Spionage und Landesverrat in der Schweiz

Karl Lüönd

Spionage und Landesverrat in der Schweiz

Band 1

RINGIER Mitarbeiterin des Autors: Irene Kellenberg Lektorat: Max Rutishauser Gestaltung: Walter Voser

© 1977 by Ringier & Co AG, Zürich Alle Rechte vorbehalten Ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus zu kopieren oder zu vervielfältigen Gedruckt in der Schweiz bei C. J. Bucher AG, Luzern ISBN 3 85859 0614

Eingelesen mit ABBYY Fine Reader Schweizer Nachrichtenchefs beliefern • Die Auftragsliste eines Spions 78 Inhalt die Deutschen – die Oberstenaffäre 37 Die Schliche der Agenten 80 • Dieser Punkt kennzeichnet spezielle Bei- Kein «einzig Volk von Brüdern» 38 • Blätter aus dem Untergrund 80 träge in Kästchen Sprachgenie kommt den Obersten «Pakbo» legt drauf 81 auf die Schliche 39 In Rados Netz 82 Wille will alles geheimhalten 40 «Von Pol zu Pol» im Wirrwarr • Ist der Staatsrat ein Spion? 40 der Zeichen 83 Vorwort 7 Der unglaubliche Rudolf Roessler 85 Roessler wird zum Nazi-Gegner 85 Emigration und Neubeginn 86 Roessler wird Agent 87 Verrat und Kleine Zettel – grosse Rat in der Geheimnisse 87 Aus Roessler wird «Lucie» 89 alten Schweiz Information ist keine Einbahn-

Bubenbergs Entscheidung 10 Verwirrung, Zersplitterung, Verrat 45 strasse 90 Die Sage vom Teufelsbund 11 • Wie sich die Dinge gleichen... 48 Rätsel um Roesslers Quelle gelöst? 91 Propaganda als Geheimwaffe 12 Der Untergrund regt sich 49 Falsche Fährten 92 Ideologie und Geldgier 12 Fünfte Kolonne im Aufbau 49 • Der schwarze Fleck im Honigglas 92 Hochschule der Politik 13 «Gestatten, Danner, - Zwei «Blitzmädel» gegen Hitler 94 Agent!» 50 Fünf Nachrichtenwege nach Luzern 95 • Merkwürdige Landkäufe 50 Bupo verstopft die beste Ein Attentat wie bestellt 52 Schweizer Nachrichtenquelle 96 Weil der Waffenschmuggel und • Das Netz Rado 96 Menschenraub 52 So fliegt das Rado-Netz auf 97 Mensch es Die Polizei packt zu 97 wissen will... : Gestapo-Agenten entführen ei- nen Reichsfeind 53 Rado taucht unter 98 Spionageweisheiten der alten Ein Mann ohne Pass 54 Vom Presseagenten zum Geheim- Chinesen 17 Riesenwirbel rettet Jacobs Leben 57 agenten 99 Das Orakel von Delphi – eine Die Schweiz verklagt Hitler- Die Schweiz unterstützt den anti- Spionagezentrale 17 Deutschland 58 faschistischen Widerstand 100 Josuas Spione von einer Dirne Nazi-Chef ermordet! 59 Allan W. Dulles: Spionagezentrum versteckt 18 Agent springt ab und stirbt 63 in der Berner Altstadt 103 Die beiden Fehler des Xerxes 20 Der Schweizer Nachrichtendienst ent- Sprössling einer illustren Familie 104 Nachrichtenfalle, die Welt- steht 64 Gespräche am Kaminfeuer 104 geschichte machten 21 • Spionage als Teil der politischen Strategie 64 Unser Schweizer Spion auf dem Velo 65 Nachrichten- Geheimdienst in Offiziershosen und Or- dienst – donnanzschuhen 67 Legende und Spion in : Dolce vita als Wirklichkeit Tarnung 68 • Nazi-Organisationen 68 • «Lassen Sie Hausamann

machen!» 108 «Wühlen Sie nur lustig drauflos» – Die Männer an der Spitze 109 der Fall Wohlgemuth (1889) 24 • «Muss man denn erst tot sein, um Sozialisten fliehen in die Schweiz 25 Die Recht zu haben?» 110 Bismarcks Diplomatie der unsichtbare Armeereformer – während des Drohungen 26 Front Aktivdienstes Nachrichtenchefs 111 • Rheinfelder Bezirksamtmann Der eigenwillige Patriot 116 gebüsst! 26 Geheimdienste – nie ganz durch- Das «Büro Ha» entsteht 117 Wohlgemuth läuft in die Falle 27 schaubar 73 Wertvolle Dienste ohne Berlin weiss es früher als Bern 28 Hitlers Schweizer Spionagekonzern 74 Bezahlung 119 • Der versteckte Abraham Levy 28 • Canaris’ Männer sind die besten 74 So arbeitet unser Nachrichten Grenzbesetzung 1914-1918: Die Wehrmacht-Abwehrstelle (AST) 75 dienst 120 Massenhaft Agenten, nachlässige Reichssicherheitshauptamt, Die Aufgaben 120 Polizei 30 Amt VI, Auslandsnachrichtendienst Die Organisation 121 Verschlungene Pfade... 31 (SD des RSHA) 75 Die Quellen 122 «II colpo di Zurigo» oder: Water- Reichssicherheitshauptamt, Erstaunliche Leistungen, grosse gate an der Bahnhofstrasse 32 Amt IV, Gestapo 76 Erfolge 124 Die Italiener werden nervös 33 So spionieren Hitlers Diplomaten 76 • Überall willige Helfer 124 Rückkehr zur Ehrlichkeit beginnt mit • «Sag alles, was du weisst!» 77 Ein Eingeweihter zieht Bilanz 125 Einbruch 35 Was die Deutschen wissen wollen 78 Zank und Pannen – auch das Ein Tresorknacker packt aus 35 «Pakbo» – ein Fuchs und viele gibt’s! 126 Abwehr bricht das Versprechen 36 Fallen 78 Gespaltener Nachrichtendienst 127 • Bürokrach begünstigt die Einbrecher 36 Der letzte grosse Fehler 128 5 Vorwort

Kaum ein anderes Thema hat die Phantasie der die Vermittlung vieler Kontakte und die kriti- verschiedensten Autoren so beflügelt wie die sche Durchsicht eines Teils des Manuskripts. Spionage. Vom Alten Testament über Mata Besonderer Dank gebührt auch Dr. Robert Vö- Hari bis zur Neutronenbombe reicht der Erfin- geli und seinen Mitarbeiterinnen vom wohldo- dungsgeist der Thriller-Schreiber und Dreh- kumentierten Institut für Politologische Zeitfra- buchverfasser, dieser Märchenerzähler des au- gen (IPZ) Zürich, Professor Dr. Walter Schau- diovisuellen Zeitalters. felberger (Universität Zürich), Professor Dr. Kaum ein anderes Thema erweist sich aber als Ernst Baumann (ETH Zürich), Bundesanwalt so schwer greifbar und verwirrend facetten- Dr. Rudolf Gerber und Dr. André Arnstein, reich, wenn man sich ihm mit dem leiden- Chef der Bundespolizei, für die Auskünfte, die schaftslosen Anspruch nähert, soviel wie mög- sie im Rahmen ihrer gesetzlichen Möglichkei- lich von der Wahrheit über tatsächliche Ge- ten beisteuern konnten, Alfred Frauenknecht schehnisse zu erfahren. (Aadorf) sowie den Kollegen Paul W. Bonnot Es liegt in der Natur von Spionage und Landes- (Bern), Werner Hungerbühler (Basel), Kurt verrat, dass sich jede erfolgreiche Tätigkeit auf Emmenegger (Zürich), Sergius Golowin (Inter- diesem Gebiet automatisch tarnt, dass jeder laken), Emil Lüthard (Zürich), Alphons Matt Handelnde seine Spuren verwischt und dem Er- (Zürich), Niklaus Meienberg (Zürich/Paris), folg zuliebe im dunklen bleibt. Im Prinzip er- Ludwig A. Minelli (Scheuren), Dr. Jost Willi möglicht nur das Versagen eines Akteurs einen (Hausen AG) und vielen andern, vor allem Dut- Einblick in die Wirklichkeit der Spionage! zenden von Lesern der Tageszeitung «Blick», Dieser Bericht ist der erste Versuch, eine eini- die mich nach dem Erscheinen einer Kurzfas- germassen gültige Übersicht über Spionage und sung dieses Berichts in Serienform mit zusätz- Landesverrat in der Geschichte der Schweizeri- lichen Hinweisen auf eigene Erlebnisse unter- schen Eidgenossenschaft herzustellen. Er ent- stützt haben. Nicht vergessen seien die vielen stand aufgrund Hunderter von teilweise unver- stillen Helfer in den Bibliotheken und Archi- öffentlichten Dokumenten, Berichten, Proto- ven, namentlich die ungewöhnlich hilfsbereiten kollen, Zeugenaussagen, Gerichtsakten und Mitarbeiter der Schweizerischen Landesbiblio- Gesprächen. Als Gewährsleute standen mir di- thek in Bern, der Zentralbibliothek in Zürich rekt Beteiligte, Betroffene, Experten, Forscher und des Schweizerischen Sozialarchivs in Zü- und Politiker zur Verfügung. Viele von ihnen rich, ohne die eine Fertigstellung dieses Be- möchten um keinen Preis genannt werden; ih- richts innert nützlicher Frist nicht denkbar ge- nen danke ich für das Vertrauen, das sie mir er- wesen wäre. wiesen haben. Herzlich danken will ich sodann Es liegt in der Natur der Sache, dass viele der dem Militärhistoriker Dr. Hans Rudolf Kurz, geschilderten Personen und Vorfälle auch wei- Stellvertretendem Direktor der Eidgenössi- terhin im Halbdunkel der Geschichte bleiben schen Militärverwaltung, für die vielen kennt- werden. nisreichen Hinweise, die geduldige Beratung, Karl Lüönd

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HUW Verrat und Rat in der alten Schweiz Eine historische Einleitung von Sergius Golowin

ie alten Eidgenossen waren überzeugt, dass ihre Herkunft alles andere denn einheitlich war. Alte DChroniken und Volkssagen, die man noch in der Gegenwart auffinden kann, weisen den einzelnen Ständen und ihren berühmtesten Sippen die verschiedenartigste Herkunft zu: Schweden, Hunnen, Goten, Ungarn, Tataren, Friesen, Sarazenen, Römer, Griechen usw. Es gab nach den alten Quellen eigentlich nur einen gemeinsamen Nen- ner – die übereinstimmende Liebe (zu den Freiheiten).

Als Verräter wurde Bürgermeister Hans Waldmann am 6. April 1489 in Zürich hingerichtet. Aber oft war in der Alten Eidgenossenschaft der Begriff des Verrats unscharf und der Vor- wurf des Verrats ein Vorwand für Intrigen und Machtpolitik.

9 Die Schweiz fügte sich eher langsam kennen wir, dass die Propaganda von Bubenberg wurde durch die aus allen möglichen Talschaften, Rit- schon vor Jahrhunderten fast wichti- ganze so peinliche Vorgeschichte des tergütlein, Städtlein, Klosterherr- ger war als die Macht der Kriegswaf- Burgunderkrieges für Jahrhunderte schaften zusammen. Es war dabei fen. für alle Politiker der eidgenössischen selbstverständlich die Regel, dass ein Wir verstehen nun, warum zum Bei- «Stände» zum Vorbild eines echten Teil eines wichtigen Geschlechts be- spiel der «österreichische» Ritter von Staatsmannes, der, ohne von irgend- reits «gut eidgenössisch» war, viele Hünenberg die Eidgenossen vor welchen «Pensionen» bestimmt zu von dessen Vettern und Schwägern «Morgarten» warnte, indem er ihnen sein, im Dienste des Volkes handelt – aber noch in einem Gebiet sassen, das mit einem über die Letzimauer ge- und der sogar Verleumdungen durch die Fürsten von Savoyen oder Habs- schossenen Zettel Ort und Tag des Mitbürger zu vergessen versteht. burg-Österreich als ihren «ewigen gegnerischen Vormarsches mit teilte. Die Sage behauptet, dass Adrian von Besitz» ansahen. Auf diese Weise errang der junge Bubenberg von Karl dem Kühnen So verwandt wie die politischen Füh- Bund der Alpentäler seinen überra- recht einträgliche Angebote erhielt, rer in beiden sich bekämpfenden La- schenden, bis heute sprichwörtlichen sich als echter Edelmann nicht dem gern war selbstverständlich auch das Sieg über eine überlegene, wohlgerü- ihm gegenüber so undankbaren «einfache Volk», nur dass es diese stete Heeresmacht! Bis Kaiser Maxi- «Schweizerpöbel» anzuschliessen, Beziehungen weniger gut aus milian sahen sich die Feinde der sondern ihm zu helfen, dem Adel Stammbäumen beweisen konnte als wachsenden Schweiz in der unange- überall seine Vorrechte zurückzu- die Ritter oder die städtischen Patri- nehmen Lage, «Schweizer mit schenken. Wir wissen tatsächlich, zier. Immerhin muss man wissen, Schweizern bekämpfen zu müssen»: dass die damaligen Berner ihre Stadt dass die Österreicher zu den ersten Sie mussten ihre Krieger unter Rit- als «Burgundens Krone» besangen, grossen Freiheitsschlachten unseres tern, Bürgern und Bauern suchen, die die burgundischen Herzöge dazu Landes ihre Heere meistens aus Län- in ihrem Geiste dazu neigten, die An- neigten, die Berner als Landsleute zu dern aufboten, die heute ebenso zur gelegenheit ihrer «Feinde» für die betrachten, und die im Umkreis des Schweiz gehören wie das Stamm- bessere zu halten. Adrian von Bubenberg entstandene schloss der österreichischen Fürsten, Stretlinger Chronik den Sitz Spiez als die Habsburg. Mittelpunkt des einstigen Burgunder- Bubenbergs Entscheidung Auf alle Fälle verzahnen sich die Be- reichs (888 bis 1032) ansah. Adrian sitzungen der Eidgenossen und ihrer Verrat zugunsten von Burgund wurde von Bubenberg konnte sich also ent- Gegner so unglaublich, dass viele ih- Berns grösstem Schultheissen, Adrian scheiden, wie er nur wollte – eine der rer Einzelheiten auch bei F achunter- von Bubenberg, vorgeworfen, und sich bekämpfenden Seiten hielt ihn so suchungen vollständig umstritten man verwies ihn, weil er gegenüber oder so für einen Verräter ihrer Sache: sind: Freund und Feind besuchten die der Kriegspartei seiner Heimatstadt Wie viele der vorzüglichsten Männer gleichen heiligen Stätten, Märkte, berechtigte Zweifel anbrachte, mit unserer Geschichte musste er damit in Jahresfeste. Man heiratete durchein- Schimpf und Schande aus dem Rat einer verworrenen Lage nach bestem ander, sprach häufig die gleiche und nach seinem Sitz Spiez. Umge- Wissen und Gewissen entscheiden. Er Mundart, sang die gleichen Lieder, kehrt wissen wir, dass es seine Geg- schlug sich sicher schweren Herzens hatte die gleichen Schicksale: «Eid- ner weniger aus Liebe zum Vaterland auf die Seite Berns und musste von genössisch» gewordene Ortschaften zu einem Kampf mit Herzog Karl den Mauern von Murten auf der Ge- träumten noch lange von einstigen kommen liessen, als vielmehr des- genseite eine Reihe von Verwandten engen Beziehungen zu glänzenden halb, weil sie regelmässig bedeutende erblicken... Die wirtschaftlichen Ver- Fürstenhöfen, umgekehrt hofften die Summen vom französischen König hältnisse des Ritters blieben nach dem Bauern der «Herrenländer», sich erhielten. Sieg bedenklich, seine Nachkommen möglichst bald der Schweiz anzu- Als dann der Krieg richtig ausbrach, litten unter schweren Schulden, und schliessen und so deren grössere Frei- sah sich Bern gezwungen, den kurz Adrian von Bubenberg ist ein zeitlo- heiten zu geniessen. Wenn wir die vorher mit allen Mitteln geschmähten ses Beispiel für den Politiker und Worte jener politischen Dichtungen Ritter um seine Hilfe zu bitten, auf Krieger, der den Reichtum von frem- anschauen, mit denen im ausgehen- dass er 1476 mit seiner kleinen Schar den Höfen seinem Leitbild opfert. den Mittelalter die Fürsten und die Murten verteidige und damit den zu- Eidgenossen die «feindlichen» Völ- erst alles andere als einigen Eidgenos- ker von der Richtigkeit ihres Stand- sen Zeit gebe, sich für den gemeinsa- punkts zu überzeugen versuchten, er- men Widerstand zu sammeln: Adrian

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Im Grenzbereich zwischen Geschäft und Verrat Während des Spanischen Erbfolge- derte seine Strafe erleiden.» bewegten sich die Reisläufer (links); hier ein kriegs (1701 bis 1714) war er nun mit Hier erkennen wir das wache politi- Söldnerzug nach der Luzerner Chronik von Diebold Schilling. Rechts: Ritter Adrian von dem Deutschen Reich verbunden, er- sche Gefühl, aus dem viele der grös- Bubenberg. hielt hohe militärische Titel und Eh- sten dichterischen Schöpfungen un- ren und – informierte gleichzeitig die seres Volkes, seine Chroniken und französische Seite, die ihn mit ihrem Sagen, entstanden sind: Die Sage vom Teufelsbund Wissen über sein Vorleben gründlich Mochte sich auch alles vor dem Nach dem selbstlosesten Schultheis- in den Händen hatte und über alle mächtigen Manne beugen, er zitterte sen von Bern folgte sein Gegenteil, Pläne und Heeresbewegungen ihrer doch mitten in seinem durch zweifel- Hieronymus aus der Sippe von Er- Feinde Bericht verlangte. hafte «Nachrichten» gewonnenen lach. In Frankreich heiratete dieser Als er 1748 starb, galt er als der reich- Golde, musste er sich doch vor jedem verarmte Edelmann aus dem seit Jahr- ste und mächtigste seines von Genea- hämischen Spitzel fürchten, der ihn hunderten mit Ruhm bedeckten Ge- logen gelegentlich auf die burgundi- wegen des Verrats gegenüber Reli- schlecht aus Liebe, wobei er – schen Könige zurückgeführten Ge- gion, Frau und Kind an unsichtbarer schrecklich genug in Zeiten der Reli- schlechts, von dem unzählige Vertre- Kette hatte, und damit sozusagen jede gionskämpfe – seinen Glauben wech- ter ihrem Lande unschätzbare Dienste Stunde seines äusserlich glänzenden selte! In seine Heimatstadt zurückge- geleistet, dafür aber meistens keiner- Daseins vergiftet finden. Wir können kommen, erzählte er kein Sterbens- lei Lohn verlangt hatten. nicht zweifeln – er machte seinen wörtlein über seine katholische Fami- Noch heute erzählen die Bauern aus scharfsinnigeren, von seinem Reich- lie, ehelichte die anscheinend alles der Gegend von Hindelbank, wie in tum nicht geblendeten Zeitgenossen andere als anziehende Tochter aus ei- gewissen Nächten die vergoldete Kut- den Eindruck von einem, «der dem nem steinreichen Geschlecht und sche des Hieronymus in der Nähe sei- Teufel sein Bestes verkauft hatte». stieg von da an von Stufe zu Stufe – nes Herrensitzes durch die Wege Aufzeichnungen französischer bis er der Schultheiss der mächtigen klappere. «Er hat Gottes Gebote ver- Gesandter gerade im 18. Jahrhundert Republik Bern und damit einer der gessen, hat dem Teufel sein Bestes, zeigen uns, was für ungeheure Sum- einflussreichsten Herren der Eidge- seine unsterbliche Seele, verkauft und men an eidgenössische Regierungs- nossenschaft war. muss jetzt schon über zwei Jahrhun-

ll vertreter ausgezahlt wurden, um dafür se Pädagoge Pestalozzi, zumindest am zweifelhafte Dienste zu erhalten. Oft Anfang, ein Anhänger der Revolution werden von den verschwiegenen Aus- war und in Paris zu deren Vorbild und ländern keinerlei Namen genannt – ihrem Ehrenbürger erklärt wurde. und man kann herumrätseln, wem Wir glauben aus unserer bescheidenen man wohl all die Beträge zuführte und Kenntnis der damaligen Schriften, ob diese nicht gelegentlich in die ei- dass genug Tatsachen existieren, um genen Taschen verschwanden ... an beiden Standpunkten einige Ver- Hier kam jene geschickt verbreitete besserungen anzubringen: Sowohl bei Stimmung von Erpressung, Beste- den Anhängern der Alten Eidgenos- chung und Korruption auf, die das senschaft wie bei den «revolutionä- Volk in die teilweise übertriebene ren» Anhängern der neuen «Helveti- Stimmung brachte, «es werde von sei- schen Republik» von Frankreichs ner Obrigkeit verraten», so dass den Gnaden gab es selbstlose Anhänger fremden Truppen beim Untergang der der Ideen; es gab aber auch genug ei- Alten Eidgenossenschaft 1798 in den gennützige Nutzniesser der ganzen mächtigsten Kantonen fast kein Wi- peinlichen Lage, die bereit waren, für derstand entgegengesetzt wurde; die eigene Machtstellung und Berei- selbst heute noch erzählt das durch cherung das Weiterbestehen ihrer gute wie fragwürdige Beispiele des Heimat zu opfern. Es hatte genug «re- Staatsdienstes geschulte Volk von be- volutionäre Patrioten», die in Paris Pestalozzi war am Anfang ein Anhänger der stimmten noch dastehenden Protz- Französischen Revolution. vor den rasch wechselnden Führern bauten und von immer noch bestehen- eine Würdelosigkeit ohnegleichen den Vermögen, sie seien durch ge- zeigten und bereit waren, vor franzö- bis zum russischen Zaren, marschier- heime Beiträge im 18. Jahrhundert sischen Herrschern jeden Landsmann, ten bekanntlich ebenfalls in die entstanden! der ihnen ihre Ämtlein streitig mach- Schweiz ein und nannten selbstver- te, schamlos zu verleumden. Als dann ständlich alle Anhänger Frankreichs unter Napoleon die heilige Republik Propaganda als Geheimwaffe käufliche Verräter. plötzlich zu einem neuen Kaiserreich Die Verwirrung war allgemein und Beim Untergang der Alten Eidgenos- wurde und Gerüchte aufkamen, der stürzte einen bedeutenden Teil des senschaft im Jahre 1798, so unter dem neue erste Mann Europas wolle die Volkes, das sich ursprünglich voll für Ansturm der Truppen der Französi- Schweiz wegfegen oder in ein Für- die Unabhängigkeit hatte einsetzen schen Revolution, wurde das Land stentum für irgendeinen seiner Günst- wollen, in eine vollständige Ratlosig- mit Propagandaschriften über- linge verwandeln, soll es genug «Pa- keit. Noch heute gibt es für jenes Zeit- schwemmt, die von den Vorwürfen trioten» gegeben haben, die sich ge- alter sozusagen zwei Schweizerge- des Verrates nur so wimmelten. Die gen entsprechende Gegenleistungen schichten, und ich hatte in meiner ehrwürdigen, vom ganzen Volk ge- mit einem solchen Wandel der Dinge Schulzeit das Glück, zwei entgegen- liebten Gestalten des Wilhelm Teil abgefunden hätten. und der Rütli-Eidgenossen wurden gesetzte Darstellungen hören zu dür- dauernd zitiert, oft zu entgegenge- fen: Es gibt ja Lehrer, für die ist der Ideologie und Geldgier setztesten Zwecken. Die Französi- siegreiche Einmarsch der Franzosen und damit die ganze «Franzosenzeit» sche Revolution machte Teil ja zu ih- Umgekehrt ist es kaum zu bezweifeln, eine schwer verschmerzbare Schan- rem Nationalheiligen, den sie mit dass es auch unter dem «Konservati- de, womit deren einheimische Mitar- Denkmälern und ziemlich kitschigen ven» genug Berater hatte, die rasch beiter samt und sonders erbärmliche Dichtungen feierte, und sie bezeich- bereit gewesen wären, die österreichi- Halunken sind; für die andern ist es nete die Regierungen der Kantone schen und die andern Feinde der Re- genau umgekehrt – die Anhänger der sehr vereinfachend als «Aristokra- volution für die Wiederherstellung der aus dem Westen einmarschierenden ten», welche die alten Freiheiten wie- «alten Ordnung» grosszügig zu beloh- Truppen sind echte «Patrioten», die der an die Habsburger und die andern nen: Der Gelehrte Carl Ludwig von allerlei Vorrechte abschaffen wollten Fürsten verschachert hätten. Die Ar- Haller zum Beispiel hasste meen dieser Fürsten, von Österreich und von einer modernen demokrati- schen Ordnung träumten. Sie verges- sen nicht, zu erwähnen, dass der gros-

12 später die in der Schweiz an die den verschiedenen Landesteilen be- gen Andersdenkende vor, sich mit an- Macht gelangten Radikalen so gründ- dauert – eins aber ist sicher: Das geblich mit ihnen «mitfühlenden» lich, dass er dem Wiener Hofrat ganze politische Antlitz von Europa ausländischen Mächten zu verbünden Friedrich Hurter vorschlug, Truppen hatte sich geändert. Anstelle verhält- und damit mit dem Risiko zu spielen, sollten in unser Land einmarschieren nismässig kleiner Staatsgebilde, wie dass die Unabhängigkeit ihres Volkes und die böse feindliche Partei stürzen. sie Deutschland und Italien noch ihrer Rechthaberei zum Opfer fiel. Als Gegenleistung sah er etliche lange aufwiesen, erstanden mächtige, Auch die Gründung des Bundesstaa- Landschaften vor; der von ihren Geg- von einer «zentralistischen» Verwal- tes, also das Ausschalten der halb- nern «befreiten» Eidgenossenschaft tung gelenkte, um die Vormacht über wegs unabhängigen Aussenpolitik in sollten Graubünden, Wallis, Neuen- das Abendland ringende «National- jedem Kanton, hat diese Schattensei- burg, Genf, das Bistum Basel, Tessin staaten». Die Verbindungen einzelner ten einer an sich erfreulichen Ent- und Schaffhausen abgeschnitten wer- Grenzkantone der Schweiz mit ein- wicklung zur Volksherrschaft selbst- den... zelnen benachbarten Fürstentümern verständlich nicht vollständig zu be- Leider muss man feststellen, dass sich hatten früher den andern Eidgenossen seitigen vermocht: Je grösser die Zahl in einigen dieser Kantone die Zu- Schwierigkeiten bereiten können; der Menschen eines Volkes ist, die tä- stände nach 1798 dermassen entwi- nun vermochten irgendwelche «Son- tig am Schicksal ihres Landes teilneh- ckelten, dass es zwischen Anfang und derbünde» Grossmächten das Recht men, desto bedeutender ist die Zahl Mitte des 19. Jahrhunderts tatsächlich auf einen Einmarsch zu geben und da- derer, die schweren Versuchungen Jahrzehnte gab, in denen sie fast in mit den ganzen Bund in den Unter- gegenüberstehen. Je leidenschaftli- ausländische Untertanenländer ver- gang zu reissen. Im Gegensatz zu den cher die allgemeine Diskussion um wandelt wurden. Auch E. Weinmann Völkern vieler Untertanenstaaten hat- Sachfragen geführt wird, desto denk- konstatiert für die Zeit der «Restaura- ten aber, trotz gelegentlicher Entar- barer wird es, dass einzelne oder tion» (1815 bis 1830), dass das Tessin tungen der «Republiken», verhältnis- ganze Gruppen «sich mit dem Teufel «kaum etwas Besseres als eine öster- mässig brei-te Schichten der Schweiz selber verbinden», um einen Sieg da- reichische Polizeiprovinz» war. die Leidenschaft der Politik gelernt; vonzutragen. 1817 beantragte Saurau, Österreichs in den Landsgemeinden der mehr Gelegentlich hat man solches Tun in Gouverneur in Mailand, die Aufstel- dem Hirtentum und dem Bergbauern- der Alten Eidgenossenschaft, genau lung eines österreichischen Zensors, tum ergebenen Kantone, teilweise wie in den Republiken des Altertums «ohne dessen Erlaubnis im Tessin auch in den Räten der Städte, war oder der Renaissance, auszuschalten nichts gedruckt werden sollte». Der «das Regieren» nicht nur die Angele- versucht, aber wenn man dies zu fleis- gleiche Saurau konnte nach Wien be- genheit von «Berufenen», sondern sig betrieb, zerstörte man durch das richten, dass sich hier die öffentlichen fast ein Sport für die Allgemeinheit: Bespitzeln eben das, was man zu ver- Behörden «zu dem niedrigsten und Wie von den Stadtstaaten des alten teidigen vorgab – die eigene Freiheit, schmutzigsten Geldinteresse herab- Griechenland, dieser Wiege der euro- die Unabhängigkeit der Meinungsbil- liessen». Dieser Gouverneur und päischen Demokratie, wird uns von dung im ganzen Volke. Metternich, sein berühmter Vorge- der Schweiz des 19. Jahrhunderts be- So sind die Geschichten vom politi- setzter, waren überzeugt, dass zum richtet, wie sehr sich das ganze Volk schen Versagen, wie sie in den Chro- Lenken solcher «Staatsleute» klin- bei Festen oder in Wirtshäusern «für niken der Kantone unseres Landes bis gende Geschenke wichtig seien: die Angelegenheiten der Öffentlich- ins 19. Jahrhundert so häufig zu sein «Nicht leicht dürfte sich eine Auslage keit» ereifern konnte. scheinen, für uns keine Schande, die politisch reichlicher verzinsen, denn Doch diese Freude des Volkes an der man totschweigen sollte: Eine Frei- wir sind häufigst in dem Falle, dieser Politik zeigte gewisse Schattenseiten, heit, die nicht auch missbraucht wer- Herren zu bedürfen.» die bereits Schriftsteller des Alter- den kann, ist keine Freiheit! Und ein tums ihren kleinen Republiken vorge- guter Überblick über die Entwicklung worfen hatten: Die Liebe zum eige- unseres Landes ist eine beinahe end- Hochschule der Politik nen Standpunkt, also zur Partei, konn- lose Fülle von Erfahrungen, die zeigt, Man hat die Gründung des Bundes- te so anwachsen, dass es immer wie- wie der politische Mensch in jeder nur staates, die in der Folge solcher Zu- der einzelne oder ganze Volksschich- denkbaren Lage versagen oder sich stände in den Kantonen vom Schwei- ten gab, die sozusagen wegen ihrer bewähren kann. zervolk beschlossen wurde, als Ideen ihr Land vergassen; sie zogen Schwächung einiger Eigenarten in dann gelegentlichen Niederlagen ge-

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Weil der Mensch es wissen will

Eine kleine Weltgeschichte des geheimen Nachrichtendienstes

oses sandte sie aus, das Land auszukundschaften. Er sprach zu ihnen: ‚Ziehet von hier durch das M Südland und steigt ins Gebirge. Achtet darauf, wie das Land beschaffen ist und das Volk, das es bewohnt; ob es stark oder schwach, wenig oder zahlreich ist, ob das Land fruchtbar oder schlecht, die Bevölkerung in Lagern oder Festungen wohnt, ferner, ob der Boden fett oder mager, mit Bäumen bepflanzt ist oder nicht. Zeigt euch mutig, bringt auch von den Früchten des Landes mit!‘ Moses 4, 13

Wer immer in der Weltgeschichte etwas erreichen wollte, benötigte Spione und Kund- schafter, so auch Moses, als er das auserwählte Volk in das Gelobte Land führte. Moses wusste, worauf es ankam, als sorgungsbasis des Landes (Wirt- meinde und zeigten ihnen des Landes er mit den Kindern Israels in der Wü- schaftsspionage). Sie sollten nicht Früchte.» ste unterwegs zum Gelobten Land bloss Informationen, sondern Beweise Die tüchtigen Söhne des Volkes Israel war. mitbringen: die Früchte des Landes hatten eine Rebe mit reifen Trauben, Er sandte von jedem der zwölf (Vertrauen ist gut, Kontrolle war einige Granatäpfel und Feigen mitge- Stämme des Volkes Israel einen schon damals besser!). Und falls es bracht. Ihren Bericht schlossen sie mit Mann, um das Land Kanaan zu erkun- hart auf hart gehen sollte: «Zeigt euch der sprichwörtlichen Verheissung: den; der Herr hatte es ihm befohlen. mutig...», hatte Moses gesagt, und «In das Land, wohin du uns gesandt Eigentlich hat Moses dabei viele nicht etwa: «Zeigt euch gesetzestreu!» hast, sind wir gekommen. Wirklich, wichtige Geheimdienst-Grundsätze Beim Geheimdienst hat zu allen Zei- es fliesst von Milch und Honig über; beachtet, die heute noch gelten. Er hat ten nur der Erfolg gezählt – die zehn dies sind seine Früchte.» sich nicht auf eine einzige Quelle ver- Gebote sind ausser Kraft gesetzt, es Ohne Spionage wäre die Weltge- lassen, sondern gleich zwölf Mann gilt einzig das elfte: Du sollst dich schichte ganz anders verlaufen, aber geschickt, und zwar die besten. Er nicht erwischen lassen! das ist reine Theorie: Noch kein gros- gab ihnen klare Aufträge, beschrieb Ganz abgesehen davon, dass der Herr ser Feldherr oder Staatsmann ist ohne den Weg, den sie nehmen sollten, und die Aktion beschützte: Bei so viel zuverlässigen Nachrichtendienst aus- die Dinge, die zu erkunden waren: Umsicht konnte es nicht schief gehen. gekommen. Wie sagte doch im 5. Stärke und Qualität der gegnerischen Wir lesen in der Schrift: Jahrhundert vor Christus der chinesi- Truppen sowie die Verfassung der Zi- «40 Tage später kehrten sie von der sche Weise Sun Tzu: vilbevölkerung (militärische und po- Erkundung des Landes zurück. «Vorauswissen ist der Grund dafür, litische Spionage), aber auch die Ver- Sie kamen zu Moses, Aaron und der dass der erleuchtete Fürst und der ganzen Gemeinde der Israeliten in die weise Feldherr den Feind schlagen, Wüste Paran nach Kades. Dort berich- wann immer sie ausziehen.» Josuas Spione bringen die Früchte des Gelob- teten sie ihnen und der ganzen Ge- ten Landes als Beweise zurück. (Aus der Kölner Bilderbibel des Heinrich Quentell, 1479.)

16 Spionageweisheiten der alten kehren. Die Parallele mit modernen Das Orakel von Delphi – eine Chinesen Geheimdienstpraktiken ist geradezu Spionagezentrale gespenstisch: Die grosse Zahl der in Sun Tzu ist einer der ersten in der Ge- der Bundesrepublik Deutschland in Dagegen ist nichts zu machen: Der schichte der Menschheit, die Spio- den Jahren 1976 und 1977 aufgeflo- forschende Mensch will hinter die nagebücher geschrieben haben, und genen DDR-Spionageringe und die Geheimnisse seiner Nachbarn, ihres wer den Text seiner «Kunst des Krie- von ihnen erlangten Informationen Landes, der entfernteren Völker, ihrer ges» liest, bemerkt, dass er den Eh- haben bewiesen, dass der Osten heute Fertigkeiten und Künste, kurz: hinter rentitel eines Weisen zu Recht trug, mehr denn je solche «Wegwerfagen- die Rätsel der Erde kommen. denn von all den Orakeln und Weis- ten» beschäftigt und sich nicht einmal Was tat er, als die Transportmittel sagungen, die zu seiner Zeit das poli- mehr sonderlich um ihre heile Rück- noch primitiv, die Wege lang, die tische und militärische Handeln we- kehr bemüht. Nachrichtenübermittlung erschwert sentlich mitbestimmten, wollte er - «Lebende Agenten» sind bei Sun und die Naturgesetze unerklärt wa- nichts wissen. Tzu eigene professionelle Speziali- ren? Er glaubte viel mehr als heute an sten, die in Feindesland infiltrieren die Einwirkung des Überirdischen auf «Was man als Voraus wissen be- und es mit viel Geschick schaffen, un- sein persönliches Leben und auf das zeichnet, kann man weder von Gei- erkannt zu bleiben. Schicksal seines Volkes. stern noch von Göttern erfahren, auch Es ist erwiesen, dass Sun Tzus «Kunst Priester, Seher, Sterndeuter und Aus- nicht durch Vergleiche mit früheren des Krieges» eins der Lieblingsbü- erwählte aller Art haben davon gelebt. Ereignissen oder durch Berechnun- cher von Mao Tsetung gewesen ist Die Menschen haben Träume gedeu- gen. Man muss es sich von Männern und dass es zur Pflichtlektüre der chi- tet und Lose geworfen, Eingeweide beschaffen, die über die Lage des nesischen Partei- und Armeekader ge- beschaut und Handlinien gelesen, den Feindes Bescheid wissen.» hört. Aber alle Schlauheit im geheim- Vogelflug beobachtet und Karten ge- Der alte Chinese hat denn gleich auch dienstlichen Ränkespiel, das im Osten legt, um einen Blick in die Zukunft eine komplette Gebrauchsanweisung schon damals meisterhafter be- oder in den Kopf ihres Rivalen zu tun. für Aufbau und Betrieb eines taugli- herrscht wurde als im Westen, hat In der hochentwickelten Zivilisation chen Nachrichtendienstes mitgelie- auch die Chinesen nicht vor empfind- des alten Griechenland gab es freilich fert. Das Geheimnis des Erfolges be- lichem Schaden durch die Schliche eine bemerkenswerte Mischform zwi- zeichnet er als die «Himmelsschnur». des noch klügeren Feindes zu bewah- schen überirdischem Sehen und hand- Das heisst: Die beste Methode, gehei- ren vermocht. Die Sage erzählt von fest-diesseitiger Nachrichtentechnik: me Nachrichten zu erlangen, ist die einer wunderschönen chinesischen die Orakel, deren bedeutendste die des Fischernetzes, das aus vielen ein- Prinzessin. Sie verliebte sich in einen Zeus-Orakel von Dodonia und Olym- zelnen Fäden besteht, die aber durchreisenden indischen Edelmann, pia, das Amon-Orakel in der Liby- schliesslich alle in einer einzigen der in Wirklichkeit ein überaus raffi- schen Wüste und das Orakel von Del- Schnur zusammenlaufen. Sun Tzu nierter Wirtschaftsspion war und ein phi waren. unterscheidet mehrere Arten von Mittel einsetzte, das auch heute noch Delphi. Erinnern Sie sich an den Ge- Agenten: zu den bewährtesten zählt: die Liebe. schichtsunterricht in der Schule? Die - Einheimische Agenten, das heisst Er überredete die schöne Prinzessin Priesterin, die Pythia, sass auf ihrem Verbindungsleute, die im Feindes- zur Flucht aus dem Reich der Mitte. Schemel über einer Felsspalte. Betäu- land wohnen und unter guter Tarnung Im Blütenkranz ihres prächtigen bende Dämpfe stiegen aus der Erde Nachrichten beschaffen; Kopfschmucks trug sie für ihren Ge- auf und versetzten sie in eine Art - Umkehragenten oder Doppelagen- liebten das bestgehütete Geheimnis Trancezustand. Mit tonloser Stimme ten sind feindliche Spione, die aufge- Chinas durch die scharfe Grenzkon- antwortete sie auf Fragen, die ihr Rat- griffen und – mit sanfter oder anderer trolle ins Ausland: die Seidenraupen suchende stellten, in einer Weise, die Gewalt – gezwungen wurden, für die und damit die Kunst, Seide herzustel- man heute noch «pythisch» oder «ora- andere Seite zu arbeiten, ohne dass es len. Das war die Geburtsstunde der in- kelhaft» nennt: dunkle Weissagungen der frühere Auftraggeber merkt; dischen Seide. Eins der ersten und voll Ahnung und Doppelsinn... - als «entbehrliche Agenten» bezeich- mächtigsten Monopole der Wirt- Herodot berichtet, dass die kriegs- net Sun Tzu jene, die man bewusst auf schaftswelt war gebrochen. tüchtigen Spartaner das Delphische gefährliche Missionen schickt und bei Orakel einmal nach dem Au-sgang ei- denen es nicht so sehr darauf an- kommt, wenn sie nicht mehr zurück-

17 nes Feldzugs gegen Arkadien fragen «Josua, der Sohn Nuns, entsandte von liessen und zur Antwort bekamen: Schittim zwei Männer in aller Stille «Ihr werdet in Tegäa mit lärmendem als Spione und gab ihnen folgenden Stampfen tanzen.» Die Spartaner Auftrag: ‚Gehet und beschaut euch glaubten natürlich, dies sei die Vor- das Land samt Jericho!‘ Sie gingen schau auf eine ausgelassene Sieges- fort und kamen in das Haus einer feier. Sie überfielen Tegäa und die an- Dirne, die Rahab hiess. Dort legten sie deren Teile Arkadiens, aber sie verlo- sich nieder. Da ward dem König von ren die Schlacht und mussten als Skla- Jericho gemeldet: ‚Es sind in dieser ven, an Ketten gefesselt, Feldarbeit Nacht Männer von den Israeliten ge- verrichten. Das Rasseln der Ketten in- kommen, die im Lande etwas ausfin- des hörte sich an wie das Stampfen, dig machen wollen‘. Der König von das die hinterhältige Pythia vorausge- Jericho sandte hierauf zu Rahab mit sagt hatte. dem Auftrag: ‚Gib die Männer, die zu Heute darf man annehmen, dass das dir in dein Haus gekommen sind, her- Orakel von Delphi im Laufe der Jahr- aus. Sie kamen nur, um das ganze hunderte immer stärker von der über- Land auszukundschaften.‘ Das Weib natürlichen Instanz zu einer höchst ir- aber versteckte die beiden Männer dischen Einrichtung wurde; niemand und liess sagen: ‚Ja, es kamen Männer erfuhr so viele geheime Dinge wie die zu mir, ich weiss aber nicht, woher. Seherin im Tempel aus den Fragen der Als das Tor in der Abenddämmerung Ratsuchenden, niemand erhielt mehr geschlossen werden sollte, waren die Besuch, hatte mehr Kontakt mit Ge- Männer verschwunden; wohin sie ge- währsleuten und Zuträgern aus allen gangen sind, weiss ich nicht. Macht Landstrichen Griechenlands. Die klu- euch eiligst hinter ihnen her, dann holt ge Frau auf ihrem Schemelchen wus- ihr sie sicher noch ein!‘» ste mehr über die Sorgen und Pläne ih- Der Trick klappte. Die alttestamenta- rer Kunden, als diese ahnten. Wer die rische Verfolgungsjagd ging in die Gunst der Frau zu erkaufen vermoch- falsche Richtung, denn: «Sie hatte te, wusste bald Bescheid über die Ab- aber die Männer heimlich auf das sichten von Rivalen und Konkurren- Dach geschafft und unter den Flachs- ten. Das Wissen der Pythia war nicht stengeln versteckt, die sie auf dem göttlichen Ursprungs, sondern das Re- Dach zurechtschichtete. Den israeliti- sultat eines weitverzweigten Nach- schen Kundschaftern aber setzte man richtennetzes, raffinierter Fragetech- in Richtung des Jordan bis zu den Fur- nik und scharfsinniger Kombination. ten nach, nachdem das Tor geschlos- sen worden war.» Josuas Spione von einer Dirne Zum Lohn schworen die beiden versteckt! Spione der Dirne, dass sie sowie ihre Eltern und Geschwister bei Das ganze Alte Testament ist voll von Spionagegeschichten. Die Abenteuer Josua führte sein Heer gegen Jericho, nachdem der beiden Spione, die der Feldherr Jo- seine Kundschafter mit Hilfe der Dirne Rahab sua unmittelbar vor der Eroberung Je- die Befestigung der Stadt erkundet hatten richos und der Landnahme in Palä- (oben). Auch die griechischen Orakel, nament- lich das von Delphi (unten links), waren nach stina zur Erkundung vorschickte, sind den heutigen Begriffen eine Spionagezentrale. der Beweis dafür, dass sich Geheim- Die Menschen glaubten, die von den Erddämp- dienstleute ihren Umgang nicht aussu- fen betäubte Seherin Pythia (unten rechts) chen können, wenn es darum geht, den könne die Zukunft voraussagen. In Wirklichkeit verknüpfte sie ihre Informationen zu doppel- Auftrag zu erfüllen und die eigene deutigen, eben «delphischen» Weissagungen. Haut zu retten.

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Ai*'"

Übersicht über das Gebiet der Thermopylen, verbot Xerxes die Hinrichtung und lands, das Kämmen der Haare bedeute wo Xerxes seine vernichtende Niederlage ge- hiess sie im ganzen Lager herumfüh- nach ihrem Brauch die Entschlossen- gen die kleine spartanische Streitmacht bezog. Diese welthistorische Schlacht wurde vor al- ren und ihnen Fussvolk und Reiterei heit, auf Leben und Tod zu kämpfen. lem durch die Spionage entschieden. zeigen. Dann schickte er sie nach Der Perserkönig befahl den Angriff – Hause; er wollte die Griechen zum und sein Heer wurde von der zahlen- vornherein mit genauen Angaben mässig krass unterlegenen Schar der über seine Übermacht entmutigen. Langhaarigen vernichtend geschla- der bevorstehenden Invasion mit dem Das war ein schwerer Fehler; ein an- gen. Leben davonkommen sollten. We- derer hätte die Griechenspione «um- So kann’s einem gehen, wenn man mit nige Tage später stürzten die Mauern gedreht», um durch sie Nachrichten Spionen zu nachsichtig ist oder ihre von Jericho unter dem Schall der sie- über den Feind zu erhalten. Xerxes Informationen nicht richtig auswertet. ben Schofarhörner. Rahab und die Ih- glaubte, das nicht nötig zu haben, und Grosse Eroberer, die gerne schnelle ren wurden verschont und durften so ist es auch verständlich, dass er und überraschende Angriffe führten, fortan bei den Israeliten leben. Nicht kurz darauf einen zweiten Fehler waren auf zuverlässige Spione ange- immer sind Versprechen, die Agenten machte. wiesen. Alexander der Grosse und und Verräter erhalten haben, so fair Es war beim berühmten Engpass der Hannibal zum Beispiel unterhielten gehalten worden! Thermopylen, den die Griechen be- ausgezeichnete Geheimdienste; letz- setzt hielten. Vor der Schlacht terer liess seine Spione ohne viele schickte Xerxes einen Späher zur Umstände hängen, wenn sie ihn falsch Die beiden Fehler des Xerxes Naherkundung aus. Er kam zurück informiert hatten. Kaiser Friedrich IL, Xerxes, der Perserkönig, hatte zwei und berichtete – immer nach Herodot der geniale Enkel Barbarossas, wurde unvergessliche Erlebnisse mit Ge- –, dass einige dieser Männer Frei- eine Zeitlang als Ketzer geächtet, weil heimagenten. Herodot berichtet, dass übungen ausführten und andere sich er, der Kreuzfahrer, heimliche Ver- die Griechen drei Spione in sein La- die langen Haare kämmten. bindungen zu den Muselmanen unter- ger gesandt hatten, um die Grösse der Natürlich hatte Xerxes einen Ratge- hielt. Streitmacht herauszufinden, mit der ber bei sich, der die Sitten der Grie- Mit dem heraufziehenden Zeitalter sie zu rechnen hatten. Die Spione chen kannte und seinen König ein- des internationalen Handelsverkehrs wurden jedoch geschnappt und stan- dringlich warnte. Das seien die besten und der Diplomatie trat der Geheim- den schon auf der Richtstätte – da und erprobtesten Krieger Griechen-

20 dienst in neue Grössen-ordnungen verschwinden, wenn die Polizei ein. Die Diplomaten Venedigs bilde- Überraschungsschläge gegen Terrori- ten ein eigentliches Spionagenetz. sten führt, wenn Flugzeugentführer Auch alle späteren grossen National- plötzlich wieder zum Vorschein kom- staaten hatten bald ihre Kabinettsbe- men – meistens haben die Geheim- amten und Geheimpolizeichefs, die dienste ihre Hände im Spiel. nunmehr professionell Spionage und Nachrichtendienstliche Glanzleistun- Spionageabwehr praktizierten und gen haben Weltgeschichte und Mil- dabei mitunter Weltgeschichte lionen aus dem Nichts gemacht, schrieben. Sir Francis Walsingham, Nachrichtenaffären haben ganze Völ- der Meisterspion von Königin Elisa- ker zutiefst aufgewühlt. Nathan Roth- beth I. von England, deckte die Ver- schild wusste früher als alle anderen schwörung auf, die Maria Stuart auf von Napoleons Niederlage bei Water- den Thron bringen sollte und sie in loo. Er provozierte einen Kurssturz an Wirklichkeit den Kopf kostete. Die der Londoner Börse, indem er die Schweden verdankten ihre Stellung englischen Staatsanleihen verkaufte. im Dreissigjährigen Krieg vorwie- Die anderen Börsianer taten es ihm gend ihrem Nachrichtendienst. Napo- nach in der Meinung, der als ausge- leons Polizeichef Joseph Fouché ist zeichnet informiert geltende Roth- wegen seines perfekten Spitzelsy- schild habe vorzeitig von einer engli- stems und seiner Intrigenpolitik le- schen Niederlage Wind bekommen. gendär geworden, und die Ochrana, Als die Siegesnachricht eintraf, hatte die berüchtigte Geheimpolizei der sich Rothschild längst wieder mit den Zaren, wurde zum Markenzeichen für nunmehr billigen Papieren einge- hemmungslose politische Verfolgung deckt, und die Kurse schnellten hoch. Oppositioneller durch die Mittel der Die arglistige Anklage des Landes- Bespitzelung und des Nachrichten- verrats gegen den jüdischen Haupt- dienstes; eines der prominentesten mann Alfred Dreyfus provozierte ein Opfer dieses offiziell nur zum Schutz skandalöses Fehlurteil und führte zu der Zarenfamilie bestimmten Dien- schlimmen antisemitischen Aus- stes war Leo Tolstoi. Nach der bol- schreitungen, zu einer ernsten innen- schewistischen Revolution wurde die politischen Krise, zum Bruch mit dem Ochrana auf- und sogleich durch die Vatikan und somit zur Trennung von nicht minder berüchtigte Tscheka ab- Kirche und Staat in Frankreich. gelöst, denn auch der neue, sozialisti- Der Verrat des österreichisch-ungari- sche Staat mochte auf eine Nachrich- schen Nachrichtenobersten Redl, der tenorganisation nicht verzichten. die Aufmarschpläne seines Landes

den Russen ausgeliefert hatte, er- schütterte die Donaumonarchie und Nachrichtenf älle, die war, historisch gesehen, so etwas wie Weltgeschichte machen das Signal für deren Untergang. Grosse Nachrichtenaffären haben zu Macht, Hass und Gier, Vaterlands- Hauptmann Dreyfus (oben) stand im Mittel- allen Zeiten Schlagzeilen gemacht, punkt einer klassischen Verratsaffäre, über die liebe, Feigheit, Abenteurertum, Ver- und häufig ist die Öffentlichkeit gar es Dutzende von Büchern gibt (Beispiel unten). zweiflung, Angst – was immer die nicht erst dahintergekommen, bei Beweggründe sein mögen, Spionage welchen weltpolitischen Grossereig- zurückbrachten, wo er hingerichtet hat es zu jeder Zeit gegeben, und dass nissen die Dienste sonst noch betei- wurde, ist allgemein bekannt. Aber sie je einmal aussterben wird, ist nicht ligt waren. war der Skandal um den britischen anzunehmen. Dass es israelische Agenten waren, Minister John Profumo, der über Spionage ist eben zumindest das die Adolf Eichmann in Argentinien seine Vorliebe für junge leichte Mäd- zweitälteste Gewerbe der Welt! aufstöberten und betäubt nach Israel chen stolperte, nun das Werk der bri- tischen Abwehr oder einer auf Kom- promittierung ausgehenden sowjeti- schen Regie? Wenn Schiffe mit ra- dioaktiver Ladung auf offenem Meer

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Im Kraftfeld der Grossmächte Von Bismarck bis zum Ersten Weltkrieg

ismarck geriet in Zorn: der Fall Wohlgemuth! – Öster- reich grollte: Sein Zürcher Konsulat wurde als Agen-

Btennest entlarvt! – Kaiser Wilhelm II. lächelte huld- voll: Zwei Schweizer Nachrichtenobersten arbeiteten für ihn! – Immer, wenn die Schweiz im ausgehenden 19. und im anbrechenden 20. Jahrhundert in einen nachrichten- dienstlichen Konflikt verwickelt wurde, war es ein T est für die Selbstachtung und Selbstbehauptung des neutralen Kleinstaates gegenüber den ihn umgebenden mächtigen Nachbarn.

Menschen verlieren ihre Heimat. Uniformierte haben sie vertrieben, andere Uniformier- te, Schweizer, nehmen sie in Empfang (französische Flüchtlinge 1915 in Genf). Im Kraftfeld der Grossmächte werden die Schicksale von Menschen und Ländern unter an- derem durch die Arbeit der Nachrichtendienste bestimmt.

