätin ist angerechnet worden, und es ist zu einer Mischkalkulation 83 Petitionen. Wer stimmt dafür? – Dagegen? – Keiner. gekommen. Das hat dazu geführt, dass nicht die Einkünf- Dann ist auch Sammelübersicht 688 einstimmig ange- te aus den letzten zwölf Monaten, sondern das Einkom- nommen. men aus dem Vorjahr zugrunde gelegt wurde. Tagesordnungspunkt 32 k: Wir haben uns gedacht: Das darf eigentlich nicht sein. Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Menschen, die ein solches Amt ausüben, leisten alle wert- tionsausschusses (2. Ausschuss) volle Arbeit für uns. Wir müssen uns gerade für diese Menschen einsetzen; denn es kann, wie gesagt, nicht Sammelübersicht 689 zu Petitionen sein, dass sie dadurch einen Nachteil erleiden. Wir wissen Drucksache 19/24459 bis heute aber nicht, ob der Fehler bei der bayerischen Behörde lag, ob es ein Sonderfall des Finanzamtes war 35 Petitionen. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dage- oder ob das Elterngeld nicht gut genug ausgestaltet ist. gen? – Wer enthält sich? – Dann ist diese Sammelüber- Deswegen wollen wir diese Petition einstimmig mit dem sicht gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Ent- stärksten Votum überweisen und gucken mal, was am haltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit den Ende des Tages dabei herauskommt. Stimmen der anderen Fraktionen angenommen. Morgen werden wir ja eine Novelle des Elterngelds Tagesordnungspunkt 32 l: beraten. Wir werden auch an der Stelle die Benachteili- Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- gungen von Menschen, die ehrenamtlich tätig sind, tionsausschusses (2. Ausschuss) ansprechen und noch einmal klarstellen, dass diese Tätig- keit nicht zu einer Reduzierung des Elterngelds führen Sammelübersicht 690 zu Petitionen darf. Darauf werden wir extra noch einmal hinweisen. Drucksache 19/24460 24636 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Vizepräsident Wolfgang Kubicki (A) Acht Petitionen. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen mit den (C) dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Dann ist diese Sam- Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses angenom- melübersicht gegen die Stimmen der AfD-Fraktion mit men. den Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses ange- Tagesordnungspunkt 32 r: nommen. Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Tagesordnungspunkt 32 m: tionsausschusses (2. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Sammelübersicht 696 zu Petitionen tionsausschusses (2. Ausschuss) Drucksache 19/24466 Sammelübersicht 691 zu Petitionen Zwei Petitionen. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt Drucksache 19/24461 dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Dann ist diese Sam- Zwei Petitionen. Wer stimmt dafür? – Dagegen? – Kei- melübersicht gegen die Stimmen der AfD-Fraktion mit ner. Dann ist Sammelübersicht 691 einstimmig angenom- den Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses ange- men. nommen. Tagesordnungspunkt 32 n: Tagesordnungspunkt 32 s: Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- tionsausschusses (2. Ausschuss) tionsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 692 zu Petitionen Sammelübersicht 697 zu Petitionen Drucksache 19/24462 Drucksache 19/24467 Acht Petitionen. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt 18 Petitionen. Ich gebe zur Kenntnis, dass hierzu eine 1) dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Dann ist diese Sam- schriftliche Erklärung zur Abstimmung vorliegt. Wer melübersicht gegen die Stimmen der Fraktionen Die Lin- stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – ke und Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen der Keine. Dann ist diese Sammelübersicht gegen die Stim- übrigen Fraktionen des Hauses angenommen. men der AfD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen der Tagesordnungspunkt 32 o: übrigen Fraktionen des Hauses angenommen. Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Tagesordnungspunkt 32 t: tionsausschusses (2. Ausschuss) (B) Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- (D) Sammelübersicht 693 zu Petitionen tionsausschusses (2. Ausschuss) Drucksache 19/24463 Sammelübersicht 698 zu Petitionen Eine Petition. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dage- Drucksache 19/24468 gen? – Enthaltungen? – Auch keine. Dann ist diese Sam- melübersicht gegen die Stimmen der FDP-Fraktion mit Sieben Petitionen. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt den Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses ange- dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Dann ist diese Sam- nommen. melübersicht gegen die Stimmen der AfD-Fraktion und der Fraktion der FDP mit den Stimmen der übrigen Frak- Tagesordnungspunkt 32 p: tionen des Hauses angenommen. Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Tagesordnungspunkt 32 u: tionsausschusses (2. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Sammelübersicht 694 u Petitionen tionsausschusses (2. Ausschuss) Drucksache 19/24464 Sammelübersicht 699 zu Petitionen Eine Petition. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dage- Drucksache 19/24469 gen? – Enthaltungen? – Keine. Dann ist diese Sammel- übersicht gegen die Stimmen der Fraktionen der FDP und Vier Petitionen. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dage- Die Linke mit den Stimmen der übrigen Fraktionen des gen? – Dann stelle ich fest, dass diese Sammelübersicht Hauses angenommen. mit den Stimmen der CDU/CSU und der SPD gegen die Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses angenom- Tagesordnungspunkt 32 q: men ist. Beratung der Beschlussempfehlung des Peti- Bevor ich jetzt den nächsten Tagesordnungspunkt auf- tionsausschusses (2. Ausschuss) rufe, komme ich zurück auf die Tagesordnungspunkte 7 Sammelübersicht 695 zu Petitionen und 8 und gebe die von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelten Ergebnisse der Wahlen einer Drucksache 19/24465 Stellvertreterin und eines Stellvertreters des Präsidenten Acht Petitionen. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt bekannt. dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Dann ist diese Sam- melübersicht gegen die Stimmen der Fraktionen von 1) Anlage 3 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24637

Vizepräsident Wolfgang Kubicki (A) Ich stelle fest, dass über die Wahl einer Stellvertreterin – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- (C) des Präsidenten – erster Wahlgang – des Deutschen Bun- schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung destages folgendes Protokoll aufgenommen worden ist: Drucksache 19/24736 abgegebene Stimmen 657. Mit Ja haben gestimmt 536 Abgeordnete, mit Nein haben gestimmt 83 Abgeordnete, b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Enthaltungen 38. Die Abgeordnete Dagmar Ziegler hat Berichts des Ausschusses für Gesundheit damit die erforderliche Mehrheit von mindestens 355 (14. Ausschuss) Stimmen erreicht. – zu dem Antrag der Abgeordneten Detlev (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, Spangenberg, Dr. Robby Schlund, Uwe der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE Witt, weiterer Abgeordneter und der Frak- GRÜNEN) tion der AfD 1) Sie ist zur Stellvertreterin des Präsidenten gewählt. Testzentren und Kostenübernahme des Ich frage Sie, sehr verehrte Frau Kollegin Ziegler: Bundes bei Corona-Testungen von Rei- Nehmen Sie die Wahl an? serückkehrern – zu dem Antrag der Abgeordneten Petr Dagmar Ziegler (SPD): Bystron, Dietmar Friedhoff, Mariana Iris Herr Präsident, ich nehme die Wahl an, und ich bedan- Harder-Kühnel, weiterer Abgeordneter ke mich ganz herzlich. Vielen Dank. und der Fraktion der AfD (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, Elektronische Dokumentationspflicht der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE nach der Richtlinie für organisierte GRÜNEN – Abg. Dr. Rolf Mützenich [SPD] Krebsfrüherkennungsprogramme aus- überreicht Abg. Dagmar Ziegler [SPD] einen setzen Blumenstrauß – Abg. Dagmar Ziegler [SPD] nimmt Glückwünsche entgegen) – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Achim Kessler, Susanne Ferschl, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeord- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: neter und der Fraktion DIE LINKE Und ich freue mich auf die Zusammenarbeit im Präsi- dium. Herzlichen Glückwunsch! – Das hat man mir dan- Kapitaleinkünfte bei der Ermittlung kenswerterweise aufgeschrieben: Im Namen des Hauses der Krankenversicherungsbeiträge (B) und persönlich wünsche ich Ihnen Glück und Erfolg für berücksichtigen (D) Ihr verantwortungsvolles Amt. – zu dem Antrag der Abgeordneten Wir kommen dann zur weiteren Wahl. Laut Protokoll Dr. Kirsten Kappert-Gonther, Maria hat die Wahl eines Stellvertreters des Präsidenten – erster Klein-Schmeink, Kordula Schulz-Asche, Wahlgang – des Deutschen Bundestages folgendes weiterer Abgeordneter und der Fraktion Ergebnis erzielt: abgegebene Stimmen 657. Mit Ja haben BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gestimmt 104 Abgeordnete, mit Nein haben gestimmt Für einen Kulturwandel in der 528 Abgeordnete, Enthaltungen 25. Der Abgeordnete Geburtshilfe – Frauen und Kinder in Dr. Harald Weyel hat die erforderliche Mehrheit von den Mittelpunkt mindestens 355 Stimmen damit nicht erreicht. Er ist zum Stellvertreter des Präsidenten nicht gewählt.2) Drucksachen 19/23712, 19/23715, Nunmehr rufe ich die Tagesordnungspunkte 11 a bis 19/23699, 19/19165, 19/24727 11 c sowie Zusatzpunkt 10 auf: c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Pia 11 a) – Zweite und dritte Beratung des von der Zimmermann, Susanne Ferschl, Doris Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Achelwilm, weiterer Abgeordneter und der eines Gesetzes zur Verbesserung der Fraktion DIE LINKE Gesundheitsversorgung und Pflege Corona-Strategie für besonders gefährde- (Gesundheitsversorgungs- und Pflege- te Menschen zum Nutzen der ganzen verbesserungsgesetz – GPVG) Gesellschaft Drucksachen 19/23483, 19/24231, Drucksache 19/24453 19/24535 Nr. 9 Überweisungsvorschlag: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschusses für Gesundheit (14. Aus- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe schuss) ZP 10 Beratung der Beschlussempfehlung und des Drucksache 19/24727 Berichts des Ausschusses für Gesundheit (14. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne- 1) Namensverzeichnis der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der Wahl ten Joana Cotar, Uwe Schulz, Dr. Michael siehe Anlage 2 2) Namensverzeichnis der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der Wahl Espendiller, weiterer Abgeordneter und der Frak- siehe Anlage 2 tion der AfD 24638 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Vizepräsident Wolfgang Kubicki (A) Einführen, Aufbau und Betrieb eines nationa- gungen und höhere Zufriedenheit für die Beschäftigten – (C) len Mortalitätsregisters für Forschungszwe- jede Pflegeeinrichtung in Deutschland wird davon profi- cke tieren. Drucksachen 19/19160, 19/24621 Mir ist wichtig, eins zu sagen, weil ich schon wieder einige öffentliche Äußerungen dazu höre: Wir regen mit Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein diesem Gesetz übrigens auch an, verpflichtend ein Perso- Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor. nalbemessungsverfahren auf Basis von wissenschaftli- Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten chen Gutachten zu entwickeln. Das ist nicht wie bisher beschlossen. Personalbemessung in der Pflege mit Fachkraftquoten, die irgendwie über den Daumen gepeilt festgelegt worden Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- sind, sondern sie werden wissenschaftlich hergeleitet von ner dem geschätzten Kollegen, dem Bundesminister Jens Professor Rothgang und vielen anderen in den letzten Spahn, das Wort. Jahren. Sie sind zu dem Befund gekommen: Ja, es braucht (Beifall bei der CDU/CSU) mehr Pflegefachkräfte in den nächsten zehn Jahren. Es braucht aber vor allem viel mehr Pflegeassistenzkräfte, weil die Zusammenarbeit im Team am Ende alle, die in Jens Spahn, Bundesminister für Gesundheit: der Pflege arbeiten, entlastet. Dort machen wir einen ers- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ten wichtigen Schritt mit 20 000 Pflegeassistenzstellen – Hochwertige pflegerische Versorgung zu sichern, ist die voll finanziert, ab dem 1. Januar. große gesellschaftspolitische Aufgabe der kommenden Jahre. Wir müssen dafür den Pflegeberuf insgesamt stär- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ken. Wir wollen mehr Pflegekräfte gewinnen, indem wir ordneten der SPD) die Rahmenbedingungen verbessern. Es geht natürlich 20 000 zusätzliche Stellen, voll finanziert, nicht zulas- um Bezahlung, um eine angemessene, um eine regelhafte ten der Pflegebedürftigen und ihrer Eigenanteile ist, finde Tarifbezahlung, es geht aber auch um die Arbeitsbedin- ich, ein Punkt, der es wert ist, erwähnt zu werden. Er ist gungen. Es ist ein Beruf, in dem an 365 Tagen im Jahr vor allen Dingen deswegen wichtig: Wenn wir Pflege- 24 Stunden den Pflegebedürftigen, den Patientinnen und kräfte, die der Pflege – aus welchen Gründen auch Patienten geholfen wird. Das macht die Vereinbarkeit von immer – den Rücken gekehrt haben, ermuntern wollen, Familie und Beruf schwieriger als in vielen anderen zurückzukehren, wenn wir Pflegekräfte ermuntern wol- Berufen. Es ist auch ein Beruf, in dem die Menschen len, gegebenenfalls, wenn sie können, auch die Stunden- Entlastung brauchen, um Zeit zu haben für die Patienten zahl wieder zu erhöhen, aber im Moment das nicht tun, (B) und die Pflegebedürftigen. weil sie sagen: „Das ist mir zu stressig“ – auch davon gibt (D) In der Pflege zu arbeiten, wird dann attraktiver, wenn es durchaus viele, die uns täglich begegnen –, oder wenn es mehr Kolleginnen und Kollegen gibt, die mit anpacken wir Menschen ermuntern wollen, in der Pflege zu blei- können. Damit, einen entsprechenden Rahmen zu setzen, ben, dann ist es wichtig, dass das berechtigte Gefühl da haben wir schon vor Corona begonnen. Es ist richtig, es sein kann, dass die Entscheidungen, die wir jetzt treffen, ist wichtig, dass in dieser Pandemie, in diesem Stresstest nicht Entscheidungen sind, die mal getroffen werden, für für unser Gesundheitswesen, die Pflege und das, was dort ein Jahr gültig sind und in zwei Jahren wieder infrage jeden Tag von den Pflegekräften geleistet wird, im Mittel- gestellt werden. Es ist wichtig, dass es begründetes Ver- punkt der Aufmerksamkeit steht. Aber gleichzeitig ist trauen in die Verlässlichkeit unserer Entscheidungen gibt. eben auch wichtig, zu sehen, dass wir schon weit vor Genau das machen wir mit diesem Gesetz und den Regel- dieser Pandemie, schon weit bevor die Pflege im Fokus ungen der letzten Jahre. der Öffentlichkeit war, begonnen haben, die Rahmenbe- Es ist wahnsinnig viel Vertrauen in der Pflege verloren dingungen zu verbessern. gegangen, über viele Jahre, in einer Spirale, die sich (Beifall der Abg. Karin Maag [CDU/CSU]) immer weitergedreht hat. Dieses Vertrauen zurückzuge- winnen, die Spirale umzukehren, das braucht Zeit, das Wir haben mit dem Pflegepersonal-Stärkungsgesetz braucht beständiges Dranbleiben. Wir haben das Gefühl: bereits 13 000 zusätzliche Stellen für Pflegefachkräfte Wir halten sozusagen mit Wasser aus allen Rohren auf in der Altenpflege geschaffen. Ich weiß, dass einige das Problem. Und die, die in der Pflege arbeiten, haben sagen: Die Stellen sind doch noch gar nicht besetzt. – das Gefühl: „Das sind Tropfen auf den heißen Stein“, Das stimmt! Sie sind noch nicht alle besetzt, weil der weil es eben erst Zug um Zug wirksam wird. Deswegen Arbeitsmarkt so leergefegt ist. Aber ein entscheidender ist für die Schaffung von Verlässlichkeit und Vertrauen Unterschied zum Zustand von vor einigen Jahren – und dieses Gesetz so wichtig, für das ich Sie heute um der gilt übrigens für die Krankenhäuser wie für die Lang- Zustimmung bitte. zeitpflege – ist: Die Stellen sind mittlerweile verlässlich finanziert; das ist ein ganz wichtiger Unterschied. Das (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- gibt Verlässlichkeit, und die haben wir sichergestellt. ordneten der SPD) Ein zweiter wichtiger Bereich in diesem Gesetz ist die (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Stabilisierung der Finanzen der gesetzlichen Krankenver- Mit diesem Gesetz finanzieren wir jetzt zusätzliche sicherung in dieser schwierigen wirtschaftlichen Zeit. 20 000 Stellen für Pflegeassistenzkräfte in der Altenpfle- Wir haben jetzt fast zehn Jahre wirtschaftliches Wachs- ge. Mehr Hände, die mit anpacken, bessere Arbeitsbedin- tum, Wachstum bei Arbeitsplätzen, eine gute Lohn- und Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24639

Bundesminister Jens Spahn (A) Rentenentwicklung hinter uns und sehen jetzt in dieser Durch diesen Abbau der Rücklagen machen Sie den (C) wirtschaftlich schweren Zeit, wie schnell sich, wenn die gesetzlich Krankenversicherten zum Zahlmeister Ihrer Wirtschaft nicht mehr gut läuft, das dann in den sozialen Coronapolitik. Diese monetären Fehlentscheidungen der Sicherungssystemen durch weniger Einnahmen und Regierung können nicht auf dem Rücken der Solidarge- zusätzliche Ausgaben bemerkbar macht, insbesondere meinschaft abgeladen werden. Beim Stichwort „Fehlent- natürlich in dieser Pandemie. scheidungen“ fallen mir die Hamsterkäufe von zig Mil- lionen Masken bei chinesischen Herstellern ein. Da heißt es dann, dass wir die Lasten auf mehrere Schultern verteilen müssen. Das eine ist ein ergänzender Herr Spahn, wie Sie gestern Morgen im Ausschuss Bundeszuschuss für 2021 – ich bin gleich dazu auch im einräumten, ist es richtig, dass eine Stoffmaske oder ein Haushaltsausschuss, der heute seine Bereinigungssitzung Schal vor dem Gesicht wenig Nutzen haben. hat – von 5 Milliarden Euro für das nächste Jahr, damit (Dr. Kirsten Kappert-Gonther [BÜNDNIS 90/ ein Bundeszuschuss von fast 20 Milliarden Euro im DIE GRÜNEN]: Wenn man zitiert, dann rich- nächsten Jahr, und das andere sind die 8 Milliarden tig!) Euro von den 20 Milliarden Euro Rücklagen der gesetz- lichen Krankenkassen, die wir dazunehmen. Ihre Chefin Frau Merkel hat genau diesen Fakt in ihrer heutigen Regierungserklärung bestätigt – ich zitiere –: Ja, diese Reserven sind von den Kassen für schlechtere Eine Alltagsmaske bietet „keine Sicherheit“ vor Anste- Zeiten gebildet worden; aber es sind jetzt schlechtere ckung. – Wie Sie wissen: Um eine echte Schutzwirkung Zeiten. Ja, es ist Geld der Beitragszahler; aber das Geld zu erzielen, muss mindestens eine FFP1-Maske vorge- wird eben auch eingesetzt, um die Beitragszahler zu ent- sehen werden; denn die hat einen Abscheidegrad von lasten und vor allem nicht zusätzlich zu belasten in dieser 80 Prozent, besser noch FFP2 mit 94 Prozent oder gar wirtschaftlichen Krise. Und ja, manche sagen, das sei FFP3 mit 99 Prozent. Auch diese Tatsache wurde von Sozialisierung. Nein, das ist solidarisch! Es ist das Sys- Frau Merkel bestätigt. tem der gesetzlichen Krankenversicherung, dass man für- einander einsteht, und das gilt am Ende in schwieriger (Zurufe von der LINKEN) Zeit dann auch für die Rücklagen. Aber gerade die Masken mit chinesischer KN95- Abnahme entsprechen nicht der europäischen FFP- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Norm und sind als FFP-Derivat überhaupt nicht zulässig. ordneten der SPD) Damit wiegen Sie unsere Bürger in trügerischer Sicher- heit. Offenbar haben Sie das gemerkt; denn gestern haben Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, damit Sie uns im Ausschuss erläutert, dass Sie beabsichtigen, ist dieses Gesetz ein wichtiger und notwendiger Schritt, (B) 27 Millionen Risikopatienten mit zugelassenen FFP2- (D) um Pflegekräfte entlasten, halten und gewinnen zu kön- Masken auszustatten. Bravo, dass Sie nun endlich den nen und den Pflegeberuf attraktiver zu machen, noch Antrag der AfD aufgreifen und Risikogruppen gezielt attraktiver in schwerer Zeit. Und es ist ein wichtiges schützen wollen! Denn genau das ist der richtige Weg. Gesetz für die Stabilität der Finanzen der gesetzlichen Krankenversicherung in dieser Pandemie und in dieser (Beifall bei der AfD) Wirtschaftskrise. Deswegen bitte ich Sie um Zustim- mung. Diese Erkenntnis und Entscheidung fordert aber in der logischen Konsequenz Folgendes: Sofortige Abschaf- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- fung der Pflicht zum Tragen einer Mund-Nase-Bede- ordneten der SPD) ckung für die allgemeine Bevölkerung! Denn Sie tragen ja beim Pkw-Fahren auch nicht zusätzlich noch einen Integralhelm. Es geht um ein verantwortbares Risiko. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Somit: Maskenschutz für Risikogruppen und Masken- Vielen Dank, Herr Minister Spahn. – Nächster Redner freiheit für den Rest der Bevölkerung! Das ist genau der ist der Kollege Uwe Witt, AfD-Fraktion. richtige Weg. (Beifall bei der AfD) Wenn ich gerade noch beim leidigen Thema Masken bin: Für Menschen, die aufgrund eines ärztlichen Attestes von der Maskentragepflicht befreit sind, gelten weder Uwe Witt (AfD): Datenschutz noch ärztliche Schweigepflicht. Denn in die- Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und sen Attesten müssen zukünftig Diagnose, Anamnese und Kollegen! Liebe Zuschauer! Herr Minister Spahn, wir Begründung so verfasst werden, dass sie von medizin- hatten einer Überweisung des Gesetzentwurfs in den ischen Laien verstanden und beurteilt werden können. Ausschuss zur wirklichen Verbesserung zugestimmt. Das bedeutet: Somit mutiert der Supermarktfilialleiter Doch leider hat das Gesundheitsministerium diese Chan- Herr Müller zum Facharzt und entscheidet, ob Frau ce nicht genutzt. Dieses Gesetzeskonvolut enthält nach Schmidt sein Geschäft betreten darf oder nicht. wie vor gute Ansätze, die wir für sinnvoll und empfeh- (Beifall bei der AfD – Zuruf der Abg. Heike lenswert halten. Aber leider steht mit der angeblichen Baehrens [SPD]) finanziellen Unterstützung der gesetzlichen Krankenkas- sen der Zugriff aufs Sparbuch der Versicherten, also die Eine Schweigepflicht gilt für diesen Gesundheitsexperten staatlich verordnete Verwendung der Rücklagen, als natürlich auch nicht. Mit dieser Regelung verletzen Sie, Kernanliegen im Gesetzentwurf. Herr Spahn, massiv das Grundgesetz. 24640 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Uwe Witt (A) Nichts ist in diesen Zeiten so wichtig wie transparente von 400 000 bis 800 000 Euro pro Jahr gezahlt. Damit (C) Zahlen und Werte. Niemand weiß, ob Verstorbene einer sorgen wir dafür, dass an diesen Krankenhäusern Fach- Infektion mit SARS-CoV-2 erlegen sind oder ob sie nur abteilungen, die für die Basisversorgung relevant sind, Träger des Virus waren. Unser Antrag „Einführen, Auf- erhalten bleiben. bau und Betrieb eines nationalen Mortalitätsregisters für Bereits ab dem nächsten Jahr werden auch Kinderkran- Forschungszwecke“ greift diese Schwachstelle auf. – kenhäuser und Fachabteilungen für Kinder- und Jugend- Herr Präsident, ich komme zum Ende. medizin eine Förderung erhalten. Das war uns von der Deutschland braucht verlässliche Daten, die auch veri- SPD besonders wichtig. fizierbar sind. In und vor allem nach der Coronaphase (Beifall bei der SPD) müssen wir endlich wieder zu dem Punkt zurückkom- men, dass Fakten die politischen Entscheidungen bestim- Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die öffentliche men Debatte über das Gesetz wurde jedoch weniger von den vielfältigen Verbesserungen in der Versorgung bestimmt, ( [SPD]: Ganz genau!) sondern vielmehr von den Finanzierungsaspekten domi- und nicht Annahmen, Mutmaßungen oder Einflüsterun- niert. Fakt ist: Wir befinden uns in der schwierigsten gen aus dubiosen Beraterkreisen. Krise seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Wir werden Danke schön. deshalb alle verfügbaren Mittel einsetzen müssen, um diese Krise gemeinsam zu bewältigen. (Beifall bei der AfD – Dr. Kirsten Kappert- Gonther [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie- Um die Stabilität der Kassenfinanzen zu gewährleis- der ein Tiefpunkt der Debatte! – Weitere Zuru- ten, verteilen wir die Lasten auf mehrere Schultern. Dazu fe) leisten der Bund, die Beitragszahler und die Krankenkas- sen jeweils ihren Beitrag. Das ist notwendig, das ist gerecht, und das ist verkraftbar. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Vielen Dank, Herr Kollege Witt. – Nächste Rednerin Leider hat bei einigen die Empörung über die eigene ist die Kollegin Sabine Dittmar, SPD-Fraktion. Betroffenheit den Blick auf das Gemeinwohl und die Sachlichkeit der Argumentation getrübt. Deshalb möchte (Beifall bei der SPD) ich noch einmal klarstellen: Die Beitragszahler in der gesetzlichen Krankenversicherung werden nicht mit den Sabine Dittmar (SPD): finanziellen Lasten der Pandemie alleingelassen. Der Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung (B) nen und Kollegen! Ich komme wieder zurück zu dem selbst schätzt die pandemiebedingten Mehrausgaben auf (D) Gesetz, das wir heute verabschieden. Damit verbessern 3,4 Milliarden Euro. Deshalb sollte der um 5 Milliarden wir in vielen Bereichen die Versorgung von Patienten und Euro erhöhte Bundeszuschuss mehr als ausreichend sein, Pflegebedürftigen, und wir sorgen für finanzielle Stabili- um die Mehrausgaben zu decken. tät in diesen unsteten Krisenzeiten. Darüber hinaus finanziert der Bund diverse Schutz- Um Schwangere besser betreuen zu können und um schirme und freigehaltene Krankenhausbetten. Er wird gleichzeitig die in der stationären Geburtshilfe tätigen auch die Kosten für die Impfstoffe und für die Schutz- Hebammen zu entlasten, legen wir ein dreijähriges masken für besonders anfällige Bevölkerungsgruppen Hebammenstellen-Förderprogramm auf. Vom nächsten bezahlen. Jahr an erhalten die Krankenhäuser jährlich bis zu 65 Mil- Aber wir verschulden uns dafür in erheblichem lionen Euro, um zusätzlich sowohl Hebammen als auch Umfang. Das sollte jeder berücksichtigen, der mit leich- hebammenunterstützendes Fachpersonal einstellen zu ter Hand immer noch höhere Bundeszuschüsse fordert. können. (Beifall der Abg. Karin Maag [CDU/CSU]) (Beifall bei der SPD) Die gesetzliche Krankenversicherung ist eine große Damit verbessern wir die Personalausstattung in den Solidargemeinschaft, und natürlich ist es schmerzlich, Kreißsälen, und wir ermöglichen es den Hebammen, wenn Krankenkassen nun ihre Rücklagen an den Gesund- sich wieder auf ihr Kerngeschäft zu konzentrieren: die heitsfonds abführen müssen. Aber im Sinne des Gemein- Begleitung der Gebärenden. wohls ist es in der Krise allemal besser, die Rücklagen Um mehr Zuwendung und bessere Versorgung geht es wieder in die Versorgung fließen zu lassen, damit alle auch bei den Regelungen für die vollstationären Pflege- Beitragszahler, die Arbeitnehmer, die Arbeitgeber, die einrichtungen. Mit dem Gesetz werden 20 000 zusätzli- Rentnerinnen und Rentner, vor weiteren Beitragssatzstei- che Stellen für Pflegehilfskräfte geschaffen und von der gerungen geschützt werden. Das entspricht jedenfalls Pflegeversicherung vollständig finanziert, ohne – das ist unserem Verständnis von Solidarität. wichtig – die Pflegebedürftigen finanziell weiter zu (Beifall bei der SPD) belasten. Im parlamentarischen Verfahren konnten wir durchset- (Beifall bei der SPD) zen, dass kleine Kassen ein Schonvermögen von 3 Millio- Besonders freue ich mich, dass wir bedarfsnotwendige nen Euro zusätzlich zur Mindestrücklage behalten dür- Krankenhäuser im ländlichen Raum ebenfalls mit zusätz- fen. Es konnte auch mehr Flexibilität für die lichen Finanzmitteln stützen. Künftig werden Zuschläge Beitragsgestaltung erreicht werden. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24641

Sabine Dittmar (A) Kolleginnen und Kollegen, jetzt und in den nächsten Drittens. Ähnlich gilt das für die notwendigen Hebam- (C) Monaten ist Solidarität gefragt. Gemeinsam können und menstellen. Nach Expertenaussagen in der öffentlichen werden wir die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Anhörung kann die Arbeitssituation so leider nicht nach- Pandemie überwinden, wenn jeder seinen Beitrag leistet. haltig verbessert werden. Ich danke für die Aufmerksamkeit. Meine Damen und Herren, wir haben viele Heraus- forderungen im Gesundheitswesen. Doch anstatt immer (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten mehr kleinteilig zu agieren, wäre es an der Zeit, mutig der CDU/CSU) voranzuschreiten, die Sozialgesetzbücher kritisch unter die Lupe zu nehmen und ihnen ein Upgrade zu gönnen. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Mit unserem Entschließungsantrag bieten wir Ihnen eini- Vielen Dank, Frau Kollegin Dittmar. – Nächster Red- ges an, gerne auch für Copy-and-paste. In eine Ihrer ner ist der Kollege Professor Andrew Ullmann, FDP- nächsten Initiativen können Sie den Inhalt gerne einfü- Fraktion. gen, wie Sie es auch in der Vergangenheit ab und an gemacht haben. (Beifall bei der FDP) Herzlichen Dank. Dr. Andrew Ullmann (FDP): (Beifall bei der FDP) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Birgit, alles Gute zum Geburtstag von dieser Stelle aus! Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Das musste ich einfach mal sagen. – Im GPVG findet sich Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Ullmann. – Nächste für jeden etwas. Vieles begrüßen wir auch in unserer Rednerin ist die Kollegin Pia Zimmermann, Fraktion Fraktion; denn gerade in der Covid-19-Krise ist es wich- Die Linke. tig, Klarheit in der Versorgung der Menschen herzustel- len. Doch größere Störgefühle gibt es. Drei Punkte möch- (Beifall bei der LINKEN) te ich gerne dabei ausführen: Erstens. Die Regierung enteignet mit ihrem Gesetz Pia Zimmermann (DIE LINKE): pauschal die gesetzlichen Krankenversicherungen. Sie Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werter Herr Präsi- begründet es relativ einfach: Wir haben mehr Kosten dent! Eines muss man Ihnen lassen, Herr Spahn: Sie wegen der Covid-19-Krise; deswegen müssen diese Kos- bleiben sich treu. Es ist wieder nur eine Reihe von Ein- ten irgendwie gedeckt werden. – Nein, liebe Bundesre- zellösungen statt einer kompletten Strategie. Auch das gierung, das ist nicht richtig. Die Bekämpfung dieser GPVG ist ein Kessel Buntes. 20 000 zusätzliche Pflege- (B) Pandemie ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Das assistenzkräfte sollen jetzt den Pflegenotstand abmildern. (D) müssen auch alle Fraktionen in diesem Raume verstehen. Meine Damen und Herren, das sind in Pflegegrad 2 gera- de mal 4,2 Minuten Pflegezeit mehr am Tag, im Pflege- (Beifall bei der FDP) grad 5 sind es 9,5 Minuten Pflegezeit mehr am Tag. Das Sie bestrafen die Krankenkassen, die gut gewirtschaf- reicht doch vorne und hinten nicht, Herr Minister. tet haben. Klar für uns Freie Demokraten ist: Rücklagen (Beifall bei der LINKEN) gehören den Versicherten. Die Rücklagen müssen den Meine Damen und Herren, die Versorgung verbessert Versicherten zugutekommen. Diese Rücklagen müssen sich doch nicht, wenn der Prozess noch mehr zerlegt und in zusätzliche Leistungen, zum Beispiel in die Präven- auf noch mehr Hände verteilt wird. Das ist doch das tion, investiert werden. Das wäre gerecht, und das wäre Gegenteil von ganzheitlicher Pflege und führt durch die auch richtig. Hintertür wieder zur Einführung der Verrichtungspflege. (Beifall bei der FDP – Zuruf der Abg. Heike Das ist nicht das, was wir wollen, und auch nicht das, was Baehrens [SPD]) die Pflegekräfte wollen. Natürlich dürfen Rücklagen nicht als Spareinlagen ver- (Beifall bei der LINKEN) standen werden. Ihre Argumentation ist jedoch auch Außerdem haben wir einen Fachkräftemangel in der scheinheilig: Beitragsstabilität erhalten. – Diese wird Pflege. Einen Mangel von Fachkräften beheben Sie aber nach Berechnungen von Experten übrigens nur bis zur nicht, indem Sie Assistenzkräfte einstellen, die vielleicht nächsten Bundestagswahl halten. Ein Schelm, wer Böses auch noch weitergebildet werden, sondern einen Fach- dabei denkt! kräftemangel verhindert oder behebt man mit Fachkräf- Zweiter Punkt: 20 000 neue Pflegestellen in der Alten- ten. pflege schaffen. – Wir sind sofort dafür zu haben. Das ist Und Pflegekräfte brauchen endlich das Vertrauen, dass eine gute und eigentlich eine überfällige Vorgabe – auf sich tatsächlich etwas an ihren Arbeitsbedingungen den ersten Blick. Vieles ist, wie so oft, versprochen wor- ändert. Was die Pflege braucht, ist mehr Personal und den. Aber wie wollen wir dorthin? Mit einer echten Aus- besser bezahltes Personal. bildungsoffensive schaffen wir nachhaltig mehr Personal. Damit müssen wir jetzt auch anfangen. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP – Heike Baehrens [SPD]: Die Bedingungen müssen endlich nachhaltig verbessert Haben wir ja längst!) werden, sonst verlassen noch mehr ausgebildete Pflege- – Ja, aber nur ein bisschen. kräfte den Pflegeberuf, spätestens nach der Pandemie. 24642 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Pia Zimmermann (A) Und das ist nicht verwunderlich. Schauen wir nach Nie- Es reicht eben nicht, Stellen in der Pflege, in der Geburts- (C) dersachsen: Dort können die Pflegekräfte wieder 60 Stun- hilfe auf dem Papier zu haben; diese Stellen müssen auch den pro Woche arbeiten. So stellen sich die Pflegekräfte besetzt werden. Der Pflegeberuf muss attraktiver werden: die Zukunft nicht vor. Arbeitsbedingungen verbessern, Akademisierung voran- bringen, Belastungen in der Pflege abbauen. Es entspricht auch nicht der Vorstellung der Pflege- kräfte, dass sie, wenn sie infiziert, aber symptomfrei Schwangere sollen guter Hoffnung sein dürfen, eine sind, trotzdem pflegen dürfen. Praktische Wertschätzung Hebamme für die Geburtsvor- und -nachbereitung finden ist das schon gar nicht, und gute Arbeitsbedingungen, und während der Geburt gut, sicher und mit voller Auf- meine Damen und Herren, sehen anders aus. Gute merksamkeit begleitet werden. Die Finanzierung von Arbeitsbedingungen sind: kürzere und flexiblere Arbeits- mehr Hebammenstellen und neuen Hilfskräften in den zeiten und höhere Bezahlung sofort und überall. Kliniken ist natürlich gut; aber sie ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Hinzu kommt: Gute Arbeitsbedingungen in der Pflege Wir brauchen nichts weniger als einen Kulturwandel in sind auch der beste Schutz für besonders pflegebedürftige der Geburtshilfe. Frauen und Kinder gehören in den Mit- und schutzbedürftige Menschen. telpunkt; denn auf den Anfang kommt es an. Appelle an die Solidarität der Pflegekräfte und Appelle (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) an die Solidarität der Bürgerinnen und Bürger sind unred- Verbindliche Zusammenarbeit heißt auf Gesundheits- lich, wenn Sie die Versorgung nicht endlich solidarisch politisch „sektorübergreifende Versorgung“. Die unzurei- finanzieren wollen, chende Verzahnung der Versorgung muss endlich über- wunden werden; denn sie macht es den Patientinnen und (Beifall bei der LINKEN) Patienten schwer, sie schadet. Qualität muss der Maßstab und solidarisch heißt, alle Einkommensarten in die Bei- sein, Kooperation zur Regel werden. Wir Grüne schlagen tragszahlung einzubeziehen. Heben Sie die Beitragsbe- deshalb einen Aufbruch in Gesundheitsregionen vor. messungsgrenze an, oder heben Sie sie am besten gleich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) auf, erheben Sie die Beiträge auch auf Spekulationsgew- inne, nehmen Sie die private Kranken- und Pflegeversi- In Sachen GKV-Finanzierung ist der Gesetzentwurf cherung in eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung! ein Offenbarungseid. Sie hinterlassen uns zum Ende die- Es wird keine bessere Versorgung geben ohne diese ver- ser Wahlperiode ein historisch einmaliges Defizit in der (B) änderten Weichenstellungen. Wir Linke bleiben dabei, gesetzlichen Krankenversicherung. Und das ist nicht vor- (D) weil es so ist. nehmlich den Kosten der Pandemie geschuldet, sondern Folge von erheblichen, dauerhaften, strukturellen Mehr- Herzlichen Dank. ausgaben, die durch Ihre undurchdachten Gesetze ent- (Beifall bei der LINKEN – Karin Maag [CDU/ standen sind. Ich erinnere nur an das Terminservice- CSU]: Weil es so ist!) und Versorgungsgesetz: sehr teuer, aber leider ohne Ver- besserung der Versorgung. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (Zuruf des Abg. Alexander Krauß [CDU/ Vielen Dank, Frau Kollegin Zimmermann. – Nächste CSU]) Rednerin ist die Kollegin Dr. Kirsten Kappert-Gonther, Ein paar Trippelschritte in die richtige Richtung, aber Bündnis 90/Die Grünen. längst nicht der erhoffte Weitsprung, um mutig eine zukunftssichere Gesundheitsversorgung anzugehen – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wir werden uns zu diesem Gesetz enthalten. Vielen Dank. Dr. Kirsten Kappert-Gonther (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kaum ein Thema ist so nah an uns Menschen wie unsere Vizepräsident Wolfgang Kubicki: gesundheitliche Versorgung. Viele fragen sich: „Wie Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Kappert-Gonther. – organisiere ich, wenn es so weit ist, die Pflege für meine Nächste Rednerin ist die Kollegin, Karin Maag CDU/ Eltern? Klappt es mit der Weiterbehandlung nach einem CSU-Fraktion. Krankenhausaufenthalt? Finde ich eine Hebamme?“, aber auch, ob die Beiträge in der Krankenkasse stabil (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- bleiben. Nun macht sich das hier vorliegende Gesetz ordneten der SPD) zur Aufgabe, einige dieser Fragen anzugehen. Das ist ja erst mal anzuerkennen. Karin Maag (CDU/CSU): Doch Sie, Minister Spahn, bleiben auf halber Strecke Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich stehen, und die Flickschusterei nimmt kein Ende. will es an dieser Stelle gerne noch mal betonen: Das Gesundheitsversorgungs- und Pflegeverbesserungsgesetz (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stellt wichtige Weichen für eine bessere medizinische und sowie bei Abgeordneten der LINKEN) pflegerische Versorgung. Das sage übrigens nicht nur ich, Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24643

Karin Maag (A) sondern zum Beispiel auch die Caritas zu Beginn ihrer im Sommer gehabt. 8 Milliarden Euro davon müssen die (C) Stellungnahme. Kurz: Wir in der Union und in der SPD Kassen mit den hohen Rücklagen jetzt abgeben, in den reden, wir machen und kündigen nicht nur an, was wir Gesundheitsfonds zurück, damit dieses Geld wiederum machen könnten. für die Versorgung, für die Gesundheit der Versicherten zur Verfügung steht. Finde ich vollkommen in Ordnung. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich freue mich jedenfalls über 20 000 neue Assistenz- Die Kassen mit den hohen Rücklagen dürfen übrigens stellen in der Altenpflege. Für uns ist das ein wichtiger 2021 ihre Zusatzbeiträge so lange nicht anheben, bis die Schritt hin zur Einführung einer verbindlichen Personal- Rücklagen in Richtung des Doppelten der Mindestrüc- bemessung, Frau Kollegin Zimmermann. Und ich freue klage abgesunken sind. mich auch über eine bessere Versorgung der Schwang- Klar, die Kassen sehen das kritisch. Man begrüßt natür- eren auf den Geburtsstationen. Die Krankenhäuser kön- lich, dass eine pandemiebedingte Finanzierungslücke ge- nen mit diesem Förderprogramm jetzt Hebammen neu schlossen werden soll. Man begrüßt natürlich auch das einstellen, Teilzeitstellen aufstocken, unterstützendes Ziel der weiteren Stabilisierung des Zusatzbetrags. Aber, Fachpersonal einstellen. Wir reden nicht nur darüber, wie es gemacht werden soll, wer sich beteiligen soll, dazu sondern schaffen durch unser Gesetz tatsächliche Verbes- kam nichts. Wir sind den Kassen in den Verhandlungen serungen. entgegengekommen. Wir haben gestattet, dass einmalig Selbstverständlich kümmern wir uns auch weiterhin zum 1. Januar ein höherer Zusatzbeitrag anfallen darf. um den ländlichen Raum. Vor allem können nun auch Wir haben dafür gesorgt, dass das Rücklagenpolster nicht die Kinderkrankenhäuser und die Fachabteilungen für ganz abgeschmolzen wird. Wir haben 100 Prozent auf Kinder- und Jugendmedizin von den Sicherstellungszu- das, was aus dem BMG kam, draufgeschlagen. Wir haben schlägen profitieren. Wir erweitern die Möglichkeit für bei den kleinen Kassen ein Schonvermögen von 3 Millio- Krankenkassen, innovative Versorgungsverträge anzu- nen Euro angesetzt. Ich finde, das sind sinnvolle Vor- bieten; auch da geht es insbesondere darum, regionale schläge, von denen ich übrigens weder von den Kranken- Innovationen zu fördern. Wenn wir die Selektivverträge kassen noch von der Opposition in irgendeiner Form so ausrichten, dass künftig auch andere Sozialleistungs- etwas gehört habe. träger einbezogen werden können, dann wird das künftig (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Versorgungsbrüche gerade verhindern. ordneten der SPD) Wir reden auch über Schutzschirme, über Hilfen für Am Ende des Tages danke ich all denen, die diesen (B) viele im Gesundheitssystem tätige Berufsgruppen und Staat am Laufen halten. Ihnen wollen wir helfen und, (D) Betroffene. Da geben wir nicht einfach Geld aus; viel- ich glaube, ihnen kommen wir mit diesem Gesetz ein mehr ist das notwendige Hilfe in Coronazeiten. Ich nenne gutes Stück entgegen. Dieses Gesetz ist ein gutes Gesetz. ausdrücklich – und bedanke mich herzlich für ihre Deswegen bitte ich um Ihre Zustimmung. Arbeit – die stationären und ambulanten Vorsorge- und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Rehaeinrichtungen, selbstverständlich einschließlich des ordneten der SPD) Müttergenesungswerks. Die Heil- und Hilfsmittelerbrin- ger profitieren, Pflegeeinrichtungen profitieren. Ebenso haben wir die Familienpflegezeit flexibilisiert und ver- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: längert. Und schließlich ermöglichen wir es auch den Vielen Dank, Frau Kollegin Maag. – Letzte Rednerin Kassenzahnärztlichen Vereinigungen, sich um junge zu diesem Tagesordnungspunkt wird sein: die Kollegin Zahnärztinnen und Zahnärzte zu kümmern, die sich neu Heike Baehrens, SPD-Fraktion. niedergelassen haben und coronabedingt zu wenig (Beifall bei der SPD) Patienten versorgen können. Liebe Kolleginnen und Kollegen – für einige war das Heike Baehrens (SPD): tatsächlich das wichtigste Thema –, ja, 2021 zeichnet sich Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und bei den gesetzlichen Krankenkassen ein Defizit von rund Kollegen! Die intensiven Verhandlungen zu diesem Ge- 16 Milliarden Euro ab. Genau deshalb haben wir die setzentwurf haben sich gelohnt. Unser hartnäckiges Boh- Finanzen der gesetzlichen Krankenkassen neu justiert. ren hat dafür gesorgt, dass die Rehakliniken sowie die Wir sorgen dafür, dass auch 2021 ausreichend Mittel Kureinrichtungen des Müttergenesungswerks weitere zur Verfügung stehen und gleichzeitig der Zusatzbeitrag Hilfen erhalten und endlich auch die ambulante Reha stabil bleibt. einbezogen wird. Wir haben in den Verhandlungen darum gerungen – ja, (Beifall bei der SPD – Pia Zimmermann [DIE das ist richtig – und haben ein Bündel von Maßnahmen LINKE]: Wer bezahlt das?) im Angebot, mit dem es gelungen ist, auch die Sozial- garantie bis 2022 einzuhalten. Wir erhöhen den Steuer- Eine gute Nachricht für alle, die auf gut funktionierende zuschuss – ja – um 5 Milliarden Euro auf jetzt 19,5 Mil- Rehabilitationsmaßnahmen angewiesen sind, eine gute liarden Euro. Finde ich nicht zu wenig. Die gesetzlichen Nachricht vor allem auch für stark belastete Familien; Krankenkassen müssen auch ihren Beitrag leisten. Wir denn gerade sie brauchen in diesen Krisenzeiten Rat alle leisten unseren Beitrag. Sie haben Rücklagen in stark und Unterstützung. ungleicher Verteilung von gut 20 Milliarden Euro noch (Beifall bei der SPD) 24644 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Heike Baehrens (A) Mehrkosten und Mindereinnahmen, die durch Corona (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) entstehen, können nun ausgeglichen werden. Wir erwar- der CDU/CSU) ten von den Krankenkassen, dass sie diese Kosten nun auch entsprechend anerkennen. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Hartnäckig bleiben wir als SPD auch weiter bei der Vielen Dank, Frau Kollegin Baehrens, auch für den Pflege; denn mehr Personal ist dringend notwendig. Hinweis, dass Sie das Signal wahrgenommen haben. Erst haben wir gemeinsam für mehr Fachkraftstellen Ich kann Ihnen aus allgemeiner Lebenserfahrung sagen: gesorgt, die aus der gesetzlichen Krankenversicherung Wenn Sie bei einer Kreuzung das rote Signal überfahren, finanziert werden, und heute bereiten wir den Weg für kann es zu Kollateralschäden kommen. 20 000 zusätzliche Hilfskraftstellen, die aus der Pflege- (Heike Baehrens [SPD]: Dann war es ja gut, versicherung finanziert werden und damit die Pflegebe- dass Sie hinter mir waren!) dürftigen nicht zusätzlich finanziell belasten. Ich schließe die Aussprache. (Beifall bei der SPD) Bevor ich jetzt zur Abstimmung komme, noch ein ver- Das ist ein guter Schritt hin zur bedarfsgerechten Perso- fahrensleitender Hinweis, weil es mir schon mehrfach nalbemessung in den Pflegeheimen. aufgefallen ist: Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen Wir investieren auch 12 Millionen Euro für die modell- aus allen Fraktionen, insbesondere auch aus der Fraktion hafte Erprobung des Personalbemessungsverfahrens; der SPD, wenn Sie den Platz und den Saal verlassen, die denn Personal muss mit besseren Organisations- und Per- Maske aufzusetzen, auch wenn Sie wieder reinkommen. sonalentwicklungen verbunden werden. Und hier möchte An die jüngere Kollegin, die ich gerade gesehen habe – ich nur sagen, Frau Zimmermann und Frau Kappert- sie weiß, wen ich meine –: Auch wenn Sie das Handy in Gonther: Personal fällt nicht vom Himmel, der Hand haben, wäre es schön, Sie würden die Maske tragen, wenn Sie Ihren Platz aufsuchen. Das ist jetzt noch (Dr. Kirsten Kappert-Gonther [BÜNDNIS 90/ eine freundliche Ermahnung. Ich kann auch anders, aber DIE GRÜNEN]: Aha, das ist ja gerade der heute ist ein guter Tag. Punkt! – Pia Zimmermann [DIE LINKE]: Dann muss man sich darum kümmern!) (Heiterkeit und Beifall) sondern es muss gewonnen, es muss ausgebildet werden. Egal ob wir die Regel mögen oder nicht: Es macht Dafür stellen wir die Weichen, damit wir Schritt um jedenfalls keinen Sinn, die Bevölkerung aufzufordern, Schritt bei diesen Dingen vorankommen. sich daran zu halten und es teilweise auch bußgeldbe- wehrt zu verfolgen, wenn wir im Deutschen Bundestag (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (B) ein schlechtes Beispiel geben. (D) der CDU/CSU – Zuruf der Abg. Pia Zimmermann [DIE LINKE]) (Beifall) Feststellen will ich an der Stelle aber auch: Auch Hilfs- Mir liegt eine Erklärung zur Abstimmung gemäß § 31 1) und Assistenzkräfte sind qualifizierte Kräfte. Um Fach- der Geschäftsordnung vor. kräfte zu entlasten und Pflegebedürftige gut zu versorgen, Wir kommen zur Abstimmung über Tagesordnungs- müssen sie ordentlich ausgebildet sein. Deswegen punkt 11 a. braucht es jetzt eine breite Qualifizierungsoffensive. Des- halb appellieren wir an die Arbeitgeberinnen und Arbeit- Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- geber in der Pflege: Nutzen Sie jetzt die Chance, in der desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Verbesse- Breite Personal zu gewinnen, investieren Sie in hochwer- rung der Gesundheitsversorgung und Pflege. Der Aus- tige Aus- und Weiterbildung; denn gute Pflege gelingt schuss für Gesundheit empfiehlt unter Buchstabe a nur mit engagierten und gut ausgebildeten Menschen. seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/24727, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Druck- (Beifall bei der SPD – Pia Zimmermann [DIE sachen 19/23483 und 19/24231 in der Ausschussfassung LINKE]: Und guten Arbeitsbedingungen!) anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf Der Bund hat geliefert. Nun müssen endlich auch die in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Bundesländer nachziehen und die Ausbildung der Pflege- Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält hilfs- und Assistenzkräfte forciert ausbauen. Die längst sich? – Dann stelle ich fest, dass dieser Gesetzentwurf überfällige Harmonisierung zwischen den Bundesländern in der zweiten Lesung mit den Stimmen von CDU/CSU muss endlich kommen. und SPD gegen die Stimmen der Fraktion der FDP und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion der Herr Präsident, vielen Dank für das Signal, ich komme AfD und von Bündnis 90/Die Grünen angenommen ist. zum Schluss und möchte nur noch sagen: Wir sind auch stolz, dass es in den Verhandlungen gelungen ist, auch die Dritte Beratung pflegenden Angehörigen weiter zu entlasten. Frau Maag und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem hat das eben angesprochen. Denn auch hier ist nicht nur Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Applaus gefragt, sondern echte Anerkennung dessen, was Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist in Familien und in Nachbarschaften geleistet wird. Wir dieser Gesetzentwurf in der dritten Beratung und als SPD werden uns weiter hartnäckig für gute Reha und Schlussabstimmung mit den Stimmen von CDU/CSU Pflege einsetzen. Darauf kann man sich verlassen. Vielen Dank. 1) Anlage 4 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24645

Vizepräsident Wolfgang Kubicki (A) und SPD gegen die Stimmen der FDP und der Fraktion Zusatzpunkt 10. Beschlussempfehlung des Ausschus- (C) Die Linke bei Enthaltung der Fraktion der AfD und von ses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion der AfD Bündnis 90/Die Grünen angenommen. mit dem Titel „Einführen, Aufbau und Betrieb eines nationalen Mortalitätsregisters für Forschungszwecke“. Abstimmung über den Entschließungsantrag der Frak- Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung tion der FDP auf Drucksache 19/24737. Wer stimmt für auf Drucksache 19/24621, den Antrag der Fraktion der diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – AfD auf Drucksache 19/19160 abzulehnen. Wer stimmt Wer enthält sich? – Dann ist dieser Entschließungsantrag für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dage- gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung der Fraktio- gen? – Enthaltungen? – Keine. Dann ist diese Beschluss- nen der AfD, der Linken und von Bündnis 90/Die Grünen empfehlung gegen die Stimmen der AfD-Fraktion mit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen abgelehnt. den Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses ange- nommen. Tagesordnungspunkt 11 b. Wir setzen die Abstimmung zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Gesundheit auf Drucksache 19/24727 fort. Beratung der Beschlussempfehlung und des Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be- Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak- Zusammenarbeit und Entwicklung (19. Aus- tion der AfD auf Drucksache 19/23712 mit dem Titel schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Olaf „Testzentren und Kostenübernahme des Bundes bei in der Beek, Alexander Graf Lambsdorff, Corona-Testungen von Reiserückkehrern“. Wer stimmt Johannes Vogel (Olpe), weiterer Abgeordneter für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dage- und der Fraktion der FDP gen? – Enthaltungen? – Keine. Dann ist diese Beschluss- Deutsche EU-Ratspräsidentschaft nutzen, empfehlung gegen die Stimmen der AfD-Fraktion mit Ankündigungen umsetzen – Errichtung einer den Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses ange- Europäischen Bank für nachhaltige Entwick- nommen. lung und internationalen Klimaschutz Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ableh- Drucksachen 19/24327, 19/24733 nung des Antrags der Fraktion der AfD auf Drucksache Über die Beschlussempfehlung werden wir später 19/23715 mit dem Titel „Elektronische Dokumentations- namentlich abstimmen. pflicht nach der Richtlinie für organisierte Krebsfrüher- kennungsprogramme aussetzen“. Wer stimmt für diese Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Dann beschlossen. Ich bitte, den Platzwechsel freundlicherwei- (B) (D) ist diese Beschlussempfehlung gegen die Stimmen der se zügig vorzunehmen. AfD-Fraktion mit den Stimmen der übrigen Fraktionen Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Ab- des Hauses angenommen. geordneten dem Kollegen Matern von Marschall für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags (Beifall bei der CDU/CSU) der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/23699 mit dem Titel „Kapitaleinkünfte bei der Ermittlung der Kran- Matern von Marschall (CDU/CSU): kenversicherungsbeiträge berücksichtigen“. Wer stimmt Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dage- und Kollegen von der FDP, Sie planen also die Gründung gen? – Enthaltungen? – Keine. Dann ist diese Beschluss- einer Bank. Wie man weiß – der Linken ist das vielleicht empfehlung gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke geläufiger –, braucht es dazu Profis. mit den Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses angenommen. (Heiterkeit der Abg. Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]) Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe e Nein, Spaß beiseite! Sie wollen eine neue Institution in seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Europäischen Union schaffen, eine Bank, die sich zur der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache nachhaltigen Entwicklung und zum Klimaschutz 19/19165 mit dem Titel „Für einen Kulturwandel in der bekennt. Das an sich ist eine löbliche und auch eine Geburtshilfe – Frauen und Kinder in den Mittelpunkt“. gute Anregung, Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Dann ist diese Be- (Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: So ist es! schlussempfehlung gegen die Stimmen der Fraktion Die Genau richtig!) Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Ent- aber Sie kommt, Graf Lambsdorff, einfach einen Schritt haltung der Fraktion der FDP mit den Stimmen der übri- zu früh. Insofern sollte man, was die Professionalität an- gen Fraktionen des Hauses angenommen. geht, nicht den zweiten Schritt vor dem ersten machen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Es geht – und das ist, glaube ich, ganz wichtig für die Drucksache 19/24453 an die in der Tagesordnung aufge- Einordnung – um ein systematisches Vorgehen in der führten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es weitere Über- Frage, wie wir die europäische Entwicklungsfinanzarchi- weisungsvorschläge? – Erkennbar nicht der Fall. Dann tektur kohärenter und besser abgestimmt ausgestalten verfahren wir wie vorgeschlagen. können. Dazu haben einige sogenannte Wise Persons 24646 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Matern von Marschall (A) schon einmal verschiedene Optionen vorgelegt. Diese Es geht nicht um ein marktwirtschaftliches Instrument, (C) verschiedenen Optionen werden jetzt in einer Machbar- sondern es geht um ein von den Mitgliedstaaten getrage- keitsstudie genauer durchleuchtet. Wenn wir diese Mach- nes Instrument, hinter dem die Garantie der Mitgliedstaa- barkeitsstudie vorliegen haben – damit wird im komm- ten, gegen Ausfallrisiken abzusichern, steht. Insofern ist enden Jahr gerechnet –, sind wir auch in der Lage, uns es ein Triple-A-Instrument. Man muss natürlich auch qualifizierte Gedanken dazu zu machen. Gleichwohl hal- schauen, ob dieses Instrument geeignet ist, wettbewerb- te ich es für richtig, Kollegen von der FDP, dass wir diese liche Gleichheit zwischen nationalen und europäischen Zielsetzung, besser abgestimmt und kohärenter in Europa Instrumenten herzustellen, oder ob es Wettbewerb even- vorzugehen, sehr ernst nehmen. tuell verzerrt. Ich finde, das ist eine von vielen Fragen, die wir uns stellen müssen, wenn wir nach vorne gehen, um Man muss sich aber Folgendes fragen: Was bedeutet hoffentlich gemeinsam – vom Grundsatz her finden wir „Schritt für Schritt vorgehen“? Wir haben zunächst unse- die Idee in der Unionsfraktion ja nicht verkehrt – die re Entwicklungsgelder aus einem bisher multilateralen bestmögliche Struktur einzurichten. Fonds, aus dem Europäischen Entwicklungsfonds, in den Haushalt der Europäischen Union gegeben. Dieses Zum Abschluss will ich sagen – und das ist mir schon Geld ist für das neue Außeninstrument der Europäischen wichtig –: In erster Linie geht es nicht darum, für Geld- Union vorgesehen. Jetzt muss man schauen: Wie soll das schwemmen zu sorgen, sondern es geht um die Bedin- Geld eigentlich verteilt werden? gungen vor Ort, die Investitionsbedingungen, die Rah- menbedingungen. Wir können noch so viel Geld ins In diesem Zusammenhang ist es wichtig, zu erwähnen, Fenster hängen; aber wenn die Bedingungen vor Ort für dass wir auch eine neue EU-Afrika-Strategie auf den Weg Investoren nicht gegeben sind, dann nützt das Ganze bringen wollen. Die Frage, ob das, was Fachleuten unter nichts. Deswegen bin ich schon einigermaßen stolz, dem Stichwort „Post-Cotonou-Verfahren“ geläufig ist, zu dass wir in Deutschland mit der GIZ, aber auch mit den einem Abschluss kommt, sei noch mal dahingestellt. generellen Ansätzen zur Entwicklungszusammenarbeit Was ich sagen will, ist: Wir haben auf der nationalen wie Good Governance, gute Regierungsführung, ordent- Ebene, etwa mit der KfW, jahrzehntelang erfahrene, liche Bedingungen vor Ort schaffen, um überhaupt erst hochqualifizierte Einrichtungen mit vielen, vielen Hun- die Grundlage für Investitionen zu schaffen. Das soll dert Mitarbeitern, die sich vor Ort sehr gut auskennen in auch in Zukunft unsere Aufgabe sein, statt erst mal Hun- den ganz spezifischen Fragen, die sich dort jeweils stel- derte von Milliarden ins Schaufenster zu stellen, die dann len. Die Frage, ob eine europäische Institution – insbe- gar nicht abgerufen werden können. sondere wenn sich Ihre Vorstellung Durchsetzung ver- Aber lassen Sie uns trotzdem gemeinsam diesen Weg schafft, diese als Tochtergesellschaft bei der EIB zu (B) gehen. Ich bin gespannt auf die Diskussion, die wir haben (D) verankern – diese Kompetenz in absehbarer Zeit über- werden, wenn diese Machbarkeitsstudie vorliegt. Im haupt entwickeln kann, sei noch mal dahingestellt. Diese Übrigen freue ich mich natürlich, wenn Ihr Parteifreund Frage halte ich aber für außerordentlich wichtig. ein weiteres expansives Instrument der Ich möchte jedenfalls nicht, dass wir eine neue Institu- Geldpolitik zur Verfügung hat, um damit die Märkte zu tion schaffen und damit dann noch eine zusätzliche beglücken; haben. Ich möchte aber sehr wohl, dass wir eine mögli- (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Genau cherweise zu schaffende europäische Entwicklungsbank darum ging’s!) mit den nationalen Einrichtungen integrativ verbinden. Das ist etwas anderes als das, was in Ihrem Vorschlag aber das nur mal am Rande gesagt, Herr in der Beek. Ich drinsteht. Ich glaube, es wäre sinnvoll, wenn wir im Ver- habe jedenfalls Ihren Beitrag mit Herrn Hoyer in der lauf der Diskussion, in die wir jetzt reingehen, schauen „Welt“ aufmerksam studiert. würden, ob wir nicht die nationalen Instrumente einbe- Also gut: Das ist eine Initiative, die aus Ihrer Fraktion ziehen. Es ist auch denkbar, dass zum Beispiel die KfW, kommt, und das ist mir auch recht. Wir werden diese um nur unsere deutsche nationale Einrichtung zu nennen, aufmerksam, kritisch, aber selbstverständlich europa- Mitgesellschafter, Shareholder, Teilhaber einer solchen freundlich und mit dem Willen zur Integration begleiten. künftigen Institution werden könnte. Das würde auch deren Einbindung und die Absicht, gemeinsam voranzu- Herzlichen Dank. gehen, stärken. (Beifall bei der CDU/CSU) Ihr Vorschlag entspricht einer Option, die im Rahmen der verschiedenen Optionen der Wise Persons Group Vizepräsident Wolfgang Kubicki: genannt worden ist. Aber die Wise Persons Group hat Vielen Dank, Herr Kollege von Marschall. – Ich darf auch ausgeführt, dass der Ansatz, das innerhalb oder fürs Protokoll erwähnen: Auch Sie haben sich Ihrer Mas- unterhalb der EIB aufzubauen, auch kritische Aspekte ke bedauerlicherweise erst auf der Hälfte des Weges zum aufweist, was die strukturellen Implikationen angeht. Platz erinnert. Daran sieht man: Es ist keine Altersfrage. Die sollte man sich anschauen. Noch ein Punkt – Sie sind ja die Partei der Marktwirt- (Heiterkeit) schaft –: Nächster Redner ist der Kollege Markus Frohnmaier, AfD-Fraktion. (Heiterkeit der Abg. Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]) (Beifall bei der AfD) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24647

