Fabrikation einer Heldin

Wie Lady Florentia Sale durch Tagebuchschreiben während des Ersten Anglo- Afghanischen Krieges zur Vorbildfigur Grossbritanniens wurde

Masterarbeit eingereicht bei der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg (CH)

von: Anna Katharina Weltert Heimatort: Büron (LU) 2012

Betreuer: Prof. Dr. Thomas Lau

INHALTSVERZEICHNIS

ABKÜRZUNGEN ...... 3

1 EINLEITENDER TEIL ...... 4

1.1 EINE LADY IN UNGASTLICHER UMGEBUNG: FLORENTIA SALE IN AFGHANISTAN ...... 4 1.2 EINZIGARTIGES ZEITDOKUMENT ODER GESCHICKTE INSZENIERUNG? – DIE QUELLENLAGE...... 6 1.3 WER INTERESSIERT SICH FÜR FLORENTIA SALE? – FORSCHUNGSÜBERBLICK...... 8 1.4 DIE WISSENSCHAFTLICHE BEHANDLUNG EINER LADY – FRAGESTELLUNG UND THESE ...... 14 1.5 ORIENTAL WORDS UND ANDERE SPRACHLICHE STOLPERSTEINE ...... 15 1.6 WAS IST AFGHANISTAN UND WER SIND DIE AFGHANEN? ...... 16

2 TAGEBUCHSCHREIBEN IM 19. JAHRHUNDERT ...... 19

2.1 DAS TAGEBUCH – EINE LITERATURGATTUNG FÜR RANDSTÄNDIGE… ...... 19 2.2 …ODER EINE TRADITION IM LEBEN GROSSER MÄNNER UND FRAUEN? ...... 21 2.3 ZWISCHEN SUBJEKTIVITÄT UND MANIPULATION – DER HISTORISCHE NUTZEN DES TAGEBUCHES...... 22 2.4 VON KABUL NACH LONDON: ÜBERLIEFERUNGSGESCHICHTE DES TAGEBUCHES ...... 25 2.5 DATIERUNG UND AUFBAU DES PUBLIZIERTEN TAGEBUCHES ...... 26 2.6 BESCHREIBUNG DES MANUSKRIPTS ...... 27

3 FLORENTIA SALE IM GREAT GAME...... 30

3.1 AFGHANISTAN – ZUKÜNFTIGES SCHACHBRETT DES GREAT GAME ...... 30 3.2 EIN SCHACHZUG DER BRITEN: DIE EROBERUNG IN AFGHANISTANS ...... 31 3.3 LITTLE ENGLAND IN AFGHANISTAN – DER AUFBAU EINER NEUEN HEIMAT NACH MUSTER ...... 33 3.4 THE ENGLISH ACT AS THEY DO IN ALL OTHER COUNTRIES THEY VISIT – LADY SALE IN AFGHANISTAN 35 3.5 WE COMPROMISED OUR FAITH – ANZEICHEN DES STURMS ...... 37 3.6 A PRETTY GENERAL INSURRECTION – AUFSTAND IN KABUL ...... 41 3.7 AS PEACEABLE AS LONDON CITIZENS – FLORENTIA SALE AM ERSTEN TAG DES AUFSTANDES ...... 44 3.8 THE BULLETS WHIZZED PAST ME – DAS LEBEN IM BELAGERUNGSZUSTAND ...... 47 3.9 AN INGLORIOUS RETREAT – DER RÜCKZUG VON KABUL NACH JELLALABAD ...... 55 3.10 WE DAILY EXPECT TO MARCH: EINE ODYSSEE DURCH AFGHANISTAN ...... 59 3.10.1 Von Khurd Kabul nach Badiabad...... 59 3.10.2 Von Badiabad nach Zanduh ...... 68 3.10.3 Von Zanduh nach Shewaki ...... 71 3.10.4 Von Shewaki nach Bamiyan...... 74

4 TAGEBUCHANALYSE ...... 77

4.1 WE HAVE VERY LITTLE HOPE OF SAVING OUR LIVES – TAGEBUCHSCHREIBEN ALS

SELBSTVERGEWISSERUNG IM KRIEG ...... 77 4.1.1 A soldier's wife may use a soldier's simile – Lady Sale als Offiziersgattin ...... 80 4.1.2 Our house being the best and most commodious – Lady Sale als Hausherrin ...... 85

1 4.1.3 A very unlady-like Lady? – Florentia Sale als Dame von Rang im Krieg ...... 87 4.1.4 Afghan gentlemen oder barbarous and bloodthirsty foe? – Florentia Sale als Ethnografin ...... 93 4.1.5 Do not let us dishonour the British name – Florentia Sale als Repräsentantin Grossbritanniens98 4.2 WE MIGHT HAVE FIGURED IN HISTORY – DAS TAGEBUCH ALS KOLLEKTIVE ERINNERUNG ...... 104

5 SCHLUSS ...... 106

6 BIBLIOGRAFIE ...... 110

7 ANHANG ...... 117

ANHANG 1 ...... 117 ANHANG 2 ...... 118 ANHANG 3 ...... 123 ANHANG 4 ...... 124 ANHANG 5 ...... 126 ANHANG 6 ...... 127 ANHANG 7 ...... 130 ANHANG 8 ...... 131 ANHANG 9 ...... 132 ANHANG 10 ...... 133 ANHANG 11 ...... 134 ANHANG 12 ...... 135

2 ABKÜRZUNGEN

Aufl. = Auflage Bd. = Band Bde. = Bände BL = British Library Bzw. = Beziehungsweise Etc. = et cetera f. = folgende Hg. = Herausgeber IOR = Indian Office Record MS = Manuskript o.O. = ohne Ort o.T. = ohne Tag S. = Seite u.a. = und andere Übs. = Übersetzer Vgl. = Vergleiche z.B. = Zum Beispiel

3 1 EINLEITENDER TEIL

1.1 EINE LADY IN UNGASTLICHER UMGEBUNG: FLORENTIA SALE IN AFGHANISTAN

Ah! few shall part where many meet! The snow shall be their winding-sheet, And every turf beneath their feet Shall be a soldier’s sepulcher.

16’500 Zivilisten und Soldaten der britischen Armee traten am 6. Januar 1842 den Rück- zug von Kabul ins 180 Kilometer entfernt gelegene Jellalabad an. Die Strassen waren schnee- und eisbedeckt, die Temperaturen deutlich unter null Grad Celsius, die Soldaten mangelhaft ausgerüstet, schwangere Frauen und Kinder ohne genügend Nahrung und Kleidung. Durch die schlechten Wetterbedingungen wurden Soldaten und Zivilisten zu einer leichten Beute der einheimischen Stammeskämpfer, welche den Zug unermüdlich angriffen. Nach sieben Tagen erreichte Dr. William Brydon als einziger Überlebender die Festung Jellalabad. Die wenigen, die unterwegs nicht umkamen, wurden in Geiselhaft genommen und es sollte über neuen Monate dauern, bis sie von einer britischen Befreiungstruppe aus der Gefangenschaft erlöst wurden. Unter diesen Geiseln war Lady Florentia Sale. Als Teil der britischen Elite gehörte sie zu denjenigen Frauen, die Jane Robinson als „Ornament of Empire“ 1 bezeichnet. Die Aufgabe dieser Damen aus der britischen Oberschicht bestand darin, den sozial hochrangigen Gatten zu unterstützen und ein positives Bild der zivilisierten Lady in den (noch) unzivilisierten Ge- bieten des sich immer weiter expandierenden britischen Reiches zu vermitteln. Lady Sale war eine Meisterin dieser Aufgabe. Sie wurde 17872 in Madras geboren und heiratete 1808 den englischen Offizier Robert Henry Sale.3 Im Verlauf ihrer Ehe lebte Florentia Sale mit ihrem Gatten und den fünf Kindern (von insgesamt zwölf sind sieben gestorben) in Mauritius, Eng- land, Irland und Indien. Als ihr Mann während des Ersten Anglo-Afghanischen Krieges in Kabul stationiert war und sie ihm mit ihrer jüngsten Tochter Alexandrina im November 1840 in das neu errichtete Militärlager nachfolgte, war der Umzug also keineswegs eine unbekann- te Erfahrung. Die mittlerweile 53-jährige Florentia Sale brachte einen grossen Teil ihres

1 Jane Robinson: Wayward Women. A Guide to Women Travellers. Oxford University Press: Oxford 1991, S. 200. 2 Vgl Jules Stewart: On Afghanistan’s Plains. The Story of Britain’s Afghan Wars. I. B. Tauris: London/New York 2011, S. 72. Andere Quellen geben das Jahr 1790 als Geburtsjahr an. Vgl. The Family Tree Maker http://familytreemaker.genealogy.com/users/t/o/d/Guy-B-Tod/WEBSITE-0001/UHP-0498.html (konsultiert am 27.08.2012). 3 Angaben nach Patrick Macrory in: Florentia Sale: A Journal of the First Afghan War. [1842], Patrick Macrory [Hg.], Oxford University Press: Oxford 2002, S. i.

4 Hausrates sowie fünfundvierzig Bedienstete aus Indien mit und bezog ein Haus, das sie selbst als „the best and most commodious“4 beschrieb. Es wurde alles daran gesetzt, den Alltag im Kantonnement wie im englischen Mutterland zu gestalten. Man hielt Dinnerpartys, spielte Cricket und vergnügte sich im Winter mit Schlittschuhlaufen auf dem zugefrorenen See. Durch den geografischen Standort – das Militärlager befand sich ausserhalb der Stadt Kabul – aber auch aufgrund von Sprachbarrieren war der Kontakt zur einheimischen Bevölkerung von Beginn an eingeschränkt. Dass bloss ein Jahr später, im November 1841, in der Nähe von Kabul ein Aufstand ausbrechen, sich wie ein Flächenbrand ausbreiten und die gesamte Ar- mee samt Zivilisten zum Rückzug zwingen würde, hatte daher niemand geahnt oder geglaubt. Und wie die „Ornaments of Empire“ in einem Massaker und in Gefangenschaft zu reagieren hatten, stand in keinem Verhaltenskodex. Solche Szenarien waren von der britischen Koloni- alherrschaft nicht vorgesehen. Wie Florentia Sale diese turbulente Zeit des Aufstandes, des desaströsen Rückzuges und der anschliessenden Geiselhaft erlebte, dokumentierte sie in ihrem Tagebuch A Journal of the Disasters in Afghanistan, 1841–42. Sie sandte Teile der Aufzeichnungen bereits während ihrer neunmonatigen Gefangenschaft nach Jellalabad zu ihrem Ehemann, der dafür sorgte, dass das Tagebuch ein Jahr später, 1843, in London publiziert wurde. Das Tagebuch, aber auch Briefe, von denen Auszüge in englischen Zeitungen veröffentlicht wurden, machten Florentia Sale zu einer öffentlichen Persönlichkeit. Der Krieg hat Lady Sale die Chance gegeben, sich auf eine Art und Weise hervorzuheben, wie es ihr unter normalen, das heisst friedlichen Umständen nicht möglich gewesen wäre. Wo die Befehle der Offiziere bei den Soldaten auf taube Ohren stiessen und die Schreie der ster- benden Männer, Frauen und Kinder zwischen den kahlen Felswänden ungehört verhallten, erwies sich das stille Niederschreiben der Geschehnisse als wirksames Mittel, um wahrge- nommen zu werden. Florentia Sale notierte mit bemerkenswerter Objektivität und akribischer Präzision, was um sie herum geschah. Da sie sich sowohl unter Frauen und Kindern wie auch bei den Männern aufhielt, von Afghaninnen zum Essen eingeladen wurde und mit ihrem Ehemann nebst persönlichen auch militärische und politische Informationen austauschte, be- leuchtet das Tagebuch die unterschiedlichsten Aspekte des Lebens – und oft auch des Ster-

4 Florentia Sale: A Journal of the Disasters in Afghanistan, 1841–42. John Murray: London 1843, S. 28 (31.10.1841).

5 bens – in Afghanistan und vermittelt somit eine einmalige Alltagsgeschichte des Ersten Anglo-Afghanischen Krieges.5 Im Mittelpunkt des Tagebuches steht jedoch immer Florentia Sale selbst, auch wenn sie dies auffallend selten thematisiert. Es ist ihre Geschichte und sie ist die Protagonistin. Sie hat es also in der Hand, sich selbst nach eigenem Gutdünken darzustellen. Wer sich heute über den Ersten Anglo-Afghanischen Krieg informiert, begegnet unweigerlich dem Namen Floren- tia Sale und sehr oft wird ihr Tagebuch als verlässliche Quelle der Kriegsereignisse zitiert. Sie wird als heroische Kämpferin dargestellt, als „Grenadier in petticoats“6, die es schaffte, unversehrt aus dem Massaker an der britischen Armee hervorzugehen. Wie gelang es Floren- tia Sale zur unangefochtenen Heldin eines Krieges werden, der als eine der grössten Nieder- lagen des englischen Militärs in die Geschichte einging?7 Wie wurde sie vom Opfer zur Hel- din? Diesen Fragen soll sich die vorliegende Arbeit widmen.

1.2 EINZIGARTIGES ZEITDOKUMENT ODER GESCHICKTE INSZENIERUNG? – DIE QUELLENLAGE

Bis heute geniessen Florentia Sales Einschätzungen und Beurteilungen ein erstaunlich ho- hes Mass an Glaubwürdigkeit. So schreibt etwa der Historiker Saul David 1997: Am 6. November, nur vier Tage nach dem Mord an Burnes, befahl er [General Elphinstone] Macnagh- ten, ein Kapitulationsangebot zu machen, weil die Truppen nicht mehr genügend Munition hätten. Tat- sächlich aber verfügten die Briten laut Lady Sale, die sich bei den belagerten britischen Truppen befand, „über genügend Pulver und Munition für eine zwölfmonatige Belagerung“.8

Es ist bemerkenswert, dass Lady Sales Einschätzungen zu militärischen Belangen offenbar überzeugender sind als diejenigen des betroffenen Generals, der im Übrigen auch im Kanton- nement wohnte.9 In der Tat scheint Florentia Sales Tagebuch die Fakten im Allgemeinen sehr genau wiederzugeben. Andere Stellen in ihrem Tagebuch sind allerdings widersprüchlich: So kritisierte sie beispielsweise am 25. November 1841 die Anordnung, den Gebrauch von Feu- erholz zu limitieren, denn „there is at this time a complete winter stock of firing laid in“10 – nur sechs Wochen später aber beschrieb sie, wie ihre Truhen und Kommoden verbrannt wer- den mussten, damit die Köche noch eine warme Mahlzeit zubereiten konnten.11 Diese offen-

5 Vgl. zum Wert von Augenzeugenberichten aus dem Krieg: Veit Didczuneit/Jens Ebert u.a. [Hg]: Schreiben im Krieg – Schreiben vom Krieg. Feldpost im Zeitalter der Weltkriege. Klartext: Essen 2011, S. 13. 6 Macrory in: Sale 2002, Introduction, S. xix. 7 Vgl. Saul David: Die grössten Fehlschläge der Militärgeschichte. Von der Schlacht im Teutoburger Wald bis zur Operation Desert Storm. Helmut Dierlamm/Karlheinz Dürr [Übs.], Heyne: München 2001, S. 11–23. 8 David 2001, S. 15. 9 Vgl. Sale 1843, S. 28 (31.10.1841). 10 Sale 1843, S. 138 (25.11.1841). 11 Vgl. Sale 1843, S. 224f. (06.01.1842).

6 sichtliche Fehleinschätzung spricht einerseits für die Authentizität des Tagebuches, anderer- seits ist sie ein Hinweis darauf, dass der Inhalt nicht unkritisch übernommen werden darf. Eine genaue Analyse des Tagebuches ist umso wichtiger, als dass es sich um eine der we- nigen überlieferten Quellen handelt, die mehr oder weniger unmittelbar im Geschehen ver- fasst worden ist. In der Einleitung des Tagebuches schrieb Florentia Sale selbst: „I believe several people kept an account of these proceedings, but all except myself lost all they had written.”12 Diese Feststellung impliziert die Aussage, dass kein anderer Bericht Lady Sale widersprechen kann, denn alle anderen Darstellungen wurden im Nachhinein verfasst und sind somit durch die zeitliche Distanz verzerrt. Die Annahme, dass es in Lady Sales eigenem Interesse stand, als alleinige Berichterstatterin zu gelten, wird durch John William Kayes zweibändiges Werk History of the War in Afghanistan. From the unpublished letters and journals of political and military officers employed in Afghanistan throughout the entire pe- riod of British connexion with that country bekräftigt. Wie der Titel bereits vermuten lässt, gab es sehr wohl noch andere Zeitzeugen, die ihre Erlebnisse auf Papier brachten. Interessant ist die Bemerkung in einer Fussnote, die nicht nur suggeriert, dass es andere überlieferte Au- genzeugenberichte gab, sondern auch, dass Florentia Sale davon Kenntnis hatte und diese für die Publikation ihres Tagebuches benützte: The portion of Captain Johnson’s Journal […] relating to the outbreak, […] and that relating to the cap- tivity […] have never been made public. It should be added, however, that Lady Sale had access to these Journals, and has used them freely without acknowledgment.13

Später im Tagebuch erklärte Lady Sale allerdings selbst, sich für die Schilderung des Schicksals der Armee auf Tagebücher von „Freunden“ gestützt zu haben. 14 Dies war nötig, da sie sich als Gefangene nicht mehr bei den Soldaten befand und deshalb das Geschehen nur aus zweiter Hand berichten konnte. Es ist daher möglich, dass sich Kays Kritik auf Florentia Sales Beschreibung des Rückzuges bezog, was seine Anklage entkräften würde. Das Manu- skript jedenfalls weist keine ganzen Passagen auf, die im Nachhinein eingefügt worden sind, während einzelne Wörter oder Sätze sehr wohl durchgestrichen oder hinzugefügt wurden (siehe Kapitel 2.6). Nebst Captain Johnsons Tagebuch waren Lady Sale mit grosser Wahrscheinlichkeit auch Vincent Eyres Aufzeichnungen bekannt. Er und seine Frau gerieten zusammen mit Florentia Sale in Gefangenschaft, wo Leutnant Eyre unter anderem das bekannte Portrait von Lady

12 Sale 1843, S. 2 (Introduction). 13 John William Kaye: History of the War in Afghanistan. From the unpublished letters and journals of political and military officers employed in Afghanistan throughout the entire period of British connexion with that country. Bde 1-3, Richard Bentley: London 1851, Bd II, S. 232. 14 Vgl. Sale 1843, S. 247 (09.01.1842).

7 Sale mit Turban anfertigte (siehe Anhang 1).15 Der Artillerie-Offizier hatte erst während der Gefangenschaft begonnen, die Ereignisse des Aufstandes niederzuschreiben, hat die Auf- zeichnungen dann aber sporadisch in Tagebuchform weitergeführt.16 Diese wurden im selben Jahr wie Lady Sales Tagebuch und vom selben Verleger veröffentlicht. Eine Zusammenstel- lung einer vollständigen Liste an unveröffentlichten Augenzeugenberichten würde einen Be- such der Archive in England, Schottland und Irland voraussetzen. Da dies den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen würde, dient im Folgenden eine unvollständige Auswahl an Primärquellen als Analysegrundlage (siehe Kapitel 1.3). Bei den von Lady Sale verfassten Quellen stützt sich die Arbeit auf die Erstveröffentlichung des Tagebuches durch den Mur- ray-Verlag 1843 sowie eine spätere Edition von Patrick Macrory aus dem Jahr 1969, auf Ko- pien des Manuskripts, welches in der British Library aufbewahrt wird und einen unveröffent- lichten Brief von Florentia Sale an ihren Ehemann vom 8. Mai 1842, ebenfalls aus der British Library. Die Bibliothek ist ausserdem im Besitz eines Notizbuches, das Florentia Sale zwi- schen 1832-1833 in Indien geführt hatte, das dieser Arbeit allerdings nicht zugrunde liegt.17 Andere von ihr Geführte Tagebücher sind nicht nachweisbar. Weil Lady Sale vor allem dank der Publikation von 1843 bekannt wurde, dient dieses als Hauptquelle der Analyse.

1.3 WER INTERESSIERT SICH FÜR FLORENTIA SALE? – FORSCHUNGSÜBERBLICK

Eroberungsversuche Afghanistans hat es im Laufe der Zeit mehrere gegeben. Auf den Ers- ten Anglo-Afghanischen Krieg (1839–1842) folgte ein Zweiter (1878–1880) und ein Dritter (1919). Im vierten Krieg versuchte die Sowjetunion (1979–1989) vergeblich, Afghanistan einzunehmen, während aktuell die USA der Welt vorführen, dass auch sie das Land nicht kontrollieren können. Die Eroberungsversuche des 19. Jahrhunderts waren Stellvertreterkrie- ge zwischen den beiden Grossmächten Russland und Grossbritannien, die im sogenannten Great Game um die Vorherrschaft in Zentralasien wetteiferten. Im 20. Jahrhundert ging es weniger um imperialistische Ansprüche als um ideologische: Die Sowjetunion marschierte 1979 in das Land am Hindukusch ein, um die kommunistische Zentralregierung gegen die von den USA unterstützten Mudschaheddin zu stärken. Nach zehn erfolglosen Kriegsjahren war die Sowjetunion gezwungen, sich zurückzuziehen. Es folgte ein blutiger Bürgerkrieg, der

15 Vgl. : Portrait of the Cabul Prisoners. [1843], 2. Aufl. Silk Road Books and Photos: London 2011. 16 Vgl. Eyre, Vincent: The Military Operations at Cabul, which Ended in the Retreat and Destruction of the , January 1842. With a Journal of Imprisonment in Afghanistan. 2. Aufl. John Murray: London 1843. 17 British Library, Mss Eur B 360.

8 mit dem Abzug der sowjetischen Truppen begann und sich bis 2001 hinzog. Die Attentate des 11. Septembers 2001 brachten die nächste Grossmacht auf den Plan: Nur gerade einen Monat nach den Terroranschlägen marschierten die USA mit ihren Verbündeten in Afghanis- tan ein. Die Streitkräfte sind nunmehr über zehn Jahre im Land und einmal mehr scheint die Intervention in einem politischen, wirtschaftlichen und menschlichen Desaster zu enden. Die Frage, warum es bis jetzt keine der militärisch weitaus überlegenen Grossmächte geschafft hat, die Kontrolle über Afghanistan zu behalten, beschäftigt nicht nur Politiker und militäri- sche Führer, sondern auch Historiker. Dementsprechend gross ist der Umfang an Sekundärli- teratur über die jüngere Geschichte Afghanistans. Der Erste Anglo-Afghanische Krieg wird oft als Auftakt der modernen Interventionen gesehen, weshalb er in den meisten Geschichts- büchern eingehend diskutiert wird. Einer der ersten, der sich mit dem Rückzug der Briten von Kabul nach Jellalabad beschäftige, war allerdings kein Militärhistoriker, sondern der Anthro- pologe Louis Dupree. Ihn interessierte die grösstenteils mündlich tradierte afghanische Sicht auf die Ereignisse.18 Zusammen mit einem einheimischen Übersetzer begab sich Dupree im Winter 1963 nach Kabul, von wo aus er den Spuren der Britischen Armee bis nach Jellalabad folgte und unterwegs die Erzählungen der Afghanen sammelte. Es stellte sich dabei heraus, dass der Sieg der Afghanen über die Briten ein wichtiger Bestandteil des kollektiven Ge- dächtnisses Afghanistans ist: Gegenstände der Briten wurden immer noch sorgfältig aufbe- wahrt und Nachkommen von britischen Frauen, die afghanische Männer geheiratet hatten, um dadurch ihr Leben zu retten, waren wohl bekannt.19 Auch in den 1960-er Jahren veröf- fentlichte Patrick Macrory das Buch Signal Catastrophe 20. Die ursprünglich geplante Biogra- fie über Macrorys Urgrossonkel Eldred Pottinger resultierte in der ersten Geschichtsschrei- bung des Ersten Anglo-Afghanischen Krieges, die sich nicht auf eigene Erlebnisse sondern auf sorgfältig zusammengetragene Primärquellen stützt. Es war auch Macrory, der Florentia Sales Tagebuch wiederentdeckte und zusammen mit dem bis dahin unveröffentlichten Be- richt von Dr. Brydon sowie einem aufschlussreichen Vorwort edierte.21 Beide Werke wurden 2002 neu herausgegeben. Zu den ausführlichsten und am besten recherchierten Schilderungen

18 Bei einer Analphabetenrate von 95 Prozent existierte im Afghanistan der 1960-er Jahre eine fast ausschliessli- che Tradition der Oral History. Vgl. Louis Dupree: The Retreat of the British Army from Kabul to Jalalabad in 1842. History and Folklore. In: Journal of the Folklore Institute. Vol. 4, No. 1, Indiana University Press, 1967, S. 52. 19 Vgl. Dupree 1967, S. 63. 20 Vgl. Patrick Macrory: Signal Catastrophe. The Story of the Disastrous Retreat from Kabul 1842. Hodder and Stoughton: London 1966. Bzw. Neuauflage: Patrick Macrory: Retreat from Kabul. The Catastrophic British Defeat in Afghanistan, 1842. Patrick F. J. Macrory, et al. [Hg.], The Lyons Press: Connecticut 2002. 21 Aus unerklärten Gründen ist Patrick Macrorys Edition aber teilweise gekürzt. So fehlen etwa bei den letzten Einträgen teilweise Abschnitte. Vgl. etwa Sale 2002, S. 156 (17.09.1842) mit Sale 1843, S. 432f. (17.09.1842). Siehe dazu auch Kapitel 2.6.

9 der Kriegsereignisse neueren Datums gehören Edgar O’Balances Afghan Wars 1839–1992. What Britain Gave Up and the Soviet Union Lost (1993)22, Stephen Tanners Afghanistan. A Military History from Alexander the Great to the Fall of the Taliban (2003)23 und Jules Stewarts On Afghan Plains. The Story of Britain’s Afghan Wars (2011)24. The Afghan Way of War (2011)25 von Robert Johnson, Afghanistan. A Cultural and Political History (2010)26 von Thomas Barfield sowie The Making of Modern Afghanistan (2008)27 von Benjamin Hop- kins sind drei der wenigen Werke, welche die Seite der Eroberten beleuchten und die afgha- nischen Stammeskämpfer nicht bloss als passiv-reaktionär darstellen, sondern versuchen, die innere Logik des afghanischen Widerstandes aufzuzeigen. Obwohl der Schwerpunkt dieser Arbeit klar auf der britischen Seite liegt, können diese Werke doch wertvolle Zusatzinforma- tionen liefern. Fast alle Historiker, die sich mit dem Ersten Anglo-Afghanischen Krieg befassen, stützen sich bei der Beschreibung und Analyse des Aufstandes in Kabul und des desaströsen Rück- zuges zu einem grossen Teil auf Lady Sales Tagebuch. Man könnte daher erwarten, dass es auch reichlich Literatur zur schillernden Persönlichkeit Lady Sales gibt. Es stellt sich aller- dings heraus, dass zwar mit Florentia Sale Geschichte geschrieben wurde, aber noch nie über sie. So sind beispielsweise die Angaben zu ihren Lebensdaten in der Sekundärliteratur wider- sprüchlich. Meistens werden die Jahre 1787 für Florentia Sale und 1820 für ihre Tochter Ale- xandrina als Geburtsjahre genannt, allerdings ohne Quellenangabe.28 Der online geschaltete Familienstammbaum gibt (mit Quellenangabe) hingegen die Jahre 1790 und 1823 an, wo- durch Mutter und Tochter drei Jahre gewesen jünger wären.29 Florentia Sales Leben vor und nach der Zeit in Afghanistan ist grösstenteils unbekannt. Es fehlen sowohl grundlegende In- formationen zu ihrer Person, wie auch eine genaue wissenschaftliche Analyse des Tagebu- ches. Ausserdem scheint das Interesse an Florentia Sales Tagebuch fast ausschliesslich mili- tärhistorischer Art zu sein. Die Zeit während der Gefangenschaft – immerhin neun der zwölf

22 Vgl. Edgar O’Ballance: Afghan Wars 1839–1992. What Britain Gave Up and the Soviet Union Lost. Brasseys: London 1993. 23 Stephen Tanner: Afghanistan. A Military History from Alexander the Great to the Fall of the Taliban. Da Capo Press: Cambridge/Mass 2003. 24 Stewart 2011. 25 Robert Johnson: The Afghan Way of War. Culture and Pragmatism: a Critical History. Hurst & Company: London 2011. 26 Thomas Barfield: Afghanistan. A Cultural and Political History. Princeton University Press: Princeton 2010. 27 Benjamin D. Hopkins: The Making of Modern Afghanistan. Palgrave Macmillan: New York 2008. 28 Vgl. etwa Stewart 2011, S. 72 oder Macrory in Sale 2002, S. i. 29 Vgl. The Family Tree Makerhttp://familytreemaker.genealogy.com/users/t/o/d/Guy-B-Tod/WEBSITE- 0001/UHP-0498.html (konsultiert am 27.08.2012).

10 im Tagebuch beschriebenen Monate – finden kaum Erwähnung in der Sekundärliteratur. So handelt etwa Stewart die Geiselhaft in einem einzigen Satz ab: Thus began a nine-month odyssey of suffering, tempered by brief periods of unimagined luxury – wood fires, greasy pilau rice and poshteen (sheepskin cloaks) for protection against the cold – through the treacherous mountain passes of Afghanistan.30

Eine ausführlichere Beschreibung sucht man – mit Ausnahme von Patrick Macrory’s Sig- nal Catastrophe31 – auch in den anderen Büchern vergebens. Um nicht vollständig von Lady Sales subjektiver Darstellung abhängig zu sein, sollen in der Arbeit noch weitere Augenzeu- genberichte und Biografien hinzugezogen werden, die das Bild zu vervollständigen helfen. So etwa liefern der Feldprediger George Robert Gleig (1753–1840) und der Offizier und Mi- litärhistoriker John William Kaye (1814–1876), die beide Robert Sales Truppen zugeteilt waren, aufschlussreiche Berichte über das Alltagsleben der Soldaten im Militärlager in Ka- bul.32 Robert Waller,33 George Lawrence,34 Colin Mackenzie35 und Vincent Eyre36 waren Offiziere, die zusammen mit Lady Sale in Gefangenschaft gerieten und deren Überlieferun- gen wertvolle Ergänzungen, Relativierungen, manchmal auch Gegenbeweise zu ihren Tage- bucheinträgen bieten. Über Lady Sales Erwartungen, Verpflichtungen und Vorstellungen ihres Lebens als Offiziersfrau in einer neu zu erschliessenden Kolonie geben diese Berichte allerdings wenig Auskunft. Obwohl Afghanistan nie eine funktionierende Kolonie war, reiste Lady Sale doch mit sehr genauen Ideen über ihre Aufgabe als Kolonistin von Indien nach Kabul. Welche gesellschaftlichen Anforderungen wurden an sie gestellt? Welches Leben war sie sich in der gut funktionierenden Kolonie Indien gewöhnt? Wie richtete sie sich ihr neues Leben in Kabul ein? Obwohl solche Fragen nicht direkt mit Florentia Sales Erlebnissen in Afghanistan zu tun haben, können sie doch gewisse Verhaltensweisen erklären, die auf den ersten Blick auffallend, seltsam oder gar absurd erscheinen mögen. Britische Frauen aus der gesellschaftlichen Elite waren in Südasien sehr oft zum Nichtstun verdammt. Dies rührte einerseits daher, dass ihre britische Kleidung und ihr standesgemässer

30 Stewart 2011, S. 91. 31 Dass Macrory das Schicksal der Gefangenen schildert, kann damit in Zusammenhang gebracht werden, dass sein Augenmerk speziell auf seinem Vorfahren Elderd Pottinger lag, der ebenfalls eine Geisel von Akbar Khan gewesen war. Vgl. Macrory 2002, S. 238–280. 32 Vgl. George Robert Gleig: Sale’s Brigade in Afghanistan. With an Account of the Seizure and Defence of Jellalabad. John Murray: London 1846; bzw. Kaye 1874. 33 Vgl. Hardress Waller: Robert Waller. A Kabul Hostage of 1842. In: The Irish Sword. The Journal of the Mili- tary History Society of Ireland. Vol. 18, No. 73, 1992, S. 248–254. 34 Vgl. George Lawrence: Reminiscences. Fourty-Three Years in , Including the Cabul Disasters, Captivi- ties in Afghanistan and the Punjab, and a Narrative of the Mutinies in Rajputana. 2. Aufl. John Murray: London 1875. 35 Vgl. Helen Mackenzie: Storms and Sunshine of a Soldier’s Life. Lt. – General Colin Mackenzie, C.B., 1825– 1881. Bde. 1–2, R & R Clark: Edinburgh 1884. 36 Vgl. Eyre 1842.

11 Auftritt nur schwer mit dem tropischen Klima vereinbar waren. Andererseits hatten sie dut- zende von Bediensteten, die jede noch so kleine Tätigkeit für sie erledigten. Die Frauen gal- ten lange Zeit als träge und die Männer bei ihrer wichtigen Arbeit in den Kolonien behin- dernd.37 Nicht zuletzt aus diesem Grund finden die Frauen in den meisten – auch den neueren – Werken zur Kolonialgeschichte des Britischen Imperiums kaum Erwähnung.38 Erst ab den 1960-er Jahren begann man, sich auch für die Frauenschicksale in den Kolonien zu interessie- ren. Meist reiche, selbstbewusste, häufig auch exzentrische Damen, die sich in die noch uner- schlossenen Gebiete des Britischen Reiches wagten und welche lange Zeit im besten Fall belächelt, oft aber auch verachtet wurden, finden erst seit kurzem ihren Platz in der Ge- schichtsschreibung. Da Lady Sale allerdings ein relativ ruhiges Leben in Indien geführt hatte, wird sie in der Literatur über das Alltagsleben in britischen Kolonien selten erwähnt. Jane Robinson,39 Pat Barr40 und Joanna Trollope41 gehören zu den wenigen, die in ihren Werken zu Britinnen in den Kolonien auf Florentia Sale aufmerksam machen. Nebst der klassischen Militärgeschichtsschreibung und der Sozialgeschichte während des britischen Kolonialismus bleibt noch ein drittes Forschungsfeld, das einen Zugang zu Lady Sales Leben und Wirken bietet: die Literaturgeschichte, genauer: eine literaturhistorische Analyse ihres Tagebuches. Der mit Abstand grösste Teil der Informationen über Florentia Sale stammt aus dem Tagebuch – das sie selbst verfasst hatte. Die Frage nach der Glaubwür- digkeit des Dokumentes liegt daher auf der Hand. Genauso aufschlussreich können Fragen sein wie: Wieso schrieb man Tagebuch? Wer hat Tagebuch geschrieben? Und wer hat sie gelesen? Waren sie privat oder öffentlich? Was konnte mit einer Publikation erreicht werden? Unter welchen Bedingungen wurde ein Tagebuch gedruckt? Was sagen die Tagebücher über die schreibende Person aus? Inwiefern können sie als historische Quelle benützt werden? Das Tagebuch als literarische Gattung ist nur schwer fassbar. Es ist höchst intim und kann dennoch veröffentlicht werden, es kann sowohl fiktional als auch faktual42 sein, seine Form

37 Vgl. Pat Barr: The Memsahibs. The Women of Victorian India. Secker & Warburg: London 1976, S. 1. 38 Mit der grossen Ausnahme von Amerika, wo die Erschliessung der Frontier durch die ersten Siedler ein wich- tiger Teil des Gründungsmythos ausmacht. 39 Vgl. Robinson 1991; bzw. Jane Robinson: Unsuitable for Ladies. An Anthology of Women Travellers. Oxford University Press: Oxford 2001; bzw. Jane Robinson: Foreword. In: Sale 2002. 40 Vgl. Barr 1976. 41 Vgl. Joanna Trollope: Britannia’s Daughters. Women of the . Hutchison & Co.: London 1983. 42 Die klassische Literaturwissenschaft unterscheidet zwischen fiktionalen und faktualen Texten. Faktuale Texte sind solche, die vom Leser als tatsächliche Behauptungen des Autors wahrgenommen werden, während fikti- onale Texte als Imagination des Autors gelesen werden. Aus diesem Grund muss bei fiktionalen Texten zwi- schen Autor und Erzählinstanz unterschieden werden: Das erzählerische Ich wird vom Autor erfunden und gibt daher nicht dessen persönliche Geschichte wider. Bei faktualen Texten fallen Erzähler und Autor hinge- gen zusammen. Vgl. Matias Martinez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. [1999] 6. Aufl. C.H. Beck: München 2005, S. 17.

12 ist zwar vorgeschrieben, kann aber aufgrund seiner Privatheit auch ohne weiteres abgeändert werden. Zudem braucht es keinerlei Begabungen oder Vorkenntnisse, um ein Tagebuch zu führen. Dem Tagebuch haftet der Ruf der Trivialität an, weshalb die Gattung in der Litera- turwissenschaft sehr lange ein Schattendasein führte. Dem setzte Lord Arthur Ponsonby zu- mindest im englischen Sprachraum in den 1920-er Jahren ein Ende, indem er hunderte von englischen, irischen und schottischen Tagebüchern aus dem 16. bis zum 20. Jahrhundert zu- sammentrug und in Auszügen mit kurzen biografischen Angaben veröffentlichte.43 Ponson- bys Sammlung wurde ergänzt durch William Matthews An Annotated Bibliography of British Diaries 1442–1942 , welche er 1950 publizierte.44 Diesen Anthologien fehlt jedoch eine kriti- sche Auseinandersetzung mit den Tagebüchern, oder, wie es Robert Fothergill formuliert: sie verwechseln die Bücher mit den Personen.45 Fothergill setzte 1974 mit seinem Buch Private Chronicles. A Study of English Diaries46 einen Meilenstein der britischen Tagebuchfor- schung. Gestützt auf Ponsonbys und Matthews Sammlungen versuchte er einerseits, die Ta- gebücher nach inhaltlichen Kriterien zu kategorisieren, andererseits untersuchte er ihre Ent- stehungsumstände und Wirkungsgeschichte. Es gibt kaum ein Buch zur britischen Diaristik, das nach Fothergills Veröffentlichung geschrieben wurde und nicht auf ihn Bezug nimmt. Eine interessante These bringen Rachael Langford und Russel West in ihrer Aufsatzsamm- lung Marginal Voices, Marginal Forms. Ihnen zufolge handelt es sich beim Tagebuch um eine randständige literarische Gattung, die oft in direktem Zusammenhang mit einer politi- schen, ethnischen oder gender-bedingten Randständigkeit des Verfassers beziehungsweise der Verfasserin steht.47 Speziell mit dem Tagebuchschreiben von Frauen befasst haben sich etwa Suzanne Bunkers und Cynthia Huff in Inscribing the Daily. Critical Essays on Women’s Diaries (1996)48 oder Catherine Delafield Women’s Diaries as Narrative in the Nineteenth- Century Novel (2009)49.

43 Vgl. Arthur Ponsonby: English Diaries. A Review of English Diaries from the Sixteenth to the Twentieth Cen- tury with an Introduction on Diary Writing. Methuen & Co.: London 1923. 44 Vgl. William Matthews: British Diaries. An Annotated Bibliography of British Diaries Written between 1492 and 1942. University of California Press: Berkeley/Los Angeles/London 1950. 45 Vgl. Robert A. Fothergill: Private Chronicles. A Study of English Diaries. Oxford University Press: Lon- don/New York 1974, S. 2. 46 Vgl. Robert A. Fothergill: Private Chronicles. A Study of English Diaries. Oxford University Press: Lon- don/New York 1974. 47 Vgl. Rachael Langford/Russel West-Pavlov [Hg.]: Marginal Voices, Marginal Forms. Diaries in European Literature and History. Rodopi: Amsterdam 1999. 48 Vgl. Suzanne Bunkers/Cynthia A. Huff [Hg.]: Inscribing the Daily. Critical Essays on Women’s Diaries. University of Massachusetts Press: Amherst 1996. 49 Catherine Delafield: Women’s Diaries as Narrative in the Nineteenth-Century Novel. Ashgate: Farnham 2009.

13 1.4 DIE WISSENSCHAFTLICHE BEHANDLUNG EINER LADY – FRAGESTELLUNG UND THESE

Weder in der Literatur zu Tagebüchern noch in der Literatur zu Frauen im britischen In- dien wird Lady Sale erwähnt. Diese Tatsache legt nahe, dass sie während der ersten fünfzig Jahre ihres Lebens keine besondere Aufmerksamkeit auf sich zog. Erst die Dokumentation ihrer Erlebnisse zur Zeit des Ersten Anglo-Afghanischen Krieges brachten ihr das besondere Ansehen und den Respekt ihrer Zeitgenossen ein. Dies ist nicht zuletzt daran sichtbar, dass ihr und ihrer Familie 1844 ein triumphaler Empfang geboten wurde, als die sie zwei Jahre nach dem Krieg nach England zurückkehrten. Eine Einladung von Königin Victoria persön- lich bildete den Höhepunkt ihres Aufenthaltes in Grossbritannien.50 Als im De- zember 1845 starb, garantierte die Königin Florentia Sale eine Witwenrente von £500. – im Jahr.51 Der Krieg hatte Lady Sale zur Heldin gemacht. Woran lag dies? Einen ersten Anhalts- punkt gibt der Forschungsüberblick: Einerseits geniessen Florentia Sales militärische Ein- schätzungen grosse Glaubwürdigkeit, andererseits wird ihr vorbildliches Verhalten, das in Indien noch keine spezielle Aufmerksamkeit erregte, in den Extremsituationen des Krieges als bemerkenswert angesehen. Doch wie gelang es Florentia Sale, ihren geringen Handlungs- spielraum als Frau in Krieg und Geiselhaft so zu nutzen, dass sie bis heute als Referenzpunkt der öffentlichen Wahrnehmung gilt? Die militärischen Kenntnisse und das vorbildliche Auf- treten als Lady mögen Teile dieser Frage beantworten. Der Schlüssel ihres Erfolges liegt al- lerdings in ihrem Tagebuch. Erst durch die Bekanntmachung ihrer Erlebnisse konnte Floren- tia Sale überhaupt zu Berühmtheit gelangen. Das Tagebuch ist einerseits das Bindeglied zwi- schen dem Individuum Florentia Sale und einer breiteren Öffentlichkeit, andererseits erfüllt es gerade in Krisensituationen auch eine psychologische Aufgabe: In Momenten, wo äussere, haltgebende Strukturen einbrechen, kann Tagebuchschreiben ein Akt der Selbstvergewisse- rung und Sinngebung sein. Sinngebung brauchte nicht nur Florentia Sale, sondern auch Grossbritannien. Die schmerzhafte Niederlage in Afghanistan zeigte den kolonisierten Völ- kern, dass die bislang unbesiegbar scheinende Militärmacht verwundbar war. Damit büsste die Britische Krone ein gutes Stück an Glaubwürdigkeit ein.52 Indem sich nun Florentia Sale

50 Vgl. Macrory in: Sale 2002, S. 158f. 51 Vgl. Macrory in: Sale 2002, S. 159. Zum Vergleich: das Durchschnittliche Einkommen einer Familie der Londoner Mittelschicht lag 1868 zwischen £100.– und £300.–. Vgl. Yaffa Claire Draznin: Victorian Lon- don’s Middle-Class Housewife. What She Did All Day. Greenwood-Press: Westport 2001, S. 5. 52 Nicht selten wird der grosse Aufstand der Sepoys von 1857 in eine direkte Verbindung mit der schmählichen Niederlage der britischen Armee 1842 in Afghanistan gestellt. (Vgl. Stewart 2011, S. 128f.).

14 als „Ornament of Empire“, als Repräsentantin ihres Mutterlandes, während des Krieges vor- bildlich verhalten hatte, konnte sie nicht nur ihre persönliche Ehre retten, sondern auch dieje- nige ihrer Nation. Das Tagebuch als Beweis der britischen Standhaftigkeit in Krisenzeiten war deshalb von enormer nationaler Bedeutung und wurde dankbar als Teil des kollektiven Gedächtnisses aufgenommen. Diese Argumentationslinie soll in der vorliegenden Arbeit ausgeführt und belegt werden. Die Arbeit ist in fünf Teile gegliedert. Auf den einleitenden Teil mit allgemeinen Erklärungen folgt ein kurzer Abriss über Hintergrund und Wirkung des Tagebuchschreibens. Danach wird ein Blick auf Lady Sales Leben geworfen: Beginnend mit einer Rekonstruktion des Alltags, den sich Florentia Sale von Indien her gewöhnt war, werden anschliessend ihre Erlebnisse während Aufstand, Belagerung, Rückzug und Gefangenschaft in Afghanistan geschildert. Da bislang das Schicksal der Armee im Mittelpunkt des Forschungsinteressens stand, dasjenige der Frauen hingegen kaum wahrgenommen wurde, wird dieser Teil einen relativ prominenten Platz einnehmen. Im vierten Teil geht es um Florentia Sales Verarbeitung der Kriegserlebnis- se im Tagebuch. Es soll mit Hilfe der Tagebuchtheorie die Frage beantwortet werden, inwie- fern das tägliche Schreiben Florentia Sale half, ihre Vorbildrolle beizubehalten beziehungs- weise auf welche Weise sie das Tagebuch als Plattform der positiven Selbstdarstellung nutz- te. Ein zusammenfassender Schlussteil soll aufzeigen, wie Florentia Sale durch eine blutige Niederlage vom Opfer zur Heldin wurde.