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Der Bahnhof von Rheinfelden und das Bahn- schichte: die Einholung der Aristo- färe mit ernsthaften diplomatischen hofrestaurant Zimmermann wurden am Oster- kraten-Herrschaft durch die Wirk- Verwicklungen als dieses verschla- sonntag des Jahres 1889 zum Schauplatz einer Spionageaffäre, welche die Schweiz bis an den lichkeit des Industriezeitalters, das fene Kurstädtchen, in dem jeder Rand eines Handelskriegs mit Deutschland demokratische und soziale Tenden- Fremde sogleich auffällt? brachte. zen bestärkte, parallel dazu der Weg Auf dem Bahnhof, der eigentlich nur der Schweiz vom isolierten und ein verrusstes Holzhaus am Rande selbstgenügsamen Reduit zum Be- des zweigleisigen Fahrdamms war, Die Glaubwürdigkeit der Schweiz standteil eines sich formierenden, dampfte von Basel her der Drei-Uhr- stand auf dem Spiel. aber gefährdeten Europa. Zug heran. Ihm entstieg ein älterer Die Neutralität «verschmolz mit dem Herr, der eilig im Bahnhofrestaurant republikanischen und demokrati- verschwand. In sein Hutband hatte er schen Ideal zu einem nationalen als Erkennungszeichen einen Zettel Dogma von fast religiöser Weihe» gesteckt. (Prof. Edgar Bonjour). Sie hatte sich Ein jüngerer Mann folgte ihm, setzte so sehr zum tragenden Grundsatz des «Wühlen Sie nur lustig sich an den gleichen Tisch und be- eidgenössischen Staatswesens ent- drauflos» – der Fall gann mit gedämpfter Stimme zu spre- wickelt, hatte von ganz Europa so viel Wohlgemuth (1889) chen. Nach wenigen Augenblicken Anerkennung gefunden, dass sie «Das Jahr 1889 wird in der künftigen reichte der jüngere dem älteren einen fälschlicherweise ungefährdet schien. Geschichte der Schweiz seine Bedeu- Brief über den Tisch hinweg. So wurden die frühen Schweizer tung behalten. Mit demselben ist die Das war das verabredete Zeichen. In Nachrichtenaffären zwischen 1889 Eidgenossenschaft aus den ruhigen der fast leeren Gaststube erhob sich und 1918 von Volk und Behörden als Zeiten, in denen wesentlich die Früchte Polizeisoldat Müller in Zivil und be- Bedrohung dieser freundlichen vorangehender Perioden eingesam- fahl den beiden: «Mitkommen, Poli- Staatsmaxime empfunden, dieses melt und verzehrt wurden, heraus- und zei. Sie sind verhaftet!» Jetzt tauchten Schutzwalls, «hinter dem man ruhig in eine bewegtere Zeit eingetreten.» auch Wachtmeister Essig und Polizei- seinen friedlichen Geschäften nach- Carl Hilty soldat Märki auf. Sie führten die An- gehen durfte» (Prof. Bonjour). Rheinfelden, Ostersonntag 1889. kömmlinge auf den Posten. In den drei grossen Affären spiegelt Gibt es einen unvermuteteren Schau- sich auch ein Stück europäischer Ge- platz für eine internationale Spitzelaf-

24 Der jüngere, der sich als Schneider- schen gemässigten Sozialdemokraten meister Balthasar Anton Lutz, deut- und sozialistischen Revolutionären scher Staatsangehöriger, wohnhaft an mit zum Teil anarchistischem Ein- der Weissen Gasse 18 in Basel, aus- schlag. Behörden und Bevölkerung wies, durfte gleich wieder gehen. der Schweiz begegneten der politi- Der ältere aber blieb in der Arrest- schen Agitation der deutschen Linken zelle. Unter den 14 Gegenständen, die mit bemerkenswerter Gelassenheit. bei der Leibesvisitation zum Vor- Der Bundesrat rief die Kantone, de- schein kamen, befand sich auch ein nen damals die Politische Polizei Taschenkalender mit den Adressen noch uneingeschränkt anvertraut war, deutscher Lockspitzel in der Schweiz zur Wachsamkeit auf, doch wurden nebst detaillierten Angaben über diese Aufrufe unterschiedlich befolgt. Treffpunkte, Anwerbung und Ent- Einflussreiche Kreise des Freisinns schädigungen. Der Verhaftete wies zum Beispiel liessen offene Sympa- sich aus als August Wohlgemuth, kai- thien zu den verfolgten Sozialdemo- serlicher Polizeiinspektor aus Mül- kraten erkennen, und in den katholi- hausen, 56 Jahre alt, evangelisch, ver- schen Kantonen genoss Bismarck sei- heiratet. nes Kulturkampfes wegen ohnehin Diese Verhaftung, die nicht einmal keine besonderen Sympathien. Meh- von der Serviertochter im Rheinfelder rere nationalistische deutsche Zeitun- Die Wohlgemuth-Affäre erregte Aufsehen. So- Bahnhofrestaurant richtig wahrge- gar ein Theaterstück wurde geschrieben, die gen griffen zu Beginn der achtziger nommen worden war, führte in den Aufführung aber verboten. Jahre die Schweiz immer wieder we- nächsten Tagen zu einem internatio- gen ihres « Laisser-faire, Laisser-al- nalen Skandal und brachte die ler» an, doch beschränkten sich die Schweiz vorübergehend an den Rand diplomatischen Interventionen auf eines Handelskrieges mit dem mäch- galten für die «Roten» nicht mehr. das übliche Mass. tigen nördlichen Nachbarn; denn Au- Bismarck liess die Parteiorganisatio- Das Klima wurde rauher, als die Zür- gust Wohlgemuth handelte in höch- nen, die Gewerkschaften und die Ar- cher Polizei kurz vor Weihnachten stem Auftrag und hatte direkt an das beiterpresse zerschlagen. Tausende 1887 die Agenten Christian Haupt Berliner Polizeipräsidium zu berich- von Sozialdemokraten verloren durch und Karl Schröder festnahm, die sich ten. Seit einem Jahr war er bei der hohe Geldstrafen, Inhaftierung und in die dem Anarchismus naheste- Kreisdirektion der damals deutschen Kündigung ihre Existenz. Haussu- hende «Internationale Arbeiterasso- elsässischen Stadt Mülhausen mit der chungen, Verhaftungen und drakoni- ziation» eingeschlichen hatten und in Überwachung der Sozialdemokraten sche Gerichtsurteile waren an der Ta- Zürich wie in Genf durch aktive Pro- im oberen Elsass betraut. Da die el- gesordnung. paganda und Streikaktionen hervor- sässische Bevölkerung in enger Ver- Viele politisch Verfolgte retteten sich getreten waren; in Wirklichkeit waren bindung zur Stadt Basel stand, be- in die Schweiz, wo sie nicht nur Ar- Haupt und Schröder aber seit mehre- schränkte sich Wohlgemuths Auftrag beit und Brot fanden, sondern auch ren Jahren gut bezahlte Agenten der nicht auf reichsdeutsches Gebiet. Er ihren Kampf gegen Bismarck weiter- Berliner Polizei – «agents provoca- steuerte auch ein Netz von Agenten, führten. Besonders in Zürich gab es teurs». Dies ergab die Untersuchung, die in die Schweiz emigrierte deut- viele emigrierte deutsche Sozialde- die der Zürcher Polizeihauptmann Ja- sche Sozialdemokraten beobachteten. mokraten, die dort auch ihre Zeitung kob Fischer im Auftrag des Eidgenös- «Sozialdemokrat» druckten und auf sischen Justiz- und Polizeideparte- den abenteuerlichsten Wegen nach Sozialisten fliehen in die Schweiz ments durchführte. Deutschland schmuggelten. 1879 Fischer war es auch, der den sozialde- In Deutschland war das Sozialisten- richteten die deutschen Sozialdemo- mokratischen Reichstagsabgeordne- gesetz in Kraft, das den immer zahl- kraten in Zürich sogar ihr administra- ten Paul Singer über dieses Verfahren reicher werdenden Arbeitervertretern tives Zentrum ein, zumal Österreich- pflichtwidrig informierte. Als es am ausser dem Wahlrecht jede Befugnis Ungarn ähnliche Gesetze erlassen 27. Januar 1888 vor dem Reichstag zur freien politischen Betätigung ent- hatte und ihnen die Schweiz als einzi- um die Verlängerung und Verschär- zog. Die staatsbürgerlichen Freiheiten ger Zufluchtsort geblieben war. fung des Sozialistengesetzes ging, er- Gleichzeitig zeichnete sich bei den öffnete Singer die von Fischer erhal- Emigranten eine Spaltung ab zwi-

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tenen Informationen dem Plenum und fahren, dem der deutsche Gesandte stand mit Anspielung auf eine Über- verurteilte scharf die Lockspitzeltak- Otto von Bülow am 4. Februar 1888 schwemmungskatastrophe in China: tik der preussischen Polizei. den Protest des Kaiserreichs in einer mündlichen Note vortrug: Entgegen «In China isch dr gäli Fluss dert iber d Ufer gloffe, allen Gepflogenheiten hinterliess Bü- Bismarcks Diplomatie der und zwei Millione sind drbi low den Text nicht in Schriftform, ja Drohungen elendiglich versöffe. er gestattete dem schweizerischen Wie mainsch, wär’s nit e grächti Sach, Bismarck protestierte beim Bundesrat Aussenminister nicht einmal, sich wenn au in Ditschland so-ne Bach nicht nur heftig gegen diese Indiskre- während des Vortrags der Note Noti- mit sine Wassermasse tion des Polizeioffiziers, er drohte zen zu machen – dies wohlverstanden ersäuffe tät die ganzi Rasse?» auch unverhohlen: «Notwehr kann im schweizerischen Bundeshaus! uns zu Massregeln nötigen, die unse- Der Bundesrat bezeichnete die Hand- Es dürfte dies der einzige Beitrag zur ren freundnachbarlichen Gesinnun- lungsweise Fischers als unverant- Basler Fasnacht gewesen sein, der je gen zuwiderlaufen. Es muss der wortlich, aber nicht als Bruch des einen deutschen Gesandten zu einem Schweiz klargemacht werden, dass, Völkerrechts. Die Schweizer Presse offiziellen Protest beim Bundesrat wenn dortige Kantonsbehörden eine reagierte auf den deutschen Protest herausgefordert hat... so unglaubliche Stellung einnehmen, überwiegend gereizt, und an der Bas- So gereizt und gehässig war also die (...) dadurch auch die Handelsbezie- ler Fasnacht zum Beispiel machte Stimmung zwischen den beiden Län- hungen der beiden Länder berührt sich der Zorn des Volkes über die dern, als August Wohlgemuth am werden würden.» Preussen in ungewöhnlicher Derbheit Ostersonntag 1889 in Rheinfelden Wie arrogant sich die preussischen Luft. Auf einem «Zeedel», der die verhaftet wurde. Diese Festnahme Diplomaten damals aufführen konn- deutsche Politik im Elsass angriff, brachte den schon lange brodelnden ten, musste Bundesrat Numa Droz er- Kessel zur Explosion.

Rheinfelder Bezirks- Bewegung des Kantons Aargau sicht- Jahre 1889». Die gereimte Schnulze bar, der auseinanderlaufende Tenden- war zur Aufführung durch Arbeiterbüh- amtmann gebüsst! zen bei der Staatspartei in der gesam- nen bestimmt. Auch für Rheinfelden ten deutschen Schweiz entsprachen. waren die Theaterplakate schon ge- Wegen seiner entschiedenen Haltung Dem betont liberalen Flügel, der offene druckt. Da verbot der Aargauer Regie- im Wohlgemuth-Handel wurde der Sympathie und Solidarität mit den ver- rungsrat die Vorstellung ... Rheinfelder Bezirksamtmann Emil folgten deutschen Sozialdemokraten Am Ende des ersten Aktes spricht der Baumer von seinen politischen Geg- bekundete, stand ein rechtsbürgerli- Held des Stückes, der arme Schneider nern heftig angegriffen. Um sich zu ver- cher Flügel mit nicht weniger deutli- Lutz: teidigen, veröffentlichte er in der chen Sympathien zu Bismarck gegen- «Volksstimme» eine ausführliche Dar- «Freiheit ist das schönste Gut, über. Am Fall Wohlgemuth und an der Welches noch besteht auf Erden, stellung der Ereignisse aus seiner Person des zur «linken» Fraktion gehö- Sicht. Doch mit dem Spitzel renden Baumer entbrannte eine unge- Wohlgemuth Daraufhin erlegte ihm der Regierungs- wöhnlich scharfe Zeitungsfehde. rat des Kantons Aargau eine Ord- Soll es morgen anders werden. Spottlieder und -verse über die Unge- Denn, du freche Schnüfflerbande, nungsbusse von 50 Franken auf und schicklichkeit des ertappten Bismarck- erteilte ihm einen Verweis. Ausdrück- Bleib in deinem Labyrinth, Spitzelwerbers machten in der ganzen Ansonst gebührt euch Spott und lich verbot die Regierung ihrem Statt- Schweiz die Runde. Beim Eidgenössi- halter in Rheinfelden die Veröffentli- Schande, schen Offiziersfest vom Juli 1889 in Dieweil wir Sozialisten sind.» chung von amtlichen Aktenstücken zu Bern war in einer Wirtschaft der Spruch Im zweiten Akt hebt Balthasar Anton seiner weiteren Rechtfertigung und zu lesen: Lutz sogar zu singen an: drohte ihm «für den Fall einer ferneren « Rheinfelder Bier Pflichtverletzung ernstere Massnah- Trinkt mer hier, «Wenn ich schon nur arm men» an. Frisch und gut geboren, Die Volksmeinung sprach ein anderes Wohlgemuth.» So lechzet doch mein Urteil. Aus der kurz nach der Verhaf- Schneiderblut tung durchgeführten Erneuerungswahl Flugs schrieb auch ein Basler namens Nach einer Rach', die ich erkoren ging er mit einer geradezu sensationel- M. Häring-Sahner ein Theaterstück mit An dem Spitzel Wohlgemuth. len Stimmenzahl hervor, die fast das dem Titel «Der Polizeispitzel. Eine Doppelte des absoluten Mehrs betrug. wahrheitsgetreue Darstellung in vier Doch aus ist's jetzt mit Die Nachwehen der Affäre machten Aufzügen aus der neuesten Zeit im deinem Wühlen, aber die Spaltung in der freisinnigen Heute noch sollst du es fühlen, Wie des Schneiders Nadel sticht. 0 Spitzel, du entgehst mir nicht!»

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Wohlgemuth läuft in die Falle

Der Schneider Balthasar Anton Lutz war ein Sozialdemokrat, der sich nur zum Schein auf den verfänglichen Briefwechsel mit dem Spitzel suchen- den Polizeiinspektor einliess. Wohl- gemuth nahm von Lutz an, er habe sich mit den Basler Sozialdemokraten überworfen und werde deshalb beson- ders gerne gewillt sein, über die Ge- nossen auszupacken. Wie hätte der kaiserlich-preussische Polizeiinspek- tor in Mülhausen wissen können, dass der jungverheiratete Schneider nur aus der Partei ausgetreten war, weil er sich die Mitgliederbeiträge nicht mehr hatte leisten können! Durch die Vermittlung eines sozialde- mokratischen Basler Grossrats erhielt der Rheinfelder Bezirksamtmann Emil Baumer, ein ausgesprochen po- pulärer Wirt und prominenter Freisin- niger, die Schuldbeweise schon in der Karwoche schwarz auf weiss. Nun sollte Lutz Wohlgemuth auf Schwei- zer Gebiet locken. Rheinfelden wurde als Treffpunkt wohl deshalb gewählt, weil Baumer als unabhängiger Kopf und rechtlich denkender Mann diesen Beweisen besonders zugänglich war – und die Briefe liessen in ihrer Deut- lichkeit nichts zu wünschen übrig! In einem hiess es zum Beispiel, nachdem Wohlgemuth seiner «Neuerwerbung» einen für damalige Verhältnisse fürst- lichen Honorarvorschuss von 200 Mark zugesichert hatte: «Hoffentlich werden Sie jetzt befrie- digt sein. Jetzt sehe ich aber auch Ih- ren regelmässigen und ausführlichen

Berichten entgegen. Also jetzt offenes Entgegenkommen und Nennung von Comic strips von damals: Wohlgemuth wird er- Dass Wohlgemuth ein älterer, nicht Namen. Zunächst die Wahlagitation. tappt (3, 4), seine Briefe kommen ans Licht (5), besonders geschickter Beamter war, Bismarck tobt (6), der Aufdecker Lutz wird aus den man für seine letzten Jahre auf ei- Wer ist denn der glückliche Elsässer, der Schweiz geworfen (7), die nun die Bundes- der den armen Schmidt in Dörnach anwaltschaft ein führt (8). nen eher unbedeutenden Posten abge- abtrumpfen soll mit Stimmenmehr- schoben hatte, interessierte zunächst heit? Halten Sie mich beständig auf in Acht, dass meine Briefe in keine nicht. Endlich lagen die Beweise auf dem Laufenden, und wühlen Sie nur fremden Hände geraten.» dem Tisch! In einem anderen Brief lustig drauflos, nehmen Sie sich aber Wühlen Sie nur lustig drauflos – die- Wohlgemuths an Lutz wurden sogar ser Befehl sollte innert weniger Tage konspirative Einzelheiten der Nach- in ganz Europa bekannt und zum ent- richtenübermittlung behandelt: larvenden Motto für Bismarcks inter- «Wegen Ihrer demnächstigen münd- nationales Spitzelsystem werden. lichen Mitteilung schreiben Sie mir Näheres. Entweder auf die nächste

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Station Lutterbach oder Dörnach oder stigkeit ebenso auszeichnete wie schriften nach Deutschland bei uns die auch abends auf meinem Büro, Kreis- durch Diplomatie, antwortete dem Elemente bearbeiten, welche zur direktion Nr. 8, oder in meiner Woh- Gesandten ebenso höflich: «Unglück- Schädigung unserer gesellschaftli- nung abends, nicht am Tage, und le- licherweise ist dieser Angriff auf die chen und staatlichen Ordnung geneigt gen Sie einen falschen Bart an, damit Souveränität und die Interessen der und bereit sind.» Vorerst liess er von Sie hier nicht erkannt werden. Das Schweiz zu schwerwiegend, als dass der Schweiz Rücknahme der Auswei- Beste wird sein, Sie kommen in meine wir auf Genugtuung verzichten könn- sungsverfügung gegen Wohlgemuth Wohnung, dort sieht Sie niemand, ten.» Damit war die österliche Agen- und eine Entschuldigung verlangen. doch nur bei Nacht.» Mit der gleichen tenkomödie auf dem Rheinfelder Offen drohte er, Deutschland wür-de Naivität tappte Wohlgemuth denn Bahnhof endgültig zur internationa- auf schweizerischem Gebiet eine ei- auch in die Falle, die ihm die Basler len Angelegenheit geworden. gene Polizei unterhalten müssen, weil Sozialdemokraten und ihr vorgescho- Bismarck, bis auf die Knochen bla- die schweizerische nicht in der Lage bener Schneidermeister gestellt hat- miert, tobte. Seinem Gesandten in sei, die revolutionären Umtriebe unter ten. Lutz, der mit Scheininformatio- Bern schrieb er zornerfüllt: «Die Kontrolle zu halten. Auf diese Unver- nen («Spielmaterial») inzwischen das Schweiz ist seit Jahrzehnten der Sam- schämtheit antwortete Vertrauen des Inspektors erworben melpunkt der revolutionären und an- Numa Droz verbindlich und uner- hatte, versprach ihm Einzelheiten archistischen Verschwörer gegen un- schrocken zugleich, die Schweiz wer- über eine sozialdemokratische Wahl- seren inneren Frieden, welche aus de ihre Souveränitätsrechte mit nie- kampagne. Ausserdem stellte er ihm diesem sicheren Hinterhalt durch per- mandem teilen. einen Augenschein in Aussicht: sönliche Agitation und durch massen- Bismarck liess den Grenzverkehr ver- «Kommen Sie Ostersonntag nach hafte Verbreitung aufregender Druck- schärft kontrollieren, drohte mit völli- Rheinfelden, da werde ich Ihnen zei- ger Grenzsperrung und dem Rückzug gen, wie geschmuckelt wird zu Was- ser, desgleichen von Kleinhüningen nach Grosshüningen, zweitens einen Schleichweg zur Bahn in Basel...» Der versteckte her, der alsbald das Rheinfelder Versteck Berlin weiss es früher als Bern Abraham Levy fand und bei der Aargauer Regierung sowie beim Rheinfelder Bürgermeister Herzog, Noch vor dem Bundesrat in Bern wus- Schon 1823, ein Menschenalter vor mit einer Empfehlung des österreichischen ste das Auswärtige Amt in Berlin von dem Wohlgemuth-Handel, war Rhein- Gesandten versehen, die Verhaftung Wits felden der Mittelpunkt einer Spitzelaf- erwirken wollte. der Verhaftung, denn die aargauische färe, die den damaligen aargauischen Meldung traf erst am Mittwoch, drei Regierungsrat sogar zwang, mit Fürst Wit und sein Beschützer hatten aber – Tage nach der Festnahme, im Bundes- Metternich zu korrespondieren. möglicherweise von Regierungskreisen in Aarau – rechtzeitig Wind von Volpinis Plä- haus ein. Der Gesandte Bülow ver- Ferdinand Johannes Wit, der auch von Dörring genannt wurde, musste als nen erhalten. Als der Detektiv im Gasthof suchte es vorerst noch mit Anstand freiheitlich-revolutionärer Jenaer Stu- eintraf, hiess es, Wit sei am Vorabend, von und schrieb der Fremdenpolizei: «Der dent aus Deutschland fliehen. Bald be- einem dringlichen Brief gerufen, nach Stein fragliche Beamte hat sich durch nichts schuldigte man ihn, er sei an der Er- und über den Rhein nach Säckingen wei- tergereist. schuldig gemacht. Seine Verhaftung mordung des französischen Thronfol- gers Herzog de Berry beteiligt gewe- In zwei demütigen Briefen musste der Aar- muss auf einer Intrige beruhen.» sen. 1821 wurde er in Mornex, südlich gauer Regierungsrat dem ungehaltenen Der Bundesrat musste passen; die Ak- von Genf, einem damals zum König- Fürsten Metternich die «Bereitwilligkeit, ten aus Aarau waren noch nicht einge- reich Sardinien gehörenden Dorf, ver- welche wir in dieser Angelegenheit, um Ih- rem Ansuchen bestmöglich zu entspre- troffen. Nun trug ja die Verhaftung haftet und an die Österreicher nach Mailand ausgeliefert. Dort konnte er chen, gerne bezeugt haben», beteuern; da- Wohlgemuths alle Merkmale eines aus dem Gefängnis fliehen. Unter dem mals war die Schweiz eben noch ein fein ausgeklügelten sozialdemokrati- falschen Namen Abraham Levy stieg schwacher Staatenbund und kein Bundes- schen Komplotts. Dies ging aus den Wit 1823 im Gasthof Drei Könige unter staat, der wie beim Wohlgemuth-Handel dem mächtigen Nachbarn die Stirn bieten Unterlagen damals noch nicht hervor. dem Vorwand ab, als Sohn eines el- sässischen Juden Kornmagazine anle- konnte. Und wenn auch – Bundesrat Droz, der gen zu wollen. Der Wirt Peter Adam In Wirklichkeit hielt sich Ferdinand Johan- sich in der ganzen Affäre durch Fe- Kalenbach kam aber hinter die wirkli- nes Wit in einem Schlupfwinkel des Gast- che Identität seines Gastes und unter- hauses sechs Tage lang versteckt, bis die stützte ihn nach Kräften. Häscher fluchend weiterzogen. Die Österreicher sandten dem Ausbre- 28 cher den Polizeiagenten Volpini hinter- der deutschen Neutralitätsgarantie für die Schweiz. Schliesslich kündigte er den deutsch-schweizerischen Nieder- lassungsvertrag von 1876 und ver- suchte, Österreich-Ungarn und Russ- land gegen die Schweiz aufzubringen.

Diese Reaktionen trugen alle Merk- male einer unüberlegten, impulsiven und rein gefühlsmässigen Handlung, und insbesondere die Schikanen an der Grenze brachten Süddeutschland gegen den alternden und kranken deutschen Staatsmann auf. Die Ablö- sung an der Spitze des Deutschen Reiches zeichnete sich ab: Unter der glänzenden Oberfläche des wirt- schaftlichen Aufschwungs begannen in Deutschland soziale Probleme sichtbar zu werden, für die der Fürst kein Verständnis hatte. Ausgerechnet zur Zeit des Wohlgemuth-Handels kam es zu einer starken Streikbewe- gung. Der damals 75jährige Kanzler und der 30jährige Kaiser Wilhelm II. verstanden sich nicht mehr. An den Auseinandersetzungen um die Arbei- terfrage entzündete sich ihr Konflikt, der ein Jahr später zur Aufhebung des Sozialistengesetzes und zum erzwun- genen Rücktritt Bismarcks führte. Der schweizerische Bundesrat ver- stand es, den zornigen grossen Nach- barn schrittweise zu beschwichtigen. Die Anarchisten und Sozialisten auf Schweizer Boden wurden schärfer überwacht. Wohlgemuth war schon neun Tage nach der Verhaftung frei- gelassen und ohne weitere strafrecht- liche Folgen ausgewiesen worden. Die deutsch-schweizerischen Gehäs- sigkeiten setzten sich trotzdem noch eine Weile fort, insbesondere in der

Szenen aus der wehrhaften Schweiz während der Grenzbesetzung 1914-1918. Der Fessel- ballon, von den Soldaten «Bundeswurst» ge- nannt, gehörte noch zum Waffenarsenal (oben). Vor einem Tessiner Gemeindehaus fin- det die Wachablösung statt. Die Spionage war weit weniger bedeutend als im Zweiten Welt- krieg.

29 deutschen Presse, die entgegen den Konflikt den Schluss, dass es nicht Grenzbesetzung 1914-1918 schriftlichen Erklärungen Wohlge- länger angehe, den Staatsschutz ein- Massenhaft Agenten, muths behauptete, er sei im Gefängnis zig den Kantonen zu überlassen, die schlecht behandelt und unzureichend ihn je nach der politischen Konstella- nachlässige Polizei verpflegt worden. Die Schikanen gin- tion und den polizeilichen Mitteln un- gen so weit, dass der Kölner Bahnho- terschiedlich zu handhaben pflegten, «Es erwies sich bald, dass Fälle von finspektor die Brieftauben, die der dieweil die Eidgenossenschaft für militärischer Spionage gegen die Ornithologische Verein von Basel für eben diesen Staatsschutz aussen- und Schweiz selten vorkamen. Was dem ein Wettfliegen dorthin gesandt hatte, neutralitätspolitisch geradestehen Ausland bei uns militärisch wissens- «auf höhere Weisung» zurück- sollte. wert erscheinen konnte, lag zu offen schickte, statt sie fliegen zu lassen. Am 28. Juni 1889 beschloss der Bun- am Tage oder war zu leicht zu erfah- Die Schweiz zog aus dem weltweit desrat die Einrichtung einer ständigen ren, als dass es dafür eines besonders umständlichen Kundschafterapparates beachteten und nicht ungefährlichen schweizerischen Bundesanwalt- bedurft hätte. (...) Dagegen nahm der schaft. Spionagedienst unter den kriegführen- den Mächten auf und über Schweizer 30 Mit diesem Maschinengewehr führten Kavalle- gen sich zumeist über das Gebiet rie-Mitrailleure des Ersten Weltkriegs das mehrerer Kantone, und da die Bun- Feuer. Der Ernstfall blieb ihnen erspart. Dage- desanwaltschaft für die Nachfor- gen kennzeichnete innere Zerrissenheit die Schweiz von damals; die Oberstenaffäre war schungen über kein eigenes Personal der Beweis. verfügte, sondern auf die Tätigkeit ei- ner nicht selten ungeschickten, zu- Nach einer Zusammenstellung des weilen selbst widerstrebenden kanto- ehemaligen Bundesanwalts Werner nalen oder Gemeindepolizei angewie- Lüthi wurden von 1914 bis 1920 rund sen war, so gelang es oft nicht, die 150 Fälle verbotenen Nachrichten- verworrenen Irrgänge der Spionage dienstes auf gedeckt. Die kriegfüh- rechtzeitig und vollständig aufzudek- renden Mächte benutzten die zentral ken.» Die Tätigkeit der sich erst ent- gelegene neutrale Schweiz als Nach- wickelnden Heerespolizei sei, so be- richtensammelstelle, Agentendreh- klagte sich Sprecher, oft behindert scheibe und Versorgungsbasis. Gene- worden durch die «krankhafte Eifer- ralmajor Max Ronge, der Chef der sucht der kantonalen Polizei, die hie Nachrichtenabteilung des österrei- und da ihre Prärogative (Vorrechte) chisch-ungarischen Armeeoberkom- höher stellte als das offenkundige In- mandos und des Evidenzbureaus des teresse des Landes in diesen schweren Generalstabs, beklagte sich in seinen Zeiten. Wie sich in der Folge heraus- Memoiren: «Im Frieden hatten wir stellte, handelte es sich in einzelnen die von der Schweiz her gegen uns Fällen nicht allein um die eifersüch- geführte Kundschaftstätigkeit der tige Wahrung hoheitlicher Befug- Russen und wohl auch der Franzosen nisse, sondern selbst um Konnivenz stark gespürt. Eine organisierte Arbeit (sträfliche Nachsicht) mit den Ange- anderer Staaten konnten wir jedoch schuldigten oder Verdächtigten, de- nicht wahrnehmen. Während des nen geradezu zur rettenden Flucht ins Krieges aber wandte sich der gross Ausland verholfen wurde.» aufgezogene Apparat aller Feindstaa- ten von der neutralen Schweiz her ge- Verschlungene Pfade... gen die Mittelmächte. Es war ihre pa- triotische Pflicht, die in gleicher Art Von der Schweiz aus schlichen sich erfüllten: Italiener, Franzosen, Eng- Agenten und Saboteure in die krieg- länder, Russen und – ihre Gegner. Die führenden Länder ein. Die Wege nach Schweiz war infolge ihrer zentralen Vorarlberg und Tirol führten zum Lage der Tummelplatz der Spionage- Beispiel auf Schmuggelpfaden durch agenten für die ganze Welt geworden. das Inntal sowie über die Rhein- und Es war Sache der Schweiz, sich gegen die Liechtensteiner Grenze. Die diese internationale Tätigkeit zu weh- Österreicher hatten auf dem Boden- ren. Sie tat es auch, wenn vielleicht in see eigens eine Motorbootflottille sta- noch zu eleganter Form und in be- tioniert, die das Eindringen schwim- scheidenem Umfange.» General- mender Agenten sowie die Flucht Gebiet sehr rasch einen gewaltigen und stabschef Sprecher nennt auch unver- kriegsunwilliger Einberufener und für die Neutralität und Sicherheit der blümt die Gründe für die nicht son- desertierter Soldaten verhindern soll- Schweiz bedrohlichen Umfang an.» derlich erfolgreiche Abwehrtätigkeit: te. Der k.u.k. österreichischungari- Theophil Sprecher von Bernegg die extrem föderalistische Gestaltung sche Geheimdienstchef hatte u.a. im des schweizerischen Polizeisystems Hotel Anker zu Rorschach ein ameri- und die Doppelspurigkeit zwischen kanisches Spionagebüro geortet, das militärischer und ziviler, d.h. kanto- mit den Italienern zusammenarbeitete Mit diesen knappen und offenherzi- naler, Fahndungstätigkeit. «Die Fä- und dem angeblich zwei als Geistli- gen Sätzen umschrieb der General- den der einzelnen Spionagefälle zo- che getarnte Agenten angehörten. Ein stabschef in seinem Bericht an den General über den Aktivdienst 1914/ 18 ganz genau die Problematik der Spionage in der Schweiz während des Ersten Weltkriegs.

31 diesem Büro zugeteilter Italiener, An- Eine entscheidende Zeit im Ersten selmo Paris, fuhr regelmässig die Ei- Weltkrieg! Drei Wochen zuvor hatten senbahnlinie Sargans-Rorschach ab die Vereinigten Staaten ihre diploma- und nahm in den Bahnhofwirtschaf- tischen Beziehungen zum Deutschen ten die Nachrichten seiner Zuträger Reich abgebrochen, nachdem dieses entgegen. Der wohl wichtigste unter den totalen U-Boot-Krieg erklärt ihnen war ein Landsmann namens hatte. In weniger als sechs Wochen Evaristo Pagnutti, der vor dem Krieg sollte Amerika in den Krieg eintreten. als Bauführer in Friedrichshafen ge- Die kämpfenden Völker rüsteten zu arbeitet hatte und auf die dortigen den Entscheidungsschlachten. Am Zeppelinwerke angesetzt war. Als er bewussten Sonntag um vier Uhr früh im Auftrag Paris’ einmal mehr dort schleppten vier Männer ihre schweren spionierte, wurde er verhaftet und zu Koffer die Bahnhofstrasse hinunter zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Pa- zum Zürcher Hauptbahnhof. Eigent- ris selbst fiel der schweizerischen lich nichts Verdächtiges. Italiener, die Heerespolizei in die Hände. den ersten Gotthard-Schnellzug errei- Die Spionage beider Kriegsparteien chen wollten! profitierte namentlich an der schwei- Plötzlich drückte einer der vier seinen zerischen Ostgrenze vom regen Koffer einem Begleiter in die Hand Grenzgängerverkehr zwischen Vor- und fuhr in einem Taxi davon. Der arlberg und dem Rheintal. Agenten Wagen stoppte vor einem dunklen und Informanten wurden u.a. durch Haus in Aussersihl. Ein Mann stürzte verlockende Heimarbeitsinserate, na- an die Tür und öffnete. mentlich für Heimstickerei, angewor- «Wie ist’s gelaufen?» «Alles in Ord- ben, und besonders begehrte – nung!» Wortlos fielen sich die beiden zwangsläufig auch besonders willige Männer in die Arme. Eines der kühn- – Zielpersonen waren sogenannte Re- sten und erfolgreichsten Geheim- fraktäre: Ausländer, die es vorgezo- dienstunternehmen des Ersten Welt- gen hatten, in der Schweiz zu bleiben, kriegs war geglückt! statt den Einberufungsbefehlen ihrer Die vier Einbrecher hatten in ein an- jeweiligen Vaterländer Folge zu lei- gebliches Zweigbüro des österrei- sten. Schliesslich wurden zahlreiche chisch-ungarischen Generalkonsulats Kundschafter von der Schweiz aus als im ersten Stock des Hauses an der Elektromonteure nach Österreich- Bahnhofstrasse eingebrochen und in Ungarn eingeschleust, das damals un- sechsstündiger Arbeit den mannsho- ter einem ausgesprochenen Mangel hen Tresor auf geschweisst. Was ih- an Spezialarbeitern litt. nen in die Hände gefallen und in vier grossen Koffern zum Bahnhof ge- schleppt worden war, waren die fast «II colpo di Zurigo» lückenlosen Akten der österreichisch- oder: Watergate an der ungarischen Spionagezentrale, Abtei- lung Italien. Bahnhofstrasse Als wenige Stunden später der italie- nische Militârattaché in Bern die Die mit Sicherheit sensationellste und Beute sichtete, fand er zum Beispiel folgenschwerste Geheimdienstaktion rund hundert Adressen von österrei- während der Grenzbesetzung 1914/ chischen Spionen und Saboteuren in 18 spielte sich in der bitterkalten italienischen Hafenstädten, ausser- Schneenacht zum Sonntag, dem 25. dem den Geheimcode des königlich- Februar 1917, im Haus «Zur Trülle» kaiserlichen Marine-Evidenzbureaus. an der Bahnhofstrasse 69 in Zürich ab.

32 Obwohl zunächst nicht einmal die Polizei die wirklichen Hintergrün- de des Einbruchs ahnte, erregte die Tat in Zürich gewaltiges Auf- sehen, denn im Tresor hatten sich auch Bargeld, Münzen und Schmuck für über 50000 Franken befunden. Ein Vermögen! Für diesen Betrag standen damals im Seefeld und in der Enge ganze Mietshäuser zum Verkauf. Wenn es den Einbrechern aller- dings nur um Geld gegangen wäre, hätten sie sich nicht so viel Mühe zu machen brauchen: Im Erdgeschoss des Hauses befand sich eine Bank, die weit mehr Geld weit weniger gut aufbewahr- te als die Österreicher einen Stock höher.

Die Italiener werden nervös Das von Linienschiffskapitän Rudolph Mayer geleitete Zürcher Büro war in den letzten andert- halb Jahren sehr erfolgreich. Der erste grosse Erfolg von Mayers Agenten: die Sprengung des Pan- zerkreuzers «Benedetto Brin» im Hafen von Brindisi. Von nun an nahmen die gezielten Sabotage- akte gegen italienische Militär- und Versorgungsanlagen kein Ende mehr. In Ancona flogen Flugzeughangars in die Luft, in Neapel brannten Lagerhäuser ausgerechnet in dem Augenblick, als sie mit aus Amerika gelieferten Lebensmitteln vollgestopft waren, und im Hafen von Genua wurde das Zollgebäude ein Raub der Flammen. In La Spezia flog ein Munitionszug in die Luft, ebenso wie der mit Dynamit beladene Frachter «Etruria» im Hafen von Livorno.

Der grosse Coup von der Bahnhofstrasse erregte internationales Aufsehen. Einer der Haupttäter war Natale Papini (links oben). Der Tresor, in dem die öster- reichischen Spionagedokumente lagen, wurde aufgeschweisst (links Mitte), die Täter liessen das Werkzeug zurück (links unten, Original-Polizeiaufnahmen). Ne- benstehend: der Tatort, das Haus «Zur Trülle», wie es damals aussah.

33 Lange fahndeten die italienischen Ab- wehrstellen vergeblich nach dem Drahtzieher dieser Sabotageakte, bis sich eines Tages in Zürich der emi- grierte Advokat Livio Bini auf dem Generalkonsulat seines Heimatlandes meldete. Bini war als österreichischer Spitzel bekannt. Er horchte gegen geringes Entgelt die vielen tausend italieni- schen Emigranten aus, darunter zahl- reiche wehrunwillige Sozialisten und Anarchisten, die damals vor allem in Aussersihl und rund um die Kaserne in Zürich wohnten. Natürlich konnte Bini im Geheimbüro an der Bahnhofstrasse, das nicht ein- mal im Adressbuch der Stadt Zürich verzeichnet war, ungehindert ein- und ausgehen. Ob aus plötzlich wiederent- decktem Patriotismus oder gegen Geld: Jedenfalls liess sich der windige Advokat als Doppelagent einsetzen und hielt fortan die als Konsuln ge- tarnten Abwehrleute der Italiener in Zürich über die Bewegung des Fein- des auf dem Laufenden. Er besorgte die Wachsabdrücke der Büroschlüssel und lieferte einen ge- nauen Grundriss. Ausserdem be- schrieb er den Tresor, in dem er zu Recht die begehrten Unterlagen ver- mutete, mit äusserster Genauigkeit. Zur Sicherheit liessen die Italiener so- fort einen Ingenieur kommen, der die Möglichkeiten eines Einbruchs erkun- den musste. Sein Bescheid war posi- tiv. Da wurde die wahrscheinlich parado- xeste Grossfahndung ausgelöst, die es in Italien je gegeben hatte: Von Como bis Sizilien wurden in allen Gefäng- nissen und auf sämtlichen Polizeista- tionen die tüchtigsten Geldschrank- knacker der Republik gesucht. Sie sollten in allerhöchstem Geheimauf- trag der Regierung, die sie eben noch So meldete die ‚Neue Zürcher Zeitung‘ den Ein- bruch. Die Beutezahlen sind in dieser Meldung noch ungenau; später wurden sie korrigiert.

34 bestraft hatte, ihr altes Handwerk wieder ausüben. Der Schlossermeister Natale Papini aus Livorno, 35 Jahre alt, war gerade aus dem Gefängnis gekommen, wo er die Strafe für einen Einbruch in die «Banca Marittima» in Viareggio ver- büsst hatte. Als die Livorneser Polizei das Rundschreiben aus Rom erhielt, musste sie nicht lange überlegen; Pa- pini war mit Abstand ihr fähigster «Schränker».

Rückkehr zur Ehrlichkeit beginnt mit Einbruch Eigentlich hatte sich der Schlosser auf ein ehrliches Leben eingerichtet, wenn es in diesen Kriegszeiten auch an Arbeit fehlte. Aber wer, bitte, kann schon einem Regierungsauftrag wi- Heute im Zürcher Kriminalmuseum: Tresor- unmittelbar danach in seinem Tage- derstehen, vor allem dann, wenn man schloss, Schweissgerät, Brille und Sohlenschutz buch wie folgt: noch Bedingungen stellen darf? zum Verwischen der Spuren. «Ich öffne das Gittertor und lasse die Die italienische Abwehr erklärte sich anderen drei passieren. In diesem Au- mit allem einverstanden, was Papini Schlüssel am eisernen Gittertor beim genblick gehen aussen zwei Polizi- forderte: Streichung sämtlicher Vor- Hauseingang und an der Bürotür im sten vorbei, die kurz hineinschauen, strafen aus dem Leumundsregister, ersten Stock ausprobiert. dann aber ruhig weitergehen. Hastig Befreiung von jedem zukünftigen Am Abend des 24. Februar um 21.30 schliesse ich das Tor. Wir steigen in Militärdienst und eine Prämie in der Uhr steigen die vier Einbrecher ein: den ersten Stock hinauf. Während ich Höhe aller Wertsachen und Bargeld- Papini, Bronzin, der Advokat Bini als die Bürotür aufschliesse, lässt Bini bestände, die sich in dem fraglichen Wegweiser und ein weiterer Helfer Zeichen panischer Angst erkennen. Tresor finden würden. namens Tanzini. Im Hauseingang ge- Papini und Tanzini schauen ihm ins Natale Papini und Remigio Bronzin, genüber stehen zwei Konsulatsbeamte Gesicht und lachen. Wir schliessen ein Mechaniker aus Triest, waren die Schmiere. Sobald sich etwas regt, sol- die Tür hinter uns, ich orientiere mich Köpfe des Unternehmens, das in Zü- len sie sich laut schneuzen und' so die anhand der Skizze und trete ans Fen- rich so grosses Aufsehen erregen Einbrecher warnen. Die Fenster des ster. Leutnant Cappelletti, der gegen- sollte, dass die ‚Neue Zürcher Zei- Büros werden mit Wachstuch ver- über Schmiere steht, gibt das verabre- tung‘ schrieb: hängt, damit kein verräterischer dete Zeichen: alles in Ordnung! Bini «Der neueste grosse Einbruchdieb- Lichtschein nach aussen dringt. Die holt Stricke aus seinem Koffer, die er stahl ist wohl der erste, der Zürich Einbrecher haben in den Koffern, die aus dem Fenster fallenlassen will, praktisch von dem Bestehen eines später zum Abtransport der Beute die- wenn wir fliehen müssen. Ich mon- Berufes in Kenntnis setzt, dem der nen, eine komplette Pyrocopt- tiere das Wachstuch. Um 21.45 Uhr Fortschritt der Technik neben den un- Schweissanlage mitgebracht – das beginnt Papini mit dem Schneiden. zähligen Segnungen und Erleichte- Modernste, was auf dem Markt zu ha- Sobald die Flamme das Blech durch- rungen, die wir ihm verdanken, als ben ist. Der Profi Papini hat sogar stösst, entsteht ein starker Druck, die Giftblüte im letzten Jahrhundert hat daran gedacht, die Fabrikationsnum- Flamme kriecht in die Gummischläu- auf kommen lassen: Es ist der Beruf mern auf den Gasflaschen auszu- che, sie explodieren. Ich habe gerade der Einbruchsingenieure.» Volle fünf schleifen, um die Fahndung zu er- noch Zeit, die Ventile zu schliessen, Wochen dauerten allein die Vorberei- schweren. um Schlimmeres zu verhüten. Das tungen in Zürich. Mehrmals wurden Zimmer füllt sich mit Gas, das sich nächtlicherweile die nachgemachten Ein Tresorknacker packt aus mit einer chemischen Substanz in der Remigio Bronzin beschreibt die ent- Zwischenwand des Tresors verbindet. scheidenden Stunden des Einbruchs

35 Ständig muss ich auf die Azetylen- Das geht sehr schnell. Jetzt kommt und Sauerstoffflaschen aufpassen. Es das Schloss an die Reihe. Ich nehme Bürokrach begünstigt die ist 22.30 Uhr. Jedesmal, wenn wir das einen Schraubenzieher und lege den Einbrecher Deckblech durchstossen, erlischt die Deckel weg. Papini entfernt die Bü- Generalmajor Max Ronge, Chef der Flamme, und ich muss sofort die gel, ich schiebe den Riegel, die Tür Nachrichtenabteilung des österrei- Ventile der Gasflaschen schliessen. geht auf. chisch-ungarischen Armeeoberkom- Die Lage verschlimmert sich zuse- Wie der Blitz schnappt Papini eine mandos und des Evidenzbureaus des hends. Es bilden sich giftige Gase. Kassette und eilt mit ihr ans Fenster, Generalstabes, erinnerte sich wie folgt’an den Einbruch der Italiener in Das Atmen wird schwieriger. Bini um im fahlen Schein der Strassenbe- die Zürcher Spionagezentrale: möchte die Gelegenheit benützen, leuchtung den Inhalt zu kontrollieren. den Raum zu verlassen. Er will uns Papiere! Papini und ich brechen zwei «In der Schweiz hatte sich allmählich weismachen, seine Anwesenheit auf weitere Kassetten auf. Wir finden ein Gegensatz zwischen dem k. u. k. der Strasse sei viel wichtiger; aber Goldstücke, Fotos, noch mehr Papie- Generalkonsul von Maurig in Zürich, wir verbieten ihm zu gehen. re. dessen Unterstützung des Kund- schaftsdienstes wir sehr schätzten, Plötzlich hören wir das Tor. Jemand Zum Glück entdecken wir in dem und dem ihm als Vizekonsul an die öffnet. Wir unterbrechen die Arbeit Büro noch zwei kleine Koffer. Sonst Seite gestellten Linienschiffskapitän sofort und horchen. Ganz deutlich könnten wir nicht einmal alles ab- Mayer herausgebildet, vielleicht weil hört man den Hund des Wächters die tansportieren.» Gehilfen des letzteren zwei Vertrau- Treppen hinauf- und hinuntergehen. Im Kassenschrank befanden sich ensleute des Konsuls, in Österreich Der Wächter schliesst wieder ab. 1‘008 Napoleon-Goldstücke, rund nachträglich naturalisierte Reichsitalie- ner, geheimer Umtriebe für Italien ver- Zum Glück hat Tanzini Handtücher 3‘000 Franken und 32‘000 Kronen dächtigten. und schmutziges Wasser in einem sowie kleinere Beträge in Mark, fer- Becken gefunden. Wir tauchen diese ner eine Reihe von Münzen und Fest in der Gunst des Generalkonsuls, Tücher immer wieder ins Wasser und Schmuckstücken – und eben die be- der ihnen unbedingt vertraute, be- wickeln sie uns um die Köpfe. Nur gehrten Dokumente. kämpften die beiden die Gruppe Linien- die Augen lassen wir frei. Trotzdem schiffskapitän Mayer und brachten sie ist das Atmen fast unmöglich. auch beim Militârattaché Oberst von Ei- Abwehr bricht das Versprechen nem in Bern in Misskredit. So kam es, Alle paar Minuten erlischt die Flam- dass er den vielredigen Organen Ma- me. Wir beschliessen, das Fenster ein Trotz dieses vollen Erfolges hielt sich yers die von einem Deserteur des ita- bisschen zu öffnen, und schauen auf die italienische Abwehr nicht an das lienischen 5. Genieregimentes stam- die Uhr: Mitternacht, und wir haben Versprechen, das sie Papini gegeben mende Meldung über die Unterminie- rung des Gipfels des Col di Lana, der erst die Hälfte der Arbeit geschafft! hatte. Die Regierung händigte ihm le- an dem vom Deserteur vorausgesag- Papini verliert den Mut, lässt alles lie- diglich 30‘000 Lire aus. Aber er ten Tage in die Luft flog, nicht glaubte. gen und sagt: ‚Ich kann nicht mehr.‘ konnte es sich nicht leisten, auf der Ich antworte, er solle zur Abwechs- Erfüllung des Versprechens zu beste- Die Divergenzen zwischen Konsul und lung auf die Ventile achten und mir hen, zumal er bei Androhung schwer- Kapitän veranlassten letzteren, die Ma- rinenachrichtenstelle aus dem Gene- den Schneidbrenner geben. Als ich ster Strafe zu schweigen gelobt hatte. ralkonsulat in ein Privathaus zu verle- ihn noch bei seiner Berufsehre als Mit dem Geld richtete er sich eine gen. Hier wurde in der Nacht vom 24. Einbrecher packe, macht er weiter. Schlosserei ein, die aber nie recht flo- auf den 25. Februar 1917, als unver- Um zwei Uhr früh haben wir rings um rierte. 1954 reichte der monarchisti- zeihlicherweise keines der Unteror- gane im Lokal schlief, ein Einbruch ver- das Schloss Löcher gebohrt. Ich sche Abgeordnete Ettore Viola im übt. stecke einen Geissfuss in eines der Parlament einen Antrag ein, dem um Löcher und beginne zu würgen. Das die Republik verdienten Einbrecher Das Aufsehen war gross. Der kompro- Eisen gibt nach. Tanzini hilft mir. Pa- eine jährliche Rente von umgerechnet mittierte Marineur und sein Personal pini kratzt die chemische Substanz, 1‘700 Franken auszusetzen. Der An- mussten die Schweiz verlassen. die uns so viel zu schaffen gemacht trag verschwand indes in den uner- hat, aus dem Loch. Keiner spricht. gründlichen Schubladen der italieni- Am unangenehmsten war uns, dass neben anderen auf den Kundschafts- Wir zünden die Flamme wieder an, schen Bürokratie und ward nimmer dienst bezughabenden Dokumenten und Papini schweisst das Schutzblech gesehen, geschweige denn erfüllt. auch ein Chiffreschlüssel abhanden auf, das das Schloss einhüllt. Der Schlossermeister starb 1966 im gekommen war.» Alter von 85 Jahren in bitterer Armut in seiner Heimatstadt Livorno; seine Neffen Aldo und Giuseppe Melani,

36 die ein Blumengeschäft besitzen, hat- Mit einer ^unbedachten Bemerkung General Ulrich Wille hoch zu Ross. Wegen der ten ihn unterstützen müssen, damit er verriet einer der beiden Obersten sich Oberstenaffäre geriet er in ernsthaften Streit selbst: Oberst Moritz von Wattenwyl, mit dem Bundesrat: Wille wollte die deutsch- auch nur zu essen gehabt hatte. freundlichen Obersten decken und den öffentli- Chef der Nachrichtensektion des Ar- chen Militärprozess verhindern, konnte sich meestabes, machte sie am 10. Juli aber nicht durchsetzen. Schweizer Nachrichtenchefs 1915 gegenüber seinem dienstun- beliefern die Deutschen tauglichen Geheimschriftexperten schau, jetzt haben sie’s gemerkt!» Dr. André Langié. Dr. Langié hatte Ob denn die Deutschen den Schlüssel – die Oberstenaffäre seinem Chef soeben den Klartext ei- der Russen nun auch herausgefunden nes abgefangenen chiffrierten Teleg- hätten, erkundigte sich Langié. Da lä- Der tollkühne italienische Coup in ramms vorgelegt, das der russische chelte von Wattenwyl, deutete mit Zürich war ein Husarenstück; seine Militârattaché in Paris seinem Berner dem Zeigefinger auf seine Brust und wirklichen Hintergründe wurden erst Amtskollegen gesandt hatte. Darin sprach den verräterischen Satz: «Mais viel später und zunächst nur bruch- stand: «Man informiert mich aus Pe- les Allemands, c’est nous, voyons...» stückhaft bekannt. Wirklich erschüt- tersburg, dass die Depeschen, die Sie («Die Deutschen, das sind doch wir!») tert wurde die Schweiz von einem absenden und empfangen, von den Ein Wort wie eine Zeitbombe! Vier Nachrichtenfall, der zeitweise eine Deutschen gelesen werden'» Etwas Monate später sollte er eine ernste in- ernste Vertrauenskrise zwischen geistesabwesend lächelte Oberst von nenpolitische Krise auslösen! Die bei- Volk und Armee, aber auch zwischen Wattenwyl vor sich hin und murmelte den leitenden Männer im militäri- General und Bundesrat heraufbe- dann, mehr zu sich selber als zu sei- schen Nachrichtendienst der neutralen schwor: die Oberstenaffäre. nem Untergebenen gewandt: «Schau,

37 Schweiz hatten die Abschriften von Kein «einzig Volk von Brüdern» Wehrmännern und ihren Kadern war Hunderten von abgefangenen diplo- schlecht. Der Historiker Peter Dürren- matischen Telegrammen und das täg- Um beides zu verstehen – die Taten matt berichtet: «Der Dienstbetrieb liche vertrauliche Bulletin des Gene- der Obersten und die Aufregung im wurde routinehaft, kasernenmässig ralstabs dem deutschen Militärattache Volk –, muss man sich in die dama- und – abgesehen von der Endzeit – in Bern zugespielt. lige Zeit zurückversetzen, wo die ohne geistige Anregungen durchge- Eidgenossen alles andere als ein «ein- führt. Alles beruhte auf dem deut- General Ulrich Wille (Mitte), begleitet von Ge- zig Volk von Brüdern» waren. Zahl- schen Vorbild des Drills. Die Truppe, neralstabschef Theophil Sprecher von Bernegg reiche kriegswirtschaftliche Affären die nicht unmittelbar zum Grenzdienst (rechts) und Generaladjutant Friedrich Brüg- hatten das Volk erzürnt. Immer bitte- eingesetzt war, übte nach den Pro- ger (links), bei der Inspektion eines Manövers. rer rächte sich das Fehlen einer ge- grammen einer Rekrutenschule, und Bei den Wehrmännern zirkulierte der Spruch: «Was Wille will und Sprecher spricht, dem füge rechten Versorgung des Landes. wenn sie damit zu Ende war, so fing dich und murre nicht.» Auch Sprecher stellte Schieber und Kriegsgewinnler hatten man wieder von vorne an. Gewehr- sich im Militärprozess gegen die Obersten Egli ihre grosse Zeit, während die Fami- griff, Taktschritt und Grussüben füll- und von Wattenwyl vor die Angeklagten. Sie lien der Wehrmänner ohne Lohnaus- ten halbe Tage aus. Das formelle Ex- wurden freigesprochen und nur disziplinarisch gleich und ohne sozialen Schutz Not erzieren erreichte unglaubliche Präzi- bestraft. litten. Das Verhältnis zwischen den sionen. Aber den einzelnen Mann er- füllte es mit wachsender Unlust.» Unlust herrschte auch über die Über- fremdung, die nicht nur geistig, son- dern ebenso zahlenmässig an vielen Orten grössere Ausmasse erreichte als je in der Hochkonjunktur der späten sechziger und frühen siebziger Jahre, welche die verschiedenen Überfrem- dungsinitiativen hervorbrachten. Stramm deutschfreundliche höchste Offiziere wie General Ulrich Wille sprachen auch privat nur hochdeutsch. Namhafte Zürcher und Basler Fami- lien verboten selbst ihren Kindern den Schweizer Dialekt. Schon 1910 lebten 552000 Ausländer in der Schweiz, die Hälfte von ihnen Österreicher und Deutsche. Ihre Zahl hatte sich innert zwanzig Jahren ver- doppelt. Deutsche beherrschten nam- hafte Schweizer Firmen. Ein Drittel der Hochschulprofessoren in der deut- schen Schweiz kam aus Deutschland. So verschob sich der geistige Schwer- punkt der Schweiz immer mehr nach dem Reich hin, so weit, dass zum Bei- spiel ein Deutschprofessor an der Uni- versität Bern, gebürtiger Schweizer, an einem deutschen Philologentag den Ausspruch tat, die Schweiz sei eine geistige Provinz des Deutschen Reichs.