(A) Markus Frohnmaier (AfD): Im Übrigen haben wir bereits eine eigene deutsche (C) Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- nationale Entwicklungsbank, nämlich die Kreditanstalt ren! Als Parlamentarier haben wir die Aufgabe, den Bür- für Wiederaufbau, KfW, mit einer Bilanzsumme von gern unseres Landes komplexe politische Sachfragen zu über 500 Milliarden Euro und fast 7 000 Mitarbeitern erklären. Eine wichtige Frage, die wir den Bürgern ehr- weltweit eines der größten Finanzinstitute. Die Arbeit lich beantworten müssen, ist: Wer macht in Deutschland der Europäischen Investitionsbank beschränkt sich über- eigentlich die Entwicklungshilfe? Und darauf gibt es lei- wiegend auf Investitionen innerhalb der Europäischen der keine echte oder klare Antwort. Der Bund, die Län- Union. Im Globalen Süden hat die Bank doch keinerlei der, die Gemeinden, die EU, die Kirchen, die Stiftungen Erfahrung. und mehrere Ministerien der Bundesregierung: Sie alle sind in der Entwicklungszusammenarbeit tätig. Hier wird Ihre Spielart des Globalismus, nämlich glo- bale Institutionen über das Interesse Deutschlands zu Wenn Sie in einem Medizinhandbuch unter „multiple erheben, ganz besonders deutlich. In unserem nationalen Persönlichkeitsstörungen“ nachschlagen, finden Sie Interesse ist es gerade nicht, einen zusätzlichen Konkur- Definitionen wie: Die verschiedenen Anteile der Persön- renten zur KfW auf europäischer Ebene zu etablieren. lichkeit existieren nebeneinander und wechseln einander Wir wollen die KfW stärken und erhalten. Sie wollen ab; in der Regel wissen sie nichts voneinander. – Genauso hier also Bundesliga durch Kreisliga ersetzen. Das ver- ist es mit der deutschen Entwicklungshilfe: Zahlreiche bietet sich, wenn man Investitionen in Entwicklungslän- Akteure fuhrwerken im Bereich der Entwicklungszusam- der effizienter gestalten möchte. menarbeit nebeneinander rum und wissen nicht, was der andere macht. (Beifall bei der AfD) Zum Abschluss eine kleine Anmerkung, Herr von (Beifall bei der AfD) Marschall. Der Entwicklungsminister hat gestern diesen Nur sagen wir nicht, dass die Entwicklungspolitik in Antrag der FDP im Ausschuss begrüßt. Vielleicht sollten Deutschland einen kleinen Dachschaden hat, sondern Sie sich in der CDU/CSU besser abstimmen. Das war benutzen dafür den etwas sperrigen Begriff der Fragmen- schon ein wenig irritierend. tierung. Die FDP hat heute einen Antrag vorgelegt, um Vielen Dank. diese Fragmentierung zu reduzieren. Das ist das erklärte Ziel des FDP-Antrags. Aber wie will die FDP das anstel- (Beifall bei der AfD) len? Indem sie eine sogenannte Europäische Bank für nachhaltige Entwicklung und internationalen Klima- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (B) schutz errichtet? Im engen Dickicht des Waldes der Ent- Vielen Dank, Herr Kollege Frohnmaier. – Herr Kollege (D) wicklungshilfe soll ein weiteres zartes Pflänzchen Frohnmaier, auch für Sie gilt die Bitte – ich kann es nur gepflanzt werden, indem man kurzerhand eine Greta- als Bitte wiederholen –, die Maske aufzusetzen. – Als Thunberg-Weltbeglückungsbank errichtet. nächste Rednerin erteile ich der neugewählten Vizepräsi- dentin des Deutschen Bundestages, der Kollegin Dagmar (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) Ziegler, SPD, das Wort. Bei nahezu jeder Gelegenheit höre ich von den Ver- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie tretern der FDP, wie sie sich über die Fragmentierung in des Abg. Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE der deutschen Entwicklungspolitik beklagen. Aber GRÜNEN]) anstatt dass Sie wie die AfD sagen: „Entwicklungspolitik muss von einem Ministerium, einer Durchführungsorga- nisation und einem Evaluierungsinstitut geleitet werden“, Dagmar Ziegler (SPD): befördern Sie mit Ihrem Antrag noch eine stärkere Frag- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vie- mentierung. Und obendrein – wir sind auch nichts ande- len Dank für Ihre Stimmen. – Ich möchte das, was zu res gewohnt – stoßen Sie die Tür zu noch mehr Multila- diesem Antrag zu sagen ist, in drei Worte bzw. Sätze teralismus auf. Gerade Sie als sogenannte liberale Partei fassen: zu früh, der Nutzen nicht nachgewiesen und ein sollten doch verstehen: Dort, wo es keine Verantwortlich- wenig Geschmäckle. – Gerade das sollten wir in unserem keit gibt, da wird mit Geld im Zweifel schlampig umge- Haus verhindern. gangen. Wir beraten heute in abschließender Lesung einen An- (Beifall bei der AfD) trag, der vordergründig die Schaffung einer Europäischen Bank für nachhaltige Entwicklung und internationalen Nichts ist unverantwortlicher, als Milliarden an Steuer- Klimaschutz für unabdingbar erklärt; das ist so weit gut mitteln durch eine der breiten Öffentlichkeit vollkommen und richtig. Es ist eine umfassende institutionelle Reform unbekannte Großbank verteilen zu lassen, die von 27 EU- der europäischen Entwicklungsfinanzarchitektur gewollt; Mitgliedstaaten getragen wird. Die EU, die noch nicht auch dem kann man nichts entgegensetzen. Das sollte einmal in der Lage ist, einen gemeinsamen Haushalt zu dann unter dem Dach der Europäischen Investitionsbank beschließen, soll jetzt also eine kohärente Entwicklungs- geschehen. Und diese Reform bräuchte, so steht da, investitionspolitik betreiben. Meine Damen und Herren, weder langwierige Verhandlungen noch Änderungen das wird doch nicht funktionieren. der Verträge der Europäischen Union. Und weiter heißt es: eine „AKP-Investitionsfazilität, unabhängig von der (Beifall bei der AfD) Budgetierung des Europäischen Entwicklungsfonds, im 24648 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Dagmar Ziegler (A) Rahmen des kommenden Mehrjährigen Finanzrahmens Fazit: Aus den Mitteln der auslaufenden AKP-Investi- (C) fortgeführt“. Und man darf raten, durch wen: Unter tionsfazilität in Höhe von 3,5 Milliarden Euro sind der dem Dach der EIB. humanitären Hilfe bereits 1 Milliarde Euro zugesagt wor- den. Wir werden uns natürlich im Rahmen der EU-Rats- Das klingt erst einmal gut. Wir haben im Ausschuss präsidentschaft dafür einsetzen, dass auch die übrigen darüber beraten, dass Optimierungen von Finanzstruktu- circa 2,5 Milliarden Euro der Entwicklungszusammen- ren gut und richtig sind. Es ist nur der falsche Zeitpunkt. arbeit zugutekommen. Herr Hoyer, der ehemalige FDP-Bundestagsabgeordnete und der heutige Präsident der EIB, war im Ausschuss und (Beifall bei der SPD) hat die Vorteile, die eintreten würden, wenn er über diese Auch vor dem Hintergrund der jüngsten Gespräche der Finanzierungen herrschen würde, deutlich gemacht. Er Bundeskanzlerin mit der WHO und mit GAVI müssen hat auch gesagt, dass es richtig ist, wenn er eine Tochter- wir darauf Wert legen, dass gerade die Verteilung des gesellschaft hat, unter der das laufen soll. Wir haben aber Covid-19-Impfstoffes gerecht vonstattengeht. Vor allen noch keine Gegenmeinung im Ausschuss hören dürfen. Dingen gibt es dafür, wie wir im Ausschuss gehört haben, Wir warten darauf, dass auch andere, die im Januar zu uns noch nicht einmal richtige Pläne. Unser vorrangiges Ziel in den Ausschuss kommen, die Finanzstruktur, die sie sollte im Moment sein, Covid-19 zu bekämpfen und die sich vorstellen, bei uns diskutieren können. ärmsten der armen Länder dabei zu unterstützen. Das ist Es wurde schon gesagt: Der Diskussionsprozess zum die Priorität in der Diskussion. weiteren Verfahren nach dem Ende des jetzigen mehr- jährigen Finanzrahmens ist zwar schon sehr weit fortge- (Beifall bei der SPD) schritten, aber es besteht noch keine Einigung der EU- Das Aufsetzen einer weiteren europäischen Finanz- Mitgliedstaaten. Deshalb ist auch eine Positionierung struktur, von deren Nutzen wir im Moment gar nicht hier und heute überhaupt nicht richtig, da wir ja in der überzeugt sein können, weil uns die Fakten nicht voll- EU-Präsidentschaft nicht vorgreifen wollen, sondern ständig vorliegen – wir wissen nicht, ob sie effizienter als – in Anführungsstriche – ehrliche Makler den Prozess arbeiten wird als die derzeitige Finanzstruktur –, macht nicht unterlaufen und die Konsensbildung in der Ratsar- also keinen Sinn. Der Sinn der von Ihnen beantragten beitsgruppe nicht erschweren wollen. namentlichen Abstimmung dazu erschließt sich uns – ohne Unterstellungen – ebenfalls nicht. (Beifall bei der SPD) Vielen Dank. In Gesprächen mit dem Europäischen Parlament über den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen bilden ihre (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Mittelrückflüsse eine wichtige Verhandlungsmasse. der CDU/CSU) (B) Auch deshalb sollten wir im Moment keine weitere poli- (D) tische Diskussion über deren Verwendung aufmachen. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Unser Bundesminister hat sich im September 2020 im Vielen Dank, Frau Vizepräsidentin. – Nächster Redner Europäischen Parlament und bei der EU-Entwicklungs- ist der Kollege Olaf in der Beek, FDP-Fraktion. ministerkonferenz für den Erhalt der bisherigen Struktu- ren ausgesprochen. Es ist also im Kern die Frage: Brau- (Beifall bei der FDP) chen wir eine eigene Entwicklungsbank der EU, ja oder nein? Wir haben im Moment das bestehende System des Olaf in der Beek (FDP): Zusammenwirkens von europäischen, multilateralen und Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- nationalen Finanzeinrichtungen, und wir sagen: Sie ent- ren! Wohin wir auch seit Monaten schauen, das Covid- sprechen den Anforderungen. Natürlich brauchen wir 19-Virus hält die Welt in Atem. Der Klimawandel macht Optimierungen, wie so immer, und vor allen Dingen aber keinen Corona-Lockdown, und der globale Lock- mehr Möglichkeiten in der parlamentarischen Kontrolle; down gefährdet die Entwicklungserfolge der vergange- denn transparent sind sie fast alle nicht. nen Jahrzehnte. Das System wird geführt unter dem Namen „Team Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Pariser Klima- Europe Approach“. Es leistet zumindest sehr gute Arbeit ziele und die globalen Nachhaltigkeitsziele dürfen auch bei der Überwindung der Auswirkungen der Covid-19- in der Coronapandemie nicht in den Hintergrund geraten. Pandemie und hat eben auch deshalb eine eindeutige Sie werden darüber entscheiden, in welcher Welt wir in Präferenz der EU-Kommission. Im Gegensatz zu den Zukunft leben. Befürwortern einer europäischen Entwicklungsbank mit (Beifall bei der FDP) Monopolstellung, wie das zum Beispiel Herr Hoyer möchte, hatten eben auch Fürsprecher des „Teams Euro- Wirtschaftliche, soziale und gesellschaftliche Entwick- pe Approach“ bislang überhaupt keine Gelegenheit, mit lungen müssen Hand in Hand mit dem Klimaschutz uns im Fachausschuss darüber zu diskutieren. Das müs- gehen, gerade in Entwicklungsländern. Alle Maßnahmen sen wir Anfang des nächsten Jahres unbedingt nachholen. zu Bildung, Gesundheitsförderung, nachhaltigem Wirt- schaften und zur Schaffung von Lebenschancen in Ent- Wir brauchen das für das Gesamtbild, um auch unser wicklungsländern werden nichts nutzen, wenn wir die Meinungsbild abzurunden. Wenn Anfang nächsten Jahres Folgen des Klimawandels nicht eindämmen und damit der Zwischenbericht über die Machbarkeitsstudie zur Überlebenschancen sichern. europäischen Finanzstruktur diskutiert wird, haben wir dazu auch die Gelegenheit. (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24649

Olaf in der Beek (A) Angesichts dieser Herausforderungen brauchen wir die Gestern hat er im Ausschuss sogar für die Unterstützung (C) geeigneten Instrumente der Entwicklungszusammenar- unseres Antrags geworben. Jetzt können Sie zeigen, dass beit. Wenn wir auf 19 nationale Entwicklungsbanken, Sie nicht nur den Anspruch haben, zu verwalten, sondern vier bilaterale Banken unterschiedlicher Größe, die glo- dass Sie tatsächlich auch Zukunft gestalten wollen. bal agierende Europäische Investitionsbank und die Danke schön. Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung als regionale Bank schauen, dann zeigt uns allen diese (Beifall bei der FDP) Zerklüftung der Entwicklungsfinanzierung, dass dringen- der Handlungsbedarf besteht. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Vielen Dank, Herr Kollege in der Beek. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Helin Evrim Sommer, Fraktion Der Flickenteppich der Entwicklungsfinanzierung geht Die Linke. auf Kosten von Effizienz, Sichtbarkeit, aber auch von Glaubwürdigkeit der EU in der Welt. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der FDP) Helin Evrim Sommer (DIE LINKE): Dass wir in der Entwicklungszusammenarbeit nicht Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! mit einer gemeinsamen Stimme sprechen, obwohl Manchmal, glaube ich, will uns einer für dumm verkau- gemeinschaftlich der größte Geber von Entwicklungsmit- fen. Da schlägt die FDP vor, die bisherige Europäische teln die EU weltweit ist, wird der internationalen Rolle Investitionsbank zu einer Entwicklungsbank auszubauen, der EU nicht gerecht. Wir haben aber nicht nur unser und siehe da: Ganz zufällig steht seit 2012 ein Partei- eigenes Schicksal in der Hand, sondern müssen auch freund von Ihnen an der Spitze. „Chapeau!“ kann ich Motor für eine nachhaltige Entwicklung und Klimaschutz nur sagen. Mehr Lobbyeinsatz für Ihre Parteifreunde weltweit sein. Wir sind der demokratische und humani- geht wohl nicht. täre Gegenpol zu menschenrechtsfeindlichen, autokrati- (Beifall bei der LINKEN – Dr. Lukas Köhler schen Regimen, die ihren Einfluss gerade in Entwick- [FDP]: Das sagt ausgerechnet Die Linke!) lungsländern unerbittlich weiter ausbauen. Grundsätzlich sperren wir uns nicht gegen neue Institu- (Beifall bei der FDP) tionen und bessere Koordination für Entwicklungspolitik Um die Wirksamkeit unserer Entwicklungszusammen- auf europäischer Ebene. Aber wir sind für eine klare arbeit zu steigern, brauchen wir mehr Kooperation, und Linie und fragen immer: Was bezweckt die FDP damit? vor allen Dingen brauchen wir mehr finanzielle Mittel. Und spätestens an dieser Stelle driften die Vorstellungen (B) Angesichts endlicher Ressourcen von staatlichem Geld meilenweit auseinander. (D) müssen wir – besser gestern als heute – den Privatsektor Kurz zu unseren Grundsätzen als Linke. Wir sehen die in die Entwicklungs- und Klimafinanzierung einbezie- nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen hen. Ohne Privatinvestitionen in Entwicklungs- und Kli- und den internationalen Klimaschutz als Menschheitsauf- mamaßnahmen werden weder die Pariser Klimaziele gaben. Sie betreffen den Fortbestand unseres Planeten noch die globalen Nachhaltigkeitsziele erreichbar sein. und somit der ganzen Menschheit. Das sind für uns Auf- Aus diesem Grund, meine Damen und Herren, fordern gaben der öffentlichen Daseinsvorsorge, und da hat ein wir die Gründung einer Europäischen Bank für nachhal- Markt gar nichts zu suchen, meine Damen und Herren. tige Entwicklung und internationalen Klimaschutz. Lie- ber Herr Matern von Marschall, darüber wird seit Jahren (Beifall bei der LINKEN) gesprochen. Wenn Sie unseren Antrag richtig gelesen Aber die FDP verfolgt eine andere Strategie. Die hätten, dann sollte Ihnen auch die KfW untergekommen Freien Demokraten fürchten nämlich, dass sich deutsche sein, die mit am Tisch sitzen soll. Das alles steht da drin. Unternehmen gegen die Konkurrenz aus China und den Eine solche Bank unter dem Dach der EU-Mitglied- USA nicht mehr behaupten können. Um diesen Konkur- staaten und der Europäischen Investitionsbank schafft ein rentennachteil auszugleichen, soll die Europäische Union gemeinsames Auftreten, finanziellen Mehrwert und Kon- einspringen. Unter dem Deckmantel des Exports von trollmöglichkeiten für die Mitgliedstaaten. Mit Blick europäischen Werten sollen die Länder des Südens gefäl- nach Brüssel, wo gerade der nächste mehrjährige Finanz- ligst deutsche Produkte und deutsches Know-how ver- rahmen der EU kurz vor dem Abschluss steht, wird deut- wenden. Liebe Abgeordnete der FDP, Sie machen die lich, dass wir dringend handeln müssen. Wann, wenn Arbeit der AfD. Wir sind da auf jeden Fall raus. Die nicht jetzt, ist der beste Zeitpunkt dafür, Verantwortung Linke sagt Nein. – Ja, so ist es. zu beweisen und die Entwicklungsarchitektur der EU (Beifall bei der LINKEN) endlich vom Kopf auf die Füße zu stellen? Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wer die Gesell- (Beifall bei der FDP) schaften im Globalen Süden unterstützen will, der muss Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, ihre Abhängigkeit von den Ländern des Nordens verrin- wir müssen raus aus dem Klein-Klein und rein in nach- gern. Neue Kredite erhöhen doch nur die Schulden und haltige gemeinschaftliche und strategische Entwick- verringern den Gestaltungsspielraum. Das war die deut- lungs- und Klimafinanzierung. Ihr Entwicklungsminister sche Entwicklungspolitik der letzten Jahrzehnte, und die Gerd Müller fordert – das kann ich Ihnen nicht ersparen – ist gescheitert, meine Damen und Herren. genauso wie wir eine europäische Entwicklungsbank. (Beifall bei der LINKEN) 24650 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Helin Evrim Sommer (A) Stattdessen brauchen wir einen Schuldenerlass für die ja schon angeklungen, man könnte sich das bei der FDP (C) Länder, die am meisten zu kämpfen haben. vorstellen. Dagegen sollten Sie sich aber mit aller Vehe- (Beifall bei der LINKEN – Alexander Graf menz wehren. Das funktioniert nämlich auf keinen Fall. Lambsdorff [FDP]: Den gibt es seit 2006!) Drittens. Jawohl, wir brauchen private Investitionen. – Gibt es nicht. Aber Investitionen wirken nicht per se nachhaltig. Im Antrag jonglieren Sie mit zwei Begriffen. „Pariser Erklä- (Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Doch!) rung“ und „Nachhaltigkeit“ setzen Sie ganz oft rein in Das Ziel der Entwicklungszusammenarbeit muss diesen Text. Aber Sie gehen mit keinem Wort auf die Selbstbestimmung sein, und dafür sind möglichst direkte Themen Menschenrechte, regionale Entwicklung, Ge- Budgethilfen nötig. meinwohl und soziale Verantwortung ein. Sie versuchen nicht mal, Kriterien für ein verantwortungsbewusstes (Beifall bei der LINKEN – Alexander Graf Investieren zu beschreiben. Sie nennen auch nicht die Lambsdorff [FDP]: Nein!) notwendigen Sorgfaltspflichten, die bei Investitionen ein- – Wenn Sie nicht der Meinung sind, können Sie sich ja zu zuhalten sind. Das alles ist einfach nicht überzeugend. einer Zwischenfrage melden. Liebe FDP-Fraktion, nur auf der Grundlage könnten Vizepräsident Wolfgang Kubicki: wir uns als Linke mit dem Gedanken einer neuen europä- Herr Kollege Kekeritz, erlauben Sie eine Zwischen- ischen Entwicklungsbank anfreunden. frage des Kollegen Köhler? Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aber selbstverständlich. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Vielen Dank, Frau Kollegin Sommer. – Nächster Red- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: ner ist der Kollege Uwe Kekeritz, Fraktion Bündnis 90/ Das verlängert auch Ihre Redezeit. Die Grünen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dr. Lukas Köhler (FDP): Danke, Herr Präsident. – Lieber Herr Kekeritz, danke Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dass Sie die Zwischenfrage zulassen. – Ich wollte Sie nur (B) Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Was mal fragen: Sie haben ja gerade die Sustainable Develop- (D) Sie hier mit der FDP machen, geht zu weit. Ich muss jetzt ment Goals erwähnt, die auch im Antrag explizit erwähnt einmal positiv anfangen: Die Motivation ist doch wirk- werden. lich gut.

(Beifall der Abg. Dr. Franziska Brantner Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Nein, die sind nicht drin. Sie wollen einen besseren Überblick. Sie wollen mehr Effizienz und Transparenz schaffen. Die Entwicklungs- politik soll schlagkräftiger werden. Was ist dagegen ein- Dr. Lukas Köhler (FDP): zuwenden? Allerdings versäumt die FDP leider, zu erklä- Sie sprachen gerade von den Menschenrechten und der ren, warum die Gründung einer weiteren Bank – wir Frage regionaler Verantwortung. Sind die aus Ihrer Sicht haben schon 19 Entwicklungsbanken – da tatsächlich in den Sustainable Development Goals nicht ausreichend einen Beitrag leisten kann. erwähnt, oder sind die gar nicht erwähnt? Und warum wäre das als Kriterienkatalog nicht ausreichend genug? Erstens. Es gibt ja viele Vorschläge und Empfehlungen zur Restrukturierung des europäischen Finanzsystems der Entwicklungsfinanzierung. Die Kommission – das Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): wurde schon ein paar Mal gesagt – lässt diese gerade Ich habe diesen Antrag zweimal gelesen und habe ihn evaluieren, und das Ergebnis wird in vier Monaten vor- dann auch noch nach bestimmten Begriffen durchsuchen liegen. Das, Herr Olaf in der Beek, sollten Sie uns mal lassen. „Sustainable Development Goals“ habe ich nicht erklären: Was ist die Motivation, diese Zeit nicht abzu- gefunden; das ist ein Problem. Was ich mehrmals gefun- warten? Das ist unbegreiflich, und das verwundert einen den habe, sind die Begriffe „Pariser Erklärung“ und schon sehr. „Nachhaltigkeit“. Aber wissen Sie, die beiden Begriffe allein reichen nicht aus. Ich muss Kriterien definieren; (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ich muss sagen, wie ich das umsetze, und das fehlt hinten Zweitens. Solange es keine weitgehende gemeinsame und vorne. Hier ist einfach nur von Investitionen die oder eventuell sogar vergemeinschaftete Außen- und Ent- Rede, und die sollen dann die Veränderung bewirken. wicklungspolitik gibt – und ich sehe nicht, dass diese Nein, Investitionen gibt es schon genug. Wir brauchen kommt –, kann eine neue Bank oder eine Banktochter Investitionen, die eben den Sorgfaltspflichten Genüge ihre Ziele ja nicht erfüllen; das ist überhaupt nicht mög- leisten. lich. Oder stellen Sie sich etwa vor, dass die Bank dann die Politik der Mitgliedstaaten der EU lenkt? Na ja, es ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24651

Uwe Kekeritz (A) Viertens. Wie kommen Sie, liebe FDP, eigentlich [FDP]: Das Protokoll vermerkt „Heiterkeit im (C) darauf, dass die EIB insgesamt die geeignete Einrichtung Plenum“!) ist? Sie wissen ganz genau, dass die EIB in den Ländern Allein wenn wir uns den Aufwuchs beim Haushalt an- des Globalen Südens überhaupt nicht vertreten ist. Sie hat schauen, sehen wir: Da sprechen Zahlen Bände. keine Manpower dort. Sie hat keine Niederlassungen dort. Sie hat kein Know-how. Und dort, wo sie trotzdem (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. mal versucht hat, zu investieren, da sind die Ergebnisse Dagmar Ziegler [SPD]) sehr betrüblich; Sie kennen auch die Studie dazu. Ich Gerade als letzter Redner in so einer Debatte hat man frage mich: Warum ignorieren Sie das eigentlich? Ich es nicht so leicht; denn eigentlich ist schon alles gesagt – gehe jetzt mal davon aus, Herr Olaf in der Beek, dass nur noch nicht von mir. Es ist fast ein bisschen schwierig, Sie die Kritikpunkte, die auch meine Kolleginnen und hier mit Zahlen zu Banken und Finanzen zu operieren. Kollegen hier vorgetragen haben, ganz genau kennen. Deswegen möchte ich mal ganz kurz einen Blick darauf Warum ignorieren Sie die eigentlich? werfen, für wen wir denn eigentlich die Entwicklungs- Aber es ist auch die Frage gestellt worden, warum hier politik machen. eine namentliche Abstimmung erfolgt. Wenn wir uns anschauen, dass über 760 Millionen (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Ja! – Menschen weltweit in Armut leben, Hunger haben, kein Heike Hänsel [DIE LINKE]: Genau!) Dach über dem Kopf haben, kein weiches Bett, keine Dusche oder Toilette zur Verfügung haben, und dass Eigentlich finde ich die Idee süß. Wissen Sie, es geht 150 Millionen Kinder nicht in die Schule gehen können, doch darum, dass Minister Müller – da liegt er übrigens sondern arbeiten – und das nicht, weil sie wollen, sondern falsch – für Ihre Initiative ist, und Sie wissen ganz genau, weil sie müssen –, dann ist das natürlich ein Punkt, der dass diese CDU/CSU-Fraktion in den letzten acht Jahren uns auch interessieren muss. Warum? Weil beispielswei- niemals den Minister Müller unterstützt hat. se der afrikanische Kontinent direkt in der Nachbarschaft zu Europa liegt. Die kürzeste Entfernung – Luftlinie – Vizepräsident Wolfgang Kubicki: sind 20 Kilometer. Deshalb muss es uns interessieren, Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss. dass wir strukturschwache Regionen in der direkten Nachbarschaft zu Europa stärken, stabilisieren und auch weiterentwickeln. Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist die Motivation. Sie wollen nachweisen, dass sie Wir können uns natürlich über das Wie trefflich strei- das auch in diesem Fall nicht tut. Aber ausgerechnet jetzt, ten; das ist ja auch in Ordnung. Die FDP sagt, wir brau- (B) wo der Minister Müller mal falsch liegt, kommen Sie mit chen jetzt auch eine neue Finanzierungsstruktur. Auch (D) diesem Antrag. das kann man natürlich diskutieren; das ist ganz klar. Wir haben in Europa derzeit – das ist angesprochen wor- Herzlichen Dank. den – 19 Entwicklungsbanken. Ob das effektiv ist, da (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – kann man auch unterschiedlicher Meinung sein. Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Die SDGs (Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Eigentlich stehen drin, und zwar auf Deutsch! Das wissen nicht!) Sie! – Gegenruf des Abg. Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auf Deutsch! Aber das Positive, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist „Nachhaltigkeit“!) doch eines: dass wir uns Gedanken darüber machen, wie wir die Entwicklungspolitik noch effektiver, noch effizienter gestalten können, und dass es vor allem – Vizepräsident Wolfgang Kubicki: das zeigen auch die 19 Entwicklungsbanken – einen Vielen Dank, Herr Kollege Kekeritz. – Letzte Redner gewissen Grundkonsens in Europa gibt, dass Entwick- zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege lungspolitik wichtig ist. Dr. Wolfgang Stefinger, CDU/CSU-Fraktion. Ich stimme ja in Teilen der FDP zu, was die Problem- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- analyse betrifft, und ich bin wie unser Entwicklungsmi- ordneten der SPD) nister der Ansicht, dass es durchaus mehr Engagement in der Europäischen Union braucht beim Thema Entwick- Dr. Wolfgang Stefinger (CDU/CSU): lungszusammenarbeit. Es braucht aber vor allem auch – Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und darauf weist unser Minister auch immer wieder hin – Kollegen! Herr Kekeritz, Ihre letzte Bemerkung kann ich privates Kapital, nämlich privates Kapital von Unterneh- natürlich nicht so stehen lassen, weil nämlich unsere men nicht nur für Afrika, sondern auch für die Entwick- Fraktion ihren erfolgreichen Entwicklungsminister Gerd lungs- und Schwellenländer in Asien und Lateinamerika. Müller die letzten Jahre massiv unterstützt hat. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Lachen bei Abgeordneten der FDP und des Inwieweit dort eine europäische Entwicklungsbank BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – hilfreich sein kann, muss man sehen. Aber – und es Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE sind ja schon einige Themen angesprochen worden –: GRÜNEN]: Das hat auch gar nichts mit der Ihr Antrag kommt einfach zu früh, liebe Kolleginnen Realität zu tun! Sie folgen immer Herrn und Kollegen. Die Machbarkeitsstudie soll 2021 vorge- Müller! Immer! – Alexander Graf Lambsdorff legt werden. Diese sollten wir doch abwarten. Sie wissen 24652 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Dr. Wolfgang Stefinger (A) genauso, dass gerade bei einer neuen Institution der Teu- Unterstützung der Entwicklung einer (C) fel im Detail steckt. Das muss richtig ausgestaltet sein. langfristigen Friedenslösung in Bergkara- Deswegen sollten wir diese Machbarkeitsstudie einfach bach abwarten. Drucksache 19/24646 Auf viele kritische Punkte in Bezug auf die Europä- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten ische Investitionsbank sind Sie nicht eingegangen; auch Armin-Paulus Hampel, Petr Bystron, das ist schon gesagt worden. Ich vermeide jetzt die Spe- Dr. Anton Friesen, weiterer Abgeordneter kulation, dass es vielleicht daran liegt, dass der Chef und der Fraktion der AfD FDP-Mitglied ist. Aber es ist auf jeden Fall so, dass man diese Kritikpunkte eben auch anschauen muss. Keine deutsche Unterstützung für neo- osmanische Großmachtträume – Insgesamt, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ja, es Beschwichtigungspolitik gegenüber braucht mehr Entwicklungszusammenarbeit. Es braucht Erdogan beenden mehr Miteinander auch bei diesem Thema. Aber gut gemeint ist noch nicht gut gemacht, und deshalb sollten Drucksache 19/24651 wir die Ergebnisse des Expertengremiums abwarten. Überweisungsvorschlag: Deswegen heute ein Nein zu Ihrem Antrag. Auswärtiger Ausschuss (f) Verteidigungsausschuss Vielen Dank. Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (Beifall bei der CDU/CSU) Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten beschlossen. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich die Kolle- Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Stefinger. – Damit ginnen und Kollegen, Platz zu nehmen und den Rednern, schließe ich die Aussprache. die ich aufrufe, Aufmerksamkeit zu schenken. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- ses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung nerin der Kollegin Dr. Barbara Hendricks für die SPD- zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Deut- Fraktion das Wort. sche EU-Ratspräsidentschaft nutzen, Ankündigungen umsetzen – Errichtung einer Europäischen Bank für (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Thomas nachhaltige Entwicklung und internationalen Klima- (B) Heilmann [CDU/CSU]) (D) schutz“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- empfehlung auf Drucksache 19/24733, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 19/24327 abzulehnen. Dr. Barbara Hendricks (SPD): Die Fraktion der FDP hat namentliche Abstimmung ver- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein langt. Sie haben nach Eröffnung der namentlichen Angriffskrieg in Europa, völkerrechtswidrig, selbstver- Abstimmung 30 Minuten Zeit, Ihre Stimme in der West- ständlich, ein Angriffskrieg nach vielen Jahren schein- lobby abzugeben. Bitte gehen Sie nicht alle gleichzeitig barer Beruhigung, die aber natürlich immer von Wider- zur Abstimmung. Denken Sie an die Pflicht zum Tragen sprüchen gekennzeichnet war, begonnen am der Mund-Nase-Bedeckung, und halten Sie bitte den 27. September und beendet am 9. November 2020: Sicherheitsabstand ein. Es stehen insgesamt acht Urnen 44 Tage voll Tod – mehrere Tausend Tote auf beiden zur Verfügung. Sind die Plätze an den Urnen besetzt? – Es Seiten –, voll von Vertreibung, voll von Verletzungen, fehlen noch Kolleginnen und Kollegen von der Linken voll von Verwüstungen. Unter der Ägide von Russland und der CDU/CSU an den Urnen. Also, zu den Urnen, ist es zu einem Waffenstillstand gekommen, den die Linke und CDU/CSU! – Ich frage noch einmal: Sind die Kriegsparteien Aserbaidschan und Armenien zusammen Plätze an den Urnen nunmehr besetzt? – Immer noch mit Russland unterzeichnet haben. Das ist der erste nicht; das ist kein gutes Zeichen für die Union und für Schritt, um voranzukommen in dieser schwierigen die Linken. Sind jetzt die Plätze an den Urnen besetzt? – Region. Ich sehe, das ist der Fall. Dann eröffne ich die namentli- Damit ist aber noch längst nicht alles erledigt. Es wer- che Abstimmung über die Beschlussempfehlung auf den weiter Kulturgüter zerstört, aktuell wohl insbesonde- Drucksache 19/24733 zu dem Antrag der Fraktion der re religiöse armenische Kulturgüter. Aber früher, vor FDP auf Drucksache 19/24327. etwa 25 Jahren, gab es eben auch Kulturgutzerstörung Die Abstimmung wird um 17.02 Uhr geschlossen. Das von anderer Seite an aserbaidschanischen Kulturgütern. bevorstehende Ende der namentlichen Abstimmung wird Diejenigen, die nach dem Waffenstillstandsabkommen Ihnen rechtzeitig bekannt gegeben.1) jetzt die Regionen, die Provinzen verlassen müssen, die vor etwa 25 Jahren von Armenien erobert worden waren, Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf: hinterlassen zum Teil verbrannte Erde, wie man dazu wohl sagt. Es werden Häuser angezündet, es werden Bäu- a) Beratung des Antrags der Fraktionen der me gefällt, es wird Infrastruktur zerstört. Und die Men- CDU/CSU und SPD schenwürde geht auf beiden Seiten verloren. Ich glaube, das ist der Punkt, den wir hervorheben müssen. Es kann 1) Ergebnis Seite 24661 C so nicht weitergehen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24653

Dr. Barbara Hendricks (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Gegen die Inhalte ist nichts zu sagen. Hilfe, menschliche (C) der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE Hilfe, fein, aber Sie haben eines vergessen. Sie haben in GRÜNEN) Ihrer Rede nämlich nicht erwähnt, wer es möglich Was können wir jetzt tun? Deutschland unterstützt das gemacht hat, dass nicht mehr geschossen wird am Hindu- Internationale Rote Kreuz bei der Bereitstellung der kusch, benötigten humanitären Hilfe. Das findet zum Glück (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Hindu- statt: Es werden Tote geborgen, es werden Gefangene kusch?) ausgetauscht, es findet eine Erstversorgung der Bevölke- rung statt, derjenigen, die wieder zurückkehren nach nein, im Kaukasus: die Russen. Die Russen haben das Bergkarabach. Die OSZE-Minsk-Gruppe muss ihre Ver- gemacht, was notwendig war. Sie haben die Türken in säumnisse aus der Vergangenheit schnellstmöglich kri- die Schranken gewiesen, und sie haben innerhalb kürz- tisch überprüfen. Deutschland muss unter Federführung ester Zeit, als die Lage zu eskalieren drohte, Machtpolitik der Minsk-Gruppe der OSZE zeitnah an der Schaffung betrieben und den Druck auf beide Länder so stark eines dauerhaften, friedensichernden Rechtsstatus mitar- erhöht, dass es dann relativ schnell zumindest zu einem beiten, der ein dauerhaft friedliches und gleichberechtig- Waffenstillstand kam. tes Miteinander der dort lebenden Menschen ermöglicht. (Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Alles Deutschland muss sich für eine unabhängige Untersu- falsch! Es war zu spät!) chung von Kriegsverbrechen einsetzen. Und wir können wahrscheinlich auch durch Bildung und Aufklärung so- In Moskau haben wir längst jegliches Vertrauen ver- wie die Unterstützung möglichst niederschwelliger zivil- spielt. Deswegen spielen wir auch nicht mehr in dieser gesellschaftlicher Kontakte ein friedliches Zusammenle- Liga mit. Wichtig wäre es gewesen, auf die Druck aus- ben von Armeniern und Aserbaidschanern fördern. zuüben, die den Konflikt – das wurde ja von allen Frak- tionen in diesem Hause unterstrichen – angeheizt haben, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nämlich auf Herrn Erdogan und die türkische Regierung. der CDU/CSU) Das ist das Entscheidende. Wir wollen Armeniens Transformations- und Reformpro- zess weiterhin unterstützen, und wir setzen uns für einen (Beifall bei der AfD) Wiederaufbaufonds der Europäischen Union für das ge- Wenn wir heute nicht mehr in der Lage sind, auf diese samte Konfliktgebiet ein, für den Wiederaufbau der zivi- Regierung Druck auszuüben, dann werden wir auch in len Infrastruktur, die im Krieg – von 1991 bis 1994 und Bergkarabach mit allen humanistischen Ansprüchen, die jetzt 2020 – zerstört wurde. Sie eben ausgedrückt haben und denen ich ausdrücklich (B) Ja, wir können dies alles tun mit unseren Möglichkei- zustimme, nicht weiterkommen. (D) ten, die gleichwohl natürlich beschränkt sind. Dies alles Von unserem Engagement in der Vergangenheit kann wird nur gelingen, wenn die Menschen in der Region übrigens kaum eine Rede sein. Wir sind gerade mal Mit- bereit sind, die sogenannte Erbfeindschaft, wie wir sie glied der Minsk-Gruppe unter den Co-Vorsitzenden aus unserer Geschichte ja auch kennen, zu überwinden, Frankreich, USA und Russland. Moskau war in den letz- wenn sie bereit sind, gegenseitig ihre Menschenwürde ten Jahren der aktivste Mediator. Es unterhält zu beiden und ihr Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit Ländern die besten Beziehungen. Als einfaches Mitglied und auf ein Leben in Frieden zu akzeptieren. Nur dann hat Deutschland nicht mal Einblick in die konkreten ver- wird alles das, was wir und was auch Europa eventuell traulichen Verhandlungsergebnisse der Co-Vorsitzenden- leisten kann, tatsächlich fruchtbringend sein. Es geht also Staaten. darum, dass die politisch Verantwortlichen und die Bür- gerinnen und Bürger beider Länder endlich zur Vernunft Meine Damen und Herren, die deutsche Außenpolitik kommen. muss an Ernsthaftigkeit zurückgewinnen. Während die starke armenische Minderheit in Frankreich, die Nach- Herzlichen Dank. fahren Charles Aznavours, den Druck auf Macron erhöht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten haben, betrachtet Erdogan die drei Millionen Türken in der CDU/CSU) Deutschland als innenpolitisches Druckmittel gegenüber der deutschen Regierung, und er spielt diese Karte ja auch Vizepräsident Wolfgang Kubicki: nach allen Regeln der Kunst aus. Eine unabhängige deut- sche Außenpolitik ist aufgrund dieses Verhältnisses, mei- Vielen Dank, Frau Dr. Hendricks. – Nächster Redner ne Damen und Herren, gar nicht mehr möglich. ist der Kollege Armin-Paulus Hampel, AfD-Fraktion. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei Abgeordneten der AfD) Die zögerliche Haltung der Kanzlerin auf EU-Gipfeln, Armin-Paulus Hampel (AfD): wenn es um Sanktionen gegen die Regierung Erdogan Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr verehrten geht, spricht Bände. Damen und Herren! Ja, Frau Hendricks, das war die Meine Damen und Herren, meine Fraktion legt heute übliche Phrasendrescherei der Regierungskoalition, einen klaren Fahrplan vor aus Forderungen und einer wenn es um die Konfliktgebiete dieser Welt geht. Haltung, die die Bundesregierung gegenüber Herrn (Johann Saathoff [SPD]: Wer ist denn hier Erdogan einnehmen muss, um seinen neoosmanischen sonst der Phrasendrescher?) Großmachtträumen wirksam entgegenzutreten: Keine 24654 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Armin-Paulus Hampel (A) weiteren Heranführungshilfen in Milliardenhöhe für (Beifall der Abg. [CDU/CSU] und (C) einen EU-Beitritt der Türkei – müsste der erste Schritt Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE sein. GRÜNEN]) (Beifall bei Abgeordneten der AfD) Nächster Redner ist der Kollege Nikolas Löbel, CDU/ CSU-Fraktion. Wir brauchen eine Neuverhandlung des Assoziierungs- abkommens – wenn wir es denn überhaupt noch fortfüh- (Beifall bei der CDU/CSU) ren wollen. Und vor allen Dingen darf es keine weiteren 6 Milliarden aus dem Flüchtlingsdeal für Herrn Erdogan Nikolas Löbel (CDU/CSU): geben – das finanziert die türkische Politik auch in Berg- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr karabach, Armenien und Aserbaidschan. Hampel, ich möchte ganz kurz darauf eingehen, was Sie Wir wollen eine finanzielle und personelle Stärkung gesagt haben und was Sie hier vorlegen; denn Ihre Rede von Frontex-Einheiten, die in Griechenland unsere EU- und Ihr Antrag sind diametral verschieden. Es geht um Außengrenzen wirksam schützen; das entzieht Herrn Bergkarabach und wie wir dort nun den erzielten Waffen- Erdogan ein weiteres Druckmittel. Im Übrigen sollten stillstand und Frieden sichern können. wir als Allererstes türkischen Staatsbeamten die Visafrei- heit entziehen, sie nur noch Diplomaten geben. Sie glau- (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Das ist der ben gar nicht, was für eine beträchtliche Wirkung das in Hebel!) Ankara erzeugen würde. Aber Sie haben einen Antrag vorgelegt, der sich rein mit Und zum Schluss, last, not least sollten wir – wir haben der Türkei beschäftigt, der inhaltlich auf DITIB eingeht, ja so gute Beziehungen zum Weltsicherheitsrat und den der inhaltlich auf türkischstämmige Menschen, die in Vereinten Nationen – eine Resolution einbringen in den Deutschland leben, Menschen mit Migrationshinter- UN-Sicherheitsrat, die das aggressive Verhalten der Tür- grund, eingeht. kei deutlich verurteilt. (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Von denen ein Meine Damen und Herren, der Politik eines Herrn großer Teil Erdogan gewählt hat!) Erdogan, der sich nach Süden – nach Norden übrigens Und Sie sind wieder auf das Thema Flüchtlinge einge- auch – und nach Westen ausdehnt, dieser Politik muss gangen. Einhalt geboten werden! Nur ein kleiner Absatz von zwei Seiten Begründung Wenn Sie einmal, wie ich in den letzten Jahren, den Ihres Antrages dreht sich überhaupt um das eigentliche (B) (D) Balkan bereist haben, dann werden Sie feststellen, dass in Thema Bergkarabach. Das Beste ist: Von acht Forderun- Bulgarien, in Bosnien und anderswo ein massiver Ein- gen, die Sie aufstellen, geht keine einzige auf das Thema fluss der türkischen Staatsregierung stattfindet, genauso Friedenssicherung in Bergkarabach ein, sondern es sind wie jetzt in Armenien und schon längst in Syrien, Libyen; alles nur grundsätzliche, aus dem Parteiprogramm abge- das kennen Sie alle allemal. Den Großmachtträumen schriebene Forderungen. Das zeigt, dass sich dieser An- eines Herrn Erdogan muss Einhalt geboten werden, und trag überhaupt nicht mit der Sache befasst, und deswegen dass erreichen Sie nur mit einer klaren, auch diplomatisch müssen wir uns auch nicht weiter mit ihm befassen. deutlichen Sprache. So muss deutsche Außenpolitik gestaltet sein! (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Armin-Paulus Hampel [AfD]: Ach, Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren. herrje!) (Beifall bei der AfD – Dr. Franziska Brantner Wesentlich ist: Der Konflikt im Südkaukasus ist ein [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Maske!) jahrhundertealter Konflikt, und leider ist er aktueller denn je. Der Krieg im Südkaukasus in den zurückliegen- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: den sechs Wochen war ein Stück weit auch ein Armuts- Vielen Dank, Herr Kollege Hampel. zeugnis für die internationale Gemeinschaft, weil er in unvergleichlicher Weise gezeigt hat, wie Staaten, wie Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich weiß, die Türkei, aber auch der Iran und vor allen Dingen Russ- dass Ihnen meine Stimmung völlig egal ist – das akzep- land, unverhohlen geopolitische Interessen vertreten tiere ich –, aber bitte: Ein Mund-Nase-Schutz – ich meine gar nicht Sie, Herr Hampel – ist nur dann ein Mund-Nase- (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Er hat für Frie- Schutz, wenn Mund und Nase bedeckt sind; ansonsten den gesorgt!) wäre es nur ein Mundschutz. Ich bin von den Schriftfüh- und die NATO und die Europäische Union ohnmächtig rerinnen und Schriftführern darauf hingewiesen worden – zusehen müssen. Wir müssen feststellen, dass dieser ich sehe das ja selbst –: Wenn hier 30 Kolleginnen und Konflikt einmal mehr aufgezeigt hat, dass Diplomatie Kollegen im Saal herumlaufen, die nur ihren Mund bede- wichtig ist, aber dass Diplomatie auch verbunden sein cken, dann ist das Prinzip nicht eingehalten, dass wir eine muss mit Durchsetzungswillen und einem klaren Prob- Mund-Nase-Bedeckung tragen müssen. Also noch ein- lemlösungsbewusstsein. mal der wirklich pädagogische Appell von mir, das wirk- lich zu beachten, sonst muss ich zu härteren Maßnahmen (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Habe ich gera- greifen. de gesagt!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24655

Nikolas Löbel (A) Wir müssen deutlich machen, dass Diplomatie immer Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (C) der bessere Weg ist als militärische Konfliktbereitschaft. Vielen Dank, Herr Kollege Löbel. – Nächste Rednerin Militärische Konfliktbereitschaft darf nicht das erfolg- ist die Kollegin Renata Alt, FDP-Fraktion. versprechendere Mittel sein. Und das ist die traurige Bilanz dieses Krieges, dieses Konflikts – das bleibt –: (Beifall bei der FDP) Was wir in 27 Jahren internationaler Verhandlungsbemü- hungen nicht erreicht haben, wurde binnen sechs Wochen Renata Alt (FDP): in Teilen erreicht. Das ist nicht gut für die Minsker Grup- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- pe innerhalb der OSZE, es ist nicht gut für die internatio- ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor vier Wochen nale Gemeinschaft und die NATO. Das darf sich nicht sagte Bundesaußenminister Maas zu Bergkarabach – ich wiederholen. zitiere –: Dennoch ist dauerhafter Frieden in den Regionen um Eine bessere Verhandlungsposition lässt sich nicht Bergkarabach im Südkaukasus strategisches Interesse der auf dem Schlachtfeld erringen. Europäischen Union, ist auch unser Interesse hier in die- Herr Staatsminister Annen, ich glaube, die Präsidenten sem Hause; denn wir pflegen enge kulturelle, enge poli- Alijew und Erdogan sehen das anders. Der Konflikt in tische und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Arme- Bergkarabach ist zwar immer noch nicht gelöst, aber es nien und mit Aserbaidschan. wurden militärisch Fakten geschaffen – wohlgemerkt: Was uns auch deutlich werden muss, ist: Wir reden dort während Deutschland und die EU unter deutscher Rats- über einen sogenannten Frozen Conflict. Aber es ist eben präsidentschaft zugeschaut haben. kein Frozen Conflict, und wir haben gesehen, wie schnell (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten aus einem Frozen Conflict ein ganz aktueller Krieg wer- der AfD) den kann. Deutschland hat die heiße Phase des Konflikts – anders Das Tragische daran ist, dass der jetzt gefundene Waf- kann man es nicht sagen – erfolgreich ausgesessen. fenstillstand eigentlich auf den Madrider Basisprinzipien basiert, die wir 2007 vereinbart haben. Aber seit 2007 ist Mit Ihrem Antrag rufen Sie, liebe Kolleginnen und eben viel zu wenig passiert. Kollegen von Union und SPD, die Bundesregierung dazu auf, endlich zu handeln. Ihre Forderungen kommen Jetzt können wir nicht mehr darüber reden. Der Status aber verspätet und sind halbherzig und zaghaft. quo ist jetzt ein anderer, und wir werden hinter diesen Status quo auch nicht mehr zurückkommen. Deswegen (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Die haben es müssen wir in die Zukunft blicken, deutlich machen: verpennt, ganz einfach!) (B) (D) Armenien ist ein weltoffenes, christlich geprägtes Land. Ja, es sind sinnvolle Maßnahmen in Ihrem Antrag ent- Aserbaidschan ist ein weltoffenes, muslimisch geprägtes halten. Er geht uns Freien Demokraten aber an vielen Land. wichtigen Stellen nicht weit genug. Sie fordern, dass (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Sie haben keine das Rote Kreuz Zugang zur Konfliktregion bekommen Ahnung! Wirklich keine Ahnung!) soll. Das kann man nur begrüßen. Aber warum fordern Sie nicht auch, dass der UNHCR, die UNESCO und Dort geht es um Glaubenspluralität, und um diese Glau- andere Strukturen der Vereinten Nationen in und um benspluralität muss es jetzt auch in den Regionen um Bergkarabach aktiv werden? Meine Damen und Herren, Bergkarabach gehen. sogar Wladimir Putin und Sergej Lawrow plädieren für (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und mehr internationale Hilfe in der Konfliktregion – das der SPD) muss man sich einmal vorstellen! Dort wollen und müssen Menschen jeder Herkunft – aus Mit Ihrem Antrag akzeptieren Sie, dass Deutschland Armenien und aus Aserbaidschan, Flüchtlinge und Bin- und die EU nichts, aber wirklich gar nichts im Südkau- nenvertriebene aus den beiden Ländern aus den letzten kasus zu sagen haben. Die OSZE kann und sollte in Jahrzehnten – künftig in ihrer alten Heimat eine neue diesem Konflikt eine größere Rolle spielen. Wir brauchen Zukunft finden. Dazu braucht es Toleranz, Freiheit und unbedingt eine OSZE-Beobachtermission. Wir brauchen stabile politische Rahmenbedingungen. internationale Experten, die das Einhalten des Waffen- stillstands dauerhaft und genau überwachen. Wir als Deutschland wollen und müssen uns dort aktiv einbringen. Es geht um die Sicherung von Kulturgütern, (Beifall bei der FDP) aber es muss auch um die dauerhafte Friedenssicherung In Ihrem Antrag keine Spur davon. gehen. Frau Dr. Hendricks, Sie sagen, Transformationsprozes- Lassen Sie mich enden: Ich glaube, Russland war der se in Armenien müssten weiterhin unterstützt werden. Dealmaker. Aber die Europäische Union und die NATO Liebe Kolleginnen und Kollegen, Armenien befindet müssen jetzt der Garant für dauerhaften Frieden in der sich in einer tiefen politischen Krise. Es braucht dringend Region werden. Deswegen ist es wichtig, dass wir uns humanitäre Hilfe. Die Chance, Reformprozesse in Arme- jetzt in den nächsten Jahren dort aktiv einbringen. nien zu unterstützen, haben Sie längst verpasst. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Armin- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Paulus Hampel [AfD] – Armin-Paulus Hampel ordneten der SPD) [AfD]: Sehr richtig!) 24656 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Renata Alt (A) Russland und die Türkei stellen im Südkaukasus die (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Sehr zurück- (C) Weichen. Deutschland und die EU wurden zu Kommen- haltend!) tatoren degradiert. Dass Sie Russland und die Türkei hier auf eine Stufe (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten stellen, ist irreal und zeigt den Grad Ihrer Voreingenom- der AfD) menheit. Lieber Herr Staatsminister, setzen Sie sich jetzt endlich (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- für die Stabilisierung von Nagornij Karabach ein. neten der AfD) (Beifall bei der FDP) Im Auswärtigen Ausschuss hat ein Staatssekretär aus dem Auswärtigen Amt die Türkei viel klarer verurteilt und Russland für die Vermittlung zum Waffenstillstand Vizepräsident Wolfgang Kubicki: sogar gewürdigt. Schon wegen dieses Widerspruchs kön- Vielen Dank, Frau Kollegin Alt. – Nächster Redner ist nen wir Ihrem Antrag mit Sicherheit nicht zustimmen. der Kollege Dr. Gregor Gysi, Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Russland hat mit dem Aushandeln einer Vereinbarung zwischen Armenien und Aserbaidschan etwas geschafft, Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): zu dem sich weder die OSZE noch die EU oder gar die Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor NATO in der Lage sahen. Dass es überhaupt noch Raum vier Wochen haben wir schon einmal im Plenum über den und nun fünf Jahre Zeit für Überlegungen zu einer lang- Krieg um Bergkarabach gesprochen. Immerhin gibt es fristigen Friedenslösung um Bergkarabach gibt, verdan- jetzt einen Waffenstillstand, das heißt keine weiteren ken wir auch Russland. Toten, keine weiteren Verletzten, keine weiteren Zerstö- rungen, was an sich zu begrüßen ist. (Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Russland hat viel zu lange gewartet!) Aber Aserbaidschan hatte massiv aufgerüstet und unterstützt von der Türkei militärische Fakten geschaf- Sie wollen doch auch die langfristige und tragfähige Frie- fen. Der völkerrechtswidrige Zustand um Bergkarabach denslösung für Bergkarabach; sehr richtig. Das geht aber durch Armenien wurde von Aserbaidschan und der Tür- nur mit Russland als Partner und nicht als Gegner oder kei wiederum auf völkerrechtswidrige Art und Weise mit Konfliktpartei. einem Krieg, der Tausende Opfer gekostet hat, nahezu (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. beendet. Es hat sich wieder mal das Recht des Stärkeren Dr. Anton Friesen [AfD]) statt eines Interessenausgleichs und der Diplomatie (B) Und natürlich ist es höchste Zeit, dass sich Deutsch- (D) durchgesetzt. land und die EU nicht mehr von der Türkei vorführen Gewiss kann man Armenien vorwerfen, dass es eine lassen. Waffenlieferungen an die Türkei müssen komplett politische Lösung des Konflikts verzögert hat, um den gestoppt werden, und keine neuen Lieferungen dürfen Status quo zu erhalten. Aber zu den Waffen griff Aser- mehr genehmigt werden. baidschan; Material und Söldner dafür lieferte die Türkei. (Beifall bei der LINKEN) Die Bundesregierung hat dabei zugeschaut und die Tür- kei, einen NATO-Verbündeten, gewähren lassen. Außen- Die sechs U-Boote sind völlig daneben, kann ich sagen. minister Maas hat auf eine neutrale Haltung gesetzt, wo eine klare Ansage nötig gewesen wäre. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Herr Kollege Gysi, kommen Sie zum Schluss. [FDP]) Die Bundesregierung muss auch gegenüber Verbündeten Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): klare Kante zeigen, um endlich für ein wirksames Völker- Wer friedliche Lösungen will, muss den Kriegswilli- recht zu streiten. gen die Waffen verwehren. Anders geht es nicht. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Das Problem ist, dass das Völkerrecht von viel zu vielen missachtet wird. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Vielen Dank, Dr. Gysi. – Nächster Redner ist der Kol- Aber am schlimmsten ist – das wollte ich noch sagen –, lege Manuel Sarrazin, Bündnis 90/Die Grünen. dass in den türkischen Kampfdrohnen, die Aserbaidschan auch gegen die Zivilbevölkerung einsetzte, Bauteile ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wendet wurden, die von deutschen Firmen hergestellt werden. Deutsche Rüstungsexporte werden damit erneut Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): grundsätzlich infrage gestellt. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass nicht mehr geschossen wird. Aber Elemente (Beifall bei der LINKEN) von Krieg sind immer noch vorhanden, sie bleiben: Immerhin spricht aus dem Antrag der Koalition nun Flucht, Angst, Vertreibung, Zerstörung, Feuer. Das wird ein schlechtes Gewissen, wenn auch Ihre Kritik an der meiner Ansicht nach im Antrag der Koalition nicht genü- Türkei immer noch eher zurückhaltend formuliert wird. gend gewürdigt. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24657

