ISSN 0259-7446 EUR 6,50

Kommunikation in Vergangenheit und Gegenwart

Thema: Erinnerungskultur - über die Konstruktionsrolle von Medien in unruhigen Zeiten

Analyse der Dritten Walpurgisnacht

Burgenland: medial vermittelte Identität aus dem Jahr 1921

Die Jugend im austro- faschistischen Propagandanetz Kriegs-Konstruktionen: Enthüllungen zur Kosovo- Berichterstattung

Jahrgang 25

medien & zeit

Impressum

Medieninhaber, Herausgeber und Verleger: Verein „Arbeitskreis für historische Kommunikationsforschung (AHK)*, Schopenhauerstraße 32, A-l 180 Wien, ZVR-Zahl 963010743 http://www.medienundzeit.at

Inhalt © Die Rechte für die Beiträge in diesem Heft liegen beim .Arbeitskreis für historische Kommunikationsforschung (AHK)“

Vorstand des AHK: Das Menetekel ist ein Film der Metufa a.o. Univ.-Prof Dr. Fritz Hausjell (Obmann), Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Duchkowitsch (Obmann-Stv.), Massenmediale Bezüge der Dritten Mag. Gaby Falböck (Obmann-Stellvertreterin), Mag. Christian Schwarzenegger (Obmann-Stv.), Walpurgisnacht von Karl Kraus Mag. Bernd Semrad (Geschäftsführer), Simon Ganahl 4 Mag. Roland Steiner (Geschäftsführer-Stv.), Mag. Gisela Säckl (Schriftführerin), Dr. Erich Vogl (Schriftführer-Stv.), „Am Heiderand" Dr. Norbert P. Feldinger (Kassier), Katriina Janhunen, Bakk. (Kassier-Stv.), Zur Notwendigkeit einer (medial vermittelten) Mag. Klaus Kienesberger kollektiven Identität oder Erinnerungen an die Redaktion: Ent- und Eingrenzung des Burgenlandes Wolfgang Duchkowitsch, Erich Vogl

Eva Tamara Titz 17 Lektorat & Layout: Sandra Bittmann, Erich Vogl „Ihr Jungen schließt die Reihen gut, Ulrike Fleschhut, Eva Tamara Titz ein Toter führt uns an." Redaktion Buchbesprechungen: Propagandamaßnahmen des austrofa- Gaby Falböck schistischen Regierungssystems Korrespondenten: Prof. Dr. Hans Bohrmann (Dortmund), in Hinblick auf Kinder und Jugendliche. Univ.-Prof. Dr. Hermann Haarmann (Berlin), Univ.-Prof. Dr. Ed Mc Luskie (Boise, Idaho), Julia Tinhof 27 Univ.-Prof. Dr. Arnulf Kutsch (Leipzig), Prof. Dr. Markus Behmer (Bamberg), Von Feindbildern und Prof. Dr. Rudolf Stöber (Bamberg) anderen Kriegskonstruktionen Druck: Buch- und Offsetdruckerei Fischer, Die deutschsprachige Kosovo- 1010 Wien, Dominikanerbastei 10 Berichterstattung 1998/99 Erscheinungsweise: Kurt Gritsch ...... 37 medien & z e it erscheint vierteljährlich

Bezugsbedingungen: Rezensionen 46 Einzelheft (exkl. Versand): 6,50 Euro Doppelheft (exkl. Versand): 13,00 Euro

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m & Z 3/2010 Editorial

Die ersten drei Aufsätze in diesem Heft verstehen Untersuchungszeitraum erstreckt sich von Ende sich als Beiträge besonderer Art für die medien- August (Friedensverträge von Saint Germain und und kommunikationshistorische Gedenkkultur Trianon) bis Mitte Oktober 1921, bis zur Un­ in Österreich. Nicht deshalb, weil sie Themen be­ terfertigung des Protokolls von Venedig, in dem handeln, denen sich die Forschung bislang noch sich Ungarn zur Übergabe des Burgenlandes ver­ nicht zugewendet hat. Solche Aufsätze finden sich pflichtete. in unserer Zeitschrift nämlich zuhauf. Sondern zunächst schon deshalb, weil sie eine hochbrisante Den dritten Aufsatz dieser Ausgabe von Medien & Zeit in Österreich betreffen: die Monate nach Zeit liefert Julia Tinhof, von unbequemen Wahr­ der „Machtergreifung“ Hitlers, dann die Jahre heiten und misslungenen Geschichtsaufarbei­ des austrofaschistischen Regierungssystems und tungsversuchen ausgehend, eine konzise Analyse schließlich jene Monate des Jahres 1921, in de­ austrofaschistischer Propagandamaßnahmen für nen nach Auseinandersetzungen mit ungarischen Kinder und Jugendliche. Dazu gehörten Lieder, Freischärlern die Verhandlungen zur Übergabe darunter das „Lied der Jugend“, vulgo „Dollfuß­ des als „Burgenland“ bezeichneten Gebietsstrei­ lied“, dessen erste zwei Zeilen die Überschrift fens an Österreich stattfanden. dieses Beitrags bilden, Lesehefte, Zeitschriften, Schulfunksendungen, Plakate für das österrei­ Der erste Aufsatz stammt von Simon Ganahl. Er chische Jungvolk, das „Kinderferienwerk der setzt sich mit massenmedialen Bezügen der Drit­ Vaterländischen Front“ sowie Aufmärsche und ten Walpurgisnacht von Karl Kraus auseinander, Kundgebungen. Erklärtes Ziel dieser Maßnahmen eines Werks, an dem Kraus von Mai bis September war eine vormilitärische Erziehung, deklariert als 1933 gearbeitet hat. Ursprünglich sollte die Dritte „vaterländische Erziehung“, für eine im Gleich­ Walpurgisnacht als Ausgabe der Fackel erscheinen. schritt marschierende Generation von Mitläufern Nachdem sich Kraus aber entschlossen hatte, bereits vor dem März 1938, dem ,Anschluss“ Ös­ auf die Veröffentlichung zu verzichten, erschien terreichs an Nazi-Deutschland. das Werk erst lang nach seinem Tod, nämlich 1952. Ganahl zeigt nicht nur auf, dass Medien Der letzte Beitrag in diesem Heft präsentiert eine für Kraus „spezifische Sinneswerkzeuge“ waren. Analyse der deutschsprachigen Kosovo-Bericht­ Er belegt exemplarisch, welche Berichte aus dem erstattung zwischen Jänner 1988 und Juli 1999. „Dritten Reich“ in der Neuen Freien Presse sowie Der Autor Kurt Gritsch enthüllt darin die Ein­ in der Arbeiter-Zeitung Karl Kraus in der Dritten seitigkeit dieser Berichterstattung. Sein zentrales Walpurgisnacht aufgegriffen und verarbeitet hat, Ergebnis lautet: Serben mutierten zu neuen um nationalsozialistische Gräuel brandmarken zu „Nazis“, sie waren die „Bösen“, die tendenziell können. Den Schwerpunkt legt Ganahl in diesem „Guten“ hingegen die Albaner, sie wurden aus­ Aufsatz auf die Kraussche Verarbeitung von Radi­ schließlich als Opfer dargestellt. Durch die Ka­ osendungen und Kinofilmen. Seine Konklusion: tegorien „Völkermord“ und „Holocaust“ wurden Die Dritte Walpurgisnacht zeigt auf eindringliche der serbischen Seite als Staatsmacht zwangsläufig Weise, dass es schon 1933, und zwar von Wien die Rolle Hitler-Deutschlands zugeschrieben. Die aus, möglich war, sich ein adäquates Bild vom Lektüre dieses Beitrags sei vor allem jenen emp­ verbrecherischen, ja bestialischen Charakter der fohlen, die seit der Kosovo-Berichterstattung in NS-Herrschaft zu machen. österreichischen Medien, allen voran in der „Kro­ nen Zeitung“, ein falsches Bild von Serben im Der zweite Aufsatz, verfasst von Eva Tamara Titz, Kopf haben. führt uns ins Burgenland, ins jüngste Bundes­ land Österreichs, um die Jahreswende 1921/22 in die Republik Österreich eingegliedert. Unter W o lfgang D uchkowitsch dem literarisch-anmutigen Titel „Am Heiderand“ E rich V o gl legt Titz die Ergebnisse ihrer diskursanalytischen Untersuchung von Leitartikeln über burgenlän­ dische Themen in der Neuen Freie Presse vor. Im Zentrum der Untersuchung stehen Fragen einer medial vermittelten kollektiven Identität. Der

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Massenmediale Bezüge der Dritten Walpurgisnacht von Karl Kraus1

Simon Ganahl

I. in einem mit „Warum die Fackel nicht erscheint“ überschriebenen Heft seiner Zeitschrift; verlegt Was sich am 30. Jänner 1933 in Berlin wurde das formal abgeschlossene, nicht vollendete abspielte, hatte nichts mit einer Revolution zu Werk aber erst 1952 von Heinrich Fischer. Seit tun. Das Kanzleramt wurde von Hitler weder 1989 liegt die Dritte Walpurgisnacht As zwölfter erkämpft noch ergriffen, sondern wie ein Paket Band der Kraus sehen Schriften vor, die Christian in Empfang genommen, das eine „Clique von Wagenknecht im Suhrkamp-Verlag herausgegeben adligen Reaktionären“2 geschnürt hatte und hat.5 vom Staatsoberhaupt zugestellt wurde. Das ist keine neue Einsicht, sondern ein Sachverhalt, An eine Kriminalgeschichte gemahnt nicht nur auf den Historiker und Journalisten ebenso der Weg der Druckfahnen, die von Wien über häufig hinweisen wie auf den folgenden Prozess, die Schweiz und New York nach Jerusalem der bis Mitte 1934 dauerte und mit Recht gelangten, wo sie sich heute im Besitz der Machtergreifung genannt wird.3 Weniger bekannt Hebräischen Universität befinden, sondern auch ist die Tatsache, dass es ein Buch, das heißt ein der eigenartige Verlauf der Rezeption. Denn von Fragment über diese politischen Ereignisse gibt, den knapp 300 Seiten des Originaltextes, der aus das während ihres Ablaufs entstanden ist und zwei einer Vielzahl dokumentarischer und literarischer Leitfragen der NS-Forschung medienkritisch zu Zitate geflochten ist, nahm die Öffentlichkeit, beantworten versucht: Wie konnte das geschehen? unterstützt von ignoranten Kritikern, lediglich Und was konnte man wissen? den Anfangssatz wahr: „Mir fällt zu Hitler nichts ein.“ (DW 12)6 Dass man, um den Einstieg Der Wiener Publizist Karl Kraus fing gleich verstehen zu können, den Schluss mitdenken nach der Ernennung Hitlers zum deutschen muss, der „die guten Geister einer Menschenwelt“ Reichskanzler an, Dokumente über die Vorgänge anruft (DW 327), leuchtet jenen Lesern ein, die im Nachbarland zu sammeln, entschied sich zwischen den Zeilen der Dritten Walpurgisnacht jedoch, dem Datum der letzten Quellen zufolge den anthropologischen Dialog entdecken, in dem Ende September 1933, die Korrektur des im Lauf Thanatos das erste und Eros das letzte Wort hat. eines halben Jahres verfassten, bereits gesetzten Obwohl dieser Diskurs über die Doppelnatur des Texts mit dem Titel Dritte Walpurgisnacht Menschen, der sich wie ein roter Faden durch die abzubrechen. Die nächste Ausgabe der Fackel, die Textstellen aus Goethes Faust und Shakespeares im Oktober herauskam, bestand stattdessen aus M acbeth zieht, der Analyse wert ist, soll es im einem Nachruf auf den befreundeten Architekten Folgenden um eine Auswahl7 der anderen, Adolf Loos, der im Sommer verstorben war, und zeitgenössischen Quellen der neben Die letzten einem Gedicht, dessen letzter Vers lautet: „Das Tage der Menschheit wichtigsten Schrift von Karl Wort entschlief, als jene Welt erwachte.“4 Im Juli Kraus gehen. 1934 veröffentlichte Kraus zwar einige Passagen

1 Eine multimediale Version dieses Aufsatzes ist bei IAS- Schöningh 1984, S. 13-28. Lonline, der Internet-Ausgabe des Internationalen Archivs 4 Kraus, Karl (Hg.): Die Fackel. Nr. 888/1933, S. 4. fü r Sozialgeschichte der deutschen Literatur, erschienen: 5 Kraus, Karl: Dritte Walpurgisnacht. Hg. v. Christian URL: http://www.iaslonline.de/index.phpPvorgang_ Wagenknecht. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989 id=3258. (= Schriften, Bd. 12). Künftig mit dem Kürzel DW und 2 Hobsbawm, Eric: Gefährliche Zeiten. Ein Leben im der Seitenzahl im laufenden Text zitiert; Spationierungen 20. Jahrhundert. Übers, v. Udo Rennert. München/Wien: werden in Kursivschrift wiedergegeben. Hanser 2003, S. 79. 6 Vgl. zur Rezeptionsgeschichte Stremmel, Jochen: „Dritte 3 Vgl. Bracher, Karl Dietrich: „Stufen totalitärer Gleich­ Walpurgisnacht“. Über einen Text von Karl Kraus. Bonn: schaltung: Die Befestigung der nationalsozialistischen Bouvier 1982 (= Literatur und Wirklichkeit, Bd. 23), Herrschaft 1933/34“. In: Michalka, Wolfgang (Hg.): S. 162-219. Die nationalsozialistische Machtergreifung. Paderborn u. a.:

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II. Buch Understanding Media publiziert hatte, das den Untertitel The Extensions o f Man trägt.9 Wer die Dritte Walpurgisnacht aufmerksam liest, wundert sich über das landläufige Bild ihres Freilich ist in der Dritten Walpurgisnacht mit Autors als Pressekritiker, dessen Tunnelblick diesem Medienbegriff die Klage verknüpft, dass allein den Hauptfeind wahrgenommen habe, die optischen und akustischen Erweiterungen zumal das Panorama der nationalsozialistischen unfähig seien, die reine Wahrnehmung Machtergreifung, das der Text ausbreitet, auf allen wiederzugeben. Ein Medium, das sollte im Massenmedien7 8 gründet, die 1933 zu sehen und Kraus’schen Verständnis ein passiver Übermittler zu hören waren. Immer wieder hebt Kraus hervor, sinnlicher Daten sein, vergleichbar der esoterischen dass seine Augen und Ohren mit Material über die Vorstellung, es gäbe Menschen, die ihren Körper Ereignisse in Deutschland überschüttet würden, Toten als Artikulationskanal überlassen könnten. dass man ihm „ad oculos et aures“ demonstriere Es handelt sich um das Idealbild eines Boten, {DW\ 99), was der Welt missfallen müsse: der „das Unheil nur meldet, das vor jeglichem Versuch, es zu deuten, bloß den Gedanken an Man sollte aber glauben, daß auch einer Rettung gewährt“ {DW 324). Die Tatsache, dass deutschen Mehrheit, die aus Geschöpfen Gottes Massenmedien mit der Information zumeist besteht, diese Lautsprecher von Natur, denen sie auch deren Interpretation liefern, machte sich sich ausgeliefert hat, Mißbehagen verursachen; Joseph Goebbels, „der gründliche Kenner man sollte hoffen, daß ihr die Erweiterung journalistischer Mundart“ {DW 128), zunutze: der akustischen Möglichkeiten des Rundfunks Nach Kraus verstand es der nationalsozialistische und der optischen einer illustrierten Presse das Propagandaminister meisterhaft, „Sachverhalte Bewußtsein der Absurdität beibringt, die ihrem aufzuklären, bis das Gegenteil einleuchtet, kulturellen Dasein nunmehr aufgezwungen ist. Tatbestände im Wortschleim zu ersticken“ Fällt es den Deutschen nicht auf— denn den {DW 101), also Fakten hinter einem Wall andern fällt es auf—, daß keine Nation nicht von Meinungen verschwinden zu lassen. Der nur so häufig sich darauf beruft, daß sie eine Vorwurf, die Nazis seien „Systematiker der Lüge“ sei, sondern daß im Sprachgebrauch der ganzen {DW 108), ist daher weniger moralisch gemeint Welt durch ein Jahr nicht so oft das Wort „Blut“ denn als Kritik an der gezielten Manipulation des vorkommt wie an einem Tag dieser deutschen Erkenntnisprozesses der Zeitungsleser, Radiohörer Sender und Journale? (DW 199f) und Kinobesucher.

Da er das Geschehen „von Wien aus“ verfolgt Als Beispiel für die „Öffentlichkeitsarbeit“ des {DW 19), ist Kraus auf fremde Darstellungen frühen NS-Regimes kann der Fall Ernst Eckstein10 angewiesen, die keineswegs von persönlichen dienen, der in der Dritten Walpurgisnacht aus Informanten stammen, sondern von Zeitungen, einer Meldung der Neuen Freien Presse, dem Radiostationen und Kinos verbreitet werden. wichtigsten bürgerlichen Blatt Wiens, und zwei Wenn er von den „spezifischen Sinnes Werkzeugen“ Artikeln des Zentralorgans der österreichischen und dem „mediale [n] Vermögen“ der Sozialdemokratie, der Arbeiter-Zeitung, montiert Nationalsozialisten spricht {DW 183f), dann ist. In dieser Passage, die am Beginn einer zeigt sich, wie viele Jahre er der wissenschaftlichen ausführlichen Analyse der KZ-Berichterstattung Diskussion voraus war, die erst im letzten steht, bricht Kraus die offizielle Version der Drittel des 20. Jahrhunderts begann, Medien Todesumstände des Breslauer Anwaltes, der als Ausweitung der menschlichen Sinnesorgane dem Vorstand der Sozialistischen Arbeiterpartei zu betrachten, nachdem Marshall McLuhan das angehört hatte, in zweifacher Hinsicht auf - zum

7 Der Schwerpunkt wird auf die Kraus sehe Verarbeitung einer Medienwissenschaft. In: Schanze, Helmut / Ludes, von Radiosendungen und Kinofilmen gelegt, da die Peter (Hg.): Qualitative Perspektiven des Medienwandels. Presse-Bezüge der Dritten Walpurgisnacht schon besser Positionen der Medienwissenschaft im Kontext „Neuer erforscht sind. Vgl. etwa Früh, Eckart: Dritte Walpurgis­ Medien ‘ Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, S. 15-26, nacht und Arbeiter-Zeitung. In: Faecher, Kurt (Hg.): hier S. 21. Noch mehr. Wien: gratis und franko 1983. 9 Vgl. McLuhan, Marshall: Understanding Media. The 8 „Medien“ werden hier nach der kommunikations­ Extensions o f Man. New York: New American Library wissenschaftlichen Definition von Saxer als „komplexe 1964. institutionalisierte Systeme um organisierte Kom­ 10 Vgl. Stern, Fritz: Fünf Deutschland und ein Leben. munikationskanäle von spezifischem Leistungsver­ Erinnerungen. Übers, v. Friedrich Griese. München: Beck mögen“ verstanden. Vgl. Saxer, Ulrich: Konstituenten 2007, S. 105, 111, 122.

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einen inhaltlich, indem er die Beobachtungen eines verweigerte er die Aufnahme von Nahrung, Mitgefangenen anführt, und zum anderen durch so daß sie Sperrungen und Einschübe, die den amtlichen — man wollte ihn dem Leben und der Arbeit Täuschungsversuch in eine ironische Erzählung erhalten - verwandeln, wobei der Unterschied lediglich in der Haltung des Autors liegt. Die Schilderung, ihm künstlich zugeführt werden mußte. [7] „wie ein Fall, hingestellt als eine der grausigsten Man tat das Erdenklichste. Ärzte wurden Bluttaten nach einem Verzweiflungsausbruch des herbeigeholt. Sie führen sein Ableben Ermordeten, sich in Wahrheit abgespielt hat“ {DW 204), soll vor Augen führen, dass Ironie in erster Linie auf die freiwillige Selbstaufgabe nichts weiter als ersichtlich gemachte Lüge ist und zurück. [8] die Verkehrung dessen, was in den Kommuniques die er leider wichtigeren Aufgaben, die seiner behauptet wurde, das wirkliche Geschehen harrten, vorzog. Man hatte ihn, kombinierte erahnen ließ: die Greuelphantasie, von Breslau nach Oels gebracht (Sitz des Kronprinzen), wo ihm „in Dr. Ernst Eckstein, der als einer der ersten stundenlangem Prügeln Lungen und Nieren politischen Funktionäre 'm Schutzhaft genommen zerschlagen wurden“ [9]; er wimmerte die wurde ganze Nacht; es hieß - also geradezu ein Akt der Protektion - anscheinend sei er im Kopf nicht mehr ganz konnte sich nur schwer mit den Bedingungen der in Ordnung. . . . Man brachte ihn seiner Haft abfinden ... [1] unglücklichen Mutter . . Sie ließ ihn in die Irrenanstalt an der Einbaumstraße überführen; Man hatte ausgesprengt, diese Bedingungen dort ist er dann bald gestorben. [10] {DW wären Zwangsarbeit unter Kolbenstoßen, 204f.) Peitschenhieben ins Gesicht [2], Einnahme von Ricinus, Teilnahme an Sprechchören, und was dergleichen Mißverständnisse Das Kraus sehe Verfahren ist einerseits postmedial, mehr sind. Gab es doch auch gelegentliche weil es sich auf den Vorfall bezieht, wie ihn Rundfahrten durch die Stadt in einem die Zeitungen darstellten, und andererseits niedrigen Rollwagen, angeblich unter dem medienpädagogisch, da die Leser angeleitet Gejohle nationaler Kämpfer, während andere werden, die Schwächen der Berichterstattung Zuschauer erschüttert weinten. [3] auszugleichen. Schon die Lektüre der kurzen Nachricht im Morgenblatt der Neuen Freien Noch vor 14 Tagen war er bei Arbeiten fü r das Presse vom 9. Mai 1933, die sich auf eine Breslauer Konzentrationslager beschäftigt. [4] „Polizeipressestelle“ berief, konnte Kraus zufolge Keineswegs „im“; eine Art Bürotätigkeit. offenbaren, was sich ereignet hatte: Freilich nicht ohne körperliche Ertüchtigung, die der tatkräftige Heines [3], der selbst Dr. Eckstein, der als einer der ersten einst ein Beispiel gegeben hat, für seine politischen Funktionäre in Breslau in Schutzbefohlenen vorsieht. Einer von diesen Schutzhaft genommen worden war, konnte behauptet: sich nur schwer mit den Bedingungen der Haft abfinden. [1] Er erlitt vor einiger Zeit Er mußte schwere Steine karren und wurde, einen seelischen Zusammenbruch. Noch wenn wir anderen Ruhe hatten, zum Reinigen vor vierzehn Tagen war er bei Arbeiten der Latrine kommandiert. Während er in für das Breslauer Konzentrationslager deren Inhalt herumwühlen mußte, wurde er beschäftigt. [4] In einem Anfall von seelischer Besuchern des Lagers gezeigt. [6] Depression verübte er in seiner Zelle einen Doch, wie das schon so kommt, trotz solcher Selbstmordversuch, der jedoch rechtzeitig Ablenkung überließ er sich kopfhängerischer entdeckt worden ist. In den drei letzten Schwermut, zu der er offenbar neigte. In Tagen hatte er die Aufnahme von Nahrung einem Anfall, nämlich verweigert, so daß sie ihm künstlich zugeführt werden mußte. [7] Die Aerzte führen den Tod von seelischer Depression verübte er in seiner Ecksteins in erster Linie auf diese freiwillige Zelle einen Selbstmordversuch. Zuletzt Selbstaufgabe zurück. [8]11

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Dieser Aspekt ist wichtig, weil die starren war, erzählte mir später davon. Man hat Fronten, die das politische Leben in der Ersten Eckstein stundenlang geprügelt und ihm Republik prägten, vermuten lassen, dass die dabei die Lungen und Nieren zerschlagen. Folterberichte der sozialdemokratischen Organe [9] Der Kamerad sagte mir gleich, Eckstein, von den Abonnenten der bürgerlichen Blätter, die der die ganze Nacht gewimmert habe, sei ihm das Thema großteils verschwiegen, ignoriert oder am Schluß ganz sonderbar vorgekommen. als demagogisch abgetan wurden. Daher rührt die Anscheinend sei er im Kopf nicht mehr ganz Kritik, die Kraus in der Dritten Walpurgisnacht an in Ordnung. Etwa fünf Tage später wurde der Rhetorik des Klassenkampfes übt-sie minderte Eckstein plötzlich „entlassen“. Man brachte die Glaubwürdigkeit der vielen Meldungen, die ihn seiner unglücklichen Mutter, die sofort authentisch von den Misshandlungen in den erkannte, daß jede Hoffnung vergeblich Konzentrationslagern berichteten. So hieß es elf war. Sie ließ ihn in die Irrenanstalt an der Tage nach Ecksteins Tod in der Arbeiter-Zeitung., Einbaumstraße überführen, dort ist er dann dass über Stirn und Backen der Leiche Striemen bald gestorben. [ 10]15 gelaufen seien: „Er ist also offensichtlich mit der Peitsche ins Gesicht geschlagen worden.“11 12 [2] III. Unter der Aufsicht des Breslauer Polizeipräsidenten und SA-Führers Edmund „Heines (der berüchtigte Vom Umgang der Nationalsozialisten mit Fememörder)“13 [5] habe man den Häftling ihren politischen Gegnern handelte auch, was öffentlich gedemütigt. „ A u f einem niedrigen in der Dritten Walpurgisnacht als Versuch der Rollwagen, der mit Telegraphenstangen beladen „Wahrheitsfindung durch das Radio“ angekündigt war, mußte Dr. Eckstein zusammen mit drei wird, nämlich eine „zwanglos [e] Unterhaltung sozialdemokratischen Führern kreuz und quer mit Schutzhäftlingen“, die man „am 8. April durch die Stadt fahren, unter dem Gejohle der via Stuttgart“ gesendet habe, „zwischen den Nazihorden, während die Arbeiter, die ihn sahen, stündlichen Rationen von Phrasengebell und tief erschüttert waren und ergriffen weinten.“14 Tanzmusik, es war der Trumpf aller bestialischen [3] Drei Monate später, im August 1933, brachte Zumutungen an den Äther, an Gehör und das Blatt den Zeugenbericht eines Mitgefangenen Menschenwürde“ (DW 228-230). Das auf von Ernst Eckstein: Schallplatten fixierte Gespräch mit „einstigen badensischen Ministern“ sei, wie Kraus anmerkt, Er mußte schwere Steine karren und wurde, „zur Abwehr der im Ausland verbreiteten Lügen“ wenn wir anderen Ruhe hatten, zum Reinigen bestimmt gewesen. Demnach dürfte eine der Latrine kommandiert. Während er in süddeutsche Version jenes „Berichts aus dem deren Inhalt herumwühlen musste, wurde er Konzentrationslager Oranienburg“ bei Berlin Besuchern des Lagers gezeigt. [6] Eines Nachts gemeint sein, der im Deutschen Rundfunkarchiv vernahm ich ein fürchterliches Geschrei, vom 30. September 1933 datiert ist.16 Denn in man flüsterte mir später zu, Eckstein sei der vorliegenden Aufnahme teilt der Ansager geschlagen worden und im Hemd durchs ebenfalls mit, zur Abwehr der ausländischen Lager geflüchtet. Vielleicht war das der Anlaß, „Gräuelmeldungen“ werde eine Aufklärung über daß man ihn von Breslau fortnahm, um kein das Leben „der in Schutzhaft genommenen, Aufsehen zu erregen. Man brachte ihn nach verirrten, verhetzten und schuldig gewordenen Oels, wo in der Nähe des kronprinzlichen Volksgenossen“ von allen deutschen Sendern Schlosses geradezu ein Folterlager besteht. Ein sowie dem Kurzwellendienst übertragen: „Das Lagerkamerad, der dort mit ihm zusammen nationalsozialistische Deutschland baut den Staat,

11 N. N.: „Tod des Führers der sozialdemokratischen Aufnahme ist abgedruckt in Rundfunk und Geschichte, Arbeiterpartei Dr. Eckstein“. In: Neue Freie Presse (Wien), Nr. 24/1998, S. 165-169. Ausschnitte aus der Reportage 9.5.1933 (Morgenblatt), S. 3f. sind auf folgenden CDs enthalten: 1933 - Der Weg in die 12 N. N.: „Wie Ernst Eckstein starb“. In: Arbeiter-Zeitung Katastrophe. Hg. v. Deutschen Rundfunkarchiv u. (Wien), 19.5.1933, S. 2. Deutschen Historischen Museum. Frankfurt a. M./ 13 Ebenda. Berlin: Deutsches Rundfunkarchiv u. Deutsches 14 Ebenda. Historisches Museum 2000 (= Stimmen des 20. Jahr­ 15 N. N.: „Wo Paul Lobe war“. In: Arbeiter-Zeitung (Wien), hunderts), Track 15; Sarkowicz, Hans (Hg.): Radio unterm 12.8.1933, S. 3f., hierS. 3. Hakenkreuz von 1933 bis 1945. CD 1. Berlin: Universal 16 Vgl. Bericht aus dem Konzentrationslager Oranienburg, 2004 (= Die Geschichte des Rundfunks in Deutschland, Deutsches Rundfunkarchiv in Frankfurt a. M. (DRA), Teil 2), Track 2. Signatur 2955807 u. 9 152121. Ein Transkript der

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erzieht das Volk in unbegrenzter Wahrheitsliebe.“ Der Wiener Publizist war einer der Autoren, Der Reporter versichert dann, dass überall im darunter auch Bertolt Brecht, Gottfried Benn, Lager „Ordnung und Sauberkeit“ herrsche Alfred Döblin und Else Lasker-Schüler, die für und die Insassen gut versorgt würden. Als ein Hans Flesch, den Intendanten der Station in Häftling murmelt, es gäbe Erbsensuppe, weist Berlin, Radiosendungen gestalteten.18 In einer der Interviewer auf eine Speckeinlage hin und Inszenierung von Shakespeares Timon von Athen, fügt in holprigem Deutsch hinzu: „Was meinen die am 13. November 1930 in der „Funk-Stunde“ Sie wohl, was wir Nationalsozialisten zu essen lief, führte er nicht nur Regie, sondern sprach gekriegt hättet, wenn ihr Kommunisten am zugleich die Hauptrolle, während der bekannte Ruder gewesen wärt? Ich glaube, ihr hättet uns Moderator Alfred Braun dem Haushofmeister hier nicht so anständig behandelt, wie ihr hier Flavius die Stimme gab.19 behandelt werdet.“ Mit diesen Bemerkungen sind die „Männer des Die überlieferten Passagen des Beitrags Rundfunks“ genannt, an deren Schicksal in der enthalten keine der Äußerungen, die Kraus Dritten Walpurgisnacht erinnert wird, jene „Flesch zitiert, entsprechen aber seinen Hinweisen und Braun, gegen die sich hinterdrein der Verdacht - der einleitenden Klage über die angebliche des Europäertums verdichtet hat und denen „Gräuelpropaganda“, der Ansprache ausländischer der sieghafte Dilettantismus das Bewußtsein Hörer, der Unbeholfenheit des Journalisten wie kulturellen Kontrastes nachträgt“ (DW 119). der Opfer, die stammelnd beteuern, wohlauf Dem Passus liegt der Sachverhalt zugrunde, dass zu sein. Ob es eine ganze Serie von KZ- die ehemaligen Leiter des deutschen Rundfunks Reportagen gab, mag dahingestellt bleiben; Anfang August 1933 verhaftet wurden, und zwar entscheidend ist, dass die Sendung in der Dritten wegen des fadenscheinigen Vorwurfs, maßlos Walpurgisnacht für die Zäsur steht, die der Geld verschwendet zu haben.20 Kraus führt ein 30. Jänner 1933 auch in der Radiogeschichte Bild an, auf dem die „Gequälten, umstellt von markiere: „Offenbach in Deutschland verboten. Wölfen des Konzentrationslagers“, zu sehen sind Die Leitung des deutschen Rundfunks hat die (DW 119): Sie stehen, noch in Anzüge gekleidet, Weisung erhalten, keine Werke von Offenbach in einer Reihe - Alfred Braun ganz aufrecht, mehr zu senden/ Als ob ein Äther, der für eine Hans Flesch mit leicht gesenktem Kopf - und ,zwanglose Unterhaltung mit Schutzhäftlingen‘ blicken auf eine Schar junger SA-Männer, die mit Raum hat, solcher Weisung bedurft hätte!“ (DW polierten Springerstiefeln ihren Einsatz erwarten.21 33) Es sei ausgemacht, heißt es an einer anderen Wenn man sich bewusst macht, was auf die Stelle, „daß der deutsche Rundfunk in zwanzig verschleppten Radioleute zukam, dann begreift völkischen Jahrgängen der Nation nicht das man, weshalb in der Dritten Walpurgisnacht die Entzücken ersetzen wird, das er ihr in zweien „Tat dieses Herrn Bredow“ hervorgehoben wird, durch den Offenbach-Zyklus gewährt hat“ (DW „der mit einem Satz das Deutschtum rehabilitiert 47). Gemeint ist eine Sendereihe der Berliner hat, indem er in Verbundenheit mit ihnen seine „Funk-Stunde“, die in den Jahren 1930 bis 1932 Person der Barbarei darbot, die es entehrt“ (DW von mehreren deutschen Stationen ausgestrahlt 119). Der erste Direktor der Reichs-Rundfunk- wurde. Insgesamt handelte es sich um fünfzehn Gesellschaft hatte nach der Festnahme seiner Operetten des französischen Komponisten früheren Mitarbeiter ein Telegramm an das Jacques Offenbach; bei elf Aufführungen hatte Propagandaministerium gesandt, in dem er laut Kraus selbst als „Wortregisseur“ mitgewirkt.17 des Arbeiter-ZeitungfeststzMtz, dass die Verhafteten

17 Vgl. Scheichl, Sigurd, Paul: „Karl Kraus im Rundfunk“. 19 Vgl. Kraus, Karl (Hg.): Die Fackel. Nr. 845-846/1930, In: Kraus Hefte. Nr. 61/1992, S. 2-6, hier S. 2f. S. 27f. 18 Anhand der Angaben in der Fackel lassen sich 24 Rund­ 20 Die Wiener Presse berichtete ausführlich über die Vorfälle funksendungen von Karl Kraus nachweisen — von einigen - siehe etwa die Ausgaben der Arbeiter-Zeitung vom sind Ausschnitte im Deutschen Rundfunkarchiv vorhan­ 1.8.1933 (S. 3), 2.8.1933 (S. 2) und 9.8.1933 (S. 2). den. Friedrich Pfäfflin hat die erhaltenen Aufnahmen Vgl. dazu Ansgar Diller: Rundfunkpolitik im Dritten Reich. 1999 auf drei CDs herausgegeben. Vgl. Pfäfflin, Friedrich München: DTV 1980 (= Rundfunk in Deutschland, / Dambacher, Eva (Hg.): Karl Kraus liest Eigenes und Bd. 2), S. 128. Angeeignetes. 3 CDs mit historischen Aufnahmen. Marbach: 21 Vgl. Schütt, Ernst Christian: Chronik 1933. Tagfur Tag in Deutsche Schillergesellschaft 1999 (= Beiheft 2 zum Wort und Bild. Gütersloh/München 2003 (= Die Chronik- Marbacher Katalog 52). Bibliothek des 20. Jahrhunderts), S. 146.