38 Ähnlich lagen die Verhältnisse in der liothekar der Freien Theologischen Der naive Doktor ahnte nicht, dass West Schweiz mit Bezug auf Frank- Fakultät an der Universität Lausanne. Oberst Karl Egli, Unterstabschef in reich. Zwangsläufig spalteten die ge- Langié litt darunter, dass er wegen der Nachrichtensektion, diese Texte gensätzlichen Parteinahmen die drei fehlender Zentimeter Brustum- aus Deutschland mitgebracht hatte, Schweiz. Aber es existierte nicht nur fang nicht militärdiensttauglich war. weil die Deutschen mit dem Code der sprichwörtliche Graben zwischen Umso lieber stellte er seine besonde- nicht fertig geworden waren. Es han- Deutsch und Welsch, sondern, wie es ren, ans Geniale grenzenden Fähig- delte sich um Botschaften, die die rus- der Historiker Jürg Schoch ausdrückt, keiten der Armee zur Verfügung: Dr. sischen Militârattachés in Kopenha- «ein eigentliches Grabensystem. Es André Langié beherrschte nicht weni- gen, Stockholm und London mit Pe- trennte Bürgerliche von Sozialdemo- ger als 32 Sprachen und besass ein tersburg austauschten. Offensichtlich kraten, Sozialdemokraten von Regie- ausgeprägtes Talent, Geheimschrif- vermochte Oberst Egli seinen deut- rung und Armeeleitung, Deutsch- von ten zu entziffern und Codes zu knak- schen Freunden mit den Fähigkeiten Welschschweizern und diese wie- ken! Während des Aktivdienstes seines Dechiffrier-Genies zu impo- derum, wenn auch anders als die wurde er als ziviler Bediensteter in nieren. linksstehenden Kreise, von den Trä- der Nachrichtensektion des Armee- Es steht fest, dass hohe Persönlichkei- gern der Regierungsverantwortung. stabs eingesetzt. ten in Regierung und Armee recht Die Einheit des Staates litt beträcht- Zu Hunderten wurden dem nervösen, bald von der neutralitätswidrigen Zu- lich unter der gegenseitigen Bekämp- sensiblen Gelehrten chiffrierte Depe- sammenarbeit zwischen den beiden fung der auf ihren Positionen behar- schen unterbreitet. Er nahm an, es Nachrichtenobersten und den Deut- renden Meinungsgruppen.» handle sich um Botschaften, welche schen wussten, doch wurde die pein- die Berner Attachés ihren Zentralen liche Angelegenheit vertuscht. Mit Sprachgenie kommt den Obersten übermittelten und welche von den Dr. Langié rechnete indes niemand. auf die Schliche Schweizern abgefangen worden sei- Nach längeren Gewissenskämpfen en. In der Regel wurden die Codes beschloss er zu reden. Aber er ver- Auch der weltfremd scheinende Lite- ein- bis zweimal monatlich gewech- traute sich nicht etwa dem Chef des raturwissenschafter Dr. Andre Lan- selt. Dr. André Langié entschlüsselte Militärdepartements an, sondern ver- gié, damals 43 Jahre alt, machte aus sie alle. Nur wunderte er sich, dass er ständigte anonym einige welsche Po- seinen Sympathien kein Hehl; als es beinahe ein Jahr lang hauptsäch- litiker und die zaristische Botschaft. Welscher neigte er zur Entente. Seit lich mit russischen Depeschen zu tun Zum Zeichen, dass die Russen, ge- 1903 war der ausgesprochen schüch- hatte, deren Inhalt für die Schweiz of- stützt auf seinen Tip, keine Repressa- terne, in sich gekehrte Gelehrte Bib- fensichtlich nichts wert war. lien gegen die Schweiz ergreifen wür-

Oberst Moritz von Wattenwyl, Chef der Oberst Karl Egli, Mitarbeiter des Armee- Dr. André Langié, der Mann mit den Nachrichtensektion, später Beamter. nachrichtendienstes, später Redaktor. 32 Sprachen, deckte die Affäre auf.

39 den, verlangte er ein Inserat. Tatsäch- lich erschien im «Journal de Geneve» Ist der Staatsrat ein Spion? vom 3. Dezember 1915 die verabre- Zur Zeit der Oberstenaffäre geriet so- dete winzige Todesanzeige: «Die gar einer der bekanntesten freiburgi- Freunde von Herrn Alexander N. schen Bürger, der katholisch-konserva- tive Freiburger Staatsrat Emile Savoy, Droujinsky werden benachrichtigt, in Spionageverdacht. Zu Beginn des dass dieser am 16. November auf sei- Jahrhunderts hatte Savoy vier Jahre in ner Besitzung in Russland gestorben Belgien gelebt. Dort hatte er den Jour- ist.» Umgehend beschwerte sich der nalisten Camille Joset kennengelernt, französische Botschafter beim Bun- der am 14. April 1915 in Luxemburg desrat. wegen Spionage zugunsten von Frank- Mit dieser «Todesanzeige» signalisierten die reich zum Tode verurteilt, später aber General Wille versuchte den Sanktio- Russen Dr. Langié, dass sie mit seinen Bedin- zu lebenslänglicher Haft begnadigt nen des Bundesrates zuvorzukom- gungen einverstanden seien. worden war. men. Er machte Oberst Egli zum Chef In den Einvernahmen stellte sich her- der Hauenstein-Befestigung und gab Waren es auch keine wichtigen militä- aus, dass Staatsrat Savoy in seiner Ei- Oberst von Wattenwyl ein Brigade- rischen Nachrichten, so waren es doch genschaft als Polizeidirektor Joset und kommando. Professor Edgar Bonjour: Nachrichten, die wir wegen unserer einem Begleiter zu Händen der deut- «Fast hatte man den Eindruck, die schen Behörden bescheinigt hatte, er Neutralität viel leichter als die interes- habe die Zeit vom 22. Dezember 1914 fehlbaren Obersten seien die Treppe sierte Kriegspartei uns verschaffen bis zum 1. Januar 1915 in Freiburg ver- hinaufgefallen.» konnten. Wichtiger waren diese Nach- bracht. In Wirklichkeit waren die beiden richten immerhin als die meist klägli- Herren verbotener- und heimlicherwei- se nach Le Havre gereist. Savoy hatte Wille will alles geheimhalten chen Informationen, die die in unse- die Bescheinigung schon am 22. De- rem Lande ihr Unwesen treibenden zember ausgestellt. Es kam zum Krach zwischen General Agenten der kriegführenden Staaten Wille und dem Bundesrat. Politisch ihren Auftraggebern zukommen lies- Am 23. Januar 1915 hatte Joset dem instinktlos beharrte der General dar- franzosenfreundlichen Freiburger Poli- sen und für deren Vermittlung sie von tiker ein Telegramm folgenden Inhalts auf, dass dem Land am besten gedient der Gegenpartei mit dem Tod bestraft gesandt: sei, wenn die Affäre nicht an die Öf- worden wären. Die Aneignung und fentlichkeit komme. Das wirklich Entzifferung der diplomatischen Tele- «Pouvez-vous envoyer pour le comité Schlimme sei der «Landesverrat» der à Arlon gramme fremder Staaten ist eine sozu- les 21 ou 23 du mois prochain deux unbekannten Schweizer Quelle, die sagen selbstverständliche Unanstän- mille kilos de sucre? den Nachrichtenhandel den Entente- digkeit – nicht nur in Kriegszeiten...» Répondez de suite.» Vertretern eröffnet habe. Die Presse Weit weniger abgeklärt urteilte das Ob Savoy den wirklichen Sinn dieser erörterte den Fall leidenschaftlich. Volk. Protestversammlungen und Re- Botschaft verstanden hatte oder nicht, Nur widerwillig stimmte Wille einer solutionen jagten sich. Die Linke war war nicht festzustellen; immerhin wur- Untersuchung zu, nachdem ihm der in ihrem Antimilitarismus bestärkt. In de bekannt, dass Joset damals zur Tar- Bundesrat sogar vorgeworfen hatte, nung als Delegierter für ein luxembur- Lausanne riss ein Bursche die deut- gisches Hilfskomitee unterwegs gewe- der Generalstab handle neutralitäts- sche Fahne herunter, die auf dem dor- sen war. Nach dem bei ihm gefunde- widrig und treibe eine Politik, «als ob tigen Konsulat zu Ehren des Geburts- nen Code bedeutete der Text in Wirk- wir Alliierte Deutschlands und Öster- lichkeit: «Am 21., 22. und 23. haben tags von Kaiser Wilhelm II. gehisst zwei Infanteriedivisionen Arlon in Rich- reichs wären». Mit der Untersuchung worden war. Der Bundesrat musste tung Namur passiert.» wurde der Staats- und Völkerrechtler sich eiligst entschuldigen. Die sozial- Professor Dr. Max Huber betraut. In Dem Staatsrat konnte jedoch nicht demokratische Presse sprach von Ha- nachgewiesen werden, dass er diese seinen Lebenserinnerungen urteilt er: lunken («Volksrecht»), und der in Botschaft auch weitergegeben hatte. «Die Mitteilung des Bulletins war Lausanne erscheinende «Grutléen» Nach mehr als einem Jahr des Nach- eine grobe Unkorrektheit, ja auch urteilte: «Ein Offizier, der sich solche forschens stellte der Oberauditor der neutralitätswidrig, denn es enthielt die Armee die Untersuchung aus Mangel Verbrechen hat zuschulden kommen- an Beweisen ein. Beobachtungen unserer Grenzposten, lassen, wird in jeder Armee der Welt Beobachtungen, die interessanter für vor Kriegsgericht gestellt und er- die Kriegführenden als für uns selbst schossen.» Die Oberstenaffäre war waren. der Funke, an dem sich ganze Explo-

40 sionen von Bitterkeit und Hass, von Angst und Unzufriedenheit ent- zündeten. Der Militärgerichtspro- zess, der Ende Februar 1916 im Zürcher Schwurgerichtssaal be- gann, brachte keine völlige Klä- rung und Beruhigung. Die bei- den Offiziere verteidigten sich mit dem nachrichtendienstlichen Grundgesetz, wonach man eben nur im Austauschverfahren zu Nachrichten kommt: Do ut des – ich gebe, damit du gibst... Frei- lich vermochten sie nicht eine ein- zige konkrete Gegenleistung Deutschlands oder Österreichs zu- gunsten der Schweiz zu nennen. Egli und Wattenwyl kamen gnä- dig davon! Das Gericht fand zwar, sie hätten aus Fahrlässigkeit die Neutralitätsvorschriften ver- letzt, doch eines gerichtlich zu be- strafenden Vergehens wurden sie nicht schuldig gesprochen. Für ihre Fahrlässigkeit bestrafte sie General Wille mit je 20 Tage scharfem Arrest. Ausserdem blieben sie vom Generalstabs- dienst suspendiert. Der wohlhabende von Wattenwyl zog sich auf seinen Familiensitz im Murifeld bei Bern zurück. Dann ging er als Berichterstatter verschiedener Schweizer Zeitun- gen an die Front und machte sich nebenher wieder für den Nach- richtendienst des Armeestabs nützlich. Später machte sich der Berner Patrizier um die Schweizer Kinderhilfe in Österreich verdient und wurde Beamter des Eidgenös- sischen Justiz- und Polizeidepar- tements. Oberst Karl Egli, den der Hinaus- wurf materiell bedeutend härter traf, trat in die Redaktion der «Basler Nachrichten» ein.

So endeten immer wieder ertappte Spione in vielen Ländern der Welt. Diese Origi- nalaufnahmen zeigen die Hinrichtung eines Spions durch die österreichisch- ungarische Armee während des Ersten Weltkriegs. Der Feldgeistliche erteilt dem knienden Verurteilten den letzten Zu- spruch (oben). Nach vollzogener Hinrich- tung salutiert das Exekutionskommando vor der Leiche.

41

Der gefährliche Aufmarsch

Frontler, Faschisten und Nazis in der Schweiz

ie Weltwirtschaftskrise schafft Massenarbeitslosig- k eit und Not ohne Beispiel. Im Deutschland der DWeimarer Republik zerfleischen sich die Parteien, während das Volk hungert. 30. Januar 1933: wird Reichskanzler. Am Abend dieses Schicksalstages marschieren 25000 SA- Männer, eine ganze Bürgerkriegsarmee, mit Hakenkreuz- fahnen und lodernden Fackeln durch das Brandenburger Tor zur Reichskanzlei. Kurze Zeit später marschieren sie auch in der Schweiz...

Mit dem Faschistengruss erweisen Schweizer Frontler und Nazis bei der General-Dufour-Feier von 1938 den Feldzeichen der Schweizer Armee die Ehre. Ein symbolhaftes Bild für die dama- lige zerrissene Zeit! 43 Der scheinbar friedliche Regierungs- Bewegung ist aber nur einer von vie- wechsel entlarvt sich: Zeitungen wer- len Gründen für die Bildung der Fron- den verboten, missliebige Beamte zu ten: Noch ist die Schweiz eng mit Hunderten entlassen, die SA geht zum Deutschland verbunden, insbesondere Terror über und ermordet Dutzende die Wirtschaft und das Bankensystem, von politischen Gegnern. das grosse Guthaben beim nördlichen 27. Februar 1933: Der Reichstag in Nachbarn besitzt; das nationalsoziali- Berlin brennt. Ein holländischer Kom- stische Versprechen, einen Kreuzzug munist soil’s gewesen sein, Schaupro- gegen den Bolschewismus zu führen, zess, Todesurteil. Jetzt geht alles sehr ist für weite Kreise des schweizeri- schnell. schen Bürgertums durchaus annehm- 24. März 1933: das Ermächtigungsge- bar, zumal sich in der Innenpolitik der setz. Hitlers Regierung kann Gesetze Bürgerblock und die (damals noch ar- erlassen, ohne den Reichstag zu fra- meefeindliche und klassenkämpferi- gen. sche) Sozialdemokratie unversöhnlich Parteienverbot, Röhm-Putsch, Blut- gegenüberstanden. Gerade dieses kämpferische Gegen- bad, Austritt aus dem Völkerbund, Rückführung der Saar, Schaffung der einander ist vielen jüngeren Bürgern Achse Berlin-Rom, Aufrüstung... zuwider; sie erblicken in der von Europa treibt auf den vernichtendsten Deutschland inspirierten Frontenbe- aller Kriege zu. Auch an der lautlosen wegung so etwas wie eine dritte Kraft, Front der Geheimdienste wird gerü- einen Ausweg aus dem hergebrachten stet. Das Beispiellose am deutschen Grabensystem: Nationalsozialimus Netz, das über ganz Europa geknüpft wörtlich genommen. wird, ist die explosive Mischung von Dazu kommt die ausgeprägte Ten- Aggressivität und Systematik. denz, tüchtige jüngere Leute nicht ans Noch finden die Eroberungen nur auf Ruder zu lassen; das böse Wort von dem Papier statt: Nicht ein halbes Jahr der Schweiz als «Greisendemokratie» ist seit Adolf Hitlers Machtergreifung ist nicht unberechtigt. vergangen, da führt die «Hamburger Schliesslich begünstigt die wirtschaft- Illustrierte» in einer Gesamtdarstel- liche Misere die Suche nach neuen lung des deutschen Volkes bereits die Wegen. Tausende von gewerblichen 2,86 Millionen Deutschschweizer als und bäuerlichen Existenzen gehen zu- «heimatlose Deutsche» auf. Aus den grunde. Die Arbeitslosigkeit ist ein neuen Schulbüchern lernt die deutsche Massenphänomen, die soziale Sicher- Jugend, das Finsteraarhorn sei der heit gleich Null. Das begünstigt den höchste Berg des Deutschen Reichs. Ruf nach autoritärer Führung, nach Auch in der Schweiz gärt es. Der dem «starken Mann». Frontenfrühling erscheint vielen, zu- Allein in der deutschen Schweiz gibt nächst wohlmeinenden Bürgern als es von den frühen dreissiger Jahren an tauglicher Aufbruch in eine neue, bes- mindestens ein Dutzend frontistischer sere Zeit. Bewegungen und Splittergruppen, die Die Machtergreifung Hitlers und die Bindungen ans Ausland unterhalten. Suggestivkraft seiner radikalen neuen Viele ihrer Führer und Mitläufer wer- den zu Spionen und Landesverrätern. Dr. Ernst Biedermann, Landesführer der «Na- Kaum eine grosse Nachrichtenaffäre tionalen Front» (rechts oben). Diese Organisa- vor und während des Zweiten Welt- tion liebte es, sich militärisch zu gebärden. Ihre kriegs, in der nicht Frontisten, zum Mitgliederausweise gab sie in Form von Dienst- büchlein ab (Mitte). Ein Ausschnitt aus der Zür- Teil fanatische Nazis, Hauptrollen cher Kaderliste beweist die straffe Organisation spielen! (unten).

44 Verwirrung, Zersplitterung, Verrat

«Ein hervorstechendes Merkmal der frontistischen Bewegung bildeten die Eifersüchteleien der Gruppen unter sich wie der Spitzenfiguren innerhalb der einzelnen Parteiungen. Sie waren die Frucht eines Trugschlusses: Hitler hat mit sieben Mann begonnen und wurde der Führer einer grossen Nation, folglich habe ich mit sieben Getreuen die Chance, ein schweizerischer Hitler zu werden!» Prof. Dr. Karl Weber Die Geschichte der schweizerischen «Erneuerungsbewegungen» wimmelt von Gründungen, Abspaltungen, In- trigen, Richtungskämpfen, Eini- gungsversuchen, vorübergehenden Versöhnungen, neuer Feindschaft – und von Männern mit hemmungslo- sem Machtstreben. Wiederholt unter- nahmen die deutschen Führungsstel- len Versuche, die verschiedenen Be- wegungen zusammenzuführen und damit zu stärken, doch blieb der Er- folg aus. So kommt denn der Histori- ker Walter Wolf in seiner wegweisen- den Studie «Faschismus in der Der böse Geist des Jahrhunderts, Adolf Hitler. binde mit dem langschenkligen Ihn hatten viele Frontler zum Ideal erwählt. Schweiz» zum Schluss: Schweizer Kreuz, dem Zeichen der Unser Bild zeigt Hitler bei einer Kundgebung Bewegung). Die NF-Mitglieder grüs- «Die selbstmörderische Tendenz zum im Berliner Sportpalast. Partikularismus verhinderte ein ge- sten sich mit dem alteidgenössischen ordnetes Wachstum der Fronten. Sie - Nationale Front Schlachtruf «Harus». Politische An- begünstigte im Gegenteil ein ungezü- Bedeutendste und langlebigste Frönt- fangserfolge stellten sich ein. Im be- geltes Wuchern von Gruppen und lerpartei, hervorgegangen aus der von sonders frontenfreundlichen Grenz- Bünden und raubte damit dem Fron- jungen Akademikern freisinniger kanton Schaffhausen wurde zwar der tismus seine Schlagkraft. Schon aus Richtung gegründeten «Neuen Front» NF-Kandidat für den Ständerat nicht diesem Grunde konnte der ‚Erneue- (autoritär-ständestaatliche Tenden- gewählt, doch im September 1933 rungbewegung’ kein dauernder Er- zen, aber noch klares Bekenntnis zur kam es bei den Zürcher Stadt- und folg beschieden sein. Die chaotische Schweiz) und der «Nationalen Front» Gemeinderatswahlen zur Aufnahme Zersplitterung der Fronten musste (antisemitisch, antidemokratisch, na- der NF in den Bürgerblock. Das Ziel, letztlich nur den alten Parteien zugute tionalsozialistisch). Im April 1933 die sozialistische Mehrheit zu bre- kommen und damit den demokrati- schlossen sich die beiden Bünde zu- chen, wurde nicht erreicht. Im Ge- schen Institutionen unseres Landes sammen (vorerst zum «Kampfbund meinderat erhielt die NF auf Anhieb förderlich sein.» Neue und Nationale Front»). Erster zehn Mandate, die alle auf Kosten der Versuchen wir, stichwortartig einen Landesführer war der Zürcher Kan- Freisinnigen und der Demokraten Überblick über die wichtigsten län- tonsschullehrer Dr. Ernst Bieder- gingen. Doch schon wegen dieser Be- gerdauernden oder auch nur kurzlebi- mann, ihm folgte der Schaffhauser teiligung an einer Parteienwahl kam gen Einzelorganisationen zu gewin- Anwalt Dr. . Schnell pas- es zur ersten Spaltung. Die NF, die nen: ste sich die Nationale Front nordi- 1933 die Chance gehabt hätte, als schen Vorbildern an. Sie stellte ag- rechtsstehende Oppositionsgruppe ei- gressive Saalschutztruppen (Harste) ne Rolle in der eidgenössischen Poli- auf, die Uniformen trugen (graues tik zu spielen, manövrierte sich selbst Hemd, schwarze Krawatte, rote Arm-

45 ins Abseits. Ihr kämpferischer Antise- - Nationalsozialistische Eidgenös- mitismus und Antiliberalismus wirk- sische Arbeiterpartei oder Bund ten abstossend. Die Enthüllung, dass Nationalsozialistischer Eidgenossen die NF von Deutschland finanziell 1931 vom eingebürgerten Architekten unterstützt wurde, der blamable Aus- Theodor Fischer gegründet und zur gang des Prozesses um die von ihr eif- Zeit des Frontenfrühlings schon im rig verbreiteten gefälschten «Proto- Zerfall. Fischers sofortige und blinde kolle der Weisen von Zion» und die Gefolgschaft zu Hitler trug ihm in der immer offenere Hinwendung zum Schweiz heftige Kritik ein. Fischers Nationalsozialismus leiteten ihren Gefolgschaft trat mehrheitlich zur Na- Niedergang ein, der 1937 durch die tionalen Front über. vernichtende Ablehnung der Volksin- itiative für ein Verbot der Freimaure- - Nationalsozialistische Schweize- rei besiegelt wurde. rische Arbeiterpartei (Volksbund) Radikale Absplitterung von der Natio- - Schweizerische Faschistische nalen Front nach deren Wahlbündnis Bewegung mit den Zürcher Bürgerlichen vom Gegründet vom Obersten und Exdo- Herbst 1933. Führer dieses Volksbun- zenten für Militärwissenschaften an des waren der später als Landesverrä- der ETH , war diese ter verurteilte Major Gruppe auf Mussolini ausgerichtet, und Oberstdivisionär Emil Sonde- der Fonjallaz und seine Getreuen am regger. Die beiden zerstritten sich 17. Oktober 1933 empfangen hatte. aber schon ein knappes halbes Jahr Vorübergehend hatte sie Sektionen in später, worauf Sonderegger eine den Kantonen Tessin, Waadt, Neuen- «Volksfront» gründete. Diese ging burg, Genf, Solothurn, Zürich und 1935 im «Eidgenössischen Bund» Graubünden, doch brachte sie es nie auf. Der vor allem auf Basel be- auf einen grünen Zweig. Die Beteili- schränkte Volksbund (etwa 400 Mit- gung an kantonalen Wahlen im Tes- glieder) erhielt seinerseits Zulauf von sin und im Wallis endete äusserst bla- Restbeständen der Fischer-Partei. Der mabel. 1937 wurde die Bewegung li- Volksbund war extrem deutsch- quidiert. freundlich und antisemitisch. Zeitung und Fahne führten das Hakenkreuz. - Nationaldemokratischer Am 10. Dezember 1938, als der Bun- Schweizerbund desrat durch die Demokratieschutz- Gegründet 1935 vom Appenzeller verordnung gerade die Kompetenz für Exsozialdemokraten und politischen Parteienverbot erhalten hatte, löste Einzelgänger René Sonderegger. In Leonhardt seine Partei auf. Er führte Zürich beteiligte er sich 1935 an den sie über in die Nationalratswahlen und brachte es nur auf 192 von 154‘015 Listen. Ab - Schweizerische Gesellschaft der 1940 bekannte sich der Schweizer- Freunde einer autoritären bund offen zum «Europäertum Adolf Demokratie Hitlers», den Sonderegger als den Während sich Leonhardt nach Frank- «grössten und einzig praktizierenden furt am Main verzog, trat hier zum er- Staatsphilosophen, welcher die De- stenmal der Luzerner Journalist Franz mokratie zu erwecken imstande ist», Burri in Erscheinung. Die SGAD bezeichnete. Auch sein Bruder Hans führte vor allem Kampagnen mit Konrad, ehemaliger Appenzeller überaus heftigen, gegen die Schweiz, Stände- und späterer Nationalrat, der ihre Behörden und ihre militärischen den Freiwirtschaftlern nahestand, be- kannte sich zu ähnlichen Grundsät- zen.

46 Führer gerichteten Flugblättern. Zahl- reiche Verteiler wurden im Oktober 1940 von der Bundespolizei verhaftet. Mehrere SGAD-Mitglieder, darunter Burri selbst, wurden später als Lan- desverräter zu hohen Strafen verur- teilt. Zwei von ihnen gehörten dem deutschen Kommando an, das im Sommer 1940 mehrere schweizeri- sche Militärflugplätze sabotieren sollte («Unternehmen Wartegau»). Am 8. November 1940 verbot der Bundesrat diese Gesellschaft.

- Eidgenössische Soziale Arbeiter-Partei Entstand als Abspaltung von der Na- tionalen Front (1936) und fusionierte mit der Eidgenössischen Sozialen Volksbewegung (1938), ohne indes- sen zahlenmässige oder politische Be- deutung zu erlangen. Als Führer wur- de der damals 24-jährige Gründer der Partei, Ernst Hofmann, verehrt. Die ESAP erfreute sich der kräftigen fi- nanziellen Unterstützung seitens ein- zelner Industriebetriebe. 1940 wurde sie auf Weisung deutscher Amtsstel- len aufgelöst und mit dem «Bund Treuer Eidgenossen» zur «Nationalen Bewegung der Schweiz» verschmol- zen.

- Bund Treuer Eidgenossen Unter der Leitung von Dr. Alfred Zan- der, Dr. , Benno Schaeppi und Dr. Wolf Wirz versuchte auch diese Gruppe, die nach ihrer Auf- fassung schwächlich gewordene Na- tionale Front rechts zu überholen. Nach dem Österreichs er- hofften sich diese «treuen Eidgenos- sen» für die Schweiz einen ähnlichen Weg. Im November 1938 wurde Dr.

Fröntleraufmarsch auf der Seebrücke in Luzern (links oben). Das langschenklige Schweizer Kreuz war das Wappen der Bewegung. Unten: Die Frontenführer im Demonstrationsmarsch durch Winterthur. Links , in der Mitte Landesführer Rolf Henne, rechts Leo Vik- tor Bühlmann.

47 Links: Eine der eigenartigsten und tragischsten Gestalten der schweizerischen Fröntlerszene war der Schriftsteller (1875- 1944). Er wuchs als Waisenkind in Armenhäu- sern auf und wurde Schuhmacher. Noch vor dem Ersten Weltkrieg liess er sich in Deutsch- land als freier Schriftsteller nieder. Dort feierte er beachtliche Erfolge, doch in seiner schwei- zerischen Heimat blieb ihm die Anerkennung versagt. Nicht zuletzt aus Enttäuschung dar- über wandte er sich zunächst dem Kommunis- mus und ab 1936 dem Nationalsozialismus zu. Als Propagandaredner der «Nationalen Front» zog Schaffner durch die Schweiz. Er gehörte auch der Frontistendelegation an, die 1940 von Pilet-Golaz empfangen wurde. Ungeachtet sei- ner politischen Einstellung galt Schaffner als das stärkste und eigenartigste Talent des da- maligen Schweizer Schrifttums.

Jakob Schaffner, Max Leo Keller und Dr. Rolf Henne Oberst Fonjallaz, Führer der Schweizer Schriftsteller (früher Nationale Front), Ernst Hof- Faschisten (Richtung Mussolini). mann und Heinrich Wechlin (ESAP) - Bund der Schweizer in Gross- Dr. Zander verhaftet. In der Untersu- sowie Hans Oehler und Alfred Zander deutschland chung stellte sich heraus, dass er seit (BTE). Parteigebote und Organisati- Dieser Auslandschweizerverein na- mindestens vier Jahren politischen onsstatut der NBS entsprachen wört- tionalsozialistischer Prägung wurde Nachrichtendienst zugunsten lich denjenigen der deutschen Nazi- im Juni 1940 in Stuttgart gegründet Deutschlands betrieben hatte und der partei. Aufsehen erregte die NBS, als und zählte Ende Februar 1944 rund BTE nichts anderes als eine Spio- ihre Spitzenleute am 10. September 1800 Mitglieder. Als Gründer traten nageorganisation war. 1940 von Bundespräsident Pilet-Go- und der zum Obersturm- laz in offizieller Audienz empfangen - Nationale Bewegung der bannführer der Waffen-SS aufge- wurden. Wenige Tage später fand Schweiz rückte Luzerner Arzt Dr. Franz Ried- sich Dr. Keller bei Rudolf Hess, dem Gegründet im Juni 1940 als Sammel- weg auf. Die führenden BSG-Mitglie- Stellvertreter des Führers, ein. Die becken für die zersplitterten Fronten- der legten einen Eid auf «den von der Fröntleraudienz verschlechterte das organisationen. Die treibenden Kräfte Vorsehung ausersehenen Retter des Vertrauensverhältnis zwischen Bun- waren der Wirtschaftsberater Dr. Abendlandes, Schöpfer einer neueu- desrat und Volk dramatisch. Nach- ropäischen Ordnung und Führer aller dem sich die noch verbliebenen nazi- Germanen» ab. Zahlreiche führende freundlichen Schweizer Organisatio- Mitglieder wurden nach dem Krieg nen an einer vom Agentenführer Dr. Wie sich die Dinge wegen Landesverrats sowie politi- Klaus Hügel (Sicherheitsdienst der gleichen... schen und militärischen Nachrichten- SS in Stuttgart) nach München einbe- dienstes streng abgeurteilt. Insbeson- rufenen Einigungskonferenz halb- Propagandalied der SA dere hatte der BSG Schweizer Frei- wegs zusammengerauft hatten, glaub- willige für die Waffen-SS geworben «Durchs deutsche Land marschieren te Keller vom Bundesrat in ultimati- wir, und in Stuttgart das berüchtigte Pan- ver Form uneingeschränkte Ver- für Adolf Hitler kämpfen wir, die rote oramaheim, Auffangstation für junge sammlungsfreiheit nebst der Erlaub- Front – KPD – Schweizer und Zentrale für Spionage schlagt sie entzwei, nis zur Herausgabe einer Tages- und gegen die Schweiz zugleich, unterhal- SA marschiert – Achtung, die Strasse einer Wochenzeitung fordern zu kön- frei!» ten. nen. Am 19. November 1940 verfügte der Bundesrat die Auflösung der Na- Propagandalied der «Eidgenössischen - Nationalsozialistischer Schwei- Sozialen Arbeiter-Partei» (ESAP) tionalen Bewegung der Schweiz. zerbund / Nationalsozialistische Be- «Durchs Schweizerland marschieren wegung in der Schweiz wir, Auch dieser Verein war eine Ausland- für unsre Freiheit kämpfen wir, die rote schweizerorganisation. Er wurde im Front – KPS – schlagt sie entzwei, Oktober 1940 von Franz Burri und ESAP marschiert –Achtung, die Strasse frei!»

48 Divisionär , Führer des Ernst Hofmann, Führer der «Eidgenössischen Dr. Max Leo Keller wollte die Fronten eini- «Volksbundes» und der «Volksfront». Sozialen Arbeiter-Partei». gen und wurde zum Landesverräter.

Ernst Leonhardt als Konkurrenz zum der Schweiz. Nicht nur die Nazis vor allem dorthin reisende Schweizer BSG gegründet, weil die Führungsan- spionierten: Der sozialdemokratische ausgehorcht, denen er zum Teil weis- sprüche dieser beiden Schweizer Na- Tessiner Regierungsrat Guglielmo zumachen verstand, die Nachrichten zis im BSG offensichtlich auf Wider- Canevascini schmuggelte drei über- seien für die Schweiz bestimmt. In stand gestossen waren. Die neue Or- zeugte, aber in der Öffentlichkeit un- Wirklichkeit übergab der braune ganisation zählte zeitweise rund bekannte Parteimitglieder in die «Fe- Oberst seine Befunde den Abgesand- 2‘400 Mitglieder. Mit der «National- derazione Fascista Svizzera» ein, ei- ten des Dritten Reichs. Er bespitzelte sozialistischen Bewegung in der nen Tessiner Ableger der kurzlebigen auch die britische Nachrichtenagentur Schweiz» schuf sich der NSB eine Fi- mussolinifreundlichen Gruppen des Exchange Telegraph sowie die Verei- liale in der zu «befreienden» Heimat. Obersten Fonjallaz. Die drei teilten nigung der Exilpolen in der Schweiz. Der Bund blieb bis zum Kriegsende sich eifrig in die Nachtwachen im Kurz nach Verbüssung der dreijähri- bestehen und galt allgemein als die Parteilokal und kopierten dabei näch- gen Zuchthausstrafe starb er. radikalste und am heftigsten gegen telang die Befehle der «Führer», die die Schweiz arbeitende Nazi-Organi- sie prompt den Sozialdemokraten Fünfte Kolonne im Aufbau sation. hinterbrachten. So wurde der von den Faschisten geplante «Marsch auf Bel- Vorerst wurden die Ausländsdeut- linzona» vom 25. Januar 1934, bei schen auf ihre nachrichtendienstliche dem gegen das neue kantonale Ord- Verwendung hin vorbereitet. Eine nungsgesetz protestiert werden sollte, «Forschungsstelle Schwaben im Aus- Der Untergrund regt sich zu einem Fiasko. Als das magere land» zum Beispiel versandte in der Häufchen von knapp hundert Tessi- Schweiz an Hunderte von niederge- lassenen Deutschen «Fragebogen zur Gewalt und Terror waren bei den ner Faschisten das Regierungsge- sippenkundlichen Erfassung der Fröntlern längst an die Stelle politi- bäude stürmen wollte, in dem gerade Schwaben im Ausland», auf denen scher Argumente getreten. Erika der Grosse Rat tagte, brach die linke neben den genauen familienkundli- Manns Kabarett «Die Pfeffermühle» Jungmannschaft aus ihren Verstecken wurde in Zürich allabendlich von ei- hervor und verprügelte die Mussolini- chen Tatsachen auch «bemerkens- werte Ereignisse der Familie oder ein- gens herbeikommandierten Einsatz- Jünger jämmerlich. Polizei und Feu- zelner Familienangehöriger» ausführ- kommandos gewalttätig gestört. Auf erwehr mussten schlichten. lich zu schildern waren. Schon bald offener Strasse überfielen Frontler Oberst Fonjallaz selber entpuppte wurde jeder deutsche Student, der Schweizer Juden und Freimaurer. In sich, wenn auch viel später, als Agent den Wohnungen sozialdemokrati- des Auslandes. Als er im Januar 1940 zum Studium in die Schweiz ausrei- scher Redaktoren explodierten Bom- nach Deutschland ausreisen wollte, sen durfte, in eigens eingerichteten ben. wurde er aus dem Zug heraus verhaf- Es war die Zeit der aufflammenden tet. Zum Nachteil Frankreichs hatte er Spionagetätigkeit und der wachsen- den geheimdienstlichen Agitation in

49 Schulungslagern, zum Beispiel in zwischen Ariern und Juden: Nennung Auch die übrigen Organisationen für Überlingen, zur Bespitzelung von der Organisationen, mit denen diese Ausländsdeutsche wurden schnell Kommilitonen angeleitet. Als dies be- Emigranten zusammenarbeiteten.» auf- und ausgebaut. In der zweiten kannt wurde, führte die Polizei bei Schliesslich stellte sich heraus, dass Hälfte der dreissiger Jahre gab es den Mitgliedern der Landesleitung zahlreiche nationalsozialistische Or- überall in der Schweiz die Hitler-Ju- der Deutschen Studentenschaft in Zü- gane in Deutschland Auskunftsbe- gend und den Bund Deutscher Mädel, rich und Bern Haussuchungen durch. gehren bei den deutschen Studenten- die Deutsche Berufsgruppe und die Zehn Jahre später berichtete der Bun- schaften in der Schweiz gestellt hat- Frauenarbeitsgemeinschaft, den Na- desrat den eidgenössischen Räten: ten. Die Studentenfunktionäre sollten tionalsozialistischen Lehrerbund und «Aus dem durch diese Polizeiaktio- in erster Linie über deutsche Rück- den Opferring, Sportgruppen, Kraft nen ergänzten Aktenmaterial ergab wanderer berichten, die sich zum Bei- durch Freude, Deutsche Glaubensbe- sich in erster Linie der Gesamtein- spiel bei einer deutschen Amtsstelle wegung, W interhilfswerk, Deutsche druck, dass man es bei der NSDAP, zur Arbeitsvermittlung gemeldet hat- Arbeitsfront und die Vereinigung für Landesgruppe Schweiz, bereits mit ten, ferner über Parteimitglieder, die das Deutschtum im Ausland. einer ausserordentlich straffen, bis in von einer Schweizer Ortsgruppe in Früh befasste sich die Bundesanwalt- alle Einzelheiten von der deutschen eine deutsche überzutreten wünsch- schaft in Zusammenarbeit mit der Zentrale abhängigen Organisation zu ten. Auskünfte sollten auch erteilt Zürcher Kantonspolizei mit der Sport- tun hatte.» werden über Leiter oder Besitzer von abteilung der NSDAP Zürich. Schon Vorläufig ergaben sich aber noch sehr Schweizer Hotels, die der Deutsche 1935 exerzierte diese nach den Regle- wenig eindeutig strafbare Tatbe- Automobil-Club berücksichtigen menten der (SA) der stände. Der Bundesrat beklagte sich: sollte, und über Firmen, die deutsche NSDAP in Deutschland. Am 13. Ok- «Nach wie vor war die Abgrenzung Vertretungen suchten. tober 1935 fand in Waldshut ein dessen, was den schweizerischen In- Sportfest statt, an dem Gruppen aus teressen zuwiderlief, die Landessi- Zürich, Brugg, Baden, Genf, St. Gal- cherheit gefährdete oder gegen die len, Luzern und Bern teilnahmen. Die schweizerischen Gesetze verstiess, Nationalsozialisten aus der Schweiz von dem, was noch als zulässig ange- trugen dabei einheitliche Kleidung, sehen werden konnte, nicht leichter die der Uniform der SA entsprach, mit geworden, da sich fast nirgends der Merkwürdige Landkäufe dem Unterschied, dass anstelle des klare Tatbestand einer Gesetzwidrig- braunen ein weisses Hemd getragen keit herausschälen liess und von deut- «Schon 1938 war ein Anwachsen der wurde. An diesem Sportfest wurde scher Seite formell immer wieder die fremden Spionage auf unserem Gebiet unter anderem auch Handgranaten- festzustellen. Es ist vorgekommen, dass Respektierung des Gastlandes betont fremde Staatsangehörige Land in unmittel- werfen demonstriert. wurde.» barer Nähe wichtiger Anlagen kauften. Die Die Dokumente, die bei der Haussu- Das neu beigebrachte Material bestä- Reorganisation und Modernisierung unse- chung beim Landesleiter der Deut- tigte indessen, dass die deutschen rer Armee, die Beschaffung von Material schen Studentenschaft in Zürich ge- und neuen Waffen, die Errichtung eines Auslandsstudenten sorgsam ausgele- ganzen gestaffelten Befestigungssystems, funden wurden, führten zur sofortigen sen, in besonderen Lagern geschult überhaupt sämtliche zur Verteidigung des Entlassung eines Bundesstenographen wurden und auch im Ausland in die Landes getroffenen Anordnungen erweck- aus der Bundeskanzlei, der trotz vor- NS-Organisation eingespannt blie- ten das Interesse des Nachrichtendienstes heriger Warnung Parteimitglied ge- der fremden Mächte, deren Agenten un- ben. Im Überlinger Lager waren den sere Pläne auszuspähen begannen. (...) blieben war. Er wurde offensichtlich deutschen Studierenden in der Dabei handelte es sich fast ausschliesslich als Sicherheitsrisiko betrachtet. Schweiz Fragebogen abgegeben wor- um Spionage zugunsten Deutschlands. den, auf denen Fragen wie diese zu (...) Bis dahin hatten sich fremde Agenten darauf beschränkt, auf schweizerischem «Gestatten, Danner, beantworten waren: Staatsgebiet Beobachtungsposten und Gestapo-Agent!» «Wie verhielten sich die Emigranten, Nachrichtenlinien einzurichten, welche vor und welches war ihre Tätigkeit? allem einer Aktion gegen andere Staaten Aber auch an Anzeichen für eine di- (Auch in politischer Hinsicht.) Nach dienen sollten.» rekte Agententätigkeit Nazideutsch- Möglichkeit bei der Aufzählung mit Aus dem Bericht an den General über den lands in der Schweiz fehlte es schon genauer Namensnennung. Trennung Aktivdienst von Generalstabschef Jakob damals, lange vor Ausbruch des Zwei- Huber ten Weltkriegs, nicht. Der sozialde-

50 mokratische Berner Journalist Otto Pünter, der ab Sommer 1936 als Spion für das republikanische Spa- nien in Italien und der Schweiz arbei- tete, hatte Ende 1934 eine Kampagne gegen Fonjallaz geführt. Da stiess ihm Seltsames zu. «Mitte Januar 1935, an einem düstern Vormittag, klingelte es an meiner Wohnung am Sennweg 7 in Bern. Als ich öffnete, stand vor mir ein grossge- wachsener junger Mann mit zurück- gekämmtem blondem Haar. ‚Sind Sie Herr Pünter?’ erkundigte er sich mit forschendem Blick. ‚Ja, Sie wünschen?‘ ‚Gestatten Sie, dass ich mich vor- stelle. Mein Name ist Martin Danner. Gestapo-Agent 10010 aus München. Ich möchte mit Ihnen sprechen.‘» Otto Pünter legte seine Hand ins Feuer, dass es genau so und nicht an- ders gewesen ist, so unglaublich es klingt! Danner erzählte Pünter seine Lebens- geschichte. Nach dem Studium sei er Journalist bei den «Münchner Neue- sten Nachrichten» geworden. Nach der Machtübernahme habe er sich dem nationalsozialistischen Druck gebeugt. Seine Mutter sei Schweize- rin gewesen. Nicht zuletzt deswegen habe ihn SS-Gruppenführer Heydrich in einen Gestapo-Lehrgang für Agen- ten gesteckt. Martin Danner war, wie er erklärte, auf seinem ersten Auftrag. Er sollte sich mit den Führern der ver- schiedenen nationalsozialistischen Schweizer Organisationen in Verbin- dung setzen und herauszufinden su- chen, welche schweizerischen Per- sönlichkeiten zu einer Zusammenar- beit mit den Nazis bereit wären. Dan- ner erklärte, der Auftrag sei ihm zu-

Mit «ruhig festem Schritt», wie es im Horst- Wessel-Lied hiess, marschierten die Sport- gruppen der NSDAP auf, hier bei einem Fest in Zürich (oben). Die Marschrichtung wurde im gleichen Umzug schon nach wenigen Minuten klar; das Publikum entbot den Hitler-Gruss.

51 wider, und er wolle die Schweizer Öf- zu, der «Flugzeugüberfall» sei von fentlichkeit alarmieren. Er habe auch höchster Stelle in Berlin geplant wor- schon bei Dr. Markus Feldmann, dem den, um einen Beweis für die «Blut- Chefredaktor der «Neuen Berner Zei- schuld der Schweiz» zu konstruieren. tung» und nachmaligen Bundesrat, Wehner und Krüger wurden ohne vorgesprochen. Formalitäten an die deutsche Grenze Pünter entschloss sich, diesen angeb- gestellt. Die Namen waren natürlich lichen Überläufer ernst zu nehmen. falsch gewesen. Danner schrieb ihm einen ausführli- chen Bericht über den Aufbau der Ge- Waffenschmuggel und heimen Staatspolizei. Ausserdem gab Menschenraub er ihm die auszugsweise Abschrift ei- nes Berichtes an Heydrich, in dem Schon seit geraumer Zeit hatten die Danner seine bisherigen Aktivitäten deutschen Übergriffe zugenommen – in der Schweiz rapportierte. selbst wenn sie der Öffentlichkeit aus- Nach einigen arbeitsreichen Wochen gesetzt waren. In Staad bei Rorschach wurde Martin Danner in Zürich ver- wurden drei Schmuggler verhaftet, haftet, als er sich zu einem Treffen die an Bord eines deutschen Motor- von italienischen und deutschen Ge- boots Bomben, Uhrwerke für Zeit- heimagenten begeben wollte. Ein zünder, Zündschnüre, Handfeuerwaf- Prozess wurde ihm, wie damals üb- fen und hochbrisante Sprengkörper lich, nicht gemacht. Die Schweizer aus den Beständen der Deutschen Bundesam waltschaft wollte Danner Wehrmacht hinüber nach Österreich so schnell wie möglich abschieben. hatte bringen wollen. Die Ladungen Er bat darum, an die liechtensteini- hätten genügt, um zwei Brücken oder sche Grenze gestellt zu werden. Seit- 15 Eisenbahnlinien zu zerstören. her hat man von ihm nie wieder etwas Das gefährliche Gerät war für Terror- gehört... akte in Österreich bestimmt, das da- mals noch nicht ins Reich «heimge- kehrt» war. Die Verhafteten entpupp- Ein Attentat wie bestellt ten sich als SA-Männer der in Klarer war jedenfalls die Rolle, die je- Deutschland stationierten Österrei- ner – dieses Mal dunkelhaarige – Ger- chischen Legion. Sie erhielten Zucht- mane spielte, der sich bei einem Tref- hausstrafen, und der Bundesrat prote- fen mit Pünter und dem spanischen stierte in Berlin. Gesandten Fabra Ribas als «Wehner, Es war nicht der erste und nicht der deutscher Marxist», vorstellte. letzte Protest! Deutsche Agenten, ver- Wehner entwickelte in der Berner mutlich SA-Männer, drangen nach

Botschaft des republikanischen Spa- Ein neuer Schweizer-Exportartikel: Militärische Geheimakten Ramsen SH ein und verschleppten in nien einen phantastischen Plan: Beim Vermittler wurden gegen Kaution freigelassen der Nacht einen deutschen Flüchtling kommenden Reichsparteitag in Nürn- Unermüdlich geisselte der «Nebelspalter» die gefesselt zurück ins Reich. Sein berg wollte er mit einem Freund im deutschlandhörigen Erneuerungsbewegungen. Schicksal wurde nie geklärt. Flugzeug über der Szenerie kreisen Die Karikatur oben enthielt eine Empfehlung, Deutsche Agenten sollen auch in Zü- und unvermittelt die volle Bomben- wie mit Spitzeln zu verfahren sei. Unten: Ein rich einen Emigranten namens Spren- last auf die Ehrentribüne niedergehen neuer Schweizer Exportartikel! ger entführt haben. lassen. Hitler, Göring, Goebbels ... Als die Gestapo in Basel dasselbe ver- alle würden sterben. Boden aus starten, angeblich, um das suchte, misslang es. Die Affäre er- Das Flugzeug sollte – immer nach Risiko zu verteilen. regte internationales Aufsehen. Hit- Wehners Plan – in der Schweiz be- Pünter kam die Sache allzu einfach ler-Deutschland wurde vor der Welt- schafft, mit spanischen Bomben bela- vor. Von einem Nebenzimmer aus öffentlichkeit als ein Staat blossge- den werden und von jugoslawischem rief er die Politische Abteilung der stellt, dem auch die niedersten Ver- Stadtpolizei Bern an, die Wehner und seinen im Hotel wartenden Kompli- zen Krüger verhaftete. Nach einer langen Verhörnacht gaben die beiden

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brechen und Gewalttaten recht waren, Um 19.45 Uhr erschien ein dritter Üppig blühte in der Schweiz der dreissiger um seine Ziele zu erreichen. Mann und begann um den Preis des Jahre die frontistische und nationalsozialisti- sche Kampfpresse. Dies ist eine Auswahl aus falschen Passes zu feilschen. Gegen gegen zwanzig meist sehr kurzlebigen Zeitungs- halb neun Uhr erhoben sich die drei titeln. und verliessen das Restaurant Zum Schiefen Eck an der Greifengasse in Basel: Kleinbasel. ihn in den Fond des wartenden Gestapo-Agenten entführen Soeben hatte die bedeutendste und schwarzen Plymouth mit den Kon- einen Reichsfeind folgenschwerste Geheimdienstopera- trollschildern ZH 9512. tion in der Schweiz der Zwischen- Das Auto fuhr davon. Beim Zollamt Das Opfer ass zu Abend. Der Täter kriegszeit begonnen! Es war Sams- Kleinhüningen an der Hiltalinger- trank nur ein Bier. Die beiden Herren tag, der 9. März 1935. Es schien, als strasse verlangsamte der Chauffeur, waren guter Dinge. An diesem Sams- wäre der kleinste und schmächtigste der während des ganzen Geschehens tagabend hofften beide, dass langge- der drei Männer leicht angetrunken. im Wagen geblieben war, die Fahrt, hegte Wünsche in Erfüllung gehen Seine beiden stämmigen Begleiter als wollte er, wie vorgeschrieben, an- würden. hielten ihn untergefasst und setzten 53 halten; aber plötzlich gab er Vollgas. falscher Pässe angeboten hatte, tobte Der Schweizer Zöllner konnte im über die Festnahme. letzten Augenblick noch zur Seite Alles Theater! springen. Merkwürdigerweise war Der Coup war von langer Hand vor- aber der Schlagbaum auf der deut- bereitet, ein klassischer Fall von poli- schen Seite – und dies entgegen allen tischem Kidnapping! Gewohnheiten – hochgezogen. Noch in der gleichen Nacht wurde Zweihundert Meter nach der Grenzli- Berthold Jacob auf höchste Weisung nie parkte der Plymouth. An der nach Berlin verfrachtet, während Dr. Adolf-Hitler-Strasse in Weil am Wesemann und die beiden anderen Rhein kontrollierten zwei Beamte, ei- Entführer natürlich gehen durften. ner in Uniform und einer in Zivil, die Dr. Wesemann war kontaktfreudig Papiere der Wageninsassen. Es wie- und weitgereist, aber mit 40 Jahren sen sich aus die Herren eine verkrachte Existenz. Um Geld zu - Dr. Hans Wesemann, geboren verdienen und sich bei den neuen 1895 als Sohn einer Gutsbesitzerfami- Machthabern beliebt zu machen, hatte lie, früher Mitglied der SPD, Journa- er sich bei der deutschen Botschaft in list und Korrespondent in verschiede- London gemeldet und sich als Helfer nen Ländern, zuletzt Emigrant in Pa- der Gestapo angeboten. ris.; Der Gestapo-Abteilungsleiter Dr. - Hans Joachim Manz, geboren Walter Richter, zuständig für den 1893, ein Mann mit einem ungewis- Auslandsnachrichtendienst, hatte so- sen Beruf. Heute darf man annehmen, gleich Verwendung für Wesemann er sei ein ziviler Mitarbeiter der Ge- gefunden, denn dieser kannte Jacob stapo gewesen; noch von gemeinsamen Berliner Zei- - Gustav Krause, geboren 1887, tungszeiten her. Jacobs Kritik an der Chauffeur; Wiederaufrüstung des heraufziehen- - Berthold Salomon Jacob, geboren den Hitler-Regimes war offenbar so 1898, Journalist und linker Pazifist, massiv und treffend, dass die Gestapo Experte für Fragen der geheimen seine Ausschaltung als «Akt der na- deutschen Wiederaufrüstung und tionalen Notwehr» betrachtete, wie Herausgeber gut dokumentierter anti- urkundlich festgehalten ist. nazistischer Pressedienste und Arti- Schon zwei Monate vor dem Basler kel. Jacob war aus dem Deutschen Fall hatte Wesemann einen anderen Der Täter Hans Wesemann (oben) und sein Op- Reich emigriert und lebte fast mittel- Bekannten bedenkenlos ans Messer fer Berthold Salomon Jacob (unten). Der aufse- henerregende Menschenraub von Basel, der zu los in Strassburg. geliefert: den dänischen Gewerk- einer Konfrontation der Schweiz mit Deutsch- schaftssekretär Karl Baileng, der am land führte, geschah an der Ecke Greifengasse/ Ein Mann ohne Pass 30. Januar 1935 nach Deutschland Claraplatz in Basel (rechts oben, Aufnahme von entführt worden war. 1977). Der Fall Jacob wurde 1976 für das Jacob besass keine ordentlichen Pa- Jacob kam in Berlin in Teufels Küche. Zweite Deutsche Fernsehen verfilmt. Das Sze- piere, nur einen Tagesausweis für die nenbild (rechts unten) zeigt Jacobs Verhaftung Er wurde pausenlos verhört und ge- durch die Gestapo in Lörrach. Einreise in die Schweiz. Das war der foltert. Immer wieder weckten ihn die Vorwand für die Beamten, ihn zum Bewacher mitten in der Nacht, stell- Polizeigebäude von Weil mitzuneh- ten ihn vor ein Erschiessungskom- Dr. Wesemann hingegen genoss die men. Dort wurde der Journalist ver- mando, befahlen Feuer und warfen Früchte seines Verrates in der hört und durchsucht. Die Beamten den von Todesangst gepeinigten Häft- Schweiz. Er war allerdings so dumm, fanden ein Exemplar seines in ling zurück in seine Zelle. Diese si- in seinem Hotel die Adresse eines Ho- Deutschland verbotenen Pressedien- mulierten Hinrichtungen waren eine tels in Ascona zu hinterlassen, wohin stes. Der ebenfalls auf die Wache ge- der vielen Methoden, mit denen die ihm allfällige Post nachgeschickt wer- führte Begleiter Manz, der sich im Gestapo ihre Opfer weichzumachen den sollte. Dort wurde Wesemann, der «Schiefen Eck» noch als Lieferant versuchte. zusammen mit einer Freundin Ferien machte, denn auch zehn Tage nach der Entführung Jacobs verhaftet. Vor sei- ner Abreise ins Tessin hatte Wese- mann in Basel noch ein Telegramm an

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31 Friedhof am Hörnli- Habermatten 34 Käferholzstrasse Die Telegraphenverwaltungen übernehmen keinerlei Verantwortlichkeit für die telegraphische Korrespondenz. – Les administrations télégraphiques n’acceptent aucune responsabilité au sujet de la correspondance télégra- phique. – Le amministrazioni telegrafiche non assumono alcuna responsabi- lité per la corrispondenza telegrafica.