Manuel Sarrazin (A) Diese Vereinbarung, dieser Waffenstillstand, ist eine Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (C) gefährliche Vereinbarung. Sie verletzt die völkerrechtli- Vielen Dank, Herr Kollege Sarrazin. – Ich erteile jetzt chen Prinzipien des Gewaltverzichts. Sie missachtet das das Wort dem Kollegen Johann Saathoff, SPD-Fraktion. Prinzip der multilateralen Konfliktlösung als Mittel der Wahl für die Lösung sowohl kurz- wie langfristig. Sie (Beifall bei der SPD) verletzt das Prinzip der Aussöhnung als Grundlage für einen dauerhaften Frieden. Sie verletzt aber auch die Johann Saathoff (SPD): Madrider Prinzipien, Herr Löbel, durch eine andere Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr ver- Beziehung in Bezug auf die vorherige autonome Region ehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kol- Bergkarabach. Und sie schützt neue Prinzipien, nämlich legen! In dem furchtbaren Krieg in Bergkarabach Revanchismus und Nationalismus, die einseitige Rück- schweigen endlich die Waffen. Es sterben keine Men- kehr von Vertriebenen von vor 23 Jahren, die Gewalt schen mehr in Kampfhandlungen, und humanitäre Hilfe als Mittel der Politik in der Östlichen Partnerschaft und ist endlich wieder möglich. Der Austausch der sterbli- nicht zuletzt die Unterminierung der Reformpolitik in chen Überreste von Gefallenen hat begonnen. Armenien. Die Bilanz dieses Krieges, liebe Kolleginnen und Kol- Dieser Waffenstillstand ist gut, weil nicht mehr legen, ist erschütternd: mehrere Tausend Getötete auf geschossen wird, aber insgesamt gefährlich und der fal- beiden Seiten, Zehntausende von Menschen, die ihre sche Weg für einen dauerhaften Frieden in der Region. Häuser verlassen mussten, erschütternde Bilder von Begräbnissen von 18- und 19-jährigen Gefallenen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Barbara Hendricks hat auf diese Dramatik und auf diese sowie des Abg. Dr. Andreas Nick [CDU/CSU]) Tragik hingewiesen. Was ist passiert? Die EU ist abgemeldet; Frau Alt hat Die Berichte über mögliche Verstöße gegen humanitä- es zutreffend dargestellt. Der Kreml hat Fakten geschaf- res Völkerrecht und mögliche Kriegsverbrechen sind ein- fen, wie Herr Gysi richtig dargestellt hat. Aber es gab fach erschreckend. Armenien wie Aserbaidschan sind einen Moment, wo auch die russische Regierung nicht aufgerufen und ihnen obliegen Pflichten, humanitäres in der Lage war, Zugriff auf beide Parteien zu haben. In Völkerrecht und Menschenrechte zu respektieren und diesem Moment hat Europa darauf verzichtet, selber tätig zu schützen und mögliche Verstöße aufzuklären und zu zu werden. ahnden. Dauerhafte, verhandelte und umfassende Kon- (Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Richtig!) fliktbewältigung und -beilegung sind jetzt möglich. Armenien und Aserbaidschan sollten jetzt substanziel- So ist Putin der wahre Sieger dieses Krieges. Die Steige- le Verhandlungen für friedliche und dauerhafte Lösungen (B) rung des russischen Einflusses auf beiden Seiten des (D) des Konfliktes aufnehmen. Das Format für diese Ver- Konflikts ist das Resultat. Das ist schlecht für die europä- handlungen bleibt die OSZE-Minsk-Gruppe; deren Co- ischen Interessen. Vorsitzenden haben das umfassende Mandat für die Bei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) legung des Konfliktes. Die Minsk-Gruppe sollte auch weiterhin im Prozess eine zentrale Rolle spielen. Russ- Seien wir doch mal ehrlich: Können wir es wirklich land ist aufgerufen, die Präsenz seines Militärs in der zulassen, dass in der Östlichen Partnerschaft als Konkur- Region nicht zu politisieren. rent Russlands nicht die EU, sondern die Türkei auftritt? Ist es unser Interesse, die Rolle der Konkurrenz zu russi- Die EU hat die Bereitschaft erklärt zur Stabilisierung, schen Großmachtinteressen im südlichen Kaukasus der zum Wiederaufbau und dazu, vertrauensbildende Maß- Türkei zu überlassen? Oder ist es notwendig, dass auch nahmen in der Region zu leisten, falls dies möglich ist. wir dort im Sinne europäischer Souveränität aktiver wer- Ich bin überzeugt: Dauerhaft ist nur der Frieden, der von den? allen Beteiligten gewollt wird. Dafür müssen Menschen und Gesellschaften miteinander ins Gespräch kommen Verlierer sind die Menschen in der Region. Es droht in und letztlich erkennen, dass sie mehr verbindet als sie diesem Winter – das wurde richtig dargestellt – eine trennt. schwere humanitäre Notlage. Verlierer sind auf allen Sei- ten aber auch diejenigen, die für Versöhnung und Frieden (Beifall bei der SPD) eingetreten sind. Auf beiden Seiten sind jetzt die Natio- Zugegeben, die Rhetorik, die wir aus den beiden Ländern nalisten und die Hardliner tonangebend. Verlierer ist aber in diesen Tagen vernehmen, ist zumeist schrill. Feindbil- auch die Hoffnung auf Reform und Demokratie, vor der werden gepflegt und wie schon seit Jahrzehnten wei- allem in Armenien. ter zugespitzt. Versöhnliche Stimmen sind eher selten. Ist Deswegen – ich komme zum Schluss, Herr Präsident – da eigentlich eine Verständigung möglich zwischen möchte ich festhalten: Für die Bundesregierung muss Armenien und Aserbaidschan? jetzt gelten: Die Samtene Revolution in Armenien darf Erinnern wir uns: Eine ähnliche Situation gab es bei nicht umsonst gewesen sein! Dieser Frieden à la Putin uns in gar nicht so ferner Vergangenheit – schrille Rheto- darf nicht zum Ergebnis haben, dass die Hoffnung auf rik über Jahrzehnte, aufgebaute Feindbilder, nur selten Demokratie zu beerdigen ist. versöhnliche Stimmen, drei Kriege gegeneinander in Vielen Dank. nicht einmal 80 Jahren. Ich spreche über die lange soge- nannte Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frank- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) reich. 24658 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Johann Saathoff (A) Heute sind Deutschland und Frankreich engste Partner scha – „Schuscha“ ist der aserbaidschanische Name, (C) in Europa, wirtschaftlich stark verbunden. Die Gesell- „Schuschi“ der armenische Name –, die stark zerstört schaften sind schon fast miteinander verwachsen. Die und aktuell von Vandalen mit Graffiti verschmiert wurde, Feindbilder von einst sind für Menschen in Emden oder oder auch die Kirche Johannes des Täufers, Kanatsch in Brest heute unvorstellbar. Die Menschen haben Scham. Diese Kirche hat eigentlich zwei Kirchtürme. erkannt: Es gibt mehr Verbindendes als Trennendes, Auf aktuellen Bildern sind die beiden Kirchtürme weg, und nur die Friedensperspektive ist eine lohnende für sie. und sie sind sicherlich nicht wegretuschiert worden. Die deutsch-französische Aussöhnung brauchte muti- Es geht um Land, um Interessen, um Einfluss und ge Initiativen, und das Zusammenwachsen der Zivilge- Macht, so wie in vielen anderen Konflikten auch. Das sellschaften musste durch Begegnungen und durch Problem: Der Konflikt verläuft entlang ethnischer und gemeinsame Projekte erfolgen. Die Menschen müssen religiöser Gruppen. Er trifft ganz besonders die armen- diesen Weg gemeinsam gehen. Wir in Ostfriesland kön- ischen Christen, und es besteht die Gefahr, dass es wieder nen nur sagen: Wi könen de Patt wiesen, man gahn moten eine Vertreibung von Christen gibt, wie es so viele Ver- se hüm sülvst. Es liegt an den Zivilgesellschaften, hier zu treibungen zum Beispiel im Nahen und im Mittleren zeigen, dass ein Weg der friedlichen Zusammenarbeit Osten gibt. Dabei leben die christlichen Armenier schon möglich ist. seit Jahrhunderten in Bergkarabach und dem Umfeld. Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen – – Karabach ist seit dem 4. Jahrhundert ein Zentrum des Christentums; aber auch die Aseris haben dort schon jahrhundertelang ihre Weidegründe. Vizepräsident in : Mir ist eines ganz wichtig: Religion ist zwar nicht die Kollege Saathoff, achten Sie bitte auf die Zeit, und Ursache für den Konflikt, aber sie darf auch nicht zum kommen Sie zum Schluss. Verstärker und Brandbeschleuniger werden. In Aserbaid- schan herrscht im regionalen Vergleich ein bemerkens- Johann Saathoff (SPD): wertes Maß an Religionsfreiheit. Diese Religionsfreiheit Oh, Herr Kubicki hat sich aber verändert. – Guten Tag, gilt aber nur sehr eingeschränkt für die Armenisch-Apos- Frau Präsidentin! tolische Kirche. Deshalb müssen wir darauf achten, dass Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen und Frau Präsiden- der Konflikt nicht weiter religiös aufgeheizt wird. Wir tin, es ist ein dickes Brett, das zu bohren Jahrzehnte müssen verhindern, dass ethnische oder religiöse Säube- dauern kann, aber es bleibt richtig, dieses Brett zu bohren. rungen stattfinden, und wir müssen auch das Potenzial der Religionen für das friedliche Miteinander erkennen Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. und nutzen. Es muss zudem eine schnelle Rückkehr der (B) (D) (Beifall bei der SPD) Flüchtlinge und Binnenvertriebenen geben, auf der Grundlage der Madrider Prinzipien, sonst verfestigen sich Flucht und Vertreibung. Vizepräsident in Petra Pau: Die Zeit für die namentliche Abstimmung ist vorbei. Die armenischen christlichen Kirchen, Klöster und Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Kunstschätze, aber auch die Moscheen müssen geschützt Stimme nicht abgegeben hat? Dann bitte ich, dies jetzt und wiederhergerichtet werden. Die religiöse Vielfalt, zu tun. – Ich lasse während des nächsten Redebeitrags gerade an dieser Schnittstelle zwischen Orient und Okzi- noch die Möglichkeit zu, dies nachzuholen, und dann dent, muss bestehen bleiben. Armenier und Aseris kön- schließe ich die Abstimmung. nen friedlich miteinander leben; das zeigt die Situation in Georgien. Aber auch dort besteht die Gefahr, dass die Das Wort hat der Kollege Markus Grübel für die CDU/ Spannungen überspringen, gerade in Gegenden, die CSU-Fraktion. gemischt bewohnt werden. (Beifall bei der CDU/CSU) Der Waffenstillstand ist jetzt ein erster wichtiger Schritt, aber wie geht es weiter? Die USA und Frankreich Markus Grübel (CDU/CSU): als Co-Vorsitzende der Minsk-Gruppe waren in den letz- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ten Monaten viel zu sehr mit sich selber beschäftigt. Das Der Konflikt in Bergkarabach hat eine lange Geschichte muss sich ändern. Aber auch die Europäische Union und und hat schon viele Menschenleben gefordert, viele Exis- damit Deutschland müssen sich stärker einbringen. Ich tenzgrundlagen vernichtet und viele Kulturgüter zerstört. will nicht, dass wir Ländern wie Russland oder der Tür- In Bergkarabach kämpfen überwiegend muslimische kei, die die Freiheitsrechte und die Demokratie schwä- Aseris gegen überwiegend christliche Armenier, ver- chen, die Lösung allein überlassen. Unsere Rolle ist auch stärkt durch Söldner aus Syrien – Söldner, keine Dschi- nicht, nur mit Geld die Schäden zu beseitigen, die andere hadisten –, im Dienste der Türkei und Aserbaidschans. angerichtet haben. Sicherlich werden hier für eine dauer- Ist das nun ein Religionskrieg? Auch wenn man das haft friedvolle Lösung alle Seiten Zugeständnisse zunächst meinen könnte, würde ich nicht von einem Reli- machen müssen. gionskrieg sprechen. Der Konflikt hat aber starke religi- Ich werbe eindringlich um eine breite Zustimmung zu öse Komponenten, und mit jedem Tag spielen religiöse unserem Antrag, zum Antrag der Koalition. Gefühle und Symbole eine stärkere Rolle. Ich habe Bilder Vielen Dank. vor Augen von einer Moschee, die zum Schweinestall umgenutzt wurde, oder Bilder der Kathedrale von Schu- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24659

(A) Vizepräsident in Petra Pau: liches Zusammenleben muss möglich sein. Dieses Be- (C) Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, welches wusstsein muss auch in den Diasporagemeinden gestärkt seine Stimme zur namentlichen Abstimmung nicht abge- werden. geben hat? – Das ist nicht der Fall. Deutschland muss in diesem Aussöhnungsprozess Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftfüh- einen größeren Beitrag leisten. Wir haben ein starkes rerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin- Netzwerk von zivilgesellschaftlichen Organisationen, nen. Zu diesem Zwecke bitte ich noch Schriftführer der die hier wirken können. Wir wollen uns für Frieden in Opposition, in den Auszählraum zu kommen; dort fehlen der Region einsetzen. Unterstützen Sie deshalb bitte noch welche. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen unseren Antrag. später bekannt gegeben.1) Herzlichen Dank. Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege Thomas Erndl für die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Dr. Barbara Hendricks [SPD]) (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident in Petra Pau: Thomas Erndl (CDU/CSU): Ich schließe die Aussprache. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es schweigen die Waffen, aber die Bilder der Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der letzten Tage sind bedrückend: Armenier, die ihre Häuser Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache verbrannten, damit sie nicht in die Hände der Aseris fal- 19/24646 mit dem Titel „Unterstützung der Entwicklung len, zerbombte Kirchen, Klöster und Moscheen, und einer langfristigen Friedenslösung in Bergkarabach“. zuletzt leider auch Soldaten, die im Freudentaumel Kir- Wer stimmt für diesen Antrag? – Die CDU/CSU-Fraktion chen schändeten. und die SPD-Fraktion. Wer stimmt dagegen? – Die AfD- Fraktion. Wer enthält sich? – Die FDP-Fraktion, Die Lin- Lassen Sie mich das hier klar und deutlich sagen: Das ke und Bündnis 90/Die Grünen. Der Antrag ist angenom- fördert Hass und provoziert Rachegelüste. Das ist der men. Stoff, aus dem die nächsten Kriege entstehen. So ist kein Frieden in der Region möglich. Tagesordnungspunkt 13 b. Interfraktionell wird Über- weisung der Vorlage auf Drucksache 19/24651 an die in (Beifall bei der CDU/CSU) der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- Deshalb die klare Botschaft: Dieses Vergehen an Reli- gen. Gibt es weitere Überweisungsvorschläge? – Das ist (B) gions- und Kulturschätzen muss gestoppt werden! nicht der Fall. Dann verfahren wir wie vorgeschlagen. (D) (Beifall bei der CDU/CSU) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Wir müssen uns im Klaren sein, dass andere Fakten – Zweite und dritte Beratung des von der Bun- schufen, während wir hier debattierten. Vor einem Monat desregierung eingebrachten Entwurfs eines haben wir in einer Aktuellen Stunde den Krieg verurteilt Gesetzes zu dem Übereinkommen vom und die Parteien zur Mäßigung aufgerufen. Das war und 19. Februar 2013 über ein Einheitliches bleibt richtig. Aber wir müssen auch zu einem Punkt Patentgericht kommen, wo wir in Europa weniger reaktiv unterwegs Drucksache 19/22847 sind, sondern proaktiv agieren. Kein Frozen Conflict wird ewig halten. Wir sollten uns bewusst sein, dass wir Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- als Europäer genug Gewicht in der Region haben, um schusses für Recht und Verbraucherschutz nicht nur zu appellieren, sondern auch entschiedener zu (6. Ausschuss) wirken. Drucksache 19/24742 Meine Damen und Herren, Deutschland und Europa müssen jetzt noch mehr als in der Vergangenheit dafür – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- tun, um Wege zu einer dauerhaften und friedlichen schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Lösung der Bergkarabach-Frage zu finden – die Madrider Drucksache 19/24743 Prinzipien sind hier weiterhin die Grundlage –, und die Türkei muss ihr Zündeln in der Region lassen. Das muss Über diesen Gesetzentwurf werden wir später nament- klar sein. lich abstimmen. Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten beschlossen. Und lassen Sie mich hier abschließend noch eines unterstreichen: Für den langfristigen Frieden wird ein Ich bitte, die notwendigen Umgruppierungen in den rein politisches Abkommen alleine nicht ausreichen. Fraktionen zügig vorzunehmen und dann, wenn Sie sich Wir müssen vor allem darauf hinwirken, dass Frieden durch den Saal bewegen müssen, bitte auch den Mund- auch zwischen den beiden Zivilgesellschaften entstehen Nase-Schutz aufzusetzen. kann. Auch die Vorstellung, dass es nur rein ethnische Nationalstaaten im Kaukasus gibt, ist abwegig. Ein fried- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Dr. Nina Scheer für die SPD-Fraktion.

1) Ergebnis Seite 24661 C (Beifall bei der SPD) 24660 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

(A) Dr. Nina Scheer (SPD): Es ist eine Blamage, die Sie damit uns zuschreiben (C) Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol- wollen. legen! Man müsste es hier eigentlich denkbar kurz machen, weil die Tatsache, dass wir uns heute überhaupt ( [AfD]: Das ist Ihre Blama- noch einmal mit der Frage der Ratifizierung des Über- ge, nicht unsere!) einkommens über ein einheitliches europäisches Patent- Das ist keine praktische Niederlage, die wir eingeheimst gericht durch Deutschland befassen, einzig und allein haben. Sie wollen uns das zuschreiben. Insofern ist es dem Umstand geschuldet ist, dass die AfD hier ein peinlich, weil es letztendlich jetzt allein an Deutschland Schauspiel veranstaltet hat, was leider vor dem Bundes- hängt, dass das europäische Patentgericht noch nicht ein- verfassungsgericht Gehör finden musste, weil wir bei der gesetzt werden konnte. Verabschiedung die rein zähltechnische Mehrheit hier (Stephan Brandner [AfD]: Ach nein! Weil Sie nicht hatten. zu blöd zum Abstimmen sind, ist das eine Bla- (Stephan Brandner [AfD]: Verhöhnen Sie nicht mage für Sie!) das Bundesverfassungsgericht!) Und Sie haben auch nur Häme und höhnisches Lachen – Nein, das tue ich überhaupt nicht. Ich verhöhne es über- übrig. Das merke ich jetzt auch wieder an der Debatte. haupt nicht. Ich finde es heftig, wie Sie das Verfassungs- Diese Kommentare, die jetzt kommen, sind einfach nur gericht für Ihre Zwecke missbrauchen. Das will ich an peinlich. dieser Stelle erwähnt haben. (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Das Ganze passiert nur, weil Sie eben die Gunst der GRÜNEN – Dr. Alexander Gauland [AfD]: Stunde genutzt haben, dass damals in der Nacht nur weni- Ihre Fehler können Sie nicht uns zuschreiben!) ge an der Abstimmung teilgenommen haben. Tatsache ist, dass es aufgrund der vielen Patente, die es in Deutschland gibt, jetzt auf die deutsche Zustimmung (Stephan Brandner [AfD]: Das ist unser gutes und Ratifizierung ankommt. Mindestens 13 Staaten müs- Recht! Wir leben in einem Rechtsstaat! – sen ratifiziert haben. Unter diesen 13 Staaten müssen Dr. Götz Frömming [AfD]: Unverschämt!) eben auch jene sein, die besonders viele Patente haben. Wir behandeln eben manchmal auch nachts Tagesord- Deswegen: Wenn Deutschland seine Stimme jetzt nicht nungspunkte; das ist nun mal so bei vielen Fraktionen abgibt, dann können wir das nicht ratifizieren. und vielen Anträgen. Wir versuchen das ja auch schon Es bedeutet eine Erleichterung, ein Patentgericht zu über die Woche zu strecken. Aber es ist nun mal so, dass haben. Erst einmal ersetzt ein europäisches Patentgericht (B) es manchmal auch nachts Tagesordnungspunkte mit (D) nicht die deutschen Patentgerichte, sondern schafft eine Abstimmungen gibt. Bündelung für die europäischen Patente, die sonst eine Zudem ist es ein Ratifizierungs-, ein Zustimmungsge- Summe aus verschiedenen Patenten sein müssten. Mit setz gewesen, an dem wir auch nicht groß etwas ändern dieser Institution ist eine europäische Patentierbarkeit konnten, weil es einfach ein zustimmendes Votum des möglich, die dann übrigens mit einem Standort in Deutschen Bundestages brauchte, um das Einheitliche Deutschland für diejenigen leicht erreichbar sein wird, Patentgericht in Kraft zu setzen. Aber Sie haben dann die sich an dieses Gericht wenden wollen. mal eben durchgezählt, gesehen: „Ups, das könnte pas- Insofern möchte ich jetzt hierauf auch nicht weitere sen, dass die Zweidrittelmehrheit nicht zustande kommt“, Worte verwenden, und dann haben Sie einfach die Gunst der Stunde genutzt und das Verfassungsgericht bemüht, was natürlich dann (Stephan Brandner [AfD]: Nein, ist auch gut rechtmäßigerweise entscheiden muss und durchzählen jetzt! Sechs, setzen!) musste, und dann lief das so, wie Sie das geplant haben. weil wir im Bundestag damit durch waren. Wir haben es Aber Sie haben das Verfassungsgericht insofern miss- schon längst ratifiziert. Wir formalisieren diesen Schritt braucht, als ja die gegebene Mehrheit in den Fraktionen, jetzt auch noch mit der heutigen Abstimmung. in den Zustimmungswerten sehr wohl da war, und das Und Sie können weiter brüllen, Sie können uns weiter wussten Sie auch die ganze Zeit. Aber Sie haben das beschädigen und Deutschland mit Ihrer Manier beschä- trotzdem so gewählt, und das Verfassungsgericht musste digen, dem dann eben so auch entsprechen, weil es eben zähl- technisch so war, wie Sie das erzielen wollten. (Zuruf von der AfD: Das schaffen Sie ganz allein!) Insofern müssen wir heute formal die Zustimmungs- werte, die im Plenum mit den Fraktionen gegeben waren, etwas anzukreiden und das Verfassungsgericht zu bemü- jetzt noch einmal abgeben. hen. Lassen Sie sich davon nicht abbringen, wenn Sie das nötig haben. Das ist ein schlechter Politikstil. (Stephan Brandner [AfD]: Sie haben Mist gebaut! Geben Sie es zu!) Ich hoffe, dass die Wählerinnen und Wähler das auch bald merken werden, die Ihnen bisher die Treue geschwo- Diese Zweidrittelmehrheit wird natürlich heute erreicht ren haben. werden. Wir werden ja auch eine namentliche Abstim- mung darüber haben. Insofern wird das heute ratifiziert (Stephan Brandner [AfD]: Spezialdemokra- werden. ten!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24661

Dr. Nina Scheer (A) Ich finde es nur noch peinlich und hoffe auf eine breite Vizepräsident in Petra Pau: (C) Zweidrittelmehrheit und darüber hinausgehende Stim- Ich gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen und men. Die Ankündigungen aus dem Ausschuss lassen Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen das hoffen. Abstimmung zum Antrag der FDP-Fraktion „Deutsche EU-Ratspräsidentschaft nutzen, Ankündigungen umset- zen – Errichtung einer Europäischen Bank für nachhalti- Vielen Dank. ge Entwicklung und internationalen Klimaschutz“ bekannt: Abgegebene Stimmkarten 643. Mit Ja stimmten 562 Abgeordnete, mit Nein haben 81 Abgeordnete (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gestimmt, kein Abgeordneter hat sich enthalten. Die Be- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) schlussempfehlung ist angenommen.

Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 641; Hans-Joachim Fuchtel Dr. Andreas Nick davon Ingo Gädechens Markus Koob ja: 560 Dr. Carsten Körber Dr. Georg Nüßlein nein: 81 Alexander Krauß Florian Oßner Ja Dr. Günter Krings CDU/CSU Ursula Groden-Kranich Rüdiger Kruse Hermann Gröhe Ingrid Pahlmann Dr. Klaus-Dieter Gröhler Dr. Roy Kühne Sylvia Pantel Michael Grosse-Brömer Dr. Dr. h. c. Karl A. Lamers Norbert Maria Altenkamp Astrid Grotelüschen Andreas G. Lämmel Dr. Markus Grübel Artur Auernhammer Ulrich Lange Dr. Christoph Ploß Dr. Dorothee Bär Monika Grütters Fritz Güntzler Paul Lehrieder Maik Beermann Dr. (Börde) Dr. (B) Alois Rainer (D) Veronika Bellmann Dr. Jürgen Hardt Dr. André Berghegger Dr. Mark Hauptmann Dr. Nikolas Löbel Johannes Röring Peter Beyer Mechthild Heil Dr. Norbert Röttgen Dr. Jan-Marco Luczak (Chemnitz) Erwin Rüddel Mark Helfrich Dr. Rudolf Henke Karin Maag Michael Brand (Fulda) Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Dr. Thomas de Maizière Silvia Breher Ansgar Heveling Dr. Dr. Matern von Marschall Christian Schmidt (Fürth) Ralph Brinkhaus Hans-Georg von der Dr. Alexander Hoffmann Marwitz Dr. Patrick Schnieder Alexander Dobrindt Dr. (Altötting) Nadine Schön Dr. Marie-Luise Dött Dr. Klaus-Peter Schulze Hansjörg Durz Dr. h. c. (Univ Kyiv) Hans Thomas Erndl Ingmar Jung Michelbach Hermann Färber Alois Karl Dr. Torbjörn Kartes Karsten Möring Axel E. Fischer (Karlsruhe- Dr. Land) Dr. Stefan Kaufmann Axel Müller Bernd Siebert Dr. Sepp Müller Michael Kießling Carsten Müller Björn Simon Dr. Hans-Peter Friedrich Dr. (Braunschweig) (Hof) Stefan Müller (Erlangen) 24662 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

(A) Dr. Wolfgang Stefinger Leni Breymaier Bettina Müller AfD (C) Dr. Karl-Heinz Brunner Detlef Müller (Chemnitz) Dr. Michelle Müntefering Marc Bernhard Dr. (Rostock) Dr. Rolf Mützenich Andreas Bleck Sebastian Steineke Ulli Nissen Dr. Daniela De Ridder Mahmut Özdemir Stephan Brandner (Duisburg) Christian Frhr. von Stetten Dr. Karamba Diaby Jürgen Braun Aydan Özoğuz Marcus Bühl Sabine Dittmar Matthias Büttner Dr. Petr Bystron Saskia Esken Tino Chrupalla Dr. Hermann-Josef Dr. Johannes Fechner Joana Cotar Tebroke Dr. (Minden) Dr. Hans-Jürgen Thies Dr. Berengar Elsner von Dr. Gronow Mechthild Rawert Dr. Michael Espendiller Angelika Glöckner Sönke Rix Dietmar Friedhoff Dr. Volker Ullrich Dennis Rohde Dr. Anton Friesen Dr. Markus Frohnmaier Michael Groß Dr. Dr. Götz Frömming Volkmar Vogel Uli Grötsch Michael Roth (Heringen) (Kleinsaara) Susann Rüthrich Franziska Gminder Rita Hagl-Kehl Bernd Rützel Mariana Iris Harder-Kühnel Dr. Roland Hartwig Dr. Johann David Wadephul Johann Saathoff Udo Theodor Hemmelgarn Axel Schäfer (Bochum) (Peine) Dr. Nina Scheer Marianne Schieder Dr. Heiko Heßenkemper (Hamburg) Dr. Karsten Hilse Dr. Barbara Hendricks Dr. Anja Weisgerber (Aachen) Nicole Höchst (B) Gabriele Hiller-Ohm (D) Peter Weiß (Wetzlar) (Emmendingen) (Erfurt) Dr. Bruno Hollnagel Leif-Erik Holm Johannes Huber Oliver Kaczmarek Annette Widmann-Mauz Dr. Bettina Margarethe (Spandau) Gabriele Katzmarek Wiesmann Norbert Kleinwächter Klaus-Peter Willsch Enrico Komning Elisabeth Winkelmeier- Steffen Kotré Dr. Rainer Kraft Becker Rita Schwarzelühr-Sutter Dr. Bärbel Kofler Rüdiger Lucassen -Emre Jens Maier Martina Stamm-Fibich Dr. Birgit Malsack- Sonja Amalie Steffen Dr. Christian Lange Winkemann (Backnang) Dr. Karl Lauterbach Hansjörg Müller SPD Volker Münz Michael Thews Sebastian Münzenmaier Ingrid Arndt-Brauer Kirsten Lühmann Markus Töns Isabel Mackensen Carsten Träger Jan Ralf Nolte Heike Baehrens Gerold Otten Marja-Liisa Völlers Tobias Matthias Peterka Christoph Matschie Dirk Vöpel Paul Viktor Podolay Dr. Dr. Martin Reichardt Sören Bartol Martin Erwin Renner Bärbel Bas Susanne Mittag Gülistan Yüksel Roman Johannes Reusch Dagmar Ziegler Ulrike Schielke-Ziesing (Heidelberg) Jörg Schneider Dr. Siemtje Möller Dr. Jens Zimmermann Uwe Schulz Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24663

(A) Thomas Seitz Friedrich Straetmanns Tabea Rößner Dr. (C) Dr. Kirsten Tackmann Claudia Roth (Augsburg) Manuel Höferlin Dr. Dr. Manuela Rottmann Dr. Christoph Hoffmann Beatrix von Storch Manuel Sarrazin Dr. Alice Weidel Kathrin Vogler Ulle Schauws Dr. Harald Weyel Andreas Wagner Dr. Frithjof Schmidt Olaf In der Beek Stefan Schmidt Dr. Kordula Schulz-Asche Dr. Dr. Christian Wirth Sabine Zimmermann Dr. Wolfgang Strengmann- Uwe Witt (Zwickau) Kuhn Dr. Marcel Klinge DIE LINKE BÜNDNIS 90/ Pascal Kober DIE GRÜNEN Jürgen Trittin Doris Achelwilm Dr. Dr. Lukas Köhler Gökay Akbulut Daniela Wagner Carina Konrad Beate Walter-Rosenheimer Wolfgang Kubicki Dr. Dietmar Bartsch Matthias W. Birkwald Dr. -Förster Canan Bayram Alexander Graf Lambsdorff Dr. Franziska Brantner Fraktionslos Ulrich Lechte Agnieszka Brugger Christian Lindner Dr. Birke Bull-Bischoff Dr. Marco Bülow Jörg Cezanne Janosch Dahmen (Heilbronn) Ekin Deligöz Oliver Luksic Anke Domscheit-Berg Katharina Dröge Nein Harald Ebner AfD Dr. Jürgen Martens Susanne Ferschl Matthias Gastel Dr. Alexander Gauland Alexander Müller Dr. Gregor Gysi Roman Müller-Böhm Dr. André Hahn Katrin Göring-Eckardt Armin-Paulus Hampel Frank Müller-Rosentritt Heike Hänsel Matthias Höhn Anja Hajduk Dr. (Lausitz) Britta Haßelmann (B) Matthias Nölke (D) Dr. Bettina Hoffmann FDP Kerstin Kassner Dr. Anton Hofreiter Grigorios Aggelidis Dr. Achim Kessler Renata Alt Christine Aschenberg- Dr. h. c. Thomas Sattelberger Jan Korte Dr. Kirsten Kappert- Dugnus Gonther Nicole Bauer Frank Schäffler Caren Lay Uwe Kekeritz Jens Beeck Dr. Dr. Matthias Seestern-Pauly Ralph Lenkert Sven-Christian Kindler (Rhein-Neckar) Frank Sitta Maria Klein-Schmeink Judith Skudelny Sylvia Kotting-Uhl (Südpfalz) Dr. Hermann Otto Solms Dr. Gesine Lötzsch Sandra Bubendorfer-Licht Bettina Stark-Watzinger Christian Kühn (Tübingen) Dr. Marco Buschmann Dr. Marie-Agnes Strack- Pascal Meiser Renate Künast Carl-Julius Cronenberg Zimmermann Amira Mohamed Ali Markus Kurth Britta Katharina Dassler Cornelia Möhring Bijan Djir-Sarai Katja Suding Niema Movassat Sven Lehmann Christian Dürr Zaklin Nastic Steffi Lemke Michael Theurer Dr. Alexander S. Neu Dr. Dr. Stephan Thomae Petra Pau Dr. Daniel Föst Sören Pellmann Claudia Müller Dr. Beate Müller-Gemmeke Dr. Andrew Ullmann Tobias Pflüger Dr. Omid Nouripour Johannes Vogel (Olpe) Katrin Helling-Plahr Eva-Maria Schreiber Cem Özdemir Markus Herbrand Dr. Petra Sitte Torsten Herbst Katharina Willkomm Helin Evrim Sommer Abgeordnete, die sich wegen gesetzlichen Mutterschutzes für ihre Abwesenheit entschuldigt haben, sind in der Liste der entschuldigten Abgeordneten (Anlage 1) aufgeführt. 24664 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

(A) (C) Wir fahren in der Debatte fort. Das Wort hat der Abge- damit den einzigen Trumpf, den wir noch in der Hand ordnete für die AfD-Fraktion. haben, um das Ding sicher nach München zu holen, aus der Hand geben. Weiß das der Söder Markus, wie hier mit (Beifall bei der AfD) bayerischen Interessen umgegangen wird? Ich denke mal, bayerische Abgeordnete täten jetzt gut daran, die- Roman Johannes Reusch (AfD): sem Gesetz heute nicht zuzustimmen. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Also, Frau Kollegin Dr. Scheer, jetzt haben Sie mich wirklich (Beifall bei der AfD) sehr überrascht; denn zu viel der Ehre: Das waren nicht Dann hätte die Bundesregierung nämlich noch die Chan- wir. Wir haben uns nicht an das Verfassungsgericht ce, das zu reparieren. gewandt. Das war eine Verfassungsbeschwerde. Als das Wir werden nicht zustimmen. Den anderen wünsche Gesetz beschlossen wurde, mit dem zum ersten Mal rati- ich einen fröhlichen Ritt über den Bodensee – Augen zu fiziert wurde, waren wir noch gar nicht im Bundestag. und durch, wie Sie es gerne machen. Ganz im Gegenteil: Bei der letzten Debatte über die Rati- fizierung hatten wir beantragt, das Gesetz aufzuheben, Ich danke für die Aufmerksamkeit. mit dem Sie ratifiziert haben, um dem Bundestag diese (Beifall bei der AfD) Blamage zu ersparen, die dann eingetreten ist. (Beifall bei der AfD) Vizepräsident in Petra Pau: Sie haben es ganz allein zu verantworten, dass es dazu Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege gekommen ist. Hätten Sie auf uns gehört, wäre das alles Ingmar Jung das Wort. glimpflicher abgelaufen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Dr. Nina Scheer [SPD]: Sie stecken doch hin- ter der Beschwerde!) Ingmar Jung (CDU/CSU): Nun sollte man meinen: Aus Schaden wird man klug. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Hier geschieht dies aber scheinbar nicht. Unbeirrt wird Herren! Wir ratifizieren heute hoffentlich mit Zweidrit- fortgefahren. Bisher gab es zu dieser Sache noch keine telmehrheit das Übereinkommen über ein Einheitliches Anhörung im Rechtsausschuss. Wir machen im Rechts- Patentgericht. Das Übereinkommen ist 2013 geschlossen ausschuss alle möglichen Anhörungen, zum Beispiel worden. Tatsächlich ist es hier bereits einmal ratifiziert über das – wie heißt das? – Containern von Lebensmit- worden. Ich war damals noch nicht im Bundestag; ich (B) teln, aber nicht über hochkomplexe Fragen wie diese. Seit glaube aber, es war sogar einstimmig. Das Bundesver- (D) Beginn des Projektes „Europäisches Patentgericht“ wer- fassungsgericht hat nun im Februar dieses Jahres die Auf- den in der Literatur erhebliche Angriffe dagegen geführt: fassung vertreten, dass es dann, wenn man Rechtsspre- unionsrechtliche Unverträglichkeit, Verfassungswidrig- chungskompetenzen an ein supranationales Gericht keit; es soll völlig überflüssig sein, so heißt es, mittel- abgibt und damit auch gewisse Kompetenzen deutschen standsfeindlich. All diese Angriffe von ernstzunehmen- Gerichten entzieht, zwar keine formelle Verfassungsän- den Leuten hätte man sich im Rechtsausschuss doch wohl derung ist, weshalb das formelle Verfassungsänderungs- mal anhören müssen, um eine informierte Entscheidung verfahren nicht durchgeführt werden muss, aber die ent- zu treffen. sprechenden Mehrheiten gleichwohl da sein müssen, also eine klar festgestellte Zweidrittelmehrheit. Die war (Beifall bei der AfD) damals nicht erreicht. Das ist nicht geschehen. Noch letzten Mittwoch haben Es ist natürlich in Ordnung, dass das vor einem Gericht alle Fraktionen unseren Antrag im Rechtsausschuss auf überprüft wird. Durchführung einer Sachverständigenanhörung abge- lehnt. (Stephan Brandner [AfD]: Frau Scheer sieht das anders!) Hinzu kommt, dass wir durch den Brexit eine völlig neue Sachlage haben. Nach bisheriger Übung gab es nach Das ist das Recht eines jeden. Es ist auch in Ordnung, meiner Information zwei Länder, deren Gerichte so etwas dass das Bundesverfassungsgericht es so entschieden hat. wie die Leitfunktion für alle anderen hatten: Das waren Aber es ist genauso in Ordnung, dass man richtige Ver- deutsche und englische Patentgerichte. Nun sind die Eng- fahren dann noch mal durchführt und wir heute die Ratifi- länder durch den Brexit weg; jetzt sind also die deutschen zierung vornehmen, meine Damen und Herren. Gerichte übrig, die eine Leitfunktion einnehmen könnten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Wo ist das Problem? Weswegen muss man da noch ein der SPD) europäisches Gericht einrichten? Vielleicht sprechen wir doch auch mal über den Inhalt: Aber selbst wenn man Gründe sucht und findet, das zu Warum ist das Übereinkommen eigentlich so wichtig? machen, dann gibt es noch ein nächstes Problem, das aus Wie war denn die Situation in den letzten Jahren und dem Brexit folgt: Ein Sitz dieses Patentgerichts sollte ja Jahrzehnten? Letztlich ist es ja ein ganz langer Prozess in Großbritannien sein. Das ist weggefallen. Jetzt ist ein der europäischen Patentreform, den wir heute zumindest deutsches Interesse, ihn nach München zu holen; aber es in einem Abschnitt hoffentlich abschließen; denn in Kraft gibt keinerlei Vereinbarungen, das ist längst nicht in Sack treten kann das Übereinkommen in der Tat nur mit einer und Tüten. Und jetzt wollen wir hier ratifizieren und Ratifizierung durch Deutschland. Denken wir in die Zeit Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24665

Ingmar Jung (A) vor 1977 zurück: Da war es so, dass es im Patentrecht in uns herum, in denen wir das Patent anmelden wollen; wir (C) Europa überhaupt keine Vereinheitlichung gab. Wenn Sie können dir aber nicht sagen, ob wir am Ende in fünf dann eine Erfindung zum Patent anmelden wollten, zum gewinnen, in drei gegen den Wettbewerber verlieren, Beispiel in fünf Staaten, dann mussten Sie fünf Anmelde- den wir möglicherweise schon kennen, und uns noch verfahren durchlaufen, möglicherweise in fünf Sprachen dreimal vergleichen“, dann ist das doch nicht attraktiv. die Anmeldung verfassen, fünf unterschiedliche Voraus- Wenn wir hier dauernd alle gemeinsam erzählen, dass setzungen erfüllen. Wenn Sie Glück hatten, haben Sie Innovation und Forschung die Stärken Deutschlands dann fünf Patente bekommen. Wenn Sie die Patente sind, wenn wir die entsprechenden Gelder, die Förderun- gegen einen Wettbewerber durchsetzen wollten, hatten gen erhöhen, dann müssen wir doch, verdammt noch mal, Sie fünf verschiedene Verletzungsverfahren, und wenn in einem zusammenrückenden Binnenmarkt denen, die Sie sie verteidigen wollten, fünf Nichtigkeitsverfahren. die Erfindungen machen und die Forschung voranbrin- Das war in einem zusammenrückenden Europa nicht gen, die Möglichkeit geben, ihre Erfindungen wirksam besonders effizient, wie man sich vorstellen kann. innerhalb dieses Binnenmarktes zu schützen, und zwar Deswegen gibt es seit 1977 das Europäische Patentamt einheitlich. Deswegen ist es ein großer Schritt nach vor- mit seinem Hauptsitz in München. Seitdem haben Sie die ne, wenn wir heute diese Ratifizierung vornehmen, meine Möglichkeit, bei einem Amt mit einem Anmeldevorgang Damen und Herren. ein Patent für ganz Europa oder für die Mitgliedstaaten, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- in denen Sie es beantragen wollen, zu beantragen und ordneten der FDP) dann auch zu erwerben. Das ist auf der Anmeldeseite ein großer Schritt nach vorne gewesen; aber es hat auch – Ich muss mal Luft holen. Der Vortrag war etwas länger. einen weiteren Effekt: Die Situation ist dann nämlich so, Das kann man natürlich am Ende anders sehen – etwa dass dieses Patent, wenn Sie es denn bekommen, in dem so, wie wir es tatsächlich auch schon einmal diskutiert Moment, in dem Sie es bekommen, unmittelbar wieder in haben –; aber ich glaube, dass dieses Übereinkommen ein sogenanntes Bündelpatent zerfällt und Sie somit, nur von Vorteil sein kann, meine Damen und Herren. wenn Sie es in zehn Staaten angemeldet haben, zehn Wenn wir am Ende in der Welt konkurrenzfähig bleiben nationale Einzelpatente haben. Das wäre an sich nicht wollen, wenn wir voll im Wettbewerb bleiben wollen, so schlimm. Das Problem ist: In einem zusammenrück- dann muss doch unser Binnenmarkt einheitliche Regeln enden Binnenmarkt oder in einem vollendeten Binnen- und einheitlichen Schutz bei Erfindungen bieten. Ich bin markt, wie wir ihn eigentlich heute haben, haben Sie dann der festen Überzeugung, meine Damen und Herren, dass auch in dem Fall, dass ein Wettbewerber auf den Plan am Ende der Forschungs- und Innovationsstandort Euro- tritt, wenn Sie es durchsetzen wollen, zehn Verletzungs- pa davon profitiert, insbesondere der Innovationsstandort (B) verfahren vor zehn nationalen Gerichten und zur Vertei- des größten Mitgliedstaats mit starken Innovationen, und (D) digung zehn Nichtigkeitsverfahren. Und wenn dann das das ist Deutschland. Ergebnis ist – das kann bei unterschiedlichen Rechtsord- Wenn man es anders sieht, kann man populistisch das nungen rauskommen –, dass Sie fünfmal gewinnen, drei- Lied des Protektionismus singen, wie wir es beim letzten mal verlieren, sich zweimal vergleichen, haben Sie einen Mal gehört haben. Ich glaube aber, es ist besser, wir ver- Flickenteppich innerhalb des europäischen Binnen- abschieden jetzt das Übereinkommen und machen den markts, der Forschung und Innovation nicht fördern nächsten Schritt im europäischen Patentrecht. Ich wäre kann und nachteilig ist. Deswegen, meine Damen und dankbar, wenn am Ende mindestens zwei Drittel zustim- Herren, ist es gut, dass wir heute eine neue Regelung men. treffen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Sie haben, wenn es heute funktioniert, in Zukunft die Möglichkeit, weiterhin nationale Patente zu beantragen, (Beifall bei der CDU/CSU) Sie können auch weiterhin ein Bündelpatent beantragen, aber Sie haben zusätzlich die Möglichkeit, ein europä- Vizepräsident in Petra Pau: isches Einheitspatent zu beantragen – bei einem Amt, Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Roman mit einem Anmeldevorgang und vor allen Dingen mit Müller-Böhm das Wort. einem Verfahren zur Verteidigung und zur Durchsetzung, und dann mit Geltung in allen Mitgliedstaaten, für die Sie (Beifall bei der FDP) das beantragt haben. Dass das Vorteile hat, meine Damen und Herren, das liegt doch nun wirklich auf der Hand. Roman Müller-Böhm (FDP): Letztlich ist es der nächste Schritt zur Vollendung oder Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen zur Weiterentwicklung eines europäischen Binnenmarkts und Kollegen! Was wir heute hier beraten, ist nicht neu. für Forschung und Innovation, und es stärkt doch unsere Ganz im Gegenteil: Bereits seit den 60er-Jahren wird eine Wettbewerbsfähigkeit. Reform im europäischen Patentsystem angestrebt. Es Stellen Sie sich das Start-up in Deutschland vor, das gab – das wurde vorhin bereits gesagt – am 10. März 2017 eine Idee hat, das eine Innovation hat, das diese zum wirklich einen einstimmigen Beschluss der damals hier Patent anmelden will, und einen Investor sucht. Der vertretenen Fraktionen. Allerdings nahmen zu dem Zeit- Investor kann sich aussuchen, ob er in den USA, in Asien punkt nur 38 Abgeordnete an der Sitzung teil. Das Bun- oder aber in Deutschland investiert. Und wenn das junge desverfassungsgericht machte jüngst – im Februar – mit Start-up mit einer guten Idee ihm dann erklärt: „Pass auf, seinem Urteil sehr deutlich, dass die Übertragung von wir haben so fünf, sechs, sieben, acht, zehn Länder um Hoheitsrechten gemäß Artikel 23 Absatz 1 Grundgesetz 24666 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Roman Müller-Böhm (A) in Verbindung mit Artikel 79 Absatz 2 Grundgesetz in der vom 19. Februar 2013 über ein Einheitliches Patentge- (C) Form der Zustimmung einer Zweitdrittelmehrheit des richt. Der gesetzliche Handlungsbedarf ist gegeben, da Deutschen Bundestages bedurft hätte. Insofern ist ein beim letzten Mal die Notwendigkeit einer Zweidrittel- Formfehler unterlaufen. Der muss heute behoben werden, mehrheit im Bundestag ignoriert wurde und das Bundes- und das ist auch gut so. Wenn ich mir heute die Reihen verfassungsgericht das Gesetz folgerichtig kassierte. hier anschaue, dann stelle ich erfreut fest, dass es ein großes inhaltliches Interesse an diesem Thema gibt. Vorab gesagt: Meine Fraktion wird hier zustimmen. Das Projekt, den Patentschutz in der Europäischen Union (Beifall bei der FDP) zu vereinheitlichen, ist wirtschafts- und rechtspolitisch Deswegen mache ich mir auch keine Sorgen, dass wir sinnvoll. Als Linke würden wir uns allerdings wünschen, heute ein Problem mit der Zweidrittelmehrheit bekom- dass Sie auch in Fragen der humanitären europäischen men werden. Asylpolitik und bei gemeinsamen Steuerfragen zur Ver- meidung der Steuerflucht von Großkonzernen mal zu Es wurde ja bereits gesagt, dass sich am Inhalt des brauchbaren Ergebnissen kommen würden. Gesetzentwurfs bis auf ein paar Feinheiten und Aktuali- sierungen nichts geändert hat. Deshalb möchte ich noch (Beifall bei der LINKEN) mal unterstreichen, warum es richtig ist, heute zuzustim- men. Nun einige kritische Anmerkungen zum vorliegenden Gesetzentwurf. Seit 2013 ist in der EU einiges passiert. Das neu zu schaffende Einheitliche Patentgericht soll Durch den Brexit fällt mit dem Vereinigten Königreich für die Verletzung und Rechtsgültigkeit von europäischen ein für den Bereich des Patentwesens maßgebliches Land Patenten in einem einheitlichen Verfahren zuständig sein. aus der EU heraus. Die Europäische Union ist auch darü- Derzeit ist es so – das wurde bereits gesagt –, dass oftmals ber hinaus mal wieder zerstritten. Ich frage mich daher, die nationalen Gerichte und Behörden über die Verlet- ob die Bundesregierung wirklich gewährleisten kann, zung und Rechtsgültigkeit von europäischen Patenten dass die angestrebte Harmonisierung auch realisiert entscheiden. Das kann in der Praxis zu den genannten wird. Es wäre jedenfalls ärgerlich, wenn das Thema man- Problemen führen, beispielsweise zu einer unterschied- gels ausreichender Sondierungen mit den anderen Mit- lichen Rechtsprechung in den einzelnen Mitgliedstaaten, gliedstaaten sogar ein drittes Mal hier im Bundestag lan- und dazu, dass alle an den Verfahren beteiligten Akteure den würde. Gerade der Wegfall der Abteilung des enorm hohe Kosten haben, weil in vielen Ländern die Patentgerichts am Standort London dürfte bei den ande- gleiche Klage erhoben werden muss. Das führt darüber ren Mitgliedstaaten Diskussionsbedarf wecken. Wenn die hinaus zu dem Problem des sogenannten Forum Shop- Bundesregierung hierüber Kenntnisse haben sollte, die pings. Das heißt, es wird sich oftmals das Land für die geeignet sind, diese Bedenken zu zerstreuen, hätte sie (B) Klageerhebung ausgesucht, in dem die Situation für die (D) diese im Gesetzentwurf auch nennen sollen, um uns eigenen taktischen Interessen vermeintlich am besten ist. hier im Parlament vollständig zu informieren. Insofern dient das Einheitliche Patentgericht also auch der Rechtsharmonisierung, und das ist ganz im Sinne (Beifall bei der LINKEN) des europäischen Gedankens. Ich habe natürlich Verständnis, dass die Bundesregie- Das ist aber nicht nur abstrakt generell gut, sondern rung dieses große Projekt noch in dieser Wahlperiode auch gut für Deutschland; denn im europäischen Ver- abschließen will, und will nicht abstreiten, dass das in gleich ist Deutschland – Stand 2019 – Spitzenreiter mit der Sache sinnvoll ist. Der mühsame Prozess der Validie- gut 26 000 europäischen Patenten. Das heißt, man kann rung eines Patents in jedem Mitgliedstaat ist längst nicht sagen, dass wir hier nicht nur etwas für die Europäische mehr haltbar. Dass die dadurch entstehenden Lücken im Union und den fairen Wettbewerb tun, sondern durchaus Patentschutz möglicherweise durch private Schiedsge- auch für Rechtssicherheit für deutsche Unternehmen sor- richte gefüllt werden, kann auch niemand wollen. gen, und das ist gut. Patente und ihr Schutz sind ein wichtiger ökonomi- (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE scher Faktor und Grundlage für eine innovative und pros- GRÜNEN]: Ja!) perierende Gesellschaft. Daher stimmen wir Freien Weiterhin möchte ich zu bedenken geben, dass die in Demokraten dem Gesetzentwurf heute zu. der Verfassungsbeschwerde an das Bundesverfassungs- Vielen Dank. gericht erhobenen materiellrechtlichen Einwände auf- (Beifall bei der FDP) grund der Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde in diesen Fragen bisher nicht gewürdigt wurden. Ich persön- lich habe hier zwar keine großen Bedenken, hätte mir Vizepräsident in Petra Pau: aber von der Bundesregierung durchaus gewünscht, Das Wort hat der Kollege Friedrich Straetmanns für die dass sie auf diese Einwände in der Begründung des Fraktion Die Linke. Gesetzentwurfs näher eingeht. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Friedrich Straetmanns (DIE LINKE): Meine Fraktion wird diesem Gesetzentwurf trotz der Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- Tatsache, dass hier und da offenbar mit heißer Nadel nen und Kollegen! Wir beraten heute die Vorlage der gestrickt wurde, zustimmen. Wir sind davon überzeugt, Bundesregierung zu einem Gesetz zum Übereinkommen dass es einen vernünftig geregelten Patentschutz, der Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24667

