Worms IM WANDEL DER ZEIT

Martin Wein

413 - 891 - 1034 - 1254 - 1349 - 1495 - 1632 - 1792 - 1853 - 1898 - 1918 - 1945 - 1997 - 2019 Worms im Wandel der Zeit Martin Wein Vorwort Worms im Wandel der Zeit

Worms ist mehr als reich an Geschichte und Vororten, begünstigt durch die Lage an der Geschichten – hier konzentrierte sich stets bis heute für die Stadtentwicklung entschei- urbanes Leben und Wirtschaften in einer denden Rheinachse, macht der wertvolle Dichte wie in wenigen deutschen Städten. Band für die Leserinnen und Leser deutlich. Der Band belegt nicht zuletzt durch den Er lädt zum Lesen, Staunen und Entdecken fundierten Text in Verbindung mit anschau- ein und weckt erneut den gewachsenen lichem Bildmaterial das außerordentliche und stets lebendig gebliebenen Bürgerstolz Auf und Ab, den Wechsel von Höhen und – auch Neu-Wormser und Besucher werden Tiefen der Wormser Geschichte. Ob als sich gewiss von dieser Begeisterung anste- keltische und römische Siedlung, als Bi- cken lassen. schofsstadt und politische Metropole des mittelalterlichen Reiches, als mehrkonfes- Für die Stadt Worms begrüße ich die Her- sionelle Reichsstadt bis 1798, als industrielle ausgabe der vorliegenden Chronik sehr und Mittelstadt in stets zentraler Lage seit dem danke allen an ihrer Entstehung beteiligten 19. Jahrhundert, als Stadt vielfältiger reli- Personen und Institutionen herzlich! Ich giöser Gemeinschaften und Impulse, als wünsche dem Band die verdiente gute Auf- Stadt des Weins und heute touristischer An- nahme und eine weite Verbreitung ziehungspunkt: Immer wieder musste sich unsere Stadt neu erfinden, sich nach Zerstö- rungen (wie vor allem 1689 und 1945) neu aufrichten. Diese Vielfalt und das bedeutsame kulturelle Adolf Kessel Erbe in Worms und seinen sehr vielfältigen Oberbürgermeister Foto: Stadt Worms

WORMS IM WANDEL DER ZEIT 3 Vorwort Game of Worms

In Worms nahm die deutsche Geschichte sommerlichen Festspiele am Dom. Den zur Eile und zum Dom. Dort und in der Mit einer geliehenen Kippa auf dem Kopf markante Wendungen. Daran erinnert (fast) unverwundbaren Siegfried auf einem verschwundenen Pfalz nebenan kam es zu führt Schlebach in die Synagoge, die Ende nicht nur der Kaiserdom. Dafür stehen in Brunnen am Neumarkt, den garstigen Ha- Schicksalsstunden der deutschen Ge- der 1950er-Jahre nach alten Plänen neu seinem Schatten auch ein paar bronzene gen als Bronze am Rheinufer, wo er das ge- schichte. 1076 schrieb hier Kaiser Heinrich IV. entstand. Auf dem Jüdischen Friedhof „Hei- Schuhe in Größe 75, Mario Adorf spukt stohlene Gold in den Rhein kippt. Und natür- jenen Brief an den Papst, der den Investitur- liger Sand“ erzählen uralte Grabsteine im als Geist durch den Bürgerturm und der lich den Drachen als Symbol der Stadt aus streit auslöste und in Heinrichs Gang nach Gras vom jüdischen Erbe. Der älteste wurde Heilige Sand ist eine Oase der Kontem- Bronze und in 25 bunt bemalten freundliche- Canossa gipfelte. Erst mit dem Wormser 1076 gesetzt. „Der Name stammt von einem plation. Doch dieses Erbe muss man auch ren Versionen. Ihren Namen habe die Stadt Konkordat wurde der größte Konflikt des Säckchen mit Erde aus Jerusalem, das den annehmen indessen nicht von diesem „Wurm“, sondern Mittelalters 1122 beigelegt. 1521 zog dann Toten mitgegeben wurde, damit sie in heili- von ihrem keltischen Namen Bormetoma- der abgefallene Augustiner-Mönch Martin gem Boden ruhen“, erklärt der Begleiter. „Willkommen in der Nibelungenstadt gus, dem ältesten erhaltenen Ortsnamen Luther wie ein Popstar in die Stadt ein und Noch viel mehr gilt es zu berichten von Worms“. An die glorreiche Geschichte der einem Ort, der schon den Römern gefiel, Oberrhein-Stadt erinnert auf den ersten Im Dom und in der verschwundenen Pfalz später den Franken, der von den Franzosen Blick wenig, außer dem Schild über dem zerstört und von Arbeitern wieder groß ge- Bahnhofsportal. Tritt man hinaus, stößt man nebenan kam es zu Schicksalsstunden macht wurde. Dieses Buch nimmt Sie mit dann allenfalls auf die Rheingold-Apotheke der deutschen Geschichte. auf eine Zeitreise in den Bischofshof und ins am Eingang der Fußgängerzone und ein Rathaus, in Klöster und Kontore, Werkstät- paar Schritte weiter auf den Nibelungen- in Deutschland überhaupt, berichtet Stadt- sorgte für einen Eklat. Das Geschehen ist ten und Unternehmen, zum Backfischfest brunnen. Ansonsten prägen kastenförmige führer Rüdiger Schlebach, der sich sichtlich – erstaunlich genug – auf einem modernen und in den Tiergarten. Möge das Spiel be- Zweckbauten der 1950er- und 1960er-Jah- mühen muss, so viel Geschichte in einigen Glasfenster im katholischen Dom verewigt. ginnen – das Game of Worms! re die Innenstadt. Selbst den mächtigen Stunden Stadtspaziergang unterzubringen: Luther widerrief seine Thesen nicht. Sehr Kaiserdom haben Grundstückseigentümer „Übersetzt heißt er so etwas wie Quellen- groß sind seine Schuhe – Schlebach schätzt nach dem Zweiten Weltkrieg mit steingewor- feld des Gottes Bormo.“ Daraus machten „Größe 75“ –, in die jedermann an der Nord- denen Scheußlichkeiten regelrecht umstellt. die Römer Borbetomagus, die Germanen seite des Doms schlüpfen kann, wo Luther Wer aber im Bürgerturm der alten Stadt- Worbetomagus und die Mittelhochdeutsch einst seinen Mann stand. Noch Jahrhunder- mauer Mario Adorf aufmerksam zuhört, der sprechenden Franken im frühen Mittelal- te später stellte er den Katholiken ein Bein, Martin Wein sieht Worms als Schnittpunkt deutscher Ge- ter Warmazfeld, Warmazia und schließlich als der Bau des großen Lutherdenkmals in Worms im November 2019 schichte und deutscher Mythen. Ein Erbe, Worms. Gibt man „Worms“ als Suchwort bei den Wallanlagen ihnen Spendengelder für mit dem eine Mittelstadt mit ausgeprägtem Google ein, kommen trotzdem nach einigen die Domsanierung streitig machte. Arbeiter-Image erst einmal leben lernen Stadtansichten Bilder von Regenwürmern Nicht vergessen sei indessen, dass Worms muss. oder Erdnussflips. Ein Fluch des allgegen- im Mittelalter Zufluchtsort zahlreicher ge- So geschult, entdeckt man sie dann auch wärtigen Englischen. lehrter Juden wurde. Man sprach von einem Ein Blick von oben zeigt vor allem den Dom St. Peter überall in der Stadt: Die Protagonisten des Aber apropos Mittelalter: „Das war unse- „Jerusalem am Rhein“ und meinte die Tal- und die evangelisch-lutherische Dreifaltigkeitskirche Nibelungenliedes – nicht nur zu Zeiten der re große Zeit“, sagt Schlebach und drängt mudschulen von Worms, und . als zwei Pole einer bewegten Geschichte

4 WORMS IM WANDEL DER ZEIT Foto: Martin Wein

WORMS IM WANDEL DER ZEIT 5 Inhaltsverzeichnis

Grußwort Wormser Konkordat Pfälzischer Erbfolgekrieg Oberbürgermeister Adolf Kessel | 3 1122 Kompromiss auf den Lobwiesen | 32 1689 Trommelwirbel und Feuersturm | 56

Vorwort Privilegien für die Bürger Protestantisch bauen Game of Worms | 4 1184 Barbarossa ist so frei | 34 1725 Um fünf Uhr in die Kirche | 58

Naturraum und Vorgeschichte Klosterleben in Worms Französische Republik -5000 Geschenk mit weiter Schleife | 8 1221 Die Barfüßer kommen | 36 1792 Unter dem Freiheitsbaum | 60

Die Civitas Vangionum Rheinischer Städtebund Schloss Herrnsheim -27 Römer im Wonnegau | 12 1254 Stärke zeigen | 38 1809 Empire für Marie Louise | 62