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i Frau Jacob in Strassburg aufgegeben, fälschen konnte. «Mattern» war nie- Riesenwirbel rettet Jacobs Leben in dem es hiess: «Alles gut. Komme mand anders als der Gestapo-Agent Ohne es in seinem Gestapo-Verlies an Montag. Gruss. Berthold.» Damit Manz, der sich am Abend der Entfüh- der Prinz-Albrecht-Strasse zu ahnen, sollte die beunruhigte Frau hingehal- rung zu den beiden Männern im hatte Jacob das Glück, dass sein Fall ten werden; Wesemann wollte sich ei- «Schiefen Eck» gesellte. Er war es einem ausgesprochen ehrgeizigen nen Vor sprung zur Flucht verschaf- auch, der zwei Ta-ge vor der Entfüh- und zähen jungen Basler Untersu- fen. rung den Plymouth in Zürich gemietet chungsbeamten zugeteilt wurde, dem Als ihr Mann neun Tage lang ausge- hatte. Der Wagen musste später von Staatsanwalts-Substituten Dr. Emil blieben war, erstattete einer seiner einem Chauffeur der Vermietungs- Häberli, der später die Basler Aussen- Freunde im Einvernehmen mit Frau firma in Weil abgeholt werden. We- stelle «Pfalz» der Nachrichtensam- Jacob Anzeige bei der Basler Staats- semann hatte dafür eine plausible Er- melstelle 1 (NS 1) des schweizeri- anwaltschaft. Da Frau Jacob vom klärung vorbereitet: Er habe seinen schen Nachrichtendienstes leiten soll- Kontakt mit Wesemann wusste, Chauffeur entlassen müssen, weil er te. forschte die Polizei auf dem Telegra- betrunken herumgefahren sei. Der Im Verhör gab Dr. Wesemann zwar fenamt nach. Dort fand sie zwei aus- Vorwand für die Autofahrt war eben- zu, Jacob in Basel getroffen zu haben, gefüllte Telegrammformulare, eines falls schnell gefunden. Kaum war doch von der Entführung wollte er nur mit dem beschwichtigenden Hinhalte- Mattern alias Manz zu Wesemann so viel wissen, wie die Zeitungen be- text an Frau Jacob, das andere, einen und Jacob gestossen, zeigte er Blan- richteten. Stück um Stück rekonstru- Tag früher aufgegeben, an Jacob ko-Passformulare vor und erklärte, ierte die Polizei, was wirklich gesche- selbst gerichtet mit dem Text: «Wann man müsse in seine Wohnung nach hen war. Wesemann erfand laufend kommen Sie? Gotthardhotel Basel.» Riehen fahren, um den Pass auszufer- neue Versionen. Unterschrieben war diese Depesche tigen. Jacob, der immer noch glaubte, Da entschloss sich Dr. Häberli zu ei- von Wesemann. Beide Telegramm- er habe es mit wohlmeinenden Freun- ner Fahndungsmethode, die interna- formulare waren von der gleichen den zu tun, willigte arglos ein. Es ist tionales Aufsehen erregte. Kurzer- Hand verfasst. Wesemann war über- anzunehmen, dass er in diesem Au- hand schickte er zwei Staatsanwälte führt. genblick schon alkoholisiert war. Ob nach Paris und London, um die Be- Die Polizei hatte wenig Mühe heraus- ihm Wesemann auch ein Betäubungs- zufinden, warum sich der sonst über- mittel in eins der Getränke gemischt aus vorsichtige Journalist so ohne Bundesrat Giuseppe Motta (Mitte), hier mit En- hatte, ist nicht bewiesen, aber wahr- rico Celio (rechts), verhielt sich zuerst sehr ent- Weiteres hatte auf Schweizer Boden scheinlich. schieden, dann ungewöhnlich weich. locken lassen: Jacob steckte ständig in Geldschwierigkeiten. Um sein Ver- trauen zu gewinnen, hatte Wesemann, den Jacob ja für einen sozialistischen Gesinnungsgenossen und ebenfalls emigrierten zuverlässigen Berufskol- legen hielt, ihm verschiedene Abneh- mer für seinen Pressedienst in Eng- land besorgt und auch öfter Geld ge- schickt. Jacob wäre am liebsten für immer nach England ausgewandert, doch besass er als ausgebürgerter Staatenloser keine Papiere. Wese- mann versprach ihm, ihn in Basel mit einem Liechtensteiner namens Mat- tern zusammenzubringen, der Pässe

Links: Der Beweis, der Wesemann überführte: Das erste Telegramm (oben) lockte Jacob nach Basel, das zweite (unten) sollte Frau Jacob be- ruhigen. Beide Telegrammformulare stammten von der gleichen, nämlich Wesemanns Hand.

57 kannten Jacobs und Wesemanns zu die schweizerische Darstellung eini- verhören. Einer der beiden Staatsan- germassen korrekt ist, dann ist ein wälte, der nachmalige Schweizer Di- brutaler Akt der Gewalt gegen ein In- plomat Dr. Anton Roy Ganz, fand in dividuum begangen worden sowie ein London verräterische Spuren von We- flagranter Bruch der Neutralität in ei- semanns auffallend häufigen Aus- nem Land, das peinlich auf seine Ge- landsreisen sowie Hinweise auf seine bietshoheit und auf sein Asylrecht be- Verbindungen zur Gestapo und seine dacht ist. Motta ist mutig an die Sache Verstrickung in den dänischen Fall herangegangen, und das Schweizer- Baileng. volk unterstützt den Kampf seiner Re- Am 30. März nahm Dr. Häberli den gierung für Gerechtigkeit uneinge- Untersuchungshäftling Wesemann ins schränkt. In jedem Land, das Freiheit Gebet. Er konfrontierte ihn mit dem noch zu schätzen weiss, wird der im Ausland gesammelten Beweisma- Standpunkt der Schweiz mit Beifall terial und schilderte ihm das Schicksal begrüsst werden.» Jacobs in den schwärzesten Farben. In einem Verhör, das von 18 bis 01.30 Uhr des folgenden Morgens dauerte, Die Schweiz verklagt Hitler- gestand Hans Wesemann alles. Deutschland Längst war der Fall Jacob Thema Nach einem weiteren fruchtlosen No- Nummer eins in der internationalen Ein unermüdlicher und unnachgiebiger Kämp- tenwechsel berief sich die Schweiz Presse. Gestützt auf Wesemanns Ge- fer um Jacobs Leben war der Schweizer Bot- auf den mit Deutschland geschlosse- ständnis machte der damalige Chef schafter in Berlin, Paul Dinichert. nen Schiedsvertrag, rief das darin vor- einer Verbalnote in Berlin. Gleichzei- des Politischen Departements, Bun- gesehene Schiedsgericht an und be- tig zitierte Motta den deutschen Bot- desrat Giuseppe Motta, Nägel mit traute den damaligen Professor Dr. schafter Ernst von Weizsäcker ins Köpfen: Zum erstenmal hatte Bern Carl Ludwig mit der Vertretung der Bundeshaus und verlangte Genugtu- konkrete Beweise für amtliche deut- schweizerischen Interessen. ung für den Übergriff. sche Verbrechen auf Schweizer Bo- Der 74 Seiten umfassenden Klage- Hinter den Kulissen in Berlin ging es den in der Hand. Noch eine Woche schrift waren nicht weniger als 73 Be- hart auf hart. Der Schweizer Gesandte zuvor hatte der Schweizer Gesandte in weisstücke beigegeben. Das bemer- Dinichert war ein Mann, der mit sei- Berlin, Paul Dinichert, auf eine vor- kenswerte Dokument schloss mit der ner Meinung nicht hinter dem Berg sichtige Beschwerde wegen Verlet- Forderung nach W iedergutmachung: hielt. Es kam zu scharfen Auseinan- zung der schweizerischen Gebietsho- «Die Wiedergutmachung besteht ins- dersetzungen mit dem Staatssekretär heit zur Antwort bekommen, es liege besondere darin, dass der rechtswidrig im Auswärtigen Amt, von Bülow, der keine Entführung vor und Jacob sei aus schweizerischem Gebiet entführte mit dem Rücken zur Wand kämpfte «freiwillig nach Deutschland einge- Jacob wieder auf schweizerisches Ge- und, wie Professor Edgar Bonjour be- reist». Die Einvernahme in Paris und biet zurückgeführt wird und dass die richtet, zeitweise die Nerven verlor. London sowie das Geständnis hatten an der Entführung beteiligten Amts- Noch am 13. April bestritt das Aus- nun den Beweis erbracht, dass dies personen gebührend bestraft werden.» wärtige Amt, dass widerrechtliche nicht stimmte. Sämtliche Freunde und Jetzt endlich stieg die deutsche Diplo- Handlungen deutscher Beamter auf Bekannten Jacobs, allen voran natür- matie vom hohen Ross; sie merkte, schweizerischem Boden vorgekom- lich seine Frau, bestätigten, dass der dass es die Schweiz bitter ernst mein- men seien. Zugegeben wurde indes- Journalist genau wusste, was ihn im te, und lenkte ein. In der mit dreiwö- sen, dass Jacob nicht freiwillig über Dritten Reich erwartete, und nicht im chiger Verzögerung erstatteten Kla- die Grenze gekommen war. Traum an eine freiwillige Rückkehr geantwort gab Deutschland – wenn Inzwischen verfolgte die halbe Welt nach Deutschland dachte. auch verklausuliert – die aktive Betei- die Auseinandersetzung zwischen Gestützt auf Wesemanns Geständnis ligung eines Gestapo-Beamten na- dem Kleinstaat und der Grossmacht. protestierte die Schweiz schon am mens Dr. Richter an dem Verbrechen übernächsten Tag, dem 1. April, mit Nur in der gleichgeschalteten deut- schen Presse erschien kaum ein Wort über den Fall. Dafür lobte zum Bei- spiel die Londoner ‚Times‘: «Wenn

58 zu; er habe aus Übereifer gehandelt, nen. Sollte denn ein neutraler Klein- schen Nationalsozialisten, Wilhelm hiess es. Richter wurde entlassen. staat den untätigen Mächten den Ge- Gustloff, in dessen Davoser Woh- Es passte wenig zu seiner bisher ge- fallen erweisen, mit der Demütigung nung. Als der Untersuchungsrichter zeigten festen Haltung, dass Bundes- Deutschlands ein Schauspiel zu bie- ihn fragte, warum er geschossen habe, rat Motta nun plötzlich einlenkte und ten und für sie die Kastanien aus dem antwortete Frankfurter: «Weil ich ein auf die Weiterführung des Schiedsge- Feuer zu holen?» Jude bin!» richtsverfahrens verzichtete, obwohl Motta täuschte sich. Sobald Deutsch- An Gustloffs Sarg, der in Haken- «die schweizerische Öffentlichkeit land merkte, dass eine Blossstellung kreuzfahnen eingehüllt war, hielten darauf brannte, das Hitler-Regime vor der Weltöffentlichkeit nicht mehr Davoser Hitler-Jungen Ehrenwache. amtlich blosszustellen und ihm eine zu befürchten war, begann es neue In Deutschland wurde er mit allen mi- Lehre zu erteilen» (Prof. Bonjour). Bedingungen zu stellen. Die ur- litärischen und politischen Ehren be- Motta bot Hitler-Deutschland einen sprünglich geforderte öffentliche Er- stattet; er galt fortan als «Blutzeuge» Vergleich an. Über die Motive des klärung des Bedauerns über die Ver- des Nationalsozialismus. schweizerischen Aussenministers ur- letzung der schweizerischen Gebiets- Der Mord bescherte der Schweiz er- teilt Bonjour: hoheit unterblieb. Schliesslich ver- neut heikle aussenpolitische Proble- «Mottas Schwenkung erscheint auf langten die Deutschen sogar noch, me, wobei dieses Mal ihre Position den ersten Blick als Schwäche und dass bei der Rückführung Jacobs in weit ungünstiger war als im Fall Ja- umso weniger verständlich, als es bis- die Schweiz jede Publizität unter- cob. Der deutsche Gesandte von her in der Tendenz der Schweiz wie bleibe und dass dementsprechend Ort Weizsäcker warf dem Bundesrat, jedes kleinen und militärisch schwa- und Zeitpunkt der Übergabe geheim wenn auch in erstaunlich gemässigter chen Landes gelegen hatte, mehr auf bleiben müssten. Form, vor, die «Hetze der sozialisti- schiedsrichterliche Erledigung als auf Die schweizerische Versöhnlichkeit schen und kommunistischen Presse politische Vermittlung abzustellen. ging so weit, dass nicht einmal das der Schweiz» habe, wenn auch unge- Denn von der richterlichen Instanz rechtlich an sich durchaus mögliche wollt, den Boden für dieses Verbre- war anzunehmen, dass sie demjenigen Bundesstrafverfahren durchgeführt, chen vorbereitet. Dafür erging sich die Recht gebe, der Recht hatte, auch dem sondern die gerichtliche Verfolgung deutsche Presse in ungezügelten Wehrlosen, während der Vermittler Wesemanns an den Kanton Basel- Hasskampagnen gegen die Schweiz. darnach trachtet, durch eine Kompro- Stadt delegiert wurde. Dadurch hielt Bundesrat Motta entbot dem deut- misslösung die Ansprüche beider teil- sich das internationale Aufsehen über schen Gesandten das Beileid der Lan- weise zu befriedigen. Aber Motta war den Prozess ganz im Sinne Deutsch- desbehörde, was in der Schweiz Be- es aufrichtig darum zu tun, die Lage lands in Grenzen. fremden hervorrief, denn schliesslich zu entspannen. Er wollte keine Bloss- Ein halbes Jahr nach der Entführung war Gustloff zumindest rechtlich stellung von Hitler-Deutschland, ver- wurde Berthold Salomon Jacob in al- nichts weiter als ein Privatmann ge- mutlich aus Furcht vor Vergeltung.» ler Stille in die Schweiz zurückge- wesen. Der Historiker Jost Niklaus Willi, der schafft. Dr. Hans Wesemann wurde 1917 war er als Lungenkranker nach eine bedeutende Studie über den Fall vom Basler Strafgericht der Freiheits- Davos gekommen und als Angestell- Jacob/Wesemann geschrieben hat, er- beraubung für schuldig befunden und ter der deutschen Physikalisch-Meteo- klärt, warum: «Mottas Rückzug aus zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. rologischen Forschungsanstalt dage- der über ein halbes Jahr gehaltenen Seine Verteidigung bezahlte die Ge- blieben. Er war einer der frühesten Angriffsstellung auf eine mittlere Li- stapo, die ihm nach der Strafentlas- Anhänger Hitlers und gründete schon nie war der Schachzug eines Diplo- sung auch weiterhalf. Wesemann 1930 einen schweizerischen Ableger maten, dem es bei der Affäre letztlich wanderte nach Venezuela aus und der NSDAP in Davos. Bereits 1931 um politische und nicht um rechtliche wurde seither nicht mehr gesehen. war Gustloff nicht mehr allein: In St. Dinge gegangen war. Darum vermied Gallen, Lugano, Genf und Zürich gab er es sorgfältig, für sich und die es weitere Stützpunkte der Partei. Schweiz die Rolle eines öffentlichen Nazi-Chef ermordet! 1932 wurden zwei Anhänger nach ei- Anklägers zu übernehmen, der mit ner Untersuchung durch die Bundes- Kaum war die Unruhe um den Fall Ja- Leichtigkeit das Treiben im Ausland anwaltschaft verwarnt und mit der cob verebbt, erschoss am 4. Februar an diesem Fall hätte aufzeigen kön- Ausweisung bedroht. Der Leiter der 1936 der aus Jugoslawien stammende Ortsgruppe Zürich, Max W. Morstadt, Medizinstudent David Frankfurter den Landesgruppenleiter der deut-

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Die Trauerfeier für den ermordeten Landes- richt in Chur, das gegen Gustloffs Mörder Da- gruppenleiter wurde zu einer vid Frankfurter verhandelte, verhüllte die Wit- gewaltigen Demonstration der Nationalsoziali- we Gustloffs ihr Gesicht mit einem Trauer- sten in der Schweiz. Die Leiche des Ermordeten schleier (unten Mitte). wurde in der evangelischen Kirche von Davos Das offizielle Parteibild des höchsten Nazis in inmitten eines Waldes von Hakenkreuzfahnen der Schweiz (unten rechts) ist – dies am Rande aufgebahrt und von schweizerischen Gesin- – ein typisches Beispiel für die Kunstauf- nungsgenossen mit erhobener Rechten be- fassung im Dritten Reich, die sich auch in der wacht (links oben). Eine unabsehbare Zahl von Fotografie niederschlug. Gebärde und Licht- schweizerischen und deutschen Parteigenossen führung machen aus dem Durchschnittstypen begleitete den Katafalk zum Davoser Bahnhof; Gustloff einen aggressiven nordischen Herren- sogar die Kranzschleifen zeigten das Haken- menschen mit geballter Faust und stechendem kreuz (links unten) Noch auf dem Weg zum Ge- Blick. wurde wegen Bespitzelung von Landsleuten und Schweizern sowie wegen fremdenpolizeilicher Übertre- tungen ausgewiesen. Gegen Gustloff lag damals noch nichts juristisch Wägbares vor. Erst nach dem Krieg, als geheime Berichte des deutschen Gesandten in Bern aus dieser Zeit zum Vorschein kamen, er- wies sich, dass auch Gustloff, der sich immer den Anschein des gesetzes- treuen, ja unterwürfigen Ausländers zu geben verstanden hatte, in erpres- serischer Weise Spenden, Beitrittser- klärungen und Abonnemente auf den «Völkischen Beobachter» beige- bracht hatte. Wohlhabende Deutsche in der Schweiz setzte er mit angebli- chen Steuerfluchtdelikten und Devi- Gustloffs Mörder David Frankfurter vor dem der Darstellung seiner Frau wollte er senvergehen unter Druck, bis sie zahl- Kantonsgericht in Chur. Er wurde zu 18 Jahren abspringen und tat diesen Entschluss ten. Zuchthaus verurteilt und nach dem Zweiten unvorsichtigerweise in einem Brief Schon Anfang 1936 gab es NSDAP- Weltkrieg begnadigt. an die Partei kund, worauf der Ge- Ortsgruppen in nicht weniger als 66 Verratsaffären der folgenden Jahre heimdienst seine Beseitigung ver- Schweizer Städten und Ortschaften. eine wesentliche Rolle spielen sollte. fügte. Zwei Wochen nach dem Attentat auf Als unverdächtiger Lockvogel wurde Gustloff, das diese Zusammenhänge Agent springt ab und die mit Reiss seit Jahren bekannte wieder richtig bewusst gemacht hatte, Strassburger Kommunistin Gertrud verbot der Bundesrat die Landeslei- stirbt Schildbach vorgeschickt. Mit ihr ging tung und die Kreisleitungen der Am 4. September 1937 warf ein zwei- Reiss am Abend des 3. September NSDAP, nicht aber die gesamte Be- ter, weit weniger stark in Erinnerung nach Chamblandes zum Nachtessen. wegung, weil sie – so die offizielle gebliebener politischer Mord ein grel- Auf dem Rückweg wurden die beiden Begründung – als zweite offizielle les Schlaglicht auf eine andere Unter- in der Dunkelheit von einem Auto deutsche Vertretung neben der Ge- grundszene in der damaligen überholt, dem ein knüppelbewehrter sandtschaft unhaltbar geworden war. Schweiz: Auf der Landstrasse in Mann entstieg. Reiss wurde niederge- Damit sollte die Wahl eines Gustloff- Chamblandes unweit Lausannes wur- schlagen, ins Auto geschleppt und Nachfolgers verhindert werden, was de an diesem Tag die Leiche eines er- dort mit mehreren Schüssen niederge- natürlich misslang. Die Geschäfte der schossenen jüngeren Mannes gefun- streckt. Das blutverschmierte Auto nationalsozialistischen Auslandsorga- den, der einen tschechoslowakischen liessen die Täter beim Bahnhof Cor- nisationen wurden einfach von der Pass auf den Namen Eberhardt bei navin in Genf stehen, sie entkamen deutschen Gesandtschaft weiterge- sich trug. Es ging nicht lange, bis sich über die Grenze. führt, die genau zu diesem Zeitpunkt die Ehefrau des Ermordeten meldete Der sowjetische Geheimdienst durch den Freiherrn Hans Sigismund und die wirkliche Identität des Man- kämpfte in diesen Tagen auf dem von Bibra verstärkt wurde, einen nes enthüllte. Es handelte sich um den schweizerischen Fechtboden freilich Berufsdiplomaten und fanatischen polnischen Juden Ignaz Reiss, Mit- weniger gegen den faschistischen Nazi, der in vielen Spionage- und glied der Kommunistischen Partei der Feind als gegen Abweichler aus den Sowjetunion, hoher Beamter des Ge- eigenen Reihen, insbesondere gegen Wilhelm Gustloff wurde in Deutschland als heimdienstes des Volkskommissari- die Trotzkisten. Dies bestätigte sich «Blutzeuge» geehrt. Links oben: Überführung ats des Innern und Inhaber des Ordens auch im folgenden Jahr 1938, als drei des Leichnams ins Krematorium von Schwerin. der Roten Fahne. Unten links: Hitler bei der Totenehrung; unten Männer und zwei Frauen, alles Deut- rechts: SA-Männer halten Totenwache. Wie im- In den letzten beiden Jahren seines sche, festgenommen wurden. Sie hat- mer bei Nazi-Veranstaltungen waren Arrange- Lebens hatte Reiss unter mindestens ten einen Nachrichtendienst über die ment und Lichtregie optisch perfekt. sieben falschen Namen internationale politische Einstellung schweizeri- Geheimdienstaufträge erfüllt. Nach

63 scher Sozialisten und Kommunisten Der Schweizer Nachrichten- lands der militärische Nachrichten- eingerichtet und es dabei vor allem dienst entsteht dienst vorerst nicht viel mehr als ein auf Trotzkisten abgesehen. Eines ih- Streichholz in der Nacht. rer prominenten Opfer war der Basler Als der Infanterie-Instruktor und AZ-Redaktor Paul Thalman'n, der Spionageabwehr und Nachrichten- Oberstleutnant im Generalstab Roger sich damals im Spanischen Bürger- dienst hatte es bis zum Fall Jacob in Masson 1936 die Leitung der 5. Sek- krieg befand und offenbar auf Denun- der Schweiz praktisch kaum gegeben. tion der Generalstabsabteilung, d.h. ziation dieser deutschen Stalinisten Die Verschleppung des Journalisten des militärischen Nachrichtendien- hin zusammen mit seiner Frau in Bar- führte dann im zivilen Bereich zur stes, übernahm, war dieser Betrieb celona verhaftet und wochenlang ein- Gründung der Bundespolizei als Poli- kaum arbeitsfähig. In einer Zeit, da gesperrt wurde. zeidienst der Bundesanwaltschaft. die Staaten rings um die Schweiz ihre Die Spitzel wurden vom Zürcher Dagegen war trotz der augenscheinli- Geheimdienste ausbauten und selbst Obergericht zu harten Gefängnisstra- chen militärischen Aufrüstung und das kleine Österreich drei Millionen fen verurteilt und des Landes verwie- Konfliktstrategie Hitler-Deutsch- Franken jährlich für seine Auslands- sen.

Spionage als Teil der kannt geworden, in denen deutsche dass also manchmal ein Wort genügte, Spitzel, Spione und Gestapo-Agenten um eine ganze Familie in Not zu stür- politischen Strategie vor ein Gericht oder über die Grenze zen. Die «Schweizerischen Informatio- Die deutsche Spionage gegen die gestellt wurden. Es hat schwere Fälle nen» berichten: Schweiz war schon in der Vorkriegszeit von Militär- und Wirtschaftsspionage «In der Schweiz sind besonders die keine bloss technischmilitärische Ope- darunter, Menschenentführungen, Ein- Niederlassungen deutscher Unterneh- ration, sondern Teil der umfassenden brüche, Diebstähle, Schmuggel von il- mungen Brutstätten nationalsozialisti- Zermürbungsstrategie des erobe- legaler Literatur und selbst von Waffen scher Umtriebe. Dass deutsche Be- rungslustigen Dritten Reichs. Sie bil- und Sprengstoffen, zahlreiche Versu- triebsinhaber schweizerische Ange- dete zusammen mit politischer Propa- che von Lockspitzelei und von finanzi- stellte entlassen und durch aktive Na- ganda und Agitation, der Organisation eller Unterstützung der Erneuerercli- zis ersetzen, ist schon mehr als einmal der Ausländsdeutschen auf alle Ebe- quen gegeben.» vorgekommen. Bekannt geworden ist nen, der heimlichen oder offenen Un- Die Spitzelei durchdrang den Alltag. Ei- unlängst ein solcher Fall im sanktgalli- terstützung der Fröntlerbewegungen, nem St. Galler Kinobesitzer drohte die schen Rheintal. In der Solothurner mit subtilem individuellem Terror, di- UFA mit dem Entzug der Wochen- Waffenfabrik sind unter dem Betriebs- plomatischen und wirtschaftlichen schau, falls er weiterhin nationalsozia- führer Schaad schweizerisch den- Druckmitteln eine gefährliche Mixtur. listische Propagandaszenen aus deut- kende Arbeiter entlassen und durch Zum erstenmal wurde dies bei der Ent- schen Unterhaltungsfilmen heraus- Nazifreunde ersetzt worden. Die Waf- führung des Journalisten Berthold Ja- schneide. In ähnlichen Fällen in Zürich fenfabrik Solothurn gehört zum reichs- cob durch die Gestapo aus Basel sicht- und Basel entpuppten sich Mitglieder deutschen Konzern Rheinmetall-Borsig bar und in der breitesten Öffentlichkeit des «Bundes Treuer Eidgenossen» als AG und untersteht der Leitung des Na- bekannt. Aber der Fall Jacob stand da- Spitzel. In Bern und Brugg mussten tionalsozialisten Dr. Rossmanith, der mals bei weitem nicht allein: Gestapo- Schülerinnen und Kirchenbesucher den Treibereien Schaads mit allen ihm Agenten überwachten Emigranten und über die Äusserungen von Lehrern und zur Verfügung stehenden Mitteln Vor- versuchten, Einzelheiten über die Pfarrern Bericht erstatten. Gelegentlich schub leistete und dessen von amtli- Bankkonten von Deutschen in der wurden «Prähistoriker» aufgegriffen, chen Stellen längst geforderte Entlas- Schweiz in Erfahrung zu bringen. Bei die unter wissenschaftlichem Vorwand sung auf arrogante Weise während ei- Haussuchungen in Locarno und As- Gegenden fotografierten, in denen es nes halben Jahres zu sabotieren ver- cona wurden Hinweise auf ein weitge- geheime Befestigungsanlagen gab. Im stand. Aber nicht nur die deutschen Fir- spanntes Spitzelnetz in Emigranten- Tessin wurden zahlreiche Einbrüche in men, sondern auch die in der Deut- kreisen gefunden. Schon 1939 schrie- die Häuser deutscher Emigranten ver- schen Arbeitsfront zusammengefas- ben die sozialdemokratischen übt. Sogar deutsche Touristen wurden sten deutschen Arbeitnehmer werden «Schweizer Informationen»: nach ihren Schweizer Reisen von der in den Dienst des braunen Netzes ge- «Weitaus die meisten Fälle von Spitze- Gestapo verhört. stellt. Jedes bei uns tätige Mitglied der lei, Denunziation und sonstigen im Was das Schweizervolk aber beson- DAF ist verpflichtet, Vorgesetzte, Kolle- Dienste der Gestapo ausgeführten Tä- ders empörte, waren die Schikanen der gen und Untergebene zu bespitzeln tigkeiten gelangen bei uns nicht zur Frontler und Nazis an den Arbeitsplät- und das Ergebnis der Spitzeltätigkeit Kenntnis der Öffentlichkeit. Immerhin zen, wobei man nie vergessen darf, auf vorgedruckten Formularen festzu- sind in den letzten Jahren gegen hun- dass damals wirtschaftliche Depres- halten, die via DAF in die Kartei der Ge- dert meist gravierende Affären be- sion und Arbeitslosigkeit herrschten, stapo wandern.»

64 spionage ausgab, verfügte Masson der SS. Seine Spionagereisen machte über ein Jahresbudget von 30 000 er meist auf einem geliehenen Velo, Franken, was, wie ein Kenner der der Nachrichtendienst bezahlte ein Ki- Szene vermerkte, gerade für die wich- lometergeld von vier Rappen. Die ein- tigsten Zeitschriftenabonnemente zige Entschädigung, die der freiwil- ausreichte. Ausser Masson gab es in lige Agent je erhielt, waren siebzig diesem Büro noch einen Kanzleichef Franken in bar sowie ein Hemd und und gelegentlich einen oder zwei ab- eine Windjacke als Ersatz für verlo- kommandierte Milizoffiziere als Ab- rene Kleider. teilungsleiter. «Aber das Geld war damals Nebensa- Der in den Kriegsjahren 1914 bis che», betont der bisher unbekannte 1918 gut eingespielte Nachrichten- Schweizer Spion im ersten Interview dienst war aus Ersparnisgründen de- seines Lebens. «Ich war im Grenzge- montiert worden. Die 5. Sektion der biet des Oberrheins, aber auf deut- Generalstabsabteilung sank in der schem Boden, als Auslandschweizer Zwischenkriegszeit auf das Niveau ei- aufgewachsen. Obwohl das Verhältnis ner Stallwache herab. Selbst für die zwischen der deutschen und der grundlegendsten und wichtigsten schweizerischen Bevölkerung im nachrichtendienstlichen Arbeiten Grenzland immer freundlich war, Bundesrat Rudolf Minder, Vorsteher des Eid- fehlten Geld und Fachkräfte. Am Vor- genössischen Militär departements. wurde schon 1933, kurz nach Hitlers abend des Zweiten Weltkriegs gab es Machtergreifung, die Stimmung ge- weder Studien über die wichtigsten gen die Schweiz geschürt. Ich bekam tionszonen erstreckte. Um meinen ausländischen Armeen noch techni- das besonders zu spüren, weil ich ak- Dienst personell mit dem Nötigsten sche Expertisen über die vom Ausland tiv und leitend in den katholischen Ju- zu versehen, habe ich Labhart (Jakob verwendeten Waffen, weder einen gendorganisationen tätig war. Immer Labhart, Generalstabschef) geschrie- trainierten Chiffrierdienst noch erken- wieder brach die Hitler-Jugend in un- ben und ihm erklärt, dass ich zurück- nungsdienstliche Einrichtungen, ge- sere Versammlungsräume ein, spreng- treten würde, wenn mir dieses Perso- schweige denn ein Polizeilabor. Mas- te unsere Zusammenkünfte und schlug nal nicht zugestanden und mein son, der damals Nachrichtenchef an unserer Turnhalle Scheiben ein. Budget nicht erhöht werde. Erst wäh- wurde, weil er aus Karrieregründen Ausländer wurden auch bei der Stel- rend des Anschlusses Österreichs, als gerade für einen Generalstabsdienst lensuche schikaniert. Bei mir mochte wir den deutschen Truppenbewegun- an der Reihe war, wuchs über sich zudem eine Rolle spielen, dass ich gen nachrichtendienstlich zu folgen selbst hinaus und stellte mit der Un- schweizerischer Offizier war und re- vermochten, telefonierte mir Minger terstützung des seit 1936 tätigen pri- gelmässig Militärdienst leistete.» (Rudolf Minger, Vorsteher des Eid- vaten Nachrichtenjägers Hans Haus- Keiner seiner Nachbarn in einer ruhi- genössischen Militärdepartements), amann eine Organisation auf die Bei- gen Neubausiedlung in der Nähe von um uns zu beglückwünschen. Er be- ne, die sich im Verlaufe des Krieges Bern würde hinter dem freundlichen willigte uns dann alles, was wir ver- den Ruf erwarb, einer der besten weisshaarigen Herrn mit dem gemütli- langten.» Nachrichtendienste der Welt zu sein. chen, von schwäbischen Spuren Dass es an höchster Stelle selbst noch durchzogenen Ostschweizer Dialekt kurz vor Ausbruch des Weltkriegs an Schweizer Spion auf dem Fahrrad einen ehemaligen Geheimagenten ver- Verständnis für die Wichtigkeit von muten, dem sein Führungsoffizier Wie bescheiden der schweizerische Massons Dienststelle fehlte, belegt nach dem letzten Einsatz bescheinig- militärische Nachrichtendienst in die- ein Brief, den der Nachrichtenchef te: «Sie haben beste, genaueste Anga- ser Aufbauphase arbeiten musste, be- lange nach seiner Pensionierung ei- ben zurückgebracht. Die siebzig Fran- scheinigt der im Ruhestand lebende nem Freund schrieb: ken können Sie behalten.» eidgenössische Beamte Otto Brenner «Am Vorabend des Konflikts blieb Es handelte sich um den Rest eines (Name geändert), geboren 1911, der nichts anderes übrig, als ein Agenten- Spesenvorschusses, eine für die dama- zwischen 1936 und 1938 etwa zwei netz aus dem Boden zu stampfen, das ligen Verhältnisse des Schweizer Dutzend teilweise recht gefährliche sich auf bisher unbekannte Opera- Nachrichtendienstes beträchtliche geheimdienstliche Missionen in Süd- Summe. deutschland unternahm. Zweimal entkam Brenner nur mit knapper Not

65 Brenner war 24 Jahre alt, Leutnant der Infanterie und Student der Rechte in Basel, als er zwischen zwei Vorlesun- gen zum Spion wurde. Auf einem Spaziergang in der Stadt begegnete er zufällig seinem Kompaniekomman- danten, der mit einem unbekannten Begleiter in ein angeregtes Gespräch vertieft war. Beide Männer nahmen, wie Brenner später erfuhr, an einer ge- heimen Tagung teil, an der Kriminali- sten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz ihre Erfahrungen in der Spionageabwehr austauschten und neue Techniken der Postzensur, der Geheimschrift und ihrer Erkennung besprachen. Als der Kadi seines Leutnants ansich- tig wurde, fuhr er auf und rief aus, als hätte ihn soeben ein Geistesblitz ge- troffen: «Du kommst uns gerade recht.» Dieser Satz war das Einstellungsge- spräch. Die beiden Männer hatten ge- rade beratschlagt, wen sie zur Erkun- dung eines rätselhaften Bauplatzes in den nahen Schwarzwald schicken könnten. Brenner vermutet, dass Auf- klärungspiloten das Objekt aus der Luft fotografiert hatten, aber nicht identifizieren konnten. Der zweite Mann stellte sich vor: Oberst Z., Kommandant eines kanto- nalen Polizeikorps und nebenamtli- cher Mitarbeiter von Oberstleutnant Masson. Ohne zu zögern, nahm Otto Brenner den Auftrag an. «Ein paar Tage später zog ich Knic- kerbocker und Wanderschuhe an, fuhr mit dem Rad in den Schwarzwald und Ein Bild von symbolischer Kraft: Bei einer die geheimnisvolle Baustelle erreicht spielte den fröhlichen Wandervogel.» Fröntlerversammlung brandet die ferngesteu- und lungerte unschlüssig an der Ab- Kein Mensch hatte Brenner auch nur erte Menge gegen das Bundeshaus, schrankung herum. Soeben kehrten eine Stunde lang in das kleine Abc des die Arbeiter, die Schaufeln wie Ge- Nachrichtendienstes eingeweiht. Was me, Gesprächsführung, Festhalten wehre geschultert, zum Essen in die in anderen Ländern jeder angehende und Übermittlung der Nachrichten, Baracke zurück. Mit der ganzen Nai- Agent während Monaten in hochspe- Umgang mit Kameras und Funkgerä- vität, deren er fähig war, trat der fal- zialisierten Lehrgängen büffeln muss, ten... sche Wandersmann aus der Schweiz blieb dem jungen Leutnant verborgen: Die einzige Unterweisung, die der an die nächste Wache heran und bat die Technik von Tarnung, Annähe- Fahrradagent aus der Schweiz erhal- um die Erlaubnis, die Baustelle zu be- rung und Verfolgung, Kontaktaufnah- ten hatte, lautete sinngemäss: Wenn sichtigen. sie dich erwischen, beharre einfach Der einfachste Weg ist manchmal der stur darauf, du seist Tourist. Im Übri- beste, dachte Otto Brenner. Wer gen können wir nichts für dich tun, wollte denn auf die Idee kommen, ein und zahlen können wir auch nichts. ausländischer Agent benehme sich Viel Glück. derart auffällig! Es war Mittag im hochsommerlichen Der Kommandant näherte sich. Die Schwarzwald. Leutnant Brenner hatte Wache berichtete. Der Offizier 66 herrschte den Besucher an: «Kommt übernachtete der Schweizer immer in bezeichnungen bei einer Tasse Kaffee nicht in Frage! Alles geheim! Stren- Hotels, in denen deutsche Stäbe ein- auswendig und kontrollierte daraufhin ger Befehl! Heil Hitler!» quartiert waren, die lautstarke Kame- die Richtigkeit der Angaben im Ge- Aber der Spion hatte genug gesehen. radschaftsabende feierten. Dass der lände zwischen Bregenz und Feld- Der deutsche Arbeitsdienst baute eine neugierige Ausländer sogar Schwei- kirch. Strasse. Auftrag erfüllt! So ging es zer Offiziershosen. Wickelgama- Auf der Rückreise mit der Bahn wäre dann weiter. Rund ein Dutzend Male schen und Ordonnanzschuhe trug, fiel es noch einmal um ein Haar schief ge- erkundete der ehrenamtliche Spion ihnen nicht auf. gangen: Der kontrollierende österrei- einen etwa 60 Kilometer tief landein- Als ob er es geahnt hätte, verliess Otto chische Zöllner war von einem SS- wärts führenden Gürtel entlang der Brenner nach seiner Rückkehr gerade Mann begleitet, der dem Tagespass Rheingrenze zwischen Lörrach und noch rechtzeitig sein Heimatstädt- nicht traute und den verdächtigen Rei- Konstanz. Er suchte vor allem neue chen am Oberrhein. Er wollte Ex- senden misstrauisch auszufragen be- Telefonlinien, Strassen, Lagerhäuser amen ablegen und sich zum Repetie- gann. Der Geistliche, der Brenner im und Bahnrampen. Seine Einzelnach- ren und Vorbereiten für einige Mo- Abteil gegenübersass, wurde immer richten waren Mosaiksteinchen, die nate in ein stilles Kloster zurückzie- bleicher: Der Agent trug schliesslich, sich zu einem Gesamtbild über mög- hen. Deshalb packte er seine Offi- was ihm selber schon nicht mehr auf- liche deutsche Kriegsvorbereitungen zierskiste und fuhr mit dem Taxi hin- fiel, einen schweizerischen Offiziers- gegen die Schweiz zusammenfügten. über in die Schweiz. Der SS-Mann an mantel, an dem zwar Gradabzeichen der Grenze kannte Otto Brenner und und Einteilung fehlten; aber das grüsste freundlich: «Aha, Wiederho- Schweizer Kreuz am Ärmelaufschlag Geheimdienst in Offiziershosen lungskurs! Aber kommen Sie bald war deutlich zu sehen. Der österrei- und Ordonnanzschuhen wieder!» chische Zöllner wies mit dem Finger Nachdem die Deutschen 1936 das Otto Brenner kam nicht wieder, denn auf dieses Kreuz und sagte zum SS- Rheinland besetzt hatten, zog Otto einige Tage später durchsuchte die Mann: «Schauen Sie her, der Mann ist Brenner von Lörrach bis Karlsruhe Gestapo sein Elternhaus; doch sie schon in Ordnung...» Der SS-Mann von einem Ort zum andern. Indem er fand nichts. Vater Brenner erfuhr: glaubte es. sich, nach wie vor als Radtourist ge- «Ihr Sohn ist ein Spion!» Noch heute Die Spionage hat das Leben Otto tarnt, einfach zu rastenden Soldaten weiss Otto Brenner nicht, wie ihm die Brenners einschneidend verändert. setzte und belangloses Zeug mit ih- deutsche Abwehr auf die Schliche ge- Nachdem ihm die Gestapo auf die nen plauderte, konnte er sich die Ein- kommen ist. Schliche gekommen war, konnte er heitsnummern von den Achselpatten Agent «St.», wie Brenners Deckbe- nicht mehr gratis zu Hause, jenseits merken und die Standorte der Stäbe, zeichnung lautete, wurde nicht für der Grenze, wohnen. Da sein Vater als die Art und die Stärke der Truppen lange Zeit aufs Eis gelegt. Nach dem einfacher Angestellter in jenen Jahren herausfinden. Auch diese Einzelin- deutschen Einmarsch in Vorarlberg kein Geld erübrigen konnte, musste formationen ergaben, von Massons sollte er wieder Stärke und Standorte Otto Brenner sein Studium abbrechen wenigen Helfern ausgewertet, ein der Truppen feststellen. Nie zuvor und sich eine Arbeit suchen. Schliess- hochinteressantes militärpolitisches hatte er falsche Papiere besessen. lich stellte ihn die Bundesverwaltung Lagebild. Der Schweizer Nachrich- Jetzt zog er einen schweizerischen für Hilfsarbeiten in einem Archiv zum tendienst berichtete dem Bundesrat, Grenzwachtbeamten ins Vertrauen, halben Gradsold an. Brenner musste die Deutschen seien noch lange nicht der ihm einen Tagespass auf einen er- mit weniger als hundert Franken im stark genug und würden wahrschein- fundenen Namen ausstellte. Monat auskommen. «Es war die Zeit, lich zurückweichen, wenn die Fran- Brenner besuchte zuerst einen Be- da man eben den Tee vom Montag bis zosen sich ernstlich wehrten. Das kannten, der in einer grenznahen In- zum nächsten Wochenende aufbrüh- aber taten sie nicht, und Hitlers Bluff ternatsschule unterrichtete. Im Korri- te», erinnert er sich mit einem Anflug gelang. dor des Instituts sah er einen deut- von Wehmut. Otto Brenner wurde nie angehalten schen Offiziersmantel hängen. Natür- Eines Tages, als es kaum mehr weiter- oder kontrolliert, im Gegenteil: Die lich durchsuchte der Agent die Ta- gehen wollte, liess sich der mehrfach gelangweilten Soldaten und ihre ge- schen, und er hatte das Glück des belobigte Offizier und Agent beim schwätzigen Offiziere erwiesen sich Tüchtigen: Auf einem Zettel waren Generalstabschef melden, um ihm sei- als ausgezeichnete Quellen. Während viele der benötigten Angaben säuber- nen Fall vorzutragen und ihn um Hilfe seiner viertägigen Erkundungstour lich notiert. «St.» lernte die Truppen- zu bitten. Dabei hat er eine spezifisch

67 geheimdienstliche Variante von mit millionenschweren Spesenkonten verkehren und wo die Barfrau ein Dankbarkeit erfahren, und Otto Bren- und ein Miliznachrichtendienst ge- Spitzel und jeder zweite Serviermei- ner macht kein Hehl daraus, dass es genüber, der vier Rappen Kilometer- ster ein gutbezahlter Nachrichtenträ- lange gedauert hat, bis er darüber hin- geld zahlte. ger ist; ich sitze auch in einer der offe- weggekommen ist. Er wurde nämlich Hagen verbrachte den grössten Teil nen Séparée-Ecken des Café du Théâ- nicht einmal vorgelassen. «Ein Adju- seiner Arbeitszeit ausserhalb des Bü- tre. (...) Ich hoffe sehr, dass die tant sagte mir, der Herr General- ros, denn er brauchte dringend neue Schweizer Überwachungsorgane all- stabschef sei mit Grenzschutzaufga- V-Leute (Verbindungsleute). In sei- mählich zu der Erkenntnis gelangt ben überlastet. Da ging ich und dach- nem Bericht lesen wir: sind: Dieser deutsche Konsul überar- te: ich auch...» «Ich bin dauernd unterwegs: in Ho- beitet sich sicher nicht; er vergnügt tels, Cafés, Weinstuben, Bars, Danc- sich hauptsächlich.» ings, an Modeschauen, im Theater Anders, so betont Ulrich Hagen in sei- und auf den sportlichen Veranstaltun- nem Lebensbericht, wäre er nicht vor- gen, auf Autotouren, Reisen usw. wärtsgekommen, «denn rund 90 Pro- Habe bald kleine Freundschaften, die zent aller Schweizer sind fanatisiert Spion in Bern: zu Kaffee-Einladungen führen, und gegen das grosse Deutschland, dessen Dolce vita als Tarnung manchmal auch zu mehr, so dass ich Sprache ihre Regierungssprache ist». mich öffentlich revanchieren muss. Dann verrät der Rittmeister aus Berlin Etwas mehr als ein Jahr, nachdem Und das ist mir sehr angenehm. Stets auch, was er tat, wenn er nicht gerade Otto Brenner dem misstrauischen SS- esse ich ausserhalb – sehr selten al- auf Landpartien war oder in feinen Lo- Mann zwischen Bregenz und Ror- lein. (...) Zu Abend esse ich je nach kalen speiste. Bienenfleissig begann schach entkommen war, traf Rittmei- den vorliegenden Notwendigkeiten: er, ein Album mit allen Leuten anzu- ster Ulrich Hagen in der deutschen im elegantesten Palace-Hotel Belle- legen, die er kennenlernte: Konsuln, Gesandtschaft zu Bern seinen Posten vue, wo, wie ich weiss, die reiche Militârattachés, Angestellte der diplo- als Vizekonsul für wirtschaftliche deutsche Emigration, die Diplomatie matischen Missionen. Er sammelte Angelegenheiten an. So jedenfalls und die hohen Schweizer Militärs ihre Bilder und Lebensdaten. Eine lautete sein Titel. In Wirklichkeit war Kartei füllte er allein mit den Namen Hagen, im Zivilberuf Rechtsanwalt, leitender Leute in den grossen Berner Mitarbeiter der Abteilung III F des Hotels, in Zeitungen und Nachrichten- Amtes Ausland/Abwehr im Ober- agenturen. kommando der Wehrmacht, also dem Hagen überlegt: «Gewiss wird vieles, legendären Admiral Wilhelm Canaris Nazi-Organisationen in der vielleicht sehr vieles davon umsonst unterstellt. Er sollte in Bern Nachrich- Schweiz für unsere Tätigkeit sein, aber etwas ten Verbindungen der feindlichen kann doch dabei herauskommen, und In der Stadt Zürich gab es 1939 folgende Mächte aufspüren und bekämpfen, eine einzige Sache darunter kann so- deutsche Organisationen mit engen Bin- gar der grosse Erfolg sein.» Quellen und Zwischenträger aushor- dungen ans Dritte Reich (in Klammern die chen sowie Übermittlungswege re- Mitgliederzahlen, soweit bekannt): Natio- Hagens Einschleichtaktik trug schnell cherchieren. Als todkranker Mann hat nalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Früchte. Einer seiner neuen Mitarbei- (200), Deutsche Arbeitsfront (550), Kraft Hagen in den ersten Tagen des Jahres ter berichtet ihm, der britische Feind durch Freude, Frauenarbeitsgemeinschaft wisse über geheime deutsche Versu- 1945 in einem deutschen Militärlaza- FAG (100), Deutscher Hilfsverein, Hitler- rett einem Mitpatienten seine Lebens- Jugend, Bund deutscher Mädel (50), Deut- che mit einem magnetischen Torpedo erinnerungen diktiert. Aussergewöhn- sche Jugend, Jung-Mädel, Deutsche Stu- Bescheid. dentenschaft (50), Deutsche Kolonie, Op- liches steht nicht drin, und gerade Die Rück Verfolgung dieses blossen fer-Ring (300), Winterhilfswerk, Deutsche Gerüchts ist ein Musterbeispiel für die deshalb ist dieses Dokument wichtig Turnerschaft (Aktive, Männerriege, Turne- und für den Alltag der deutschen rinnen), Bund ehemaliger deutscher Art von Aufgaben, die heute noch das Spionage in der Schweiz bezeich- Kriegsteilnehmer, Reichsdeutschenhilfe, tägliche Brot der Geheimdienste in al- Deutscher Militärverein, Arbeitsgemein- nend. Die Einzelheiten, die der Büro- ler Welt sind: – In einem kleinen Kreis schaft Handel und Gewerbe, Sportgruppe, in einem Berliner Hotel erzählt ein und Cocktailspion Hagen über seine Deutscher Ruderverein, FAG-Sportgrup- kurze Zeit in Bern berichtet, sind zu- pe, FAG-Jugendgruppe, Deutscher Män- dem ein reizvoller Kontrast zu den Er- nergesangverein, Verband deutscher Kriegsbeschädigter, Deutsches Heim. innerungen des Otto Brenner; denn in der Tat standen sich damals eine ge- heimdienstliche Supermaschinerie

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Die Ortsgruppe Siblingen der Nationalen Front war zum 1. Mai nach Dieses Wortspiel des «Nebelspalters» ging um die Welt: «Vati, was Stuttgart gepilgert: «Am Altar ihres Vaterlandes ...» bedeutet dieser Gruss?» – «Ganz einfach: Aufgehobene Rechte!» wichtigtuerischer Industrieller von chelt ist. Er gibt Informationen und grenzte an Zauberei. In einer Abtei- diesen Tests. fertigt sogar Skizzen an. Die erhält lung der Abwehr gibt es nämlich ei- - Der Oberkellner horcht und verkauft natürlich der Geheimdienst. nen Offizier, der eine merkwürdige das Gerücht dem britischen Geheim- So hat es Ulrich Hagen dargestellt, Begabung hat: Er kann fremde Hand- dienst. und mit Bestimmtheit gab es Zwi- schriften perfekt nachahmen.» - Der britische Geheimdienst schickt schenstationen, die er nicht genannt Mit vielen aus den Archiven geholten einen Agenten ins Torpedowerk, der hat. Aber aus einem Cocktailgerücht Originalvorlagen wurden Botschaften einen Oberingenieur als Geheimnis- war Realität geworden. Belanglos fingiert, welche die massgebenden träger ermittelt. scheinende Einzelmeldungen eröff- Leute verbündeter Nachrichtendien- - Der Oberingenieur wird durch- neten in der Kombination und unter ste gegeneinander ausspielten. Satz- leuchtet. Alles ist interessant: Wo den Händen erfahrener Nachrichten- stil, Wortwahl, Raumaufteilung auf wohnt er? Wovon lebt er? Lebt er offiziere plötzlich neue Einsichten. dem Briefbogen, Anrede- und Gruss- über seine Verhältnisse? Mit wem hat Der Oberkellner und der britische formeln – alles war genau imitiert. er Umgang? Hobbies? Laster? Ge- Agent wurden gehängt. Die volle Wirkung seines Brieftricks wohnheiten? Eine andere Aufgabe Hagens war es, konnte Hagen nicht mehr mitverfol- - Die Briten werden fündig: Die Braut zu versuchen, die feindlichen Nach- gen: Weil das zur Weltherrschaft stre- des Ingenieurs hat abgetrieben. Der richtendienste zu verwirren. «Dazu bende Dritte Reich überall Agenten Bräutigam weiss nichts davon. besorgte ich einige Briefe, die an Di- brauchte, wurde er in den Balkan ver- - Der Agent erpresst das Mädchen. Es plomaten in der Schweiz gerichtet setzt. gibt sich plötzlich unheimlich interes- waren. Diese Briefe waren in Berlin Aber wir werden noch sehen, dass mit siert an der Arbeit seines Verlobten, hergestellt, ihr Inhalt war meine Ar- Sicherheit ein anderer die Arbeit fort- der von diesem Interesse geschmei- beit. Die technische Herstellung gesetzt hat...

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Die unsichtbare Front Grosse Spione und ihre Affären

eutrale Staaten waren in allen Kriegen immer wieder beliebte Ausweichgebiete für die Geheimdienste Nder kriegführenden Mächte. Hier sind sie weit- gehend sicher vor der unmittelbaren Spionageabwehr des Gegners – einer Abwehr, die naturgemäss mit viel grösse- rem personellem und technischem Aufwand und intensi- verem Einsatz geführt wird als die Abwehr des an dieser Tätigkeit nicht unmittelbar interessierten Neutralen. Die in den kriegführenden Staaten überführten und abge- urteilten Agenten hatten meist mit Galgen oder Schafott zu rechnen; in den neutralen Staaten kamen sie in der Regel mit einigen Monaten oder wenigen Jahren Gefängnis davon. Hans Rudolf Kurz

Ist er ein Flüchtling? Oder ist er ein Spion? Ein schriftenloser Mann (rechts) hat wäh- rend des Aktivdienstes die Schweizer Nordgrenze bei Thayngen überschritten. Jetzt wird er im Beisein des Grenzwächters (zweiter von rechts) von einem Polizisten verhört. Der Zivilist im Hintergrund hört aufmerksam zu; vieles spricht dafür, dass er ein Mann vom Nachrichtendienst oder von der Spionageabwehr ist.