Friedrich Straetmanns (A) gleichzeitig auch Kreativität fördert, braucht. Nun ist Gerade für die deutsche Wirtschaft bietet das europä- (C) allerdings die Bundesregierung gefordert, aus der Zweit- ische Einheitspatent große Vorteile. Warum die AfD drittelmehrheit auch inhaltlich etwas zu machen. genau das verhindern will, ist mir unbegreiflich. Schließ- lich kommen 40 Prozent der Patentanmelder aus Vielen Dank. Deutschland. Sie sind also nicht nur europafeindlich, son- (Beifall bei der LINKEN) dern auch noch deutschlandfeindlich. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vizepräsident in Petra Pau: sowie des Abg. Ingmar Jung [CDU/CSU]) Das Wort hat die Kollegin Tabea Rößner für die Frak- Mit dem Rückzug Großbritanniens hat sich die Aus- tion Bündnis 90/Die Grünen. gangslage für das Übereinkommen verändert; das ist richtig. London fällt als Standort weg. Daher müssen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wir die damit verbundenen Problemstellungen angehen, wie übrigens auch weiter gehende Fragestellungen, zum Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Beispiel zu Software im Patentrecht. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin 16 Staaten haben das Übereinkommen bereits ratifi- froh, dass wir das Einheitliche Patentgericht heute ver- ziert. Jetzt fehlt nur noch Deutschland. Wir Grüne sagen fassungskonform auf den Weg bringen. Es ist wertvolle daher Ja zu mehr Europa. Zeit verstrichen, wertvolle Zeit, die besser genutzt wor- den wäre, Europa als Technologiestandort zu stärken; Vielen Dank. denn nur damit sind wir wettbewerbsfähig gegenüber (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) den aufstrebenden Regionen Asiens und Technologiena- tionen wie den USA. Deshalb ist das Einheitliche Patent- Vizepräsident in Petra Pau: gericht wichtig und muss endlich kommen. Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Alexander Hoffmann für die CDU/CSU-Fraktion. Warum ist es wichtig? Mit dem europäischen Einheit- (Beifall bei der CDU/CSU) lichen Patentgericht kann nun auch der Patentschutz in allen teilnehmenden Staaten geltend gemacht werden. Alexander Hoffmann (CDU/CSU): Das schafft mehr Rechtssicherheit und erspart Rechte- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen inhabern einiges an Aufwand und vor allen Dingen und Kollegen! Wir haben es gehört: Das europäische Ein- (B) auch an Geld; denn wenn beispielsweise ein Patent heitliche Patentgericht hat jetzt schon eine bewegte His- (D) nach geltendem Recht in mehreren Ländern mit Nichtig- torie hinter sich, obwohl das Gericht noch gar nicht keitsklagen überzogen wird, birgt das aufgrund der ver- errichtet ist. Deutschland hat das Übereinkommen darü- schiedenen Gerichtsbarkeiten ein hohes Prozessrisiko ber schon 2013 unterzeichnet. Das Vertragsgesetz zu dem und kann sehr teuer werden. Übereinkommen und dem Protokoll ist 2017 in diesem Haus schon einmal beschlossen worden. Heute brauchen Damit der europäische Patentschutz seine Wirkung wir – so hat es uns das Bundesverfassungsgericht mit auf entfaltet und gegen Patentverletzer durchgesetzt werden den Weg gegeben – eine Zweidrittelmehrheit, um es kann, muss das Patent im Anschluss an die Erteilung wirksam zu beschließen. noch validiert werden. Die neuen Regelungen stellen sicher, dass das in den Vertragsstaaten nicht mehr einzeln Ich will ein paar Sätze über die Ausformung des erfolgen muss. Zukünftig können alle erforderlichen Gerichts sagen, weil das gerade im Hinblick auf die Dar- Schritte in einem einheitlichen Verfahren erledigt wer- stellung vom Kollegen Reusch wichtig erscheint. Geplant den, vom Einreichen von Übersetzungen bis hin zum ist eine internationale Institution, die ihren Sitz in Bestellen von Vertretern. Luxemburg hat. Es wird drei Bestandteile geben: ein Gericht erster Instanz, ein Berufungsgericht und eine Trotz etwas höherer Kosten rechnet sich das am Ende, Kanzlei. Bei der Frage, wo was liegen soll, wird es, nämlich sobald ein Patentschutz in zwei oder drei Län- Herr Reusch, für Deutschland schon interessant, weil dern angestrebt wird. Und es führt zu höherer Rechts- eine Abteilung der Zentralkammer beim Gericht der ers- sicherheit. Davon profitieren gerade die kleinen und mitt- ten Instanz sehr wohl nach München kommt. Dann gibt leren Unternehmen. es auch beim Gericht erster Instanz Lokalkammern, die nach Düsseldorf, nach Hamburg, nach Mannheim und Mit dem Übereinkommen werden also entscheidende noch mal nach München kommen. Deswegen kann ich Weichen für die fortschreitende europäische Integration Ihnen versichern: Der Söder Markus kommt damit sehr und den gemeinsamen Binnenmarkt gestellt. gut zurecht und ist heute auch froh, wenn wir das mit Mit der heutigen Zustimmung stärkt der Bundestag die Zweidrittelmehrheit beschließen. multilaterale Zusammenarbeit und beendet ein weiteres (Beifall des Abg. Ingmar Jung [CDU/CSU]) Stück nationaler Kleinstaaterei, die auf Kosten der Rechtssicherheit und Wettbewerbsfähigkeit von erfolg- Die Zielsetzung, die dahintersteckt – auch das ist ange- reichen Unternehmen und erfolgreichen Forscherinnen klungen; man muss sich das mal vorstellen –, gibt es und Forschern geht. schon seit den 1960er-Jahren. Damals war schon klar, dass der Wirtschaftsstandort Europa nur dann für Unter- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nehmen attraktiv wird, wenn er bei vielen Fragestellun- 24668 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Alexander Hoffmann (A) gen zusammenwächst. Es geht um bessere Rahmenbedin- Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (C) gungen für innovative Unternehmen. Wir brauchen ein (Beifall bei der CDU/CSU) flächendeckendes einheitliches System des Patentschut- zes in der Europäischen Union, und das vor allem in einem Verfahren, das kostengünstig ist, das effizient ist Vizepräsident in Petra Pau: und das möglichst zügig funktioniert. Deswegen muss Ich schließe die Aussprache. man sagen, dass das, was wir heute beschließen, ein Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- wesentlicher Bestandteil nicht nur für den Wirtschafts- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Über- standort Deutschland, sondern vor allem für den Wirt- einkommen vom 19. Februar 2013 über ein Einheitliches schaftsstandort Europa ist. Patentgericht. Der Ausschuss für Recht und Verbraucher- An der Stelle möchte ich schon etwas zur globalen schutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Situation von Freihandel und Welthandel sagen, weil Drucksache 19/24742, den Gesetzentwurf der Bundesre- man ehrlicherweise sagen muss, liebe Kolleginnen und gierung auf Drucksache 19/22847 anzunehmen. Ich bitte Kollegen: Seit Mitte November ist im Bereich „Welthan- diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, del und Freihandel“ eigentlich nichts mehr so, wie es mal um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- war. Wir haben schon lange einen Wettbewerb der Wirt- hält sich? – Eine Enthaltung. Der Gesetzentwurf ist damit schaftsräume. Mitte November ist ein neues Freihandels- in zweiter Beratung gegen die Stimmen der AfD-Fraktion bündnis in der Asien-Pazifik-Region zustande gekom- bei Enthaltung eines fraktionslosen Abgeordneten mit men. Man muss sich das mal vorstellen: ein Bündnis, Zustimmung aller übrigen Fraktionen angenommen. bei dem Australien dabei ist, Thailand, Singapur, Malay- Dritte Beratung sia und viele andere Staaten, insgesamt 14 Staaten mit 2,2 Milliarden Verbrauchern. Wenn man sich überlegt, und Schlussabstimmung. Ich weise darauf hin, dass zur dass wir in der Europäischen Union circa 500 Millionen Annahme des Gesetzentwurfs die Mehrheit von zwei Einwohner haben, kann man sich schon vorstellen, was Dritteln der Mitglieder des Deutschen Bundestages erfor- das für ein Ungleichgewicht der Kräfte bedeutet, meine derlich ist; das sind mindestens 473 Stimmen. Wir stim- Damen und Herren. Da hat sich kräftig etwas verschoben. men daher über den Gesetzentwurf namentlich ab. Wenn wir dann zur Kenntnis nehmen, dass wir hier Für die Stimmabgabe in der Westlobby haben Sie nach einen echten Wettbewerb der großen Wirtschaftsräume Eröffnung der Abstimmung 30 Minuten Zeit. Bitte gehen haben, stellen wir relativ schnell fest, dass die AfD mit Sie nicht alle gleichzeitig zur Abstimmung. Denken Sie ihrer Politik der nationalen Brötchen scheitern wird. bitte wieder an die Pflicht zum Tragen der Mund-Nase- Bedeckung, und halten Sie bitte den Sicherheitsabstand (B) Aber, meine Damen und Herren, zur Wahrheit auch, (D) dass diejenigen scheitern, die – so ist es auch passiert – ein. Es stehen acht Urnen zur Verfügung. Ich bitte die mit Feuer und Schwert Freihandelsabkommen wie CETA Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen oder TTIP bekämpfen; denn das wird die Zukunft sein – Plätze an den Urnen einzunehmen. – Sie sind alle an das erlaube ich mir hier zu sagen –, wenn wir in dieser ihrem Platz. Ich eröffne die namentliche Schlussabstim- globalisierten Welt im Bereich von Freihandel und Welt- mung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf handel bestehen wollen. Drucksache 19/22847. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Die Abstimmung wird um 18.17 Uhr geschlossen. Das der FDP) bevorstehende Ende der namentlichen Abstimmung wird Ihnen rechtzeitig bekannt gegeben.1) Das war jetzt ein kleiner Ausflug zur globalen Situa- tion. Ich will aber am Ende noch etwas zum Ausstieg Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a bis 17 c auf: Großbritanniens sagen; auch das ist angeklungen. Es a) Beratung des Antrags der Abgeordneten gibt Bedenken gegen die Wirksamkeitsvoraussetzungen Steffi Lemke, Renate Künast, Uwe Kekeritz, des Abkommens, weil tatsächlich vorgesehen ist, dass weiterer Abgeordneter und der Fraktion vor allem die drei patentintensiven Nationen Groß- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN britannien, Frankreich und die Bundesrepublik Deutsch- land an diesem Abkommen teilnehmen. Aber – das ist Naturzerstörung, Wildtierhandel und juristisch auch überprüft worden – es wird davon ausge- Pelztierfarmen stoppen – Risiko für gangen, dass die Vereinbarung war, dass die drei deshalb zukünftige Pandemien senken teilnehmen, um frühzeitig zu starten; denn ein Einheitli- Drucksache 19/24435 ches Patentgericht macht keinen Sinn, wenn nicht alle Überweisungsvorschlag: drei patentintensiven Nationen mit an Bord sind. Im Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (f) Umkehrschluss bedeutet das aber – das legt die Ausle- Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft gung des Gesetzestextes nahe –, dass das Ausscheiden b) Beratung des Antrags der Fraktionen der Großbritanniens keine Wirksamkeitsvoraussetzung ist, CDU/CSU und SPD sondern dass letztendlich, auch was die Frage der Stand- orte angeht, jemand anderes nachrückt. Ansonsten könnte Schutz von exotischen Tieren bei Handel ja der einfache Ausstieg eines europäischen Staates ein und Haltung verbessern – Ursachen für ganzes Abkommen zu Fall bringen, und das widerstrebt Pandemien bekämpfen den europäischen Verträgen. Stimmen Sie zu, dann machen Sie alles richtig! 1) Ergebnis Seite 24677 C Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24669

Vizepräsident in Petra Pau (A) Drucksache 19/24645 Pandemiebekämpfung konzentrieren und auf die Hilfen (C) für die Wirtschaft, Lösungen im Bereich Schulen und auf Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (f) die Vorbereitung möglicherweise weiter steigender Infek- Auswärtiger Ausschuss tionszahlen. Aber wenn wir diese Katastrophe nicht Ausschuss für Inneres und Heimat Ausschuss für Wirtschaft und Energie gleichzeitig zum Anlass nehmen, mehr und bessere Vor- Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft sorge zu treffen, dann haben wir, glaube ich, immer noch Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- lung nicht verstanden, was gerade passiert. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss Digitale Agenda (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dazu gehört erstens eine vertiefte Risikoanalyse über Judith Skudelny, Frank Sitta, Grigorios Pandemien, auch wenn wir möglicherweise den Aggelidis, weiterer Abgeordneter und der Ursprung der letzten Pandemie nie erfahren werden. Fraktion der FDP Wir wissen, dass das Virus mit hoher Wahrscheinlichkeit Verbreitung von Zoonosen im Handel mit von einem Wildtiermarkt oder von Marderhundfarmen in Wildtieren verhindern – Bessere Regeln Asien stammt. Auf die Analyse muss als zweiter Schritt statt Verbote die Risikominimierung folgen. Wir werden das Risiko Drucksache 19/24593 von Pandemien nicht völlig ausmerzen können; das ist nicht mehr möglich. Unsere Aufgabe, der wir uns jetzt Überweisungsvorschlag: parallel zuwenden müssen, ist, zu überlegen, welche Risi- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie ken wir zu welchem gesellschaftlichen und volkswirt- Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft schaftlichen Preis schnell und auch langfristig reduzieren Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- lung können. Wenn wir bis zur nächsten Pandemie damit war- ten, ist es zu spät. Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten beschlossen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich bitte, die Plätze einzunehmen. Und denken Sie bitte sowie der Abg. Dr. Barbara Hendricks [SPD]) daran, wenn Sie sich im Plenarsaal bewegen, den Mund- Uns liegt das IPBES-Arbeitspapier aus dem letzten Nase-Schutz aufzusetzen. Monat vor, das eine so deutliche Sprache spricht, wie Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin ich es persönlich nicht erwartet hatte. Ohne Prävention Steffi Lemke für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. werden Pandemien in Zukunft häufiger auftreten, und sie (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) werden noch schneller und noch tödlicher verlaufen und (D) einen größeren wirtschaftlichen Schaden mit sich brin- gen. Das ist ein so glasklarer Handlungsauftrag an alle Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Regierungen in Europa und natürlich darüber hinaus, Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und dass ich mich wundere, dass sich dieses Thema im gegen- Kollegen! Bundesgesundheitsminister Jens Spahn eröff- wärtigen Handeln so wenig niederschlägt; darauf komme nete in der vergangenen Woche die Debatte zum Infek- ich gleich noch zurück. tionsschutzgesetz mit der Aussage, dass die gegenwärtige Pandemie ein Naturereignis, eine Naturkatastrophe sei, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die schicksalhaft über uns gekommen ist. Nun kann man über den Begriff „Schicksal“ möglicherweise lange 70 Prozent der momentan neu entstehenden Krankhei- diskutieren; aber diese Pandemie ist definitiv keine ten sind Zoonosen, also Krankheiten, die von Tieren auf Naturkatastrophe. Sie ist menschengemacht. Es ist eine Menschen und umgekehrt übertragen werden können. Katastrophe mit Ansage. Alle bekannten Pandemien sind Zoonosen. Deshalb muss die Verdrängung und Zerstörung von Natur redu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ziert werden. Ich sage gar nicht: „innerhalb kurzer Zeit Wir wussten, dass das auf uns zukommt. Wir wussten beendet werden“; ich bin ja nicht illusionär. Ich weiß, es spätestens seit der SARS-Pandemie 2003, eine melde- dass wir die Vernichtung des Regenwalds nicht im nächs- pflichtige Krankheit in Deutschland. Wir wussten es, seit ten Jahr komplett stoppen werden. Aber diesem Thema die WHO einen internationalen Pandemieplan aufgestellt muss im internationalen Handeln eine höhere Priorität und von den Nationalstaaten nationale Pandemiepläne beigemessen werden. gefordert hat. Und wir wussten es spätestens, seitdem auch Deutschland über das RKI einen Nationalen Pande- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) mieplan vorgelegt hat. Trotzdem haben wir dieses Pro- Ein weiteres Thema, das wir mit dieser Debatte adres- blem vernachlässigt. Wir waren schlecht vorbereitet, als sieren, ist der internationale Wildtierhandel, der zum diese Pandemie im letzten Winter nach Europa gekom- men ist. Schutz der Biodiversität, aus Tierschutzgründen und – jetzt neu – zum Schutz vor weiteren Pandemien dringend Fakt ist, dass die Pandemie menschengemacht ist, dass begrenzt und eingeschränkt werden muss. nicht die Natur die Ursache ist, sondern eher die Natur- zerstörung. Menschliches Tun ist die Ursache dieser Pan- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN demie. Es ist richtig, dass wir uns gegenwärtig im Bun- sowie der Abg. Dr. Kirsten Tackmann [DIE destag, in den Ländern und in den Kommunen auf die LINKE]) 24670 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Steffi Lemke (A) An dieser Stelle hat die Bundesregierung ihren Hand- Mit unserem Antrag wollen wir diese Börsen nicht (C) lungsauftrag bisher komplett verschlafen. Die Koalitions- verbieten, aber regulieren, und das ist dringend erforder- fraktionen legen heute endlich einen Antrag vor, den sie lich. seit Jahren angekündigt haben. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und der Abg. Susanne Mittag [SPD]) Vizepräsident in Petra Pau: Das Landwirtschaftsministerium hat bereits in der letzten Kommen Sie bitte zum Schluss. Legislatur eine Studie in Auftrag gegeben. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): NEN]: Eine Studie!) Aber wir brauchen mehr Tempo und mehr Handeln, nicht bloß Absichtsbekundungen. Diese liegt seit 2018 vor, und daraus leiten sich einige Handlungsverpflichtungen für uns ab. Es ist richtig, Frau (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Kollegin Lemke, dass es etwas länger gedauert hat. Der Antrag war im Wesentlichen Anfang des Jahres fertig; Vizepräsident in Petra Pau: aber die Pandemie hat uns gezwungen, diesem Thema Das Wort hat der Kollege Dr. Klaus-Peter Schulze für größere Aufmerksamkeit zu schenken. die CDU/CSU-Fraktion. (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der CDU/CSU) Reden Sie sich nicht raus!) Wir wollen die Empfehlungen der Exopet-Studie Dr. Klaus-Peter Schulze (CDU/CSU): umsetzen, und dazu ist es erforderlich, dass in allen Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Bereichen die notwendigen Maßnahmen ergriffen wer- Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Alle den. Leider – und das ist aus meiner Sicht sehr bedauer- drei Anträge beschreiben im Prinzip drei Kernprobleme: lich – wird es nicht gelingen, den Lacey Act, der bei- a) das Problem des Artenschutzes, b) das Problem des spielsweise in Nordamerika üblich ist, in Europa Tierschutzes und c) das Problem der Zoonosen. Ich umzusetzen. Das ist aus meiner Sicht ein Handicap. Ich möchte mich in meinem Beitrag auf den Artenschutz weiß, dass unser Bundesumweltministerium seit längerer konzentrieren. Zeit versucht, dies in Europa umzusetzen. Leider machen eine Reihe von Ländern nicht mit. Der Handel, vor allen Dingen der illegale Handel, mit Exoten, die als Wildtiere aus irgendwelchen Regionen Abschließend möchte ich auf einige Beispiele einge- hen, die deutlich machen, welche Rolle der illegale Han- (B) dieser Erde entnommen werden, ist ein ernstzunehmen- (D) des Problem, wenn es darum geht, Tierarten zu schützen. del mit Arten spielen kann. Der Borneo-Taubwaran, eine Dieser internationale Handel bedroht Reptilien- und seltene Art, galt viele Jahrzehnte als ausgestorben. Er Amphibienarten, aber auch Vögel, Säugetiere, Insekten. wurde im Jahr 2012 wiederentdeckt und zwei Jahre später Der internationale Handel ist weitgehend unreguliert und auf der von mir benannten Börse gehandelt. Ein anderes stark abhängig von Wildfängen. Beispiel ist der Persische Streifenskink. Diese neue Art wurde im Oktober 2017 erstmalig in einer wissenschaft- Die EU ist ein Hauptabsatzmarkt für den legalen, aber lichen Publikation beschrieben; drei Monate später wurde auch für den illegalen Handel mit Wildfängen. Man kann das Tier in Deutschland gehandelt. Hier wird deutlich, sich das auf der Wildtierbörse in Hamm, die viermal im mit welchem Einsatz die Händler unterwegs sind, um Jahr stattfindet, sehr genau anschauen. Arten heranzuholen, über die wir noch keine Kenntnisse (Jan Ralf Nolte [AfD]: Das sind Zootiere!) haben. Ich könnte die Reihe der Beispiele fortsetzen. Der FDP-Antrag nennt auch das Bunthörnchen, an dessen Ich habe das zweimal gemacht. Es ist schon interessant, Biss drei Kleintierzüchter aus Sachsen-Anhalt verstorben wie das dort abläuft: Wenn der Veterinärmediziner die sind. Kontrolle beendet hat, werden Kisten mit Arten, die ille- gal nach Deutschland geholt wurden, auf die Verkaufs- Als letztes Beispiel möchte ich den Salamanderpilz tische gelegt nennen. Auch er ist in Europa aufgetaucht, weil illegal eingeführte Schwanzlurche aus Ostasien diesen Pilz mit- (Jan Ralf Nolte [AfD]: Was für ein Unfug, Herr gebracht haben. Dieser Hautpilz, an den sich die Arten in Kollege!) Ostasien über viele Millionen Jahre anpassen konnten, – gucken Sie es sich an; ich habe es gesehen – und dann schlägt bei uns jetzt mit Vehemenz zu. In den Benelux- gehen Arten über den Tisch, die in den Ursprungsländern staaten sind die Schwanzlurche so gut wie ausgestorben. unter Schutz stehen. Der Feuersalamander ist dort verschwunden. Mittlerwei- le gibt es in Deutschland in einer ganzen Reihe von Bun- (Jan Ralf Nolte [AfD]: Ich kenne mich aus! Das desländern diese Tendenz. Das BfN macht zurzeit eine ist doch lächerlich!) Untersuchung zu diesem Thema. Ich denke, dass bis zum Hinzu kommt, dass dort Summen im mittleren vierstelli- Jahresende die Ergebnisse vorliegen. gen Bereich gezahlt werden; einen Kassenbon gibt es (Beifall bei der CDU/CSU) natürlich nicht. Dieses Beispiel macht deutlich, was passiert, wenn es (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE uns nicht gelingt, diesen illegalen Artenhandel einzudäm- GRÜNEN]: Wahnsinn!) men und zu verhindern. Die Anträge von FDP und Grüne Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24671

Dr. Klaus-Peter Schulze (A) beinhalten viele gute Vorschläge, unser Antrag ist aller- keine Logik erkennen kann. Bitte setzen Sie sich hier (C) dings komplexer. Ich lade Sie ganz herzlich ein: Folgen noch einmal mit den Fachverbänden zusammen, und bes- Sie unserem Antrag! sern Sie das nach.

Herzlichen Dank. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Ich bitte generell darum, diese Debatte von naiven PETA-Narrativen freizuhalten. Exotenhalter sind gerade Vizepräsident in Petra Pau: nicht der Grund für Artenschwund. Das Gegenteil ist der Während das Pult gereinigt wird, wofür ich mich übri- Fall; sie leisten einen wertvollen Beitrag zur Arterhal- gens bedanke, mache ich noch einmal darauf aufmerk- tung. sam, dass der Mund-Nase-Schutz so genannt wird, weil auch die Nase mit ebendiesem bedeckt sein soll. Ich bitte, Unscheinbare Tiere wie Schlangen, Echsen, kleine das zu berücksichtigen, auch wenn Sie Gespräche im Fische und Wirbellose sind für Zoos eher weniger interes- Stehen am Rande des Plenums führen. sant. Das kann man sich vorstellen. Was glauben Sie eigentlich, in wie vielen Ländern der Erde man vor Bau- Das Wort hat der Abgeordnete für die AfD- projekten fragt, ob in dem Gebiet irgendwelche Fraktion. Schlangen oder Vogelspinnen leben? Das ist doch reali- tätsfremd. Solche Tiere werden in vielen Ländern der (Beifall bei der AfD) Erde kurzerhand getötet. Die zunehmende Zerstörung der Lebensräume ist das Problem. Arten wie etwa der Jan Ralf Nolte (AfD): Hochlandkärpfling gäbe es ohne private Liebhaber über- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Her- haupt nicht mehr. Andere, wie der Kronengecko, sind in ren! Wir können uns heute keinem der hier vorgelegten der Natur selten geworden, werden aber sehr erfolgreich Anträge anschließen. Die Grünen zum Beispiel definie- nachgezüchtet. ren nicht einmal, was sie mit „Wildtieren“ meinen. Auch die unterstellte Zoonosegefahr ist in dieser pauschalen (Beifall bei der AfD) Form schlicht unwissenschaftlich. Hier wäre eine Fokus- sierung auf Fledertiere, Primaten und Nager verständli- Vom Chytridpilz bedrohte Frösche werden mit großer cher gewesen. Hingabe von Privatleuten gezüchtet, um sie vor der Aus- rottung zu bewahren und Zuchtstämme zur späteren Aus- (Beifall bei der AfD) wilderung zu schaffen. Hätten wir schon vor Jahren das gemacht, was GroKo und Grüne heute fordern, dann (B) Wer Angst vor Salmonellen bei Reptilien hat, dem sei (D) wären viele Arten jetzt unrettbar verloren. gesagt: Waschen Sie sich die Hände, halten Sie Klein- kinder von Reptilien fern, und nehmen Sie zur Kenntnis, (Beifall bei der AfD) dass in Nordrhein-Westfalen nur 0,13 Prozent der Salmo- nellenfälle auf Reptilien zurückgehen! Die Forderung Private Halter leisten – übrigens ohne einen Cent nach dem Sachkundenachweis für Halter ist vollkommen Steuergeld – einen Beitrag zum Arterhalt, den Zoos allei- abwegig. Wer allen Ernstes veranlassen möchte, dass ne so nicht leisten können. Natürlich muss das alles sinn- jeder, der sich einen Aquarienfisch kauft, vorher einen voll geregelt und artgerecht sein; überhaupt keine Frage. dreitägigen Kurs machen muss und 500 Euro bezahlen Aber hören wir auf, die Exotenfreunde in Deutschland als muss, der schafft auf kreative Weise die Exotensparte Risiko zu betrachten. Sie sind eine Chance, eine Chance unserer Heimtierbranche ab. für den Arterhalt. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der AfD) Solche Ideen, genau wie pauschale Börsenverbote, kön- nen Sie sich direkt sparen, liebe Kollegen. Das greift in Wir werden, weil die Anträge, die hier vorliegen, so die Berufsfreiheit ein und hält keiner verfassungsrecht- nicht in Ordnung sind, einen eigenen Antrag zu diesem lichen Überprüfung stand. Thema einbringen. Wir fordern dann ein bundesweites Melderegister für Exotenhalter und Züchter. Die Pflicht Auch von den Forderungen der GroKo bin ich scho- zur Ausgabe von Merkblättern nach § 21 des Tierschutz- ckiert. Gewerbliche Händler, die dem § 11 des Tier- gesetzes bei Tierverkäufen wollen wir auch auf den priva- schutzgesetzes unterliegen und besser kontrollierbar ten Bereich ausdehnen. sind als Hobbyzüchter, wollen Sie von den Börsen aus- schließen. Das ist eine Forderung nicht nur gegen den Vielen Dank. gesunden Menschenverstand, sondern auch gegen gelten- des Recht. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der AfD) Vizepräsident in Petra Pau: Natürlich muss es das Ziel sein, Wildfänge zunehmend Das Wort hat der Kollege Carsten Träger für die SPD- durch Nachzucht ersetzen zu können; gar keine Frage. Fraktion. Aber Wildfänge pauschal für Börsen, deren Standard Sie ja verbessern wollen, und auch für Onlinehändler (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Klaus- verbieten zu wollen, ist ein Ansatz, bei dem man wirklich Peter Schulze [CDU/CSU]) 24672 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

(A) Carsten Träger (SPD): nötig. Wir machen hier nur Ausnahmen, strenge Ausnah- (C) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kol- men, für indigene Lebensgemeinschaften, sonst wollen legen! Die Coronapandemie hat uns fest im Griff. Täglich wir ein generelles Verbot. reden wir in diesem Haus darüber, wie wir die Gesundheit Als letzter Punkt, Frau Präsidentin, ist mir wichtig, schützen können, wie wir die Folgen für die Menschen dass wir die Wildtierkriminalität, die es in hohem Maße abfedern können. Vielleicht geht es Ihnen so wie mir, gibt, die großes Leid verursacht und die ähnliche Aus- dass man sich die Frage stellt: Wie konnte es so weit maße wie Drogenhandel oder Menschenhandel hat, end- kommen? Was ist passiert, dass wir von einem solchen lich auch international durch Strafverfolgungsbehörden Virus bedroht werden? verfolgen und bekämpfen können. Ich bin der Bundesumweltministerin dankbar, dass sie (Beifall bei der SPD) bereits im Frühjahr dieses Jahres wertvolle Hinweise gegeben hat. Das Coronavirus ist mit großer Wahrschein- lichkeit vom wilden Tier auf den Menschen übergesp- Vizepräsident in Petra Pau: rungen. Übrigens ist es nicht die einzige Geißel der Kollege Träger, setzen Sie jetzt bitte den Punkt. Menschheit, bei der das passiert ist. Auch das HI-Virus stammt ursprünglich aus dem Tierreich, wie rund 70 Pro- Carsten Träger (SPD): zent der Krankheitserreger generell. Deswegen ist es Dazu ist es nötig, dass wir eine entsprechende Rege- richtig, dass wir im Nachgang zur SARS-Frage, die lung ins Strafrecht aufnehmen. Herzlichen Dank an das Frau Lemke angesprochen hat, viel getan haben, um die Umweltministerium dafür, dass es sich da auf den Weg nationalen Schutzmaßnahmen zu verbessern. Aber es ist gemacht hat. auch dringend notwendig, dass wir über den Ursprung der Problematik reden. Das ist nun einmal die verstärkte Vielen Dank. Nutzung bislang ungestörter Lebensräume, das ist die (Beifall bei der SPD) damit verbundene Nähe zu wildlebenden Tieren, und das ist der Handel mit diesen Wildtieren auf Wildtier- märkten. Das alles trägt zu einer erheblichen Erhöhung Vizepräsident in Petra Pau: des Risikos bei, dass das Virus auf den Menschen über- Als Sie bei einer Restredezeit von 31 Sekunden ankün- springt. Je enger der Mensch der Natur und den wilden digten, dass Sie noch drei Punkte haben, dachte ich: Das Tieren auf den Leib rückt, desto größer ist die Gefahr für ist sportlich. den Menschen. Deshalb, Kolleginnen und Kollegen, ist (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) Naturschutz, deshalb ist vom Mensch unberührte Natur (B) auch für uns so wichtig. Ich bitte in Zukunft darum, das vorher einmal durchzu- (D) rechnen. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Klaus- Peter Schulze [CDU/CSU]) Das Wort hat die Kollegin Judith Skudelny für die FDP-Fraktion. In dem Antrag, den wir heute vorlegen, fordern wir sowohl nationale als auch internationale Maßnahmen. (Beifall bei der FDP) Auf die nationale Komponente, zum Beispiel auf den angesprochenen Sachkundenachweis, wird meine Kolle- Judith Skudelny (FDP): gin Susanne Mittag eingehen. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben nur eine Gesundheit, und sie zu schützen, ist obers- Ich möchte mich auf den Artenschutz konzentrieren. te Aufgabe des Staates. Seit Covid-19 hat der Schutz der Es ist so: Internationale Mühlen mahlen leider langsam, Gesundheit aufgrund eines weiteren Themas große Auf- aber wir haben eine globale Problematik. Das ist ein kom- merksamkeit erfahren. Es geht um den Schutz vor soge- plexes Problem. Deshalb sind Lösungen auch nur multi- nannten Zoonosen. Das sind Krankheiten, die vom Tier lateral und in Gemeinsamkeit möglich. auf den Menschen übertragen werden können; aber ich Ich möchte drei Forderungen herausheben. Die erste möchte nicht verhehlen: auch vom Menschen zurück auf ist, dass wir endlich auf europäischer Ebene ein Gesetz das Tier. brauchen, das den Import von Arten verbietet, die in ihren Es ist nicht so, dass Zoonosen neu sind. Schon seit Heimatländern unter Naturschutz stehen. Es sollte eine Jahrhunderten, schon immer leben wir mit Tieren zusam- Selbstverständlichkeit sein. Das ist leider nicht der Fall. men und haben gelernt, mit den damit einhergehenden Deswegen hat der Kollege Schulze recht, dass wir wei- Krankheiten umzugehen. Krankheiten wie Tollwut, Sal- terhin für eine europäische Analogie zum US-amerika- monellen und auch das Hantavirus sind bekannt, und wir nischen Lacey Act kämpfen müssen. Die Amerikaner leben mit den damit verbundenen Risiken mit unseren sind hier besser als wir. Haus- und Heimtieren, mit Hund, Katze und Mäusen, (Beifall bei der SPD) aber genauso mit den Tieren in der Landwirtschaft, wo Zoonosen uns immer wieder vor große Herausforderun- Zweitens fordern wir die Schließung von Wildtier- gen stellen, aktuell aufgrund der Schweinepest und der märkten, die für die konsumtive Nutzung abgehalten wer- Vogelgrippe. den, auch auf internationaler Ebene. Konsumtive Nut- (Beifall bei der FDP) zung ist der Verzehr, und das ist die sogenannte traditionelle medizinische Verwendung. Das ist nicht Das sind alles Krankheiten, die bekannt sind. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24673

Judith Skudelny (A) Es gibt aber ein Thema, das wir neu bespielen müssen, Zusammenarbeit – der Schlüssel zum Erfolg. Das ist (C) und zwar das Thema Wildtiere, das, was Regulierung und ein wichtiger Baustein. Wir müssen aber noch einen Vollzug betrifft, in Deutschland nach wie vor völlig weiten Weg gehen, um die Gesundheit in Deutschland unterbelichtet ist. umfassend vor weiteren Pandemien zu schützen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der (Beifall bei der FDP) Abg. Marie-Luise Dött [CDU/CSU]) Wir müssen dabei zwischen exotischen Haustieren aus Vizepräsident in Petra Pau: Nachzuchten und in der Wildnis gefangenen Tieren Dr. Kirsten Tackmann hat nun für die Fraktion Die unterscheiden. Das sind zwei unterschiedliche Bereiche, Linke das Wort. die wir unterschiedlich behandeln müssen. (Beifall bei der LINKEN) Mit unserem Antrag wollen wir dezidiert den Handel und das Halten von Wildtieren in Deutschland erstmals rich- Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): tig und umfassend regulieren und transparent machen, Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und der Vollzug der neuen Regeln soll wirklich durchge- und Kollegen! Es liegen heute Anträge der Koalition, der führt werden. Das wäre ein Novum: die Gesetze auch FDP und der Grünen zum Thema Wildtierhandel vor. einmal einhalten. Meine Fraktion Die Linke hatte ihren Antrag zu diesem (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Ute Vogt Thema schon vor der Sommerpause eingereicht; er ist [SPD]) bereits in die Ausschüsse überwiesen. Unser Antrag trägt den Titel „Moratorium für Wildtierhandel aus ethischer Es geht um Nachvollziehbarkeit. Der Verbleib und epidemiologischer Verantwortung“. Damit sind drei geschützter Wildtiere in Deutschland ist eigentlich nach- Botschaften verbunden: Es muss beim Handel mit Wild- vollziehbar. Das Problem ist: Wie wird diese Nachvoll- tieren erstens unverzüglich gehandelt werden, weil zwei- ziehbarkeit gewährleistet? Ich sage es Ihnen: mit Fotos tens ethische Probleme dringend gelöst werden müssen auf Karteikarten. Meine Damen und Herren, das sind und drittens Infektionsrisiken schnell reduziert werden nicht einmal die Methoden des 20. Jahrhunderts, das müssen. sind fast die Methoden des 19. Jahrhunderts, mit denen wir die Probleme des 21. Jahrhunderts lösen wollen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der FDP) Was wir ausdrücklich nicht wollen, ist ein generelles Verbot des Haltens von Wildtieren, gerade weil ich weiß, Digitalisieren wir die ganzen Informationen doch! wie viel für den Artenschutz durch Wildtierhaltung in (B) Weiten wir die Dokumentation auf sehr seltene Arten Menschenobhut geleistet wird. Das verdient Respekt (D) aus, damit wir, wenn ein Tier krank ist, nachvollziehen und Anerkennung. Ein besonders eindrucksvolles Bei- können: Wo war das Tier? Mit welchen Menschen hatte spiel war eine tödliche Pilzinfektion vor ein paar Jahren, es Kontakt? Welche anderen Tiere könnte es infiziert die 40 Prozent aller Froscharten im Regenwald Panamas haben? Kontrollieren wir den Import! Der Frankfurter ausgerottet hat. Die vielleicht letzten gesunden Exempla- Flughafen ist mit der Animal Lounge doch vollkommen re sind damals in einer dramatischen Rettungsaktion eva- überfordert. Was macht die Ministerin? Sie will den Voll- kuiert und in menschliche Obhut überführt worden – zug verbessern, aber spricht nicht mit den Ländern darü- immerhin das! ber. Aber gerade als Tierärztin kenne ich auch die riskanten (Beifall bei der FDP) und dunklen Seiten des Handelns mit Wildtieren. Eine Wichtig wäre auch, dass sich die Halter der Gefahren aktuelle Studie von Pro Wildlife zeigt, dass dieser weit- bewusst sind. Ich habe mit Jägern gesprochen und gehend unreguliert ist, dass er stark von Wildfängen gefragt: Kennt ihr Zoonosen? Sie haben gesagt: Natürlich abhängig ist und dass er für viele Reptilien- und Amphi- kennen wir Zoonosen. – Ich habe mit Tierärzten und Tier- bienarten unterdessen als Hauptbedrohung gilt, selbst für haltern gesprochen und gefragt: Kennt ihr Zoonosen? Sie Arten, die einen Schutzstatus in ihrem Herkunftsland haben gesagt: Natürlich kennen wir Zoonosen. – Viele haben. Leider ist die EU ein Hauptumschlagplatz für Leute, die exotische Haustiere halten, kennen die Gefah- legalen und illegalen Handel mit Wildfängen, und das ren nicht. Ein Sachkundenachweis dient nicht nur dem darf so nicht weitergehen. Schutz der Tiere, er dient wie im Fall der Bunthörnchen (Beifall bei der LINKEN) auch dem Schutz der Halter. Deswegen ist er wichtig, um Leider gilt es wohl als schick, Exoten zu halten. Des- die Gesundheit der Menschen in Deutschland zu erhalten. halb geht es auch um sehr viel Geld. Artenschutz, tier- (Beifall bei der FDP – Jan Ralf Nolte [AfD]: schutzgerechter Transport oder tiergerechte Haltung wer- Das ist nicht praktikabel, was Sie da fordern!) den da schnell zur Nebensache. Aber Arten- und Die Regulierung des Wildtierhandels kann aber nur ein Tierschutz sind unsere ethische Verantwortung. Deshalb Baustein sein. ist hier der Gesetzgeber gefordert. Gut, dass wir uns darin weitgehend einig sind. Ich möchte am Ende noch erwähnen: Covid-19 ist nicht mit einem Tier nach Deutschland gekommen, es (Beifall bei der LINKEN) ist mit einem Menschen als Träger nach Deutschland Aber bis dieses Regelwerk beschlossen und durchgesetzt gekommen. Deswegen ist der WHO-Ansatz „One ist, vergeht Zeit – für manche Art zu viel Zeit. Deshalb Health“ – umfassende Aufklärung und internationale muss jetzt ein Moratorium für den Wildtierhandel her. 24674 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Dr. Kirsten Tackmann (A) Einige Artenschutzregeln sind löchrig. Es fehlt fast oder – rund um die Uhr möglich – im Internet bestellt. (C) vollständig das Bewusstsein für das Infektionsrisiko Die Exopet-Studie, die vorliegt, zeigt uns hier ganz klar durch den Wildtierhandel. Das ist hochriskant, und das Handlungsmaßnahmen auf, und diesen folgen wir mit geht so nicht weiter. Das Epidemie- und Pandemierisiko unserem Antrag. durch Zoonosen, also von Tieren, oft Wildtieren, auf Menschen übertragene Infektionskrankheiten, ist offen- (Beifall bei der CDU/CSU) sichtlich. Die Wissenschaft mahnt, dass das Pandemieri- Erstens ist da der Zoofachhandel, der natürlich immer siko mit dem Vordringen von Menschen in bislang unbe- und oft eine gute fachliche Beratung bietet. Aber was ist rührte Lebensräume und deren Zerstörung erheblich mit den Garten- und Baumärkten? Da ist neben der Som- steigt. Aber Wildtiere können auch als Heimtiere Erkran- merdeko, den Blumen, mal eben schnell die tierische kungen übertragen. Gerade gab es sogar tödliche Infek- Deko eingepackt und „by the way“ als Wegwerfartikel tionen bei Bunthörnchenhaltenden. Trotzdem wird dieses mitgenommen. Wir fordern den verpflichtenden Sach- Risiko beim Wildtierhandel bisher nahezu komplett aus- kundenachweis bei allen Verkäufern im Bereich von Tier- geblendet. en. Wir möchten, dass dieser Sachkundenachweis nicht Wir brauchen also ein striktes Regelwerk, und wir mal so und mal so erworben werden kann, sondern dass müssen es sofort organisieren. wir bundesweit einheitliche Kriterien dafür haben, die auch fachlich hochwertig sind. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Carsten Träger [SPD]) (Beifall bei der CDU/CSU) Zweitens ist da der Bereich der Tierbörsen, über den Vizepräsident in Petra Pau: wir schon einiges gehört haben, ursprünglich gedacht als Liebe Kolleginnen und Kollegen, normalerweise wür- Treffen privater Züchter und als Möglichkeit des Aus- de ich jetzt fragen, ob noch Kollegen anwesend sind, die tausches. Die Tatsache heute: Handelsplattform von ihre Stimme bei der zweiten namentlichen Abstimmung internationalen Händlern, die mit ihren Tieren in Trans- des Tages bisher nicht abgegeben haben. Ich bitte, den portboxen von einer Börse zur nächsten reisen, wo man Mund-Nase-Schutz auf dem Weg dorthin aufzusetzen. berechtigterweise die Frage stellt, ob die Tiere jemals Die gute Nachricht ist: Sie haben noch einen Moment wieder in einen Stall oder in eine vernünftige Unterkunft länger Zeit als geplant, da noch Kolleginnen und Kol- kommen. Genau an diese Tierbörsen wollen und müssen legen aus dem Untersuchungsausschuss auf dem Weg wir ran. hierher sind, um ihre Stimme abzugeben. Das Wort hat die Kollegin Silvia Breher für die CDU/ Wir fordern verbindliche Mindeststandards: ein Verbot (B) CSU-Fraktion. von Wildfängen, fachliche Beratung in deutscher Spra- (D) che, die Beschränkung auf ein oder zwei Tierarten und (Beifall bei der CDU/CSU) eine entsprechende Begrenzung der einzelnen Tiere. Die Amtstierärzte müssen nicht nur am Beginn, sondern die Silvia Breher (CDU/CSU): ganze Zeit da sein. Sie haben dann auch die Möglichkeit Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und zur Kontrolle, wenn die Händler und die Tiere mit den Kollegen! Unser heute vorliegender Antrag basiert auf entsprechenden Nachweisen vorher angemeldet werden drei Säulen. Über den Bereich des Artenschutzes und müssen. Gleiches fordert übrigens auch die Umweltmi- über den Schutz vor Zoonosen haben wir schon einiges nisterkonferenz – zuletzt im November –, aber eben nicht gehört. Ich möchte mich auf den Bereich des Tierschutzes das erste Mal. konzentrieren; denn schon im Koalitionsvertrag haben Der dritte Punkt ist natürlich der Internethandel. Er wir vereinbart, Vorschläge für konkrete Maßnahmen zur nimmt zu: Es ist so einfach, es gibt immer schöne bunte Verbesserung des Tierschutzes bei Wildtier- und Exoten- Bilder. Die Tierchen kommen mit der Post, man hat ein haltung, Tierbörsen, Internet und Versandhandel vorzu- Widerrufsrecht. Und dann? Stecke ich das Tier in einen legen. Mir persönlich ist der Bereich des Tierschutzes Umschlag und schicke es zurück? Wir wollen, dass der sehr wichtig, und der fängt entgegen der manchmal lau- Internethandel klarer wird. Wir wollen, dass die Anbieter tenden öffentlichen Meinung nicht erst an der Stalltür der im Internet ihren Klarnamen hinterlegen müssen, dass sie Landwirte an. den Plattformen bekannt sind, dass sie zertifizierte Platt- Exoten sind in. Es gibt immer mehr Reptilien, Amphi- formen für Tierverkäufe haben und dass auch dort der bien, Spinnen, Insekten in Deutschland, leider eben nicht Verkauf von Wildfängen verboten wird. nur in der Hand von Experten, von absoluten Liebhabern, die sich mit diesen Tieren hervorragend auskennen, son- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. dern immer öfter auch als Modetiere von reinen Laien. Carsten Träger [SPD]) Da wird ein süßes kleines Reptil, das aussieht wie Das Bundesamt für Naturschutz soll hier die Behörden Schnappi, das kleine Krokodil, im Kinderzimmer zum und den Zoll übrigens unterstützen. So einfach, so Problem. Oder aber es muss unbedingt der neueste In- ahnungslos darf die Haltung von Tieren, von Exoten in Exot sein, den irgendein cooler YouTuber gerade behypt. Deutschland einfach nicht bleiben. Deshalb wollen wir Das muss nicht sein. den Handel einschränken und den Tierschutz mit Blick Genau das wird zum Problem; denn die wenigsten auf den Transport von Tieren deutlich erhöhen und am Tiere werden im Fachhandel nach fachkundiger Beratung Ende vor allen Dingen dafür Sorge tragen, dass diejeni- gekauft, sondern auf Tierbörsen schnell mitgenommen gen, die sich für diese Exoten entscheiden, das bewusst Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24675

Silvia Breher (A) machen, dass sie wissen, worauf sie sich einlassen, dass ministerium vor Jahren selbst in Auftrag gegeben hat und (C) sie die Bedingungen und Notwendigkeiten dieser Tiere von deren Vorschlägen bislang leider noch nichts umge- kennen und sie dann auch entsprechend pflegen können. setzt wurde. Da der Antrag der Grünen und der Antrag der FDP mit Neben den schon erwähnten Regelungen für Verkäufer unserem Antrag, wenn man sie nebeneinanderlegt und und Käufer wollen wir die Zusammenarbeit mit den Län- die Punkte abhakt, fast deckungsgleich sind, gehe ich dern, um verbindliche Mindeststandards für die Durch- davon aus, dass wir in den Ausschüssen gute Beratungen führung von Tierbörsen zu definieren. Das war auch ein haben werden, und freue mich darauf. Thema bei der bereits erwähnten Umweltministerkonfe- renz vom 13. November, auf der eine rechtsverbindliche, Vielen Dank. bundesweit einheitliche Verordnung für Tierbörsen inklu- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. sive des Ausschlusses von Wildfängen gefordert wurde. Carsten Träger [SPD] – Steffi Lemke [BÜND- Auch fordern wir zur Sicherung der Rückverfolgbarkeit NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn es noch in die- des Anbieters, das anonyme Inserieren und das von Wild- ser Legislatur kommt, ja!) fängen generell zu verbieten. Wir wollen außerdem eine rechtsverbindliche, bundes- Vizepräsident in Petra Pau: weit einheitlich geltende Vorgabe zur Führung eines Ich komme zurück zum Tagesordnungspunkt 15. Die Bestandsbuches für den gewerbsmäßigen Handel mit Zeit für die namentliche Abstimmung ist abgelaufen. Ich Tieren einführen. Das verbinden wir damit, ergebnisori- frage trotzdem: Ist noch ein Mitglied des Hauses anwe- entiert zu prüfen, wie eine digitale Umsetzung erfolgen send, welches sich an der Stimmabgabe bisher gehindert kann; denn nicht jeder führt ein eigenes Buch. Nur so sah? – Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung kommen wir – ich hoffe, in absehbarer Zeit – zu einer und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der zentralen Datenbank, die die Tierbestände dokumentiert, Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung damit wir endlich mal wissen, welche Exoten und Wild- wird Ihnen später bekannt gegeben.1) tiere wir in Deutschland haben. Das Wort hat die Kollegin Susanne Mittag für die SPD- (Beifall bei der SPD) Fraktion. Ich hätte, ehrlich gesagt, ganz gern noch mehr konkrete (Beifall bei der SPD) Formulierungen hineinverhandelt, so wie sie in der Exo- pet-Studie auch vorgeschlagen wurden. Diese Studie ist relativ konkret. Mehr war leider nicht verhandelbar, aber Susanne Mittag (SPD): trotzdem ist das schon ein riesiger Schritt, um da voran- (B) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und zukommen. Vielleicht überrascht uns alle das Landwirt- (D) Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Handel schaftsministerium mit weiteren Konkretisierungen. Das mit Tieren und insbesondere der illegale Handel – das ist wäre doch schön. schon mehrfach erwähnt worden – ist ein weltweites Milliardengeschäft. Deshalb ist dieser Bereich eben Herzlichen Dank. auch für die organisierte Kriminalität sehr interessant. (Beifall bei der SPD) Europol hat die Brisanz dieses Themas schon erkannt, und das Thema ist längst auf der Agenda. Vizepräsident in Petra Pau: Mit den durch illegale Geschäfte erwirtschafteten Gel- Ich schließe die Aussprache. dern werden an anderer Stelle wieder kriminelle und auch Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf kriegerische Aktivitäten finanziert. Damit ist das Leid den Drucksachen 19/24435, 19/24645 und 19/24593 an von Tieren verbunden, von Menschen, Zerstörung von die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- Lebensraum und Aussterben von Arten. So bewirkt jetzt schlagen. Gibt es weitere Überweisungsvorschläge? – Covid, wie schon bei den Vorrednern erwähnt, dass auch Das ist nicht der Fall. Dann verfahren wir wie vorgeschla- der Handel mit Wildtieren und Exoten endlich mal stärker gen. in die öffentliche Wahrnehmung gerät. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Wir hatten bereits im Koalitionsvertrag – das ist schon ein paar Jahre her – den Handel und die Haltung von Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Wildtieren und Exoten als Herausforderung im Tier- regierung eingebrachten Entwurfs eines Zehnten schutz, um es mal vorsichtig auszudrücken, festgestellt Gesetzes zur Änderung des Weingesetzes und das für Tierschutzfragen zuständige Ministerium Drucksache 19/23749 beauftragt, bis zur Mitte der Legislaturperiode Vorschlä- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- ge für konkrete Maßnahmen bis hin zu Verboten zur Ver- ses für Ernährung und Landwirtschaft (10. Aus- besserung des Tierschutzes vorzulegen. schuss) Mit dem heutigen Antrag wollen wir daran erinnern Drucksache 19/24512 und gleichzeitig Vorschläge machen, an welchen Stellen angesetzt werden muss. Dabei orientieren wir uns an der Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten schon erwähnten Exopet-Studie, die das Landwirtschafts- beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes- 1) Ergebnis Seite 24677 C ministerin Julia Klöckner. 24676 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Vizepräsident in Petra Pau (A) (Beifall bei der CDU/CSU) Erstens wollen wir die verlorengegangenen Marktan- (C) teile zurückgewinnen. Das ist mein Anspruch. Zweitens wollen wir, dass die Winzer bessere Preise für ihre Weine Julia Klöckner, Bundesministerin für Ernährung und erzielen können. Preise, die der Qualität und der Arbeit Landwirtschaft: auch angemessen sind. Und wir wollen drittens, dass der Guten Abend, sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Markt im Gleichgewicht bleibt. Dafür wagen wir den Damen und Herren Abgeordnete! Unsere deutschen Win- Einstieg in eine neue Systematik der Weinbezeichnung, zerinnen und Winzer, unsere deutschen Weine zählen zu für mehr Klarheit in der Kennzeichnung. Wir verbessern den besten auf der ganzen Welt. Der Ruf ist groß. die Voraussetzungen für eine stärkere Absatzförderung, Deutschland ist ein Land mit großer Weintradition, und für einen besseren Wettbewerb. Dadurch stabilisieren wir Weinbau prägt viele Teile unseres Landes. 13 Weinan- den Markt und geben den Winzerinnen und Winzern Pla- baugebiete haben wir in Deutschland, die sehr unter- nungssicherheit. schiedlich sind. So unterschiedlich wie die Weinanbau- gebiete ist auch die Struktur der Weinwirtschaft: von Deshalb, sehr geehrte Damen und Herren, konkret zur fassweinproduzierenden Betrieben über Genossenschaf- Stabilisierung: Ja, wir könnten die Rebpflanzfläche um ten und größere Kellereien bis hin zu den sogenannten etwa 1 Prozent erweitern. Aber wir haben uns entschie- Edelweingütern. Die Bandbreite ist so groß, wie es die den, es auf 0,3 Prozent zu begrenzen, um eine Balance im Interessen sind und wie es die Vielfalt der Rebsorten ist. Markt zu halten; denn wenn die Nachfrage zurückgeht, wir aber die Fläche erweitern würden, dann, glaube ich, Liebe Kolleginnen und Kollegen, Weinbau prägt die wäre das kontraproduktiv. Kein Überangebot, das ist uns Kulturlandschaften und das Bild unseres Landes. Denken wichtig. wir an den Mittelrhein, die Mosel, das Saaletal, die Main- (Beifall bei der CDU/CSU) schleife, den Rheingau. Ich selbst komme aus einem Ort an der Nahe. Wie gesagt, es sind 13 Anbaugebiete. Aber mir ist auch wichtig, dass die Forschung dabei weiterhin gefördert wird und entsprechende Versuchsflä- Doch zu viel Weinromantik wäre jetzt sicherlich fehl chen ausgewiesen werden. Wir züchten klimaresistente am Platz. Warum? Der Weinmarkt ist hart umkämpft. Ich Pflanzen, die 70 Prozent weniger Pflanzenschutzmittel meine nicht nur den deutschen Weinmarkt, sondern auch brauchen. Sie kennen sicherlich Regent und Calardis den europäischen und den internationalen. Trotz bester Blanc und viele andere mehr. Wir wollen motivieren, Qualitäten verlieren wir im internationalen Vergleich neue Pflanzenzüchtungen, Rebzüchtungen zu nutzen, kontinuierlich Marktanteile. Ich will das an einigen Daten und deshalb werden sie nicht auf die Begrenzung ange- deutlich machen: Während der Wert der in Drittstaaten rechnet. Das, glaube ich, ist ein ganz klares Zeichen. (B) exportierten europäischen Weine innerhalb von zehn Jah- (Beifall bei der CDU/CSU) (D) ren, von 2008 bis 2018, um 90 Prozent zugenommen hat, hat der Anteil der deutschen Weine am Export in Dritt- Im Übrigen werden wir neue Pflanzen oder Pflanzen- staaten um 30 Prozent abgenommen. Dem wollen wir mit züchtungen, neue Rebsorten schneller und auch einfacher dem neuen Weingesetz und der zugehörigen Verordnung zulassen. Die Systematik der Weinbezeichnung wird sich entgegensteuern. Wir wollen dem deutschen Wein in der ändern. Das ist eine Herausforderung, aber auch eine Kennzeichnung eine bessere Profilierung verleihen und Riesenchance. Wir orientieren uns dabei an den erfolg- somit auch neue Marktchancen schaffen. reichen europäischen Weinländern – sei es Italien, sei es Spanien, sei es Frankreich. Wir haben das germanische Deutscher Wein muss für die meisten Verbraucherin- Weinrecht, und wir wollen zum sogenannten roman- nen und Verbraucher verständlicher werden. Eines ist ischen Weinrecht wechseln. Das heißt am Ende, dass klar: Es gibt in der Weinbranche viele Interessen, und wir stärker auf Profilierung, stärker auf Herkunft gehen. dementsprechend werden auch bei einem Weingesetz Herkunft ist mehr als nur der Boden: Herkunft ist Klima, nie alle Wünsche zusammen erfüllt werden können, Umwelt, Können des Winzers, Boden plus Qualität im weil wir sonst kein Mehr an Klarheit hätten. Aber wir Glas. Das soll auf dem Etikett sichtbar werden. Wir werden die Bedingungen für alle in der Branche spürbar schaffen den Rahmen dafür. verbessern. Genau deshalb ist unser Entwurf einer Novel- Aber wir machen noch eines: Den Schutzgemeinschaf- le zu Weingesetz und Weinverordnung schon jetzt ein ten, die es vor Ort gibt, überlassen wir relativ viel, sodass großer Erfolg. sie vor Ort sogar noch strengeren Anforderungen gerecht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) werden können. Aber klar ist: Es wird Mindestanforde- rungen geben, die der Verbraucher klar erkennen kann, Denn er berücksichtigt zahlreiche unterschiedliche Inte- ganz verlässlich. Dann wird auf dem Etikett klar sein: Je ressen. Die Gespräche und die Abstimmung mit Verbän- kleiner die Lage, desto höher die Mindestanforderung den, mit dem Berufsstand, mit den Ländern und mit Ihnen und desto klarer kann der Verbraucher sich auch auf das als Gesetzgeber waren mir wichtig. verlassen, was draufsteht. Es wird nicht um ein Mehr an Quantität gehen, sondern um eine stabile Qualität. Dafür Ich möchte Ihnen hier kurz drei zentrale Punkte der legen wir die Grundlage. Weingesetznovelle erläutern. Ich nenne mal die Her- kunftspyramide. Die Mittel zur Vermarktung werden (Beifall bei der CDU/CSU) gesteigert. Aber wir wollen auch die Balance im Markt Liebe Kolleginnen und Kollegen, verehrte Damen und halten, was die Rebpflanzrechte anbelangt. Darauf will Herren, ich sehe, dass meine Redezeit abläuft. Es gibt ich kurz eingehen. noch so viel zu erläutern. Aber wichtig ist mir, zu beto- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24677

Bundesministerin Julia Klöckner (A) nen: Wir werden vor allen Dingen auch das Marketing, Herzlichen Dank. (C) die Absatzförderung stärken. Wir werden von 1,5 Millio- nen auf 2 Millionen Euro gehen, um auch in die Kommu- nikation zu investieren. Es ist eigentlich überhaupt nicht (Beifall bei der CDU/CSU) nachvollziehbar, dass Gelder, die uns Brüssel zur Verfü- gung stellt, von uns nicht abgerufen werden, also den Vizepräsident in Petra Pau: Ländern, und sie müssen noch nicht mal kofinanzieren. Ich komme zurück zum Tagesordnungspunkt 15 und Das werden wir ändern. gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schrift- Für Grenzregionen werden wir Übergangsregelungen führern ermittelte Ergebnis der namentlichen Schluss- vorsehen. Übrigens, über die Übergangszeiten – das sei abstimmung zum Entwurf eines Gesetzes zu dem Über- zum Schluss gesagt – kann man ja noch reden. Aber ich einkommen vom 19. Februar 2013 über ein Einheitliches warne davor, die Übergangszeit auf zehn Jahre festzu- Patentgericht bekannt: abgegebene Stimmkarten 647. Mit setzen. Warum? Erstens stehen dann unionsrechtlich Kla- Ja haben 571 Kolleginnen und Kollegen gestimmt, mit gen an, weil wir EU-Recht anpassen müssen. Zweitens. Nein stimmten 73, und 3 Abgeordnete haben sich ent- Wenn man zehn Jahre Zeit hat, dann fängt man im neun- halten. Der Gesetzentwurf wurde mit der erforderlichen ten Jahr erst an. Aber wir haben keine Zeit zu verlieren. Mehrheit angenommen.