Das Burgundenreich Pest und Judenpogrom Kaibel & Sieber 413 Sagenhafte Zeiten | 14 1349 Das große Sterben | 40 1814 200 Jahre Präzisionsarbeit und mehr | 64

Der Bischofssitz Neue Machtverhältnisse Rheinhessen 614 Amandus wird zum Kult | 16 1392 Zünftiges Regieren | 42 1816 In Darmstadt spielt jetzt die Musik | 66

Hoftage in Worms Der Reform-Reichstag Die Industrialisierung 770 Im Glanz der Mächtigen | 18 1495 Der letzte Ritter siegt | 44 1839 Bier und Leder | 68

Die Stadtmauer Weinbau Die März-Revolution 891 Hinter sieben Toren | 20 1511 Riesling in Pfeddersheim | 46 1848 Liberale Forderungen, radikale Kämpfer | 70

Der Dom St. Peter Der Bürgeraufstand und die Folgen Der Bahnanschluss 1000 Burchard, der Baumeister | 22 1513 Franz wirft den Handschuh | 48 1853 Per Dampfross bis Paris | 72

Juden in Worms Die Reformation und ihre Folgen Städtische Infrastruktur 1034 Jerusalem am Rhein | 26 1521 Die Causa Lutheri | 50 1860 Worms leuchtet auf | 74

Städtisches Leben Im Dreißigjährigen Krieg Fiege Logistik Stiftung und Co KG 1074 Zollfrei handeln | 29 1632 Schwedenplage | 54 1873 Pioniere der Kontraktlogistik | 75

6 WORMS IM WANDEL DER ZEIT Jakob Kraft GmbH Wiederaufbau Direkte Demokratie 1875 Jakob, der Baumeister | 76 1958 Neue Aushängeschilder | 96 1997 Stimmen für den OB | 116

Eingemeindungen Deutsches Rotes Kreuz Nibelungen-Museum und Festspiele 1898 Worms wächst | 77 Kreisverband Worms e. V. 2001 Sie sind wieder da | 117 1959 Hilfe im Zeichen des Kreuzes | 98 Worms im Ersten Weltkrieg Worms heute 1914 Pathos und Steckrüben | 79 Procter & Gamble 2019 Kennzeichen WO | 118 1963 Waschmittel für die Welt | 100 Weimarer Republik Literaturverzeichnis | 122 1918 Im Krisenmodus | 82 Lebenshilfe Worms 1964 Es ist normal, verschieden zu sein | 102 Impressum | 123 Worms im NS-Staat 1933 Fackelzüge und Schikanen | 84 Der Tiergarten Der Autor | 124 1972 Wölfe und Wellensittiche | 104 Der Holocaust Inserentenverzeichnis | 126 1938 Von Worms in den Tod | 86 Grace Europe 1972 Vom Naturdünger zur Spezialchemie | 106 Im Luftkrieg 1945 Bombenwetter | 88 Trans Service Team GmbH 1990 Vom Ein-Mann-Unternehmen in die Kapitulation und Neuanfang Top-Liga der Logistik | 108 1945 Endlich wieder Backfischfest |90 Entsorgungs- und Baubetrieb Worms RENOLIT SE 1991 Von Abfall bis Zukunftstechnik | 110 1946 Folien für die Welt | 92 ROWE Mineralölwerk GmbH Neu GmbH 1995 Aus der Werkstatt in die Pole-Position | 114 1949 Werkzeug für das Wirtschaftswunder | 93 Abzug der US-Truppen Wohnungsbau GmbH Worms 1996 Die Yankees rücken ab | 115 1950 Gutes Wohnen für alle | 94 Foto: Stadtarchiv

WORMS IM WANDEL DER ZEIT 7 Hoftage in Worms 770Im Glanz der Mächtigen

Das fränkische Worms wird zur politi- ganze acht Mal in der Stadt Hof hält. Hun- als Lehnsmann nicht. Die Hoffahrt ist Pflicht. dem heutigen Dom. Die hat eine eigene schen Bühne des Reiches. Karl der Große derte Männer aus allen Teilen des Reiches Die Kosten der Veranstaltung müssen die Kapelle und eine große Halle zum Empfang feiert hier Weihnachten, sein Sohn Ludwig benötigen Kost und Logis bei diesen Hof- Einwohner und der Bischof schultern. Der von Gästen und Gesandten. Allzu prunkvoll der Fromme die Hochzeit seiner Tochter. tagen im Frühjahr. Drücken kann man sich König selbst wohnt in seiner Pfalz neben sollte man sich das Hofleben dennoch nicht Und Otto der Große macht seinen Filius vorstellen. Aus weiß man, dass Karl im Grundschulalter zum Mitregenten. dort in einem winzigen Turmzimmer haust. Doch da hat die endgültige Teilung des Große Räume lassen sich nicht heizen. Und Reichs Worms im Grunde schon an den Reich Lothars I. Feinde lauern überall. Rand des Geschehens gerückt Reich Ludwigs des Deutschen Am Wonnegau findet der vielreisende König Reich Karls II., des Kahlen besonderes Vergnügen. Dreimal in Folge Sachsen Magdeburg Worms blüht auf. Anders lassen sich die Friesland überwintert er hier, solange die Straßen un- Paderborn wenigen Dokumente gar nicht deuten, die Lotharingien passierbar sind. Das ist politisch nicht un- Thüringen eifrige Schreiber in Klöstern und bei Hofe im Köln Böhmen wichtig. Denn in diesen ruhigen Monaten fal- Lüttich Aachen Ost- 8. und 9. Jahrhundert aufs Pergament ge- Fulda len im kleinen Kreis der engen Berater meist pinselt haben. Lesen und Schreiben ist in Franken die wichtigen Entscheidungen. Im Dom hei- Mainz Nord- diesen Jahren keine Kernkompetenz. Selbst Worms ratet der inzwischen 40 Jahre alte Karl auch gau der große Karl wird zeitlebens daran schei- Paris Ostmark seine vierte Frau „von dämonischer Schön- tern. Aber das wenige, das sich erhalten Franzien Straßburg Bayern heit“, die 22 Jahre jüngere Fastrada. Im Dom hat, spricht doch Bände: Eigentlich sind die Alamannien geht man Weihnachten und Ostern zur Mes- Elsass Nantes fränkischen Könige und ihr Hofstaat ständig Tours Besançon se. Doch am Weihnachtstag 790 geht etwas Chur auf Tour. Die verlässlichen Nachrichtenket- Kärnten schief: Die Pfalz fängt Feuer. Zwar bleibt Bourges Burgund Mgft. ten der Römer sind längst Vergangenheit. Karl den Rest des Winters. Doch er kehrt Genf Friaul Die Herrscher selbst und ihr ganzer Hof- Aquitanien Lyon Lombardei nach diesem Ereignis nur noch selten nach Mailand Venedig staat ziehen daher auf schlechten Wegen Vienne Pavia Worms zurück – und orientiert sich wohl von einer zugigen Pfalz zur nächsten. Das Bordeaux auch wegen seiner Gicht fortan in Richtung Kgr. Italien Patrimonium demonstriert Präsenz im Flächenland zwi- Aachen mit dessen heißen Quellen.

schen dem Atlantik und der Elbe, zwischen n Petri Die Musik spielt bald woanders. Das Bistum Gascogne Tuszien den Pyrenäen und der Toskana. Und es Provence Hzm. ist sichelförmig beiderseits des Rheins ein- Marseille Spoleto schont lokale Ressourcen. Schließlich wol- Narbonne geklemmt zwischen dem expansiven Mainz Septimanie Rom len die Herrschaften samt Tross und Tieren Korsika im Norden und Speyer im Süden. Das lässt versorgt werden. nur mäßige Einkünfte erwarten. Von den

Es spricht eindeutig für die Leistungskraft Karte: Wikimedia (furfur)/bearb. Wormser Bischöfen schafft es in dieser Zeit

von Worms und seinem fruchtbaren Um- Im Vertrag von Verdun wird das Fränkische Reich 843 unter Karls drei Söhnen aufgeteilt. Worms kommt in den kaum einer in die Annalen. Immerhin aber land, dass Karl ab 770 in zwei Jahrzehnten Osten und rückt vom Zentrum des Reiches geographisch an den Rand lädt der Mainzer Erzbischof Friesen aus dem

18 WORMS IM WANDEL DER ZEIT -5000 -27 413 614 770 891 1000 1034 1074 1122 1184 1221 1254 1349 1392 1495 1511 1513 1521 1632 1689 1725 1792 1809 1814 1816 fer gefordert und inzwischen alle zermürbt. Nachdem die sächsischen Ottonen das Her- Fortan könne es nicht mehr nur einen ge- zogtum Lothringen 925 wieder für das ost- ben, beschließen die drei ausgerechnet fränkische Reich zurückgewonnen haben, in Verdun. Das Reich wird geteilt. Worms kommt auch dieses im östlichen Teil des Rei- kommt mit den Nachbarbistümern Mainz ches heimische Geschlecht nach Worms. und Speyer zum regnum francorum orien- Heinrich I. schmiedet hier gleich im nächs- talium. Kaum einer ahnt damals: Diese Ent- ten Jahr Bündnisse nach innen und ge- scheidung wird Europas Geschichte bis ins gen die Ungarn außen. Otto I. der Große 20. Jahrhundert prägen. (912–973) bringt hier gleich zwei Söhne in Po- Sie prägt auch Worms. Denn die Stadt am sition. Zuerst macht er 950 Luidolf zum Her- Rhein ist plötzlich nicht mehr mittendrin, zog von Schwaben. Der dankt das übrigens sondern ziemlich am Rand des neu- mit einem Aufstand und buhlt mit einem en Reiches, das sich schon bald als pompösen Gastmahl in Worms um Nachfolger Roms tituliert. die Gefolgschaft der heid- Eine Zeitlang sonnt sich nischen Ungarn. Allerdings Worms noch in altem kostet diese schlecht Glanz. Den verkörpert durchdachte Aktion es neben Mainz wie Luidolf seine übri- keine andere Stadt gen Verbündeten. im ostfränkischen 961 erhebt Otto Reich, dessen dann seinen eben ausgedehnte Ge- erst sieben Jahre biete Karl erst zwei alten Filius Otto II.