71 «Seit 4.45 Uhr wird zurückgeschos- im folgenden Frühjahr 1940 im Nor- durch unser Land eine unsichtbare sen!» den und im Westen. Dänemark ergibt Front: Der Nachrichtenkrieg ist ent- Mit dem Zynismus des machttrunke- sich kampflos. Zusammen mit Nor- brannt. Der neutrale Staat im Herzen nen Diktators kündigt Adolf Hitler im wegen soll es als Basis des deutschen Europas ist der ideale Fechtboden für Deutschen Reichstag den Beginn des Angriffs gegen Grossbritannien die- Agenten aller Schattierungen. Zweiten Weltkriegs an. Ohne Kriegs- nen. Die Westoffensive beginnt. Am Die Deutschen haben ihre Gesandt- erklärung sind deutsche Heeresgrup- 15. Mai 1940 kapitulieren die Nieder- schaften in Bern zur Spionagezentrale pen in Polen eingedrungen. Es ist lande. Die Königsfamilie flieht nach ausgebaut. Filialen sind die Konsulate •Freitag, der 1. September 1939. In 26 England. Zwei Tage später besetzen in Zürich, Basel, St. Gallen, Lugano, Tagen wird Warschau fallen. Am glei- Hitlers Armeen Brüssel, tags darauf Lausanne und Genf. chen Freitag, dem 1. September, ord- Antwerpen. Durchmarsch zum Atlan- Briten und Franzosen tun im Prinzip net der schweizerische Bundesrat die tik. Dünkirchen fällt. 337000 briti- das gleiche, doch ist ihre Tätigkeit – allgemeine Mobilmachung an. 48 sche und französische Soldaten müs- von eher zufälligen Einzeltaten abge- Stunden zuvor hat die Bundesver- sen unter schwersten Kämpfen eva- sehen – nicht gegen die Schweiz ge- sammlung den Waadtländer Landwirt kuieren. Zehn Tage nach Dünkirchen, richtet. und Berufsoffizier Henri Guisan zum am 14. Juni 1940, ergibt sich Paris, Die Amerikaner schicken im Novem- General und Oberbefehlshaber der Ar- und auf den Champs-Elysees singen ber 1942 einen ihrer besten Männer mee gewählt. die Landser: «Wir fahren gegen En- nach Bern, den New-Yorker Anwalt Die Fronten formieren sich, die Gren- gelland...» Das ist der deutsche Blitz- und Diplomaten Allan W. Dulles. Er zen werden besetzt. Zuerst im Osten, krieg. Eine gigantische Kriegsma- zieht an der Herrengasse die Zentrale schinerie, die mit tödlicher Perfektion des amerikanischen Geheimdienstes August 1939: Gebannt verfolgen Männer und Europa überrollt und die Schweiz OSS für Mitteleuropa auf. Frauen das internationale Geschehen (links). ringsum einschliesst! Die Russen haben es am schwersten: Dann eilt die Schweiz unter die Waffen (rechts): Generalmobilmachung – und der Beginn eines Die Schweiz ist bedroht, aber sie Als einzige kriegführende Macht un- sechsjährigen Nervenkriegs! bleibt verschont. Und doch zieht sich terhalten sie keine diplomatischen

72 Beziehungen zur Schweiz und können Pünter («Pakbo»), der als Journalist Geheimdienste – nie ganz durch- deshalb keine Botschaft als legale Re- und Besitzer einer Presseagentur ar- schaubar sidentur und keine auf dem Papier ver- beitet. Obwohl sein Wirken der botenen, aber ungeahndet betriebenen Schweizer Abwehr nicht verborgen Viele brisante Einzelheiten, vielleicht diplomatischen Kurzwellensender be- bleiben kann, wird er nicht behelligt. sogar kriegsentscheidende Operatio- nutzen. Sie weichen in den Unter- Als genialer Einzelgänger mit erst- nen und Intrigen, sind für immer im grund aus und lassen den Meisterspion klassigen Quellen steht der ständig Dunkel der ungeschriebenen Ge- Sandor Rado von Genf aus ein Netz mit Geldschwierigkeiten kämpfende schichte versunken, weil die Haupt- knüpfen. Verleger Rudolf Roessler in Luzern personen gestorben sind oder eisern Eher im Hintergrund mischen noch zwischen mehreren Abschnitten der schweigen. andere Mächte mit, zum Beispiel lautlosen Front und knüpft kompli- Aber was wir über die Tätigkeit der China, das schon wegen seiner Feind- zierte Querverbindungen, die vom Spionage-Profi in der Schweiz der schaft mit Japan, wenn auch inoffizi- Schweizer Nachrichtendienst bis zum Aktivdienstzeit wissen, ist auch so ell, immer wieder den Alliierten zu «Direktor» (Generaloberst Peresy- eine fesselnde, verwirrende, manch- Diensten steht. Die Deutschen ihrer- pkin von der GRU-Zentrale) nach mal abenteuerliche und immer wieder seits schieben Japan und die besetzte Moskau reichen. auch tragische Geschichte. Was da- Tschechoslowakei vor. Widerstandskämpfer verschiedener mals hinter verschlossenen Türen ge- Für die Alliierten, für General de Länder haben Operationsbasen in der schah, war für die von der aggressiv- Gaulles Exilregierung in London und Schweiz. Es steht fest, dass der sten und bösartigsten Macht des 20. später für die Russen betätigt sich Otto Schweizer Nachrichtendienst na- Jahrhunderts umzingelte Schweiz Ge- mentchelt ist. Erlich gegen Ende des fährdung und Chance zugleich. Deutsche Soldaten stürmen mit langen Schritten Krieges solche Bewegungen mit Gefährdung, weil der Krieg an der über die Trümmer des alten Europa. Die Geld, Waffen und gefälschten Aus- lautlosen Front keine Neutralen Schweiz wird rings von den faschistischen Mächten eingeschlossen. Nicht weniger gefähr- weisen unterstützt. Die Gegenleistun- kennt. Die Schweiz musste – und sie lich ist der unsichtbare Krieg an der Nachrich- gen sind Nachrichten aus den besetz- wollte ja auch – Nachrichten gegen tenfront. ten Gebieten. Nachrichten tauschen.

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Um im Krieg bestehen zu können, musste sie die Neutralität aufs Spiel setzen und militärische sowie wirt- schaftliche Gefahren auf sich neh- men. Chance, weil die Funktion der Schweiz als Nachrichtendrehscheibe Europas mit Sicherheit einer der Gründe war, weshalb unser Land ver- schont blieb.

Hitlers Schweizer Spionage- konzern Kunstvoll verflochten, alles durch- dringend, straff gelenkt und überaus produktiv – die deutsche Spionage gegen die Schweiz während der Ak-

tivdienstzeit trug fast alle Kennzei-

chen eines gutgeführten Konzerns! Admiral Wilhelm Canaris war der oberste Chef Das Organigramm der Organisation Canaris: Dabei ist zu betonen, dass diese «Fir- der deutschen Militärspionage. Er war insge- Für die Schweiz war vor allem die Abwehr- ma» ein ausserordentlich vielfältiges heim ein Hitler-Gegner und gehörte dem deut- stelle Stuttgart mit den Aussenstellen Freiburg, schen Widerstand an. Kurz vor Kriegsende Konstanz, Lörrach und andere zuständig. «Sortiment» führte und, um im Jar- wurde er im KZ Flossenbürg erhängt. Spähposten gab es entlang der ganzen Grenze. gon der Wirtschaft zu bleiben, unge- mein stark «diversifiziert» war; sie betätigte sich nicht nur in den klassi- stehenden Organisationen der Aus- schnüffelei bis zur handfesten schen Branchen des militärischen, po- ländsdeutschen zog sich ein beispiel- Spionage – zur «patriotischen litischen und wirtschaftlichen Nach- los feinmaschiges Netz über das gan- Pflicht» gemacht. Hunderte kamen richtendienstes, sondern besorgte ze Land, in dem täglich eine riesige dieser vermeintlichen Pflicht nach. auch politische Propaganda, Desin- Fülle von Material hängenblieb; denn Ihre Motive reichten von fanati- formation des Gegners, Subversion nicht nur den Parteimitgliedern, son- scher Begeisterung für den Führer- im Gastland, Anwerbung von Kriegs- dern jedem «guten Deutschen» wur- staat über naiven Patriotismus, ge- freiwilligen, Führung der zahlreichen den gelegentliche oder regelmässige dankenlose Mitläuferei, nackte Organisationen der Ausländsdeut- nachrichtendienstliche Handreichun- Geldgier und Hoffnung auf einen schen, Erpressung und Terrorisierung gen – von der belanglosen Alltags- störrischer Landsleute in der Schweiz, Pflege der Beziehungen zu Canaris' Männer sind die jene der Gestapo und der Partei ziem- einflussreichen Politikern, Offizieren, besten lich oft Dritte damit beauftragt. Wirtschaftsführern und Kulturträ- Die deutsche Spionage entwickelte in der Schweiz eine rege Tätigkeit. Der «Die Agenten der Wehrmacht waren gern, Abwicklung von Finanzopera- Leiter der Spionagezentrale Säckingen weniger zahlreich, dafür besser ausge- tionen, Einkauf von Kriegsmaterial war im Besitzp von Taschenbüchern, in wählt als jene der Gestapo und der Na- denen die Namen seiner 97 Spione ge- und Hilfsgütern und, und, und... tionalsozialistischen Partei. Die Aufga- schrieben standen, von denen die Der Hauptsitz des Unternehmens war ben, die den Spionen der Wehrmacht Mehrzahl in der Gegend Rheinfelden- gestellt wurden, waren im Allgemeinen die deutsche Gesandtschaft in Bern. Schaffhausen eingesetzt wurden. Ein militärischer Natur und liessen einen Ihr und den deutschen Konsulaten anderer Leiter hatte in seinem Dienste methodisch aufgebauten Aktionsplan 95, ein dritter 14 Agenten, so dass in waren schon lange vor dem Kriegs- erkennen. Die Agenten der Gestapo den drei Abschnitten zwischen Boden- ausbruch besondere Vertreter der Ab- und der Partei, welche weniger sorgfäl- see und Basel wenigstens 206 Spione tig ausgelesen wurden, betraute man wehrstelle (militärischer Geheim- tätig waren. Es ist schwierig, die ge- mit den verschiedensten Aufträgen. dienst) und des Sicherheitsdienstes naue Zahl der in der Schweiz für Wenn sie auch Kühnheit bewiesen, so Deutschland arbeitenden Spione zu (Gestapo) beigegeben worden, die zeigten sie doch einen Mangel an Me- nennen, aber es werden ungefähr 1000 sich als Attachés und Konsulatsbe- thode, was bei einer deutschen Organi- gewesen sein.» amte tarnten. Zusammen mit den be- sation überrascht. Während die Agen- ten der Wehrmacht die eigentliche Ar- Aus dem Bericht an den General über beit häufig selbst übernahmen, haben den Aktivdienst von Generalstabschef Jakob Huber

74 von Oberstleutnant Meyer. Gegliedert war sie wie folgt: Referat III F: Erkundung und Un- schädlichmachung des ausländischen Nachrichtendienstes. Referat III H: Behandlung von Straf- fällen deutscher Soldaten (z.B. Deser- tion). Referat III C 1: Grenzangelegenhei- ten. Referat III C 2: Überwachung der Ausländer in Deutschland. Referat III Kgf: Überwachung der Kriegsgefangenen. Referat III Wi: Schutz der inländi- schen Industrie vor Sabotage. Referat III N: Überwachung des Tele- fon- und Telegramm Verkehrs im In-

land. S S-Brigadeführ er Walter Schellenberg war Überblick über die Organisation der SS-Spio- In Sigmaringen unterhielt die AST der Chef des Nachrichtendienstes der SS und in nage und ihre Einordnung ins deutsche Polizei- Stuttgart eine Funkstelle mit Haupt- dieser Eigenschaft direkt Himmler unterstellt. und Sicherheitssystem. Dieser Nachrichten- mann Frentznik als Leiter. Auch die dienst übernahm gegen Kriegsende auch die Dieses Bild zeigt ihn im Zeugenstand beim AST-Zentralen in München und Kriegsverbrecherprozess von Nürnberg. Funktionen der missliebig gewordenen Ab- wehr. Karlsruhe arbeiteten teilweise gegen Posten in der «neuen Schweiz» bis zur Oberst Ohlendorf. Nach den Ermitt- die Schweiz, wobei längs der Schwei- ängstlichen Rückversicherung «für lungen der Schweizer Abwehr, des zer Grenze die Aussenstellen Lörrach alle Fälle» und zum Nachgeben ge- Schweizer Nachrichtendienstes und (Major Pohlen und Malzacher), genüber den raffinierten Erpressungs- der Bundespolizei war die AST-Zen- Säckingen (Hauptmann Badow und methoden der Nazis.. trale Stuttgart wie folgt organisiert: Malzacher), Konstanz (Major Böh- Als Auftraggeber der deutschen Spio- 1. Gruppe: ning und ab 1943 Furrer alias Witum nage- und Spitzeltätigkeit wurden, Referat I H (Heer). Leitung: Oberst- und Beranger) und Bregenz (Major wie der Bundesrat Ende 1945 in sei- leutnant Schmid alias Dr. Petersen Böning) errichtet wurden. nem «Bericht über die antidemokrati- und Ruf, später Oberstleutnant Rum- Nach dem missglückten Attentat auf sche Tätigkeit von Schweizern und pe und Oberstleutnant Rudolf. Referat Hitler vom 20. Juli 1944 wurde Ad- Ausländern im Zusammenhang mit I Wi (Wirtschaft). Leitung: Major miral Canaris ausgeschaltet und seine dem Kriegsgeschehen 1939-1945» Gayler. Nachrichtenorganisation dem Reichs- ausführte, drei deutsche Stellen ermit- Referat I G (Geheimgruppe). Leitung: sicherheitshauptamt angegliedert. telt: die Wehrmacht, die Partei und Major Heiland. Diese Gruppe war als die SS in Verbindung mit der Gesta- technischer Dienst verantwortlich für po. Reichssicherheitshauptamt, Funkverkehr, Chiffrieren und Dechif- Amt VI, Auslandsnachrichten- frieren. Ausserdem lieferte sie falsche dienst (SD des RSHA) Papiere. 2. Gruppe: Chef dieses Nachrichtendienstes war Ihr Leiter war ein Freiherr von Stauf- SS-Brigadeführer Walter Schellen- Die Wehrmacht- berg, der direkt dem Reichsführer SS Abwehrstelle (AST) fenberg alias «Onkel Franz». Dies war die Sabotagegruppe, die bei ei- und Chef der deutschen Polizei, Hein- Die AST war der offizielle Geheim- nem Angriff auf die Schweiz Brücken rich Himmler, unterstellt war. Beim dienst der deutschen Wehrmacht. Sie und andere militärische Objekte hätte SD handelte es sich um den Nachrich- umfasste Spionage, Gegenspionage zerstören bzw. deren Zerstörung ten- und Polizeiapparat der National- sowie Sabotage und stand unter der durch die Schweiz hätte verhindern sozialistischen Deutschen Arbeiter- Leitung von Admiral Wilhelm Cana- sollen. ris. 3. Gruppe: Die Schweiz wurde von der AST- Sie diente der Spionage- und Sabota- Zentrale in Stuttgart aus bearbeitet. geabwehr und stand unter der Leitung Diese Stelle unterstand bis 1942 Oberstleutnant Zeitz, später Oberst- leutnant Stefan, Oberst Heusser und 75 Reichssicherheitshauptamt, Amt IV, Gestapo Leiter dieses dritten gegen die Schweiz spionierenden Amtes war SS-Gruppenführer Müller, der eben- falls Heinrich Himmler bzw. SS- Gruppenführer Kaltenbrunner unter- stand. Die Geheime Staatspolizei (Gestapo) war die eigentliche politische Polizei des Hitler-Regimes. Ihre Aufgabe war neben der Ermittlung politischer Straftaten (Hoch- und Landesverrat, Verstösse gegen Blutschutz-, Rund- funk-, Heimtücke- und andere NS- Gesetze) die Verfolgung der Perso- nen, die das Regime als seine Gegner betrachtete (Juden, Freimaurer, Mar- xisten, «östliche Untermenschen» wie . Zigeuner usw.). Die Gestapo war das gefürchtetste Instrument politischpo- lizeilichen Terrors; ihr Name ist in al- ler Welt das Markenzeichen für schrankenlose Willkür und Grausam- keit unter dem Deckmantel legitimer Staatsgewalt geblieben.

So spionieren Hitlers Diplomaten Generalstabschef Jakob Huber ent- hüllte in seinem Bericht an den Gene- ral über den Aktivdienst Einzelheiten über die Tarnung deutscher Agenten als Diplomaten: «Auf der Gesandtschaft in Bern be- fand sich der ‚Generalkonsul‘ Meiss- Der Nachrichtendienst der Geheimen Staatspo- trale, die zur Tarnung den Namen ner. Dieser war mit der Leitung der lizei (Gestapo) besorgte vor allem die Nahauf- «Alemannischer Arbeitskreis» führte. Spionage beauftragt und in Wirklich- klärung im Grenzgebiet. Zwischen den drei Bis Anfang 1944 wurde sie von SS- keit Korvettenkapitän und Vertrau- deutschen Spionageorganisationen gab es kaum Zusammenarbeit, aber scharfe Rivalitä- Sturmbannführer Dr. Klaus Hügel ge- ensmann von Admiral Canaris. ten. leitet, der eine Schlüsselposition bei Meissner war, bevor er nach Bern der gegen die Schweiz gerichteten kam, Offizier des deutschen Nach- partei. Er beschaffte Nachrichten auf deutschen Geheimdiensttätigkeit ein- richtendienstes in Oslo, Angers und allen Gebieten, wobei es häufig zu Ri- nahm und nach dem Krieg in schwei- Paris gewesen. Er hatte als direkten valitäten mit der Abwehrstelle der zerischen Landesverräterprozessen Mitarbeiter ‘Gesandtschaftsattaché’ Wehrmacht und der Gestapo-Nach- bei freiem Geleit als Kronzeuge auf- Fritz Albert, ‚Regierungsrat‘ Walrat richtenorganisation kam. Je weiter der trat/ von und zur Mühlen, ‚Generalkonsul‘ Krieg fortschritt, desto stärker wurde Auch der SD errichtete längs der Bohle, (Amtsrat) von Pescatore, ‚Ge- der Einfluss des SD, dem schliesslich Grenze seine Aussenstellen, die zur sandtschaftsbeamten‘ Piert und vor gegen Kriegsende die gesamte Spio- Tarnung unter den Namen aller er- nage und Abwehr unterstanden. denklichen Behörden, Parteistellen Gegen die Schweiz arbeitete vor allem und Privatfirmen operierten. die in Stuttgart eingerichtete SD-Zen-

76 allem Helmuth Eisele und Günther amte Pläne und detaillierte Angaben lediglich an die Grenze gestellt wer- Diederichs, beide auf dem Politischen über die Oerlikoner Rüstungsproduk- den konnte. Departement als ‚Hilfsarbeiter‘ der tion sah, schaltete er die Polizei ein. Auch das deutsche Konsulat in St. Gesandtschaft eingeschrieben.» Ashton wurde ausgewiesen. Gallen, untergebracht in einer pom- Die Spionageabteilung der deutschen Fast in allen 33 Fällen, wo Divisions- pösen Villa auf dem Rosenberg, ent- Gesandtschaft in Bern wurde zur Tar- gerichte Todesurteile gegen Schwei- puppte sich als Spionagezentrale nung als «Büro F» bezeichnet, das zer aussprachen, erwiesen sich deut- beim Prozess vor Divisionsgericht am drei Unterabteilungen besass: aktive sche Gesandtschaftsoder Konsulats- 9. Oktober 1942, das den Artillerie- Spionage (Leitung Fritz Albert), Ge- angestellte als Anstifter und Mittäter. fahrer Sch. zum Tode durch Erschies- genspionage (von Pescatore) und Der Konsulatsbeamte Lang, der die sen verurteilte: Er hatte den Konsu- wirtschaftlichen Nachrichtendienst latsbeamten Gottlob Heilig und Au- (Gerl). Diese Spezialisten wurden gust Schmid fünf gewöhnliche Artil- nach dem Waffenstillstand ausgewie- leriegranaten übergeben, die er aus sen. Bestrafen konnte man sie nicht, «Sag alles, was du weisst!» dem Munitionsmagazin seiner Ein- da sie die diplomatische Immunität heit gestohlen hatte, sowie ungenaue genossen. «Denke immer daran, dass uns alles in- Skizzen von Befestigungsanlagen am Bereits 1939 beschaffte sich ein Mit- teressiert, was die Feinde Europas tun, sa- gen und schreiben: Alles muss berichtet Klöntalersee, bei Ziegelbrücke, vom arbeiter des deutschen Militârattachés werden, was irgendwie in Beziehung zur Biberlikopf usw. Sch. hatte dafür un- namens Eberth Pläne von militäri- Kriegführung und Politik des neuen Europa gefähr 500 Franken erhalten. Schmid schen Anlagen im Murtenseegebiet. gegen die Judendemokratie und den Bol- hatte ihn auch beauftragt, in der Ma- Zwei Schweizer Nazis, die eine unbe- schewismus steht. Die Verhaftung der mit schinenfabrik Oerlikon eine Tank- deutende Splittergruppe, die Deutschland sympathisierenden Schwei- büchse und eine magnetische Mine zu zer kann mit zwei Worten gemeldet wer- «Schweizerische Einheitspartei», ge- den; ein Spezialamt ist mit diesen Verhaf- stehlen, doch war der Verräter vorher gründet hatten, waren ihm dabei be- tungen und deren Folgen beauftragt wor- gefasst worden. hilflich. Sie wurden zu je 15 Jahren den. Uns interessiert vor allem die Zusam- Schmid hatte noch zwei andere Zuchthaus verurteilt, der Deutsche menarbeit der schweizerischen Behörde Schweizer Wehrmänner an der Hand, ausgewiesen. mit den uns feindlichen Staaten und ihrem die Informationen über die Festung Nachrichtendienst; was die Versammlun- Ein anderer überführter Spion, der gen der Feinde Deutschlands betrifft, Sargans besorgten. ebenfalls untergeordnete Gesandt- melde Ort und Datum sowie die Teilneh- Ausser den diplomatischen Vertre- schaftsangestellte Emil Knüttel, ver- mer. Sag alles, was du weisst, selbst dann, tungen wurden auch Beamte der zichtete auf seine diplomatischen wenn du glaubst, wir wüssten es schon.» Reichsbahnzentrale in Zürich und des Vorrechte und liess sich lieber in der Aus dem Text einer «Allgemeinen Orien- Badischen Bahnhofs in Basel, die Schweiz zu 15 Jahren Zuchthaus ver- tierung» für die Mitarbeiter des Gestapo- Nachrichtendienstes Vertreter der Lufthansa und die Mit- urteilen, statt als entlarvter Spion ins glieder der deutschen Handels- und Dritte Reich zurückzukehren. Industriemissionen in die weitläufi- Einer der aktivsten, gefährlichsten gen Spionagedienste verstrickt. Oft deutschen Führungsoffiziere war Dr. machten die deutschen Stellen die Er- Georg Ashton, der auf dem deutschen Fouriere F. und Z. zur Übergabe ge- teilung von Visa an Reichsbürger, die Generalkonsulat in Zürich tätig war heimer Pläne und Informationen über zum Beispiel aus geschäftlichen und u.a. intensiv gegen seine frühere militärische Befestigungen in der Gründen in die Schweiz reisen woll- Arbeitgeberfirma spionierte, die Zentralschweiz angestiftet hatte, ten, von der Erfüllung bestimmter Werkzeugmaschinen- und Waffen- konnte sich noch rechtzeitig absetzen. Nachrichtenaufträge abhängig. fabrik Bührle. Nach unbestätigten Be- Er wurde in Abwesenheit zu lebens- Bei den professionellen Agenten, die richten wurde Dr. Ashton das Opfer länglichem Zuchthaus verurteilt, die- alle drei auftraggebenden Stellen in seiner Vergesslichkeit: Er liess eine weil seine beiden Opfer am Eingang grosser Zahl in die Schweiz einzu- Aktenmappe mit zahlreichen Spiona- des Eigentals ob Kriens an einem neb- schleusen verstanden, wurden ge- gedokumenten in einem Zürcher ligen Novembermorgen erschossen fälschte Mahlzeitencoupons, in Tram liegen! Die Mappe wurde aufs wurden. Auch Oberleutnant R. und Deutschland nachgedruckte topogra- Fundbüro gebracht und dort geöffnet, Leutnant K. sowie der Zivilist Ph. fische Karten im Massstab 1:25000, damit man den Namen des Eigentü- wurden hingerichtet, während ihr Dufourkarten (1:100 000) und die mers feststellen konnte. Als der Be- Führungsoffizier, der als «Konsulats- neuesten Minox-Taschenkameras ge- beamter Bögemann» in Basel wirkte, funden.

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Soweit die Übermittlung der illegal Zehnermarken bestehen, von denen des Admirals Canaris, an allen Detail- beschafften Informationen nicht die mittlere verkehrt aufzukleben angaben über Befestigungswerke, Be- durch den diplomatischen Kurier so- war. Die so gekennzeichneten Briefe waffnung, Heeresorganisation, Trup- wie die Funk-, Fernschreib-, Hell- wurden von der Postzensur abgefan- penstandorte, Aufmarsch- und Opera- schreib- und Morsetelegrafenverbin- gen und sogleich der Gestapo zuge- tionspläne, Truppenstärke und -lager dungen der deutschen Gesandtschaft leitet. Zur Tarnung enthielten diese interessiert. Auf dem politischen Ge- und der Konsulate geschah, wurde sie Briefe immer einen unverfänglichen biet waren speziell SD und Gestapo von Passeuren, namentlich in den nur Text; die militärischen und politi- tätig; sie verschafften sich Nachrich- schwer zu überwachenden Grenz- schen Mitteilungen, auf die es ankam, ten über politische Organisationen, bahnhöfen von Buchs, Schaffhausen waren auf der Rückseite des ersten Verbände, Vereine und Einzelperso- und Basel (Badischer Bahnhof) be- Blattes mit unsichtbarer Geheimtinte nen, besonders in Bezug auf deren sorgt. In mehreren Fällen wurden die notiert. Später wurden viele Agenten Einstellung gegenüber Deutschland. Nachrichten auch mit gewöhnlichem auch mit Kurzwellensendern ausge- Bespitzelt wurden, wie der Bundesrat Brief an den «Evangelischen Missi- rüstet, mit denen sie nach der Funk- in seinem Bericht ausführt, «vor al- onsverlag in Stuttgart, Kasernen- stelle Sigmaringen übermittelten. lem Zeitungsredaktoren, Emigranten, strasse 21» gerichtet. Dieser Verlag Kommunisten und Juden. Ferner wur- existierte in der Tat, diente aber als den die Gesandtschaften und Konsu- Was die Deutschen wissen wollen Deckadresse. Um die brisanten Bot- late der Kriegsgegner beobachtet.» schaften von der gewöhnlichen Post Im militärischen Bereich war die Auf wirtschaftlichem Gebiet war von zu unterscheiden, musste als beson- deutsche Spionage, namentlich deren Interesse, was in der Schweiz produ- deres Merkmal die Frankatur aus drei tüchtigster Zweig, die Abwehrstelle ziert wurde und für wen. Ausserdem versuchte Deutschland auszukund- schaften, in welche Betriebe jüdisches Kapital investiert wurde. Schliesslich wollten deutsche Agenten immer wie- Die Auftragsliste eines 3-4 Geschosse der Tankbüchse er- der feststellen, wer auf schweizeri- wünscht. Spions Genaue Beschreibung des Flammen- schen Banken Fluchtgelder deponiert werfers, Konstruktion, Wirkung, Schutz- hatte. Diese Finanzspionage ging in Am 6. Juni 1942 wurde der Spion Paul mittel dagegen. Bei neuen Waffen und Mu- verschiedenen Fällen sogar so weit, W. Wohler verhaftet und später zu 14½ nition immer Eigenschaft, Wirkung, Her- dass bespitzelt wurde, wieviel Geld Jahren Zuchthaus verurteilt. Sein Agen- stellungsfirma usw. melden; erwünscht ist eingereiste Deutsche in der Schweiz tenführer Strenkert alias Straub von der Beschaffung von 3-4 Geschossen der 20- Abwehrstelle (AST) der Wehrmacht (Ca- mm-Flugzeugkanone mit höchstempfindli- ausgaben. Man hoffte herauszufin- naris), der am 1. Februar 1943 in Abwe- chem Zünder. den, dass diese Beträge höher waren senheit zum Tode verurteilt wurde, hatte Panzerwagen: wieviel, Organisation, als die bei der Ausreise deklarierten ihm folgende Auftragsliste mitgegeben: Bestückung, Panzerung, Funkausrüstung, Devisen. «Truppen: Angabe der Nummer, Farbe Motor, Verbrauch an Brennstoff. der Aufschläge, Abzeichen – welcher Divi- Militärische Anlagen: geheime Pläne sion oder Brigade gehören sie an? –, Zeit über Réduit national, geheime Aufmarsch- und Ort der Feststellung, wo Kantonne- pläne, Operationspläne, Pläne von Gott- «Pakbo» – ein Fuchs und ment, wo Einsatzgebiet? Wo liegen Stäbe hard, Sargans, Samaden, Monte Ceneri, vom 1., 2., 3., 4. AK und von den Divisio- Maloja-, Ofen- und Simplonpass, St-Mau- viele Fallen nen und Gebirgsbrigaden? Wer ist Kom- rice, Le Locle. Erkundungen: Gebiet Urner Boden, mandeur? Welche Divisionen und Ge- «Ich hatte einen ganz einfachen Grund, birgsbrigaden gehören zu den einzelnen Klausenpass, Hilterfingen – Interlaken, Lu- im Nachrichtendienst zu arbeiten: Wenn AKs? Einteilung der Grenzbrigaden, wo zern – Bern (Entlebuch), mit Tälern gegen liegen Stäbe? Welche Bataillone gehören Süden. Immer genaue Lage, Art und Be- die Deutschen gekommen wären, hätten zu den einzelnen Brigaden, und wo liegen stückung, bei Sprengvorrichtungen wo sie mich am nächsten Baum auf ge- sie? Angaben über Beurlaubung bzw. Ein- Auslösen, wie Ladung angebracht, ebenso knüpft.» Otto Pünter ziehung von Einheiten, wann und wie bei Minenfeldern. Bei militärischen Sen- dern: Apparate, Lage, fest oder fahrbar. lange, wohin? (Nach dem neuen Erlass Der Journalist und spätere Amtsrich- des Generals.) Bewaffnung: Zuteilung von Wellenlänge, Rufzeichen, Sendezeit, IK, Minenwerfern, Panzerbüchsen und Geheimcode bzw. -schlüssel für militäri- ter Otto Pünter in Bern war der Chef Flammenwerfern, Maschinenpistolen pro schen Nachrichtenverkehr. Bei Depots wo, einer Nachrichtenorganisation, die Bat. bzw. Rgt. Technische Waffenregle- was und für wen?» seit dem Ende des Spanischen Bür- mente erwünscht. gerkriegs gegen die Deutschen sowie für den britischen Intelligence Service

78 und für General de Gaulle, später auch für die Sowjets arbeitete. Otto Pünter, Jahrgang 1900, hat keine Hemmungen, über diese delikate Tä- tigkeit zu sprechen, obwohl die di- rekte Unterstützung der Russen da- mals von vielen sozialdemokrati- schen Parteigenossen nicht verstan- den wurde. Pünter befand sich am Vorabend des Zweiten Weltkriegs auf dem linken Flügel der Schweizer Sozialdemokra- tie, war indes kein Kommunist. «Aber was wollen Sie?» fragt er mit der be- zwingenden Logik des Bedrängten. «Die Feinde meiner Feinde sind meine Freunde, und in der Not ver- bündet man sich auch mit dem Teu- fel.»

Pünter war einer von jenen, die die Nazis nicht riechen konnten, denn er stand nicht nur links, sondern war auch ein gutinformierter, kämpferi- scher und vielbeachteter Journalist. Seine Presseagentur «Insa», die er im Alleingang betrieb, bediente sämtli- che sozialdemokratischen Zeitungen der Schweiz und einige bedeutende linksbürgerliche Blätter dazu. Pünter hatte ausgezeichnete Beziehungen in der Bundesverwaltung und beim di- plomatischen Korps. Aus diesen Kreisen baute er nach dem Spani- schen Bürgerkrieg, der zu seinem Schlüsselerlebnis geworden war, sein erfolgreiches Netz auf. Pünters wichtigste Nachrichtenliefe- ranten waren «Long», ein langjähri- ger französischer Korrespondent in Berlin, «Agnes», ein einflussreicher Funktionär im Auswärtigen Amt, «Nègre», ein französischer Diplomat mit Querverbindungen zur deutschen

Otto Pünter alias «Pakbo» war einer der er- folgreichsten und fleissigsten Spione in der Schweiz. Auf einer selbstgebastelten Anlage (Mitte) stellte er Mikrofilme seiner für die Alli- ierten bestimmten Mitteilungen her. Schon als er zur Zeit des Spanischen Bürgerkriegs für die Republikaner in Italien spionierte, tarnte ihn ein Pass mit der Berufsbezeichnung «Kauf- mann» (unten).

79 Die Schliche der Agenten Die Meldungen trafen auf den ver- schiedensten Wegen ein. Klartexte wurden meist von gewerkschaftlich organisierten Eisenbahnern von Hand zu Hand weitergereicht oder in den Spülkästen der Toiletten internationa- ler Züge über die Grenze geschmug- gelt. In seinen Lebenserinnerungen («Der Anschluss fand nicht statt») er- klärt Otto Pünter, wie seine Gewährs- leute erfuhren, dass eine neue Sen- dung abzuholen war. Der Empfänger erhielt einen Anruf oder eine Post- karte mit dem Wortlaut: «Die Grossmutter hat sich nun doch entschlossen, ein paar Tage bei euch zu verbringen. Sie kommt mit dem Zug 8864 (das war die Wagennum- mer) am 3. Oktober um 15.46 Uhr an, holt sie bitte am Bahnhof ab.» Andere Nachrichten gelangten auf Blätter aus dem nach Deutschland gebracht. Mikrofilmen in die Schweiz, die in Untergrund Gegen Kriegsende liessen «Pakbos» Männer Klebezettel drucken und durch Wi- Rasierseifentuben, Sockenhaltern, Schon kurz nach Kriegsausbruch schal- derstandskämpfer in die Gebiete bringen, Absätzen und hohlen Spazierstöcken tete sich die Gruppe «Pakbo» auch in in denen sich deutsche Truppen auf dem versteckt wurden. Wieder andere wa- die psychologische Krieg-, führung ge- Rückzug befanden. Auf den Zetteln, die ren mit sympathetischer Tinte zwi- gen Hitler ein. Sie versandte in neutra- namentlich in Norditalien, Österreich und schen die Zeilen eines unverfängli- len Umschlägen vervielfältigte Briefe an Süddeutschland an Telefonstangen und beliebige, aus Adressbüchern heraus- Hauswände geklebt wurden, hiess es zum chen Briefes geschrieben. gesuchte Empfänger in Deutschland. Beispiel: Eine der wichtigsten Meldungen, Darin stand, Hitler werde das deutsche «Volkssturm – SOS der SS» «Deutsch- welche die Gruppe «Pakbos» auf ei- Volk in eine Katastrophe führen. land 1939 = Volk ohne Raum... Deutsch- nem vier Quadratmillimeter messen- In schweizerischen Druckereien wur- land 1945 = Raum ohne Volk» den Mikrofilm unter der Briefmarke den heimlicherweise ganze Pakete von «Du kämpfst für die Partei, nicht für auf einer Ansichtskarte vom Berner Postkarten mit hitlerfeindlichen Texten Deutschland» und Bildmotiven gedruckt; sie wurden «Hitlers Tod – Deutschlands Leben » Bärengraben über eine Deckadresse von Grenzkurieren, die sich meist aus in Lissabon nach London beförderte, der Arbeiterbewegung rekrutierten, war im Sommer 1942 der Bericht ei- nes sozialdemokratischen österreichi- schen Ingenieurs über den Bau von Hitlers Geheimwaffe, der V 1, in Schwerindustrie wie zur Résistance, Der Deckname Otto Pünters war Peenemünde. Sogar eine Lageskizze «Polo», Attaché bei der chinesischen «Pakbo», und diese geheimnisvolle der Raketenfabrik gelangte nach Lon- Gesandtschaft in Bern, «Salter», ein Buchstabenkombination hat im nach- don. Dort waren zwar schon früher weiterer französischer Diplomat, hinein zu den abenteuerlichsten Ver- ähnliche Nachrichten eingetroffen, «Lilly», ein katholischer Journalist, mutungen geführt. Allen Ernstes doch diente «Pakbos» Beitrag zur Be- «Luise», ein Offizier des schweizeri- wurde die Ansicht vertreten, es stätigung. Die Royal Air Force bom- schen Nachrichtendienstes, «Feld», handle sich dabei um die Abkürzung bardierte Peenemünde. ein österreichischer Staatsbeamter für Pünters wichtigste Quelle in der Eine erstklassige Quelle war ein Fun- und Angehöriger der Widerstandsbe- unmittelbaren Umgebung Hitlers: ker in der Leibstandarte Adolf Hit- wegung, und «Rocco», eine antifa- Parteikanzler Bormann. Die Wahr- lers, der vermutlich den ganzen Krieg schistische Widerstandsorganisation heit ist viel einfacher; «Pakbo» setzt mit Sitz in Mailand, die ihrerseits ein sich aus den Anfangsbuchstaben der Nachrichtennetz über ganz Italien ge- Ortschaften zusammen, bei denen die spannt hatte. Nachrichten in die Schweiz gelangen: Pontresina, Arth-Goldau, Kreuzlin- gen, Bern und Orselina.

80 über nicht einmal wusste, dass er für mann «Feld» weiter, der sie jeweils «Pakbo» legt drauf den gegnerischen Nachrichtendienst zusammen mit vielen militärischen arbeitete. Mit seinen in Vorarlberg le- Informationen aus Österreich in einer Otto Pünter und seine Presseagentur benden Eltern hatte er vereinbart, je- Blechdose beim Pfeiler einer Stark- steckten häufig in Geldnöten. Über- den Samstagabend auf einer be- stromleitung zwischen Au (SG) und brückt wurden sie hauptsächlich mit stimmten Kurzwelle zu berichten, Dornbirn eingrub. Ausgegraben Darlehen von Firmen und Geschäfts- wie es ihm gehe. Zwangsläufig ent- wurde die Dose von einem Zwischen- leuten, die freilich nicht nur in selbst- hielten seine Mitteilungen wertvolle träger, der dann und wann ein halbes loser Absicht handelten; ohne genau militärische Nachrichten. Diese gab Pfund Kaffee hinterlegte. Im Übrigen über die Art von «Pakbos» Tätigkeit der gewerkschaftlich orientierte Va- verrichtete «Feld» seine lebensge- Bescheid zu wissen, zahlten Einzelne ter sogleich an Pünters Verbindungs- fährliche Arbeit ehrenamtlich. dieser Schweizer, um im immer wahr- scheinlicher werdenden Fall eines al- liierten Sieges günstige Ausgangspo- sitionen für Nachkriegsgeschäfte zu haben und um von der berüchtigten schwarzen Liste gestrichen zu wer- den, auf die die Amerikaner zahlrei- che Schweizer Firmen gesetzt hatten, die in geschäftlichen Verbindungen zu Hitler-Deutschland standen. Einer der Hauptgeldgeber drohte Otto Pünter nach dem Krieg mit einer Be- trugsklage, weil es mit der Absetzung von der schwarzen Liste nicht ge- klappt hatte und sich «Pakbo» trotz seiner erwiesenen Verdienste um die alliierte Sache bei den Amerikanern nicht durchzusetzen vermochte. «Was wollte ich tun?» fragt Otto Pünter. «Ich hatte für die Beträge quittiert und sie für die Vergütung von Spesen mei- ner Mitarbeiter ausgegeben; andere Entschädigungen gab es bei uns ja nicht. Meine Mitarbeiter waren ehrli- che Leute, aber im Nachrichtendienst sind nun einmal schriftliche Rechnun- gen und Quittungen nicht üblich. Wenn ich dem Richter das erzählt hätte, was glauben Sie, hätte der ge- antwortet? ‚Damit könnte ja jeder kommen!‘ hätte er gesagt...» Otto Pünter und seine Freunde griffen in die eigenen Taschen und zahlten die 65‘000 Franken zurück.

Der aus Ungarn stammende Geograph Alexan- der (Sandor) Rado war der Chef der illegalen sowjetischen Spionageorganisation «Die Roten Drei» in Genf Nachdem sie aufgeflogen war, wurde Rado nach seiner Rückkehr in die So- wjetunion verhaftet und streng bestraft.

81 In Rados Netz diese Bedenken mit dem Hinweis auf se italienischer Hilfssendungen für Wann die Zusammenarbeit «Pakbos» die freiheitliche Gesellschaftsord- die Truppen des aufständischen Gene- mit dem illegalen Residenten des so- nung in der Schweiz und auf seine be- rals Franco erkundet. wjetischen Geheimdienstes GRU in ruflichen Pflichten zurück. Wie aus Sandor Rado erwähnt eine Beurtei- Genf, Sandor Rado, begonnen hat, Rados Erinnerungen hervorgeht, lung Pünters durch den sowjetischen wird widersprüchlich dargestellt. fürchteten die Russen, «Pakbos» Agentenführer Kolja: Pünter sagt, es sei Ende Juni 1940, Post- und Telefonverkehr werde von «Sie können sicher sein, dass Pünter kurz nach dem deutsch-französischen der schweizerischen Bundespolizei ein guter Mitarbeiter ist. Er findet Waffenstillstand gewesen, als sich überwacht, und auch Spitzel der Ge- rasch Kontakt zu anderen und gewinnt Hitlers Expansionsgelüste wieder ost- stapo wie der japanischen Botschaft ihr Vertrauen. Er ist ein intelligenter, wärts zu wenden begannen. Rado da- behielten ihn im Auge. gebildeter Mann und spricht mehrere gegen behauptet, sein erstes Zusam- Beides war nicht einmal so falsch: Sprachen fliessend. (...) Aber verges- mentreffen mit Pünter datiere schon Otto Pünter ist überzeugt davon, dass sen Sie nicht, dass Pünter ab und zu vom Jahr 1938. In seinen Memoiren die schweizerische Abwehr von sei- eine Abkühlung braucht. Er ist ein vermerkt er: «Ich hielt es für richtiger, ner Tätigkeit gegen Deutschland wus- Mann, der gerne etwas riskiert; ich dass wir uns nicht in Genf begegne- ste, ihn aber gewähren liess, solange muss zugeben, häufig mit Erfolg, aber ten. Es schien mir besser, Pakbo vor- er kein Aufsehen erregte. Dass die weil er zuviel auf einmal will, verzet- läufig nicht wissen zu lassen, wo ich Gestapo ihn überwachte, war ihm be- telt er sich. Man muss ihm aus der wohnte. In Bern wiederum war er kannt: «Gelegentlich sah ich, wie mir Luft gegriffene, irreale Pläne ausre- sehr bekannt und wurde beobachtet. Gestalten von meinem Büro im Läng- den.» Es war also weniger gefährlich, wenn gassquartier folgten, wenn ich abends Rado selbst hingegen hielt Pünter wir uns irgendwo auf halbem Wege meine Post zum Bahnhof brachte. Im nicht für eine erstrangige Nachrich- zwischen Genf und Bern trafen, bei- Bahnhofbuffet traf ich einmal einen tenquelle, was dieser nicht bestreitet: spielsweise auf der Bahnstation Betrunkenen, der mir als italienischer «Sandor Rado nahm es mit den ihm Chexbres.» Spitzel bekannt war und der mir in zugehenden Nachrichten sehr genau. Die Russen hatten offensichtlich seinem Zustand offen riet, wieder ein- Auf Halbheiten, ungenaue Hinweise, Mühe, den ungenierten Umgang des mal nach Italien zu fahren; dann mangelnde Quellenangaben usw. re- kontaktfreudigen Journalisten Pünter würde er sich nämlich eine Prämie agierte er sehr sauer und skeptisch. mit Bekannten und Informanten aller von 40 000 Lire verdienen, die dort Mit Recht, da jede unzulängliche nach politischen Schattierungen zu verste- auf meinen Kopf ausgesetzt war – of- Moskau übermittelte Nachricht auto- hen. Wiederholt mahnten sie ihn, in fenbar in Erinnerung an Erkundungs- matisch eine Rückfrage nach Präzisie- der Wahl seiner Kontaktpersonen reisen, die ich noch für die republika- rung zur Folge hatte, weil man auch vorsichtiger zu sein. Aber Pünter wies nischen Spanier unternommen hatte.» dort skeptisch war und oft Mühe hatte, Pünter hatte zum Beispiel 1937 im an die Richtigkeit bestimmter Infor- Postkarten, die «Pakbo» nach Deutschland Hafen von Genua Umfang und Grös- mationen zu glauben, besonders, schmuggelte. Hier wird Göring (links) ver- wenn sie militärisch und politisch sen- höhnt. sationell waren.» Vom Frühjahr 1942 an entlastete «Pakbo» die bis an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit beanspruchten Mitarbeiter Rados beim Chiffrieren und Dechiffrieren der nach und von Moskau gefunkten Telegramme. Un- ter den von Pünter chiffrierten Mel- dungen befanden sich auch die Nach- richten, die Rudolf Roessler, gestützt auf erstklassige deutsche Quellen, aus Luzern lieferte. Als Kurier zwischen Genf und Bern wurde die hübsche Margrit Bolli eingesetzt.

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Der unglaubliche Dort betätigte er sich aktiv am kultu- getragene Organisation der Theater- rellen Leben der Stadt, indem er die besucher, die eigene Theatergruppen Rudolf Roessler «Augsburger literarische Gesell- und einen eigenen Bühnenverlag be- schaft» gründete und eine eigene sass. Rudolf Roessler, genannt «Lucie», Zeitschrift («Form und Sinn») heraus- hat nie mit geheimer Tinte geschrie- gab. Daneben war er Journalist und ben und weder mit Drogen noch mit Redaktor. Roessler wird zum Nazi-Gegner Schusswaffen gearbeitet. Er trug kei- Major Hans Hausamann hat einmal ne falschen Bärte, erpresste keine Ge- erklärt, dass Roessler zeitweise auch Zusammen mit Dr. Thias Brünker lei- neräle und knackte keine Tresore. freier Mitarbeiter der damals in der tete Rudolf Roessler den Volksbund, Trotzdem war der Mann mit den hin- ganzen Welt hochangesehenen der in seinen besten Zeiten ein Gross- ter dicken Brillengläsern verborgenen «Frankfurter Zeitung» war, für wel- unternehmen mit einem Jahresumsatz dunklen Eulenaugen im hohlwangi- che viele der bedeutendsten Schrift- von 12 Millionen Mark war. Aber zu gen Gesicht eine der erfolgreichsten steller und Publizisten arbeiteten. Beginn der dreissiger Jahre wurde der Gestalten nicht nur der schweizeri- Hausamann berichtet weiter, Thomas Druck durch die Nazis immer stärker. schen, sondern der weltweiten Ge- Mann habe Roessler eine Stelle als Der von ihrem Rassenideologen Alf- heimdienstszene während des Zwei- Hauslehrer angeboten, was Roessler red Rosenberg gegründete «Kampf- ten Weltkriegs. Die Nachrichten, die aber, jung verheiratet, aus persönli- bund für deutsche Kultur» führte eine durch seine Hände gingen, waren chen Gründen habe ablehnen müssen. Kampagne gegen den Bühnenvolks- Millionen wert, aber Roessler starb in Bis 1928 bekleidete Roessler eine bund, dessen weltanschaulichen bitterer Armut; am Ende seines freud- Stelle als Redaktor bei einer Augsbur- Standort Rudolf Roessler längst zu losen Lebens besass der schweigsame ger Tageszeitung. Dann wurde er als seinem eigenen gemacht hatte: einem Emigrant nicht einmal eine eigene Leiter des Bühnenvolksbundes nach christlichen Konservatismus, der Wohnung. Mit seiner Frau hauste er Berlin gerufen. Dieser war eine über stark im nationalen, aber nicht natio- in einem kleinen Hotel in Kriens, ganz Deutschland verbreitete, von nalistischen Gedankengut verwurzelt Freunde unterstützten ihn. Oft lebte den beiden christlichen Konfessionen war. Dies ist wichtig zu wissen, denn Roessler tagelang nur von Kaffee und später hiess es immer wieder, Rudolf Zigaretten. Als er am 12. Dezember Rudolf Roesslers frisches Grab auf dem Fried- Roessler sei ein Kommunist oder So- hof von Kriens war mit auffallend vielen Krän- 1958 an Lungenkrebs starb, musste zen ohne Schleifen geschmückt; sie stammten zialist gewesen. Möglicherweise die Gemeinde für das Begräbnis auf- von ausländischen Nachrichtendiensten. stand er der Linken nahe, aber wenn kommen. überhaupt, dann nur aus Opposition Nur ein paar alte Freunde erschienen. zu Hitler. Der Nebel hing tief vom Pilatus her- unter, der Pfarrer beeilte sich mit sei- nen Gebeten. So endete ein Mann, dessen Nachrichten für die Schweizer und für die Russen von unschätzba- rem Wert gewesen waren und der das Geheimnis um seine Quellen mit ins Grab genommen hatte! Das Leben Roesslers ist eine deutsche Tragödie. Geboren wurde er am 22. November 1897 in Kaufbeuren als Sohn eines bayerischen Regierungs- direktors, der im Forstwesen tätig war. Roesslers Erziehung war fest im evangelischen Christentum verwur- zelt. Nach dem Abitur, mit 18 Jahren, meldete er sich als Freiwilliger zum Kriegsdienst, aus dem er als Kompa- niechef nach Augsburg zurückkehrte.