Endgültiges Ergebnis Hermann Färber Dr. Hendrik Hoppenstedt Gisela Manderla Abgegebene Stimmen: 645; Uwe Feiler Erich Irlstorfer Dr. Astrid Mannes davon Enak Ferlemann Thomas Jarzombek Matern von Marschall ja: 570 Axel E. Fischer (Karlsruhe- Andreas Jung Hans-Georg von der nein: 72 Land) Ingmar Jung Marwitz enthalten: 3 Dr. Maria Flachsbarth Alois Karl Andreas Mattfeldt Thorsten Frei Anja Karliczek Stephan Mayer (Altötting) Ja Dr. Hans-Peter Friedrich Torbjörn Kartes Dr. Michael Meister (Hof) CDU/CSU Volker Kauder Jan Metzler Michael Frieser Dr. Stefan Kaufmann Dr. h. c. (Univ Kyiv) Hans Dr. Michael von Abercron Hans-Joachim Fuchtel Roderich Kiesewetter Michelbach Stephan Albani Ingo Gädechens Michael Kießling Dr. Mathias Middelberg Norbert Maria Altenkamp Dr. Thomas Gebhart Dr. Georg Kippels Dietrich Monstadt (B) Philipp Amthor Alois Gerig Volkmar Klein Karsten Möring (D) Artur Auernhammer Eberhard Gienger Axel Knoerig Elisabeth Motschmann Peter Aumer Eckhard Gnodtke Jens Koeppen Axel Müller Dorothee Bär Ursula Groden-Kranich Markus Koob Sepp Müller Thomas Bareiß Hermann Gröhe Carsten Körber Carsten Müller Norbert Barthle Klaus-Dieter Gröhler Alexander Krauß (Braunschweig) Maik Beermann Michael Grosse-Brömer Gunther Krichbaum Stefan Müller (Erlangen) Manfred Behrens (Börde) Astrid Grotelüschen Dr. Günter Krings Christian Natterer Veronika Bellmann Markus Grübel Rüdiger Kruse Dr. Andreas Nick Sybille Benning Manfred Grund Michael Kuffer Petra Nicolaisen Dr. André Berghegger Oliver Grundmann Dr. Roy Kühne Dr. Georg Nüßlein Melanie Bernstein Monika Grütters Dr. Dr. h. c. Karl A. Lamers Wilfried Oellers Christoph Bernstiel Fritz Güntzler Andreas G. Lämmel Florian Oßner Peter Beyer Olav Gutting Katharina Landgraf Josef Oster Marc Biadacz Christian Haase Ulrich Lange Henning Otte Steffen Bilger Florian Hahn Dr. Silke Launert Ingrid Pahlmann Peter Bleser Jürgen Hardt Jens Lehmann Sylvia Pantel Norbert Brackmann Matthias Hauer Paul Lehrieder Martin Patzelt Michael Brand (Fulda) Mark Hauptmann Dr. Katja Leikert Dr. Joachim Pfeiffer Dr. Reinhard Brandl Dr. Matthias Heider Dr. Andreas Lenz Stephan Pilsinger Dr. Mechthild Heil Antje Lezius Dr. Christoph Ploß Silvia Breher Thomas Heilmann Andrea Lindholz Eckhard Pols Sebastian Brehm Frank Heinrich (Chemnitz) Dr. Carsten Linnemann Thomas Rachel Heike Brehmer Mark Helfrich Patricia Lips Kerstin Radomski Ralph Brinkhaus Rudolf Henke Nikolas Löbel Alexander Radwan Dr. Carsten Brodesser Michael Hennrich Bernhard Loos Alois Rainer Astrid Damerow Marc Henrichmann Dr. Jan-Marco Luczak Dr. Peter Ramsauer Alexander Dobrindt Ansgar Heveling Daniela Ludwig Eckhardt Rehberg Michael Donth Christian Hirte Dr. Saskia Ludwig Lothar Riebsamen Marie-Luise Dött Dr. Heribert Hirte Karin Maag Josef Rief Hansjörg Durz Alexander Hoffmann Yvonne Magwas Johannes Röring Thomas Erndl Karl Holmeier Dr. Thomas de Maizière Dr. Norbert Röttgen 24678 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

(A) Stefan Rouenhoff Annette Widmann-Mauz Elisabeth Kaiser Martin Schulz (C) Erwin Rüddel Bettina Margarethe Ralf Kapschack Swen Schulz (Spandau) Albert Rupprecht Wiesmann Gabriele Katzmarek Frank Schwabe Stefan Sauer Klaus-Peter Willsch Cansel Kiziltepe Stefan Schwartze Dr. Wolfgang Schäuble Elisabeth Winkelmeier- Arno Klare Andreas Schwarz Andreas Scheuer Becker Lars Klingbeil Rita Schwarzelühr-Sutter Jana Schimke Oliver Wittke Dr. Bärbel Kofler Rainer Spiering Tankred Schipanski Tobias Zech Elvan Korkmaz-Emre Svenja Stadler Christian Schmidt (Fürth) Emmi Zeulner Anette Kramme Martina Stamm-Fibich Dr. Claudia Schmidtke Paul Ziemiak Christine Lambrecht Sonja Amalie Steffen Patrick Schnieder Dr. Matthias Zimmer Christian Lange Mathias Stein Nadine Schön (Backnang) Kerstin Tack Felix Schreiner SPD Dr. Karl Lauterbach Claudia Tausend Dr. Klaus-Peter Schulze Sylvia Lehmann Michael Thews Niels Annen Uwe Schummer Helge Lindh Markus Töns Ingrid Arndt-Brauer Torsten Schweiger Kirsten Lühmann Carsten Träger Bela Bach Detlef Seif Isabel Mackensen Ute Vogt Heike Baehrens Johannes Selle Caren Marks Marja-Liisa Völlers Ulrike Bahr Reinhold Sendker Dorothee Martin Dirk Vöpel Nezahat Baradari Dr. Patrick Sensburg Christoph Matschie Gabi Weber Doris Barnett Bernd Siebert Hilde Mattheis Bernd Westphal Dr. Matthias Bartke Thomas Silberhorn Dr. Matthias Miersch Dirk Wiese Sören Bartol Björn Simon Klaus Mindrup Gülistan Yüksel Bärbel Bas Tino Sorge Dagmar Ziegler Lothar Binding Susanne Mittag Jens Spahn (Heidelberg) Falko Mohrs Stefan Zierke Katrin Staffler Dr. Eberhard Brecht Claudia Moll Dr. Jens Zimmermann Leni Breymaier Siemtje Möller Dr. Wolfgang Stefinger Dr. Karl-Heinz Brunner Bettina Müller AfD Albert Stegemann Katrin Budde Detlef Müller (Chemnitz) Dr. Roland Hartwig Andreas Steier Dr. Lars Castellucci Michelle Müntefering Peter Stein (Rostock) Bernhard Daldrup Dr. Rolf Mützenich Sebastian Steineke Dr. Daniela De Ridder Ulli Nissen FDP (B) Johannes Steiniger Dr. Karamba Diaby Mahmut Özdemir (D) Christian Frhr. von Stetten (Duisburg) Grigorios Aggelidis Esther Dilcher Renata Alt Dieter Stier Sabine Dittmar Aydan Özoğuz Gero Storjohann Markus Paschke Christine Aschenberg- Dr. Wiebke Esdar Dugnus Stephan Stracke Christian Petry Saskia Esken Nicole Bauer Max Straubinger Sabine Poschmann Dr. Johannes Fechner Jens Beeck Dr. Hermann-Josef Dr. Fritz Felgentreu Florian Post Tebroke Dr. Jens Brandenburg Dr. Achim Post (Minden) Hans-Jürgen Thies (Rhein-Neckar) Ulrich Freese Florian Pronold Alexander Throm Mario Brandenburg Dagmar Freitag Dr. Sascha Raabe (Südpfalz) Dr. Dietlind Tiemann Michael Gerdes Martin Rabanus Sandra Bubendorfer-Licht Antje Tillmann Martin Gerster Mechthild Rawert Dr. Marco Buschmann Markus Uhl Angelika Glöckner Sönke Rix Carl-Julius Cronenberg Dr. Volker Ullrich Timon Gremmels Dennis Rohde Britta Katharina Dassler Arnold Vaatz Kerstin Griese Dr. Martin Rosemann Bijan Djir-Sarai Kerstin Vieregge Michael Groß Dr. Ernst Dieter Rossmann Christian Dürr Volkmar Vogel Michael Roth (Heringen) (Kleinsaara) Uli Grötsch Hartmut Ebbing Susann Rüthrich Christoph de Vries Bettina Hagedorn Dr. Marcus Faber Bernd Rützel Kees de Vries Rita Hagl-Kehl Daniel Föst Sarah Ryglewski Dr. Johann David Metin Hakverdi Otto Fricke Wadephul Sebastian Hartmann Johann Saathoff Thomas Hacker Marco Wanderwitz Dirk Heidenblut Axel Schäfer (Bochum) Reginald Hanke Nina Warken Hubertus Heil (Peine) Dr. Nina Scheer Peter Heidt Kai Wegner Gabriela Heinrich Marianne Schieder Katrin Helling-Plahr Marcus Weinberg Marcus Held Udo Schiefner Markus Herbrand (Hamburg) Wolfgang Hellmich Dr. Nils Schmid Torsten Herbst Dr. Anja Weisgerber Dr. Barbara Hendricks Ulla Schmidt (Aachen) Katja Hessel Peter Weiß Gabriele Hiller-Ohm Dagmar Schmidt (Wetzlar) Dr. Gero Clemens Hocker (Emmendingen) Thomas Hitschler Carsten Schneider (Erfurt) Manuel Höferlin Ingo Wellenreuther Josip Juratovic Johannes Schraps Dr. Christoph Hoffmann Marian Wendt Thomas Jurk Michael Schrodi Reinhard Houben Kai Whittaker Oliver Kaczmarek Ursula Schulte Ulla Ihnen Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24679

(A) Olaf In der Beek Jörg Cezanne Kai Gehring Peter Boehringer (C) Gyde Jensen Fabio De Masi Stefan Gelbhaar Stephan Brandner Dr. Christian Jung Anke Domscheit-Berg Katrin Göring-Eckardt Jürgen Braun Karsten Klein Klaus Ernst Erhard Grundl Marcus Bühl Dr. Marcel Klinge Susanne Ferschl Anja Hajduk Matthias Büttner Daniela Kluckert Nicole Gohlke Britta Haßelmann Tino Chrupalla Pascal Kober Dr. Gregor Gysi Dr. Bettina Hoffmann Joana Cotar Dr. Lukas Köhler Dr. André Hahn Dr. Anton Hofreiter Dr. Gottfried Curio Carina Konrad Heike Hänsel Ottmar von Holtz Siegbert Droese Wolfgang Kubicki Matthias Höhn Dieter Janecek Berengar Elsner von Konstantin Kuhle Andrej Hunko Dr. Kirsten Kappert- Gronow Alexander Kulitz Ulla Jelpke Gonther Dr. Michael Espendiller Alexander Graf Kerstin Kassner Uwe Kekeritz Dietmar Friedhoff Lambsdorff Dr. Achim Kessler Katja Keul Dr. Anton Friesen Ulrich Lechte Katja Kipping Sven-Christian Kindler Markus Frohnmaier Christian Lindner Jan Korte Maria Klein-Schmeink Dr. Götz Frömming Michael Georg Link Jutta Krellmann Sylvia Kotting-Uhl Dr. Alexander Gauland (Heilbronn) Caren Lay Oliver Krischer Albrecht Glaser Oliver Luksic Sabine Leidig Christian Kühn (Tübingen) Franziska Gminder Till Mansmann Ralph Lenkert Renate Künast Kay Gottschalk Dr. Jürgen Martens Michael Leutert Markus Kurth Armin-Paulus Hampel Christoph Meyer Stefan Liebich Monika Lazar Jochen Haug Alexander Müller Dr. Gesine Lötzsch Sven Lehmann Udo Theodor Hemmelgarn Roman Müller-Böhm Thomas Lutze Steffi Lemke Waldemar Herdt Frank Müller-Rosentritt Pascal Meiser Dr. Tobias Lindner Martin Hess Dr. Martin Neumann Dr. Irene Mihalic Dr. Heiko Heßenkemper (Lausitz) Amira Mohamed Ali Claudia Müller Karsten Hilse Matthias Nölke Cornelia Möhring Beate Müller-Gemmeke Nicole Höchst Hagen Reinhold Niema Movassat Dr. Konstantin von Notz Martin Hohmann Bernd Reuther Zaklin Nastic Omid Nouripour Dr. Bruno Hollnagel Dr. h. c. Thomas Dr. Alexander S. Neu Sattelberger Petra Pau Friedrich Ostendorff Leif-Erik Holm Frank Schäffler Sören Pellmann Cem Özdemir Johannes Huber (B) (D) Dr. Wieland Schinnenburg Victor Perli Lisa Paus Fabian Jacobi Matthias Seestern-Pauly Tobias Pflüger Filiz Polat Dr. Marc Jongen Frank Sitta Martina Renner Tabea Rößner Judith Skudelny Bernd Riexinger Claudia Roth (Augsburg) Stefan Keuter Dr. Hermann Otto Solms Eva-Maria Schreiber Dr. Manuela Rottmann Norbert Kleinwächter Bettina Stark-Watzinger Dr. Petra Sitte Corinna Rüffer Enrico Komning Dr. Marie-Agnes Strack- Helin Evrim Sommer Manuel Sarrazin Steffen Kotré Zimmermann Friedrich Straetmanns Ulle Schauws Dr. Rainer Kraft Benjamin Strasser Dr. Kirsten Tackmann Dr. Frithjof Schmidt Rüdiger Lucassen Katja Suding Jessica Tatti Stefan Schmidt Frank Magnitz Linda Teuteberg Kathrin Vogler Kordula Schulz-Asche Jens Maier Michael Theurer Andreas Wagner Dr. Wolfgang Strengmann- Dr. Birgit Malsack- Stephan Thomae Harald Weinberg Kuhn Winkemann Manfred Todtenhausen Katrin Werner Margit Stumpp Andreas Mrosek Dr. Florian Toncar Sabine Zimmermann Markus Tressel Hansjörg Müller Dr. Andrew Ullmann (Zwickau) Jürgen Trittin Volker Münz Gerald Ullrich Dr. Julia Verlinden Sebastian Münzenmaier Christoph Neumann Johannes Vogel (Olpe) BÜNDNIS 90/ Daniela Wagner Beate Walter-Rosenheimer Jan Ralf Nolte Sandra Weeser DIE GRÜNEN Katharina Willkomm Wolfgang Wetzel Gerold Otten Lisa Badum Gerhard Zickenheiner Tobias Matthias Peterka Annalena Baerbock Paul Viktor Podolay DIE LINKE Margarete Bause Fraktionslos Stephan Protschka Doris Achelwilm Dr. Danyal Bayaz Martin Reichardt Gökay Akbulut Canan Bayram Marco Bülow Martin Erwin Renner Simone Barrientos Dr. Franziska Brantner Roman Johannes Reusch Dr. Dietmar Bartsch Agnieszka Brugger Nein Ulrike Schielke-Ziesing Matthias W. Birkwald Dr. Anna Christmann Jörg Schneider AfD Heidrun Bluhm-Förster Janosch Dahmen Uwe Schulz Michel Brandt Ekin Deligöz Dr. Bernd Baumann Thomas Seitz Christine Buchholz Harald Ebner Marc Bernhard Martin Sichert Dr. Birke Bull-Bischoff Matthias Gastel Andreas Bleck Detlev Spangenberg 24680 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

(A) Dr. Dirk Spaniel Dr. Heiko Wildberg Enthalten Fraktionslos (C) René Springer AfD Beatrix von Storch Lars Herrmann Dr. Harald Weyel Dr. Alice Weidel Wolfgang Wiehle Uwe Witt Dr. Christian Wirth Abgeordnete, die sich wegen gesetzlichen Mutterschutzes für ihre Abwesenheit entschuldigt haben, sind in der Liste der entschuldigten Abgeordneten (Anlage 1) aufgeführt.

Wir fahren jetzt in der Debatte fort. Das Wort hat der Ich wünsche mir, die Bundesregierung hätte in anderen Abgeordnete Dr. Christian Wirth für die AfD-Fraktion. Branchen der Wirtschaft ein ähnliches Vertrauen in die Qualität und Solidarität der heimischen Produktion. (Beifall bei der AfD) Geben wir den deutschen Winzern eine Perspektive für die Zukunft! Belassen wir es aber nicht nur dabei. Wer Dr. Christian Wirth (AfD): heute damit beginnt, Wein anzubauen, der plant nicht für Frau Präsidentin! Werte Abgeordnete! Deutschland das schnelle Geld, der plant nicht für fünf Jahre, der kann sich nicht nur seines per Einheitsgebot gebrauten möchte nicht sein Privatdasein an der Côte d’Azur ver- Bieres rühmen, sondern in ebenso beeindruckender Qua- bringen. Weinbau ist idealerweise ein Generationenpro- lität und Vielfalt seines Weines. Wein ist mehr als ein jekt, und so etwas braucht mehr als nur einen gerade Getränk. Es ist auch ein Kulturgut, ein Aushängeschild akzeptablen gesetzlichen Rahmen. So etwas braucht der deutschen Landwirtschaft, allerdings ein Aushänge- eine viel tiefer gehende Verlässlichkeit, die gerade diese schild, das im Ausland und leider auch im Inland mit Bundesregierung mit ihren ständigen Kurswechseln und sinkender Nachfrage zu kämpfen hat. Das ist schade. unüberlegten Radikalreformen oft vermissen lässt. Schon Euripides schrieb: „Wo aber der Wein fehlt, stirbt Sie haben die Proteste der Bauern hier in der letzten der Reiz des Lebens.“ Zeit gesehen. Zeigen Sie Verlässlichkeit, indem Sie auf Umso erfreulicher ist, dass wir es nach Monaten und die Landwirte selbst hören, egal ob Wein oder Weizen, Jahren des Bauern-Bashings und der Verächtlichma- und ihnen Zeit zu Innovation und Anpassung geben, chung der ganzen Bauernschaft als Umweltverschmutzer anstatt alle paar Wochen den nächsten demonstrierenden und Klimakiller nun einmal mit positiven und konstrukti- Stadtkindern nach dem Mund zu reden. (B) (D) ven Meldungen und Bemühungen aus dem Ministerium Vielen Dank. von Julia Klöckner zu tun haben. Der deutliche Anstieg der Mittel zur Förderung des Absatzes des deutschen (Beifall bei der AfD – Abg. Dr. Christian Wirth Weins ist ein überfälliges Signal, das hoffentlich seine [AfD] verlässt das Rednerpult ohne Mund- Wirkung nicht verfehlen wird. Es ist aber auch nicht jedes Nase-Bedeckung – Zurufe von der SPD und Problem mit Geld zu lösen. Bei aller Wahrung von Tradi- dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Maske!) tion und Qualität müssen auch neue und innovative Win- zer in Zukunft die Möglichkeit haben, den deutschen Vizepräsident in Petra Pau: Weinmarkt interessant und vielfältig zu halten. Für die relativ kleinen deutschen Anbaugebiete hat dieser Ge- Ich weiß, man kann in der Aufregung immer was ver- setzentwurf aber durchaus eine gute Zukunftsperspektive gessen, aber den Mund-Nase-Schutz bitte nicht. zu bieten. Die neue Gewichtung hin zu den Terroirs statt (Stephan Protschka [AfD]: Die Rednerin davor des Fokus auf die Rebsorte hat großes Potenzial. ist auch ohne Maske weggegangen! – Gegenruf Die besonderen Eigenarten der verschiedenen der Bundesministerin Julia Klöckner: Ja, ich Weingebiete bis hin zum individuellen Hang sind ein weiß! Mein Fehler!) Qualitätsmerkmal, das Weinkenner schon zu schätzen – Wir führen jetzt hier keine Debatte. Ich habe einen wissen und in Zukunft hoffentlich auch der einfache Kun- Hinweis gegeben. de versteht. Das Bewusstsein, dass der soeben genossene großartige Wein seine Charakteristik nicht nur von der Jetzt geht es weiter mit der Kollegin Isabel Mackensen Rebe, sondern von Boden, Lage und Anbaukultur – für die SPD-Fraktion. zum Beispiel an der Mosel in meiner saarländischen Hei- mat – hat, wird den deutschen Weinen hoffentlich zu der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wertschätzung verhelfen, die sie verdient haben. „Je klei- der CDU/CSU) ner die Herkunft, desto größer die Qualität“ ist eine Chan- ce und zugleich eine Herausforderung für und an die Isabel Mackensen (SPD): deutschen Winzer. Wenn ich schon mein lobe: Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Probieren Sie gerne mal in der Parlamentarischen Gesell- Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Win- schaft den Grauburgunder von Schmitt-Weber aus meiner zerinnen und Winzer! Ich bin ein Pfalzkind, Heimat – begeisternd! (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der (Beifall bei der AfD) FDP) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24681

Isabel Mackensen (A) aufgewachsen in Niederkirchen, einem Weindorf bei Dei- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (C) desheim und Forst an der Deutschen Weinstraße, im – Da kann man noch mal klatschen; das finde ich auch. zweitgrößten Anbaugebiet Deutschlands, der Pfalz. Rheinland-Pfalz ist zudem noch das Weinbauland Num- Ein Punkt des Entwurfs zum Weingesetz ist die Auf- mer eins. Das zeigt sich, glaube ich, auch ganz gut daran, stockung der Absatzförderung – Frau Ministerin hat es dass viele, die heute zu diesem Thema sprechen, aus schon angesprochen – auf nationaler Ebene. Das ist kein Rheinland-Pfalz kommen. unumstrittener Punkt. Wir sind aber der Überzeugung – (Beifall der Abg. Carina Konrad [FDP]) das gilt zumindest für die SPD-Bundestagsfraktion und weitestgehend auch für die anderen Fraktionen; die Wo Wein ist, wird normalerweise gefeiert; das ist jetzt Abstimmung im Ausschuss hat es ja gezeigt –, dass wir aktuell etwas schwieriger. Das Weinfest im Dorf war für neben der Abgabe der Winzerinnen und Winzer damit das mich schon als Kind ein Highlight. Die Musik hat die Marketing für den deutschen Wein im In- und eben im ganze Nacht gespielt; das kann man sich heute eigentlich Ausland stärken wollen. Es sollen insgesamt 2 Millionen überhaupt gar nicht mehr vorstellen. Ich habe draußen in Euro zusätzlich zu den Abgaben zur Verfügung stehen. der Hängematte übernachtet, um das Weinfestgefühl und die Musik möglichst lange genießen zu können. Das Deutsche Weininstitut als Durchführungsorgani- sation des Deutschen Weinfonds ist, gerade auch was (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ die Jugend angeht – ich habe es gerade angesprochen –, CSU, der AfD und der FDP) stark unterwegs, zum Beispiel mit Programmen wie der – Da klatschen die Pfälzer, sehr gut. „Generation Riesling“. Was ist das für ein Programm? Es ist ein Netzwerk, eine moderne Präsentationsplattform, An der Deutschen Weinstraße aufzuwachsen, heißt aber vor allem auch ein Lebensgefühl. Es ermöglicht, aber auch, das Winzerjahr mitzuerleben. Bis der Wein Kontakte zu knüpfen, gemeinsam Ideen zu entwickeln im Glas genossen werden kann, bedarf es des Reb- und Aktionen durchzuführen. Jungwinzerinnen und schnitts, des Aushängens der Pheromone, bis hin zur Jungwinzer bis maximal 35 Jahre treten hier als Botschaf- Weinlese – viel Arbeit, Pflege und Hingabe für unseren terinnen und Botschafter des deutschen Weins für moder- Rebensaft. ne und hochwertige Weinerzeugung auf. Sowohl die Produktion als auch der Absatz von Wein Mit der Herausforderung des Klimawandels und der sind vielfältig: über die Gastronomie, den Direktverkauf, immer stärker werdenden nachhaltigen Orientierung in nicht selten imposanten Vinotheken, im internationa- gerade der Jungen werden neue Rebsorten immer bedeu- len Export, im inländischen Vertrieb und eben bei den tender. Damit soll den Krankheiten sowie Hitze mit Weinfesten. Wir haben es gerade gehört: Gerade der geringerem Einsatz von Pflanzenschutzmitteln begegnet (B) Export bedarf unserer Unterstützung. Hier haben wir (D) werden. Zusammen mit meinem Kollegen Gustav massiven Nachholbedarf, was auch ein Anlass für diese Herzog habe ich mich bei den Beratungen zum Wein- Weingesetznovelle ist. gesetz dafür starkgemacht, dass gerade neue Rebsorten Die Entwürfe von Weingesetz und Weinverordnung – weiterhin auf den Markt gelangen können. Rebsorten wie darum geht es ja heute – habe ich bereits im Juni dieses Regent, Cabernet Blanc oder Solaris zeigen mit ihrer Jahres an meine über 400 Winzerinnen und Winzer im Marktakzeptanz die Erfolgsmöglichkeiten dieser neuen Wahlkreis Neustadt-Speyer versendet und sie um ihre Sorten gerade bei den Verbraucherinnen und Verbrau- Einschätzung gebeten. Ich möchte mich an dieser Stelle chern. herzlich für die vielen Rückmeldungen und Gespräche bedanken. Diese haben mir neben den Gesprächen mit Bei den Gesprächen mit den Studierenden des Wein- den Abgeordneten, dem Ministerium, den Ländern und campus in Neustadt an der Weinstraße, den Weinhoheiten der Weinwirtschaft von Anfang an einen vielschichtigen, und der Landjugend kam aber vor allem ein Anspruch an vor allem aber praxisnahen Einblick in die Thematik das Gesetz heraus: die Planungssicherheit. Wer sich heute gegeben. Die Herausforderung, der wir uns stellen, ist, auf den Weg macht, einen Betrieb zu übernehmen, muss dass wir mit den zukünftigen Regelungen, die wir tref- wissen, was ihn erwartet. Dafür legen wir mit dem Wein- fen – mit Weingesetz und Weinverordnung –, sowohl die gesetz heute den Grundstein. Einzelbetriebe als auch die Winzergenossenschaften, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten aber auch die Kellereien im Blick haben. der CDU/CSU und der FDP) Im Weinbau vollzieht sich ein Generationenwechsel. Gleiches gilt für die anstehenden Beratungen zur Meine Generation übernimmt immer mehr die Leitung Weinverordnung; diese soll ja im Februar nächsten Jahres der Betriebe. Gerade die Jungwinzerinnen und Jungwin- verabschiedet werden. Hier soll der Übergang vom ger- zer experimentieren, probieren aus, leben bewusster, sind manischen zum romanischen Weinrecht umgesetzt wer- nachhaltiger und zukunftsorientierter. Es freut mich den. Das ist keine einfache Aufgabe. Auch diesen Prozess besonders, dass immer mehr junge Frauen in den Aus- werde ich gemeinsam mit der SPD-Bundestagsfraktion bildungsbetrieben und Hochschulen zu sehen sind. Gera- eng begleiten. de bei den Weinhoheiten handelt es sich um Topkenne- rinnen ihres Fachs. Ein herzlicher Dank gilt aber auch – vor allem eigent- lich – den Kolleginnen und Kollegen des Parlamentari- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie schen Weinforums für das gute Miteinander. Es ist keine bei Abgeordneten der FDP) Übertreibung, dass die Zusammenarbeit bei diesem The- Man kann damit feststellen: Der Weinbau ist weiblich. ma über die Fraktionen hinweg besonders ist. Die ange- 24682 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Isabel Mackensen (A) nehme Atmosphäre liegt natürlich nicht zuletzt an dem Weinberg war, einen neuen Weinberg pflanzen will, (C) guten deutschen Wein, ganz nach dem Motto: „Ein guter muss man drei verschiedene Anträge stellen; und wenn Wein zur rechten Zeit bringt Freude und Zufriedenheit.“ es dann auch noch Unterschiede bei den Flächenberech- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der nungen gibt, dann hat man ein Problem. Dieses Problem CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der AfD müssen wir als Politik ernst nehmen und angehen. und der FDP) (Beifall bei der FDP) Die dritte große Herausforderung ist der Absatz. Des- Vizepräsident in Petra Pau: halb wird heute dieses Gesetz auf den Weg gebracht, und Das Wort hat die Kollegin Carina Konrad für die FDP- das ist wichtig. Coronabedingt ist der Absatz in einigen Fraktion. Bereichen des Weinanbaus stark zurückgegangen, wobei ich das nicht verstehen kann; denn man hat ja jetzt eigent- (Beifall bei der FDP) lich auch ein bisschen mehr Zeit gehabt. Aber die Gast- ronomie ist geschlossen, die Weinfeste sind ausgefallen, Carina Konrad (FDP): und jetzt fallen auch noch die Weihnachtsmärkte aus. Das Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol- ist natürlich ein Problem für die Winzerinnen und Winzer. legen! Liebe Frau Ministerin, Sie haben es schon gesagt: Heute geht es um die Winzerinnen und Winzer in Hinzu kommen der Absatzeinbruch durch die Straf- Deutschland. Es geht darum, deutlich zu machen, dass zölle der USA und den Brexit und Wettbewerbsverzer- die Winzerinnen und Winzer viel mehr produzieren als rungen aufgrund von – durchaus nachvollziehbaren – nur ein Getränk. Wein ist ein Kulturgut und ein Genuss- Wünschen und Gesetzen. Durch die Mindestlohnanforde- mittel, das die Menschen verbindet. Es verbindet die rungen werden die Produktionsbedingungen in Deutsch- Menschen natürlich ganz besonders bei uns in Rhein- land wettbewerbsverzerrend gestaltet. Das müssen wir land-Pfalz, in meinem Wahlkreis zwischen Mosel und sehr ernst nehmen und in Zukunft besser gestalten; Rhein. Ich darf das sagen; das gehört zu einer Weinrede denn am Ende entscheidet auch der Preis pro Flasche dazu. Es ist ja so selten, dass wir in diesem Plenum über darüber, wie rentabel Weinbau ist. dieses wichtige und tolle Thema reden. Es ist auch so Kurzum, ich will mit Goethe schließen – ich glaube, wichtig, dass wir heute dieses Gesetz für die Winzerinnen Zitate gehören beim Thema Weinbau dazu –: „Das Leben und Winzer auf den Weg bringen, und das unterstützen ist viel zu kurz, um schlechten Wein zu trinken.“ wir Freien Demokraten natürlich gerne. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP) der CDU/CSU) (B) Doch ich will auch nicht verhehlen, dass es um noch Deshalb wäre es schön gewesen, heute statt Wasser ein (D) viel mehr geht. Denn auch der Weinbau steht vor großen Glas Wein mit zum Platz zu nehmen. Frau Ministerin – Herausforderungen. Die erste große Herausforderung, Sie sind auch für den Weinbau zuständig –, vielleicht die ich hier heute nennen möchte, ist der Klimawandel. können wir das in Zukunft ändern. Der Klimawandel begünstigt auf der einen Seite Krank- Vielen Dank. heiten wie Esca, eine Rebholzkrankheit, die in den letzten Jahren immer häufiger auftritt. Auf der anderen Seite (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Franziska werden spätreifende Sorten wie der Cabernet heute Gminder [AfD] – Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/ auch bei uns reif. Das war vor 20 Jahren noch undenkbar. DIE GRÜNEN]: Das ist immerhin das Plenum des Bundestages!) Das sind Veränderungen, auf die Winzerinnen und Winzer reagieren wollen und reagieren. Sie zeigen, dass sie veränderungsbereit sind. Das sieht man an den jungen Vizepräsident in Petra Pau: Winzerinnen und Winzern, die auf den Social-Media- Das Wort hat die Kollegin Kerstin Kassner für die Kanälen unterwegs sind, die bei Instagram tolle Storys Fraktion Die Linke. machen, die begeistern. Aber auch wir als Politik müssen (Beifall bei der LINKEN) die Voraussetzungen dafür schaffen, über Züchtung, über Sortenanpassung, über Forschung, dass sie diese Verän- derungen vernünftig bewerkstelligen können. Kerstin Kassner (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei der FDP) Friedrich Engels, dessen Geburtstag sich in wenigen Um den Weinbau langfristig gegen den Klimawandel Tagen zum 200. Mal jährt, zu wappnen, müssen zukunftsträchtige Pflanzenbau- und (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Am Pflanzenschutzsysteme auch im Weinbau umgesetzt wer- Samstag! 28. November!) den. Hier gibt es noch viel zu tun. Die Drohnen, die auch in den Steillagen zum Einsatz kommen können, sind da wurde einmal gefragt, was für ihn Glück bedeutet. Er nur ein Beispiel. antwortete: Ein Château Margaux aus dem Jahre 1848. Die zweite große Herausforderung ist die Bürokratie. (Beifall bei der LINKEN) Das wird auch im Gespräch mit Winzerinnen und Win- So weit, so gut. Auch das ist ein Zeichen dafür, dass der zern immer wieder deutlich. Die Planungssicherheit, die deutsche Wein die Stärkung braucht. Deshalb überlegen die Kollegin Mackensen angesprochen hat, ist ganz ele- wir uns, was wir tun können, um den Winzerinnen und mentar. Wenn man heute auf einer Fläche, auf der ein Winzern in unserem Land Unterstützung zu geben. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24683

Kerstin Kassner (A) Nun ist Wein ganz sicher kein Thema – das haben Sie Harald Ebner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) auch bei meinen Vorrednern gemerkt –, bei dem wir das Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und große Streiten kriegen und wo die politische Auseinan- Kollegen! Wein macht redselig. Möglicherweise sind dersetzung gefordert ist. Aber ich denke, auch hier ist es deshalb schon vor den Weindebatten im Bundestag in wichtig, dass wir um den richtigen Weg ringen, gemein- vielen freundlichen Gesprächen die wichtigen Punkte sam den richtigen Weg finden. abgeräumt worden. Ich möchte erst einmal ein ganz herzliches Danke- Wein trinken an sich ist ja auch was Schönes. Der schön an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, an die Weinbau prägt aber auch das Gesicht dieses Landes ent- Verantwortlichen in der Weinbranche richten; denn sie scheidend mit, und das soll auch so bleiben. Der erzielten sind maßgeblich daran beteiligt, dass es schon im Vorfeld Einigung zum Weingesetz stimmen wir zu; denn sie soll des heute zu beschließenden Gesetzes einen großen Kon- dazu beitragen, dass deutscher Wein auch in Zukunft sens gab. Viele Dinge wurden ausgeräumt, und man hat seinem Qualitätsversprechen gerecht wird und im In- sich auf die richtigen Wege verständigt. und Ausland besser vermarktet werden kann; das hat die Frau Ministerin schon gesagt. (Beifall bei der LINKEN) Mehr Transparenz und die Stärkung kleiner Anbauge- Allerdings bleiben da noch ein paar Dinge übrig. biete können da helfen. Aber es ist auch ein bisschen Wasser in dieser Weinkiste. Die echten Konfliktlinien Wenn unsere weinpolitische Sprecherin Birke Bull- wie die Kennzeichnung von Herkunftsangaben verste- Bischoff jetzt hier wäre, würde sie natürlich von Saale- cken sich vor allem in der Weinverordnung. Den Streit Unstrut schwärmen. Sie würde die wunderbaren Winzer- werden die Bundesländer im Bundesrat austragen müs- genossenschaften dort loben. Sie würde sagen: In diesem sen. Den Streit sparen wir uns hier. herrlichen Gebiet wird ob der vielen Steillagen, die es dort gibt, schwere Arbeit von den Weinbauern verlangt. Die Umstellung der Herkunftskennzeichnungen stellt Nichtsdestotrotz: Dieses Weinbaugebiet ist hoch angese- für einige Erzeuger eine Herausforderung dar. Aus unse- hen. rer Sicht braucht es da zwingend eine angemessene Über- gangszeit. Darüber, ob das vier Jahre sein sollten oder Ich komme – man hört es – aus dem hohen Norden, sechs, Frau Ministerin, muss man wirklich nachdenken. von der Insel Rügen. Neben meinen vier Weinreben im Mit einer entsprechenden Übergangszeit geben wir allen Garten haben wir da nicht so viel zu bieten. Allerdings die Chance, mit guter Umstellungsplanung und ent- gibt es ein junges Weinbaugebiet in unserem Land, das sprechenden Vermarktungsinitiativen den Absatz ihrer Stargarder Land. Dort wird ein sehr solider Mecklenbur- Produkte zu sichern. (B) ger Landwein gekeltert. So viel zur Werbung für die (D) eigene Region. Das haben meine Kolleginnen und Kol- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) legen vor mir ja auch alle getan; das musste halt sein. Aber für einen wirklich zukunftsfähigen Weinbau ist es mit der Novellierung des Weinrechts nicht getan. Die (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. größte Gefahr ist jetzt die Klimakrise. Seit Jahren ver- Stephan Protschka [AfD] und Mario zeichnet der Weinbau deutliche Veränderungen bei Vege- Brandenburg [Südpfalz] [FDP]) tationsphasen, Reifedauern und dem Lesebeginn. Die Zu unserer Forderung. Wir werden dem Gesetzentwurf Weinwirtschaft ist auf aktiven Klimaschutz angewiesen, nicht zustimmen, weil wir uns wünschen, dass der Regio- und wir warten bis heute darauf, dass die Bundesregie- nalität noch viel mehr Rechnung getragen wird. Man rung da endlich liefert. kann da mit viel Emotion viel für die Vermarkung tun. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das würden wir uns wünschen. Wir müssen auch an den Klimawandel denken. Wir wünschen uns, dass den Win- Zum Zweiten geht es um Klimaanpassung. Die Kol- zern Investitionszuschüsse gegeben werden, damit sie legen haben ja schon erkannt, dass es auch um Züchtung sich die entsprechenden Bewässerungssysteme leisten geht, um neue Rebsorten. Deutschland hat bei der Resis- können. tenzzüchtung von Reben eine lange Tradition und ist europaweit führend auf diesem Gebiet. Hier ist nun etwas Aus diesem Grunde werden wir nicht den Wein ver- gelungen, was Gentechnikanhängerinnen und -anhängern wässern, indem wir Wasser hineinkippen, sondern wir ein bisschen ungelegen kommen mag: Gerade beim werden ein gutes, solides Glas danebenstellen und uns Wein, wo Züchtung enorm schwierig, komplex und lang- erst einmal kräftig enthalten. wierig ist, wurden tatsächlich gleich mehrere pilzwiders- (Lachen bei der FDP) tandsfähige Sorten entwickelt, ganz ohne alte Transgen- technik und ganz ohne neue gentechnische Methoden wie Vielen Dank. CRISPR/Cas. Es geht also. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Carsten Träger [SPD]) Vizepräsident in Petra Pau: Genau diese Art von Züchtungserfolgen braucht unse- Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kolle- re Unterstützung. Hier müssen wir eine massive Informa- ge Harald Ebner das Wort. tionsoffensive starten, um den Bekanntheitsgrad solcher neuen Sorten zu erhöhen. Schnellere Markteinführung ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ein Teil davon, lieber Kollege Auernhammer. Wir müssen 24684 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Harald Ebner (A) aber auch den Anbau dieser Sorten attraktiv machen, Weines. Ich möchte hier mal klar und deutlich sagen: (C) damit nicht nur, aber vor allem die Besten der Besten Die deutsche Weinproduktion ist nicht mehr ausreichend, diese Sorten anbauen wollen; denn wenn wir hier viele um den deutschen Weintrinker mit Wein zu versorgen. Parker-Punkte haben, dann ist das die beste Vermark- Der Deutsche kauft lieber südafrikanischen, kaliforni- tungsoffensive. schen Wein, Südtiroler Wein statt deutschen Wein. Das Weingeschmäcker ändern sich. Die Weinwirtschaft sage ich auch vor dem Hintergrund des Ökologiegedan- muss sich auf Veränderungen einstellen. Wir sollten kens, des Transportes. Umso wichtiger ist, dass wir hier mehr Flexibilität auf allen Seiten ermöglichen. Das ist vorankommen, dass wir eine Novelle zum Weingesetz wichtig, um auch in Zukunft die Weinbautradition in machen und dann eine neue Weinverordnung. diesem Land zu erhalten. Wohl bekomm’s! Vizepräsident in Claudia Roth: Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) -bemerkung von Dr. Hoffmann von der FDP-Fraktion?

Vizepräsident in Claudia Roth: Artur Auernhammer (CDU/CSU): Vielen Dank. – Maske, Herr Ebner! Richtig anziehen, Das kommt darauf an, wie viel Schoppen Wein er bitte: hinterm Ohr. anbietet. (Heiterkeit – Zurufe) (Heiterkeit) – Das ist kein Kindergarten, das ist unsere Verantwor- Gut, bitte. tung. (Weitere Zurufe) Dr. Christoph Hoffmann (FDP): – Ich habe es mir schon gedacht: Jetzt kommt eine Vielen Dank, Herr Kollege Auernhammer, dass Sie die Weinregion in Bayern. Zwischenfrage zulassen. Bei uns sagt man nicht „Schoppen“, sondern „Viertele“; aber sei’s drum. Letzter Redner in dieser weinseligen Debatte: Artur Auernhammer für die CDU/CSU-Fraktion. Ist Ihnen aufgefallen, dass unsere Landwirtschaftsmi- nisterin das sonnenreichste Weinbaugebiet vergessen hat, (Beifall bei der CDU/CSU – Stephan Protschka nämlich den Kaiserstuhl und Südbaden? [AfD]: Jetzt wird der Bocksbeutel gelobt!) (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (B) Artur Auernhammer (CDU/CSU): (D) Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mein besonderer, herzlicher Gruß Vizepräsident in Claudia Roth: geht jetzt an alle Winzerinnen und Winzer, deren Herr Kollege, was sagen Sie dazu? Weinanbaugebiet heute noch nicht genannt worden ist. (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Artur Auernhammer (CDU/CSU): Mir ist das nicht aufgefallen. Dazu zählt das wichtigste Weinanbaugebiet Deutsch- lands, (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) (Heiterkeit bei Abgeordneten im ganzen Hau- se) Denn sie hat alle 13 deutschen Weinanbaugebiete genannt, wenn auch nicht alle namentlich. Wenn Sie der Franken, Meinung sind, Ihr Weinanbaugebiet ist etwas ganz (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der Besonderes, dann bitte ich darum, dass Sie dem Parla- CDU/CSU und der AfD) mentarischen Weinforum einmal eine Kostprobe zur Ver- und der wichtigste Weinort, Tauberzell. fügung stellen; dann können wir das auch gut beraten. – Danke schön. (Heiterkeit bei Abgeordneten im ganzen Hau- se) (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Vizepräsident in Claudia Roth: Meine sehr verehrten Damen und Herren, was wäre, Darf ich das mal testen? hätten wir solch einen Absatzrückgang in anderen Pro- duktionsbereichen der deutschen Landwirtschaft, hätten wir diesen Absatzrückgang bei Milch, bei Fleisch oder in Artur Auernhammer (CDU/CSU): anderen Produktionsbereichen? Ich sage das gerade am Frau Präsidentin, ich lade Sie gerne zu einem Glas heutigen Tag. Vielleicht können Sie sich daran erinnern, Wein ein. Es erweitert jeden Horizont und dergleichen; was voriges Jahr an diesem 26. November in Berlin los da bin ich gern dabei. war: Tausende Traktoren auf der Straße. Aber die Winzer, Aber jetzt zur Sache. Ich glaube, das alles Entscheiden- sind sie zu bescheiden? Wie auch immer: Wir müssen de hat die Frau Ministerin anfangs erwähnt; sie hat ihre hier wieder stärker vorankommen, wir müssen den deut- Zustandsbeschreibung des deutschen Weins gegeben: Es schen Weinbau wieder auf gesunde Füße stellen und ging um den Rückgang des Absatzes des deutschen wirklich nach vorne schauen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24685

Artur Auernhammer (A) Mich hat ganz besonders beeindruckt: Bei unserem Artur Auernhammer (CDU/CSU): (C) Fachgespräch, das wir im Ausschuss gehabt haben, hat Frau Präsidentin, erlauben Sie mir, dass ich das jetzt jeder Verband seinen Beitrag geleistet. Aber ganz beson- nicht weiter ausführe, was Sie geäußert haben. ders beeindruckt hat mich die Vertreterin der Jungwinzer, Aber ich will heute auch sagen: Ein herzliches Danke- Mara Walz, die gesagt hat: Wir wollen eine Zukunftsper- schön an alle Mitglieder im Parlamentarischen spektive für den deutschen Wein; wir wollen eine Pla- Weinforum! Die Gründung des Parlamentarischen Wein- nungssicherheit für Generationen. – Das ist unser Auftrag forums hatte ja eine Ursache. Julia Klöckner könnte eine heute. Das müssen wir bei diesem Weingesetz auch Geschichte dazu erzählen, genauso wie . berücksichtigen, meine Damen und Herren. Noch einmal: Herzliches Dankeschön für diese Zusam- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und menarbeit! Diese Zusammenarbeit, sage ich jetzt ganz der FDP) offen, ist vielleicht auch Ansporn, dass wir das bei dem einen oder anderen Gesetz auch so handhaben können. Es gibt bei 13 Weinanbaugebieten, habe ich festge- Dann ist unserer Demokratie auch geholfen. stellt, auch noch mehr als 13 Meinungen. Die Meinungs- Vielen Dank. vielfalt in diesem Produktionsbereich ist wesentlich größ- er als in allen anderen Bereichen. Hier einen Kompromiss (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- zu finden, ist schwierig. Aber wenn wir jedem Kompro- ordneten der SPD und der FDP) miss nachgeben, wird es keine große Novelle. Deshalb ist der gefundene Gesetzentwurf auch der richtige. Ich bin Vizepräsident in Claudia Roth: überzeugt: Wir können vielleicht noch über ein oder zwei Jahre reden, was die Übergangszeiten anbelangt. Aber ich Vielen Dank, Artur Auernhammer. – Damit schließe möchte schon daran erinnern: Wenn wir solch einen ich die Aussprache. Rückgang beim Absatz haben und jetzt nicht handeln, Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- dann ist der deutsche Wein in zehn, in zwanzig Jahren desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung vielleicht zum Spottpreis von 99 Cent im Tetrapak beim des Weingesetzes. Der Ausschuss für Ernährung und Discounter im Angebot, aber er wird auf der Welt nicht Landwirtschaft empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung mehr als Qualitätswein angesehen. Darum besteht hier auf Drucksache 19/24512, den Gesetzentwurf der Bun- jetzt Handlungsbedarf. Hier wurde schon lange die desregierung auf Drucksache 19/23749 in der Ausschuss- Grundlage gelegt, die Winzer haben schon lange darüber fassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge- diskutiert, und jetzt müssen wir es angehen. setzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieses Jahr, (B) hält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera- (D) 2020, ist ein besonderes Jahr. Wir wissen alle: Corona hat tung angenommen. Zugestimmt haben die Fraktionen uns alle geprägt. Es hat aber auch die jungen Menschen SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU, FDP und geprägt, die im Weinbau unterwegs sind, die auch den AfD. Enthalten hat sich die Fraktion Die Linke. deutschen Wein nach außen tragen. Ich denke hier an unsere Weinhoheiten. Egal ob das meine Tauberzeller Dritte Beratung Weinprinzessin ist oder die Deutsche Weinkönigin, sie haben sich alle in ihrer Regentschaft auf die Weinfeste und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem gefreut, auf die Veranstaltungen, auf die Verkostungen; Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – sie wollten was Gutes tun für den deutschen Wein. Und Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist sie haben diese Herausforderungen angenommen. Des- der Gesetzentwurf angenommen: Enthaltung der Linken halb ein ganz, ganz herzliches Dankeschön an unsere bei Zustimmung aller anderen Fraktionen hier im Haus. Weinhoheiten: Sie haben das in den sozialen Medien Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: ganz hervorragend gemacht. Das soll unser Auftrag, unser Vorbild sein! Beratung des Antrags der Abgeordneten Zaklin Nastic, Amira Mohamed Ali, Heike Hänsel, wei- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE der FDP und des Abg. Stephan Protschka Schufa und anderen privaten Auskunfteien [AfD]) den Riegel vorschieben Zum Schluss ein herzliches Dankeschön an die Mit- Drucksache 19/24451 glieder des Parlamentarischen Weinforums. Man kann Überweisungsvorschlag: vieles werden im Deutschen Bundestag – vielleicht Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) auch Vizepräsidentin –; aber um Mitglied im Parlamen- Ausschuss für Inneres und Heimat tarischen Weinforum zu werden, da muss man gewisse Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Grundvoraussetzungen haben. Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten beschlossen. – Ich warte, bis ein bisschen Ruhe einge- (Heiterkeit bei Abgeordneten im ganzen Hau- kehrt ist. se) Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat für die Fraktion Die Linke Zaklin Nastic. Vizepräsident in Claudia Roth: Als Vizepräsidentin auch, mit Verlaub. (Beifall bei der LINKEN) 24686 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

(A) Zaklin Nastic (DIE LINKE): Die Schufa vertritt die Interessen des Banken- und (C) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Pari- Finanzsektors und eben nicht die der kleinen Verbrau- tätische Wohlfahrtsverband hat kürzlich die höchste cherinnen und Verbraucher. Armutsquote seit 1990 festgestellt. Dies ist nicht etwa (Dr. Heribert Hirte [CDU/CSU]: Das ist auch durch Corona verursacht, nein, das ist das politische richtig so!) Armutszeugnis von 2019. Es ist also höchste Zeit, den Kniefall der Politik vor (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) solchen privaten Unternehmen endlich zu beenden. Menschen mit den niedrigsten Einkommen haben (Beifall bei der LINKEN) wegen der skandalösen Politik der Bundesregierung nun auch während der Coronakrise die größten Einbußen zu Dies ginge sofort und ganz leicht. verzeichnen; das sagt das Wirtschafts- und Sozialwissen- Deswegen fordern wir Linken erstens, dass das Ein- schaftliche Institut. Hinzu kommt, dass die Ärmsten über- holen von solchen Bonitätsbewertungen gesetzlich ver- all draufzahlen müssen: beim Kredit, beim Dispo, bei boten wird – mit der Ausnahme der Beantragung von Ratenzahlungen. Damit wollen wir Linken uns nicht Krediten –, und zweitens, dass eine vollständige Trans- abfinden. parenz über diese Berechnungsmethoden und all ihre (Beifall bei der LINKEN) Faktoren hergestellt wird. Wir fordern außerdem, dass die Datenschutzbehörden so ausgestattet sind, dass sie Die Schufa, gegründet als Schutzgemeinschaft für all- selbst solche Gutachten erstellen können. gemeine Kreditsicherung, und andere Auskunfteien haben mittlerweile Kontrolle in fast allen Lebensberei- Völlig klar muss doch sein, dass es während der Coro- chen: Kein Handyvertrag, kein Energievertrag, kein nakrise keinerlei negativen Einträge bei der Schufa geben Mietvertrag ohne „Big Brother Schufa is watching darf. you“. Wenn dann aber Superreiche Milliardenkredite (Beifall bei der LINKEN) erhalten, um hinterher Arbeitsplätze ins Ausland zu ver- legen, muss man sich über Zorn bei Niedrigverdienern Die Regelungen zum Zahlungsaufschub sind am 30. Juni und Hartz-IV-Empfängern nicht wundern. dieses Jahres abgelaufen. Diese müssen doch sofort ver- längert werden. Die Schufa von heute hat mit ihrer ursprünglichen Auf- gabe, mit der Kreditsicherung, so gut wie gar nichts zu (Beifall bei der LINKEN) tun. Sie sammelt Daten von 68 Millionen Menschen in Ja, Vertragsfreiheit ist grundgesetzlich festgeschrie- Deutschland und bewertet die Menschen dann im Gehei- ben; aber diese kann doch nicht über grundlegenden men. Damit muss Schluss sein. Menschenrechten stehen. Unser Antrag kann und soll (B) (D) (Beifall bei der LINKEN) ein Anfang sein, sich den Geschäftspraktiken von Schufa und Co und ihren negativen Auswirkungen auf grundle- Die schlechte Bewertung, also das sogenannte Scoring, gende Menschenrechte entschieden entgegenzustellen. macht den Alltag für Menschen, die in finanziellen Also, öffnen wir endlich die Blackbox Schufa! Schwierigkeiten stecken, zum Spießrutenlauf. Wir Lin- ken akzeptieren nicht, dass diese „Selbsthilfeorganisation Vielen Dank. des Bankensektors“, wie sie der frühere Bundesdaten- (Beifall bei der LINKEN) schutzbeauftragte Peter Schaar einst nannte, die Ärmsten in noch größere Schwierigkeiten stürzt und ihre Existenz Vizepräsident in Claudia Roth: bedroht. Vielen Dank, Zaklin Nastic. – Nächster Redner: für die Die Schufa-Datenbank enthält so viele Fehler, dass CDU/CSU-Fraktion Sebastian Steineke. selbst Menschen, die nie in Zahlungsverzug geraten (Beifall bei der CDU/CSU) sind, plötzlich Schwierigkeiten bekommen. Der Score berechnet sich eben oft nicht am eigenen Verhalten. Nein, die Menschen werden in Vergleichsgruppen mit Sebastian Steineke (CDU/CSU): Menschen mit ähnlichen Eigenschaften gesteckt und Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! beurteilt: nach Alter, Geschlecht, aber auch nach Name Wie wir gerade schon gehört haben, beraten wir heute und Wohnort. Dies ist Diskriminierung pur. über einen Antrag der Linken, der, überspitzt formuliert – man muss es eigentlich gar nicht mehr überspitzen –, (Beifall bei der LINKEN) besagt: Wir brauchen keine Bonitätsprüfungen mehr; Wer kontrolliert das alles? Das sind die Datenschut- wir schaffen die Schufa ab. – Das ist eigentlich der An- zaufsichtsbehörden der Länder. Wobei das Wort „Kon- trag. trolle“ hier eigentlich falsch ist. Denn tatsächlich erstel- Das mag für den Außenbetrachter vielleicht ganz nett len die Unternehmen selbst Gutachten über sich, und sein. Aber am Ende des Tages ist es gerade auch für die diese werden dann von den Behörden abgenickt. So kön- Verbraucher schlecht, wenn es keine Bonitätsprüfung nen die Unternehmen diese Berechnungsmodelle als mehr gibt. Denn ganz grundsätzlich gesehen ist das Sco- Betriebsgeheimnisse für sich behalten. Das ist so, als ring nichts Schlechtes; es ist sogar was völlig Normales. wenn ein Autoraser hinterher selbst seine eigene Es geht darum, dass eine Wahrscheinlichkeit berechnet Geschwindigkeit schätzen könnte. Das Ganze ist einfach wird, mit der der Kunde oder der Kreditnehmer am Ende eine Farce. des Tages seine Rechnung bezahlt – oder eben nicht. Das (Beifall bei der LINKEN) ist das Normalste auf der Welt. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24687

Sebastian Steineke (A) Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Bei- Das ist aus unserer Sicht zwingendes europäisches Recht. (C) spiel anfangen, jemandem aus dem Freundeskreis Geld Das heißt, wir können es gar nicht ändern und würden ein zu leihen, vergewissern Sie sich in der Regel doch auch Vertragsverletzungsverfahren kassieren, wenn wir es vorher, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass Sie das trotzdem machen würden. Geld auch wiedersehen. Der klassische Fall außerhalb der Bankkredite – es ist (Dr. Heribert Hirte [CDU/CSU]: Genau!) im Antrag angesprochen – ist das Thema Mobilfunk. Unstrittig sind die meisten Menschen auf Mobilfunk Vielleicht verzichten Sie in den Fällen darauf, wo man angewiesen. Hieran hängen – das wird gerne vergessen, sich besonders gut kennt. Aber dieses Glück haben die auch im Antrag – aber eben nicht nur die Vertragslaufzei- Unternehmen nicht. ten, sondern in vielen Fällen teure Endgeräte, die mitver- Es ist doch völlig selbstverständlich und logisch, dass kauft worden sind. Also geht es am Ende des Tages nicht Unternehmen wissen wollen, mit welcher Wahrschein- nur um den nichterfüllten Vertrag, sondern auch um das lichkeit ihre Rechnungen bezahlt werden oder die Käufe nicht erstattete, das nicht bezahlte technische Endgerät. im Internet per Rechnung bezahlt werden können. Etliche Auch auf diesen Kosten bleibt das Unternehmen dann Milliarden Euro werden jedes Jahr in Deutschland mit sitzen. Auch das darf man nicht vergessen. Es gibt Alter- Kauf auf Rechnung umgesetzt. Scoring ist in diesem nativen für diese Kundinnen und Kunden. Das betrifft das Zusammenhang unerlässlich und wichtig für den ganzen Thema Prepaid; wir haben darüber gesprochen. Dort gibt Wirtschafts- und Handelskreislauf. es keine Bonitätsprüfung, also wird auch niemandem die Möglichkeit genommen, Mobilfunk zu nutzen. (Beifall bei der CDU/CSU) Trotz aller Kritik an diesem Antrag gibt es natürlich Übrigens – darauf muss man hinweisen – betrifft das auch in diesem Bereich Themen, über die wir reden müs- nicht nur die großen Player am Markt, sondern vor allen sen. Zum Beispiel ist in den letzten Wochen und Monaten Dingen die kleinen und mittleren Unternehmen, für die das Thema „Bonushopper bei Energieversorgungsverträ- jeder Ausfall in der Zahlung existenzbedrohend sein gen“ aufgekommen. Es sollen wohl Datenbanken aufge- kann, wenn die Kunden regelmäßig nicht zahlen. Das baut werden, in denen die Daten von Zahlungswilligen gehört zur Wahrheit dazu. und Zahlungsfähigen, also Leuten, die ihre Verpflichtun- gen erfüllen, gesammelt werden, um, so sagen die Unter- Vielleicht noch mal zu den Zahlen. Nach Auskunft der nehmen, einfach mal zu gucken. Aber man könnte davon Schufa haben knapp 91 Prozent der Bürgerinnen und ausgehen, dass darüber nachgedacht wird, diesen dann Bürger, die erfasst sind, eine positive Bonität. Die Kredit- keinen neuen Vertrag zu geben. Über solche Dinge müs- ausfallrate lag im September dieses Jahres bei 2,1 Prozent (B) sen wir reden; denn das ist sicherlich nicht im Sinne der (D) und damit genauso hoch wie in den letzten beiden Jah- Energiewende, und das ist auch nicht im Sinne der Ver- ren – wohlgemerkt: trotz Corona. Im Umkehrschluss braucherinnen und Verbraucher. heißt das: 97,9 Prozent aller Konsumentenkredite werden ordnungsgemäß bedient. Der ganz überwiegende Teil der Zum Abschluss möchte ich noch zwei Dinge sagen: Verbraucherinnen und Verbraucher erfüllt seine Dauer- Wenn der Antrag so beschlossen würde, würden Sie schuldverhältnisse und zahlt seine Rechnungen. nicht nur die Unternehmen schwächen, sondern auch Es gibt also überhaupt keinen Grund, alle anderen Ver- die Verbraucherinnen und Verbraucher. Sicher kennt braucher dadurch zu benachteiligen, wie der Antrag es jeder von Ihnen das Thema Hausbau, wo man sich gerne fordert, dass man die Bonitätsprüfung abschafft. Sie stel- mal über die Liquidität des Gegenübers informieren len mit diesem Antrag eigentlich alle anderen Verbrau- möchte, um sicherzugehen, ob der überhaupt bauen cher unter den Generalverdacht, dass sie nicht zahlen. kann. Das würden Sie aber dabei und bei anderen größ- eren Investitionen verhindern; der Verbraucher könnte Scoring ist sogar etwas Positives für die Verbraucher- sich nicht mehr informieren. innen und Verbraucher. Gäbe es das nicht, ist doch geradezu selbstverständlich, was folgen würde: Die Morgen beschließen wir Verbesserungen des Verbrau- Unternehmen müssten anders kalkulieren, um den Zah- cherschutzes im Inkassorecht in erheblichem Umfang, lungsausfall abzufedern. Das heißt, die Produkte werden und das ist gut. Sie wollen aber noch weiter runter: Sie für alle auf dem Markt teurer. Wir sprechen hier also nicht würden die Unternehmen in die doppelte Zange nehmen. nur von Einschränkungen für die Wirtschaft, sondern wir Sie wollen erreichen, dass die Unternehmen das nicht sprechen auch von Einschränkungen und klaren Nach- mehr kostendeckend geltend machen können; sie dürfen teilen für alle Verbraucherinnen und Verbraucher. sich aber auch vorher nicht über den Zahlungsausfall informieren. Das kann nicht im Sinne des Erfinders Eine weitere Forderung betrifft die Löschfristen; Sie sein, und deswegen werden wir diesem Antrag auch nicht haben es ja vielleicht nebenbei noch kurz erwähnt. Sie zustimmen. wollen hier eine Löschfrist von einem Jahr. Auch dazu muss man vielleicht zwei, drei Sätze sagen. Das Schuld- Vielen Dank. nerverzeichnis an den Vollstreckungsgerichten kennt die (Beifall bei der CDU/CSU) Löschfrist von drei Jahren. Auch die Löschfrist bei der Restschuldbefreiung beträgt drei Jahre. Vizepräsident in Claudia Roth: (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Vielen Dank, Sebastian Steineke. – Nächster Redner: Viel zu lang!) für die AfD-Fraktion Thomas Seitz. 24688 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Vizepräsident in Claudia Roth (A) (Beifall bei der AfD) von Millionen legaler und illegaler Migranten in den letz- (C) ten Jahren, der den Wohnungsmarkt zum Kollabieren Thomas Seitz (AfD): gebracht hat. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen (Beifall bei der AfD) und Herren! Wieder einmal müssen wir uns hier im Hohen Haus mit einem Antrag der Linken befassen, der Was wäre also die weitere Folge, wenn Ihr Antrag mit jedem Wort Ihr unfreiheitliches und realitätsblindes umgesetzt wird? Spätestens nach der ersten Enttäuschung Weltbild offenbar werden lässt. Schufa und andere Aus- werden private Vermieter ihren Wohnraum lieber leer kunfteien sind Ihnen doch einfach ein Gräuel, und des- stehen lassen, als nochmals ein Risiko einzugehen. Das halb wollen Sie sie am besten allesamt verbieten. Es ist schadet nicht nur sozial benachteiligten Mietinteressen- Ihnen mit der Forderung nach der Schaffung von Trans- ten, sondern allen. Auch ein gewerblicher Vermieter von parenz und besserer Kontrolle doch gar nicht ernst, wenn Wohnraum hat schnell eine Umgehungsmöglichkeit der Großteil des Geschäfts in Bezug auf Privatpersonen gefunden: Es wird nur noch an Personen vermietet, die einfach verboten werden soll. in der Lage sind, als Mietsicherheit eine Bankbürgschaft beizubringen. Die Auslese ungewollter Mieter erfolgt Um nichts anderes geht es, wenn Sie die Überprüfung dann eben bei der Bank. der finanziellen Zuverlässigkeit von Privatpersonen auf Kreditverträge beschränkt sehen wollen. Mit solchen völ- Menschen mit einer geringen Bonität haben immer lig überzogenen Forderungen verhindern Sie aber nur, Schwierigkeiten auf dem Wohnungsmarkt. Wer aber dass eine echte Debatte darüber geführt wird, wo es wirk- Anspruch auf ALG II oder Sozialhilfe hat, der hat auch lich gravierende Mängel gibt und wie man hier Abhilfe Anspruch auf Übernahme der Wohnkosten. Für die Über- schafft. nahme der Wohnkosten werden Zusicherungsbescheini- gungen durch die Jobcenter und Grundsicherungsämter Wir sind uns vermutlich einig, dass es gerade im Hin- ausgestellt. Diese Zusicherungsbescheinigungen reichen blick auf Datenschutz sowie Qualität und Transparenz vielen Vermietern aus, um auch an Menschen mit gerin- der eingesetzten Berechnungsalgorithmen viel zu verbes- gerer Bonität zu vermieten. Dies geschieht bundesweit sern gibt. Ja, Kontrolldichte wie Kontrolltiefe müssen jeden Tag. erhöht werden, und Auskunfteien müssen für fehlerhafte Auskünfte haften. Aber mit der Forderung nach pauscha- Für die Menschen, die auf dem freien Wohnungsmarkt len Verboten erreichen Sie rein gar nichts. dennoch nicht fündig werden, gibt es den sozialen Woh- nungsbau, der aber auch zunehmend für die Unterbrin- In der rechtlichen Bewertung stellt sich Ihre neue Ver- gung von Neubürgern reserviert ist. Entlasten Sie die botsorgie, die auch absolut der Fraktion der Grünen wür- Wohnungsnachfrage durch einen Stopp der illegalen Ein- (B) dig wäre, als ein interventionistischer Eingriff in das wanderung und konsequente Abschiebung. Fördern Sie (D) Wirtschaftsgeschehen dar. Es ist der Versuch, unsere frei- die Schaffung sozialen und privaten Wohnraums. Damit heitliche marktwirtschaftliche Gesellschaft weiter in helfen Sie allen, die eine Wohnung suchen. Richtung einer sozialistischen Zentralverwaltungswirt- schaft zu transformieren. Vielen Dank. (Beifall bei der AfD – Zaklin Nastic [DIE (Beifall bei der AfD) LINKE]: Ich denke, Sie wollen Überwachung!) Die haushohe „Überlegenheit“ der sozialistischen Vizepräsident in Claudia Roth: Planwirtschaft haben die Linken, als sie sich noch SED Herr Seitz, bitte die Maske. Wir haben es letzte Woche nannten, über Jahrzehnte vorexerziert. Wie sollten Sie da eigentlich geübt. auch wissen, dass der Grundsatz der Vertragsfreiheit im (Zuruf von der CDU/CSU) Zivilrecht als Ausfluss der allgemeinen Handlungsfrei- heit grundgesetzlichen Schutz genießt? Hierzu gehört – Nein, er hat schon eine dabei. – Danke schön. insbesondere das Recht, sich frei zu entscheiden, mit (Thomas Seitz [AfD]: Bitte sehr! – Beifall bei wem man sich vertraglich binden will und mit wem nicht. der AfD) Es ist Ausdruck des wirtschaftlichen Grundverständ- Nächster Redner: für die SPD-Fraktion Dr. Karl-Heinz nisses, dass Unternehmer wie private Vermieter nach Brunner. Möglichkeit mit Vertragspartnern kontrahieren, bei denen die Umstände eine von Leistungsstörungen freie Ver- (Beifall bei der SPD) tragsdurchführung erwarten lassen. Eine Bevorzugung solventer und nicht vorbelasteter Vertragspartner stellt Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD): deshalb keine Diskriminierung dar. Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine verehrten Kol- Auch in der praktischen Betrachtungsweise stellt sich leginnen und Kollegen! Stellen Sie sich mal vor, Sie Ihr Antrag als kompletter Unsinn dar. Wenn Sie ange- wollen sich verhalten wie unsere Kanzlerin, also wie messene Informationen über die wirtschaftliche und per- eine schwäbische Hausfrau. Als schwäbische Hausfrau sönliche Zuverlässigkeit eines Vertragspartners verhin- werden Sie jährlich die Verbraucherpreise auf dem dern, mag es sein, dass mancher Mietvertrag zustande Strommarkt nicht nur vergleichen, nicht nur kontrollie- kommt, den es mit einer Schufa-Auskunft nicht gegeben ren, sondern gegebenenfalls jährlich Ihren Vertrag kün- hätte. Damit ist das Problem eines völlig überlasteten digen und jährlich einen neuen Vertrag abschließen. Sie Wohnungsmarktes aber nicht gelöst. Es ist der Zuzug wählen den Vertrag, der Ihnen als der günstigste Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24689