Foto: Martin Wein Generationen zu- zum König und Am Wonnegau findet der vielreisende Frankenkönig Karl besonderes Vergnügen. Gleich dreimal verbringt er vor den Sachsen lässt ihm vom Adel hier den Winter. Erst ein Großbrand der Pfalz vertreibt ihn nach Aachen, wo heute im Dom sein Schrein aus abgerungen und huldigen. Bevor er dem 12. Jahrhundert steht integriert hat. In selbst anschlie-

diesem ehemaligen Foto: Worms Stadtarchiv ßend über die Norden ein, auf dem Rhein zu handeln. Auch Reiches ringt, zieht er mehrfach auch in der Barbarenland ist Auch im frühen Mittelalter entstehen beachtliche Schmuck- Alpen reitet, um in Worms entsteht ein Friesenviertel und ver- Stadt sein Heer zusammen. Und zwei Jahre die Stadt aus Sicht stücke wie diese Fibel zum Zusammenhalten von Gewän- in Italien für Ord- sorgt die Stadt mit Waren von fernen Gesta- nachdem der Vater 840 nach einer Straf- vieler Zeitgenossen dern aus dem späten 7. Jahrhundert. In Mölsheim unweit nung zu sorgen von Worms wird sie 1300 Jahre später gefunden und liegt den. Und die Pfalz ist nach einigen Jahren expedition gegen seinen aufmüpfigen Sohn sicher ein Leucht- heute im Hessischen Landesmuseum Darmstadt und die Kaiser- offenbar wieder salonfähig. 829 bittet Karls Ludwig den Deutschen auf einer Rheininsel turm der Zivilisation krone zu verlan- Sohn und Nachfolger Ludwig I. der From- bei Ingelheim gestorben ist, feiert sein Nach- und Verwaltungskompetenz. So trifft sich gen, lässt Otto den Knirps aber doch lieber me erneut zum Hoftag und spendiert der folger Lothar I. im Wormser Dom die Hoch- die Geistlichkeit 868 zum Konzil und später in Aachen krönen. Das sagt schon viel aus Wormser Kirche bei dieser Gelegenheit viel- zeit seiner Tochter. zu mehreren Synoden. Auch Hoftage gibt über Worms, das im späten 9. Jahrhundert leicht zum Dank für die gastliche Aufnahme Doch noch im selben Jahr stehen Lothars es weiter in der Stadt, vor allem dann, wenn zunehmend an Bedeutung und Strahlkraft sämtliche Einfuhrzölle der Stadt. Während Brüder Karl und Ludwig vor den Toren der es wieder einmal Streitereien im westlichen verliert. Erst das imposante Bauprogramm Ludwig in den Folgejahren mit seinen vier Stadt. Von hier aus zwingen sie ihn zu Ver- Nachbarland zu besprechen oder zu beein- eines ehrgeizigen Bischofs wird der Stadt Söhnen militärisch um die Aufteilung des handlungen. Der Bruderkrieg hat viele Op- flussen gilt. im neuen Jahrtausend neuen Glanz bringen.

1839 1848 1853 1860 1873 1875 1898 1914 1918 1933 1938 1945 1946 1949 1950 1958 1959 1963 1964 1972 1990 1991 1995 1996 1997 2001 2019 WORMS IM WANDEL DER ZEIT 19 Wormser Konkordat 11Kompromiss22 auf den Lobwiesen

Kaum hat Heinrich IV. die Sachsen Furcht gehalten und dich daher nicht besiegt, macht er Worms zur Bühne gescheut, dich sogar gegen die uns weltpolitischer Ereignisse. Auf dem von Gott verliehene königliche Gewalt Hoftag 1076 bricht hier der Streit über zu erheben“, lässt er Gregor schreiben, die Ernennung der Bischöfe offen aus. den er als „nicht mehr Papst, sondern Erst ein Menschenleben später kommt falscher Mönch“ bezeichnet. „Du hast man auf den Lobwiesen vor der Stadt zu drohen gewagt, du würdest sie uns zu einem Kompromiss nehmen, als ob in deiner und nicht in Gottes Hand Königs- und Kaiserherr- Der König kocht. Am 24. Januar 1076 schaft lägen.“ Das Schreiben endet mit – außerordentlich früh im Jahr angesichts einer klaren Aufforderung des Königs an der zum Reisen recht ungemütlichen Wit- den Papst zur Demission: „Ich, Heinrich, terung – hat Heinrich IV. die Reichsstän- durch die Gnade Gottes König, sage dir de zu einem eiligen Hoftag nach Worms zusammen mit allen meinen Bischöfen: einbestellt. Die Angelegenheit duldet Steige herab, steige herab!“ keinen Aufschub. Ausgerechnet kurz vor Im Frühjahr 1076 prallen ausgehend von Weihnachten hat der König ein patzi- Worms die zwei mächtigsten Männer ges Schreiben aus Rom erhalten. Papst Europas frontal aufeinander. Ein hitziger Gregor VII. fordert darin unverblümt den Streit um die Besetzung des Mailänder Gehorsam des christlichen Königs ein. Bischofsstuhls ist vorausgegangen. Bei der Auswahl von Bischöfen, der so- Doch es geht hier nicht eigentlich um genannten Investitur, möge Heinrich sich seelsorgerische Fragen, sondern um heraushalten. Sonst – so droht Gregor un- Macht, Geld und Einfluss im Reich. Mit missverständlich – werde der König aus hohen kirchlichen Ämtern sind inzwi- der Kirche verstoßen. schen Pfründen und damit hohe Ein- In Heinrichs Augen muss sich das Schrei- künfte verbunden. Diese Rechte sind ben als Verletzung seiner königlichen Ehre vererbbar und verkäuflich. Die Bischöfe, lesen. Auch realpolitisch kann er es nicht alle stammen aus dem Adel, üben mit unbeantwortet lassen, will er seine Macht- Grafenrechten versehen in ihren Territo- position nicht ernsthaft gefährden. Als rien weltliche Herrschaft aus, befehligen Heinrich nach der Aussprache in Worms eigene Truppen und erheben ihre Stim-

die Mehrheit der Erzbischöfe und Bischö- Vaticano Segreto Foto: Archivio me auf den Hoftagen. Manche verste- fe im Reich hinter sich weiß, keilt er des- Vom 23. September 1122 datiert die kaiserliche Urkunde, die auf den Lobwiesen bei Worms den Investitiurstreit hen sich nicht einmal auf die kirchliche halb zurück: „Du hast unsere Demut für beendet. Bis heute liegt sie im Archiv des Vatians Liturgie.