85 Brünker und Roessler verstanden es erbittlichen Kampf gegen das Dritte durch die Nationalsozialisten gewe- vorerst, den energischen Gleichschal- Reich ausgewirkt.» sen. Jedenfalls kam Roessler 1934 tungsversuchen der Nazis zu wider- Auch das Zeugnis von Hans Haus- nach Luzern und gründete mit Hilfe streben. Zwar wurde der Kampfbund amann in einem unveröffentlichten von Freunden den Verlag «Vita von keinem Geringeren als Hermann Brief deutet nicht auf eine linke Hal- Nova» (neues Leben). Obwohl dieses Göring zurückgepfiffen, aber ein- tung des nachmaligen meisterlichen in einem unauffälligen Mietshaus an zelne Orts- und Landesverbände des Nachrichtenmaklers hin. Hausamann, der Vonmattstrasse geführte Unter- Bühnenvolksbundes wanderten unter der Roessler persönlich gut kannte nehmen finanziell nie ein Bein auf die dem Eindruck der Attacken zu der na- und seine Nachrichtentätigkeit zu- Erde bekam, überstand es die Fähr- tionalsozialistischen Konkurrenzor- gunsten der Russen deckte, weil auch nisse der Zeit bis zur zweiten Verhaf- ganisation ab. Im Mai 1933 warf Hans der Schweizer Nachrichtendienst da- tung Roesslers im Jahre 1953. Der Hinkel, Staatskommissar im Preussi- von profitierte, schreibt: «Um Politik Verlag gab humanistisches, christli- schen Ministerium für Wissenschaft, im engern oder gar im parteipoliti- ches und demokratisches Schriftgut Kunst und Volksbildung, den Ge- schen Sinne hatte sich Roessler bis heraus, das im neuen Deutschland schäftsleitern des unbequemen Büh- anhin nie gekümmert. Aber im Laufe nicht mehr erscheinen durfte: politi- nenvolksbundes Misswirtschaft und des Jahres 1931 erkannte er mehr und sche Schriften von Gonzague de Korruption vor. Prompt folgte eine mehr, dass Vertreter des geistigen Reynold, Stanley Baldwin, später Strafanzeige des konkurrierenden Deutschlands der politischen Krisen- auch von Franklin D. Roosevelt und Reichsverbandes «Deutsche Bühne». entwicklung nicht weiterhin untätig Tschiang Kai-schek, die Essays des Der Bühnenvolksbund wurde in den zusehen dürften. Er begann in ausge- vom Marxismus zum Christentum ge- Konkurs getrieben, und seine beiden wählten Zirkeln eine rege Vortragstä- langten russischen Geschichts- und unerschrockenen Geschäftsleiter tigkeit zu entfalten, um auf die von Religionsphilosophen Nikolai Berd- mussten täglich mit der Verhaftung ihm erkannten politischen Gefahren jajew, Dichtungen von Paul Claudel rechnen. aufmerksam zu machen. Roessler in deutscher Sprache und viele andere Der auf deutsch-schweizerische Be- hoffte, dass die mehr konservativen Publikationen, die geistesgeschicht- ziehungen spezialisierte Historiker Kreise, die ihm von Haus aus nahe- lich politisch gerade damals von gro- Klaus Urner, der diese Hintergründe standen und in welche er durch seinen sser Bedeutung waren, geschäftlich als erster erforscht hat, erblickt in die- Bekannten Edgar Jung Eingang ge- aber kaum erfolgreich sein konnten. sen nationalsozialistischen Intrigen funden hatte, sich zu politischen Ak- Es lag in der Natur von Rudolf Roess- die Triebfeder für Roesslers späteres tionen aufraffen würden, um wirk- lers Tätigkeit – früher in Berlin und Handeln: same Massnahmen gegen den Natio- nun in Luzern –, dass er mit zahlrei- «Die perfide Art und Weise, mit der nalsozialismus einzuleiten. In Verfol- chen bedeutenden Persönlichkeiten die Nationalsozialisten ihn aus der gung dieser seiner Ziele kam Roessler aus allen erdenklichen Gebieten, na- Leitung des Bühnenvolksbundes zu auch in engen Kontakt mit Reichs- mentlich mit Politikern und Schrift- verdrängen suchten, wird den unpoli- wehroffizieren. Die Unfähigkeit des stellern, laufend in Kontakt stand. tischen Roessler zum erbitterten Geg- Präsidenten des Herrenclubs, Franz Seine Beziehungen waren weitrei- ner der NSDAP und des Dritten Rei- von Papens, dessen Sekretär übrigens chend und ausgezeichnet. Roessler ches gemacht haben. (...) Edgar Jung war, vereitelte alle Bemü- kannte Hunderte von bedeutenden Die letzten Monate, die Roessler beim hungen dieser konservativen Kreise, und gutinformierten Menschen, mit Bühnenvolksbund in Berlin ver- die sich in der Organisation ‚Stahl- denen er korrespondierte. So ist zum brachte, stellen den entscheidenden helm‘ ein potentielles, der Reichs- Beispiel bekannt, dass er Hunderte Wendepunkt in seinem Leben dar. wehr nahestehendes Machtinstrument von Briefen an bedeutende Christen Dieser Zeitabschnitt ist für die Suche geschaffen hatten.» auf der ganzen Erde schrieb, als das nach den Motiven, die Roesslers spä- Dritte Reich mit der Judenverfolgung tere Spionagetätigkeit erklären, von begann. Er rief zu Solidarität und Emigration und Neubeginn nicht geringer Bedeutung. Die Erfah- Hilfe auf. Roessler schrieb und rungen mit dem wahren Charakter des Es heisst, der unmittelbare Anlass für schrieb – und er bekam Antworten. In Nationalsozialismus haben sich zwei- Roesslers Emigration sei die Plünde- den Antworten standen Überlegun- fellos mitbestimmend auf seinen un- rung seiner Redaktionsstube – er ar- gen, Informationen, Prognosen, die beitete an Theaterzeitschriften mit – 86

mit dem Rechtsanwalt Dr. Bernhard Mayr von Baldegg, der als Haupt- mann im Schweizer Nachrichten- dienst bekannt wurde. Schnieper, der um Roesslers ausgezeichnete Verbin- dungen wusste, forderte seinen Freund im Sommer 1939 auf, für den Schweizer Nachrichtendienst zu ar- beiten. Roessler war einverstanden, zumal ihn das nationalsozialistische Regime zwei Jahre zuvor ausgebür- gert hatte. Seine umfassenden und ausserordentlich zuverlässigen Be- richte übergab Roessler durch einen «lebenden Briefkasten», d.h. einen Zwischenträger, dem Nachrichtenma- jor Hans Hausamann, von dem aus sie an den Schweizer Nachrichtendienst weitergeleitet wurden. Über die Qualität dieser Meldungen urteilt Otto Pünter («Pakbo»), der spä- ter ungezählte Roessler-Berichte für die Weiterleitung nach Moskau chif- frierte: «In jahrelanger Arbeit hatte er sich über das deutsche Heer, die Wehrwirtschaft, das Transportwesen usw. eine sorgfältige Kartothek aufge- baut, die ihresgleichen suchte und Zehntausende von Ausschnitten um- fasste. Er brauchte nur nachzuschla- gen, um jede ihm zugehende Informa- tion mit zuverlässigen Detailangaben Mit diesem Inserat in der ‚Neuen Zürcher Zei- in die Rolle des Nachrichtensammlers weiterleiten zu können.» tung‘ fanden Rudolf Roessler und Dr. Christian und -analytikers hinein. Dass seine Be- Schneider zueinander. Dr. Schneider wurde kurz ziehungen noch vom Ersten Welt- darauf zum Kurier zwischen Roessler und San- Kleine Zettel – grosse Geheimnisse dor Rados «Roten Drei» in Genf. krieg, von Augsburg und von Berlin her auch in höchste Kreise der Wehr- Nach allem, was man heute weiss, macht hineinreichten, sei nur am kann als sicher gelten, dass Rudolf im Quervergleich zu ungewöhnlich in- Rande erwähnt. Roessler nicht vor September 1942 teressanten Schlüssen führen mussten, für die Sowjets zu arbeiten begann – besonders dann, wenn ein derart wenigstens nicht mit Wissen; denn scharfsinniger und analytisch begabter auch die Art, wie der bienenfleissige und zurückgezogene Luzerner Verle- Geist wie Rudolf Roessler sie auswer- Roessler wird Agent tete. ger mit dem von Sandor Rado und Zwei Dinge heben ja alle, die Roessler Zwei Männer bewirkten, dass Rudolf Alexander Allan Foote in Genf und persönlich gekannt haben, hervor: sein Roessler für den Nachrichtendienst zu Lausanne organisierten Netz («Die phänomenales Gedächtnis und seine arbeiten begann, vorerst für den sich Roten Drei») in Kontakt gekommen ungewöhnliche, mit grossem Fleiss ge- formierenden schweizerischen, dann ist, stellt sich heute im Lichte qualifi- paarte Intelligenz. auch für den sowjetischen: Dr. Xaver zierter Zeugnisse weit weniger aben- Durch seinen engen persönlichen Kon- Schnieper und Dr. Christian Schnei- teuerlich dar, als man vermuten könn- takt mit den verschiedensten und un- der. te. terschiedlichsten Persönlichkeiten des Schnieper hatte Roessler schon 1933 europäischen Geisteslebens und der in Berlin kennengelernt. Jetzt war er europäischen, namentlich der deut- Kantonsbibliothekar in Luzern. In Lu- schen Politik wuchs Roessler langsam zern kam Roessler auch in Verbindung

87 Im Frühsommer 1939 liess Rudolf de die Anstellung perfekt. Schneider kannten sich vom Internationalen Ar- Roessler in der ‚Neuen Zürcher Zei- sollte in Genf bleiben und als Lektor, beitsamt her, wo sie als Aushilfsse- tung‘ ein Inserat erscheinen, in dem er Korrespondent und Propagandist des kretärin beschäftigt wurde. Die Frau einen Mitarbeiter mit guter Allge- Verlages «Vita Nova» tätig sein; war ursprünglich Polin, hatte einen meinbildung für seinen angesehenen ausserdem übernahm er das Ausliefe- Schweizer geheiratet und sich von Verlag suchte. Es meldete sich aus rungslager für die Westschweiz. ihm getrennt. In Genf lebte sie mit Genf der 1896 geborene Politikwis- Wahrscheinlich wollte Roessler damit dem illegal in der Schweiz weilenden senschafter Dr. Christian Schneider, das Überleben des Verlages sichern, sächsischen Kommunisten Paul ein Deutscher. Schneider hatte nach falls die deutsche Schweiz von den Boettcher zusammen, der 1923 säch- einer harten Jugend als Vollwaise, Nazis besetzt würde. sischer Finanzminister gewesen war. dem Notabitur und der Kriegsteil- Rudolf Roessler und Christian Um ihn zu tarnen, gab Rahel Düben- nahme 1921 in Würzburg zum Dr. rer. Schneider wurden Freunde. Es heisst, dorfer Boettcher als ihren Mann aus. pol. promoviert und in der Zeit der Schneider habe dem ständig mit Geld- Rahel Dübendorfer (Deckname «Sis- grossen Inflation, die ihn seines Erbes schwierigkeiten kämpfenden Roessler sy») war seit Jahren als Komintern- beraubt hatte, abwechselnd bei Ban- ein Darlehen von 20‘000 Franken ge- Agentin (Komintern: Kommunisti- ken und bei Zeitungen gearbeitet. währt. Jedenfalls wurden die Briefe sche Internationale 1919-1943) tätig 1926 war er aus 230 Bewerbern vom persönlicher; die Mitteilungen gingen und arbeitete seit 1940 für Rados Internationalen Arbeitsamt in Genf über die Verlagsgeschäfte hinaus. Die Netz, ihr Freund desgleichen unter als Übersetzer gewählt worden. Kurz beiden Männer tauschten Informatio- dem Decknamen «Paul». vor der Übersiedlung nach Genf hatte nen und Gedanken über die Weltlage Man trifft sich also zufällig wieder. er geheiratet. Schon nach acht Jahren aus, die von beiden gleich pessimi- Schneiders werden bei Dübendorf ers hatte das Ehepaar Schneider das stisch beurteilt wurde. In dem Inter- zum Nachtessen eingeladen und re- Schweizer Bürgerrecht erwerben kön- view erinnerte sich Frau Schneider: vanchieren sich ein paar Tage später. nen. «Und dann, eines Tages – ich erinnere Beim angeregten Tischgespräch, das Dr. Schneider starb 1962, und vier mich noch ganz genau, wir waren sich natürlich mit der Weltlage be- Jahre später gab seine Witwe dem beim Kaffee, am Morgen – reichte mir schäftigt, zeigt Boettcher alias Dü- Zürcher Journalisten Ludwig A. Mi- mein Mann einen kleinen Zettel, den bendorfer seinem Gastgeber eine Zei- nelli das einzige Interview ihres Le- ihm Roessler mit dem Brief gesandt tungsausschnittsammlung. bens, das viele bisher unbekannte hatte, auf welchem eine Nachricht Schneider seinerseits klaubt eins der Einzelheiten klärte. 1939 musste der über das Kriegsgeschehen stand. Das Papierchen hervor, die er von Roess- hochqualifizierte und geschätzte wiederholte sich dann fast in jedem ler erhalten hat. Übersetzer Dr. Christian Schneider Brief, und ich fragte damals meinen «Schauen Sie mal, einer meiner Be- eine neue Stelle suchen, weil das In- Mann: ‚Wie kann der Roessler so et- kannten schickt mir häufig Betrach- ternationale Arbeitsamt seine Beleg- was wissen?‘ Daraufhin gab mir mein tungen über die militärische Lage. Ich schaft radikal abbaute; angesichts des Mann zur Antwort, Roessler habe ihm bin beeindruckt davon, wahrschein- nationalsozialistischen Vormarsches anvertraut, er habe aus Deutschland lich kommen sie direkt aus dem Ober- in Europa hatten die Amerikaner ihre sehr gute Informationen. Die Zettel kommando der Wehrmacht. Glauben Beitragszahlungen eingestellt. Nach mehrten sich, und bald einmal warte- Sie, dass die etwas wert sind?» der Erinnerung von Elisabeth Schnei- ten wir immer mit Ungeduld auf diese Party-Geplauder? Ein Scherz? Boett- der trafen sich ihr Mann und Roessler Nachrichten Roesslers. Es waren da- cher spitzt die Ohren. Aber er bleibt erstmals am 17. Juni 1939 in Luzern. mals noch keine sehr langen Berichte, vorsichtig: «Lassen Sie mich sehen... Beide Männer müssen sofort gemerkt aber Sie können sich ja denken, dass Ich werde es Ihnen bald sagen kön- haben, dass sie gut zueinander pas- das für uns hochinteressant war, da in nen. Wenn Sie noch mehr davon be- sten: Der gläubige Protestant Roessler den Zeitungen davon nichts zu lesen kommen, geben Sie sie mir. Mal se- und der gläubige Katholik Schneider war.» hen, was das wert ist...» waren beide entschiedene Antinatio- Und wie halt der Zufall so spielt: Ei- Boettcher unterbreitet Roesslers Zet- nalsozialisten mit sehr ähnlichem be- nes Tages begegnete das Ehepaar telchen seinem Chef Rado. Auch er ruflichem, geistigem und politischem Schneider dem Ehepaar Dübendorfer, merkt sofort, dass es sich um Infor- Hintergrund und ähnlichen Interes- das sich aber nur als Ehepaar ausgab. mationen von grösstem Wert handelt. sen; ausserdem war Schneider nur ein Dr. Schneider und Rahel Dübendorfer Weder Boettcher noch Rahel Düben- Jahr älter als Roessler. Im Herbst wur-

88 dorfer wollen vorerst sagen, woher sie sie haben. Die Verbindung zwischen den beiden Paaren geht vorerst in lo- ckerer Form weiter.

Aus Roessler wird «Lucie» Im September 1942 tobte die Schlacht um Stalingrad. Dr. Schneider hatte längst einen Decknamen in Rados Netz, das sich auch in diesem Detail als konspirativ nicht besonders sorg- fältig zeigte: Der Freund und Mitar- beiter Roesslers wurde einfach auf die englische Übersetzung seines Fami- liennamens getauft: «Taylor». Jetzt, da die Sowjetunion direkt bedroht war, wurde seine geheimnisvolle Quelle voll ausgeschöpft. Sandor Rado erinnert sich: «Als die Schlacht vor den Mauern Stalingrads begann, erwies sich Taylor überra- schend informiert über die deutschen Aktionen. Seine Mitteilungen, die Sissy an mich weiterleitete, waren dermassen konkret und detailliert, dass wir uns schon überlegten, ob uns nicht jemand falsche Angaben durch Taylor zuschmuggelte. Merkwürdig erschien uns die Sache auch darum, weil dieser Mann, der früher nur schlichter Übersetzer im Internationa- len Arbeitsamt gewesen war, keine Möglichkeiten zur Beschaffung von Informationen militärischen Charak- ters besass...» Der «Direktor» in Moskau, General- oberst Iwan Terentjewitsch Peresy- pkin von der GRU-Zentrale (4. Abtei- lung des Generalstabs der Roten Ar- mee), war an Taylors Mitteilungen ungewöhnlich interessiert. Schon ei- nen Monat nach der ersten Begeg- nung zwischen Schneider und dem grossen Unbekannten (Roessler) wur-

Verblüffend genau waren Roesslers Angaben über den Verlauf des Russland-Feldzugs und das wahre Ausmass der deutschen Verluste. Unser Bild: Stuka-Angriff auf eine Industrie- siedlung an der Wolga in Stalingrad.

89 de ein offensichtlicher Testauftrag der Boettcher Farbe bekennen. Anspielung auf seinen Wohnort gab Moskauer Zentrale erfüllt. Taylor Dr. Schneider hatte anscheinend nicht ihm Rado den Decknamen «Lucie». konnte die Kennziffern fast aller deut- viel Mühe, Roessler davon zu über- Rado betont, er habe «Lucies» richti- schen Verbände nennen, die ab 1. Mai zeugen, dass es in der aktuellen welt- gen Namen erst beim ersten Roessler- 1942 am südlichen Abschnitt der Ost- politischen Situation richtig sei, die Prozess 1944 erfahren. Die Verbin- front, besonders zwischen Don und russischen Alliierten zu beliefern. dungen besorgten Dr. Schneider, als Donez sowie auf der Krim-Halbinsel, Auch er selbst hatte es ja ohne Weite- Kurier ständig zwischen Genf und an den Kämpfen teilnahmen, und die res eingesehen, obwohl er keinerlei Luzern unterwegs, und «Sissy», die aktuelle Zahl der in sowjetischer Ge- Sympathien zum Kommunismus eifersüchtig darauf achtete, dass Rado fangenschaft befindlichen deutschen hegte. Roessler war zudem offenbar nicht einmal mit Schneider direkt ver- Soldaten mit 151‘000 angeben. darüber erbost, dass der britische Ge- kehrte. Die ungewöhnliche Präzision der In- heimdienst, der angeblich schon frü- formationen und die Schnelligkeit, her seine Mitarbeit abgelehnt hatte, Information ist keine mit der sie beschafft wurden, qualifi- nun auch die Roessler-Nachrichten, Einbahnstrasse zierten Taylors geheimnisvolle Quel- die ihm vom Schweizer Nachrichten- le als erstklassig informiert und – was dienst zugespielt wurden, unbeachtet Roessler arbeitete, genau genommen, für jeden Geheimdienst besonders liess. Dass der Schweizer Nachrich- für drei Stellen: für Hausamanns wichtig ist – als befehlsfähig. Das tendienst mit den Engländern – so gut «Büro Ha», für die Russen und direkt heisst: Die Quelle lieferte nicht nur wie mit den Amerikanern – verkehrte, für den Schweizer Nachrichtendienst von sich aus, sondern konnte Rückfra- war – Neutralität hin oder her – ja lo- NS 1 über Hauptmann Mayr von gen weiterleiten und Aufträge zur Er- gisch: Solange sich Deutschland in Baldegg. Von allen dreien wurde er kundung bestimmter Sachgebiete aus- den unendlichen russischen Weiten für seine Tätigkeit bezahlt, was kein führen. festbiss, gab es weniger direkten mi- direkter Widerspruch zu Rados voran- Diesem Vorzug zuliebe rückte der litärischen Druck auf die Schweiz! gegangener Aussage zu sein braucht, «Direktor» in Moskau, der im Allge- Dazu Sandor Rado: «Taylor erzählte, denn die Beträge, so ansehnlich sie für meinen als ausserordentlich misstrau- dass sein Freund völlig ausser sich die damalige Zeit waren, dienten vor isch galt, schliesslich sogar von einem gewesen sei, als er erfuhr, dass die allem zur Deckung der erheblichen elementaren nachrichtendienstlichen ausserordentlich wertvollen Informa- Spesen. Prinzip ab! Er und sein Genfer «Fili- tionen von der östlichen (sowjeti- Der Schweizer Militärhistoriker Dr. alleiter» Rado verzichteten darauf, die schen) Front, die er (durch den Hans Rudolf Kurz, der infolge eines Identität des Meldekopfs (Roessler) Schweizer Nachrichtendienst) an die amtlichen Auftrags als einziger Autor und die Quellen, auf die er sich Engländer gab, dort nicht verwendet, uneingeschränkten Einblick in die stützte, herausfinden zu wollen. sondern in den Papierkorb geworfen noch vorhandenen offiziellen Akten Schneider hatte Roessler sein Ehren- wurden. Gewiss wirkten auch die Er- des Nachrichtendienstes hatte, bezif- wort gegeben, über die Herkunft sei- folge der Roten Armee vor Stalingrad fert die Bezüge Roesslers wie folgt: ner Meldungen nichts zu verraten. positiv auf ihn ein, sie spornten ihn - von Hausamann über Dr. Wallner In der ersten Zeit, als Schneider und zur Zusammenarbeit mit uns an. Tay- (den «lebenden Briefkasten») vorerst Dübendorf er/Boettcher zusammen- lor teilte Sissy mit, dass er und sein 200 bis 1000, später 2000 Franken im trafen und Nachrichten austauschten, Freund bereit seien, ohne Gegenlei- Monat; wusste anscheinend weder Dr. stung, also ohne Bezahlung, nur ge- - von den Russen über Schneider im Schneider noch sein Freund und Chef gen Erstattung der Unkosten, der So- Jahre 1942 vorerst 700, später 3000 Roessler in Luzern, dass die Informa- wjetunion zu helfen, weil sie erkann- Franken monatlich; tionen auf Roesslers winzigen Zettel- ten, dass dieses Land der unerbittlich- - von der NS 1 über Mayr von chen spornstreichs in den riesigen ste Feind Hitlers war und von seinem Baldegg 250 bis 400 Franken. Nachrichtentrichter der Sowjets lie- Kampf der Ausgang des Krieges ab- Die langjährigen und engen Verbin- fen; aber als die Moskauer Zentrale so hing.» dungen mit gleich zwei Hauptperso- unüblich begierig darauf drängte, die So wurde Rudolf Roessler ab Novem- nen des schweizerischen Nachrich- geheimnisvolle Quelle voll auszu- ber 1942 zu einem der besten, sicher tendienstes haben etwa die Vermu- schöpfen, mussten Dübendorfer / aber zum anonymsten Mitarbeiter des tung aufkommen lassen, Roessler sowjetischen Nachrichtendienstes. In habe auch Nachrichten, die er aus schweizerischen Quellen geschöpft habe, den Russen übermittelt, ja er habe uneingeschränkten Zugang zu

90 sämtlichen Geheimnissen gehabt und schweizerische Nachrichten überlas- tausch von Beurteilungen, Meinungs- dies auch weidlich ausgenützt. sen zu haben. Wahrscheinlicher, weil äusserungen und wohl auch einzelnen In Wirklichkeit war es doch wohl eher lebensnaher, ist die Version, die Hans Dokumenten ab, der im Rahmen des so, dass Hausamann seinem Infor- Rudolf Kurz aus den Akten rekon- alten nachrichtendienstlichen Prinzips manten Roessler nicht 2‘000 Franken struiert hat: «Besonders in der Zeit, in des ‚do ut des’ erfolgte, wonach der- im Monat bezahlt hätte, wenn er des- welcher Major Waibel mit der Truppe jenige, der etwas erhalten will, auch sen Dienste auch mit Gegendiensten, im Aktivdienst stand und Mayr von selber geben muss – dass aber wer d.h. anderen Nachrichten, hätte ent- Baldegg die NS 1 stellvertretungs- nichts gibt, auch nichts bekommt. gelten wollen (oder können). Dazu weise zu leiten hatte – im Winter Von einem eigentlichen, auf Gegen- kommt als erwiesene Tatsache, dass 1942/43 –, bezog dieser von Roessler seitigkeit beruhenden regelmässigen Hausamann und Roessler sich wäh- spezifisch militärische Nachrichten, ‚Nachrichtenaustausch‘ im techni- rend des ganzen Kriegs nie persönlich nahm ihn als Experten über alle mög- schen Sinn kann dabei jedoch nicht gesehen haben. Ganz anders das Ver- lichen Dokumente, Meldungen, Be- gesprochen werden. Mayr von Bald- hältnis Roesslers zu Mayr von Bald- richte usw. in Anspruch und holte bei egg hat von Roessler weit grösseren egg! Die beiden trafen einander fast ihm seine Meinung und seinen Rat Nutzen gezogen als dieser von ihm.» täglich zum Kaffee; schliesslich wa- ein. Bei diesen Gelegenheiten sind ren sie alte Freunde aus der Vor- möglicherweise vereinzelte schwei- Rätsel um Roesslers Quelle kriegszeit. zerische Einvernahmen von Deser- gelöst? Mayr von Baldegg wurde 1944 vor- teuren Roessler übergeben worden, übergehend verdächtigt, Roessler oder er hat zum mindesten davon «Name ist Schall und Rauch.» (Goethe: Kenntnis erhalten. Umgekehrt orien- Faust) Sowjetische Verteidigungsstellung im Häuser- tierte Roessler seinen Freund über kampf von Stalingrad. Die präzisen Informatio- seine Beurteilung und gab ihm wohl An der Landesausstellung 1939, ir- nen, die aus Berlin über Roessler in Luzern auch Gelegenheit, in seine eigenen gendwo in einem verschwiegenen nach Moskau gelangten, halfen den Sowjets Unterlagen Einblick zu nehmen. Es Winkel zwischen Höhen weg und diese Entscheidungsschlacht zu gewinnen. wickelte sich dabei ein gewisser Aus- Schifflibach, hat Rudolf Roessler zwei seiner wichtigsten Informanten getroffen und instruiert. Wenige Tage später brach der Zweite Weltkrieg los, und Roessler wurde zum wichtigsten Informanten des Schweizer Nachrich- tendienstes. Dass das Treffen stattgefunden hat, steht fest. Aber wer die Gäste aus Deutschland waren, wird möglicher- weise erst bekannt werden, wenn zwei ältere Damen in Deutschland nicht mehr leben. Roesslers Nachrichtenquellen waren nach dem Krieg 28 Jahre lang ein Ge- heimnis, vielleicht eins der bestgehü- teten des Kriegsgeschehens. Dann packte ein Mann namens Bernd Ruland aus; aber weil Ruland ein Illu- striertenautor war, ein professioneller Enthüller, nahmen ihn nur wenige ernst. Fest steht: Roessler schöpfte aus vie- len verschiedenen Quellen. Er konnte sich auf ein weites Netz von Infor- manten stützen: auf Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Kultur, heimliche

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Der schwarze Fleck im der hinreichend bekannte Verleger Ru- aus, dass Roessler nach der 111 tägigen Honigglas dolf Roessler und der Journalist Dr. Haft im Anschluss an die Aushebung des Xaver Schnieper. Rado-Netzes des politischen Nachrich- Die grössten und klügsten Menschen In der Untersuchung gestanden die bei- tendienstes gegen Drittstaaten für schul- scheitern manchmal an den einfältigsten den alten Freunde, gegen eine Entschä- dig befunden, aber infolge Rechtsirrtums Dingen. Bei Rudolf Roessler war es der digung zwischen 33‘000 und 48‘000 als straffrei erklärt worden war. Damit winzige schwarze Fleck in einem Honig- Franken dem tschechischen Militâratta- waren offensichtlich seine unbestrittenen glas. ché Sedlacek («Onkel Tom») in der Zeit Verdienste um den Schweizer Nachrich- Das Päckchen war an Herrn Josef Ru- von 1947 bis 1953 insgesamt zwischen tendienst gewürdigt worden, ohne dass dolf, Linienstrasse 106, Düsseldorf, 110 und 160 teilweise bis zu zehn Seiten man wenigstens auf dem Papier von der adressiert. Aber die Post sandte es als starke Spionageberichte geliefert zu ha- Rechtspraxis der neutralen Schweiz ab- unzustellbar zurück an den Absender ben. Gegenstand der Berichte waren gewichen war. Dieses Mal freilich ging es Heinrich Schwarz an der Universitäts- nicht so sehr geheime Nachrichten, son- hart auf hart. Für Spionage zugunsten strasse in Zürich. dern Analysen der politischen und militä- der Tschechoslowakei hatte die Nach- Josef Rudolf war eben verreist, was im rischen Lage in verschiedenen Ländern kriegsschweiz keinerlei Verständnis Nachkriegsdeutschland von 1953 nichts Europas sowie fundierte Darstellungen mehr, obwohl Roessler und Schnieper Besonderes war. Dass es aber den Ab- von Einzelproblemen – eigentlich genau vor Gericht mit aller Entschiedenheit er- sender an der Zürcher Universitäts- die Dinge, die Roessler schon während klärten, sie hätten nur allgemein zugäng- strasse nicht mehr geben sollte, kam dem des Zweiten Weltkriegs am besten be- liche Informationen fachmännisch aus- Zürcher Postbeamten merkwürdig vor. Er herrscht hatte. gewertet und dies nur getan, um die dro- öffnete das Paket: Liebesgaben! Nur im Da gab es zum Beispiel Berichte über die hende Wiederaufrüstung Deutschlands Honigglas schwamm, ganz deutlich, ein Probleme der deutschen Wiedergutma- zu verhindern und einen Beitrag zur Si- schwarzer Punkt, der mit Sicherheit nicht chung, über die für Deutschland entste- cherung des Friedens zu leisten. von den fleissigen Bienen stammte. henden Vorteile bei der Fremdbeset- Die ‚Neue Zürcher Zeitung‘ schrieb in ih- Der Pöstler rief die Polizei an. Die Polizei zung, über amerikanische Tendenzen rem Prozessbericht: untersuchte den Punkt. Der Punkt war ein zur Unterstützung des deutschen Revi- «Rudolf Roessler, jetzt 56jährig, macht Mikrofilm. Er enthielt Informationen über sionismus, über Massnahmen und Vor- den Eindruck eines vergrämten und ver- britische Militärflugplätze in West- schriften der amerikanischen Besat- bissenen, aber immer noch spannungs- deutschland, Instruktionsoffiziere der zungsmacht in Deutschland, über die geladenen Fanatikers. Im Laufe seiner amerikanischen Armee mit Korea-Erfah- Nachschuborganisation der NATO, über Befragung kam es wiederholt zu explosi- rung, Manöverresultate amerikanischer die Entwicklung der amerikanischen Luft- onsartigen Entladungen, wenn eine sei- Truppen, ein Organigramm der US-Luft- waffe und über viele andere politische, ner empfindlichen Stellen berührt wurde. waffe in England sowie Anhaltspunkte wirtschaftliche und militärische Themen Feind Nr. 1 ist für ihn offenbar heute die über militärische Bauten im Rheinland mehr. Presse, die es sich erlaubt hat, nach sei- und die Einsatzstärke der französischen Während Roessler diese Berichte abge- ner Verhaftung seine Handlungen beim Armee. fasst hatte, hatte Dr. Schnieper für die richtigen Namen zu nennen. Die Wirkung Nun geben ja die Spezialisten der Spio- Übermittlung gesorgt: teils über tschechi- seiner aufgestapelten Wut bekamen am nageabwehr eher Auskunft über die Bett- sche Stellen in Bern, teils über Verbin- Schluss des ersten Sitzungstages die gewohnheiten ihrer Ehefrauen, als dass dungsleute in Wien, teils durch selbst Pressefotografen zu spüren, als sich sie sich Einzelheiten darüber entlocken hergestellte Mikrofilme, die in Liebesga- Roessler plötzlich dem Zugriff des be- liessen, wie sie fremde Agenten zur benpaketen an Deckadressen versandt gleitenden Polizisten entzog und mit sei- Strecke gebracht haben. Tatsache ist, wurden. ner Mappe in blinder Raserei auf die Fo- dass die Bundespolizei der Schweizeri- Der Prozess gegen Roessler und tografen und ihre Apparate einschlug.» schen Eidgenossenschaft schnell auf die Schnieper im Spätherbst 1953 wurden richtige Spur kam. Es wurden verhaftet zur Sensation. Vorerst stellte sich her-

Antinazis in hohen Kommandostel- Auswärtigen Amt. Wenn Not beten lehrt, dann lehrt len, diskrete «Helfer» an einflussrei- Niemand aber kann ausschliessen, Angst schweigen. Und Roesslers chen Stellen. Er bezeichnete sie im- dass auch diese Tarnnamen und die Frauen und Männer müssen klug ge- mer nur mit Decknamen: «Werther» von Historikern in langer Geduldsar- nug gewesen sein, um Angst zu ha- (für die Quelle, die wahrscheinlich im beit entwickelten Lokalisierungen ben... Oberkommando der Wehrmacht nur wieder raffinierte Täuschungs- sass), «Theddy» im Oberkommando manöver gewesen sind. Vergessen Falsche Fährten des Heeres, «Stefan» und «Ferdi- wir nicht: Jeder, der im Dritten Reich nand» bei der Luftwaffe, «Olga» als Geheimnisträger bloss ein Wort Dutzendweise sind nach dem Krieg beim Befehlshaber Ersatzheer, «Bill» verlauten liess, spielte mit seinem Le- Bücher und Artikel über Roesslers beim Heereswaffen- und «Anna» im ben! Quellen geschrieben worden. Die meisten als todsicher angepriesenen

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In einem flammenden Schlusswort legte Rudolf Roessler ein politisches Glau- bensbekenntnis ab und bestritt, je in sei- nem Leben ein Spion gewesen zu sein. Es war das letzte Mal, dass er öffentlich das Wort ergriff. Das Gericht folgte seinen Argumenten nicht und verurteilte ihn zu einem Jahr Gefängnis. Schnieper erhielt neun Mo- nate. Schuldig befunden wurden beide des militärischen Nachrichtendienstes für einen fremden Staat zum Nachteil ei- nes anderen fremden Staates (Art. 301 StGB). Der bedingte Strafvollzug wurde den Angeklagten verweigert, «weil sie keine Einsicht in die Verwerflichkeit ihrer Handlungsweise gezeigt, sondern erklärt haben, dass sie moralisch richtig gehan- delt hätten», bemerkte Bundesrichter Corrodi als Präsident des Bundesstrafge- richts. Entgegen dem Antrag der Bundesan- waltschaft wurde Roessler jedoch nicht des Landes verwiesen; er hatte zwar nach Ansicht des Bundesstrafgerichts das schweizerische Gastrecht miss- braucht, doch wurde berücksichtigt, «dass er schon seit bald zwanzig Jahren in der Schweiz niedergelassen ist und ihr während des Aktivdienstes wesentliche Dienste erwiesen hat. Zudem würde er durch die Landesverweisung, da er staa- tenlos ist, unverhältnismässig schwer ge- troffen.»

Rudolf Roessler (links) und Dr. Xaver Schnieper (rechts) beim Verlassen des Luzerner Rathauses, in dem der Prozess stattfand.

Versionen und Namen haben sich als den Archiven der Heereseinheiten nen Decknamen gekommen sein das erwiesen, was sie sind: Schall und nach und nannten ganz andere Na- konnte. Der Historiker Scheidt war ab Rauch. men. Da mussten die Franzosen zuge- Mai 1942 Beauftragter des Führers - Die französischen Autoren Accoce ben, dass sie ihre Angaben frei erfun- für die militärische Geschichtsschrei- und Quet identifizierten «Werther», den hatten. bung. – Fehlanzeige! Der Historiker «Olga», «Theddy», «Stefan» usw. - Als «Werther» wurde ein andermal Percy E. Schramm, der von 1943 bis mit Vornamen und Initialen. Deut- der 1954 verstorbene Rittmeister Dr. 1945 das Kriegstagebuch des OKW sche Historiker, die noch heute die Wilhelm Scheidt genannt, weil er (Oberkommandos der Wehrmacht) gegen die Hitler-Armeen gerichtete eine Doktorarbeit über «Die Weisheit führte, sagte aus direkter eigener Er- Nachrichtentätigkeit als Verrat zu Goethes für die Geschichte» ge- fahrung: «Wenn Scheidt die Sachen qualifizieren bereit sind, gruben in schrieben hatte und von daher auf sei- auf den Tisch bekamn, waren sie

93 längst Geschichte. Dann hätte er sie Fernschreiber! Das mit den Funkgerä- getrost den Russen in Leder gebunden ten freilich ist mit Sicherheit falsch: schenken können.» Alle noch lebenden Bekannten Roess- - War Roesslers Quelle Harro Schul- lers sagen übereinstimmend aus, der ze-Boysen, Oberleutnant im Reichs- rätselhafte Mann in Luzern habe nie luftfahrtministerium und führender ein solches Gerät besessen und hätte Mann in der deutschen Gruppe des auch kaum eins bedienen können, berühmten sowjetischen Spionage- weil er manuell ausgesprochen unge- rings «Rote Kapelle»? Er kann es schickt war. Ausserdem: Wie wohl nicht gewesen sein, denn er wurde am hätte ein Geheimsender in Berlin jah- 30. August 1942 verhaftet, als Roess- relang von der tüchtigen deutschen lers Nachrichtentätigkeit für die Rus- Funkabwehr unentdeckt arbeiten sol- sen erst richtig anzulaufen begann! len? - Die Verschwörer vom 20. Juli 1944 gegen Hitler? Kaum denkbar, denn bei ihrem eigenen Anschlag haben sie doch bewiesen, dass sie mit nachrich- Zwei «Blitzmädel» gegen Hitler tentechnischen und nachrichten- Fernschreiber heisst das Losungswort dienstlichen Dingen recht dilettan- – zumindest für das Rätsel um eine tisch umgingen. der Hauptquellen Roesslers. Im Safe - Kein Geringerer als General Rein- einer Schweizer Bank liegt, wie Bernd hard Gehlen, in der Wehrmacht Chef Ruland berichtet, ein Papier mit den der «Abteilung Fremde Heere Ost» unterschriebenen, notariell beglaubig- und bis März 1968 Präsident des deut- ten eidesstattlichen Aussagen von schen Bundesnachrichtendienstes, zwei Frauen, die Roessler mit den ge- setzte die abenteuerlichste Version in heimsten Nachrichten aus den höch- die Welt: In seinen Memoiren nannte sten Führungsstellen der Wehrmacht er Martin Bormann, den Leiter der belieferten. Die beiden Frauen waren Parteikanzlei und Sekretär Hitlers. damals «Blitzmädel», d.h. junge Bormann sei nach dem Krieg zu den Nachrichtenhelferinnen in der Fern- Sowjets übergelaufen und in Moskau schreibzentrale des Oberkommandos gestorben. Beweise vermochte der der Wehrmacht an der Bendlerstrasse sonst gut informierte Geheimdienst- in Berlin! general nicht zu liefern. Die beiden Telexistinnen kopierten Alexander Foote («Jim»), Funker des Beim Verlassen des Gerichtssaals verbarg einfach ein- und ausgehende Meldun- Roessler sein Gesicht mit dem Hut vor den Fo- Spionagerings von Sandor Rado, be- gen der höchsten Geheimhaltungs- merkte in seinen Lebenserinnerun- tografen (oben). Der Journalist Bernd Ruland stufe und trugen sie aus der unglaub- (unten) hat wahrscheinlich das Rätsel um eine gen: lich schlecht bewachten «Höhle des von Roesslers Hauptquellen gelöst: Er sagt, es «Die Nachrichten mussten Lucie auf Löwen» direkt zu einem Verbin- seien zwei deutsche «Blitzmädel» gewesen. dem Funkwege erreicht haben; seine dungsmann, der für die Weiterleitung Quellen, wer immer sie auch gewesen nach Luzern besorgt war. sein mögen, müssen fast stehenden Bernd Ruland, der 1976 gestorben ist, Jahre unerkannt geheimste und wich- Fusses von ihren Dienstfernschrei- steht mit seiner Darstellung nicht al- tigste Daten und Angaben aus der bern zu den Funkgeräten gelaufen lein. Der Militärhistoriker Hans Ru- deutschen Führungsspitze ins Aus- sein, um ihre Nachrichten an Lucie dolf Kurz urteilt: land – das heisst an Roessler nach Lu- abzusetzen.» «Die Geschichte klingt zwar recht zern – zu liefern. Aber die Erklärung Obwohl Foote es am allerwenigsten abenteuerlich, und man ist versucht, Rulands hält auch einer kritischen wissen konnte, hat er ein wichtiges sie als eines jener Märchen abzutun, Überprüfung stand und darf deshalb Stichwort genannt: die in der Spionageliteratur immer als gesichert gelten.» Ruland war wieder ihr Unwesen treiben. Insbe- während des Zweiten Weltkriegs sondere steigen Zweifel an den prak- Fernschreiboffizier in der Nachrich- tischen Möglichkeiten subalterner tenzentrale des Oberkommandos der Helferinnen auf, während mehrere Wehrmacht in Berlin, also ein direkter Vorgesetzter der beiden jungen Agen- tinnen. Er erzählt:

94 mir sofort klar, dass es sich um eine Abschrift des Fernschreibens an Ge- neraloberst Fromm handelt. Das Telegramm kommt aus dem Füh- rerhauptquartier. Es enthält eine Liste dringend benötigter Divisionen und einiger Spezialformationen für das ‚Unternehmen Barbarossa‘ ist der Deckname für den Feldzug gegen So- wjetrussland!» Das also war der Stoff, aus dem Roesslers Nachrichten waren. Die vom Fernschreiboffizier entzifferte Meldung wäre auch ein Beweis dafür, dass Roessler frühzeitig von den An- griffsabsichten Hitlers gegen Russ- land wusste. Die ertappte Nachrichtenhelferin bat ihren Chef um eine Aussprache aus- serhalb der Dienstzeit. Bei einer Tasse Kaffee gestand sie Bernd Ruland, dass sie gegen Deutschland arbeitete; sie spionierte, weil ihr Vater, ein von Hit- ler kaltgestellter altpreussischer Offi- zier, einem Widerstandskreis ange- hörte. Ruland, dem nie Sympathien für das Dritte Reich nachgewiesen wurden, beschloss – immer nach sei- ner eigenen Darstellung –, so zu tun, als ob er nichts wüsste. Erst nach dem Krieg erfuhr der Fern- schreiboffizier, dass noch eine zweite

seiner Untergebenen das gleiche tat: Maria Kalussy (Deckname), die in an- Dies war nach Rulands Darstellung der Ort, an ten laufend automatisch verschlüs- deren Schichten arbeitete. Auch sie dem Roessler die geheimsten Nachrichten aus seln. Die Leitungen führen direkt an machte es um ihres Vaters willen; er den deutschen Führungsspitzen abzapfte: Zwei alle Punkte der Welt, wo deutsche Fernschreiberinnen in der Nachrichtenzen- war als Kommunist 1933 in ein Kon- trale des Oberkommandos der Wehrmacht Truppen im Dienst stehen: nach Paris zentrationslager gekommen, in die lernten Telegramme auswendig und nahmen und Bukarest, nach Belgrad und Am- Sowjetunion geflohen und als Offizier Kopien mit. sterdam. Bei der hübschen Angelika der Internationalen Brigaden im Spa- von Parchim (Deckname) bleibt Ru- nischen Bürgerkrieg gefallen. «Ich bin durch einen Zufall hinter das land stehen; ihm fällt auf, dass das Mädchen ungewöhnlich nervös ist. In Geheimnis gekommen, ohne damals Fünf Nachrichtenwege nach jenen Schritt zu unternehmen, zu dem seinem Buch «Die Augen Moskaus» Luzern ich verpflichtet gewesen wäre. Ich beschreibt er den Augenblick der Ent- habe geschwiegen, habe keine Mel- deckung: «‚Sind Sie krank?’ Was die beiden Mädchen als überzäh- dung gemacht, keine Konsequenzen ‚Nein, nein, aber...’ lige Kopien oder heimliche Abschrif- gezogen und dabei auf jenes Glück Sie stockt und blickt mich ängstlich ten in Handtaschen oder am Körper vertraut, das der Soldat nicht nur an an. Ich kann mir keinen Vers darauf aus dem Bunkerbau an der Bendler- der Front braucht, um zu überleben.» machen. Erst jetzt entdecke ich das 14. Juni 1941, eine Nacht wie jede an- schmale, weisse Fernschreibband, dere. Ruland begrüsst die zehn Nach- das als ein lockeres Knäuel auf Ange- richtenhelferinnen. likas Schoss liegt. Ich überfliege Die Mädchen sitzen an Fernschrei- mehr zufällig als gewollt einige Wor- bern, die die übermittelten Botschaf- te auf diesem Papierstreifen. Es ist

95 strasse schmuggelten oder in fliegen- dazu rund 120 Fernschreiben mit dem klären, weshalb der «Direktor» in der Hast auf den Toiletten auswendig höchsten Geheimhaltungsgrad Moskau zeitweilig Rado ersuchte, die lernten, übergaben sie sofort einem («Chefsache – nur durch Offizier») Gruppe «Lucie» um genauere Arbeit Beamten im Heeresamt, der die bri- und weitere 830 Fernschreiben der zu bitten. Moskau rügte, dass Stand- santen Nachrichten auf fünf verschie- gleichen Klassifikationsstufe, die aus orte von Truppenkörpern angegeben denen Wegen spedierte: dem Gedächtnis rekonstruiert wurden würden, die gar nicht existierten. - Etwa 60 Prozent des Materials und un vermeidlicherweise Fehler Kunststück: Die Mädchen konnten in wurde telefonisch nach Mailand enthielten. Dies wiederum würde er- der knappen Zeit und ständig in der durchgegeben, dort auf geschrieben Angst, entdeckt zu werden, nicht gut und von Vertrauensleuten, darunter ganze Zahlenreihen fehlerfrei aus- einem SBB-Kondukteur, nach Luzern wendig lernen! gebracht. Das Netz Rado 1947 soll Roessler Angelika von Par- - 15 Prozent liefen über ständige Ku- chim und Maria Kalussy, die für ihre – Sandor (Alexander) Rado, geboren riere, mit Diplomatenpost von Wehr- 1899, Ungar, Decknamen: «Dora» und Dienste nie entschädigt wurden, in die macht und Auswärtigem Amt, über «Albert», Geograph und Kartograph, reiste Schweiz eingeladen und sich mit ih- die der Verbindungsmann im Heeres- 1936 in die Schweiz ein und gründete die nen in Zürich getroffen haben. amt verfügen konnte. Die Umschläge in Presse- und Wirtschaftskreisen angese- Noch einem anderen Menschen hat hene Agentur «Geopress» für geographi- wurden in Berlin mit Schweizer Brief- sche Karten zum aktuellen Weltgesche- Roessler das Geheimnis um seine marken frankiert und mit Deckadres- hen. Ab 1938 betrieb er zusammen mit Nachrichtenquellen an vertraut: dem sen versehen. Die Kuriere brauchten seiner deutschen Frau Helene ein Agen- damals 18jährigen Sohn seines Freun- sie nur noch auf Schweizer Boden tennetz in Genf. des Dr. Xaver Schnieper. Roessler er- – Alexander Allan Foote («Jim»), gebo- einzuwerfen, denn eine Brief Zensur ren 1905, Engländer, Spanienkämpfer, laubte ihm, das Geheimnis zu veröf- im Inland gab es auch während der wurde 1940 als technischer Chef und fentlichen, «wenn du ein Mann bist Aktivdienstzeit nicht. Zahlmeister in das Netz Rados beordert, und alle Beteiligten gestorben sind». - Einige, gemessen am gesamten führte äusserlich das Leben eines wohlha- Aber anderthalb Jahre nach diesem benden englischen Privatiers. Roesslerschen Nachrichten verkehr – Edmond-Charles und Olga Hamel Gespräch starb der junge Mann bei ei- wenige, Meldungen wurden von den («Eduard» und «Maud»), geboren 1910 nem Autounfall. offiziellen, nicht überwachten Funk- bzw. 1907, Inhaber eines kleinen Ra- stellen des OKW zur deutschen Ge- diofachgeschäftes in Genf, Funker und Apparatebauer Rados, überzeugte Kom- sandtschaft nach Bern gefunkt, wo sie munisten. «Maud» versah ausserdem den von einem Vertrauten Roesslers auf- Kurierdienst zwischen Rado und Foote. gefangen und an ihn weitergeleitet – Margrit Bolli («Rosa»), geboren 1919, wurden: dringende per Telefon, weni- aus Basel; manchmal als «Serviertoch- ger dringende mit der normalen Post. ter», manchmal als «Studentin» bezeich- net, im Funk- und Chiffrierdienst tätig, galt Bupo verstopft die beste Auf diesem Wege war es auch mög- als Freundin von Sandor Rado. lich, Rückfragen nach Berlin zu über- – Rahel Dübendorfer («Sissy») und Schweizer Nachrichtenquelle mitteln. Diese Version würde das Paul Boettcher («Paul»): Aushilfssekre- Tempo und die jahrelange, von Peil- tärin beim Internationalen Arbeitsamt / In der Nacht vom 12. zum 13. Okto- ehemaliger sächsischer Finanzminister ber 1943 hob die Bundespolizei das kommandos ungestörte Kommunika- (KP), unterhielten vor und nach Rado ein tion erklären. eigenes Nachrichtennetz, das zeitweilig Agenturnetz des ungarischen Geogra- - Weitere Meldungen gelangten durch mit demjenigen Rados zusammenge- phen Sandor Rado aus. Der Chef Gelegenheitskuriere in die Schweiz: schlossen war; direkte Kontaktpersonen konnte entkommen, aber die Tätigkeit zu Dr. Christian Schneider («Taylor»), der der illegalen Sowjet-Residentur in der Schlafwagenschaffner, reisende Jour- seinerseits als Kurier zu Rudolf Roessler nalisten, Grenzbeamte, Geschäftsleu- («Lucie») tätig war. Schweiz kam zum Erliegen. te usw. Die Mitglieder des Netzes Rado kannten Der Schlag war für die Russen - Ein kleiner Teil des immensen einander teilweise nur unter Decknamen. deshalb besonders schwer, weil Rado Nachrichtenmaterials wurde durch ei- und seine Mitarbeiter seit dem ver- nen Beamten der Deutschen Reichs- hängnisvollen 30. August 1942, als bahn in die Schweiz gebracht. die deutsche Abwehr die in Berlin Insgesamt wurden etwa 6‘100 ge- agierenden Mitarbeiter der «Roten heime Kommandosachen geliefert, Kapelle» verhaftet hatte-an deren Stelle den Funkverkehr aufrechter- hielten. Es spricht für Roesslers ausgezeich- nete Tarnungskünste, dass er erst ein

96 halbes Jahr nach dem Auffliegen sei- nach seinem eigenen Gewissen han- gen verschlüsselte Signale aufgefan- ner Abnehmer in Genf verhaftet deln, und dabei waren zusätzliche Dif- gen und fast jede Nacht angepeilt. An- wurde. In der Zwischenzeit hielt er ferenzen völlig unvermeidlich. geblich war ein gelangweilter Funker seine Verbindung mit Rahel Düben- auf dem Flughafen Cointrin beim Ab- dorf er («Sissy») in vollem Umfang suchen der Skala zufällig auf die ver- aufrecht. Auch sie wurde erst im Mai dächtigen Signale gestossen, die er 1944 entlarvt. So fliegt das Rado-Netz auf seinem Chef gemeldet hatte. Der militärische Nachrichtendienst Einer der Senderstandorte war bald der Schweiz war entsetzt über die Charles Knecht, Inspektor der schwei- gefunden worden: eine verträumte Verhaftung Roesslers, konnte aber zerischen Bundespolizei, trug ein Zwölfzimmervilla an der Route de nichts tun. Die Bundespolizei hatte Schemelchen unterm Arm und Kopf- Florissant 192. Hier wohnte ganz al- mit Hilfe einer Armee-Einheit – und hörer. Leise stieg er das schwach er- lein das Ehepaar Olga und Edmond nicht, wie später behauptet wurde, auf leuchtete Treppenhaus des grossen Hamel, Inhaber eines Radio-Fachge- einen deutschen Wink hin – die Sen- Wohnblocks hinauf. Bei jedem Trep- schäfts in Genf und Mitglieder der der der Gruppe Rado gepeilt. Abgese- penabsatz hielt er inne, stellte das Kommunistischen Partei der hen von der Rivalität zwischen zivi- Schemelchen auf den Boden, stieg Schweiz. len und militärischen Stellen zeigte darauf und drehte kurz die Sicherun- sich hier die Schwierigkeit, die Erfor- gen der einzelnen Wohnungen heraus. dernisse der Neutralität gegen die Erst im siebten Stock, wo die aus Ba- wohlverstandenen Interessen der sel stammende Margrit Bolli wohnte, Die Polizei packt zu Schweiz abzuwägen. Für diesen Fall verstummte das nervöse Zirpen im In der Nacht vom 12. zum 13. Okto- gab es eben keine Reglemente; jeder Kopfhörer genau so lange, wie Knecht ber packt die Genfer Polizei zu. Sieb- Beamte und jeder Offizier musste den Sicherungskontakt unterbrach: zig Polizisten mit Hunden und Der zweite Geheimsender war gefun- Scheinwerfern umzingeln die etwas Links: Im 7. Stock des Mietshauses an der Rue den! Henri Mussard 8 in Genf wurde einer der drei einsam gelegene Villa an der franzö- Rado-Sender geortet. Rechts: Ein ungewöhnli- Zwei Wochen lang hatte der Abhör- sischen Grenze. Polizeikommandant ches Dokument; Edmond Hamel fotografierte dienst des Radiodetachements 7 zuerst Vibert und Bupo-Inspektor Knecht seine Frau Olga beim Funken! auf dem 50-Meter-Kurzwellenband, wollen jedes Fluchtrisiko ausschlies- dann auch auf andern Kurzwellenlän- sen. Angestrengt lauschen die Spezia-

97 mit chiffrierten Telegrammen gefun- den. Drei weitere hat Olga Hamel trotz der scharfen Bewachung wäh- rend des Transports aufgegessen. In der gleichen Nacht nimmt die Poli- zei auch Margrit Bolli in der Woh- nung ihres Freundes, eines deutschen Coiffeurs, fest.

Rado taucht unter Der Coiffeur wurde bald wieder auf freien Fuss gesetzt. Er sei ein Agent der Nazis gewesen, der sich ins sowje- tische Netz eingeschlichen habe. Überhaupt habe die Schweiz den Hin- weis auf den Sender wahrscheinlich von den Deutschen erhalten. Dies be- hauptete viel später der Mann, der der Chef dieses weitverzweigten Spiona- genetzes war – eines Netzes, das zwar nur in loser Verbindung mit der legen- dären «Roten Kapelle» stand, scherz- haft aber oft die «Rot-weisse Kapelle» genannt wurde; denn seine Nachrich- ten waren ebenfalls von äusserster Wichtigkeit für den sowjetischen Ge- neralstab während des deutschen An- griffs auf Russland. Der Chef hiess Sandor Rado und er- fuhr von der Verhaftung seiner Fun- ker durch eine Zeitungsnotiz. Darauf tauchte er mit seiner Frau unter. Ein linksgerichteter Genfer Arzt hielt die beiden elf Monate lang versteckt, ehe sie mit Hilfe des Agenten Otto Pünter Oben: Mit diesen Geräten peilte eine Schwei- im Morgenrock, notiert die in Grup- («Pakbo») schwarz über die Grenze zer Radiokompanie die Geheimsender der «Ro- pen zu je fünf Zahlen verschlüsselten ten Drei» an. Einer der drei Sender befand sich nach Savoyen entkommen konnten. in einer Villa an der Route de Florissant in Nachrichten. Ihr Mann legt sich wie- Die Behauptung in Bezug auf den Genf (unten). Er wurde ausgehoben. der schlafen. deutschen Hinweis ist bis heute um- Es ist halb zwei Uhr in der Frühe. Ein stritten: Alle noch lebenden Schwei- listen in den getarnten Peilwagen. Schlosser, den die Polizei ins Ver- zer Teilnehmer an der Aktion versi- Man will die Spione auf frischer Tat, trauen gezogen hat, öffnet lautlos das chern energisch, die Schweizer Ra- also beim Funken, ertappen. Schloss der Villa. Die Beamten stür- diopeilung sei ganz von allein auf das Pünktlich um Mitternacht steht Ed- men in den ersten Stock. Sie überra- Geheimnis gekommen. mond Hamel auf. Im Nachthemd mit schen Olga Hamel in voller Aktion. Sandor Rado war ein Jahr vor der Stil- rotbesticktem Kragen beginnt er drin- Blitzschnell lässt sie die auf winzigen legung seines Netzes mit dem angese- gende Botschaften zu senden. Am an- Papierfetzen geschriebenen Meldun- henen Lenin-Orden ausgezeichnet deren Ende lauscht die Zentrale des gen im Ärmel ihres Morgenrocks ver- und zum Obersten der Roten Armee russischen Geheimdienstes GRU. Die schwinden. Das bringt die Polizisten befördert worden, was die Wichtig- letzte Meldung aus Genf betrifft deut- in Verlegenheit. Solange keine Beam- sche Rückzugsbewegungen an der tin da ist, dürfen sie die Frau nicht russischen Front. durchsuchen. Dann unterbricht Moskau, um Rück- Schliesslich nehmen sie sie halt im fragen zu übermitteln. Olga Hamel, Morgenrock mit. Dort werden später nicht weniger als 23 Papierschnitzel

98 keit seiner Stellung unterstrich. Sein Netz umfasste 50 bis 60 Vertrauens- leute, vorwiegend in der Schweiz. Der bedeutendste von ihnen war «Lu- cie» alias Rudolf Roessler in Luzern, dessen aus bester deutscher Quelle stammende Nachrichten in Genf chif- friert und nach Moskau gefunkt wur- den. Meisterspion Rado – er verbrachte seine alten Tage als Geographiepro- fessor in Budapest – hat in seinen Le- benserinnerungen behauptet, nie eine

geheimdienstliche Ausbildung erhal- ten zu haben. Daran darf gezweifelt werden.