Dr. Karl-Heinz Brunner (A) erscheint, und Jahr für Jahr stellen Sie fest, dass der ver- dass über eine Person mehrere, also vielfältige Auskünfte (C) meintlich günstigste Vertrag einen Bonus hat, der aber eingeholt werden. Mit jeder zusätzlichen Auskunft, die nur „Bonus“ heißt, jedoch kein echter Bonus ist. man einholt, sinkt also der Scoringwert. Stellen Sie sich vor: Nach einigen Wechseln finden Sie (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sich in der Situation, schon gekündigt zu haben, so wie in NEN]: Das ist schon ein Problem!) den Vorjahren auch, um den Termin zum Jahresende nicht Und das ist ein Problem. Das darf nicht sein. Da müssen zu verpassen, aber keinen neuen Vertrag mehr zu bekom- wir hinschauen; da müssen wir etwas tun. men, sondern in der Grundversorgung – sehr teuer – zu landen. Und deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, glaube ich ganz fest, dass es gut war, sich mit dem Antrag der Stellen Sie sich vor, Sie müssten nun diesen hohen Linken dem Thema zu widmen. So, wie die Linken es Betrag zahlen und wüssten gar nicht, warum. Stellen allerdings wollen – es bei Mietverträgen, wo es notwen- Sie sich weiter vor, liebe Kolleginnen und Kollegen, dig ist, die Bonität zu wissen, bußgeldbewehrt zu ver- dass Sie womöglich gerade in der Zeit, in der Sie den bieten, es im allgemeinen Rechtsverkehr zu verbieten, Stromvertrag gekündigt haben, weil Sie Ihre Wohnung wo ich beispielsweise gemäß Fernabsatzgesetz im Inter- wechseln wollen, einen Mietvertrag eingehen wollen, net etwas bestätige und nicht mal das Gesicht meines der Ihnen, ohne dass Sie wissen, warum, wegen der vor- Gegenübers sehen kann –, kann es nicht richtig sein. herigen Ablehnung der Energieversorgung versagt wur- de. Ich glaube auch, dass es nicht richtig ist, dass die Aus- kunfteien es in allen Fällen bereits nach einem Jahr zu Ist dies Science-Fiction oder Realität? Nein, es ist noch löschen haben. Aber ich habe es beim Referentenentwurf keine Realität, es ist aber auch nicht Science-Fiction, zum Gesetz zur Verkürzung der Restschuldbefreiung als sondern dahin wird der Weg führen, wenn in Deutschland richtig angesehen, dort die Speicherfrist auf nur ein Jahr ein unkontrolliertes Sammeln von Daten bei Auskunf- zu begrenzen, um den Menschen wieder ein Stand-up zu teien erfolgt. Wir haben in den letzten Wochen und geben, eine Möglichkeit zu geben, am Wirtschaftsleben Monaten gesehen, welche Daten insbesondere im Sco- richtig ordnungsgemäß teilzunehmen, sodass sie nicht ring zur Vermeidung von Boni bei Energieversorgungs- wegen eines Scoringwertes oder eines Eintrags bei der unternehmen gesammelt werden, um bonussammelnde Schufa trotz Entschuldung, trotz Restschuldbefreiung Kunden vom Markt fernzuhalten und lieber langfristige nicht mehr am Wirtschaftsleben teilnehmen können. Abnehmer mit teureren Tarifen zu haben. Hier müssen wir etwas tun. Hier müssen wir drauf- Ich will keinen Hehl daraus machen: Auskunfteien schauen. Hier müssen wir Lösungen finden. sind ein wichtiger Baustein unseres Finanzkreislaufsys- Und wir müssen Lösungen finden, den Scoringwert (B) (D) tems, unseres Wirtschaftssystems und unseres Wirt- transparent, ordentlich und nachvollziehbar zu ermitteln schaftslebens. Ohne Auskunfteien und ohne Scoringsys- und darzustellen, und müssen alle unsere Unternehmen, tem würden viele Dinge im Absatz und in unserer die Auskunfteien betreiben, dazu verpflichten, ihre Nutz- Wirtschaft gar nicht möglich sein. erinnen und Nutzer darüber zu informieren, wie das Aber ich sage auch ganz deutlich, dass an dieser Stelle Datenmaterial zustande kommt, und zwar nicht nur dieje- Transparenz erforderlich ist, und zwar für die Verbrau- nigen, die die Daten bekommen, sondern genau auch die cherinnen und Verbraucher, damit sie wissen: Was ist dort Verbraucherinnen und Verbraucher, die ihre Daten dazu über mich gespeichert? Viele Menschen wissen gar nicht, hergeben. dass man bei der Schufa einmal im Jahr einen kostenlosen Wenn wir dies nicht bußgeldbewehrt, wenn wir dies Auszug verlangen kann; die Information darüber ist noch nicht mit Verboten und wenn wir das nicht so tun, wie nicht in der Gesellschaft verankert. Niemand weiß – die Grünen es wollen, durch ein Verbot der Sammlung selbst diejenigen nicht, die den Auszug bekommen –, von Daten, dann können wir, glaube ich, einen guten Weg was auf der letzten Seite des Auszugs steht und wie es für unsere Verbraucherinnen und Verbraucher finden und zu dem Scoringwert kommt, der letztendlich die Bonität gleichzeitig die wichtige Aufgabe, die Auskunfteien in des einzelnen Verbrauchers darstellt. unserer Gesellschaft, in unserem Wirtschaftssystem Deshalb ist mein Petitum zum Antrag der Linken: Gut haben, erhalten und damit etwas zur Sicherheit der Rück- gemeint, aber nicht gut gemacht. Transparenz ist es, was führung von Forderungen beitragen. wir für die Verbraucherinnen und Verbraucher benötigen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Transparenz ist notwendig, um Entscheidungen auf dem Wirtschaftsmarkt glaubwürdig und richtig treffen zu kön- (Beifall bei der SPD) nen, und Transparenz beim Sammeln der Daten, beim Auswerten der Daten und vor allen Dingen bei der Vizepräsident in Claudia Roth: Errechnung der Bonität ist zwingend erforderlich, um Vielen Dank, Karl-Heinz Brunner. – Nächster Redner: Glaubwürdigkeit zu finden und die vorliegende Akzep- für die FDP-Fraktion Stephan Thomae. tanz in der Gesellschaft und im Wirtschaftsleben zu erhal- ten. (Beifall bei der FDP)

(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Stephan Thomae (FDP): Ich habe mich beispielsweise erkundigt, wie ein Sco- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen ringwert zustande kommt, und war überrascht darüber, und Kollegen! Meine Damen und Herren! Im letzten dass das Scoring allein schon dadurch beeinflusst ist, Debattenpunkt hat meine Kollegin Carina Konrad ein 24690 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Stephan Thomae (A) Wort von Goethe zitiert. Zu diesem Debattenpunkt fällt Und deswegen, meine Damen und Herren: Es gibt ein (C) mir ein Zitat von jemandem ein, den ich ansonsten nicht paar Punkte, die in Ihrem Antrag durchaus richtig sind; so häufig im Munde führe, nämlich von Lenin, damit will ich meinen Beitrag heute abschließen. Es ist schon richtig: Auch Auskunfteien müssen Transparenz (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ach ja?) walten lassen, müssen sich an Datenschutzregeln halten, dem das Wort zugeschrieben wird: Vertrauen ist gut, müssen die Qualität ihrer Auskunft garantieren. Aber Kontrolle ist besser. diese richtigen Ansätze reichen nicht, dass wir Ihrem (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Richtig! Antrag in der Sache nähertreten könnten. Das hat er gesagt!) Vielen Dank. Warum fällt mir das zu diesem Punkt jetzt gerade so ein? (Beifall bei der FDP) Vertrauen – davon sprach der Kollege Dr. Brunner soeben auch völlig zu Recht – ist eine wesentliche Grundlage Vizepräsident in Claudia Roth: gedeihlicher, gelingender Vertragsbeziehungen. Vertrau- Vielen Dank, Stephan Thomae. – Nächste Rednerin: en muss aber auch entstehen, Vertrauen muss wachsen, für Bündnis 90/Die Grünen Tabea Rößner. und Vertrauen entsteht durch Transparenz. Das ist das, was Sie, Herr Kollege Brunner, auch gesagt haben. – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Transparenz ist etwas, wofür wir von der FDP immer sind, meine Damen und Herren. Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer ohne (Beifall bei der FDP) nachvollziehbaren Grund einen Vertrag verweigert be- Und deswegen – das ist mir bei dem Antrag der Linken kommen hat, merkt schnell: Wissen ist Macht. – Aus- aufgefallen – stimmt ein Satz in Ihrem Antrag nicht; denn kunfteien wie die Schufa haben Macht; denn sie wissen auch Unternehmen müssen Transparenz schaffen. Unter- viel über uns. Dagegen wissen die Verbraucher, auch nehmen unterliegen einer Publizitätspflicht. Nach dem wenn sie es vielleicht einsehen können, wenig darüber, Gesetz über den elektronischen Rechtsverkehr und das wie solvent oder vertrauenswürdig Unternehmen sind, elektronische Handelsregister von 2007 müssen nämlich mit denen sie Verträge schließen. Und wenn ein Unter- Unternehmen im Bundesanzeiger ihre Jahresabschlüsse nehmen pleitegeht, bleiben die Verbraucher am Ende auf offenlegen oder sie zumindest dort hinterlegen. Das heißt, den Kosten sitzen. Das ist kein ausgewogenes Kräftever- die Behauptung in Ihrem Antrag, dass Verbraucher keine hältnis, und das müssen wir dringend ändern. Möglichkeit hätten, sich über die Bonität von Unterneh- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN men zu informieren, ist einfach falsch, meine Damen und sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE]) (B) Herren. (D) Das Projekt OpenSCHUFA hat bereits vor zwei Jahren (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten aufgezeigt, wie machtlos Bürgerinnen und Bürger gegen- der CDU/CSU) über Auskunfteien sind. Sie wissen nicht, wie und welche Dieser Punkt ist aber nicht nur falsch, er ist auch ihrer Daten wie gewichtet werden und warum ihnen Kre- schräg; denn es geht ja gar nicht um die Frage, ob der dite gewährt oder Verträge verweigert werden. Vermieter etwa Bonität besitzt. Darum, ob er zahlungs- Schon 2015 haben wir Grüne mit einem Gesetzentwurf fähig ist, geht es ja beim Vermieter nicht. Er soll die mehr Transparenz und Regulierung beim Scoring gefor- Wohnung bereitstellen, und das kann der Mietinteressent dert. Auskunfteien sollten nur Daten speichern dürfen, ja durchaus nachprüfen. Er kann die Wohnung besichti- die für die Bonitätsauskunft wirklich zwingend erforder- gen. Das heißt also, sozusagen die Kehrseite zur Bonität lich sind, und Betroffene sollten auch jedes Jahr infor- des Verbrauchers ist der Umstand, dass der Vermieter die miert werden, was über sie gespeichert wird, und sie Wohnung zur Verfügung stellt, und das kann der Verbrau- müssen die Möglichkeit der Korrektur haben. cher ja nachprüfen. Deswegen ist Ihr Argument auch noch schräg – nicht nur falsch, sondern auch schräg. Man kann zwar jährlich eine kostenlose Selbstauskunft einholen. Aber haben Sie das schon mal versucht? Nun ist eben genau dieses Thema des Scorings, von „Leicht gemacht“ ist etwas anderes. Auf der Webseite dem die Rede ist, sozusagen die Kehrseite zur Publizitäts- der Schufa fallen einem nur kostenpflichtige Auskünfte pflicht des Unternehmers. Der Verbraucher unterliegt direkt ins Auge. Die Möglichkeit der kostenlosen Aus- keiner solchen Publizitätspflicht. Man kann nirgends kunft ist irgendwie im Kleingedruckten versteckt. Des- nachgucken: Wie zahlungsfähig, wie solvent ist er denn wegen fordern wir eine aktive jährliche Auskunft, am eigentlich? Und deswegen, weil das der Vermieter auch besten per Brief oder Zugang zu einer Internetplattform – nicht ermitteln kann – er müsste ja dann in die Gehalts- die Digitalisierung macht das ja möglich –, auf der man unterlagen und die Kontoauszüge des Verbrauchers die gespeicherten Daten dann auch einsehen kann. hineingucken –, ist genau dieser Punkt ein ganz wich- tiger: Der Verbraucher kann damit, dass er eine Selbst- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auskunft erteilt, genau diese Transparenz und das sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- Vertrauen schaffen, das notwendig ist, um ein Mietver- KEN) hältnis zu begründen. Und deswegen ist das, was Kollege Die dreijährige Löschfrist sollte dringend überprüft Steineke sagte, völlig richtig: An diesem Scoring ist auch werden; denn die negativen Folgen für Verbraucher wie- etwas Gutes dran, weil damit der Verbraucher, der Miet- gen schwer, wenn sie zum Beispiel Verträge für eine interessent, seine Solvenz nachweisen kann. Wohnung oder Strom oder Gas nicht abschließen können. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24691

Tabea Rößner (A) Die Speicherung der Erteilung der Restschuldbefreiung Probleme. Lieber , liebe Frau Nastic, (C) durch Auskunfteien muss daher deutlich verkürzt wer- heute Nachmittag haben wir hier über die Frage eines den. Da waren sich bei der Anhörung auch alle Sachver- Kündigungsschutzes für über 70-jährige Mieter debat- ständigen einig. Deshalb verstehe ich es auch nicht, dass tiert. die Bundesregierung dies zwar im Referentenentwurf zum Restschuldbefreiungsverfahren vorgesehen hatte, (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja!) aber im Gesetzentwurf wieder gestrichen hat. Das müs- Das klingt toll, das klingt gut, aber das ist bei Ihren sen Sie uns vielleicht doch noch mal erklären. Anträgen immer so. Es gibt da immer zwei Seiten der Wir verlangen zudem eine stärkere jährliche Kontrolle Medaille, eine positive, die verlockend klingt – das ist durch die Aufsichtsbehörden; denn Algorithmen, wie sie der Kündigungsschutz für über 70-jährige Mieter –, die Schufa einsetzt, müssen diskriminierungsfrei, über- aber gleichzeitig die Rückseite der Medaille, nämlich prüfbar und auch korrigierbar sein. die Problematik, dass dann ein 65-jähriger, 67-jähriger, 68-jähriger Mietinteressent gar keinen Mietvertrag mehr (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bekommen wird. Ziel muss ein fairer Interessenausgleich sein. Beim (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Der Antrag der Linken habe ich da auch Bedenken, wenn kriegt doch heute auch keinen!) beispielsweise Bonitätsauskünfte bei Mietverträgen ganz verboten werden sollen. Denn Vermieter haben ein Das heißt ja im Endeffekt: Was immer gut gemeint ist, ist berechtigtes Interesse, Informationen über die Bonität noch lange nicht gut gemacht. ihrer potenziellen Mieter zu bekommen. Ein komplettes (Zuruf des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE Verbot wäre verfassungsrechtlich auch bedenklich. LINKE]) Scoring darf nicht ausufern. Und es wird gemunkelt – – Er darf eine Zwischenfrage stellen; ich würde sie zulas- das wurde angesprochen –, dass an einem Datenpool bei sen, Frau Präsidentin. Stromverträgen gearbeitet wird, mit dem wechselfreudi- ge Kunden identifiziert werden können. So etwas darf (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU, nicht kommen und würde zudem der Idee der Liberali- der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- sierung des Energiemarktes auch komplett zuwiderlau- NEN) fen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vizepräsident in Claudia Roth: sowie bei Abgeordneten der SPD) Nein, das kann er jetzt nicht. Jetzt reden Sie. Ich weiß (B) schon: Sie wollen wieder mehr Redezeit. (D) Vizepräsident in Claudia Roth: (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU, Kommen Sie bitte zum Ende. der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN) Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Los geht’s! Sie haben immer noch vier Minuten. Es gibt also viel zu tun, um das Kräfteverhältnis zwi- schen Auskunfteien und Verbrauchern geradezurücken. Paul Lehrieder (CDU/CSU): Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. Herr Kollege Birkwald, auch für euch gilt: Quidquid (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) agis, prudenter agas et respice finem! – Das heißt: Was immer du tust, handle klug und bedenke das Ende. – Sie sind mit diesem Antrag gerade wieder im Begriff, das Vizepräsident in Claudia Roth: Kind mit dem Bade auszuschütten. Vielen Dank, Tabea Rößner. – Als letzter Redner in dieser Debatte redet der ehrenwerte Paul Lehrieder für Die Vorredner haben bereits zum Teil darauf hinge- die CDU/CSU. wiesen: Es gibt ja bei der Schufa nicht nur die negative Auskunft. Es gibt ja bei der Schufa nicht nur die Situa- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) tion, dass ein gesperrtes Konto, ein nicht zurückgezahlter Kredit oder eine offene Mahngebühr dazu führt, dass eine Paul Lehrieder (CDU/CSU): Auskunft negativ ist. Es gibt genauso die Möglichkeit, Ich warte gern noch etwas, wenn Sie mich weiter loben nichts auf dem Kerbholz zu haben, also keine Probleme, wollen, Frau Präsidentin. keinen Schufa-Eintrag. Damit schafft man – es wurde von den Kollegen bereits angesprochen – eine Vertrauensba- sis, wie es sie in früheren kleinen Gesellschaften, in klei- Vizepräsident in Claudia Roth: nen Dörfern gegeben hat: Da hat man sich gekannt; da Sonntag ist der erste Advent. wurde beim Viehhändler noch der Vertrag mit Hand- schlag besiegelt; Paul Lehrieder (CDU/CSU): (Zuruf der Abg. Mechthild Rawert [SPD]) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! In unserem Land besteht grundsätzlich da kannte man den Vertragspartner. Es gibt aber in unse- die im Grundgesetz verankerte Vertragsfreiheit. Mit der rer heutigen Gesellschaft oft genug anonyme Vertrags- hat eine Partei in diesem Haus immer wieder sichtliche verhältnisse: Man kennt den Vertragspartner nicht. Um 24692 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Paul Lehrieder (A) das Vertrauen herzustellen, gibt es die Möglichkeit, eine werden. Es wurde ja von der Kollegin Rößner vorhin (C) Schufa-Auskunft einzuholen. – Frau Nastic wollte mich ausgeführt, dass wir natürlich auch bei der Schufa die was fragen, Frau Präsidentin. Einhaltung der Regeln immer wieder überprüfen müssen. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU, Vielleicht noch was dazu: Die Chancen einer positiven der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Schufa-Auskunft sind natürlich mindestens genauso groß NEN) wie die Risiken oder Probleme, die ein Vertragsanbah- Ich würde es zulassen. nungsinteressent bei einer negativen Auskunft hat. Des- halb lassen Sie uns bitte beide Seiten der Medaille sehen, nämlich auch die Möglichkeit, mit einer positiven Schu- Vizepräsident in Claudia Roth: fa-Auskunft die Basis für eine vertrauensvolle Vertrags- Wollen Sie wirklich was fragen, Frau Nastic? – Gut. anbahnung zu schaffen. Das vermisse ich in Ihrem Antrag Sie lassen es zu? komplett. Das heißt, Sie schütten das Kind wieder mit dem Bade aus, und das ist schade. Paul Lehrieder (CDU/CSU): Es ist, wie gesagt, legitim, dass beide Vertragsparteien Ja, selbstverständlich. Informationen über die jeweils andere Seite einholen und (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU, sich informieren, um zu wissen, dass der Vertrag tatsäch- der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- lich erfüllt werden kann. Es ist tatsächlich so, dass viele NEN – Sebastian Steineke [CDU/CSU]: Der wirtschaftlich nicht so begüterte Verbraucher – Mietinte- Paul! – Mechthild Rawert [SPD]: So kann ressenten, Kaufinteressenten, Verbraucher, die ein Handy man ihn auch glücklich machen!) kaufen, einen Handyvertrag oder einen Stromlieferver- trag abschließen wollen – davon auch profitieren. Es gibt zwei Möglichkeiten: Der Vertragspartner kann sich Zaklin Nastic (DIE LINKE): durch eine Bankbürgschaft absichern. Die Bankbürg- Vielen Dank, dass Sie die Frage zulassen. – Was sagen schaft kostet aber Geld. Oder ich kann sagen: Okay, ich Sie denn zu den heutigen Nachrichten, dass die Schufa lege eine Selbstauskunft der Schufa vor. Ich habe bisher millionenfach Daten eingekauft hat, mittlerweile auch immer meine Rechnungen ordentlich bezahlt. Kontoauszüge durchleuchten will, damit den Daten- schutz massiv verletzt und die Menschen quasi zu gläser- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Echt?) nen Bürgern macht? Damit wären der Schufa alle – Nein, das ist jetzt in Anführungszeichen, Herr Kollege Kontobewegungen bekannt. Auch der ehemalige Daten- Birkwald. – Du kannst mit gutem Gewissen einen Vertrag schutzbeauftragte Peter Schaar ist alarmiert und wendet mit mir eingehen. (B) sich massiv gegen das, was die Schufa da gerade macht. (D) Die Chancen für die Verbraucher verkennen Sie in (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Peter Ihrem Antrag. Mit der Abschaffung der Schufa würden Schaar ist kein Linker! Das ist ein Grüner!) Sie die Situation für die Verbraucher keineswegs verbes- sern, sondern verbösern. Deshalb wird es Sie nicht wun- Paul Lehrieder (CDU/CSU): dern: Wir werden den Antrag ablehnen. Danke, Frau Nastic, für die Frage. – Ich bin weit davon entfernt, die Schufa heiligzusprechen. Natürlich: Wo die Nachdem ich eine so großzügige Präsidentin hinter mir Schufa arbeitet, können auch Fehler gemacht werden. Es habe, möchte ich meine Redezeit nicht ganz ausschöpfen. muss unter Datenschutzaspekten geprüft werden, ob die (Beifall bei der CDU/CSU) Sammelwut, die manchmal an den Tag gelegt wird, über- haupt begründet und verhältnismäßig ist, ob die zur Zweckverfolgung gewählten Mittel überhaupt sinnvoll Vizepräsident in Claudia Roth: sind. Vielen herzlichen Dank, Herr Lehrieder. – Damit schließe ich die Aussprache. (Unruhe in den Reihen der CDU/CSU) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/24451 an die in der Tagesordnung aufge- Vizepräsident in Claudia Roth: führten Ausschüsse vorgeschlagen. Weitere Vorschläge Sind das noch die Reste von der Weindebatte? liegen uns nicht vor. Dann verfahren wir genau so. (Nicken des Abg. Axel Müller [CDU/CSU]) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: – Die Weindebatte hat in Ravensburg ihre Spuren hinter- Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- lassen. regierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten (Heiterkeit) Gesetzes zur Änderung des Verpackungsgeset- zes Paul Lehrieder (CDU/CSU): Drucksache 19/16503 Jetzt bitte ich doch, das Thema ernst zu nehmen. – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Noch mal, Frau Nastic: Ich verkenne nicht, dass bei der ses für Umwelt, Naturschutz und nukleare Schufa auch Fehler gemacht werden. Wenn die Informa- Sicherheit (16. Ausschuss) tionen, die ich auch heute Nachmittag der Presse entneh- men konnte, zutreffend sind, dann muss das eingegrenzt Drucksache 19/24732 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24693

Vizepräsident in Claudia Roth (A) Hierzu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion (Beifall bei der SPD – Judith Skudelny [FDP]: (C) der AfD sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion Rechnen Sie mit einer Zustimmung auf europä- der FDP vor. ischer Ebene?) Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten Sie wissen, dass ich das Plastiktütenverbot ursprüng- beschlossen. lich ein halbes Jahr nach dem Inkrafttreten des Gesetzes Ich warte, bis die Kolleginnen und Kollegen Platz in Kraft setzen wollte. Viele Geschäfte stehen jetzt durch genommen haben. Corona unter erheblichem Druck, und es macht auch keinen Sinn, Restbestände von Plastiktüten jetzt einfach Jetzt kann ich die erste Rednerin aufrufen. Ich gebe das zu vernichten. Deshalb stehe ich dem Vorschlag sehr Wort Ministerin Svenja Schulze. offen gegenüber, dass die Anwendung des Verbots erst (Beifall bei der SPD) ab dem 1. Januar 2022 realisiert wird. Meine Damen und Herren Abgeordnete, diese Woche Svenja Schulze, Bundesministerin für Umwelt, ist die Europäische Woche der Abfallvermeidung. Euro- Naturschutz und nukleare Sicherheit: paweit werden Projekte vorgestellt, die Alternativen zu Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren dieser Wegwerfgesellschaft aufzeigen. Ich glaube, das ist Abgeordnete! 1,6 Milliarden Plastiktüten pro Jahr ver- ein guter Zeitpunkt für das Verbot der Plastiktüte, und ich brauchen wir in Deutschland. Oft werden sie nur wenige bin mir sicher: Wir werden sie alle nicht vermissen. Minuten genutzt, viel zu häufig landen sie dann in der Herzlichen Dank. Umwelt, und es braucht 100 Jahre, bis sie sich zersetzen. Die Tüte ist also der Inbegriff der Ressourcenverschwen- (Beifall bei der SPD) dung. Gerade in Zeiten, in denen es um Mehrweglösun- gen geht, um wiederbefüllbare Kaffeebecher und Essens- Vizepräsident in Claudia Roth: behälter – sie setzen sich langsam durch –, in Zeiten, in denen man sogar Weihnachtsbäume mieten kann, muss Vielen Dank, Svenja Schulze. – Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Andreas Bleck. man dieser Mentalität – einmal nutzen und dann einfach wegschmeißen – endlich etwas entgegensetzen. Das hat (Beifall bei der AfD – Zuruf von der LINKEN: in der heutigen Zeit nichts mehr zu suchen. Jetzt kommt noch jemand, den wir nicht ver- (Beifall bei der SPD) missen würden!) Der Konsum von Plastiktüten ist in den letzten Jahren (B) stark zurückgegangen, auch dank der Vereinbarung mei- Andreas Bleck (AfD): (D) ner Vorgängerin Barbara Hendricks mit dem Handel. Und Werte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kol- jetzt ist es an der Zeit, den Verbrauch auf null zu senken. legen! Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Wir brauchen die Tüten nicht mehr. Die neue gesetzliche Änderung des Verpackungsgesetzes beinhaltet das sinn- Regelung erreicht auch diejenigen, die sich bisher nicht loseste umweltpolitische Verbot dieser Legislaturperiode. an den freiwilligen Vereinbarungen beteiligt haben. Das Inverkehrbringen von Kunststofftragetaschen mit einer Wandstärke von weniger als 50 Mikrometern soll Das Verbot gilt für die Tüten, die besonders selten verboten werden. Die Bundesregierung begründet das wiederverwendet werden. Ausgenommen sind die Hemd- unter anderem mit europarechtlichen Vorschriften und chenbeutel, also diese ganz dünnen Tüten. Sie werden oft dem Umweltschutz. Keiner der aufgeführten Gründe aus hygienischen Gründen für lose Lebensmittel genutzt. hält jedoch einer kritischen Betrachtung stand. Wenn man sie verbieten würde, würden sie durch viel aufwendigere Plastikverpackungen ersetzt, und deswe- (Beifall bei der AfD) gen wollen wir das nicht. Es darf uns nicht passieren, Tatsache ist: Die EU-Mitgliedstaaten sind verpflichtet, dass die Plastiktüten durch etwas Aufwendigeres ersetzt den jährlichen Pro-Kopf-Verbrauch von Kunststofftrage- werden. taschen bis 2025 auf höchstens 40 zu reduzieren. So weit, (Judith Skudelny [FDP]: Wie zum Beispiel die so gut. Durch die freiwillige Vereinbarung zwischen der Papiertüte!) Bundesregierung und dem Handelsverband Deutschland Deswegen wird das Bundesumweltministerium beobach- konnte der Verbrauch von 2015 bis 2018 von 68 auf ten, wodurch die Plastiktüte ersetzt wird, und dann gege- 24 Kunststofftragetaschen reduziert werden, also um benenfalls auch noch mal nachsteuern. fast zwei Drittel. Das bedeutet: Die Bundesrepublik Deutschland übererfüllt europarechtliche Vorschriften Das Verbot der Plastiktüte ist der erste Schritt. Dem bereits heute – und das ohne direkten staatlichen Eingriff werden weitere folgen. Ich habe ja in der vergangenen in den Markt. Woche einen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem künftig immer auch eine Mehrwegalternative zu Einwegverpa- (Beifall bei der AfD) ckungen für To-go-Gerichte und To-go-Getränke ange- Damit hat sich die freiwillige Vereinbarung als erfolg- boten werden muss. Denn vollkommen klar ist: Mehrweg reich erwiesen. Statt den Händlern mit ihrem Gesetzent- ist die Zukunft – auch beim Einkaufen. Eine Mehrwegtra- wurf in den Rücken zu fallen, sollte die Bundesregierung getasche aus Kunststoff rechnet sich für die Umwelt be- ihre Leistung also anerkennen und wertschätzen. reits nach dreimaligem Benutzen. Deswegen muss das die Alternative werden. (Beifall bei der AfD) 24694 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Andreas Bleck (A) In einer Pressemitteilung zum Gesetzentwurf sagte die Wir sind der Anwalt der Bürger, die sich von Ihnen nicht (C) Umweltministerin – Sie haben es heute auch wiederholt –, mehr abzocken und einengen lassen wollen. dass die Kunststofftragetasche der Inbegriff von Ressour- Vielen Dank. cenverschwendung sei und diese häufig in der Umwelt landen würde. Ganz so einfach, Frau Umweltministerin, (Beifall bei der AfD) ist es nicht. Erstens. Kunststofftragetaschen machen nur einen Vizepräsident in Claudia Roth: Anteil von 1 Prozent an den Kunststoffabfällen aus. Danke schön. – Nächster Redner: für die CDU/CSU- Fraktion Björn Simon. Zweitens. Es gibt keinen wissenschaftlichen Beweis dafür, dass Kunststofftragetaschen eine größere Rolle (Beifall bei der CDU/CSU) bei der Vermüllung der Umwelt spielen. Drittens. Es gibt auch keinen wissenschaftlichen Björn Simon (CDU/CSU): Beweis dafür, dass Kunststofftragetaschen mehr Ressour- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und cen verschwenden als beispielsweise Papiertragetaschen. Kollegen! Mit der hier vorliegenden Änderung des Ver- Stattdessen kommen viele Untersuchungen zu dem packungsgesetzes verfolgen wir ein Ziel, das in diesem Ergebnis, dass die Ökobilanzen von Kunststofftrageta- Hohen Haus nicht strittig sein dürfte – ich bin mir jetzt schen besser sind als die Ökobilanzen von Papiertrage- nicht ganz sicher, ob das bei der AfD auch noch so ist –: taschen. der Schutz der Umwelt. Wir wollen ein Zeichen setzen, alternativen Materia- Die Frage nach den Ökobilanzen ist von entscheiden- lien Vorschub leisten und aufzeigen, dass der alltägliche der Bedeutung für ein Verbot bestimmter Tragetaschen; Einsatz von Einwegkunststoffen schwerwiegende Folgen denn durch ein Verbot wird der eigentliche Zweck der für die Natur haben kann. Tragetasche ja nicht mit abgeschafft. Die Verbraucher möchten auch in Zukunft Waren sicher und zuverlässig (Judith Skudelny [FDP]: Geht es auch um die transportieren, und darauf werden die Händler reagieren. Tüten, die den Blauen Engel haben?) Mit diesem Gesetzentwurf ersetzt die Bundesregierung Deswegen haben wir uns mit unserem Koalitionspartner also nur die Kunststofftragetasche durch die Papiertrage- und dem Umweltministerium in vielen und intensiven tasche, und die ist umweltpolitisch eben kontraproduktiv. Gesprächen darauf verständigt, das Inverkehrbringen Und genau deshalb lehnt die AfD den Gesetzentwurf ab. von Kunststofftragetaschen mit einer Wandstärke von 15 bis 50 Mikrometern – das sind beispielsweise die (Beifall bei der AfD) (B) Tragetaschen an der Supermarktkasse – ab dem 1. Januar (D) Auch der im Ausschuss vorgelegte Änderungsantrag 2022 zu untersagen. Darum geht es in diesem Gesetzent- von CDU/CSU und SPD vermag daran nichts zu ändern. wurf – und nicht um mehr und nicht um weniger. Die Verlängerung der Übergangsfrist auf ein Jahr, damit Dabei zeigt bereits ein Blick vor Ort, dass die klassi- die Händler ihren Vorrat an Kunststofftragetaschen ver- sche Plastiktüte schon heute kaum mehr an der Super- brauchen können, wird in der von Ihnen verschuldeten marktkasse erhältlich ist. Auch Bekleidungsgeschäfte Lockdown-Krise verpuffen. und der sonstige Einzelhandel verzichten mittlerweile Einzig und allein der Entschließungsantrag der AfD ist selbst auf die Kunststofftragetasche. Die Plastiktüte ist hier konsequent. Wir halten nämlich fest, dass der Ge- seit Jahren ein Auslaufmodell; so ist es nun mal. setzentwurf einen direkten staatlichen Eingriff in den Die statistischen Erhebungen bestätigen diese Markt darstellt, der weder mit europarechtlichen Vor- Beobachtung. Nutzte im Jahr 2016 jeder Bundesbürger schriften noch mit dem Umweltschutz begründet werden über 70 Plastiktragetaschen, sind es heute nur noch rund kann. 20 Stück im Jahr. Woran liegt das? Bereits 2016 erarbei- (Beifall bei der AfD) tete der Handel zusammen mit dem BMU eine freiwillige Selbstverpflichtung, deren Ziel die Reduzierung der An- Außerdem halten wir darin fest, dass der Gesetzentwurf zahl an Plastiktüten in Deutschland war, und das ist ein nicht die Vermeidung, sondern die Substitution stärkt. Erfolgsmodell gewesen. Daher fordern wir die Bundesregierung auf, ihren Ge- Ich möchte an dieser Stelle aber betonen, dass dieses setzentwurf einzustampfen. Stattdessen sollte sie die Gesetz, das wir heute beschließen, nicht auf die geringe erfolgreiche freiwillige Vereinbarung fortschreiben und Wirksamkeit dieser Selbstverpflichtung zurückzuführen eben auch Daten zum Verbrauch von Papiertragetaschen ist. Ganz im Gegenteil! Ich möchte dem Handel aus- erheben. drücklich dafür danken, dass er diese Vorgaben so vor- Werte Kolleginnen und Kollegen, Ihre Umweltpolitik bildlich sogar übererfüllt hat und schon heute kaum mehr besteht im Wesentlichen nur noch aus Verteuern, Ver- Plastiktüten ausgegeben werden. knappen, Verbieten. Sie lassen sich bei Ihrer Umwelt- (Beifall bei der CDU/CSU) politik von der grünen Regulierungs- und Verbotspartei Mit der heutigen Ergänzung des Verpackungsgesetzes treiben. Die AfD ist die einzige Partei im Deutschen wollen wir diese erfolgreiche Selbstverpflichtung fort- Bundestag, die Mitte und Maß in ihrer Umweltpolitik schreiben und die Entwicklung aber auch absichern. Da- walten lässt. bei muss klar sein und bleiben: Ein Verbot darf immer nur (Lachen bei der LINKEN) die letzte Instanz sein. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24695

Björn Simon (A) Meine Damen und Herren, die Plastiktüte ist ja nicht tüte zumindest in Deutschland zukünftig aus der Umwelt (C) per se eine schlechte Erfindung; das sagt ja auch keiner. verbannen und folgen damit dem Grundsatz des Kreis- Die Kunden nutzten sie viele Jahre als hygienischen und laufwirtschaftsgesetzes, wonach die Vermeidung des praktischen Transportartikel; für die Geschäfte war sie Abfalls Vorrang vor sonstigen Maßnahmen der Abfall- ein günstiger Werbeträger. Gleichzeitig ist die Plastiktüte bewirtschaftung hat. in ihrer heutigen Form aber nicht mehr zeitgemäß. Sie Aus vielen Gesprächen mit betroffenen Händlern und steht sinnbildhaft für eine Wegwerfgesellschaft und Res- Verbänden weiß ich, dass schon heute kaum jemand neue sourcenverschwendung und ist schlicht in Verruf geraten. Plastiktüten für sein Ladengeschäft erwirbt, jedoch ver- Sie ist zum Symbol für einen gedankenlosen Umgang mit einzelt noch größere Lagerbestände bestehen. Es stimmt unserer Umwelt geworden; so ist es nun mal. Mit dem ja auch – das wurde schon gesagt –: Diese Lagerbestände heute zu beschließenden Verbot wollen wir ein Zeichen ohne Nutzen vernichten zu lassen, hieße, Millionen von für die Abfallvermeidung und für die Ressourcenscho- Plastiktüten einfach der thermischen Verwertung zuzu- nung setzen. führen oder sonst wie zu verwerten, wäre ökologisch, Ich möchte aber auch kein Geheimnis daraus machen, aber auch ökonomisch absoluter Unsinn. Daher bestehen dass wir als Union dem Gesetzentwurf durchaus auch wir als Union auf eine Frist bis zum 1. Januar 2022, um kritisch gegenüberstehen. Es gab unlängst ja eine Info damit dem Handel ausreichend Zeit zu geben, die Bestän- aus dem BMU, wonach die Plastiktüten unter 1 Prozent de in den Lagern abzuverkaufen. Das ist kein Aufschub des gesamten Verpackungsaufkommens in Deutschland oder keine Verzögerungstaktik, sondern in diesem Rah- ausmachen – also nicht wirklich viel. Wir hätten uns men zumindest marktwirtschaftlich sinnhaft. daher eine ökobilanzielle Betrachtung gewünscht, in der mögliche Alternativen und mögliche Substitute auf ihre Abschließend möchte ich noch einmal betonen, dass Umweltverträglichkeit geprüft worden wären, und zwar wir mit der heutigen Änderung des Verpackungsgesetzes vorher. ein klares Zeichen für den Umweltschutz in Deutschland setzen. Der Verzicht auf die Einweg-Kunststofftrageta- (Beifall bei Abgeordneten der FDP und des sche ist mehr als verträglich und gesellschaftlich akzep- Abg. Manfred Grund [CDU/CSU]) tiert; und darum geht es. Gleichzeitig wollen wir als Unsere Forderung nach einer Ökobilanz ist mit dem CDU/CSU dieses Zeichen nicht missverstanden wissen. heute vorliegenden Gesetz auch nicht vom Tisch. Wir Für uns als Union gilt auch weiterhin der Grundsatz, dass stellen diese Forderung umso lauter, um weitere Produkt- Produktverbote nur das allerletzte Mittel sein dürfen und verbote in Zukunft zu verhindern. vorher eine faktenbasierte Untersuchung aller Umwelt- einflüsse erfolgen muss. Nur so können wir auch zukünf- (Beifall bei der CDU/CSU) (B) tig eine verantwortungsvolle und auf wissenschaftlichen (D) Aber an dieser Stelle kann ich dem Umweltministerium Grundlagen beruhende Politik betreiben, die auch gesell- dafür danken, dass hier nun endlich Schritte unternom- schaftlich akzeptiert wird. men werden. Denn – das möchte ich hier in aller Deut- Vielen Dank. lichkeit sagen – die Plastiktüte darf keineswegs durch andere Einwegprodukte ersetzt werden; das wurde schon (Beifall bei der CDU/CSU) gesagt, und das ist auch richtig. Wir wissen schon heute, dass die Papiertüte nicht Vizepräsident in Claudia Roth: unbedingt ökologisch sinnvoller ist, auch wenn das oft Vielen Dank, Björn Simon. – Nächste Rednerin: für die suggeriert wird – durch Material, Farbe und Werbebot- FDP-Fraktion Judith Skudelny. schaften auf der Tüte, die genau dieses Image ja auch (Beifall bei der FDP) vermitteln sollen. Aber diese Papiertüte muss dafür zumindest zehnmal wiederverwendet werden, und wenn Feuchtigkeit ins Spiel kommt, ist diese Wiederverwen- Judith Skudelny (FDP): dungsmöglichkeit futsch. Mehrweglösungen wie bei- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ja, wir spielsweise die feste Kunststofftragetasche aus Rezyklat, diskutieren heute ein Plastiktütenverbot. Ich bin über der klassische Einkaufskorb, Taschen und Rucksäcke, die zwei Ziele wirklich erstaunt und frage mich, wozu sie man Hunderte Male wiederverwenden kann, sind hier dienen sollen. sinnvolle und richtige Alternativen, die wir unterstützen Auf der einen Seite wird gesagt: Das Plastiktütenver- wollen. bot soll gegen das Littering in Deutschland helfen. – Das (Beifall bei der CDU/CSU) ist interessant, weil keine einzige Studie evident nach- weist, dass Plastiktüten hier wirklich ein Problem sind. Wir werden den Markt ganz genau beobachten; das hat Die gekauften Mülltüten schon, die Einkaufstüten nicht. die Ministerin auch schon gesagt. Und wir schauen, durch Es kann nicht zur Lösung beitragen, wenn etwas verboten welche Materialien die dünnwandigen Kunststofftrageta- werden soll, was überhaupt nicht das Problem ist. schen ersetzt werden und ob wir nachsteuern müssen. (Beifall bei der FDP) Meine sehr verehrten Damen und Herren, jede Plastik- tüte, die in Deutschland nicht wiederverwendet oder nicht Sie reden hier absolut am Problem vorbei. Anstatt die richtig entsorgt wird, stellt ein Umweltproblem dar. Und Plastiktüte zu verbieten, sollten Sie endlich mal engagiert jede achtlos in die Umwelt geworfene Plastiktüte ist eine gegen die Leute vorgehen, die ihren Müll in die Walachei zu viel. Mit der Gesetzesvorlage werden wir die Plastik- werfen und heute noch ungestraft damit davonkommen! 24696 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Judith Skudelny (A) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Vizepräsident in Claudia Roth: (C) der AfD – Zuruf des Abg. Michael Thews Danke schön, Frau Skudelny. – Nächster Redner: für [SPD]) die Fraktion Die Linke Ralph Lenkert. Dann sagen Sie, Sie wollen die Umwelt schonen. (Beifall bei der LINKEN) Umweltschonen ist immer ein hehres Ziel. Aber tatsäch- lich ist doch die Frage: Schont denn das Plastiktütenver- bot die Umwelt überhaupt? Gucken wir uns doch mal die Ralph Lenkert (DIE LINKE): Alternativen an. Eine Alternative ist die mit Kunststoff Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kol- überzogene Papiertüte, im Recycling verheerend. Nein, legen! Gegen die vorliegende Änderung des Verpa- sie schont die Umwelt nicht. Der Baumwollbeutel würde ckungsgesetzes, die Einkaufstüten verbietet, die für ein die Umwelt schonen, wenn er mehr als 40-mal genutzt paar Cent an der Kasse lagen und die man nicht wirklich würde und die Leute ihn nicht zu Hause horten würden. brauchte, kann man nichts haben. Die Wandstärke von 15 bis 50 Mikrometern wurde genau festgelegt, damit eben Aber wollen Sie überhaupt wissen, ob das Plastiktüten- andere Tüten nicht betroffen sind. verbot was bringt? Das glaube ich nicht. 2014 hat eine Am 15. Januar wurde dieser Gesetzentwurf dem Bun- ifeu-Ökobilanz ergeben: Es sieht so aus, als wenn die destag zugeleitet. Am 6. Mai war dann schon die Anhö- Plastiktüte wirklich eine ökologische Alternative sei. rung im Umweltausschuss. Noch mehr gilt das übrigens, wenn es sich um eine Plas- tiktüte mit dem blauen Umweltengel handelt, die sogar (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Doch so für ihr Umweltbewusstsein ausgezeichnet worden ist. – schnell?) Tatsächlich steht in der Studie am Ende drin: Aktualisiert doch mal bitte diese Ökobilanz. – Aber Frau Schulze hat Da waren sich Fachleute einig: in einem Punkt recht: Wenn man die Antwort nicht haben (Widerspruch der Abg. Judith Skudelny [FDP]) will, darf man die Frage nicht stellen. Sie interessiert sich überhaupt nicht für die Umwelt. Deswegen wurde über Bei 227 Kilogramm Plastikverpackungsmüll pro Jahr und Jahre hinweg diese Ökobilanz eben nicht erstellt. Einwohner in Deutschland ist das sicherlich ein riesiger Schritt, wenn man die 24 Plastiktüten je Einwohner und (Beifall bei der FDP) Jahr verbietet. Was hier gemacht wird, ist ein populäres Gesetz – wir (Andreas Bleck [AfD]: Nein, nein, nein! Da sehen ja gerade: Kunststoff ist jetzt öffentlich nicht so gut erinnern Sie sich falsch, Herr Lenkert! – angesehen –, bei dem wir aber nicht im Geringsten die Gegenruf des Abg. Matthias W. Birkwald (B) Ahnung haben, ob es am Ende überhaupt die Umwelt [DIE LINKE]: Das war Ironie!) (D) schont oder ob der Schuss nicht am Ende wirklich nach Nach einem halben Jahr hatte ich die Hoffnung, dass es hinten losgeht und wir mehr Ressourcen verbrauchen – besser wird bei der Union, dass sie vielleicht echt gegen mehr Wasser, mehr Land, mehr Einsatz, mehr Energie – Verpackungsmüll vorgeht, zum Beispiel gegen große und damit weniger Klimaschutz haben. Plastikblister, in die nur ein USB-Stick oder ein Dich- (Beifall bei der FDP) tungsring eingeschweißt ist. Sie wissen es schlicht und ergreifend nicht. Wenn man (Beifall bei der LINKEN) mal eine Meinung hat und sie rausblökt, weil sie gerade Ich hatte Hoffnung, dass Kunststoffverpackungen verbo- aktuell ankommt, ist das nicht Umweltschutz, sondern ten werden, die schwerer sind als das Produkt. Ich hatte Umweltpopulismus. Hoffnung, dass die übergroßen Kartons von Amazon und (Beifall bei der FDP) anderen Onlinehändlern, in denen man das Produkt sucht wie die Stecknadel im Heuhaufen, endlich reguliert wer- Damit wir aber heute noch ein bisschen was Sinnvolles den. machen, biete ich Ihnen als Mitglied der Serviceopposi- tion an: Stimmen Sie unserem Entschließungsantrag zu! (Beifall bei der LINKEN) (Andreas Bleck [AfD]: Der ist aber nicht viel Ich war im Irrtum. besser!) Liebe Bürgerinnen und Bürger, als Techniker entwi- Anstatt Plastiktüten zu verbieten, sollten Sie eine moder- ckelte ich Verpackungen, die zum Kunden gingen. Die ne Recyclingmethode zulassen. Produkte kamen gut an, und es blieb kaum Verpackungs- müll übrig. Für Die Linke ist klar: Wer Umweltschutz (Andreas Bleck [AfD]: Aber den Rest tragen will, muss Verpackungen regulieren und muss sie recyc- Sie doch mit in dem Entschließungsantrag!) lingfreundlich gestalten. Wir müssen lernen, Kreisläufe zu schließen, Kohlenstoffe (Beifall bei der LINKEN) immer öfter zu nutzen. Das chemische Recycling ist hier- zu eine Möglichkeit. Im Verpackungsgesetz ist es heute Da kann man Vorgaben machen, gesetzliche Vorgaben noch verboten. Wenn es morgen zugelassen wird, haben wie das Verbot überflüssiger Verpackungen. Man kann wir der Umwelt mehr Gutes getan, als Sie mit Ihrem Positivlisten für Material aufstellen, damit die Materia- Verbot in zehn Jahren hinkriegen werden. lien besser recycelt werden können, und man kann den Herstellern eine echte Entsorgungsabgabe aufdrücken, (Beifall bei der FDP) die sie anreizt, Verpackungen einzusparen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24697

Ralph Lenkert (A) (Beifall bei der LINKEN – Andreas Bleck Einweg bleibt der Standard im Supermarktregal. Der Ver- (C) [AfD]: Noch besser!) sandhandel explodiert und nutzt Einwegkartons. Allerdings: Weniger Verpackungen waren wohl nicht (Dr. Rainer Kraft [AfD]: Soll ich ihn zurück- das Ziel der Union und ihrer Berater, wie wir eben auch schicken, den Karton?) wieder gehört haben. Der Verpackungswahn wird zulas- Und selbst an der Supermarktkasse wird es natürlich ten der Umwelt, zur Freude der Kunststoffindustrie wei- weiterhin auch Tüten geben; sie dürfen halt nur nicht ter gepflegt. Die Umsätze steigen, das Bruttoinlandspro- aus Plastik sein. Aber sie können weiterhin Einweg sein. dukt wächst, und das freut die Union. Vor ein paar Tagen kam die Meldung, dass sich Frau Liebe Koalition, bei dieser Inhaltsmenge des Gesetzes Schulze nun um Coffee-to-go-Becher und Essensverpa- verwundert ein fast einjähriger Gesetzesprozess schon. ckungen kümmern will. Löblich, aber wiederum gilt: Das Aber es braucht ja schon Zeit, um sich zu einigen, wie ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Wir brauchen lange die Übergangsfrist für das Verbot sein soll. Soll es nämlich eine echte Mehrwegstrategie, um aus dieser Ex- vielleicht sofort sein oder in einem halben Jahr oder erst und-hopp-Mentalität endlich herauszukommen. in einem Jahr oder noch später? Immerhin: Sie haben sich jetzt auf ein Jahr geeinigt. Das Verbot der Einweg-Kunst- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stofftragetaschen kommt. Es ist ein Symbol gegen den sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Verpackungswahn und als solches wichtig. Dazu gehört erstens: Wir müssen Mehrwegsysteme (Andreas Bleck [AfD]: Ja, genau! Es ist nur ein attraktiver machen. Und damit meine ich nicht nur das Symbol, mehr nicht!) Pfandwirrwarr bei den Getränkeflaschen. Wir müssen Mehrweg in die Breite tragen. Wenn es Joghurt in Mehr- Schade, dass hier nur Ankündigungen zum echten weggläsern gibt, warum nicht auch Mais und Rotkohl? Kampf gegen Einwegverpackungen für Getränke und Und zweitens. Der Internethandel wird weiter wach- Essen gemacht wurden und nicht Ergebnisse vorgelegt sen; damit müssen wir umgehen. Viele Firmen haben wurden. Dann hätten wir hier sinnvoll diskutieren kön- schon kluge Konzepte für Mehrwegversandboxen entwi- nen. ckelt; die müssen langsam zum Standard werden. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN) Und drittens. Ab nächstem Jahr gilt die EU-Plastik- steuer. Auf nationaler Ebene gut umgesetzt, würde sie Vizepräsident in Claudia Roth: Hersteller dazu bringen, ihre Waren in materialsparenden (B) Vielen Dank, Ralph Lenkert. – Nächste Rednerin: für und gut recycelbaren Verpackungen auszuliefern. Im (D) Bündnis 90/Die Grünen Dr. Bettina Hoffmann. schlimmsten Fall, wenn es keine gute Regelung gibt, zahlen wir das Geld aus dem Haushalt ohne Lenkungs- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wirkung. Von der Ministerin hört man aber bisher keinen Pieps, was das betrifft. Dr. Bettina Hoffmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Mein Fazit: Ich habe die Hoffnung aufgegeben. Bei der NEN): Vermeidung von Einwegplastikverpackungen kommen Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! wir mit der Großen Koalition nicht mehr substanziell Wir stimmen jetzt über ein typisches Svenja-Schulze-Ge- weiter, und das ist wirklich eine vertane Chance. setz ab. Es ist maximal zeitverzögert und mit minimalem Inhalt. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – sowie des Abg. Ralph Lenkert [DIE LINKE]) Ulli Nissen [SPD]: Na, na, na!)