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„um den Rundfunk hochverdiente Männer“ seien: Hitler und dem österreichischen Bundeskanzler „Er fühle sich mit diesen Männern verbunden Engelbert Dollfuß, der aus der Christlichsozialen und bitte um die gleiche Behandlung.“22 Ende Partei kam und seine eigene Diktatur errichten Oktober 1933 wurde Hans Bredow tatsächlich wollte,26 stand eine Ansprache, die Hans Frank festgenommen; der Schauprozess fand erst nach am 18. März 1933 im Radio hielt. Nach einer einem Jahr statt und endete im Juni 1933 mit Meldung des „Wolff-Büros“, der amtlichen der Verurteilung der Angeklagten zu Geld- und Nachrichtenagentur Deutschlands, hatte der Gefängnisstrafen.23 damalige Justizminister von Bayern, der später zum Reichsminister und Generalgouverneur im Steht der „Offenbach-Zyklus“ in der Dritten besetzten Polen avancierte, im Sender München Walpurgisnacht für den Hörfunk der Weimarer gesagt: Republik, so ist das NS-Radio, abgesehen von der „zwanglosen Unterhaltung mit Schutzhäftlingen“, Zum Schluß richtete Dr. Frank einen Gruß durch den ,Ätherkrieg“24 vertreten, den die an seine unterdrückten Parteigenossen in Nationalsozialisten gegen die Österreich, die unter österreichische Regierung Steht der „Offenbach-Zyklus" der ihm unbegreiflichen Unvernunft ihrer führten. Kraus erwähnt die in der Dritten Walpurgis­ „Rundfunkpropaganda“ (DW Regierung den letzten 105), die von Theo Habicht, nacht für den Hörfunk der Terror und die letzte dem „Landesinspekteur“ der Weimarer Republik, so ist das Unterdrückung auszu­ NSDAP in Österreich, geleitet stehen hätten. Österreich NS-Radio, abgesehen von der wurde, mehrmals direkt und sei jetzt der letzte Teil einmal allusiv mit einem „zwanglosen Unterhaltung Deutschlands, in dem Zitat aus der „Klassischen mit Schutzhäftlingen", durch man es noch wagen Walpurgisnacht“, jener Ver­ könne, das deutsche den „Ätherkrieg" vertreten, sammlung antiker Geister nationale Wollen zu im zweiten Teil des Faust, den die Nationalsozialisten unterdrücken. Er möchte die Goethe als Pendant zur gegen die österreichische die Österreichische Re­ mittelalterlichen Hexenfeier, gierung in aller Regierung führten. der „Walpurgisnacht“ des Freundschaft und ersten Teils der Tragödie, bundesbrüderlichen erfunden hat: Zuneigung davor warnen, etwa die Nationalsozialisten zu ver­ Nötigt sie herabzusteigen! anlassen, die Sicher-ung der Freiheit der Sie verbergen in den Zweigen deutschen Volksgenossen in Österreich zu Ihre garstigen Habichtskrallen, übernehmen.27 (vgl. DW 188) Euch verderblich anzufalleny Wenn ihr euer Ohr verleiht. (DW237f5 Anstatt der diploma-tischen Forderung nach einer Entschuldigung zu entsprechen, trat Es ist wie im Originaltext eine Warnung vor dem Frank Mitte Mai bei Massenkundgebungen der Sirenengesang, der zur Entstehungszeit der Dritten NSDAP in Wien und Graz auf, was die latente Walpurgisnacht aus Lautsprechern zu hören war. zwischenstaatliche Krise offen ausbrechen ließ. Denn schon am Beginn des Konflikts zwischen Die Partei wurde, nachdem Nationalsozialisten

22 N. N.: „Ein aufrechter Mann“. In: Arbeiter-Zeitung 4. März 1933 zurückgetreten waren, nicht deshalb (Wien), 9.8.1933, S. 2. Vgl. dazu Ansgar Diller (Anm. entschieden, autoritär zu regieren, um Österreich vor 20), S. 128f. dem nationalsozialistischen Gegner zu schützen, sondern 23 Vgl. Diller, Ansgar (Anm. 20), S. 132. weil er die Chance sah, seine Vorstellung einer katho­ 24 Ebenda, S. 2l4ff. lischen Diktatur zu verwirklichen. Vgl. dazu Emmerich 25 Vgl. Goethe, Johan Wolfgang: Faust. Texte. Hg. v. Albrecht Tälos: „Das austrofaschistische Herrschaftssystem“. In: Schöne. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 2005, Emmerich Tälos, Emmerich / Neugebauer, Wolfgang V. 7161-7165. (Hg.): Austrofaschismus. Politik - Ökonomie - Kultur. 26 Mit der scharfsinnigen Kritik am Nationalsozialismus 1933-1938. 5., überarb. u. erg. Aufl. Wien: Lit 2005 kontrastiert in der Dritten Walpurgisnacht eine Parteinah­ (= Politik und Zeitgeschichte, Bd. 1), S. 394-420. me fiir die Politik der österreichischen Regierung, die hier 27 Zit. nach Aktennotiz vom 22.3.1933, Politisches Archiv nicht analysiert, sondern nur zurückgewiesen werden des Auswärtigen Amts in Berlin, R 28392 (Büro des kann. Denn entgegen der Krausschen Darstellung hat Reichsministers, Aktenzeichen 16: Österreich). sich Dollfuß, nachdem die Nationalratspräsidenten am

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eine Serie von Terroranschlägen verübt hatten, Bis zum „Juliputsch“, dem nationalsozialistischen am 19. Juni 1933 in Österreich verboten. Umsturzversuch am 23. Juli 1934 in Österreich, Anfang Juli kündigte der bayrische Rundfunk liefen rund 130 Hetzreden dieser Art im dann per Pressemitteilung eine neue Sendereihe Abendprogramm der süddeutschen Radiostationen an: „Flüchtlinge aus Oesterreich sollen am München, Stuttgart, Nürnberg und Breslau.30 * Mikrophon zu Worte kommen und den Schon der ersten Sendung waren diplomatische Deutschen diesseits und jenseits der Grenze Proteste beim Auswärtigen Amt und bei der von dem brutalen Kampfe erzählen, der z. Zt. Reichs-Rundfunk-Gesellschaft in Berlin gefolgt, von einer kleinen separatistischen Clique in bevor die RAVAG, der Wiener Sender, am 8. Oesterreich gegen alles Deutsche geführt wird.“28 Juli 1933 eine Erwiderung der österreichischen Den Auftakt machte der Landesinspekteur selbst, Regierung ausstrahlte, die von Eduard Ludwig, der im Juni verhaftet und nach Deutschland dem Leiter des Bundespressedienstes, verlesen abgeschoben worden war. Theo Habichts Rede, wurde. Wer einen Gegenangriff erwartet hatte, sein „ A u fru f an das deutsche Volk Österreichs“, den enttäuschte der eher versöhnliche Vortrag, wurde am 5. Juli 1933 vom Münchner Sender der Bundeskanzler Dollfuß mit den Worten übertragen und zwei Tage später auf der Titelseite zitierte: „Das deutsche Volk im Reich möge seine des Völkischen Beobachters, dem Kampfblatt der Verhältnisse gestalten, wie es will. Wir sind gewillt, NSDAP, abgedruckt. Die österreichische Republik vorbehaltlos und in aller Freundschaft mit der sei, so lautete die Kernaussage, nicht national deutschen Regierungzusammenzuarbeiten.“ In der gewachsen, sondern nach dem Ersten Weltkrieg Gewissheit, „daß die überwiegende Mehrheit der von den Siegerstaaten aus Eigeninteressen österreichischen Bevölkerung entschlossen hinter geschaffen worden; als „willenloses Instrument der Bundesregierung steht“, lasse man sich durch der französischen Machtpolitik“ habe das Land die Provokationen des Herrn Habicht und seiner nie Aussichten gehabt, aus eigener Kraft zu Gefolgschaft nicht vom eingeschlagenen Kurs überleben, weshalb der „Wille zur Überwindung abbringen.30 Auch Justizminister Schuschnigg, der des Zwangsstaates von St. Germain“, wo man am 12. Juli vor das RAVAG-Mikrofon trat, um 1919 den Friedensvertrag unterzeichnet hatte, über die nationalsozialistische Radiopropaganda ungebrochen sei. Da nun mit der Ernennung zu sprechen, übte sich in Zurückhaltung, denn es Hitlers zum Reichskanzler die historische Stunde sei der „Inbegriff der österreichischen Sorge“, den geschlagen habe, die deutsche Volksgemeinschaft „aufgezwungenen Kampf in Ehren zu bestehen“. zusammenzuführen, hätten „im Dienste Er betrachte jenen als wahren Deutschen, „der Frankreichs Juden, Marxisten und Freimaurer“ für sein Volkstum - also in unserem Falle das eingegriffen, um die nationalsozialistische österreichische Deutschtum - am meisten schafft Bewegung in Österreich kurzerhand zu in lückenlos treuer Pflichterfüllung“, und halte es verbieten: daher für einen ausgemachten Unsinn, „Österreich des Partikularismus oder des Separatismus zu Hochverräter ist nicht der, der als Sprecher zeihen“.32 der überwältigenden Mehrheit eines Volkes unter strengster Wahrung seiner Verfassung Im bayrischen Rundfunk wurde nun fast und Gesetze bestrebt ist, den Willen dieser täglich eine weitere Tirade übertragen, was eine Mehrheit zur politischen Gestaltung zu gemeinsame Demarche der Botschafter Englands bringen, sondern Hochverräter ist, wer, wie die und Frankreichs beim Auswärtigen Amt in Berlin Regierung Dollfuß, unter fortgesetztem Bruch bewirkte. Italiens Ministerpräsident Mussolini der Verfassung und unter Mißbrauch der verzichtete auf diesen Schritt, weil ihm Hitler Gesetze als Vertreter einer verschwindenden zugesagt hatte, die Radiovorträge einzudämmen, Minderheit diese Mehrheit vergewaltigt und und zeigte sich verärgert, als Habicht am 9. von der politischen Gestaltung ausschaltet.29 August 1933 im Münchner Sender eine Rede

28 Zit. nach Bericht der RAVAG über die Rundfunkpropa­ In: Duchkowitsch, Wolfgang (Hg.): Mediengeschichte. ganda vom 26.7.1933, Neues Politisches Archiv im Forschung und Praxis. Wien u. a.: Böhlau 1985, Österreichischen Staatsarchiv (NPA), K. 113 (Mappe zur S. 143-172, hierS. 157. deutschen Rundfunkpropaganda, f. 304). 31 Zit. nach Wiener Zeitung, 9.7.1933, S. 2f. 29 Zit. nach Völkischer Beobachter, Münchener Ausgabe, 32 Zit. nach Wiener Zeitung, 13.7.1933, S. 3. 7.7.1933, S. 1. 33 Vgl. Ross, Dieter: Hitler und Dollfiiß. Die deutsche 30 Vgl.Venus, Theodor: „Der lange Weg zum Juliputsch Österreich-Politik 1933-1934. Hamburg: Leibniz 1966, 1934 - Hallwich und Hugenberg, Habicht und Huber“. S. 72f.

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hielt, die keineswegs Mäßigung erkennen ließ.33 beschweren, „daß man einen deutschen Journalisten Der Landesinspekteur führte die diplomatischen die Zelle eines österreichischen Homosexuellen Interventionen auf das „Hilfegeschrei“ zurück, teilen ließ (was hier vielleicht noch als Courtoisie das die österreichische Regierung in der „ihr beschönigt wird)“ {DW 186). An einer anderen dienstbaren jüdischen, tschechischen, frankophilen Stelle erwähnt Kraus die Drohung, Deutschland Presse in Wien“ losgelassen habe, und wandte sich bringe Österreich vor den Völkerbund und nicht gegen den Eindruck, „dass es in diesem Kampf um umgekehrt: „Es ist die ultima ratio - Habicht hat die Aufrechterhaltung der äusseren Freiheit und gewarnt.“ (DW 192) Und zwar am 16. August Unabhängigkeit Oesterreichs ginge [...], sondern 1933, als er im bayrischen Rundfunk einen vielmehr handelt es sich um die Austragung weiteren „Lagebericht“ lieferte, in dem behauptet einer rein innerösterreichischen Angelegenheit, wurde, die österreichische Regierung halte eines Kampfes, der sich abspielt zwischen der die nationalsozialistischen Radiovorträge auf überwältigenden Mehrheit des nach Herkunft, Schallplatten fest, um sie „bei einer kommenden des Blutes und Wesens deutschen Volkes und einer Auseinandersetzung vor dem Völkerbund“ als Gruppe Terroristen“. Wenn Dollfuß tatsächlich Beweismaterial verwenden zu können. Er hoffe glaube, was er ständig behaupte, nämlich dass nur, sagte Habicht, dass die Dokumente nicht das Volk hinter ihm stehe, dann solle er den im Archiv verstauben, sondern wirklich „dem Mut aufbringen, sich einer Wahl zu stellen; die angekündigten Verwendungszweck zugefiihrt“ NSDAP verpflichte sich „von vornherein zur würden, damit die Welt „die wahre Meinung bedingungslosen Anerkennung des Volksurteils“, und Gesinnung des Volkes von Oesterreich“ aus denn man habe immer nur den gerechten Anteil seinem Mund zu hören bekäme.36 an der Macht in Österreich gefordert. Wer die tausendjährige Geschichte der „Ostmark“ kenne, Statt den Konflikt mit dem Nachbarstaat im sei über die breite Anschlussbewegung nicht Völkerbund zu verhandeln, trat Deutschland im erstaunt, die seit dem Zerfall der Monarchie mit Herbst 1933 aus der internationalen Organisation aller Kraft in die deutsche Heimat dränge und aus. Es lässt sich nicht endgültig klären, ob jene Wiedervereinigung fordere, die von der Habichts Reden aufgenommen wurden. Erhalten „Gewaltfaust der Siegerstaatendiktatur“ beharrlich ist lediglich ein knapp vierminütiger Originalton verhindert werde.34 auf einer getarnten Schallplatte mit dem Titel An der schönen blauen Donau; er stammt aus Bei der Absage wies der Moderator auf die nächste einer Ansprache, die am 13. November 1933 Sendung über Österreich hin, die am 11. August im Sender München lief. Der Landesinspekteur stattfinde und bei der Hermann Honig, der rühmte das Ergebnis der Reichstagswahl, die Wiener Korrespondent der Münchner Zeitung, am Tag zuvor stattgefunden hatte, als Beleg zu Wort komme, um seine „Erfahrungen mit der „unlösbaren Verbundenheit von Volk und österreichischen Behörden und Gefängnissen“ Regierung“ in Deutschland. Nach offiziellen darzulegen. Man habe ihm und seinen Kollegen, Angaben hatten über neunzig Prozent der berichtete Honig dann, bei der Ausweisung übel Wähler das Kreuz bei der NSDAP, der einzigen mitgespielt: „So wurden wir in kleinen Zellen Partei auf dem Stimmzettel, gemacht. Entgegen untergebracht, in denen auch Schwerverbrecher dieser „Einheit von Führer, Volk und Staat im gefangengehalten wurden. DerChefkorrespondent Zeichen der nationalsozialistischen Bewegung“ des Scherl-Verlages z. B. war gezwungen, die ganze verfüge die Regierung in Österreich, wo seit dem Nacht unter völlig verschmutzten Decken auf ein 10. November wieder die Todesstrafe galt, das und derselben Holzpritsche mit einem Einbrecher Standrecht: „Gegen den deutschen Menschen als zu schlafen, der unter anderem auch mehrfach den Träger der deutschen Zukunft erfindet sie den wegen homosexueller Exzesse vorbestraft war.“35 österreichischen Menschen als den Repräsentanten Es ist eine der wenigen konkreten Passagen der einer untergegangenen Zeit.“ Da sich Dollfuß Rundfunkpropaganda, die sich in der Dritten weder auf „die Liebe und das Vertrauen des Walpurgisnacht wiederfinden, wo es heißt, deutschen Volkes in Österreich“ noch auf die die Nationalsozialisten würden sich im Radio Verfassung stützen könne, hänge seine Herrschaft

34 Zit. nach Mitschrift der Rede vom 9.8.1933, NPA, K. 113 K. 114 (Mappe mit Rundfunkreden, f. 453-456). (Mappe zur deutschen Rundfunkpropaganda, f. 36 Zit. nach Mitschrift der Rede vom 16.8.1933, NPA, 437-443). K. 113 (Mappe zur deutschen Rundfunkpropaganda, 35 Zit. nach Mitschrift der Rede vom 11.8.1933, NPA, f. 444-449).

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von der „Anwendung der brutalen Gewalt“ ab, 1933 herausbrachte und der im Filmarchiv des weshalb sein letztes Argument in der „Drohung deutschen Bundesarchivs erhalten geblieben ist.40 mit dem Galgen“ bestehe. „Noch liegen Nacht Aber liegt dieser Bemerkung eigene Zeugenschaft und Dunkelheit über Österreich“, sprach zugrunde? Lief der knapp zwanzigminütige Habicht, „aber hoch über den Kerkermauern Streifen in einem der rund 180 Kinos41, die es dieses sterbenden Systems erhebt sich leuchtend damals in Wien gab? Nach den Zensurlisten der und sieghaft das Bild eines neuen und größeren Magistratsabteilung 32 zu schließen, die in der Deutschland - eines freien, glücklichen und österreichischen Hauptstadt für die Filmprüfung geeinten Volkes.“37 zuständig war, lautet die Antwort: Nein. Denn das Verzeichnis der im Zeitraum von 1. Jänner bis Was die Repliken der RAVAG betrifft, gibt 31. Dezember 1933 freigegebenen Filme enthält es ebenfalls eine Aufnahme in der Länge von keinen N. S. Ton-Bild-Bericht Nr. 2.42 Das heißt, rund vier Minuten. Es handelt sich um einen dass er entweder abgelehnt oder gar nicht, wie Ausschnitt aus einer Rede vom 17. Jänner 1934, landesgesetzlich vorgeschrieben, zur Kontrolle die der Heimwehrführer Richard Steidle in seiner eingereicht wurde. Dessen ungeachtet mag der Funktion als „Bundeskommissär für Propaganda“ Propagandafilm, sei es bei Parteiveranstaltungen im Wiener Senderhielt. Österreich verbittesichjede oder von nationalsozialistischen Kinobesitzern, Einmischung in seine inneren Angelegenheiten, illegal gezeigt worden sein; realistischer als die sagte der christlichsoziale Politiker: „Man lasse uns Vorstellung, Kraus habe sich zwischen eine Schar nach unserer Fasson selig werden. Diese Fasson johlender Braunhemden gezwängt, ist jedoch, ist durch jahrhundertealte Erfahrung und Kultur dass die Ausgabe der Arbeiter-Zeitung vom 11. entstanden und kann nicht ohne weiteres durch August 1933 als Quelle diente. Dort findet sich ein braunes Hemd ersetzt werden. Man verzichte nämlich eine mit „Deutscher Greuelfilm“ betitelte uns gegenüber auf einen befehlshaberischen Glosse, wo das „in einer gleichgeschalteten Kasernenton, der uns nicht liegt, und versuche reichsdeutschen Filmzeitung“ abgedruckte Inserat anstatt dessen, durch brüderliches Einfühlen der NS-Produktion zitiert wurde: „Dollfuß spricht in die österreichische Seele uns zu gewinnen.“38 über den Nationalsozialismus. / Polizeiattacken Gut vier Jahre später war die Ostmark Teil des auf die Wiener Bevölkerung. / Erschütternde Dritten Reichs. „Der Österreicher ist so deutsch, Bilder von der Not eines geknechteten Volkes!“43 wie seine Donau blau ist“39, schrieb Alfred Polgar, der vor den Nationalsozialisten flüchten musste, Der Beitrag über Österreich ist das letzte der in einem Nachruf auf seine Landsleute. Wer je in vier Sujets des N S. Ton-Bild-Berichtes Nr. 2. Er Wien war, kennt die Farbe der Donau. Sie ist eher nimmt den erwähnten Besuch Hans Franks in braun als blau. Wien zum Anlass, jenen „Vernichtungsfeldzug“ darzustellen, den Bundeskanzler Dollfuß gegen IV. den Nationalsozialismus führe. Der bayrische Justizminister war am 13. Mai 1933 bei einer Dass die Annexion Österreichs nicht nur in NSDAP-Kundgebung in der Wiener Engelmann- Presse und Rundfunk, sondern auch im Kino Arena aufgetreten, die mit den Feiern zum 250. vorbereitet wurde, betont Kraus mit dem Hinweis Jubiläum der „Türkenbefreiung“ kollidierte. In auf einen „Tonfilm“ namens „Erschütternde Bilder Großaufnahmen von Schlagzeilen des Völkischen von der Not eines geknechteten Volkes“ (DW 186). Beobachters wird auf die „christlich-soziale Tatsächlich stammt das Zitat aus der Inhaltsangabe Verschwörung“ in Österreich hingewiesen, wie des N S. Ton-Bild-Berichtes Nr. 2 , den die sie beim Türkenbefreiungsfest im Schlosspark Reichspropagandaleitung der NSDAP im Sommer von Schönbrunn, dem die folgenden Szenen

37 Habicht, Theo: Ansprache an das österreichische Volk, DRA, K 172392. Signatur 2884770. 41 Vgl. Fritz, Walter: Im Kino erlebe ich die Welt. 100 Jahre 38 Steidle, Richard: Kommentar zur deutschen Propaganda Kino und Film in Österreich. Wien: Brandstätter 1997, gegen Österreich, Österreichische Mediathek in Wien, S. 145. Signatur 99-34007. 42 Vgl. Ballhausen, Thomas / Caneppele, Paolo (Hg.): 39 Polgar, Alfred: „Der Österreicher (Ein Nachruf)“. In: Entscheidungen der Wiener Filmzensur. 1929-1933. Wien: Alfred Polgar: Kleine Schriften. Bd. 1: Musterung. Hg. v. Filmarchiv 2003 (= Materialien zur österrei­ Reich-Ranicki, Marcel. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt chischen Filmgeschichte, Bd. 10), S. 437-^496. 1982, S. 205-209, hier S. 209. 43 N. N.: „Deutscher Greuelfilm“. In: Arbeiter-Zeitung 40 N. S. Ton-Bild-Bericht Nr. 2, NSDAP Berlin 1933, (Wien), 11.8.1933, S. 4. Der Titel des Films lautet hier Bundesarchiv-Filmarchiv in Berlin (BA-FA), Signatur „N. S. Tonfilmbericht N2“.

1 2 m & Z 3/2010 gewidmet sind, zum Ausdruck gekommen sei. werden diesen Kampf gekrönt haben durch Dollfuß spricht zu den versammelten Anhängern den Erfolg, durch den Sieg! Wir Deutsche der über „fremde Ideen“, die sich im Volk „eingenistet“ Ostmark hier, wir werden heimgefunden haben hätten, worauf die männliche Off-Stimme ergänzt, ins heilige dritte deutsche Reich!“ Daraufhin dass zur selben Stunde „dieses österreichische Volk stimmt die Menge, von einer Kapelle begleitet, in Wien die deutschen Minister Kerrl und Frank“ das Horst-Wessel-Lied an, mit dem der N S. Ton- empfangen habe: Hitlergrüßende und heilrufende Bild-Bericht Nr. 2 ausklingt. Menschenmassen jubeln einer Autokolonne zu, in der, wie die nächste Sequenz zeigen soll, der Am Ende der ersten Strophe der Parteihymne Besuch aus dem Reich chauffiert wurde. „Vielen heißt es: „Kameraden, die Rotfront und Reaktion herzlichen Dank“, sagt Hans Frank zum Wiener erschossen, / marschier’n im Geist in unsern Reihen Gauleiter Alfred Eduard Frauenfeld, „für den lieben mit.“45 Das ganze Horst-Wessel-Lied drückt eine Empfang, den Sie mir hier bereitet haben.“ Es sei nihilistische Haltung im Sinn Nietzsches aus, eine „unerhörte Freude“, an der „deutschesten der mit Nihilismus den „Willen zum Nichts“, Stelle des Ostens“, wo Hitlers „Lebenskampf als eine Entwertung des Lebens im Namen höherer einfacher Handarbeiter“ begonnen habe, betonen Werte bezeichnete.46 Der Spielfilm Morgenrot, zu können, dass der Führer stolz auf seine Heimat bei dem der Österreicher Gustav Ucicky Regie sei, die „zu ihm und seiner Bewegung, zur Idee geführt hatte, war ebenfalls eine Ausgeburt dieser des Völkerfriedens, zur Idee der nationalen Mentalität.47 Als er am 2. Februar 1933 im Berliner Wohlfahrt, zur Idee der Freiheit und Reinheit des Ufa-Palast am Zoo aufgeführt wurde, nachdem die Volkslebens“ stehe. Premiere zwei Tage vorher in Essen stattgefunden hatte, saß der neue Reichskanzler, flankiert von DiekurzeAnspracheerntetgroßenBeifall, Heilrufe, seinen Koalitionären Alfred Hugenberg und erhobene Arme; Demonstranten, hauptsächlich Franz von Papen, im ersten Rang. „Morgenrot, junge Männer, singen das Morgenrot, leuchtest mir zum frühen Tod“, sang und werden von Polizisten mit Pferden und der Henker, der Dritten Walpurgisnacht zufolge, Schlagstöcken durch die Straßen geschoben; im deutschen Konzentrationslager. (DW 213) Bajonette erscheinen in Naheinstellungen; einer, Dass Kraus dabei nicht nur an Wilhelm Hauffs der wie Ludwig Wittgenstein aussieht, wird Gedicht Reiters Morgengesang dachte, das in abgeführt. Dann schwenkt die Kamera auf einen Friedrich Silchers Vertonung zu einem bekannten Aufmarsch der paramilitärischen Heimwehr, Soldatenlied geworden war, sondern auch an den und der Sprecher erläutert: „Der Weg der symbolträchtigen Film, wo es im Titel zitiert Unterdrückung und Verbote ist gefährlich, wenn und am Schluss gespielt wurde, lässt eine andere man die Mehrzahl des Volkes gegen sich und als Textstelle vermuten, die lautet: „[...] das Mene Gegner eine Bewegung hat, deren innere Kraft Thekel Upharsin, welches jenes letzte Ende alles überrennt, was sich ihr in den Weg stellt.“ verkündet, ist ein Film der Metufa.“ (DW 129f.) Mit dem Nebensatz wechselt das Bild, in das nun Über die Kreuzung aus dem Wort Metapher von rechts SA-Truppen mit Hakenkreuzfahnen und dem Kürzel der deutschen „Universum marschieren, streng geordnet an Hitler vorbei, Film AG“, die zu Hugenbergs Medienkonzern der die Parade mit zusammengeschlagenen gehörte, wird noch zu reden sein. Fragen wir Stiefeln und ausgestrecktem Arm abnimmt. Die uns zunächst, weshalb M orgenrot, vom Namen letzten Szenen des Films zeigen Ausschnitte der und Erscheinungstermin abgesehen, ein Unheil Parteiveranstaltung in der Engelmann-Arena. kündendes Zeichen darstellte? „Wir aber deutsche Volksgenossen“, ruft ein Redner44 mit hoher, aggressiver Stimme, „wir Die Geschichte spielt im Jahr 1915. Kapitän-

44 Laut den Angaben des Deutschen Rundfunkarchivs 46 Vgl. Deleuze, Gilles: Nietzsche und die Philosophie. Übers, handelt es sich um Theo Habicht, dessen Stimme in der v. Bernd Schwibs. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt erwähnten Ansprache an das österreichische Volk allerdings 2002, S. 161. tiefer und anders gefärbt ist. Vgl. Habicht: Ansprache au f 47 Morgenrot, Ufa-Tonfilm 1933, BA-FA, Signatur M 10435. einer öffentlichen Kundgebung, DRA, Signatur 2844053. Vgl. Leiser, Erwin: „Deutschland, erwache!“Propaganda 45 Zit. nach Roth, Alfred: Das nationalsozialistische im Film des Dritten Reichs. Reinbek bei Hamburg: Massenlied. Untersuchungen zur Genese, Ideologie und Rowohlt 1968, S. 19f. sowie Courtade, Francis / Cadars, Funktion. Würzburg: Königshausen & Neumann 1993 (= Pierre: Geschichte des Films im Dritten Reich. Übers, v. Epistemata: Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 112), S. 105. Florian Hopf. München: Heyne 1977, S. 116-120.

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leutnant Liers, den der österreichische Schau­ V. spieler Rudolf Forster gab, ist ein erfahrener U-Boot-Kommandant, der Meerskirchen, seine Was sagt uns der Begriff „Metufa“ {DW 130), Heimatstadt, verlassen muss, um hinter den davon abgesehen, dass er sich auf den besprochenen feindlichen Linien einen britischen Kreuzer Spielfilm M orgenrot beziehen lässt? Sein Gerüst zu versenken. Der Abschied fällt allen schwer, bildet das Wort „Metapher“, das auf das besonders seiner Mutter, die nicht noch einen Sohn griechische Verb „metapherein“ zurückgeht und im Krieg verlieren will. Die Mannschaft hingegen „Übertragung“ bedeutet. Übertragen wird bei der sticht erwartungsvoll in See und erfüllt ihre Mission Metapher der Sinn eines Ausdrucks: Wenn Rudolf schon nach kurzer Zeit. Auf der Heimfahrt gerät Forster in der Rolle des U-Boot-Kommandanten das U-Boot aber in einen Hinterhalt, da sich ein Liers behauptet, es freue ihn, gemeinsam mit seiner Schiff der englischen Flotte als neutraler Segler Mannschaft „rübermarschieren“ zu können, dann tarnt - es wird von einem Zerstörer gerammt und ersetzt er die Vorstellung, dass zehn Menschen sinkt, schwer beschädigt, in die Meerestiefe. Zehn ersticken oder ertrinken werden, durch das Bild Männer retten sich in einen wasserdichten Raum einer Gruppe von Soldaten, die aufrecht und und finden dort acht Atemschutzgeräte vor. Für pflichtbewusst eine Grenze überqueren, Neuland den pflichtbewussten Kommandanten ist klar, betreten, das der Eroberung harrt. Indem Kraus dass er und sein Oberleutnant Fredericks, den den hinteren Teil des Worts gegen das klanglich alle Fips nennen, Zurückbleiben, damit der Rest passende Kürzel der „Universum Film AG“ überleben kann. Die Mannschaft weigert sich austauscht, formt er eine Kontamination, die zwei jedoch, das Opfer anzunehmen, und erklärt, mit Schlüsse nahelegt, nämlich erstens, dass die Ufa ihren Führern untergehen zu wollen. „Alle oder diese Methode der symbolischen Verschiebung keiner!“ Als Liers sich an Fredericks wendet, um gezielt anwendet, und dass sie zweitens selbst die die Lage zu besprechen, sagt dieser, er „könnte Metapher eines Systems darstellt, was rhetorisch zehn Tode sterben für Deutschland, hundert“, ungenau ist, denn im Grunde handelt es sich um worauf der Kapitän ergänzt: „Ich danke euch eine metonymische Beziehung - das deutsche allen, und es freut mich, mit euch zusammen Filmunternehmen steht für die Massenmedien rübermarschieren zu können. Zu leben verstehen insgesamt. wir Deutsche vielleicht schlecht, aber sterben können wir jedenfalls fabelhaft.“ Es kommt dann Damit kehren wir an den Beginn der Untersuchung nicht zum gemeinsamen Heldentod, weil sich zurück, das heißt zum Krausschen Verständnis Fips - der erfahren hat, dass sein großer Schwarm, von Medien als Ausweitungen der menschlichen die Tochter des Bürgermeisters, nicht ihn, Sinnesorgane, denen die gesellschaftliche Aufgabe sondern Liers liebt - und ein einzelgängerischer zukommt, Wahrnehmungen unverfälscht zu Matrose vorher selbst erschießen. Die übrigen übermitteln. In Wirklichkeit aber verzahnen Männer gelangen mithilfe der Tauchretter an die sich Medium und Metapher, da während der Wasseroberfläche und werden geborgen. Vermittlung Übertragungen stattfinden, die schwerwiegende Folgen zeitigen würden: Mit einem Wort, das „letzte Ende“, das M orgenrot verkündet, ist der Krieg und also der Tod. Es Denn der Nationalsozialismus hat die Presse ist jenes „nichts“, das Kraus zu Hitler einfällt, nicht vernichtet, sondern die Presse hat den nämlich „Vernichtung“ als politisches Programm. Nationalsozialismus erschaffen. Scheinbar nur {DW 12/23) Man denkt dabei zu Recht an die als Reaktion, in Wahrheit auch als Fortsetzung. Opfer der Nationalsozialisten, vor allem an die Jenseits aller Frage, mit welchem Humbug Juden; es sollte aber nicht übersehen werden, dass sie die Masse nähren - sie sind Journalisten. die programmatische Geringschätzung des Lebens Sie sind Leitartikler, die mit Blut schreiben. auch für die Täter galt. Deutsche Soldaten waren Ja, Feuilletonisten der Tat. Sie haben die nach dieser Gesinnung berufen, für das Vaterland Höhle bezogen, als die das gedruckte Wort zu sterben, und wer den Kampf überlebte, hatte der Altvordern die Phantasie der Menschheit seine Pflicht nicht voll erfüllt. Der Tod ist in hinterlassen hat, und daß sie des Zierats M orgenrot kein Sturz in den Abgrund, sondern entbehren oder ihn nicht nachstümpern eine sanfte Umarmung, eine Heimholung oder, können, ist ihr kultureller Vorsprung. {DW wie Liers meint, „das einzige Erlebnis im Leben“. 307f.)