32 WORMS IM WANDEL DER ZEIT -5000 -27 413 614 770 891 1000 1034 1074 1122 1254 1349 1392 1495 1511 1513 1521 1632 1689 1725 1792 1809 1814 1816 Aus Sicht des Königs sind die Kirchen im jahr der Bann nicht aufgehoben sei, so er- Rudolf wird als Gegenkönig gekrönt. Ein wiesen vor der Stadt einigen sich Heinrich weltlichen Besitz des Reiches. So besteht klären die Opponenten, wollen sie mit dem Bürgerkrieg erschüttert das Reich. Nach V. und Papst Calixtus II. am 23. September er darauf, auch die Bischöfe selbst auszu- Papst einen neuen König wählen. Jetzt beißt einem erneuten Bann Heinrichs wählen 1122 auf einen staatsrechtlichen Vertrag. Die suchen. Doch dagegen formiert sich zu- Heinrich in den sauren Apfel, wandert noch oppositionelle Bischöfe auch einen Gegen- kaiserliche Ausfertigung wird noch heute in sehends eine Opposition aus Reformern. im Winter mit Frau und Kind über die Alpen papst. Gregor stirbt im Exil. Und Heinrichs den Archiven des Vatikans aufbewahrt. Da- Sie machen Front gegen diese Form der und wirft sich dem Papst vor der Burg von Sohn meutert – wohl auch aus Angst um die rin heißt es: „Ich, Heinrich, von Gottes Gna- Laieninvestitur. Zu diesen Leuten gehört Canossa barfuß zu Füßen. Die Kommunion eigene Seele – gegen den eigenen Vater. Als den erhabener römischer Kaiser – aus Liebe auch der Priester Hildebrand. Zeitgenos- kann ihm Gregor letztlich nicht verweigern. Heinrich V. wird er König. Ein scheinbar un- zu Gott, zur heiligen römischen Kirche und sen nennen ihn wegen seines kompromiss- Was nach einer Kapitulation aussieht, ist auflösbares Kuddelmuddel. zum Herrn Papst Calixt sowie zum Heil losen Eifers „Höllenbrand“ oder „Zuchtrute de facto mehr ein Waffenstillstand. Einer, Erst nach 46 Jahren gelingt dort, wo alles meiner Seele – überlasse Gott, Gottes Gottes“. Nach dem Tod des alten Papstes den beide Seiten fortan zu begann, in Worms, ein Kom- heiligen Aposteln Petrus und Paulus und lässt Hildebrand sich während der Beiset- brechen suchen. Denn promiss. Auf den Lob- der heiligen katholischen Kirche jegli- zung im Jahr 1073 in Rom – gegen jedes über die Frage der Inves- che Investitur mit Ring und Stab“. Kirchenrecht – vom versammelten Volk zum titur haben sie in Canos- Ein Vertrag von weltgeschichtlicher Be- neuen Pontifex Gregor VII. bestimmen. Und sa gar nicht gesprochen. deutung. „Wormser Konkordat“ nennt er setzt alles auf eine Karte. Auf einer Syn- Heinrichs Schwager ihn indessen erst Gottfried Wilhelm ode in Rom verhängt er 1076 nicht nur den Leibnitz im Jahr 1693. Dem König- und Bann über Heinrich, sondern erklärt den Kaisertum bringt er erhebliche Macht- König kurzerhand für abgesetzt. einschränkungen und Schließlich habe der König sein Amt nur eine Entfremdung von der dank Gottes Gnaden und damit dem Kirche. Der Kaiser verliert Stuhl Petri zu gehorchen. seinen göttlichen Nim- Gregor stellt die Machtfrage. Und Hein- bus. Er wird zum weltli- rich muss sich beugen, denn der Bann chen Herrscher. Als sol- versperrt den Einzug ins Himmelreich – cher darf er aber eigene eine Perspektive, die für Menschen des Gesandte zu Bischofs- Mittelalters sehr großen Schrecken be- wahlen schicken. Und zu- inhaltet. Bei dieser Aussicht versagen et- mindest in Deutschland liche Bischöfe Heinrich die Gefolgschaft. sollen die neuen Bischö- Sie müssen um die Ruhe in ihren Terri- fe ihr Zepter als Zeichen torien fürchten. Schließlich gilt ein Bann ihres weltlichen Lehens auch gegen Untertanen. Die Sachsen noch vor der Weihe aus

nutzen das Vakuum zu einem neuen Foto: Martin Wein der Hand des Kaisers er- Aufstand. Wenn bis zum nächsten Früh- Ein Modell im Dom zeigt, wie der Stiftsbezirk im Mittelalter ausgesehen haben dürfte halten.

1839 1848 1853 1860 1873 1875 1898 1914 1918 1933 1938 1945 1946 1949 1950 1958 1959 1963 1964 1972 1990 1991 1995 1996 1997 2001 2019 WORMS IM WANDEL DER ZEIT 33 Klosterleben in Worms 12Die21 Barfüßer kommen

Martin Luther ist keineswegs der erste, eines der Tore in die Stadt. Sie tragen kei- guten Werken verschrieben. Sie pflegen dem kirchliche Prunksucht missfällt. Vom ne Schuhe und haben ihre grob gewobenen Kranke und Alte, kümmern sich um Waisen Städtchen Assisi in Umbrien ausgehend braunen Gewänder nur mit einem Strick zu- oder versorgen Pilger und Hungernde. Hin- findet schon 300 Jahre früher der Bettel- sammengebunden. Franz von Assisi selbst ter dem Bürgerhof an der Nazariuskapelle orden des Franziskus viele Anhänger. hat diese Brüder über die Alpen geschickt. errichten sie an der heutigen Hagenstraße Nach nur zehn Jahren sind diese soge- Ihre ersten Klöster gründen sie in , ihr erstes Domizil. Später ziehen sie dann in nannten Barfüßer auch in Worms unter- Regensburg, Würzburg, Speyer und Worms. die heutige Peterstraße um. wegs. Sie werden mit offenen Armen In der Stadt bringen die Franziskaner mit Was ist das doch für ein anderes Bild. Geist- empfangen ihrem Auftreten und Wirken eine ganz neue liche sind auch vorher schon in Worms ton- religiöse Tonlage zum Klingen. Die Barfü- angebend. Die meisten indessen sind Stifts- Im Spätherbst des Jahres 1221 kommen ßer verneinen weltlichen Besitz und Luxus. herren am Hochstift des Doms oder an den einige Männer in ärmlichen Kutten durch Sie haben sich neben dem Gebet ganz den Kollegiatsstiften St. Andreas, St. Paulus und St. Martin. An diesen Kirchen lesen sie täg- Unter der Martinskirche soll Martin von Tours als lich die Messe und halten die sieben vorge- Kriegsdienstverweigerer im römischen Kerker ge- sessen haben. Später werden hier die Kämmerer von schriebenen Stundengebete. Trotzdem hat Worms beigesetzt, darunter die Familie von Dalberg ihre Lebensführung mit Frömmigkeit oft nur bedingt zu tun. Stifte sind im Mittelalter auch und vor allem eine Versorgungsinstitution legt, lässt das Stiftskapitel bis 1200 eine ein- für wohlhabende Familien. Um eine Erbtei- drucksvolle romanische Basilika errichten. lung von Grund und Boden zu vermeiden, Man nutzt ein Feuer wenig später als Anlass, werden zweite Söhne häufig in einem Stift um das Gebäude zeitgemäß gotisch umzu- untergebracht – oft verbunden mit großzügi- gestalten. Geräumige Wohn-, Lager- und gen Zustiftungen. Sie müssen dazu kein Ge- Wirtschaftsgebäude des Stifts umgeben lübde ablegen und können den Stift damit einen Kreuzgang, von dem zwei Seiten bis jederzeit wieder verlassen. Viele erlangen heute erhalten sind. Ab 1930 wird das Ge- nur die niederen Priesterweihen und leben bäude schließlich von der Stadt als Museum so nicht notwendig zölibatär. Sie müssen genutzt und bis zum Lutherjahr 2021 um- nicht einmal im Stift wohnen, erhalten aber fangreich saniert. anteilig dessen Einnahmen. In Worms übernehmen die Stifte und ihre Mit großen Ländereien und anderen Ein- Pröpste die Führung der vier Pfarreien und künften sind die Stifte finanziell oft hervor- damit eine wichtige Ordnungsfunktion. ragend ausgestattet. Man sieht das etwa Sie organisieren in ihrem Bereich die Be-

Das Andreasstift grenzt direkt an die alte Stadtmauer. Die Stiftsherren organisieren in ihrem Viertel auch die am ehemaligen Andreasstift. Von Bischof mannung der Stadtmauer, ziehen Steuern Bewachung der Mauer Burchard hinter die Mauern der Stadt ver- ein und überwachen das Handelsgesche-