1.5 ORIENTAL WORDS UND ANDERE SPRACHLICHE STOLPERSTEINE

In ihrem Tagebuch benutzte Florentia Sale Wörter, die sie in Indien und Afghanistan ge- lernt hatte. Diese „Afghan and other Oriental Words“53 listete sie zu Beginn des Tagebuches mit einer eigenen Übersetzung auf und sind im Anhang der vorliegenden Arbeit wiederzufin- den (siehe Anhang 2). Damit das Lesen nicht jedes Mal unterbrochen werden muss, stehen in den Zitaten Lady Sales Übersetzungen zusätzlich in eckigen Klammern und kursiv gedruckt, unmittelbar hinter dem betreffenden Wort. Ein orthografisches Problem ist die Schreibung von Personen- und Ortsnamen. Florentia Sale hat diese in ihrem Tagebuch nach Gehör und nach den Regeln der englischen Recht- schreibung transkribiert. Diese Schreibweise stimmt selten mit derjenigen anderer Autoren überein. So kann Kabul auch Cabul, Caubul, Kabool oder Cabool geschrieben werden und mit Mohammed ist unter Umständen dieselbe Person wie Mahommed, Mohammad, oder Mu-

53 Sale 1843, S. ix.

15 hammad gemeint. Das im handschriftlichen Original geschriebene Wort Afghanistan etwa erscheint im publizierten Tagebuch als Affghanistan. Da es weder für Personen noch für geo- grafische Bezeichnungen eine einheitliche Schreibung gibt, werden in dieser Arbeit jeweils diejenige übernommen, welche auch in der Sekundärliteratur am häufigsten benutzt wird und mit der deutschen Rechtschreibung kompatibel sind. In den Zitaten wird die Originalschrei- bung nicht angepasst. Sowohl Florentia Sale wie auch ihr Ehemann spielten im Ersten Anglo-Afghanischen Krieg eine wichtige Rolle. Um Verwechslungen zu vermeiden, bezieht sich der blosse Nach- name (Sale ) auf Robert Sale, während seine Gattin stets mit Vor- und Nachname oder mit Titel (Lady) genannt wird. Im Zentrum der Arbeit steht eine Frau. Feministische Leser und Leserinnen wissen dies hoffentlich zu schätzen und mögen gleichzeitig die Tatsache verzeihen, dass nicht immer sowohl die maskuline wie auch die feminine Form aufgeführt wird, auch wenn beide Ge- schlechter betroffen sind. Es gilt das Prinzip des generischen Gebrauches von maskulinen (manchmal auch femininen) Nomina, welche beide Geschlechter beinhalten. Der Rückzug der Briten umfasst demnach genauso die Britinnen wie unter Lady Macnaghtens Katzen auch Kater sein können.

1.6 WAS IST AFGHANISTAN UND WER SIND DIE AFGHANEN?

Geografisch gesehen verbindet Afghanistan den Indischen Subkontinent mit Zentralasien und dem Iranischen Hochland. Seine Grenzen wurden jedoch erst Ende des 19. Jahrhunderts durch das Russische Reich im Norden und das britische Indien im Süden definiert. Bis dahin waren Afghanistan und seine Bewohner in erster Linie eine Imagination Grossbritanniens. Es war das Gebiet am Hindukusch, das weder von der russischen Expansion erreicht worden ist noch unter britischer Kontrolle stand (siehe Anhang 3). Von Afghanistan als einer Nation zu sprechen war damals höchst unzutreffend und ist bis heute fragwürdig. Aufgrund seiner strategisch wichtigen Lage ist Afghanistan immer wieder von äusseren Mächten überrollt worden: vom Persischen Grosskönig Kyros II. (6. Jahrhun- dert v.Chr.) über Alexander den Grossen (4. Jahrhundert v.Chr.), Dschingis Khan (1219) bis zu den Briten (1839, 1878, 1919), Russen (1979) und Amerikanern (2001).54 Während diesen Invasionen vereinten sich einzelne der afghanischen Stämme kurzfristig, um die Eindringlin- ge gemeinsam zu bekämpfen. Ohne äusseren Feind herrschten jedoch ständige Rivalitäten

54 Vgl. Barfield 2010, S. 1f.

16 zwischen den ethnischen Gruppen. Dies vor allem aufgrund der knappen Ressourcen und den zahllosen Stammesfehden.55 Der Schotte Montstuart Elphinstone wurde als erster britischer Botschafter 1808 an den Hof des Königreiches Kabul entsandt. Er nutzte die zwei Jahre seines Afghanistan- Aufenthaltes, um so viele Informationen wie möglich über das unbekannte Land und seine Menschen zu sammeln.56 Was er vorfand, waren raue Berglandschaften, die von archaischen Stammeskriegern bewohnt waren. Elphinstone verglich das fremde Land mit dem, was ihm bereits vertraut war: Er verfasste eine philosophische Geschichte der afghanischen Gesell- schaft, welche die Ähnlichkeiten mit den Bewohnern des Schottischen Hochlandes im Mittel- alter aufzeigen sollte.57 Auch das seit der Aufklärung bekannte Konzept des Edlen Wilden spielte bei der Fremdwahrnehmung eine nicht unwesentliche Rolle.58 Das von Elphinstone gezeichnete Bild der Afghanen hielt sich hartnäckig in der britischen Vorstellung und erwies sich als eine nicht unbedeutende Schranke, die tatsächlichen Sozialstrukturen und kulturellen Eigenheiten der afghanischen Ethnien zu erkennen. Die grösste, auf dem Gebiet des heutigen Afghanistans lebende Ethnie sind seit Mitte des 18. Jahrhunderts die Paschtunen, weshalb lange Zeit diese Bezeichnung mit Afghanen gleich- gesetzt wurde. Sie sind vorwiegend sunnitische Muslime und sprechen das zur iranischen Sprachfamilie gehörende Paschtu. Dies erklärt unter anderem, weshalb der persisch spre- chende Major Pottinger als Vermittler zwischen den Afghanen und den Briten eingesetzt werden konnte. Nebst der Sprache identifizieren sich die Paschtunen vor allem auch über den gemeinsamen Ehrenkodex Paschtunwali. Dieser beinhaltet in erster Linie die Wahrung be- ziehungsweise Wiederherstellung der Familienehre. Er schreibt aber auch vor, dass Fremde gastfreundlich aufgenommen und geschützt werden müssen, auch wenn es sich dabei um Feinde handelt, die auf der Flucht sind.59 Die Paschtunen berufen sich auf ihren gemeinsamen Vorfahren Qais. Dieser hatte drei Söhne und einen Adoptivsohn, auf welche die vier grossen Stämme Durrani, Ghilzai, Gurghuscht und Karlanri zurückgeführt werden.60 Die zweitgrösste afghanische Ethnie sind die persischsprachigen, mehrheitlich sunniti- schen Tadschiken, welche heutzutage dreissig Prozent der Bevölkerung ausmachen und ur- sprünglich vor allem die Städte Kabul, Herat und Mazar besiedelten. Etwa fünfzehn Prozent

55 Vgl. Johnson 2011. S. 16. 56 Vgl. Benjamin D. Hopkins: The Making of Modern Afghanistan. Palgrave Macmillan: New York 2008, S. 13. 57 Elphinstone verglich zum Beispiel den Dichter Khushal Khan Khattak mit dem schottischen Freiheitskämpfer William Wallace (1270–1305). Vgl. Hopkins 2008, S. 19. 58 Vgl. Hopkins, S. 14. 59 Vgl. Johnson 2011, S. 16. 60 Vgl. Barfield 2010, S. 25.

17 der Afghanen sind schiitische Hazaras, die sich in der Mitte des Hindukusch niedergelassen haben. Obwohl auch die Hazaras einen persischen Dialekt sprechen, werden sie oft für Nach- kommen der Mongolen gehalten. Die turksprachigen Usbeken und Turkmenen machen heut- zutage ungefähr zehn Prozent der Bevölkerung aus, wobei viele erst nach der Russischen Revolution und während der Herrschaft Stalins nach Afghanistan geflohen sind. Während sich die Usbeken seit dem 16. Jahrhundert in der Steppe und in den bewässerten Bergtälern angesiedelt hatten, lebten die Turkmenen nahe der iranischen und turkmenischen Grenze, wo sie unter anderem für ihren lukrativen Sklavenhandel berühmt und gefürchtet waren. Ein wei- terer Stamm, der während dem Ersten Anglo-Afghanischen Krieg keine unwichtige Rolle spielte, sind die Qizilbasch. Hierbei handelt es sich um zwölfer-schiitische Turkmenen, die unter den Durrani eine zentrale Rolle als Militäreinheit und Beamtenklasse ausübten. In Lady Sales Tagebuch werden ausserdem die Araber erwähnt, welche sich allerdings der Mehrheit ihrer jeweiligen Umgebung anpassten und daher kaum mehr kulturelle Sonderheiten aufwie- sen. Die wichtigste, nicht-muslimische Gruppe sind die Sikhs, welche sich über ihre mono- theistische Religion – den Sikhismus – definieren, die sich klar von Islam, Buddhismus und Hinduismus distanziert. Ihren Aufschwung erlebte die Bewegung unter Maharaja Ranjit Singh, unter dem die Sikhs die Kontrolle über den strategisch wichtigen Khyber Pass (die Verbindung Afghanistans mit Indien) gewannen. Weitere, für diese Arbeit allerdings sekun- däre Gruppierungen sind die Aimaqs, die Nuristanis, Paschai, Belutschen, Pamiren, Jugis, Jats und die Kirgisen.61 Eine letzte, für die Lektüre des Tagebuches wichtige Gruppierung sind die Juzailchees. Hiermit ist aber keine Ethnie gemeint, es handelt sich viel mehr um af- ghanische Grenadiere, die im Dienste des Shahs standen. Nach Macrory waren sie den Briten gegenüber äusserst loyal eingestellt und kämpften ohne Skrupel gegen afghanische Trup- pen.62 Florentia Sale benutzte in ihrem Tagebuch manchmal die genaue Bezeichnung der Ethnie, meistens sprach sie aber allgemein von Afghanen. Da es häufig schwer rekonstruierbar ist, welche Gruppierung gemeint ist, wird in der vorliegenden Arbeit wo möglich und sinnvoll die Unterscheidung gemacht und sonst die allgemeine Bezeichnung verwendet.

61 Vgl. Barfield 2010, S. 24–31. 62 Vgl. Macrory in: Sale 2002, S. 56.

18 2 TAGEBUCHSCHREIBEN IM 19. JAHRHUNDERT

2.1 DAS TAGEBUCH – EINE LITERATURGATTUNG FÜR RANDSTÄNDIGE…

Tagebücher sind chronologisch aneinander gereihte Aufzeichnungen, die in keiner oder geringer Distanz zum Gegenstand verfasst werden und oft mit dem Datum der Niederschrift markiert sind. Sie können Erfahrungen, Gefühle, Gedanken, Beobachtungen und Erlebnisse des Autors enthalten und spiegeln dessen subjektive Sichtweise wieder. Charakteristisch sind nebst der Unmittelbarkeit der Aufzeichnungen und einem hohen Grad an Subjektivität eine strikt lineare Abfolge sowie ein offener Schluss.63 Fothergill teilt die Tagebücher in vier Haupttypen ein, welche bereits eine enorme Diversi- tät dieser Literaturgattung erahnen lassen. Er unterscheidet zwischen Reisetagebüchern (Journal of travel), zur Veröffentlichung konzipierten Tagebüchern ('Public' Journals), Ta- gebüchern zur Dokumentation des eigenen Bewusstseins (Journal of conscience) sowie Erin- nerungsnotizen (Journal of personal memoranda).64 Diese Kategorisierung gründet in erster Linie auf den verschiedenen Funktionen, die ein Tagebuch haben kann. Es dient als Erinnerungshilfe, Mittel zur Selbstreflexion, als Zeitver- treib aber auch als Orientierung in turbulenten Lebensphasen, zur Dokumentation komplexer Arbeitsprozesse oder – im Fall einer Veröffentlichung – der Selbstinszenierung, Erhöhung des sozialen Prestiges und nicht selten des finanziellen Gewinnes.65 Meist lassen sich die ver- schiedenen Funktionen in einem Tagebuch nicht klar voneinander trennen, sondern sind im Gegenteil miteinander verbunden oder können während des Schreibprozesses wechseln. Die unterschiedlichen Funktionen des Tagebuches und die damit einhergehenden verschiedenen Motivationen ein solches zu führen, machen es als literarische Gattung nur schwer fassbar. Es ist irgendwo zwischen öffentlich und privat, zwischen chaotisch hin gekritzelt und sorgfältig überarbeitet, zwischen selbsterklärend und für Aussenstehende kaum verständlich, zwischen real und fiktiv, zwischen hochstehender Literatur und trivialen, scheinbar bedeutungslosen Notizen anzusiedeln. Langford und West bezeichnen deshalb das Tagebuch als “misfit form of writing”66, dessen formale Grenzständigkeit sich oft mit der sozialen, politischen oder ge- schlechtlichen Marginalisierung des Schreibers oder der Schreiberin deckt. Die Autoren il-

63 Vgl. Marianne Meid: Tagebuch. In: Literatur Lexikon. Begriffe, Realien, Methoden. Walter Kitty [Hg.], Bd 14, Berthelsmann: München 1993, S. 418–420. 64 Vgl. Fothergill 1974, S 14. 65 Vgl. Sibylle Schönemann: Tagebuch. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Georg Bramgart et al. [Hg.], Bd. 3, de Gruyter: Berlin 2003, S. 574–577. 66 Langford/West 1999, S. 8–9.

19 lustrieren dies anhand eines anonymen Tagebuches, das im jüdischen Ghetto in der polni- schen Stadt Lodz nach dem Zweiten Weltkrieg gefunden wurde. Diese Aufzeichnungen des Schreckens hatten klar die Funktion, Sinn in einer irrationalen Welt zu schaffen und die eige- ne Subjektivität angesichts von Entmenschlichung und totaler Zerstörung zu bewahren.67 Während der Schreiber des Tagebuches in Auschwitz umkam, bleibt die Erinnerung an ihn durch die Veröffentlichung des Tagebuches erhalten.68 Typischer noch als für ethnische oder religiöse Minderheiten gilt das Tagebuchschreiben als Beschäftigung für Frauen. Auch sie waren lange Zeit marginalisiert und in die Sphäre des Privaten gedrängt worden. Delafield schliesst daraus, dass im 19. Jahrhundert das Tagebuch den Frauen habe helfen sollen, ihren privaten und häuslichen Status zu definieren.69 Die nur schwer fassbare Literaturform schien in perfekter Weise das Leben der Frau zu reflektieren: Ungeordnet, unspektakulär und unbemerkt.70 Im Gegensatz der selbstinszenierenden Auto- biografie, welche sich vor allem auf das öffentliche Leben fokussierte, bot das Tagebuch den Frauen die Möglichkeit, zu Schreiben ohne dabei die ihre Rolle als Ideal der Häuslichkeit zu verlieren.71 Von Frauen geschriebenen Tagebüchern wurde lange Zeit aufgrund ihrer angebli- chen Trivialität kaum Beachtung geschenkt. Sowohl die Frau wie auch „ihr“ Medium standen im Schatten der männerdominierten Gesellschaft.72 Eine randständige Literaturgattung für randständige Personengruppen? Tagebücher bieten Menschen, deren Stimmen nicht erhört werden, die Möglichkeit sich auszudrücken und zeit- beziehungsweise raumverschoben trotzdem wahrgenommen zu werden. Denn, „wer Tage- buch führt, wehrt sich dagegen, ein unbeschriebenes Blatt zu bleiben“73. Oft entschliessen sich Menschen ein Tagebuch zu schreiben, wenn in ihrem Leben gravierende Veränderungen stattfinden. Dies kann sowohl die Gefangenschaft in einem Ghetto sein, wie auch eine Reise, Heirat oder die Geburt des ersten Kindes. Die täglichen Eintragungen ermöglichen es, auch in turbulenten Zeiten die Tage und Wochen voneinander zu unterscheiden und somit Sinn und Struktur des Lebens zu bewahren. Wie das Beispiel des polnischen Juden zeigt, kann in Zei-

67 Langford/West 1999, S. 10. 68 Langford/West 1999, S. 10f. 69 Delafield 2009, S. 14. 70 Delafield 2009, S. 15. 71 Delafield 2009, S. 16. 72 Delafield 2009, S. 16. 73 Jürgen Wolfgang Goette: Das Tagebuch im 20. Jahrhundert. Erich Mühsam und andere: dreizehnte Erich- Mühsam-Tagung in der Gustav-Heinemann-Bildungsstätte in Malente, 10.–12. Mai 2002. Ehrich-Mühsam- Gesellschaft: München 2003, S. 31.

20 ten äusserer Bedrohung das Tagebuchschreiben zum Akt der Selbstvergewisserung und zum Schutz der eigenen Identität werden. 74 Lady Sale passte gleich mehrfach in das Schema der marginalisierten Schreiberin: Sie war als Frau vom öffentlichen Leben weitgehend ausgeschlossen, lebte in einem fremden Land, dessen Sprache und Kultur sie nicht kannte und ihr Schicksal lag in den Händen einiger „wil- den“ Stammeskämpfern, die ihrer Beurteilung nach willkürlich Leute misshandelten, töteten oder als Sklaven verkauften.75 Dennoch ist ihr Tagebuch mehr als die Dokumentation eines Menschenlebens, das in Vergessenheit zu geraten droht. Wie ein Blick auf die Gattungsge- schichte des Tagebuches zeigt, führten auch Menschen Diarien, die im Zentrum der Macht und Aufmerksamkeit standen.

2.2 …ODER EINE TRADITION IM LEBEN GROSSER MÄNNER UND FRAUEN?

Tagebücher wurden auch von Männern und Frauen mit einem ausgeprägten Geschichts- bewusstsein geschrieben. Diese Autoren und Autorinnen nahmen sich selbst und ihre Zeit so wichtig, dass sie diese im Hinblick auf die Nachwelt dokumentierten. Bereits in der Antike wurden Wetterverhältnisse, Tatenberichte von Herrschern oder Träume aufgezeichnet. Auch Logbücher, wie Kolumbusʼ weltberühmtes Diario de a Bordo, oder Chroniken können zu Vorläufern des Tagebuches gezählt werden. Voraussetzung für das Tagebuchschreiben im heutigen Verständnis ist jedoch ein selbstbewusstes Individuum, das sein Schicksal selbst in die Hand nehmen kann. Diese Bedingung wurde nach Jürgen Schläger erst durch den in der Renaissance entstandenen Humanismus geschaffen.76 Als erstes englisches Tagebuch gilt Samuel Pepys Werk (1660–1669), dessen Inhalt sowohl öffentlicher wie auch privater Natur ist und das neben objektiven Beobachtungen auch subjektive Kommentare, Reflexionen und Gefühle enthält.77 Im frühen 19. Jahrhundert erlebte das Tagebuch einen bedeutenden Aufschwung. Zu die- ser Zeit entstanden gemäss Fothergill nur wenige Tagebücher, die nicht für eine spätere Pub- likation konzipiert waren. Die Tradition der empfindsamen, stark religiösen Tagebücher des 18. Jahrhunderts wurde aufgenommen und, vor allem durch das französische Journal Intime, das einen grossen Einfluss auf die britische Tagebuchtradition hatte, verstärkt.78

74 Steven Kagle/Lorenza Gramega: Rewriting Her Life. Fictionalization and the Use of Fictional Models in Early American Women’s Diaries. In: Bunkers 1996, S. 43. 75 Vgl. etwa Sale 1843, S. 373 (25.06.1842). 76 Vgl. Jürgen Schläger: Self-Exploration in Early Modern English Diaries. In: Langford 1999, S. 22. 77 Vgl. Fothergill 1974, S. 13. 78 Vgl. Fothergill 1974, S. 33–35.

21 Praktisch zeitgleich zur Strömung der Empfindsamkeit erreichte das sehr nüchterne vikto- rianische Tagebuch als soziale Praktik kultivierter Bürgerinnen und Bürger seinen Höhe- punkt. Diese wurden von Personen mit hohem sozialem Ansehen geschrieben und liefern oft sehr detailreiche Beschreibungen des gesellschaftlichen Lebens im Viktorianischen Zeitalter. Sie widerspiegeln in besonders hohem Masse zeitgenössische Werthaltungen und Moralvor- stellungen, offenbaren aber kaum persönliche Gedanken oder Gefühle des Verfassers.79 Wer also schrieb und schreibt Tagebuch? Personen, die an wichtigen Ereignissen teilneh- men und das Bedürfnis haben, diese für sich und die Nachwelt zu dokumentieren. Menschen, die sich selbst zu ergründen versuchen, und solche, die aus dem Schatten der gesellschaftli- chen Strukturen treten und ihrer Individualität Ausdruck verleihen wollen. Florentia Sale schrieb keine Gefühlsregungen oder religiöse Reflexionen nieder. Ihr Tagebuch ist als typisch viktorianisch einzuordnen. Es gehörte zum guten Ton einer Lady ihres Standes, Tagebuch zu schreiben – Queen Victoria selbst hat während zwanzig Jahren Tagebuch geführt – und war Teil des kultivierten Zeitvertriebs. Eine Engländerin, die durch weite Teile des Britischen Imperiums reiste, war geradezu verpflichtet, ihre Beobachtungen zu notieren. Florentia Sale war als Offiziersfrau („a soldier’s wife“ 80, wie sie sich selbst nannte) Teil des Great Game und sah sich somit als Berichterstatterin der Geschehnisse um sie herum. Gleichzeitig hatte sie inmitten eines Krieges, in dem sich alles nur noch nach den Befehlen der Offiziere richte- te, nichts mehr zu sagen. Ihre Meinung war weniger denn je gefragt und sie war zu extremer Passivität verdammt. Dieser Zustand verstärkte sich zusätzlich, als sie in Gefangenschaft ge- riet und neun Monate in Geiselhaft lebte. Lady Sale gehörte also auch zu den marginal voi- ces, für die das Tagebuchschreiben ein Akt der Selbstvergewisserung war, eine, wenn nicht die einzige, Möglichkeit sich selbst eine Stimme zu verleihen und in die Geschichte einzuge- hen.

2.3 ZWISCHEN SUBJEKTIVITÄT UND MANIPULATION – DER HISTORISCHE NUTZEN DES TAGEBUCHES

In der Einleitung schrieb Florentia Sale: A much better narrative of past events might have been written, even by myself; but I have preferred keeping my Journal as originally written, when events were fresh, and men’s minds were biassed by the reports of the day, and even hour.81

79 Vgl. Fothergill 1974, S. 34. 80 Sale 1843, S. 401 (21.08.1842). 81 Sale 1843, S. 2 (Introduction).

22 Die Unmittelbarkeit zum Geschehen, die Ungewissheit über dessen Ausgang und den da- mit verbundenen hohen Authentizitätsanspruch machen das Tagebuch zu einer wertvollen historischen Quelle. Arno Drusini definiert Tagebücher als „materialisierte Zeit“, denn „wer ein Tagebuch liest, hält Zeit in den Händen, blättert durch Jahre, Monate, Tage, hält ein, überspringt“82. Weil Tagebücher so nahe am Geschehen geschrieben werden, geben sie selten die objektive Wahrheit wieder. Sie zeigen der Nachwelt weniger, was geschehen ist, als wie diese Geschehnisse vom einzelnen Individuum in dessen spezifischem Kontext wahrgenom- men wurden. Im Sinne von Kant sind Tagebücher deshalb nicht wahr sondern wahrhaftig.83 Im Gegensatz zu aus der Retrospektive geschriebenen Dokumenten wie Ereignisberichten, historischen Abhandlungen oder Chroniken steht beim Tagebuch das Alltägliche im Vorder- grund: Menschen befinden sich im Zentrum des Geschehens, für die in der klassischen Ge- schichtsschreibung bloss eine Statistenrolle vorgesehen ist. Grosse Ereignisse bilden dagegen eine Art Hintergrundkulisse. Eine leichte Verwirrung darüber drückt Fothergill aus, wenn er schreibt: One’s sense of the substance of history is turned inside out. […] In the foreground is the individual con- sciousness, absolutely resisting the insistence of future historians that it should experience itself as pe- ripheral.84

Die Tatsache, dass praktisch jede schreibfähige Person ein Tagebuch führen kann, macht dieses zu einer sehr „demokratischen“ Quelle85, die Hinweise liefern kann, welche sonst auf- grund ihrer Alltäglichkeit nur schwer rekonstruierbar sind. Rechnet der Autor oder die Auto- rin allerdings mit einer späteren Veröffentlichung, gibt das Tagebuch selten intime Informati- onen bekannt. Vieles deutet darauf hin, dass Lady Sales Tagebuch ziemlich früh, wenn nicht von Anfang an, zur Publikation konzipiert war. Diese Annahme unterstützt nicht zuletzt ein Vergleich mit Tagebüchern, die nicht für ein Publikum ausserhalb der eigenen Familie ver- fasst wurden: Solche Diarien zeichnen sich durch das Weglassen von Erklärungen und Kon- textualisierungen, durch eine simple, unpoetische Schreibweise und einen repetitiven Schreibstil aus. Ein typisches Tagebuch einer Frau im 19. Jahrhundert enthält Informationen über Haushaltseinnahmen und -ausgaben, Besuche, das Wetter, besondere Ereignisse in der Familie und Korrespondenzen. Das Bild, das von der Autorin vermittelt wird, spielt dabei nur

82 Arno Duisini: Tagebuch. Möglichkeiten einer Gattung. Fink: München 2005, S. 9f. 83 Über Wahrhaftigkeit schreibt Kant: „Dass das, was jemand sich selbst oder einem andern sagt, wahr sei, dafür kann er nicht jederzeit stehen (denn er kann irren); dafür aber kann und muss er stehen, dass sein Bekenntnis oder Geständnis wahrhaft sei; denn dessen ist er sich unmittelbar bewusst.“ (Immanuel Kant: Wahrhaftigkeit. Zitiert nach Rudolf Eisler: Kant-Lexikon. Nachschlagewerk zu Kants sämtlichen Schriften, Briefen und hand- schriftlichem Nachlass. Georg Olms Verlag: Hildesheim/Zürich/New York 1984, S. 589f.). 84 Fothergill 1974, S. 9. 85 Vgl. Delafield 2009, S. 25.

23 eine geringe Rolle.86 Florentia Sales Tagebuch hingegen enthält eine viel grössere Breite an behandelten Themen. Umso auffallender ist deshalb, dass ihre detailgetreuen Schilderungen persönliche Bereiche wie Familie, die finanzielle Situation oder Gefühle wenig berühren. Aus dem Tagebuch ist deshalb kaum etwas zu erfahren, was nicht ihrem Umfeld auch bekannt gewesen wäre. Dass beispielsweise Florentia Sales Tochter Alexandrina Sturt während des Rückzuges von Kabul nach Jellalabad schwanger war, wird an keiner Stelle des Tagebuches erwähnt. Erst als das Kind am 24. Juli 1842 noch während der Gefangenschaft auf die Welt kam, schrieb Lady Sale kurz und knapp: „At two P. M. Mrs. Sturt presented me with a grand- daughter; – another female captive“87. Wie aus diesem Zitat hervorgeht, sprach sie von „Mrs. Sturt“, wenn sie ihre Tochter meinte. Auch dies ist ein Zeichen dafür, dass Lady Sale mit einer Leserschaft rechnet, die ihre Familie nicht persönlich kannte und ihr deshalb mit dem nötigen Respekt begegnen sollte. In einem nicht publizierten Brief an ihren Mann vom 8. Mai 1842 nannte sie ihre jüngste Tochter hingegen liebevoll „Dina“88 (siehe Anhang 4). In diesem Brief erwähnte sie auch die im Tagebuch verschwiegene Schwangerschaft ihrer Tochter und ihre Hoffnung, dass sie noch vor der Geburt freigelassen würden: „Dear Dina is well but ex- pects have confinement in July not beyond the Middle so I am anxious about her release.“89 Ein weiteres Zeichen dafür, dass das Tagebuch veröffentlicht werden sollte, ist die Kon- textualisierung von Ereignissen und Personen, über die sie schrieb. Dies wird zum Beispiel an folgendem Zitat sichtbar: 11th The 13th light infantry, commanded by Lieut.-Col. Dennie, C. B., were also sent at a few hoursʼ no- tice to Bhoodkhak […]. I remained at Cabul with my daughter, Mrs. Sturt, who had been staying with us during her husband's absence with Col. Oliver's force.90

Die Personen sind dank den exakten Angaben auch für Aussenstehende klar identifizier- bar. Wie Lynn Bloom betont, ist in veröffentlichten Tagebüchern der Inhalt wichtiger als eine strikte Chronologie.91 Die rückblickende Erklärung, weshalb sich Alexandrina Sturt am 11. Oktober 1841 bei ihrer Mutter und nicht bei ihrem Ehemann befand, ist daher ein weiteres Charakteristikum, das den Blick der Autorin auf ein breites Publikum verrät. Bei Tagebü-

86 Vgl. Lynn Z. Bloom: „I write for Myself and for Strangers“. Private Diaries as Public Documents. In: Bun- kers 1996, S. 25–28. 87 Sale 1843, S. 386 (24.07.1842). 88 Florentia Sale an Robert Henry Sale. Briefkorrespondenz. Hills above Tézeen, 08.05.1842. British Library, India Office Records, Mss Eur A 186-002, S. 1. 89 BL IOR Mss Eur A 186- 002, S. 1. 90 Vgl. Sale 1843, S. 10 (11.10.1841). 91 Vgl. Bloom in Bunkers 1996, S. 29.

24 chern wie demjenigen von Lady Sale ist es aus den genannten Gründen angebrachter von persönlichen als von privaten Dokumenten zu sprechen.92 Die Aussicht auf eine spätere Publikation beeinflusst einerseits den Schreibprozess, ande- rerseits wird das Tagebuch auch nach seiner Fertigstellung verändert. Lord Ponsonby hatte bereits 1923 gewarnt: „No editor can be trusted not to spoil a diary“93. Bereits mit der Transkription sind wichtige Details wie Handschrift, Art und Qualität des Papiers, Randnoti- zen oder nachträgliche Korrekturen nicht mehr sichtbar. Inhaltlich werden Tagebücher vom Herausgeber zudem häufig gekürzt. Gründe dafür können eine höhere Leserfreundlichkeit bei zu grossem Umfang oder repetitivem Schreibstil sein oder aber die Konzentration auf ein spezielles Interessensgebiet der Editoren. Abänderungen können auch von Personen gefordert werden, die um die Reputation des Autors besorgt sind. Schlussendlich kann nur so viel pub- liziert werden, wie vom Tagebuch überliefert wurde. Zusammenfassend müssen drei Dinge bei der Lektüre von Lady Sales Journal im Auge behalten werden. Erstens handelt es sich nicht um gegebene Fakten, die sie niederschreibt, sondern um Informationen, die ihr zu jener Zeit zur Verfügung standen und die keineswegs immer den tatsächlichen Begebenheiten entsprechen müssen. Wir erfahren nicht eine objekti- ve Wahrheit, sondern die Wirklichkeit, in der Florentia Sale sich bewegte. Ihr Tagebuch er- möglicht uns, den Krieg aus der Perspektive einer Augenzeugin zu erfahren und dadurch im besten Fall die Geschehnisse besser zu verstehen. Zweitens hat sie das Tagebuch im Hinblick auf eine Veröffentlichung geschrieben. Es lag im wörtlichen Sinne in ihrer Hand, welche Informationen sie preisgeben und – verbunden damit – welches Bild sie von sich selbst und ihrem Umfeld vermitteln wollte. Drittens ist das Tagebuch durch Hände Dritter, wenn nicht sogar Vierter und Fünfter gegangen, die die Gelegenheit hatten, es abzuändern. Inwiefern und von wem Änderungen vorgenommen worden sind, kann nur durch eine genaue Analyse des Tagebuches sowie einen Vergleich zwischen Manuskript und edierter Ausgabe ermittelt wer- den.

2.4 VON KABUL NACH LONDON: ÜBERLIEFERUNGSGESCHICHTE DES TAGEBUCHES

Auf dem desaströsen Rückzug von Jellalabad nach Kabul verloren die Briten und ihre Verbündeten alles, was sie hatten. Wer mit dem Leben davon kam, hatte Glück. Wie hat es Florentia Sale geschafft, ihr Tagebuch zu retten? Ihren eigenen Angaben zufolge hatte sie die

92 Bloom in Bunkers 1996, S. 24. 93 Ponsonby 1923, S. 5.

25 beschriebenen Seiten in einen Beutel gesteckt und sich diesen unter ihrem Mantel umgebun- den. So hatte sie ihre Aufzeichnungen stets bei sich und führte sie bei jeder freien Gelegen- heit weiter.94 Als Captain Troup die Gefangenen in Badiabad besuchte, einige Tage später aber zurück nach Jellalabad gesandt wurde, übergab Florentia Sale ihm Teile ihres Tagebu- ches sowie Briefe mit dem Auftrag, diese ihrem Mann zu bringen.95 Robert Sale schickte Auszüge der Briefe an die englische Presse in Indien und Grossbritannien weiter. Das Tage- buch wurde 1843 von John Murray in London publiziert, als Lady Sale sich bereits wieder in Indien befand. Es war ein durchschlagender Erfolg. Noch im selben Jahr musste es nachge- druckt werden, im Jahr darauf erschien bereits die vierte Ausgabe mit einer gesamten Auflage von 7‘500 Büchern.96 In New York wurde das Tagebuch von den Harper Brothers auch 1843 publiziert und noch im selben Jahr erschien eine deutsche Übersetzung, gefolgt von einer zweiten 1844.97 So wurde Florentia Sale bald auch ausserhalb des Britischen Imperiums zu einer bekannten Persönlichkeit. Danach gerieten sie und ihr Tagebuch in Vergessenheit. Erst 1969 publizierte Patrick Macrory eine Neuauflage, die seit 2002 als Taschenbuch erhältlich ist. Das Original sowie einige der Briefe befinden sich im India Office Records der British Library.98

2.5 DATIERUNG UND AUFBAU DES PUBLIZIERTEN TAGEBUCHES

Die von John Murray publizierte Version des Tagebuches ist in drei Abschnitte unterteilt. Der erste mit der Überschrift Cabul behandelt Lady Sales Aufenthalt in Kabul von Ende Sep- tember 1841 (der erste Eintrag ist ohne Datierung) bis zum 3. Dezember 1841. Der zweite Abschnitt – Retreat from Cabul – beschreibt den Rückzug der Armee sowie die Geiselnahme der Autorin zusammen mit ein paar Dutzend anderer Gefangenen. Zeitlich sind diese Auf- zeichnungen zwischen dem 6. und dem 13. Januar 1842 einzuordnen. Interessant ist der Ein- trag vom 9. Januar 1842, dem Tag als Lady Sale in „Gewahrsam“ des Feindes kam. Hier schrieb sie nämlich für ihre Leserschaft eine kurze Erklärung, wie die Tagebucheinträge der kommenden Tage angeordnet sein werden: Here I must divide the account. I shall go on with my own personal adventures; afterwards, from the same date, follow up the fortunes of our unhappy army, from the journals of friends who, thank God! have lived through all their sufferings.99

94 Vgl. Sale 1843, S. 2, (Introduction). 95 Sale 1843, S. 378 (30.06.1842). 96 Macrory in Sale 2002, S. xxii. 97 Es sind dies: Theodor Oelckers „Tagebuch der Unfälle in Afghanistan“, 1843 sowie August Zoller: „Das Tagebuch über die Unfälle der Engländer in Afghanistan“, 1844. 98 Florentia Sale: Lady Sales Journal. British Library, India Office Records, Mss Eur B 275. 99 Sale 1843, S. 247, (09.01.1842).

26 Und so kommt es, dass auf den Tagebucheintrag des 13. Januars 1842 zum zweiten Mal der 10. Januar 1842 folgt. Daraus lässt sich schliessen, dass die Autorin ihre Eintragungen nicht immer täglich verfasste sondern sie manchmal auch aus der Retrospektive nieder- schrieb. Die Datierung gibt in diesem Fall nicht den Tag der Niederschrift nieder, sondern denjenigen des beschriebenen Ereignisses. Ausserdem ist die Erläuterung zu den doppelten Einträgen ein weiterer Hinweis darauf, dass das Tagebuch im Hinblick auf eine spätere Ver- öffentlichung geschrieben worden ist.100 Der letzte Abschnitt ist übertitelt mit The Captivity und behandelt Lady Sales Gefangenschaft bis zu ihrer Befreiung am 21. September 1842. Die fast täglichen Einträge – Lady Sale schrieb selbst „I have not only daily noted down events as they occurred, but often have done so hourly”101 – umfassen also ziemlich genau ein Jahr und füllen ohne Anhang (Addenda und Appendix) 438 Seiten.102 Zwei Einträge, die unter Addenda nachgetragen wurden, behandeln ausserdem noch ein- mal den 20. Oktober 1841 sowie den 1. November 1841. Es handelt sich dabei um nachträg- liche Beurteilungen beziehungsweise Richtigstellungen von ‚falschen‘ Eindrücken sowie der Abschrift einiger Briefe. Ganz zum Schluss ist unter Appendix der Vertrag vom 11. Dezem- ber 1841 angefügt, welcher den Briten einen sicheren Rückzug nach Jellalabad hätte garantie- ren sollen. Dem Tagebuch vorangestellt wurden eine von Captain Souter skizzierte Karte des Militärlagers von Kabul, ein Inhaltsverzeichnis sowie ein Glossar von „afghanischen und anderen orientalischen Wörtern“103.

2.6 BESCHREIBUNG DES MANUSKRIPTS

Das Manuskript besteht aus 134 losen Blättern, von denen die meisten auf der Vorder- und Rückseite in kleiner Schrift beschrieben sind. Das erste Blatt ist die Titelseite mit der Auf- schrift: „126 leaves. Lady Sale’s Journal“104. Die Zahl 126 ergibt sich aus einer inkorrekten Nummerierung der Blätter, welche höchstwahrscheinlich im Nachhinein geschehen ist.105 Die Seitenzahlen 14–19 wiederholen sich aus unerklärlichen Gründen.106 Einmal schrieb Floren- tia Sale zum Beispiel eine Ergänzung zu einem früheren Eintrag und wiederholte deshalb die

100 Dass die Erklärung im Nachhinein hinzugefügt wurde, ist nach einem Blick auf die entsprechenden Seiten des Manuskripts eher unwahrscheinlich. Vgl. BL IOR Mss Eur B 275- 128. 101 Sale 1843, S. 1 (Introduction). 102 Edition von John Murray 1843. Im Manuskript sind es 265 handgeschriebene Seiten. Vgl. BL IOR Mss Eur B 275. 103 Sale 1843, S. ix–xvi. 104 BL IOR Mss Eur B 275- 001. 105 Die Zahlen befinden am rechten oberen Blattrand. Wenn dort kein Platz ist, können sie aber auch weiter unten zwischen den Zeilen sein. Daraus kann geschlossen werden, dass zuerst der Text geschrieben wurde und die Zahlen erst anschliessen hinzugefügt worden sind. 106 Vgl. BL IOR Mss Eur B 275- 030–51.

27 Paginierung,107 ein andermal hatte sie eine Seite, die nicht dasselbe Format aufwies wie der Rest, ein zweites Mal abgeschrieben.108 Auf das Titelblatt folgt eine zweiseitige Einleitung, die in regelmässiger Schrift und prak- tisch ohne Korrekturen verfasst wurde. Während in der edierten Version das Tagebuch in die Teile Cabul, Retreat from Cabul und Captivity gegliedert ist, findet sich im Manuskript nur die Überschrift Retreat from Cabul. Der eigentliche Text variiert stark in seiner ästhetischen Erscheinung: Während viele Sei- ten ähnlich der Einleitung in regelmässigem, relativ gut leserlichem Schriftzug und auf glat- tem, sauberem Papier geschrieben sind, weisen andere Flecken, Risse und Löcher auf. Wör- ter, Sätze oder ganze Abschnitte wurden entweder durchgestrichen oder hinzugefügt.109 Manchmal wurden Teile des Manuskripts auch mit einem anderen Blatt überklebt.110 An ei- nigen Stellen sind ausserdem Ergänzungen oder Präzisierungen in einer anderen Schrift in den Text eingefügt.111 Ob es sich dabei um die Handschrift einer anderen Person handelt, müsste von einem Experten beurteilt werden. Da es nicht ungewöhnlich war, dass ein von einer Frau verfasstes Tagebuch unter gewissen Umständen vom Ehemann weitergeführt wur- de, könnte es sein, dass Robert Sale während der Gefangenschaft seiner Frau die Aufzeich- nungen revidierte und ergänzte. 112 Die letzten Blätter erscheinen dünner als diejenigen am Anfang, was darauf hinweist, dass Florentia Sale zum Schluss entweder schlechteres Papier verwendete oder die Blätter durch das Klima und die vielen Reisen an Qualität verloren. Einige Seiten sind ausserdem nur ein- seitig beschrieben. Dies kann unter anderem damit erklärt werden, dass Lady Sale die Tage- bucheinträge, sobald sie Gelegenheit dazu hatte, ihrem Ehemann in Jellalabad zukommen liess und deshalb auf einem neuen Blatt weiterschreiben musste. Die Seiten, auf welchen Flo- rentia Sale den mörderischen Rückzug schilderte, sind praktisch tadellos ohne Risse oder Flecken, auch die Schrift ist fein und regelmässig.113 Lady Sale musste wohl über eine solide, saubere Unterlage verfügt haben, was darauf hindeutet, dass sie die Einträge erst nach dem Rückzug, das heisst bereits in Gefangenschaft verfasst hatte.

107 Vgl. BL IOR Mss Eur B 275- 125 bzw. BL IOR Mss Eur B 275- 134. 108 Vgl. BL IOR Mss Eur B 275- 023f. 109 Vgl. BL IOR Mss Eur B 275- 113. 110 Vgl. BL IOR Mss Eur B 275- 033. 111 Vgl. BL IOR Mss Eur B 275- 046. 112 Zum Beispiel führte in manchen Fällen der Mann das Tagebuch weiter, wenn seine Frau im Wochenbett lag. Vgl. Bloom in: Bunkers 1996, S. 24. 113 Vgl. BL IOR Mss Eur B 275- 218f.

28 Interessant ist ein genauer Blick in das Manuskript vor allem auch deshalb, weil es zwar zu einem grossen Teil, jedoch nicht vollständig transkribiert worden ist. So haben weder Pat- rick Macrory noch der Muray Verlag die inhaltslosen Daten transkribiert. Zudem wurden einige Einträge gekürzt oder leicht abgeändert, manche fehlen ganz. Dies kann anhand eines Vergleiches zwischen der Manuskriptseite Mss Eur B 275- 154 und der Transkription illust- riert werden: Manuskript (siehe Anhang 5): 27th A Report that Sale has made another Sally & has taken a number of prisoners – I heard from him today he has sent me my chest of drawers with Clothes &c – they were all permitted to come to me unex- amined – I had also an opportunity of writing to him by Abdool Guffoor Khan who brought them to me. I was rejoiced to see any one I had known before; and especially one who was well inclined towards the English, though nominally on the side of Akbar. 28. 29. 30. 31 Ramas(?) Night 1st February A gloomy Morning with Mizzling rain which cleared up in the Evening. 2nd 3rd 4th The Irregular Horse have had their horses and everything taken away from them […].114

Edition John Murray: 27th – A report that Sale has made another sally, and has taken a number of prisoners. I heard from him to-day: he has sent me my chest of drawers, with clothes, &c.: they were all permitted to come to me un- examined. I had also an opportunity of writing to him by Abdool Guffoor Khan, who brought them to me. I was rejoiced to see any one I had known before; and especially one who was well inclined towards the English, though nominally on the side of Akbar.

4th. – The irregular cavalry have had their horses and everything taken away from them; and have been turned adrift. I wrote to Sale, but my note did not go.115

Edition Macrory: January 27th: A report that Sale has made another sally, and has taken a number of prisoners. I heard from him to-day: he has sent me my chest of drawers, with clothes, etc.: they were all permitted to come to me unexamined.

Far away in India, the first steps were being taken that would ultimately secure the release of Lady Sale and her companions. […] Regiments moved up to the frontier and on 5 February Major-General Pollock arrived at Peshawar to take command of what was to become known as “the Army of Retribution”.