Vom Presseagenten zum Geheimagenten Der studierte Geograph und Altkom- munist eröffnete in Paris eine Presse- agentur, der es finanziell aber schlechtging, bis sich als zahlungs- kräftiger Kunde der sowjetische Nachrichtendienst des Generalober- sten J.T. Peresypkin, besser bekannt unter dem Decknamen «Direktor», einstellte! Rado zog 1936 nach Genf, eröffnete die auf geographische Kar- ten spezialisierte Agentur «Geopress» und wurde zum beziehungsreichen Meldekopf eines Netzes, das zunächst Nachrichten über den Spanischen Bürgerkrieg beschaffte. 1938 wurde Rado zum Chef der Schweizer Gruppe des sowjetischen Nachrich- tendienstes berufen. Seine Mitarbeiter rekrutierten sich aus zwei Gruppen: aus überzeugten Kommunisten wie zum Beispiel der 1973 in Ostberlin verstorbenen Rahel Dübendorfer («Sissy»), über die

Die Hauptpersonen im sowjetischen Spionage- netz der «Roten Drei». Obere Reihe: Alexander Rado und seine Frau Helene; mittlere Reihe: Der Genfer Radiohändler Ed- mond Hamel und seine Gattin Olga; untere Reihe: Der in Lausanne stationierte Brite Alexander Foote, der ebenfalls einen Ge- heimsender betrieb, und die Baslerin Margrit Bolli, zeitweilige Freundin Rados.

99 Roesslers Nachrichten zu Rado ge- schen Beziehungen mit der Schweiz und Soldbücher, Dutzende von Stem- langten; die andere Gruppe waren und waren darum auf die geheimen pelabdrucken, italienische Personal- deutsche und schweizerische Antifa- Funkanlagen angewiesen. «Direktor» ausweise, französische Lebensmittel- schisten, insbesondere aus dem sozi- Peresypkin tobte. Eher sollte das karten – einfach alles, was die Fäl- aldemokratisch-gewerkschaftlichen ganze Schweizer Netz auffliegen, als scherwerkstatt des Schweizer Nach- Lager. Angesichts der deutschen Be- dass die Sowjets unter der Aufsicht richtendienstes zu bieten hatte. drohung waren sie bereit, über die des britischen Intelligence Service ar- «Die hatten einfach alles, und zwar in weltanschaulichen Grenzen hinweg beiten würden! bester Qualität», erinnert sich ein im Interesse der Sache mit den So- 1945 wurde Sandor Rado nach Mos- Stammkunde von damals, der Wiener wjets zusammenzuarbeiten. Der be- kau zurückgerufen und gleich nach Grossverleger Fritz Molden, geboren kannteste unter ihnen war der Berner seiner Ankunft auf dem Flughafen 1924. «Der Schweizer Nachrichten- Journalist Otto Pünter alias «Pakbo». verhaftet. Ein Militärgericht verur- dienst konnte sich sogar Originalfor- In der Nacht zum 20. November hob teilte ihn wegen Hochverrats, Zusam- mulare mit den blauen Wasserzeichen die Polizei auch den dritten und letz- menarbeit mit dem britischen und für Sonderausweise des Reichssicher- ten Sender des Rado-Netzes aus: in dem amerikanischen Geheimdienst heitshauptamtes samt den genau rich- der Wohnung des Engländers Alex- sowie wegen angeblicher finanzieller tigen Stempeln beschaffen.» ander Foote in Lausanne, der auf Unregelmässigkeiten zum Tode. Ein Mitarbeiter des schweizerischen Weisung der Moskauer Zentrale den Nach der deutschen Kapitulation Nachrichtendienstes, der seinen Na- Funkbetrieb wegen der hochwichti- wurde Rado zu zehn Jahren Zucht- men nicht nennen will, sagt: «Ja, ja. gen Roessler-Meldungen trotz des haus begnadigt, die er bis auf den letz- Wir hatten damals eine richtige Fäl- grossen Risikos aufrechtzuerhalten ten Tag absitzen musste. scherwerkstatt mit allen Repro- und hatte. Foote widersprach nach seinem Druckmaschinen. Ich glaube, sie war Prozess der von Rado immer betonten Die Schweiz unterstützt in einem Reduit-Stollen bei Gösche- Version, wonach sich die Tätigkeit nen. Geleitet wurde sie von einem der «Rot-weissen Kapelle» nie gegen den antifaschistischen Hauptmann, der im Zivilberuf Chef die Schweiz gerichtet habe. Nach Widerstand einer bedeutenden Cliché-Fabrik war. Footes Angaben fand die Polizei un- Ich selber bezog von dort immer ge- ter den bei den Hamels aufbewahrten «Ich ging wie im Traum: in einem fälschte Rationierungskarten für die Unterlagen auch Telegramme mit ge- Traum, in dem riesige, vollfette Emmen- Agenten, die wir nach Deutschland taler durch reingekehrte Gassen rollten. heimen Einzelheiten über ein neues einschleusten.» (...) Alles dort war für mich eine Offen- Oerlikon-Flabgeschütz; Sandor Rado barung. Die Tür zum Paradies, angefüllt Fritz Molden war gerade 20 Jahre alt hatte einen grossen Fehler begangen: mit Schokolade, Zigaretten und der und aus der Wehrmacht desertiert, als Statt einem Banksafe hatte er diese ‚Neuen Zürcher Zeitung‘, war für mich er zum erstenmal in die Schweiz kam. und viele andere Dokumente den Ha- aufgesperrt worden. Eine heile Welt Er hatte sich der österreichischen Wi- mels zur Aufbewahrung anvertraut, nahm mich auf, in der selbst Fepolinski derstandsbewegung angeschlossen wo sie prompt der Polizei in die Hän- und Waschlapski mit Schüblig, Rösti und arbeitete mit italienischen Parti- de fielen. und Kaffee ernährt wurden. Ich war sanengruppen zusammen. Das Pro- Und ein Zweites hatte die Wut des zwanzig Jahre alt und betrat nach fünf blem war, die sich langsam formie- «Direktors» in Moskau erregt: Nach Jahren Krieg, sechs Jahren NS-Herr- renden Maquisards in Österreich mit der Aushebung der ersten beiden Ge- schaft und elf Jahren Diktatur zum er- Waffen, Lebensmitteln und Medika- heimsender hatte Rado vorgeschla- stenmal in meinem denkenden Leben ein menten auszustatten. Ausserdem gen, sich vor der Schweizer Polizei in freies Land.» suchten die Widerständler Kontakt zu Fritz Molden die britische Botschaft in Bern zu ret- den vorrückenden alliierten Truppen. ten und von dort aus weiterzuarbei- Es war, als wollte der Kunde in einer Der blutjunge Molden war als Kurier ten: alle Botschaften der kriegführen- guten Druckerei nur mal eben Visi- eingesetzt. Zwei italienische Partisa- den Mächte besassen in Bern ja ihre tenkarten bestellen. Der Chef des nen hatten ihn auf einem Schmuggel- eigenen Sender, die sie entgegen den Hauses brachte einen dicken Katalog pfad bei Porto Ceresio über die Vorschriften der PTT, aber unter dem und fragte zuvorkommend: «Wie hät- Grenze in die Schweiz gebracht. Mol- Schutz ihrer diplomatischen Immuni- ten Sie’s denn gern?» den hatte den Auftrag, in Bern einen tät betrieben. Nur eben: Die Russen Der Katalog enthielt Originalformu- hatten damals noch keine diplomati- lare für deutsche Wehrmachtpässe

100 fangenen per Schub nach Luzern ins Hotel Schweizerhof, in die Zentrale des Schweizer Nachrichtendienstes. Was Fritz Molden in den folgenden Wochen erlebte, hat noch kein anderer vor ihm erzählt. Es ist die Geschichte von der diskreten, aber wirksamen Unterstützung nazifeindlicher Wider- standsbewegungen durch den Schwei- zer Nachrichtendienst, natürlich – wie vieles, was diese Herren taten – etwas ausserhalb der Neutralität; aber Agen- ten pflegen eben mit Realitäten zu rechnen, nicht mit papierenen Begrif- fen. Noch am gleichen Abend wurde der Ankömmling fünf Stunden lang aus- gefragt. Einer der beiden höflichen, aber betont zurückhaltenden Herren war der damalige Major Dr. Max Wai- bel, Chef der Dienststelle NS 1. Waibel liess den seltsamen Gast aufs Zimmer führen. Der Schlüssel wurde von aussen abgezogen. Aber eine Wa- che gab es auf den Gängen nicht. Nur ein hübsches Zimmermädchen, mit dem der stattliche Bursche aus Wien

sogleich zu flirten begann. Die Verhöre dauerten mehrere Tage. Verleger Fritz Molden in Wien war in jungen ‚Naturalmente, Signore, per favore‘, Zwischenhinein durfte Molden mit Jahren Kurier und Verbindungsmann der öster- sagte ich, griff nach meinen Streich- seinem Bewacher ins Kino. Schon in reichischen Widerstandsbewegung zur hölzern und gab dem Herrn Feuer. Schweiz. Bellinzona hatte ihm der Beamte ge- ‚Grazie, grazie mille volte’, bedankte sagt: «Wenn Sie nicht die Wahrheit als Diplomaten getarnten Verbin- der sich und fuhr höflich fort: ‚Prego, sagen, stellen wir Sie an die Grenze!» dungsmann des britischen Geheim- ma mi lasci vedere i fiammiferi.‘ Das konnte Molden nicht riskieren. Er dienstes zu kontaktieren. (‚Lassen Sie mich doch die Zündhöl- packte aus, nannte seinen Namen, er- Was die Gestapo, die Wehrmachts- zer ansehen.‘) Ich war etwas erstaunt, zählte alles über seine Familie, über streifen und die italienische Polizei und dann wusste ich, diesmal hatte es Bekannte, über seinen Auftrag. nicht geschafft hatten, gelang einem nicht geklappt. Die Streichhölzer wa- Später hat Fritz Molden erfahren, dass pfiffigen Tessiner Detektiv. Auf dem ren nämlich italienische Streichhöl- jede seiner Angaben nachgeprüft wur- Bahnhof von Mendrisio, wo er auf zer.» de: teils über das schweizerische Ge- den Zug nach Lugano wartete, muss Mit einem der ältesten Tricks hatte neralkonsulat in Wien, teils anhand Fritz Molden ausgesehen haben wie der Detektiv den illegalen Einwande- der Original-Fahndungsblätter von ein Kind unterm Weihnachtsbaum: rer überführt. Gestapo und Wehrmachtskontrolle. Begierig kaufte er Schokolade, Ziga- Molden wurde verhaftet und kam ins «Die hatten die Schweizer natürlich retten und haufenweise Zeitungen – Untersuchungsgefängnis nach Bel- auch. Ich denke, von Leuten wie Gise- Dinge, die er früher kaum gesehen linzona. Der Kurier hatte keine Wahl: vius in der deutschen Botschaft in hatte. In seinem Erinnerungsbuch Wenn er nicht auspackte, würden ihn Bern, die mit der Schweiz kooperier- «Fepolinski und Waschlapski auf dem die Schweizer nach Italien abschie- ten.» berstenden Stern» beschreibt der er- ben – aber nicht auf dem Trampel- folgreiche Verleger, was ihm dann zu- pfad, sondern bei Ponte Chiasso, wo stiess. «‚Mi scusi, Signore’, tönte eine die Gestapo solche Rückwanderer mit freundliche Stimme, ‚lei ha un fiam- offenen Armen aufzunehmen pflegte. mifero?‘ (‚Haben Sie ein Streich- Der Tessiner Polizist brachte den Ge- holz?‘)

101 Während die Schweizer Nachrichten- Österreich, holte Molden auf dem eine Verbindungsstelle zu den Alliier- leute seine Angaben überprüften, kam Dietschiberg ab. ten errichten. Molden ins Ausflugshotel Dietschi- Tagelang verhandelten Dickmann, Die Österreicher verpflichteten sich, berg ob Luzern, das 1977 niederge- Waibel und ein paar andere Schwei- alle Nachrichten über deutsche Trup- brannt ist. zer Nachrichtenleute mit dem Abge- penbewegungen und andere militäri- «Dort befand sich eine Art Zwischen- sandten des österreichischen Wider- sche, politische und wirtschaftliche internierungslager. Ich blieb eine Wo- stands. Molden gewann den Ein- Tatsachen sofort an den Schweizer che dort, arbeitete in einem grossen druck, dass die Schweiz damals, im Nachrichtendienst weiterzuleiten und Gemüsegarten, jätete Unkraut, was Frühsommer 1944, zweierlei fürch- gegen die Schweiz gerichtete Hand- ich noch aus meiner deutschen Ge- tete: dass die in die Enge getriebenen lungen möglichst zu verhindern. fängniszeit sehr gut beherrschte. Es Deutschen den direktesten Versor- Die Zusammenarbeit dauerte mehr als war eine gute Zeit. Ich bekam viel und gungsweg nach Italien besetzen wür- ein Jahr und liess sich gut an. Molden: gut zu essen, blickte auf die Berge der den, nämlich den Gotthard, und dass «Wir haben uns immer redlich be- Urkantone, auf den Vierwaldstätter- es eine amerikanische Invasion bei müht, die Schweiz nicht in Verlegen- see – und wartete.» Genua geben könnte, die den deut- heit zu bringen, und die Schweizer Als sich herausgestellt hatte, dass der schen Truppen in Italien den Flucht- haben sich bemüht, nicht zu bemer- Gefangene die Wahrheit sagte, ging weg nach Frankreich abschneiden ken, wenn wir unsere Grenzen über- alles sehr schnell: Der Basler Rechts- würde. schritten...» anwalt Dr. Fritz Dickmann, Mitarbei- Nach mehrtägigen Verhandlungen Mindestens zwei Dutzend österreichi- ter der Aussenstelle «Pfalz» (Basel) kam es zu einem schriftlich niederge- sche Kuriere erhielten gefälschte von NS 1 und Leiter der Abteilung legten Abkommen: Die Schweiz Soldbücher und Wehrmachtspässe, wollte die Kuriere der österreichi- Molden allein deren fünf oder sechs, Soldbücher, Wehrmachtspässe, militärische schen Widerstandsbewegung mit je nach Bedarf italienische oder deut- Identitätskarten: Sie lauteten auf verschiedene Ausweisen, Waffen, Lebensmitteln sche. Er dachte sich die Lebensge- deutsche und italienische Namen, aber die Fo- und Geld unterstützen und ihnen so- tografie war immer dieselbe. Hinter Hans schichte selber aus, gab Truppenteile Steindier, Pietro Delago, Hans Steinhäuser und gar erlauben, in schweizerischen In- an, die er kannte – und die Schweizer Luigi Brentini verbarg sich immer der Kurier ternierungslagern festgehaltene Spezialisten setzten die richtigen und Verbindungsmann des österreichischen Landsleute mitzunehmen. Ausserdem Stempel ein! Tagelang wurden, meist Widerstands zur Schweiz, Fritz Molden. Alle durften die Österreicher in Zürich in Anwaltsbüros, ärztlichen Sprech- diese Ausweise wurden vom schweizerischen Nachrichtendienst gefälscht. zimmern und Hotels, Verhöre geübt. Allan W. Dulles: weis und hiess ihn warten. Dulles be- «Sie gaben den Kurieren für die ei- Spionagezentrum in der richtete: gene Bewaffnung auch deutsche und Berner Altstadt «Wenige Minuten später erklärte mir belgische Pistolen sowie Maschinen- ein französischer Gendarm, dass ein pistolen.» Ein Herr mit randloser Brille an der Befehl von der Pétain-Regierung aus Grössere Waffensendungen der Alli- Schwelle seiner fünfzig Jahre flog am Vichy eingetroffen sei, demzufolge ierten wurden durchgelassen. Die 2. November 1942 von New York alle Amerikaner und Engländer an der Transporte gingen meistens über nach Lissabon. Das war damals der Grenze festzuhalten seien. Marschall Schmuggelpfade im Tessin und über normale Weg, wenn man in die Pétain müsse direkt über solche Fälle die Brenner-Linie nach Österreich, Schweiz wollte. Allan Welsh Dulles informiert werden. Ich nahm den gelegentlich auch über die bedeutend war darauf vorbereitet, möglicher- französischen Gendarmen zur Seite besser bewachte liechtensteinisch- weise nie nach Bern zu gelangen, son- und hielt wohl die eindrucksvollste vorarlbergische Grenze. dern zum Beispiel einer Wehrmachts- und wortreichste Rede, die ich je in Auf dem gleichen Weg wurden in den streife in die Hände zu fallen. Am 8. französischer Sprache zustande ge- letzten Kriegsmonaten Hunderte von November war der Reisende in Bar- bracht habe. Ich erinnerte ihn an auf geflogenen und fliehenden Wi- celona. Als er an der französisch-spa- Lafayette und Pershing und machte derstandskämpfern in die Schweiz in nischen Grenzstation von Port-Bou ihm klar, dass ich unbedingt in die Sicherheit gebracht. Im Gegensatz zu Mittag ass, hörte er am Neben- Schweiz hinüber müsse. Meine Rei- zur sonst so strengen Asylpraxis wur- tisch: «Die Amerikaner und die Eng- sedokumente seien in Ordnung, und de von diesen speziellen Flüchtlingen länder landen in Nordafrika, die es bestünde kein Grund, mich festzu- keiner zurückgewiesen. Deutschen sind in Vichy-Frankreich halten. Ich versuchte ihn davon zu Der Mann übrigens, der, damals noch einmarschiert.» Der Amerikaner hatte überzeugen, dass Marschall Pétain Student, in Zürich von Alliierten, es eilig und setzte seine Reise fort. In ausgerechnet an diesem Tage gewiss Schweizern und andern das Geld für Annemasse, der letzten Station auf andere Sorgen hätte, als sich um die österreichische Widerstandsbe- französischem Boden, hatten alle Rei- meine Person zu kümmern. Ich liess wegung sammelte, war Hans Thal- senden den Zug zu verlassen: Pass- ihn einen kurzen Blick in meine mit berg. Er wurde viel später Botschafter kontrolle! Bei den Grenzbeamten Banknoten gefüllte Brieftasche wer- Österreichs in Bern! stand ein Mann in Zivil, der verdäch- fen. Aber weder patriotische Worte tig nach Gestapo aussah. Er notierte sämtliche Angaben in Dulles'‘Aus- noch ein kleines Vermögen, das ich in Wien das Ende der habsburgischen mir langsam eine Pfeife und zünde sie Aussicht stellte, schienen ihn ins Monarchie mit und kam zum ersten- umständlich an.» Wanken zu bringen. Er verschwand, mal nach Bern. «In Wahrheit war ich Allan W. Dulles, der schliesslich um zu telefonieren, und liess mich al- dort viel mehr Nachrichtenagent als nicht nur zu gemütlichen Abenden am lein auf dem Bahnsteig zurück. Ich Diplomat», vertraute er später seinen Kamin und zum Pfeifenrauchen nach sondierte das Gelände und überlegte, Memoiren an. Bern gekommen war, wusste natür- welche Möglichkeiten für eine Flucht 1919 gehörte Allan W. Dulles der lich, dass jeder seiner Schritte beob- bestünden. Sie wäre nicht einfach ge- amerikanischen Delegation bei der achtet wurde: «Ich war mir durchaus wesen. Pariser Friedenskonferenz an und war darüber im Klaren, dass die Schwei- Gegen Mittag endlich, kurz bevor der dabei, als der Vertrag von Versailles zer Behörden meine Telefongesprä- Zug nach Genf weiterfahren sollte, ausgehandelt wurde. 1920 kam Dul- che mit Washington kontrollierten. tauchte der Gendarm wieder auf und les nach Berlin, später nach Istanbul Deshalb pflegte ich öfter in derartige erklärte mir, ich solle schnell in den und dann noch für vier Jahre nach Gespräche besondere Äusserungen Zug steigen. Er flüsterte: ‘Allez, pas- Washington in die Zentrale, ehe er als einzuflechten – nämlich dann, wenn sez! Vous voyez que notre collabora- Partner in eine New-Yorker Anwalts- mir daran gelegen war, dass sie den tion n’est que symbolique!’ (‘Gehen firma eintrat, deren Seniorchef sein Schweizer Behörden zu Ohren ka- Sie! Sie sehen, dass unsere Zusam- älterer Bruder war. In der Folge men.» menarbeit mit den deutschen Besat- wurde Allan W. Dulles häufig als Aus der harmlosen Junggesellenwoh- zern nur symbolisch ist!‘)» Rechtsberater der Regierung beigezo- nung an der Berner Herrengasse wur- Auf diese Weise kam Präsident Roo- gen, insbesondere zu den Völker- den viele bedeutende Geheimdienst- sevelts geheimer Sonderbeauftragter, bundskonferenzen über die Rüstungs- operationen gesteuert. der einflussreiche Diplomat und nun- beschränkung. - In einer dunklen Januarnacht des mehrige Leiter des amerikanischen Jahres 1944 wurden – von wem wohl? – Waffen für zwanzig Männer und Geheimdienstes OSS (Office of Stra- Gespräche am Kaminfeuer tegic Studies) in die Schweiz, wo er hundert Handgranaten vom Schwei- die Aktivitäten dieser Vorgängerorga- Der Mann, der im November 1942 so zer Ufer des Luganersees her über den nisation der CIA in ganz Zentraleu- abenteuerlich in die Schweiz einrei- See nach Campione geschmuggelt, ropa leiten sollte. ste, war also ein denkbar erfahrener wo eine Streitmacht von sechs Cara- Experte auf dem internationalen Par- binieri die Herrschaft Mussolinis ver- kett. trat. Die Beamten ergaben sich ver- Sprössling einer illustren Familie In Bern mietete Dulles eine Wohnung dutzt, die Enklave Campione feierte Allan Welsh Dulles, geboren 1893, an der Herrengasse, von der Bekannte die Vereinigung mit dem bereits be- gehörte einer alten Politiker- und Di- erzählten, sie sei von oben bis unten freiten Süditalien und sagte sich vom plomatenfamilie der Ostküste an. Sein mit Büchern vollgestopft gewesen, Duce los. Das hatte zwei Vorteile für Grossvater war 1892 unter Präsident und hinter diesen Büchern hätten sich die Alliierten: erstens einen mächti- Harrison Aussenminister gewesen, mit an Sicherheit grenzender Wahr- gen Publizitätserfolg in der ganzen der Schwiegersohn dieses Mannes scheinlichkeit Abhörmikrofone be- Welt – soweit sie noch eine einiger- war Robert Lansing, der später Aus- funden. massen freie Presse besass – und senminister unter Woodrow Wilson Der Wohnraum wurde dominiert von zweitens die Schaffung eines idealen werden sollte. 1914, als der Erste einem mächtigen Cheminée. Diese Partisanenstützpunktes für Oberita- Weltkrieg ausbrach, schloss der junge Zierde gehobener Häuslichkeit war lien. Was die Schweizer Behörden auf Dulles soeben die College-Ausbil- für Dulles geradezu unentbehrlich. Er Schweizer Boden weder gestatten dung ab. Sein Bruder John Foster, der erklärte einmal: «In meinem Leben konnten noch wollten, war in Cam- nachmalige Aussenminister im Kabi- habe ich immer versucht, wichtige pione nun leicht zu machen: Es wur- nett Eisenhowers, war fünf Jahre älter. Gespräche an einem Kaminfeuer zu den ein Sender für die Verbindung mit Wie viele Söhne reicher amerikani- führen. Das Holzfeuer strahlt eine At- den Partisanenkommandos und ein scher Familien machte der Student mosphäre aus, die Menschen freier Ausbildungslager errichtet. Als die eine Weltreise, auf der er Indien und und ungezwungener werden lässt. Mini-Republik in finanzielle Schwie- China besuchte. 1916 trat er in den di- Sollte man etwas gefragt werden, rigkeiten kam, riet ihr Dulles, der Re- plomatischen Dienst ein, erlebte in worauf man nicht sofort eine Antwort gisseur des ganzen Coups, zur Her- weiss, kann man nachdenklich in die 104 züngelnden Flammen blicken. Reicht diese Pause nicht aus, dann stopfe ich ausgabe von Sonderbriefmarken, wor- tralität. Es war jedoch eine wohlwol- auf die Staatskasse saniert war. lende Neutralität. Ich musste sie na- - Dulles hielt die Verbindungen zu türlich von meiner Verschwiegenheit deutschen Widerstandsgruppen auf- und meinem guten Willen überzeu- recht. Er und seine Berner Mitarbeiter gen. Auch mussten sie wissen, dass besorgten Waffen, Geld, Verpflegung ich ihre Haltung verstanden hatte. So und Medikamente für die verschiede- wollten die Schweizer jede Aktion nen Kommandos der französischen von alliierter Seite verhindern, durch Widerstandsbewegung, deren Vertre- deren Bekanntwerden Deutschland ter nächtlicherweile – meist im Jura – die Schweiz beschuldigen könnte, die Grenze passierten und mit den eine der beiden kriegführenden Amerikanern verhandelten. Ähnlich Mächtegruppen bevorzugt zu haben. verfuhren die italienischen Partisanen, Man fürchtete, jeder offenkundige die mit der Zeit besonderer Aufmun- Bruch der Neutralität könnte von den terung bedurften, weil der zurückwei- Deutschen als Vorwand für Repressa- chende deutsche Widerstand bedeu- lien benutzt werden. Ich fügte mich tend zäher war, als ursprünglich ange- den Wünschen der Schweizer, soweit nommen worden war. ich konnte, und liess sie von Anfang - Natürlich war Dulles’ Büro auch ein an wissen, dass ich an einer Erkun-

Meldekopf für zahlreiche amerikani- dung der Schweizer Verteidigungs- sche Agenten in Hitler-Deutschland, massnahmen nicht interessiert sei. Von der Berner Altstadt aus dirigierte der zum Beispiel für «Wood», einen nachmalige CI A-Chef Allan W. Dulles die Wir bemerkten selbstverständlich, hochgestellten Diplomaten im Aus- Operationen des amerikanischen Geheimdien- dass der Schweizer Geheimdienst bei wärtigen Amt, der aus Hass auf Hitler stes OSS in Zentraleuropa. Die Schweizer wus- seiner Routinearbeit sowohl Kontakte wichtige geheime Nachrichten über sten es. zu den Alliierten als auch zu den deut- die deutsch-japanische Zusammenar- schen Geheimdienst-Organisationen beit im diplomatischen Kuriergepäck pflegte. Da die Schweiz neutral war, nach Bern zu transportieren pflegte. ten bedingungslosen Kapitulation an konnte sie solche Verbindungen zu - Aus der gleichen Quelle drang auch der Südfront zehn Tage vor dem all- beiden Kriegführenden aufrechterhal- ein Telegramm zu den Amerikanern, gemeinen Waffenstillstand führte. ten. Im Interesse ihrer eigenen Vertei- das zu den bedeutendsten des Krieges Die in wochenlangen überaus delika- digung waren die Schweizer dazu gehörte: Es handelte sich um eine ten und zähen Verhandlungen er- durchaus berechtigt. Missverständ- Nachricht der deutschen Botschaft in reichte Einigung hat mit Sicherheit nisse wurden dadurch auf ein Min- der Türkei, die ihrer Zentrale in Berlin Tausenden von Wehrmännern auf destmass beschränkt, dass ein Teil des voller Stolz taufrische Neuigkeiten beiden Seiten der Front das Leben ge- Schweizer Geheimdienstes vorwie- aus der dortigen britischen Botschaft rettet. Massgeblich am Zustandekom- gend mit den Deutschen in Verbin- meldete. Dulles wurde hellhörig und men dieser historischen Leistung war dung stand, der andere mit den Alli- gab den englischen Verbündeten ei- auch der damalige Major Max Wai- ierten. Roger Masson, Oberst im nen Tip. So konnte schliesslich «Ci- bel, Leiter der Aussenstelle NS 1 des schweizerischen Generalstab, pflegte cero» enttarnt werden, einer der er- Schweizer Nachrichtendienstes in seine Verbindungen zu Walter Schel- folgreichsten und listigsten Agenten Luzern, beteiligt, den Allan W. Dul- lenberg, dem Leiter von Himmlers des Zweiten Weltkriegs; er war der les zu seinen Freunden zählte. Dulles politischem Nachrichtendienst, dem Butler Seiner Exzellenz, des Bot- hatte viele Freunde in der Schweiz. sogenannten SD, Max Waibel und schafters Ihrer Majestät in Ankara... – Mit professioneller Diplomatie und seine engsten Mitarbeiter die Verbin- Die bedeutendste Leistung Dulles’ dennoch ausreichender Deutlichkeit dung zu uns. Was zwischen Masson aber war das Arrangement von gehei- schildert er das Verhalten der und Waibel geschah, die beide ihre men deutsch-alliierten Kapitulations- Schweiz ihm gegenüber, wobei er na- Berichte an General Guisan richteten, verhandlungen in Zürich und Ascona, türlich «vergisst», dass Amerika zu weiss ich nicht. Jedenfalls vertraute die zur Unterzeichnung einer separa- jener Zeit, gegen Ende des Völkerrin- ich Waibel, und ich habe es nie be- gens, immer massiveren Druck auf reut.» die Schweiz auszuüben verstand: «Mir gegenüber beachteten die Schweizer strikt die Regeln der Neu-

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Unser Nachrichten- dienst – Legende und Wirklichkeit

er Nachrichtendienst hat in den kritischen Zeiten d er Jahre 1939-1945 seine Aufgaben gut gelöst, Dwas ich hier ausnahmsweise hervorhebe, da der Nachrichtendienst ungerechtfertigten Kritiken ausgesetzt war. Die Lösung konnte nicht nach einem starren Schema erfolgen. Art und Weise der Nachrichtenbeschaffung muss den mit dieser Arbeit betrauten Offizieren überlassen blei- ben; nur die Grenzen ihrer Tätigkeit kann man vorschrei- ben. Die Aufgabenstellung verlangt eine sorgfältige Aus- wahl der mit nachrichtendienstlichen Aufgaben betrauten Personen; sie bedingt auch eine Ausbildung, die oft zeit- raubend sein kann. Die hierfür aufgewendete Mühe wird sich aber immer lohnen, und auch die Kosten stehen in keinem Verhältnis zu den Aufwendungen, welche Krisen- reaktionen erfordern, die durch ein Versagen des Nach- richtendienstes notwendig werden könnten. Generalstabschef Jakob Huber

Abenteuer und Kampf – das ist die Legende des Nachrichtendienstes. Die Wirklichkeit sieht anders aus und besteht in sorgfältiger, geduldiger Arbeit am Schreibtisch. 107

Eins der grossen Wunder, die der Schweiz im Zweiten Weltkrieg wi- «Lassen Sie Hausamann Dieser Offizier hat schon seit den Vor- derfahren sind, ist ihr Nachrichten- machen!» kriegsjahren eine Organisation aufgebaut, dienst: Aus der verschlafenen, durch die der General, der Generalstabschef und Mangel an Spezialisten und Geld fast Am 21. Januar 1942 schrieb Oberst- ich selbst als sehr wichtig betrachten; seit leutnant Masson dem Obersten Stadler dem Beginn der Feindseligkeiten hat sich handlungsunfähigen «Stallwache» in Uster, Mitglied des Verwaltungsrates diese Organisation noch weiterentwickelt. wurde eine Nachrichtenorganisation, von Hausamanns Firma, folgenden Hauptmann Hausamann ist deren verant- die von den Experten zu den besten Brief: «Herr Oberst, gestatten Sie, dass wortlicher Chef. Das einwandfreie Funktio- der Welt gezählt wurde und in den ich mich an Sie in Ihrer Eigenschaft als nieren dieser Dienststelle, das auf den al- Hauptquartieren aller ausländischen hoher Offizier wende, wenn es sich leinigen und intelligenten Initiativen dieses auch um eine Angelegenheit handelt, Offiziers beruht, macht seine Präsenz ab- Armeen hohes Ansehen genoss. die das Geschäftsunternehmen betrifft, solut unerlässlich. Auch eine nur zeitwei- Der Mann, der dies zustande brachte, dem Sie als Mitglied des Verwaltungs- lige Abwesenheit von Hauptmann Haus- war der Infanterie-Instruktor Roger rates angehören. amann würde einen der nützlichsten Zwei- Masson, der eigentlich nur aus Rou- Seit mehreren Monaten hat mich ge unserer Dienststelle lahmlegen. Ich be- tine- und Karrieregründen zu seinem Hauptmann Hausamann über seine nütze auch die Gelegenheit, zu versichern, delikate Lage auf dem Laufenden ge- dass die bemerkenswerte Tätigkeit dieses Posten gekommen war und zeitweise halten, in der er sich zufolge seiner lan- Offiziers stets die Aufmerksamkeit des über sich hinauswuchs. gen Dienste im Nachrichtendienst der Oberkommandierenden gefunden hat und Dabei half ihm die wehrpolitische Armee seinem Verwaltungsrat gegen- dass ich mich zu der wertvollen Mitarbeit Maxime, um die viele Länder mit ste- über befindet. Wenn ich mich nicht Hausamanns nur beglückwünschen kann. henden Berufsheeren die Schweiz be- schon früher an Sie gewandt habe, Gestützt auf diese Tatsachen und als di- neiden: Das Milizsystem bewährte dann deshalb, weil ich mich um einen rekter Vorgesetzter von Hauptmann Haus- Interessenausgleich zwischen meiner amann erlaube ich mir, Sie dringend zu bit- sich im Nachrichtendienst ganz be- Dienststelle und Ihrem Unternehmen ten, dafür sorgen zu wollen, dass er seinen sonders; dank ihm gelang es, Exper- bemühen und mit Rücksicht auf die ge- Militärdienst so lange fortsetzen kann, als ten aus allen erdenklichen Bereichen genwärtige internationale Lage prüfen es die internationalen Ereignisse rechtfer- des zivilen Lebens und deren weitrei- wollte, in welchem Mass Hauptmann tigen. chende Auslandsbeziehungen in den Hausamann seine zivile Tätigkeit wie- Genehmigen Sie, Herr Oberst, zusammen deraufnehmen könnte. mit meinem Dank im Voraus die Versiche- Dienst der Nachrichtenbeschaffung Nach Prüfung dieses Problems unter rung meiner vorzüglichen Hochachtung! zu stellen. Die Rolle der Schweiz als seinen verschiedenen Gesichtspunk- Armeekommando Drehscheibe der internationalen Be- ten sehe ich mich gezwungen, Sie drin- Nachrichten-und Sicherheitsdienst ziehungen, aber auch ihre traditionell gend zu bitten, Hauptmann Haus- Der Chef: Masson, Oberstlt.» nach aussen gerichteten Aktivitäten in amann die Fortführung seines speziel- len Auftrages im Interesse unserer Handel, Technik, Wissenschaft, Aus- Landesverteidigung zu ermöglichen. bildung, Kultur und Kunst konnten nachrichtendienstlich genutzt wer- den. Und die dies taten, waren keine professionellen Befehlsempfänger, sondern entschlossene, informierte Staatsbürger. Eine der eindrücklichsten Leistungen klar gesagt: Der Nachrichtendienst Trotz alledem wäre nichts falscher als dieser bürgerlichen Entschlossenheit steht und fällt mit den Persönlich- der Eindruck, der Schweizer Nach- half dem Lande genau in dem Zeit- keiten, die ihn betreiben. Fragen richtendienst sei ein perfekt funktio- punkt am meisten, als der Nachrich- des Alters, der Herkunft, des Ran- nierender Apparat in einer Zeit des tendienst im Aufbau steckte: Hans ges und der Laufbahn haben zu- kollektiven Versagens gewesen, so- Hausamanns privater Nachrichten- rückzutreten. Auch wenn es an zusagen ein eidgenössisches Superge- dienst, dessen grosse Verdienste un- persönlichen Intrigen und büro- hirn, das auf Knopfdruck unfehlbar bestreitbar sind, auch wenn zahlreiche kratischen Hindernissen nicht die richtige Lagebeurteilung und die Fragen und Fragwürdigkeiten um fehlte, hat der Schweizer Nach- zutreffende Prognose geliefert habe; diese Person und ihr Werk noch offen richtendienst im Zweiten Welt- auch in diesem Nachrichtendienst gab sein mögen. General Guisan hat es in krieg doch eine grosse Zahl von es Bürokraten und Versager, gab es seinem Bericht über den Aktivdienst Offizierspersönlichkeiten beses- Fehlleistungen, Intrigen und Macht- sen, die dank ihrer Bildung, ihrem kämpfe. Mehr als einmal hatte der Scharfsinn und ihrer Zivilcourage Schweizer Nachrichtendienst schlicht den Respekt breitester Volks- und einfach unwahrscheinliches schichten genossen. Als Beispiele Glück. Es ist verständlich, dass die mögen Max Waibel und Alfred von den direkt Beteiligten inspirierte Ernst gelten, die indes bei weitem nicht die einzigen sind. 108 Die Männer an der Spitze

Am Anfang und am Ende der Ge- schichte des Schweizer Nachrichten- dienstes im Zweiten Weltkrieg steht der Name eines Offiziers, der zeit- weise einer der mächtigsten Männer in der Schweiz war, der aber schliess- lich seine Tage in der tragischen Ein- samkeit des Schweigens und des Un- danks beenden musste: Roger Mas- son. Er hasste sein Büro im Bundeshaus, er zog das Bahnhofbuffet 2. Klasse in Lausanne vor. Bern wimmelte von Agenten. Dort waren zu viele Augen und Ohren, die das Kommen und Ge- hen zwischen Bahnhof und Bundes- haus registrierten. Roger Masson, klein gewachsen und eher unschein- bar, sass lieber zuhinterst am runden Tisch des grossen Restaurants bei sei- nem «petit blanc». Manchmal, wenn ein besonders wichtiger Agent oder Verbindungsmann auftauchte, be- stellte er Fondue, und während die Männer mit ihren Gabeln im heissen Käsebrei rührten, wurden die heisse- sten Aktionen des Schweizer Ge- heimdienstes zu Faden geschlagen. Roger Masson war kein Geheim- dienstchef, wie er im Büchlein steht, sondern ein Mann, der dem Ehren- wort des andern vertraute und der auch menschliche Verpflichtungen gewissenhaft einhielt. Viele seiner Mitarbeiter hielten ihn für zu anstän- dig. Als er am 19. Oktober 1967 in Oberstbrigadier Roger Masson machte aus spielten Apparat des Nachrichtendien- Lausanne gestorben war, schrieb ein dem verschlafenen schweizerischen Nachrich- stes nach Kriegsende nicht einmal in offensichtlich wohlinformierter Ne- tendienst innert kurzer Zeit ein vielbewunder- reduziertem Umfang aufrechterhielt, krologist in der «Tat»: tes, hochsensibles Instrument. Aber nach dem sondern eigentlich demontierte und Krieg wurden ihm schwere Fehler im Zusam- «Typisch für Roger Masson war sein menhang mit seinen Kontakten zu Schellenberg damit gerade bei den tüchtigsten Mit- unbedingtes Vertrauen in das Offi- vorgeworfen. Masson zog sich verbittert in den arbeitern ein Gefühl der Bitterkeit zu- ziersehrenwort und folglich auch in vorzeitigen Ruhestand zurück. rückliess. die Unterschrift seiner Mitarbeiter. In (oder gar kontrollierte) Literatur nicht Ein letzter Teil der Geschichte des ganz wenigen Fällen wurde dieses gerne davon spricht. Wir wollen es Schweizer Nachrichtendienstes im Vertrauen missbraucht. Aber im gan- nachher anhand von Beispielen tun. Zweiten Weltkrieg wird wohl für im- zen gesehen hat sich dieses Vertrauen Die militärische und die politische mer ungeschrieben bleiben. Minde- nicht nur menschlich, sondern auch Führung des Landes, die im Aktiv- stens acht Schweizer Spione sind in nachrichtendienstlich gerechtfertigt. dienst in so reichem Masse von den Hitler-Deutschland hingerichtet wor- Es gehört zu den ‚Berufsrisiken‘ eines Erfolgen des Nachrichtendienstes den. Der Bundesrat hält es für richtig, Nachrichtenmannes, dass er von sei- profitierte, war von solchen Fehllei- die Geschichten dieser im Dienste der stungen auch nicht frei. Die schlimm- Schweiz gefallenen Soldaten geheim- ste bestand darin, dass sie den einge- zuhalten.

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nem Auftraggeber kaltblütig fallenge- enburg studierte er Geschichte; er trat bekommen!» Darauf der Schweizer: lassen wird, wenn er ‚auffliegt’, und aber schon 1917 als Instruktionsoffi- «In meinem Land werde ich Mühe damit uninteressant wird. Nicht so bei zier der Infanterie in den Bundes- haben, so gute Noten ausreichend zu Oberstbrigadier Masson: Als der heu- dienst ein. Von 1928 bis 1930 bildete entschuldigen...» 1936 wurde Roger tige Bundeshausjournalist und Fern- er sich an der berühmten «Ecole su- Masson zum Stabschef der 1. Divi- sehmitarbeiter (später Pressechef des périeure de guerre» in Paris weiter, sion ernannt und noch im gleichen EMD, K.L.) Ernst Mörgeli von den einer seiner Lehrer war General Gi- Jahr als Sektionschef in die General- Nazis in Berlin (nach anderen Anga- raud. Zahlreiche Schweizer Offiziere, stabsabteilung berufen, wo er den ben: Leipzig, K.L.) durch ein Versa- namentlich Westschweizer, gingen Nachrichtendienst leiten sollte. Am 1. gen eines Gesandtschaftsmitgliedes damals an diese weltberühmte März 1942 wurde er zum Oberstbri- verhaftet (...) wurde, setzte Masson Kriegsakademie. In seinen späten gadier befördert. Bis dahin war er alles daran, um so schnell wie mög- Jahren liebte es Masson, die Anek- Oberstleutnant gewesen. lich einen deutschen Agenten in der dote eines bekannten Schweizer In Bezug auf die Karriere wurde der Schweiz stellen und verhaften zu kön- Truppenführers zu erzählen, der sei- Nachrichtendienst für Masson zur nen. (...) Nachrichtenchefs, die ihre nen zweijährigen Kurs mit der besten Sackgasse. Mehrere seiner Unterge- Mitarbeiter nicht im Stiche lassen, Note abgeschlossen hatte. Der Klas- benen, darunter vor allem Hans sind sehr, sehr selten.» Roger Masson senlehrer gratulierte ihm: «Mit diesen Hausamann, hatten versucht, dies zu wurde am 1. Juli 1894 in Zürich gebo- Qualifikationen könnten Sie in vermeiden, und sich beim General da- ren und absolvierte das Gymnasium Frankreich sämtliche Generalssterne für verwendet, Masson nach dessen in Lausanne. An der Universität Neu-

«Muss man denn erst tot mit Millionen von Toten und mit völlig gliedern des Völkerbundes gefragt: sein, um recht zu haben?» zerstörten Städten aus dem Krieg her- ‚Muss man denn erst tot sein, um recht vorgegangen. Inmitten dieses Zerstö- zu haben?’ Ich habe das Pech, dass rungswerks ist allein die Schweiz heil ich noch am Leben bin. Es ist paradox, geblieben, mit einer intakten Industrie aber sehr menschlich, dass man Gene- und mit Banktresoren voller Gold, und ral Guisan auf ein Reiterstandbild er- Am Ende seines Lebens war Roger sie hat nicht einmal dafür kämpfen hebt, während jene, die seine Befehle Masson ein verbitterter Mann. Beinahe müssen. Und jetzt, zwanzig Jahre spä- ausgeführt haben, in den Dreck gezo- blind, gezeichnet von Krankheiten und ter, werden in hinterhältigen Diskussio- gen werden. Ich hätte nie gedacht, von vermeintlicher Schmach infolge sei- nen wieder Probleme an die Öffentlich- dass ich eines Tages eine derartige ner vorzeitigen Versetzung in den Ru- keit gebracht, die niemand anders be- Abscheu vor der Demokratie empfin- hestand, hielt er nur noch mit wenigen treffen als die Leute, die damals die den würde.» Sieben Monate vor sei- Freunden die Verbindung aufrecht. Verantwortung trugen. nem Tod, am 22. März 1967, schrieb Massons Groll richtete sich besonders Ich kenne Ihre Meinung über den Wert Masson in einem weiteren Brief: «Um gegen Hausamann, den er im Verdacht von Hausamanns Informationen und die Wahrheit zu sagen: Ich lese die Ar- hatte, dass er alle Verdienste des möchte darauf nicht zurückkommen. tikel nicht mehr, die mir die Schuld zu- Schweizer Nachrichtendienstes für sich Ich habe seine Tätigkeit gedeckt und schreiben. Mein Nervensystem, das allein beanspruchen wollte und dies damit meine Pflicht als Chef erfüllt. durch die Ungerechtigkeit der Presse auch durch die Beeinflussung von Aber ich muss doch auch anmerken, zerstört worden ist, erträgt das nicht Buchautoren und Publizisten noch her- dass sein Verhalten – namentlich in der mehr. vorhob. Roess 1er-Affäre – befremdend war. Nach dem letzten Krieg hatte ich mit Die Presse, die ihm wegen seiner über- Seine Überspanntheit, sein Mangel an meinen 51 Jahren noch eine schöne zeugten Befürwortung einer strengen Mass und Gleichgewicht bereiteten mir berufliche Zukunft vor mir. Aber nach Zensur in Kriegszeiten ohnehin nicht Mühe. Aber ich denke, dass wir uns den Feindschaftsbezeigungen einiger gewogen war, hatte Masson durch die nicht öffentlich in der Presse dazu äus- Zeitungen, nachdem mich Kobelt hatte Diskussion über seine umstrittenen Be- sern können, ohne unserer Selbstach- fallenlassen und in Anbetracht der gegnungen mit SS-Brigadegeneral tung Abbruch zu tun. Es wäre ja ein un- Gleichgültigkeit Guisans (für den ich Walter Schellenberg stärker verletzt, als wahrscheinliches Schauspiel, wenn mich aufgeopfert hätte, um das Ver- man ahnen konnte. Zehn Monate vor sich Schweizer Nachrichtenoffiziere öf- trauen des Dritten Reichs in unsere Ar- seinem Tod zog er in einem Brief an ei- fentlich bekriegen würden, wo wir doch mee nach der Affäre von La Charité nen Freund, ebenfalls hoher Offizier im unsere Pflicht gemäss unserem besten wiederherzustellen), entschloss ich Aktivdienst, eine erschütternde Lebens- Wissen und Gewissen getan haben. mich, die Armee ‚aus Gesundheits- bilanz: «Zentraleuropa ist – wie Russ- Aristide Briand hat einmal vor den Mit- gründen‘ zu verlassen. Mit drei studie- land, Finnland, Norwegen, Nordafrika renden Kindern musste ich wieder bei usw. – mit einer zerstörten Wirtschaft, Null anfangen ...»

HO Verstrickungen mit Schellenberg ein Dazu kam, was Massons Untergebene Divisionskommando zu übertragen. bei allen Meinungsverschiedenheiten War dieser ungewöhnliche Vorstoss mit dem Chef einmütig bezeugten: Er Hausamanns beim General (durch war ein Mann, der seinen Mitarbei- Brief vom 10. April 1944) eine In- tern volles Vertrauen entgegen- trige gegen den Chef? Masson scheint brachte, der ihnen grösstmöglichen es nach seinem Ausscheiden aus dem Handlungsspielraum liess und sie, Amt geglaubt zu haben. Seit diesem ohne Rücksicht auf die eigene Stel- Schreiben war – zumindest nach lung, nach oben deckte, wo es ging. Massons Lesart – das Vertrauen zwi- Gegenrecht durfte Masson nicht von schen den beiden Männern gestört. allen erfahren, insbesondere damals Nichtsdestoweniger mag offenblei- nicht, als er sich in die Begegnungen ben, ob Hausamann nicht doch auch mit SS-Brigadegeneral Schellenberg aufrichtig das berufliche Fortkom- einliess. men seines Chefs im Auge hatte, den er «mit Fürsorge förmlich einzuhül- Armeereformer – während des len pflegte», wie Masson noch 1947 Aktivdienstes Nachrichtenchefs bestätigte. Unbestritten bleibt, was General Gui- Zwei Männer, deren Namen untrenn- san in seinem Bericht über den Aktiv- bar mit der Truppenordnung 1961 und dienst geschrieben hat: «Unser Nach- der erfolgreichen Hinwendung des richtendienst war zu lange das Bei- schweizerischen Heeres zu Gefechts- spiel für eine enge Auffassung, eine techniken und Organisationsformen Spartendenz, die heute unerklärlich im Rahmen der Realitäten und Mög- erscheint. In den Jahren 1930-1935 lichkeiten unseres Kleinstaates ver- umfasste dieser Dienst in Tat und bunden sind, haben im Aktivdienst an Wahrheit im wesentlichen einen Offi- vorderster Front als Führungsoffi- zier, den Chef des Nachrichtendien- ziere im Schweizer Nachrichtendienst stes, wenig oder keine Mitarbeiter gewirkt: Max Waibel und Alfred und einen Kanzleichef! Der Chef Ernst. wurde von den laufenden Verpflich- In der mühsamen Geduldsarbeit des tungen repräsentativer oder anderer Nachrichtendienstes, der nicht mit Art und durch die tägliche Büroarbeit grossen Konzeptionen und Strategien, absorbiert; überdies wurde er Gene- sondern mit Einzelheiten zu rechnen ralstabskursen zugeteilt und war da- gewohnt ist, mag sich der nüchterne, mit während mehrerer Monate im undogmatische Wirklichkeitssinn Jahr von seiner Aufgabe abgehalten. dieser Männer geformt haben, der sie Erst 1936 erhielt der neue Chef des zu Beginn der Hochkonjunktur gegen Nachrichtendienstes, nicht ohne helvetische Atommacht-Träumereien Mühe und dank der Unterstützung auftreten liess, was ihnen die unver- durch den ebenfalls neuernannten brüchliche Hochachtung Zehntausen- Chef der Generalstabsabteilung, ei- der von einfachen Wehrmännern ein- nen Teil des Personals und der Kre- Zwei führende Köpfe im schweizerischen trug. dite, die er benötigte, um einen dieses Nachrichtendienst. Oben: Max Waibel, der Alfred Ernst, zu Beginn des Weltkrie- Namens würdigen Nachrichtendienst nachmalige Waffenchef der Infanterie und ges Hauptmann im Generalstab, lei- aufzubauen – 1936, das heisst in ei- heimliche Friedensstifter in Oberitalien; un- tete das Büro D (Deutschland) in ten: Alfred Ernst, später Oberst – korpskom- nem Augenblick, wo die bereits be- mandant, der das Büro Deutschland leitete. Massons Nachrichtendienst. Ausser- drohliche europäische Lage schon dem gab es ein Büro F (Frankreich) seit Jahren ständige Wachsamkeit, ei- und ein Büro I (Italien). Mitte No- nen systematischen Plan für die Be- tes usw. erfordert hätte. Es war das vember 1939 wurde aus Sicherheits- schaffung von Nachrichten, die Er- Verdienst von Oberstleutnant Mas- gründen ein Teil des Nachrichten- richtung eines Spionageabwehrdiens- son, damals innert kürzester Zeit den dienstes aus der unmittelbaren Umge- Organismus zu schaffen, der es uns oft ermöglichte, innert nützlicher Frist wertvolle Nachrichten zu sam- meln.»

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Das Hotel Schweizerhof in Luzern war Sitz der legendäre Wiking-Linie, aufzubauen. len («Speer»), Zürich («Uto»), NS 1. Die Dezentralisierung der Nachrichten- Waibel, geboren 1901 und doppelter Schaffhausen («Salm») und Lugano zentrale wurde aus Sicherheitsgründen ange- ordnet. Oft wurden hier auch ausländische Doktor der Rechtswissenschaften («Nell»). Dort wurden vor allem die Emissäre empfangen. und der Volkswirtschaft, war der da- im kleinen Grenzverkehr erhältlichen mals seltene Typus des betont intel- Detailinformationen hereingeholt und bung des Generals ausgelagert und lektuellen, zurückhaltenden Berufs- die Grenzgänger sowie vom Ausland ins Hotel Schweizerhof nach Luzern offiziers. Er hatte seine Ausbildungs- in die Schweiz zurückkehrende Rei- disloziert, wo die Dienststelle mit zeit an der Berliner Kriegsakademie sende einvernommen. dem geheimnisvoll-nichtssagenden nicht dazu genutzt, sich den preussi- Max Waibels grösste Leistung be- Namen NS 1 (Nachrichtensammel- schen Kommandoton anzueignen, stand aber darin, dass er italienische stelle 1) eingerichtet wurde. Diese sondern hatte in dieser Zeit seine be- Freunde, die die Friedensfühler aus- Stelle stand unter dem Kommando sten und dauerhaftesten Nachrichten- streckten, zu Beginn des Jahres 1945 des damaligen Hptm i Gst Waibel, verbindungen geschaffen, die auf per- mit seinem Vertrauten Allan W. Dul- dem es gelang, innert kurzer Zeit ein sönlicher Freundschaft beruhten. les, dem Residenten des amerikani- Netz von zuverlässigen, hochgestell- Waibels NS 1 («Rigi») besass Au- schen Geheimdienstes in Bern, zu- ten und bestinformierten Gewährs- ssenstellen in Basel («Pfalz»), St.Gal- sammenbrachte. Auf eigene Verant- leuten in Deutschland, darunter die wortung und von keinem Vorgesetz-

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Max Waibels Landgut Dorenbach bei Luzern operation mit geheimdienstlichen stes in Friedenszeiten vorschlug. diente vielen Ausländern, die mit dem Nach- Mitteln sei der Krieg in Europa um Waibel wurde als schweizerischer richtendienst zu tun hatten und nicht gesehen sechs bis acht Monate abgekürzt wor- Militârattaché nach Washington werden wollten, als Unterkunft. den. Fest steht, dass Waibel auch We- kommandiert und erst 1954 zum ten gedeckt, organisierte Waibel die sentliches dazu beitrug, die hochent- Waffenchef der Infanterie befördert. geheimen Friedensgespräche in wickelten Industrie- und Hafenanla- Als Waibel auf seinem schönen Ascona, die schliesslich zu einem gen in Oberitalien sowie Kunst- Landsitz Dorenbach am Luzerner vorzeitigen Waffenstillstand an der schätze und Baudenkmäler von un- Dietschiberg im Ruhestand lebte, Italienfront führten. Mit Sicherheit schätzbarem Wert vor der Vernich- bahnte sich das Verhängnis an, das hat Max Waibel mitgeholfen, Zehn- tung zu bewahren. sein Lebensende überschattete: Der tausende von Soldaten und Zivilper- Ebensowenig wie seinem Chef Mas- passionierte Pferdefreund, dem es sonen vor einem sinnlosen Tod in son blieben Waibel Enttäuschungen eine Freude war, gelegentlich Kin- letzten, aussichtslosen Gefechten zu und späte Tragik erspart. Bundesrat dern Reitunterricht zu geben, lernte in retten. Der damalige Oberkomman- und Armeeführung schenkten ihm Reiterkreisen den Luzerner Kauf- dierende der Alliierten im Mittel- kein Gehör, als er nach dem Waffen- mann Ernst Brunner kennen. Der rou- meerraum, Feldmarschall Sir Harold stillstand dringend die Aufrechterhal- tinierte Nachrichtenoffizier, der ge- Alexander, vertrat sogar die Mei- tung des Schweizer Nachrichtendien wohnt war, Situationen realistisch nung, durch diese gewagte Friedens-

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Max Waibel, wie ihn keiner kannte: Der passio- nierte Pferdefreund liebte es, den Kindern der Mitglieder einer Luzerner Reitgesellschaft Un- terricht zu erteilen. Die Liebe zu den Pferden teilte er mit dem Luzerner Bankier Ernst Brun- ner, der den ahnungslosen Waibel als Verwal- tungsratspräsidenten für seine Schwindelbank zu gewinnen vermochte. Als die Bank nach Brunners Freitod mit Millionenverlusten zu- sammenbrach, nahm sich Max Waibel das Le- ben.

