Giuseppe Garibaldi Und Die ‚Römische Frage‘ (1860–70) Von Pascal Oswald
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© Risorgimento. Perspektiven der Forschung / Prospettive di ricerca http://www.risorgimento.info/beitraege4b.pdf Vom Volturno nach Mentana: Giuseppe Garibaldi und die ‚Römische Frage‘ (1860–70) von Pascal Oswald Abstract: This article deals with the role Garibaldi played in the context of the Roman Question during the years 1860–70 when he made three attempts to conquer the Papal States for the Italian national state with his private army of volunteers. Particular attention is paid to the affairs of Aspromonte (1862) and Mentana (1867), which have often been neglected in historiography. 1. Rom oder Tod – charakterisierende Einführung Am 19. Juli 1862 schwor Garibaldi seine rund 1300 ‚Rothemden‘ umfassende Truppe im sizi- lianischen Marsala auf die Devise „Rom oder Tod“ ein; die Worte entfalteten rasch Breiten- wirkung: In zahlreichen Städten der Apenninenhalbinsel fanden in den folgenden Wochen Kundgebungen unter dem neuen Motto statt.1 Die französische Kaiserin Eugenie soll gegen- über dem italienischen Botschafter in Paris ihre Opposition mit den vielsagenden Worten „Den Tod können sie haben, Rom niemals“ bekundet haben.2 „Rom oder Tod“ wurde schließ- lich zum Schlachtruf der politischen Linken bezüglich der sogenannten ‚Römischen Frage‘ und blieb dies für das gesamte restliche Jahrzehnt.3 Heute steht das radikale Diktum sprichwörtlich für die beiden – gescheiterten – Versuche Ga- ribaldis nach 1861, den restlichen Kirchenstaat zu erobern: Aspromonte (1862) und Mentana (1867); die beiden Unternehmungen sind nunmehr verkürzt unter dem Namen der Orte be- kannt, an denen das jeweils entscheidende Gefecht ausgetragen wurde. Sowohl 1862 als auch 1867 stellten die garibaldinischen Freiwilligen eine Art Privatarmee dar, die außerhalb der staatlichen Ordnung operierte und daher das Gewaltmonopol der Mo- narchie einschränkte.4 Die Spannungen zwischen der Monarchie und der die politische Alter- native verkörpernden Aktionspartei kennzeichneten im innenpolitischen Bereich den Prob- lemkomplex um Garibaldi und die ‚Römische Frage’, welcher in dieser Form der National- staatsgründung von 1861 entsprungen war. Zugleich hatte die ‚Römische Frage‘ unverkenn- bar eine internationale Dimension, da sich die mit ihr verbundenen Ereignisse auf die europäi- sche Diplomatie auswirkten, besonders auf Frankreich, das seit der gescheiterten Revolution von 1849 als Schutzmacht des Papsttums auftrat. Freiwillige aus zahlreichen europäischen wie außereuropäischen Ländern folgten im ersten Jahrzehnt nach der italienischen Einigung dem Aufruf des Papstes an die katholische Welt, den Kirchenstaat zu verteidigen: 1860 und 1 Vgl. etwa Giulio Zimolo, s.v. ‚Roma o Morte (Storia del grido)‘, in: Michele Rosi (Hg.), Dizionario del Risor- gimento nazionale: Dalle origini a Roma capitale. Fatti e persone, Bd. 1: I fatti, Mailand 1931, S. 894 f. 2 Vgl. Jessie White Mario, Vita di Giuseppe Garibaldi, Bd. 2, Mailand 1910, S. 43: „Morte finché si vuole, Roma mai.