36 WORMS IM WANDEL DER ZEIT -5000 -27 413 614 770 891 1000 1034 1074 1122 1184 1221 1254 1349 1392 1495 1511 1513 1521 1632 1689 1725 1792 1809 1814 1816 Auch die junge Predigergemeinschaft des Stadtmauern auf dem Gelände der heutigen in der Abtei Mariamünster ist immer welt- 1221 verstorbenen Dominikus kann auf Kaiserpassage ansiedeln. Das ehemalige licher geworden. Der zweifelhafte Ruf der päpstliches Wohlwollen setzen, als erste Paulusstift wird erst 1929 ihr neues Domizil, Damen und ihrer Aktivitäten spricht sich bis Vertreter fünf Jahre nach den Franziskanern nachdem der Altertumsverein sein Museum nach Rom herum. Bischof Landolf soll des- in Worms zunächst außerhalb der Stadt in von dort verlagert hat. Den Franziskanern halb 1237 auf päpstliches Geheiß für Ord- der Kirche St. Andreasberg tätig werden. stellt der Bischof schon 1228 seine Kathe- nung sorgen. Er stellt die Nonnen unter die Die Bürger schätzen die Bettelmönche und drale für Gottesdienste zur Verfügung, als Klosterregel der Zisterzienserinnen. Nicht zu stiften ihnen immer wieder Geld. Aber dem der Orden zur ersten Provinzialversammlung verwechseln ist dieses Kloster mit dem Lieb- Bischof und den Kanonikern des Hochstifts nach Worms einlädt. frauenstift. Das wird erst 1298 von Bischof sind die Aktivitäten der Dominikaner schon Schon vorher besteht eine weibliche Frau- Emicho gestiftet und liefert ab 1744 mit der bald ein Dorn im Auge. Schließlich rütteln engemeinschaft in unmittelbarer Nähe zur Liebfrauenmilch einen lieblichen Wein, der diese mehr auf Predigt konzentrierten Brü- mittelalterlichen Stadt. Doch das Treiben bis heute weltweite Bekanntheit besitzt. Nur der an gewachsenen Pfründen und Rechten „soweit der Kirchturm seinen Schatten wer- und stellen zudem überlieferte Traditionen fe“, dürfen die Trauben ursprünglich ihren in Frage. Erst nach mehreren Jahren des werbeträchtigen Namen tragen. Aber das ist Streits dürfen auch sie sich innerhalb der freilich ein ganz anderes Thema.

hen. Doch auf die sozialen Bedürfnisse der wachsenden Bevölkerung haben sie keine Antwort. Schon in der Vergangenheit sind in der Kir- che Bestrebungen laut geworden, die enge Verzahnung geistlicher und politischer Macht zu entkoppeln. Doch während die Katharer zur selben Zeit mit ihren Reformideen die Machtbasis der Kirchenfürsten und der von kirchlichen Pfründen Lebenden direkt an- greifen und deshalb als Ketzer verfolgt wer- den, weiß der 1198 schon mit 37 Jahren auf den Stuhl Petri gelangte Papst Innozenz III. die Ansätze der Bettelorden für die Kirche zu nutzen. Die frommen Brüder passen ganz in sein Bild einer Welt, in der der Mensch „Schändliches“ verübe und „seine Hoffnung auf eitle Dinge“ setze. Umkehr sei also nötig. Sonst ende der Mensch – so Innozenz‘ dras- tische Warnung – „als Raub der Flammen, Fotos: Martin Wein als Speise der Würmer, oder er vermodert.“ Bischof Emicho gründet 1298 das Liebfrauenstift vor der Stadt. Dessen Wein wird später weltweit berühmt

1839 1848 1853 1860 1873 1875 1898 1914 1918 1933 1938 1945 1946 1949 1950 1958 1959 1963 1964 1972 1990 1991 1995 1996 1997 2001 2019 WORMS IM WANDEL DER ZEIT 37 Der Reform-Reichstag 14Der95 letzte Ritter siegt

Nicht die Entdeckung Amerikas bringt im Die Herrschaften aber wollen eigentlich nur Heiligen Römischen Reich eine entschei- reden. Und sie machen jede – auch finanzi- dende Wende zur Neuzeit, sondern eine elle – Beteiligung an möglichen Kriegszügen ziemlich schamlose Erpressung in Worms. konsequent von Kompromissen unterein- Damit zwingen die Reichsstände den eili- ander und substanziellen Zugeständnissen gen König zu einer umfassenden Reform. Maximilians abhängig. Da mag der König Worms ist einen Sommer lang faktisch noch so dringlich mahnen, drängen, fluchen: Hauptstadt des Reiches Die Reichsstände tun ihm keinen Gefallen. So wird Worms im Sommer 1495 am Ende Maximilian will kein langes Palaver. Als der fast ein halbes Jahr lang die faktische Haupt- König Ende November 1494 die Reichsstän- stadt des Heiligen Römischen Reiches. Der de mal wieder zu einem Hoftag nach Worms zum zweiten Mal frisch vermählte Maximilian einlädt, schwebt ihm eine kurze Aussprache hat im Sommer zuvor auf der Durchreise in von etwa 14 Tagen vor. Der Habsburger die Niederlande einige Zeit zusammen mit braucht dringend Geld für einen Kriegszug seiner jungen Gattin Bianca Maria Sforza gegen die expansiven Osmanen. Die haben im Wormser Bischofshof verbracht und sich 1453 Konstantinopel eingenommen und vom Stadtrat königlich verwöhnen lassen. drängen jetzt in Richtung habsburgischer Das Reichsoberhaupt ist nämlich chro- Territorien. Außerdem will Maximilian Frank- nisch klamm. Der nicht seinem Stand ent- reichs König Karl VIII. aus Italien vertreiben, sprechenden Hochzeit mit der Mailänderin

Abbildung: Stadtarchiv Worms Abbildung: Stadtarchiv hat Maximilian nur zugestimmt, weil sie ihm Das Haus zur Münze wird bis 1499 der erste feste Sitz des Hofgerichts, das sich mit der Zeit zum Reichskam- 440 000 Dukaten Mitgift eingebracht hat. Es mergericht entwickelt hat ihnen in Worms gut gefallen, auch wenn die Bürger natürlich mal wieder vor allem bevor der ihm womöglich noch die Kaiser- anzutreffen. Tatsächlich sind immerhin fünf königliche Privilegien von Maximilians Vor- krone wegschnappt. Die möchte sich Maxi- von sieben Kurfürsten, zehn Fürstbischöfe gänger Friedrich III. bestätigt haben wollten. milian bei der Gelegenheit lieber selbst beim und 29 weltliche Fürsten sowie 67 Grafen Ja, man hat sogar zusammen mit ihnen im Papst in Rom abholen. und die Ratsvertreter von 24 Reichsstädten Tanzhaus am Obermarkt das Tanzbein ge- Der Mann hat also große Pläne, als er am erschienen – etwas weniger als die Hälfte schwungen! 26. März die Verhandlungen eröffnet. Und der Reichsstände. Für Worms ein ziemlicher Nun ist Maximilian wieder da und lässt sich

Abbildung: Deutsche Post Post Deutsche Abbildung: da ein Reichstag – der Begriff wird erst jetzt Auflauf an hohen Herren, der zahlreiche Ein- von Bürgermeister Reinhardt Noltz und dem gebräuchlich – ursprünglich auch eine Heer- quartierungen nötig macht. An den Fassa- Stadtrat mit Wein für sich und Hafer für seine Der Wormser Reichstag bringt eine historische Wende im Deutschen Reich. 500 Jahre später schau ist, hofft der Monarch, seine Reichs- den der schönsten Bürgerhäuser hängen Pferde beschenken. Außerdem wird ihm ein widmet die Bundespost ihm eine Sondermarke fürsten und Stadtvertreter wohl gerüstet die Wappen der Reichsfürsten. besonders prächtiger Lachs aus dem Rhein

44 WORMS IM WANDEL DER ZEIT -5000 -27 413 614 770 891 1000 1034 1074 1122 1184 1221 1254 1349 1392 1495 1511 1513 1521 1632 1689 1725 1792 1809 1814 1816 Maximilian I. – hier mit Reichs- apfel auf einem Porträt von Albrecht Dürer – wird eher unfreiwillig zum Reformator des Reiches

überreicht. Am 19. April, dem Ostersonn- Doch damit hat es sich schon fast mit der erschlossen, die Hanse tag, hört der König zusammen mit allen an- Harmonie. Während Maximilian die Zeit verliert an Einfluss. Soll wesenden Reichsfürsten im Chorraum des davonläuft, beraten die Reichsstände über das Reich prosperieren, Doms die Ostermesse. eine umfassende Reform. Am 27. April braucht es mehr Verbind- lenkt der König ein und will verhandeln. lichkeit, fordert allen voran Schon lange gibt es Wünsche nach einem der Mainzer Erzbischof nicht mehr zeitlich begrenzten Landfrieden. und Reichserzkanzler Gewaltsame Fehden sollen verboten, Kon- Berthold von Henneberg. flikte vor einem vom König räumlich unab- Manche sagen sogar, hängigen Reichsgericht ausgetragen wer- der König solle seine Re- den. Eine revolutionäre Idee, denn sie gibt gierungsgewalt an einen erstmals jedermann das Recht und – wenn Ausschuss der Kurfürsten er ein Armutszeugnis ablegt – sogar finan- abgeben, das sogenannte zielle Unterstützung, auch gegen Entschei- Reichsregiment. dungen des eigenen Landesherrn vorzuge- Davon will Maximilian na- hen. Zwar werden die Richter noch immer türlich nichts wissen. Aber

vom König oder Kaiser bestimmt, aber das als man ihm im Juni im- Adobe Stock/seksan1 Foto: Kunsthistorisches Museum, Wein; Gericht ist dennoch ein erster Schritt zur Ge- merhin 100 000 Gulden waltenteilung. Einmal im Amt, entscheiden für ein Söldnerheer im die Richter nach eigenem Urteil. Nach dem Krieg in Italien zusagt, lässt er sich bei den Eigentlich ohne es selbst zu wollen, hat Ma- Reichstag wird das Königliche Kammerge- übrigen Themen zu einem Kompromiss be- ximilian mit diesen Regelungen dem Reich richt, Vorläufer des Reichskammergerichts, wegen. Ende Juni verzichten die Stände auf eine Reform beschert, die noch lange nach- zunächst im Haus zur Münze in Worms an- das Reichsregiment und geben die Gelder wirken wird. Auch persönlich kann der Re- sässig. frei. Jetzt steht einer umfassenden Reform gent, den man später oft den „letzten Ritter“ Auch in Steuer- und Rechtsfragen sowie nichts mehr im Weg. Am 7. August sind die nennen wird, einen Erfolg verbuchen. Bevor bei den verwendeten Münzen drängen viele Schlussdokumente endlich unterschriftsreif. er mitten in einer Nacht im September eilig Reichsstände auf verbindliche Regelungen. Maximilian muss fortan nicht mehr um Geld und ohne seine Gattin die Stadt verlässt, Es sind schließlich schnelllebige Zeiten: Jo- betteln. Für die nächsten vier Jahre wird der zwingt Maximilian in einem Turnier auf dem hannes Gutenberg hat in Mainz den Buch- Gemeine Pfennig eingeführt. Die Kopfsteuer Obermarkt den burgundischen Ritter Clau-