February 9th: We hear that all our horses are to be taken away; as also our servants.116

114 BL IOR Mss Eur B 275-154. 115 Sale 1843, S. 290 (27.01/04.02.1842). 116 Sale 2002, S. 131.

29 In beiden Editionen wurdem die Einträge zwischen dem 28. Januar und dem 3. Februar 1842 weggelassen, Murray machte aus Irregular Horse eine Irregular Cavalery und Macrory hat den Abschnitt zum 27. Januar grosszügig gekürzt. Wohl aus Pflichtgefühl der Editoren gegenüber dem Personenschutz wurde ausserdem dreimal ein Name durch einen Strich ersetzt.117 Zweimal betrifft dies Brigadier Shelton und einmal einen Verräter namens Daly.118 Auch Macrory verwendete die Striche anstatt der Na- men, ausser bei Daly, wo er den betreffenden Abschnitt wegliess.119 Macrory vermutet als Grund, weshalb Shelton teilweise anonymisiert wurde, Lady Sales Angst vor einer Beleidi- gungsanklage: He was still alive when Lady Sale’s Journal was published and Lady Sale’s caution in referring to him may have been for fear of a libel action. But in view of what she says of him by name, it is hard to see why she bothered on occasions to take refuge in .120

Macrory schien sich hierbei nicht bewusst gewesen zu sein, dass Lady Sale die Namen sehr wohl ausgeschrieben hatte. Gestrichen wurden sie mit grösster Wahrscheinlichkeit beim Prozess der Veröffentlichung, auf welche die Autorin keinen Einfluss mehr hatte, da sie sich zu diesem Zeitpunkt in Indien befand (für weitere Leseproben des Manuskrips siehe Anhang 6).121

3 FLORENTIA SALE IM GREAT GAME

3.1 AFGHANISTAN – ZUKÜNFTIGES SCHACHBRETT DES GREAT GAME

Als Montstuart Elphinstone zu Beginn des 19. Jahrhunderts nach Kabul reiste, wurde er Zeuge des Zerfalls des einst mächtigen Durrani-Reiches. Dieses ist 1747 mit Kandahar als Hauptstadt gegründet worden und hatte kurze Zeit später die Kontrolle über die Städte Ghaz- ni, Herat, Kabul und Peschawar – letzteres wurde als Winterhauptstadt gewählt – sowie über die strategisch wichtigen Gebiete des Sind, Punjab, Kaschmir, Khorasan und Turkistan er- langt.122 Mit der Thronfolge von Timur Shah (1772-1793) war der Untergang des durrani- schen Reiches jedoch nach nur kurzer Zeit besiegelt. Timur Shah verlegte die Hauptstadt in das mehrheitlich von Ghilzai bewohnte Kabul, was heftige Unruhen unter der dortigen Be-

117 Vgl. Sale 1843, S. 4 (Introduction) bzw. S. 42 (02.11.1841) bzw. S. 184 (18.12.1841). 118 Vgl. BL IOR Mss Eur B 275- 004 bzw. BL IOR Mss Eur B 275- 022 bzw. BL IOR Mss Eur B 275- 098. 119 Vgl. Sale 2002, S. 4 bzw. S. 18 bzw. S. 75. 120 Macrory in Sale 2002, S. 4. 121 Vgl. Sale 1843, S. i. 122 Vgl. Barfield 2010, S. 97–100.

30 völkerung auslöste. Ausserdem versäumte er es, einen seiner Söhne als Nachfolger zu ernen- nen. Als er starb, umkämpften seine zahlreichen Nachkommen den Thron, womit sie das Reich in einen blutigen Bürgerkrieg stürzten. Einer dieser Söhne war Shah Shuja, der die Macht von 1803 bis 1809 halten konnte, bis er von seinem Bruder Shah Mahmud nach Indien ins Exil gezwungen wurde.123 Erst als Dost Mohammed 1826 die Macht ergriff, konnte der Konflikt beigelegt werden. Das einst so mächtige Reich war allerdings nur noch ein Schatten seiner selbst: Rivalisierende Clans herrschten in Kandahar und Herat, und die reichen indi- schen und persischen Gebiete hatte das neue Königreich Kabul an die Sikhs und an Persien verloren.124 Als wäre dies nicht genug, verschob sich die britische Armee gefährlich weit nach Norden.

3.2 EIN SCHACHZUG DER BRITEN: DIE EROBERUNG IN AFGHANISTANS

Die britischen Truppen marschierten nicht in Afghanistan ein, weil das Land für sie von besonderem Interesse war. Das karge, gebirgige Land mit den unzähligen untereinander ver- fehdeten Stämmen und Ethnien hatte wenig zu bieten, was die britische Krone als wertvoll betrachtet hätte. Es ging um etwas ganz anderes. Es ging darum, das Juwel des Britischen Imperiums vor feindlichen Invasoren zu schützen: Indien. Die Angst Grossbritanniens um seine lukrativste Kolonie war nicht unbegründet. Im ausgehenden 18. Jahrhundert war es ge- zwungen, mit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung seine grösste Kolonie im Wes- ten aufzugeben, zeitgleich breitete sich das russische Zarenreich mit der Eroberung des Kau- kasus, Armeniens und der kasachischen Steppe im Osten immer weiter aus. Ausserdem ging Russland ein Bündnis mit dem sich nach Westen expandierenden Persien ein.125 Grossbritannien hatte jedoch die Stärke seiner Streitmacht im Krieg gegen Napoleon 1815 bewiesen und dadurch erneut Selbstvertrauen gewonnen. Nun konzentrierte man sich auf den indischen Subkontinent, wo die Britische Ostindienkompanie immer grösseren Einfluss ge- wann. Durch die Unterwerfung der Städte Kalkutta, Madras und Bombay kontrollierte die Handelsgesellschaft mit ihrer eigenen Armee weite Teile des Landes. Um 1832 übten einige tausend Briten die Herrschaft über beinahe hundert Millionen Menschen aus.126 Im Norden war die gesellschaftseigene Armee bis zum Punjab vorgestossen. Die Sikh hatten dieses Ge- biet in den 1830-er Jahren mitsamt der Winterhauptstadt Peschawar erobert und kontrollier- ten somit auch den strategisch wichtigen Khyber Pass. Als russische und persische Truppen

123 Vgl. Barfield 2010, S. 107. 124 Vgl. Barfield 2010, S. 108. 125 Tanner, 2003, S. 130. 126 Tanner, 2003, S. 131.

31 1837 Herat besetzten, sah sich Grossbritannien gezwungen, ein Kriegsschiff in den Persi- schen Golf zu senden. Die Drohgebärde war erfolgreich und die Besatzer zogen sich wieder zurück. Diese schmerzhafte Demütigung Russlands veranlasste Grossbritannien dazu, von Indien her nach Afghanistan vorzurücken, um einen allfälligen Krieg nicht auf indischem Boden austragen zu müssen. Der britische Aussenminister Lord Palmerston in London, der Generalgouverneur Lord Auckland in Kalkutta sowie der russophobe Flügel des britischen Parlaments waren sich einig, dass eine Besatzung Afghanistans unumgänglich war.127 1838 wurde die Grand Army of the Indus formiert, die sich aus der und der Bengal Army zusammensetzte und sowohl aus britischen Regimentern wie auch aus Truppen der Ostindienkompanie bestand. Das Oberkommando der Bengal Army hatte Sir John Keane. Führer der Ersten Brigade der Bengal Army war Brigadier Robert Henry Sale, Florentia Sales Ehemann. Da die Sikhs den Weg über den Khyber-Pass nicht freigaben – ihr Misstrauen gegenüber der riesigen Armee war stärker als das kürzlich eingegangene Bündnis mit den Briten – mar- schierte die Armee südwärts über den Bolanpass und eroberte die Städte Kandahar und die als uneinnehmbar geltende Festung Ghazni ohne grosse eigene Verluste. Am 7. August 1839 erreichte die Great Army of the Indus Kabul. Das Ziel der Briten war es, dem russlandfreund- lichen Persien ein englandfreundliches Afghanistan entgegenzusetzen. Deshalb wurde der zunächst flüchtige Emir Dost Mohammed am 23. November 1840 nach Indien ins Exil ge- schickt und an seiner Stelle Shah Shuja als Marionettenherrscher wieder eingesetzt. Dem vom britischen Gesandten William Macnaghten unterschriebenen Simla Manifesto zufolge sollte sich die britische Armee zurückziehen, sobald die Macht Shah Shujas gesichert war.128 Um das Land unter Kontrolle zu halten, wurde jedoch je eine Garnison westlich von Kabul in Bamiyan, östlich von Kabul in Jellalabad und nördlich von Kabul in Charikar stationiert.129 Die Mission schien rundum geglückt: General Keane wurde zum Baron ernannt, Generalgou- verneur Auckland zum Earl, William Macnaghten zum Baronet und Robert Sale erhielt die ehrenhafte Auszeichnung Knight Commander of the (KCB).130 Aus Respekt vor dem neuen Machthaber Shah Shuja zog die Kabul-Garnison nicht im Re- gierungspalast Bala Hissar ein, der den Besatzern den grössten Schutz geboten hätte. Wäh- rend Shah Shuja mit seinem 800-köpfigen Harem bereits 1839 den Palast bezog, wurde die Armee während des ersten Jahres in Zelten untergebracht. Erst im Frühling konnte mit dem

127 Tanner 2003, S. 133. 128 Stewart 2011. S. 52. 129 Tanner 2003, S. 143. 130 Stewart S. 54.

32 Bau eines Militärlagers ausserhalb der Stadt Kabul begonnen werden. Im August 1840 war das strategisch äusserst nachteilige Lager bezugsbereit.131 Die britischen Streitkräfte fühlten sich so sicher, dass bereits Ende 1839 Teile der Armee sowohl über den Bolan- wie auch über den Khyber-Pass wieder zurück nach Indien gesandt wurden. Dass Shah Shuja sein Harem aus Indien kommen liess, animierte Macnaghten ausserdem dazu, nun auch die Familien der höheren britischen Offiziere sowie der indischen Soldaten nach Kabul kommen zu lassen. Abkommen mit den Sikhs und Schutzgeldzahlungen an die Ghilzai – die britische Krone zahlte dem Paschtun-Stamm insgesamt £ 8‘000.– pro Jahr132 – ermöglichten die sichere Überquerung des Khyber- und des Khord Kabul Passes. Florentia Sale erreichte mit ihrer 20- jährigen Tochter Alexandrina Kabul im November 1840.

3.3 LITTLE ENGLAND IN AFGHANISTAN – DER AUFBAU EINER NEUEN HEIMAT NACH MUSTER

Die britischen camp followers mit ihren Heerscharen an indischen Bediensteten hatten die Aufgabe, so rasch wie möglich ein weiteres „little England“ 133 in Afghanistan zu errichten, so wie ihre Zeitgenossen dies bereits erfolgreich in Burma, am Kap von Afrika oder in Sierra Leone getan hatten. Das naheliegendste Vorbild einer gut funktionierenden britischen Kolo- nialgesellschaft war Indien. Deshalb erstaunt es kaum, dass diese in Miniaturformat praktisch eins zu eins nach Kabul exportiert wurde. Ein Blick auf das britische Leben in Indien erklärt beispielsweise, wieso eine derart hohe Zahl an Bediensteten nach Afghanistan gebracht wur- de: Einerseits war es ein Ausdruck von Prestige, möglichst viele Angestellte zu haben, ande- rerseits aber auch eine Notwendigkeit, die sich aufgrund des indischen Kastensystems ergab. So etwa war eine Person für den Einkauf verantwortlich, durfte aber die Taschen nicht nach Hause tragen. Hindus sollten nicht mit den Speisen der Fremden zu tun haben und während sich nur die Angehörigen der untersten Kaste um die Haustiere kümmerten, war der Kontakt mit Lederschuhen (als Teil eines toten Tieres) nur den Unberührbaren erlaubt.134 Emily Eden, die Schwester des Generalgouverneurs Lord Auckland, hatte in Kalkutta mehrere Butler an- gestellt, Warenträger, Köche, Tellerwäscher, Kindermädchen, Kammerdienerinnen, Pferde- pfleger, einen persönlichen Schneider, Wäscher, Wasserträger, Postboten, Gärtner, Elefanten-

131 Ironischerweise steht heutzutage dort, wo sich das Militärlager einst befand, die US Amerikanische Bot- schaft. Vgl. Stewart 2011, S. 52. 132 Tanner 2003, S. 145. Nach Stewart sind es £ 6‘000.– (vgl. Stewart 2011, S. 64), nach Gleig £ 8‘000.– (vgl. Gleig 1846, S. 66). 133 Vgl. Robinson 1990, S. 201. 134 Vgl. Denise Dersin [Hg.]: Im Indien der Kolonialzeit. 1600–1905. Time-Life Bücher: Amsterdam 1999, S. 75.

33 treiber, Wächter, Sänftenträger, Stallknechte, Latrinenreiniger und Schlächter.135 Zwar kann diese stattliche Anzahl an Angestellten mit Emily Edens hohem Status erklärt werden, jedoch beschäftigte auch der Rechtsanwalt William Hickey insgesamt 63 Diener.136 Florentia Sale, als Frau eines hohen Offiziers, hatte mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht weniger Bedienste- te als Hickey. Ein weiteres Prestigesymbol in Indien waren Kutschen. Sie mussten eigens aus Grossbritannien nach Indien verschifft werden, konnten jedoch aufgrund der schlechten Strassenzustände selbst in den Städten kaum gebraucht werden. Als effizientestes und den- noch distinguiertes Transportmittel erwies sich die Sänfte, welche von vier bis sechs Män- nern getragen wurde und vor denen Diener tagsüber mit Zeremonialstäben und nachts mit Fackeln hergingen.137 Die Rolle einer verheirateten Frau definierte sich über den sozialen Status ihres Eheman- nes, weshalb ihr Handlungsspielraum in hohem Masse sozial und kulturell geprägt war.138 Der Oxford English Dictionary definiert „Lady“ als 1. A mistress in relation to servants or slaves; the female head of household. […]. 2. a. A woman who rules over subjects, or to whom obedience or feudal homage is due […]. 2.c. A woman who is the object of chivalrous devotion; a mistress.139

Lady Sale war also in erster Linie Hausherrin: Sie war verantwortlich für das Haushalts- budget, hatte die Kontrolle über die Bediensteten, kümmerte sich um die Erziehung der Kin- der und war für das allgemeine Wohlbefinden ihres Ehemannes besorgt.140 Wenn dieser Ge- schäftsfreunde einlud oder Dinnerpartys veranstaltete, war seine Frau verantwortlich, dass der Abend reibungslos vonstattenging. Sie selbst hielt sich im Hintergrund und beeindruckte höchstens durch ihre Tugendhaftigkeit, den ästhetischen Geschmack und die kulturelle Bil- dung.141 Frauen in britischen Kolonien waren ausserdem ihrem Mutterland gegenüber ver- pflichtet, über Geografie und Kultur im fremden Land zu berichten, sowie fern von der Hei- mat ein Bild der britischen Moral und Sittlichkeit zu vermitteln.142 Während die Männer in der indischen Kolonie ihrer Arbeit nachgingen – meist hatten sie einen Verwaltungsposten inne oder dienten der Armee der Ost-Indien Kompanie – sassen die Frauen zu Hause und langweilten sich nicht selten. Emily Eden klagte über ihre Einsamkeit

135 Vgl. Barr 1976, S. 13f. 136 Vgl. Dersin 1999, S. 75. 137 Vgl. Dersin 1999, S. 78. 138 Cynthia A. Huff: Textual Boundaries. Space in Nineteenth-Century Women’s Manuscript Diaries. In: Bun- kers 1996, S. 124. 139 Lady in: The Oxford English Dictionary. John A. Simpson/Edmund S. Weiner [Hg.], Bde. 1–20, [1989] 2. Aufl. Clarendon Press: Oxford 1991, Bd. 8, S. 582. 140 Vgl. Draznin 2001. 141 Vgl. Draznin 2001, S. 35–44 bzw. 134–135. 142 Vgl. Robinson 1990, S. 200.

34 und gleichzeitig über die vielen Empfänge, welche sie geben musste.143 Auch für Florentia Sale war der öffentliche Auftritt äusserst wichtig und bis ins Detail geregelt. Die Etikette schrieb genau vor, wer sich wo blicken lassen konnte, was zu welchem Anlass getragen wer- den musste, wer wen in welchem Ton ansprechen durfte, wer wen einladen konnte und wie diese Einladungen erwidert werden mussten. So stellt Cynthia Huff fest: “Where a lady might go confined her just as her dress circumscribed her body through corsets and stays.”144 Nebst den stark ritualisierten Empfängen und Visiten vertrieben sich die Frauen in Indien die Zeit mit Ausfahrten, Lesen, Briefe- und Tagebuchschreiben, Theaterbesuchen und Ein- käufen auf dem Bazar oder in den „Europa-Läden“.145 Dabei wurde alles daran gesetzt, so wenig wie möglich vom britischen Lebensstandard abzuweichen. So trugen die Frauen etwa auch bei tropischer Hitze die komplette Kleidung nach englischer Mode, bestehend aus Kor- sett, Strümpfen, Unterrock, Unterhemd und Kleid.146 Es wurde den Damen sogar empfohlen, speziell in heiss-feuchtem Klima wollene Unterwäsche zu tragen, da sie diese weniger oft waschen mussten, sowie zwei Paar Strümpfe übereinander anzuziehen um die Beine vor Mü- ckenstichen zu schonen.147 Kein Wunder brauchten die Ladys jeden Abend ein ausgiebiges Bad – eine Angewohnheit, die Florentia Sale in Afghanistan noch schmerzlich vermissen sollte.148

3.4 THE ENGLISH ACT AS THEY DO IN ALL OTHER COUNTRIES THEY VISIT – LADY SALE IN AFGHANISTAN

Während sich Florentia Sale mit ihrer Tochter auf die Reise nach Afghanistan vorbereite- te, hatte die in Kabul postierte Garnison angefangen, sich so einzurichten, dass dem briti- schen Lebensstandard entsprochen werden konnte. Nach dem Sales Brigade zugeteilten Feld- prediger Gleig war dies auch nötig gewesen, denn [Cabul] proved, when examined more closely and in detail, to be a mean collection of mean houses, and as filthy as all towns are which continue undrained and are not provided with any of the conveniences which the habits of civilized men require.149

Nebst dem Bau des Kantonnements wurden auch heimatliche Sport- und Kulturanlässe durchgeführt: Man spielte Cricket und Hockey, veranstaltete Pferderennen, ging im Winter

143 Vgl. Barr 1976, S. 9. 144 Huff in Bunkers, S. 124. 145 Vgl. Dersin 1999, S. 77. 146 Vgl. Dersin 1999, S. 76. 147 Vgl. Robinson in Sale 2002, Foreword S. viii. 148 Vgl. etwa Sale 1843, S. 287f. (19.01.1842). 149 Gleig 1846, S. 68.

35 auf den gefrorenen See schlittschuhlaufen und im Sommer rudern. Es wurde sogar ein Laien- theater gegründet, das britische Theaterstücke aufführte (siehe Anhang 7).150 Kaye, ein weiterer Offizier aus Sales Brigade und Militärhistoriker, schrieb rückblickend: Indeed, from the very commencement, [the English] had done their best, as they ever do, to accommo- date themselves to new localities and new circumstances, and had transplanted their habits, and, I fear it must be added, their vices, with great address, to the capital of the Douranee Empire. […] They were building and furnishing houses for themselves – laying out gardens – surrounding themselves with the comforts and luxuries of European life. […] Lady Macnaghten, Lady Sale and other English women, were domesticated in comfortable houses within the limits of the great folly we had erected on the plain.151

Die besten Häuser im Kantonnement waren erwartungsgemäss für den Kommandanten General William George Keith Elphinstone und dessen Stellvertreter Robert Henry Sale ge- baut worden. Sales und Elphinstones Vorgänger Willoughby Cotton hatten die Pläne für ihre Häuser selbst entworfen, wobei Sale im Gegensatz zu Cotton noch einige „little comforts“ hinzufügte, die das Ehepaar als unabdingbar betrachtete.152 Deshalb schätzte Florentia ihr Haus sogar als besser und komfortabler ein als dasjenige des Oberbefehlsinhabers.153 Lady Sale fand zu ihrer Freude bei der Ankunft sogar einen sorgfältig angelegten Kräutergarten vor: „Sale had a shoke for gardening, and had an excellent kitchen-garden; whilst I cultivated flowers that were the admiration of the Affghan gentlemen who came to see us.”154 Da Haus und Garten zu ihrem Aufgabenbereich gehörten, übernahm Florentia Sale gleich nach ihrer Ankunft die Kontrolle. Sie richtete ihr neues Heim nach ihrem Geschmack ein und sorgte dafür, dass möglichst bald auch das gewohnte Essen auf den Tisch kam. So liess sie nebst den Kräutern und Blumen auch Gemüse anpflanzen, das sie in weiser Voraussicht aus Indien und Grossbritannien mitgebracht hatte. Detailgetreu wog Florentia Sale in ihrem Ta- gebuch ab, was wo am besten wächst und den besten Geschmack hergibt: Die mitgebrachten Erbsen und Kartoffeln, welche in Afghanistan unbekannt waren, wuchsen besonders gut, wie auch der Blumenkohl, die Artischocken, Radieschen und Rüben. Der einheimische Lattich befand Lady Sale hingegen als „hairy and inferior to those cultivated by us“155, der afghani- sche Weisskohl wiederum war milder im Geschmack und nach ihrem Befinden eine gute Ergänzung zum aus England mitgebrachten Rotkohl. Auch die Früchte nahm Lady Sale ge- nau unter die Lupe: Die Pfirsiche aus Kohistan waren die grössten, die ihr je unter die Augen gekommen waren und „fully equal in juiciness and flavour to those of the English hothou-

150 Gleig 1846, S. 69–74. 151 Kaye 1857, Vol. II, S. 142f. 152 Sale 1843, S. 28 (31.10.1841). 153 Sale 1843, S. 28 (31.01.1841). 154 Sale 1843, S. 28f. (31.10.1841). 155 Sale 1843, S. 29 (31.10.1841).

36 se“156. Ebenso stiessen Pflaumen, Melonen und auch die Birnen, welche ein „native gentle- man“ 157 aus Turkistan mitgebracht hatte, auf ihr Wohlwollen. Florentia Sale half in beispielhafter Weise mit, innerhalb von kürzester Zeit in einer völlig fremden Umgebung eine Gesellschaft aufzubauen, die sich vom britischen Mutterland kaum unterschied. Unbewusst Offizier Kaye zustimmend notierte Lady Sale in ihrem Tagebuch „In Afghanistan the English act as they do in all other countries they visit, – keep to themselves, and even (generally) employ only servants brought with them.”158 Sie selbst hatte 45 Be- dienstete aus Indien mitgebracht.159 Das Leben konnte fernab der Heimat seinen routinierten Lauf nehmen. Als Höhepunkt ihres Einlebens kann wohl Alexandrinas Hochzeit mit dem englischen Ingenieur John Sturt am 9. August 1841 gesehen werden.160

3.5 WE COMPROMISED OUR FAITH – ANZEICHEN DES STURMS

Die einheimische Bevölkerung beobachtete die Ankunft und Niederlassung der Briten mit Skepsis. Obwohl der Feldprediger Gleig und seine Leute sich von Anfang an bemühten, eine freundschaftliche Beziehung zu den Afghanen aufzubauen, glückte ihnen dies nur zum Teil. So notierte Gleig in seinen Aufzeichnungen mit Bedauern, dass sich die Einheimischen nicht für das Cricket begeistern liessen: Being great gamblers in their own way, they looked on with astonishment at the bowling, batting, and fagging out of the English players; but it does not appear that they were ever tempted to lay aside their flowing robes and huge turbans and enter the field as competitors.161

Auch die anderen Sportarten wie Hockey, Rudern oder Schlittschuhlaufen wurden zwar mit Erstaunen beobachtet, aber kaum nachgeahmt. Dennoch schien keine Anstrengung zu gross gewesen zu sein, das Vertrauen der Afghanen zu gewinnen. So beschreibt Gleig bei- spielsweise, wie den Einheimischen Tür und Tor der höchsten Offiziere jederzeit offenstan- den und sogar die Messe der 13. Infanterie von einigen Muslimen besucht wurde, „most of whom ate and drank with as much good will and indiscrimination as if there had been no prohibitory clauses in the Koran or elsewhere“162. Der schottische Bevollmächtigte in Kabul, Sir Alexander Burnes, der mehrere einheimische Sprachen beherrschte, machte sich sogar die Mühe, einige englische Theaterstücke zu übersetzen. Die Briten ihrerseits verweilten sich auf

156 Sale 1843, S. 20 (31.10.1841). 157 Sale 1843, S. 20 (31.10.1841). 158 Sale 1843, S. 47 (3.11.1841). 159 Tanner 2003, S. 151. 160 Alexandrina Sale auf Family Tree Maker Online http://familytreemaker.genealogy.com/users/t/o/d/Guy-B- Tod/WEBSITE-0001/UHP-1759.html (konsultiert am 27.08.2012). 161 Gleig 1846, S. 69. 162 Gleig 1846, S. 71.

37 dem riesigen Bazar, wohnten Hahnenkämpfen bei und nahmen am alljährlichen Schnepfen- schiessen teil.163 Trotz der Bemühungen blieb der Austausch zwischen den beiden Kulturen sehr be- schränkt. Für die Afghanen waren die Neuankömmlinge ungeachtet ihres zuvorkommenden Verhaltens Besatzer und somit eine stete Bedrohung. Mit der Ankunft der Offiziersfrauen und ihren Bediensteten wurde bald klar, dass die Besatzung längere Zeit dauern würde, als ursprünglich vorgesehen.164 Die Versorgung mehrerer Tausend Soldaten war bereits eine Herausforderung, die mit den zusätzlichen 12‘000 Zivilisten kaum mehr zu bewältigen war. Auch das Auftreten der europäischen Männer gegenüber den einheimischen Frauen wurde mit äusserster Ablehnung beobachtet. Denn lange nicht allen Soldaten war es erlaubt, ihre Frauen aus der Heimat nachziehen zu lassen, und diese suchten sich Trost in der Stadt. Kaye gestand ein: There are truths which must be spoken. The temptations which are most difficult to withstand, were not withstood by our English officers. The attraction of the women of Caubul they did not know how to re- sist. […] The scandal was open, undisguised, notorious.165

Was Macrory 1969 unverblümt als Bordellbesuche bezeichnete,166 beschrieb der Zeitzeu- ge Gleig vorsichtig als Zuwendung zu den unterdrückten und misshandelten Afghaninnen: The Afghans are as open to jealousy as Orientals in general, and treating their wives often rudely, the lat- ter could not but be pleased with the attentions which the Feringhees [= Europeans/Franks/foreigners] showed them. It is much to be feared, that our young countrymen did not always bear in mind that the domestic habits of any people ought to be sacred in the eyes of strangers.167

Dass aber auch dem Geistlichen bewusst war, dass die Schuld nicht nur bei den Einheimi- schen lag, manifestiert sich darin, dass er sich nicht näher auf dieses Thema einlassen wollte, denn er schloss mit den Worten: „However, it is not worth while to touch upon a subject which cannot be approached without seeming to condemn where condemnation could serve no good purpose.“168 Der sich anbahnende Konflikt zwischen Einheimischen und Besatzern wurde jedoch von kaum jemandem zur Kenntnis genommen oder verdrängt. Im Kantonnement war man mit anderen, wichtigeren Dingen beschäftigt: Sales gesamte Brigade, die von Beginn an beim Afghanistan-Feldzug beteiligt war, sollte wieder nach Indien und von dort aus zurück nach Grossbritannien geschickt werden. Als Sales Nachfolger wurde der Kommandant des 44th

163 Gleig 1846, S. 70–74. 164 Das von Macnaghten 1838 unterschriebene Simla Manifesto hielt fest, dass sich die britische Armee wieder zurück ziehen werde, sobald Shah Shuja an der Macht ist (vgl. Stewart 2011, S. 52.) 165 Kaye 1874, Bd., S. 143. 166 Macrory in Sale 2002, Introduction S. xvii 167 Gleig 1846, S. 73f. 168 Gleig 1876 S. 74.

38 Essex Regiment Brigadier Shelton bestimmt. Shelton hatte schon vor Abreise der Sales Gene- ral Elphinstone einen offiziellen Brief geschrieben, in dem er aufgrund seiner neuen Stellung deren Haus forderte. Lady Sales trockener Kommentar dazu war lediglich: “Now, as long as Brig. Sheltonʼs duty keeps him at Siah Sung [= the black rock. Hügel in der Nähe des Bala Hissar], he has no business in cantonments.”169 Das Haus sollte ohnehin zuerst von Sales Schwiegersohn Sturt renoviert und anschliessend dem auf den 1. November 1841 erwarteten William Nott übergeben werden. 170 Nott war Kommandant in Kandahar und wurde nun dazu bestimmt, den stark an Arthritis und Rheuma leidenden General Elphinstone abzulösen. Zwar war er bloss von der Ostindienkompanie, und nicht von der prestigeträchtigeren königlichen Armee, wie dies für einen solchen Posten traditionellerweise vorgesehen war. Dem ungeach- tet war der schwer kranke General froh, dass seine inständige Bitte endlich von Gouverneur Auckland erhört worden war und er zurück nach Indien reisen durfte.171 Auch das Gesandten- Paar Frances und William Macnaghten bereitete sich auf die Abreise vor. General Macnagh- ten war der Gouverneursposten in Bombay angeboten worden, weshalb Lady Macnaghten bereits begann, Tea-Partys in ihrer Residenz zu veranstalten, um den Gästen die zum Verkauf stehenden Möbel zu zeigen. Als Nachfolger Macnaghtens war der mit der afghanischen Kul- tur erfahrene Alexander Burnes bestimmt.172 Doch nicht nur in Kabul, auch im Mutterland kam es zu grundlegenden Veränderungen, die einen direkten Einfluss auf die militärische Besatzung in Afghanistan hatten: Die Whigs, Englands langjährige, liberale und Imperialismus-freundliche Regierungspartei, verloren an Macht und wurden von den konservativen Tories abgelöst. Diese standen von Anfang an der Afghanistan-Invasion, welche bis anhin über eine Million Pfund pro Jahr gekostet hatte, ab- lehnend gegenüber. Als erste Massnahme stimmte das Parlament nun einer drastischen Kür- zung der finanziellen Unterstützung in Afghanistan zu.173 Der angeordneten Kostensenkung

169 Sale 1843, S. 28 (31.10.1841). 170 Sale 1843, S. 28 (31.10.1841). 171 Bereits im Juli 1841 hatte Elphinstone einem Verwandten nach Kalkutta einen Brief geschrieben, in dem er seine Krankheit sowie den Wunsch, das Kommando abzugeben schilderte. Der Brief soll hier zur Veran- schaulichung wiedergegeben werden: Cabul, 26th July 1841. My dear Elphinstone, - I have been prevented writing to you by almost incessant severe illness since I came here. I arrived on the 30th April, and on that day had an attack of fever followed by rheumatic gout, which laid me up till the 24th May, when I got about for fourteen days; but on the 6th June I was again ill with fever, followed as before with gout and rheumatism, by which I have been confined frequently to bed ever since, and with little prospect of recovery. I am worse to-day than a month ago. My right wrist is so painful I cannot move it… I have it now in wrist, knee, and an- kle, and, if ordered by the medical committee, I shall apply to Lord Auckland to be relieved. I shall deeply feel being obliged to give up a command I should have liked had I been possessed of health to perform its du- ties, but it is one requiring great activity, mental and bodily. My stay would be useless to the public service and distressing to myself. Zitat aus: Mackenzie 1884, Bd. 1, S. 215. 172 Stewart 2011, S. 63. 173 Tanner 2003, S. 156.

39 wurde einerseits durch den Abzug von noch mehr Truppen, andererseits durch eine Reduzie- rung der Subsidienzahlungen an afghanische Stammesführer entsprochen. Gegenüber letzte- rem Entscheid zeigte Lady Sale grosses Unverständnis. Sie notierte am 28. September 1841: The Indian government have for some time been constantly writing regarding the enormous expenditure in Affghanistan, every dâk has reiterated retrench; but instead of lessening the political expences and making deductions in that department, they commenced by cutting off these 40,000 rupees from the chiefs.174

Als William Macnaghten den Stammesführern der Ghilzai eröffnete, dass die Schutzgeld- zahlungen von £ 8‘000.– auf £ 4‘000.– halbiert würden, nahmen diese die Neuigkeit ohne grossen Widerspruch zur Kenntnis. Die Antwort kam zwei Tage später, als Ghilzai-Kämpfer eine Karawane, die von Indien her nach Kabul unterwegs war, überfielen und plünderten. Somit war die wichtigste Verkehrs- und Kommunikationsverbindung zu Indien, welche wäh- rend der vergangenen drei Jahren „as secure as in one of our own provinces“175 waren, unter- brochen. Schnell griffen die Unruhen um sich und bald wurden in der gesamten Provinz Tu- multe gemeldet. Florentia Sale verfolgte die Ereignisse mit Spannung und kritischem Blick. Nebst den ge- kürzten Subsidienzahlungen beobachtete sie eine weitere Ursache des Aufruhrs: die man- gelnde Herrschaftslegitimation Shah Shujas beim Volk. Dieser entpuppte sich als unpopulä- rer und schwacher Herrscher, der seine Macht dank der Unterstützung britischer Truppen und abschreckenden Bestrafungen, nicht aber dank der Loyalität seiner Untertanen durchzusetzen versuchte. Traditionellerweise liess der Herrscher von Kabul einen Teil der Macht den Stammesführern, die ihm im Gegenzug dafür die Loyalität ihrer Leute zusicherten.176 Die Briten missachteten mit der Einsetzung Shah Shujas diese Aufteilung der Macht und glieder- ten die afghanischen Männer direkt in ihre Truppen ein – „to whom they owed no affection” wie Lady Sale feststellte, „and only paid a forced obedience, whilst their hearts were with their national religion“177. Und sie schloss: „By upholding the Shah in such an act of aggres- sion we compromised our faith, and caused a pretty general insurrection. […] It is only won- derful that this did not take place sooner. “178 Auch Kohistan war in Aufruhr und Major Pottinger, der in Charikar stationiert war, bat Macnaghten dringend um Hilfe. Dieser wollte jedoch keinesfalls seine Abreise wegen ein paar Aufständischen aufs Spiel setzen. Er beorderte Sales Brigade, die Unruhen zwischen

174 Sale 1843, S. 9 (28.09.1841). 175 Bericht im Indian Office Archiv. BL IOR, The war in Afghanistan, 9057, AA2, 1842, S. 13, Zitat aus Stewart 2011, S. 64. 176 Vgl. Sale 1843, S. 8 (28.09.1841). 177 Sale 1843, S. 8 (28.09.1841). 178 Sale 1843, S. 9 (28.09.1841).

40 Kabul und Jellalabad auf ihrem Rückweg nach Indien zu unterdrücken, und erhoffte sich eine Beruhigung der Lage durch erneute Verhandlungen über die Zahlung der Subsidien.179 An- statt eine friedliche Rückreise mit seiner Frau anzutreten, machte sich deshalb General Sale am 11. Oktober 1841 mit seiner Truppe auf den Weg Richtung Jellalabad, um wieder Ruhe und Ordnung herzustellen. Florentia Sale sollte ihm drei Tage später nachfolgen.180 Doch bereits bei Budkhak, 16 Kilometer vor Khurd Kabul, stiess Sales Brigade auf heftigen Wider- stand und der Offizier wurde durch eine Kugel am linken Bein verletzt. General Elphinstone musste in den kommenden Tagen mehrere Kompanien als Verstärkung aus Kabul schicken, welche in Budhkhak, Khurd Kabul und Tezin grosse Verluste erlitten. General Sale beschloss zusammen mit seinem Schwiegersohn Sturt, dass Florentia Sale ihre Abreise aufschieben und später zusammen mit William und Frances Macnaghten sowie General Elphinstone das Kan- tonnement verlassen sollte. Lady Sale jedoch schien weniger ihre Rückreise zu beschäftigen als die wachsende Zahl an Männern, die Kabul verliessen um zu kämpfen: Afghanen, teilwei- se sogar aus Shah Shujas Truppen, welche den Widerstand in den umliegenden Dörfern un- terstützten, und Briten, die genau dies zu verhindern versuchten. Das Militärlager selbst blieb zunehmend schutzlos. Lady Sale wagte es als eine der wenigen, den Tatsachen, die Elphinstone, Macnaghten, Burnes und Shelton so erfolgreich verdrängten, in die Augen zu sehen. Sie notierte am 13. Oktober 1841: „Should there be a rising in Cabul, we should be entirely without the means of defence.“181

3.6 A PRETTY GENERAL INSURRECTION – AUFSTAND IN KABUL

Der Aufstand brach aus. Und zwar am 2. November 1841, einen Tag nachdem sich Sale mit seinen Truppen durch den Khurd Kabul Pass über Tezin nach Gandamak durchgeschla- gen hatte und von dort aus die 37th Native Infantery zurück nach Kabul schickte um seine Ehefrau zusammen mit Frances und William Macnaghten sowie General Elphinstone aus der Stadt zu eskortieren.182 Doch soweit kam es nicht. Im frühen Morgengrauen des 2. November 1841 umringte eine wütende Menge von Afghanen Alexander Burnes Residenz in der Stadt Kabul. Burnes schickte eine Nachricht zu Macnaghten ins Militärlager, um ihn über seine missliche Lage zu informieren. Ausserdem sandte er zwei Boten zu , einem der beiden Anfüh- rer des Aufstandes, mit der Bitte, er möge seine Leute wieder zurückbeordern. Der Ernst sei-

179 Tanner 2003, S. 158. 180 Sale 1843, S. 10 (11.10.1841). 181 Sale 1843, S. 12 (13.10.1841). 182 Tanner 2003, S. 159.

41 ner Lage wurde Burnes jedoch erst dann wirklich bewusst, als nur einer der beiden Boten schwer verletzt zurückkehrte. Der andere war kurzerhand geköpft worden. Als der wütende Mob versuchte, die Residenz zu stürmen, ergriff Alexander Burnes zusammen mit seinem Bruder Charles in einheimischer Kleidung getarnt die Flucht. Beide sanken jedoch nur Au- genblicke später tot zu Boden, von Messerstichen übersät.183 Auch das neben Burnes Resi- denz erbaute Schatzhaus, in dem Captain Johnson wohnte, wurde von der aufgebrachten Menge umzingelt. Johnson selbst befand sich zu dieser Zeit im Militärlager, doch das Haus mitsamt den £ 17‘000.– Bargeld wurde geplündert, die Diener, Frauen und Kinder umge- bracht.184 Am folgenden Tag um drei Uhr morgens marschierte die 37th Native Infantry ins Militär- lager ein. Dies war allerdings die einzige positive Entwicklung der Ereignisse, denn nun räch- te sich die schlechte Lage des Kantonnements: der Vorratsspeicher befand sich ausserhalb des Lagers und war von Afghanen umzingelt. Lieutenant Warren versuchte verzweifelt, die Festung zu halten, jedoch vergebens. Am 5. November 1841 fiel sie in die Hände der Auf- ständischen. Der Verlust der Vorräte war die erste schmerzhafte Niederlage der Briten in die- sem Kampf. Das Kantonnement war von der Nahrungszufuhr abgeschnitten und konnte zu- dem aufgrund der zu langen Mauern nicht ausreichend gegen die Belagerer verteidigt wer- den.185 Macnaghten sandte Hilferufe an General Nott nach Kandahar, sowie an Sale, der sich immer noch zwischen Gandamak und Jellalabad befand. Auch hier stand jedoch das Glück nicht auf der Seite der Briten: Einerseits kämpfte Nott selbst gegen aufständische Stämme in der Umgebung von Kandahar, und die Strasse nach Kabul wäre ohnehin mit dem bevorste- henden Wintereinbruch schon bald unpassierbar gewesen.186 Andererseits wurde der Brief an Sale durch General Elphinstone derart abgeändert, dass die Botschaft neu lautete, Sale solle nur dann zurückkehren, wenn er versichern könne, dass die Kranken, Verletzten sowie das Gepäck „in perfect safety“187 zurückgelassen werden könnten und er seine Truppen keiner Gefahr aussetzen würde.188 Dies konnte Sale inmitten feindseliger afghanischer Kämpfer natürlich nicht garantieren, weshalb er sich entschloss, weiter nach Jellalabad vorzurücken und nicht nach Kabul zurückzukehren.189 Die Garnison in Kabul musste sich selbst helfen. Am 9. November 1841 wurde Brigadier Shelton vom Bala Hissar zurück ins Militärlager

183 Stewart 2011, S. 66. 184 Tanner 2003, S. 161. 185 Tanner 2003, S. 164. 186 Vgl. Stewart 2011, S. 73. 187 Sale 1843, S. 69 (06.11.1841). 188 Sale 1843, S. 69 (06.11.1841). 189 Stewart 2011, S. 73.

42 beordert. Bei dieser Gelegenheit durfte er auch in das Haus der Sales einziehen, während Flo- rentia Sale zu ihrer Tochter und Sturt zog.190 General Elphinstone bildete einen Kriegsrat, in dem die Offiziere die Möglichkeit hatten, ihre Meinungen zu äussern. Ein wichtiger Punkt, der Sturt zur Debatte stellte, war ein Ausbruch aus dem Kantonnement und die Zuflucht im gut beschützten Bala Hissar. Dies hätte mit Sicherheit Verluste auf dem Weg durch die Stadt mit sich gebracht, der Regierungspalast wäre aber ein sicherer Zufluchtsort während des lan- gen Winters gewesen. Dieser im Nachhinein vernünftigste Vorschlag wurde sowohl von Shelton – er wollte sobald wie möglich Afghanistan für immer verlassen – als auch von Mac- naghten – ein Rückzug wäre einer Niederlage gleich gekommen – vehement abgelehnt.191 Rückblickend wäre eine Verschanzung im Bala Hissar wohl die einzige Möglichkeit gewe- sen, die britische Armee vor ihrer kompletten Vernichtung zu bewahren.192 Am 14. November 1841 erreichte Sales Brigade Jellalabad.193 Gleichentags entsandte Nott eine Brigade von Kandahar nach Kabul zur Verstärkung, welche jedoch aufgrund der grossen Schneemengen nie in Kabul ankommen sollte. Einen Tag später erreichten Eldred Pottinger und Lieutenant Haughton als letzte Überlebende der Garnison in Charikar das Kantonnement. Nachdem die Aufständischen in Kohistan gesiegt hatten, konnten sie sich nun der Vertrei- bung der Briten in Kabul widmen.194 Der Konflikt verschärfte sich zusätzlich, als am 22. No- vember 1841 Mahommed Akbar Khan, Sohn des abgesetzten Herrschers Dost Mohammed, mit 6‘000 Reitern in Kabul eintraf. Gerne war das Volk bereit, ihn als neuen starken Führer gegen die verhassten Besatzer anzuerkennen.195 Von nun an führte Akbar Khan die Verhand- lungen mit den Briten und setzte die Bedingungen. So entwarfen er und einige Ghilzai- Anführer mit Macnaghten am 11. Dezember einen Vertrag, wonach sich die Garnisonen aus Kabul, Ghazni und Kandahar mit all ihren Dienern friedlich aus dem Land zurückziehen würden. Doch Akbar Khan stellte immer wieder neue Bedingungen für einen sicheren Rück- zug der Briten. Unter anderem sollten alle Frauen und Kinder als Geiseln zurückbleiben, worauf sich Macnaghten nicht einliess. Am 22. Dezember unterbreitete Akbar Khan den Bri- ten ein verlockendes Angebot – angeblich ohne das Mitwissen der anderen Stammesführer: Shah Shuja sollte als Berater von Akbar Khan in Kabul bleiben dürfen und die Briten müss- ten Afghanistan erst im Frühling verlassen. Ausserdem würde er Amanullah Khan, den gröss-

190 Sale 1843, S. 100 (13.11.1841). 191 Tanner 2003, S. 165. 192 Vgl. Stewart 2011, S. 75f. 193 Vgl. Tanner 2003, S. 167. 194 Vgl. Tanner 2003, S. 168. 195 Vgl. Tanner 2003, S. 170.