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Was Kraus den Journalisten vorwirft, ist ihr lobten; und die Kinos brachten, abgesehen von Unvermögen zur strengen Benennung der Spielfilmen, „Dokumentationen“ der NSDAP, Realität, ihren Hang, künstlerische Mittel deutschnationale und austrofaschistische Wochen­ im Nachrichtengeschäft zu missbrauchen. schauen, aber keine Filme, die wahrheitsgetreu Darum liegt der hypertrophen Anklage, dass vermittelten, was im Nachbarland vor sich ging.49 die Presse „den Nationalsozialismus erschaffen“ Dass es trotzdem möglich war, sich schon im Jahr habe, der kryptische Befund zugrunde, die 1933, und zwar von Wien aus, ein adäquates Bild Nationalsozialisten hätten „die Höhle bezogen, vom verbrecherischen, ja bestialischen Charakter als die das gedruckte Wort der Altvordern die der NS-Herrschaft zu machen, das zeigt die Dritte Phantasie der Menschheit hinterlassen hat“ Walpurgisnacht auf eindringliche Weise. - ein Urteil, das McLuhans bekannte These, wonach das Medium die Botschaft sei,48 kritisch Gewiss, viele Menschen wollten es nicht vorwegnimmt. Denn für Kraus besteht die wahrnehmen, sahen und hörten weg, kümmerten wesentliche Gefahr der Medien, ungeachtet sich um den eigenen Kram. Folgt man der der Frage, „mit welchem Humbug sie die Krausschen Medienkritik, dann war die Masse Masse nähren“, in den Auswirkungen auf die jedoch nicht mehr imstande, sich ein autonomes Erkenntniskräfte der Leser, Urteil zu bilden, weil ihr Hörer und Betrachter. Es Was Kraus den Journalisten das Fundament, der Kitt geht ihm nicht primär um der Erkenntnisquellen, vorwirft, ist ihr Unvermögen die Inhalte, sondern um fehlten: In Kants die Art und Weise, wie die zur strengen Benennung Erkenntnislehre ist Inhalte vom Sender zum der Realität, ihren Hang, die Einbildungskraft Empfänger gelangen. Die insofern maßgeblich künstlerische Mittel im beiden journalistischen Typen an der Urteilsbildung der angeführten Passage, Nachrichtengeschäft zu beteiligt, als sie erstens die „Leitartikler“ und die missbrauchen. die „Apprehension“, „Feuilletonisten“, sind das die Zusammenfassung Gegenteil eines meldenden der Sinneseindrücke Boten: der eine kommentiert das Geschehen, zu einem Bild, zweitens die ,Assoziation“ als der andere umschreibt es - berichten will keiner. Wiedererweckung von Vorstellungen in der So trifft die Information nie ohne Interpretation Erinnerung und drittens die ,Apperzeption“, das beim Publikum ein, das nicht die Gelegenheit bewusste Erfassen eines Wahrnehmungsinhalts, erhält, die Ereignisse selbständig zu verarbeiten. verwirklicht - sie dient, vereinfacht gesagt, als Bindeglied zwischen Sinnlichkeit und Verstand, Wer 1933 in Wien über die faktischen Vorgänge den beiden Stämmen der Erkenntnis.50 Wenn in Deutschland Bescheid wissen wollte, man die Prämisse, wonach „das gedruckte Wort musste aus einem Meinungsmeer fischen. der Altvordern die Phantasie der Menschheit“ Während die bürgerliche Presse vor allem die ausgehöhlt habe (DW 308), auf diesem nationalsozialistischen Darstellungen wiedergab, epistemologischen Hintergrund sieht, lässt sich verringerten die sozialdemokratischen Zeitungen der Gedankengang von Kraus so verstehen, den Informationsgehalt ihrer Zeugenberichte, dass die Nationalsozialisten kein kollektives indem sie die erschütternden Schilderungen in Bewusstsein entwickeln, sondern nur eine Masse den parteipolitischen Kontext des Klassenkampfes von Menschen übernehmen mussten, die nicht stellten; im Radio waren außer unterhaltenden mehr fähig waren, selbst zu denken, weil die Programmen namentlich Propagandasendungen Öffentlichkeit seit Jahrzehnten von Zeitungen zu hören, die je nach gewählter Station das beherrscht wurde, die keine Tatsache ohne deutsche oder das österreichische Regime Meinung verbreiteten, also die Leser der Freiheit

48 Vgl. McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle. Univ. Diss. 2008, URL: http://othes.univie.ac.at/4638. „UnderstandingMedia“. Düsseldorf/Wien: Econ 1970, 50 Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft 1. Hg. v. S. 13-28. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974 49 Vgl. Ganahl, Simon: Ad oculos et aures. Presse, Radio und (= Werkausgabe, Bd. Ill), A 124f. Film in der Dritten Walpurgisnacht von Karl Kraus. Wien:

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beraubten, die übermittelten Sinnesdaten auf Dritten Walpurgisnacht den Namen „Abklärung“ eigene Begriffe zu bringen, was zur Verkümmerung trägt. (DW 671174) ihrer Imagination geführt habe. Es handelt sich um die Vollendung eines Projekts, das in der

Simon GANAHL (1981) In Bludenz geboren, studierte Kommunikationswissenschaft, Germanistik, Politikwissen­ schaft und Philosophie in Wien und Hamburg. Seine Diplomarbeit Ich gegen Babylon: Karl Kraus und die Presse im Fin de Siede ist 2006 als Monografie erschienen. Für die im Dezember 2008 vorgelegte Dissertation über die Dritte Walpurgisnacht von Karl Kraus wurde ihm ein DOC-Stipendium der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zuerkannt. Derzeit absolviert er einen Forschungsaufenthalt an der Universität Zürich.

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Zur Notwendigkeit einer (medial vermittelten) kollektiven Identität oder Erinnerungen an die Ent- und Eingrenzung des Burgenlandes

Eva Tamara Titz

• • sterreich und das Burgenland, verwurzelt Einbeziehen des diskursiven Kontexts, sprechen für Ö durch eine kurze Geschichte im Gegensatz eine kollektive Symbol-Generierung des Landes und zu anderen (Bundes-)Ländern, verbunden durch der Bevölkerung im Burgenland durch die Friedensverträge und zusammengeschweißt durch österreichische Öffentlichkeit. Als Quellen, die zahlreiche Ereignisse und Kämpfe, werfen heute über die laufenden Ereignisse berichtet, war noch Fragen und Diskussionsansätze über die das Printmedium „Neue Freie Presse* jedoch vergangene und aktuelle Betrachtung des Landes zuverlässig. Somit entstand eine Symbiose aus Burgenland durch die Medien auf. Realität und Konstrukt des Burgenlandes, deren Auch wenn die vorliegende Untersuchung im sich die Leser/innen in Österreich bedienen Laufe des Diskurses von der Burgenland- zu konnten. einer Österreichfrage hinausgewachsen ist, steht doch die Beschreibung und Wahrnehmung Die Entstehungsgeschichte des der Burgenländer/innen im Mittelpunkt des Burgenlandes als diskursiver Forschungsinteresses. In der Untersuchung (dieTeil Kontext einer Diplomarbeit ist), die dem Artikel zugrunde liegt, wird die Bewegung der österreichischen „Grenzlanddiskurse sind starken nationalis­ Öffentlichkeit aufgrund der Burgenlandfrage tischen Instrumentalisierungen und ideolo­ erforscht. Die direkte Überprüfung erfolgt in gischen Auf-ladungen ausgesetzt und wirken dieser Untersuchung durch die Diskursanalyse. als heroisierender Streit und (gelegentlich) ab militärisches Konfliktpotenzial fort. Dies ist im 20. Jahrhundert mehrmals zur europäischen Um den Kontext der Situation und der Lebenswelt Gewissheit geworden. ‘3 nach 1918 in Westungarn für eine angemessene Analyse besser erfassen zu können, soll nicht nur Der von Woodrow Wilson, Präsident der ein Überblick über die Entstehung des Landes, Vereinigten Staaten, am 8. Jänner 1918 pro­ sondern auch das Kollektiv „Burgenländer/in“ klamierte Vierzehn-Punkte-Plan für einen im Hinblick auf zeitgenössische Identität(en) gerechten Weltfrieden enthielt zwar keine behandelt werden. eindeutige Aussage über die Burgenlandfrage, Wer waren die Deutschwestungarn, die laut der in Punkt Zehn wurde jedoch auch das Friedensverträge von Saint-Germain und Trianon Selbstbestimmungsrecht der Länder Österreich- mit dem 29. August 1921 neue Bundesmitglieder Ungarns aufgegriffen: „Den Völkern werden sollten? Die mediale Realität der Österreich-Ungarns, deren Platz unter den Burgenlandfrage wurde mittels Kritischer Nationen wir geschützt und gesichert zu sehen Diskursanalyse1, kombiniert mit Elementen wünschen, sollte die freieste Gelegenheit zu einer Historischen Diskursanalyse, in der „Neuen autonomer Entwicklung zugestanden werden.“4 Freien Presse‘ untersucht. Die Ergebnisse der Ein Selbstbestimmungsrecht für ungarische Diskursanalyse2, die ein breites Spektrum von Minderheiten enthielt auch das des ungarischen Forschungsbereichen abdeckt, wie etwa das Nationalrats (konstituiert unter dem links-

1 Jäger, Siegfried: Kritische Diskursanalyse. Eine Republik. Österreichischer Zeitgeschichtetag 1995; Einführung. Münster 2004. 22.-24. Mai 1995 in Linz. Innsbruck, Wien 1997, 2 Haslinger, Peter: Diskurs, Sprache, Zeit, Identität. Plädoyer S. 182f. fü r eine erweiterte Diskursgeschichte. In: Eder, Franz X. 4 Wilson, Woodrow: Friedensbotschaft des Präsidenten (Hg.): Historische Diskursanalysen. Genealogie, Theorie, Wibon. Transkript: 14-Punkte-Programm von US- Anwendungen. Wiesbaden 2006, S. 27-50. Präsident Woodrow Wibon. In: http://www.dhm.de/lemo/ 3 Widder, Roland: Burgenland. Beobachtungen zur html/dokumente/l4punkte/index.html, 8. Jänner 1918 Selbsterzeugung eines Landes. In: Ardelt, Rudolf G. / (28.6.2010). Gerbel, Christian (Hg.): Österreich - 50 Jahre Zweite

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liberalen Großgrundbesitzer Graf Mihäly Kärolyi der Bevölkerung, beeinflusst von prägenden am 25. Oktober), veröffentlichte Zwölf-Punkte- Ereignissen in Ungarn zwischen den Jahren 1918 Programm. Gefordert wurden u. a. ein unabhängiges und 1921, oft zwischen den beiden Optionen Ungarn mit den alten Grenzen der Stephanskrone Österreich und Ungarn wechselte.8 und die Autonomie der nichtmagyarischen Der Wunsch nach Selbstständigkeit der späteren Nationalitäten.5 Doch das in beiden Programmen Burgenländer in der ungarischen Nation wurde verankerte Selbstbestimmungsrecht war für die noch von der Regierung Kärolyi erfüllt: Im Deutschwestungarn nicht greifbar, denn die Volksgesetz VI sprach man den Westungarn eine Kämpfe um das heutige Gebiet des Burgenlandes Kultur- und Verwaltungsautonomie zu.9 Unter sollten länger anhalten, wobei die Bevölkerung der Räteregierung wurde im April 1919 sogar oftmals nur Spielball der provisorischen öster­ ein Gaurat bzw. „Freistaat“ in 309 deutschen reichischen und ständig wechselnden ungarischen Gemeinden10 der Komitate Pressburg, Wieselburg, Regierung werden sollte. Ödenburg und Eisenburg geschaffen, der oberste Die Frage der Nationalität war ein weiteres zentrales Exekutivgewalt besaß - jedoch nur auf dem Papier, Problem, mit dem sich die künftigen Burgenländer denn politische Turbulenzen und die mangelnde Ende Oktober 1918 neben wirtschaftlichen und Bereitschaft ungarischer Behörden waren seiner sozialen Schwierigkeiten konfrontiert sahen. Nicht Etablierung nur wenig förderlich. zum ersten Mal wurde Westungarn als Land der Am 1. Jänner aber wurde Pressburg von den fragwürdigen Zugehörigkeit und der politischen Tschechen besetzt.11 Verhandlungen zu einem Brennpunkt. Bereits beim Umbruch zur Donau-Monarchie wurde das Das Interesse Österreichs am zu 3/4 deutschsprachige Westungarn durch das Vierburgenland ungarische Bürgertum und die dörflichen Eliten in Westungarn zum öffentlichen Thema.6 Die Hoffnungen auf ein autonomes Deutsch­ westungarn waren schnell als unrealistisch Das Interesse Deutschwest­ erkannt. Die Bevölkerung setzte nun auf den ungarns an einer autonomen österreichischen Staatskanzler Dr. , Staatsform der sich um die Gewinnung des Vierburgenlandes während der Friedensverhandlungen bemühte. Konkrete Bestrebungen in der Burgenlandfrage Ihm gelang es auch, die Zustimmung der seitens Westungarns gab es zwischenzeitlich Entente, der Sieger des Ersten Weltkrieges, zur Anfang November 1918 durch die Gründung Angliederung Deutschwestungarns an Österreich des „Deutsch-ungarischen Volksrats“ durch zu erhalten, festgehalten in den Verträgen von St. Jakob Bleyer, Professor an der Universität Germain im Jahr 1919 und Trianon im darauf Budapest.7 Bleyer hatte bereits im Jahr 1917 folgenden Jahr.12 mit kulturpolitischen Zeitungsartikeln eine Verständnisbrücke zwischen Magyaren und In der Sitzung der Provisorischen National­ Deutschen angestrebt. Die Forderung des Vereins versammlung vom 30. Oktober 1918 wurden war zunächst Autonomie innerhalb Ungarns, diese Forderungen durch den deutschnationalen nach der Versammlung im Dezember trat der Abgeordneten Dr. Alois Heilinger, einem Rat jedoch bereits für einen „Freistaat“ mit der gebürtigen Wiener, präzisiert. In den folgenden Option auf Anschluss an Deutschösterreich ein. Tagen erarbeitete der Staatsrat, der zu dieser Zeit Ende des Jahres 1918 konnte man die die Regierungsgewalt inne hatte, die Grenzen eines proösterreichischen Stimmen in Westungarn zukünftigen Deutschösterreichs, die Umrisse des deutlich vernehmen, auch wenn die Gesinnung Gebietes Westungarns mit den „Gespanschaften“

5 Schlag, Gerald: Aus Trümmern geboren... Burgenland 1918- Angliederung an Österreich vor 40 Jahren im Lichte teilweise 1921. Wissenschaftliche Arbeiten aus dem Burgenland unbekannten Materials. Burgenländische Forschungen. (WAB) Band 106. Eisenstadt 2001, S. 14. Heft 44. Eisenstadt 1961, S. 15. 6 Widder, Roland: 90 Jahre Republik - und das Burgenland 9 Vgl. ebd., S. 32f. dabei!In: Karner, Stefan / Mikoletzky, Lorenz (Hg.): 10 Vgl. ebd., S. 19. Österreich. 90 Jahre Republik. Beitragsband der Ausstellung 11 Vgl. Widder, 90 Jahre Republik - und das Burgenland im Parlament. Innsbruck, Wien, Bozen 2008, S. 182. dabei!, S. 183. 7 Vgl. Schlag, Aus Trümmern geboren... Burgenland 1918- 12 Vgl. Guglia, Das Werden des Burgenlandes. Seine 1921, S. 102. Angliederung an Österreich vor 40 Jahren im Lichte teilweise 8 Vgl. Guglia, Otto: Das Werden des Burgenlandes. Seine unbekannten Materials, S. 23 ff.

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Pressburg, Wieselburg, Ödenburg und Eisenburg nie zuvor.“19 Truppenlos und somit unfähig eine (auch Pozsony, Moson, Sopron und Vas).13 Lösung zu finden, um die Freischärler aus dem Die Antwort Ungarns auf dieses Vorhaben Gebiet zu vertreiben, nahmen die Alliierten übermittelte die „Grenzpost“, eine deutsch­ das Angebot Italiens als Vermittler an. Am 11. sprachige Zeitung mit Sitz in Ödenburg, mit bzw. Oktober 1921 begannen auf Einladung des unter Schlagzeilen wie „ Österreich will Westungarn italienischen Außenministers Marchese Deila annektierenf“14 15 oder „Der österreichische Staatsrat Toretta die Verhandlungen in Venedig. Österreich fordert die Einverleibung Westungarns^. wurde von Bundeskanzler Johann Schober vertreten, Ministerpräsident Istvan Bethlen Die Eingliederung des Burgen­ und Außenminister Miklos Banffy waren für landes in die Republik Österreich die Ungarn anwesend. Am 13. Oktober wurde das Protokoll unterzeichnet, das Ungarn dazu Am 27. August 1921 sollte die Landnahme verpflichtete, das Grenzgebiet von den Freischärlern erfolgen, formell schienen sich die Ungarn zu befreien. Im Gegenzug akzeptierte Österreich auch daran zu halten, da sie an diesem Tag die eine Volksabstimmung in Ödenburg und in acht Zivilbehörden und die Garnison Ödenburg benachbarten Gemeinden, die zugunsten Ungarns verlassen hatten. Doch bereits einen Tag später - die zur Wahl in Abstimmungsgebiet stationiert besetzten Freischärlerbanden das Gebiet, das waren - ausfiel.20 Nichts desto trotz war Ödenburg Österreich zugesprochen worden war, und Major nach Bundesgesetz bis zum 7. April 1922 die Ostenburg übernahm mit Polizeikräften das Hauptstadt des Burgenlandes. Am 30. April 1923 Stadtkommando Ödenburgs.16 wurde Eisenstadt durch einen Landtagsbeschluss zum „Sitz der Landesregierung“, und erst Von Österreich wurdey wie in der Burgenland­ 1981 in der Landesverfassung mit dem Begriff frage stets, die Auffassung vertreten, daß durch „Landeshauptstadt“ an verfassungsrechtlich den Friedensvertrag von St-Germain bzw. bedeutender Stelle angeführt. Die Binnenstruktur durch den bevorstehenden Friedensvertrag von des Burgenlandes in Form der sieben Bezirke ist Trianon die Burgenlandfrage entschieden sei an die ungarische Form der Oberstuhlrichterämter und nur die Durchführung der Übergabe des angelehnt.21 Landes Gegenstand von Verhandlungen sein könne.17 Burgenländische Landesidentität Die ungarische Regierung war ihren eigenen als diskursiver Kontext Aussagen zufolge gegen die Freischärler machtlos, in einer Note vom 30. August 1921 Im Zuge der Neuordnung Europas nach dem Ersten Weltkrieg wurde das Burgenland ge­ an Bundeskanzler Schober beteuerte man wissermaßen „erfunden “ als der überwiegend Bedauern und Unschuld an den Vorfällen. Doch deutschsprachige westungarische Grenzstreifen Ministerpräsident Bethlen und Außenminister aus dem ungarischen Staatsverband heraus­ Bänfify schienen sich bereits auf den Verbleib gelöst und als eigenständiges österreichisches Ödenburgs bei Ungarn festgelegt zu haben, zumal Bundesland konstituiert wurde.22 sie von der Entente ohnehin nicht zur schnellen Lösung der Burgenlandfrage gedrängt wurden.18 Vor 1918 konnten sich im Burgenland durch das Fehlen einer ungarischen Zentralverwaltung „Ende September 1921 war Österreichs vor allem lokale Identitäten entfalten. Doch „das Situation in der Burgenlandfrage so düster wie Burgenland ist anders. Hier hat sich mehr Vielfalt

13 Vgl. Schlag, Aus Trümmern geboren... Burgenland 1918- 20 Vgl. Schlag, Aus Trümmern geboren... Burgenland 1918- 1921, S. 106. 1921, S. 439ff. und Widder, 90 Jahre Republik - und das 14 Grenzpost, Sopron 17. 11. 1918, S .l; zit. n. Schlag, Aus Burgenland dabei!, 8. 185. Trümmern geboren... Burgenland 1918-1921, S. 110. 21 Vgl. Widder, 90 Jahre Republik - und das Burgenland 15 Grenzpost, Sopron 20. 11. 1918, S .l; zit. n. Schlag, Aus dabei!, S. 187ff. Trümmern geboren... Burgenland 1918-1921, S. 110. 22 Perschy, Jakob: Der freie Arbeitsbauer und das Burgenland. 16 Vgl. Guglia, Das Werden des Burgenlandes. Seine Ein kleiner Beitrag zur Rezeptionsgeschichte unseres Angliederung an Österreich vor 40 Jahren im Lichte teilweise Bundeslandes in der Zwischenkriegszeit. In: Gürtler, unbekannten Materials, S. 25. Wolfgang / Winkler, Gerhard J. (Hg.): Forscher - Gestalter 17 Ebd., S. 39. — Vermittler. Festschrift Gerald Schlag. Wissenschaftliche 18 Vgl. Schlag, Aus Trümmern geboren... Burgenland 1918- Arbeiten aus dem Burgenland 105. Eisenstadt 2001, 1921, S. 408 ff. S. 324. 19 Ebd., S. 439.

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erhalten als in anderen Teilen Österreichs.“23 haben, und die Tatsache, dass es zwischen diesen Die dadurch unabhängige wirtschaftliche und „keine nennenswerte Reibereien“ gab und gibt.27 konfessionelle Autonomie bewirkte eine starke Bencsics verweist in diesem Zusammenhang auf institutionelle und emotionale Bindung an die ein Eigen- und Fremdbild jeder Volksgruppe jeweilige Heimatgemeinde. Im heutigen Gebiet im Burgenland, das zwischen den Deutschen, des Burgenlandes gab es bis 1918 nicht einmal Kroaten und Ungarn „prozessartig aus dem das allgemeine (Männer-)Wahlrecht. An der Leben entstanden“ ist. Dieser Aspekt verstärkt Politik nahm die bäuerliche Bevölkerung kaum das Wachstum der „village ethnicity“, kann man teil, und auch die Nationalitätenkonflikte des 19. heute noch „eigene Charakterzüge in Kultur, Jahrhunderts fanden in Westungarn kaum Anklang. Sprache, Volksleben, Mentalität innerhalb der Doch nach 1918 begannen die Deutschwestungarn Volksgruppe erkennen, aber nicht unversöhnlich einen nationalen Emanzipationsprozess, der gegensätzliche.“ in einer deutschnationalen und liberalen Um ein kollektives Landesbewusstsein zu Grundstimmung spürbar wurde.24 generieren, wird das Rad vom Eigenen und Die lokalen Identitäten, geprägt durch religiöse, Fremden weiter gesponnen. Den Burgenländer/ sprachliche und soziale Merkmale, formten eine innen war es zunächst wichtig, von Ungarn Art „village ethnicity“. Das Nachbardorf konnte gelöst zu sein. Als Teil der Österreichischen bereits eine fremde Welt sein. Doch nach 1921 Nation fühlte man sich noch nicht, „deutsch“ änderte sich alles: Die jetzt wahlberechtigte jedoch schon.28 Den Entwurf einer kollektiven Bevölkerung konnte am politischen Geschehen Landesidentität entwirft Haslinger aus den partizipieren.25 Debatten vom Landtag und der Presse, die stark auf einer Abgrenzungsdarstellung gegenüber den Floiger betont in seinem Beitrag zum Anderen basiert: burgenländischen Landesbewusstsein, dass es den Burgenländern als einzige Landesgruppe in So steht das Burgenländisch-Deutsche fiir Österreich an einer Landesideologie fehle, um Selbstbestimmung, Fortschritt und Kultur, welche meist ein Landesbewusstsein aufgebaut Demokratie, Toleranz [....] während das sei. Er spricht von den Burgenländern als einem „Magyarische“ gleichbedeutend mit politischer Haufen Mosaiksteinen, „deren Landesbewußtsein Fremdbestimmung, wirtschaftlicher Stagnati­ on, kultureller Gleichschaltung und exekutiver eher aus der Tiefe des Bauches kommt, ein Brachialgewalt, erschien. [..] Die Argumente undifferenziertes Wir-Gefühl beinhaltet“.26 um die Frage „ Was ist anders an den anderen?“ Floiger ist überzeugt, dass sehr wohl ein sind daher nicht vorrangig durch ein Bemühen Landesbewusstsein im Burgenland vorhanden um Subjektivität gekennzeichnet, sondern sei bzw. bereits vor 1921 wäre. Es handelt eher durch eine stark selektive, vorrangig den sich um ein höchst komplexes Thema, da ein eigenen Identitätsbedürftiissen dienende Art kleiner gemeinsamer Nenner erst gefunden der Wahrnehmung.29 werden muss. Eine leichtere Annäherung an ein burgenländisches Landesbewusstsein erlangt Das Thema Auswanderung ist für die Burgenländer man bei der Frage, was dieses, im Vergleich zu ebenfalls äußerst identitätsstiftend, in den Jahren den Entwicklungen in anderen Bundesländern, zwischen 1921 und 1935 emigrierten etwa nicht ist. Ein wesentliches Merkmal sind im 22.500 Einwohner des Burgenlandes wegen der Burgenland die Volksgruppen, die sich im Laufe prekären Arbeitsmarktsituation nach Ubersee.30 der Geschichte in diesem Land herauskristallisiert Auch die spezifische Erbteilungstradition,

23 Baumgartner, Gerhard / Müllner, Eva / Münz, Rainer: 26 Vgl. Floiger, Gibt es ein burgenländisches Landebewußtsein?, Vielfalt als Erbe — multikulturelle Gesellschaft als Ziel. S. 16ff. Ein Vorwort zu diesem Buch. In: Baumgartner, Gerhard / 27 Vgl. Bencsics, Nikolaus: Die Nachbarn aus der Sicht der Müllner, Eva / Münz, Rainer (Hg.): Identität und burgenländischen Kroaten - ein Mikrokosmos für sich. In: Lebenswelt. Ethnische, religiöse und kulturelle Vielfalt im Internationales kulturhistorisches Symposion Mogersdorf Burgenland. Burgenländischer Forschungstag. Eisenstadt 1996. Band 26. Szombathely 1996, S. 46. 1988, S. 1. 28 Vgl. Haslinger, Peter: Das „Fremde“ und sein Stellenwert fiir 24 Vgl. Floiger, Michael: Gibt es ein burgenländisches die Definition von Identität - das Beispiel der Landebewußtsein? In: Baumgartner, Gerhard / Müllner, Ungarnrezeption im Burgenland der Zwischenkriegszeit Eva / Münz, Rainer (Hg.): Identität und Lebenswelt. (1921-1938).men 1996, S. 151. Ethnische, religiöse und kulturelle Vielfalt im Burgenland. 29 Ebd., 152. Burgenländischer Forschungstag. Eisenstadt 1988, S. 21. 30 Dujmovits, Walter: Die Amerika-Wanderung der 25 Vgl. Baumgarnter / Müllner / Münz, Vielfalt als Erbe Burgenländer. Stegersbach 1975; zit. n. Widder, Aus — multikulturelle Gesellschaft als Ziel, S. 3. Trümmern geboren... Burgenland 1918-1921, S. 189.

2 0 m & Z 3/2010 die kleinteilige Besitzverhältnisse förderte, Die Ausschaltung der sozial-demokratischen trieb die Auswanderungswellen an. „Die Presse und die Einrichtung des Ständestaates schon in ungarischer Zeit traditionell hohe brachten im wesentlichen ein Ende der Diskus­ Wanderungsbereitschaft war auch nach sion um die charakteristischen Bestimmungsele­ dem Anschluss an Österreich wirtschaftlich mente des „Fremdbildes Ungar“.35 notwendig.“31 Noch heute i------Das Burgenland behielt heißt es, die zwei größten Die Ausschaltung der jedoch in seiner Landes­ Städte des Burgenlandes seien sozialdemokratischen Presse identität ungarische (v.a. Chicago und Wien. und die Einrichtung des kirchenrechtliche) Struk­ turen bei. Aufgrund seiner Identität und Ständestaates brachten Medien im Austro­ Lage als Grenzland spielt faschismus im wesentlichen ein sowohl die Zeit vor als Ende der Diskussion um auch nach dem Eisernen Vorhang eine Rolle für Haslinger filtert aus dem die charakteristischen das Landesbewusstsein. Quellmaterial der Protokolle Bestimmungselemente des des Burgenländischen Landtags und der parteigebundenen „Fremdbildes Ungar" Wochenpresse {„Der Freie Burgenländer", „Burgenländische Freiheit“, Theoretische Ansätze für die christlich-soziale „Burgenländische Heimat'), „die methodische Durchführung die Medienlandschaft des Burgenlandes in der Die Theorie des Symbolischen Inter-aktionismus Zwischenkriegszeit wesentlich mitbestimmte“, zwei Methoden der Abgrenzung zum ehemaligen (TSI) dient der wissenschaftlichen Erforschung menschlichen Zusammenlebens und menschlichen Heimatstaat heraus:32 Er führt zum einen das Desinteresse der Burgenländer für Ungarn im Verhaltens.36 George Herbert Mead erkennt das Potenzial Landtag und in der Presse an, zum anderen menschlicher Handlungsweisen für die die „stark selektive Berichterstattung und die Überbetonung negativer Erscheinungen in Wissenschaft und erweitert sein Unter­ suchungsgebiet, indem er durch miteinander in Ungarn“ an. Ungarn wird von der öffentlichen Kommunikation des Burgenlandes de facto Beziehung stehende Handelnde auf das ausgeschlossen. gesamtgesellschaftliche Gefüge Bezug nimmt.37 Die TSI hat die symbolische Umwelt, die beim DochauchmitdererfolgreichenEingliederunggibt In-Beziehung-Treten von Menschen entsteht, als es aufgrund von wirtschaftlichen und finanziellen Schwierigkeiten in der neuen Republik Probleme. Ausgangspunkt.38 Die signifikanten Symbole repräsentieren gewissermaßen das Verhältnis Landeshauptmannstellvertreter Ludwig Leser sah im Jahr 1926 „die Verschmelzung mit Österreich Mensch-Umwelt, sie stehen für das jeweilige Individuum, dessen Interaktionen und die als auf halbem Wege steckengeblieben.“33 subjektive Wirklichkeit, basierend auf dessen Ab 1930 kam es zunehmend zu Veränderungen in der medialen Berichterstattung: Wien möchte aus Erfahrungen.39 wirtschafts-politischen Aspekten die Beziehung Wichtig für die Untersuchung ist der Ansatz, zwischen dem Burgenland und Ungarn verbessern. dass sich die Identität als ein Objekt unter gesellschaftlichen Voraussetzungen entwickelt.40 Die negativen Bilder von Ungran lockern sich im Eine weitere Voraussetzung ist die Beeinflussung Laufe der Zeit und Annäherung auf.34 des gesellschaftlichen Prozesses und somit auch

31 Widder, 90 Jahre Republik — und das Burgenland dabei!, Hamburg 1973, S. 130f. S. 189. 37 Vgl. Helle, Horst Jürgen: Theorie der Symbolischen 32 Vgl. Haslinger, Das „Fremde“ und sein Stellenwert Jur die Interaktion. Ein Beitrag zum Verstehenden Ansatz in Definition von Identität — das Beispiel der Ungarnrezeption Soziologie und Sozialpsychologie. Wiesbaden 2001, S. 49. im Burgenland der Zwischenkriegszeit (1921-1938), S. 146. 38 Vgl. ebd., S. 73. 33 Ebd., 151. 39 Vgl. Burkart, Roland: Kommunikationswissenschaft. 34 Vgl. ebd., 152f. Grundlagen und Problemfelder. Umrisse einer 35 Ebd., 153. interdisziplinären Sozialwissenschaft. Wien, Köln, Weimar 36 Vgl. Blumer, Herbert: Der methodologische Standort 2002, S. 54f. des Symbolischen Interaktionismus. In: Arbeitsgruppe 40 Vgl. Mead, George Herbert: Geist, Identität und Bielefelder Soziologen (Hg.): Alltagswissen, Interaktion Gesellschaft: aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. Frankfurt und gesellschaftliche Wirklichkeit 1. Symbolischer am Main 1973, S. 194. Interaktionismus und Ethnomethodologie. Reinbek bei

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das Bestehen einer Gruppe. Der Prozess muss in Untersuchung der medialen einer komplizierten Organisation funktionieren, Präsenz des Burgenlandes im die durch eine Identität entstanden ist und die Anschlussjahr weitere Organe geprägt von Identitäten entstehen lässt. Durch die Entwicklung von Identitäten in Das Untersuchungsobjekt stellt die Tageszeitung einem gesellschaftlichen Prozess finden Evolution „Neue Freie Presse“ dar, die dank ranghöher und Organisation statt. Der Begriff der Identität Journalisten bereits um 1900 als literarische bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Lektüre hervorstach.44 Die Tageszeitung war mit Übermittlung von Gesten in das Verhalten dem Beginn des Liberalismus in den sechziger des Individuums hineingenommen wird. Jahren des 19. Jahrhunderts die einzige von Geschieht dies, kann es auch eine Organisation internationaler Bedeutung.45 „Für das Bürgertum beeinflussen.41 der Jahrhundertwende war die Neue Freie Presse damit ein Fenster nach Europa“ und „das zentrale Der Ansatz von Blumer zur TSI geht davon Kommunikationsmedium. Das Lesen der liberalen aus, dass die menschliche Gesellschaft als Zeitung wird als nahezu sakrale Handlung Zusammenfassung von Personen verstanden wird, geschildert, die den Leser von der provinziellen die am Leben teilnehmen.42 Das Leben ist dem Umgebung abhebt.“46 Die Tageszeitung war auch folgend ein fortlaufender Prozess, der Aktivitäten im eigenen Selbstverständnis eine europäische, die fördert und dadurch Handlungslinien entwickelt. Hauptleserschaft stellte das liberale Bürgertum Die sich bildenden Objekte (signifikante Symbole) dar. werden durch menschliche Interaktion generiert Die erste Ausgabe der „Neuen Freien Presse“ und konstruiert, aber auch abgeschwächt und erschien am 1. September 1864. Herausgeber umgeformt. Dass nicht alle Objekte überall und gleichzeitig Eigentümer waren die gleich verstanden werden, ist auf die Tatsache Journalisten Max Friedländer und Michael zurückzuführen, dass Menschen verschiedenen Etienne, die zuvor unter August Zang bei der Gruppen angehören und ihr Set an Bedeutungen „Presse“ gearbeitet hatten. Moritz Benedikt selbst steuern. wurde 1880 Mitherausgeber und im Jahr 1908 neuer Chefredakteur und Alleinherausgeber. Bald Herbert Blumer weitet die Bedeutung und die wurde er maß- und richtungsgebend in jedem Funktion der Begriffsbildung noch weiter aus: Ressort und baute seinem eigenen „Liebkind“, „Begriffsbildung ergibt sich aus dem Bedürfnis dem Leitartikel, eine Vorrangstellung innerhalb nach Anpassung an Mängel der Wahrnehmung.“43 der Blattlinie auf. Doch viele weitere bekannte Wahrnehmung wird aus dem Wechselspiel Männer, wie Dr. Hugo Ganz, Max Graf, Berthold zwischen Handelnden und der Umwelt Molden und ab 1906 Dr. Ernst Benedikt, Sohn gewonnen. Blumer spricht von „wahrnehmbaren von Moritz Benedikt, publizierten die für die Erfahrungen“, die zugänglich sind, aber auch Zeitung typischen subjektiven Berichte auf rätselhaft wirken können. Das Individuum bildet der Titelseite47, die für die Diskursanalyse den sich vor diesem Hintergrund Begriffe, um eigene Untersuchungsgegenstand darstellen. Erfahrungen verständlich zu machen. Da die Betrachtung des Burgenlandes und dessen Bewohnern im Zentrum des Forschungsinteresses stehen, wurden keine rein informativen bzw. faktizierenden Artikel, sondern wurde das „Aushängeschild“ der „Neuen Freien Presse“, der Leitartikel, als Untersuchungskategorie erkoren.