Foto: wikipedia/Mattes druck mit beweglichen Lettern erfunden, soll jeder Untertan über 15 Jahren direkt ans de de Vaudrey in voller Rüstung mit Lanze Maximilian ist ein starker Monarch. Auf dem Ober- Leonardo da Vinci revolutionäre Kriegstech- Reich entrichten, gestaffelt nach Vermögen. und Schwert in die Knie. Soll einer sagen, markt zwingt der König in voller Rüstung einen nik ersonnen. In Italien entstehen erste Ban- Dass die Steuer-Praxis für die Reichskasse der Monarch habe keinen Mumm in den burgundischen Ritter beim Turnier auf die Knie. Seine Rüstung steht heute im Metropolitan Museum of Art, ken. Christoph Kolumbus hat eben Ame- weniger rosig aussehen wird, weiß ja noch Knochen. Auf die Kaiserkrone muss er trotz- New York rika entdeckt. Neue Handelswege werden niemand. dem noch weitere 13 Jahre warten.

1839 1848 1853 1860 1873 1875 1898 1914 1918 1933 1938 1945 1946 1949 1950 1958 1959 1963 1964 1972 1990 1991 1995 1996 1997 2001 2019 WORMS IM WANDEL DER ZEIT 45 Weinbau 15Riesling11 in Pfeddersheim

Wormser Wein wird schon im Nibelun- St. Sebastiansbrüder der örtlichen Pfarrkir- den man kunde vinden umben Rhin“. Ein genlied besungen. In Pfeddersheim ist che Mariä Himmelfahrt eintragen. Erst vor halbes Jahrtausend später schwärmt Victor der Rieslang-Anbau seit einem halben einigen Jahren taucht das Dokument zufällig Hugo: „Wahrhaftig, um drei Gläser Wormser Jahrtausend verbürgt. Die Liebfrauen- wieder auf und wird seither in Ehren gehal- Weines willen würde ich nach Worms kom- milch sorgt dagegen lange für einen eher ten. Es belegt: Qualitätsweine haben in und men.“ Es ist die viele Sonne am Oberrhein zwiespältigen Ruf. Doch inzwischen hat um Worms mindestens 500 Jahre lang Tra- und das mineralreiche Terroir, das den Wein der Wind sich gedreht dition. um Worms so hochwertig gedeihen lässt. Pfeddersheim ist im 16. Jahrhundert frei- Die Stadt ist anno 2020 mit ihren traditions- Wir schreiben das Jahr 1511, als Philip Mey- lich eine eigene Stadt. Erstmals wird der reichen Weinorten – neben Pfeddersheim er und seine Ehefrau Else in Pfeddersheim Ort im Jahr 754 erwähnt. Er besitzt seit neben anderen Grundstücken einen halben etwa 1300 von König Albrecht I. Stadtrech- Morgen mit Riesling bebauten Weinberg te und ist wenig später sogar wie Worms als Unterpfand für einen Schuldbrief an die als Reichsstadt ein vollwertiges Mitglied im Rheinischen Städtebund. Es gibt mehre-

re bedeutsame Schlachten vor den Toren Worms Foto: Stadtarchiv

der Stadtmauer, die man noch heute gut Rahmen: Adobe Stock/giadophoto erkennen kann. Erst als der Dreißig- Der Kaufmann Peter Joseph Valckenberg erwirbt jährige Krieg Deutschland verwüs- 1808 die Weinlagen rund um die Liebfrauenkirche und macht die Liebfrauenmilch zum Exportschlager tet, versinkt auch das zerstörte Pfeddersheim in relativer Bedeu- tungslosigkeit. 1874 werden ihm Wein mitbringen. „Darf unser Herr Gott gu- die Stadtrechte aberkannt. Mit ten Rheinwein schaffen, so darf ich wohl der Kommunalreform von 1969 trinken“, findet der Protestant. Im frühen 20. Foto: Martin Wein Foto: Martin Wein wird Pfeddersheim gegen den Jahrhundert wird die Pfeddersheimer Reb- Willen vieler Einwohner der schule unter der Leitung von Georg Scheu größte Stadtteil von Worms, zur zentralen Zuchtstation für Rheinhessen behält aber seinen eigenen, ausgebaut. etwas verträumten Cha- Der Weinbau hat in der Region freilich eine rakter. Der Wein hat den viel längere Tradition. Schon die Römer Ort reich gemacht – und bringen erste Rebstöcke mit über die Alpen berühmt. Nach dem heißen – und das Wissen, sie zu kultivieren. Aller- Foto: Martin Wein Sommer 1540 lässt sich auch dings klappt das nicht überall gleich gut. Im Der Winzerbrunnen von Gustav Nonnenmacher in der Pfeddersheim – im Mittelalter sogar kurzzeitig freie Kämmererstraße erinnert seit 1983 an die Weinbau- der Reformator Martin Luther von einem Nibelungenlied lobt der Autor im 13. Jahr- Reichsstadt – ist heute der größte Stadtteil von tradition der Stadt Edelmann gleich 60 Liter Pfeddersheimer hundert Worms‘ „guoten win, den besten, Worms mit über 6000 Einwohnern

46 WORMS IM WANDEL DER ZEIT -5000 -27 413 614 770 891 1000 1034 1074 1122 1184 1221 1254 1349 1392 1495 1511 1513 1521 1632 1689 1725 1792 1809 1814 1816 sind das auch Abenheim, Heppenheim, der Stadt wachsen zwischen Bürohäusern, nien schätzt man den lieblichen Weißen. Val- alle möglichen Fassweine zusammen. In Herrnsheim oder Horchheim – die drittgröß- Containern und der gotischen Liebfrauen- ckenberg wird Maire in Worms und später Übersee ist das ein Verkaufsschlager. Bis te Weinbaugemeinde in Deutschland. In der kirche jene Weißwein-Trauben, die seit 1971 bis zu seinem Tod Oberbürgermeister. in die 1980er-Jahre wird die Hälfte des ex- City sieht es zwar nicht annähernd so urig als Liebfrauenmilch-Kirchenstück vermark- Sein Erfolg ruft allerdings Neider auf den portierten deutschen Weins unter diesem aus wie in den Dörfern an der Weinstraße. tet werden. Plan. Aus weitem Umkreis verkaufen Win- Markennamen verscherbelt. 1908 hat eine Keine Weinwirtschaften und kein Weinver- Die Liebfrauenmilch bringt dem Wormser zer ihre Weißweine bald unter dem luk- Verordnung das Anbaugebiet lediglich auf kauf weit und breit. Nur der Winzerbrunnen Wein über Jahrzehnte nämlich einen zweifel- rativen Namen. Und sie panschen dabei Rheinhessen, die Pfalz, das Nahetal und von Gustav Nonnenmacher – 1983 gestiftet haften Ruf ein. Pilgern hat der fruchtige Wein den Rheingau beschränkt. In Worms selbst von der Interessengemeinschaft „Wonne- des Liebfrauenklosters einst „so süß wie die besinnt man sich früher als anderswo auf gauer Weinkeller“ – steht in der Kämmerer- Milch unserer Lieben Frau“ geschmeckt. Als alte Qualitätstraditionen. Der Lagenwein straße gut sichtbar für diese Tradition. Aber 1808 die Weinberge der Klöster säkularisiert Liebfrauenstift-Kirchenstift wird lediglich schon an der Südseite der wärmenden alten werden, greift der katholische Kaufmann auf 14 Hektar angebaut. Und die Mühe Stadtmauer reifen die ersten Riesling-Re- Peter Joseph Valckenberg zu und etabliert lohnt sich. Das Deutsche Weininstitut ben in der historischen Lage Luginsland im die Liebfrauenmilch geschickt als internatio- würdigt ihn 2013 als einen der „Höhe- mineralienreichen Boden. Und im Norden nal bekannte Marke. Vor allem in Großbritan- punkte deutscher Weinkultur“. Foto: Stadtarchiv Foto: Martin Wein