43 ten Feind der Briten, ausliefern.196 Diese geheime Abmachung war Macnaghten höchst will- kommen, denn so war es ihm möglich, wenigstens einen Teil seiner und Englands Ehre zu retten. Am Morgen des 23. Dezember verliess er mit den Offizieren Colin Mackenzie, George Lawrence und Robert Trevor das Militärlager um mit Akbar Khan den Geheimplan auszuhandeln. Als sie draussen von hunderten von Afghanen erwartet wurden, war den be- gleitenden Offizieren sofort klar, dass es sich um eine Falle handelte. Macnaghten jedoch war der Meinung, dass es das Risiko wert sei und setzte sich zu Akbar Khan auf die ausgebreite- ten Teppiche. Dieser fragte Macnaghten, ob er noch immer gewillt sei, den vereinbarten Plan durchzuführen. Macnaghtens Antwort „Wieso nicht?“ war der Beweis, dass der Gesandte bereit war, mehrere sich widersprechende Verhandlungen gleichzeitig zu führen, und dass damit auf sein Wort kein Verlass war.197 Sofort wurde er von den umstehenden Anführern niedergeschlagen und weggeschleppt. Trevor, Mackenzie und Lawrence hingegen wurden durch die aufgebrachte Menge hindurch zurück ins Kantonnement gebracht. Trevor hatte dabei das Unglück, vom Pferd zu stürzen und wurde, schutzlos wie er war, sogleich umge- bracht. Nur kurze Zeit später hing der Rumpf von Macnaghtens Körper zur Abschreckung im Bazar von Kabul.198 Von da an war es nur noch eine Frage der Zeit, wann das Militärlager geräumt und die Armee mitsamt Frauen, Kindern und Bediensteten Kabul verlassen würden – trotz wütender Menge, die nur auf diesen Augenblick wartete, mangelnder Versorgung und eisiger Kälte.

3.7 AS PEACEABLE AS LONDON CITIZENS – FLORENTIA SALE AM ERSTEN TAG DES AUFSTANDES

Wie erlebte Lady Sale diese Zeit des Aufstandes und der Belagerung? Seit Tagen sass sie in ihrem Haus im Militärlager und hielt sich für die Abreise bereit. Am 2. November aber sickerten Gerüchte über den Aufruhr in der Stadt zu ihr durch und das passive Warten wider- sprach immer stärker ihrem energischen Temperament. Obwohl ihr als Lady ohne männli- chen Beschützer kaum Handlungsspielraum blieb, versuchte sie sich wenigstens so gut wie möglich zu informieren und sich ein Bild des Geschehens zu machen. Sie vernahm von einer Gruppe Kohistanen, die in der Nacht in die Stadt drangen, und hörte von Plünderungen und Strassenkämpfen. Einer der wenigen afghanischen Diener, die bei den Sales angestellt waren, hatte in der Stadt geschlafen und erzählte nun der Hausherrin, wie er auf dem Weg zur Arbeit beschimpft, bedroht und als Kollaborateur des fremden Generals bezeichnet wurde. Dieser

196 Vgl. Stewart 2011, S. 79f. 197 Vgl. Tanner 2003, S. 174. 198 Vgl. Tanner 2003, S. 173f.

44 sei in Tezin geschlagen worden und hätte seine gesamten Truppen verloren.199 Von ihrem Schwiegersohn hatte Florentia Sale ausserdem vernommen, dass Burnes und Johnsons Häu- ser in der Stadt attackiert worden waren. Sturt hatte sich noch am selben Morgen auf den Weg zu General Elphinstone gemacht, danach zu Brigadier Shelton, der noch immer auf Siah Sang stationiert war, und schlussendlich zum Bala Hissar, wo er mit Shah Shuja die Verteidi- gung organisieren sollte. Vor dem Palast wurde Sturt jedoch brutal niedergestochen und er- reichte nur dank Captain Lawrences Hilfe lebend das Kantonnement. Während er in einer Sänfte auf Umwegen zu sich nach Hause gebracht wurde, informierte Lawrence Florentia Sale und ihre Tochter über den Unglücksfall. Als die Schwiegermutter erfuhr, dass Sturt in sein Haus gebracht werden sollte, wo nicht einmal ein Bett für ihn bereit stand, hatte ihr la- dyhaftes Stillsitzen definitiv ein Ende. Sie notierte in ihr Tagebuch: „I therefore determined not to lose time by waiting till the bearers could get my palkee [= palanquin] ready, but took my chuttah [= umbrella or parasol] and walked off as fast as I could towards Sturtʼs house.“200 Ihre Eigeninitiative dauerte aber nicht lange an, denn sie rannte in Major Thain, der sie wieder nach Hause schickte und für sie die gewünschten Massnahmen ergriff. Dafür war sie dankbar, denn auch innerhalb des Militärlagers herrschte grosse Hektik und Verwir- rung und später notierte sie in ihr Tagebuch: „I fortunately met Major Thain (aide-de-camp to Gen. Elphinstone), for I soon saw a crowd of about fifty suwars [= horsemen – troopers] in his compound. Thain ran on, and told the bearers to bring him [Sturt] on to my house.”201 Nach diesem kurzen Ausbruch aus ihrem Haus und zugleich aus der Rolle als Frau widmete sie sich wieder den typisch weiblichen Aufgaben. Sie kehrte zurück und kümmerte sich mit ihrer Tochter sorgenvoll um Sturts Wunden. Denn „poor Sturt“202 war schlimmer verletzt, als dies Captain Lawrence zugegeben hätte und erholte sich erst spät in der Nacht wieder etwas: He was by eleven at night able to utter a tolerably articulate sound. With what joy did we hear him faint- ly utter bet-ter; and he really seemed to enjoy a tea-spoonful of water, which we got into his mouth by a drop or two at a time, painful as it was to him to swallow it.203

Nebst der Pflege von Sturt widmete Florentia Sale ihre Zeit dem Tagebuch, wo sie alle ihr zu Ohren getragenen Neuigkeiten niederschrieb. Nachrichten erhielt sie vor allem von Ar- meesekretär Captain Lawrence und Macnaghtens Neffe Captain Conolly, die Lady Sale am Abend einen Besuch abstatteten um sich nach Sturts Gesundheit zu erkundigen.204 Trotz der

199 Sale 1843, S. 31f. (02.11.1841). 200 Sale 1843, S. 33 (02.11.1841). 201 Sale 1843, S. 33 (02.11.1841). 202 Sale 1843, S. 33 ( 02.11.1841). 203 Sale 1843, S. 34 (02.11.1841). 204 Sale 1843, S. 35 (02.11.1841).

45 wichtigen Stellung der beiden Offiziere wussten jedoch auch diese kaum Genaueres zu be- richten. Über das Schicksal von Alexander und Charles Burnes herrschte nach wie vor Un- klarheit, wie beispielsweise auch über das Verbleiben von Captain Trevors Frau und den sie- ben Kindern: „Another report states that Trevor, his wife, and one child, have escaped, whilst his six other children have been murdered. Another, that he has escaped, but that his wife and seven children are all murdered.”205 Shah Shuja liess verlauten, dass er die Stadt niederbren- nen lasse, sollte der Aufstand am nächsten Tag nicht vorüber sein. „By no means an easy task“206, wie Florentia Sale reflektierte, denn die Lehmhäuser brannten nicht gut und müssten einzeln angezündet werden, da das Feuer von den Flachdächern schlecht übertragen werden würde. Dieses Vorhaben schien Lady Sale daher nicht geeignet. Noch schlechter als Shah Shujas radikale Lösung war jedoch in ihren Augen die Tatenlosigkeit der britischen Truppen. Es erschien ihr “a very strange circumstance”207 dass diese nicht unverzüglich in die Stadt geschickt worden waren, um den Aufstand im Keim zu ersticken. Stattdessen sässen sie alle “quietly with our hands folded, and look on.”208 Dieser Zustand von “supineness and fancied security of those in power in cantonments”209 sei direkt auf Lord Aucklands “sovereign will and pleasure”210 zurückzuführen, dass in Afghanistan Ruhe und Ordnung herrschen müsse. Und sie fuhr in zynischem Ton weiter: “In fact, it is reported at Government House, Calcutta, that the lawless Afghans are as peaceable as London citizens; and this being decided by the powers that be, why should we be on the alert? Most dutifully do we appear to shut our eyes on our probable fate.”211 Florentia Sales Ärger über die Unentschlossenheit der britischen Offiziere sowie über ihre eigene Machtlosigkeit schimmert zwischen der scharfen Verurteilung deutlich durch. Doch was konnte sie dagegen tun? Was es brauchte, waren Männer mit Entscheidungskraft und diese fehlten nicht nur nach Meinung von Florentia Sale.212 Schon fast grotesk erscheint die Tatsache, dass genau am Tag des Aufstandes der ohnehin schon gichtkranke Elphinstone vom Pferd stürzte und für die nächsten Tage bettlägerig war.213 Somit war es dem Oberbe- fehlsinhaber unmöglich, sich selbst ein Bild der Lage zu verschaffen, stattdessen musste er sich auf die Berichte Dritter verlassen. Seine vertrautesten Berater waren der Macnaghten,

205 Sale 1843, S. 36 (02.11.1841). 206 Sale 1843, S. 37 (02.11.1841). 207 Sale 1843, S. 37 (02.11.1841). 208 Sale 1843, S. 37 (02.11.1841). 209 Sale 1843, S. 38 (02.11.1841). 210 Sale 1843, S. 38 (02.11.1841). 211 Sale 1843, S. 38 (02.11.1841). 212 Vgl. etwa Stewart 2011, S. 69. 213 Stewart 2011, S. 71.

46 der schon bewiesen hatte, dass er die Situation völlig falsch einschätzte, indem weder Ale- xander Burnes noch Major Pottinger Verstärkung zur Unterdrückung der Aufständischen sandte, sowie Sales Nachfolger Shelton, über den Lady Sale schrieb: „[Sheltonʼs] conduct was represented on the emergency as pitiful and childish in the extreme, not having a word to say, nor an opinion to offer.”214 Lady Sale sah das Unheil kommen: General Elphinstone unfähig eigene Entscheidungen zu treffen, seine Berater mehr auf das eigene Wohlergehen bedacht als auf das Schicksal des Kantonnements, draussen in der Stadt ein rasch wachsender Aufstand, und die fähigsten Männer entweder kampfunfähig (Sturt) oder mehrere Tage von Kabul entfernt (Sale) – dies war Florentia Sales düstere Bilanz des ersten Tages des Aufstandes.

3.8 THE BULLETS WHIZZED PAST ME – DAS LEBEN IM BELAGERUNGSZUSTAND

Während der ganzen Zeit der Belagerung war Florentia Sale sehr wachsam und versuchte sich so gut wie möglich selbst ein Bild der Geschehnisse zu verschaffen. Am 8. November 1841, sechs Tage nach Beginn des Aufstandes, schrieb sie in ihr Tagebuch: “[…] I never dose now till daylight, but sit up to watch passing events, and give the alarm if need be, and have kept my nightly watch ever since the insurrection commenced.”215 Doch nicht nur nachts war sie in ständiger Alarmbereitschaft, auch tagsüber beobachtete Lady Sale das Ge- schehen sehr genau. So wurde sie beispielsweise Augenzeugin des „disastrous attempt“216, die Vorratsfestung ausserhalb des Militärlagers zurückzuerobern: Sturt, als einziger Ingenieur im Kantonnement, beschloss vier Tage nach seiner schweren Messerattacke wieder seinen Offizierspflichten nachzukommen. Auf Grund seiner Verletzungen war er ausser Stande sich anzuziehen, und musste deshalb das Haus in Payjana-Hose217 und Hemd verlassen.218 Es ge- lang ihm jedoch bereits gegen Mittag mit seinen Männern die Mauern der besetzten Festung zu durchbrechen und zu stürmen. Lady Sale verfolgte das Geschehen aus unmittelbarer Nähe: There was a small crack in the rampart near Saleʼs bastion, of which I used to take advantage, as a step- ping-stone to enable me to see what was going on; and from my position I saw the storming party ascend the breach, under a heavy fire, with a commendable steadiness and great alacrity.219

214 Sale 1843, S. 42 (02.11.1841) Vgl. Zur Verwendung des Namens Kapitel 2.6. . Vgl. BL IOR Mss Eur B 275- 020. 215 Sale 1843, S. 82 (08.11.1841). 216 Vgl. Inhaltsverzeichnis: „Desastrous attempt to recapture the small fort”, Sale 1843, S. V. 217 Payjana: weite Bundhose aus Seide. Dieses indische Kleidungsstück wurde später in Europa als Pijama über- nommen. Vgl. Derson 2009, S. 116f. 218 Sale 1843, S. 61 (06.11.1841). 219 Sale 1843, S. 62 (06.11.1841).

47 Später kehrte sie zurück, jedoch nicht in sondern auf ihr Haus, denn sie fuhr ihren Bericht weiter mit den Worten: „From the top of our house we saw every thing distinctly“.220 Die exzellente Sicht offenbarte ihr aber wenig Beruhigendes, denn so konnte sie aus sicherer Dis- tanz beobachten, wie afghanische Reiter herbeieilten, in kurzer Zeit die britischen Truppen vernichtend schlugen und die Festung wieder einnahmen. Das Hausdach schien nicht nur ein hervorragender Aussichtspunkt zu sein, sondern Flo- rentia Sale gleichzeitig auch einen gewissen Schutz vor den Gewehrkugeln zu bieten. So schrieb sie am Tag, als die Briten einen Gegenangriff auf das Dorf Bimaru lancierten: I had taken up my post of observation, as usual, on the top of the house, whence I had a fine view of the field of action, and where, by keeping behind the chimneys, I escaped the bullets that continually whizzed past me.221

Nebst den eigenen Beobachtungen führte Florentia Sale Gespräche mit hochrangigen Of- fizieren um an die gewünschten Informationen zu kommen. So vernahm sie von General Elphinstone persönlich, wie es um Robert Sales Gesundheit stand, nachdem er in Khurd Ka- bul am Bein verletzt worden war.222 Die Meldung über William Macnaghtens Gefangenschaft – dass er ermordet wurde, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar – erhielt Lady Sale vom Artillerieoffizier Lieutenant Waller, der in Sales Brigade eingeteilt war und mit der 37th Nati- ve Infantery von Gandamak nach Kabul zurück gekehrt war. Der Armeesekretär George Lawrence informierte sie nicht nur über Sturts schwere Verletzungen am ersten Tag des Auf- standes223, sondern auch über Sales Tätigkeiten in Jellalabad224 und schlussendlich auch über die Ermordung von William Macnaghten und Robert Trevor. Diese traurige Nachricht musste Lady Sale anschliessend Lady Macnaghten und Mrs. Trevor kundtun. An diesem Tag schrieb sie: „Over such scenes I draw a veil. It was a most painful meeting to us all.“225 Auch von Lady Macnaghten erhielt sie einige Informationen, welche vor allem die Briefkorrespondenz ihrer beiden Ehemänner betrafen.226 Wie das Verhältnis zwischen den beiden höchstrangigen Frauen im Militärlager war, ist nicht genau rekonstruierbar. Angesichts ihres ähnlichen sozia- len Status ist davon auszugehen, dass sie sich gegenseitig Besuche abstatteten, obwohl Flo- rentia Sale nur drei solcher Visiten in ihrem Tagebuch erwähnt.227 Florentia Sale erinnerte sich an ein Treffen ihrer Tochter mit Lady Macnaghten, das die Ehefrau des Gesandten in

220 Sale 1843, S. 64 (06.11.1841). 221 Sale 1843, S. 123 (23.11.1841). 222 Sale 1843, S. 16 (24.10.1841). 223 Sale 1843, S. 33 (02.11.1841). 224 Sale 1843, S. 133 (23.11.1841). 225 Sale 1843, S. 197 (24.12.1841). 226 Sale 1843, S. 65 (06.11.1841). 227 Sale 1843, S. 19 (25.10.1841); S. 65 (06.11.1841); S. 197 (24.12.1841).

48 kein sonderlich gutes Licht stellt. Sie notierte am ersten Tag des Aufstandes: “It was only two days ago Lady Macnaghten told Mrs. Sturt that the country was all quiet, except the little outbreak near Tézeen!”228 Wo Florentia Sale normalerweise mit zynischen Bemerkungen nicht sparte, muss sich hier die Leserschaft selbst ein Bild zu Frances Macnaghtens Beurtei- lungsvermögen zu schaffen. Florentia Sale konnte auch den abendlichen Sitzungen beiwohnen, die Sturt mit Quartier- meister Paton und Captain Bellew in ihrem Haus organisierte. Am 6. November, als die Rückeroberung des Versorgungsforts so kläglich scheiterte und General Elphinstone sich zunächst dagegen entschied, Sales Brigade um Hilfe zu beten, war Lady Sale bei der Sitzung anwesend. Später schrieb sie darüber in ihrem Tagebuch in ungewohnt bescheidenem Ton: Paton and Bellew meet in council with Sturt at nine most evenings at our house. To-day arrangements were made for carrying the Shahʼs garden and the Commissariat fort at daybreak, every thing being so clearly explained that even I understood it as well as hemming the handkerchief I was making.229

Nicht zuletzt pflegte Florentia Sale auch Beziehungen zu einigen afghanischen Stammes- führern, die den Briten friedlich gesinnt waren. Von besonderer Bedeutung war der Kontakt zu Taj Mahommed Khan, einem Ghilzai Anführer, der aus einer Familie stammte, die über Generationen das Amt des Wesirs in Kabul innehatte.230 Taj Mahommed warnte die Briten nicht nur vor dem Aufstand, sondern auch vor Akbar Khans Verrat und unterstützte sie mit Vorräten und wertvollen Ratschlägen. So warnte er Sturt und Lady Sale am 20. Dezember 1841 vor der Katastrophe, die auf die Briten zukam: Taj Mahommed assures us of the intended treachery of Akbar; and says the force will be annihilated, and is most anxious that we should accept such protection as he is willing to afford us somewhere in the hills until the return of the English; – for that a strong force will be sent to retake Cabul, and avenge the medi- tated destruction of our army, is a general opinion amongst the thinking Affghans […]231

Dass Lady Sale diese Warnung in ihr Tagebuch notierte, ist ein Zeichen dafür, dass sie seine Worte ernst nahm – im Gegensatz etwa zu Alexander Burnes, der zu einem früheren Zeitpunkt von Taj Mahommed mehrmals gewarnt worden war und trotzdem vom Aufstand völlig überrascht wurde.232 Wo Lady Sale ihrer Meinung nach ungenügend über die Geschehnisse unterrichtet wurde, hatte sie keine Hemmungen, die gewünschten Informationen einzufordern. Als sie lange Zeit ohne Nachricht über ihren Ehemann blieb („There being a report that all was peaceable set-

228 Sale 1843, S. 43 (02.11.1841). 229 Sale 1843, S. 67 (06.11.1841). 230 Sale 1843, S. 441 (Nachtrag zum 01.11.1841). 231 Sale 1843, S. 186f. (20.12.1841). 232 Sale 1843, S. 439 (Nachtrag zu 01.11.1841).

49 tled at Tézeen, I became very anxious for intelligence“233), wandte sie sich an Major Thain: „I wrote to Major Thain, requesting him to give me any information in his power“.234 Einträge wie “I heard a piece of private intelligence to-day […]“235, „I was standing on the ramparts, and heard the Envoy, in my presence, ask the General to pursue the flying troops into the city“236 oder “I was present at mid-day, when Capt. Lawrence told Capt. Boyd that he was to purchase any quantity of grain and provision in his power […]“237 lassen vermuten, dass es manchmal ausreichte, sich am richtigen Ort zu befinden und die Ohren zu spitzen, um Dinge zu erfahren, die eigentlich nicht für die camp followers bestimmt gewesen wären. Eine weitere wichtige Informationsquelle waren die Briefkorrespondenzen zwischen den höheren Offizieren, welche zumindest teilweise auch Lady Sale zum Lesen gegeben wurden. Das so gewonnene Bild des Aufstandes und der Belagerung notierte und kommentierte sie beinahe täglich in manchmal mehrere Seiten langen Tagebucheinträgen. Zudem schickte sie Briefe an ihren Ehemann, um auch ihn auf dem Laufenden zu halten.238 Ein grosser Teil von Florentia Sales Alltag im über zwei Monate lang belagerten Kanton- nement bestand also aus zeitintensiven Beobachtungen, Visiten und Gesprächen mit rangho- hen Offizieren. Daneben musste Lady Sale nach wie vor ihre Pflichten als Hausherrin erfül- len. Als besondere Herausforderung gestaltete sich dabei die Verpflegung der Bediensteten. Bereits am zweiten Tag des Aufstandes stellte sie besorgt fest: We have only three daysʼ provisions in cantonments: should the Commissariat Fort be captured, we shall not only lose all our provisions, but our communication with the city will be cut off. This fort (an old crazy one, undermined by rats) contains the whole of the Bengal commissariat stores, valued at four lakhs of rupees, including about 12,000 maunds of ottah [= ground wheat/flour, or rather what is called pollard], wheat, and barley, and all the medical stores, &c.”239

Am 8. November fiel die Festung in feindliche Hände. Von da an reichten die Vorräte sel- ten für länger als drei Tage. Die Ration der Bediensteten im Militärlager wurde bereits am 5. November halbiert, drei Tage später musste auch diejenige der Truppen im Bala Hissar um die Hälfte gekürzt werden.240 Das Problem war dabei weniger die Fleischversorgung als das fehlende Getreide. Die Besorgung von genügend Weizen, Gerste, Hafer und Spreu für die Tiere wurde eine immer grössere Herausforderung, worunter die Artillerie-Pferde, Kamele, Ponys und Schafe als erste litten. Vor dem Aufstand hatten die Briten das Getreide aus dem

233 Sale 1843, S. 20 (26.10.1841). 234 Sale 1843, S. 20 (26.10.1841). 235 Sale 1843, S. 162 (06.12.1841). 236 Sale 1843, S. 127 (23.11.1841). 237 Sale 1843, S. 194 (23.12.1841). 238 Vgl. etwa Sale 1843, S. 168 (09.12.1841). 239 Sale 1843, S. 45f. (03.11.1841). 240 Vgl. Sale 1843, S. 57 (04.11.1841) bzw. Sale 1843, S. 85 (08.11.1841).

50 Dorf Bimaru bezogen, das auf einem Hügel oberhalb von Kabul gelegenen war. Dieses fruchtbare Land wurde nun aber von afghanischen Kämpfern umstellt, um die Getreideliefe- rungen zu verunmöglichen. Mehrere Versuche der Briten, den Hügel einzunehmen, waren kläglich gescheitert.241 Dank geschäftstüchtigen Afghanen sowie einigen einflussreichen Verbündeten gelang es den Briten dennoch, sich immer wieder Vorräte für die kommenden paar Tage zu beschaffen. Dass die Aufständischen solche Nahrungstransporte offensichtlich duldeten, verwirrte und beunruhigte Florentia Sale. Am 21. November schrieb sie: It is difficult to ascribe the just cause to the inactivity of the enemy: if they feared us, they would dis- perse; and if they mean to starve us, why do they allow us to get in supplies in the quantities they do? That something is in agitation there can be no doubt; and the most plausible idea is, that the enemy think that by keeping us on the alert so long for nothing, that we shall all relax in our vigilance, and give them the opportunity to attack the cantonments with success.242

Die Versorgungslage war trotz der gelegentlichen Nachschüben prekär. Der Tagebuchein- trag des 6. Dezember 1841 endet mit der Feststellung: „To-day we have seven daysʼ provisi- ons left.“243 Drei Tage später schrieb sie: „We have only three daysʼ provisions!“244 und am 11. Dezember: „As we have only two daysʼ provisions, terms have been accepted.“245 Nach weiteren drei Tagen entspannte sich die Lage wieder etwas, da neue Lebensmittel in das Mili- tärlager gebracht werden konnten.246 Florentia Sale kam dank ihren guten Beziehungen zu den höheren Offizieren sowie zu ei- nigen einflussreichen Afghanen immer wieder zu zusätzlichen Lebensmitteln. So schrieb sie am 16. Dezember 1841: „This day Sturt was fortunate in purchasing a bag of otta [= ground wheat/flour, or rather what is called pollard] sent in to him by Taj Mahommed; whose man brought another which our servants were purchasing“.247 Drei Tage später war sie „fortunate enough to purchase some otta and barley for our servants and cattle“248 und am Tag darauf liess ihnen Taj Mahommed Khan durch seine Diener Käse überbringen.249 Wer keine einflussreichen Beziehungen spielen lassen konnte, wurde von der Nahrungs- mittelknappheit hart getroffen. Kurz nachdem die Versorgung der Bediensteten und der Truppen beim Bala Hissar gekürzt worden war, erhielten auch im Kantonnement alle Solda- ten nur noch die Hälfte ihrer Ration. Besonders stark unter der mangelnden Ernährung litten

241 Vgl. etwa Sale 1843, S. 121 (23.11.1841). 242 Sale 1843, S. 117 (21.11.1841). 243 Sale 1843, S. 163 (06.12.1841). 244 Sale 1843, S. 169 (09.12.1841). 245 Sale 1843, S. 173 (11.12.1841). Verlangt waren vier britische Offiziere als Geiseln, um die sichere Rückkehr des Dost Mohammed sicherzustellen. 246 Sale 1843, S. 176 (14.12.1841). 247 Sale 1843, S. 180 (16.12.1841). 248 Sale 1843, S. 186 (19.12.1841). 249 Sale 1843, S. 186 (20.12.1841).

51 die indischen Soldaten der Ostindienkompanie, denen das für sie ungewohnt raue Klima zu- sätzlich zusetzte: Great care is taken of the fire-wood in store in cantonments, and much discontent prevails because fires are not allowed. The Hindostanees feel the severity of the weather, to which they are exposed night and day; and the want of fuel adds much misery to their privations in being put on short allowance of food.250

Am 9. Dezember 1841 wurde beschlossen, den camp followers kein Getreide mehr zu zu- teilen.251 Die einzige Nahrung, die den weniger privilegierten Zivilisten blieb, war das Fleisch der verhungerten Kamele und Ponys.252 Die Pferde der Artillerie waren so ausgemer- gelt, dass sie die Achsenzapfen der Kanonen frassen und sogar Lady Sales Reitpferd musste sich mit einem Wagenrad als Futterersatz begnügen.253 Am selben Tag, dem 16. Dezember 1841, schrieb Lady Sale: “They know that we are starving […]“254 und vier Tage später zog sie die ernüchternde Bilanz: “Certain it is that we have very little hope of saving our lives.”255 Diese Gewissheit hatte Lady Sale nicht nur aufgrund der misslichen Versorgungslage, sondern auch aufgrund der ausserordentlichen Feindseligkeit und Brutalität gewisser Grup- pen der Aufständischen. Laut Florentia Sale hatten die Ghilzai-Anführer auf den Koran ge- schworen, dass sie gegen die Eindringlinge kämpfen würden, was eine friedliche Lösung praktisch verunmöglichte.256 Während einige Stammesführer versprachen „that they will not fight hard“,257 waren einzelne Kämpfer weniger zurückhaltend. Nachdem Florentia Sale be- schrieben hatte, in welchem Zustand Colonel Mackrell ins Militärlager gebracht worden war – an beiden Beinen verwundet, drei Messerstiche im Rücken, zwei Zehen abgeschnitten und drei bis vier tiefe Stiche im Arm, so dass dieser amputiert werden musste – kommentierte sie: To persons accustomed to civilised warfare, these details must be revolting. Even a dead enemy is never passed without a cut at the body. They cry ‘Aman’ themselves, but never show mercy to Kaffirs [= infi- dels].258

Als drei Tage später afghanische Reiter – Florentia Sale nennt sie nach britischem Vorbild „Affghan cavalry“259 – im Sturmangriff einen Hügel hinunter direkt auf die britschen Trup- pen zupreschten, war auch die standhafte Lady Sale eingeschüchtert. Es war eines der

250 Sale 1843, S. 138 (25.11.1841). 251 Sale 1843, S. 172 (09.12.1841). 252 Vgl. Sale 1843, S. 224 (06.01.1841). 253 Vgl. Sale 1843, S. 180f. (16.12.1841). 254 Sale 1843, S. 180 (16.12.1841). 255 Sale 1843, S. 187 (20.12.1841). 256 Vgl. Sale 1843, S. 46 (03.11.1841) bzw. Sale 1843, S. 119 (22.11.1841). 257 Sale 1843, S. 119 (22.11.1841). 258 Sale 1843, S. 89 (10.11.1841). 259 Vgl. Sale 1843, S. 98 (13.11.1841).

52 wenigen Male, wo sie das Gefühl der Angst im Tagebuch notierte: „My very heart felt as if it leapt to my teeth when I saw the Affghans ride clean through them. The onset was fearful.”260 Zwar fanden die meisten Kämpfe ausserhalb des Militärlagers statt, der Aufstand erreichte aber trotzdem auch das Innere des Kantonnements. Bei einem Angriff wurde Sturts Haus durch Kanonenfeuer beschädigt: „The enemy saluted our house with six-pound shot, which rattled about and passed us, and several struck the house; one was imbedded in the wall under Mrs. Sturtʼs window“.261 Dieser Angriff blieb nicht ungerächt, denn Lady Sale fuhr weiter: „At night we threw shell as usual into Mahmood Khanʼs fort, and could plainly distinguish the sound of ‘Ullah ul Alla’ as they burst.“262 Bedrohend waren aber nicht nur die unmittelbar stattfindenden Kämpfe und die schwierige Versorgungslage, sondern auch die wiederholten Warnungen und Drohgebärden der Aufstän- dischen. Bereits Ende November wurden die Offiziere mit Frauen und Kinder als Geiseln gefordert. Obwohl Mahommed Akbar Khan ihre Sicherheit garantierte, hatte Florentia Sale nicht das geringste Vertrauen zu ihm. Sie schrieb in ihr Tagebuch: „These Ghazeeas [= a champion of religion/a fanatic] are fanatics, and would cut us into mince-meat“.263 Eine frei- willige Geiselhaft kam für Lady Sale nebst ihrer Furcht vor der Willkür des Feindes auch auf Grund der britischen Ehre nicht in Frage. Zu ihrem Glück dachte der Gesandte wie sie: Macnaghten schickte „a chivalrous reply, – That death was preferable to dishonour, – that we put our trust in the God of battles, and in His name bade them come on“.264 Zu Lady Sales grossem Schrecken hatte Sturt sich jedoch einen Tag nach Macnaghtens Ermordung selbst freiwillig als Geisel angeboten, und zwar mit Ehefrau und Schwiegermutter.265 Florentia Sale, die um keinen Preis in Gefangenschaft geraten wollte, wandte sich sofort an den General und bat ihn, von diesem Plan abzusehen. Doch auch wenn sie vorerst dem Schicksal der Geisel- haft entging, sah Florentia Sales Zukunft düster aus. Am 17. Dezember 1841 notierte sie: The people say that, as soon as we go, there will be dreadful fighting; not such as they have had with us, but chupaos [= a attack/a surprise/a foray] on each other's houses, sword in hand, and cutting each oth- er's throats: that we shall be attacked all the way to Khoord Cabul, but not after that, as that part of the country belongs to Ameenoollah Khan, whose son goes with us.266

Eine Woche später – und einen Tag nach der Ermordung des Gesandten – wurde erneut mit dem Feind verhandelt. Die zusätzlichen Forderungen der Aufständischen waren nach

260 Sale 1843, S. 98 (13.11.1841). 261 Sale 1843, S. 100 (13.11.1841). 262 Sale 1843, S. 100 (13.11.1841). 263 Sale 1843, S. 134f. (24.11.1841). 264 Sale 1843, S. 142 (27.11.1841). 265 Sale 1843, S. 177 (15.12.1841). 266 Sale 1843, S.183 (17. 12.1841).

53 Lady Sale: „to leave all our treasure, to leave all our guns excepting six, to exchange the pre- sent hostages for all the married men and their families. “267 Doch nach wie vor wurde die letzte Bedingung nicht akzeptiert. Klar war jedoch, dass die Situation der Briten von Tag zu Tag misslicher wurde und ein Rückzug nach Jellalabad nur eine Frage der Zeit war. So ver- brachte Florentia Sale Heiligabend mit der Herstellung von Hängematten für den Transport der Kranken und Verletzten.268 Weihnachten hätte bedrückter nicht sein können – „A dismal Christmas-day and our situation far from cheering“ schrieb sie am 25. Dezember 1841. Die erneuten Verhandlungen am folgenden Tag beinhalteten vor allem die Höhe der Schutzgeld- zahlungen, die Route des Rückzuges und die Menge an Gepäck, welche den Briten erlaubt war mitzunehmen. Die Gespräche waren immer noch von tiefem Misstrauen geprägt und die Angst vor einem Massaker wuchs von Tag zu Tag. Am 27. Dezember wurden die Briten er- neut vor dem Verrat der Stammesführer gewarnt: We are informed that the chiefs do not mean to keep faith; and that it is their intention to get all our women into their possession; and to kill every man except one, who is to have his hands and legs cut off, and is to be placed with a letter in terrorem at the entrance of the Khyber passes, to deter all Feringhees [= Europeans/Franks/foreigners] from entering the country again. […] We have also information that the road to Jellalabad is clear; as the Ghilzyes are all come into Cabul to exterminate us and loot the canton- ments.269

Zwei Tage später schrieb Florentia Sale: „Whether we go by treaty or not, I fear but few of us will live to reach the provinces.“270 Das Datum der Abreise, welches zunächst auf den 23. Dezember 1841 festgelegt worden war, wurde immer wieder verschoben. Ausserdem muss- ten die Verletzten und Kranken in Kabul bleiben und konnten nicht, wie ursprünglich ge- plant, mitgenommen werden. Die beiden Ärzte Dr. Bellwick und Dr. Campbell wurden zu deren Versorgung zurückgelassen.271 Am 1. Januar 1842 kamen zwei Männer mit einem Ko- ran zu Sergeant Dean, der dank seiner afghanischen Ehefrau immer noch Freunde in Kabul hatte, und warnten ihn abermals vor Attacken in Tezin und Surkhab.272 Die Bedingungen für einen Rückzug waren katastrophal: die Soldaten hatten während Wo- chen nicht genügend Nahrung zu sich genommen, das Brennholz war längst ausgegangen – in Lady Sales Haushalt hatte man die Holzkisten, Truhen, Schränke und zuletzt sogar den Ma- hagoni-Tisch verbrannt273 – die Temperaturen sanken unter null Grad Celsius und es lagen dreissig Zentimeter Schnee. Die Tiere waren so ausgemergelt, dass sie nur unter grosser An-

267 Sale 1843, S. 201 (24.12.1841). 268 Vgl. Sale 1843, S. 203 (24.12.1841). 269 Sale 1843, S. 204 (26.12.1841). 270 Sale 1843, S. 207 (28.12.1841). 271 Vgl. Sale 1843, S. 207 (28.12.1841). 272 Vgl. Sale 1843, S. 213 (01.01.1842). 273 Vgl. Sale 1843, S. 224 (06.01.1842).

54 strengung das Gepäck und die Reiter tragen konnten. Viele Soldaten litten ausserdem an Kriegsverletzungen und konnten nur mit Mühe die beschwerliche Reise antreten. All dem ungeachtet verliessen die 4‘500 Soldaten und 12‘000 Zivilisten am Morgen des 6. Januar 1842 Kabul in Richtung Jellalabad (für die Route des Rückzuges sie Anhang 8).

3.9 AN INGLORIOUS RETREAT – DER RÜCKZUG VON KABUL NACH JELLALABAD

Am Morgen des 6. Januar 1842 um 9:30 Uhr war der in Kabul gebliebene Teil der Great Army of the Indus bereit zum Abmarsch. Zuerst verliess die Vorhut mit General Elphinstone an der Spitze das Lager. Unter sie mischten sich die vornehmen Damen, welche in Sänften getragen wurden. Danach kam das Gros der Armee und der 12‘000 Zivilisten mit den Tieren und dem Gepäck, als letztes bildeten Truppen der 54th Native Infantry und der 5. Kavallerie mit zwei Kanonen die Nachhut. Lady Sale und ihre Tochter hatten sich auf Anraten von Taj Mahommed Khan hin eine dicke Schaflederjacke (Neemchee) und einen Turban angezogen und ritten auf Pferden mit der Kavallerie in der Vorhut. Taj Mahommed Khan hatte sie davor gewarnt, in Sänften zu reisen oder sich in die Nähe der anderen Ladys zu begeben, da diese mit grosser Wahrscheinlichkeit angegriffen werden würden.274 Insgesamt wurden den Ghilzai-Führern 1‘450‘000.– Rupien für sicheres Geleit bis nach Peschawar sowie das Bereitstellen von Verpflegung und Brennmaterial bezahlt.275 Bald stell- te sich jedoch heraus, dass kein Begleitschutz bereit stand und auch von Verpflegung weit und breit keine Spur war. Noch bevor die Nachhut das Kantonnement verlassen hatte, wurde dieses geplündert und niedergebrannt. Fünfzig Soldaten starben noch im Militärlager. Viele der indischen Bediensteten liessen das Gepäck ihrer Herrschaften stehen und rannten um ihr Leben.276 Auch Lady Sales Gepäck fiel auf diese Weise in die Hände des Feindes. Das einzi- ge, was gerettet werden konnte, war das Bettzeug ihrer schwangeren Tochter.277 Optimal gewesen wäre, wenn die Truppe sich bereits am ersten Tag durch den dreissig Ki- lometer entfernten Khurd Kabul hätte schlagen können. Es handelte sich dabei um einen acht Kilometer langen, Canyon-artigen Pass mit steilen Felswänden und einem eisigen Bergbach, der sich seinen Weg im Zickzack durch die gefrorene Erde frass.278 Der Pass war eine der exponiertesten Stellen, wo bereits Robert Sale im Oktober einen harten Kampf gegen die Ghilzai geführt hatte und dabei schwer verletzt worden war. Diese riskante Stelle so schnell

274 Vgl. Sale 1843, S. 219 (04.01.1842). 275 Vgl. Sale 1843, S. 222 (06.01.1842). 276 Sale 1843, S. 225 (06.01.1842). 277 Vgl. Sale 1843, S. 225 (06.01.1842). 278 Tanner 2003, S. 180.

55 wie möglich zu durchqueren konnte deshalb über Leben und Tod entscheiden. Ausserdem erwartete man auf der anderen, tiefer liegenden Seite des Passes schneefreie Wiesen, wo sie die Tiere hätten weiden lassen können. Aufgrund der grossen Anzahl von camp followers und dem Chaos, das bereits vor Abmarsch bei den letzten Truppen herrschte – die Nachhut ver- liess Kabul erst gegen Abend und musste sich, stets die Angriffe des Feindes abwehrend, ihren Weg durch sterbende Menschen und liegen gelassene Gepäckstücke bahnen – war es unmöglich, den Khurd Kabul noch am gleichen Tag zu erreichen. Anstatt dreissig Kilometern legte die Armee am ersten Tag knapp zehn zurück. Als Lady Sale die Stelle erreichte, welche zum Nachtlager bestimmt war, war es erst vier Uhr nachmittags. Zelte waren keine ange- kommen und auch Vorräte waren fast keine vorhanden. Captain Johnson half, mit einer Plane einen improvisierten Unterschlupf für Lady Sale, ihre Tochter, John Sturt, Mr. Mein und ein Kindermädchen zu bauen. Es war eng, windig und die Nacht bitterkalt. In ihr Tagebuch schrieb Florentia Sale an diesem ersten Tag des Rückzuges: It was dark, and we had few pegs; the wind blew in under the sides, and I felt myself gradually stiffening. I left the bedding, which was occupied by Mrs. Sturt and her husband, and doubled up my legs in a straw chair of Johnsonʼs, covering myself with my poshteen [= a sheep skin/also a fur pelisse]. Mr. Mein and the ayah [= a female attendant/a nurse] fully occupied the remainder of the space.279

Trotz der durchfrorenen Nacht konnte sich Lady Sale glücklich schätzen, dass sie unter ei- ner von insgesamt nur gerade drei Planen schlafen konnte. Die anderen mussten sich ihr Nachtlager auf dem weggekratzten Schnee einrichten „without a particle of food or bedding, or wood to light a fire.“280 Die Nachhut erreichte das Lager erst um zwei Uhr morgens und hatte kaum Zeit sich auszuruhen. Viele litten an Erfrierungen, hunderte starben in dieser ers- ten Nacht des Rückzuges.281 Am nächsten Morgen um halb acht machte sich die Vorhut marschbereit. Ihr schlossen sich unzählige Soldaten an, die sich ohne Befehl so bald als möglich auf den Weg machen wollten. Dies verursachte grosses Durcheinander, welches die Afghanen schon bald ausnütz- ten, um auch noch den Rest des ungeschützten Gepäckes zu plündern.282 Um ein Uhr mittags erreichte die Armee nach acht Kilometern Marsch das Dorf Budkhak. Dort wurde zu Lady Sales grosser Bestürzung wieder Befehl zum Halt gegeben. Ihrer Meinung nach war dies ein unnötiger Zeitverlust, der in fahrlässiger Weise das Leben der Soldaten auf’s Spiel setzte. Sie notierte:

279 Sale 1843, S. 226 (06.01.1842). 280 Sale 1843, S. 229 (07.01.1842). 281 Stewart 2011, S. 84. 282 Sale 1843, S. 229f. (07.01.1842).

56 We left Cabul with five and a half daysʼ rations to take us to Jellalabad, and no forage for cattle, nor hope of procuring any on the road. By these unnecessary halts we diminished our provisions; and having no cover for officers or men, they are perfectly paralysed with the cold.283

Was Lady Sale nicht wusste, war, dass der Halt auf Mahommed Akbar Khans verlangen hin geschah. Dieser warf den Briten vor, sie seien zu früh losgezogen und hätten ihm deshalb keine Zeit gelassen, den Geleitschutz zusammenzustellen. Akbar Khan forderte weitere 15‘000 Rupien Schutzgeldzahlung und bestand darauf, dass die Briten erst am nächsten Mor- gen weiterzögen.284 Die Nacht in Budkhak war wie die Erste: Kälte, Hunger und Durst er- schwerten die Erholung der erschöpften Zivilisten und Soldaten. Am nächsten Morgen herrschte wiederum grosses Chaos: „The confusion was fearful“, schrieb Lady Sale, The force was perfectly disorganised, nearly every man paralysed with cold, so as to be scarcely able to hold his musket or move. Many frozen corpses lay on the ground. The Sipahees [= the native Hindostanee troops/Sepoys] burnt their caps, accoutrements, and clothes to keep themselves warm. Some of the enemy appearing in rear of our position, the whole of the camp followers rushed to the front; every man, woman, and child, seizing all the cattle that fell in their way, whether public or private. The ground was strewn with boxes of ammunition, plate, and property of various kinds.285

Kämpfer der östlichen Ghilzai, in dessen Gebiet sich die britischen Truppen nun befanden, hatten sich bereits in einiger Entfernung um das Lager geschart. Akbar Khan bot General Elphinstone an, sie zu vertreiben, wenn er ihm im Gegenzug Captain Lawrence, Major Pot- tinger und Captain Mackenzie als Geiseln überlassen würde. Während der Verhandlungen zwischen den beiden Anführern blieb Lady Sale und allen anderen nichts anderes übrig als zu warten. Sie hatten nichts zu essen und keine Möglichkeit, sich zu wärmen. Unter diesen Umständen war ein Becher Sherry – „which at any other time would have made me very unlady-like“286 – höchst willkommen: „ [It] now merely warmed me, and appeared to have no more strength in it than water.“287 Gegen Mittag wurde das Signal zum Abmarsch gegeben. Ziel war die Durchquerung des gefürchteten Khurd Kabul Passes, wo mittlerweile die Ghilzai genügend Zeit hatten, sich oberhalb der Felsen in Position zu bringen. Gut geschützt hinter Felsbrocken und Steinen beobachteten sie den Einzug des Trosses in die enge Felsenschlucht, warteten jedoch mit der Attacke bis auch die Nachhut vollständig im Canyon war. Dann eröffneten sie das Feuer.288 Während die Vorhut also noch nicht sogleich angegriffen wurde, stand die Nachhut von An- fang an unter vollem Beschuss. Florentia Sale hatte gut daran getan, auf Taj Mahommed

283 Sale 1843, S. 230 (07.01.1842). 284 Archibald Forbes: Britain in Afghanistan. The First Afghan War 1839–1842. Leonaur Ltd: o. O. 2007, S. 110. 285 Sale 1843, S. 234 (08.01.1842). 286 Sale 1843, S. 234 (08.01.1842). 287 Sale 1843, S. 234 (08.01.1842). 288 Tanner 2003, S. 180.