41 Vgl. ebd., S. 207ff. 45 Vgl. Brix, Emil: Ein Fenster nach Europa. Die „Neue Feie 42 Vgl. Blumer, Der methodologische Standort des Symbolischen Presse“ als Zeitung des liberalen Bürgertums. In: Kainz, Interaktionismus, S. 101. Julius / Unterberger, Andreas (Hg.): Ein Stück Österreich. 43 Helle, Theorie der Symbolischen Interaktion. Ein Beitrag 150 Jahre „Die Presse“. Wien 1998, S. 54. zum Verstehenden Ansatz in Soziologie und Sozialpsychologie, 46 Ebd., 57f. S. 99ff. 47 Vgl. Wolf, Martina (1996): Die politische Berichterstattung 44 Vgl. Duchkowitsch, Wolfgang: „Fahren Sie bitte gleich über die kroatischen Unabhängigkeitsbestrebungen in der nach Meidling - es brennt!“ Alltag der „Neuen Freien Presse“ „Agramer Zeitung“, dem „Pester Lloyd“ und der „Neuen um 1900. In: Kainz, Julius / Unterberger, Andreas (Hg.): Freien Presse“ während der ersten Dekade des 20. Ein Stück Österreich. 150 Jahre „Die Presse“. Wien 1998, Jahrhunderts. Wien: Unveröffentlichte Diplomarbeit 1996, S. 69. 133ff.

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Es sollte das Meinungsspektrum herausgefiltert innenpolitischen Fragen zur Finanzkrise aus den werden, die ein Erkennen von Einstellungen wichtigsten Bereichen der Zeitung verdrängt.53 und Tendenzen im Sinne einer Einordnung zur Fragestellung erlauben. Interpretation der Diskursanalyse

Guglia gliedert die Entstehung des Burgenlandes, Die vier Hauptdiskursstränge ( Vereinigung, K am pf also die Eingliederung in die Republik, in vier um das Burgenland, Heimat - aus österreichischer Phasen.48 An diese Struktur angelehnt erstreckt sich Perspektive sowie Land und Leute) mit ihren der Untersuchungszeitraum für die Diskursanalyse Unterthemen, die aus der Überblicks- und von der „Zeit der fruchtlosen Aktionen der Strukturanalyse herausgefiltert wurden, stehen Alliierten zur Durchführung der Übergabe bis im Folgenden zum Vergleich mit dem diskursiven zur Unterfertigung des Protokolls von Venedig, Kontext. das ist bis 13. Oktober 1921.“49 Gewählt wurde Ausführungen zum Thema „Entstehung dieser Zeitraum aufgrund von Kriterien, die des Burgenlandes“ finden sich häufig in den Schwab-Trapp als Strukturierungsmöglichkeiten Leitartikeln, was auf einen gut funktionierenden für Diskursanalysen anführt.50 Informationsfluss betreffend laufende Ergebnisse einer Untersuchung zur burgen­ Entwicklungen in der Burgenlandfrage schließen ländischen Anschlussfrage zweier westungarischer lässt. Die österreichische Bevölkerung konnte Lokalzeitungen von Kleinl51 haben gezeigt, dass sich sich nach dem Lesen der Leitartikel über die gegen Ende des Jahres 1921 die Berichterstattung aktuelle Lage in Westungarn ein Bild machen und veränderte. Nachdem die Friedensverträge erahnen, wie es um die künftigen Landsleute im geschlossen worden waren, wurden die Leser Osten bestellt war. Die wesentlichen politischen detaillierter über den Anschluss und die Folgen Streitigkeiten und Errungenschaften, die in Bezug informiert. Vor diesem Hintergrund wurde die auf den diskursiven Kontext ausgeführt wurden, Überlegung für einen Untersuchungszeitraum sind in den Leitartikeln nachzulesen, häufig zwischen dem Abschluss der Verträge52 und dem gemischt mit Kommentaren der Autoren oder letzten Quartal des Jahres 1921 bestärkt, denn die den subjektiven Ausführungen der Redaktion zur Informationen waren, nachdem sie auch von der ungerechten Situation ganz Österreichs. Entente offiziell in den Vororten unterzeichnet Vor dem Hintergrund der Erkenntnisse der worden waren, stichhaltiger für die Rezipienten. Diskursanalyse lässt sich festhalten: In der „Neuen Freien Presse“ ist dieses Stadium In hohen Tönen wurde über das Burgenland mit Themen über das Burgenland sehr präsent. gesprochen, wenn von Traditionen, Fleiß und Ab dem 27. August 1921 erscheint bis zum 1. Arbeitswille und auch von Bildung die Rede war. September 1921 in jeder Ausgabe ein Leitartikel „Die Bildung wurde zu einem Bedürfnis, das nicht über die Burgenlandfrage. Auch widmen sich bloß die sozialen Oberschichten erfaßte, sondern weitere Leitartikel im September diesem Problem, tief bis zu dem Volkskern drang.“54 Doch war es in doch gegen Ende des definierten Stadiums, ab Ungarn das oberste Ziel, die deutschen Westungarn dem 5. Oktober 1921, wird das Thema von in magyarischer Sprache zu unterrichten.55 In den

48 Guglia, Das Werden des Burgenlandes. Seine Angliederung Diskussion über den Kosovokrieg. In: Keller, Reiner / an Österreich vor 40 Jahren im Lichte teilweise unbekannten Hierseland, Andreas / Schneider, Werner / Viehöver, Materials, S. 38: „In der Entwicklung der westungarischen Willy (Hg.): Handbuch Sozialwissenschaftliche bzw. der burgenländischen Frage auf der Ebene, die Diskursanalyse. Band 2: Forschungspraxis. 2. Auflage. wir hier im Auge haben, sind zwanglos vier Stadien Wiesbaden 2004, S.174ff: „Vier Punkte für die Auswahl zu unterscheiden: 1. die Zeit bis zum Inkrafttreten des eines adäquaten Untersuchungszeitraumes.“ Friedensvertrages von Trianon, das ist bis zum 51 Vgl. Kleinl, Elisabeth: Die Berichterstattung über den 26. Juli 1921; 2. die Zeit von da an bis zur ursprünglich Anschluß des Burgenlandes an Österreich von 1919 bis vorgesehenen Übergabe des Burgenlandes, das ist bis zum 1921 dargestellt am Beispiel der Oberwarther 27. (29.) August 1921; 3. die Zeit der fruchtlosen Sonntagszeitung und der Ödenburger Zeitung. Wien: Aktionen der Alliierten zur Durchführung der Übergabe Unveröffentlichte Diplomarbeit 1993, 106ff. bis zur Unterfertigung des Protokolls von Venedig, 52 Unterzeichnung des Friedensvertrages mit Ungarn im das ist bis 13. Oktober 1921; 4. die Zeit der Landnahme Schloss Trianon am 4. Juni 1920 und dessen endgültige des Burgenlandes bis zum Abschluß derselben durch die Ratifikation am 26. Juli 1921. Vgl. Widder, 90 Jahre Übergabe des Ödenburger Abstimmungsgebietes an Republik - und das Burgenland dabei!, S. 184. Ungarn am 1. Jänner 1922.“ 53 Ergebnis der Diskursanalyse in der Neuen Freien Presse. 49 Ebd. 54 Neue Freie Presse, 28.8.1921, S. 1, Zeile 84-86. 50 Nachzulesen in: Schwab-Trapp, Michael: Methodische 55 Vgl. Schlag, Aus Trümmern geboren... Burgenland 1918- Aspekte der Diskursanalyse. Probleme der Analyse 1921, S. 65ff. diskursiver Auseinandersetzungen am Beispiel der deutschen

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Dörfern sprach man zwei, mit Kroatisch auch drei latent längerwirkende Kontinuitäten erkennen Sprachen, jedoch keine sehr gut, sodass auch der lassen. Mehr als eine ständige Vorläufigkeit Prozentanteil der Analphabeten anstieg. Kindern wird sich aus (je)dem Identitätskonstrukt nicht aus bäuerlichen Kreisen stand jedoch den Weg herauslesen lassen.58 der Weiterbildung offen und in Städten wie • Welche räumlichen Grenzen werden dem Pressburg, Raab, Odenburg oder Güns konnten Burgenland von der österreichischen sie das Gymnasium besuchen, das jedoch stark Öffentlichkeit vor der tatsächlichen magyarisiert war und die Schülern somit das Landübernahme zugesprochen? magyarische Bürgertum zum Vorbild hatte. Deutsch wurde als Fremdsprache unterrichtet, Am 2. September 1921 heißt es in der „Neuen Absolventen von Mittelschulen waren überzeugte Freien Presse“: „Der Vertrag von Trianon steckt Träger des ungarischen Gedankens. Aus diesem in seinem Paragraph Siebenundzwanzig höchst Grund war Ungarn auch gegen eine Abtretung nüchtern und bedingungslos die Grenzen von des westungarischen Bodens, hatten sie doch Ungarn ab.“59 Weitere Ausführungen, durch viel Energie in die Bevölkerung investiert.56 welches Gebiet, durch welche Stadt, was genau Bildungsangebote zwaren in weiten Teilen im Paragraph angegeben ist, waren in keinem Westungarns vorhanden, die Qualität des Diskursstrang zu finden. Den genauen Verlauf Unterrichts war jedoch nicht besonders hoch, der Grenze nicht zu kennen, bedeutet jedoch denn die Lehrer hatten oft wenig Zeit, um nicht, keine Ahnung zu haben, welches Gebiet andere Fächer als die magyarische Sprache zu das Burgenland in etwa umfasst. So scheint es unterrichten. Doch hatte das ungarische Erbe doch selbstverständlich, dass die Burgenländern auch seine positiven Seiten, die Verwaltung des am Heideboden wohnen, dass sie dort zu Hause Burgenlandes etwa konnte bald die der anderen sind, wo es stille Wälder, üppige Wiesen, lachende Bundesländer überflügeln.57 Gärten und erntereiche Felder gibt.60 Es besteht Mit Österreich verbunden... kein Zweifel an der Vorstellung vom Burgenland mit den vielen reinlichen Dörfern, Burgen und Schlössern. Die aus der Diskursanalyse hervorgebrachten Vor allem die Wiener dachten, sehr wohl gewusst Interpretationsmöglichkeiten stellen jedoch nur zu haben, wo das Burgenland liegt, hatten sie eine Annäherung an die Problematik dar, denn doch manchmal die Möglichkeit, einen Blick der eingeschränkte Untersuchungszeitraum und darauf zu werfen: „Ein Land, dessen Boden von die bewusst gewählte mediale Diskursebene der den Hügelhöhen rings um Wien bei klarem „Neuen Freien Presse“ ist lediglich ein Bruchstück Wetter sichtbar wird.“61 Die tatsächlichen Grenzen jener Auseinandersetzung, die die Fülle an erscheinen als nicht so wichtig, um sie wenigstens Quellen erlaubte. Dennoch lassen sich durch die ansatzweise zu umreißen. empirische Vorgangsweise Trends feststellen, mit denen eine Beantwortung der Forschungsfragen Durch die Publizität des Themas wurde diese zur angestrebt und ein Einblick in die Thematik Agenda. Die österreichische Bevölkerung der burgenländischen Bevölkerung während kommunizierte die Thematik weiter — um an den des Anschlusses sowie der österreichischen Symbolischen Interaktionismus anzuschließen, Öffentlichkeit gegeben wird. wird auf die Behauptung Meads zurückgegriffen, Es zeigen sich Brüche und Offenheiten, der meint, dass die Umwelt durch Inter­ Unsicherheiten und vermeintlich Eindeutig­ aktionsprozesse die Wahrheit des Denkens keiten, die das Projekt Identität stets nur als überarbeitet, sich anpasst. Durch die dauernde Annäherungswert an jeweils neue, manchmal Beschäftigung mit dem Thema wurden erst durchaus sprunghafte Zustände oder auch an signifikante Symbole über das Burgenland, dessen

56 Vgl. ebd, S. 100. im Burgenland von 1922-1926. In: Kropf, Rudolf 57 Vgl. Leser, Norbert: Das Burgenland und Österreich. (Hg.): Burgenland 1921. Anfänge, Übergänge, Aufbau. Etappen der Identitätsentwicklung im 20. Jahrhundert. Wissenschaftliche Arbeiten aus dem Burgenland. Heft 95. In: Baumgartner, Gerhard / Müllner, Eva / Münz, Symposium im Rahmen der „Schlaininger Gespräche“ Rainer (Hg.): Identität und Lebenswelt. Ethnische, religiöse vom 24.-29. September 1991 auf Burg Schlaining. und kulturelle Vielfalt im Burgenland. Burgenländischer Eisenstadt 1996, S. 139. Forschungstag. Eisenstadt 1988, S. 10. 59 Neue Freie Presse, 2. September 1921, S. 1, Zeile: 57-60. 58 Widder, Roland: Anfangsidentität als Aufbauimpuls 60 Vgl. Neue Freie Presse, 28.9.1921, S. 1, Zeile 113-118. zur politisch-parlamentarischen Aufbruchstimmung 61 Ebd., Zeile 24-25.

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Grenzen, dessen Bewohner, dessen jetzige betrachtet hat und die in Interaktion mit anderen Situation generiert, die sich im Laufe des Menschen ausgetauscht und weiterentwickelt (längerfristigen) Prozesses anpassen und ändern. werden. Es entsteht das kollektive Symbol „des Genau so hat sich die Grenze des Burgenlandes Burgenländers“, das verbreitet wird und laut der letztendlich geändert, durch Interaktionsprozesse Diskursanalyse wie folgt aussieht: verschiedener Gewalten, genau so haben auch Burgenländer werden nicht erfasst, sondern Menschen ihre Vorstellung über die Grenzen lediglich „der Burgenländer“, wobei der Bauer die revidiert. So kam es noch 1923 zu Grenz­ burgenländische Gesellschaft bestimmt.63 Er, der korrekturen.62 Bauer am Heideboden, lebt seine Traditionen im Volkstum aus, doch landwirtschaftliche Tätigkeit • Wie werden die Einwohner Deutschwest­ steht im Vordergrund. ungarns wahrgenommen? Wird ihnen eine Er ist durch die Ereignisse rund um den Kampf eigenständig Identität im Sinne eines Volkes um den Anschluss in eine Opferrolle geraten zugeschrieben? und stößt auf das Mitleid der österreichischen Bevölkerung. Mead ist der Ansicht, dass sich Identität unter Er ist den Österreichern ähnlich, denn er ist gesellschaftlichen Voraussetzungen entwickeln „Deutscher“, darum können beide Seiten auf muss. Die Entstehung von Identität beeinflussen bereits auf einer grundlegenden Gemeinsamkeit dabei Organisationen und den gesellschaftlichen aufbauen. Prozess. Dem folgend kann behauptet werden, dass die Österreicher den deutschen Westungarn sehr Durch die theoretische Unterstützung des wohl eine Identität zugeschrieben haben, denn Symbolischen Interaktionismus lässt sich der gesellschaftliche Prozess der Burgenländer durchaus eine Erklärung für das konstruierte und auch die Organisation des „Pressewesens“ Kollektiv finden. Doch muss man anmerken, dass in Österreich wurden von der Entwicklung des laut Floiger im Burgenland Gruppenidentitäten Gebietes am Heiderand eingenommen. Eine und Dörfer mit eigener Sprache und Tradition kollektive Identität der Burgenländer kommt in entstanden sind, was jedoch nicht von Anfang an den Artikeln etwa dann zum Ausdruck, wenn über von den Österreichern wahrgenommen wurde.64 „die Heidebauern“ gesprochen wird, oder über „die Eine Untersuchung der heutigen Sichtweise in Grenzbewohner“. Durch ihre gemeinsame Sprache den Medien würde den Burgenländern wohl eine werden sie als Einheit betrachtet (nach Mead ist andere Identität zukommen lassen. Sprache ein wesentlicher Teil identitätsstiftender Prozesse). Identität und Volkstum werden in • Wurden die Burgenländer und Burgen­ den Leitartikeln deutlich, nämlich dann, wenn länderinnen in Österreich herzlich auf­ über Traditionen der Burgenländer geschrieben genommen und wollte man sie integrieren? wird. Sie werden als Bewohner des Grenzgebietes wahrgenommen, die viel miteinander verbindet. In der „Neuen Freien Presse“ waren durchwegs Sie werden m. E. sogar zu stark kollektiv betrachtet, Tendenzen der freudigen Aufnahme, des zumal im Gebiet Westungarn viele ethnische herzlichen Willkommens, der Integration eines Kulturen aufeinander trafen, die überhaupt nicht eigenständigem Bundesland zu vernehmen. Der differenziert wurden. Dagegen zu halten wäre sprachliche Ausdruck, mit dem die Freude des die Aussage des Symbolischen Interaktionismus, Anschlusses publiziert wurde, war, auch zwischen wonach die Symbole, mit denen Begriffe gefüllt, den Zeilen, positiv und zukunftsorientiert. Die durch das Wahrnehmbare konstituiert werden. Integration schien anfangs gewollt, wenngleich in Die drei Prämissen Blumers treffen hier zu, dass die vielen Ausformulierungen etlicher Werke anderes österreichische Bevölkerung den Burgenländern nachzulesen ist („Stiefmütterlich behandelt“ wäre die Eigenschaften und Kollektive zuschreibt, ein Beispiel65). die sie von ihnen zu kennen glaubt, die sie

62 Vgl. Widder, 90 Jahre Republik - und das Burgenland das Burgenland dabei!, S. 189. dabei!, S. 187. 64 Vgl. Floiger, Gibt es ein burgenländisches Landebewußtsein?, 63 Sozioökonomische Verhältnisse im Burgenland, 1923: S. 18. 61.3 % der Wohnbevölkerung Land- und Forstwirtschaft; 65 Leser, Das Burgenland und Österreich. Etappen der 22.4 % Gewerbe und Industrie; 8,5 % Dienstleistung; Identitätsentwicklung im 20. Jahrhundert, S. 10. 7,8 % Pensionisten. In: Widder, 90 Jahre Republik — und

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Ein Teil Österreichs zu werden, war für die Erst nach dem Zweiten Weltkrieg konnte sich das Burgenländer nicht einfach, denn beide Teile Burgenland als Land wieder formieren, Widder hatten zur gleichen Zeit Probleme mit der trennt deshalb die Geschichte in Teil I und Teil Identitätsfindung. Österreich, nach dem Zerfall II, vor und nach 194569, beide Male war es ein der Monarchie, und das Burgenland, nach harter Weg. Österreich war jedenfalls bereit, nach der Trennung Ungarns, mussten eine Zeit der dem Zerfall der Monarchie um das Burgenland zu Entwicklung und Formung durchlaufen. Nach kämpfen. Österreich war bereit, die Fortschritte Leser hätten die Österreicher auf die Burgenländer und Rückschläge zu diskutieren und in seinen „blicken und von ihnen lernen können, dass man Alltag (auch medial) einzubringen. das eigene Land und die mit ihm verbundene Das Burgenland hat sich von einem Bundesland Identität schrittweise bejahen und sich zu eigen „am Heiderand“ in die Mitte Österreichs gelebt machen kann.“66 Doch DER Burgenländer wurde (wenn auch nicht geografisch) und darf nächstes als Kollektiv betrachtet, der Anschluss war Mittel Jahr stolz sein 90-jähriges Bestandsjubiläum in zum Zweck, zum Zweck des Ausbauens der neuen der Republik begehen. Zuletzt kann auf Widders Republik, die am Kleinstaat-Komplex litt.67 Die „anschlußfähige Meinung über das Burgenland“ Heterogenität der Deutschwestungarn, die nach verwiesen werden, die bereits 1995, als Österreich Österreich kamen, zeigt nicht nur Leser mit der der EU beigetreten ist, formuliert wurde: „als Theorie über „village ethnicity“, sondern auch die Investorenplatz, als EU-Projekt, oder eben als Geschichte. Land, das für alle offen und da ist - und das als Beweis dafür seine Identität formuliert.“70 * Wo bei die Gewißheit am Beginn, am vermeintlichen Anfang, bei der gemeinsamen Anstrengung zur kollektiven Errichtung eines Landes, beim pionierhaften Aufbau eines politischen Systems durchaus größer und sicherer erscheint als am Ende des Projekts, des Systembruchs des Landes Burgenland, um den späteren Abgesang der 30er Jahre a u f den Begriff zu bringen.68

Eva Tamara TITZ (1987) Bakk. phil.; derzeit Magisterstudium der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft und Diplomstudium Geschichte an der Universität Wien mit dem Schwerpunkt Historische Kommunikationsforschung.

66 Ebd., S. 7. 69 Vgl. u.a. Widder, Burgenland. Beobachtungen zur 67 Ebd., S. 7ff. Selbsterzeugung eines Landes. 68 Widder, Anfangsidentität als Aufbauimpuls zur politisch­ 70 Widder, Burgenland. Beobachtungen zur Selbsterzeugung parlamentarischen Aufbruchstimmung im Burgenland von eines Landes, S. 88. (Österreichischer Zeitgeschichtetag 1922-1926, S. 139. 1995; 22.-24. Mai 1995 in Linz)

26 m & Z 3/2010 „Ihr Jungen schließt die Reihen gut, ein Toter führt uns an."

Propagandamaßnahmen des austrofaschistischen Regierungssystems in Hinblick auf Kinder und Jugendliche.

Julia Tinhof

u welchem Zeitpunkt hat das Land ihrer Kinder- und Jugendpolitik. Kurz und ZÖsterreich den demokratischen prägnant verdeutlicht diese Aussage wie kaum Regierungsweg verlassen, bzw. ab wann kann eine andere, welch große Bedeutung die junge man vom Beginn eines autoritären politischen Bevölkerungsgruppe für ein autoritär regierendes Herrschaftssystems sprechen? Stellt man diese Politiksystem hat. Denn will/wollte man sich die Frage, werden als Antwort wohl mehrheitlich Erwachsenen von Morgen als treue Verbündete die Ereignisse vom März 1938 - die heute (vor allem in kriegerischen Zeiten) sichern, musste noch immer gerne unter dem unzutreffenden die „Überzeugungsarbeit“ so früh wie möglich Schlagwort ,Anschluss“ subsumiert werden - als auf allen Ebenen des täglichen Lebens einsetzen. zentraler Erinnerungsmoment in den Köpfen der Dessen waren sich auch die austrofaschistischen Menschen abgerufen. Es wundert auch kaum, Machthaber bewusst, und setzen alle verfügbaren dass die Bilder vom „Heldenplatz“ aus heutiger Propagandamittel ein, um sich der zukünftigen Perspektive als „Anfang vom Ende“ gedacht Staatsbürger zu bemächtigen. Denn die Zukunft werden; dabei war der Weg in den Untergang wurde klar im Kampf gesehen - ein Kampf für schon in den Jahren davor beschritten worden - in die neuen Ideale und Werte des Staates - und für der Zeit des Austrofaschismus unter Dollfuß und eben diesen Kampf mussten die Jüngsten nicht Schuschnigg. Mittlerweile gilt in der Forschung als nur in körperlicher, sondern auch in seelischer unbestritten, dass das Ende des Parlamentarismus, Hinsicht vorbereitet werden. Somit sind all jene die Entstehung eines Einparteiensystems, Propagandamaßnahmen, die von der Regierung aufkeimender Führergedanke, Versuche einer Dollfuß bzw. Schuschnigg ab März 1933 in Massenmobilisierung und staatliche Kontrolle in Hinblick auf Kinder und Jugendliche getroffen vielen Bereichen des täglichen Lebens nicht erst wurden, von größter Bedeutung, denn in ihnen mit dem „deutschen Einmarsch“ in Österreich traten die Ziele dieses politischen Systems zu Einzug gehalten haben. Die wesentliche Tage. Österreichs Kinder und Jugendliche hatten Weichenstellung zu all diesen und noch mehr jedenfalls schon vor „Hitlerjugend“ und „Bund einschneidenden Veränderungen fand bereits ab deutscher Mädel“ gelernt, im Gleichschritt zu März 1933 statt. Auch wenn die „Erfolge“ des marschieren. austrofaschistischen Regierungssystems in vieler Hinsicht weit hinter den nationalsozialistischen Österreich-Ideologie Staatskontrollbemühungen zurück blieben, so sind Ähnlichkeiten in strukturellen Bereichen Im Zentrum der austrofaschistischen Pro­ nicht zu verkennen - die Austrofaschisten hatten pagandaarbeit, gerade auch in Hinblick auf Gegebenheiten geschaffen, die eine Eingliederung Kinder und Jugendliche, stand vor allem die Österreichs in das nationalsozialistische Staats­ Verbreitung der so genannten „Österreich- gefüge erleichterten. Ein Aspekt, der im vor­ Ideologie“, die als Gegenpropagandamaßnahme liegenden Text die zentrale Rolle einnimmt, war zur nationalsozialistischen Anschlusspropaganda dabei auch die Mobilmachung der Jugend, die entwickelt wurde. Die durch den Ersten ab 1933 immer mehr zum Spielball der neuen Weltkrieg und den Zusammenbruch der politischen Kräfte im Land wurde. Habsburgermonarchie entstandene „Kleins­ taatlichkeit“ Österreichs, wurde der Bevölkerung Wer die Ju gend hat, hat die Zukunft. Dieses Zitat als Übergangszustand verkauft, die Errichtung von Napoleon wurde von den Nationalsozialisten des „Heiligen Reiches“ wurde von den aufgegriffen und wurde zum Leitgedanken austrofaschistischen Machthabern als Endziel

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ausgerufen.1 In der Österreich Ideologie waren Deutschtum und Christentum eng miteinander Kindheit und Jugend unterm verbunden, demnach konnte man nur als guter Kruckenkreuz Christ bzw. Katholik wahrhaft deutsch sein. Durch diese enge Verbundenheit zwischen Österreich Will sich ein politisches Herrschaftssystem und dem Christentum erfuhr auch die Erinnerung der jungen Generation sicher sein, muss die an die Gegenreformation und die Türkenkriege Kontrolle über Körper, Geist und Seele auf ein ungeheueres Ansehen. Österreich allein habe allen Ebenen des täglichen Lebens angestrebt durch den Kampf die Rettung von Christentum werden. Dieses Umstandes war sich auch das und abendländischer Kultur ermöglicht.2 3 Den austrofaschistische Herrschaftssystem bewusst Höhepunkt des österreichischen Christentums und darum wurde bereits wenige Tage nach der verkörperte in der Österreich Ideologie aber Machtergreifung die politische Einflussnahme auf eindeutig der als christliches Vorbild gepriesene Kinder und Jugendlichen in Gang gesetzt, mit Kanzler Dollfuß. Er wurde als ein von Gott dem Ziel einer sittlich-religiösen, vaterländischen gesandter Märtyrer verehrt, und teilweise sogar und sozial-volkstreuen Erziehung innerhalb und zu einer Art „neuer Christus“ stilisiert: „Der außerhalb der Schulmauern. Im schulischen Parkettboden in seinem Arbeitszimmer wurde sein Bereich war es neben der Rekonfessionalisierung5 Kreuz, das historische Ballhaus sein Golgatha.

1 vgl. Staudinger, Anton: Austrofaschistische „Österreichs- damaligen Unterrichtsminister Anton Rintelen Ideologie. In: Tälos, Emmerich; Neugebauer, Wolfgang aufgehoben. (Hrsg.): Austrofaschismus. Politik — Ökonomie - Kultur. 6 vgl. Dachs, Herbert: Schule und Politik. Die politische 1933 - 1938, 5. Auflage, Wien 2005, S. 48 f. Erziehung an den österreichischen Schulen 1918 bis 1938, 2 vgl. Suppanz, Werner: Österreichische Geschichtsbilder. Wien/München 1982, S. 284. Historische Legitimationen in Ständestaat und Zweiter 7 vgl. Gail, Franz: Zur Geschichte des österreichischen Republik Wien/Köln/Weimar 1998, S. 67 ff. Jungvolks 1935 - 1939. In: Neck, Rudolf; Wandruszka, 3 Bleibtreu, Attilio Renato: Der Heldenkanzler. Ein Lied Adam (Hrsg.): Beiträge zur Zeitgeschichte. Festschrift von der Scholle, Wien 1934, S. 38. LudwigJedlicka zum 60. Geburtstag, St. Pölten 1976, 4 vgl. Staudinger, Anton: Austrofaschistische „ Österreich “- S. 220. Ideologie. In: Talos; Neugebauer (Hrsg.) 2005, S. 48 f. 8 vgl. Hauser-Herzog, Gertrud: Der vaterländische Gedanke 5 Dem katholischen Lager war der seit 1919 gültige in der Mädchenerziehung. In: Vereinigung christlich­ „Glöckel Erlass“, der Religion zur Privatsache erklärte und deutscher Mittelschullehrer Österreichs (Hrsg.): damit die Teilnahme an religiösen Übungen in den Österreich. Grundlegung der vaterländischen Erziehung, Schulen zur freiwilligen Angelegenheit machte, ein Dorn Wien/Leipzig 1936, S. 24 f. im Auge. Am 10. April 1933 wurde dieser Erlass vom

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Einflussnahme auf die Freizeitarbeit bzw. sich auch durch einen, in diesem Bundesgesetz -gestaltung dar. vorgeschriebene Grundsatz, wonach „[...] alle in Österreich wohnhaften Jugendlichen zu Übungen, Einheitsstaatsjugendorganisation Vorträgeny vaterländischen Feiern und sonstigen -ÖJV Veranstaltungen bei der vom Bundesministerium für Unterricht hierzu bestimmten Vereinigung Denn sowohl kirchliche, als auch politische herangezogen werden können[. . J “13 * Katholische und andere weltliche Institutionen versuchten Vereinsmitglieder konnten zu solchen Anlässen bereits lange vor den 1930iger Jahren die nur durch die Zustimmung einer kirchlichen Jugend um sich zu scharen. Der Nachwuchs Behörde verpflichtet werden. sollte organisiert, formiert und ideologisch „auf Linie“ gebracht werden. In Österreich kann Ziel und Zweck des ÖJV, in dem alle 10 man in diesem Zusammenhang von einem bis 18jährigen Mädchen und Burschen des regelrechten Organisations-Wirrnis sprechen. Landes vereinigt werden sollten, war: „[...]die Eines der zentralen Anliegen der Regierung österreichischen Jugendlichen außerhalb der Schule Dollfuß war daher, die bisher bestehende zu geistig und körperlich tüchtigen Menschen Mannigfaltigkeit in der österreichischen und vaterlandstreuen Staatsbürgern im Sinne Jugendvereinslandschaft zu beseitigen und eine der Zielsetzung der Vaterländischen Front übersichtliche, vom Staat leichter beeinflussbare, heranzubilden.<

9 vgl. BGBl 1936/293: http://alex.onb.ac.at/cgi-content/ 12 vgl. BGBl 1936/293:http://alex.onb.ac.at/cgi-content/ anno-plus?aid=bgl&datum= 19360004&seite=00000735 anno-plus?aid=bgl&datum=19360004&seite=00000755 (abgerufen am 13.7.2009). (abgerufen am 13.7. 2009). 10 Unter dem Sammelnamen „V.F. Werke“ finden sich 13 ebenda, S. 756. weiters das „Mutterschutzwerk“, das „Kinderferienwerk“ 14 VF Werk - Österreichisches Jungvolk: und die Freizeitorganisation „Neues Leben“. 1. Gesamtösterreichischer Jungvolk - Führertag am 24. 11 Die im Bundesgesetzblatt vom 29. August 1936 Jänner 1937, Behelfsdienst/Zahl 3, Wien 1937, S. 22. vorgeschriebene Frist vom 1. Jänner 1937 wurde später 15 vgl. ebenda, S. 6 ff. auf 1. April 1937 verlängert (siehe dazu: BGBl 16 vgl. ebenda, S. 15. 1936/453).

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Bereits im Mai 1934 definierte der damalige Inhalten mit sich bringt.18 Durch diese speziellen Bundesminister für Unterricht und Justiz Kurt Eigenschaften ist das Medium Lied, gerade Schuschnigg seine „Fünf Gebote für die Jugend“, in Hinblick auf Kinder und Jugendliche, die als richtungweisend für die spätere Kinder- ein ideales Propagandainstrument. Auch die und Jugenderziehung im ÖJV angesehen werden austrofaschistische Staatsführung erkannte die können: Disziplin, Gehorsam, Kameradschaft, Möglichkeiten der Beeinflussung durch Lieder Stärke, Aufrichtigkeit, Führergehorsam,Tapferkeit, und produzierte aus diesem Grund zahlreiche Treue und Mut.17 Bei näherer Betrachtung Liederhefte und Gesangsbücher, deren Aufgabe erscheinen all die geforderten Eigenschaften das folgendermaßen definiert wurde: „ Wir schaffen optimale Rüstzeug für eine zukünftige Generation uns auch die Lieder; die die Jugend aufrütteln und an Kriegern und Mitläufern abzugeben. mitreißen und unseren harten Willen verkündenl“19 20 Einen besonderen Status unterm Kruckenkreuz Propagandamaßnahmen in Hin­ genoss das so genannte „Lied der Jugend“ blick auf Kinder und Jugendliche („Dollfußlied“), welches vor allem der Erinnerung an den Märtyrerkanzler Engelbert Dollfuß dienen Die Propagandamaßnahmen, die vom sollte. Bei offiziellen Anlässen wurde es nach austrofaschistischen Regime speziell mit Blick auf der Bundeshymne „Sei gesegnet ohne Ende“ Kinder und Jugendliche getroffen worden waren, vorgetragen, auch bei Schulversammlungen oder erstreckten sich über Printmedien (Zeitschriften, Feiern war es ein fixer Programmpunkt. Der Text Bücher und Plakate) bis zum damals noch zum „Dollfußlied“ stammte vom Kulturreferenten jungen Medium Radio und wurde hierbei der Vaterländischen Front, Rudolf Henz, die vor allem mit dem 1932 ins Leben gerufenen Melodie von Nico Dostal. Auszugsweise sei an Schulfunk in den Dienst der Propagandaarbeit dieser Stelle auf die erste von vier Liederstrophen gestellt. Zudem gab es weitere Bemühungen wie hingewiesen: das jährlich abgehaltene „Kinderferienwerk der Vaterländischen Front“, sowie diverse Aufmärsche Ihr Jungen, schließt die Reihen gut, und Großkundgebungen. Ein Toter fuhrt uns an. Er gab Jur Österreich sein Blut, Lieder Ein wahrer deutscher Mann. Das Medium Lied unterscheidet sich vor Die Mörderkugel, die ihn traf, Die riß das Volk aus Zank und Schlaf. allem durch eine Eigenart von vielen anderen Wir Jungen stehn bereit Propagandamedien: Es überwindet Bildungs­ Mit Dollfuß in die neue ZeitF° und Altersgrenzen, da seine Rezeption nicht notwendigerweise an die Lesefähigkeit einer Ein Mythos, der pathetisch und martialisch Person gekoppelt ist. Denn anders als bei Büchern gesponnen wurde im Sinne einer kämpferischen oder Zeitungen, bedarf es bei bildungsfernen Jugend. Das austrofaschistische Regime hatte Gesellschaftsschichten keines Vorlesers, da Lieder durch die Ermordung von Dollfuß seinen ersten großteils mündlich tradiert werden. Im Dienste großen Blutzeugen, die alle Ebenen umfassende der Massenmobilisierung vermitteln Lieder Dollfuß-Verehrung war ein Versuch des Regimes, beim gemeinschaftlichen Singen ein starkes sich seinen eigenen Mythos zu schaffen. Frontgeist Zugehörigkeitsgefühl, und sind damit auch weniger - Führertum - Katholizismus - Märtyrertum ein Medium zur „individuellen Beeinflussung“. - Deutschtum. All diese Faktoren verschmolzen Durch gemeinsames Singen entsteht ein starkes im Märtyrerkanzler, das Gedenken an ihn wurde „Wir Gefühl“, das auch die Identifikation mit zum heiligen Vermächtnis erhoben.21 Neben der Gruppe, und den vorgetragenen/gesungenen Kampf- waren es vor allem Volkslieder22, welche

17 vgl. Reichspost: 28.5.1934, S. 3 und Untergang. Österreichische Kultur zwischen 1918 18 vgl.: Wildmaier, Tobias; Matter, Max: Lied und populäre und 1938, Wien/München/Zürich 1981, S. 512. Kultur. Jahrbuch des Deutschen Volksliedarchivs, Münster 22 Zwischen 1919 und 1938 existierte zur Pflege 2005, S. 115 f. des österreichischen Volksliedgutes das so genannte 19 vgl. Reinthaler, Hans: „Wenn des Jungvolks Fahnen „Österreichische Volksliedunternehmen“, das wehen ..." Lieder der Bewegung, Behelfsbücherei 5, organisatorisch dem Unterrichtsministerium unterstand. Wien 1937, S. 2. Hier fand auch eine intensive Förderung des Volksliedes 20 Fedra, Franz: Die vormilitärische Erziehung in den für vaterländische Zwecke statt. Vgl. dazu: Flotzinger, Volks- und Hauptschulen. In: Elternhaus und Schule, Rudolf: Musik als Medium und Argument. In: Kadrnoska, Heft 2/ 13. Jg., Wien 1937. Franz (Hrsg.): Aufbruch und Untergang. Österreichische 21 vgl. Jarka, Horst: Zur Literatur- und Theaterpolitik im Kultur zwischen 1918 und 1938, Wien/München/Zürich „Ständestaat“. In: Kadrnoska, Franz (Hrsg.): Aufbruch 1981, S. 375 ff.