1839 1848 1853 1860 1873 1875 1898 1914 1918 1933 1938 1945 1946 1949 1950 1958 1959 1963 1964 1972 1990 1991 1995 1996 1997 2001 2019 WORMS IM WANDEL DER ZEIT 47 Pfälzischer Erbfolgekrieg 16Trommelwirbel89 und Feuersturm

Worms taumelt durch die Geschichte. reiten dem alten Worms ein feuriges Ende. Diesen Tag wird in Worms niemand mehr Erst will der Kurfürst von der Pfalz die Nach Pfingsten 1689 bleibt von der einst- vergessen, Zeit seines Lebens nicht. Es ist stolze Stadt als seine Residenz ausbauen. mals stolzen Stadt kaum mehr als ein Dorf wie eine dramatische Inszenierung in einem Dann fallen die Franzosen unter dem in Ruinen. Trotzdem geben die zurück- Historienspiel – inklusive Trommelwirbel. absolutistischen Sonnenkönig ein und be- gekehrten Bewohner nicht auf Der erhebt sich an diesem Dienstag nach Pfingsten 1689 um 16 Uhr über der Stadt und vertreibt auch die allerletzten Ungläubi- gen aus den Häusern und Gassen, aus den Hospitälern, ja selbst aus den Kirchen. Drei Jahrzehnte zuvor hat der reformiert gläubige

Kurfürst Karl Ludwig von der Pfalz noch er- Franque, Palast von Versailles Abbildung: Jean-Pierre wogen, seine aufgeklärt barocke Residenz General Louis-François de Boufflers hat dem Stadt- und auch die Universität von Heidelberg rat bei der Kapitulation versprochen, sich zu beneh- nach Worms zu verlegen. Man stelle sich nur men. Doch die Besatzer halten sich nicht daran vor, was aus der Stadt hätte werden können! In Wahrheit ist das allerdings ein unmorali- ten hat sich Fürstbischof Johann Carl von sches Angebot gewesen. Der Regent wollte Frankenstein in eine Kutsche gesetzt und ist damit vor allem die stolze und eigensinnige nach Dirnstein gefahren. Er wird seinen Bi- Reichsstadt unter seine Kontrolle bringen. schofshof nicht wiedersehen. Der Stadtrat hat trotz der finanziellen Verlo- Jetzt kommen die Soldaten. Der Sonnen- ckungen dankend abgelehnt. könig Ludwig XIV. hat sie schon im Herbst Jetzt soll von einem Tag auf den anderen zuvor von Frankreich aus in Marsch gesetzt. und völlig unverschuldet alle Herrlichkeit vor- Ein großer Krieg tobt zwischen ihm und bei sein. Noch am Morgen des Pfingstdiens- dem habsburgischen Kaiser um die Vor- tags hat der Dekan des Martinsstifts, Petrus herrschaft. Später wird er unter dem etwas Dorn, zu einem allerletzten Gottesdienst verharmlosenden Namen Pfälzischer Erbfol- läuten lassen. Verunsicherte Kinder haben gekrieg in die Geschichtsbücher eingehen, mit dem „Wormbsischer Kinder hertzliches weil er sich unter anderem an der Nachfol- Kyrie Eleyson“ himmlischen Beistand erfleht, gefrage für den 1685 verstorbenen Kurfürs- während die Großen in Hast und Unglau- ten Karl II. entzündet. Der hat nämlich keine be die letzten Habseligkeiten aus der Stadt männlichen Nachkommen, wohl aber eine

Abbildung: Stadtarchiv Worms Abbildung: Stadtarchiv geschleppt haben. Sechs Tage sind den Schwester Liselotte. Die Ansprüche dieser Der Zimmermann und Ratsherr Peter Hamann zeigt auf einer seiner Zeichnungen, wie vor den Ruinen der Stadt Menschen geblieben, ihre Stadt zu räumen. Herzogin von Orléans haben Ludwig XIV.

Handwerker und Bauern dreimal in der Woche einen Markt abhalten Nicht alle sind geflohen. Als einer der letz- den Anlass zum Eingreifen geboten. Foto Hintergrundbild: Adobe Stock/peangdao

56 WORMS IM WANDEL DER ZEIT -5000 -27 413 614 770 891 1000 1034 1074 1122 1184 1221 1254 1349 1392 1495 1511 1513 1521 1632 1689 1725 1792 1809 1814 1816 Obgleich sich Worms im Krieg neutral ver- chen, der Bürgerhof und das Haus zur Mün- hält, sind Anfang Oktober französische ze, das Tanzhaus und der Kran am Rhein Truppen vor den Mauern aufgetaucht. Diese liegen in Trümmern. Selbst den mächtigen sind aber leider in erbärmlichem Zustand. Dom haben die Besatzer nicht verschont. Eine Verteidigung scheint aussichtslos. Ge- Der Krieg, Sie wissen ja. neral Louis-François de Boufflers hat dem Das wäre es eigentlich mit Worms. Ein Ende Rat versprochen, sich zu benehmen. Doch mit Schrecken. Von den einst 7000 bis 8000 alle Zusagen sind nach der kampflosen Einwohnern sind schon im Dreißigjährigen Kapitulation der Stadt schnell hinfällig ge- Krieg viele umgekommen, 1000 weitere Jah- worden. Statt maximal 300 sind Tausende re später bei einem neuerlichen Pest-Aus- Söldner in der Stadt einquartiert, halten sich bruch dahingerafft worden. Im Herbst 1689 an den Vorräten schadlos und nutzen ihre sind noch rund 1000 Seelen übrig. Von der Machtstellung schamlos aus. Sie haben die einstmals blühenden Reichsstadt bleibt Bürger gezwungen, ihre eigenen Verteidi- kaum mehr als ein Dorf in Ruinen. Die Fa- gungsanlagen einzureißen. Martinspforte, milien mit Geld quartieren sich zumindest Neutor und Leonhardstor sind gefallen. Nur anfangs andernorts ein. Mancher kommt nie am Rheinufer bleiben ein paar kümmerliche zurück. Doch wo sollen die Armen hin als in Reste, strategisch ohne Belang. die Kellergewölbe und Ruinen? Manch einer Doch die Franzosen können ihre Stellung wird noch Monate später unter einstürzen- nicht halten. Ein Rückzug ist unausweich- den Mauern begraben. Für die übrigen muss lich. Am 22. Mai hat der französische Kriegs- es irgendwie weitergehen. intendant dem Magistrat und dem Bischof Und es geht weiter. Der Zimmermann und eröffnet, dass alle Einwohner die Stadt ver- Ratsherr Hamann zeigt auf einer seiner lassen müssen. Dann soll sie brennen. Der Zeichnungen, wie vor den Ruinen der Stadt Krieg, Sie wissen schon. Soldaten haben Handwerker und Bauern dreimal in der leicht brennbares Material in den Straßen Woche einen Markt abhalten. Und Johann und Gassen aufgeschichtet und bei der Ge- Friedrich Seidenbender verfasst noch im legenheit in den verlassenen Häusern noch selben Jahr im Frankfurter Exil eine Denk- allerhand mitgenommen. Auf den Trommel- schrift, wie man die Stadt wiederbeleben wirbel folgt nun der Feuerstoß. Von Anhöhen könne. Nachdem der unsägliche Krieg end- der Umgebung verfolgen der Advokat und lich vorüber ist, macht Seidenbender sich Ratsherr Johann Friedrich Seidenbender, als Bürgermeister ans Werk. sein Ratsbruder Peter Hamann und viele ihrer Mitbürger, wie gezielte Sprengungen Worms, Speyer und Oppenheim simultan in Brand setzen. Das Fachwerk brennt bald lichterloh. Nur vier Stunden dauert angeb- lich der Feuersturm. Dann sind in Worms Der spätgotische Taufstein im Dom hat den Brand nicht nur 964 Häuser zu Asche und Ruinen überstanden. Bis zu deren Abbruch im 19. Jahrhun- verkohlt. Auch der Bischofshof, die Stiftskir- Foto: Martin Wein dert steht er in der Johanniskirche nebenan

1839 1848 1853 1860 1873 1875 1898 1914 1918 1933 1938 1945 1946 1949 1950 1958 1959 1963 1964 1972 1990 1991 1995 1996 1997 2001 2019 WORMS IM WANDEL DER ZEIT 57 Die Industrialisierung 18Bier39 und Leder