57 Khan zu hören und mit ihrer Tochter wiederum an der Spitze zu reiten. So waren sie am Anfang noch unbehelligt und anschliessend galoppierten sie in grösstmöglichem Tempo „over a road where, at any other time, we should have walked our horses very carefully.“289 Die anderen Damen hatten weniger Glück. Sie konnten nicht mehr in ihren Sänften transpor- tiert werden, da die meisten ihrer Träger erfroren oder von den Angreifern getötet worden waren und reisten jetzt mit ihren Kindern in grossen Tragkörben auf Kamelrücken. Sobald sie zwischen den Felswänden waren, wurden auch sie heftig attackiert. Frauen, deren Tragtiere tödlich getroffen worden waren, mussten sich zu Fuss durch Schnee und Wasser kämpfen. Dieses Schicksal widerfuhr etwa Mrs. Mainwarning, die mit ihrem drei Monate alten Kind in einem Korb geritten war, deren Kamel jedoch unter ihr erschossen wurde. Sie versuchte mit ihrem Kind auf ein mit Kisten beladenes Pony zu steigen, das jedoch unter dem Gewicht zu- sammen brach. Ein Afghane, der Mrs. Mainwaring umsonst angeboten hatte, mit ihm zu rei- ten, entriss ihr den Umhang, so dass sie und ihr Kind der Kälte schutzlos ausgeliefert waren. Unter grösster Anstrengung und mit sehr viel Glück erreichte die junge Mutter mit ihrem Kind zu Fuss das auf der anderen Seite des Canyons errichtete Lager. Mrs. Mainwarnings Mut, Kraft und Ausdauer beeindruckten Lady Sale tief. In ihrem Tagebuch zeigt sie ihren Respekt gegenüber ihrem vorbildhaften Verhalten: Mrs. M.ʼs sufferings were very great; and she deserves much credit for having preserved her child through these dreadful scenes. She not only had to walk a considerable distance with her child in her arms through the deep snow, but had also to pick her way over the bodies of the dead, dying, and wound- ed, both men and cattle, and constantly to cross the streams of water, wet up to the knees, pushed and shoved about by men and animals, the enemy keeping up a sharp fire, and several persons being killed close to her. She, however, got safe to camp with her child, but had no opportunity to change her clothes; and I know from experience that it was many days ere my wet habit became thawed, and can fully appre- ciate her discomforts.

Doch auch für Florentia Sale und ihre Tochter war es ein schwarzer Tag. John Sturt wurde durch einen Magenschuss tödlich verletzt und erreichte nur mit Mühe und unter grossen Schmerzen das Lager auf der anderen Seite des Passes. Dort teilten sich die Ladys und ihre Männer das einzige Zelt, das errichtet wurde. Beinahe dreissig Menschen drängten sich auf engstem Raum zusammen – ein denkbar ungünstiges Krankenlager, das ausserdem stets ge- gen das Eindringen der vor dem Erfrierungstod bedrohten, schutzlosen camp followers ver- teidigt werden musste.290 Florentia Sale schätzte, dass an diesem Tag 500 Soldaten und 2‘500 Zivilisten im Khurd Kabul Pass ihr Leben verloren hatten.291 Die Nacht forderte ihre zusätzli-

289 Sale 1843, S. 237 (08.01.1842). 290 Sale 1843, S. 242 (08.01.1842). 291 Vgl. Sale 1843, S. 241 (08.01.1842).

58 chen Opfer, denn „many poor wretches died round the tent in the night.“292 Sie selbst und ihre Tochter hatten Glück im Unglück: The pony Mrs. Sturt rode was wounded in the ear and neck. I had fortunately only one ball in my arm; three others passed through my poshteen [= a sheep skin/also a fur pelisse] near the shoulder without do- ing me any injury.293

Am Morgen des 9. Januar 1842 herrschte dasselbe Chaos wie am Tag zuvor. Dreiviertel der Truppen brachen bereits vor Sonnenaufgang und ohne Befehl auf Richtung Jellalabad. Mrs. Trevor stieg grosszügigerweise auf ein Pony und überliess dem schwer verletzten John Sturt ihren Reisekorb. Der holprige Ritt verstärkte aber nur sein Leiden, so dass er nach kur- zer Zeit verstarb. Er war der einzige Mann, der auf dem desaströsen Rückzug von Kabul nach Jellalabad ein christliches Begräbnis erhielt.294 Nach knappen zwei Kilometern Marsch befahl General Elphinstone die Rückkehr zum Lager. Mahommed Akbar Khan hatte dem General nebst seiner üblichen – und nie eingehal- tenen – Zusicherungen von Nahrungsversorgung und Schutz der Truppen nun auch angebo- ten, die Frauen und Kinder in seine Obhut zu nehmen. Er versprach ihnen „honourable treat- ment, and safe escort to Peshawer“295. Was die Briten in Kabul wiederholt ablehnten, muss- ten sie nun angesichts des anhaltenden Massakers wohl oder übel annehmen. Lady Sale fühl- te, dass sie sich in grosser Gefahr befand – „Our present position is one of imminent peril“296 – sie war jedoch, immer noch unter dem Schock von Sturts Tod stehend, unfähig, einen kla- ren Gedanken zu fassen: Overwhelmed with domestic affliction, neither Mrs. Sturt nor I were in a fit state to decide for ourselves whether we would accept the Sirdarʼs protection or not. There was but faint hope of our ever getting safe to Jellalabad; and we followed the stream. But although there was much talk regarding our going over, all I personally know of the affair is, that I was told we were all to go, and that our horses were ready, and we must mount immediately and be off.297

3.10 WE DAILY EXPECT TO MARCH: EINE ODYSSEE DURCH AFGHANISTAN

3.10.1 VON KHURD KABUL NACH BADIABAD Alle Frauen und Kinder, sowie einige, meist schwer verletzte Männer wurden am 9. Janu- ar 1842 Mahommed Akbar Khan anvertraut.298 Ihre genaue Anzahl variiert in den verschie- denen Augenzeugenberichten. Ein Vergleich von Lady Sales, Vincent Eyres, Colin Macken- zies und George Lawrences Aufzeichnungen ergibt, dass wohl elf Frauen, sechzehn Kinder

292 Sale 1843, S. 241, 243 (08.01.1842). 293 Sale 1843, S. 237 (08.01.1842). 294 Sale 1843, S. 244 (09.01.1842) bzw. Tanner 2003, S. 181. 295 Sale 1843, S. 245 (09.01.1842). 296 Sale 1843, S. 245 (09.01.1842). 297 Sale 1843, S. 246 (09.01.1842). 298 Waller 1992, S. 251 bzw. Eyre, 1843, S. 8.

59 und zehn Männer Akbar Khan übergeben wurden.299 Nicht mitgezählt sind hierbei die treuen Bediensteten, welche ihrer Herrschaft folgten, sowie einige einfache Soldaten, die ebenfalls ungenannt blieben. Auch wenn Mahommed Akbar Khan gewollt hätte, hätte er das Massaker an der Britischen Armee nicht verhindern können. Indem er nun die Familien zumeist hoch- rangiger Militärs und Politiker in seiner Gewalt hatte, verschaffte er sich einen wichtigen Vorteil bei den kommenden Verhandlungen mit seinem immer noch mächtigen Feind Gross- britannien. Es war denn auch diese strategische Voraussicht und nicht etwa Gefühle von Mit- leid oder Nächstenliebe, die Akbar Khans aufrichtige Bemühungen, die Geiseln am Leben zu erhalten, erklären.300 Die kleine Gruppe von Schutzbefohlenen wurde in die nahe gelegene Festung von Khurd Kabul eskortiert (für die eine typisch afghanische Festung siehe Anhang 9). Dort stiess sie nicht nur auf Akbar Khan, sondern auch auf Mrs. Burnes, Mr. und Mrs. Boyd’s Sohn und Seymour Stoker, den Sohn eines Soldaten aus der 13. Infanterie, dessen Eltern auf der Flucht umgekommen sind. Alle drei waren auf dem Rückzug von Afghanen verschleppt und Akbar Khan übergeben worden.301 Auch die am Tag zuvor in Geiselhaft gegebenen Offiziere Pot- tinger, Lawrence und Mackenzie waren am Morgen des 9. Januar 1842 durch den leichen- übersäten Khurd Kabul Pass in das Fort gekommen. Es wurde entschieden, dass die Gruppe in Khurd Kabul warten und dann der Armee mit einem Tag Abstand folgen sollte. Lady Sale wurde in der Festung ein Zimmer zugeteilt, das sie als „of course dark and dirty“302 und „at the utmost fourteen feet by ten“303 beschreibt. Diesen kleinen Raum musste sie mit fünf Frauen, zwei Männern und neun Kindern teilen.304 Um Mitternacht wurden ihnen einige Schafsknochen mit fettigem Reis serviert, danach liess man sie ruhen. Das einzige, was Florentia Sale und ihre Tochter besassen, waren die Kleider, welche sie seit dem ersten Tag des Rückzuges auf ihrem Leib trugen. Nur Captain Lawrence und Lady Macnaghten konnten praktisch ihr ganzes Gepäck retten. Letztere hatte sogar ihre aus Indien mitgebrachten Katzen unversehrt bis nach Khurd Kabul gebracht.305

299 Es sind dies: Lady Macnaghten, Lady Sale, Mrs. Sturt, Mrs. Mainwaring mit Kind, Mrs. und Mr. Boyd mit zwei Kindern, Mrs. und Mr. Anderson mit zwei Kindern (das dritte ist im Khurd Kabul entführt worden), Mrs. und Mr. Eyre mit einem Kind, Mrs. und Mr. Waller mit einem Kind, Mrs. und Mr. Trevor mit sieben Kindern, Mrs. und Mr. Ryley, Mrs. Smith, Mr. Troup, Mr. Mein, Mr. Wade und der Diener Jacob. Vgl. Law- rence 1875, S. 157, Mackenzie 1884, Bd. 1, S. 274, Eyre 1843, S. 240f., Sale 1843, S. 247 (09.01.1842). 300 Stewart 2011, S. 91. 301 Sale 1843, S. 246 (09.01.1842). 302 Sale 1843, S. 247 (09.01.1842). 303 Sale 1843, S. 247 (09.01.1842). 304 Vgl. Sale 1843, S. 247 (09.01.1842). 305 Vgl. Eyre 1843, S. 257.

60 Am 11. Januar 1842 machte sich die Gruppe auf den Weg nach Tezin. Trotz aller Entbeh- rungen hatten die Gefangenen immer noch einen Teil ihrer Dienerschaft dabei, von der sie nun diejenigen, die nicht mehr zu Fuss gehen konnten, im Fort zurücklassen mussten.306 Hunderte von toten und verletzten Soldaten säumten den Wegrand nach Tezin und zeugten von einem weiteren Blutbad, das am Tag zuvor an der Armee verrichtet worden ist. „It would be impossible for me to describe the feelings with which we pursued our way through the dreadful scenes that awaited us”, schrieb Florentia Sale an diesem Tag, The road covered with awfully mangled bodies, all naked: fifty-eight Europeans were counted in the Tunghee and dip of the Nullah; the natives innumerable. Numbers of camp followers, still alive, frost- bitten and starving; some perfectly out of their senses and idiotic. […] The sight was dreadful; the smell of the blood sickening; and the corpses lay so thick it was impossible to look from them, as it required care to guide my horse so as not to tread upon the bodies.307

Von nun an begann eine beschwerliche Reise von Khurd Kabul über Tezin, Seh Baba, Jugdaluk, Tighri nach Badiabad, dessen Festung die Gruppe sechs Tage später, am 17. Januar 1842, erreichte. Während der ersten Tage der Reise begegneten sie immer wieder schwer verletzten, bis auf die Kleider ausgeraubten, halbverhungerten und –erfrorenen Soldaten, die am Wegrand ihrem Schicksal überlassen worden waren und die von der fast vollständigen Vernichtung der Armee zeugten. Florentia Sale und ihre Schicksalsgenossen erlebten unter- wegs von den Einheimischen tiefe Feindschaft wie auch grosszügige Gastfreundschaft, so dass sie in einer Nacht draussen in Wind und Schnee vor den verschlossenen Toren einer Festung schlafen mussten308 und in der nächsten bestens bewirtet und beherbergt wurden.309 Die Reise führte durch den reissenden Kabulfluss, wo fünf Unglückliche von der Strömung erfasst und in den Tod gerissen wurden, dann weiter über steile Pässe und durch tiefe Schluchten Richtung Jellalabad. Als sie jedoch nur noch vierzig Kilometer von ihrem grossen Ziel entfernt waren, bog die Strasse nordwärts in ein anderes Tal ab. Spätestens da realisierte Lady Sale, dass sie nicht wie versprochen nach Jellalabad gebracht werden würden, sondern als Gefangene von Mahommed Akbar Khan seinem Willen ausgeliefert waren. An diesem Tag schrieb sie in ihr Tagebuch: „We were virtually prisoners, until such time as Sale shall evacuate Jellalabad, or the Dost be permitted by our government to return to this country.“310 Unterwegs waren immer mehr Gefangene – unter anderem der schwer kranke General Elphinstone – zur Gruppe gestossen, so dass nun über sechzig Leute in der Festung von Badi- abad untergebracht werden mussten. Fünf Räume, welche ursprünglich für den Stammesfüh-

306 Vgl. Sale 1843, S. 248 (11.01.1842). 307 Sale 1843, S. 248f. (11.01.1842). 308 Sale 1843, S. 281 (14.01.1842). 309 Sale 1843, S. 283 (15.01.1842). 310 Sale 1843, S. 284 (17.01.1842).

61 rer und seine Frauen vorgesehen waren, teilten sich die britische Gefangenenelite – „9 ladies, 20 gentlemen, and 14 children“ – während sich die einfachen Soldaten mit ihren Frauen – „17 European soldiers, 2 European women, and 1 child (Mrs. Wade, Mrs. Burnes, and little Sto- ker)“ – mit den Räumlichkeiten im Keller begnügen mussten.311 Lady Sale war im gleichen Zimmer wie Alexandrina Sturt, Mrs. Trevor mit ihren sieben Kindern, ein europäischer Die- ner, Mrs. Smith, Lieutenant und Mrs. Waller mit ihrer Tochter Selina und Mr. Mein. Eine Matratze und eine Tagesdecke mussten den 16 Personen für die erste Nacht genügen. Akbar Khan versicherte Lady Sale, dass er sie, sobald die Strassen wieder sicher seien, nach Jellala- bad führen würde. Er erlaubte ihr auch, Briefe an ihren Ehemann zu schreiben, die er dann an General Sale weiterleiten würde.312 Da Mahommed Akbar Khan sich selten in Badiabad aufhielt, überliess er die Verantwor- tung über die Gefangenen – denn das waren sie trotz seinen Beteuerungen – seinem Schwie- gervater Mahommed Shah Khan. Dieser war der Besitzer der Festung und laut Vincent Eyre seinen Schützlingen gegenüber äusserst feindlich eingestellt.313 Auch Mackenzie hatte ihn zu einem früheren Zeitpunkt als “one of our most able and bitter enemies“ 314 beschrieben. Wenn die Gefangenen etwas brauchten, mussten sie mit Moossa Khan verhandeln, der ihnen das Gewünschte gegen Bezahlung mit einem saftigen Gewinn für sich selbst besorgte. Er galt als besonders gemein und hinterhältig. Zweimal hatte er Lady Macnaghtens Lieblingskatze ge- stohlen, die sie ihm dann für 20.– Rupien wieder abkaufen musste.315 Lady Sale blieb nichts anderes übrig, als sich so gut wie möglich mit der neuen Situation abzufinden. Bereits die Möglichkeit, sich zu waschen, empfand sie am zweiten Tag als Ge- nuss, wenn auch als schmerzlicher: We enjoyed washing our faces very much, having had but one opportunity of doing so before, since we left Cabul. It was rather a painful process, as the cold and glare of the sun on the snow had three times peeled my face, from which the skin came off in strips.316

Zeigt dieses Beispiel, dass Florentia Sale kleine Dinge wie frisches Wasser schätzte, war sie doch nicht immer einfach zufriedenzustellen. Insbesondere das Essen fand sie mehr als gewöhnungsbedürftig. So schliesst sie die Beschreibung der Chuppatties, einer Art ungesäu- erten Fladenbrotes, mit den Worten: „Eating these cakes of dough is a capital recipe to obtain

311 Sale 1843, S. 285 (17.01.1842). Für eine genaue Aufteilung der Räume vgl. Lawrence 1875, S. 172. 312 Sale 1843, S. 286 (17.01.1842). 313 Vgl. Eyre 1843, S. 254. 314 Mackenzie, 1884, S. 245. 315 Vgl. Lawrence, 1875, S. 174 bzw. Eyre 1843, S. 257. 316 Sale 1843, S. 286f. (19.01.1842).

62 the heartburn.“317 Doch nicht nur die Chuppatties waren nicht nach Lady Sales Geschmack, ihre Kritik an den afghanischen Kochkünsten fiel allgemein vernichtend aus: The Affghans cook; and well may we exclaim with Goldsmith, ‘God sends meat, but the devil sends cooks;’ for we only get some greasy skin and bones served out as they are cooked, boiled in the same pot with the rice, all in a lump. […] The rice even is rendered nauseous by having quantities of rancid ghee poured over it, such as in India we should have disdained to use for our lamps.318

Dass sie überdies gezwungen war, von Hand zu essen, da sie keine anderen „dinner-table implements“319 besass, verstärkte ihren Unmut zusätzlich. Am 22. Januar 1842 erhielt Florentia Sale den ersten Brief von ihrem Ehemann, seit sie Kabul verlassen hatte. Er teilte ihr mit, dass die britischen Truppen Jellalabad noch für min- destens sechs weitere Monate würden halten können und dass sie Verstärkung aus dem Pun- jab unter General Pollock erwarteten.320 Dies, wie auch die Aussicht auf Stofflieferungen durch Akbar Khan, verzeichnete sie als positive Nachrichten. Obwohl sie den edlen Gönner im Verdacht hatte, „generous at little cost“321 zu sein, da die Stoffe ihren Vermutungen zufol- ge aus dem geplünderten Militärlager stammten, war sie doch froh, ein zweites Kleid zu be- sitzen. Waren es nämlich vor vierzehn Tagen noch die afghanischen Widerstandskämpfer, die Lady Sale erschauern liessen, so erzitterte sie nun vor der Invasion des Ungeziefers: We are working hard that we may enjoy the luxury of getting on a clean suit of clothes. There are very few of us that are not covered with crawlers; and, although my daughter and I have as yet escaped, we are in fear and trembling.322

Florentia Sale war im Vergleich zu den anderen Gefangenen in der ausserordentlich glück- lichen Lage, dass ihr Ehemann nicht nur nicht tot war, sondern auch in einer von den Briten kontrollierten nicht allzu weit entfernten Stadt lebte. Am 27. Januar 1842 schickte Sale ihr eine Kommode mit Kleidern nach Badiabad, die Florentia Sale ohne Verluste übergeben wurde.323 Bereits zwei Wochen später verzeichnete sie in ihrem Tagebuch die nächste Sen- dung: „I received boxes from Sale, with many useful things; and also books, which are a great treat to us”.324 Mit us meinte sie zunächst sich selbst und ihre Tochter. Dies wird aus Colin Mackenzies Biografie Storms and Sunshine of a Soldier’s Life ersichtlich, in der das- selbe Ereignis beschrieben wird, jedoch aus der Perspektive des Captains:

317 Sale 1843, S. 287 (19.01.1842). 318 Sale 1843, S. 287f. (19.01.1842). 319 Sale 1843, S. 287 (19.01.1842). 320 Sale 1843, S. 288 (22.01.1842). 321 Sale 1843, S. 289 (25.01.1842). 322 Sale 1843, S. 289 (24.01.1842). 323 Vgl. Sale 1843, S. 290 (27.01.1842). 324 Sale 1843, S. 290, (10.02.1842).

63 Mrs. Eyre, having but one needle, commissioned Captain Mackenzie to persuade Lady Sale, who had eight or ten, to spare her one or two; but, though he never exercised greater diplomacy in his life, he was unsuccessful.325

Interessanterweise war es wiederum Mrs. Mainwaring, deren Verhalten als bemerkenswert positiv auffiel, denn Mackenzies Biografin schrieb weiter: But if some of the captives were selfish, some were very generous, like young Mrs. Mainwaring, who, on receiving a box of useful articles from her husband at Jellalabad, most liberally distributed the contents among the other ladies, who were much in need.326

Am Tag ihrer Ankunft in Badiabad hatte Mahommed Akbar Khan den Gefangenen die er- schreckende Nachricht überbracht, dass von der gesamten Armee nur der Militärarzt Dr. Wil- liam Brydon Jellalabad erreicht hätte. Florentia Sale sah damit die Bedrohungen bestätigt, welche schon seit Wochen im Kantonnement kursiert waren: „Thus is verified what we were told before leaving Cabul; ‘that Mahommed Akbar would annihilate the whole army, except one man, who should reach Jellalabad to tell the tale’”.327 Am 10. Februar 1842 wurden Major Griffiths und Mr. Blewitt zu den Gefangenen nach Badiabad gebracht. Sie hatten sich am 13. Januar mit der Armee bis nach Gandamak durch- geschlagen, wo sie sich ein letztes Mal dem Feind stellten. Von den einst 16‘500 Soldaten und Zivilisten hatten es nur gerade 20 Offiziere, 45 Soldaten und 300 camp followers bis in den gut 50 Kilometer von Jellalabad entfernten Ort geschafft. Rücken an Rücken standen sie auf einem Hügel und versuchten, den Angriffen des zahlenmässig weit überlegenen Feindes Stand zu halten. Bevor der Kampf jedoch begann, erreichte ein Gesandter von Mahommed Akbar Khan den Schauplatz mit der Meldung, dass Major Griffiths umgehend zu Akbar Khan gebracht werden sollte. In der Hoffnung, eine Kapitulation aushandeln zu können, verliess Griffiths die Stellung. Sobald er und der Bote ausser Sichtweite waren, griffen die Afghanen an und metzelten den kläglichen Rest der Armee nieder. Einzige Überlebende dieses Last Stands waren Captain Thomas Souter, der die Fahne des 44. Regiments um seinen Leib ge- wickelt hatte und deshalb von den Afghanen fälschlicherweise für eine besonders hochran- ginge Person gehalten wurde, sowie einige Soldaten, die verwundet zwischen den Toten la- gen.328 Diesen schauerlichen Bericht überbrachte Major Griffiths nun den Gefangenen. In den nächsten Tagen wurden immer wieder Soldaten in die Festung nach Badiabad gebracht, „all

325 Mackenzie 1884, Bd. 1, S. 281. 326 Mackenzie 1884, Bd. 1, S. 282. 327 Sale 1843, S. 285 (17.01.1842). 328 Vgl. Stewart 2011, S. 87.

64 full of tales regarding each individualʼs escape.“329 Lady Sale hatte diese Geschichten sorg- fältig gesammelt und in ihrem Tagebuch aufgeschrieben. Am 19. Februar 1842 stand Lady Sale wieder einmal auf dem Dach. Diesmal jedoch nicht, weil sie militärische Operationen beobachtete, sondern weil sie dort ihre Wäsche aufhängte. Da die Gefangenen nicht mehr so viele Bedienstete hatten, mussten sie nämlich Teile der Arbeit selbst verrichten. Und so hatte Lady Sale zwar immer noch jemanden, der putzte, die Tiere versorgte und die Kleider wusch, aufhängen und wieder zusammenlegen musste sie sie – höchstwahrscheinlich zum ersten Mal in ihrem Leben – aber selbst.330 Plötzlich wurde das ganze Haus von einem schweren Erdbeben erschüttert, welches das Dach unter Florentia Sales Füssen zum Einstürzen brachte: An awful earthquake took place. […] For some time I balanced myself as well as I could; till I felt the roof was giving way. I fortunately succeeded in removing from my position before the roof of our room fell in with a dreadful crash. The roof of the stairs fell in as I descended them; but did me no injury.331

In Panik suchte Lady Sale ihre Tochter, die sie schliesslich inmitten aller anderen unver- letzt im Innenhof der Festung fand. Dass niemand zu Schaden kam – sogar Lady Macnagh- tens Katzen konnten aus den Trümmern geborgen werden332 –, grenzt an ein Wunder, denn das Erdbeben war laut Florentia Sale „like the action of exploding a mine“333. Vincent Eyres Beschreibung des Ereignisses ist beinahe apokalyptisch: Large masses of the lofty walls that encompassed us fell in on all sides with a thundering crash; a loud subterraneous rumbling was heard, as of a boiling sea of liquid lava, and wave after wave seemed to lift up the ground on which we stood, causing every building to rock to and fro like a floating vessel. After the scenes of horror we had recently witnessed, it seemed as if the hour of retribution had arrived, and that Heaven designed to destroy the blood-stained earth at one fell swoop.334

Auch George Lawrence schrieb: „The world seemed indeed coming to an end.“335 Sogar die unerschrockene Lady Sale wurde vom Erdbeben nicht nur äusserlich erschüttert. In ihrem Tagebuch steht an diesem Tag: „I hope a soldierʼs wife may use a soldierʼs simile, for I know of nothing else to liken it to.“336 Die kommenden Tage waren geprägt von unzähligen Nachbeben, welche die Häuser und Festungen im ganzen Tal zerstörten und unzählige Menschenleben forderten. Verschiedenen Berichten zufolge war die Festung in Badiabad die einzige, welche nicht vollständig zerstört

329 Sale 1843, S. 294 (12.02.1842). 330 Vgl. Sale 1843 S. 297 (19.02.1842). 331 Sale 1843, S. 297 (19.02.1842). 332 Sale 1843, S. 299 (21.02.1842). 333 Sale 1843, S. 297 (19.02.1842). 334 Eyre 1843, S. 263. 335 Lawrence 1875, S. 178. 336 Sale 1843, S. 297 (19.02.1842).

65 wurde.337 Durch die grossflächige Verwüstung, welche das Erdbeben verursachte, erhofften sich Mahommed Akbar Khan und seine Leute, den Festungswall von Jellalabad endlich durchbrechen und die Stadt zurückerobern zu können. Schon bald erreichten die Gefangenen Gerüchte, wonach die Afghanen die britische Verteidigung überwunden hätten.338 Wenige Tage später hiess es wiederum, dass verschiedene Attacken erfolglos verlaufen seien, die Stadt immer noch in Sales Händen und die britische Verstärkung unter General Pollock in Peschawar eingetroffen sei.339 Später wurden auch diese Meldungen durch Berichte, wonach die Briten ihre Stellung verloren hätten,340 dementiert. Auch was das Schicksal der im Januar zurückgelassenen Verletzten in Kabul betraf, herrschte Ungewissheit. Einmal hiess es, sie seien alle hingerichtet worden, und dann wieder, man hätte sie als Sklaven verkauft – ein tragisches Los, mit dem auch den Gefangenen in Badiabad gedroht wurde.341 All die wider- sprüchlichen Berichte konnten nie verifiziert werden und hielten die Gefangenen in steter Alarmbereitschaft. Die Kommunikation zwischen den Gefangenen und den Offizieren in Jel- lalabad gestaltete sich als zunehmend schwierig, da alle Briefe zuerst von Akbar Khan durch- gesehen und nach seinem Gutdünken weitergeleitet oder vernichtet wurden. Um sicherzustel- len, dass ihre Briefe abgeschickt würden, musste Lady Sale daher in ihren Formulierungen äusserst vorsichtig sein. So ist in ihrem Brief vom 8. Mai 1842 an Robert Sale zu lesen: „If I had any news it would not be safe to write it“.342 Dennoch konnte Florentia Sale manchmal den Stand der Dinge erahnen. Als Robert Sale sie in einem Brief fragte, ob sie noch mehr Schuhe benötige, schloss sie daraus: „it does not look as if he expected us to leave this coun- try soon“343. Trotz der Zensur war es Lady Sale möglich, Briefe nicht nur aus Jellalabad zu erhalten, sondern auch solche aus Indien und England.344 Vincent Eyre beschreibt in seinen Rough Notes, wie die Gefangenen anfangs aus Zeitungen, in denen einzelne Buchstaben fein markiert worden waren, im Geheimen über die aktuellen Entwicklungen des Konfliktes er- fuhren.345 Als Akbar Khan jedoch von einer heimlichen Korrespondenz zwischen Pottinger und Macgregor erfuhr, erinnerte er Pottinger in aller Schärfe an William Macnaghtens Schicksal, der auch versucht hatte, ihn zu hintergehen und dies mit seinem Leben bezahlte.346

337 Vgl. Eyre 1843, S. 260. 338 Vgl. Sale 1843, S. 299 (21.02.1842). 339 Vgl. Sale 1843, S. 302 (24.02.1842). 340 Vgl. Sale 1843, S. 306 (15.03.1842). 341 Vgl. Sale 1843, S. 312 (26.03.1842). 342 BL IOR Mss Eur A 186- 002, S. 2. 343 Sale 1843, S. 315 (01.04.1842). 344 Vgl. Sale 1843, S. 296 (14.02.1842). 345 Vgl. Eyre 1843, S. 62. 346 Vgl. Sale 1843, S. 190 (10.02.1842).

66 Dass Akbar Khans Warnungen ernst zu nehmen waren, zeigt ein Vorfall, der sich anfangs März ereignet hatte. Ein Diener „being a disappointed man“347 versuchte in einer Nacht, Lady Sales Hausmädchen umzubringen, und wollte, als ihm der Mord misslang, aus der Festung fliehen. Die einzige Fluchtmöglichkeit war ein gewagter Sprung über die Mauer, welchen er nur schwer verletzt überlebte. Er wurde gefasst, öffentlich ausgepeitscht, entkleidet und ver- bannt – was seinen sicheren Tod bedeutete. Diese Begebenheit führte den Gefangenen einmal mehr vor Augen, dass es keinerlei Fluchtmöglichkeiten gab und sie auf eine Befreiung von aussen hoffen mussten,348 denn Lady Sale bemerkte: „There was no other mode of escape, as we are always locked into the square at night.“349 Bereits zwei Wochen später wurde den Ge- fangenen die Brutalität Akbar Khans wieder vor Augen geführt: Ein Afghane, der versucht hatte, Mahommed Akbar Khan zu töten, wurde zur Strafe lebendig gehäutet. Dieser schauer- liche Vorfall kann als eine weitere eindringliche Warnung vor Akbar Khans Zorn gesehen werden.350 Doch auch der Gefangenenwärter Mahommed Shah Khan war nicht weniger er- barmungslos. Er entschied, alle Diener, die an Erfrierungen litten, aus der Festung zu verban- nen, nachdem er ihnen allen Besitz abgenommen hatte. Dieser Entscheid schien Lady Sale allerdings nicht sonderlich zu berühren. Ihr Tagebucheintrag an diesem Tag klingt erstaunlich nüchtern: 3rd & 4th. – Earthquakes as usual. To-day every servant that is frost-bitten or unable to work has been turned out of the fort: they were stripped first of all they possessed. I received two notes from Sale, dated the 11th and 16th.351

Alles in allem wurden die britischen Gefangenen aber gut behandelt. Für den Zeitvertrieb verfügten sie über Bücher, Spielkarten, ein selbstgemachtes Backgammon, Zeichenunterla- gen sowie ab und zu Briefe und alte Zeitungen. Nicht zuletzt Dank der Anwesenheit der Kin- der war die Moral der Gefangenen auch nach monatelanger Geiselhaft erstaunlich hoch.352 Am 11. März 1842 mussten alle Gefangenen folgende Erklärung unterschreiben (siehe An- hang 10): Bahoow Khan whom Sirdar Mohamed Akbar Khan placed in charge of the ladies & others of the Kabool Force detained at this place having requested a certificate of his conduct. We the undersigned have much pleasure in stating that he has conducted himself with great kindness, & attention, showing every desire to make our situation as little irksome as possible.353

347 Sale 1843, S. 304 (09.03.1842). 348 Vgl. Sale 1843, S. 304 (09.03.1842). 349 Sale 1843, S. 304, (09.03.1842). 350 Vgl. Sale 1843, S. 307f. (15.03.1842). 351 Sale 1843, S. 303 (03./04. 03.1842). 352 Vgl. Macrory 2002, S. 248f. 353 Certificate with Signatures, Given by European Prisoners in Kabul 1842, to one Bahu Khan. National Army Museum, London, SW3 4HT. Negative No. 23895. Aus: Collection Bibliotheca Afghanica, series John Burke, 1878–1880.

67 Da es allerdings nie zu einer vereinbarten Freilassung der Gefangenen kam, blieb das Do- kument ohne weitere Bedeutung. Ende März begannen Verhandlungen über das Lösegeld der Gefangenen, ausgelöst durch die Ankunft Pollocks in Jellalabad. Der Plan war, dass alle, bis auf Elphinstone, Pottinger und Lawrence für 1500.– Rupien freigelassen werden sollten. Zu ihrer Empörung wurde Lady Sale dabei nicht nach ihrer Meinung gefragt. Sie schrieb: „I pro- test against being implicated in any proceedings in which I have no vote.”354 Sowohl Lady Sales Protest wie auch die Verhandlungen über ihre Freilassung verliefen allerdings erfolglos. Drei Tage später schrieb sie: The thermometer of our spirits has risen greatly. We hear from Jellalabad that all at Cabul are well, and that Ghuznee has been obliged to surrender; but that the officers are all well, safe, and taken care of, as we are here. Earthquakes in the usual number.

Die Nachricht, dass die britischen Truppen wieder stärker würden, versetzte die Gefange- nen in grosse Aufregung, deren afghanische Verantwortliche jedoch in tiefe Besorgnis. Bald kursierten Gerüchte unter den Gefangenen, dass sie alle Badiabad verlassen und in ein siche- reres Versteck gebracht werden würden. Am 10. April durchsuchte Mahommed Shah Khan Lady Macnaghtens Truhen und nahm den Schmuck und alle kostbaren Schals zu sich. Laut Florentia Sale belief sich der Gesamtwert auf 30‘000.– bis 40‘000.– Rupien.355 Da Lady Sale ohne Gepäck nach Badiabad gekommen war, wusste sie, dass ihr ein ähnlicher Diebstahl nicht bevorstehen würde. Ihr war aber auch bewusst, dass sie die Kommode, welche Robert Sale ihr geschickt hatte, bei einer Abreise in der Festung zurücklassen müsste und so plante sie ihren persönlichen kleinen Racheakt: My chest of drawers they took possession of with great glee – I left some rubbish in them, and some small bottles, that were useless to me. I hope the Affghans will try their contents as medicine, and find them efficacious: one bottle contained nitric acid, another a strong solution of lunar caustic!356

3.10.2 VON BADIABAD NACH ZANDUH Akbar Khan erwartete jeden Augenblick, dass Pollock mit seinen Streitkräften nach Badi- abad vorrücken würde, weshalb er seine wertvollen Geiseln so rasch als möglich an einen sichereren Ort bringen wollte.357 Es wurde entschieden, dass nur die Offiziere mit ihren Fa- milien die Weiterreise antreten sollten, wohingegen die Mehrheit der Diener, wie auch die einfachen Soldaten und ihre Familien zu deren grossem Schrecken in der Festung zurück gelassen wurden. Viele Frauen reisten wiederum in Kamelkörben, doch wenn das Gelände zu steil wurde, mussten sie auf Pferde umsteigen. Da sie keine Sättel hatten, ritten die Damen im

354 Sale 1843, S. 311 (23.03.1842). 355 Sale 1843, S. 318 (10.04.1842). 356 Sale 1843, S. 319 (10.04.1842). 357 Vgl. Macrory 2002, S. 259.

68 Herrensitz auf ihrem Bettzeug, was angesichts ihrer steifen Kleider und Korsette höchst un- bequem gewesen sein musste. Mackenzies Biografin beschrieb, wie sich der Hauptmann zu einem früheren Zeitpunkt bemüht hatte, Mrs. Bournes Röcke so zu halten, dass ihre Beine vor fremden Blicken geschützt waren: It was only with the greatest pains he could keep her petticoats from riding up, a point on which he was especially anxious on account of the Afghans, who little considered the difficulty of riding astride in a decorous fashion.358 Lady Sale, die von Anfang an auf ihrem Pferd geritten war, hatte immer noch ihren per- sönlichen Sattel und war deshalb von diesen Unannehmlichkeiten nicht betroffen.359 Wohin die Gefangenen gebracht werden sollten, wusste keiner von ihnen. Anfänglich war die Rede von Jellalabad, dann von Herat.360 Die Reisebedingungen waren äusserst hart. Zuerst war die Hitze kaum erträglich, danach regnete es ununterbrochen.361 Nach einer Woche Reise wurde Florentia Sale von Fieber befallen, das sich bald verschlimmerte. In zynischem Ton schrieb sie in ihr Tagebuch: „I was worse to-day: a pleasant prospect as we daily expect to march.“362 Am Tag darauf regnete es ununterbrochen. Lady Sales Gesundheitszustand war so schlecht, dass sie sich nicht mehr auf ihrem Pferd halten konnte und sich zusammen mit Lady Mac- naghten Mahommed Akbar Khans persönliche Sänfte teilte. Doch auch diese grosszügige Geste Akbar Khans linderte ihr Leiden nur gering: As I had to sit backwards, with very little room, nothing to lean against, and to keep a balance against Lady M. and Mrs. Boydʼs baby, I benefited but little, except in the grandeur of a royal equipage. My tur- ban and habit were completely saturated by the rain; and I shivered as I went.363

Am Abend des 19. April 1842 erreichten sie Tezin, wo Lady Sale von Mahommed Shahs Frauen sorgevoll gepflegt wurde. Die Nacht verbrachten alle Gefangenen zusammen in einem einzigen Raum, wo sie auf groben Filzteppichen schliefen. Obwohl ein grosses Feuer in der Mitte brannte, zitterte Lady Sale am ganzen Leib, bis Captain Anderson, der neben ihr schlief, sie zudeckte. Lady Sale hatte gelernt, jeglichen Luxus zu entbehren: „We slept, large and small, thirty-four in a room 15 feet by 12; and we lay on the floor, literally packed to- gether, with a wood fire in the centre, and using pine torches for candles.”364 Am nächsten Tag kam ein Kind zur Welt: “Mrs Waller increased the community, giving birth to a daugh- ter.“365 Pollock war inzwischen auf dem Vormarsch nach Kabul, weshalb Akbar Khan der jungen Mutter und dem Neugeborenen keine Ruhezeit gönnen wollte und die Geiseln bereits

358 Mackenzie 1884, Bd. 1, S. 264. 359 Sale 1843, S. 323 (13.04.1842). 360 Sale 1843, S. 325 (16.04.1842). 361 Vgl. Macrory 2002, S. 260. 362 Sale 1843, S. 325f. (18.04.1842). 363 Sale 1843, S. 326 (19.04.1842). 364 Sale 1843, S. 327 (19.04.1841). 365 Sale 1843, S. 328 (20.04.1842).

69 am nächsten Tag zur Weiterreise drängte.366 Robert Waller, der Vater des Neugeborenen, schildert das Ereignis in einem Brief an seine Mutter: During this last journey poor Annie was confined of another on the ground of a hovel that I managed to get her with difficulty into, the rain pouring in on every part, and the floor one perfect swamp of wet mud. But God’s mercy was wonderfully displayed towards us, in that, as in every other instance, and she had such an easy confinement that she did not suffer in the least, although obliged to be up and travelling again the second day.367

Am 23. April erreichten sie Zanduh, wo sich die Gruppe acht Tage ausruhen sollte. Die immer noch geschwächte Lady Sale war über diese Nachricht erleichtert. Auch der Gesund- heitszustand von General Elphinstone hatte sich auf der Reise deutlich verschlechtert. Zwei Tage nach der Ankunft in Zanduh wurde er von der schweren Krankheit, aber auch von der erdrückenden Gewissheit, eine ganze Armee in den Tod geführt zu haben, erlöst. General William Elphinstone starb in der Nacht vom 23. auf den 24. April 1842.368 David schreibt dazu in abschätzigem Ton: „Immerhin besass er [General Elphinstone] den Anstand, in Ge- fangenschaft zu sterben, was ihm das Kriegsgericht ersparte.“369 Mahommed Akbar Khan erteilte die Erlaubnis, die Leiche des britischen Oberbefehlshabers nach Jellalabad zu trans- portieren, damit sie dort ranggemäss beigesetzt werden konnte. Obwohl der Leichentransport in der Annahme, dass sich im Sarg wertvolle Gegenstände befänden, unterwegs angegriffen wurde,370 konnte der Leichnam relativ unversehrt dem britischen Militär überbracht werden. Mit Salven und einer „maginificient appearance of our troops“371 wurde ihm in Jellalabad die letzte Ehre erwiesen. Der Aufenthalt in Zanduh dauerte nicht wie vorgesehen acht Tage, sondern einen ganzen Monat. Ausser dem ungestörten Begräbnis des Generals verzeichnete Lady Sale während dieser Zeit fast nur schlechte Nachrichten. Die Verhandlungen über die Lösegeldzahlung für die Gefangenen erbrachten keine Resultate,372 Sergeant Deanes persische Ehefrau wurde an einen Bruder von Mahommed Shah Khan zwangsverheiratet373 und ein neu errichteter Skla- venmarkt, auf dem indische Gefangene gehandelt wurden, Männer für 48.– Rupien, Frauen für 22.–, erinnerte die britischen Geiseln daran, was auch ihnen bevorstehen könnte.374 Doch nicht nur unter den Gefangenen herrschte Ungewissheit und Angst. Mittlerweile war das gan- ze Land ins Chaos gestürzt, die Herrschaftsverhältnisse in Kabul waren seit dem Abzug der

366 Vgl. Macrory 2002, S. 263. 367 Brief von Robert Waller an seine Mutter in Prior Park, Ende Mai 1842. In: Waller 1992, S. 24. 368 Sale 1843, S. 332 (24.04.1842). 369 David 2001. S. 23. 370 Sale 1843, S. 334f. (28.04.1842). 371 Sale 1843, S. 341 (08.05.1842). 372 Vgl. Sale 1843, S. 335 (30.04.1842) bzw. S. 339 (07.05.1842). 373 Vgl. Sale 1843, S. 341 (08.05.1842). 374 Vgl. Sale 1843, S. 344 (13.05.1842).

70 Briten nicht mehr klar und die verschiedenen Stämme bekämpften nicht mehr nur die Invaso- ren, sondern auch sich gegenseitig. Lady Sale sah darin die Gunst der Stunde für die Briten: The citizens are ruined by the perfect stagnation of trade; and would probably side with us were we to show in force. Now is the time to strike the blow, but I much dread dilly-dallying just because a handful of us are in Akbarʼs power. […] I have no objection to the Ameer Dost Mahommed Khan being reinstat- ed: only let us first show them that we can conquer them, and humble their treacherous chiefs in the dust.375

Florentia Sale hatte ihre Landsleute richtig eingeschätzt: Die Geiseln schienen wichtiger zu sein als Ruhm und Ehre für Grossbritannien. Deshalb versuchten die Briten zunächst wei- terhin die Freilassung der Geiseln zu erreichen, anstatt das Land rücksichtslos zu unterwer- fen. Etwas Genugtuung brachte Lady Sale die Nachricht, dass die Briten ein ganzes Dorf in der Nähe von Jellalabad niedergebrannt hatten, nachdem ein Dorfbewohner einen Europäer und „some natives“376 ermordet hatte. Lady Sales Kommentar dazu lautete: „Cruel as an ac- tion of this kind may appear, it is probably the best method of striking terror into these savag- es, and perhaps of eventually preventing bloodshed.“377 Ihren Hochzeitstag am 16. Mai 1842 verbrachte Lady Sale zu ihrem Leidwesen als Kriegsgefangene. Die Ehre, von Mahommed Shah Kahns Familie eingeladen zu werden, schien eher eine Qual als eine Freude, denn sie notierte an diesem Tag: „I kept the anniversa- ry of my marriage by dining with the ladies of Mahommed Shah Khanʼs family; […] It was an extremely stupid visit.“378 Das Essen war schlecht, die Tischdecke schmutzig und die Af- ghaninnen erschienen ungepflegt und hässlich.379 Auch Lady Macnaghten wurde zusammen mit anderen Frauen von ranghohen Afghaninnen eingeladen. Trotz Lady Sales ausgeprägter Abneigung für derartige Anlässe führten diese Kontakte dazu, dass die einheimischen Frauen den Gefangenen ihre Hilfe zusicherten, falls diese etwas benötigen sollten.380 Den Gefange- nen wurde auch wieder eine Sendung aus Jellalabad überbracht mit Nahrungsmitteln, Klei- dung für die Männer sowie Briefen.381 Am 22. Mai musste sich die Gruppe erneut zur Abrei- se bereithalten.

3.10.3 VON ZANDUH NACH SHEWAKI Mahommed Akbar Khan führte die Geiseln am Tag darauf talabwärts Richtung Kabul. Die Strasse führte nach Huft Kotul, einem Pass östlich von Khurd Kabul, welchen die Armee im

375 Sale 1843, S. 342 (10.05.1842). 376 Sale 1843, S. 348 (16.05.1842). 377 Sale 1843, S. 348 (16.05.1842). 378 Sale 1843, S. 345 (16.05.1842). 379 Vgl. Sale 1843, S. 345-347 (16.05.1842). 380 Vgl. Sale 1843, S. 350 (21.05.1842). 381 Vgl. Sale 1843, S. 351 (21.05.1842).