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die Vaterlandsliebe und die Schönheit der Heimat österreichischer Kinder und Jugendlicher war die in ihren Texten priesen. Auch die glorreiche „Jugendschriftenprüfungsstelle des Stadtschulrates Geschichte Österreichs und ihrer tapferen Krieger für Wien“. Diese Prüfstelle verstand sich selbst als sollten durch den Gesang vermittelt werden. ein regelndes Instrument, welches den Lesetrieb Erinnerung ist allgemein ein wichtiges Thema der Heranwachsenden in die richtigen Bahnen in der austrofaschistischen Propaganda, darum führen sollte, in dem es „die Spreu vom Weizen“ finden sich in Liedertexten aus der damaligen trennte. Lehrer, Erzieher und Eltern sollten bei Zeit auch deutlich weniger Hinweise auf der Buchauswahl unterstützt werden, damit der Zukunftsvisionen. volkserzieherische Wert der Literatur gewährleistet werde.25 Kinder- und Jugendliteratur Bücher sollten anders als Gedichte und Lieder Zeitschriften weniger in der Gemeinschaft rezipiert werden, Die Mannigfaltigkeit an Jugendzeitschriften ist sondern waren als ideologische Stütze im vor allem auf die große Anzahl an Jugendvereinen, Privatleben gedacht. So genannte „Schmutz- die bis zur Gründung der einheitlichen und Schundliteratur“ sei von Kindern und Staatsjugendorganisation ÖJV im Jahr 1936 Jugendlichen fernzuhalten, im Gegensatz dazu existierte, zurückzuführen. Beinahe jede politische sollte das heimische Volks- und Sagengut gepflegt Jugendvereinigung organisierte die Herausgabe werden. Aus diesem Grund produzierte der eines eigenen publizistischen Sprachrohres, so staatliche Heimatdienst Niederösterreich eine aus wurden auch mit der Gründung des ÖJV im zehn Einzelheften bestehende „Österreichische August 1936 eigene ÖJV- Zeitschriften ins Leben Leseheft“ Reihe, die es sich zur Aufgabe machte gerufen. Für die Jungvolkmädel erschien im Jahr „[...] ältere wertvolle Schriftsteller Österreichs, die 1937 ein Blatt mit dem Titel „Österreichisches zu Unrecht vergessen oder durch die Fülle deutschen Jungvolk. Weibliche Jugend", das von der literarischen Schajfens verdrängt sind, wieder in Bundesjugendführung des ÖJV herausgegeben Erinnerung zu bringen [...] und damit die Liebe wurde.26 Zwischen 1937 und 1938 gab die zum österreichischen Schrifttum *23 zu verbreiten. Bundesjugendführung dann den Auftrag zum Diese Lesehefte wurden auch als Klassenlektüre Druck der Zeitschriften „Mädelblatt“17 und die und zur Ergänzung des Deutsch- und „Junghelferin“28 Diese, sich dezidiert an eine Geschichtsunterrichts als Lehr- und Lesebücher weibliche Leserschaft richtende, Blätter erschienen empfohlen. Die Erinnerung an österreichische einmal pro Monat (Preis 6 Groschen). Inhaltliche Helden längst vergangener Tage, versuchte auch Schwerpunkte waren unter anderem: Erzählungen das Buch „Helden der Ostmark“ hochleben zu von weiblichen Mitgliedern des ÖJV über lassen. Die Kinder und Jugendlichen werden in Ausflüge, Wanderungen, Heimarbeiten, Lieder diesem Werk, das von der römischen Geschichte und Gedichte, Weitergabe von Brauchtum und des Landes bis hin zum Opfertod des Kanzler Tradition, Ideen für Spiele, Bastelanleitungen, Dollfuß Erzählungen bietet, an die Heldentaten Schnittmuster für Jungvolkbekleidung sowie der eigenen Väter erinnert, die im „größten Geschenkideen (z.B. für Muttertag oder Krieg aller Zeiten den Feind von der Heimat Weihnachten). Die männliche Jungvolkpresse fernhielten“. Alle im Buch genannten Beispiele gliedertesichindieab 1937erscheinendeZeitschrift sollten die Jugend an ihre Aufgabe erinnern, sich „Österreichisches Jungvolk. Männliche Jugend“73, ebenfalls in die Reihe der mutigen Kämpfer und sowie die zwischen 1937 und 1938 gedruckten Helden für Österreich einzugliedern. Gleich vier Blätter „Bubenblatt<5° und „Jungschütze'51. Geschichten widmen sich dem „historischen Deutlich öfter liest man in den Buben-Blättern Sieg bei Aspern“ im Jahr 1809, und präsentieren von Heldengeschichten aus der „glorreichen“ Österreich als Führer des Freiheitskampfes Vergangenheit Österreichs und von „kleinen gegen Napoleon.24 Eine wichtige Institution Taten“ ÖJV Mitglieder. Hier werden vor allem in Hinblick auf die literarische Erziehung die positiven Werte (Tapferkeit, Kameradschaft)

23 Österreichische Lesehefte für Schule und Haus. Zehntes 1. Jg., Wien 1937. Heft: Adalbert Stifter. Der Hochwald, Wien 1937, S. 1. 27 Mädelblatt, Folge 1/ 1 Jg., Wien 1937 24 vgl. Suppanz, Werner: Österreichische Geschichtsbilder. 28 Die Junghelferin, Folge 1/ 1. Jg., Wien 1937. Historische Legitimationen in Ständestaat und Zweiter 29 Österreichisches Jungvolk. Männliche Jugend, Folge 1/ Republik Wien/Köln/Weimar/Böhlau 1998, S. 136. 1. Jg., Wien 1937. 25 Pädagogischer Führer, Folge 6, Wien 1937, S. 433. 30 Bubenblatt, Folge 1/ 1. Jg., Wien 1937. 26 Österreichisches Jungvolk. Weibliche Jugend, Folge 2/ 31 Der Jungschütze, Folge 1/ l.Jg., Wien 1937.

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hervor gestrichen. Gemeinsam sind den Blättern des geistigen Lebens.36 Hier zeigt sich deutlich, des ÖJV vor allem die abgedruckten Hinweise dass in den 1930iger Jahren noch der Gedanke auf den Umgang mit „Nichtmitgliedern“, und an „Hörerziehung“ existierte, Radiohören war Tipps zu deren Anwerbung. „Der Jugendführer. keine Selbstverständlichkeit, sondern sollte Führerblatt des Österreichischen Jungvolkes“ vom heranwachsenden Menschen, ähnlich wie (1937 bis 1938) war als Pflichtlektüre für alle Lesen oder Schreiben, erlernt werden, gesteuert Jugendführer des ÖJV vorgesehen. In diesem durch staatliche Hände. Die staatsbürgerliche Blatt wurden vor allem Empfehlungen für die Erziehung sollte durch Sendungen wie Gestaltung von Heimstunden, Wanderungen „Heldenfriedhöfe fern der Heimat“, „Rot weiß und Ausflügen gegeben, ebenso gab es eine eigene Rot“ oder „Österreichische Länderwappen“ Rubrik für Buchempfehlungen und Beiträge über gefördert werden. Heimatkundliche und das ÖJV sowie dessen Organisationsstruktur im brauchtumsbezogene Beiträge bemühen sich Allgemeinen.32 ebenfalls um das Hervorheben österreichischer Kultur und Tradition, Beiträge zur Geschichte Schulfunk konzentrieren sich auf „österreichische Ab Februar 1931 betraut Oskar Czeija, der Heldentaten“ (z.B. Türkenjahr 1683).37 damalige Leiter der RAVAG, Rudolf Henz - der durch seine journalistische Tätigkeit bei der Das Kinderferienwerk Tageszeitung „Reichspost“ einen Namen gemacht Neben dem Einsatz von Propagandamedien hatte - mit der Leitung der wissenschaftlichen sowie der bewusst vaterländisch ausgerichteten Abteilung im Bereich Hörfunk. Henz führte Schul- und Freizeitgestaltung, versuchte vor allem im Bereich des Jugendprogramms die austrofaschistische Regierung auch über große Veränderungen durch und entwickelte organisierte Ferienplanung Einfluss auf die auch die Idee eines „Schulfunks“ für jungen Staatsbürger zu nehmen. Als Reaktion Österreich.33 Im Unterschied zu herkömmlichen auf die schlechte Versorgungslage der Kinder in Rundfunksendungen sollten die Sendungen Österreich, veranstaltete die Bundesregierung im Sprache und Aufbau betreffend, an die akustische Jahr 1933 eine landesweite Kinderferienaktion, Aufnahmefähigkeit von Kindern angepasst sein die als „staatliche Notstandsmaßnahme“ ins sollten. Ebenso gab es eine Differenzierung des Leben gerufen wurde. Ab 1934 wurde die Programms nach Altersstufen und Schulgattungen. Vaterländische Front mit der Durchführung des Die erste Probe-Schulfunksendung der RAVAG „Kinderferienwerkes der Vaterländischen Front wurde am 8. Jänner 1932 gesendet, ab 1933 kann im Aufträge der Bundesregierung“ beauftragt, man von einer regelmäßigen Ausstrahlung des formell besiegelt durch einen Ministerratsbeschluss Schulfunkprogramms in Österreich sprechen.34 vom 29. Mai 1935.38 Vordergründig ging es Von nun an lief beinahe zweimal täglich (um ca. darum, Kindern aus sozial bedürftigen Familien, 11 und 15 Uhr), eine meist halbstündige Sendung bzw. gesundheitlich gefährdete Zöglinge im Programm der RAVAG.35 Der damalige (und hier vor allem aus Großstädten oder Unterrichtsminister Dr. Ludwig Battista betonte Industriegebieten) Erholungsmöglichkeiten in einer Rede vom 1. Oktober 1934 zum Thema zu bieten. Dass diese Unterstützungsaktion „Rundfunk und Jugend“ die „erzieherische von Seiten der Vaterländischen Front nicht Funktion“ des Schulfunks. Durch diese Sendungen uneigennützig durchgeführt wurde, wird aber werde die Jugend zum Rundfunkhören erzogen, u.a. bei der Auswahl der Pflegefamilien bzw. der außerdem stelle das Programm den Ausgangspunkt Aufsichtspersonen in den Ferienlagern ersichtlich. für persönliche Gedanken und Überlegungen der Erklärte sich eine Familie bereit, ein Pflegekind Hörer dar und sei somit wesentlicher Bestand aufzunehmen, musste ein Nachweis über die

32 Der JugendJuhrer. Führerblatt des Österreichischen Gegenwart erhalten, wenn auch in gänzlich anderer Form. Jungvolkes, Folge 1/1. Jg., Wien 1937. So lebt die Idee von speziellen Bildungssendungen im 33 vgl. Venus, Theodor: Rudolf Henz. Versuch über einen Radio doch weiter, etwa in der Sendungsreihe „Radio­ katholischen Medienpolitiker. In: Medien &Zeit. Forum kolleg“, die in den Vormittagsstunden im fü r historische Kommunikationsforschung, Wien 1998, Programm von Ö 1 läuft. Heft 1/2, S. 5 ff. 36 vgl. Battista, Ludwig: Rundfunk und Jugend. In: 34 vgl. Löhr, Paul (Hrsg.): Schulfunk in Europa. Eine Schülerhefte zum österreichischen Schulfunk 1/1934, S. 2. Dokumentation mit Beiträgen zur Europäischen 37 vgl. Der österreichische Schulfunk, Heft 4 / 1. Jg., Wien Schulfunk-Konferenz 1977. In: Schriftenreihe 1937, S. 11 f. Internationales Zentralinstitut Jur das Jugend- und 38 vgl. Auer, Erwin: Die österreichischen Großferienwerke Bildungsfernsehen, Nr. 11, München 1977, S. 65. 1933 und 1934, Wien 1935, S. 6 ff 35 Gewisse Formen des Schulfunks haben sich bis in die

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Mitgliedschaft bei der VF erbracht werden, bzw. wurde nach dem Gottesdienst im Stephansdom die jeweilige Orts- oder Bezirksstelle überprüfte eine Heldengedenkfeier vor dem „Löwen von die Familien auf ihre „vaterländische Einstellung“. Aspern“, in Erinnerung an die für Österreich In den Ferienheimen, in denen der Großteil siegreiche Schlacht von 1809, abgehalten.41 Im der Kinder untergebracht wurde, mussten die Anschluss an diese Heldengedenkfeier zogen Aufsichtspersonen (meist Kindergärtnerinnen, rund 40.000 Jugendlichen von der Urania über Hochschulstudenten oder Fürsorgerinnen) ein die Ringstraße bis zum Rathaus. Heimatlieder, politisches „Sitten(Führungs-)Zeugnis“ sowie eine Wiener Lieder und Schützenlieder gehörten Bestätigung ihrer „vaterländischen Einstellung“ ebenso zum Programm wie Fahnenschwingen von der VF vorlegen. Durch diese Maßnahmen und die Präsentation der Wehrtüchtigkeit. Am sicherte sich der Staat seine Einflusssphären, und Rathausplatz erwarteten neben dem Bundeskanzler sorgte für eine Erziehung im vaterländischen und dem Wiener Bürgermeister Richard Schmitz, Sinn auch fernab des Elternhauses.39 Denn auch der Bundesminister für Unterricht Kurt neben Gesundheitspflege und sozialer Schuschnigg, sowie der Erzbischof von Wien, Geborgenheit sollte das Kinderferienwerk auch Theodor Innitzer, die Kinder und Jugendlichen.42 die Vaterlandsliebe, die nur durch Kenntnis Auch in den übrigen Bundesländern wurden der Heimat entstehen kann, in den jungen ähnliche Aufmärsche veranstaltet, die den Willen Österreicherinnen wecken. Die Entsendung der jungen Österreicher zur „seelischen und der Kinder ins Ausland wurde abgelehnt, denn körperlichen Ertüchtigung“ für das Vaterland zuerst sollten die Heranwachsenden Österreich demonstrieren sollten. Vier Staffelläufer, die und dessen Traditionen besser kennen lernen. ausgehend von den Grenzen des Landes Kurs Vor allem die aus den Großstädten und auf Wien nahmen, dienten hierbei als Symbol Industriegebieten stammenden Kinder sollten für die gesamtösterreichische Einigkeit. Sie durch das Kinderferienwerk das „Wesen und die überbrachten dem Bundeskanzler Stafetten (rot- Art“ des Bauernstandes besser kennen lernen, weiß-rote Rollen) mit einem Treugelöbnis der und die bäuerlichen Familie sollten sensibilisiert österreichischen Jugend.43 Auf dem Plakat zu werden, für die Not der Arbeiterschaft.40 diesem Festtag sind zwei solcher Staffelläufer abgebildet, sie tragen das Symbol des neuen Staates Aufmärsche und Kundgebungen - das Kruckenkreuz - und werden vom goldenen Um eine möglichst große Anzahl von Kindern Glanz der Bundesländerwappen beleuchtet.44 Die und Jugendlichen gleichzeitig erreichen zu Wahl des Datums für diesen „Tag der Jugend“ können, wurden eigene Aufmärsche bzw. passierte nicht ganz ohne Hintergedanken. Kundgebungen vom austrofaschistischen Regime Bereits ein Jahr zuvor, am 27. Mai 1933, hätte durchgeführt. Das erlebte Gemeinschaftsgefühl es eine groß angelegte Versammlung von sollte die Heranwachsenden zu einer „seelenlosen Studenten an der Wiener Universität, zu Ehren Masse“ verschmelzen lassen und gleichzeitig des damals noch im Entstehen begriffenen neuen als Legitimation für den neuen Staat dienen. österreichischen Staates, geben sollen. Doch die An dieser Stelle sei vor allem auf ein großes Aula der Universität war besetzt von „braunen Ereignisse hingewiesen: den 27. Mai 1934, der Studenten“, welche die Hochschule als politischen als „Tag der Jugend“ feierlich zelebriert und von Ort für sich selbst einnehmen wollten. Ein Jahr der austrofaschistischen Regierung entsprechend später war es der Regierung gelungen, einen inszeniert wurde. Im ganzen Land wurden groß inszenierten Aufmarsch durchzusetzen, der Jugendgottesdienste abgehalten, danach gab es die Einigkeit der österreichischen Jugend, über volkstümliche Veranstaltungen die vor allem das alle Parteigrenzen hinweg, und ihr Bekenntnis heimatliche Brauchtum betonten sollten. In Wien zum neuen Staat verdeutlichen sollte.45 In einer

39 vgl. Bärnthaler, Irmgard: Die Vaterländische Front. Bevölkerung zu idealisieren und heroisieren. Geschichte und Organisation, Wien/F.a.M./Zürich 1971, 42 vgl. Das Kleine Blatt. 28. Mai 1934, S. 1. S. 197 f. 43 vgl. Neues Wiener Tagblatt. 27. Mai 1934, S. 1. 40 vgl. Auer, Erwin: Die österreichischen Großferienwerke 44 Quellenangabe zum Plakat „Tag der Jugend am 1933 und 1934, Wien 1935, S. 10 f. 27. Mai 1934“: Objekt 16307022 (Österreichische 41 Die Schlacht von Aspern im Mai 1809 gilt in der Nationalbibliothek Wien). Abgerufen unter: http://www. Geschichte als erste Niederlage Napoleons und wurde bildindex.de/?ARCHIV_wien_oenb#l2 (abgerufen am: immer wieder von der austrofaschistischen Regierung 19.4.2010). für Propagandazwecke herangezogen, um den 45 vgl. Reichspost. 27. Mai 1934, S. 1. erfolgreichen Abwehrkampf der österreichischen

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des 1936 gegründeten ÖJV und zeigen klar den Sinn und Zweck dieser Staatsjugendorganisation - die vormilitärische Ausbildung, wobei die junge Generation als „Frontkämpfergeneration“ verherrlicht wird.47

Beispiel I

Beispiel I zeigt ein Plakat48 aus dem Gründungs­ jahr des „Österreichischen Jungvolkes“ (1936) und soll über die Aufgabe dieser Institution informieren: die Erziehung im vaterländischen Sinne außerhalb der Schule. Die Heranwachsenden sollten im ÖJV zu „geistig und körperlich tüchtigen Menschen und vaterlandstreuen Staatsbürgern im Sinne der Zielsetzung der Vaterländischen Front herangebildet werden. “Das Plakat spricht in seinem Textteil zwar den militärischen Aspekt in der vaterländischen Erziehungsphilosophie nicht direkt an, doch vermitteln die abgebildeten Fotographien und Bilder einen anderen Eindruck: Einheitlich uniformierte, stramm stehende Jungen werden als Soldaten von morgen inszeniert - Marschieren, Feld- und Geländeübungen sowie sportliche Rundfunkansprache wendete sich der damalige Aktivitäten zeigen, dass es beim ÖJV weniger um Bundesminister für Unterricht, Kurt Schuschnigg, „Lagerfeuerromantik“ oder „zurück zur Natur“ an die österreichischen Jugendlichen. Er sprach geht, sondern um körperliche Ertüchtigung und von einem notwendigen „Mobilisierungstag „im Gleichschritt marschieren“. Das Plakat des österreichischen Geistes“ und rief die Jugend unterteilt sich in eine Art Bildkollage auf der dazu auf, „beisammen zu stehen gegen jede linken Seite, einen Textteil in der rechten Hälfte Gegnerschaft“. Interessant ist in diese Ansprache vor allem wegen der deutlich werdenden Feindseligkeit, die gegenüber „nicht tauglichen“, sprich nicht integrationswilligen Jugendlichen an den Tag gelegt wird. Sie hätten mit „gewissen Unannehmlichkeiten“ zu rechen, so der Wortlaut des Ministers.46

Plakate Plakate wurden von der austrofaschistischen Regierung sowohl in Hinblick auf die ältere und wird ganz rechts außen noch durch ein wie auch auf die jüngere Bevölkerungsschicht weiteres Einzelbild abgeschlossen. Die Bildkollage als Propagandamedien eingesetzt. An dieser am linken Plakatrand setzt sich aus neun Stelle sei auf zwei Exponate hingewiesen, die einzelnen Fotographien zusammen, vorwiegend die bisherigen Gedankengänge zum Thema sind darauf uniformierte, männliche Kinder und Propagandamaßnahmen in Hinblick auf Kinder Jugendliche abgebildet. Jungvolkmädel finden und Jugendliche verdeutlichen bzw. verbildlichen sich nur auf der zweiten Fotographie von links, sollen. Beide Plakate dienten der Propagierung in der mittleren Bildreihe. Sie können durch

46 vgl. Neue Freie Presse. 28. Mai 1934, S. 2. Siehe dazu etwa: Payne, Stanley: Geschichte des 47 Die Verherrlichung der Jugend und ihre Betonung Faschismus. Aufstieg und Fall einer europäischen dieser als „Frontkämpfergeneration“ können als Bewegung, London 1995, S. 15 ff. wesentliche Merkmale für faschistische Herrschaftssysteme 48 Quellenangabe: Objekt 16311238 (Österreichische angesehen werden. Somit zeigen sich auch im Bereich Nationalbibliothek Wien). Abgerufen unter: http://www. der Kinder- und Jugendpolitik des Dollfuß-Schuschnigg- bildindex.de/?ARCHIV_wien_oenb#l6 (abgerufen am: Regimes klare Wesenszüge eines faschistischen Systems. 19.4.2010).

34 m&Z 3/2010 ihre Kleidung, das Jungvolk-Dirndl, identifiziert werden. Die Idealisierung des Landlebens ließ werden. Die restlichen Fotographien zeigen sich gut mit der Verherrlichung der Natur vor allem das Strammstehen in Reih und Glied bzw. der Rückbesinnung auf „vormoderne“ oder verweisen auf andere Tätigkeiten des ÖJV Gesellschaftsstrukturen, kombinieren. Das Plakat (Zeltlager, Bautätigkeit, Ferienaktion usw.). zeigt überwiegend männliche Angehörige des Kameradschaft und die Bereitschaft zum Aufgehen ÖJV, beim Marschieren, Strammstehen und des Individuums in einer größeren Gemeinschaft Adjustieren. Nur eine Abbildung zeigt nicht­ werden durch diese Bilder vermittelt. All das uniformierte Jugendliche, die sich gemeinsam sind wesentliche Grundvoraussetzungen für eine über ein Buch beugen, zu sehen. Dadurch Generation von Mitläufern, somit findet sich in wird zwar auch auf die nicht-militärischen diesem Plakat ein entscheidender Hinweis auf Komponenten in den Aktivitäten des ÖJV die Zukunftsvisionen der austrofaschistischen hingewiesen, es dominiert aber trotzdem der Regierung. Eindruck einer „Soldatengemeinschaft“. Auf diesem Plakat wird die vormilitärische Erziehung Beispiel II mit einem Gefühl der Heimatliebe in Verbindung gebracht, wobei Heimat durch Natur verkörpert Auch das zweite Plakat-Beispiel49 (produziert im wird. Weitergedacht kann dieser Gedanke dann Jahr 1937 vom Werbedienst der Vaterländischen zum „Heldentod“ fuhren, d.h. von Kindesbeinen Front) diente der Anwerbung von Jugendlichen an sollen, vor allem die Burschen wissen, wofür sie für das ÖJV und spielt mit drei Themen: der „im Gleichschritt marschieren“ und letztendlich vormilitärischen Erziehung durch das ÖJV, auch in den Kampf ziehen. Und sollte all das in der Vermittlung von Naturverbundenheit und letzter Instanz den Tod bedeuten, dann ist dieser Heimatliebe sowie Führergehorsam. Letzteres nicht vergebens, sondern geschieht in treuer Liebe zeigt sich vor allem durch das Bild rechts oben: zum Vaterland. Bundeskanzler Schuschnigg, der im Gespräch mit den beiden Jungen deutlich von „oben Condusio herab“ spricht, wirkt belehrend und erhaben. Bei fünf der abgedruckten Fotographien sind Der Überblick zu den vom austrofaschistischen Wald und Wiesenlandschaft im Hintergrund Regierungssystem eingesetzten Propaganda­ zu sehen. Die Ablehnung des Stadtlebens, sowie maßnahmen in Hinblick auf Kinder und Jugendliche lässt die Schlussfolgerung zu, dass die vormilitärische Erziehung erklärtes Ziel der Politik - verkauft als „vaterländische Erziehung“ - gewesen ist. Lieder, Zeitschriften, Plakate, Aufmärsche sowie Kinder- bzw. Jugendbücher zielen vor allem auf ein Thema ab: Heldentum. Heldentaten wiederum stehen in Verbindung mit Kriegen oder Kämpfen, aus denen einer als klarer Sieger hervorgeht. Vor allem die auch durch den Schulfunk vermittelte „große Vergangenheit“ Österreichs nährt die Vorstellung von tapferen die Verherrlichung der Natur, die letztendlich Männern, die bereit waren, für das geliebte auch einhergeht mit dem Gedanken der Vaterland in den Krieg zu ziehen, und in letzter Vaterlands- bzw. Heimatliebe, war integraler Instanz auch ihr Leben für die Heimat zu geben. Bestandteil der propagierten „Österreich Die Bedeutung des Heldenmythos wurde in der Ideologie“. Rückbesinnung auf ein einfaches Propaganda auch in Zusammenhang mit der Leben nach mittelalterlichem Vorbild (ständische Erinnerung an den Märtyrerkanzler Dollfuß Ordnung) fernab von den Wirren der städtischen eingesetzt, denn er ließ als „wahrer deutscher Zentren mit ihren „modernen Gefahren“ und Mann“ sein „Blut für Österreich“. Vielleicht ist Versuchungen - all das sollte nicht zuletzt durch es aber gerade dem Heldentod des „Märtyrers“ die Aktivitäten in der freien Natur vermittelt Dollfuß zu verdanken gewesen, dass die Kinder

49 Quellenangabe: Objekt 16307500 (Österreichische bildindex.de/?ARCHIV_wien_oenb#l6 (abgerufen am: Nationalbibliothek Wien). Abgerufen unter: http://www. 19.4.2010).

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und Jugendlichen in Österreich in Geist und Seele wesentliche Maßnahmen für eine im Gleichschritt bereit waren für die angestrebte Militarisierung. marschierende Generation von Mitläufern Dollfuß als Idol - tapfer verstorben für die Idee gesetzt wurden. In mancher Hinsicht mag das eines christlich-sozialen-deutschen Ständestaates austrofaschistische Regime ein misslungener - und als Vorbild für die Kinder und Jugendlichen „konkurrenzfaschistischer“ Versuch gewesen sein, eines Landes, das um seine Identität rang. Zu doch das darf nicht darüber hinwegtäuschen, groß war noch die Unsicherheit (verstärkt vor dass es entsprechende Bemühungen gegeben hat, allem durch ökonomische Krisen), die vielerorts gerade eben auf dem Gebiet der Kinder- und noch vorhandene Sehnsucht nach der guten alten Jugendarbeit. „Die Jugend soll soweit politisiert Kaiserzeit, und der Wunsch nach einem starken sein, dass sie Jur das Vaterland eintritt und für die Mann, der den Weg aus der Notlage aufzeigen Ideen, die dem Aufbau des Vaterlandes zugrunde sollte, als dass sich in dieser Atmosphäre eine liegen. Die Jugend muss, wenn sie aufgerufen wird, selbstständig denkende und kritische Generation fanatisch für diese vaterländische Idee eintreten. <50 entwickeln hätte können. Vor allem die Aufmärsche und Kundgebungen zielten auf das Der viel beschworene „Geist von Dachau“ Phänomen der Massenbeeinflussung ab. In Reih mitsamt seinen „Nie wieder“-Parolen gilt heute und Glied marschiert, parodiert und kämpft als wichtiger gemeinschaftlicher Appell von es sich eben leichter als allein auf weiter Flur. ehemals verfeindeten politischen Lagern, gegen Dieses Gefühl vermitteln auch die analysierten das nationalsozialistische Regime und dessen Propagandaplakate, die immer wieder eine Erbe, das - wie der erst kürzlich abgehaltene gehorsame Masse von uniformierten Zöglingen Wahlkampf um das Amt des Bundespräsidenten zeigen. Hier tanzt niemand aus der Reihe oder gezeigt hat - bis in die heutige Zeit überlebt hat. stellt sich quer, ein jeder steht stramm für das Dieses „Nie wieder“ sollte sich in den Köpfen der neue Österreich. Wenn Bildung der einzige Menschen aber nicht nur im Zusammenhang mit Ausweg, oder auch das einzige Schutzschild, vor den Jahren 1938 - 1945 einprägen, sondern auch einer Generation von Mitläufern ist, dann hatten die politische Situation in Österreich fünf Jahre die unterm Kruckenkreuz Herangewachsenen davor inkludieren. Denn bereits im Frühjahr 1933 wohl auch wenig Chancen auf eben diese. Denn hatte sich in Österreich ein nicht-demokratisches die Schule als Ort von Bildung und Erziehung System an die Macht geputscht, und in vielen wurde vom austrofaschistischen Machtapparat Bereichen die Bevölkerung auf „autoritäre Linie“ ebenso wie das 1936 gegründete „Österreichische gebracht. Die Politik sah sich zu dieser Zeit Jungvolk“ für die eigenen politischen Ziele den ökonomisch-gesellschaftlichen Problemen instrumentalisiert. Eine von politischen Einflüssen mit ihren demokratischen Kräften nicht mehr möglichst freie Gedankenentfaltung konnte somit gewachsen und suchte nach einem starken Mann, weder innerhalb noch außerhalb der Schulmauern der den Weg aus der Krise weisen sollte. Der stattfinden. wirklich starke Mann kam dann im März 1938, der Weg, den er aus der Krise wies, er endete in Als Fazit aus all diesen Überlegungen kann einer Katastrophe. festgehalten werden, dass im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit bereits vor März 1938

Julia TINHOF (1984), Magisterstudium Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (abgeschlossen im Frühjahr 2010) sowie Diplomstudium Geschichte (abgeschlossen im Sommer 2010). Wissenschaftliche Abschlussarbeit zum Thema „Propaganda im Austrofaschismus - Schwerpunkt Kinder & Jugendliche".

50 Vizekanzler Fürst Starhemberg, Heimweihe des (Hrsg.): Unser Staatsprogramm. Führerworte, Wien 1935, Kraftfahrkorps des Wiener Heimatschutzes (23.10.1934). S. 108. Zitiert nach: Bundeskommissariat für Heimatdienst

36 m&z 3/2010 Von Feindbildern und anderen Kriegskonstruktionen

Die deutschsprachige Kosovo-Berichterstattung 1998/99

Kurt Gritsch Die Berichterstattung bis zum Dabei hatte es bis dahin außer der idealistischen 24. März 1999 Übertragung des Wahrnehmungsmusters des Feindbild Serbien „Bosnien-Krieges“ keine Indizien dafür gegeben. Realistischer wäre gewesen, von der beginnenden Der vorliegende Aufsatz thematisiert die Eskalation des Bürgerkriegs zu sprechen. Entgegen deutschsprachige Kosovo-Berichterstattung der journalistischen Ausgewogenheitspflicht zwischen Januar 1998 und Juni 1999. Während ergriff die NZZ damit Partei. Es habe sich um Serben darin zu neuen ,Nazis’ mutierten, wurden eine „serbische Polizeioperation gegen albanische Albaner ausschließlich als Opfer dargestellt. Die Dörfer“ gehandelt, die Familie Ahmeti sei als Gewalt der UCK wurde, sofern sie überhaupt Ziel ausgesucht worden, weil „die Serben“ an der thematisiert wurde, mit dem Verweis auf die reichen und angesehenen Familie ein Exempel Unterdrückungspolitik Belgrads gerechtfertigt.1 studieren wollten, meint Wysling unter Berufung Mit dem Beginn des Bürgerkrieges zwischen auf den einzigen Überlebenden, Xhevdet der UCK und Serbien anfangs 1998 wurde der Ahmeti. Während dies die einzige Erklärung „Serben=Nazis“-Vergleich aus dem „Jugoslawien- blieb, folgten über mehrere Zeilen detaillierte Krieg“ reaktiviert. Albaner waren die tendenziell Beschreibungen über die Morde, angeblich habe „Guten“, Serben die „Bösen“. Dabei war die es sich um rituelle Hinrichtungen gehandelt. Die Kritik an stereotypen Mustern und einseitigen dazu dokumentierten Aussagen der Angehörigen Berichten über den Balkan für die deutschen blieben unkommentiert. Vor Ort hatte Wysling Zeitungen Frankfurter Allgemeine, Süddeutsche durch Luft- und Bodenbeschuss sowie Feuer Zeitung, Frankfurter Rundschau und tageszeitung beschädigte Häuser sowie 24 frisch angelegte bereits 1994 wissenschaftlich nachgewiesen Grabhügel gesehen. Weiter im Norden lag das worden. Diese hatten ein serbisches Feindbild Städtchen Srbica „wie ausgestorben“, während aufgebaut, erreicht „durch eine Einseitigkeit der sich die Polizisten in der Munitionsfabrik am Berichterstattung zugunsten der Slowenen und Ortsrand in ihren Matten „häuslich eingerichtet“ Kroaten“.2 hatten. Anderswo war außer ein paar Haustieren „kein Lebewesen“ zu sehen, aber dafür „ein Tendenziöse Berichterstattung Grabfeld mit 55 frischen Grabhügeln“. Nach am Beispiel der NZZ albanischen Angaben war die Familie Jashari das Angriffsziel, sechs Frauen und zehn Kinder wurden Es ist nicht verwunderlich, dass das Kosovo das ebenfalls getötet. „Das Dorf in Schussweite der erste Mal 1998 richtig wahrgenommen wurde, Polizeistellungen ist unbewohnbar gemacht.“4 nachdem serbische Polizeieinheiten in der Nachdem Wysling scheinbar alle Fakten genannt Hochebene Drenica am 28. Februar 24 Albaner hatte, folgte seine Interpretation: getötet hatten. Obwohl Belgrad sich darauf berief, „Es ist die gleiche Szenerie wie in Bosnien. eine UCK-Zentrale zerschlagen zu haben, sprach Die Schlussfolgerung ist nahe liegend: Die Andreas Wysling in der Neuen Zürcher Zeitung Albaner der Gegend sind überzeugt, dass die (NZZ) von einem „Massaker“ und mutmaßte, es Belgrader Regierung in Kosovo erneut mit einer markiere den Beginn der „ethnischen Säuberung“.3 ,ethnischen Säuberung begonnen hat.<<5

1 Rüb, Matthias: Vor dem Kampf um Peja, Prizren, Jugoslawienkrieges, Univ.-Diss., Münster 1994, S. 229. Prishtina, in: FAZ, 21. Juli 1998, zit. nach Küntzel, 3 awy (Andreas Wysling), Trauerzüge und Ruinen in Matthias: Der Weg in den Krieg. Deutschland, die Nato Drenica. Massaker an Kosovo-Albanern als Beginn der und das Kosovo, Berlin 2000, S. 75. ethnischen Säuberung in: Neue Zürcher Zeitung, 19. 2 Vollmer, Gabriele C. H.: Polarisierung in der März 1998. Kriegsberichterstattung. Inhaltsanalytische Untersuchung 4 Ebd. bundesdeutscher Tageszeitungen am Beispiel des 5 Ebd.