Eineinhalb Jahre nach der ersten wirklich großartigen Vizepräsident in Claudia Roth: Ankündigung – sehr pressewirksam – sind immerhin Vielen Dank, Dr. Bettina Hoffmann. – Nächster Red- ins Land gegangen, bis dieses simple Verbot von Plastik- ner: für die SPD-Fraktion Michael Thews. tüten nun endlich verabschiedet wird. Bis es tatsächlich in Kraft tritt, wird es aber noch mal bis 2022 dauern: (Beifall bei der SPD) geschlagene zweieinhalb Jahre von der Ankündigung bis zur Umsetzung. Über 60 Länder waren deutlich Michael Thews (SPD): schneller. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen Daran erkennt man gut, welchen Stellenwert die Müll- und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau vermeidung bei Svenja Schulze hat, nämlich ungefähr Hoffmann, ich bin ja erst mal sehr froh, dass Sie über- keinen. Denn das Plastiktütenverbot ist wirklich nur ein haupt zustimmen wollen; denn in der Anhörung hatten Tropfen auf den heißen Stein. Ja, wir werden dem Gesetz Sie noch ein Plädoyer für die Plastiktüte gehalten. Das hat zustimmen; es ist besser als nichts. Aber man muss auch mich jetzt schon ein bisschen gewundert; ganz klar sagen: Der Trend zur Einwegverpackung wird (Andreas Bleck [AfD]: Das verwundert mich mit diesem Minigesetz leider nicht gestoppt. auch!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) deswegen freut es mich, dass sie jetzt zustimmen wollen. 24698 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Michael Thews (A) Wir beschließen heute ein Verbot von Plastiktüten. Unsere nächsten Ziele sind, die Abfallvermeidung zu (C) Man kann viele Einwände gegen ein Verbot nennen; das stärken und Produkte langlebig, reparierbar, wiederver- haben meine Kolleginnen und Kollegen ja teilweise auch wendbar und recycelfähig zu gestalten. Wir wollen die getan. Das ist ein nachvollziehbarer Reflex, weil Verbote Herstellerverantwortung auf den Beginn des Lebenszyk- immer unbequem sind, und auch dieses Verbot greift ja lus ausdehnen. Gerade im Bereich der Kunststoffproduk- irgendwie in unsere Bequemlichkeit ein. Aber diese te muss jetzt schnell der Einsatz von Sekundärrohstoffen, Gesetzesänderung wird dazu führen, dass wir weniger unabhängig vom Rohölpreis, gestärkt werden. Um not- Ressourcen verbrauchen, wendige Investitionen in innovative Recyclingtechnolo- (Andreas Bleck [AfD]: Das ist überhaupt nicht gien zu unterstützen, brauchen wir einen Rezyklat-Min- gesagt! Warten wir erst mal ab!) destanteil, ambitionierte Recyclingquoten und entsprechende Förderprogramme. dass wir weniger Abfall produzieren, dass letzten Endes auch weniger Abfall in der Umwelt landet; und das war (Beifall bei der SPD – Dr. Bettina Hoffmann doch das Ziel von uns allen. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, wo bleibt das?) (Beifall bei der SPD) Wir setzen ganz oben in der Abfallhierarchie an, bei der Meine Damen und Herren, Kreislaufwirtschaft ist für Abfallvermeidung; auch diese Forderung habe ich immer mich der alternative Grundpfeiler für eine zukunftsfähi- wieder gehört. Das gilt genauso für das Verbot von Plas- ge, nachhaltige Wirtschaft in Deutschland. tikstrohhalmen, Plastiktellern, Plastikbesteck, das im Vielen Dank. nächsten Sommer kommen wird. Der weltweite rasant steigende Verbrauch, meine (Beifall bei der SPD) Damen und Herren, von natürlichen Ressourcen über- steigt die Regenerationsfähigkeit unserer Erde deutlich Vizepräsident in Claudia Roth: und geht mit Umweltschäden einher. Wir müssen den Vielen Dank, Michael Thews. – Die letzte Rednerin in zunehmenden Rohstoffverbrauch drastisch reduzieren. dieser Debatte: für die CDU/CSU-Fraktion Dr. Anja Wir müssen nicht verbrauchen, sondern wir müssen Weisgerber. gebrauchen, und wir müssen mithilfe von regenerativen Energien die Dinge, die wir genutzt haben, wieder nutz- (Beifall bei der CDU/CSU) bar machen. Wir müssen weg von der Wegwerfmentali- tät. Dr. Anja Weisgerber (CDU/CSU): (B) (Beifall bei der SPD – Zurufe von der AfD) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und (D) Wir brauchen mehr langlebige, wiederverwendbare Pro- Kollegen! Eine Studie aus Australien hat ergeben, dass dukte. Dazu gehören die dünnen Plastiktüten, die wir jeder Mensch pro Woche rund 5 Gramm Mikroplastik zu heute verbieten, mit Sicherheit nicht. sich nimmt: über das Wasser, die Luft und die Nahrung. Das entspricht etwa dem Gewicht einer Kreditkarte. Die öffentliche Diskussion um eine nachhaltige Zu- kunft hat längst begonnen. Auf überflüssige Einwegpro- (Andreas Bleck [AfD]: Erst mal müssen wir dukte können wir verzichten; das wird unser Leben nicht feststellen, ob Mikroplastik schädlich ist! Das gleich auf den Kopf stellen. Können wir unseren bisheri- wissen wir noch nicht!) gen Lebensstandard aufrechterhalten, ohne unseren Kin- Es ist also richtig, dass wir Plastik reduzieren, und mit dern und unseren Enkeln die Aussicht auf eine gesunde dem Verbot von Plastiktüten kommen wir hier einen Umwelt und ausreichende Ressourcen zu nehmen, oder wichtigen Schritt voran. Das Verbot ist ein Baustein unse- brauchen wir dafür eine Transformation zu einer zirku- rer gesamten Politik in diesem Bereich. lierenden Wirtschaft, zu einer echten Kreislaufwirt- schaft? Bevor ich auf das Verbot der Plastiktüten komme, (Zuruf von der SPD: Gute Frage!) möchte ich nun die anderen Bausteine benennen. Unsere Ziele sind: weniger Verpackung und mehr Recycling. Dazu brauchen wir noch viel mehr als bisher Vorgaben Vieles wurde bereits auf den Weg gebracht, auf nationaler für ein nachhaltiges und schadstofffreies Produktdesign. und auf europäischer Ebene. Wir wollen einen klaren Rahmen für mehr Kreislauf- Das Verpackungsgesetz leistet seit dem Inkrafttreten wirtschaft. Dieser Rahmen muss aus einem Mix aus regu- Anfang 2019 einen entscheidenden Beitrag zum Umwelt- latorischen Vorgaben – dazu gehören auch Verbote, so und Ressourcenschutz durch die Eindämmung des Plas- wie heute –, aber eben auch aus ökonomischen Lenk- tikverbrauchs. Denn mit dem Verpackungsgesetz haben ungsinstrumenten bestehen. Die notwendigen Instrumen- wir die Recyclingquoten deutlich erhöht. Diese Quote te gehen weit über den Bereich des bisherigen Kreislauf- wird in Deutschland bis zum Jahr 2022 von bislang wirtschaftsrechts hinaus. Unterschiedlichste Akteure wie 36 Prozent auf 63 Prozent fast verdoppelt; und das ist Entsorger, Recyclingunternehmen, aber auch die produ- gut so. Die Quote liegt damit auch weit über den von zierenden Unternehmen, der Handel und die Konsumen- der EU-Verpackungsrichtlinie vorgegebenen Zielen; wir ten, also wir alle, müssen in den nachhaltigen Prozess gehen also in Deutschland einen Schritt weiter. Damit eingebunden werden. werden mehr Sekundärrohstoffe wiedergewonnen und (Beifall bei der SPD) in den Stoffkreislauf zurückgeführt. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24699

Dr. Anja Weisgerber (A) Die Entsorgungswirtschaft hat bereits in zusätzliche Leichte Kunststofftragetaschen mit einer Wandstärke (C) Sortier- und Recyclinganlagen investiert. Deutschland von weniger als 15 Mikrometern nehmen wir aus dem ist hier auf einem guten Weg. Außerdem haben wir mit Verbot aus. Warum? Hier geht es zum Beispiel um Ver- dem Verpackungsgesetz die Lizenzentgelte stärker öko- packungen für frisches Fleisch; das ist da aus Hygiene- logisiert. gründen sinnvoll, weil es keine vernünftigen Alternativen gibt. Es stimmt aber auch, dass Tüten mit einer Wand- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) stärke von 15 bis 50 Mikrometern eine besonders ineffizi- Auch das ist wichtig; denn das bedeutet, dass die Beteili- ente Ressourcennutzung darstellen. Diese Tüten werden gungsentgelte für die Hersteller nach dem Verpackungs- oft nur einmal benutzt, selten wiederverwertet und wer- material, der Menge und der Recyclingfähigkeit bemes- den schnell zu Abfall. sen werden. Dafür habe ich mich eingesetzt; denn dadurch wird beim Hersteller ein Anreiz gesetzt, auf Ver- Deswegen ist es richtig, dass wir mit dem Verbot die- packungsmaterial zu verzichten und recyclingfähige sen Schritt heute gehen. Es ist ein Baustein unserer Materialien zu verwenden. Genau das sind die richtigen gesamten Abfallpolitik, die für Kreislaufwirtschaft steht. Bausteine in diesem Zusammenhang. Vielen herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Ulli (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Nissen [SPD]) ordneten der SPD) Mit dem Verpackungsgesetz haben wir außerdem eine zentrale Stelle geschaffen, um mehr Transparenz in der Vizepräsident in Claudia Roth: Produktverantwortung der Hersteller zu gewährleisten. Vielen Dank, Dr. Anja Weisgerber. – Damit schließe Wir sehen, dass diese Maßnahmen wirken. In Summe ich die Aussprache. wurden 2019 über 5,3 Millionen Tonnen gebrauchte Ver- Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- packungen wiederverwertet. Das ist im Vergleich zum desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung Vorjahr ein Plus von 13 Prozent; und das ist gut so. des Verpackungsgesetzes. Der Ausschuss für Umwelt, Auch das gehört in den Gesamtkontext unserer Kreislauf- Naturschutz und nukleare Sicherheit empfiehlt in seiner wirtschafts- und Abfallvermeidungspolitik, meine Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/24732, den Damen und Herren. Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- 19/16503 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte ordneten der SPD) diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas- sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer (B) Trotzdem müssen wir auch den Verpackungsverbrauch (D) stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzent- insgesamt reduzieren; denn in Deutschland fallen jährlich wurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Zuge- nach wie vor rund 6 Millionen Tonnen Kunststoffabfälle stimmt haben die Fraktionen von SPD, Bündnis 90/Die an. Einweggeschirr und To-go-Plastikverpackungen tra- Grünen und CDU/CSU, dagegengestimmt haben die gen einen großen Anteil daran. Deswegen ist ein wichti- Fraktionen der AfD und FDP, und enthalten hat sich die ger Schritt auf europäischer Ebene, um diesen Plastikver- Fraktion Die Linke. brauch zu reduzieren, das europaweite Verbot von Einwegplastik. Dieses Verbot wird im Juli 2021 auch in Dritte Beratung Deutschland in Kraft treten. Laut einer Erhebung des Bundesumweltministeriums werden in Deutschland und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem zum Beispiel stündlich rund 320 000 Einwegbecher ver- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – braucht. Auch dem wirken wir damit entgegen. Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- wurf ist angenommen. Zugestimmt haben die Fraktionen Bei den Kunststofftragetaschen, um die es in diesem von CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und SPD, dage- Gesetz geht, sind wir bereits einen Schritt weiter. Bereits gengestimmt haben die Fraktionen von FDP und AfD, seit 2016 – das wurde erwähnt – gibt es eine Vereinba- und enthalten hat sich die Fraktion Die Linke. rung mit dem Handel, Kunststofftragetaschen nur noch gegen Bezahlung anzubieten. Dadurch ist der Verbrauch Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie- deutlich gesenkt worden. Pro Kopf und Jahr verbrauchen ßungsanträge. die Deutschen nur noch 20 Tüten. Entschließungsantrag der AfD auf Drucksache (Judith Skudelny [FDP]: Der Handel hat sich 19/24738. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – an die Vereinbarung gehalten, die Regierung Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Der Ent- nicht!) schließungsantrag ist abgelehnt bei Zustimmung der AfD und Gegenstimmen aller anderen Fraktionen des Hauses. Dieser Schritt hat aber auch eines gezeigt, nämlich dass sich die Verbraucher umstellen und deutlich weniger Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Druck- Plastiktüten verwenden können. Der Verzicht darauf ist sache 19/24739. Wer stimmt für diesen Entschließungs- also möglich. Vor dem Hintergrund war der Schritt zum antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Verbot der Tüten nicht mehr weit. Damit machen wir jetzt Entschließungsantrag ist abgelehnt. Zugestimmt hat die Nägel mit Köpfen. Der Verbrauch dieser Plastiktüten FDP-Fraktion, dagegengestimmt haben die Fraktionen wird auf null reduziert; und das ist gut so, meine Damen von CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen, SPD und Linke, und Herren. und enthalten hat sich die Fraktion der AfD. 24700 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Vizepräsident in Claudia Roth (A) Wir kommen zum nächsten Tagesordnungspunkt. Ich nächste Frühjahr verschoben worden. Das schafft Zeit, (C) rufe die Tagesordnungspunkte 21 a bis 21 c auf: um diese strategische Leerstelle, die Herr Borrell a) Beratung des Antrags der Abgeordneten geschaffen hat, endlich zu füllen. Wir fordern von der Dr. Frithjof Schmidt, Agnieszka Brugger, Bundesregierung, dass sie die Schlussphase ihrer Rats- Uwe Kekeritz, weiterer Abgeordneter und präsidentschaft nutzt, um dazu eine Initiative zu ergrei- der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fen. Wir legen Ihnen in unserem Antrag Vorschläge dazu vor. Neuausrichtung der europäischen und deutschen Sahelpolitik – Zivile Maßnah- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) men und die Unterstützung demokrati- Traditionell war die europäische Sahelpolitik in einen scher Kräfte ins Zentrum stellen frankofonen und einen anglofonen Teil aufgespalten. Das Drucksache 19/23986 wurde schon immer den intensiven Verflechtungen in der Region nicht gerecht. Wer jemals an der Grenze zwischen Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) dem Tschad und Darfur im Sudan gewesen ist, weiß, wie Ausschuss für Inneres und Heimat absurd solche Zuordnungen sind. Mit dem erklärten Ende Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- lung von Françafrique einerseits b) Beratung des Antrags der Abgeordneten (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Na ja!) Dr. , Armin-Paulus Hampel, Petr Bystron, weiterer Abgeordneter und und dem Brexit andererseits ist eine ganzheitliche strate- der Fraktion der AfD gische Neuausrichtung der Sahelpolitik in der Europä- ischen Union überfällig. Neuordnung der deutschen Sahelpolitik anhand realpolitischer Richtlinien (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Drucksache 19/24653 Gerade was den westlichen Teil des Sahel betrifft, ist

Überweisungsvorschlag: die europäische und damit auch die deutsche Politik Auswärtiger Ausschuss (f) durch massive Schieflagen geprägt. Die Situation in den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- sogenannten G-5-Sahelstaaten verschlechtert sich seit lung Jahren dramatisch. Der Putsch in Mali im Sommer hat c) Beratung des Antrags der Abgeordneten das besonders deutlich werden lassen. Trotz der Erkennt- Dr. Christoph Hoffmann, Alexander Graf nis, dass die massiven militärischen Einsätze so nicht zu Lambsdorff, Grigorios Aggelidis, weiterer Stabilisierung und Frieden geführt haben, steht noch (B) Abgeordneter und der Fraktion der FDP immer die Ausweitung des Antiterrorkampfes im Zent- (D) Mit konsequenter Entwicklungspolitik rum unserer Politik. Gleichzeitig haben wir eine zuneh- Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in mende Zersplitterung des zivilen und entwicklungspoliti- Mali schaffen schen Engagements in verschiedene und leider teilweise auch konkurrierende Allianzen und Koalitionen. Kaum Drucksache 19/24623 jemand kann erklären, wie viele dieser Allianzen und Überweisungsvorschlag: Koalitionen es gibt und was sie im Einzelnen so genau Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- machen. lung (f) Auswärtiger Ausschuss Verteidigungsausschuss Gerade die Zivilgesellschaften in der Region müssen Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe deutlich mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung erfah- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ren. Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten beschlossen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE]) Ich warte, bis die Kolleginnen und Kollegen Platz genommen haben, um den ersten Redner aufzurufen. Es geht darum, das große Potenzial der demokratischen Kräfte dieser Zivilgesellschaften, die da sind, die auch in Ich glaube, ich kann jetzt die Aussprache eröffnen. Der Ländern wie Mali gerade besonders lebendig sind, zur erste Redner ist für Bündnis 90/Die Grünen Dr. Frithjof Stabilisierung ihrer Länder zu mobilisieren. Das muss Schmidt. der zentrale Ansatz sein. Das haben wir bisher nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) geschafft und nicht wirklich hinbekommen. Das erfordert nämlich auch entsprechendes Personal in den politischen Vertretungen. Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was Deutschland betrifft, ist die diplomatische Präsenz Wir sind mitten im Prozess der Entwicklung einer neuen in der ganzen Sahelregion fast schon abenteuerlich Afrika-Strategie der Europäischen Union. Das Eckpunk- gering. Im riesigen Gebiet zwischen Atlantik und Rotem tepapier, das Josep Borrell im Frühjahr dazu vorgestellt Meer sind ungefähr 30 Diplomatinnen und Diplomaten hat, war sehr allgemein gehalten, und die Schlüsselregion des höheren Dienstes im Einsatz. Das bedeutet also oft des Sahel kam praktisch darin nicht vor. Sie umfasst eine nur drei oder vier für ein Land, in manchen Ländern auch Zone südlich der Sahara vom Atlantik bis zum Roten weniger. Selbst wenn in der Theorie die Verstärkung des Meer. Jetzt ist der geplante EU-Afrika-Gipfel auf das zivilen Engagements beschworen wird: Die nötige regie- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24701

Dr. Frithjof Schmidt (A) rungsferne Umsetzung in diesen Ländern ist mit dieser (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (C) Ausstattung kaum machbar; das erleben wir seit gerau- des Abg. Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/ mer Zeit. DIE GRÜNEN] – Jan Ralf Nolte [AfD]: So ein Quatsch!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie fordern ernsthaft, dass eine Zusammenarbeit auf Meine Fraktion macht sich keine Illusionen hinsicht- Augenhöhe stattfinden und Deutschland sich ansonsten lich der komplizierten Lage in allen Sahelstaaten, die heraushalten sollte. Ich möchte an dieser Stelle an die schnelle Erfolge oft nicht zulässt. Aber gerade im Bereich Diskussion erinnern, die wir in der letzten Sitzungswoche der Diplomatie kann die Bundesregierung sofort etwas zum Thema Kulturgüter geführt haben. Das hatte mit tun und mit dem Einsatz überschaubarer Mittel deutliche Zusammenarbeit auf Augenhöhe rein gar nichts zu tun, Wirkung erzielen. Es ist Zeit für eine diplomatische nicht einmal im Ansatz. Offensive für den Sahel. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Danke für die Aufmerksamkeit. neten der SPD, der LINKEN und des BÜND- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NISSES 90/DIE GRÜNEN) sowie des Abg. Dr. Christoph Hoffmann Deswegen glaube ich: Der Antrag der AfD ist es nicht [FDP]) wert, dass wir länger darüber reden. Was können wir von FDP und Grünen lernen? Diese Vizepräsident in Claudia Roth: Anträge enthalten viele sehr gute Punkte. Man merkt Vielen Dank, Dr. Frithjof Schmidt. – Nächster Redner: schon am Umfang, dass eine sehr intensive Auseinander- für die CDU/CSU-Fraktion Markus Koob. setzung mit der Lage vor Ort stattfindet. Es werden gute Maßnahmen vorgeschlagen, über die wir reden können (Beifall bei der CDU/CSU) und reden müssen. Man merkt: Es gibt wirklich ein erkennbares Interesse an dieser Region. Markus Koob (CDU/CSU): Was mir beim Antrag der Grünen allerdings etwas Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol- bitter aufstößt, ist die Frage – diese Diskussion führen legen! Wir beschäftigen uns hier im Hohen Haus heute wir hier im Haus häufiger –, ob es ein Primat für einen zum wiederholten Male mit der Sahelregion. Das hat vor der Ansätze gibt. Ich halte die Diskussion, ob es das allem zwei Gründe: Primat eines militärischen Ansatzes gibt oder nicht, für Der erste Grund ist, dass – wie es eben von meinem eine eher akademische Diskussion. Das merkt man, wenn (B) Vorredner Schmidt zutreffend beschrieben worden ist – man mit den Vertretern der Zivilgesellschaft vor Ort und (D) die Lage in der Sahelregion, speziell in Mali – darum geht mit unseren Leuten von der GIZ redet. Sie sagen: Ja, wir es im FDP-Antrag –, nach wie vor ausgesprochen drama- hätten es auch lieber, dass die Bundeswehr nicht vor Ort tisch ist und wir uns extrem hohen Herausforderungen ist, aber uns ist auch klar: Ohne Bundeswehr wären wir gegenübersehen, deren Überwindung uns alle noch sehr nicht mehr vor Ort, weil wir unsere Arbeit dann nicht viele Jahre, wahrscheinlich sogar Jahrzehnte beschäfti- mehr machen können. gen wird. Deshalb bringt uns die Frage, ob es das Primat für Der zweite Grund ist, dass die Lage nicht zufrieden- irgendeinen Ansatz gibt, nicht weiter. Vielmehr müssen stellend ist, obwohl wir als Bundesrepublik Deutschland wir uns die Frage stellen: Wie können wir den vernetzten mit erheblichem Engagement vor Ort sind, sowohl militä- Ansatz weiterentwickeln? Wie können wir dafür sorgen, risch mit der Bundeswehr und auch mit der Bundespoli- dass militärisches Engagement, solange wir es brauchen zei als auch zivil mit der GIZ und anderen Nichtregie- und solange es nötig ist, die Arbeit der Entwicklungshilfe rungsorganisationen. Deshalb ist es gut, dass wir uns absichern kann, und mit welchen Konzepten können wir heute erneut mit der Lage in der Sahelregion beschäftigen dafür sorgen, dass diese geschundene Region durch die und überlegen, wie wir die Situation vor Ort in den nächs- Entwicklungshilfemaßnahmen tatsächlich weiterentwi- ten Jahren verbessern können. ckelt werden kann? Heute liegen drei Anträge vor, die sich in Qualität und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) in der Motivation, ernsthafte Strategien für diese Region Niemand in diesem Haus glaubt doch ernsthaft, dass man zu entwickeln, allerdings erheblich unterscheiden. die Probleme und Herausforderungen vor Ort mit einem Ich fange mit dem Antrag der AfD an. Er ist sowohl rein militärischen Ansatz lösen kann. Aber was auch klar vom Inhalt als auch vom Umfang her ausgesprochen ist: Zumindest in der aktuellen Situation geht es nicht dürftig. Während FDP und Grüne mit umfangreichen ohne Militär. Maßnahmen vorschlagen, wie man diese Region weiter- Das bringt mich zu meinem zweiten Punkt – ich kom- entwickeln kann, kann sich die AfD gerade einmal zu me damit zum Schluss –: Beim Antrag der Grünen finde fünf Forderungen durchringen. ich es etwas schade, dass Sie zwar zu recht eine lang- fristige Strategie einfordern, um den zivilen Ansatz zu (Jan Ralf Nolte [AfD]: Die Anzahl der Punkte entwickeln, aber dass Sie mit Blick auf den militärischen ist ein Qualitätsmerkmal, oder was?) Ansatz fordern, dass es innerhalb kürzester Zeit Erfolgs- – Ja, wenn die Qualität schlecht und der Umfang gering meldungen geben muss. Ich glaube, das wird nicht funk- ist, ist das tatsächlich ein schlechter Antrag. tionieren. Wir müssen hier ehrlich sein: Das Engagement 24702 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Markus Koob (A) vor Ort, zivil wie militärisch, wird uns noch einige Jahre Sie sprechen sich für eine stärkere deutsche Beteiligung (C) beschäftigen. Wir als Parlamentarier sollten daran arbei- an NATO-Einsätzen aus. ten, dieses Engagement auf beiden Seiten zu unterstützen (Dr. Christoph Hoffmann [FDP]: Natürlich!) und zu fördern. Ihre China-Politik steuert uns auf einen Kollisionskurs Vielen Dank. zum Schaden der deutschen Wirtschaft. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der AfD – Dr. Christoph Hoffmann [FDP]: Unfug!) Vizepräsident in Claudia Roth: Sie sind im Grunde genommen nur noch eine Main- Vielen Dank, Markus Koob. – Nächster Redner: für die stream- und Lifestylepartei. Sie unterscheiden sich AfD-Fraktion Dr. Roland Hartwig. kaum noch von den Grünen, außer vielleicht der Tatsa- (Beifall bei der AfD) che, dass Sie Sekt statt Bionade trinken. (Beifall bei der AfD – Lachen bei Abgeordne- Dr. Roland Hartwig (AfD): ten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ Guten Abend, Frau Präsidentin! Meine Damen und DIE GRÜNEN) Herren! Auch die deutsche Sahelpolitik ist von Wunsch- Aber zurück zur Sahelzone. Wie könnte eine konstruk- vorstellungen, Ideologie und Naivität geprägt. Versuche tive und an der Realität orientierte deutsche Politik aus- der Bundesregierung, westliche Werte und Strukturen in sehen? Hierzu drei Ansätze: Erstens. Wir sollten uns Afrika zu etablieren, sind gescheitert. Auch militärische nicht in die inneren Angelegenheiten afrikanischer Staa- Einsätze wie der der Bundeswehr in Mali sind kein ten einmischen. Zweitens. Das Engagement des deut- Erfolg. Das müssen selbst die Grünen, die seit Joschka schen Staates in der Sahelzone muss mit den dortigen Fischer die Militarisierung deutscher Außenpolitik enga- Regierungen abgestimmt sein. Nur so kann dem Bedarf giert vorantreiben, in ihrem Antrag eingestehen. dieser Länder an Investitionen in Infrastruktur und Bil- (Beifall bei der AfD – Lachen bei Abgeordne- dung und an wirtschaftlicher Kooperation entsprochen ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) werden. Mit zusammenhanglosen, ideologisch motivier- ten Kleinprojekten hingegen gelingt das sicher nicht. Die gegenwärtigen Probleme in der Sahelzone haben mehrere Ursachen. Eine davon benennt die FDP ganz zu (Beifall bei der AfD) Beginn ihres Antrages: Libyen. Eine öffentlich stark Und drittens – ganz wichtig –: Das dramatische Bevöl- umstrittene Entscheidung des Weltsicherheitsrates zur kerungswachstum, das alle wirtschaftlichen Erfolge und Einrichtung einer Flugverbotszone über Libyen wurde (B) Fortschritte auch in der Sahelzone zunichtemacht, muss (D) 2011 dazu benutzt, die libysche Regierung gewaltsam in das Zentrum aller entwicklungspolitischen Anstren- zu stürzen. Das Land ist danach im Chaos versunken. gungen gerückt werden. Die Konsequenzen sind auch in Deutschland zu spüren: Die Zerstörung Libyens machte den Weg frei für die (Zuruf von der LINKEN: Die Pille!) Massenmigration nach Europa. Das, meine Damen und Herren, ist eine der großen, wenn (Beifall bei der AfD) nicht sogar die größte Herausforderung unseres Jahrhun- derts. Hören Sie bitte auf, diesem globalen Problem per- Es ist ganz entscheidend dem damaligen FDP-Außen- manent weiter auszuweichen. minister zu verdanken, dass Deutsch- land sich nicht am Krieg in Libyen beteiligte. Wester- Vielen Dank. welle erklärte am 16. März 2011 hier im Bundestag, die (Beifall bei der AfD) Folgen eines Militäreinsatzes würden nicht nur Libyen betreffen, sondern auf die gesamte nordafrikanische Vizepräsident in Claudia Roth: Region und die gesamte arabische Welt ausstrahlen. Wes- Danke schön, Dr. Hartwig. – Nächste Rednerin: für die terwelle setzte damals trotz massiver Angriffe der SPD-Fraktion Dr. Daniela De Ridder. Medien und der etablierten Parteien eine Enthaltung Deutschlands im Sicherheitsrat durch und wurde damit (Beifall bei der SPD) eben nicht Wegbereiter einer verheerenden Regime- Change-Politik. Dr. Daniela De Ridder (SPD): Wo sind sie denn heute, die Liberalen, Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Gäste! Suchen Sie eine Hinter- (Dr. Christoph Hoffmann [FDP]: Hier!) grundkulisse für Ihre schlimmsten Albträume zu Terror, die Gegenwind aushalten, um die Interessen unseres Drogenhandel, Vergewaltigung und Mord? Dann könnte Landes durchzusetzen, Mali, dann könnte die Sahelregion wohl in Ihre engere Auswahl gelangen. (Dr. Christoph Hoffmann [FDP]: Hier!) Nicht ohne Grund besteht mit der sogenannten G-5- die ihr Fähnchen nicht nach dem Wind drehen? Schauen Sahelgruppe eine Antiterrorkoalition für das Gebiet süd- wir uns ein paar Ihrer aktuellen Positionen an. Sie möch- lich der Sahara aus den Ländern Mali, Niger, Burkina ten die Sanktionen gegen Russland natürlich aufrechter- Faso, Mauretanien und dem Tschad. Seit 2012 bereits halten. kontrollieren dort islamistische al-Qaida-Kämpfer Teile (Dr. Christoph Hoffmann [FDP]: Natürlich!) dieser Länder. Sie nutzten dabei den Aufstand der Tua- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24703

Dr. Daniela De Ridder (A) reg-Separatisten und die Schwäche der Regierung in In diesem Prozess steht Deutschland an der Seite der- (C) Bamako, um in der ohnehin fragilen Region an Einfluss jenigen, die sich klar zur Demokratie bekennen. Dazu zu gewinnen. zählt auch die Nutzung von Instrumenten des Good Governance. Richtig, lieber Frithjof Schmidt: Tötungen 2012 ist im Übrigen auch jenes Jahr, in dem Ibrahim in der Zivilbevölkerung müssen strafrechtlich verfolgt, Boubacar Keïta, nur um Herrn Hartwig historisch noch Menschen- und Frauenrechte sowie Pressefreiheit einge- mal auf die Sprünge zu helfen, durch einen Putsch an die halten und Korruption bekämpft werden, gerade auch Macht kam. Ihm ist es nie gelungen, die dschihadisti- dann, wenn die Pandemie die prekäre Nahrungsmittelver- schen Aufstände im Norden des Landes und die Gewalt sorgung drastisch verschärft hat. zwischen den verschiedenen Ethnien unter Kontrolle zu bringen oder sie gar einzuhegen. Die Dörfer, in denen Aber auch deshalb hat Deutschland am 20. Oktober früher trotz religiöser und ethnischer Unterschiede dieses Jahres gemeinsam mit Dänemark, mit der EU Bauern, Fischer und Viehzüchter friedlich nebeneinander und den Vereinten Nationen eine virtuelle Geberkonfe- lebten, sind heute in blutigen Fehden zutiefst verfeindet. renz zur humanitären Hilfe für die Sahelregion eingerich- So weit, so richtig, lieber Frithjof Schmidt. tet; und das war wichtig, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der SPD) Sie alle erleben den „Mali Blues“. Der gleichnamige Dokumentarfilm porträtiert vier malische Musikerinnen 24 Geber haben dabei mehr als 1,7 Milliarden US-Dollar und Musiker, die mit ihren Songs für einen toleranten für 2020 und die Folgejahre zugesagt, obwohl die Geber- Islam werben. Dabei ist es ganz gleich, ob sie mit Gitar- länder selbst durch die Coronakrise in einer schwierigen renriffs die Sehnsucht nach der Wüste besingen, als Sin- Ausgangslage sind. Zudem hat Deutschland mit fast ger-Songwriterinnen für die Emanzipation von Frauen 50 Millionen Euro für 2020 seine humanitäre Hilfe, eintreten, auf Rockmusik, Hip-Hop oder traditionelle etwa im Vergleich zum Vorjahr, mehr als verdoppelt Musikinstrumente setzen: Immer geht es um Toleranz und nun bei der Sahelkonferenz rund 100 Millionen und Frieden, die ihnen in der Realität längst abhandenge- Euro für die nächsten drei Jahre zugesagt. kommen sind. Aber richtig, wir werden auch noch mehr tun. Die Bundesregierung wird noch mehr als bisher die Koopera- Ja, denn dies ist die Realität in der Region: Die Tro- tion mit ECOWAS und den afrikanischen Unionsländern ckenheit und die Klimakrise sind in ihren Auswirkungen suchen und noch intensiver als bisher daran mitwirken, nicht einmal annähernd beschreibbar, geschweige denn dass zivile Kapazitäten aufgebaut und vertrauenswürdi- eingedämmt. Es fehlt an Wasser, an Infrastrukturen, an ge, belastbare staatliche Strukturen entwickelt und aus- Ärztinnen und Ärzten und an Krankenhäusern. So weit gebaut werden können. Im Rahmen unseres vernetzten (B) zum Konsens mit den Antragstellern des heutigen (D) Ansatzes, der aber keineswegs nur aus militärischer Abends. Unterstützung besteht – Herr Koob hat es angesprochen –, Neben Frankreich ist im Rahmen des UN-Mandats ist Deutschland ein Aktivposten im Sahel. MINUSMA auch die Bundeswehr mit einem einge- Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. schränkten Auftrag zugegen. Mit der Mission EUTM Mali werden mit deutscher Unterstützung im Übrigen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten einheimische Soldaten ausgebildet. der CDU/CSU)

Hat es das Verteidigungsministerium, hat es die Bun- Vizepräsident in Claudia Roth: deswehr überrascht, dass junge Offiziere der malischen Vielen Dank, Dr. Daniela De Ridder. – Nächster Red- Armee in der Nacht vom 18. zum 19. August in diesem ner: für die FDP-Fraktion Dr. Christoph Hoffmann. Jahr den unpopulären Präsidenten Keïta, sieben Jahre nach dessen geputschtem Amtsantritt, selbst wegge- (Beifall bei der FDP) putscht haben? Dies war eine der Fragen, die wir vor Kurzem im Auswärtigen Ausschuss diskutiert haben. Dr. Christoph Hoffmann (FDP): Der völkerrechtswidrige Putsch des Militärs, der aufs Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Schärfste verurteilt wurde, ist dennoch für viele in der Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sahelre- malischen Bevölkerung Anlass, auf eine Wende zu hof- gion ist bedeutend für Europa, und die Schicksale zwi- fen – auf eine Wende hin zum Guten, eine Wende für schen Europa und Sahel sind miteinander verknüpft. Die mehr Demokratie, vor allem aber auf eine Wende, die Sahelzone ist im Grunde eine unwirkliche Landschaft, die sozialen Verwerfungen, Armut und insbesondere schon immer geprägt von Trockenheit, aber auch Hunger- auch die Korruption in der Armee selbst bekämpfen snöten, Armut und Konflikten zwischen Hirten und möge. Das ist bitter notwendig, liebe Kolleginnen und Ackerbauern. Kollegen. Der Zusammenbruch Libyens setzte Unmengen an Die Situation macht jedoch auch deutlich, dass unter- Waffen frei, die für eine massive Verschlechterung der stützende Aktionen hin zu einem Reformprozess nicht Sicherheitslage in der Region gesorgt haben. Sie erinnern unterlassen werden können. Die Bekämpfung von Hun- sich vielleicht – wir sind gerade daran erinnert worden –, ger und Armut und jetzt die Bewältigung der Coronakrise dass sich damals Guido Westerwelle und damit Deutsch- sind wesentlich. Die Durchführung von freien, fairen und land aus diesem Konflikt herausgehalten haben. Ich glau- unabhängigen Wahlen ist es jedoch nicht minder. be, das war richtig so. 24704 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Dr. Christoph Hoffmann (A) Ich war im September in Mali, im Sahel – nach dem Dr. Christoph Hoffmann (FDP): (C) Putsch. Mali zeigt exemplarisch, wie ganze Staaten insta- Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Entwick- bil werden können, ja zerfallen können, wenn die innere lungszusammenarbeit muss zukünftig – das sind die Leh- Sicherheit nicht gegeben ist, eine schlechte Regierungs- ren aus Mali – mit Konditionierung erfolgen. Fehlt ein führung vorhanden ist und grassierende Korruption entschlossenes Vorgehen für mehr Transparenz, für die herrscht. Wenn auf der Einnahmenseite große Teile weg- Ahndung von Menschenrechtsverletzungen, für einen fallen und abgezweigt werden und bei den Ausgaben die nationalen Versöhnungsdialog, dann darf das nicht ohne Gelder in falsche Taschen wandern, gibt es für den Konsequenzen bleiben wie bisher. Bürger keine staatlichen Leistungen mehr: keine Schule, kein Gericht, keine Sicherheit. Armut, Hunger, Recht des Vizepräsident in Claudia Roth: Stärkeren sind die Folge. Der Vertrag zwischen Staat und Herr Kollege, Sie kriegen gleich auch eine Konse- Bürger erlischt. quenz. Jetzt sind Sie wirklich deutlich über Ihrer Rede- In Mali gab es diese tiefe Krise des politischen Sys- zeit. tems, die sich unter Präsident Keïta zugespitzt hat. Das deutsche und das europäische Engagement in Mali und Dr. Christoph Hoffmann (FDP): im restlichen Sahel müssen sich hier unbequeme Fragen Deutschland muss im eigenen Interesse dem Sahel viel gefallen lassen. Noch im Mai dieses Jahres hat der Bun- mehr Aufmerksamkeit zuwenden. desaußenminister dem damaligen Präsidenten Keïta zur erfolgreichen Parlamentswahl gratuliert und sie als (Beifall bei der FDP) „demokratisches Lebenszeichen“ bezeichnet. Warum denn eigentlich das? Vizepräsident in Claudia Roth: Vielen Dank, lieber Dr. Hoffmann. – Nächste Redne- Nach der Wahl folgten Massenproteste gegen Wahl- rin: für die Fraktion Die Linke Kathrin Vogler. manipulationen, soziale Ungerechtigkeit und Korruption. Und am Ende putschten junge Obristen unblutig: Sie (Beifall bei der LINKEN) wollten ihr Mali vor dem Zerfall retten. Sie waren selbst im Kampfeinsatz ohne Mittel mit mangelnder Ausrüs- Kathrin Vogler (DIE LINKE): tung, hervorgerufen durch Korruption. Nach dem Putsch Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen haben sie dann die korrupten Generäle eingesperrt. und Kollegen! Wir reden heute hier über drei Anträge zur Lage in der Sahelzone, und das ist gut so; denn was Mit Druck von ECOWAS gibt es nun eine zivil-militär- wir dort erleben, ist das Totalversagen der deutschen und (B) ische Übergangsregierung und einen klaren Fahrplan für der europäischen Afrikapolitik, und zwar insbesondere (D) Mali: eine vierte Republik, ein neuer Vertrag zwischen des sogenannten vernetzten Ansatzes der Bundesregie- Staat und Bürgern, ein transparenter Staat und Neuwah- rung. len, und das alles in 18 Monaten. Das wird nicht einfach, aber Malis Bevölkerung ist bereit, und wir müssen es In Burkina Faso, Mali und Niger sind aktuell mehr als unterstützen. 7 Millionen Menschen von Hunger bedroht. Diese Zahl könnte auf bis zu 13 Millionen ansteigen. Die Zahl der Ohne Sicherheit keine Entwicklung, wie wir gehört Vertriebenen ist seit dem letzten Jahr um das 20-Fache haben! Aber wir müssen auch das deutsche Engagement gestiegen. Die Zahl der terroristischen Anschläge hat sich viel enger politisch begleiten, wie es auch im Antrag der in nur vier Jahren verfünffacht. Allein im letzten Jahr Freien Demokraten formuliert ist. Das Fenster für Refor- wurden über 4 000 Menschen getötet. Diese Toten gehen men in Mali ist nun offen, und wir müssen diese Gele- nicht nur auf das Konto von Terroristen. Auch die genheit nutzen. Wir müssen pragmatisch und schnell Armeen der Sahelstaaten verbreiten zunehmend Angst agieren und dürfen nicht noch ein Jahr warten, ob wir und Schrecken unter der Bevölkerung. Immer wieder dann neue Verhandlungen zur Entwicklungszusammen- hören wir von willkürlichen Erschießungen, Folter und arbeit führen können. Massakern an der Bevölkerung, vom Verschwindenlas- sen durch Soldaten, und zwar durch Soldaten, die von Also: Umschalten bei der Entwicklungszusammenar- deutschen und französischen Soldaten ausgebildet wor- beit auf Transparenz durch Digitalisierung in der Verwal- den sind. Das Internationale Rote Kreuz meint dazu, der tung, damit die Geldströme für jeden Bürger klar werden! derzeitig verfolgte Ansatz einer stark militarisierten Hier kann Deutschland gemeinsamen mit Brüssel eine Reaktion auf die Gewalt in der Region habe sich als unge- Schlüsselrolle spielen. eignet erwiesen. Das stimmt. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der LINKEN) Die Grünen machen in ihrem Antrag deutlich, wie ver- Diese Chancen müssen die Minister Maas und Müller fehlt dieser Ansatz ist. In weiten Teilen liest er sich tat- schnell nutzen und dürfen nicht zuwarten. Das geschicht- sächlich wie eine Stellungnahme der Linksfraktion, etwa liche Fenster könnte sich irgendwann wieder schnell wenn Sie berechtigterweise darauf hinweisen, welche schließen. Deshalb ist Eile geboten. fatale Folgen die militarisierte Flüchtlingsabwehr der EU für eine Region hat, in der jahrhundertelang Migra- Vizepräsident in Claudia Roth: tion und Handel die Lebensader und die wirtschaftliche Herr Kollege, Eile ist geboten. Grundlage waren, oder wie gefährlich es ist, vorzugeben, Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24705

Kathrin Vogler (A) Terroristen zu bekämpfen, aber dabei Armeen zu unter- sitionen häufig ihre Umstürze mit dem Schüren inner- (C) stützen, die Diktatoren beschützen und Menschenrechte ethnischer Konflikte verknüpfen, ist ein Aspekt, der uns verletzen. beunruhigen muss.

Das alles ist völlig richtig. Nur können Sie sich leider Ich bin überzeugt, dass wir weiterhin nicht nur diplo- wieder nicht dazu durchringen, konsequent zu sein und matisch, sondern auch mit unseren Soldaten und mit den Abzug der deutschen Truppen aus der Sahelzone zu unserem ungeheuren entwicklungspolitischen Engage- fordern, weil Sie sich von Ihren pazifistischen Wurzeln ment in Mali präsent sein sollten. Unser Engagement komplett verabschiedet haben. dient etwa der Versorgung mit sauberem Trinkwasser; (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Leider!) da leistet Deutschland einen wesentlichen Beitrag für fast 1 Million Menschen. Es dient der Verbesserung der Die Bevölkerung sieht nämlich die fremden Truppen landwirtschaftlichen Möglichkeiten. Die Produktivität ist immer mehr als Besatzer, und sie wehrt sich dagegen, deutlich gestiegen. Das Potenzial ist aber immer noch dass ihre Sicherheitslage auch dadurch immer weiter ver- sehr groß. Bei einer so stark wachsenden Bevölkerung schlechtert wird. wie in diesem Land ist eine entsprechende Steigerung Gar nicht verstanden hat es die FDP, die jetzt fordert, der Produktivität auch dringend notwendig. Unser Enga- noch mehr Soldaten nach Mali zu schicken, die dort Ent- gement müssen wir schon im rein humanitären Interesse wicklungsprojekte ermöglichen sollen. Wenn Sie die Ent- für die Menschen in diesem Land fortführen. wicklungshilfe auch noch militarisieren, dann gefährden Sie die zivilen Projekte und ihre Mitarbeiterinnen und Ganz wichtig ist eine genaue Kenntnis der Gegeben- Mitarbeiter, heiten mit Blick auf die verschiedenen Volksgruppen in den betreffenden Ländern. Die historischen, kolonialen (Beifall bei der LINKEN) Grenzziehungen in diesen Nationalstaaten sind, wie wir weil diese dann als Teil der ungeliebten Besatzungsmacht wissen, zufällig, und das zeigt sich besonders exempla- gesehen werden. Ansonsten singen Sie in Ihrem Antrag – risch in einem Land wie Mali. Ich sehe diesbezüglich die das kennen wir von der FDP – das Hohelied der Digita- Rolle der Bundeswehr in der Funktion als interkultureller lisierung in der Verwaltung in Mali. Dass ausgerechnet Einsatzberater als außerordentlich wertvoll an, weil unse- Deutschland, das Land der Faxgeräte und der Funklöcher, re Soldaten dadurch in die Lage versetzt werden, in einem einem anderen Land auf der Welt bei der Digitalisierung schwierigen, unübersichtlichen Terrain auf die verschie- helfen soll, ist eher ein Fall für die „heute-show“, oder? denen Gegebenheiten und die verschiedenen Volksgrup- pen angemessen zu reagieren; das ist wichtig. Das ist (Beifall bei der LINKEN) auch im diplomatischen Bereich gegeben. Das sollte (B) Die Linke jedenfalls sagt: Schluss mit den Militärein- uns Anlass sein, künftig bei der Erarbeitung staatlicher (D) sätzen im Sahel! Wir wollen Frieden schaffen ohne Waf- Verfassungen beratend tätig zu sein, um eine angemesse- fen. ne Repräsentation der verschiedenen Volksgruppen in den betreffenden Ländern sicherzustellen. (Beifall bei der LINKEN) Daran ist, glaube ich, im Wesentlichen zu arbeiten. Vizepräsident in Claudia Roth: Wenn das nicht gelingt und wenn die Wahrnehmung der Vielen Dank, Kathrin Vogler. – Nächster Redner: für Menschen ist, dass in diesen sozusagen formell westlich die CDU/CSU-Fraktion Matern von Marschall. verfassten Staaten eigentlich nur die Klientel bestimmter einzelner Gruppierungen die Länder ausbeutet, und wenn (Beifall bei der CDU/CSU) deswegen die Frustration über die Staatsführung so groß wird wie in Mali, dann kann das zu Eruption und Eska- Matern von Marschall (CDU/CSU): lation führen. Das können wir vielleicht durch eine kluge Herzlichen Dank, Frau Präsidentin! – Frau Kollegin Ausbalancierung der regionalen Interessen der unter- Vogler von der Linken, Sie haben mir bereits die scharf- schiedlichen Bevölkerungsgruppen im Rahmen unserer sinnige Analyse des Antrags der Grünen, den Sie als „fast beratenden Tätigkeit vermeiden. aus Ihrer Feder stammend“ beschreiben, abgenommen. Dass Sie das gleichzeitig mit fehlendem pazifistischem Ich möchte werben für eine engagierte Politik im Sahel Engagement verknüpfen, verwundert mich allerdings ein und insbesondere für eine Fortführung unseres Engage- wenig. ments, auch des militärischen, in Mali. Wenn ich auf die neue Ausbildungsinitiative, die wir jetzt in Sévaré haben, Ich schaue einmal nach Mali. Es ist bemerkenswert, schaue, gilt mein besonderer Dank unserer Truppe. dass der Putsch zunächst einmal friedlich verlaufen ist. Das ist aber nichts, worauf man sich ausruhen kann. Wir (Beifall bei der CDU/CSU) müssten viel mehr Mittel darauf verwenden, die Lage in vergleichbaren Ländern präventiv zu analysieren, um eine solche Situation wie die in Mali, die für den Moment Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: noch friedlich ist und die vielleicht auch zu einem fried- Vielen Dank, Kollege von Marschall. – Der letzte Red- lichen Übergang führen kann, vorher im Auge zu behal- ner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege ten. Die verfassungsrechtliche Kritik an der staatlichen Dr. Wolfgang Stefinger, CDU/CSU-Fraktion. Verfasstheit im ganzen Sahel, in ganz Westafrika ist etwas, was uns beunruhigen muss. Auch dass die Oppo- (Beifall bei der CDU/CSU) 24706 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

(A) Dr. Wolfgang Stefinger (CDU/CSU): Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 sowie den Zusatz- (C) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und punkt 11 auf: Kollegen! In der Debatte um die Situation in der Sahel- 22 Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- zone ist schon darauf hingewiesen worden, welches die gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform einzelnen Auswirkungen auf die Bevölkerung sind. Wir des Vormundschafts- und Betreuungsrechts haben bewaffnete Konflikte, Hunger, Naturkatastrophen und auch noch Corona. Ich möchte daher mein besonde- Drucksache 19/24445

res Augenmerk auf die Kinder in diesen Ländern, in die- Überweisungsvorschlag: ser Region richten; denn für die ist die Situation vor Ort Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) besonders schlimm. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Wir haben zum Teil flächendeckende Schulschließun- ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin gen aufgrund von Gewalt und Terror, was zur Folge hat, Helling-Plahr, Stephan Thomae, Grigorios dass für Tausende Kinder die oftmals einzige Mahlzeit Aggelidis, weiterer Abgeordneter und der Frak- am Tag nicht mehr gewährleistet ist. Wir sehen einen tion der FDP massiven Anstieg der Kinderarbeit. Wir sehen eine stei- gende Rekrutierung von Kindern als Kindersoldaten von Selbstbestimmte Vorsorge in Gesundheitsan- Terrororganisationen, und wir sehen durch die Schul- gelegenheiten stärken schließungen und die damit verbundene ausbleibende Drucksache 19/24638 Bildung, dass gerade Mädchen wieder stärker zwangsver- heiratet werden, und zwar im Kindesalter. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Gestatten Sie mir den Hinweis: Wie klein wirken in Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Anbetracht dessen, was ich gerade geschildert habe, so manche Diskussionen, die wir hierzulande führen über Für die Aussprache ist eine Dauer von 30 Minuten Kindergeburtstage oder Familienfeiern, die nicht stattfin- beschlossen. den können. Aber es muss sich jeder selber fragen, wie Wir können anfangen, wenn Sie sich entschlossen sich die persönlichen Prioritäten hier verschoben haben haben, hierzubleiben oder hinauszugehen, und das zügig. und ob ein Blick über den Kirchturm nicht manchmal wieder einiges geraderücken kann. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Parla- mentarische Staatssekretärin Rita Hagl-Kehl. Liebe (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Frau Staatssekretärin, Sie haben das Wort. ordneten der SPD und der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (B) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Entwicklungs- (D) ministerium hat Anfang 2020 einen Vier-Punkte-Plan auf den Weg gebracht zur Stärkung von lokalen Struktu- Rita Hagl-Kehl, Parl. Staatssekretärin bei der Bundes- ren und von nationaler Eigenverantwortung, außerdem ministerin der Justiz und für Verbraucherschutz: zur Unterstützung von jungen Menschen, um diesen wirt- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor- schaftliche Perspektiven und Bildungsmöglichkeiten zu mundschaft und Betreuung sind sensible Themen; denn geben, um Aufklärungsarbeit zu leisten, was den ganzen hier geht es um Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Bereich Terrorismus betrifft, und auch zur Stärkung der Es geht um Kinder, deren Eltern nicht in der Lage sind, Nachbarländer. Selbstverständlich sind zivile Maßnah- die Verantwortung für sie zu übernehmen, und es geht um men zur Unterstützung wichtig. Aber Entwicklung Erwachsene, die infolge von Krankheit oder Behinderung braucht Sicherheit. Deswegen halte ich den integrativen ihre rechtlichen Angelegenheiten nicht oder nur begrenzt Ansatz der Bundesregierung für sinnvoll. selbst regeln können. Liebe Kolleginnen und Kollegen, selbstverständlich Viele Regelungen im Vormundschafts- und Betreu- unterstützen wir die zivilen Organisationen. Wir befähi- ungsrecht sind nicht mehr zeitgemäß. Eine umfassende gen die Streitkräfte. Ein herzliches Dankeschön an die Reform ist nötig. Dieses Vorhaben gehen wir nun an. Soldatinnen und Soldaten im Einsatz! Es ist aber klar: Einige wichtige Neuerungen will ich Ihnen hier nennen. Es bleibt ein langer, es bleibt ein steiniger Weg, aber – Zunächst zur Vormundschaft. Viele Regelungen im davon bin ich überzeugt – ein Weg, den es sich lohnt zu Recht der Vormundschaft stammen noch aus dem gehen. Ich wünsche uns allen: Bleiben wir zuversichtlich. Jahr 1896, dem Jahr der Verabschiedung des Bürgerli- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- chen Gesetzbuches. Die Vorschriften atmen den Geist ordneten der SPD) des Kaiserreichs und nicht den Geist unserer sozialen und freiheitlichen Verfassung. Das ändern wir jetzt. Wir Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: rücken das Kind ins Zentrum des Vormundschaftsrechts, und wir stellen noch deutlicher als bisher heraus: Der Vielen Dank, Wolfgang Stefinger. – Ich schließe die Vormund hat nicht nur die Verantwortung, sich um das Aussprache. Vermögen des Kindes zu kümmern. Sie oder er trägt auch Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf die Verantwortung für die Erziehung und das persönliche den Drucksachen 19/23986, 19/24653 und 19/24623 an Wohl des Kindes. die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- Kinderrechte müssen im Mittelpunkt stehen. schlagen. Gibt es andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann verfahren wir so. (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24707