71 Winter auf dem Rückzug passiert hatte. Noch immer war der Weg übersät mit nun schon stark verwesten, teilweise aber immer noch identifizierbaren Leichen: „This was dreadful to go through; both to the sight and smell equally offensive.“382 Nach zwei Tagen Reise erreich- ten sie das nahe bei Kabul gelegene Shewaki. Dort wurden die Frauen nach anfänglichen Schwierigkeiten – zuerst hätten sie in einem Viehstall übernachten sollen383 – in einer geräu- migen Festung untergebracht, wo sie alle „excellent quarters“384 erhielten. Die heftigen Kämpfe um den Königspalast und um die Stadt Kabul hatten direkte Auswir- kungen auf die Überwachung der Geiseln. So durften diese die Festungen unter keinen Um- ständen verlassen, sie wurden rund um die Uhr bewacht und nachts eingeschlossen. Zu Be- ginn war es den Gefangenen noch möglich, die Kommunikation mit Jellalabad aufrecht zu erhalten. Bald wurde jedoch beschlossen, dass sie keine Kontakte zur Aussenwelt mehr pfle- gen dürften. Als ein Bote trotzdem versuchte, Captain Johnson eine Sendung zu überliefern, riss man ihm zur Strafe die Fingernägel aus und legte ihm zusätzlich eine Busse von 6000.– Rupien auf.385 Auch zwei weitere Versuche mit den Gefangenen einige Tage später Kontakt aufzunehmen wurden hart bestraft.386 Die Bewachung der Geiseln wurde um dreissig Mann verstärkt und schon bald kursierten Gerüchte, dass die Gefangenen wieder weggebracht wer- den sollten. Zur Diskussion standen nebst verschiedenen afghanischen Orten wie dem Bala Hissar – der offenbar zu diesem Zeitpunkt in Akbar Khans Händen lag – Bukhara, Bamiyan oder Turkistan auch so exotische Destinationen wie Mekka oder Konstantinopel.387 Doch nicht nur die bevorstehende Reise ins Ungewisse beunruhigte die Geiseln. Pollocks Truppen in Jellalabad waren grössten Teils an Fieber erkrankt388 und drei Wochen später erreichte die Gefangenen die Nachricht, dass die Krankheit auch bei den Zurückgelassenen in Badiabad um sich gegriffen hatte.389 Am 30. Juni breitete sich das Fieber unter den Gefangenen in Shewaki aus. Colin Mackenzie gehörte zu den ersten, die erkrankten, bald folgten aber etliche mehr. Mrs. Burnes Kind war das erste Opfer; es starb am 6. Juni 1842 und wurde von Mr. Eyres beigesetzt.390 Am 15. Juli erreichte Dr. Campbell Shewaki. Er war im Januar mit den Verletzten und Kranken in Kabul zurückgelassen worden und konnte sich nun um die teil- weise schwer kranken Gefangenen kümmern. Er stellte fest, dass es sich um das gefürchtete

382 Sale 1843, S. 353 (23.05.1842). 383 Vgl. Sale 1843, S. 355 (24.05.1842). 384 Sale 1843, S. 356 (25.05.1842). 385 Vgl. Sale 1843, S. 368 (09.06.1842). 386 Vgl. Sale 1843, S. 369 (12.06.1842 bzw. 13.06.1842). 387 Vgl. Sale 1843, S. 370 (16.06.1842). 388 Vgl. Sale 1843, S. 368 (09.06. 1842). 389 Vgl. Sale 1843, S. 375 (26.06.1842). 390 Vgl. Sale 1843. S. 380 (06.07.1842).

72 Fleckfieber handelte, welches durch Kleiderläuse übertragen wird und schon ganze Armeen hingerafft hatte.391 Einen Monat später starben auch Leutnant Conolly und Mrs. Smith an den Folgen des Fiebers.392 Den widrigen Umständen ungeachtet kamen im Juli wieder zwei ge- sunde Kinder zur Welt: Mrs. Trevor gebar am 14. Juli 1842 ein Mädchen393 und zehn Tage später beglückte Alexandrina Sturt Florentia Sale mit einer Enkeltochter.394 Captain Troup, der aus Jellalabad mit einer Menge nützlicher Dinge angereist kam, eröff- nete am 28. Juli einen kleinen Laden. Lady Sale nutzte die Gelegenheit und kaufte sich Pfeilwurz, Handschuhe, Stoffbänder, Seife, Jalapeña (eine Peperoncini-Art) und Wein- stein.395 Als Troup zusammen mit Captain Lawrence zwei Tage später wieder nach Jellalabad zurückkehrte, nahm er Teile von Florentia Sales Tagebuch mit, um sie ihrem Ehemann zu übergeben.396 Währenddessen liefen die Verhandlungen über die Freilassung der Gefangenen weiter. Am 22. Juli überbrachte Akbar Khan die Nachricht, dass sie in zwanzig Tagen im Rahmen eines Gefangenenaustausches freigelassen würden.397 Als die Briten allerdings in den Kampfhandlungen wieder Oberhand gewannen, war von der Freilassung keine Rede mehr und Akbar Khan drohte, die Geiseln nach Bamiyan zu bringen, falls die Briten weiter vorrücken würden.398 Lady Sale schrieb am folgenden Tag: „What will now be our fate seems very uncertain: but I still think he will not cut our throats.“399 General Pollocks Ant- wort auf Akbar Khans Drohung lautete, dass die Briten Kabul in Schutt und Asche legen würden, sollte er die Gefangenen wegführen.400 Die Städte Tighri, Badiabad und Kandahar waren zu diesem Zeitpunkt bereits zerstört.401 Daraufhin weigerte sich Mahommed Akbar Khan, mit Pollock weiter zu verhandeln. Er schrieb Lord Ellenborough, dem neuen Generalgouverneur in Indien, einen Brief „to say, he will only treat with him; and that he will not have anything to do with Gen. Pollock; who is ‘a fool!“402

391 Vgl. Sale 1843, S. 384 (15.07.1842). Bei Napoleons Russlandfeldzug beispielsweise starben bis zu 90% der Soldaten am Fleckfieber. Vgl. Iris Ritzmann: „Typhus“ In: Historisches Lexikon der Schweiz. http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D22718.php (konsultiert am 27. 08.2012). 392 Vgl. Sale 1843, S. 392 (07.08.1842) bzw. S. 398 (17.08.1842). 393 Vgl. Sale 1843, S. 384 (14.07.1842). 394 Vgl. Sale 1843, S. 386 (24.07.1842). 395 Vgl. Sale 1843, S. 387 (28.07.1842). 396 Vgl. Sale 1843, S. 387 (28./30.07.1842). 397 Vgl. Sale 1843, S. 386 (22. 07. 1842). 398 Vgl. Sale 1843, S. 388 (30.07.1842). 399 Sale 1843, S. 389 (31.07.1842). 400 Vgl. Sale 1843, S. 393 (09.08.1842). 401 Vgl. Sale 1843, S. 391f. (02./08.08.1842). 402 Sale 1843, S. 399 (19.08.1842).

73 Ende Juli hätten drei Ponys Versorgungsgüter für die Gefangenen von Jellalabad nach Shewaki bringen sollen. Die Lieferung wurde jedoch mitsamt den Tieren gestohlen. Dieser Überfall bedeutete nicht nur für Florentia Sale einen grossen Verlust: I have lost my letters from England and the provinces, and from Sale; and also newspapers and medicine: the latter invaluable; as we are very sickly, and have scarcely any. […] The medicine is our greatest loss; as this gaol fever seems to be going through all the party, ladies, children, officers, men, and servants, both male and female.403

Am 23. August kamen die Gefangenen aus Ghazni in Shewaki an, womit die Situation der Geiseln noch prekärer wurde.404 Dr. Campbells Bitte, nach Medikamenten aus Kabul zu schi- cken, lehnte Akbar Khan ab, und zwar mit der Begründung, dass die Gefangenen noch in der gleichen Nacht oder am nächsten Tag abreisen würden.405

3.10.4 VON SHEWAKI NACH BAMIYAN Tatsächlich mussten die Geiseln in der Nacht auf den 25. August 1842 wieder ihre Habse- ligkeiten zusammenpacken und ins Ungewisse aufbrechen. Mrs. Anderson und Mrs. Trevor waren vom Fieber so geschwächt, dass sie mit ihren Familien in Dr. Campbells Obhut in Shewaki zurückblieben.406 Ein Soldat verstarb noch vor der Abreise, zehn weitere mussten in Sänften getragen werden. Lady Sale war die einzig Frau, die es bevorzugte, zu reiten.407 Nach einer 12-stündigen Reise erreichten sie Kabul. Dort stiessen 37 Soldaten, die auf Grund ihres Gesundheitszustandes im Januar den Rückzug nicht hatten antreten können, zu den Gefange- nen.408 Zusammen wurden sie während der nächsten acht Tage durch das Tal von Bamiyan geführt. Während sie die ersten drei Tage nur nachts unterwegs waren, bemerkte Lady Sale später die Schönheit der Gegend. Sie notierte in ihrem Tagebuch: „Had I taken the ride for my own amusement on a good horse, instead of being driven about as a captive on a sorry baggage yaboo [= Affghan ponies], I should have enjoyed it very much […]. The scenery was particularly beautiful.“409 Auch beschrieb sie zwei riesige Statuen, welche sie als brahma- nisch oder buddhistisch einordnete.410 Es handelte sich dabei um die Statuen der Ortschaft Bamiyan, welche sie am 3. September 1842 erreichten. Die Festung, in der sie hätten übernachten sollen, war in einem so schlechten Zustand, dass es die Gruppe vorzog, in ihren Zelten zu schlafen. In den kommenden Tagen hatten sie

403 Sale 1843, S. 389f. (31.07.1842). 404 Vgl. Sale 1843, S. 409 (23.08.1842). 405 Vgl. Sale 1843, S. 410 (24.08.1842). 406 Vgl. Sale 1843, S. 410 (25.08.1842). 407 Vgl. Sale 1843, S. 411 (25.08.1842). 408 Vgl. Sale 1843, S. 412 (26.08.1842). 409 Sale 1843, S. 416 (28.08.1842). 410 Vgl. Sale 1843, S. 419 (30.08.1842).

74 die Gelegenheit, auf Ausflügen die Umgebung zu erkunden – allerdings nur mit einem erheb- lichen Aufwand an Wächtern. Diese hatten nach einigen Tagen genug davon, die Gefangenen rund um die Uhr zu überwachen und so mussten Lady Sale und ihre Leidensgenossen eines der „horrid forts“411 beziehen. Standesgemäss durfte Florentia Sale nach Lady Macnaghten als zweite wählen, welchen Raum sie beziehen wollte. Sie entschied sich für einen kleinen, dunklen Kuhstall, in den sie mit Mr. Melvilles Hilfe kleine Fenster in die Wand schlug, um etwas Licht in die Dunkelheit zu bringen. Schlussendlich war sie mit ihrer Wahl recht zufrieden: We were fortunate in our selection; although our nightly visitant, in the shape of the largest bug I ever saw, was sufficiently disgusting: but Lady Macnaghten, Captain and Mrs. Boyd, and Mrs. Mainwaring, with the children, had no rest in the three rooms they had taken; which all communicated with each other. They had capital shikar [= field sports] all night: and in the morning got leave to pitch a tent at the gate, and reside there.412

Um Streitigkeiten zu vermeiden, hatten die Gefangenen ein Komitee ernannt, das für wichtige Entscheidungen wie der Verteilung von Räumlichkeiten oder Lebensmitteln zustän- dig war. Dieses Komitee bestand aus Major Pottinger, Captain Webb und Captain Lawren- ce.413 Ausserdem war die Errichtung eines kleinen Kommissariats geplant, in dem unter der Verantwortung von Captain Johnson die Vorräte gespeichert und verwaltet werden sollten.414 Zur Anwendung dieser Verwaltung in Miniaturform sollte es jedoch nicht mehr kommen. Auf dem Weg nach Bamyian hatten die Gefangenen nämlich einen Inder angetroffen, der Lawrence und Johnson verriet, dass ihr Oberaufseher, Saleh Mahommed Khan leicht bestech- lich sei.415 Nun versuchte vor allem Major Pottinger, der nicht nur fliessend Persisch sprach, sondern sich auch mit der Kultur der Einheimischen auskannte, Saleh Mahommed für sich zu gewinnen.416 Am 11. September 1842 erreichte er sein Ziel: die britischen Offiziere unter- schrieben zusammen mit Saleh Mahommed Khan einen Vertrag, indem sie ihm 20‘000.– Rupien mit zusätzlichen 1‘000.– Rupien pro Monat auf Lebenszeit bei Freilassung der Gei- seln garantierten.417 Saleh Mahommed Khan akzeptierte und fünf Tage später, am 16. Sep- tember 1842 machte sich die Gruppe auf die Rückreise. Saleh hatte ihnen sogar Waffen brin- gen lassen, welche jedoch nur zögerlich akzeptiert wurden.418 Die Flüchtlinge hatten gelernt,

411 Sale 1843, S. 423 (09.09.1842). 412 Sale 1843, S. 424 (10.09.1842). 413 Vgl. Sale 1843, S. 423 (09.09.1842). 414 Vgl. Sale 1843, S. 427 (13.09.1842). 415 Vgl. Sale 1843, S. 424f. (11.09.1842). 416 Vgl. Sale 1843, S. 428 (14.09.1842). 417 Vgl. Sale 1843, S. 425 (11.09.1842). 418 Vgl. Sale 1843, S. 431 (16.09.1842).

75 den Afghanen zu misstrauen und waren stets auf einen Hinterhalt gefasst.419 Abends erreichte sie die Information, dass General Pollock den Khurd Kabul bezwungen hätte und sich nun mit seiner Armee Richtung Kabul durchkämpfe.420 Bereits einige Tage zuvor erreichten die Gruppe Gerüchte, dass Akbar Khan dabei sei, den Krieg zu verlieren. Am ersten Tag der Rückreise schrieb Lady Sale nun „Mahommed Akbar Khan and Mahommed Shah Khan are said to be – nowhere!“421 Um zwei Uhr Nachts erreichte sie noch eine zweite, weitaus wich- tigere Meldung: Ein Reiter überbrachte ihnen einen Brief von Sir Richmond Shakespear, in dem dieser sein Kommen ankündigte. Und tatsächlich, am nächsten Tag während der Mit- tagspause stiess Shakespear zu den flüchtenden Geiseln, die ihn mit grosser Freude empfin- gen: At three o’clock, Sir Richmond arrived; and was received, with one exception, with heartfelt pleasure […] the greater part of us ladies and some gentlemen had seated ourselves where he must pass, anxious to offer our acknowledgments to him for his prompt asstistance.

Nebst den Berichten über den für die Briten positiven Schlachtverlauf überbrachte er Lady Sale eine Nachricht, die sie besonders freute: „[Shakespear] congratulated me on our gracious Queen’s bestowal of the highest order of the Bath upon my gallant husband; – a distinction, I believe, unparalleled in his present rank; and therefore the more dearly prized.“422 Sha- kespears Ankunft wurde jedoch von ebendiesem galanten Ehemann in den Schatten gestellt, der persönlich seine Gattin zu retten gedachte. Am 20. September 1842 kam es nach zwei Monaten Belagerung, einem mehrtägigen Massaker, neun Monaten Geiselhaft mit schweren Erdbeben und tödlichem Fieber zum langersehnten Wiedersehen zwischen Florentia und Ro- bert Sale: I shook off fever and ills, and anxiously awaited his arrival, of which a cloud of dust was the forerunner. […] It is impossible to express our feelings on Sale’s approach. To my daughter and myself happiness so long delayed, as to be almost unexpected, was acutally painful, and accompanied by a choking sensation, which could not obtain the relief of tears.423

Die befreiten Geiseln wurden von den Gebirgstruppen mit Salutschüssen begrüsst und als sie durch die Reihen der 13. Infanterie marschierten, wurden Lady Sale und ihre Tochter von den Soldaten persönlich beglückwünscht: Most of the men had a little word of hearty congratulation to offer, each in his own style, on the restauration of his colonel’s wife and daughter: and then my highly-wrought feelings found the desired relief; and I could scarcely speak to thank the soldiers for their sympathy, whilst the long withheld tears now found their course.424

419 Vgl. Sale 1843, S. 430 (16.09.1842). 420 Vgl. Sale 1843, S. 431 (16.09.1842). 421 Sale 1843, S. 431 (16.09.1842). 422 Sale 1843, S. 433 (17.09.1842). 423 Sale 1843. S. 436 (20.09.1842). 424 Sale 1843, S. 436 (20.09.1842).

76

Am nächsten Tag kehrten sie zurück nach Kabul, wo sie den menschenleeren, völlig zer- störten Bazar durchquerten und das Lager bei Siah Sang bezogen. Ohne jemals Jellalabad erreicht zu haben, war Lady Sale nach einer 9-monatigen Odyssee wieder an ihrem Aus- gangspunkt. Mit dem Eintrag vom 21. September 1842 endet das Tagebuch. Florentia Sales letzte beide Sätze lauten: „And now my notes may end. Any further journals of mine can only be interesting to those nearly connected to me.”425 Von insgesamt 16’500 Soldaten und Zivi- listen, die im Januar 1842 den Rückzug von Kabul nach Jellalabad angetreten hatten, überleb- ten 19 Männer, 14 Frauen und 22 Kinder.426

4 TAGEBUCHANALYSE

4.1 WE HAVE VERY LITTLE HOPE OF SAVING OUR LIVES – TAGEBUCHSCHREIBEN ALS SELBSTVERGEWISSERUNG IM KRIEG

Zwischen dem ersten und dem letzten Tagebucheintrag liegt fast auf den Tag genau ein Jahr.427 Lady Sale hatte mit Tagebuchschreiben angefangen, als das Land von ersten Unruhen erschüttert worden war und schloss ihre Aufzeichnungen, als sie sich wieder bei ihrem Ehe- mann in Sicherheit befand. Das Tagebuch hatte sie während der ganzen Zeit der Bedrohung begleitet. Obwohl die Frage nach Florentia Sales Motiven ein Tagebuch zu führen aufgrund der historischen Distanz nicht abschliessend beantwortet werden kann, lässt ein Blick auf die Entstehungsumstände dennoch einige Vermutungen zu. Einen Grund, weshalb sie genau die- sen Ausschnitt ihres Lebens so ausführlich dokumentierte, gibt Florentia Sale mit dem Schlusssatz ihres Tagebuches implizit selbst an: Sie geht davon aus, dass es im Interesse der britischen Gesellschaft liegt, über die Geschehnisse in Afghanistan so genau wie möglich unterrichtet zu werden. Das Tagebuch informiert aber nicht nur über die objektiven Kriegsgeschehnisse, sondern auch darüber, wie Florentia Sale diese erlebt hat. Zieht man nur Lady Sales aktive, von ihrem Willen ausgehende Handlungen in Betracht, so wird deutlich, dass ihr Spielraum stark be- grenzt war. Ob unter Belagerung, auf dem Rückzug oder in Gefangenschaft, oft wusste sie nicht, was der nächste Tag bringen würde. Sie war abhängig von den Entscheiden der briti- schen Offiziere und Diplomaten oder aber vom Willen ihrer Geiselnehmer. Ihr Alltag bestand

425 Sale 1843. S. 438 (21.09.1842). 426 Vgl. Macrory in: Sale 2002, S.178f. (Appendix III). Aufgelistet sind hier allerdings nur die Offiziere und ihre Frauen. Wer von den einfachen Soldaten und indischen Bediensteten überlebte, ist unklar. 427 Der erste Eintrag ist ohne Datum, der zweite wurde am 28. September 1841 verfasst.

77 vornehmlich aus Abwarten. Tagebuchschreiben war vermutlich nicht zuletzt ein Zeitvertreib, mit dem sich Lady Sale die Tage und Wochen sinnvoll auszufüllen versuchte. Als sie wäh- rend der Gefangenschaft jeglicher Privatsphäre entraubt wurde, bot das Tagebuch zudem eine Rückzugsmöglichkeit: Während die Geiseln in der Regel als Kollektiv behandelt wurden, beschäftigte sich Florentia Sale beim Schreiben mit sich selbst. Indem sie ihre Situation im Tagebuch reflektierte und in einen weiteren Kontext setzte, gab sie sich ihren individuellen Platz in der Welt.428 Wie im Kapitel 2.6 veranschaulicht wurde, sind die Tagebucheinträge manchmal sehr kurz oder auf das blosse Notieren des Datums beschränkt. Dies deutet auf die strukturgebende Funktion des Tagebuches, welches neben der Dokumentation des Tagesge- schehens dazu dient, die Tage und Wochen auseinanderzuhalten. Steven Kagle und Lorenza Gramegna weisen darauf hin, dass bereits der Versuch, das Er- lebte in Sprache zu fassen, die Erinnerung verändert.429 Erinnert wird allmählich, was auf dem Papier steht und nicht mehr, was tatsächlich geschehen ist. So bleibt das Bild der muti- gen Lady Sale im Gedächtnis, während dasjenige der Egoistin, die nicht dazu bereit ist, ihren Besitz zu teilen, in Vergessenheit gerät. Was und wie etwas beschrieben wird, ist laut Kagle und Gramegna stark von fiktiver Literatur geprägt. 430 So nimmt beispielsweise die Befreiung Lady Sales durch ihren Ehemann zum Schluss deutlich märchenhafte Züge an. Die Anleh- nung an fiktive Texte bei der Beschreibung des Erlebten kann gerade in Krisenzeiten hilf- reich sein: Angsteinflössende Ereignisse werden durch das Niederschreiben fassbar und somit zumindest auf dem Papier auch kontrollierbar gemacht. Am ersten Tag des Rückzuges notier- te Lady Sale die erste Strophe des Gedichtes Hohenlinden von Thomas Campbell (siehe An- hang 11).431 Die bezieht sich auf die Schlacht bei Hohenlinden vom 3. Dezember 1800, bei der bayerisch-österreichische Truppen eine schwere Niederlage gegen das napoleonische Heer erlitten. Die Verse liessen sich in perfekter Weise auf Lady Sales Situation übertragen: Auch sie kämpfte sich durch Eis und Schnee, auch sie befand sich mitten im mörderischen Getümmel und auch „ihre“ Armee wurde beinahe vollständig zerstört. Wohl war Lady Sale auch die zweitletzte Strophe des Gedichtes bewusst, in der es heisst: „The combat deepens. On, ye brave/ Who rush to glory, or the grave!“432 Das Gedicht verspricht Ehre oder Tod, etwas dazwischen gab es nicht. Die Beurteilung der Realität durch die Linse der Fiktion er-

428 Vgl. dazu Huff in: Bunkers 1996, S. 133. 429 Vgl. Kagle/Gramegna in: Bunkers 1996, S. 39. 430 Vgl. Kagle/Gramegna in: Bunkers 1996, S. 38. 431 Vgl. Sale 1843, S. 227 (06.01.1842). 432 Thomas Campbell: Hohenlinden. In: Rupert Sargent Holland: Historic poems and ballads. George W. Jacobs & Co.: Philadelphia 1912, S. 192.

78 laubte es Florentia Sale, sich nicht als hilfloses Opfer sondern als tragische Heldin darzustel- len.433 Durch diesen Prozess stand sie über der an sich hoffnungslosen Situation. Eine ähnliche Wirkung hat Florentia Sales ironischer Schreibstil. Nach einem Zitat von Thomas Mann macht, „wer ironisiert, […] aus der Not eine Überlegenheit“434. Lady Sales Tagebuch ist gespickt mit ironischen, zynischen, manchmal auch sarkastischen Ausdrücken. So schrieb sie etwa: „Lieut. Cumberland […] sent for reinforcement, and Sturt took fifty men to him under a very heavy fire. (Observe the wisdom of unnecessarily risking the life of our only engineer officer)“435, an einer anderen Stelle: „They ordered them to be watched; and the end of the story is, that to-day they are not be found. A second case of most excellent sur- veillance“436 oder: „One plan was to sally out, sword in hand and attack the town […] with the pleasing certainty of all who were left in cantonments having their throats cut.“437 Diese Sätze zeugen einerseits von Lady Sales Ohnmacht, ihre eigene Meinung einzubringen und die Situation zu beeinflussen, andererseits verurteilte sie gleichzeitig die Verantwortlichen durch ihre schonungslose Kritik, womit sie sich in gewissem Sinne über sie stellte. Sowohl die Fik- tionalisierung wie auch die Ironisierung sind Stilmittel, die einen Druckabbau in angespann- ten Situationen ermöglichen. Sie erlauben der Autorin, in Gedanken und auf dem Papier Her- rin der Situation zu sein. Auch wenn dies nicht der Realität entsprochen haben mag, so er- setzte diese Illusion allmählich die Wirklichkeit und konnte als Tatsache angenommen wer- den. Im Gegensatz zu den Verantwortlichen der Kabul-Mission, allen voran Elphinstone, Bur- nes und Macnaghten, welche den Aufstand der Afghanen während erstaunlich langer Zeit unterschätzt hatten, zeigte Florentia Sale schon sehr früh ein Gespür für die kommenden Er- eignisse. Obwohl sich Lady Sales düstere Vorahnungen nur allzu oft bestätigten, hatte sie keinerlei Möglichkeiten, sich in die politischen und militärischen Entschlüsse einzumischen. Diese öffentliche Sphäre war den Männern vorbehalten, während sie für Haushalt und Fami- lie zuständig war.438 Die sozialen Strukturen jedoch, welche Lady Sale ihre Stellung inner- halb der Gesellschaft zuwiesen, fielen mit dem Aufstand von einem Tag auf den anderen aus- einander: Es gab keine Theateraufführungen mehr, wo man sich auf den besten Plätzen hätte sehen lassen können, ihr Ehemann, dem sie das hohe soziale Ansehen verdankte und der sie

433 Vgl. Kagle/Gramegna in: Bunkers 1996, S. 43. 434 Thomas Mann: Ironisieren in: Markus M. Ronner: Zitaten Lexikon des 20. Jahrhunderts. Carta: Zürich 1998, S. 296. 435 Sale 1843, S. 152 (04.12.1841). 436 Sale 1843, S. 173 (09.12.1841). 437 Sale 1843, S. 109 (18.11.1841). 438 Vgl. Huff in: Bunkers 1996, S. 124.

79 beschützen sollte, war mehrere Tagesmärsche von ihr entfernt und ihr Mutterland war drauf und dran, Ansehen und Glaubwürdigkeit aufs Spiel zu setzen. Lady Sales Identität als Offi- ziersfrau, Hausherrin und Repräsentantin des Britischen Reiches drohte sich langsam aufzu- lösen und ihr sozialer Handlungsspielraum beschränkte sich auf die physischen Räumlichkei- ten ihres Hauses. Schlimmer noch: Unter den erschwerten Lebensumständen im Militärlager waren sie und die restlichen gut 12‘000 camp followers eine grosse Belastung geworden. La- dy Sale war gezwungen, sich nicht nur im Chaos neu zu orientieren sondern, auch ihre An- wesenheit im Kantonnement zu legitimieren. Auch hierbei wirkte das Tagebuch entscheidend mit. Florentia Sale transferierte ihre Rol- len, die sie bis anhin in der Gesellschaft ausübte und die einen grossen Teil ihrer Identität ausmachten, in ihr Tagebuch. Sie machte sich selbst zur Chronistin, Dokumentaristin und Kommentatorin eines Krieges, in dem sie eigentlich nichts zu tun hatte. Das Tagebuch erhielt damit für Lady Sale die Funktion der Sinngebung, der Bewahrung ihrer Identität und Indivi- dualität. Die Aussicht auf eine Veröffentlichung machte es aber auch zum Mittel des indivi- duellen Widerstandes: Lady Sale wehrte sich dagegen, in den Schatten des Krieges gestellt zu werden und dabei in Vergessenheit zu geraten. Sie wusste, dass ihre Meinung zwar im Mo- ment auf wenig Gehör stossen, mit ein bisschen Glück zu einem späteren Zeitpunkt jedoch von einer umso breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen werden würde. Es ist daher nicht erstaunlich, dass sie das Tagebuch, als sie den Rückzug nach Jellalabad antrat, als letztes und am sorgfältigsten einpackte. Nur dank dem sie es auf dem eigenen Körper trug, konnte sie das Dokument während des desaströsen Marsches retten. Auch während der Gefangenschaft sorgte sie dafür, dass die ersten Teile davon unbeschädigt zu ihrem Mann nach Jellalabad gebracht werden konnten. Das Tagebuch trug ihre Stimme, die von möglichst vielen gehört werden sollte, weshalb eine unbeschädigte Überlieferung von grösster Wichtigkeit war. An- ders als viele Frauen des 19. Jahrhunderts, die ihr Tagebuch als Plattform nutzten, um aus ihrer steifen Rolle auszubrechen,439 war es für Florentia Sale ein Mittel, ihre Rolle zu bewah- ren und ihr vorbildliches Verhalten auch unter schwierigsten Bedingungen unter Beweis zu stellen.

4.1.1 A SOLDIER'S WIFE MAY USE A SOLDIER'S SIMILE – LADY SALE ALS OFFIZIERSGATTIN Florentia Sales Aufgabe als Offiziersgattin war in erster Linie die Unterstützung ihres Ehemannes. Da dieser jedoch mehrheitlich abwesend war, machte sie es sich zur Plicht, Ro- bert Sale über die Geschehnisse auf dem Laufenden zu halten. Mit den ausführlichen Briefen

439 Vgl. Huff in: Bunkers 1996, S. 125.

80 an ihren Gatten unterstützte sie ihn nicht nur moralisch, sondern half ihm auch konkret, wich- tige militärische Entscheidungen zu fällen. So schrieb Florentia Sale am 4. November 1842 in ihr Tagebuch: My letter, containing a precis of goings-on here from the 2d to the 8th inclusive, had reached Sale, and was the only detail of events that had been received; it was sent on to the Commander-in-chief, and a copy of it to Lord Auckland. Sale had written to Capt. Mackeson at Peshawer for provisions, ammuni- tion, and troops.440

Am 4. Januar 1842, zwei Tage vor dem Rückzug, vermerkte sie: Extracts from my letter had been sent to Government and to the Commander-in-Chief. The original has been sent to my son-in-law, Capt. Bund; as Sale writes me that no other person gives them any idea of our real position at Cabul.441

Ihre Briefe schafften es also teilweise bis in die Residenz des Generalgouverneurs nach Kalkutta und hatten einen direkten Einfluss auf die weiteren militärischen Handlungen. Eini- ge Briefe leitete Robert Sale sogar an den Aufsichtsrat der East Indian Company nach Eng- land weiter.442 Dies setzte voraus, dass Lady Sales Schilderungen präzise und der Wahrheit entsprechend sein mussten. Wie bereits gesehen, war sie in der Tat eine genaue Beobachterin, die aus ihren Informationen meist treffende Schlüsse zog. So sprach sie sich etwa von Anfang an für eine kompromisslose Unterdrückung des Aufstandes aus, wozu die Briten während der ersten Ta- ge wohl noch im Stande gewesen wären. Ausserdem unterstützte Florentia Sale Sturts Vor- schlag, Zuflucht im Bala Hissar zu suchen – auch dies wäre aus der Retrospektive betrachtet eine vernünftige Handlung gewesen, durch die möglicherweise Tausende von Menschenleben hätten gerettet werden können. Wie das einleitend beschriebene Beispiel des Holzvorrates jedoch zeigt, lassen solche Spekulationen leicht darüber hinweg täuschen, dass Florentia Sale nicht immer Recht hatte. Da sie keine militärischen oder politischen Entscheidungen treffen musste, hatten Lady Sales Fehleinschätzungen allerdings keine direkten Auswirkungen auf das Schicksal der Soldaten und Zivilisten, weshalb ihre Irrtümer – wenn überhaupt wahrge- nommen – weniger stark gewichtet wurden. Eine adäquate Beurteilung der Lage erforderte nicht nur eine scharfe Beobachtungsgabe, sondern auch eine gewisse militärische Grundkenntnis. Auch über diese schien Florentia Sale in einem beachtlichen Ausmass verfügt zu haben. Das zeigt sich beispielsweise bei ihren Re- flexionen über den Einsatz von Kanonen: Nachdem sie sorgfältig die Vor- und Nachteile von Sechs-, Neun- und Achzehnpfündern abgewägt hatte, kam sie zum Schluss, dass die Neun-

440 Sale 1843, S. 109 (18.11.1841). 441 Sale 1843, S. 218 (04.01.1842). 442 Vgl. Sale 1843, S. 349 (17.05.1842).

81 pfünder Kanone zwar am schlagkräftigsten, jedoch ungeeignet für den Transport über die Berge sei. Die Achzehnpfünder erwies sich bei fast gleicher Effizienz als etwas leichter und wendiger, während die Sechspfünder Kanone zwar wesentlich einfacher zu transportieren war, jedoch im Einsatz deutliche Nachteile hatte.443 Diese praktischen Überlegungen schie- nen sich die Verantwortlichen in Indien nicht gemacht zu haben, denn Lady Sale schreibt: Capt. Abbott wrote for 3 eighteen-pounders; the military board made it a case of arithmetic, and sent 6 nines; and as they had to be taken up the hills by hand, a little more manual labour would have transport- ed the others also over the Affghanee mountains.444

Tatsächlich hätten die Behörden gut daran getan, auf die Arithmetik zu verzichten und den Briten in Kabul zu senden, was diese verlangten: Die Neunpfünder Kanonen erwiesen sich nicht nur beim Transport nach Kabul als umständlich, sondern auch während des Gefechts. Sie mussten teilweise bei der Flucht nach geschlagenen Schlachten zurückgelassen werden445 und vielen spätestens beim Rückzug in die Hände der Afghanen.446 Als beim Rückerobe- rungsversuch der Vorratsfestung nur eine Kanone eingesetzt wurde, bewertete dies Florentia Sale als „a great fault“447 und als Handlung gegen die Vorschriften. Generalgouverneur Mar- quis Hastings hatte nämlich in Konsequenz grosser Verluste während des Anglo- Nepalesischen Krieges eine Verordnung erlassen, wonach immer mindestens zwei Kanonen gleichzeitig im Einsatz sein mussten. Diese Regel schien zwar Florentia Sale bekannt gewe- sen zu sein, jedoch nicht den für den Einsatz verantwortlichen Offizieren, denn sie schrieb weiter: „All seems confusion here. Those who, at the head of affairs, ought to have been di- recting every thing, appear to be in consternation.“448 Beim Kampf um Bimaru zwei Wochen später war wiederum nur eine Kanone im Einsatz und Lady Sale notierte: „Another great fault committed was in taking only one gun; a second would have supported the first: with only one, as soon as it was fired the enemy could rush upon it; as they did.“449 Ausserdem war die Kanone bald schon so stark überhitzt, dass sie nicht mehr gebraucht werden konn- te.450 Auch die Lage des Kantonnements fand Florentia Sale „badly chosen“451 und „unfit for a military post“452. Dies einerseits, weil es über keinen Zugang zu Wasser verfügte und ande-

443 Vgl. Sale 1843, S. 77 (07.11.1841). 444 Sale 1843, S. 77 (07.11.1841). 445 Vgl. etwa Sale 1843, S. 175 (14.12.1841). 446 Vgl. Sale 1843, S. 221 (06.01.1842). 447 Sale 1843, S. 78 (07.11.1841). 448 Sale 1843, S. 78f. (07.11.1841). 449 Sale 1843, S. 132 (23.11.1841). 450 Vgl. Sale 1843, S. 125 (23.11.1841). 451 Sale 1843, S. 103 (15.11.1841). 452 Sale 1843, S. 103 (15.01.1841).

82 rerseits, weil zwei Seiten schutzlos dem Feind ausgeliefert waren.453 Zur Vorratsfestung aus- serhalb des Militärlagers meinte sie: „whichever party kept possession of that fort was always the conqueror in the end“454 – auch damit sollte Lady Sale Recht behalten. Die genaue Kenntnis über Art und Handhabung von Kanonen, über die strategische Lage des Kantonnements – etliche weitere Beispiele könnten hinzugefügt werden – sprechen einer- seits für Lady Sales Beurteilungsvermögen in militärischen Angelegenheiten, andererseits lassen sie die verantwortlichen Offiziere nicht selten in schlechtem Licht erscheinen: In Si- tuationen, in denen eine militärisch nicht ausgebildete Frau richtig entschieden hätte, haben sie nur allzu oft versagt. Florentia Sale zögerte nicht, die Kommandanten beim Namen zu nennen und deren Verhalten ihrem gnadenlosen Urteil zu unterziehen. Als Brigadier Shelton Vincent Eyre eine Warnung zukommen liess, wonach 80‘000 Fusssoldaten und 10‘000 Ka- valleristen demnächst das Militärlager niederbrennen würden, kommentiert Florentia Sale dies mit den Worten: „Nothing is too ridiculous to be believed; and really any horrible story would be sure to be credited by our panic-struck garrison.“455 Das ängstliche Gebaren der Britischen Armee wurde von Lady Sale scharf verurteilt: „It is more than shocking, it is shameful, to hear the way that officers go on croaking before the men: it is sufficient to dis- pirit them, and prevent their fighting for us.“456 Bei einer anderen Gelegenheit besetzten briti- sche Soldaten eine Festung ausserhalb des Militärlagers, gaben diese aber praktisch wider- standslos auf, als die Afghanen angriffen. Auch dies war sehr zu Lady Sales Missfallen, denn sie war überzeugt: „A child with a stick might have repulsed them.“457 Besonders beschä- mend fand Lady Sale, dass die Soldaten noch nicht einmal angezogen und bereit zum Kampf waren, als sie flüchteten: „The Europeans had their belts and accoutrements off, and the Si- pahees [= The native Hindostanee troups. Sepoys] the same. They all ran away as fast as they could! – all cowards alike.“458 Auch die Kavallerie des Shah’s, die resallah, beschreibt Flo- rentia Sale als the worst set-up and most disorderly body of troops calling themselves a regiment that can be imagined: their horses are ill-conditioned, their arms and accoutrements nominal, as each man dresses as he pleases, a stick with a bayonet on the top being the sole offensive weapon of many of them. And this is the impe- rial guard of the monarch of Afghanistan!459

453 Vgl. Sale 1843, S. 104 (15.11.1841). 454 Sale 1843, S. 94 (10.11.1841). 455 Sale 1843, S. 116 (20.11.1841). 456 Sale 1843, S. 116 (20.11.1841). 457 Sale 1843, S. 157 (06.12.1841). 458 Sale 1843, S. 157 (06.12.1841). 459 Sale 1843, S. 74 (06.11.1841).

83 Über die 5th Native Infantery schrieb sie: „With very few exceptions the 5th N. I. may be said to be inefficient from the commanding officers to the lowest rank.“460 Doch nicht nur über das Verhalten der Truppen, auch über dasjenige einzelner Personen urteilte Florentia Sale. Nach ihr war Colonel Oliver „one of the great croakers“461, William Macnaghten „without sufficient moral courage“462 und Lieutnant Greys Flucht „the most shameful of all the runaways that has occurred“463. Im Gegensatz zu ihnen war Sergeant Dean „a particularly intelligent man, and very superior to his present station in life“464 und Captain Anderson „dis- tinguished himself, killing four men with his own hand“465. Grosses Lob erteilte Florentia Sale auch Captain Hay, der mit fünfzig Kavalleristen mitten durch die Aufständischen vom Militärlager zum Bala Hissar ritt: It was a beautiful sight to see Hay with his cap pulled down on his brows, his teeth set, neither looking right nor left, but leading his men with the air of a man ready and expecting to encounter the worst, and fully determined to do his devoir.466

Mit ihrer selbstgewählten Rolle als Kriegsberichterstatterin, Kommentatorin und Moralis- tin konnte Florentia Sale Teil des militärischen und politischen Geschehens werden, ohne dabei ihre Rolle als Lady aufzugeben. Ihre scharfen Analysen bewiesen ihrer zukünftigen Leserschaft, dass sie nicht bloss ein „Ornament of Empire“, also keine blosse Dekoration war, sondern selbst denken und die Lage adäquat beurteilen konnte – sogar besser als man- cher Offizier. Dadurch verschaffte sich Florentia Sale Glaubwürdigkeit und Respekt und sie gab sich eine sinnvolle Aufgabe, die ihre Anwesenheit im Militärlager rechtfertigte. Dass Florentia Sale einen Unterschied zwischen sich selbst und dem Rest der Zivilisten machte, ist deutlich an ihrer Haltung gegenüber letzteren erkennbar. Sie beklagte sich über die grosse Anzahl an camp followers, welche die Soldaten und Offiziere bei ihrer Arbeit behinderten467 und bezeichnete die Frauen im Bala Hissar als „useless hands“468. Als 750 Frauen mit ihren Kindern aufgrund der ausbrechenden Hungersnot die sicheren Mauern der Festung verlassen mussten, war ihr Kommentar bloss: „[It] was at least a good riddance!“469 Das Schicksal die- ser Frauen ist nirgends dokumentiert. Angesichts der Brutalität und Kompromisslosigkeit der

460 Sale 1843, S. 111 (19.11.1841). 461 Sale 1843, S. 121 (22.11.1841). 462 Sale 1843, S. 22 (26.10.1841). 463 Sale 1843, S. 158f. (06.11.1841). 464 Sale 1843, S. 72 (06.11.1841). 465 Sale 1843, S. 65 (06.11.1841). 466 Sale 1843, S. 171 (09.12.1841). 467 Bei der Beschreibung des Militärlagers meint Florentia Sale: „ The garrison were encumbered with their wives and children, who had been encouraged to come up from Hindostan in great numbers.“ Sale 1843, S. 104 (15.01.1841). 468 Sale 1843, S. 75 (07.11.1841). 469 Sale 1843, S. 76 (07.11.1841).

84 Aufständischen ist es aber eher unwahrscheinlich, dass sie ihren verzweifelten Ausbruch aus dem Palast überlebten. Lady Sales Mangel an Empathie kann als Zeichen dafür gewertet werden, dass sie sich nicht zu diesen, in ihren Augen unnützen Geschöpfen zählte.

4.1.2 OUR HOUSE BEING THE BEST AND MOST COMMODIOUS – LADY SALE ALS HAUSHERRIN Der im Kapitel 3.4 beschriebene Tagebucheintrag vom 31. Oktober 1841 illustriert deut- lich die radikale Veränderung in Florentia Sales Leben: Über vier Seiten hinweg gab sie eine detaillierte Beschreibung ihres Hauses, vor allem des Gartens, und endete mit den Worten: „There are many other kinds, with a great variety of melons, Water, Musk, and Surda, which is accounted the best.“470 Der unmittelbar folgende Satz lautet: „It is reported that Sale’s bri- gade are very badly off for carriage and provisions.“471 Auf der gleichen Seite472 schilderte sie, dass neunzig Soldaten von Sales Brigade getötet wurden und dass am 2. November 1841 der Aufstand auf Kabul übergegriffen habe.473 Dem friedlichen Hausfrauenleben war sowohl im Tagebuch wie auch in Realität ein abruptes Ende gesetzt. Florentia Sales haushälterische Fähigkeiten waren während des Aufstandes allerdings nach wie vor stark gefordert. Sie war verantwortlich für die Verpflegung ihrer Familie und der Bediensteten, was sich mit der andauernden Belagerung als immer schwieriger erwies. Mit der Abreise ihres Ehemannes fühlte sich Florentia Sale ausserdem auch für das Wohlergehen ihres Schwiegersohnes John Sturt verantwortlich. Anstatt Dinnerpartys organisierte sie für ihn die abendlichen Sitzungen, welche er mit anderen Offizieren abhielt,474 pflegte ihn nach seiner schweren Verletzung bei sich zu Hause,475 lieh ihm ihr Kap-Pferd,476 als sich heraus- stellte, dass Sturt aufgrund seiner Wunden noch nicht seine grossen Pferde reiten konnte,477 und hielt nachts Wache, damit er sich von den Strapazen des Tages erholen konnte.478 Die Fürsorge für Sturt intensivierte sich zusätzlich, als Lady Sale ihr Haus Brigadier Shelton überlassen musste und zu ihrer Tochter zog.479 Den Bericht über die spektakuläre Flucht ei- nes britischen Artilleristen schloss sie mit den Worten: „All appearing to be over, I hastened

470 Sale 1843, S. 30 (31.10.1841). 471 Sale 1843, S. 30 (31.10.1841). 472 Vgl. Das Manuskript. BL IOR Mss Eur B 275- 017. 473 Vgl. Sale 1843, S. 30–32 (31.10./01.11./02.11.1841). 474 Vgl. Sale 1843, S. 67 (06.11.1841). 475 Vgl. Sale 1843, S. 34 (02.11.1841). 476 Kap-Pferde, auch genannt Basuto, sind relativ kleine, aber äusserst robuste Tiere mit einem trockenen Kopf. Vgl. „Basuto“ auf: http://www.pferdchen.org/Pferde/Rassen/Pony/Basuto.html [25. Juli 2012]. 477 Vgl. Sale 1843, S. 93f. (10.11.1841). 478 Vgl. Sale 1843, S. 82 (08.11.1841). 479 Vgl. Sale 1843, S. 100 (13.11.1841).