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einzuschätzen und schillernden Figu- ren mit Vorsicht zu begegnen, erwies sich als zu vertrauensselig: Er liess sich zum Verwaltungsratspräsidenten der Brunnerschen Privatbank ma- chen, ohne zu ahnen, dass er als eh- renwertes Aushängeschild einer Schwindelfirma missbraucht wurde; sowenig wie viele andere namhafte Freunde Brunners durchschaute Wai- bel den falschen Glanz, den der Ge- sellschaftslöwe, Kunstmäzen, Pferde- freund und Bonvivant Brunner um sich zu verbreiten verstand. Als der Bankier, der nach dem Krieg als Ver- treter für Veloversicherungen und als Medikamentenschieber begonnen ha- tte, gegen dreissig Millionen Franken fremdes Geld verspekuliert und verju- belt hatte, schluckte er Zyankali. Die schöne Fassade brach zusammen, die Bank geriet in Konkurs. Obwohl fest- stand, dass Max Waibel keinerlei un- lautere Handlungen begangen hatte, ertrug der altgediente Offizier die Schande nicht. Nach einem letzten Ausritt erschoss er sich in der Nacht zum 21. Januar 1971.

Der eigenwillige Patriot Zu den eigenwilligsten und umstrit- tensten Gestalten der Schweizer Nachrichtenszene vor dem und im Aktivdienst zählt der 1897 geborene St.-Galler Kaufmann Hans Haus- amann, der vor allem mit Fotoartikeln handelte und eine Ladenkette in meh- reren Schweizer Städten gründete. Hausamann war einer der jüngsten Offiziere, die es in der Schweizer Ar- mee je gegeben hat! Schon als 19jäh- riger absolvierte er die Offiziersschu- le, nachdem er sich bei Kriegsaus- Hans Hausamann wurde vom begeisterten Mi- populären und vielbeachteten Presse- bruch vorzeitig zur Armee gemeldet lizoffizier und Propagandisten einer starken dienst, wurde Pressechef der Schwei- Armee zum Kopf eines legendären privaten hatte. Nachrichtendienstes. zerischen Offiziersgesellschaft und Hausamann, der 1925 in St. Gallen begann Armeefilme zu drehen, die und 1930 an der Bahnhofstrasse in hungen in nachrichtendienstlicher weit im Lande herum grosse Beach- Zürich eigene Geschäfte eröffnet hat- Richtung aus, ohne vorerst irgendei- tung fanden – insbesondere in Ver- te, kam durch seine Branche zwangs- nen offiziellen Auftrag zu besitzen. bindung mit seinen ungezählten Vor- läufig mit einflussreichen deutschen Hausamann war ein begeisterter Offi- trägen. Aus dieser privaten Filmtätig- Industriellen und Kaufleuten in Kon- zier, der in den dreissiger Jahren un- keit ging später der Armeefilmdienst takt. Allmählich baute er diese Bezie- ermüdlich für eine starke Armee hervor. Die Annahme der Wehrvor- warb. Früh machte er sich professio- lage von 1935 ging zu einem guten nelle Techniken der Massenbeein- Teil auf das Konto Hausamanns, der flussung zunutze! Er gründete einen sich in der Folge mit der ausdrückli-

116 chen Zustimmung Mingers als wehr- Im gleichen Brief machte Hausamann men muss, ist für jede Hilfe dankbar, politischer Berater der nach peinvol- zahlreiche Vorschläge für eine ge- zumal der Bundesrat aus neutralitäts- len internen Krisen auf die Befürwor- schicktere und wirksamere deutsche politischen Gründen noch nicht bereit tung der Landesverteidigung einge- Propagandatätigkeit im Ausland und ist, den Nachrichtendienst zügiger schwenkten Schweizer Sozialdemo- bot abschliessend seine Dienste an: auszubauen. kratie betätigte. «Ich bin jedoch zu jeder Besprechung Parallel mit der sich anbahnenden Offensichtlich hat auch Hans Haus- bereit, wenn Sie eine solche wün- Spionagetätigkeit – Hausamann in- amann die gleiche politische Ent- schen. Ich bin ferner gerne zu Ihrer stalliert in seinem Teufener Haus eine wicklung durchgemacht, die für weite Verfügung, wenn ich Ihnen in der Or- Funkstation – geht die öffentliche Kreise des einflussreichen Schweizer ganisation Ihrer Auslandspropaganda Kampagne des Privatmannes für eine Bürgertums in den dreissiger Jahren nützen kann.» Hausamann hat später stärkere Armee einher. Er findet dabei nicht unüblich war. Als Hitler an die diesen Brief ausdrücklich als authen- durchaus nicht immer den Beifall der Macht kam, war man von seinem tisch anerkannt und ihn damit erklärt, Behörden und der militärischen Spit- kämpferischen Antikommunismus, dass er mit den neuen Machthabern zen. In einer 1937 veröffentlichten seinen krisenwirtschaftlichen Sanie- habe ins Gespräch kommen wollen Broschüre prangert Hausamann in al- rungsversprechen und seiner autoritä- und die Töne habe anschlagen müs- ler Offenheit schwerwiegende Män- ren «Politik der starken Hand» beein- sen, die bei diesen Leuten gut anka- gel der schweizerischen Landesver- druckt. Am 8. April 1933, zwei Wo- men. Aber auch wenn es sich um ei- teidigung an: chen nach Erlass des Ermächtigungs- nen aufrichtig gemeinten Sympathie- «1. Bei uns weiss der Füsilier nicht gesetzes, schrieb Hausamann dem beweis gehandelt hätte und nicht einmal, wie er ein Maschinengewehr Generalkonsul Crull nach Berlin: bloss um die Finte eines Nachrichten- bedienen muss. «Als ebenfalls national orientierter mannes – der Brief und die vielen Be- 2. Unsere Füsiliere wissen nicht, wie Ausländer habe ich grösstes Interesse lege für die Tätigkeit Hausamanns in man mit einem Minen werf er oder ei- an der Festigung des heutigen Regi- den folgenden Jahren wären nicht ner Infanteriekanone zu schiessen hat. mes in Deutschland. Interesse des- mehr und nicht weniger als ein Doku- 3. Unsere Truppen wissen erst zum halb, weil meiner – unmassgeblichen ment für die politische Haltung und kleinsten Teil, wie eine Gasmaske – Meinung nach die Umwälzung in den Sinneswandel eines breiten Teils aufzusetzen ist. Deutschland meinem eigenen Land des Schweizer Bürgertums in den 4. In jedem Manöver ist zu sehen, schwere innenpolitische Auseinan- dreissiger Jahren! wie wenig Truppe und unterste Füh- dersetzungen erspart hat – und noch rung vom taktisch richtigen Einsatz ersparen wird. Ich sage wohl nicht zu- Das «Büro Ha» entsteht moderner Waffen wissen. viel, wenn ich erkläre, dass die bür- Schon 1936, als Masson seinen Po- 5. Unsere Truppen wissen zum gerliche Schweiz ein eminentes Inter- sten als Chef des Nachrichtendienstes kleinsten Teil, wie Gelände richtig esse hat, in Deutschland auch weiter- antritt, wird Hausamann zu seinem ausgenützt und dem militärischen hin eine national orientierte Regie- Mitarbeiter. In seiner Eigenschaft als Zweck dienstbar gemacht wird. rung am Ruder zu wissen.» Pressechef der Offiziersgesellschaft 6. Es haben nicht einmal alle Offi- reist er in zahlreiche Städte Europas ziere Handgranaten geworfen, von Dieses Telegramm Hausamanns an Masson und knüpft Nachrichtenverbindungen den Soldaten gar nicht zu reden.» beweist: Das «Büro Ha» meldete dem Armee- kommando den Ausbruch des Zweiten Welt- an. Der Aufbau des «Büros Ha» be- Zu Beginn des Aktivdienstes wird krieges zwei Tage vor dem deutschen Angriff ginnt; Masson ist orientiert und ein- Hauptmann Hausamann samt seinem' auf Polen. verstanden. Er, der mit einem Jahres- privaten Nachrichtendienst mobili- budget von 30‘000 Franken auskom- siert. Die um eine pensionierte Tele-

117 grafistin als Funkerin und um eine Bü- roordonnanz verstärkte Zentrale bleibt in Teufen und konzentriert sich auf die kriegspolitischen und militärischen Vorgänge in Deutschland sowie auf die Abfassung von Lageberichten. Erst später siedelt das «Büro Ha» nach Kastanienbaum bei Luzern um, wo es sich unter dem Decknamen «Pilatus» in der «Villa Stutz» einrichtet, wäh- rend die NS 1 im Hotel Schweizerhof Quartier bezogen hat. Auch die räum- liche Trennung dokumentiert die von Hausamann während des ganzen Ak- tivdienstes erfolgreich durchgesetzte Selbständigkeit seiner halbamtlichen Organisation, die trotz befehlsmässi- ger Unterstellung unter Masson direk- ten Zugang zum General und zum spä- teren Chef des EMD, Bundesrat Karl Kobelt, beibehält. Hausamann gehörte dem von Alfred Ernst im Juli 1940 gegründeten Offi- ziersbund an. Insgesamt 37, vorwie- gend im Generalstab eingeteilte Offi- ziere verschwören sich, im Notfall auch gegen den Willen von Bundesrat und General Widerstand zu leisten. Die Verschwörung der Patrioten wird schnell aufgedeckt; General Guisan, mehr erfreut als erbost, verknurrt die Rädelsführer zu symbolischen Arrest- strafen und spricht ihnen unverblümt sein Wohlwollen aus. Im September 1940 tritt Hausamann wieder in Erscheinung, diesmal als Mitbegründer der «Aktion Nationaler Widerstand», die der wachsenden Re- signation und Mutlosigkeit nament- lich der zivilen Behörden angesichts der deutschen Blitzsiege bedingungs- losen Abwehrwillen entgegensetzt.

Oben: Die Meldungen des «Büro Ha» wurden verschlüsselt. Von Hand mussten sie in mühsa- mer Arbeit entschlüsselt werden, wie dieser La- gebericht von der Ostfront (November 1941). Nicht weniger angewiesen war der Nachrich- tendienst auf unbekannte Helfer, zum Beispiel für das Abhören fremder Sender (unten).

118 Zu den Mitgliedern dieser Aktion ge- hören nun auch prominente Sozialde- mokraten wie Hans Oprecht und Walther Bringolf nebst bürgerlichen Persönlichkeiten wie Walter Allgö- wer, dem Journalisten Ernst von Schenck, den Theologen Karl Barth und Richard Gutzwiller, Nationalrat Theodor Gut und dem nachmaligen Botschafter August Lindt. Nach dem Krieg wird Hausamanns Tätigkeit von zahlreichen Seiten als eigenmächtig und in ihrem Wert stark überschätzt bezeichnet. Im Zusam- menhang mit der Untersuchung gegen Masson über dessen Kontakte zu Schellenberg wird in der Presse be- hauptet, Hausamann habe gegen sei- nen Chef intrigiert. In mehreren Ehr- verletzungsprozessen, die Hausamann anstrengt, können die Vorwürfe nie bewiesen werden. Die Verfahren en- den mit Vergleichen, die zugunsten Hausamanns lauten.

Wertvolle Dienste ohne Bezahlung Hausamann, der sich nach eigenen Angaben für seine Tätigkeit verschul- det hatte und zeitweise sein Geschäft vernachlässigte, bezog, wie der Bun- desrat in der Antwort auf eine Einfa- che Anfrage 1973 feststellte, lediglich Ersatz für belegte Barauslagen. Gleichzeitig hielt der Bundesrat fest: «Darüber hinaus hat er dem Land aus eigener Initiative und ohne Bezahlung wertvolle Dienste geleistet. Die vor- handenen Dokumente stammen im wesentlichen aus dieser Tätigkeit.» Hans Hausamann starb am 17. De- zember 1974 während eines Erho- lungsaufenthalts in Locarno.

Am 25. Juli 1940 versammelte General Guisan alle Kommandanten vom Bataillon an aufwärts zum historisch gewordenen Rütlirapport. An der Wiege unserer Demokratie erläuterte er den Befehl zur Bildung des Reduits. Der Rüt- lirapport stärkte die Widerstandsbereitschaft von Armee und Bevölkerung entscheidend.

119 So arbeitet unser nahe Räume beschränken können. stieg, mutet auch angesichts des Mi- Nachrichtendienst Für die Schweiz hatte das geheissen, lizsystems heute noch wie ein Wunder ihre Agenten in jene grenznahen Ge- an. Nichts ist gefährlicher für eine Armee genden zu entsenden, die als Be- als überrascht zu werden. Es ist des- sammlungsorte und Aufmarschge- Die Aufgaben halb das Ziel jedes militärischen biete allfälliger Angreifer in Frage ge- Nachrichtendienstes, die Absichten kommen waren. Ganz anders im Jeder militärische Nachrichtendienst möglicher Feinde zu erkunden, um Zweiten Weltkrieg! Die Motorisie- soll frühzeitig alles erfahren, was die Überraschungen auszuschliessen. rung und die ungleich grössere Be- politischen, wirtschaftlichen und mili- Dass Länder mit stehenden Heeren deutung der Flugwaffen erweiterte tärischen Kampfmethoden des poten- mit starken, ständig in Grenznähe sta- die Operationsgebiete weit über die tiellen Gegners betrifft, seine Trup- tionierten Truppen dieser Gefahr we- grenznahen Räume hinaus. Die penstandorte und Aufmarschpläne, niger ausgesetzt sind als ein neutrales schnellen und getarnten Bewegungen seine Waffen und seine Nachschubor- Land mit einer Milizarmee, liegt auf von Kampftruppen und Nachschub- ganisation, die Qualität seiner Kader, der Hand. So lastete denn auf dem transporten konnten sich über Hun- die Lage und Stärke seiner Befesti- schweizerischen Nachrichtendienst derte, ja Tausende von Kilometern gungen, die Moral seiner Truppen, die im Zweiten Weltkrieg die ganze Last hinziehen. Der Nachrichtendienst Projekte für technische Neuerungen, der Auslandserkundung, denn abgese- wurde zur weiträumigen Fernaufklä- die wehrwirtschaftlichen Ressourcen, hen von den Grenzpatrouillen der mo- rung gezwungen. Brigadier Masson die strategischen und operativen Mög- bilisierten Heereseinheiten konnte gab als Beispiel zu bedenken, «dass lichkeiten und Absichten, ob kurz-, und durfte die Truppe im Grenzland es unserem Nachrichtendienst nicht mittel- oder langfristig, die Stärken nicht selber beim Nachbarn erkunden. gleichgültig sein konnte, ob die Ge- und Schwächen, die Verluste und die Sodann ist zu berücksichtigen, dass birgsdivisionen der deutschen Wehr- Gewinne, das Verhältnis zur Zivilbe- die Nachrichtenbeschaffung zwar die macht, deren genaue Zahl und Gliede- völkerung und, und, und... entscheidende, aber nicht die einzige rung uns bekannt waren, noch in Der Zweite Weltkrieg, der den totalen Tätigkeit des Nachrichtendienstes Finnland oder im Kaukasus standen Krieg darstellt, wurde auch zur Ge- sein kann. In einem nach Kriegsende oder ob sie von diesen Fronten abge- burtsstunde der totalen Spionage, die veröffentlichten Bericht beleuchtete zogen und zu anderer Verwendung in schlechthin an allem interessiert ist, Oberstbrigadier Roger Masson die die Nähe der Schweiz verschoben was sich bei der gegnerischen Truppe Problematik, mit der er sich täglich worden waren». und im gegnerischen Hinterland tut. hatte herumschlagen müssen. Nachrichtendienst war längst nicht Die deutsche Spionage in der Schweiz «Seitdem die Propaganda und die mehr die Sache kühner Einzelgänger, bewies laufend, dass selbst scheinbar Verbreitung falscher Nachrichten zu sondern eine Kombination aus wis- belangloseste und bekannteste Dinge wahren Wissenschaften geworden senschaftlicher Systematik, Intuition, plötzlich dramatische Wichtigkeit er- sind, macht die Auswertung (als zwei- Erfahrungen, Beziehungen und Mut- langten, wenn es galt, ein fehlendes te nachrichtendienstliche Haupttätig- massungen – mithin eine Arbeit, die Mosaiksteinchen zu finden oder eine keit, K. L.) der ausserordentlich um- nur noch von einem grossen und straff noch zweifelhafte Information zu be- fangreichen Forschungsarbeit die geführten Apparat, bestehend aus dis- stätigen. So wurden sogar Telefonbü- Überprüfung von Hunderten, sich ziplinierten und tüchtigen Experten, cher und Stadtpläne, die Adressen von häufig widersprechenden Meldungen zu leisten war. Diese sprunghaft ge- Zeitungsredaktoren und Synagogen, notwendig. Diese Arbeit verlangt von wachsene Bedeutung des Nachrich- die Speisezettel der Feldküchen und den Beteiligten kaltes Blut, Sinn für tendienstes schlug sich, einmal er- die technischen Daten der Pferdegas- das Mass und die Möglichkeiten eines kannt, auch in den Personalbeständen masken zu nachrichtendienstlichen allfälligen Angreifers sowie erhebli- des schweizerischen Nachricht en- Objekten. che Vorstellungskraft.» Dazu kam dienstes nieder, der noch im August Dass sich die Neugier des schweizeri- schliesslich, dass sich die Kriegstech- 1939 lediglich zehn Personen umfasst schen Nachrichtendienstes vor allem nik seit dem letzten Ernstfall, der hatte: Im Aktivdienst standen auf die Achsenmächte, insbesondere Grenzbesetzung 1914-1918, wesent- schliesslich bis 120 Mann vollamtlich auf Deutschland, konzentrierte, war lich verändert hatte: Damals hatte sich zur Verfügung; dass das jährliche angesichts der Bedrohungslage klar. der Nachrichtendienst noch auf front- Budget 750‘000 Franken nie über- Dass der Nachrichtendienst indirekt

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Maschinengewehr schütze im Kampfflugzeug und Bestehenlassen einer privaten ren Brigadier Roger Masson, vom C-35. Die Schweizer Flugwaffe wurde wäh- Nachrichtenorganisation wie derjeni- März 1941 an neben dem eigentli- rend der Frankreichoffensive an der Jura- grenze im Ernstfall geprüft. Kurz darauf war gen von Hauptmann Hausamann ver- chen Nachrichtendienst (Nachrich- sie das Ziel der fehlgeschlagenen Sabotageak- ständlich: Sie konnte sich weiter vor- tenbeschaffung und -auswertung) tion «Wartegau». wagen als der offizielle Nachrichten- auch die Spionageabwehr unterstand. dienst; im Fall einer Panne hätten die Der Nachrichtendienst war vorerst zur Kampftruppe wurde, als er zum politischen Behörden und die Armee- eine Sektion innerhalb der Untergrup- Beispiel den Nachrichtenfluss von führung noch immer die Möglichkeit pe I a (Front) des Armeestabs und Roessler zu den Sowjets nach Genf gehabt, sich zumindest nach aussen wurde am 21. Februar 1941 zu einer deckte oder vor den Aktivitäten des von solchen privaten Aktivitäten zu selbständigen Abteilung innerhalb Netzes «Pakbo» wohlwollend die Au- distanzieren und das neutrale Gesicht der Untergruppe I b (Nachrichten- gen verschloss, war logisch, wenn zu wahren. und Sicherheitsdienst). 1944 wurde auch neutralitätspolitisch gefährlich; diese Untergruppe um den Territori- denn je länger und stärker Deutsch- Die Organisation aldienst erweitert. Räumlich und per- land als praktisch alleinige mögliche sonell waren innerhalb des Nachrich- Feindmacht seine Truppen an der Die Besonderheit des militärischen tendienstes die Beschaffung (NS 1 in Ostfront binden musste, desto gerin- Nachrichtendienstes im Zweiten Luzern) und die Auswertung (Büros ger wurde die Gefahr für die Schweiz. Weltkrieg bestand darin, dass seinem D, F und I beim Armeestab) getrennt. So wird auch einer der Hauptgründe Chef, dem Oberstleutnant und späte- für das systemwidrige Gewähren-

121 Die Abwehr unterstand organisato- nen Amtsstellen des Bundes und der risch der Abteilung für Sicherheits- Kantone (Bundesanwaltschaft, Politi- dienst, wurde aber aus sachlichen sches Departement, Grenzsanitäts- Gründen dem Nachrichtendienst an- dienst), mit den Zoll- und Grenzorga- gegliedert. Im März 1941 wurde zu- nen, durch die Auswertung der in- sätzlich der Sicherheitsdienst der Ar- und ausländischen Presse und die mee geschaffen, eine Spitzenorgani- Meldungen der Nachrichtenagenturen sation zur Koordinierung von Spiona- sowie durch die Überwachung von geabwehr, Heerespolizei und Polizei- Auslandspost, Telefon und Tele- sektion des Territorialdienstes. graph; viele bürgerliche Grundfrei- heiten waren ja durch Notrecht ausser Kraft! Besondere Bedeutung kam dem von der Verbindungssektion der Gruppe Die Quellen la (Front) betriebenen Abhorch- und Man wird sich damit abfinden müs- Peildienst zu. Im 24-Stunden-Betrieb sen: Kein guter Nachrichtenmann wurden der kommerzielle Telegraf en spricht über seine Quellen. Neben den verkehr, der Marine- und der auslän- Linien Roesslers bestand als zweite dische Militärfunkverkehr, ausländi- besonders wertvolle Nachrichtenver- sche Polizeifunkstationen, der Presse- bindung die von Waibel aufgebaute Hellschreiberdienst sowie die Nach- Wiking-Linie, die über die Aussen- richtensendungen von Telefonrund- stelle Pfalz (Basel) des NS 1 Informa- spruchstationen abgezapft, wobei die tionen in die Schweiz lieferte. Masson besondere Aufmerksamkeit natürlich den Sendungen der Kriegführenden sagt über die Wiking-Linie: «Eine un- galt. Weitere Informationen kamen serer wichtigsten Quellen, aus der be- Halt, Schweizer Gebiet! Diese Warnungen ent- sonders wertvolle Informationen über lang der Grenze waren trotz der Drohung mit aus dem in erster Linie für den Bun- operative Verschiebungen deutscher Schusswaffen häufig nur Papier; nicht allein desrat bestimmten Dienst zum Abhö- Truppen flossen, befand sich im ‚Füh- Flüchtlinge, auch Spione missachteten sie. ren fremder Radiostationen und aus rerhauptquartier‘ selbst. Wir erfuhren dem Flugfunkverkehr. Auch diese oft von Verschiebungen grosser Ver- Dienste waren übrigens bei Kriegsbe- Das tägliche Brot der schweizeri- ginn in keiner Weise organisiert; es bände, lange bevor die Transportbe- schen Nachrichtenleute bestand aber wegungen einsetzten. Beispielsweise, fehlten die Apparate und die fachlich wie in allen Geheimdiensten der Welt ausgebildeten Kräfte. Die ersten Mo- dass das deutsche ‚Führerhauptquar- aus der systematischen Auswertung tier’ nach Ziegenberg im westlichen nate wurden mit freiwillig gestellten offener und halboffener Quellen, die privaten Kurzwellenempfängern von Deutschland verlegt wurde, wussten in Quervergleich und Kombination wir, bevor Hitler selbst sich dort nie- Sendeamateuren überbrückt. oft zu überraschenden neuen Erkennt- Schliesslich wurden Tausende nach- dergelassen hatte. Die auf diese Weise nissen führte. Solche Quellen waren erhaltenen Informationen wurden richtendienstlicher Einvernahmen die laufenden Berichte des diplomati- von Flüchtlingen, Deserteuren, Inter- dann durch zahlreiche Einzelaktionen schen Dienstes, insbesondere der von Agenten sowie mit allen anderen nierten, Grenzgängern, Ausland- schweizerischen Militârattachés, die schweizern und Rückreisenden zur Verfügung stehenden Mitteln zu Beginn des Aktivdienstes in Ber- überprüft, so dass aus den vielen Mo- durchgeführt. Was für eine gewaltige lin, Paris und Rom akkreditiert waren. Geduldsarbeit hier geleistet wurde, saiksteinchen ein klares Bild der Lage Erst im Frühjahr 1941 wurde ein ent- geformt werden konnte.)} Gute Nach- geht beispielsweise aus dem Schluss- sprechender Posten in London ge- bericht des Büros Zürich («Uto») der richten über die letzten Kriegsphasen schaffen, derjenige in Washington so- vor der Süd- und der Ostgrenze gingen NS 1, datiert von Ende Juni 1945, her- gar erst im Juli 1943, anderthalb Jahre vor: ausserdem aus den von Waibel ge- nach dem Eintritt der USA in den führten Waffenstillstandsverhandlun- «Wie wir an Hand unserer Kartothek Krieg. Im Verlauf des Aktivdienstes feststellen konnten, sind insgesamt gen zwischen Februar und April 1945 wurden auch Militârattachés nach hervor. Ankara, Helsinki, Stockholm und Bu- dapest entsandt. Weitere Nachrich- tenquellen wurden erschlossen durch die Zusammenarbeit mit verschiede-

122 gesamt über 4‘900 Einvernahmen ge- Geschichte der schweizerischen Neu- wir alles erfahren haben, was sich in macht worden, bei 3‘400 Einvernom- tralität im Zweiten Weltkrieg und die den höchsten Führungsgremien tat. menen. Da die Kartothek nicht bei im Bundesarchiv noch erhaltenen Do- Wir haben sehr viele sehr wertvolle Beginn unserer Tätigkeit begonnen kumente bearbeitet hat – soweit sie Informationen rechtzeitig erhalten, wurde und nach dem Ausscheiden nicht nach Kriegsende im Freiburger wobei uns zweifellos verschiedent- von Hptm H. im Sommer 1940 von Gaswerk verbrannt wurden –, fasst lich auch ausgesprochene Glücksfälle diesem zahlreiche Berichte direkt an zusammen: zu Hilfe kamen. So traf es sogar zu, die NS 1 geleitet wurden, ist mit einer «Das während des Zweiten Welt- dass der schweizerische Nachrichten- erheblich grösseren Berichtszahl zu kriegs vom schweizerischen Nach- dienst Meldungen früher erhielt als rechnen.» richtendienst auf gebaute Nachrich- die deutschen Befehlsempfänger, dies Der Militärhistoriker Dr. Hans Rudolf tennetz reichte mit seinen letzten Ver- aber nur in Einzelfällen. Der Grund Kurz, der für Professor Bonjour die ästelungen bis in die geheimsten Füh- liegt darin, dass uns ein deutscher Of- nachrichtendienstlichen Aspekte der rungszentren des möglichen Gegners fizier, der Kurierdienst leistete, gele- – das Reichskriegsministerium und gentlich Wichtiges aus seinen Akten das Führerhauptquartier – hinein. Aus übermittelte, so dass wir tatsächlich In der Spionageabwehr erfüllte die Heerespoli- der ziemlich grossen Zahl guter und noch vor den deutschen Kommando- zei wichtige Aufgaben. Oft kamen in ihren sehr guter Nachrichtenlinien, die uns stellen, für welche die Meldung be- Strassenkontrollen, bei denen die Identität der zur Verfügung standen, darf aller- stimmt war, bedient wurden.» Reisenden und ihr Gepäck überprüft wurden, ausser Rationierungssünden auch Spionage- dings nicht geschlossen werden, dass fälle zum Vorschein.

123 Erstaunliche Leistungen, chen vor den Angriffen auf Däne- des Westfeldzugs «ab 8. Mai täglich» grosse Erfolge mark und Norwegen, war einer der voraussagte, durfte man ihm, gestützt Vertrauensleute Waibels, der Verbin- auf die guten Erfahrungen, vertrauen. General Henri Guisan schreibt in sei- dungen zum Oberkommando der Er betonte auch, dass wohl die Neu- nem Bericht an die Bundesversamm- Wehrmacht aufrechterhielt, nach Ba- tralität Belgiens und Hollands verletzt lung über den Aktivdienst: «Am Mor- sel gekommen und hatte ziemlich ge- würde, dass aber die Schweiz nichts gen des 10. Mai 1940, als wir die Aus- naue Angaben über die bevorstehen- zu befürchten habe. Die Truppen Ver- lösung der grossen deutschen Offen- den Operationen in Nordeuropa ge- schiebungen in Süddeutschland seien sive gegen Belgien, Holland und macht. Als der gleiche Gewährsmann nur Täuschungsmanöver, um franzö- Frankreich (eigentlich Luxemburg, im April wieder kam und den Beginn sische Kräfte am Oberrhein zu binden K. L.) erfuhren, gab es bei uns keine und so den Durchbruch im Nord we- Überraschung, da wir diese Ereig- sten zu erleichtern. Natürlich setzte nisse erwartet hatten. Der Bundesrat Masson seinen ganzen Nachrichten- und ich waren uns einig, dass eine so- Überall willige Helfer apparat in Süddeutschland in Bewe- fortige zweite Generalmobilmachung «Bei Einvernahmen und Instruktionen gung, um diese Angaben zu überprü- der ins Ausland reisenden Schweizer hat unumgänglich sei. In Langnau, beim sich erwiesen, dass in allen Gesellschafts- fen. In der Tat wurde nichts festge- Armeestab, wohin ich mich an jenem kreisen beinahe durchgehend die gleiche stellt, was zur Beunruhigung hätte Morgen begab, wurde unter der ruhi- Bereitschaft bestand, uns zu helfen, wo Anlass geben können. gen Leitung von Oberstdivisionär Hu- man nur konnte, und zwar bestand diese Die richtige Einschätzung dieser kriti- Bereitschaft in allen sozialen Schichten. ber systematisch gearbeitet. Die Mo- Es ist mir bei ganz einfachen Leuten vor- schen Lage wurde – zusammen mit bilmachung vollzog sich ohne Stö- gekommen, dass sie anlässlich von Ein- der Bewältigung der bedrohlichen Si- rung.» Helle Aufregung erfasste vernahmen sich freiwillig anerboten, als tuation vom Februar 1943 – später als grosse Teile des Schweizervolks: Aus Agent ins Ausland zu gehen, wobei sie be- die bedeutendste Leistung des tonten, dass sie dafür keine Entschädi- den Städten flohen verängstigte Men- gung wollten. Es hat sich hier bei unserer schweizerischen Nachrichtendienstes schen in die Innerschweizer Berge Bevölkerung eine sehr gute Seite aufge- gewürdigt, der im Übrigen unwahr- und in die Westschweiz. Gerüchte zeigt, die wichtige Schlüsse zuliesse auf scheinlich gut über die Absichten Hit- schwirrten durch die Luft. Truppen- den Widerstandswillen des Schweizervol- lers gegenüber dritten Ländern im Bil- kes im Falle eines Angriffs. Auf jeden Fall aufmärsche in Süddeutschland! Wann sind wir noch lange nicht das ‚Volk der Ho- de war: Aus verschiedenen Quellen – würden sie kommen? Überall witter- telportiers’ , als welches wir im Buche des Roessler, Hausamann, Meyer – wurde ten misstrauische Schweizer Signale Grafen Kaiserling verschrien werden! der deutsche Angriff auf Russland und Zeichen der Fünften Kolonne. Bei den Einvernahmen habe ich immer früh vorausgesagt. Schon am 29. und immer wieder gesehen, dass in unse- Die Aufregung erreichte in der Nacht rem Volke viel tief empfundenes Heimat- März 1941 gab Hausamann dem Ar- vom 14. auf den 15. Mai, wie General gefühl steckt (das sehr zu unterscheiden meekommando eine Funkmeldung Guisan anmerkt, panische Züge. Wo- ist vom Patriotismus des 1. August) und, weiter, wonach sämtliche Stellen der her aber diese Ruhe in der Umgebung was vor allem wichtig ist, gepaart mit der Wehrmacht, des Heeresgeneralstabs, notwendigen Einsatzbereitschaft und dem des Generals? Und wie kam es, dass Willen, alle Opfer zu bringen, wenn erfor- des Wehrwirtschaftsamtes, des Minis- Masson nach dem Krieg erklären derlich. Die Fälle, wo Leute zu Einvernah- teriums Todt, des Reichsluftfahrtmi- konnte: «Das ‚Büro Deutschland‘ der men nicht erschienen und die Einver- nisteriums usw. vom Oberkommando Nachrichtensektion war denn auch, nahme verweigerten oder nur Nebensäch- der Wehrmacht eine Reihe von An- liches aussagten und die Hauptsache als die Ereignisse im Mai 1940 West- nicht, waren relativ selten. Trotz des Ge- weisungen erhalten hatten, die auf ei- europa erschütterten, ein Hort der stapo-Terrors war es sehr interessant fest- nen deutschen Angriff auf Russland in Ruhe und Gelassenheit.» Der schwei- zustellen, dass Schweizer, selbst solche, absehbarer Zeit schliessen liessen. Ei- zerische Nachrichtendienst war eben die im Ausland wohnten, im Allgemeinen nen Monat später präzisierte das sehr freiherzig und ohne Ängstlichkeit aus- dabei, seine erste grosse Bewährungs- sagten; das betrifft selbst die Frauen.» «Büro Ha»: «Mit militärischen Ope- probe zu bestehen. Die Wiking-Linie, Bericht der Aussenstelle Zürich («Uto») rationen der deutschen Wehrmacht die der damalige Hptm Max Waibel der NS 1, Hptm Haene gegen Russland ist ab Ende Mai zu vermutlich mit Hilfe von Studien- rechnen.» Am Sonntagmorgen, dem freunden aufgebaut hatte, die in höch- 22. Juni 1941, verkündete Hitler den ste Positionen in der Wehrmacht auf- Angriff, der die Wendung seines gerückt waren, funktionierte. Schon um Mitte März 1940, rund drei Wo-

124 1945. Das Unternehmen blieb im For- schungsstadium stecken. Der grösste Teil der schweizerischen Nachrichtenleistungen wird für immer im dunkeln bleiben, das der unerläss- liche Schutz jedes Geheimdienstes ist.

Ein Eingeweihter zieht Bilanz Einer der Hauptbeteiligten, der bis zum Sommer 1943 als Auswerter und Chef des Büros D (Deutschland) im Nachrichtendienst tätig gewesene nachmalige Oberstkorpskommandant Alfred Ernst, hat ein Jahr vor seinem Tod eine wenig beachtete Bilanz ge- zogen, die in ihrer Differenziertheit, ihrer Wahrhaftigkeit und ihrem selbst- kritischen Ansatz vertrauenerwek- kend klingt. Es ist bezeichnend für die eiserne Zurückhaltung der meisten Schweizer Nachrichtenoffiziere, dass diese bemerkenswerte Äusserung ei- nes der massgebenden Nachrichtenex- perten ganz beiläufig in Form einer Buchbesprechung in der «Allgemei- nen Schweizerischen Militärzeit- schrift» (Dezember 1972) erschienen ist. Alfred Ernst ziert sich nicht, das günstige Urteil von General und Ge- neralstabschef über die Arbeit zu ak- zeptieren, die ein gutes Stück weit seine eigene war. Er gibt aber zu be- denken: «Trotz intensiver Bemühungen ist es uns nicht gelungen, die Ordre de ba- taille der deutschen Wehrmacht voll-

ständig zu ermitteln. Wir kannten die Gliederung der schon im Frieden be- Minenwerfer im Iglu auf Trübsee ob Engel- tung des «Unternehmens Barbarossa» stehenden aktiven Verbände. Aber die berg. Auch solche Stellungen waren Ziele der erlassen hatte. Als die deutsche nach Kriegsbeginn neu aufgestellten deutschen Spionage. Kriegsmaschinerie durch die russi- Formationen vermochten wir nur zum Kriegsglücks einleitete. – Auch auf schen Weiten rollte und sich die Teil zu erfassen. Das raffinierte Sy- den Überfall auf Polen hatte Haus- Durchbruchs-, Verfolgungs- und Kes- stem der Numerierung hat uns schwer amann zweieinhalb Monate vor dem selschlachten jagten, wartete Dr. zu schaffen gemacht, und unsere Be- Ereignis hingewiesen! Meyer bereits mit detaillierten Zahlen mühungen, aus zahllosen Einzelmel- Der Agent «Sx.» alias Dr. Johann C. über deutsche Versorgungsschwierig- dungen ein Mosaik zusammenzuset- Meyer, ehemaliger Berliner Wirt- keiten, Menschen- und Materialverlu- zen, zeitigten nur einen beschränkten schaftskorrespondent und nachmali- ste auf, die – obwohl noch die ganze Erfolg. Die für uns besonders wichti- ger freier Journalist in Zürich, hatte – Welt beeindruckt vor der deutschen wenn auch mehr strategisch-analy- Siegesserie stand – kaum mehr Hoff- tisch als gestützt auf konkrete Nach- nung für die Angreifer übrigliessen. richten – die Möglichkeit eines deut- Meyer war es auch, der als erster auf schen Russlandfeldzuges schon am 7. Hitlers Atombombenpläne aufmerk- Dezember 1940 erwähnt, noch ehe sam machte, erstmals am 12. Januar Hitler seine Weisungen zur Vorberei-

125 gen Divisionen (Panzerdivisionen des Kräfte in der Nähe unserer Grenze Wir gelangten zu ähnlichen Schlüs- Heeres und der Waffen-SS, Gebirgs- standen, als wir glaubten. sen wie die deutschen Planer. Da wir divisionen und Fallschirmjägerdivi- - Über die technische Ausrüstung der unsere Schwäche besser kannten, ver- sionen), die im Falle eines Angriffs deutschen Wehrmacht waren wir im mochten wir konsequenter, als sie es auf die Schweiz die massgebende Allgemeinen gut im Bilde, ebenso taten, an den für uns kritischen Stellen Rolle gespielt hätten, waren uns be- über die Einsatzdoktrin. An Hand der Schwergewichte zu bilden. Infolge- kannt. Aber es sind uns einige Irrtü- schon im Frieden publizierten Litera- dessen berechneten wir den Kräftebe- mer unterlaufen: Da wir bei der Schät- tur konnten wir uns eine zutreffende darf für einen Angriff etwas niedriger zung der Bestände an Panzern und Vorstellung der von den Deutschen als die Deutschen. Das Konzept Flugzeugen von den im Frieden gülti- vorgesehenen Kampfmethoden ma- (Hauptstoss von Südwesten her zwi- gen Tabellen ausgingen, während die chen. Die operativen und taktischen schen dem Jura und dem Genfersee) effektive Zuteilung an die einzelnen Führungsprinzipien liessen sich nicht war jedoch identisch.» Zusammen- Verbände teilweise stark davon ab- geheimhalten. So wussten wir schon fassend stellt Alfred Ernst fest, dass wich, gelangten wir zu übertriebenen bei Kriegsbeginn, dass mit grossange- unser Nachrichtendienst trotz seiner Zahlen. Dies gilt vor allem hinsicht- legten Angriffen von Panzerkräften in begrenzten Möglichkeiten sehr viel lich der Luftwaffe. Wir wussten nicht, die Tiefe des Raumes und mit Luft- erfahren hat. Dagegen lässt sich nach dass die Mehrzahl der Geschwader landungen gerechnet werden musste. seiner Darstellung nicht mit Sicher- nicht drei, sondern nur zwei, manch- - Entscheidend wären ‚Angaben über heit sagen, ob er einen bevorstehen- mal sogar nur eine Gruppe umfasste. strategische und operative Absich- den Angriff auf die Schweiz rechtzei- Erst im Frühjahr 1943 gelangten wir ten... im Blick auf die Schweiz’ gewe- tig erkannt hätte. «Es wäre für uns durch einen Glücksfall in den Besitz sen. Von ihrer Kenntnis hingen die schwierig gewesen, eine raffinierte der Kriegsgliederung der deutschen Entscheidungen über den Umfang un- Täuschungsaktion zu durchschauen, Luftstreitkräfte. Der Fieseler-Storch seres Aufgebotes ab. Doch sind, wenn wie sie zum Beispiel in einem der eines Jagdgeschwaders verirrte sich nicht Verrat im Spiele ist, die ‚Ab- ‚Tannenbaum’-Pläne vorgesehen auf dem Flug nach Sizilien und sichten‘ eines potentiellen Gegners wurde. Wir konnten daher keine Ga- musste in Samedan landen. Der Pilot kaum festzustellen. Es ist ein bewähr- rantie dafür übernehmen, dass es uns führte – gegen das ausdrückliche Ver- tes Prinzip jedes Nachrichtendienstes, gelingen würde, das Armeekom- bot des Oberkommandos der Luft- nicht danach zu fragen, was der Feind mando genügend früh zu warnen, um waffe – sämtliche Dienstakten des tun will, sondern was er tun kann. Im- ihm die Durchführung einer Remobil- Stabes mit sich; darunter die vollstän- merhin gab es Glücksfälle: So erfuh- machung zu erlauben.» dige Kriegsgliederung der Luftwaffe. ren wir schon früh, dass die Deut- Der Fund war so erstaunlich, dass wir schen einen Angriff auf Norwegen anfänglich an eine Kriegslist dachten; und Dänemark planten. Diese Aktion Zank und Pannen – wie sich nachträglich herausstellte, zu erschien uns jedoch angesichts der auch das gibt’s! Unrecht. britischen Überlegenheit zur See zu - Die Lokalisierung der deutschen riskant und daher wenig wahrschein- Der Schweizer Nachrichtendienst, Kräfte in der für uns kritischen Zone lich. Aber Meldungen über deutsche der nach aussen (und bis heute in der bereitete uns ebenfalls grosse Mühe. Absichten bildeten die seltene Aus- Geschichtsschreibung) als militäri- Besonders schwierig war die Unter- nahme. Von den Operationsplänen sche Einheit in Erscheinung getreten scheidung der einsatzbereiten Ver- gegen die Schweiz (insbesondere den ist, war in Wirklichkeit ein zerbrech- bände der Feldarmee von den in Aus- unter dem Decknamen ‚Tannen- liches und heikles Gebilde aus Indivi- bildung begriffenen Formationen des baum’ bekannten Studien des Ober- dualisten verschiedenster Herkunft, Ersatzheeres. Dies führte dazu, dass kommandos des Heeres, der Heeres- politischer und weltanschaulicher wir im Allgemeinen die Belegung der gruppe C und der 1. und 12. Armee) Färbung sowie «von unterschiedlich- uns interessierenden Räume über- erfuhren wir erst nach dem Kriege. sten Temperamenten. schätzten. So im Frühjahr 1940, aber Umso wichtiger waren die von uns in Der schnelle, ja überstürzte Aufbau auch im Zeitpunkt der alliierten Inva- Form von Planungsarbeiten und des in Friedenszeiten vernachlässig- sion in der Normandie. Aufgrund des Kriegsspielen durchgeführten Analy- ten Dienstes liess eine klare und ein- heute vorliegenden Materials wissen sen der deutschen Möglichkeiten im heitliche Arbeitsmethode, soweit sie wir, dass beide Male weit schwächere Falle einer Offensive gegen die in einem Nachrichtendienst über- Schweiz. haupt möglich ist, nicht aufkommen.

126 Vom Chef bis zum letzten Unteroffi- Der schnelle Aufbau brachte nicht «Wir versuchten, mit behelfsmässi- zier auf den Aussenstellen waren alle nur den Zwang zur ständigen Impro- gen Mitteln ein Netz von Alarmpo- mehr oder weniger Autodidakten. visation mit sich, sondern auch un- sten zu errichten, die uns im Falle ei- Pannen waren unvermeidlich, und das klare und schwammige Abgrenzun- nes Aufmarsches deutscher Kräfte ge- Gebot der Stunde hiess Improvisa- gen von Aufgaben, Kompetenzen und gen die Schweiz warnen sollten. Aber tion. Nach Kriegsausbruch waren we- Verantwortlichkeiten. Namentlich im unsere Möglichkeiten waren eng be- nigstens die Personal- und Finanz- Abwehrbereich kamen während des grenzt. Wir konnten weder kurzfri- probleme etwas in den Hintergrund ganzen Aktivdienstes laufend Reibe- stige Aufträge erteilen noch Rückfra- gerückt. Alfred Ernst erinnert sich: reien und Streitigkeiten zwischen mi- gen stellen und Ergänzungen der ein- «Angesichts der Notwendigkeit, litärischen und zivilen Stellen vor, die gehenden Meldungen verlangen. Wir Nachrichten zu erhalten, spielten (we- so weit gingen, dass die Bundespoli- blieben daher weitgehend auf zufäl- nigstens in den ersten Monaten) fi- zei mit Rudolf Roessler ungerührt ei- lige Beobachtungen angewiesen. Die nanzielle Rücksichten keine Rolle nen der besten Informanten des Nach- am 10. Mai 1940 von den Deutschen mehr. Auch Personal konnte nach Be- richtendienstes 111 Tage lang in Un- überraschend verhängte totale Grenz- lieben herangezogen werden. Der Ge- tersuchungshaft schmoren und dessen sperre führte zu einer vorübergehen- neral ermächtigte uns, unbekümmert höchst persönliche Nachrichtenver- den Lähmung unseres Alarmsystems. um die Proteste der Kommandanten bindungen einfrieren liess. In anderen Diese trug dazu bei, dass wir damals diejenigen Leute zum Nachrichten- Fällen wurden wichtige ausländische auf die raffinierten deutschen Täu- dienst aufzubieten, die wir brauchten. Gewährsund Verbindungsleute nicht schungsmanöver hereingefallen sind. So fanden sich nach und nach hoch- ins Land eingelassen oder gar an die Es fehlten uns Mittel, die erlaubt hät- qualifizierte Persönlichkeiten zusam- Grenze gestellt. ten, den ‚contour apparent’ der an un- men. Gesetzliche Schranken, die un- Der überstürzte Aufbau und der Im- serer Grenze demonstrativ aufmar- ter normalen Umständen unsere Tä- provisationszwang hatten auch zur schierenden deutschen Truppen zu tigkeit behindert hätten, fielen dahin. Folge, dass in den kritischen Räumen durchbrechen.» Wenn wir nur Nachrichten lieferten, unmittelbar jenseits der Grenze kein Anderseits hatte die Improvisation kümmerte sich niemand um unser zuverlässig funktionierendes Über- auch ihre Vorteile: Sie hielt die Orga- Tun und Lassen. Nur der Erfolg wachungs- und Alarmsystem aufge- nisation beweglich und dynamisch, zählte.» zogen werden konnte. Dazu wieder verführte zu verblüffend erfolgrei- Alfred Ernst: chen unkonventionellen Lösungen (zum Beispiel der Zusammenarbeit mit Zivilpersonen) und schuf für die Auch der Nachrichtenmann war oft ein einsa- Mitarbeiter des Nachrichtendienstes mer Soldat. Sein Dienst und der des Gebirgs- eine für militärische Verhältnisse völ- füsiliers bedingten einander. lig ungewohnte Freiheit des Entschei- dens und Handelns.

Gespaltener Nachrichtendienst So wenig wie jede andere Arbeitsge- meinschaft, die aus Menschen – aus intelligenten, eigenwilligen, hart ar- beitenden zudem – besteht, blieb der Nachrichtendienst vor Intrigen und Machtkämpfen, Missverständnissen und Zwistigkeiten bewahrt. Diese entzündeten sich gegen Kriegsende vor allem an der Diskussion um die Richtigkeit der Begegnungen Mas- sons mit dem SS-Brigadegeneral Schellenberg sowie um die Nachrich- tenhauptleute Meyer-Schwertenbach

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und Holzach, die auf viele ihrer Ka- einem von Hausamann gegen zwei Der letzte grosse Fehler meraden den Eindruck machten, sie Redaktoren angestrengten und durch wüssten nicht zwischen ihren dienst- Vergleich beigelegten Ehrverlet- So schnell auch der Nachrichtendienst lichen Obliegenheiten und geschäftli- zungsprozess am 18. April 1947 vor am Vorabend des grossen, Völkerrin- chen Interessen zu unterscheiden; im der 3. Abteilung des Bezirksgerichts gens aufgebaut worden war, so hurtig Vordergrund standen Handelsge- Zürich als Zeuge aussagte: wurde er nach dem Waffenstillstand schäfte, die die beiden über eine ge- «Das kameradschaftliche Verhältnis demontiert; die alte Abneigung der meinsame Aktiengesellschaft mit unter den Offizieren des Nachrichten- Militärs und Politiker gegen das ver- Schellenbergs Adjutanten Eggen tä- dienstes war insofern ein schlechtes, meintlich schmutzige Geschäft mit tigten. als sich nach der Bildung der Offi- den Nachrichten setzte sich, als der Aber schon zu Beginn des Aktivdien- ziersbewegung vom Jahr 1940 zwei Druck von aussen gewichen war, wie- stes wurden auch tiefgreifende politi- Gruppen gebildet hatten, die einander der durch. sche Differenzen sichtbar. In seinem geradezu feindlich gegenüberstan- Namentlich für Oberstlt Max Waibel, der Arbeit des «Büros Ha» gewidme- den. Oberstbrigadier Masson ver- der konkrete Vorstellungen über die ten Buch «Zwischen allen Fronten» suchte zwischen den beiden Gruppen Arbeit des Nachrichtendienstes wäh- berichtet Alphons Matt, gestützt auf ausgleichend zu wirken. (...) Nach- rend Friedenszeiten entwickelt hatte, Angaben von Hans Hausamann, über dem die Offiziersbewegung aus dem damit aber nicht durchgedrungen war, ein besonders krasses Beispiel: Jahre 40, welche im Bericht des Ge- bedeutete diese Demontage eine bit- «Eines Tages wird festgestellt..., dass nerals auf Seite 215/16 erwähnt ist, tere Enttäuschung, die ganz deutlich Informationen, die in deutschfreund- ihr Ende gefunden hatte, bildete sich aus seinem Abschiedsbrief vom 7. Ja- lichen Ohren wenig schmeichelhaft eine Gruppe von Nachrichtenoffizie- nuar 1946 an die Detachementskom- klingen, in der obersten Führungs- ren, die an dieser Bewegung teilge- mandanten seiner NS 1 spricht: «Ka- spitze nicht bekannt werden, obwohl nommen hatten. Zu dieser Gruppe ge- meraden, man sie auf dem üblichen Weg wei- hörte auch der Ankläger (Haus- Ich setze Sie davon in Kenntnis, dass terleitete. Es setzen Rückfragen ein, amann). Die Bildung dieser Gruppe mein Gesuch um Entlassung aus dem die folgendes aufdecken: Ein Funk- verstärkte die Reibereien zwischen N.D. und Rückkehr ins Instruktions- tionär der Zentrale liess seit längerer den Offizieren des Nachrichtendien- korps der Infanterie heute bewilligt Zeit Berichte und Meldungen, vorab stes sehr stark. Anfänglich bestanden worden ist. des ‚Büros Ha’, die den Glauben an die Reibereien speziell darin, dass je- Seit unserem Schlussrapport vom 19. einen deutschen Endsieg erschüttern der Nachrichtenoffizier eifersüchtig 8.45 hat sich im N.D. gar vieles geän- konnten, auf dem Weg zum Büro D über seine Nachrichtenlinie wachte. dert, und ich sehe keine Möglichkeit verschwinden. Selbstverständlich Ganz allmählich konnte man feststel- mehr, auch nur die ‚reduzierte’ Tätig- wird der Betreffende sofort seines Po- len, dass die Gruppe, zu welcher keit, an welche wir damals dachten, stens enthoben, aber seine Gesin- Hausamann gehörte, versuchte, auf wieder aufzubauen. nungsfreunde innerhalb des Offiziers- die Politik einzuwirken; und dabei Sie werden unter diesen Umständen korps bleiben. So entwickeln sich all- war diesen Offizieren die Stärkung meinen Entschluss verstehen und mir mählich, aber immer deutlicher Ge- des Widerstandswillens das Leitmo- glauben, dass es mir nicht leichtfiel, sinnungsfronten, zwei Lager: Das tiv. Andere Offiziere fanden, die dem mich von einer siebenjährigen Arbeit, eine rechnet felsenfest mit dem deut- Nachrichtendienst zugeteilten Offi- der ich auch Ihre Kameradschaft ver- schen Endsieg und setzt grosse Hoff- ziere sollten sich politisch etwas mehr danke, zu trennen. Wenn ich nun als nungen für die Schweiz in eine solche zurückhalten, weshalb es zu Reibe- Letzter von Ihnen auch den Weg zum Entwicklung; das andere aber ist reien kam.» Beruf zurück einschlage, dann hoffe überzeugt, dass die Schweiz von ei- Im gleichen Verfahren gab die Mehr- ich, dass ich gerade auf diesem Wege nem Sieg Hitlers nichts Gutes zu er- heit der Zeugen, soweit es sich um ak- oft meinen Kameraden aus dem Ak- warten hat, und setzt, in Kenntnis der tive Mitglieder des Nachrichtendien- tivdienst wieder begegnen werde. kriegspolitischen Zusammenhänge, stes handelte, ihre Überzeugung zu Ich danke Ihnen allen nochmals für die deutsche Niederlage in Rech- Protokoll, dass Roger Masson eigent- Ihre Bereitschaft und die treue Kame- nung.» Noch unverblümter äusserte lich zu anständig und in einem gewis- radschaft, die uns auch weiterhin ver- sich Major Paul Schaufelberger, der sen Sinne zu offenherzig für seinen binden soll. grosse Waffenexperte im Nachrich- delikaten Posten gewesen sei. Oberstlt i Gst Waibel» tendienst, zu diesem Punkt, als er in

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