Parl. Staatssekretärin Rita Hagl-Kehl (A) Deswegen setze ich mich auch für eine Ergänzung des bestmöglich unterstützt. Eine solche Reform haben wir (C) Grundgesetzes ein. uns seit etlichen Jahren vorgenommen. Ich bin froh, dass wir jetzt einen überzeugenden Entwurf beraten können. (Beifall bei der SPD) Wir stellen daher die Kinderrechte ins Zentrum des Vor- Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. mundschaftsrechtes. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Darüber hinaus stärken wir die Rechte der Pflegeel- der CDU/CSU) tern, bei denen die betroffenen Kinder oft aufwachsen. Damit stärken wir die Beziehung zwischen Pflegeeltern Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: und -kindern. Pflegekinder sollen sich in ihren Familien Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. – Der nächste Red- geschützt und geborgen führen. Unser Gesetzentwurf ner: der Abgeordnete Thomas Seitz, AfD-Fraktion. trägt dazu bei. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der AfD) Zum Betreuungsrecht. Auch hier rücken wir die Betroffenen noch stärker ins Zentrum. Die Behinderten- Thomas Seitz (AfD): rechtskonvention der UN und unser Grundgesetz lassen Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und keinen Zweifel: Der wichtigste Orientierungspunkt des Herren! Wir reden heute über ein wirklich ambitioniertes Betreuungsrechts muss das Selbstbestimmungsrecht der Projekt, nämlich eine grundlegende Reform des Vor- Betroffenen sein. mundschaftsrechts und vielfältige Änderungen im Be- (Beifall bei der SPD – Sören Pellmann [DIE treuungsrecht. LINKE]: Hört! Hört!) Während 2017 die Zahl der Vormundschaften bei über Nicht überall in unserem Betreuungsrecht kommt das 60 000 lag, geht es bei den Betreuungsverfahren um eine glasklar zum Ausdruck. Aus manchen Formulierungen ganz andere Dimension. Seit 1995 hat sich die Zahl der spricht noch ein falscher Paternalismus. Wir schreiben Betreuungsverfahren mehr als verdoppelt auf im Jahr jetzt fest: Die Wünsche der Betreuten haben im Regelfall 2012 über 1,3 Millionen. Seitdem gehen die Zahlen leicht Vorrang. zurück. Sie bewegen sich aber unverändert auf hohem Niveau. Wenn wir zu den Betreuten noch ihre Angehöri- (Lachen der Abg. Corinna Rüffer [BÜND- gen hinzurechnen, wird klar: Wir reden über ein Thema, NIS 90/DIE GRÜNEN] – Corinna Rüffer das Millionen von Menschen in Deutschland betrifft. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Im Regel- (B) Deshalb und angesichts einer Drucksache mit fast 550 (D) fall?) Seiten halte ich eine Debatte von 30 Minuten Dauer für Außerdem stellen wir sicher: Eine Betreuerin oder ein eine derart intensive und unmittelbar in die Lebensfüh- Betreuer wird nur dann bestellt, wenn dies zum Schutz rung der Betroffenen eingreifende Rechtsmaterie für aus- der betroffenen Menschen wirklich erforderlich ist. gesprochen unwürdig. Darüber hinaus stärken wir eine tragende Säule unse- (Beifall bei der AfD – Stephan Brandner res Betreuungssystems: die Betreuungsvereine. [AfD]: Genau! – Marianne Schieder [SPD]: (Beifall bei der SPD) Das ist die erste Lesung!) Und wir legen fest, welche persönlichen und fachlichen Im Hinblick auf das Vormundschaftsrecht ist eine Voraussetzungen Betreuerinnen und Betreuer mitbringen Reform nachdrücklich zu begrüßen. Es ist höchste Zeit, müssen. dass das Mündel vom Objekt zum Subjekt des Verfahrens aufsteigt und das noch aus der Kaiserzeit stammende Noch eine wichtige Neuerung birgt unser Gesetzent- Rechtsgebiet mit seinem Fokus auf der Vermögenssorge wurf: eine Neuerung jenseits des Vormundschafts- und anstatt der Personensorge modernisiert wird. Ein kriti- Betreuungsrechts. Wir führen ein zeitlich begrenztes Not- scher Aspekt ist hier für mich die in § 1781 Absatz 3 vertretungsrecht für Ehegatten ein. Wenn ein Ehegatte des Entwurfs vorgeschriebene Ablösung des vorläufigen bewusstlos ist oder krank und deshalb seine Angelegen- Vormunds nach längstens drei Monaten. Wie die Vertreter heiten rechtlich nicht wahrnehmen kann, dann kann ihn der Jugendämter sehe ich den Abbruch der Bindungen der andere in Angelegenheiten der Gesundheitssorge zwischen Mündel und vorläufigem Vormund kritisch. künftig vorübergehend vertreten. Damit ermöglichen Ob die Vorteile wirklich überwiegen, wie es in der wir es Ehegatten, in gesundheitlichen Notfällen schnell Begründung hierzu heißt, darf bezweifelt werden. und flexibel füreinander einzustehen. Beim Betreuungsrecht führen Sie eine Vielzahl von (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Motiven für die Reform an, gegen die allesamt nichts Dr. Heribert Hirte [CDU/CSU]) einzuwenden ist: Trennung vom Vormundschaftsrecht Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben unsere und damit auch eine eigenständige Regelung des Aufga- Reform sehr gründlich vorbereitet: durch umfangreiche benkreises und der Umgangsbestimmungen, Stärkung Forschungsvorhaben und durch eine breite Diskussion. des Erforderlichkeitsgrundsatzes, Stärkung des Selbst- Wir schaffen damit ein Vormundschafts- und Betreuungs- bestimmungsrechts der Betroffenen und des Vorrangs recht, das die Betroffenen in den Mittelpunkt stellt und ihrer Wünsche, Stärkung der Betreuungsvereine und ehrenamtliche und berufliche Helferinnen und Helfer Anbindung ehrenamtlicher Betreuer an diese. Auch die 24708 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Thomas Seitz (A) Neuerungen durch das Betreuungsorganisationsgesetz, Paul Lehrieder (CDU/CSU): (C) welches das Betreuungsbehördengesetz ersetzt, sind Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Lie- sinnvoll. be Kollegen! Es wurde bereits ausgeführt: Der vorliegen- de Gesetzentwurf zur Reform des Vormundschafts- und Die Frage ist jedoch, inwieweit die Gesetzesfassung Betreuungsrechts ist ein sehr großes und ehrgeiziges Pro- geeignet ist, diesen Zielen im Einzelnen gerecht zu wer- jekt und gleichsam eines der wichtigsten Reformprojekte den. Vor allem ist die Frage der Zielerreichung eine Frage der gesamten Legislaturperiode. Wer mich kennt, weiß, des Geldes. Das Inkrafttreten des Vormünder- und dass ich mit Superlativen sehr vorsichtig bin; aber in dem Betreuervergütungsgesetzes am 1. Juli 2005 und die hier- Fall ist es berechtigt. durch ausgelösten massiven Änderungen zur Art und Das Vormundschaftsrecht ist zwar im Laufe der Jahre Weise, wie berufliche Betreuungen geführt werden, immer wieder novelliert worden, stammt aber in weiten habe ich als Vormundschaftsrichter unmittelbar verfolgt. Teilen noch aus der Entstehungszeit des Bürgerlichen Mit der Einführung einer Pauschalvergütung sollten die Gesetzbuches. In diesem Kontext waren die gesellschaft- Kosten der beruflich geführten Betreuungen, die bei mit- lichen Verhältnisse vor 1900 maßgeblich. Frau Staatssek- tellosen Betreuten die Staatskasse trägt, reduziert wer- retärin Hagl-Kehl, meines Wissens ist das BGB nicht den; weg von der Sozialbetreuung hin zur reinen Rechts- 1896, sondern am 1. Januar 1900 in Kraft getreten, und betreuung entsprechend der Rechtslage. Nach den da ist die qualifizierte Form des heutigen Betreuungs- Ausführungen in der Begründung des Gesetzentwurfs rechtes festgeschrieben worden. wird jetzt faktisch wieder eine Wende hin zu einer sozia- len Betreuung angestrebt. Ob diese jetzt von Betreuern Im Fokus standen damals Waisen und nichteheliche geleistet wird oder von sozialen Diensten, ist egal; es Kinder. Heute müssen wir uns auf Kinder und Jugend- wird teuer. Die Frage ist nur, welcher Kostenträger und liche fokussieren, deren Eltern die elterliche Sorge ganz welches Budget dafür bluten müssen. oder teilweise wegen Kindeswohlgefährdung entzogen wurde. Wir wollen daher mit unserer Reform einen stabi- Auch die weiteren Änderungen sind kostenintensiv. len Grundstein für die positive Entwicklung dieser Kin- Sowohl bei den Betreuungsbehörden als auch bei den der legen. Dabei muss ein gut austariertes, klares Ver- Amtsgerichten ist die Reform mit erheblichem Aufwand hältnis zwischen Kind, Vormund und Pflegeperson das verbunden, der gerade bei den Rechtspflegern einen neu- Ziel sein. erlichen Personalaufwuchs erfordert. Dazu kommt die In der Folge muss daher beachtet werden, was für diese gewünschte Aufwertung der Betreuungsvereine, die es Kinder bzw. das sogenannte Mündel das Wichtigste ist. gar nicht bräuchte, wenn die Betreuungsvereine, die be- Sie leben häufig über Jahre in Pflegefamilien und machen reits jetzt hervorragende Arbeit bei der Unterstützung dort einen wichtigen Sozialisations- und Entwicklungs- (B) und in der Information ehrenamtlicher Betreuer leisten, (D) schritt. Alle Beteiligten haben ein Recht auf klare, auf nur besser finanziert wären. stabile Verhältnisse. Die Anforderungen an den Vormund oder die Pflegeperson in rechtlicher, verwaltungstechni- (Beifall bei der AfD) scher oder pädagogischer Hinsicht sind äußerst vielseitig und bedürfen klarer Regelungen. Es wundert deshalb nicht, dass die Stellungnahme des Bundesrates mit einer massiven Kritik an der Schätzung (Unruhe) des Erfüllungsaufwandes beginnt und der Bund aufge- Ich möchte meine Redezeit auch dazu nutzen, um den fordert wird, sich an den Kosten der Reform zu beteili- Pflegefamilien, die sich dazu entschlossen haben, ein gen. Kind aus einer Notsituation heraus aufzunehmen und es Teil ihrer Familie werden zu lassen – Sebastian, ist es so Die Einführung des Vertretungsrechts von Ehegatten langweilig? Mensch! –, meine große Anerkennung und im neuen § 1358 BGB wird von uns ausdrücklich meinen Respekt auszudrücken. Haben Sie vielen Dank! begrüßt. Man kann das auf drei Monate beschränkte Not- vertretungsrecht durchaus kritisch sehen, und natürlich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der kann es missbraucht werden. Aber im Grunde schafft es SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ nur eine Rechtslage, die ein großer Teil der verheirateten DIE GRÜNEN) Menschen in Deutschland nicht nur irrtümlicherweise Danke für Ihre Liebe, für Ihr Einfühlungsvermögen, Ihre bereits jetzt für geltendes Recht, sondern vor allem auch Zeit und Ihre Geduld. – Gerade in diesem Punkt bin ich für richtig hält – für richtig, weil dies dem Wesensgehalt auch auf die Sachverständigenanhörung gespannt. Hier der Ehe als Schicksalsgemeinschaft entspricht. müssen wir unter anderem prüfen, inwieweit die Vor- schläge zur Stärkung der rechtlichen Position der Pflege- Vielen Dank. person zielführend sein können. (Beifall bei der AfD) Das zweite große Vorhaben in diesem Gesetzentwurf betrifft das Betreuungsrecht. Die rechtliche Betreuung ist dann nötig, wenn ein Mensch eine bestimmte Situation Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: nicht oder nicht mehr allein händeln kann. Die Gründe Der nächste Redner ist der Kollege Paul Lehrieder, können vielschichtig und komplex sein und sind in der CDU/CSU-Fraktion. Regel mit gravierenden Einschränkungen verbunden: ein hohes Lebensalter, eine Krankheit oder eine Behinde- (Beifall bei der CDU/CSU) rung. Betroffene mit eingeschränkter Selbstbestimmtheit Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24709

Paul Lehrieder (A) und Autonomie sind in einer schwierigen Lage und wis- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (C) sen oft nicht, was auf sie zukommen wird: Was passiert Vielen Dank, Paul Lehrieder. Sehr gut: eine Minute mit mir, wenn ich nicht mehr die alleinige Kontrolle über eingespart; wir sind sehr dankbar. mich und meine Geschäfte habe? Was ist, wenn ich maß- geblich auf die Hilfe anderer angewiesen bin? Wird (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des jemand meine Schwäche und meine Hilfsbedürftigkeit Abg. Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ausnutzen? NEN]) – Für alle ein Vorbild. Das Ganze ist zu betrachten im Lichte von Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz: „Die Würde des Menschen ist (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Der hat- unantastbar.“ Es geht um einen Menschen, der ein Stück te sechs Minuten! Dann kann man auch einspa- weit Unterstützung braucht, für den entschieden werden ren!) muss, der aber trotzdem mit größtmöglicher Selbst- Die Kollegin Katrin Helling-Plahr von der FDP hat das bestimmtheit in diesem Vorgang gehört und dessen Wort. Interessen berücksichtigt werden sollten. Dieses Span- nungsverhältnis zwischen der Unterstützung und den ver- (Beifall bei der FDP) meintlichen Interessen und der Selbstverwirklichung des Betreuten, der seine Menschenwürde zu keinem Zeit- Katrin Helling-Plahr (FDP): punkt seines Lebens verlieren darf, ist das Spannende Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- an diesem Betreuungsrecht. Die Betroffenen stellen sich ren! Das Ziel, das die Bundesregierung mit dem Gesetz diese und ähnliche Fragen. Deswegen müssen wir und zur Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts wollen wir diese Reform vorantreiben und beschließen. verfolgen will – die Autonomie der Menschen, die Unter- stützung benötigen, zu stärken –, ist ja richtig. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir müssen uns ebenfalls fragen: Wie ist die Situation der betroffenen Aber, liebe Bundesregierung, jetzt mal Hand aufs Angehörigen – wie dem Ehepartner – und der beruflichen Herz: Das mit der Selbstbestimmung können Sie nicht und ehrenamtlichen Betreuer? so richtig, oder? Mit der Einführung eines Ehegattennot- vertretungsrechts schwächen Sie das Selbstbestimmungs- Die letzte große Reform im Betreuungsrecht fand recht der Ehepartner massiv. Anfang der 1990er-Jahre statt. Diese Reform jetzt wird unter Bezugnahme auf die Ergebnisse zweier im Auftrag (Beifall bei Abgeordneten der FDP und des des Ministeriums durchgeführter Forschungsvorhaben BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) vorgenommen. Ausdrücklich loben und besonders her- Ehegatten sollen in Notsituationen automatisch in (B) (D) vorheben darf ich an dieser Stelle, dass eine sehr große Gesundheitsbelangen füreinander entscheiden können, Anzahl an Experten den bisherigen Prozess begleitet hat. sofern sie nicht zuvor widersprochen haben. Sogar Ent- Es fand ein mehrjähriger Dialog zwischen Wissenschaft scheidungen für freiheitsentziehende Maßnahmen sollen und Praxis statt, was auf positive Resonanz stößt; das die Ehegatten treffen dürfen. Eine Widerspruchslösung wurde mir von unterschiedlichen Interessenvertretern in also. zahlreichen Gesprächen versichert. Bei der Organspende hat sich dieses Haus gegen eine Zentrales Ziel der Reform ist die Stärkung der Selbst- Widerspruchslösung entschieden. Und, liebe Kollegin- bestimmung der betroffenen Menschen – ich habe auf nen und Kollegen, völlig unabhängig davon, wie Sie zu den Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz ausdrücklich hinge- der Entscheidung gestanden haben: Vergegenwärtigen wiesen – im Vorfeld und während der rechtlichen Betreu- Sie sich bitte auch einmal den jeweils verfolgten Zweck. ung gemäß Artikel 12 der UN-Behindertenrechtskonven- Die Widerspruchslösung bei der Organspende sollte tion. Es wird sichergestellt, dass die rechtliche Betreuung Menschenleben retten. Mit dem Ehegattennotvertre- in erster Linie in Form einer Unterstützung des Betreuten tungsrecht wollen Sie Gerichte entlasten. Es mag sein, bei der Besorgung seiner Angelegenheiten durch eigenes, dass einige Menschen fälschlicherweise sowieso schon soweit möglich selbstbestimmtes Handeln gewährleistet davon ausgehen, dass es ein Vertretungsrecht zwischen wird. Ehegatten bereits gibt. Aber das kann doch kein Argu- ment sein. Drehen Sie das doch einmal um: Viele Leute Ich bitte Sie – die Kolleginnen und Kollegen der Groß- werden dann auch nicht um das Notvertretungsrecht wis- en Koalition, aber auch der Opposition –, konstruktiv an sen – wenn wir es schaffen – und können folglich auch diesem sehr, sehr wichtigen Gesetzesvorhaben mitzuwir- gar nicht widersprechen. Das ist doch fatal. ken. Dieses Gesetz eignet sich nicht für parteipolitisches Geplänkel, sondern es wäre gut, wenn wir mit diesem (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Gesetz möglichst zusammen die richtigen Entscheidun- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des gen für die Schwächeren in unserer Gesellschaft auf den Abg. Sören Pellmann [DIE LINKE]) Weg bringen könnten. Wir haben mit den Vorsorgeverfügungen bereits ein Herzlichen Dank. bestehendes Instrumentarium, das selbstbestimmte Vor- sorge für Notsituationen ermöglicht und immer mehr (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Zuspruch in der Bevölkerung erfährt. Immer mehr Leute neten der SPD – Sören Pellmann [DIE LIN- verfassen Vorsorgevollmachten und registrieren sie KE]: Wenn ihr noch ein paar Verbesserungen anschließend im Vorsorgeregister. Und sie bevollmächti- macht!) gen oft übrigens gerade nicht den Ehegatten, zum Bei- 24710 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Katrin Helling-Plahr (A) spiel, weil sie diesen nicht belasten möchten oder weil sie Betreuungsvermeidende Hilfen sind in § 8 Absatz 2 (C) andere Personen, die Kinder zum Beispiel, für geeigneter Betreuungsorganisationsgesetz als sogenannte erweiterte halten. Unterstützung angedacht, jedoch leider nur als Kannbe- stimmung; es besteht kein Rechtsanspruch auf erweiterte Lassen Sie uns breit angelegt Aufklärung über die Unterstützung. Verstärkt wird das dadurch, dass eine bestehenden Möglichkeiten betreiben, etwa parallel zur Länderöffnungsklausel besteht, das heißt, demnach ent- Aufklärung über Organspenden. Und wir können den scheiden die Länder selbst, ob sie dies überhaupt umset- Instrumentenkasten ja gerne um ein Ehegattennotvertre- zen. Es ist also nur eine Symbolgesetzgebung. Die tungsrecht erweitern, aber dann muss es, bitte, statt als gerichtlich angeordnete Betreuung darf aber nur die Ulti- Opt-out- als Opt-in-Lösung gestaltet werden, für die man ma Ratio sein, da dies einen grundrechtsrelevanten Ein- sich proaktiv und selbstbestimmt entscheiden kann. griff darstellt. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Sören (Beifall bei der LINKEN) Pellmann [DIE LINKE]) Welche weiteren Schwachstellen beinhaltet der vorlie- Das könnte man dann zum Beispiel mit einem einfachen gende Gesetzentwurf? Erstens: Barrierefreiheit. Das Ge- digitalen Häkchen im Vorsorgeregister lösen. Dann ent- setz sieht adressatengerechte Ansprache vor, jedoch kei- fällt auch die Missbrauchsgefahr, dass bestehende Wider- ne Pflicht zur barrierefreien Kommunikation. So kann spruchswünsche unterdrückt werden, die Experten ja Selbstbestimmung nicht verwirklicht werden. Barriere- sehen; Man denke etwa an Fälle, in denen Gewalt inner- freie Kommunikation muss verpflichtend enthalten sein. halb der Ehe eine Rolle spielt. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Mit unserem Antrag erklären wir Ihnen noch einmal Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schriftlich, wie das mit dem Selbstbestimmungsrecht so NEN]) geht. In diesem Sinne freue ich mich auf die Beratung im Ausschuss. Zweitens. Zwangssterilisationen sind weiterhin vorge- sehen. Die UN- Behindertenrechtskonvention verbietet (Beifall bei der FDP) das explizit. Der UN-Fachausschuss hält diese Praxis im Übrigen für nicht statthaft und hat bereits 2017 Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: geschrieben – ich zitiere –: Der § 1905 Bürgerliches Als Nächster hat das Wort der Abgeordnete Sören Gesetzbuch muss aufgehoben werden. Die Sterilisierung Pellmann, Fraktion Die Linke. ohne die vollständige und informierte Einwilligung der Betroffenen muss gesetzlich verboten werden. Sämtliche (Beifall bei der LINKEN) Ausnahmen sind abzuschaffen. (B) (D) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Sören Pellmann (DIE LINKE): neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei Jetzt lesen wir dazu in der Begründung des Minister- über 500 Seiten Gesetzentwurf sind einige für die Betrof- iums – ich zitiere –: Das zuständige Ministerium benötigt fenen wichtige Details offenbar verloren gegangen. Men- erst einmal hinreichende Tatsachenkenntnisse und wird schen, die vom Vormundschafts- und Betreuungsrecht ein Forschungsvorhaben zum Thema ausschreiben. – betroffen sind, erwarten weiterhin, dass ihr Wille und Was, bitte schön, hat die Bundesregierung die letzten ihr Wunsch eine zentrale Rolle spielen. Betreuer sollen drei Jahre gemacht, um derartige Grundrechtseingriffe die Betroffenen insbesondere dabei unterstützen, selbst- zu verhindern? ständig Entscheidungen treffen zu können. (Beifall bei der LINKEN) Was sagt zum Beispiel die Lebenshilfe dazu? Deren Rat behinderter Menschen meint – ich zitiere –: Durch Warum, liebe Bundesregierung, ignorieren Sie die Fach- die Unterstützung kann jeder stärker darin werden, selbst stelle und die damalige Behindertenbeauftragte? Entscheidungen zu treffen. Weitere offene Fragen: Wie sieht es aus mit der Fort- Wie soll das jedoch funktionieren, wenn Berufsbetreu- bildungspflicht für Berater und für Betreuer? Warum ist er viel zu viele Menschen betreuen und keine Zeit dafür keine Regelung für Beratungs- und Beschwerdestellen haben? Die Linke fordert daher erstens einen niedrigeren enthalten? Betreuerbestellung findet weiterhin leider Betreuungsschlüssel und deutlich bessere Bezahlung. nur medizinisch und defizitorientiert statt. (Beifall bei der LINKEN) Es bedarf daher, liebe Kolleginnen und Kollegen, in den kommenden Wochen und den Ausschussberatungen Das führt dann dazu, dass weniger Fälle bearbeitet wer- noch einiger Arbeit und Verbesserungen. den und so eine sehr gute Betreuung möglich ist. Wir wollen eine Fachstelle, welche die Expertise bündelt Vielen Dank. und diese Wege zur Entscheidungsfindung in der Praxis (Beifall bei der LINKEN) weiterentwickelt. Auch müssen Methoden zur unterstütz- ten Entscheidungsfindung weiterentwickelt werden. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Die Linke sagt: Es wäre besser, wenn es gar nicht erst Vielen Dank. – Nächste Rednerin: die Kollegin zur Betreuung kommt. Corinna Rüffer, Bündnis 90/Grüne. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24711

(A) Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): erinnen schätzen, dass sage und schreibe jede vierte (C) Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Demokratinnen Betreuung, also 25 Prozent aller Betreuungen, zu vermei- und Demokraten! Die Ratifizierung der UN-Behinderten- den wäre und nur deshalb angeordnet wird, weil die rechtskonvention vor elf Jahren hat ganz vielen Men- betroffenen Menschen keinen Zugang zu Leistungen schen richtig Hoffnung gemacht, dass sie endlich ein von Sozialträgern haben: Hartz IV, Eingliederungshilfe selbstbestimmtes Leben führen können. Viele von ihnen oder auch Sozialhilfe. Sie finden keinen Zugang, und beklagen, dass sich ständig andere über sie erheben und deswegen wird die rechtliche Betreuung angeordnet. behaupten, zu wissen, was besser für sie ist. Damit muss Das bedeutet: All diesen Menschen wird nur deshalb endlich Schluss sein! durch die Bestellung einer rechtlichen Betreuung in die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Grundrechte eingegriffen, weil unsere Ämter es vielfach sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE nicht auf die Kette bringen, sie anständig, umfassend, LINKE]) barrierefrei und rechtmäßig zu beraten. Das ist echt ein krasser Befund. Der Genfer Fachausschuss, der über die Umsetzung der Menschenrechtskonvention in den Mitgliedstaaten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wacht, fordert eindeutig, alle Formen der ersetzenden und bei der LINKEN) Entscheidung abzuschaffen und ein System der unter- Das Gesetz geht davon aus, dass derjenige, der seine stützenden Entscheidung an ihre Stelle treten zu lassen. eigenen Angelegenheiten regeln kann – wie wahrschein- Demnach werden in Deutschland Menschen durch erset- lich wir alle hier im Raum –, das auch für andere tun zende Entscheidungen von Gerichten gegen ihren Willen kann. Wenn das nicht mehr gilt, sondern das zunehmend unter Betreuung gestellt und damit faktisch entrechtet, nur noch durch Profis gemacht werden soll können aufgrund einer vermeintlichen psychischen Krankheit, geistiger oder seelischer Behinderungen frei- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: heitsentziehenden Maßnahmen unterworfen werden und Frau Kollegin, kommen Sie zum Ende, bitte. dabei teilweise Praktiken unterworfen werden, die als Folter zu charakterisieren sind – so der Fachausschuss. Man kann sagen: Das ist nicht besonders diplomatisch Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): formuliert, legt nicht nur einen Finger, sondern die ganze – ja, letzter Satz –, nur noch denen das zugetraut wird, Hand in eine klaffende Wunde. müssen wir die Axt an den Behördendschungel legen, Wir alle, glaube ich, sehen übereinstimmend, dass das (Enrico Komning [AfD]: „An die Wurzel“, Betreuungsrecht unbedingt reformiert werden muss. Ich heißt das!) (B) gebe gerne zu, dass der Anspruch, den die UN-Konven- anstatt immer mehr Menschen zu entrechten. (D) tion formuliert, hoch ist. Das ist aber auch gut so. Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Es sind ein paar gute Ansätze in Ihrem Entwurf ent- halten. Richtschnur für Betreuer und Richterinnen sollen künftig die Wünsche der betreuten Menschen sein, nicht Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: mehr ein allgemeines und oft falsch verstandenes Wohl. Das Wort hat die Abgeordnete Mechthild Rawert, Dieses Wohl klingt gut, aber wie es in der Praxis realisiert SPD-Fraktion. wird, ist die große Frage. Viele Menschen mit Behinde- (Beifall bei der SPD) rungen sehen ihr Recht auf Selbstbestimmung weiterhin in Gefahr; denn rechtliche Betreuerinnen sollen umfas- Mechthild Rawert (SPD): sende Vertretungsbefugnisse behalten, ohne Prüfung, ob Herr Präsident! Liebe Betroffenenvertreterinnen! Lie- eine stellvertretende Entscheidung in der konkreten be Kollegen und Kolleginnen! Heute startet das parla- Situation unbedingt notwendig ist. mentarische Verfahren zu einem wirklich wichtigen Ge- Darüber hinaus ist nicht sichergestellt, dass sich die setz – nicht nur in dieser Legislatur, sondern betroffenen Personen gegen eine Betreuung zur Wehr grundsätzlich – für über 1,25 Millionen Betroffene. Hin- setzen können, und das, obwohl die UN-BRK eindeutig zu kommen die Angehörigen und die Freunde und vorgibt, dass jede Person das Recht hat, Unterstützung Freundinnen. abzulehnen, das Unterstützungsverhältnis zu verändern Ich danke für einen wirklich guten Reformentwurf. Ich oder zu beenden. Eine Betreuung gegen den Willen der danke den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus dem betroffenen Person soll weiterhin möglich sein. Das ent- BMJV. Ich danke den engagierten Betroffenenvertretern spricht nicht den menschenrechtlichen Vorgaben und ist und vor allen Dingen Dirk Heidenblut, meinem Vorgän- scharf zu kritisieren. ger als Berichterstatter. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Unterstützt werden sollen Menschen in ihrer selbstbes- und bei der LINKEN) timmten Handlungsfähigkeit. Dieser Gesetzentwurf ist in Es gibt mindestens einen Elefanten im Raum. Das einer bunten und zunehmend alternden Gesellschaft Forschungsvorhaben zur Umsetzung des Erforderlich- wichtig. Denn wer sind diese – zum Beispiel im Jahr keitsgrundsatzes ergab, dass ein wesentlicher Teil der 2015 – 1,25 Millionen Menschen? Das sind an Demenz rechtlichen Betreuung vermieden werden könnte. Betreu- erkrankte Menschen, das sind Menschen mit psychischen 24712 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

Mechthild Rawert (A) Erkrankungen, die gegebenenfalls nur für eine befristete Mechthild Rawert (SPD): (C) Zeit rechtliche Unterstützung brauchen, und es ist die – dass gleicher Respekt, gleiche Anerkennung, gleiche bunte Gruppe von Menschen mit Behinderungen in all Würde für alle sich in der Solidarität und am Umgang mit ihrer Vielfalt, die ihr Selbstbestimmungsrecht im Sinne Menschen mit Behinderungen zeigt. der UN-Behindertenrechtskonvention ausüben wollen. (Stephan Brandner [AfD]: Punkt!) Fakt ist: Gutes kann immer noch besser werden, und Danke. das ist die Aufgabe von uns Parlamentariern und Parla- mentarierinnen. Wir alle kennen das Struck’sche Gesetz. (Beifall bei der SPD – Stephan Brandner [AfD]: Over and out!) (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja!) – Das schaffe ich schon alleine. Dazu brauche ich Ihre Aus vielen Gesprächen mit Vertretern und Vertreterinnen Unterstützung nicht. in den vergangenen Wochen habe ich neben Lob auch noch viele Baustellen mitgenommen. (Stephan Brandner [AfD]: Scheinbar doch! – Sören Pellmann [DIE LINKE]: Herr Brandner Eine ist, dass wir im Vorfeld einer gerichtlichen Ent- redet nur kurze Sätze!) scheidung über eine Betreuung genauere Prüfungen brau- chen, ob ein Mehr an Maßnahmen unterstützter Entschei- dungsfindung nicht bereits ausreicht. Wir brauchen mehr Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Dokumentation, wir brauchen aber auch mehr gericht- So, jetzt der voraussichtlich letzte Redner des heutigen liche Kontrolle zu den stellvertretend ausgeübten Vertre- Tages: der Kollege Axel Müller, CDU/CSU-Fraktion. tungsmandaten. Wir brauchen unabhängige Beratungs- (Beifall bei der CDU/CSU) und Beschwerdestellen.

Der Wunsch der zu betreuenden Personen ist Richt- Axel Müller (CDU/CSU): schnur für das Handeln der Betreuer und Betreuerinnen Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und und beginnt bereits bei der Auswahl der Betreuer und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es Betreuerinnen. Zur tatsächlich selbstbestimmten Hand- geht um diejenigen in unserer Gesellschaft – deshalb ist lungsfähigkeit braucht es den Ausbau vieler Formen das auch zu später Stunde ein wichtiges Thema –, die unterstützter Entscheidungsfindung und Kommunika- aufgrund ihres minderjährigen Alters, ihrer Einschrän- tion. kung infolge einer Behinderung oder ihrer Gebrechlich- (Beifall der Abg. Dr. Nina Scheer [SPD]) keit nicht in allen Lebenslagen selbstbestimmt handeln können und daher unsere besondere Aufmerksamkeit Wir haben gehört: Ehrenamtliche sind verstärkt in die (B) auch zu dieser Stunde noch verdient haben. (D) Betreuungsvereine einzubinden. Dazu gehören auch die Angehörigen-Ehrenamtlichen; auch diese sollen von den Es geht darum, dass Gesetze die Lebenswirklichkeit Qualitätsverbesserungen profitieren. Betreuungsvereine abbilden und regeln sollen. Ändert sich diese, so sind erhalten wichtige neue Aufgaben. Der Ausbau und die die Gesetze anzupassen oder grundsätzlich zu reformie- Finanzierung müssen sichergestellt sein. ren. Mit einer solch grundsätzlichen Reform haben wir es hier beim Vormundschafts- und Betreuungsrecht zu tun. (Beifall bei der SPD) Entsprechend der gesellschaftlichen Realitäten sind das Wir brauchen neue klare Standards für die Aus- und die aus der Einführung des BGB stammende Vormund- Weiterbildung der Berufsbetreuer und -betreuerinnen. schaftsrecht – darauf wurde bereits mehrfach hingewie- Nur ein Satz noch zum automatischen Ehegattennot- sen –, aber ebenso das seit 1990 nur mit wenigen Ände- vertretungsrecht. Wir sollten hier über das Für und Wider rungen versehene Betreuungsrecht reformbedürftig. ausführlich reden. Man kann sagen: Entstanden ist endlich ein Gesetzes- Ein letzter Satz. werk aus einem Guss! Dabei kann heute niemand in diesem Hause, denke ich, von einem Schnellschuss spre- chen; denn der Reformprozess zum Vormundschaftsrecht Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: läuft seit 2012. Schon 2014 wurden Eckpunkte erarbeitet. Das war der Satz. Die UN-Behindertenrechtskonvention gilt seit 2008. Seitdem wird eine Reform des Betreuungsrechts disku- Mechthild Rawert (SPD): tiert. Selbstbestimmung für alle, Barrierefreiheit und Inklu- Es gab Forschungsvorhaben – zwei an der Zahl –, und sion sind kein Sparmodell. Demokratie braucht Inklu- es gab vier Facharbeitsgruppen unter Praxisbeteiligung. sion. Der vorgelegte Gesetzentwurf kann sich – der Auffas- (Stephan Brandner [AfD]: Punkt!) sung bin ich schon – grundsätzlich sehen lassen. Er sieht für Vormundschaftsrecht und Betreuungsrecht an vielen Und es ist so, – Stellen tiefgreifende Neuregelungen vor. Für beide The- (Stephan Brandner [AfD]: Punkt!) menbereiche will ich das in aller Kürze beispielhaft deut- lich machen. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Die Reform des Vormundschaftsrechts – das wurde Frau Kollegin, irgendwann muss der letzte Satz kom- mehrfach gesagt – ist schon deshalb notwendig, weil es men. aus der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert stammt. In Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24713

Axel Müller (A) einer Zeit, in der es beispielsweise keine staatliche Wai- das mal ganz genau betrachten: Der § 1358 BGB, auf (C) senrente gab, bestand das Schwergewicht der Personen- dessen Schaffung wir uns im Koalitionsvertrag geeinigt sorge zugunsten minderjähriger Kinder in der wirtschaft- haben, der ein Notvertretungsrecht vorsieht, erstreckt lichen Absicherung. So überrascht es nicht, dass von den sich jetzt so weit, dass sogar freiheitsentziehende Maß- aktuell noch geltenden 65 Paragrafen des Vormund- nahmen durch einen Verweis auf den § 1831 Absatz 4 schaftsrechts sich mehr als die Hälfte mit der Vermögens- BGB möglich sind. sorge befasst. In Zeiten des modernen Sozialstaates lie- gen die Bedürfnisse jedoch ganz woanders: insbesondere Das geht unter Berücksichtigung der obergerichtlichen in der Pflege und Erziehung und in der Entwicklung eines Rechtsprechung mit den erhöhten Anforderungen bei minderjährigen Kindes, also in der Personensorge. freiheitsentziehenden Maßnahmen eindeutig zu weit. Schreckliche Fälle von Kindesmisshandlung und Kindes- Eine Beschränkung auf den Kernbereich medizinischer missbrauch haben wir in den letzten Jahren erleben müs- Noteingriffe ist angezeigt und ausreichend. Dann könnte sen. Dass wir den Schwerpunkt nunmehr anders setzen man vielleicht sogar über eine Ausdehnung der jetzt gel- als bisher, ist, so denke ich, genau richtig und dringend tenden dreimonatigen Notvertretungsregelung auf sechs notwendig. Das tut dieser Gesetzentwurf. Monate nachdenken. Das wäre sinnvoll; denn es gibt Rekonvaleszenzen, beispielsweise nach einem Schlagan- Der Kreis der möglichen Vormünder hat sich ebenfalls fall, die es notwendig machen, etwas mehr Zeit ins Land tiefgreifend verändert; das haben die Vorredner bereits ziehen zu lassen und dann erst endgültig über eine gesagt: Nicht mehr die einzelne natürliche Person als Betreuerbestellung zu entscheiden. Vormund steht im Mittelpunkt, sondern der Amtsvor- mund. Deshalb war es wichtig und richtig, dass die Das alles gilt es in den kommenden Beratungen mit zu Gleichstellung des Amtsvormunds mit den anderen berücksichtigen und zu erörtern. Ich bedanke mich bei Vormündern in dem neuen § 1774 BGB erfolgt ist. Ihnen und wünsche einen schönen Abend. Im Betreuungsrecht ist die bereits angesprochene Um- Danke schön. setzung der UN-Behindertenrechtskonvention voranzu- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) treiben. Diese verlangt für Menschen mit Einschränkun- gen eine stärkere Beteiligung des Betroffenen, wie wir es auch im Bundesteilhabegesetz seit dem 1. Januar 2020 Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: vorgesehen haben. Vor einer Betreuungsanordnung sol- Vielen Dank, Axel Müller. – Ich schließe die Ausspra- len künftig beispielsweise die Wünsche und Bedürfnisse che. des zu Betreuenden besser erfragt werden; es soll eine Art Kennenlerngespräch geben. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf (B) Drucksache 19/24445 und Drucksache 19/24638 an die (D) Hier erlaube ich mir die kritische Anmerkung, dass wir in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- das auch bei der Betreuervergütung nicht vergessen dür- schlagen. Gibt es weitere Überweisungsvorschläge? – fen. Wir haben uns einem Evaluierungsprozess bis zum Das ist nicht der Fall. Dann verfahren wir wie vorgeschla- 31. Dezember 2024 unterzogen, und hier muss das unbe- gen. dingt einfließen, nicht zuletzt auch deshalb, weil die zuletzt vorgesehenen Reformbedingungen zu den Quali- Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung. fikationsanordnungen der Berufsbetreuer strenger wer- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- den sollen. Eine standardisierte Ausbildung ist sicherlich tages auf morgen, Freitag, den 27. November 2020, angezeigt. 9 Uhr, ein. Ich komme zum Schluss aber nicht ganz darum herum, Die Sitzung ist geschlossen. Kommen Sie gut nach etwas Wasser in den guten Wein zu gießen. Auf die Rege- Hause, und bleiben Sie fröhlich. lung der Ehegattenvertretung haben mehrere Rednerin- nen und Redner hingewiesen. Allerdings muss man sich (Schluss: 21.42 Uhr)

Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24715

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Entschuldigte Abgeordnete

Abgeordnete(r) Abgeordnete(r)

Altmaier, Peter CDU/CSU Nestle, Dr. Ingrid BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Amtsberg, Luise BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Nietan, Dietmar SPD Beutin, Lorenz Gösta DIE LINKE Noll, Michaela CDU/CSU Connemann, Gitta CDU/CSU Nord, Thomas DIE LINKE Dağdelen, Sevim DIE LINKE Petry, Dr. Frauke fraktionslos Dehm, Dr. Diether DIE LINKE Pilger, Detlev SPD Ehrhorn, Thomas AfD Remmers, Ingrid DIE LINKE Fahimi, Yasmin SPD Schäfer (Saalstadt), Anita CDU/CSU Felser, Peter AfD Schlund, Dr. Robby AfD Freihold, Brigitte DIE LINKE Schmidt, Uwe SPD Gabelmann, Sylvia DIE LINKE Schneidewind-Hartnagel, BÜNDNIS 90/DIE Charlotte GRÜNEN Gottberg, Wilhelm von AfD Steinke, Kersten DIE LINKE Hartmann, Verena fraktionslos (B) Wagenknecht, Dr. Sahra DIE LINKE (D) Hebner, Martin AfD Weiler, Albert H. CDU/CSU Herzog, Gustav SPD Weingarten, Dr. Joe SPD Irmer, Hans-Jürgen CDU/CSU Weiss (Wesel I), Sabine CDU/CSU Junge, Frank SPD Westig, Nicole FDP Kemmer, Ronja* CDU/CSU Zdebel, Hubertus DIE LINKE Maier, Dr. Lothar AfD Zimmermann, Pia DIE LINKE Miazga, Corinna AfD *aufgrund gesetzlichen Mutterschutzes

Anlage 2

Ergebnisse und Namensverzeichnis der Mitglieder des Deutschen Bundestages, die an der Wahl einer Stellvertreterin und eines Stellvertreters des Präsidenten des Deutschen Bundestages teilgenommen haben (Tagesordnungspunkte 7 und 8) Abgegebene Stimmkarten: 657 Ergebnis der Wahl einer Stellvertreterin des Präsidenten

Abgeordnete/r Ja-Stimmen* Nein-Stimmen Enthaltungen Ungültige Stimmen Dagmar Ziegler 536 83 38 –

* Zur Wahl sind mindestens 355 Ja-Stimmen erforderlich. 24716 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

(A) Abgegebene Stimmkarten: 657 Ergebnis der Wahl eines Stellvertreters des Präsidenten (C)

Abgeordnete/r Ja-Stimmen* Nein-Stimmen Enthaltungen Ungültige Stimmen Dr. Harald Weyel 104 528 25 –

* Zur Wahl sind mindestens 355 Ja-Stimmen erforderlich.

CDU/CSU Astrid Grotelüschen Dr. Katja Leikert Lothar Riebsamen Markus Grübel Dr. Andreas Lenz Josef Rief Dr. Michael von Abercron Manfred Grund Antje Lezius Johannes Röring Stephan Albani Oliver Grundmann Dr. Norbert Röttgen Norbert Maria Altenkamp Andrea Lindholz Monika Grütters Stefan Rouenhoff Philipp Amthor Dr. Carsten Linnemann Fritz Güntzler Erwin Rüddel Artur Auernhammer Patricia Lips Olav Gutting Albert Rupprecht Peter Aumer Nikolas Löbel Dorothee Bär Christian Haase Bernhard Loos Stefan Sauer Thomas Bareiß Florian Hahn Dr. Jan-Marco Luczak Dr. Wolfgang Schäuble Norbert Barthle Jürgen Hardt Daniela Ludwig Andreas Scheuer Maik Beermann Matthias Hauer Dr. Saskia Ludwig Jana Schimke Manfred Behrens (Börde) Mark Hauptmann Karin Maag Tankred Schipanski Veronika Bellmann Dr. Matthias Heider Yvonne Magwas Christian Schmidt (Fürth) Sybille Benning Mechthild Heil Dr. Thomas de Maizière Dr. Claudia Schmidtke Dr. André Berghegger Thomas Heilmann Gisela Manderla Patrick Schnieder Melanie Bernstein Frank Heinrich (Chemnitz) Dr. Astrid Mannes Nadine Schön Christoph Bernstiel Mark Helfrich Matern von Marschall Felix Schreiner Peter Beyer Rudolf Henke Hans-Georg von der Dr. Klaus-Peter Schulze Marc Biadacz Michael Hennrich Marwitz Uwe Schummer Steffen Bilger Marc Henrichmann Andreas Mattfeldt Torsten Schweiger Peter Bleser Ansgar Heveling Stephan Mayer (Altötting) Detlef Seif Norbert Brackmann Christian Hirte Dr. Michael Meister Johannes Selle Dr. Heribert Hirte Jan Metzler Reinhold Sendker (B) Michael Brand (Fulda) (D) Dr. Reinhard Brandl Alexander Hoffmann Dr. h. c. (Univ Kyiv) Hans Dr. Patrick Sensburg Michelbach Silvia Breher Karl Holmeier Bernd Siebert Dr. Mathias Middelberg Sebastian Brehm Dr. Hendrik Hoppenstedt Thomas Silberhorn Heike Brehmer Erich Irlstorfer Dietrich Monstadt Björn Simon Ralph Brinkhaus Thomas Jarzombek Karsten Möring Tino Sorge Dr. Carsten Brodesser Andreas Jung Axel Müller Jens Spahn Astrid Damerow Ingmar Jung Dr. Gerd Müller Katrin Staffler Alexander Dobrindt Alois Karl Sepp Müller Frank Steffel Michael Donth Anja Karliczek Carsten Müller Dr. Wolfgang Stefinger (Braunschweig) Marie-Luise Dött Torbjörn Kartes Albert Stegemann Stefan Müller (Erlangen) Hansjörg Durz Volker Kauder Andreas Steier Christian Natterer Thomas Erndl Dr. Stefan Kaufmann Peter Stein (Rostock) Dr. Andreas Nick Hermann Färber Roderich Kiesewetter Sebastian Steineke Petra Nicolaisen Uwe Feiler Michael Kießling Johannes Steiniger Dr. Georg Nüßlein Enak Ferlemann Dr. Georg Kippels Christian Frhr. von Stetten Axel E. Fischer (Karlsruhe- Volkmar Klein Wilfried Oellers Dieter Stier Land) Axel Knoerig Florian Oßner Gero Storjohann Dr. Maria Flachsbarth Jens Koeppen Josef Oster Stephan Stracke Thorsten Frei Markus Koob Henning Otte Max Straubinger Dr. Hans-Peter Friedrich Carsten Körber Ingrid Pahlmann Dr. (Hof) Alexander Krauß Sylvia Pantel Dr. Hermann-Josef Tebroke Michael Frieser Gunther Krichbaum Martin Patzelt Hans-Jürgen Thies Hans-Joachim Fuchtel Dr. Günter Krings Dr. Joachim Pfeiffer Alexander Throm Ingo Gädechens Rüdiger Kruse Stephan Pilsinger Dr. Dietlind Tiemann Dr. Thomas Gebhart Michael Kuffer Dr. Christoph Ploß Antje Tillmann Alois Gerig Dr. Dr. h. c. Karl A. Lamers Eckhard Pols Dr. Volker Ullrich Eberhard Gienger Andreas G. Lämmel Thomas Rachel Arnold Vaatz Eckhard Gnodtke Katharina Landgraf Kerstin Radomski Kerstin Vieregge Ursula Groden-Kranich Ulrich Lange Alexander Radwan Volkmar Vogel (Kleinsaara) Hermann Gröhe Dr. Silke Launert Alois Rainer Christoph de Vries Klaus-Dieter Gröhler Jens Lehmann Dr. Peter Ramsauer Kees de Vries Michael Grosse-Brömer Paul Lehrieder Eckhardt Rehberg Dr. Johann David Wadephul Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24717

(A) Marco Wanderwitz Dirk Heidenblut Michael Roth (Heringen) Dr. Götz Frömming (C) Nina Warken Hubertus Heil (Peine) Susann Rüthrich Dr. Alexander Gauland Kai Wegner Gabriela Heinrich Bernd Rützel Albrecht Glaser Marcus Weinberg Marcus Held Sarah Ryglewski Franziska Gminder (Hamburg) Wolfgang Hellmich Johann Saathoff Kay Gottschalk Dr. Anja Weisgerber Dr. Barbara Hendricks Axel Schäfer (Bochum) Armin-Paulus Hampel Peter Weiß Gabriele Hiller-Ohm Dr. Nina Scheer Mariana Iris Harder-Kühnel (Emmendingen) Thomas Hitschler Marianne Schieder Ingo Wellenreuther Dr. Roland Hartwig Josip Juratovic Udo Schiefner Jochen Haug Marian Wendt Thomas Jurk Dr. Nils Schmid Udo Theodor Hemmelgarn Kai Whittaker Oliver Kaczmarek Ulla Schmidt (Aachen) Waldemar Herdt Annette Widmann-Mauz Elisabeth Kaiser Dagmar Schmidt (Wetzlar) Martin Hess Bettina Margarethe Ralf Kapschack Carsten Schneider (Erfurt) Wiesmann Gabriele Katzmarek Johannes Schraps Dr. Heiko Heßenkemper Klaus-Peter Willsch Cansel Kiziltepe Michael Schrodi Karsten Hilse Elisabeth Winkelmeier- Nicole Höchst Becker Arno Klare Ursula Schulte Lars Klingbeil Martin Schulz Martin Hohmann Oliver Wittke Dr. Bruno Hollnagel Tobias Zech Dr. Bärbel Kofler Swen Schulz (Spandau) Leif-Erik Holm Emmi Zeulner Frank Schwabe Fabian Jacobi Paul Ziemiak Elvan Korkmaz-Emre Stefan Schwartze Dr. Marc Jongen Dr. Matthias Zimmer Anette Kramme Andreas Schwarz Christine Lambrecht Rita Schwarzelühr-Sutter Jens Kestner Christian Lange Rainer Spiering Stefan Keuter SPD (Backnang) Svenja Stadler Norbert Kleinwächter Niels Annen Dr. Karl Lauterbach Martina Stamm-Fibich Enrico Komning Ingrid Arndt-Brauer Sylvia Lehmann Sonja Amalie Steffen Steffen Kotré Bela Bach Helge Lindh Mathias Stein Dr. Rainer Kraft Heike Baehrens Kerstin Tack Rüdiger Lucassen Kirsten Lühmann Ulrike Bahr Claudia Tausend Frank Magnitz Heiko Maas Nezahat Baradari Michael Thews Jens Maier Isabel Mackensen Doris Barnett Markus Töns Dr. Birgit Malsack- Dr. Matthias Bartke Caren Marks Carsten Träger Winkemann (B) Dorothee Martin (D) Sören Bartol Ute Vogt Andreas Mrosek Katja Mast Bärbel Bas Marja-Liisa Völlers Hansjörg Müller Christoph Matschie Lothar Binding Dirk Vöpel Volker Münz (Heidelberg) Hilde Mattheis Gabi Weber Sebastian Münzenmaier Dr. Eberhard Brecht Dr. Matthias Miersch Bernd Westphal Christoph Neumann Leni Breymaier Klaus Mindrup Dirk Wiese Jan Ralf Nolte Dr. Karl-Heinz Brunner Susanne Mittag Gülistan Yüksel Katrin Budde Falko Mohrs Dagmar Ziegler Dr. Lars Castellucci Claudia Moll Stefan Zierke Gerold Otten Bernhard Daldrup Siemtje Möller Dr. Jens Zimmermann Frank Pasemann Dr. Daniela De Ridder Bettina Müller Paul Viktor Podolay Dr. Karamba Diaby Detlef Müller (Chemnitz) Jürgen Pohl AfD Esther Dilcher Michelle Müntefering Stephan Protschka Sabine Dittmar Dr. Rolf Mützenich Dr. Bernd Baumann Martin Reichardt Dr. Wiebke Esdar Ulli Nissen Marc Bernhard Martin Erwin Renner Saskia Esken Mahmut Özdemir Andreas Bleck Roman Johannes Reusch Dr. Johannes Fechner (Duisburg) Peter Boehringer Ulrike Schielke-Ziesing Dr. Fritz Felgentreu Aydan Özoğuz Stephan Brandner Jörg Schneider Dr. Edgar Franke Markus Paschke Jürgen Braun Uwe Schulz Christian Petry Ulrich Freese Marcus Bühl Thomas Seitz Dagmar Freitag Sabine Poschmann Matthias Büttner Martin Sichert Michael Gerdes Florian Post Petr Bystron Detlev Spangenberg Martin Gerster Achim Post (Minden) Tino Chrupalla Dr. Dirk Spaniel Angelika Glöckner Florian Pronold Joana Cotar René Springer Timon Gremmels Dr. Sascha Raabe Dr. Gottfried Curio Kerstin Griese Martin Rabanus Siegbert Droese Beatrix von Storch Michael Groß Mechthild Rawert Berengar Elsner von Dr. Alice Weidel Uli Grötsch Gronow Dr. Harald Weyel Bettina Hagedorn Sönke Rix Dr. Michael Espendiller Wolfgang Wiehle Rita Hagl-Kehl Dennis Rohde Dietmar Friedhoff Dr. Heiko Wildberg Metin Hakverdi Dr. Martin Rosemann Dr. Anton Friesen Dr. Christian Wirth Sebastian Hartmann Dr. Ernst Dieter Rossmann Markus Frohnmaier Uwe Witt 24718 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

(A) FDP Roman Müller-Böhm Katja Kipping Anja Hajduk (C) Frank Müller-Rosentritt Jan Korte Grigorios Aggelidis Britta Haßelmann Dr. Martin Neumann Jutta Krellmann Renata Alt Dr. Bettina Hoffmann (Lausitz) Caren Lay Dr. Anton Hofreiter Christine Aschenberg- Matthias Nölke Dugnus Sabine Leidig Ottmar von Holtz Nicole Bauer Hagen Reinhold Ralph Lenkert Dieter Janecek Jens Beeck Bernd Reuther Michael Leutert Dr. Kirsten Kappert- Dr. Jens Brandenburg Dr. h. c. Thomas Stefan Liebich Gonther (Rhein-Neckar) Sattelberger Dr. Gesine Lötzsch Uwe Kekeritz Mario Brandenburg Christian Sauter Thomas Lutze Katja Keul (Südpfalz) Frank Schäffler Pascal Meiser Sven-Christian Kindler Sandra Bubendorfer-Licht Dr. Wieland Schinnenburg Amira Mohamed Ali Maria Klein-Schmeink Matthias Seestern-Pauly Dr. Marco Buschmann Cornelia Möhring Sylvia Kotting-Uhl Frank Sitta Norbert Müller (Potsdam) Oliver Krischer Judith Skudelny Carl-Julius Cronenberg Zaklin Nastic Christian Kühn (Tübingen) Dr. Hermann Otto Solms Britta Katharina Dassler Dr. Alexander S. Neu Renate Künast Dr. Marie-Agnes Strack- Bijan Djir-Sarai Petra Pau Markus Kurth Zimmermann Sören Pellmann Christian Dürr Monika Lazar Benjamin Strasser Victor Perli Hartmut Ebbing Sven Lehmann Dr. Marcus Faber Katja Suding Tobias Pflüger Steffi Lemke Daniel Föst Linda Teuteberg Martina Renner Dr. Tobias Lindner Otto Fricke Michael Theurer Bernd Riexinger Dr. Irene Mihalic Thomas Hacker Stephan Thomae Eva-Maria Schreiber Reginald Hanke Manfred Todtenhausen Dr. Petra Sitte Claudia Müller Peter Heidt Dr. Florian Toncar Helin Evrim Sommer Beate Müller-Gemmeke Katrin Helling-Plahr Dr. Andrew Ullmann Friedrich Straetmanns Dr. Konstantin von Notz Markus Herbrand Gerald Ullrich Dr. Kirsten Tackmann Omid Nouripour Torsten Herbst Johannes Vogel (Olpe) Jessica Tatti Friedrich Ostendorff Katja Hessel Sandra Weeser Alexander Ulrich Cem Özdemir Dr. Gero Clemens Hocker Katharina Willkomm Kathrin Vogler Lisa Paus Manuel Höferlin Andreas Wagner Filiz Polat Dr. Christoph Hoffmann DIE LINKE Harald Weinberg Tabea Rößner (B) Reinhard Houben Katrin Werner Claudia Roth (Augsburg) (D) Doris Achelwilm Ulla Ihnen Pia Zimmermann Corinna Rüffer Olaf In der Beek Gökay Akbulut Sabine Zimmermann Manuel Sarrazin Simone Barrientos Gyde Jensen (Zwickau) Ulle Schauws Dr. Dietmar Bartsch Dr. Christian Jung Dr. Frithjof Schmidt Matthias W. Birkwald Karsten Klein Stefan Schmidt Heidrun Bluhm-Förster BÜNDNIS 90/ Dr. Marcel Klinge DIE GRÜNEN Kordula Schulz-Asche Daniela Kluckert Michel Brandt Christine Buchholz Dr. Wolfgang Strengmann- Pascal Kober Lisa Badum Kuhn Dr. Birke Bull-Bischoff Dr. Lukas Köhler Annalena Baerbock Margit Stumpp Jörg Cezanne Carina Konrad Margarete Bause Markus Tressel Fabio De Masi Dr. Danyal Bayaz Wolfgang Kubicki Jürgen Trittin Dr. Canan Bayram Konstantin Kuhle Dr. Julia Verlinden Anke Domscheit-Berg Dr. Franziska Brantner Alexander Kulitz Daniela Wagner Klaus Ernst Agnieszka Brugger Alexander Graf Beate Walter-Rosenheimer Lambsdorff Susanne Ferschl Dr. Anna Christmann Wolfgang Wetzel Ulrich Lechte Nicole Gohlke Janosch Dahmen Gerhard Zickenheiner Christian Lindner Dr. Gregor Gysi Ekin Deligöz Michael Georg Link Dr. André Hahn Katharina Dröge (Heilbronn) Heike Hänsel Harald Ebner Fraktionslos Oliver Luksic Matthias Höhn Matthias Gastel Marco Bülow Till Mansmann Andrej Hunko Kai Gehring Lars Herrmann Dr. Jürgen Martens Ulla Jelpke Stefan Gelbhaar Christoph Meyer Kerstin Kassner Katrin Göring-Eckardt Alexander Müller Dr. Achim Kessler Erhard Grundl Abgeordnete, die sich wegen gesetzlichen Mutterschutzes für ihre Abwesenheit entschuldigt haben, sind in der Liste der entschuldigten Abgeordneten (Anlage 1) aufgeführt. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020 24719

(A) Anlage 3 Anlage 4 (C)

Erklärung nach § 31 GO Erklärungen nach § 31 GO der Abgeordneten Kerstin Kassner (DIE LINKE) zu der Abstimmung über den von der Bundesregie- zu der Abstimmung über die Beschlussempfehlung rung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur des Petitionsausschusses – Sammelübersicht 697 zu Verbesserung der Gesundheitsversorgung und Petitionen, Beschlussempfehlung 3, lfd. Nr. 17 Pflege (Gesundheitsversorgungs- und Pflegeverbes- (Asylrecht) serungsgesetz – GPVG) (Tagesordnungspunkt 11 a) (Tagesordnungspunkt 32 s)

Das Bundesministerium des Innern argumentiert zur Mark Hauptmann (CDU/CSU): Sehr geehrte Damen Petition 1-19-06-265-028754, es läge kein Asylantrag und Herren, mit dem Gesetz zur „Verbesserung der vor und es gäbe für Julian Assange keine Beziehung zu Gesundheitsversorgung und Pflege“ (Gesundheitsversor- Deutschland. Die Doppelmoral der Bundesregierung ist gungs- und Pflegeverbesserungsgesetz – GPVG) werden durchschaubar. Politisch Verfolgte aus anderen Ländern den Versicherten in den neuen Bundesländern schät- erhalten Asyl in Deutschland – auch ohne Beziehung zum zungsweise 2 Milliarden Euro an Rücklagen jener gesetz- Land. lichen Krankenkassen entzogen, die sparsam gewirt- schaftet haben. Die Linke kämpft schon lange für den Schutz von Whistleblowern und hatte im Februar 2019 einen Antrag Die „Sozialgarantie 2021“ muss von den Versicherten (Drucksache 19/7704) zum Gesetzentwurf der Bundesre- und Arbeitgebern zu einem erheblichen Anteil selbst gierung zur Umsetzung der EU-Richtlinie 2016/943 zum getragen werden. Damit sind in einer strukturschwachen Schutz von Geschäftsgeheimnissen eingebracht. Region Zusatzbeiträge in erheblichem Ausmaße erwart- bar. Ich bedauere, dass es nicht gelungen ist, Kostenstei- Assange hatte ab 2012 sieben Jahre lang Unterschlupf gerungen in der gesetzlichen Krankenversicherung abzu- in der ecuadorianischen Botschaft in London erhalten, federn, zum Beispiel durch Ausgleich aus Steuermitteln. um einer Auslieferung an Schweden und womöglich an die USA zu entgehen. Im April 2019 wurde er festge- Zugleich erkenne ich an, dass infolge der anhaltenden nommen. Seither ist er im britischen Hochsicherheitsge- Pandemie nicht vorhersehbare Ausgaben für Kurzarbeit fängnis Belmarsh inhaftiert. Gegen ihn läuft ein Verfah- sowie die Coronahilfen für Soloselbstständige, Unterneh- ren um die Auslieferung an die Vereinigten Staaten. Dort men und Künstler anfallen, für die beim Bundeshaushalt (B) (D) ist er wegen Veröffentlichung geheimer Dokumente und bislang keine Deckung vorhanden ist. Der Staat muss Verstößen gegen das Antispionagegesetz angeklagt. sich mit bis zu 100 Milliarden Euro verschulden. Weitere Ausgaben können lediglich von der Solidargemeinschaft Die Linke fordert angesichts der Coronapandemie eine über den Gesundheitsfonds selbst getragen werden. sofortige Freilassung von Julian Assange auf Kaution, Deshalb habe ich dem oben genannten Gesetzentwurf damit er von den Folgen seiner jahrelangen Isolation in zugestimmt, obwohl ich eine andere Lösung präferiert der Botschaft Ecuadors und der Einzelhaft in Belmarsh hätte. gesundheitlich genesen und sich adäquat verteidigen kann. Das Risiko, dass sich der Journalist und Gründer der Enthüllungsplattform WikiLeaks in britischer Aus- Volkmar Vogel (Kleinsaara) (CDU/CSU): Mit dem lieferungshaft mit dem Coronavirus infiziert, ist hoch. Gesetz zur „Verbesserung der Gesundheitsversorgung Angesichts seiner extrem angegriffenen Gesundheit und Pflege“ (Gesundheitsversorgungs- und Pflegeverbes- nach jahrelanger Isolation ist Julian Assange sehr anfällig serungsgesetz – GPVG) werden den Versicherten in den für eine Lungenerkrankung. Der 48-Jährige litt in der neuen Bundesländern schätzungsweise 2 Milliarden Euro Vergangenheit bereits unter Atemwegsinfektionen. an Rücklagen jener gesetzlichen Krankenkassen entzo- gen, die sparsam gewirtschaftet haben. Die „Sozialgaran- Julian Assange stellt keinerlei Gefahr für die Öffent- tie 2021“ muss von den Versicherten und Arbeitgebern zu lichkeit dar und ist im Hochsicherheitsgefängnis Bel- einem erheblichen Anteil selbst getragen werden. Damit marsh nur inhaftiert, um seine Auslieferung an die USA sind in einer strukturschwachen Region Zusatzbeiträge in sicherzustellen, wo ihm wegen der Enthüllung von erheblichem Ausmaße erwartbar. Ich bedauere, dass es Kriegsverbrechen eine Freiheitsstrafe von 175 Jahren nicht gelungen ist, Kostensteigerungen in der gesetzli- droht. Der Journalist muss freikommen, damit er genesen chen Krankenversicherung abzufedern, zum Beispiel und sich angemessen auf das weitere Auslieferungsver- durch Ausgleich aus Steuermitteln. fahren vorbereiten kann. Die Linke hofft auf eine rasche und positive Entscheidung des Westminster Magistrates’ Zugleich erkenne ich an, dass infolge der anhaltenden Court über den Kautionsantrag der Rechtsvertretung Pandemie nicht vorhersehbare Ausgaben für Kurzarbeit Assanges. Auch eine Aufnahme in Deutschland ist denk- sowie die Coronahilfen für Soloselbstständige, Unterneh- bar und zu prüfen. men und Künstler anfallen, für die beim Bundeshaushalt bislang keine Deckung vorhanden ist. Der Staat muss Aus diesen Gründen halte ich einen Abschluss des sich mit bis zu 100 Milliarden Euro verschulden. Weitere Petitionsverfahrens nicht für angezeigt und stimme dage- Ausgaben können lediglich von der Solidargemeinschaft gen. über den Gesundheitsfonds selbst getragen werden. 24720 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 195. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 26. November 2020

(A) Deshalb habe ich dem oben genannten Gesetzentwurf (C) zugestimmt, obwohl ich eine andere Lösung präferiert hätte.

(B) (D)

Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co. KG, Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-8333