85 home to get breakfast ready for Sturt […].“480 Als dieser sich selbst Akbar Khan als Geisel anbot, setzte Lady Sale alles daran, dies zu verhindern: „ I am not so tied, and have represent- ed (through friends) to the General in a military point of view that he ought to object to Sturtʼs being taken as a hostage.“481 Sie erinnerte den General daran, dass Sturt der einzige Ingenieur war, und falls sie beim Rückzug auf ein Hindernis stossen sollten, niemand ausser ihm dieses beseitigen könne. Daraufhin setzte sich General Elphinstone mit Macnaghten in Verbindung, der Sturt wieder von der Liste der potenziellen Geiseln strich.482 Als Sturt in Khurd Kabul tödlich verletzt wurde, bettete ihn Lady Sale behutsam in die Decken ihrer Tochter und sprach von ihm als sei er ihr eigener Sohn: „Mrs. Sturt’s bedding […] now was a comfort for my poor wounded son.“483 Florentia Sale konnte also ihre Aufgabe als fürsorgliche Ehefrau weiterhin ausüben, indem sie sich anstatt auf ihren Gatten auf den Schwiegersohn fokussierte. Welche Rolle dabei ihre Tochter Alexandrina, Sturts tatsächliche Ehefrau spielte, wird aus den Quellen nicht ersicht- lich. Auffallend ist, dass Florentia Sale John Sturt in ihrem Tagebuch insgesamt 157, ihre Tochter nur gerade 36 mal erwähnte – obwohl John Sturt bereits drei Monate nachdem das Tagebuch beginnt, starb. Mit dem Tod Sturts hatte Florentia Sale keinen Mann mehr, der auf sie angewiesen war. Während der Gefangenschaft sorgte sie vornehmlich für ihre Tochter und sich selbst. In Ba- diabad, wo sie anfänglich auf dem Boden schlafen mussten, hatten sich die Gefangenen nach dem schweren Erdbeben etwas häuslicher eingerichtet. Es wurden Baracken erstellt für dieje- nigen, deren Zimmer eingestürzt waren, und jemand zimmerte für Lady Sale ein Bett und einen Stuhl. Ausserdem hatten die Gefangenen an eine alte Sänfte einige Bretter angenagelt, damit sie als Schreibtisch benutzt werden konnte.484 In Shewaki nähte Florentia Sale Klei- der,485 flocht Sitzmatten486 und bastelte mit Decken eine Art Zelt, das sie vor der Sonne schützte.487 Mit Hilfe von Wachholdersträuchern hatten die Gefangenen aus den Sitzmatten sogar eine Art Laube gebaut, die allerdings nicht wasserdicht war.488 Selbst als Florentia Sale in Bamiyan einen Kuhstall beziehen musste, zögerte sie nicht, diesen wohnlich zu gestalten,

480 Sale 1843, S. 127 (23.11.1841). 481 Sale 1843, S. 177 (15.12.1841). 482 Vgl. Sale 1843, S. 178 (15.12.1841). 483 Sale 1843, S. 242 (08.01.1842). 484 Vgl. Sale 1843, S. 308 (15.03.1842). 485 Vgl. Sale 1843, S. 405 (21.08.1842). 486 Vgl. Sale 1843, S. 333 (24.04.1842). 487 Vgl. Sale 1843, S. 333 (24.04.1842). 488 Vgl. Sale 1843, S. 334 (28.04.1842).

86 indem sie und Mr. Melville eigenhändig zwei Fenster in die Wand schlugen.489 Lady Sale zeigte sich während der Gefangenschaft als sehr praktisch denkende Frau, die sich auch mit einer reduzierten Anzahl an Bediensteten zu helfen wusste.

4.1.3 A VERY UNLADY-LIKE LADY? – FLORENTIA SALE ALS DAME VON RANG IM KRIEG Was unterscheidet eine Lady, die selbst ihre Wäsche aufhängt, Kleider näht, unappetitli- ches Essen zu sich nimmt, auf dem Boden inmitten anderer Männern, Frauen und Kinder schläft, keine Bediensteten mehr hat und deren Schicksal vom Willen eines Fremden abhängt von einer einfachen Soldatenfrau? Trotz der widrigen Umstände schien Lady Sale ihren hohen sozialen Status nie zu verges- sen und es gelang ihr, diesen auch unter grössten Entbehrungen zum Ausdruck zu bringen. Ein Teil ihres Ansehens war durch die Heirat mit dem Brigadegeneral Robert Sale gegeben und daher auch von diesem abhängig. Dass Lady Sale an keiner Stelle im Tagebuch ihren Ehemann kritisierte, erstaunt daher nicht. Sie gab viel mehr ein Bild des unerschrockenen Kämpfers, der sich mehrere Male im Gefecht verletzte und dessen selbstloser Einsatz schlussendlich auch von den militärischen Autoritäten anerkannt und belohnt wurde.490 War Florentia Sale als Gemahlin eines Knight Commander of the Bath (KCB) nach Afghanistan gezogen, so hatte sie die grosse Ehre, das Land an der Seite des frisch ausgezeichneten Knight Grand Cross (KGC) wieder zu verlassen.491 Während Aufstand, Belagerung, Rückzug und Gefangenschaft hatte Lady Sale zusätzlich reichlich Gelegenheit zu beweisen, dass sie auch ohne Ehemann ihr Ansehen bewahren konn- te. Wichtig war für sie, wenn möglich auch weiterhin in gehobener Gesellschaft zu verweilen. So ritt Florentia Sale beispielsweise beim Rückzug mit dem von ihr hoch gelobten Kavalle- rie-Offizier Captain Hay492 und schien sich auch während der Gefangenschaft nur mit den höheren Offizieren und ihren Familien abgegeben zu haben. Dass Lady Sale eine klare Unter- scheidung zwischen den sozialen Schichten machte, ist unter anderem daran erkennbar, dass sie die Geiseln in die Kategorien ladies, gentlemen, european soldiers und european women einteilte, wobei sie die indischen Bediensteten völlig unerwähnt liess.493

489 Vgl. Sale 1843, S. 424 (09.09.1842). 490 Die unter Sales Kommando stehende 37th N. I. ist die einzige Armeeeinheit, von der Lady Sale durchwegs positiv spricht. Vgl. etwa Sale 1843, S. 90 (10.11.1841). Robert Sale wurde unter anderem im Kampf auf dem Weg nach Jellalabad verletzt, später auch bei der Verteidigung der Festung. Vgl. Sale 1843, S. 11 (12.10.1841) bzw. Sale 1843, S. 349 (16.05.1842). Noch während der Gefangenschaft erfuhr Florentia Sale, dass ihr Ehemann und seine Truppen ausgezeichnet werden sollten. Vgl. Sale 1843, S. 351 (21.05.1842). 491 Vgl. Sale 1843, S. 433 (17.09.1842). 492 Vgl. Sale 1843, S. 222 (06.01.1842). 493 Vgl. Sale 1843, S. 285 (17.01.1842).

87 Ihrer Position als zweitrangige Lady hinter Frances Macnaghten war sich Florentia Sale stets bewusst. Dies bedeutete, dass Lady Macnaghten auf der Reise in der gemeinsamen Sänfte vorwärts sass, obwohl Florentia Sale vom Fieber so stark geschwächt war, dass sie sich kaum aufrecht halten konnte,494 oder dass Lady Macnaghten als erste bei der Raumein- teilung wählen durfte.495 Ihr Rang als zweithöchste Lady bedeutete aber auch, dass für Lady Sale auf dem Rückzug eines der wenigen Zelte aufgestellt wurde, die vor den afghanischen Plünderern gerettet werden konnten,496 während alle anderen draussen in Eis und Schnee übernachteten oder dass ihr in Badiabad ein Zimmer zugeteilt wurde, das für Mahommed Shah Khan und seine Frauen gedacht war, während die einfachen Soldatenfrauen sich mit dem Keller begnügen mussten.497 Hierbei ist bezeichnend, dass die Raumaufteilung nicht etwa nach Geschlecht, sondern nach sozialem Status erfolgte. Lady Sale war allerdings froh, erklärte sich Captain Boyd in Zanduh bereit, auf dem oberen Treppenabsatz, manchmal auch auf dem Dach zu schlafen, damit seine Frau, Florentia Sale, Lady Macnaghten, Mrs. Mainwa- ring und Alexandrina Sturt das Zimmer für sich hatten. Florentia Sale empfand dies „after so long enduring the misery of having gentlemen night and day associated with us“ 498 als grosse Erleichterung. Als es darum ging, die Gefangenen von Badiabad weg an einen sicheren Ort zu bringen, entschied sich Akbar Khan, nur die „wertvollen“ Geiseln mitzunehmen, während er die Sol- daten mit ihren Familien sowie die meisten Bediensteten in der Festung zurückliess.499 Flo- rentia Sale und die anderen ausgewählten Geiseln mussten allerdings nach wenigen Stunden der Reise wieder in die Festung zurückkehren, wo zu ihrer Ernüchterung bereits ein grosser Teil der selbstgebastelten Einrichtung zerstört worden war.500 Die Soldaten machten sich je- doch sogleich daran, Lady Sales Bett wieder herzustellen, brachten ihr eine Lampe und eine Soldatenfrau besorgte zwei Stühle für sie und ihre Tochter.501 Dankbar stellte Lady Sale fest: „These little kindnesses make a deep impression at such times.“502 Dank des Respektes, der Lady Sale und ihrer Tochter entgegengebracht wurde, konnten sie sich also auch ohne Haus- angestellte bedienen lassen.

494 Vgl. Sale 1843, S. 326 (19.04.1842). 495 Vgl. Sale 1843, S. 424 (09.09.1842). 496 Vgl. Sale 1843, S. 226 (06.01.1842). 497 Vgl. Sale 1843, S. 284 (17.01.1842). 498 Sale 1843, S. 404 (21.08.1842). 499 Vgl. Sale 1843, S. 321 (11.04.1842). 500 Vgl. Sale 1843, S. 320 (10.04.1842). 501 Vgl. Sale 1843, S. 320 (10.04.1842). 502 Sale 1843, S. 230 (10.04.1842).

88 Die Tatsache, dass weder Lady Sale noch Lady Macnaghten ihren Besitz mit den anderen Frauen teilten – Offiziersfrauen wie Mrs. Eyre eingeschlossen503 – kann als Zeichen dafür gewertet werden, dass die Ladys versuchten, ihrer sozialen Stellung durch Distanzierung Ausdruck zu geben. Laut Mackenzie wurde zum Beispiel Mrs. Riley von einigen Damen sehr abschätzig behandelt: „Some of the ladies gave themselves great airs towards Mrs. Riley, which was not only most unfeeling but absurd.“504 Wie Florentia Sale sich gegenüber Mrs. Riley verhielt, ist unklar. Es ist allerdings bezeichnend, dass sie die Frau an keiner Stelle des Tagebuches erwähnte, nicht einmal als auch sie während der Gefangenschaft ein Kind auf die Welt brachte.505 Indem Florentia Sale in ihrer Rolle als Offiziersfrau Anteil am militärischen und politi- schen Geschehen nahm, trat sie in eine Domäne ein, die stark von Männern dominiert war. Dadurch verschaffte sie sich einen grösseren Handlungsspielraum und hob sich gleichermas- sen von den anderen Frauen ab. Ihre partielle Orientierung an der Männerwelt wird unter anderem daran sichtbar, dass Florentia Sale sich stets als harte Kämpferin gab. So reiste sie nicht etwa wie alle anderen Frauen in Sänften oder Kamelkörben, sondern ritt wenn immer möglich auf ihrem Pferd.506 Beim Verlassen des Kantonnements wählte sie den schnelleren Weg durch den eisigen Fluss, anstatt sich in die lange Kolonne einzureihen, die sich langsam über die improvisierte Brücke bewegte.507 Als sie am dritten Tag des Rückzuges von einer Kugel am Handgelenk und im Arm verletzt wurde, erwähnte sie dies im Tagebuch eher bei- läufig.508 Erst als sie fünf Monate später klagte, dass sie die ganze Nacht nicht schlafen konn- te „being in pain from the arm that was wounded“509, wird klar, dass es sich wohl doch um eine ernsthafte Verletzung handelte. Auch wenn Not am Mann war, zögerte Florentia Sale nicht einzuspringen. So hätten die Gefangenen bei der Ankunft in Zanduh in Kuhställen untergebracht werden sollen – eine Zumutung, die für Lady Sale inakzeptabel war. Da jedoch niemand dagegen protestierte, be- schloss sie, selbst mit Mahommed Akbar Khan zu verhandeln. Sie schrieb in ihr Tagebuch: „As no one would fight for the ladies, I determined to be Yaghi [= Rebellions/ in a state of

503 Vgl. Mackenzie 1884, Bd. 1, S. 281. 504 Mackenzie 1884, Bd. 1, S. 279. 505 Dass auch Mrs. Riley zu denjenigen Frauen gehörte, welche die Strapazen einer fortschreitenden Schwanger- schaft auf sich nehmen mussten, erwähnt Patrick Macrory in Retreat from Kabul. Vgl. Macrory 2002, S. 262. 506 Vgl. Sale 1843, S. 323 (13.04.1842). 507 Laut Lady Sale verursachten die camp followers, welche im Gegensatz zu ihr davor zurückschreckten, nasse Füsse zu bekommen und deshalb lieber die Brücke überquerten, eine Verzögerung, welche sie als „the origin of the dayʼs misfortune“ bezeichnete. Vgl. Sale 1843, S. 223 (06.01.1842). 508 Vgl. Sale 1843, S. 237 (06.01.1842). 509 Sale 1843, S. 355 (24.05.1842).

89 rebellion/or of independence] myself.“510 Lady Sales Protest war erfolgreich, denn die Frauen („our bower party“511) wurden zuerst in einem kleinen Zimmer oberhalb des Tores der Fes- tung untergebracht und am nächsten Tag in „exzellent quarters“512 verlegt. Als Florentia Sale ferner vernahm, dass der 2-jährige Waisenjunge Seymour Stoker, wel- cher zusammen mit Mrs. Wade in Badiabad zurückgelassen worden war, von dieser misshan- delt wurde, ergriff sie sofort die nötigen Massnahmen: I am doing all I can to get the Sirdar [i.e. Mahommed Akbar Khan] (through Capt. Troupʼs entreaty) to have him brought here; and again placed under Mrs. Burnesʼs care. She and her infant are looking very miserable, as are most of the men.513

Es scheint nicht, als hätte Florentia Sale ihren Entscheid, den Jungen in Mrs. Burnes Ob- hut zu geben, mit dieser abgesprochen. Ob Mrs. Burnes damit einverstanden war, ist auf- grund des schlechten Gesundheitszustandes von ihr und ihrem Kind zumindest fraglich. Ihr eigener Sohn erlag nur zehn Tage später dem Fleckfieber,514 und auch der kleine Seymour verstarb,515 obwohl Akbar Khan veranlasst hatte, dass er zu den anderen Geiseln gebracht wurde, allerdings als diese bereits in Bamyian waren.516 Eine weitere Situation, in der Florentia Sale ihre tugendhafte Zurückhaltung aufgab, ereig- nete sich auf der Flucht der Geiseln. Ihr Verbündeter Saleh Mahommed Khan brachte den Flüchtigen Waffen, damit diese eine kleine Vorhut bilden konnten. Als Captain Lawrence nach Freiwilligen fragte, meldete sich niemand. „I blush to record, that a dead silence en- sued“517 schrieb Lady Sale und sie beschloss, selbst als gutes Beispiel voranzugehen indem sie Lawrence anbot: „You had better give me one, and I will lead the party.“518 Dies geschah natürlich nicht. Florentia Sale zeigte so ihrer Leserschaft, dass sie bereit gewesen wäre, eine militärische Einheit anzuführen und diese wusste aufgrund Lady Sales mehrmals bewiesenen, profunden Militärkenntnissen, dass sie dazu mindestens so gut im Stande gewesen wäre, wie ein richtiger Offizier. Auch äusserlich näherte sich Florentia Sale den Männern an, indem sie seit dem ersten Tag des Rückzuges stets einen Turban auf dem Kopf trug.519 Ursprünglich diente er ihr als Schutz vor Hitze und afghanischen Angreifern, da sie damit nicht gleich als britische Lady

510 Sale 1843, S. 355 (24.05.1842). 511 Sale 1843, S. 355 (24.05.1842). 512 Sale 1843, S. 356 (25.05.1842). 513 Sale 1843, S. 376 (26.06.1842). 514 Vgl. Sale 1843. S. 380 (06.07.1842). 515 Vgl. Macrory 2002, S. 262. 516 Vgl. Sale 1843, S. 378 (01.07.1842) bzw. Mackenzie 1884, Bd. 1, S. 266. 517 Sale 1843, S. 431 (16.09.1842). 518 Sale 1843, S. 431 (16.01.1842). 519 Vgl. Sale 1843, S. 219 (04.01.1842); bzw. Sale 1843, S. 326 (19.04.1842).

90 erkennbar war. Allmählich wurde die sonst ausschliesslich von Männern getragene Kopfbe- deckung jedoch auch zu Florentia Sales Markenzeichen und somit Ausdruck ihrer Individua- lität: Es gibt kaum ein Portrait von Florentia Sale, das nach 1842 entstand, welches sie nicht mit einem Turban zeigen würde (siehe Anhang 12).520 Nun mag argumentiert werden, dass ein solches Auftreten das Gegenteil von weiblicher Tugendhaftigkeit ist. Auffallendes Ver- halten gehörte jedoch bis zu einem gewissen Grad zur Etikette der gehobenen Gesellschafts- schicht. Ein gewisses Mass an Exzentrik wurde von Ladys wie Florentia Sale erwartet.521 In anderen Belangen gab sich Lady Sale wiederum betont weiblich. Bei Sturts Sitzungen mit anderen Offizieren sass sie daneben, säumte ein Taschentuch und war laut eigener Aus- sage froh, dass die militärischen Pläne so genau erklärt wurde, dass sogar sie es verstehen konnte.522 Auch das Zusammentreffen mit ihrem Ehemann beschrieb Lady Sale wie die Ret- tung der Prinzessin aus dem Märchen. Sie war sich sicher, dass sie allesamt wieder in Gefan- genschaft geraten wären, wäre Sale ihnen nicht zu Hilfe geeilt.523 Somit gab Florentia Sale sich selbst die Rolle der hilflosen, schutzbedürftigen Frau und ihrem Mann diejenige des hel- denhaften Retters. An verschiedenen Stellen bringt Florentia Sale ausserdem ihre Belesenheit und kulturelle Bildung zum Ausdruck. Ihrer Beschreibung der königlichen Garde, deren Name „bereit zum Kampf“524 bedeutet, fügte sie etwa hinzu: I fear that just now –

At a word it may be understood, They are ready for evil and not for good,

like Walter Scott's goblin page.525

Und als sie am ersten Tag des Rückzuges, in durchnässter Kleidung, unter ständigem Be- schuss des Feindes durch Wind und Schnee ritt, dachte sie an Thomas Campbells Gedicht Hohenlinden: Strange to say, one verse actually haunted me day and night: –

Few, few shall part where many meet! The snow shall be their winding-sheet, And every turf beneath their feet

520 Vgl. etwa Vincent Eyre: Lady Florentia Sale. Coloured lithograph by Lieutenant Vincent Eyre, Bengal Artil- lery, (to be) published by John Murray, 1843; bzw. Richard Thomas Bott: Lady Florentia Sale on retreat from Kabul, the Kabul disaster, January 1842. Signed and dated R T Bott pinxt 1844. 521 Vgl. Robinson 1990, S. 201. 522 Lady Sales plötzliche Naivität ist allerdings nach ihren ausführlichen Beschreibungen und Kommentaren zu militärischen Aktionen wenig glaubwürdig.Vgl. Sale 1843, S. 67 (06.11.1841). 523 Vgl. Sale 1843, S. 436 (19.09.1842). 524 Sale 1843, S. 15 (19.10.1841). 525 Sale 1843, S. 15 (19.10.1841).

91 Shall be a soldierʼs sepulcher.

I am far from being a believer in presentiments; but this verse is never absent from my thoughts. Heaven forbid that our fears should be realized!526

Eine Lady, die auf ihrem Pferd sitzt und unter Lebensgefahr ein Gedicht rezitiert, das in prophetischer Weise das Schicksal der Flüchtenden skizziert, imponiert. Ob dies tatsächlich der Wahrheit entsprochen hat, kann nicht abschliessend gesagt werden. Dass ihr unerschro- ckenes und zugleich ladyhaftes Verhalten aber bis heute Wirkung zeigt, beweisen unkritische Widergaben dieser Szene auch in neuster Sekundärliteratur.527 Für ihre Kultiviertheit steht etwa auch Lady Sales Sprachgebrauch. Hie und da liess sie französische Floskeln einfliessen, etwa wenn sie schrieb: „The 44th turned – sauve qui peut“528 oder „Those who had not taken a spoon with them, ate with their fingers, Affghan fashion; – an accomplishment in which I am by no means au fait.“529 Auffallend sind aber vor allem die Wörter, welche Lady Sale in Hindi oder einer der afghanischen Sprachen be- nützte. Meistens verwendete sie diese Begriffe ohne weitere Erklärung, manchmal war sie aber der Meinung, die Übersetzung im vorangestellten Glossar reiche nicht, um das Wort vollumfänglich zu verstehen. In diesen Fällen gab sie direkt nach dem Gebrauch des Begrif- fes eine etwas ausführlichere Erläuterung, wie etwa beim Ortsnamen Behmaru: I believe I have indifferently written the name of a village as Dehmaru and Behmaru; it is called both, but Behmaru is the correct name, signifying the husbandless: Dehmaru would be the Husbandʼs Village. It takes its name from a romantic legend of a girl of rank betrothed to a chief who was said to have been slain in combat, and she consequently pined away and died also; but the lover recovered from his wounds, and placed a stone, said to be one of those white ones that look like women in Bourkhor, over her grave on the Behmaru hill; and when he died he was buried beside her, with a similar stone to mark the spot.530

Auch die Übersetzung des Titels Jan Fishan Khan mit „the nobleman who is the extermi- nator of his sovereignʼs enemies“531 empfand Florentia Sale als unbefriedigend, weshalb sie anfügte: It is a difficult sentence to render into English. Jan means life; Fishan, heedless of the life of your ene- mies; Khan, a lord or nobleman. I am no linguist myself, but friends who understand Persian well give the above as the best translation. The common one is, „The khan or noble who throws away his life upon his enemies. “532

526 Sale 1843, S. 227 (06.01.1842). 527 So schreibt z.B. Jules Stewart: „The volume happened to be opened to ‘Hohenlinden’, one verse of which haunted her day and night on the army’s march to annihilation. […]. Little did Lady Sale suspect the extent to which those forebodings were to be fulfilled.“ (Stewart 2011, S. 89.) 528 Sale 1843, S. 88 (10.11.1841). 529 Sale 1843, S. 347 (16.05.1842). 530 Sale 1843, S. 6 (o.T. 09.1841). 531 Sale 1843, S. 45 (03.11.1841). 532 Sale 1843, S. 45 (03.11.1841).

92 Sprachkenntnis ist der Schlüssel zum Verständnis anderer Völker. Florentia Sale zeigte mit ihren Erläuterungen, dass sie die afghanische Bevölkerung verstand – nicht nur im sprachlichen, sondern auch im kulturellen Sinn.

4.1.4 AFGHAN GENTLEMEN ODER BARBAROUS AND BLOODTHIRSTY FOE?

– FLORENTIA SALE ALS ETHNOGRAFIN Lady Sales Tagebuch ist nicht zuletzt auch ein Reisetagebuch. Sie bewegte sich in Gebie- ten, die der Britischen Krone grösstenteils unbekannt waren und hatte deshalb die Pflicht, ihre Eindrücke von Land und Leuten weiterzugeben.533 Eine möglichst umfassende Beschrei- bung Afghanistans war nicht zuletzt aufgrund der imperialistischen Ambitionen Grossbritan- niens von zentraler Bedeutung.534 Es ist daher naheliegend, dass die an militärischen Angele- genheiten interessierte Offiziersfrau vor allem auch über militärische Strategien und Taktiken der Afghanen berichtete. Lady Sale stellte dabei fest, dass die Afghanen viele Vorteile ge- genüber den britischen Truppen hatten.535 Einer der wichtigsten Unterschiede waren die Waf- fen. Zwar hatten die Afghanen im Gegensatz zu den Briten keine eigenen Kanonen, sie ver- fügten aber über die sehr präzisen Juzails – ein Vorderladergewehr mit einer bedeutend län- geren Schussreichweite als die der britischen Musketen536 – , so dass Lady Sale bemerkte: „whilst they are out of range of our fire, theirs tells murderously on us.“537 Die afghanischen Reiter hatten bei einer Attacke zwei bis drei Juzails um die Schulter geschlungen und waren „expert in firing at the gallop“538. Ihre Pferde waren kleiner als die britischen Kavalleriepfer- de und „seem to […] climb about with as much unconcern as goats do“539. Ausserdem brach- te jeder Reiter einen Fusssoldaten mit sich auf das Schlachtfeld, damit diese ihre Energie nicht bereits auf dem Weg zu ihrem Posten verloren.540 Nebst den Gewehren trug jeder af- ghanische Kämpfer auch mehrere Messer unterschiedlicher Länge541 und „as sharp as pos- sible“542 auf sich, welche Florentia Sale auch als „formidable weapon“543 bezeichnete.

533 Mit ihren Beschreibungen von Landschaft und Kultur reihte sich Florentia Sale in eine namhafte Liste von Reisenden, wie etwa Madame de Staël, Alexander Humboldt, Alexis de Tocqueville oder Charles Darwin. Vgl. zur Bedeutung von Reiseberichten im 19. Jahrhundert Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. [2009] 3. Auflage C.H. Beck: 2009, S. 51. 534 Vgl. Fothergill 1974, S. 14. 535 Vgl. Sale 1843, S. 64 (06.11.1841). 536 Vgl. Sale 1843, S. 64 (06.11.1841). 537 Sale 1843, S. 64 (06.11.1841). 538 Sale 1843, S. 102 (14.11.1841). 539 Sale 1843, S. 64 (06.11.1841). 540 Vgl. Sale 1843, S. 102 (14.11.1841). 541 Vgl. Sale 1843, S. 363 (07.06.1842). 542 Vgl. Sale 1843, S. 139 (26.11.1841). 543 Sale 1843, S. 139 (26.11.1841).

93 Konnten die Aufständischen eine englische Kanone auf ihre Seite bringen, waren sie sehr geschickt dabei, die passenden Kugeln selbst zu beschaffen. Dies gelang ihnen, zum grossen Erstaunen der Briten, indem sie die Geschosse anderer Kanonen so umformten, dass sie in den Lauf passten: „They hammer our nine-pound shot into an egg shape. One of them that fell in Sturtʼs compound attracted attention, as we all supposed that they could not be ham- mered to fit other guns.“544 Einen weiteren Vorteil hatten die Afghanen in der Kommunikati- on. Während nur wenige Briten die lokalen Sprachen verstehen konnten, waren „the Affg- hans, having persons who can read English, French, and Latin, […] aware of all our sec- rets.“545 Eine weitere Tatsache, welche die Briten in Staunen versetzte, war die Geschwindigkeit, mit der neue afghanische Truppen zusammengezogen werden konnten. Während die Soldaten der britischen Armee über Monate hinweg gedrillt werden mussten, wurden die Afghanen nach Lady Sales Auffassung bereits als Krieger geboren: Here, every man is born a soldier; every child has his knife, – that weapon which has proved so destruc- tive in the hands of a hostile peasantry, incited against us by the moollahs, who threaten eternal perdition to all who do not join in the cause of the Ghazeeas; whilst heaven, filled with Houris, is the recompence for every man who falls in a religious war.546

Die religiöse Komponente ist in der Tat nicht zu unterschätzen. Der Islam war eine der wenigen Kräfte, welche die Afghanen über ihre Stammes- und Clangrenzen hinaus vereini- gen konnte. Die Pflicht, seine Religion gegen die Fremden zu verteidigen, ging Hand in Hand mit der Pflicht, die eigene Familie zu schützen.547 Bereits anfangs November bemerkte Flo- rentia Sale, dass die gesamte muslimische Bevölkerung einige Monate zuvor vom König zum gemeinsamen Kampf gegen die Ungläubigen aufgerufen worden war. Dieser Aufforderung leisteten viele Afghanen Folge. Den Briten war dies zwar bekannt, wurde jedoch zu wenig ernst genommen.548 Insgesamt zeichnete Lady Sale ein bemerkenswert positives Bild der afghanischen Kämp- fer. Nach ihr waren sie gute Schützen, hatten Techniken entwickelt, die den britischen teil- weise überlegen waren und folgten nicht nur ihren unmittelbaren eigenen Interessen, sondern waren bereit, ihr Leben für eine höhere Sache – die Religion – einzusetzen. Florentia Sale dementierte denn auch klar den verbreiteten Vorwurf, die Afghanen seien feige:

544 Sale 1843, S. 67 (06.11.1841). 545 Sale 1843, S. 84 (08.11.1841). 546 Sale 1843, S. 363 (07.07.1842). 547 Vgl. Johnson 2011, S. 12f. 548 Vgl. Sale 1843, S. 46 (03.11.1841).

94 I often hear the Affghans designated as cowards: they are a fine manly-looking set, and I can only sup- pose it arises from the British idea among civilised people that assassination is a cowardly act. The Affghans never scruple to use their long knives for that purpose, ergo they are cowards; but they show no cowardice in standing as they do against guns without using any themselves, and in escalading and tak- ing forts which we cannot retake.549

Schätze Florentia Sale die afghanischen Truppen als den britischen ebenbürtig ein,550 so stellte sie doch deutliche zivilisatorische Unterschiede fest. Während sie die Stadtbevölkerung als „a little more civilized“551 einstufte, waren die „country gentlemen and their retainers […] much the same kind of people as those Alexander encountered.“552 Auch die Afghaninnen waren nach Florentia Sale in der Stadt zivilisierter als auf dem Land. Der Besuch bei den Frauen von Mahommed Shah Khan in Zanduh blieb Lady Sale in ausschliess- lich schlechter Erinnerung. Sie beschrieb die Frauen als dick, formlos und in unelegante gro- be Stoffe gekleidet.553 Sogar Mahommed Shah Khans Lieblingsfrau habe ein gewöhnliches Seidenkleid mit Baumwolleinsätzen am Rücken getragen „evidently for economyʼs sake“554, das eher einem Nachthemd als einem Kleid für eine Dame hohen Standes geglichen hätte.555 Drinnen trugen die Frauen ein Kopftuch, wenn sie nach draussen gingen, hüllten sie sich in eine Burka.556 Ein Bad nahmen sie einmal die Woche, wobei sie bei dieser Gelegenheit auch ihr zu zahllosen Zöpfchen geflochtenes Haar öffneten.557 Die unverheirateten Mädchen tru- gen einen losen Zopf quer über die Stirne, so dass er ihre Augenbrauen berührte, was ihnen „a very heavy look“558 gab. Wertvolle Juwelen hatten sie nicht. Einige trugen einen Nasen- schmuck oder „very inferior ear-rings“559. Ausserdem färbten sich die Frauen, sehr zum Missfallen von Lady Sale, die Hände mit einer roten Pflanze: „They colour not only the nails, as in Hindostan, but the whole hand up to the wrist, which looks as though it had been plunged in blood, and to our ideas is very disgusting.“560 Nach acht Monaten der Gefangenschaft schien sich Florentia Sales Einstellung zur ein- heimischen Bevölkerung wie auch allgemein zur Eroberung Afghanistans allmählich zu än- dern. Während Florentia Sale im Mai 1842 die Frauen nach ihren eigenen Massstäben beur-

549 Sale 1843, S. 77 (07.11.1841). 550 Vgl. Sale 1843, S. 64 (06.11.1841). 551 Sale 1843, S. 78 (07.11.1841). 552 Sale 1843, S. 78 (07.11.1841). 553 Vgl. Sale 1843, S. 345 (16.05.1842). 554 Sale 1843, S. 345 (16.05.1842). 555 Vgl. Sale 1843, S. 345 (16.05.1842). 556 Vgl. Sale 1843, S. 347 (16.05.1842). 557 Vgl. Sale 1843, S. 346 (16.05.1842). 558 Sale 1843, S. 346 (16.05.1842). 559 Sale 1843, S. 346 (16.05.1842). 560 Sale 1843, S. 346 (16.05.1842).

95 teilt hatte, verglich sie bei ihrer Analyse im August afghanische Gewohnheiten, Geschmack, Hygiene und Komfort im Verhältnis zu den äusseren Umständen. Ihr Gesamturteil der afgha- nischen Kultur fiel daher um einiges milder aus. So etwa bezeichnete sie Mahommed Akbar Khan als „another William Tell“561, der sein Volk vom gehassten Joch der Fremdherrschaft befreien wollte. Obwohl sie schrieb „A woman’s vengeance is said to be fearful; but nothing can satisfy mine against Akbar […]“562, gestand sie ein, dass Akbar Khan die Gefangenen stets gut behandelt hatte.563 Zwar wurden die Geiseln oft tagelang durch das raue Land ge- führt, wo sie Hitze, Kälte und Regen ausgeliefert waren und zusammengedrängt auf dem Bo- den schlafen mussten, was Lady Sale im Rückblick als „very disagreeable“564 beschrieb. Sie stellte aber auch fest, dass die afghanischen Frauen kein leichteres Leben hatten und dass sie deshalb als de facto Gefangene (Mahommed Akbar Khan bezeichnete sie stets als „honoured guests“565) gut behandelt wurden.566 Auch die Verpflegung war „a matter of taste: one person likes what another does not.”567 Als die Briten einem Afghanen Kaffee anboten, habe diesem das Getränk genauso wenig geschmeckt wie Lady Sale das afghanische Essen. Desgleichen war die Tatsache, dass sich die Afghanen höchstens einmal die Woche wuschen und dieselbe Kleidung während eines Monats trugen, „a difference between their tastes and ours, who so enjoy bathing twice a day.“568 Darüber, dass die Gefangenen ihre Kleider selbst nähen muss- te, beklagte sich Florentia Sale nicht, denn sie empfand die Arbeit als willkommener Zeitver- trieb.569 Sogar das viele Ungeziefer nahm Lady Sale mit Humor, indem sie die Läuse als „In- fanterie“ 570 und die Flöhe als „Leichte Kavallerie“ 571 bezeichnete. Obwohl Läuse, Flöhe, Fliegen und Moskitos eine grosse Plage darstellten, waren sie „the result of circumstances which cannot be controlled.“572 Was die Zuteilung von Essen oder Transportmitteln (Sänften, Kamelkörbe, Pferde oder Ponies) anbelangte, so hatten die Einheimischen stets Vorrang. Doch auch hierfür zeigte Florentia Sale Verständnis und bemerkte, dass sie immerhin die Gelegenheit hatte ein Pferd zu mieten, als keines zur Verfügung stand.573

561 Sale 1843, S. 346 (16.05.1842). 562 Sale 1843, S. 403 (21.08.1842). 563 Vgl. Sale 1843, S. 404 (21.08.1842). 564 Sale 1843, S. 346 (16.05.1842). 565 Sale 1843, S. 346 (16.05.1842). 566 Vgl. Sale 1843, S. 346 (16.05.1842). 567 Sale 1843, S. 346 (16.05.1842). 568 Sale 1843, S. 406 (21.08.1842). 569 Vgl. Sale 1843, S. 405 (21.08.1842). 570 Sale 1843, S. 406 (21.08.1842). 571 Sale 1843, S. 406 (21.08.1842). 572 Sale 1843, S. 406 (21.08.1842). 573 Vgl. Sale 1843, S. 407 (21.08.1842).

96 Nebst den kulturellen Eigenheiten der afghanischen Bevölkerung nahmen Beschreibungen von Natur und Umwelt einen nicht unwichtigen Teil des Tagebuches ein. Vor allem die lan- gen Reisen als Gefangene durch das Land nutzte Florentia Sale, um die Umgebung möglichst genau zu dokumentieren. Die Gegend um Badiabad beschrieb sie als „steril and rocky“574, während die Erde zwischen Zanduh und Kabul sehr fruchtbar war: Es wuchsen Obstbäume und das Wasser war klar und reich an Fischen.575 In der Nähe von Bamyian wurde sogar Weizen angepflanzt.576 Bei Shewaki assen die Gefangenen zum ersten Mal seit langem reife Früchte, was Florentia Sale dazu veranlasste, deren Sorten und Geschmack genau zu be- schreiben und mit denjenigen, die ihr aus Kabul oder Indien bekannt waren zu vergleichen.577 Fast täglich dokumentierte sie auf ihren Reisen den Zustand der Strassen. Sie beschrieb sie als „very narrow and stony“578, „a barren broken slip of land“579 selten auch als „very tolerab- le“580. Gründe für diese zahlreichen und detaillierten Landschaftsbeschreibungen gibt es einige. Es kann sich sowohl um eine persönliche Erinnerungshilfe wie auch um eine geografische Dokumentation einer weitgehend unbekannten Landschaft im Interesse Grossbritanniens handeln. Nicht unwahrscheinlich ist aber auch, dass die Beschreibungen direkt der britischen Armee bei der Rückeroberung Afghanistans und der damit einhergehenden Befreiung der Geiseln helfen sollten. Die Informationen gleichen nicht selten Wegbeschreibungen, wobei es an Orientierungshilfen, wie Festungen, antiken Säulen, Flussläufen oder Distanzangaben nicht mangelt. Untermauert werden kann diese Vermutung etwa dadurch, dass Florentia Sale die Strassen auch auf ihre Passierbarkeit mit Wagen beurteilte, etwa wenn sie schrieb: The road was good for any kind of carriage. We passed over the Plain of Methusaleh; and saw at a short distance the Kubber-i-Lamech, a celebrated place of pilgrimage, about two miles from Tighree and twen- ty-five from Jellalabad.581

Oder: „At first we passed through a narrow defile with a stony road; after which the road was excellent, fit to drive carriages upon; except in a few places where there were rather awkward descents.“582 Lady Sales ethnologisches und geografisches Interesse an Afghanistan darf nicht mit Sympathie für das Land oder gar Identifikation mit den Einheimischen ver-

574 Sale 1843, S. 323 (13.04.1842). 575 Vgl. Sale 1843, S. 353–355 (24.05.1842). 576 Vgl. Sale 1843, S. 419 (30.08.1842). 577 Vgl. Sale 1843, S. 377 (26.06.1842). 578 Sale 1843, S. 419 (30.08.1842). 579 Sale 1843, S. 414 (27.08.1842). 580 Sale 1843, S. 411 (25.08.1842). 581 Sale 1843, S. 283 (15.01.1842). 582 Sale 1843, S. 418 (30.08.1842).

97 wechselt werden. Für sie war stets klar, dass Grossbritannien den Krieg gegen das Land am Hindukusch siegen musste, egal zu welchem Preis.

4.1.5 DO NOT LET US DISHONOUR THE BRITISH NAME

– FLORENTIA SALE ALS REPRÄSENTANTIN GROSSBRITANNIENS Versuchte sich Florentia Sale als Lady von den anderen Frauen abzugrenzen, so hatte sie als Repräsentantin Grossbritanniens eine Vorbildrolle inne, welche die anderen britischen, indischen und afghanischen Frauen zur Nachahmung ermutigen sollte. Sie war die Verkörpe- rung der britischen Weiblichkeit und diente ihrem Umfeld als Handlungs- und Wertorientie- rung.583 Ihre Hauptaufgabe war, Ruhm und Ehre der britischen Nation in der Welt zu verbrei- ten. Ehre setzte sich laut dem Historiker Winfried Speitkamp aus vier Strängen zusammen: dem Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft (1), der politischen Ordnung und den Herrschaftsformen (2), der Geschlechterordnung (3) und der physischen Gewalt (4).584 Der erste Aspekt beinhaltet etwa die Frage, ob die Interessen des Individuums vor denjenigen der Gesellschaft standen, welchen Platz das Individuum in der Gesellschaft einnahm oder wes- halb jemand sein Ansehen in der Gesellschaft verlor, wenn er eine Ehrverletzung ungesühnt liess.585 Der zweite Punkt weist darauf hin, dass Ehre – etwa im Gegensatz zur Würde – in der Öffentlichkeit verdient werden musste. Die Ehre eines Individuums war eng mit dessen sozialem Status verknüpft und legitimierte nicht zuletzt auch die Herrschaft über andere Indi- viduen. Max Weber spricht in diesem Zusammenhang von „Ehre der Macht“586. Da Ehre jedoch nicht eine konstante Charaktereigenschaft ist, sondern sowohl gesteigert wie auch verloren werden kann, musste sie mittels Ritualen und Zeremoniellen stets neu inszeniert werden. Die Massenmedien spielten hierbei im 19. Jahrhundert eine nicht unwesentliche Rol- le, da sie die rasche Verbreitung von Informationen erst ermöglichten.587 Dass zum Beispiel Florentia Sales Briefe auszugsweise in indischen und britischen Zeitungen gedruckt wurden, hatte einen direkten Einfluss auf ihre Reputation noch während der Gefangenschaft. Zentral für das Verständnis der Ehre waren die Geschlechterrollen. Dieselbe Handlung, die für einen

583 Robinson in Sale 2002, Foreword S. viii. 584 Winfried Speitkamp: Ohrfeige, Duell und Ehrenmord. Eine Geschichte der Ehre. Reclam: Stuttgart 2012, S. 20f. 585 Vgl. Speitkamp 2012, S. 20. Es wurde absichtlich ausschliesslich die maskuline Form gewählt, da traditio- nellerweise beschädigte Ehre nur von Männern wiederhergestellt werden konnte. (Vgl. Ursula Richter: Die Rache der Frauen. Formen weiblicher Selbstbehauptung. Kreuz-Verlag: Stuttgart 1991, S. 101.) 586 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte, Nachlass. Wolfgang Mommsen [Hg], Teilband 1: Gemeinschaften. J.C.B. Mohr: Tübingen 2001, S. 224. 587 Vgl. Speitkamp 2012, S. 20.

98 Mann ehrenvoll war, konnte schändlich sein, wenn sie von einer Frau ausgeführt wurde. Die weibliche Ehre wurde demnach anders definiert als die männliche und nicht selten war die Frau Auslöser eines Ehrenkampfes, der zwischen Männern ausgetragen wurde.588 Im Europa des 19. Jahrhundert gab es vor allem in den gehobenen Gesellschaftsschichten einen eigentli- chen Kult um Ehre und Männlichkeit.589 Traditionellerweise hatte der Mann die Familienehre zu verteidigen, wohingegen Frauen ihre Ehre zwar verlieren, jedoch nicht aktiv wiederher- stellen konnten.590 Wenn ein Mann seine oder die Ehre seiner Familie aufgab, kam dies ei- nem Verrat der eigenen Person gleich. Die Gesellschaft erwartete, dass die beschädigte Ehre vom Familienoberhaupt wiederhergestellt wurde. Speitkamp sieht deshalb in der Ehre ein „letzter dem Staat und Recht entzogener Raum der individuellen Verantwortung, der freien Lebensgestaltung nach den Normen und Sitten des Standes und der Gesellschaft. […] Ehre [war] als inneres Menschenrecht akzeptiert, das nur der einzelne selbst glaubwürdig verteidi- gen konnte.“591 Diese Eigenverantwortung galt in Afghanistan umso mehr, als sich die Briten am Hindukusch in einem scheinbar rechtsfreien Raum bewegten und die Militärjustiz sich tausende von Kilometern vom Geschehen entfernt befand. Das letzte Charakteristikum be- trifft die körperliche Gewalt, wobei sich Speitkamp implizit nicht auf die Ehre sondern auf deren Verletzung bezieht. Bei physischer Gewaltanwendung wird der Mensch auf seine reine Körperlichkeit reduziert und somit entmenschlicht. Angriffe auf das Gesicht wirken beson- ders demütigend, da dieses fundamentaler Bestandteil der Persönlichkeit ist und nicht verbor- gen werden kann. Nicht von ungefähr verliert jemand sprichwörtlich das Gesicht, wenn von Ehrverlust die Rede ist.592 Körperliche oder sexuelle Gewalt musste Lady Sale während der Gefangenschaft nicht erleben. Dies betonte sie auch in ihrem Tagebuch, damit die Leser- schaft wusste, dass sie ihre Ehre als Frau bewahren konnte, etwa wenn sie schrieb: „[Akbar Khan] has ever since we have been in his hands, treated us well: – that is, honour has been respected“593 oder,: We walk in [the garden] every evening for an hour or two. […] The men do not annoy us. […] Last evening, for instance, sixteen men, armed at all points, sat down in a row in the centre walk […] whilst we walked here and there where we pleased.594

Speitkamp stellt im 19. Jahrhundert eine zunehmende Personifizierung der Nationen im Zusammenhang mit der Ehre fest: Der Diskurs um die Ehre wurde auf die Nation übertragen,

588 Vgl. Speitkamp 2012, S. 20f. 589 Vgl. Speitkamp 2012, S. 143. 590 Vgl. Speitkamp 2012, S. 143. 591 Vgl. Speitkamp, 2012 S. 144. 592 Speitkamp 2012, S. 21. 593 Sale 1843, S. 404 (21.08.1842). 594 Sale 1843, S. 407 (21.08.1842).