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Damit machte sich Wysling die auf Glauben worden waren, wobei die Ermordung von vier beruhende und durch langjährige Benachteiligung Polizisten die Aktion der serbischen Sonderpolizei der Albaner nachvollziehbare Gegnerschaft zu ausgelöst hatte. Der entscheidende Punkt ist, dass Serbien unkritisch zu Eigen. Die „ethnische es sich um ein Gefecht mit UCK-Freischärlern Säuberung“ wurde mit der unbewiesenen gehandelt hat, dem auch Zivilisten zum Opfer Analogie zum „Bosnien-Krieg“ als gedanklich fielen, und nicht, wie von Wysling suggeriert, um logische Verbindung suggeriert, obwohl sie einen Angriff auf Zivile, bei dem Kinder, Frauen lediglich vermutet werden konnte, untermauert und Alte getötet wurden. UCK-Gründer Adern vom Stereotyp „die Albaner der Gegend“. Jashari und seine Leute schossen auf die Polizei, Opfer wurden zu Kronzeugen, obwohl die während sie es unterließen, ihre Frauen und ihnen zugeschriebene Aussagekraft auf Glauben, Kinder in Sicherheit zu bringen.9 Dabei spricht nicht auf Fakten beruhte. Am Ende wurde die selbst ein Revisionist wie Matthias Küntzel Behauptung mit dem Adverb „erneut“ zu einer angesichts der 58 Toten von einem Massaker, dem vermeintlichen Tatsache abgerundet. Wyslings er „Vergeltungs- und Abrechnungscharakter“10 Artikel baut auf pauschalierenden Antonymen auf zuschreibt. Das Unseriöse an Wyslings Artikel, („serbische Polizeioperationen gegen albanische der plakativen Charakter für das Gros der Dörfer“; das wie ausgestorben daliegende Kosovo-Berichterstattung der bürgerlich­ Städtchen vs. Polizisten, die sich in einer konservativen, liberalen und sozialdemokratischen Munitionsfabrik „häuslich eingerichtet“ haben; deutschsprachigen Zeitungen und Magazine kein Lebewesen zu sehen, dafür 55 frische Gräber). besitzt, ist jedoch nicht einmal seine tendenziöse Eines sticht aber vor allem ins Auge: Im gesamten Interpretation, sondern das Verschweigen von Artikel wird keine einzige jugoslawische oder Fakten. serbische Quelle zitiert. So gesehen ist Wyslings „naheliegende“ Schlussfolgerung tatsächlich Das „Massaker" von Orahovac eine solche. Hintergründe, Motive oder auch nur Rechtfertigungen der Polizeibehörden, des Wie schon im „Jugoslawien-Krieg“ wurde nun Ministeriums oder einer anderen serbischen Stelle erneut ein serbisches Feindbild aufgebaut, diesmal fehlen. Damit wird der Eindruck irrationalen durch einseitige Berichterstattung zugunsten Handelns erweckt, der als Conclusio in den der Kosovo-Albaner. Die Ermordung von 22 „ethnischen Säuberungen“ schließlich bestätigt serbischen Zivilisten in Klecka ebenfalls im wird. Kein audiatur et altera pars, keine Kritik, August 1998 beispielsweise war, verglichen mit kaum Distanz zu den zitierten Quellen. Kritischer den später zum internationalen Medienereignis Journalismus sieht anders aus. gepuschten Ereignissen von Racak, den meisten Dass am 28. Februar Zivilisten getötet worden Zeitungen nur eine Randnotiz wert. Und dies, sind, bestritt auch das offizielle Serbien nicht obwohl die Ausgangslage wesentlich klarer als in - und immerhin erklärte ein Polizeioffizier, dass Racak gewesen war.11 Während ein tatsächliches der Einsatz gegen die UCK außer Kontrolle Massaker kaum Erwähnung fand, landeten im geraten sei.6 Am 28. April 1998 bezeichnete ein selben Zeitraum Spekulationen auf der Titelseite: Leserbrief Wyslings Reportage als „ein klassisches ,Massengräber jetzt auch im Kosovo entdeckt. Beispiel für einseitige Berichterstattung“,7 weil taz-Reporter stößt bei Orahovac auf „hunderte verschwiegen werde, warum und wie es zum Leichen“.12 Rathfelder hatte dabei nach eigenen beschriebenen Massaker kam. Unter Berufung Angaben ebenso wenig Leichen gesehen wie sein auf Radiomeldungen von Voice of America und US-amerikanischer Kollege Phil Smucker, jedoch Free Europe, „keineswegs Milosevic-freundlich“,8 einen starken Verwesungsgeruch wahrgenommen. wurden als Hintergründe u.a. genannt, dass in Ein serbischer Augenzeuge hatte ihm angeblich von der seit Januar 1998 von der UCK kontrollierten 567 Ermordeten, darunter 430 Kinder, an deren Region Drenica Serben und loyale Albaner getötet Bestattung der Zeuge mitgewirkt haben wollte,

6 Küntzel: Weg in den Krieg, S. 39. 10 Küntzel: Weg in den Krieg, S. 40. 7 Alexandrovic, Sacha: Trauerzüge in Drenica (Briefe an die 11 Vgl. Beham, Mira: Der Informationskrieg um das Kosovo. NZZ). In: Neue Zürcher Zeitung, 28. April 1998. In: Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden 3/2000, 8 Ebd. S. 218-226, S. 222. 9 Dies gestand der für die Besichtigung von Adern Jasharis 12 Rathfelder, Erich: Massengräber jetzt auch im Kosovo zerstörtem Haus verantwortliche ehemalige UCK-Mann entdeckt. In: taz, 3. August 1998. am 22. April 2007 bei meinem Besuch in Prekaz indirekt ein.

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berichtet. Weiteren Augenzeugenberichten zufolge schließlich kritisiert, wiederholte Presseberichte sollten es bis zu 1000 Opfer sein, die fehlenden über Massaker und Massengräber hätten zur Toten erklärte der Korrespondent damit, dass Beunruhigung der Flüchtlinge beigetragen, „Zigeuner“ viele Leichen abtransportiert hätten. „konnten jedoch durch internationale Beobachter Internationale Delegationen fanden letztlich 37 bislang nicht bestätigt werden“.17 Gräber, deren Existenz auch von serbischer Seite bestätigt worden waren. Die Opfer waren bei Skepsis Kampfhandlungen zwischen Sonderpolizei und UCK ums Leben gekommen. Hintergrund war Gerade im deutschen Sprachraum war die die serbische Rückeroberung der Stadt gewesen, Bereitschaft, Partei für die Seite der Albaner zu welche die UCK in „der romantischen Hoffnung ergreifen, aufgrund antiserbischer Ressentiments auf ein bald ganz befreites [sic!] Kosovo“13 zuvor hoch. Dies kam in Deutschland wiederum eingenommen hatte. Anstatt von Bürgerkrieg zu den Interessen der Bundesregierung entgegen, schreiben, lautete eine andere Schlagzeile vom 3. welche zur „Lösung“ der Krise eine militärische August 1998 jedoch „Massengräber im Kosovo. Intervention forcierte und damit Krieg als Hunderte Kinder verscharrt?“14 oder, wie in Mittel deutscher Außen- und Sicherheitspolitik der italienischen Tageszeitung La Repubblica, revitalisierte.18 Dabei waren die Berichte der „So habe ich den Serben geholfen, 430 Kinder deutschen Botschaft in Belgrad differenzierter: zu begraben“ (6. August 1998). Am 6. August erneuerte Rathfelder seine Behauptungen, als „Abschließend möchte die Botschafi klarstel­ Referenz zitierte er die Washington Post vom 4. len, dass es ihr keineswegs darum geht, die August, die sich auf Gerüchte bezogen hatte. Er serbische Seite von Schuldfreizusprechen. Es unterschlug jedoch deren Kernaussage, wonach scheint aber aufgrund der hier bisweilen als nicht von einer hohen Anzahl von Leichen in den eher stark einseitig pro-albanisch empfundenen Massengräbern auszugehen sei. Am 7. August Berichterstattung westlicher Medien (bedingt natürlich auch durch das völlige Fehlen einer ruderte die taz angesichts der Fragwürdigkeit serbischen Öffentlichkeitsarbeit, die diesen des angeblichen Massakers erstmals zurück Namen auch verdient) geboten, immer wieder („Widersprüche über Opfer bei Orahovac“). daraufhinzuweisen, dass das Kosovo-Problem Trotzdem verwies die Zeitung auf einen Bericht eine Vielzahl von Zwischentönen enthält, die der Washington Times, der Rathfelders Version mit bei plakativer Darstellung verloren gehen, und den 367 Leichen, die ein serbischer Augenzeuge a u f mögliche Folgen hinzuweisen, sofern diese angeblich gesehen hatte, stützte. Der Autor des Aspekte unberücksichtigt bleiben. ’“19 als Referenz zitierten Artikels war Phil Smucker, Rathfelders Kompagnon in Orahovac.15 FAZ- Auch im Verteidigungsministerium wurde zur Korrespondent Matthias Rüb schrieb später über Vorsicht gemahnt: In einem internen Bericht vom Rathfelder und Smucker, ohne sie beim Namen zu 10. März 1999 wurde daraufhingewiesen, ,„dass nennen, ihre Zahlen „sorgten zwar vorübergehend die Medienberichterstattung über Flüchtlinge weltweit für Schlagzeilen, doch fußten sie auf und angebliche Offensiven m it Vorbehalten zu keinerlei seriösen Recherche“.16 Selbst kosovo­ betrachten [Hervorhebungen im Original]“20 sei, albanische Zeitungen schrieben von ,nur’ 80- da beide Konfliktparteien versuchten, die eigene 110 Toten. In einer Analyse des Auswärtigen Bevölkerung und die Internationale Gemeinschaft Amtes in Bonn mit Stand November 1998 wurde über die Massenmedien zu beeinflussen.

13 Rüb, Matthias: Kosovo. Ursachen und Folgen eines 17 Auswärtiges Amt, Lagebericht über die asyl- und Krieges in Europa, München 1999, S. 83. abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik 14 Rathfelder, Erich: Massengräber im Kosovo. Hunderte Jugoslawien (Stand: November 1998), 514-516.80/3 Kinder verscharrt? In: Die Presse, 5. August 1998. YUG, 18. November 1998, S. 18, zit. nach 15 Pankow, Horst: Gestank, Chaos, Grauen. Die blutige Spur Elsässer, Jürgen: Kriegsverbrechen. Die tödlichen Lügen des Erich Rathfelder. In: Bittermann, Klaus / Deichmann, der Bundesregierung und ihre Opfer im Kosovo Konflikt Thomas (Hg.): Wie Dr. Joseph Fischer lernte, die Bombe (Konkret Texte 27), Hamburg 2000, S. 182. zu lieben. Die SPD, die Grünen, die Nato und der Krieg 18 Loquai, Heinz: Weichenstellungen für einen Krieg. auf dem Balkan (Critica Diabolis 86), Berlin 1999, S. 26- Internationales Konfliktmanagement und die OSZE im 31, S. 27ff. Kosovo-Konflikt (Demokratie, Sicherheit, Frieden 150), 16 Rüb, Matthias: Phönix aus der Asche. Die UCK: Von Baden-Baden 2003, S. 12-19. der Terrororganisation zur Bodentruppe der Nato? In: 19 Aus einem Zusatz zum Bericht der deutschen Botschaft in Schmid, Thomas (Hg.): Krieg im Kosovo, Reinbek bei Belgrad vom 16. Juni 1998, Ebd., S. 22. Hamburg 1999, S. 47-62, S. 58. 20 Ebd., S. 23.

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Berichterstattung während der an, dass Aussagen von Flüchtlingen vielfach wie NATO-Luftangriffe zwischen Tatsachen behandelt worden seien und erinnerte 24. März und 10. Juni 1999 daran, dass jede Information mindestens zwei unterschiedliche Quellen haben müsse.27 Mit Beginn der Luftangriffe und der Stilisierung Günter Herkel wiederum kritisierte die „nahezu von Slobodan Milosevi zu Hitler vertiefte sich einmütige Kriegsbejahung in den ersten Wochen“ die Einseitigkeit weiter. Beispiele fairen und und die Identifikation der Berichterstatter mit ausgewogenen Verhaltens gab es zwar immer noch, der „eigenen Partei“. Dadurch zeichne sich eine allerdings hatten diese keinen nennenswerten bedenkliche Veränderung des journalistischen Einfluss auf die öffentliche Meinung. So Selbstverständnisses ab, der Journalist werde zum appellierte die IG Medien am 26. März 1999 an Agitator.28 * Friedensforscher Dieter S. Lutz wies alle Journalisten, sich weder für die Interessen auf die Folgen dieser Berichterstattung hin: Jugoslawiens noch für jene der NATO „einspannen oder missbrauchen“21 zu lassen. Ebenfalls am 26. „Durch die Manipulation der öffentlichen März forderte die IG Medien Bezirk Wiesbaden Meinung vor und während des Nato-Bom- die sofortige Beendigung der Bombardierungen, bardements erscheint uns die Entwicklung als eine kontinuierliche Abfolge einseitig von der rügte den Vorsitzenden des DGB, Dieter Schulte, jugoslawischen Seite ausgehender Gewalt und für seine Unterstützung der Bundesregierung verbrecherischer Handlungen, die geradezu und verlangte von ihm, „die Arbeitnehmerschaft zwangsläufig zum Eingreifen der Nato fuhren zu Protesten gegen die NATO-Einsätze und mussten, um noch Schlimmeres zu verhindern.tQ9 die deutsche Beteiligung aufzurufen“.22 Der Vorsitzende der IG Medien, Detlef Hensche, Affirmative Berichterstattung forderte am 28. März ebenfalls, die Angriffe einzustellen sowie „die Jugoslawien-Politik der In ihrer Analyse des medialen Diskurses zum letzten zehn Jahre einer kritischen Revision „Kosovo-Krieg“ anhand der Untersuchung zu unterziehen“.23 Es folgten Gewerkschafter- der Leitartikel von taz, FAZ, Süddeutsche Erklärungen gegen den Krieg,24 darunter u.a. Zeitung, Frankfurter Rundschau und Die Welt die Rücktrittsforderung an DGB-Chef Dieter zwischen 25. März und 20. Juni 199930 stellten Schulte durch den Bremer Bezirksverband der IG Christiane Eilders und Albrecht Lüter fest, Medien.25 Hermann Meyn, Bundesvorsitzender „dass es den Kritikern der NATO-Intervention des Deutschen Journalistenverbandes, kritisierte in Deutschland kaum gelungen ist, sich auf der wenige Tage nach Beginn der Bombardements massenmedialen Ebene Gehör zu verschaffen“.31 die „Hetzsprache“ deutscher Zeitungen und Die Autoren erklären diesen Umstand unter die fehlende Zurückhaltung „in Bezug auf die Bezugnahme auf die Indexing-Hypothese.32 Unsicherheit der Quellen“.26 Franziska Hundseder, Danach ist kritische Medienberichterstattung Bundesvorsitzende der Fachgruppe Journalismus keine konstante Eigenleistung des Journalismus, der IG Medien, warf im Juni 1999 insbesondere sondern abhängig von der Konstellation der den audiovisuellen Massenmedien schlampigen Konfliktlinien im Parlament - die für das und unseriösen Journalismus vor. Sie prangerte politische Spektrum Deutschlands repräsentativen

21 Erklärung der IG Medien zum Kosovo-Krieg, 26. März 29 Lutz, Dieter S.: Das Beispiel Kosovo: Lehrstück wider den 1999, zit. nach http://www.dkp-hessen.de/alle_welt/ Humanitären Interventionismus. In: Meggle, Georg jugoslawien/kosovo-ig-medien2.htm, update 6. Juli 2008. (Hg.): Humanitäre Interventionsethik. Was lehrt uns der 22 Ebd. Kosovo-Krieg,?, Paderborn 2004, S. 267-288, S. 280. 23 Ebd. 30 190 Leitartikel sowie 233 weitere, von den Autoren nicht 24 http://www.labournet.de/krieg/kosovo/dialog.htm, update ausgewertete Kommentare verdeutlichen, dass es sich um 6. Juli 2008 ein außergewöhnliches diskursives Ereignis handelte. 25 M. H., Schelte für DGB-Chef. Bremer IG Medien fordert Allein die taz veröffentlichte 47 Leitartikel, gefolgt Schuhes Rücktritt wegen seiner Kosovo-Erklärung, in: taz, von FAZ und Frankfurter Rundschau mit 37, Süddeutsche 19. April 1999. Zeitung mit 36 und Die Welt mit 33. Eilders, Christiane/ 26 Schulz, Ulrike: Sind Deutschlands Medien Lüter, Albrecht: Gab es eine Gegenöffentlichkeit gleichgeschaltet?, in: Junge Welt, 30. März 1999. währenddes Kosovo-Krieges? Eine vergleichende Analyse 27 Hundseder, Franziska: Herrn Milosevics Ohr. Die Medien der Deutungsrahmen im deutschen Mediendiskurs, in: und der Krieg. In: M — Menschen machen Medien Ulrich Albrecht/Jörg Becker (Hg.), Medien zwischen 6/1999. Krieg und Frieden (Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft 28 Herkel, Günter: Krieg und Medien. Eine kommentierte für Friedens- und Konfliktforschung e.V. 29), Baden- Presseschau zum Jugoslawien-Krieg. In: M — Menschen Baden 2002, S. 103-122, S. 109. machen Medien 6/1999. 31 Ebd., S. 118. 32 Ebd., S. 1 18f.

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fünf Tageszeitungen33 bildeten also in der gingen die Leitartikel im Unterschied zu den Öffentlichkeit die von breitem Konsens geprägte Feuilletons und juristischen Fachzeitschriften so parlamentarische Debatte ab.34 Eilders/Lüter gut wie nicht ein (lediglich 1,6 Prozent).43 konstatieren allen untersuchten Zeitungen Zu ähnlichen Ergebnissen kam Stefan Krempl in „trotz des Zäsurcharakters in der deutschen seiner Analyse der Mailingliste N ettime der New York Nachkriegsgeschichte ein hohes Maß an Konsens Times und der Süddeutsche Zeitung im Zeitraum über die grundsätzliche Legitimität einer vom 22. März bis 20. Juni 1999. Er konstatierte, deutschen Beteiligung am Kosovokrieg“:35 36 dass sowohl die New York Times als auch die Süddeutsche stark vom Rechtfertigungsdiskurs „ Über die Hälfte der Kommentare war der jeweiligen Regierungen geprägt waren, allgemein unterstützend, wenn auch teilweise während investigativer Journalismus und das Bedenklichkeiten geäußert wurden. Etwa ein Hinterfragen von Interessen keine nennenswerte Viertel äußerte sich kritisch, wobei hier nicht Rolle spielten: die grundsätzliche Legitimität in Frage stand, sondern spezifische Handlungsaujforderungen „So werden auch spektakuläre Falschmel­ formuliert wurden. Dazu kam etwa ein dungen übernommen. NATO-Speak schleicht Zehntel kritischer Stellungnahmen, in denen sich in viele Beiträge ein; [...] Krieg, Medien- allerdings keine bessere Alternative — auch und Propagandakritik werden weitgehend in nicht ein Ende des Krieges — formuliert wurde. Enklaven wie das Feuilleton bei der SZ oder Lediglich sechs — davon fü n f in der taz — von die Belgrad-Reporte der Times,verbannt’. [...] 144 bewertenden Stellungnahmen wandten Strikt getrennte Parallelwelten öffnen sich vor sich prinzipiell gegen den Krieg.<36 dem Leser, die dieser selbst diskursiv zusam­ menführen muss.i<43 Im Fokus standen jedoch nicht die Ereignisse im Kosovo oder die serbische Politik - nur jeder Krempl zufolge führte die der Clinton-Regierung zehnte Leitartikel handelte davon sondern die nahe stehende Times im Rechtfertigungs­ deutsche Politik (25%) und die Bündnispolitik und Moralisierungsdiskurs „haushoch“,44 (25%), womit es in der Hälfte aller Fälle also die Süddeutsche vertrat jedoch ebenfalls eine um deutsche oder NATO-Belange ging.37 38 Im pro-interventionistische Linie.45 Diskursive Rahmen grundsätzlicher Zustimmung zum Krieg Anspielungen, die beim Leser mühelos mit den überwogen dann bei der Frankfurter Ru ndschauu nd Gräueln der NS-Zeit in Verbindung gebracht vor allem bei der ta ^ kritische Stellungnahmen, werden konnten, fanden sich ebenfalls.46 Darüber während die Süddeutsche Zeitung dem NATO- hinaus berichtete die Süddeutsche in einem halben Kurs am deutlichsten zustimmte. FAZ und Welt Dutzend Texten über serbische Propaganda und verhielten sich erwartungsgemäß überwiegend ihre massenmediale Verbreitung, während sie unterstützend.40 Inhaltlich dominierte in den NATO-Propaganda und die Rolle der westlichen Leitartikeln das moralische Dilemma zwischen Medien kaum beleuchtete. Brüssel-Korrespondent der Verpflichtung zu militärischer Zurückhaltung Peter Belchschmidt erklärte gar Jamie Shea „zum und jener, Menschenrechtsverletzungen zu wahren Helden des Kriegs“.47 Der kriegskritische verhindern.41 „Die Kommentatoren sahen auffällig Diskurs fand außer im bereits erwähnten Feuilleton eindeutig den Kosovokrieg als Reaktion auf die noch in Reportagen und ,Themenartikeln aus Menschenrechtsverletzungen und Vertreibungen Belgrad statt. Bernhard Küppers berichtete durch Milosevic [Hervorhebungen im Original] .“42 differenzierter, ohne mit Kritik an Milosevic zu Auf die fehlende völkerrechtliche Legitimierung sparen, während der innenpolitische Teil stärker

33 Die PDS-nahe Tageszeitung Neues Deutschland fehlt. Regierungspolitik, sie entfaltete vielmehr limitierende und Diese kritisierte die Regierungslinie jedoch ähnlich wie die kontrollierende Deutungen.“ Ebd., S. 119. PDS im Parlament, was für die Indexing-Hypothese 39 Ebd., S. 112. spricht. 40 Ebd., S. 114. 34 Außer der PDS teilten alle Bundestagsfraktionen im 41 Ebd. Wesentlichen den Regierungskurs. Vgl. Eilders/Lüter, Gab 42 Ebd., S. Il4f. es eine Gegenöffentlichkeit während des Kosovo-Krieges?, 43 Krempl, Stefan: Krieg und Internet: Ausweg aus der S. 103. Propaganda?, Hannover 2004, S. 169f. 35 Ebd.,S. 111. 44 Ebd., S. 116. 36 Ebd.,S. lllf. 45 Ebd., S. 124-131. 37 Ebd.,S. 11 Of. 46 Ebd., S. 126. 38 „Die taz war kein Lautverstärker und Multiplikator der 47 Ebd., S. 129.

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vom Rechtfertigungsdiskurs der NATO und der auf der ersten Seite zu platzieren, bewahrte im Bundesregierung geprägt blieb.48 Unterschied zu vielen seiner Kollegen selbst unter dem Druck der Ereignisse noch Integrität In deutschen Zeitungen differenzierte oder und Professionalität. Es ist keineswegs so, dass neutrale Darstellungen über die Ereignisse im er nicht über die Vertreibungen von Albaner Kosovo zu finden, war bereits vor dem März durch serbische Einheiten und Paramilitärs 1999 schwierig und wurde mit Beginn der geschrieben hätte.56 Neben den Nachrichten Bombardements mit Ausnahme der NATO- über Vertreibung, Plünderung und Massaker kritisch und tendenziell pro-serbisch berichtenden durch serbische Einheiten, welche er zu keinem linken Printmedien Junge Welt, Freitagund Konkret Zeitpunkt verharmloste,57 behielt er aber nahezu aussichtslos. Anders verhielt es sich mit auch den Blick für Differenzierungen und dem Internet. Auch wenn es sich dabei keineswegs ,Gegenbilder’. So fand ein Bericht über das um eine „kompakte ,Gegenöffentlichkeit’“49 Ende einer interethnischen, 1995 von einem handelte, so stellten doch vor allem Blogs und 15jährigen Albaner und einem gleichaltrigen Mailinglisten eine Alternative zu traditionellen Serben gegründeten Teenagerinitiative in Pristina Informationsquellen dar. Dort sei, so Krempl, angesichts der Bombardierungen58 ebenso Platz Propaganda beim gemeinschaftlichen und wie Beispiele liberaler Serben in den Städten, die verlinkten Filtern nie lang verborgen geblieben.50 sich um Albaner kümmerten.59

Paul Watsons Pristina-Berichte Vorurteile und opferzentrierte Berichterstattung Bezeichnend war auch, dass die differenzierenden Berichte des kanadischen Journalisten Paul Heiko Franzen, Ex-Pressesprecher der deutschen Watson aus Pristina kaum rezipiert wurden.51 KFOR-Einheit, räumte Ende 2000 ein, selbst Watson schrieb u.a. von Albanern und Serben, die mit dem ,klassischen’, mediengeprägten Bild in sich gemeinsam an die Beseitigung der durch die das Kosovo gekommen zu sein: „Der Serbe ist der Bomben entstandenen Schäden gemacht hätten.52 Kriegsverbrecher, und der Albaner das Opfer.“60 Des Weiteren meldete er, die jugoslawische Er habe dann aber versucht, den Journalisten Armee und die lokalen Sicherheitskräfte des beide Seiten zu zeigen: Kosovo hätten Albaner bewaffnet, um mit ihnen gemeinsam gegen die UCK zu kämpfen.53 Ein „Wollten sie mit Albanern reden, die vertrieben Bericht über rund 15.000 heimatlose Kosovo- wurden und nun zurückgekehrt waren, habe Albaner, die sich in Svetlje in Nordkosovo frei ich sie auch noch in ein zerstörtes serbisches bewegen konnten, nachdem ihnen die serbische D orf gebracht, durch das die UCKgerollt war und wo Menschen exekutiert worden sind. Polizei die Rückkehr ermöglicht hatte,54 passte Wollten sie in die Enklave, bin ich hinter­ ebenso wenig ins Bild des angeblichen Genozids her noch zu einem albanischen Massengrab wie die Rückkehr von Albanern mitten im Krieg gefahren.<<61 allgemein.55 Pulitzer-Preisträger Watson, der es schaffte, in der keineswegs serbenfreundlichen Viele hätten abgelehnt, sich schließlich, da sie auf Los Angeles Times einige seiner Artikel sogar seine Begleitung und das Auto angewiesen waren,

48 Ebd., S. 127. Thefi, Not Massacres. Justice: Ojfcial says law still 49 Ebd., S. 226. protects people. Outside, Serbian forces empty 50 Ebd. neighbourhoods o f ethnic Albanians. In: Los Angeles 51 Alle hier zitierten Artikel Watsons finden sich im Times, 5. April 1999. Archiv der L.A. Times unter www.latimes.com bzw. auf 57 So im Interview mit dem kanadischen Radiosender CBC, dem direkten Link http://pqasb.pqarchiver.com/latimes/ As It Happens, 13. April 1999, zit. nach http://emperors- advancedsearch.html?track=leftnav-archives, update clothes.com/articles/watson/radioInt.html, update 31. März 2007. 15. August 2008. 52 Watson, Paul: Ethnie Albanians, Serbs Work Together in 58 Watson, Paul: Bombs Close Door on Teens’ Peace Efforts. Power Struggle. In: Los Angeles Times, 30. Mai 1999. In: Los Angeles Times, 19. April 1999. 53 Watson, Paul: Serbs Arm Loyalist Ethnic Albanians. In: 59 Vgl. CBC, As It Happens, 13. April 1999. Los Angeles Times, 31. Mai 1999. 60 Klinger, Nadja/Lehmann, Andreas: „Das verstehst du 54 Watson, Paul: In One Village, Albanian Men Are nicht, das ist der Balkan “. Heiko Franzen, Ex- Everywhere. In: Los Angeles Times, 17. Mai 1999. Pressesprecher der deutschen KFOR-Einheit, über 55 Watson, Paul: Serbs Steer Many Refugees Toward Home. den Kosovo-Konflikt und die Berichterstattung. In: Der In: Los Angeles Times, 21. April 1999. Tagesspiegel, 1. Dezember 2000. 56 Watson, Paul: Pristina Court Focuses on Robbery and 61 Klinger/Lehmann: Der Tagesspiegel, 1. Dezember 2000.

42 m & Z 3/2010 jedoch gefügt. Am Ende bezeichneten sie das schilde missbraucht wurde, wurde kaum einmal Gesehene meist als ,sehr interessant’, aber nicht beschrieben. Im Mittelpunkt der Berichte stand brauchbar für ihren Beitrag.62 So habe er letzten meist die dem üblichen Bürgerkriegsschema Endes doch wieder klassische Bilder gesehen: „Aus entsprechende, wenngleich unverhältnismäßig VilikaHo^a wurde ein Dorfvoller Kriegsverbrecher, brutale Reaktion des Staatsapparates, welche das nicht vor Albanern beschützt werden muss, die Flüchtlingsbewegungen auslöste. Allerdings sondern bewacht wird, waren Leid und Elend weil es gefährlich ist. [...] Angesichts der Instrumenta­ der Zivilbevölkerung Vielleicht lässt es sich auch taktisches Mittel anders nicht verkaufen?“63 lisierbarkeit menschlichen Leids der Guerilla, denn durch Was sich auf jeden Fall für politische und militärische „geschickte Information „verkaufen“ ließ, waren Zwecke erscheint die Forderung und Manipulation Flüchtlingsberichte, wo­ der Medien wurden bei Vorurteile eine nach einem .buchhalterischen internationale Aufmerk­ wesentliche Rolle spielten. Journalismus', in dem die Ge­ samkeit und Betroffenheit Der deutsche Chirurg fühle des Journalisten keine erzeugt“.67 Es lässt sich in den mazedonischen konstatieren, dass sich das Flüchtlingslagern Sten- Rolle spielen dürften, nicht nur Gros der überregionalen kovac I und II, Richard nachvollziehbar, sondern als deutschen Printmedien Münz, sagte nach friedenspolitische Notwendigkeit. dieser Manipulation Kriegsende, er sei sehr nicht zu entziehen überrascht gewesen, dass vermochten. Ob dies die Mehrheit der Flüchtlinge in den beiden auch an der opferzentrierten Berichterstattung Lagern Männer im wehrfähigen Alter gewesen lag? Während des Krieges begründete Eason waren, da es in den Massenmedien immer so Jordan, Chef der weltweiten Berichterstattung bei dargestellt worden war, als würde es diese in den CNN, die Fokussierung auf Flüchtlinge damit, Lagern nicht geben. Selbst wenn Journalisten auf dass es nicht möglich gewesen sei, „verläßliche die Tatsachen hingewiesen worden seien, hätten Informationen aus dem Kosovo zu bekommen“.68 sie sich geweigert, diese wahrzunehmen.64 Münz Doch es gab noch einen anderen Grund, warum fügte noch hinzu, er habe seine Vorstellungen und Flüchtlinge in den Fokus gerückt wurden. Der Vorurteile durch das, was er in den Lagern gesehen deutsche Chirurg Richard Münz in der Welt am habe, revidiert, während die Massenmedien ihre 18. Juni 1999: Vorstellungen „nicht mehr korrigieren konnten „Ich glaube, daß der Flüchtling an sich für die oder wollten. Sie haben den objektiven Blick Journalisten überhaupt nicht wichtig gewesen verloren und sich zu einem Teil dieses Konflikts ist. Die Einseitigkeit diente wohl nur dazu, die machen lassen.“65 deutsche Beteiligung als Nato-Staat irgendwie Teilweise geschah dies durchaus bewusst: zu rech fertigen und zu untermauern. %9 Tageszeitungen wie D ie Welt, die Frankfurter Rundschau, die taz und nicht zuletzt die Angesichts der Instrumentalisierbarkeit men­ Frankfurter Allgemeine sympathisierten mit den schlichen Leids für politische und militärische Kosovo-Albanern und favorisierten die Variante Zwecke erscheint die Forderung nach einem der Eigenstaatlichkeit gegenüber der Autonomie- „»buchhalterischen Journalismus’“,70 in dem Lösung klar.66 Dass dabei die Zivilbevölkerung die Gefühle des Journalisten keine Rolle von der Guerilla-Taktik der UCK als Schutz­ spielen dürften, nicht nur nachvollziehbar,

62 Ebd. dämonisieren uns“. Eason Jordan, 38, Chef der 63 Ebd. weltweiten Berichterstattung bei CNN, über die Arbeit 64 ,Mit den Flüchtlingen wurden politische Spielchen des Fernsehsenders in Jugoslawien. In: Der Spiegel, getrieben. Deutscher Lagerarzt: Medien verzerren Realität. 5. April 1999. In: Die Welt, 18. Juni 1999. 69 „Mit den Flüchtlingen wurden politische Spielchen 65 Ebd. getrieben“. In: Die Welt, 18. Juni 1999. 66 Küntzel: Weg in den Krieg, S. 74f. 70 Dusan Reljic vom Europäischen Medieninstitut in 67 Loquai, Heinz: Der Kosovo-Konflikt - Wege in einen Düsseldorf auf einer Diskussionsveranstaltung in vermeidbaren Krieg. Die Zeit von Ende November 1997 Köln zum Thema „Medien im Krieg“ im Mai 1999. Vgl. bis März 1999 (Demokratie, Sicherheit, Frieden 129), Gehringer, Thomas: Die Medien sind Teil der Kriegs- Baden-Baden 2000, S. 146. Juhrung. Journalisten kritisieren die eigene Bericht­ 68 Von Hammerstein, Konstantin: „Die Serben erstattung über den Kosovo-Konflikt. In: Tagesspiegel, 23724. Mai 1999.