“ White Mario war als Krankenschwester selbst an den garibaldinischen Unternehmungen beteiligt, sowohl 1860 beim ‚Zug der Tausend‘ als auch 1862 bei der Unternehmung von Aspromonte, 1866 beim ‚Dritten Unab- hängigkeitskrieg‘ gegen die Habsburgermonarchie und erneut 1867 bei der Unternehmung von Mentana. Nach dem Ende ihrer garibaldinischen Tätigkeit beschloss sie, ihre risorgimentalen Kampfeserfahrungen für die Nach- welt festzuhalten, und widmete sich ganz der Publizistik; dazu legte sie eine umfangreiche Privatsammlung von Quellen an. Wenn sie auch auf eine reiche Dokumentation zurückgriff, liegt hier keine ‚objektive Geschichts- schreibung‘, sondern eine progaribaldinische Sichtweise vor. Vgl. auch vgl. Rossella Certini, Jessie White Mario una giornalista educatrice. Tra liberalismo inglese e democrazia italiana, Florenz 1998; Elizabeth Adams Da- niels, Jessie White Mario Risorgimento Revolutionary, Athen 1972. 3 Vgl. Gustav Seibt, Rom oder Tod. Der Kampf um die italienische Hauptstadt, Berlin 2001, S. 28. 4 Vgl. zu diesem Aspekt Christian Jansen, Eine Tradition der Rebellion gegen das staatliche Gewaltmonopol. Italien, 1848–1980, in: Stig Förster / Christian Jansen / Günther Kronenbitter (Hg.), Rückkehr der Condottieri? Krieg und Militär zwischen staatlichem Monopol und Privatisierung: Von der Antike bis zur Gegenwart, Pader- born u.a. 2010 (Krieg in der Geschichte 57), S. 189–204. Dabei geht Jansen leider nur auf den ‚Zug der Tausend‘ von 1860 ein und blendet die Ereignisse von Aspromonte und Mentana völlig aus. Pascal Oswald, Vom Volturno nach Mentana 1 © Risorgimento. Perspektiven der Forschung / Prospettive di ricerca http://www.risorgimento.info/beitraege4b.pdf 1867 kämpften so nicht nur italienische, sondern auch französische, belgische, irische, deut- sche, schweizerische und sogar amerikanische Zuaven zur Verteidigung des Kirchenstaates gegen die Garibaldiner.5 Schließlich gab „der italienische Angriff auf den Kirchenstaat der Ultramontanisierung des Katholizismus einen Schub“, was auf die bestehenden Interdepen- denzen zwischen den nationalen ‚Kulturkämpfen‘ in Europa hinweist.6 Der vorliegende Beitrag befasst sich demgegenüber mit der ‚Römischen Frage‘ als Problem der italienischen Nationalgeschichte der Jahre 1860–70: Er beabsichtigt, die diesbezügliche Rolle Garibaldis zu erläutern und zu beurteilen. Dabei geht es insbesondere um die Erobe- rungsversuche von Aspromonte und Mentana, die als unangenehme Episoden der italieni- schen Nationalgeschichte außerhalb des Fokus der traditionellen Risorgimento-Historiogra- phie standen.7 2. Rom als Ideal eines „ganzen Lebens“: Garibaldi und die ‚Römische Frage‘ vor 1862 Garibaldi selbst nannte die ‚Befreiung‘ Roms in seinen Memoiren „das Ideal [s]eines ganzen Lebens“ und vermittelt darin dem Leser eine Rom-Passion seit früher Jugend.8 Sein zeitge- nössischer Biograph Giuseppe Guerzoni schreibt im Zusammenhang mit der Unternehmung von Mentana: „Rom war […] die fixe Idee, der Polarstern, der Endpunkt seiner patriotischen Mission.