99 das nationale Schicksal in Kategorien der Ehre gemessen.595 Dieses Phänomen beschreiben auch Etienne François und Hagen Schulze, wenn sie von einer allgemeine Überzeugung im 19. Jahrhundert sprechen, dass die Nation eine Person aus Fleisch und Blut sei, die man lie- ben und beschützen solle aufgrund ihres mütterlichen, kraftspenden, einzigartigen und einma- ligen Wesens.596 Die Ehre des Einzelnen übertrug sich somit auf die Ehre der Nation. Diese Nation wurde dabei sowohl von Männern, wie auch von den Frauen verkörpert: Männer zo- gen für die Ehre des Vaterlandes in den Krieg, während etwa Frauen, die sich zu Hause auf ein sexuelles Verhältnis mit dem Feind einliessen, analog zum Ehebruch als Landesverräte- rinnen galten.597 Auch Lady Sale identifizierte sich stark mit ihrer Heimat. Deutlich wird ihr Patriotismus etwa beim Ausruf: What are our lives when compared with the honour of our country? Not that I am at all inclined to have my throat cut: on the contrary, I hope that I shall live to see the British flag once more triumphant in Af- ghanistan598

Die Wahrung der Ehre des Mutterlandes war bei wichtigen Entscheidungen für Florentia Sale stets an oberster Stelle. Das Individuum hatte sich der Gemeinschaft unterzuordnen, wenn es um die nationale Ehre ging. So stimmte sie William Macnaghten zu, als dieser sich weigerte, Akbar Khan die Frauen und Kinder als Geiseln zu überlassen, mit der Begründung, sie würden lieber sterben als in Unehre geraten.599 Am Tag nach der Ermordung Macnagh- tens rechtfertigte Lady Sale dessen Doppelverhandlungen, weil er durch diese versucht habe, die Ehre Grossbritanniens zu retten: The Envoy was perfectly justified, as far as keeping good faith went, in entering into any arrangement by which the condition of the troops could be ameliorated and the honour of our country be insured. He only erred in supposing it possible that Akbar Khan, proverbially the most treacherous of all his countrymen, could be sincere.600 Florentia Sales Ehemann bekundete in einem Brief vom 19. Dezember 1841 seine Hoff- nung, dass die Truppen von Kandahar doch noch in Kabul eintreffen mögen. Dies nicht pri- mär, weil Sale um die vielen Menschenleben fürchtete, sondern aus Sorge, dass die Kabul- Garnison sonst Vertragsbedingungen annehmen müssten, welche der britischen Reputation in Indien schadeten.601 Der Brief gelangte allerdings erst am 4. Januar 1842 nach Kabul, als Lady Sale bereits wusste, dass jegliche Hilfe zu spät kam. Auch mit der Verstärkung aus Pe-

595 Vgl. Speitkamp 2012, S. 156. 596 Vgl. Etienne François/Hagen Schulze: Das emotionale Fundament der Nationen. In: Monika Flacke: Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama. Koehler & Amelang: München 2001, S. 20f. 597 Vgl. Speitkamp S. 156f. 598 Sale 1843, S. 348 (16.05.1842). 599 Sale 1843, S. 142 (27.11.1841). 600 Sale 1843, S. 199 (24.12.1841). 601 Vgl. Sale 1843, S. 217f. (04.01.1842).

100 schawar konnte Florentia Sale zu diesem Zeitpunkt nicht mehr rechnen. Bereits am 26. Dezember notierte sie: „It is […] impossible that they can arrive here in time to save us from either a disgraceful treaty, or a disastrous retreat.“602 Einen Tag später unterzeichneten Elphinstone, Shelton, Antequil, Chambers und Major Pottinger einen Vertrag, zu dem Lady Sale meinte: „No one but themselves exactly knows what this same treaty is; further than that it is most disgraceful!” Mit der Vernichtung praktisch der ganzen Armee auf dem Rückzug und der Gefangennahme der Überlebenden trat nach Florentia Sale der schlimmstmögliche Fall ein. Grossbritanniens Reputation war stark geschädigt: „Our honour is tarnished in the sight and opinion of savages.“603 Aufgrund des Ehrenkodexes, der vorschrieb, dass geschä- digtes Ansehen nur von Männern wiederhergestellt werden konnte, hatte Lady Sale kaum Möglichkeiten, etwas für die Reputation ihres Mutterlandes zu tun. 604 Ihre Machtlosigkeit kommt unter anderem in den scharfen Verurteilungen derjenigen Offiziere und Truppen zum Ausdruck, die sich nach Lady Sales Meinung ihres Ranges und Landes unwürdig verhalten hatten (vgl. Kapitel 4.1.1). Wie Florentia Sale reagieren würde, erfuhr ihre Leserschaft allerdings: Gen. Nottʼs force should march up to Ghuznee; release the prisoners there; and then that a simultaneous movement should take place of Nottʼs and Pollockʼs forces upon Cabul. Once again in power, here, I would place Akbar, Mahommed Shah, and Sultan Jan hors de combat; befriend those who befriended us, and let the Affghans have the Ameer Dost Mahommed Khan back, if they like. He and his family are on- ly an expense to us in India; we can restore them, and make friends with him. Let us first show the Affghans that we can both conquer them, and revenge the foul murder of our troops; but do not let us dishonour the British name by sneaking out of the country, like whipped Pariah dogs.605

Nach Lady Sale hätte die Armee ihr Ansehen auch noch während dem Rüchkzug wahren können, hätte man auf Sturts Vorschlag gehört: Had we retreated, as poor Sturt proposed, withouth baggage, with celerity (forced marchest o get through the snow), and had the men stood by us (a doubtful point, – they were so worn out and dispirited), we might have figured in history.606

Ihr schwebte das Beispiel des griechischen Feldherrn Xenophon vor, der seine Söldnerar- mee im Winter 401/400 v.Chr. von Cunaxa durch Mesopotamien und Anatolien zurück nach Griechenland führte.607 Xenophon schrieb anschliessend ein Buch über den „Rückzug der 10‘000“, das spätere Feldherren, wie Alexander den Grossen, aber auch Schriftsteller, etwa

602 Sale 1843, S. 205 (26.12.1841). 603 Sale 1843, S. 401 (21.08.1842). 604 Vgl. Richter 1991, S. 101. 605 Sale 1843, S. 400f. (21.08.1842). Vincent Eyre sprach in diesem Zusammenhang bildhaft von „events which will assuredly rouse the British Lion from his repose“. (Eyre 1843, S. viii.). 606 Sale 1843, S. 401 (21.08.1842). 607 Vgl. Sale 1843, S. 401 (21.08.1842).

101 Samuel Johnson oder Tolstoi, massgeblich beeinflussten. Obwohl die griechische Armee kei- nen Krieg gewonnen hatte, erlangte sie durch ihren geschichtsträchtigen Gewaltmarsch Ruhm und Ehre. 608 Eine Aktualisierung dieser hervorragenden Leistung der griechischen Söldner durch die britischen Soldaten hätte nach Florentia Sale daher auch der britischen Armee Vor- bildcharakter anstatt Demütigung und Schande verliehen. Lady Sale war sich bewusst, dass Grossbritannien moralisch über Afghanistan stand. Wie ungehorsame Kinder mussten die Aufständischen ihrer Meinung nach bestraft und in die Schranken zurückgewiesen werden. Bei einem erfolgreichen Gegenangriff der Briten am 10. November 1841 schrieb sie deshalb: „The events of to-day must have astonished the enemy after our supineness, and shown them that, when we have a mind to do so, we can punish them.“609 Mit der Strafe sollten die Afghanen einerseits spüren, dass ihnen Grossbritannien überlegen war, andererseits handelte es sich auch um eine Form von Rache, welche die briti- sche Ehre wiederherstellen sollte. Die Rache, als aktive Handlung gehörte klar in den Ver- antwortungsbereich der Männer. Wie Ursula Richter aufzeigt, verletzte eine Frau, die Rache übte, die gesellschaftliche Ordnung.610 Während von Männern gefordert wurde, dass sie Ge- nugtuung erlangten, war bei den Frauen dieselbe Handlung verpönt: Sie galten als rachsüch- tig, als hinterhältig, boshaft, neidisch oder missgünstig.611 Dass Florentia Sale vor der Abreise in Badiabad eine Truhe mit Gift zurückliess, in der Hoffnung, dass die Afghanen daran ster- ben würden, passt daher nicht ins Bild der vorbildlichen Britin.612 Die Handlung kann höchs- tens von Lady Sales Frust darüber zeugen, dass die britischen Männer nicht genügend für die Ehre ihrer Nation einstanden. Wie unter Kapitel 4.1.3 gesehen, war es auch nicht das einzige Mal, dass sie sich eher männliche Verhaltensweisen aneignete, wo diese sonst fehlten. Alles in allem wird Lady Sale sie als „a particularly doughty, dutiful, and self-assured individual“ beschrieben, die die Bezeichnung „Ornament of Empire“ verdiente.613 Die Afghanen hingegen schienen nicht über dasselbe Ehrverständnis zu verfügen wie die Briten. Als Taj Mahommed Khan Sturt und Lady Sale eindringlich vor den Aufständischen warnte und ihnen eine schriftliche Freundschaftserklärung als Schutzbrief anbot, lehnten sie dankend ab. Lady Sale schrieb:

608 Vgl. dazu: Robin Lane Fox: The long march. Xenophon and the Ten Thousand. Yale University Press: New Haven/London 2004, S. 1–3. 609 Sale 1843, S. 92 (10.11.1842). 610 Vgl. Richter 1991, S. 100. 611 Vgl. Richter 1991, S. 18. 612 Vgl. Sale 1843, S. 319 (10.04.1842). 613 Robinson in Sale 2002, Foreword S. viii.

102 It is difficult to make these people understand how a proceeding, which was only intended to save a man’s life, conjointly with that of his wife and mother, can in any way affect his honour.614

Eine ähnliche Absage aus Gründen der Ehre erteilte Captain Johnson Mahommed Akbar Khan, als dieser ihm auf dem Rückzug anbot, drei seiner besten Freunde unter seinen Schutz zu nehmen: Gladly as he would have saved his individual friends, he was under the necessity of explaining to the Sirdar that a sense of honour would prevent the officers deserting their men at a time of such imminent peril.615

Eine ehrenhafte Haltung war nach Florentia Sale also auch dann geboten, wenn das eigene Leben oder das der Mitmenschen geopfert werden mussten. Als Florentia Sales Negativbei- spiel gesehen werden kann Mrs. Wade. Sie hatte indische Vorfahren und war die Frau eines britischen Unteroffiziers. Zusammen mit anderen Soldatenfamilien und Bediensteten wurde sie im April 1842 in Badiabad zurückgelassen616 und versuchte Berichten Mackenzies, Eyres und Florentia Sales zufolge ihr eigenes Leben auf Kosten der anderen zu retten. Sie heiratete einen Afghanen, der in Mahommed Shah Khans Diensten stand und bekehrte sich zum Is- lam.617 Als Mrs. Wade von den Fluchtplänen einiger Soldaten erfuhr, verriet sie das Vorha- ben ihren neuen afghanischen Vertrauten, woraufhin etliche Soldaten umgebracht, einige wurden als Sklaven verkauft und die anderen unter miserablen Bedingungen gefangengehal- ten wurden. Die abtrünnige Frau ging so weit, dass sie ihrem afghanischen Ehemann preis- gab, wo sie zu einem früheren Zeitpunkt Sergeant Wade ein Goldstück in die Schuhe genäht hatte.618 Dieses wurde sogleich konfisziert und auch die anderen Soldaten wurden nach ver- steckten Schätzen durchsucht. Ausserdem nahm Mrs.Wade den kleinen Seymour Stoker in ihre Obhut, den sie so stark misshandelte, dass er starb.619 Zusammengefasst hatte Mrs. Wade ihr Land, ihre Religion und ihre Familie verraten, war eine schlechte Pflegemutter und setzte das Leben ihrer Leidensgenossen absichtlich aufs Spiel.620 Lady Sale schloss ihren Bericht über die Vorkommnisse in Badiabad mit den Worten: „Of so incorrect a personage as Mrs. Wade I shall only further say, that she is at Mahommed Shah Khanʼs fort with her Affghan lover; and has taken with her young Stoker.“621

614 Sale 1843, S. 187 (20.12.1841). 615 Sale 1843, S. 271 (12.01.1842). 616 Vgl. Mackenzie 1884, Bd. 1, S. 264. 617 Vgl. Eyre 1843, S. 313. 618 Vgl. Eyre 1843. S. 313. 619 Vgl. Mackenzie 1884, Bd. 1, S. 266. 620 Vgl. Eyre 1843, S. 313. 621 Sale 1843, S. 376 (26.06.1842). Ob Mrs. Wade tatsächlich eine so boshafte Frau war, kann trotz der drei übereinstimmenden Berichte nicht mit Sicherheit gesagt werden. Ihre indische Abstammung machte sie be- reits einer niederen Verhaltensweise verdächtig. Die Angst, zurückgelassen und vergessen oder als Sklavin

103 Umso positiver erschien Florentia Sale: Im Gegensatz zu Mrs. Wade war sie ihrem Vater- land wie auch ihrem Ehemann treu, unterstützte stets ihr Tochter und den Schwiegersohn und sie verlor nie den Mut und die Zuversicht, dass Grossbritannien siegreich sein würde. Indem Lady Sale in ihrem Tagebuch vorbildliches Verhalten lobte, schändliches Betragen verurteilte und sich selbst als unerschrockene Britin gab, die ihrer Nation stets treu blieb, übte sie auch in den abgeschiedensten Tälern Afghanistans die Rolle als nationale Moralistin und vorbildli- che Repräsentantin Grossbritanniens aus.

4.2 WE MIGHT HAVE FIGURED IN HISTORY – DAS TAGEBUCH ALS KOLLEKTIVE ERINNERUNG

Tagebücher können unangenehme Erinnerungen bereinigen.622 Dies geschieht einerseits durch Selektion dessen, was beschrieben werden soll, andererseits dadurch, wie das gewählte Ereignis beschrieben wird. Die tatsächliche Wirklichkeit wird in diesem Prozess durch die vom Autor gewählte Wirklichkeit ersetzt. Astrid Erll nennt deshalb historische Quellen „kul- turelle Artefakte, die vergangene Wirklichkeit nicht widerspiegeln, sondern immer schon perspektivisch deuten“623. Kagle und Gramegna bezeichnen aus demselben Grund Personen, die Tagebücher schreiben als „mythmakers“624: Sie kreieren zeitlose Quellendokumente, die nicht nur die Interpretation der Vergangenheit und Gegenwart beeinflussen, sondern auch diejenige der Zukunft.625 Dies trifft auch auf Florentia Sales Tagebuch zu. Sie bestimmte, wie sie ihre eigene Person darstellen wollte, in welchem Licht ihre Mitmenschen erscheinen sollten und welche Bege- benheiten und Beobachtungen sie als erinnerungswürdig empfand und daher schriftlich fest- hielt. Das Tagebuch beinhaltet aber nicht nur eine Auflistung von Fakten in chronologischer Reihenfolge, sondern setzt diese durch seine narrative Struktur in einen sinnvollen Zusam- menhang. Indem Florentia Sale die Ereignisse interpretierte und ihnen Bedeutung gab, liefer- te sie eine Erklärung für die schmachvolle Niederlage Grossbritanniens.626 Doch weshalb ist eine Gemeinschaft daran interessiert, eine Demütigung in Erinnerung zu behalten? Einen

verkauft zu werden, war sehr real und ihr Entschluss sich durch Heirat das Leben zu retten, daher nachvoll- ziehbar. Ob sie tatsächlich die Soldaten verraten hatte und Seymours Tod verursachte, kann sowohl der Wahrheit entsprechen als auch davon zeugen, dass sie als Vaterlandsverräterin für alles Unglück verantwort- lich gemacht wurde. 622 Vgl. Kagle/Gramegna in: Bunkers 1996, S. 51. 623 Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. [2004], 2. Auflage, J.B. Metzler Verlag: Stuttgart/Weimar 2011, S. 42. 624 Vgl. Kagle/Gramegna in: Bunkers 1996, S. 39. 625 Vgl. Kagle/Gramegna in: Bunkers 1996, S. 39. 626 Vgl. Aleida Assmann: Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenie- rung. C.H. Beck: München 2007, S. 150.

104 Erklärungsansatz liefern François und Schulze, indem sie darauf hinweisen, dass sich Erfah- rungen mit traumatischem Charakter besonders tief ins Gedächtnis einprägen.627 Es stellte sich also nicht die Frage, ob die Zerstörung der britischen Armee erinnert wird, sondern wie. Die Antwort, die Lady Sales Tagebuch auf diese Frage liefert, ist deutlich: Die britische Ar- mee hatte zwar eine blutige Niederlage erlitten, diejenigen aber, die überlebten, hatten sich ehrenvoll verhalten. Wenn auch viele Offiziere versagten und tausende von Soldaten ihr Le- ben verloren, so blieben doch Florentia Sale und ihre Familie, sowie die restlichen Offiziers- frauen standhaft und der britischen Krone auch unter Lebensgefahr treu. Diese Interpretation der Ereignisse bildete eine fruchtbare Grundlage für die kommenden Generationen, welche sich einerseits am vorbildlichen Verhalten Lady Sales orientieren, andererseits die Leiden der Ahnen rächen sollten.628 Durch das kollektiv erlittene Leid hatte Grossbritannien mit Afgha- nistan ein neues Feindbild gewonnen, das den nationalen Zusammenhalt innerhalb der Ge- meinschaft nicht gefährdete, sondern im Gegenteil stärkte. Mit der Veröffentlichung des Tagebuches wurden Lady Sales subjektive Kriegserlebnisse Teil der kollektiven Erfahrung.629 Hatte sich Florentia Sale als Repräsentantin Grossbritan- niens mit ihrer Nation identifiziert, geschah nun der umgekehrte Prozess: Die Nation identifi- zierte sich mit Lady Sale. Sichtbar wird dies etwa daran, dass ihr Schicksal bereits während der Gefangenschaft mit Interesse verfolgt wurde. Die Briefauszüge, welche indische Zeitun- gen abdruckten, lösten unter den Lesern ausführliche Debatten um ihre Person aus. Lady Sa- le, die einige Ausgaben mit entsprechenden Leserbriefen zu lesen bekam, meinte dazu: The late newspapers have not a little amused me. They show that the editors catch at every expression, used in any letters they have read; or on any comments they hear on news from Affghanistan. A regular controversy has arisen between one, who asserts that Lady Sale in her letters evinces a strong preposses- sion in favour of Mahommed Akbar Khan, and another, who thinks Lady Sale wrote, as she did, because she was a prisoner: to which the first rejoins, that he does not think Lady S. would, under any circum- stances, write that which was false.630

Bereits zu dieser Zeit wurde Lady Sale als Heldin gefeiert. Immer noch Bezug nehmend auf die Leserbriefe schloss sie ihren Kommentar mit den Worten ab: Nothing can exceed the folly I have seen in the papers regarding my wonderful self; – how I headed the troops, &c. &c. […] certainly I have thus headed the troops; for the chiefs told me to come on with them for safety sake: and thus I certainly did go far in advance of the column; but it was no proof of valour, though one of prudence.631

627 Vgl. François/Schulze in: Flacke 2001, S. 28. 628 Vgl. François/Schulze in: Flacke 2001, S. 28. Gelegenheit dazu erhielten sie vierzig Jahre nach der ersten Invasion in Afghanistan: Der Zweite Anglo-Afghanische Krieg dauerte von 1878–1880, mit der Folge, dass die Afghanen die Kontrolle über ihre Aussenpolitik den Briten übergeben mussten. (Vgl. zum Zweiten Anglo-Afghanischen Krieg O’Ballance 1993, S. 29–49). 629 Vgl. Erll 2011, S. 125. 630 Sale 1843, S. 399f. (21.08.1842). 631 Sale 1843, S. 408 (21.08.1842).

105

Lady Sale überlebte nicht nur die Schrecken des Krieges unbeschadet, es gelang ihr auch, Ansehen und Respekt ihrer eigenen Person der Nation zu bewahren. Wenn auch General Elphinstone mit seiner Armee nicht als britischer Xenophon in die Geschichte einging, so konnte doch Florentia Sale als Heldin aus der Niederlage hervorgehen. Ihre heroische Ge- schichte wurde zur heroischen Geschichte Grossbritanniens. Als sie mit Ehemann und Toch- ter im Juli 1844 nach England zurückkehrte, berichtete The Times: The inhabitants vied with each other in offering their congratulations, while the church bells poured forth their merriest strains of harmony to welcome the gallant veteran and his truly courageous lady to their native land after so many actions and “hairbreadth” scapes by flood and field.632

Grossbritannien erlebte zwar eine Niederlage, nicht zuletzt dank Lady Sale war es aber ei- ne ehrenvolle.

5 SCHLUSS

Florentia Sale hatte in Indien über Jahrzehnte das komfortable Leben einer angesehenen Offiziersgattin geführt. Sie verfügte über eine stattliche Anzahl an Hausangestellten, hatte ein ansehnliches Angebot an kulturellem Zeitvertrieb und genoss dank der Fruchtbarkeit des Landes eine vielfältige Küche. Dieses Leben versuchte das Ehepaar Sale zusammen mit den anderen britischen Offizieren und deren Familien auch in Kabul aufzubauen. Schien dies den britischen Invasoren zunächst gelungen zu sein, so wurde allerdings die frisch errichtete Ko- lonialgesellschaft mit dem Aufstand vom November 1841 in ihrem Fundament erschüttert. Von nun an begann für Lady Sale ein Leben der Entbehrung und ständigen Bedrohung. Wäh- rend der Belagerung informierte sie sich zwar so gut wie möglich über die Ereignisse, aktiv zur Konfliktlösung beitragen konnte sie allerdings nicht. Auf dem Rückzug kämpfte sie um ihr nacktes Überleben und konnte froh sein, wurde sie mit den anderen Frauen und Kindern Mahommed Akbar Khan übergeben. Ansonsten wäre sie mit Sicherheit gestorben. Während der Gefangenschaft war ihr Bewegungsraum äusserst eingeschränkt, zudem wusste sie nie, ob sie mit den anderen Gefangenen demnächst getötet, verkauft oder freigelassen werden wür- den. Wie alle Frauen in Geiselhaft beschäftigte sich damit, Hängematten für die Kranken zu basteln, Schlafmatten zu flechten, Kleider zu nähen und die Wäsche aufzuhängen. Dank den geschickten Verhandlungen von Major Pottinger und dem für Grossbritannien positiven Kriegsverlauf wurde Lady Sale zusammen mit den anderen Geiseln im September 1842 wie-

632 The Times, 26.07.1844. Zitat aus Macrory in: Sale 2002, S. 158.

106 der freigelassen. Eine Heldentat als aktive Handlung hatte Florentia Sale mit grosser Wahr- scheinlichkeit nicht vollbracht. Sie war keine Jeanne d’Arc, die eine ganze Armee in den Krieg führte und auch keine Mutter Theresa, die selbstlos ihr Leben den Schwächsten widme- te. Wieso wurde ausgerechnet Florentia Sale als Heldin des Krieges gefeiert und gilt heute noch als Referenzpunkt der öffentlichen Wahrnehmung? Was Lady Sale in erster Linie auszeichnete, war die Tatsache, dass sie auch in höchster Lebensgefahr standhaft blieb: Während erfahrene Offiziere angesichts der akuten Bedrohung komplett Handlungs- und Entscheidungsunfähig blieben und tausende von kampferprobten Männern Opfer der afghanischen Aufständischen wurden, konnten Florentia Sale weder Kriegshandlungen noch Hunger, eisige Temperaturen, Naturkatastrophen oder Krankheiten etwas anhaben. Lady Sale wusste auch unter widrigsten Bedingungen so zu reagieren, dass sie weder sich selbst noch die Ehre ihrer Nation verriet. Dabei spielte das Tagebuch eine wesentliche Rolle. Der Akt des Schreibens half Florentia Sale ihre eigene Situation zu reflektieren. Dadurch war sie sich nicht nur der Bedeutung der Ereignisse stärker bewusst als andere, sondern konnte auch ihre eigene Position darin einord- nen. Die genauen Beobachtungen des Geschehens um sie herum und die guten Kenntnisse von Militär und Politik ermöglichten es ihr, die Gefahr schon früh zu erkennen und sich dar- auf einzustellen. Die vielen im Tagebuch geschilderten Befürchtungen, welche sich später bestätigten, scheinen diese Annahme zu untermalen. Der Gebrauch von Ironie und die Annäherung an fiktive Texte halfen, den Druck hoch an- gespannter Situationen abzubauen. Nebst den stilistischen Eigenarten, die den Umgang mit unmittelbarer Bedrohung erleichterten, konnte Lady Sale durch das Tagebuchführen auch in konkreter Weise ihre Identität bewahren. Da ihr Handlungsspielraum in Realität stark limi- tiert war, übertrug sie ihre sozialen Rollen in das Tagebuch. Dort beschrieb sie ihre Meinung zum Kriegsgeschehen, ihren Eindruck vom weitgehend noch unerforschten Land und seinen Leuten, ihre Haltung als sozial hochstehende Frau (etwa, wenn sie sich darüber empört, nicht nach ihrer Meinung gefragt worden zu sein) und ihre Gedanken zur Ehre der Nation. Das Tagebuch hatte daher unterschiedliche Funktionen, die jedoch alle der Selbstvergewisserung dienten. Dank der Veröffentlichung ihrer Briefe in indischen und britischen Zeitungen war Lady Sale bereits während der Geiselhaft zu einer öffentlichen Person geworden. Sie war die Frau eines hoch angesehenen Generals, die sich als eine der wenigen Überlebenden in der Gewalt der Afghanen befand. Die Leserbriefe, welche über Florentia Sale verfasst worden sind, zei- gen schon während der Geiselhaft, dass ihre Befreiung einen symbolischen Gehalt haben

107 würde. Sie verkörperte als Repräsentantin Grossbritanniens ihre Nation: Die Rettung Lady Sales bedeutete zugleich die Rettung der nationalen Ehre. Das Tagebuch liefert die tragische Geschichte der Zerstörung einer Armee. Es ist aber auch eine Heldengeschichte: diejenige von Lady Florentia Sale, die Angriffen jeglicher Art trotzte und glorreich aus dem Feuer des Gefechts hervortrat. Dieser Ruhm dauerte bis zu ih- rem Tod und darüber hinaus. 1853 fuhr sie zur Kur nach Südafrika, wo sie noch im selben Jahr, am 6. Juli 1853 starb. Auf ihrem Grabstein auf dem Church of England Friedhof in steht: „Underneath this stone reposes all that could die of Lady Sale.“633 Heute ist Florentia Sale als Person zu einem grossen Teil in Vergessenheit geraten. Was bleibt, ist ihre Geschichte. Praktisch alle, die sich mit dem Rückzug der britischen Armee von Kabul nach Jellalabad beschäftigen, betonen, dass niemand die Ereignisse besser erzählt, als Florentia Sale.634 Das Tagebuch ist zum Mythos geworden. Unabhänging von den Entste- hungsumständen, weitgehend losgelöst von seiner Autorin und absolut unhinterfragt wird es als wahr angenommen. Nach wie vor besteht daher ein grosser Forschungsbedarf. Bereits ihre Biografie lässt vieles offen: Fragen nach Geburtsjahr, Wohnorten und Kindern wurden bis jetzt nur ungenau beantwortet. Ob nebst ihrem Tagebuch und dem unveröffentlichen Notiz- buch noch andere von ihr verfasste Dokumente überliefert sind, ist ebenso unklar. Wie die vorliegende Analyse ausserdem gezeigt hat, gibt es noch keine lückenlose Transkription des Manuskripts. Bereits dessen genaue Untersuchung könnte viele aufschlussreiche Fragen be- antworten: Woher stammte die zweite Handschrift? Wer hatte die Möglichkeit, das noch un- veröffentlichte Manuskript durchzulesen und eventuell zu verändert? Wer entschied, dass an manchen Stellen Namen durch einen Strich ersetzt wurden und aus welchem Grund? Wer profitierte von der Veröffentlichung und wer nahm Schaden davon? Hatte Kaye Recht damit, dass Lady Sale Teile von einem anderen Tagebuch abgeschrieben hatte? Der Vergleich mit anderen Augenzeugenberichten könnte nicht nur die Frage des Plagiats beantworten, sondern auch aufschlussreich darüber sein, wie Lady Sale von ihren Zeitgenossen wahrgenommen wurde. Des Weiteren fehlt eine systematische Analyse von Medienberichten, welche zu Lady Sale geschrieben worden sind. Gab es auch Negativstimmen? Wie oft wurde über sie berich- tet? Wurde sie beim Zweiten und Dritten Anglo-Afghanischen Krieg wieder in Erinnerung gerufen? Welche Rolle spielte Lady Sale in der englischen Frauenrechtsbewegung? 2014 steht wieder ein Truppenabzug bevor. Diesmal müssen sich die Soldaten nicht durch Schnee und Eis kämpfen, sondern können mit Helikoptern und Flugzeugen nach Hause ge-

633 Macrory in: Sale 2002, S. 159. 634 Vgl. etwa Stewart 2011, S. 72.

108 bracht werden. Trotz offensichtlichen Veränderungen auf beiden Seiten gibt es eine auffal- lende Parallele: Ein weiteres Mal scheitert eine Grossmacht an der Intervention in Afghanis- tan. Was Lady Sale dazu sagen würde, kann nicht mit wissenschaftlichen Methoden heraus- gefunden werden. Einen zynischen Kommentar anbringen würde sie aber gewiss.

109 6 BIBLIOGRAFIE

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116 7 ANHANG

ANHANG 1

Lady Florentia Sale635

635 Vincent Eyre: Portrait of the Cabul Prisoners. [1843], 2. Aufl. Silk Road Books and Photos: London 2011.

117 ANHANG 2

Vocabulary of Afghan and Other Oriential Words636

Akukzye. The name of one of the great Afghan tribes. Aloo-baloo. The wild sour cherry. Aman. The cry for mercy--quarter. Ameer. Commander or chief. Ana. A small coin; sixteen of which make a rupee. Its value is about three halfpence. Ashurpee. A mohur--a gold coin. Its value is about thirty shillings English. Ayah. A female attendant--a nurse.

Bahadur. A bravo--a boaster or braggadocio; also a brave man--a hero. Bahadur (verb). To boast or brag. Bala Hissar. Upper citadel--royal palace. Barats. Legal documents--assignments--promissory notes. Barukzye. The name of one of the five great Dooranee tribes. Bash or bosh. Nothing--humbug. Bashee. A head-man. Bédanas. A sort of mulberry. Behmaru. The name of a village near Cabul. The word signifies "the husbandless." Bhanghys. Baggage.--Boxes. They are boxes hung at each end of a pole and carried on a man's shoulder. Bheestees. Water-carriers. Bhoosa or Boussa. Chopped straw--chaff. Bhoodkhees. Presents. Bildars. Excavators--sappers. Bourj or Burj. A fortified hill or tower. Bukshees. Gifts--presents--douceurs. Bukhraeed. A Mahommedan feast. The festival of the goat; held to commemorate the history of Abraham and Ishmael (Isaac). Bunneah. A trader--a corn-merchant or dealer in grain, flour, &c.

Cafila. A caravan--a convoy. Cass. A kind of furze. Caupoochees. Porters. Chaoney. An encampment--cantonments. Charpoys. A bed on four poles, with ropes crossed over them. Chattak. A measure for grain, &c. The 16th part of a seer, or about 2 ounces English. Chebootras. Small thick mats, on which slaves usually sit or squat. Chillum. The part of the hookah, or pipe, containing the lighted tobacco--hence used for the pipe itself. Chillumchee A washand-basin. Chiragh. A lamp. Chogah. A sort of cloak. Chokey. A police station. Chouk. A bazaar--a street. Also the portion of the taxes excused to the native Chiefs for keeping the passes open, and for keeping the tribes in check. Chowdry. The chief man or head of a bazaar. Chuddah. A sheet or veil. Chupao. A night attack--a surprise--a foray. Chupao (verb). To attack by night--to surprise by stealth. Chupatties. Unleavened cakes, made of ottah. Chuprassy. A messenger--a servant bearing a badge or brass plate. Chuttah or chatta. An umbrella or parasol. Compound. An enclosed space--the ground round a house. Cossid. A courier--an express--a foot messenger. Crore. Ten lakhs of rupees, or one million pounds sterling.

636 Sale 1843, S. ix.

118

Duk. Letter post. Dallies. Baskets for fruits, &c.--panniers. Dewan. A steward. Dhal. A kind of split pea--pulse. Dhooley. A palanquin for the sick. Dhye. Sour curds. Dooranee. The general name of the five great tribes; the Populzye--Barukzye--Nurzye--Barmizye and Abkhuzye. Durbar. Levee. Duffodar. A non-commissioned officer of cavalry.

Elchee. An ambassador--an agent. Eusofzyes. An Affghan tribe north of Peshawer.

Fakirs. Devotees--mendicants. Fatcha. The prayer for the reigning monarch--a part of the Mahommedan service; the reading of which is equiv- alent to doing homage. Feringhees. Europeans--Franks--foreigners. Fernez. Sweet curds. Fouj. An army.

Ghee. Clarified butter. Ghuzee or Ghazeea. A champion of religion--a fanatic. Gilzye. The name of a great Affghan tribe. Gobrowed. Dumbfounded--at a non-plus. Godowns. Storehouses--granaries. Golees. Balls--bullets. Golundaz. Artillerymen--literally, throwers of balls. Goor. Coarse brown sugar or molasses. Goorkha. A native of Nepaul. Gulas. Cherries.

Hamaum. A vapour bath--baths; commonly written Hummums. Haut. A measure equal to half a yard--a cubit. Havildar. A serjeant in the native troops. Hazir-Bashes. The king's body guard. The words imply "Ever ready." Hookm. An order--permission--the word of command. Hoosseinee-Angoor. A peculiarly fine sort of grape, of immense size, called "the bull's eye." Huft Kohtul. The seven passes. Hurkaru. A messenger.

Janbaz. The Affghan cavalry. Jee. Life--spirit--"with right goodwill." Jeerga. An assembly or council--a diet. Jemadar. A native officer holding the rank of lieutenant. Jhala. A raft. Jingals. Wall pieces, carrying a ball of about a quarter of a pound. Jorabs. Boots. Jung. The fight or battle. Juwans. Young men. Juzail. The long rifle of the Affghans. Juzailchees. Riflemen.

Kaffirs. Infidels. Kaloss. Safe--free. Finished. Kazanchez. A treasurer--a treasury. Keshmish. Raisins--grapes. Khan. A nobleman. In Cabul the title is assumed by every one. Khelluts. Dresses of honour.

119 Khootba. The prayer for the king. Kirkee. A wicket or window. Kos. A measure of distance, equal to about two English miles. Kote. A fort. Kotilla Taj-i. The name of a pass--literally, the crown of the mountains. Kotilla Murdee. The dead men's pass. Kujavas. Camel-panniers. Kulassy. A tent pitcher--a baggage servant. Kulma. The Mahommedan creed. Kuneh. A private dwelling. Kurtoot. The name of a village--literally, the donkey's mulberry. Kurwar or Khurwah. A measure; equal to 700 lbs English. Kuzzilbashes. Persians; or persons of Persian descent, residing in Cabul. Kyde. Prison. Kysee. The white apricot.

Lakh. One hundred thousand. Lakh of Rupees. Ten thousand pounds sterling. Larye. A battle--an engagement. Lascar. An attendant on guns, magazines, &c. Loonghee. The cloth of a turban. Loot. Plunder. Loot (verb). To sack--to plunder.

Mast. Curds. Maund. A measure of grain; about 80 lbs. English. Maush. A sort of grain. Meerza. A secretary--a Mahommedan writer. Meer Wyse. A teacher--the high priest. Mehmandar. A cicerone--a man of all work--a factotum. Mehter. A class of camp-followers--a sweeper. Mohur. A coin, generally gold; its value is about thirty shillings English. Moollah. A priest. Moong. Pulse. Moonshee. A secretary or interpreter. Muezzin. The call of the Faithful to prayers. Mushk. A leathern bag for holding water--a goat's skin. Musjid. A temple or place of worship.

Nagura. A set of drums which the natives beat to announce the presence of the king or any great chief. Naib. A deputy or lieutenant. Naich. A corporal in the native troops. Nal. A horse-shoe. Nalbunds. Farriers. Nalkee. A palanquin. Nans. Cakes of bread. Nawaub. A prince. Nazir. A master of the household. Neemchees. A kind of spencer made of sheep-skins. Neencha. A coat. No-roz. The Vernal Equinox. The Mohammedan New Year's Day. Nullah. The bed of a river; also used for a river. Numdas. Coarse felt carpets.

Ooloos. The tribes or clans. To summon the Ooloos, answers to our "calling out the militia." Oorsees. Open-work lattices. Ottah or Attah. Ground wheat--flour, or rather what is called pollard.

Palkee. A palanquin. Pall. A kind of tent.

120 Pesh Khedmuts. Attendants. Pillau. A dish of meat and rice. Posha Khana. An armoury. Poshteen. A sheep-skin; also a fur-pelisse. Pushtoo. The language of the natives of Afghanistan. Pyjania. Loose trowsers.

Raj. A government--a province. Rajah. A prince. Ressalah. A troop of horse. Rezai or Resaiz. A counterpane--a quilt. Rui-band. A veil. Rupee. A silver coin; its value is about two shillings English.

Saces. A groom. Sahib. Sir--master. Salaam. Salutation. To make salaam--to pay one's respects. Seer. A measure; about equal to two lbs. English. Shah Bagh. The king's garden. Shah Guzees or Shahghasses. The household troops--the " yeomen of the guard." Officers of the court. Shah-zada. A king's son--a prince. Shalu. Red cotton cloth from Turkey. Shikar. Field sports. Shikargurs. Hunting grounds--preserves. Shoke. A hobby--a mania. Shroffs. Native bankers--money changers. Shubkoon. A surprise at night. Shytan. The devil. Siah Sung. The black rock. Siahs. A large sect of the Mahommedans; opposed to the Soonees. Sipahees. The native Hindostanee troops. Sepoys. Sir-i-chusm. The name of a village--the words signify "the head of the spring." Sirdar. A general. The title assumed by Mahomed Akbar Khan. Sirdar-i-Sirdan. The chief of the generals. Generalissimo. Soonees. A large sect of the Mahommedans. Subadar. A native officer, holding the rank of captain. Sugs. Dogs. A term of contempt. Sungah. Breast work. Fortifications. Surda. A species of melon. The cold melon. Surwans or Surwons. Camel drivers--grooms. Setringees. A kind of small carpet. Suwars. Horsemen--troopers. Syud. The title of a chief of the Ooloos Syud. A holy man--a saint. Syuds. A sect of the Mahommedans; claiming to be the descendants of the prophet; and who therefore wear the green turban.

Tattoes. Ponies. Topes. Tombs--mounds--barrows. There are several in Afghanistan, built in the time of Alexander. Topshee Bashee. The commander of the artillery. "The master-general of the ordnance." Turnasook. The red plum. Tykhana. A cellar.

Usufzyes. An Affghan tribe north of Peshawer.

Vakeel. A deputy--a commissioner--one who acts or negotiates for another.

Wuzeer. Vizier. Wuzeerat. The office of vizier.

121 Xummuls. Coarse blankets.

Yaboos. Affghan ponies. Yaghi. Rebellions--in a state of rebellion--or of independence.

Zenana. A harem. Zerdaloos. Apricots. Zilzilla. An earthquake. Zubberdust. Overbearing--"with the strong arm." Zuna. A dwelling.

122 ANHANG 3

Karte des Great Game637

637 John Waller: Beyond the Kyber Pass. The Road to British Disaster in the First Afghan War. Random House: New York 1990, S. xx.

123 ANHANG 4

124

Brief von Florentia Sale an Robert Sale. Hügel oberhalb Tezin, 8. Mai 1842.638

638 BL IOR Mss Eur A 186-002.

125 ANHANG 5

Ausschnitt aus Lady Sales Tagebuch: 26. Januar–10. Februar 1842.639

639 BL IOR Mss Eur B 275-154.

126 ANHANG 6

Ausschnitt aus Lady Sales Tagebuch: Beginn der Einleitung640

Ausschnitt aus Lady Sales Tagebuch: 04. November 1841.641

640 BL IOR Mss Eur B 275- 003. 641 BL IOR Mss Eur B 275- 030.

127

Ausschnitt aus Lady Sales Tagebuch: 06. November 1841.642

Ausschnitt aus Lady Sales Tagebuch: 10. November 1841.643

642 BL IOR Mss Eur B 275- 033. 643 BL IOR Mss Eur B 275- 046.

128

Ausschnitt aus Lady Sales Tagebuch: 12.–13. Juni 1842.644

Ausschnitt aus Lady Sales Tagebuch: Abschriften von Briefen645

644 BL IOR Mss Eur B 275- 203. 645 BL IOR Mss Eur B 275- 262.

129 ANHANG 7

Kabul und Umgebung646

646 Johnson 2011, zwischen S. xv und 1.

130 ANHANG 8

Rückzugsroute von Kabul nach Jellalabad 1842647

Höhenprofil der Rückzugsroute

647 David 2006, S. x.

131 ANHANG 9

Afghanische Festung648

648 Barfield 2010, S. 37.

132 ANHANG 10

Gefangenenerklärung: 11. März 1842.649

649 Certificate with Signature, Given by European Prisoners in Kabul 1842, to one Bahu Khan. National Army Museum, London, SW3 4HT. Negative No. 23895. Aus: Collection Bibliotheca Afghanica, series John Burke, 1878–1880.

133 Anhang 11

HOHENLINDEN by: Thomas Campbell (1777-1844)650

On Linden when the sun was low, All bloodless lay the untrodden snow, And dark as winter was the flow Of Iser, rolling rapidly.

But Linden saw another sight When the drum beat, at dead of night, Commanding fires of death to light The darkness of her scenery.

By torch and trumpet fast arrayed Each horseman drew his battle blade, And furious every charger neighed, To join the dreadful revelry.

Then shook the hills with thunder riven, Then rushed the steed to battle driven, And louder than the bolts of heaven Far flashed the red artillery.

And redder yet those fires shall glow On Linden's hills of blood-stained snow, And darker yet shall be the flow Of Iser, rolling rapidly.

'Tis morn, but scarce yon lurid sun Can pierce the war-clouds, rolling dun, Where furious Frank and fiery Hun Shout in their sulphurous canopy.

The combat deepens. On, ye brave, Who rush to glory, or the grave! Wave, Munich, all thy banners wave! And charge with all thy chivalry!

Ah! few shall part where many meet! The snow shall be their winding-sheet, And every turf beneath their feet Shall be a soldier's sepulcher.

650 Campbell in: Holland, 1912, S. 191–192.

134 ANHANG 12

Florentia Sale auf dem Rückzug. Im Hintergrund das brennende Militärlager651

651 Richard Thomas Bott: Lady Florentia Sale on retreat from Kabul, the Kabul disaster, January 1842. Signed and dated R T Bott pinxt 1844.

135

Lady Sale mit Turban652

652 William James Ward: Florentia (née Wynch), Lady Sale. National Portrait Gallery, London nach 1820.

136

Lady Sale auf dem Rückzug: 09. Januar 1842653

Befreiung von Florentia Sale und Alexandrina Sturt durch Robert Sale654

653 Richard Even: Lady Sale, 9 January 1842. Lithografie. National Army Museum, 1842. 654 Richard Even: Lady Sale’s and her daughters interview with General Sale. Lithografie. National Army Mu- seum, 1844.

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EHRENWÖRTLICHE ERKLÄRUNG

Ich erkläre ehrenwörtlich, dass ich meine Masterarbeit selbstständig und ohne unerlaubte fremde Hife verfasst habe.

Fribourg, 30.08.2012

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Lebenslauf

Name : Weltert Vorname : Anna Katharina Geburtsdatum : 19.01.1985 Adresse : Bühlmoos 3632 Niederstocken Telefonnummer : 079 837 20 90 E-Mail Adresse : [email protected]

Ausbildung Ab 2009 Master in Geschichte und Germanistik an der Universität Freiburg 2008-2009 Studium der Geschichte an der University of Ottawa, Kanada 2005-2008 Bacheolor-Studium der Germanistik, Sozialanthropologie und Ge- schichte an der Universität Freiburg 2000-2004 Gymnasium Thun-Seefeld 1997-2000 Sekundarschule Wimmis 1991-1997 Primarschule Niederstocken

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