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sondern als friedenspolitische Notwendigkeit. hatte auch der wiederholte Hinweis auf die Zusammenfassend lässt sich festhalten: propagandistische Rolle serbischer Medien, wodurch ihre westlichen Pendants „objektiv“ und a) Durch die opferzentrierte Berichterstattung „kritisch“ wirken konnten, ohne es hinreichend fielen die Sympathien angesichts der Parteien zu sein.72 Und da das massenmediale Interesse serbische Sonderpolizei - UCK - Zivilisten an der Kosovo-Thematik bald nach Ende auf die Zivilbevölkerung. Da im Kosovo der Luftangriffe wieder abflaute, erfuhr die vor 1999 über 85% Albaner lebten, war die Öffentlichkeit wenig über die Hintergründe. Wahrscheinlichkeit, dass Albaner getötet Dokumentationen, welche die als moralisch würden, viel höher als bei Serben oder indifferent gegenüber Völkermord und anderen Ethnien. So wurden albanische Vertreibung diffamierten Interventionsgegner Zivilisten als Opfer serbischen Polizisten postum rehabilitierten, konnten zu keinem als Täter gegenübergestellt. Die UCK wurde Zeitpunkt jene Breitenwirkung erzielen, die als Reaktion auf den Staatsterror interpretiert während der Luftangriffe durch die täglichen und nicht umgekehrt, was sie von ihrer Nachrichten erreicht wurde. Ein folgenschweres Verantwortung exkulpierte. In einer aus dem wie absichtsvolles Vorgehen, wodurch ein Bild Zusammenhang von Terrorismus, Staatsterror des Krieges in Erinnerung bleibt, „das für den und Guerilla gerissenen Perspektive ohne nächsten Waffengang leicht reaktivierbar ist“.73Der ethnisch proportionale Ausgewogenheit englische Kriegsberichterstatter John Pilger stellte waren die Opfer somit tatsächlich im Juli 1999 fest, dass Journalismus seit 30 Jahren hauptsächlich albanische Zivilisten. nicht mehr so propagandistisch aufgetreten sei wie im Fall Kosovo.74 Dies bestätigte indirekt b) Durch die Kategorien ,Völkermord’ und auch NATO-Pressesprechers Jamie Shea: ,Holocaust’ wurde der serbischen Seite als Staatsmacht zwangsläufig die Rolle Hitler- „Dieser Krieg hat sich nicht von selbst erklärt. Deutschlands zugeschrieben. Die Journalisten waren gleichsam Soldaten, in dem Sinne, dass sie der Öffentlichkeit erklären c) In der Tradition der Berichterstattung des mussten, warum dieser Krieg wichtig war.<<75 Jugoslawien-Kriegs’ griff das seit Anfang der 90er Jahre bestehende Raster ,Serben = Nazis’ Fazit und setzte die bestehende Polarisierung fort. In der deutschsprachigen und deutschen Kosovo- d) Die aus a, b und c resultierende Simpli- Berichterstattung 1998/99 wurde Serbien fizierung des politischen, sozioökonomischen gegenüber den Kosovo-Albanern benachteiligt, und ethnischen Konflikts verselbständigte indem der Bürgerkrieg als „ethnische sich und wurde zu einem ökonomischen Säuberung“ und „Genozid“ interpretiert Faktor für die Medien. Je einfacher in wurde. Die Berichterstattung tendenziell Gut und Böse unterteilt und je opfer­ sozialistisch/kommunistisch ausgerichteter zentrierter berichtet wurde, desto höher Printmedien hält dabei in höherem Ausmaß war der Gewinn.71 einer quellenkritischen Prüfung stand als jene konservativer, rechtsgerichteter, liberaler und Berichterstattung für den sozialdemokratischer Medien. Regierungsdruck als nächsten Krieg? Grund für pro-albanische und NATO-freundliche Berichterstattung ist nicht nachweisbar, obwohl Auswirkungen auf Kritikfähigkeit und Selbst­ z.B. Peter Mezger, Auslandschef beim Bayerischen reflexion der westlichen Fernsehnachrichten Fernsehen, während des Krieges einräumte,

71 Der Krieg ist ein Quotenhit. Hohe Marktanteile Jur pruemm_korpsgeist/pruemm_korpsgeist.pdf, S. 3f, update die Sondersendungen. In: Süddeutsche Zeitung, 13. August 2008. 27. März 1999; dpa, Die Tagesschau bleibt Quoten- 73 Beham: Der Informationskrieg um das Kosovo, S. 224. Queen. Starker Zuschauerzuwachs Jur TV-Nachrichten 74 Pilger, John: Nothing in my 30 years o f reporting wars wegen des Krieges. In: Süddeutsche Zeitung, 10. April 1999; compares with the present propaganda dressed as journalism. Berichterstattung im Konjunktiv. Kosovo-TV. In: taz, In: The New Statesman, 12. Juli 1999. 23. April 1999. 75 So Jamie Shea in der zweiteiligen Dokumentation „Balkan 72 Prümm, Karl: Korpsgeist und Denkverbot. Das deutsche — Gewalt ohne Ende“, Teil II „Der Krieg und ein Fernsehen im Kosovo-Krieg, als Pdf-Datei zu finden unter fauler Friede“. ARD 29.10.1999, zit. nach Beham, Der http://www.mediaculture-online.de/fileadmin/bibliothek/ Informationskrieg um das Kosovo, S. 224.

44 m & Z 3/2010 die Medien würden „natürlich benutzt“.76 Verwendung von Kollektivsymbolik Gründe für die einseitige Darstellung jenseits • Wirtschaftskrieg zwischen Medienkonzernen weltanschaulicher Differenzen waren: und seine negativen Auswirkungen auf investigativen Journalismus 1. Auf ideologisch-semantischer Ebene • Einfluss von Nachrichtenagenturen und • Wahrnehmung des Kosovo-Konflikts großen Nachrichtensendern, allesamt in der Lesart des Jugoslawien-Kriegs’ Privatunternehmen (Reuters TV, WTN, und daraus resultierende Simplifizierung APTV, CNN) (Serben = böse, Albaner = gut) • Interpretation des Konflikts in AngesichtssichverschärfenderArbeitsbedingungen Parametern des Holocaust auf dem Medienmarkt durch Konkurrenzkampf • Übertragung der ethisch richtigen Schlüsse des und Quotendruck findet Zensur hauptsächlich Zweiten Weltkrieges auf einen Bürgerkrieg innerhalb der Redaktionen statt.77 Insgesamt (moralisches Gebot, Völkermorde mit allen kann festgehalten werden, dass das westliche Mitteln, auch mit Krieg, zu verhindern) Jugoslawien- und Kosovo-Bild vor und während des Krieges mehrheitlich ein medial erzeugtes war, 2. Auf struktureller Ebene das eher den Interessen der NATO Rechnung • Verwendung assoziations- und konnotations- trug denn der Realität. geladener Bilder und gesteuerter Einsatz manipulativer Wirkung von Bildern durch

Kurt GRITSCH (1976) Dr. phil., geboren in Meran/Südtirol. Studium der Geschichte und Philologie an der Universität Innsbruck. Dissertation: Inszenierung eines gerechten Krieges? Intellektuelle, Medien und der „Kosovo-Krieg" 1999, Hildesheim 2010.

76 Berichterstattung im Konjunktiv. Kosovo-TV. In: taz, 77 Becker, Jörg: Medien im Krieg. In: Albrecht, Ulrich/ 23. April 1999. Becker, Jörg (Hg.): Medien zwischen Krieg und Frieden (Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung e.V. 29), Baden-Baden 2002, S. 13-26, bes. S. 16f.

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Rezensionen Rahmen eines internationalen Symposiums Le­ ben und Werk von Paul F. Lazarsfeld zu würdigen, den „intellektuellen Gründervater der modernen W olfgang R. Langenbucher (Hrsg.): Paul Kommunikationswissenschaft“. Dass dann man­ Felix Lazarsfeld - Leben und Werk. che Beiträge des Symposium keinen Eingang in Anstatt einer Biografie. Wien: Braumüller den 1990 veröffentlichten Berichtsband „Paul F. 2008, 299 Seiten. (= Edition Sozialwissen­ Lazarsfeld. Die Wiener Tradition der empirischen schaften 1.) Sozial- und Kommunikationsforschung“ finden konnten, war finanziellen Gründen geschul­ Mit dem vorliegenden Band eröffnen Hannes det. Abgesehen davon glückte die Absicht von Haas und Rudolf Richter, beide Universität Wien, Langenbucher, dass die Publizistik- und Kommu­ die Reihe „Edition Sozialwissenschaften“ als nikationswissenschaft bei dieser Tagung einige ih­ Forum für inter- und transdisziplinäre Kooperati­ rer wichtigsten wissenschaftlichen Spuren in un­ on. Anliegen der Buchreihe sind folgende: Zur Un­ gleich höherem Maß als bislang reflektierte und terstützung der kooperativen Lehre sollen Grund­ danach fragte, welche Kontinuitäten und Brüche lagentexte für die von den Instituten der Fakultät in jenen Jahrzehnten seit den 20er und frühen für Sozialwissenschaften der Universität Wien ge­ 30er Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden sind, meinsam gehaltenen Lehrveranstaltungen veröf­ als die Publizistik- und Kommunikationswis­ fentlicht werden. Außerdem sollen Ergebnisse aus senschaft durch die Rezeption „amerikanischer Projekten zu den Forschungsschwerpunkten der Arbeiten“ wesentliche Impulse empfing. Fakultät publiziert werden. An erster Stelle führen die beiden Herausgeber der Reihe folgendes Ziel Dennoch konnte der Tagungsband, so Langen­ an: Die „Edition Sozialwissenschaften“ soll die bucher im Vorwort des vorliegenden Bandes Integration der Fächer der Fakultät begleiten und — überschrieben mit „Der unerkannte Klassiker“ dynamisieren, Bewusstsein für Gemeinsamkeiten — keine „Intensivierung der Beschäftigung mit und Unterschiede schaffen sowie die Identität der diesem Klassiker provozieren“. Dazu wird nun Fakultät in Lehre und Forschung dokumentieren. hoffentlich dieses Buch führen, dessen Untertitel Um dieses Ziel zu erreichen, erachten sie eine wis­ markiert, dass außer der Dissertation von David senschaftshistorische Spurensuche als sinnvollen F. Morrison (1976) bis heute keine Biografie über Weg. Eine wahrhaft bestechende Idee, enthebt Lazarsfeld geschrieben wurde. Genährt wird die­ sie doch des schnöden Verdachts so mancher wis­ se Hoffnung nicht zuletzt von den einleitenden senschaftlicher „Eckensteher“, Geschichte werde Ausführungen des Soziologen Anton Amann, lediglich um ihrer selbst willen betrieben. Kon­ seit 2001 Geschäftsführer des Lazarsfelds-Archi- kret bedeutet dies für Haas und Richter, klassische vs zur ,Aktualität Paul F. Lazarsfelds“ (S. 1-20). Texte von und über Persönlichkeiten zu veröffent­ Er konstatiert einerseits, dass „viele methodolo­ lichen, die für eine spezifische Wiener Tradition gische Vorschläge und Forderungen Lazarsfelds der Angewandten Sozialforschung stehen. noch nicht ins methodologische Standardreper­ toire aufgenommen oder mit gegenwärtigen Fort­ Dass die Wahl der beiden Editoren für die Er­ schritten verbunden worden“ sind. Zum anderen, öffnung der Buchreihe auf eine Publikation von dass viele bedeutsame Fragen, die Lazarsfeld selbst Texten über und von Paul F. Lazarsfeld fiel, über­ immer wieder verfolgte, aber nicht zu Ende brin­ rascht nicht. Immerhin ist das Paul F. Lazarsfeld- gen konnte, einer weiteren Analyse harren. (S. Archiv an der Fakultät angesiedelt und immerhin 21). Den ersten Kern des Bandes bilden autobi­ gibt es seit 2001 eine „Paul E Lazarsfeld“-Gast- ografische und wissenschaftsgeschichtliche Texte professur an der Fakultät. Ebenso wenig über­ von Lazarsfeld, Rene König und Nico Stehr. (S. rascht, dass Wolfgang R. Langenbucher für die 21-142) Der zweite Kern weist sich als Reader Herausgabe dieses Bandes gewonnen werden mit ausgewählten Beiträgen aus den vergangenen konnte. Er, von 1984 bis 2006 Vorstand des In­ dreißig Jahren zu Leben und Werk von Lazars­ stituts für Publizistik- und Kommunikationswis­ feld aus, verfasst von Anthony R. Oberschall, senschaft der Universität Wien, Initiator der La- einem der Schüler des „Klassikers“, Michael Pol­ zarsfeld-Professur, war es ja, der unter der Ägide iak, einem Kritiker seines institutionenbildenden der „Österreichischen Gesellschaft für Publizis­ Wirkens, und Christian Fleck, dessen Homepage tik- und Kommunikationswissenschaft“ im Jahr auf der Universität Graz mit vielen Dokumenten 1988 viele exzellente Wissenschaftlerlnnen und zu Lazarsfeld ausgestattet ist. Zwei Texte von Paul Zeitzeuginnen nach Wien gerufen hatte, um im Neurath, ausgewählt aus seinem reichen Nachlass,

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stellen deshalb vorzügliche Ergänzungen dieses Seiten starken Bandes erschließt sich sehr schnell, Buchteils dar, weil er allein schon mit dem Auf­ wenn man die Beiträge überblickt und wird auch bau des Lazarsfeld-Archivs viel zur Rezeption des bereits im kurzen Vorwort vom Herausgeber „Klassikers“ in Österreich beigetragen hat. Alles selbst beschrieben: „Für dieses Handbuch soll in allem ein Band, der eine erste umfassende Le­ diese erweiterte Perspektive eingenommen wer­ bens- und Werk-Dokumentration des vielseitigen den, um eine umfassende Darstellung der Ent­ Denkers und Forschers vorlegt und daher nicht wicklungsgeschichte der Musik in den einzelnen nur für alle Wissenschaftlerlnnen aus den Fakul­ Medien (inkl. des potentiellen Einbezugs von täten für Sozialwissenschaften, sondern auch aus konkreten Inhalten, Formen, Genres, Techno­ jenen der Geistes- und Kulturwissenschaften ge­ logien, Geräten sowie Institutionen, Strukturen nussreiche Pflichtlektüre sein muss. und Prozessen der Produktion und des Vertriebs) zu ermöglichen.“ (S. 8) Die mediengeschichtliche Wolfgang Duchkowitsch, Wien Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung von Musik orientiert sich hier an den Überle­ gungen zu Primärmedien (Einsatz ohne Technik), FIolger Schramm (Hrsg.): Handbuch Musik Sekundärmedien (Medien mit Technikeinsatz und Medien. Konstanz: UVK 2009, 629 bei der Produktion), Tertiärmedien (Medien mit Seiten. Technikeinsatz bei der Produktion und der Re­ zeption) sowie Quartärmedien (Technikeinsatz Holger Schramm ist seit einigen Jahren als Pu­ bei der digitalen Distribution). Die so zentralen blizistikwissenschafter und Medienforscher an Begriffe Medien und Kommunikation werden al­ der Universität Zürich tätig und hat Medien­ lerdings leider an selber Stelle im Vorwort auf nur management und Musik in Hannover, Detmold zweieinhalb Seiten und nur anhand der Konzepte und Austin studiert. Insbesondere im Umfeld von Kübler für die Publizistik- und Kommunika­ der eher sozialwissenschaftlich orientierten tionswissenschaft und von Werner Faulstich für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft die Medien(kultur)wissenschaft oberflächlich de­ im deutschsprachigen Raum hat sich Schramm finiert. Das erscheint aufgrund der sehr lebhaften durch seinen besonders intensiven Bezug zur Mu­ beiden Fächer, ihrer Synthesen und auch der sik ausgezeichnet. Wurde doch gerade aus diesem eingangs genannten Autoren, die sich bereits mit wissenschaftlichen Bereich lange Musik so gut Musik, Medien, Kultur und Kommunikation de­ wie gar nicht oder nur sehr peripher beleuchtet, tailliert auseinandergesetzt haben, etwas verkürzt. sieht man einmal von den wichtigen einzelgän­ Einen - allerdings nicht an Musik orientierten gerischen theoretisierenden Studien von Torsten - integrativen Ansatz zum Medienbegriff hat etwa Casimir oder Gerrit Jöns-Anders ab. Jenseits von seit Jahren Siegfried J. Schmidt entwickelt (vgl. spezifischen Einzelfall-Studien lassen sich aber Schmidt 2008). Dieses Konzept könnte helfen, auch aus anderen einschlägigen Disziplinen wie die von Schramm erwähnte Aspekt-Vielfalt abzu­ Soziologie, Musik- oder Medienwissenschaft für decken, zu systematisieren und zu analysieren. die letzten vierzig Jahre (!) nur selten wirklich um­ fassende und grundlegende Arbeiten dazu finden, In jedem Fall ist das Unterfangen eines derar­ etwa von Christian Kaden, Frank Rotter, Rolf tigen Handbuchs natürlich gar nicht hoch genug Großmann, Michael Jenne, Helmut Rauhe, Peter einzuschätzen, wenn man sich die immer noch Wicke, Helmut Rösing, Hein W. Burow, Walter nicht besonders intensive Berücksichtigung der L. Bühl oder Hartmut Winkler. Diese wiederum - expliziten Zusammenhänge aus Musik, Medien und das kann als Kritik an allen Analysen gesehen und Kommunikation in den genannten Fächern werden - vermeiden dann meistens die besondere und ihren Publikationen sowie Curricula in Ös- Fokussierung auf Popmusik etwa im Unterschied terreich, Schweiz und Deutschland anschaut. zu Kunstmusik (vgl. Jacke 2008, 2009). Schramm hat den von „MTV Networks Germa­ Umso bedeutender, dass Schramm neben einigen ny“ unterstützen Band (und das, obwohl es hier Sammelbänden und seiner informativen Disser­ nicht ausdrücklich und sogar eher u.a. um Pop­ tationsschrift zum Mood-Management bei der musik und noch weniger um deren Vermarktung Musikrezeption nun ein Handbuch zum Zusam­ geht) in vier Hauptkapitel unterteilt: ,Anfänge menhang von Musik und Medien vorlegt und der medialen Übermittlung von Musik“, „Musik sicherlich nicht unbedacht die Musik hier vor in auditiven und audio-visuellen Medien“, „Mu­ die Medien platziert. Der rote Faden eines mul­ sik in nicht-auditiven Medien“, „Komposition tiperspektivischen Medienkonzepts des über 600 und Produktion von Musik unter dem Einfluss

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von Medien“. Dazu kommen eine Art Residual- wissenschaften und eine zunehmende Kooperati­ Kapitel („Ergänzende Perspektiven“) und einen on sowie eine Transdisziplinierung dieser beiden für ein Handbuch notwendigen Anhang mit Fächer mit einer für Pop sensiblen, neuen Mu­ Autorinnen/Autoren-Angaben, Register der Per­ sikwissenschaft. Damit nachwachsende Dozieren­ sonen, Bands, Firmen und Institutionen sowie de z.B. in der Kommunikationswissenschaft von einem Sachregister. gestandenen Kolleginnen nicht mehr verwundert auf die Exotik und den vermeintlichen Unsinn Neben dem ebenfalls gerade erst erschienenen ihrer (überfüllten) Lehrveranstaltungen und (re­ Handbuch zur Popmusikologie von Derek B. zipierten) Publikationen zu Musik und Medien Scott (Scott 2009) ist das vorliegende Handbuch angesprochen werden. Daran arbeiten die hier bisher in diesem Umfang und mit dieser Syste­ beteiligten Autorinnen und Autoren und der He­ matik sicherlich bislang einzigartig. Hier werden rausgeber, das ist der wohl größte wissenschafts­ neben Aspekten der Notation (Herbert Bruhn) politische Verdienst dieser Veröffentlichung. und Konservierung von Musik (Albrecht Schnei­ der) auch eher randständige Einzelmedien wie das Literatur: Hörspiel (Hans-Jürgen Krug), das Radio (Hol- Jacke, Christoph: Keine Musik ohne Medien, keine ger Schramm), Computermusik (Andre Rusch- Medien ohne Musik? Pop(-kulturwissenschafi) aus koswki) oder Musikzeitschriften (Till Krause und medienwissenschafilicher Perspektive. In: Bielefeldt, Stefan Weihnacht) ebenso wie Interkulturalität Christian; Dahmen, Udo; Grossmann, Rolf (Hg.): (Peter Imort) und Medienkonvergenz (Thomas PopMusicology. Perspektiven einer Popmusikwissen­ Münch und Martina Schuegraf) behandelt. schaft. Bielefeld: Transcript 2008, S. 135-152. Freilich erscheint es aufgrund des insgesamt we­ Jacke, Christoph: Einführung in Populäre Musik nig bearbeiteten Themengebiets sehr leicht, selbst und Medien. Münster u.a.: LIT 2009. bei einem derart vielseitigen Handbuch Desi­ Schmidt, Siegfried J.: Der Medienkompakthegriff. derata zu finden. Doch ist es aufgrund aktueller In: Münker, Stefan; Roesler, Alexander (Hrsg.): Entwicklungen und Diskussionen schon etwas Was ist ein Medium? Frankfurt a.M.: Suhrkamp bedauerlich, dass kaum spezifische Ausführungen 2008. S. 144-157. zur Popmusik (im Gegensatz zum Musiktheater, Scott, Derek B. (Hrsg.): The Ashgate Research zur Neuen Musik und Musik- bzw. Klangkunst) Companion to Popular Musicology. Farnham und und auch deren Digitalisierung vorgenommen Burlington: Ashgate 2009. werden, sieht man einmal davon ab, dass sich einige der Autoren vor allem in Bezug auf Ein­ Christoph Jacke, Paderborn zelmedien (z.B. Peter Wicke zum Tonträger, Ro­ land Seim zum Plattencover) oder Produktions­ technik (Albrecht Schneider) erwartungsgemäß A ndy Kaltenbrunner, Mattias Karmasin, mit Pop-Beispielen beschäftigen. Zudem vermisst Daniela Kraus (Hrsg.): Der Journalisten man in dem Band die im Deutschsprachigen so Report III. Politikjournalismus in Öster-reich. zahlreichen Autoren aus den Feldern von Pop- Wien: facultas.wuv 2010, 172 Seiten. Theorie, Pop-Journalismus und allgemeiner Pop- Reflexion und - dieses ist aber eine immer noch Mit dem hier zu besprechenden Sammelband gültige generelle Feststellung für die hiesigen Pop­ legt das Herausgebertrio Andy Kaltenbrunner, musikforschungen und kein gezielter Vorwurf an Daniela Kraus (beide „Medienhaus Wien“) und Schramm - (noch) mehr Autorinnen. Schramm Matthias Karmasin (Universität Klagenfurt) den hat immerhin knapp ein Drittel an Forscherinnen mittlerweile dritten einschlägigen Sammelband versammelt. zum österreichischen Journalismus vor. Erhob die erste Publikation (Der Journalismus- Alle diese kleinen Vorwürfe schmälern aber kei­ Report. Österreichs Medien und ihre Macher) die nesfalls die Bedeutung dieses zukünftigen Stan­ soziodemografischen Merkmale, die zweite (Der dardwerks für Forschende, Journalisten, Interes­ Journalismus-Report II. Österreichs Medienma­ sierte und vor allem Studierende der vielfältigen cher und ihre Motive. Eine repräsentative Befra­ Studiengänge zu (Pop)Musik und Medien etwa in gung. ) Motive, Berufsziele und Ideale so unter­ Krems, Berlin, Hannover, Oldenburg und Pader­ sucht das hier zu besprechende Herausgeberwerk born. Wichtig wäre zudem eine Intensivierung der - aufbauend auf den „Journalismus-Report II“ Analyse dieses sich wandelnden und stets luziden - die Untergruppe der Politikjournalisten. Bereichs in den Kommunikations- und Medien­

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Das Buch besteht aus drei thematisch abge­ gefunden werden, über die ohnehin schon berich­ grenzten Themenbereichen („Einstellungen und tet wurde.“(S. 62) Kaltenbrunners Beitrag („Was Selbstverständnis“ (S. 11-48), „Recherche und bin ich? Leitmotive und Leitmedien im Politik- Arbeitsweisen“ (S. 49-107) sowie „Medien und journalismus“ (S. 109-134)) ist über weite Stre­ Politik“ (S. 109-160)), wobei jeder Themenbe­ cken eine Abrechnung mit der heimischen, vor reich jeweils drei Beiträge umfasst. Neu und von allem auf den ORF bezogenen Medienpolitik im den Herausgebern als „Gegenschnitt“ (S. 8) be­ Allgemeinen und mit der „Kronen Zeitung“ im zeichnet, ist die Praxisperspektive, die, jeweils als Speziellen. Österreichs Innenpolitikjournalisten, „Kommentar“ bezeichnet, von Eva Weissenberger so die umfragebasierte Analyse, verorten sich (S. 27-32), Robert Wiesner (S. 79-83) und Her­ politisch deutlich weiter links als erstens die Ge­ bert Lackner (S. 135-138) behandelt wurde und samtbevölkerung und zweitens die Journalisten - soviel sei an dieser Stelle bereits ge- und bewer­ im Allgemeinen (S. 111), neigen am ehesten den tet - absolut gelungen ist. Die Buchdramaturgie „Grünen“ zu (S. 113) und nutzen die Qualitäts­ besteht jeweils aus einem Beitrag der Herausgeber medien „Der Standard“, „Die Presse“ sowie den (dazu weiter unten), den eben erwähnten „Kom­ ORF (inklusiver deren Onlineangebote) am häu­ mentaren“ sowie einem jeweils von außen kom­ figsten (S. 130). menden, thematisch passenden, ergänzenden und den Sammelband bereichernden Beitrag. (Mar­ Als absolute Positiva sind die internen Verweise celo Jenny, Wolfgang C. Müller, Nikolaus Eder: auf die einzelnen Beiträge, die den Sammelband Wie „europäisch“ sind Österreichs Journalisten homogenisieren und intern kontextualisieren, die und Journalistinnen? Ein Vergleich mit Opini- Einbindung der Ergebnisse der „Gallup“-Umfrage on-Leadern aus Wirtschaft und Politik: Emme­ in den internationalen Forschungsstand, wodurch rich Tälos, Andy Kaltenbrunner: Wikipedia als sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede Wegweiser; Josef Seethaler, Gabriele Melischek: sehr gut extrapoliert werden, sowie der Abgleich Journalismus und Politik in den österreichischen mit den Daten des zweiten Journalismus-Reports, Nationalratswahlen 1999-2008) die belegen, dass die untersuchte Teilmenge sich teilweise gravierend von den Journalisten abhebt, Zentral und empirisch am ergiebigsten sind die hervorzuheben. Ausführungen der drei Herausgeber, die auf eine „Gallup“-Umfrage unter 100 österreichischen In­ Zu kritisieren ist, dass die Samplebeschreibung nenpolitikjournalisten basieren, welche die drei ans Ende des Buches verfrachtet wurde und die Themenkomplexe empirisch ausleuchten und auf Publikation einen tabellarischen Anhang durchaus die im Folgenden eingegangen wird. Mattias Kar- vertragen hätte. Diese Punkte kann man durch­ masins Beitrag „Vierte Gewalt oder Hofberichter­ aus der Kategorie „geschmäcklerisch“ zuordnen. statter? Rollenbilder im Politikjournalismus“ (S. Was als gravierender Mangel angesehen werden 11-26) gleicht den erwähnten, originären Daten­ muss, ist der Umstand, dass sich die Datenanaly­ satz mit den Daten des „Journalismus-Report II“ sen der drei Hauptprotagonisten Kaltenbrunner, aber auch mit internationalen Vergleichsstudien Karmasin und Kraus fast durchwegs auf die Wie­ ab und schlussfolgert: „Österreichs Politikjour­ dergabe der Prozentwerte der abgefragten Items nalistinnen fühlen sich dem Ideal des neutralen, beschränken. Die Auswertung bei Karmasin liest präzisen und objektiven Informationsjournalisten sich dann so: „Der Aussage 'Politikjournalismus verpflichtet. Gleichzeitig aber verstehen sie sich in verliert insgesamt an Bedeutung gegenüber ande­ auffallend hohem Maße als Kritiker und als Kon- ren redaktionellen Inhalten' stimmen 11 % voll, trollinstanz für Politik, Wirtschaft und Gesell­ 33 % eher zu - aber 23 % stimmen eher nicht zu, schaft.“ (S. 18) Sofern es das Online-Recherche- und 33 % lehnen diese Aussage ab [...]. Von den Verhalten der untersuchten Zielgruppe betrifft, Politikjournalistinnen glauben immerhin 60 %, kommt Daniela Kraus (49-78) zu dem Schluss, dass Hintergrundberichterstattung auch tatsäch­ dass „mit Abstand am häufigsten einerseits eta­ lich an Bedeutung gewinnt, aber 40 % stimmen blierte Medien, andererseits Google genutzt“ dem (eher) nicht zu. Vor allem Politikjournalisten werden. „User-generated Content aus dem So­ meinen (im Gegensatz zu Politikjournalistinnen), cial Web, spezialisierte Datenbanken und Archive dass Hintergrundberichterstattung wichtiger wer­ oder auch andere Angebote, auch solche, deren de. Die mit EU-Politik befassten Kolleginnen Inhalte Google nicht erfasst, übersteigen hinge­ nehmen das seltener an [...]. Relativ einig sind gen deutlich seltener die Wahrnehmungsschwelle. sich die Befragten in einem anderen Punkt: Nur Beides trägt dazu bei, dass bevorzugt jene Fakten 21 % stimmen (eher) zu, dass der Stellenwert

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des kritischen bzw. investigativen Journalismus zunimmt [...]. Dass die Sensationalisierung im Rainald Goetz: Klage. Frankfurt am Main: Politikjournalismus zunimmt, wird von 84 % Suhrkamp Verlag 2008, 428 Seiten. (eher) bejaht, dem Umstand, dass Personen als Handlungsträger in den Vordergrund der Be­ Rainald Goetz: Losalbern. Frankfurt am richterstattung rücken, stimmen 88 % (eher) zu, Main: Suhrkamp Verlag 2009, 187 Seiten. und ebenso viele Politikjournalistinnen sehen zum ganzen oder überwiegenden Teil eine immer Kathrin Röggla: Gespensterarbeit, Kri- stärkere Konfliktorientierung in der Berichterstat­ sen-management und Weltmarktfiktion. tung. Dass zusätzlich zeitaufwendige Recherchen (= Wiener Vorlesungen im Rathaus, im Politikjournalismus selten werden (dem stim­ Edition Gesellschaftskritik, Bd. 6) Wien: men drei Viertel der Politikjournalistinnen voll­ Picus Verlag 2009, 62 Seiten. ständig oder zumindest eher zu), lässt vermuten, dass kritische Distanz zu diesen Entwicklungen Kathrin Röggla: die alarmbereiten. Frank­ erschwert wird.“ (S. 12f). Um nicht missverstan­ furt am Main: S. Fischer Verlag 2010, 192 den zu werden: Hier soll Karmasin nicht „vor­ Seiten. geführt“ werden, da die Verschriftlichung von statistischen Daten eine Schreibkategorie für sich Auf literarische Medienkritik - die in dieser Sam­ darstellt. Wer - außer man ist mit der „Überset­ melrezension anhand zweier Autorinnen bespro­ zung“ von Zahlen in Relationen als Naturtalent chen werden soll - wird im kommunikations­ gesegnet — sich diese Passage durchliest, bleibt, wissenschaftlichen Diskurs, der mitunter seine außer bei mehrmaligem Lesen, wohl eher ratlos, eigene mediale Verfasstheit ignoriert, nur selten vor allem wenn man in Betracht zieht, dass sich rekurriert. Lieber lässt man Journalisten die Män­ in diesem Beitrag zusätzlich noch drei Grafiken gel journalistischer Medienkritik analysieren oder mit insgesamt 76 Einzelwerten und eine Tabelle über die ambivalente Beziehung zwischen Jour­ mit 60 Einzelwerten finden. Mit anderen Worten: nalismus und Literatur reflektieren, als dass man Hier werden eine Textwüste und ein Zahlenfried­ sich auf die in der medialen und künstlerischen, hof produziert, die ab einer gewissen Dichte und oft auch akademischen Öffentlichkeit agierenden Intensität zur Erkenntnisleere führen. Darüber Schriftsteller selbst bezöge. Und dennoch, so Ka­ hinaus ist festzuhalten, dass, sofern es statistisch thrin Röggla, sind „Schriftsteller, angeblich Mei­ signifikante Unterschiede betrifft, die Aussagen in ster des Fiktiven und doch entthront von dem den erwähnten drei Beiträgen völlig vage bleiben. gesellschaftlich Fiktiven, [...] Spezialisten für Und damit sind die definitiven Hauptschwächen sprachliche Verhältnisse, für Rhetoriken, mediale des Sammelbandes auf den Punkt gebracht: Er­ und politische.“ (2009, S. 52) Seit immer schon stens das uneinheitliche Auswertungsschema, sind Literaten neben der oft brotlosen Kunstpro­ zweitens die Vagheit bei (etwaigen) Signifikanz­ duktion im Butter offerierenden Journalismus vergleichen und drittens hätte der Datensatz bei - ob als Kritiker oder Reporter, Essayist oder einer konsequenten und vertiefenden Auswertung Gastkommentator - tätig, in dem sie im Unter­ wesentlich mehr hergegeben. Die im Anhang auf­ schied zu Redakteuren auch als Kritik-, früher gar gelisteten soziodemografischen Daten wie Alter, Skandalobjekt fungieren. Dem Quotenerfolg ver­ Geschlecht, politische Selbstverortung, Parteinä­ sprechenden Sensationalismus sind die Hybride he, Migrationshintergrund (!) und Medientyp aus eigener Zunft längst genehmer (siehe Char­ lassen erahnen, dass hier schlicht und einfach lotte Roche, David Schalko, etc.). Und Quote, so eine Chance vertan wurde. Dies freilich könnte Rainald Goetz, „ist für Exzellenz, Individualität aber auch eine Chance für die weiterführende und Kreativitätsresultate überhaupt nicht zustän­ Forschung bedeuten, falls die Community an die dig.“ (2008, S. 263) Rohdaten herankommt. Rainald Goetz kennen netzforsch-popschnel­ Bleibt somit festzuhalten: Trotz der angeführten le Rezipienten wohl nur noch von Googles Schwächen ist eine einschlägig bestückte Biblio­ erster Trefferseite, als Icon mit übers Gesicht thek ohne den vorliegenden Sammelband (und rinnendem Blut. Ob der 1954 in München ge­ seine Vorgänger) undenkbar. borene Doppeldoktor, der jedoch nie als Arzt oder Historiker praktizierte, mit seinem geschickt Heinz P. Wassermann, Graz kalkulierten Schnitt-Auftritt beim Klagenfurter Bachmannpreis-Wettlesen anno 1983 Vorreiter