“9 Wenn es sich hierbei vermutlich auch um eine teleologische Geschichtsschreibung handelt, ist nicht auszuschließen, dass mit der Erfahrung der Römischen Revolution von 1849 die ‚Befreiung‘ der Ewigen Stadt zu Garibaldis Lebenstraum wurde:10 Damals übernahm der eben erst aus Südamerika zurückgekehrte General den Oberbefehl zur Verteidigung der Rö- mischen Republik gegen die zugunsten des Papsts intervenierenden französischen Truppen. Nach der militärischen Niederlage der Republikaner starteten die Österreicher unter Mithilfe einiger Geistlicher eine Hetzjagd auf den nach Norditalien fliehenden General, bei der seine erste Frau Anita ums Leben kam.11 Das Revolutionsjahr wurde auf diese Weise zu der prägen- den Schlüsselerfahrung für die Rolle Roms in Garibaldis Leben und war wohl auch für den scharfen Antiklerikalismus verantwortlich, der seine späteren Schriften geradezu leitmotivisch 5 Vgl. auch Charles A. Coulomb, The Pope’s legion. The multinational fighting force that defended the Vatican, New York 2008; Piero Raggi, La nona crociata. I volontari di Pio IX in difesa di Roma, Ravenna 22002. Allge- mein zum Thema des transnationalen Charakters von Militär in den kriegerischen Auseinandersetzungen des Risorgimento vgl. Ferdinand N. Göhde, A new military history of the Italian Risorgimento and Anti-Risorgi- mento: the case of ‘transnational soldiers’, in: Modern Italy 19 (2014), S. 21–39. 6 Vgl. Manuel Borutta, Antikatholizismus. Deutschland und Italien im Zeitalter der europäischen Kulturkämpfe, Göttingen 2010 (Bürgertum Neue Folge. Studien zur Zivilgesellschaft), S. 19. Zitat von ebd. 7 Vgl. auch Romano Ugolini, [Rezension zu Mais / Zappone: Roma o Morte], in: Rassegna Storica del Risorgi- mento 97 (2010), S. 429–432, hier S. 432: „il mito di Aspromonte, sempre scomodo“. Leandro Mais / Bruno Zappone, Roma o Morte! Garibaldi e il tragico episodio d’Aspromonte (29 agosto 1862), Rom 2009, S. XI, spre- chen in Bezug auf den Zusammenstoß von Aspromonte von einer „lunga operazione di minimizzazione“. 8 „[L]a liberazione di Roma, il bell’ideale di tutta la mia vita.“ Giuseppe Garibaldi, Memorie autobiografiche, Florenz 1888, S. 428. Die Übersetzung stammt wie alle folgenden, wenn nicht anders angegeben, vom Verfasser. Vgl. außerdem Giuseppe Garibaldi, Le memorie in una delle redazioni anteriori della definitiva del 1872, hrsg. v. der königlichen Kommission, Bologna 1932 (= Edizione Nazionale degli Scritti di Giuseppe Garibaldi 1), S. 9 f. 9 „Roma […] era l’idea fissa, la stella polare, il termine ultimo della sua missione patriottica.“ Giuseppe Guer- zoni, Garibaldi, Bd. 2 (1860–1882), Florenz 21882, S. 463. 10 Vgl. auch Alfonso Scirocco, Garibaldi. Battaglie, amori, ideali di un cittadino del mondo, Rom / Bari 2001, S. 320: „Roma era il suo sogno dal 1849.“ 11 Vgl. dazu mit weiteren Literaturhinweisen Jens Späth, Der 17. März 2011 und die Römische Republik von 1849. Eine historische Spurensuche auf dem Gianicolo, in: Gabriele B. Clemens / Jens Späth (Hg.), 150 Jahre Risorgimento – geeintes Italien?, Trier 2014 (= Geschichte & Kultur. Saarbrücker Reihe 5), S. 187–220, hier S. 190–192. Pascal Oswald, Vom Volturno nach Mentana 2 © Risorgimento. Perspektiven der Forschung / Prospettive di ricerca http://www.risorgimento.info/beitraege4b.pdf durchzieht: So heißt es etwa in der endgültigen Fassung der Memoiren von 1872, der Priester sei eine „Personifikation der Lüge“, das Priestertum „die Stütze aller Despotie, aller Fehler und aller Korruption“.12 Bereits 1860, in dem für das Risorgimento so bedeutenden „Wunderjahr“13, das den ‚Mythos