50 m & Z 3/2010 des deutschen Popliteratur-Revivals post Rolf zogenseins jagende Journalistenkollektiv, in dem Dieter Brinkmann wurde, ist heute irrelevant. das Einzelgängerische bloß zur Abwehr praxishin­ Jene verkaufsfördernde Etikettierung der etwa derlicher Erkenntnis diene, inadäquat sei und die gleichaltrigen Berufsjugendlichen Joachim Lott- Durchlässigkeit für den „Gegenwartsvorgang“ mann und Thomas Meinecke sowie der zehn bis (S. 65) das Ideal. Im Kunstraum der Literatur zwanzig Jahre jüngeren, vulgo telegeneren Ben­ hingegen könnten Leuchtfeuer der Freude und jamin von Stuckrad-Barre und Christian Kracht Echauffierung gezündet werden, was Goetz auch wurde - nach dem weit sinnloseren Spiegel-Dik­ reichlich tut: gegen das stumpfe Agenda-Setting tum eines literarischen „Fräuleinwunders“ - von des (Monate später wieder gelobten) Spiegel und der Schreibschulen-Literatur abgelöst. In Leip­ dessen durch Videoblogs „die Soap seiner selbst“ zig, Hildesheim, Wien und Biel wird nun über (S. 147) gewordenen Kulturressortleiter Matthias Bachelor- und Masterstudiengänge literarische Matussek, die 6/>/>£d7-Mitarbeiterkommanditge- Kreativität gelehrt, in Paderborn Poptheorie un­ sellschaft als „der traurigste Verein im Journa­ terrichtet. Rainald Goetz hingegen, der 1998 die lismus [...], der institutionalisierte Spießer als Frankfurter Poetik-Vorlesungen bestritt, verdich­ Unternehmer“ (S. 258), den literaturkritischen tet ökonomischen Differenzierungs- und Profes- „Trivialjournalismus“ von Ijoma Mangold, die sionalisierungsdruck dieser Art sowie dessen me­ „Ödnis“ der Z eitig. 258) und die lärmaffirmative diales Flottieren frei nach Niklas Luhmann, den „Angebergroßtrompete Schirrmacher-FAZ“ (S. er 1990 augenzwinkernd mit den Texten Soziale I43f.)> „Aldi-TV“ (dokumentierwütig-voyeuris- Praxis und Ästhetisches System modifizierte. Me­ tischer Videojournalismus), BILD und das Sprin­ dien waren und sind Goetz (in Collagen buch­ ger-System, dem er als „der letzte lebende echte stäblich) Material wie Objekt, Kontaktsystem wie FEIND“ (S. 402) diene. Indessen hält er eine obsessiv analysiertes Faszinosum. Hatte Goetz in Eloge auf den „Geistessupermarkt“ Universität den späten Siebzigern in der Süddeutschen und mit seiner „Gleichzeitigkeit von Welttotalität und später in Merkur und TransAtlantik zu publizie­ Hochspezialisiertheit“ auch „in noch so verschüt­ ren begonnen, wurde ab den Achtzigern - dem ten Modulen“, dessen Erkenntnisse aber der „von Jahrzehnt seiner zeitlos besten Bücher Kontrolliert den gegenstandsverbrauchenden Exzessen der und Irre sowie Stücke Krieg - das intellektuel­ Aktualität“ gejagte Journalismus nur „niederzu- le Popmagazin Spex sein Hauptmedium. Seine trashen“ vermag (S. 103f.). Journalismus - neben Neunziger waren von Techno-Events und CD- Kunst und Wissenschaft Teil des Autors „Triade“ Produktionen geprägt, wobei sein Track M ädchen - heißt hier „die gesellschaftlich installierte Zen­ gar von VIVA gesendet wurde. 1998 preschte tralinstanz für Beobachtung und Drohung mit Goetz mit dem ein Jahr lang dauernden, von TV- Beobachtung“, der diese Drohung auch gegen Mitschriften durchtränkten Internettagebuch Ab­ sich selbst richten müsste, sodass „allzu unan­ fall für alle vor. 2001 produzierte das ZDF sein ständiges Verhalten zwischendurch auch einmal, Nachtstudio-Format nothing special\ 2007 betrieb gegen kollegiale Loyalitäten, öffentlich gemacht er für das deutsche Vanity Fair das Weblog Klage werden könnte.“ (S. 131) Dies wäre dann wohl (2008 in Buchform erschienen), heute tritt er bei eine seitens der Kommunikationswissenschaft oft Harald Schmidt auf. Systemische Medienmanie? utopisierte inhärente Medienkritik. Und doch sei „die Großmacht Journalismus, die andere Groß­ Auch Goetz öffentlich zugänglicher, tagesre­ mächte wie Wirtschaft, Politik und Justiz beobach­ flexiver Raum namens Klage entsteht mit einer tend überwacht, zur Selbstbeobachtung und zur - sogleich mit potentiell allen Netusern geteilten Überwachung ihres eigenen Geheim wissens nicht in - Text-Bild-Kombination, die über symbolisch der Lage“ (S. 267). Dies zeige sich etwa bereits da­ generalisierte Medien wie Politik, Geschichte, Fa­ ran, dass der Nepotismus im Journalismussystem milie, Liebe und Justiz (vgl. S. 11) läuft. Denn nicht gegen die Berufsehre verstoße. „der theoretische Skeptizismus von Adorno und Luh­ mann ist in seiner nervösen Feingliedrigkeit auch zur Seinen eigenen Frame - das redaktionelle und Erfassung politischer Ideologie und Realität besser werbliche Umfeld der mittlerweile wieder einge­ ausgerüstet als der so materialreiche, aber theoretisch stellten Vanity Fair Deutschland, das man kaum viel gröber gemachte Anklage- und Einmischungsso­ mit avancierter Literatur assoziieren würde - re­ ziologe Bourdieu. By the way: adieu Baudrillard. “ flektiert er mit wenigen, freundlichen Strichen, (S. 56) Mit diesem Rüstzeug differenziert er stärker jedoch die operationale Bedingtheit eines Bundesratssitzungen und Medienbeobachtungen Blogs a priori. So etwa des Autors Problem, die aus: etwa das die Politik trotz des Aufeinanderbe­ in „Echtzeit“ gewonnenen und nachzeitig wie im

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Schreibmoment reaktiven Erkenntnisse in ent­ seine Erlebnisse auf der Frankfurter Buchmesse sprechenden Text umzusetzen - besagte unbeo­ im Herbst der Kernschmelze des Spekulationssy­ bachtbare Realität? Wie das informationsjourna­ stems oder den Haider-Crash als „das Realkunst­ listische System ein immanentes Problem hat dem werk des Jahres 2008“ (S. 21). Allerorts redet er gesellschaftlichen Auftrag zur Wahrheit, der sich sich kunstvoll in Rage, wo andere an Visiten­ bereits in der Nachrichtenkonstruktion stellt, so karten und Facebookprofilen entlang strategisch wird auch der literarische Protokollant - ob Uwe kommunizieren. Goetz, der in diesem Buch sich Johnson, Walter Kempowski oder Rainald Goetz in die Figuren Klagor, Höllor, Bösor, Ernstor und - mit Selektionsmechanismen konfrontiert. Letz­ Ich aufspaltet, ist das Gegenteil eines Taktikers. Er ter immerhin reflektiert diese, etwa am Beispiel bekennt, dass erst Ulf Poschardt ihn durch Vanity des Untersuchungsausschusses zum Fall des deut­ Fair wieder unter die Menschen zurückgebracht schen Guantänamo-Häftlings Murat Kurnaz, hätte, gesteht seine Kontaktschwierigkeiten ohne bei dem Medien und Politik versagten. Denn den Duktus boulevardesken Konfessionskalküls: daran, dass die „Wahrheit der Letztregulator für Diese, seine „Alienationsposition konnte zu einer Literatur“ sei, die zuständig wäre für die „wahr­ das Soziale aus der Abweichung erschließenden heitsgemäße Dokumentation“ der medialen „Ko­ Ichliteratur fuhren, nie aber zu dem guten Journa­ härenzkriege zwischen Verbalität und Visualität“ lismus, der [...] in der Welt die zu beobachtende, (S. 275), glaubt er nicht mehr. Klage wird auch zu untersuchende und im spezifischen Detail auch gehalten über die sieben Jahre, in denen Goetz erfassbare Problemstelle vorfand. “ (S. 86f.) Goetz an einem Buchprojekt - daher die Aufenthalte dagegen schreibt Text und Kritik in einem und im Bundestag, in Ausschüssen und Medienpro­ beharrt auf seinem „praktische [n] Theoretizismus zessen - scheiterte und nichts publizierte. Klage des Erzählens und Berich tens“ (S. 29), auch wenn selbst ist der Auftakt zu einem neuen Zyklus: War ihn dies zu Reportagen nicht befähigt. Beim der letzte Fünfteiler mit Heute morgen, um 4 Uhr grandios sezierten Herbstempfang der FAZ, an 11, als ich von den Wiesen zurückkam, wo ich den dem sich 2000 Köpfe theatralisch an eine dozie­ Tau aufgelesen habe übertitelt, heißt das neue - bis rende Angela Merkel heranmachen, analysiert er dato Klage, Loslabern und das soeben publizierte die Obsession besonders der Politikjournalisten Bildtagebuch elfter September 2010 umfassende nach sogenannten Hintergrundinformationen: - mehrbändig angelegte Werk und müsste ich g e­ „Mehr denn je war ja die öffentlich zugängliche hen in dunkler Schlucht (Psalm 23). Die Frage da­ Information in einer solchen Massenhaftigkeit, Zu­ hinter lautet: Waren die „Nullerjahre“ - mit 9/11 gänglichkeit und Unüberblickbarkeit zugänglich, und Afghanistan- wie Irakkrieg, New Economy dass das Problem intellektueller Qualität, also auch und Finanzkrise, Web 2.0 und Uberwachungsto- das Problem für den Qualitätsjournalismus, längst leranz - ein Abgrund? umgekippt war aus dem Bedarf an Information in Am Web preist er „die absolut antiautoritäre He- das Gegenteil“ (S. 84) - Gerüchte als Nullinfor­ terotopie der geistigen Struktur“, die „Art von mation, üble Nachrede als Geschäft. Privatfern­ zufälliger und abseitiger Verknüpftheit in die Ge­ sehen und Boulevard machen ihr Geschäft mit genwart anderer einzelner Individuen“ (S. 252), als Vernunft kaschierter Primitivität und Banali­ am Fernsehen kritisiert er, dass sich in ihm „Bild tät. Köstlich zu lesen sein Aufeinandertreffen mit und Sprache, deren Interferenz in echt und auf ivlZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher, dem der Bühne poetisch wirkt“ (S. 317) gegenseitig er mangelnde Seriosität und Wahrhaftigkeitsver­ auslöschen und mit der Informationsüberfülle pflichtung nachsagt, oder Daniel Kehlmann, die bloß einen Tranceeffekt erzeuge. Und dennoch ineinander verschleift werden mit Begebnissen in war Fernsehen einst für ihn, was Natur fiir andere Klage, köstlich sein Schwadronieren wider Peter Menschen bedeutet; auf der Suche nach erkennt­ Sloterdijk, delikat wie absurd seine Kalauer rund nisreicher Qualität las er Lifestyle-Magazine wie um Ä/ZD-Chefredakteur Kai Diekmann und Monocle, Quest, die eingestellten M onopol oder Springer-Boss Mathias Döpfner. Im dritten Teil Galore genauso wie Spiegel und Zeit, durchschürft des fulminanten Buches gibt er wieder den „MIT­ die FAZy Süddeutsche und taz wie auch Blogs in SCHREIBENDEN MÖNCH“ (S. 145) der Dis­ der Mitteilsamkeit seines eigenen. kursfaszination, der Zeitungsberge anhäuft, mit Krisenprotokollen und der Rückkehr in den Me­ Loslabern wolle Rainald Goetz also: über den dizinerberuf experimentiert und den trefflichsten „Missbrauch der Kommunikationsfreiheiten Satz zum Derivat- und Fondsirrsinn seiner Bank­ nach Artikel 5 Grundgesetz (du sollst nicht miss­ beraterin gegenüber ausspricht: „verzeihen Sie, achten das Gesagte deines Gegenübers)“ (S. 16), ich habe ANGST vor Geld.“ (S. 151)

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Fazit: Rainald Goetz’ Schlucht führt in seinen formationen“ (Rainald Goetz) darbieten lässt, die ersten beiden Bänden eine Analyse der Medien­ aber für die Jagd nach einer Story essentiell sind diskurse der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts und in der medialen Narration semantisch be­ und, so steht zu hoffen, zu einer Politik und Wirt­ deutsame Rollen (Illustration, Identifikation, Sta­ schaft durchdringend kritischen wie literarisch tus, Dramatik, etc.) übernehmen. Röggla zeigt mit komplexen Diskursgeschichte der Gegenwart. einer medienethisch luziden Präzision, wie Men­ schen erst durch die (vermeintliche) Interaktion Eine ebenso strikt die Gegenwart fokussierende, mit einem, hier in der Kneipe bedrängten Opfer dabei jedoch auf Pierre Bourdieus soziale Felder in ihre erträumten respektive konstruierten Rol­ rekurrierende Autorin ist Kathrin Röggla. Sie len schlüpfen können, dass manchen Journalisten wurde 1971 in Salzburg geboren, wo sie ihr Ger­ erst „durch Zufälle dieser art karrieren geboren wür­ manistik- und Kommunikationswissenschaftsstu­ den“ (S. 126). Das „schweigen und mauern sei ja dium begann, das sie in Berlin 1999 laut Selbst­ schon landesweit veröffentlicht worden“ (S. 143), auskunft „erfolgreich abbrach.“ Ebendort arbeitet gibt das Opfer aber ein TV-Interview - welches da­ sie als Prosa-, Theater- und Hörspielautorin, de­ mals rund 10 Millionen Zuseher erreichte -, wird ren Bücher mit zahlreichen Auszeichnungen (u.a. ihm, der „frau medienkompetent“ (S. 150), dies Anton-Wildgans-Preis, Bruno-Kreisky-Preis für ebenso übel genommen: Denn all die medialen das politische Buch, Preis der S’W'K-Bestenliste, „aufmerksamkeitsleistungen, zuhörleistungen“ (S. Italo-Svevo-Preis) bedacht wurden. Ihr erstes 164) sollten jedem Rendite erbringen. Theaterstück fake reports (2002) und der Prosa­ band really ground zero (2001) sezieren die Er­ In der Erzählung deutschlandfunk brandet das eignisse von 9/11. wir schlafen nicht (2004), der Stimmengewirr einer interaktiven Radiosendung Erschöpfungstanz einer Parallelgesellschaft von zu einem Unfall noch durch das Krankenhaus­ aufgeputschten New Economy-Managern, IT- zimmer des Opfers, in die erwachsenen brechen Kräften und Wirtschaftsjournalisten in Prosa­ Eltern ob der psychosomatischen Erkrankungen form, arbeitet mit indirekter Rede und Konjunk­ ihrer auf Leistung getrimmten Grundschulkinder tiven, die man aus dem Tagesjournalismus kennt. in Panik aus. Mit bissiger Ironie führt sie Erwach­ Das Drama draußen tobt die dunkelziffer (2005), sene vor, die für ihre chattenden, simsenden und für das sie Schuldnerberater, Selbsthilfegruppen twitternden Kinder keine Zeit erübrigen können und Bankangestellte interviewte, thematisiert den und sich fragen, warum diese am Aufmerksam­ Umgang mit (politisch durchaus gewollter) Über­ keitsdefizitsyndrom (ADS) leiden. Ein Plädoyer schuldung, das 2008 uraufgeführte worst case den für das Schulfach Medienbildung? Dieser sich „Alarmismus“ der Medien, Ökonomie und Poli­ selbst gegenüber taube „Alarmismus“ und dieses tik. Kathrin Röggla erprobt ihre Texte gerne in blinde Entwerfen von Katastrophenszenarien einem Medienformat, um sie in einem anderen post 9/11 lassen sich freilich gut kapitalisieren weiterzuspinnen: So ist jenes Stück in seinem in einem Markt, der sie miterzeugt: Ritalin für Untersuchungsgebiet ebenso mit dem aktuellen ADS-Kinder, „desastertourism“ für den beson­ Erzählband die alarmbereiten verkoppelt wie das deren Urlaub, mit Werbebanner gespickte Apo­ 2009 in Düsseldorf uraufgeführte die beteiligten, kalypse-Websites, nach der „toxischen kreditflut“ das die Sensations- und Beratungsgier der Me­ die Konjunkturhilfemilliarden gegen den „globa­ dienmacher und -nutzer am Fall Natascha Kam­ len betriebsalzheimer“ (S. 59f.) oder die NGO- pusch beleuchtet. Industrie, die (unbewusst?) die Mieten vor Ort des Konflikts in die Höhe treibt und die Kontrol- Man kann annehmen, dass einige dieser immer lierbarkeit für große Unternehmen aufbereitet. schon alles besser gewusst habenden Meinungs­ Im Kosovo - so Röggla in das recherchegespenst posaunisten und parasozialen Adabeis an Kam­ — sei damals vermutlich auf fünfeinwohner eine ra- puschs erster Lesung aus ihrer Autobiographie diostation gekommen, habe diese OSZE-medienfrau in Wien teilnahmen. Röggla nennt sie in der mit gewitzelt, die dafür zuständig gewesen sei, den Leu­ wilde ja gd trefflich bezeichneten Erzählung aus ten vor ort das notwendige know-how zu vermitteln die alarmbereiten „quasi-freund“, „möchtegern- (S. 101). journalist“, „pseudo-psychologin“, „irgendwie- nachbarin“ und „optimale 14-jährige“. Es sind In ihrem, im Rahmen der Wiener Vorlesungen diejenigen Figuren, die nunmehr nicht nur der im Rathaus im Februar 2009 gehaltenen Vor­ Radaujournalismus nach diversen Gewalttaten trag ging Röggla - mit Guy Debord eröffnend auswählt, vorführt und schlussendlich „Nullin­ — davon aus, „dass das Fiktive das Reale überwu-

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chert hat“ (S. 17) und befragte die Genres Ka­ tastrophen- bzw. Gespensterfilm, Fernsehkrimi, Sollte dies die Kommunikationswissenschaft af- Shakespeare-Remake und Filmkritik, inwieweit firmieren oder - alarmieren? „das Weltmarktfiktive in ihnen Platz hat.“ (S. 18) Tatsächlich lassen sich die spekulationskapitali­ Roland Steiner, Wien stischen Arbeitnehmerideale ä la Richard Sennett bzw. unternehmerischen - nicht aber supranati­ onalstaatlichen - worst case-Szenarien katastro­ Rainer Geissler / Horst Pöttker (Hrsg.): Mas­ phenfilmisch denken, vor einen Zeitenwende senmedien und die Integration ethnischer nach all den geplatzten „Blasen“ stünden wir aber Minderheiten in Deutschland. Forschungs­ nicht. Die gesamte Risikogesellschaft (Ulrich befunde. Bielefeld: transcript Verlag Beck) sei ein Horrorfilm, in dem es neben my­ 2009, 352 Seiten. stifizierten Insidern wie Hedgefondsmanager nur noch „Outsider bei einem gespenstischen Treiben Beschäftigte sich die deutsche Kommunikations­ [gibt], das niemand mehr in den Griff bekommt“ wissenschaft über Jahrzehnte vor allem in einzel­ (S. 37). In einen TV-Krimi jedoch lasse sich die nen Fallstudien mit der medialen Darstellung von umtriebige Gier nebulöser Protagonisten nicht „Ausländern“ und „Gastarbeitern“, setzt sie sich einpassen, beim Königsdrama gebe es dito das erst im letzten Jahrzehnt, nach einem allgemei­ Problem der Besetzung; denn welcher CEO im nen Umdenken hin zum „Einwanderungsland ortlosen Sitz der Macht würde den König inmit­ Deutschland“, mit der bestehenden Realität aus­ ten von Morden abgeben und - „was ist schon ein einander: Mit einem europäischen Staat, dessen kleiner Nationalstaat gegen die Deutsche Bank?“ Bevölkerung sich neben den „alteingesessenen“ (S. 49) Bürgern aus zugewanderten Menschen sowie aus im Lande geborenen Menschen mit anderen kul­ Kathrin Röggla ist eine der wenigen Schrift­ turellen Wurzeln (Stichwort zweite und dritte Ge­ stellerinnen, die mit sozialwissenschaftlichen neration) zusammensetzt. Der Soziologe Rainer Erhebungsverfahren wie der Befragung oder Geißler und der Kommunikationswissenschaffer teilnehmenden Beobachtung arbeiten. In der lite­ Horst Pöttker nahmen in ihrem Projekt „Mediale rarischen Umsetzung ergibt dies eine vielstimmige Integration ethnischer Minderheiten“ in ambitio­ Musikalität wie auch vielgestaltige Bildlichkeit. nierter Weise die Herausforderung an, eine breite Sie verzichtet bewusst auf einen einzelnen, psy- und zeitgemäße Bestandsaufnahme zu vollziehen. chogrammatisch ausgeformten Protagonisten, der Nach Problemaufriss, Forschungsstand und Bibli­ dem Leser eine Identifikation ermöglichen wür­ ographie sowie internationalen Vergleichen, Per­ de, zugunsten der formal stringent komponierten spektiven und Erfahrungen (so die Untertitel der Abstraktion eines sozialproblematischen Themas. anderen Bände) erarbeitete das Team um Geißler Sprachanalytisch untersucht Röggla die Narra­ und Pöttker schließlich Forschungsbefunde, aus tive der Macht und bringt etwa die systemischen dem ein 332-seitiger Band entstand. Zusammenhänge zwischen dem am Höhepunkt Aufbauend auf den Auseinandersetzungen in den der jüngsten Finanzindustriekrise unablässig ge­ anderen Publikationen der Reihe machen die He­ streuten Fachwörterhagel und den staatlichen rausgeber von Anfang an klar, was sie unter dem Schuldenauffangnetzen auf den Punkt. Medien Begriff „Integration“ verstehen. Für sie geht es käme hier die Rolle eines nüchtern entwirrenden darum, „dass die hier zugrundegelegte Begriff- Übersetzers zu, doch bedienen sie sich allzu oft der lichkeit weder dem Assimilations- noch dem Se­ Formate einer Helden- oder Märchenerzählung gregations-Konzept folgt, sondern die Integration bzw. spielen selbst Co-Dramaturgen der Gesund- moderner Einwanderungsgesellschaften als einen heits-, Klima- und Wirtschaftsdesaster. Innert die­ Typ von sozialem Zusammenhalt versteht, der ser Medienindustrie des Spektakels konstituieren im Sinne von ,Einheit in Verschiedenheit’ nicht Fiktionsformate die menschliche „Wirklichkeit“. auf ethnische Homogenität der Gesellschaftsmit­ Unsere Erfahrungshorizonte, lässt Röggla eine glieder aus ist, sondern deren kulturelle Diffe­ für ihre Freunde respektive ihren Telefonkreis renzen bestehen lässt und anerkennt“ (S. 8). Me­ Öffentlichkeitsarbeit und Netzrecherchen betrei­ dieninhaber und Journalisten sehen sie dabei in bende Daueransprechbare konstatieren, seien auf einer entscheidenden Rolle und als Verantwort­ einen „punkt zusammengeschrumpft:, der längst liche einer „interkulturellen medialen Integrati­ verlorengegangen sei im übergroßen horizont der on“ (ebd.). Auf die Probe stellen wollen Geißler medien“ (2010: 44). und Pöttker mit ihrem Band vor allem die These,

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wonach „[d]er entsprechende Medienumbruch zudem eine zentrale Schwierigkeit bei der Daten­ [...] [in Deutschland. Anm. R.S.] noch nicht erhebung zum Thema ans Tageslicht: In Deutsch­ stattgefunden [hat]“ (ebd.). land gibt es keine Statistiken über Journalisten mit Wurzeln im Ausland. Wenn in den Medienunter­ Im vorliegenden Buch werden mehrere Seiten un­ nehmen Personaldaten mit Informationen dazu ter die Lupe genommen: Das mediale Bild von bestehen, werden diese ungern preisgegeben. Die Migranten und Migration, „Nicht-Migranten“ Rücklaufquoten der in einem zweistufigen Vorge­ und Migranten als Kommunikatoren sowie das hen (Chef- und Lokalredaktion bzw. Journalisten Phänomen „Ethnomedien“. Die Studien wollen mit Migrationshintergrund selbst) durchgeftihrten herausfinden, wie es um die Diversität in Re­ Befragung war nicht üppig. daktionen steht, ob Journalisten ihre integrative Aufgabe anerkennen und wie sich die Darstellung Miltiadis Oulios’ explorative Studie zu „Journa­ von ethnischen Minderheiten in den „Mehrheits­ listen mit Einwanderungshintergrund in deut­ medien“ über die Zeit verändert hat. schen Massenmedien“ konnte ebenso keine op­ Die Fragestellungen beschränken sich dabei nicht timistischen Ergebnisse ans Tageslicht bringen. auf die Gegenwart: In einem kurzen aber sehr Vor allem die Leitungsfunktionen (von Tageszei­ aufschlussreichen historischen ersten Abschnitt tungen bis zu TV-Sendern) scheinen allen voran nehmen Horst Pöttker und Harald Bader die „alteingesessenen Deutschen“ Vorbehalten zu Situation polnischer Arbeiter im Ruhrgebiet vor sein. 1914 unter die Lupe. Dabei prüfen sie, welche Rolle die Medien in einem Fall spielten, in dem Gleich mehrere Beiträge im Mittelteil des Bandes eine Gruppe Zugewanderter mit den Ansässigen diskutieren die Sinnhaftigkeit der Richtlinie 12.1 nicht zusammenwuchs. Aufgrund von Versäum­ des deutschen Pressekodex’, die besagt, dass „in nissen der Mehrheit wie der Minderheit entstand der Berichterstattung über Straftaten [...] die keine Einheit, schlussfolgern Pöttker und Bader. Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu re­ Die Arbeiter, zumeist Bergarbeiter oder Gruben­ ligiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten beamte, identifizierten sich nicht mit ihrer neuen nur dann erwähnt [wird. Anm. R.S.], wenn für Umgebung und zogen vielfach weiter, etwa nach das Verständnis des berichteten Vorgangs ein be­ Frankreich. gründbarer Sachbezug besteht“ (S. 217). In den Schlussfolgerung sind sich die Autoren einig: Sarah Hubrich taucht in ihrer Analyse des Pres­ Horst Pöttker fand in seiner Untersuchung zur seechos auf das deutsch-italienische Anwerbeab- Akzeptanz von Diskriminierungsverboten unter kommen von 1955 in die „Urzeit“ der bis heute Journalisten heraus, dass Regelungen diesbezüg­ latenten „Ausländerdebatte“ ein. Die Erkenntnis, lich nur dann funktionieren, wenn die Redak­ dass die (voreingenommene) Betrachtungen von teure in der für den Berufsstand so wichtigen Ei­ Immigranten einst und jetzt so verschieden nicht genverantwortung belassen werden und weiterhin sind und der negativ konnotierte „Gastarbeiter“ selbst entscheiden, was sie wie beschreiben und nicht erst in der Wirtschaftskrise in den 1970er- wann die Zugehörigkeit einer Person in einem Jahren geboren wurde, zeigt, wie wichtig und Artikel vorkommt oder nicht. Daniel Müller sieht erkenntnisbringend historische Untersuchungen anhand einer Studie über die Erwähnung der Zu­ sein können - auch für gegenwärtige Problem­ gehörigkeit von Tatverdächtigen in Dortmunder stellungen. Regionalzeitungen genügend journalistische Sen­ Die mittleren Abschnitte widmen sich den Be­ sibilisierung. Cornelia Mohr, Harald Bader und reichen „Journalisten“, „Diskriminierung“ und Malte Wicking wiederum kommen zum Schluss, „Mehrheitsmedien“. Der erste Versuch, „reprä­ dass durch mediale Rezeption entstehende Vorur­ sentative Daten zur Beteiligung von Journalisten teile gegenüber von Migranten durch die Richtli­ mit Migrationshintergrund in den Redaktionen nie des Pressekodex’ nicht verhindert werden, da der deutschen Tageszeitungen zu erheben“ (S. implizierte Informationen, die zur Bestätigung 86), bestätigt pessimistische Annahmen: Nur von Klischees führen, so nicht verhindert werden rund ein Prozent der Journalisten deutscher Ta­ können. geszeitungen haben einen familiären Background in einer Minderheit. Für Rainer Geißler, Kristina Im ersten Beitrag des vierten Teils des Bandes Enders und Verena Reuter ist deshalb klar: „Wer („Mehrheitsmedien“) erkennt Patrick Fick über mediale Integration [...] als Ziel an visiert, braucht den Zeitraum von zehn Jahren Veränderungen in einen langen Atem“ (S. 112). Der Beitrag bringt Bezug auf die Darstellung von Migranten, die er

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im Rahmen einer vergleichenden Inhaltsanalyse licher, geographischer und kontextueller Kompo­ von Siegener Lokalmedien 1996 und 2006 un­ nenten eine essentielle Auseinandersetzung mit ter die Lupe nahm. Aber er konzediert dazu eine dem Thema gelungen, die wichtige Ergebnisse integrationshemmende Kontinuität: „Eine nega­ gewann. Trotz allem: Nach dem letzten Beitrag tive Verzerrung ethnischer Minderheiten ist im ist der Leser versucht zu denken, dass womöglich Jahr 2006 immer noch deutlich erkennbar [...]“ noch mehr möglich gewesen wäre; dass Integra­ (S. 265). Nebenerkenntnis: Der Lokalteil der un­ tion abseits von statischen Konzepten wie der tersuchten Tageszeitungen offenbart am meisten normativen Vorgabe nach „Einheit in Verschie­ Chancen auf eine positivere Berichterstattung denheit“ angegangen werden kann und man es von Minderheiten. bei diesem schwierigen und komplexen Thema vielleicht öfter wagen sollte, Grenzen und Räume Parisa Javadian Namin resümiert nach ihrer In­ mehr zu hinterfragen. haltsanalyse von mehreren Monaten Bild und Spiegel aus dem Jahr 2007 ebenfalls mit einer Und auch die Hindernisse, mit denen die Autoren negativen Konstante: „Es kann also festgehalten zu kämpfen hatten, geben den am Spannungsfeld werden, dass sich in den letzten Jahren trotz der Migration und Medien Interessierten etwas mit lautgewordenen Kritik nicht viel an der einsei­ auf dem Weg: Daten über Migranten sind oft tigen Negativdarstellung des Islams in den Me­ schwer zu bekommen. Überhaupt zu definieren, dien geändert hat. Zudem bestehen kaum Unter­ wer zu dieser Kategorie gehört und wer nicht, fällt schiede zwischen [...] Bild und [...] Spiegel“ (S. oft nicht leicht. Manche Forscher neigen zudem 292 £). dazu, Fehler zu begehen wie „Migranten“ und „Ausländer“ zusammenzufassen, wenn es passend Im letzten Teil des Bandes rückt vor allem die erscheint. Das vorliegende Buch zeigt sich dies­ türkische Zeitung H ürriyetm den Mittelpunkt des bezüglich zwar über weite Strecken, aber nicht Interesses: So wird die Integrationsrolle der Eur­ über die ganze Länge trennscharf. Wenn immer opa-Ausgabe der Tageszeitung von Daniel Müller möglich, ist es zwingend notwendig, Ansätze und untersucht und die Art der Berichterstattung eher Instrumente zu wählen, die die komplexen mo­ als integrationshindernd als -fördernd eingestuft. dernen Identitäten zu beschreiben vermögen. Harald Bader wiederum schaut sich an, wie deut­ sche Blätter die H ürriyet einstufen, mit dem Fazit, Richard Solder, Wien dass Frankfitrter Allgemeine, Süddeutsche & Co sie überwiegend nicht als Sprachrohr der deutschen Türken sehen.

Zu guter Letzt befassen sich Kristina Enders und Anne Weibert mit „Identität im Social Web“ und fallen mit diesem Beitrag aus dem Rahmen des Buches: Kulturwissenschaftlich angetrieben prü­ fen sie Chancen, im Internet neue Arten von Iden­ titäten zu kreieren, abseits von Kriterien wie Eth­ nie oder Staatszugehörigkeit. Dabei vergessen die beiden nicht, auf Gefahren und zu hohe Erwar­ tungen an das Web hinzuweisen. Das Potential des W W W als offene Plattform sei da, müsse aber erst ausgeschöpft werden. Gruppen, die bisher nicht so stark wie andere online vertreten sind - Stichwort Digital Divide - sollen gefördert werden. Der Beitrag bildet einen erfrischenden, querden- kerischen Abschluss des rund 350-seitigen Bandes und hebt sich von der Herangehensweise her deut­ lich ab. Die Einleitung verspricht ein Buch, „[...] dessen Vielfalt Leserinnen und Lesern ins Auge springen wird“ (S. 8). Und wahrlich ist durch das Hineinversetzen in verschiedene Positionen, durch das Miteinbeziehen unterschiedlicher zeit­

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NEUERSCHEINUNG

Klaus Arnold, Markus Behmer, Bernd Semrad (Hg.): Kommunikationsgeschichte. Positionen und Werkzeuge. Ein diskursives Hand- und Lehrbuch. (= Kommunikationsgeschichte Band 26.) Münster: LIT 2008.

Was sind die Ziele historischer Kommunika­ tionsforschung? Über welche Theorien wird in der Kommunikationsgeschichte diskutiert? Welche Methoden eignen sich für die Erfor­ schung historischer Fragestellungen? Das Lehr- und Handbuch informiert über den aktuellen theoretischen Diskurs und die zentra­ len Werkzeuge, die zur historischen Erforschung der öffentlichen Kommunikation und der Fachgeschichte herangezogen werden können. Der thematische Bogen spannt sich von der Kulturwissenschaft und Systemtheorie über Biographismus und Genderforschung bis hin zu quantitativen und qualitativen Analyseverfahren. Mit Beiträgen von Horst Pöttker, Rainer Gries, Kurt Imhof, Klaus Arnold, Rudolf Stöber, Wolfram Peiser, Wolfgang R. Langenbucher, Susanne Kinnebrock, Edgar Lersch, Jürgen Wilke, Markus Behmer, Christoph Classen, Michael Meyen, Hans Bohrmann, Josef Seethaler, Maria Löblich und Stefanie Averbeck.

464 S., geh., EUR 39,90 ISBN 978-3-8258-1309-3

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Schopenhauerstraße 32 A-1180 Wien

Erscheinungsort Wien, Verlagspostamt 1180 Wien, 2. Aufgabepostamt 1010 Wien