Kaiser und Könige, Kanoniker und der Maire an seinen Vorgesetzten in Spey- Kriegsherren haben Worms’ Geschichte er, außer ein wenig Tabak, Öl, Essig und entscheidend geprägt. Sein heutiges Branntwein werde in der Stadt nichts her- Gesicht verleihen ihm dennoch andere: gestellt. Pistorius selbst verdient sein Geld Geschäftsleute mit der richtigen Idee mit dem Holzhandel. Und er verwaltet eine und dem nötigen Kapital. Sie formen aus Kommune, die mehr einem großen Bauern- der verschlafenen Landstadt ein indus- hof gleicht als einer zukunftsfähigen Produk- trielles Zentrum. Ihre Kunden finden sie tions- und Handelsstadt. In England haben nicht mehr in der Region, sondern in der ab 1770 die „Spinning Jenny“, die erste me- ganzen Welt chanische Spinnmaschine, und der mecha- nische Webstuhl die Produktivität einzelner Von einer modernen Stadt sei wenig zu Menschen vervielfacht und den Grundstein sehen, jammert Johann Jakob Pistorius für erste Fabriken gelegt. Wenig später hat während der Franzosenzeit. 1805 schreibt James Watt mit der ersten industriell ein- Foto: Martin Wein

Cornelius Wilhelm Heyl II. residiert ab 1884 im für ihn gebauten neobarocken Palais Heylshof auf dem Gelände des ehemaligen Bischofshofs

setzbaren Dampfmaschine eine universell ein paar handwerkliche Werkstätten mit eini- einsetzbare Energiequelle erschlossen. An gen Gesellen und Hilfskräften kommt keines der Wende zum 19. Jahrhundert werden in dieser Gewerbe hinaus. Großbritannien bereits 35 000 Pferdestär- Noch 1838 beschreibt der Schriftsteller Vic- ken mit Dampf erzeugt. Und die Entwicklung tor Hugo Worms als „sterbende Stadt“. Im verläuft exponentiell: Dreißig Jahre später Reisebericht seiner Dampfschiffreise auf werden 165 000 PS Dampfkraft installiert dem Rhein notiert er: „Wo eine Häuserzeile sein – und die Steinkohle liefert die Energie stand, ist nur noch eine Mauer. (…) Überall dafür. Öde, Einsamkeit, Staub, Ruinen, kurz: die Von all dem ist zum Beginn des Jahrhun- Vergessenheit“. derts in Worms nichts zu sehen. Hier liegt Doch der Neuanfang hat zu dieser Zeit – viel Land brach. 400 Kühe, 300 Schweine auf seiner Stippvisite von Hugo unbemerkt und 140 Pferde tummeln sich innerhalb – bereits begonnen. Ganz neue Charaktere

Foto: Stadtarchiv Worms Foto: Stadtarchiv der Stadtgrenzen. Ein Verzeichnis von 1811 treten als treibende Kräfte auf den Plan. Der Nikolaus Andreas Reinhart und Johann Baptist Doerr entwickeln den handwerklichen Betrieb von Daniel Löb zu weist insgesamt 107 Betriebe aus. Und wichtigste ist Johann Cornelius Heyl. An- einer erfolgreichen Lacklederfabrik weiter selbst das klingt nach mehr als es ist. Über fang des vorangegangenen Jahrhunderts

68 WORMS IM WANDEL DER ZEIT -5000 -27 413 614 770 891 1000 1034 1074 1122 1184 1221 1254 1349 1392 1495 1511 1513 1521 1632 1689 1725 1792 1809 1814 1816 hat sich sein Großvater gleichen Namens in 206 Gebäuden. Arbeitsmöglichkeiten im aus Bacharach nach Worms auf den Weg Unternehmen haben Tausende in die Stadt gemacht. Als reformierter Protestant hat er gelockt. Schon 1877 stiften die Arbeiter in der darbenden Stadt Aufnahme gefun- dem verstorbenen Unternehmensgründer den. Der Schiffer hat die Stadt im Wieder- eine Bronze-Büste. Sein Sohn Cornelius aufbau mit seinem Rheinkahn mit Brenn- Wilhelm Heyl residiert ab 1884 im für ihn holz und Salz versorgt und Wormser Wein gebauten neobarocken Palais Heylshof auf flussaufwärts verhökert. Das hat ihm offen- dem Gelände des ehemaligen Bischofshofs. bar viel Geld ins Haus gespült. Sein Sohn Das vorher genutzte Schlösschen war für firmiert bereits als „Güterbesitzer“. Aber die Familie zu klein geworden. Heute dient erst der Enkel setzt auf Innovation. Nach- der Heylshof als städtisches Kunstmuseum dem lackiertes Leder aus Paris und London für die von Heyl begonnene Kunst- auch in Deutschland populär wird, investiert sammlung. Auch das Schloss der 42-Jährige zusammen Herrnsheim gehört bald der Fami- mit seinem Schwager lie – und passend dazu ein Adels- Johann Karl Marten- titel für den Mäzen und Politiker. stein 1834 auf dem Doch das Beispiel inspiriert auch

Gelände des aufge- andere. Ein Jahr nach Heyls In- Worms Stadtarchiv Foto: hobenen Klosters vestition übernimmt der Gerber- Mariamünster in meister Nikolaus Andreas Rein- Fünf Brauereien in industriellem Maßstab liefern um 1900 Bier an die Wormser Bürger und Arbeiter. Darunter ist eine Manufaktur hart den handwerklichen Betrieb auch das Unternehmen Wenger, hier mit seiner Belegschaft für künstlich ge- von Daniel Löb. Zusammen mit narbtes und gefärb- seinem Geschäftspartner Johann lich der ehemaligen Mauern die Kunst- schäftigt allein die Heyl AG als ungeschla- tes Ziegenleder. Fünf Jahre Baptist Doerr entwickelt er diesen wollfabrik Gustav Schoen & Co. 1856 wird gener Champion in Worms die Rekordzahl später macht er sich dann mit ebenfalls zu einer Lacklederfabrik sie von der Wollgarnspinnerei Worms am von 5200 Menschen. Insgesamt sind rund einer Fabrik zum Lackieren von weiter. Die fertigen Produkte ex- Rhein übernommen. Daneben arbeiten in 9000 in der Branche tätig. Das sind fast Kalbsleder für die Schuhproduk- portieren Reinhart und Doerr bis der Stadt die Tabakfabrik Leonhard Heyl & doppelt so viele Menschen, wie zu Beginn tion selbstständig. nach Südamerika und Australi- Comp., vier Zigarrenfabriken, die Maschi- der Industriellen Revolution hinter den Stadt- Heyl hat einen Nerv getroffen. en. Auch sie beschäftigen bald nenfabrik Gebr. Kaibel und die Zichorien- mauern lebten. Seine Produkte finden reißen- Hunderte Arbeiter und be- fabrik J.V. Jungbluth, die aus der Wegwarte Dieser einseitige Boom hat auf die Dauer den Absatz. Das Unternehmen teiligen sie ab 1889 in einem einen günstigen Ersatzkaffee produziert. Bis allerdings auch eine Kehrseite. Als im und wird zum Taktgeber der Indus- Arbeiterausschuss an der 1880 hat sich das Bild deutlich differenziert. nach dem Ersten Weltkrieg Rohstoffe knapp trialisierung in Worms. 1857 Firmenpolitik. 1924 stiftet Jetzt sind in Worms neben sechs Gerberei- werden, kommt das Unternehmen auch fi- beschäftigt es bereits 650 das Unternehmen seinen en und Lederfabriken fünf Großbrauereien, nanziell gehörig in Schieflage. Die ganze Menschen. 50 Jahre nach Arbeitern ein eigenes eine Nudelfabrik, eine Ölmühle, zwei Betrie- Stadt mit ihrem hohen Anteil an Industrie- seiner Gründung arbeiten Denkmal. be für Knochenpräparate, ein Hersteller für arbeitern leidet darunter. Der billigere Kunst- die Heylschen Lederwerke Um 1850 ent- Seifen und Wassergläser und ein Werk für stoff zwingt die Lederindustrie nach 1945 steht in der Patronenhülsen ansässig. Der industrielle allmählich ganz in die Knie. 1974 werden als 1924 stiftet das Unternehmen Doerr & Reinhart seinen Arbeitern Mainzer Vor- Kern bleibt jedoch die Lederverarbeitung. letzter Betrieb der Branche die Heylschen

Foto: Martin Wein ein eigenes Denkmal stadt nörd- Am Vorabend des Ersten Weltkriegs be- Lederwerke Liebenau liquidiert.

1839 1848 1853 1860 1873 1875 1898 1914 1918 1933 1938 1945 1946 1949 1950 1958 1959 1963 1964 1972 1990 1991 1995 1996 1997 2001 2019 WORMS IM WANDEL DER ZEIT 69 Der Bahnanschluss 18Per53 Dampfross bis Paris

Im beginnenden Industriezeitalter garan- Tempo von Maschinen und Transport. Er tiert vor allem die Eisenbahn den An- lässt Entfernungen zusammenschnurren. schluss an ferne Märkte. Doch Preußen Eine technische Revolution bricht sich Bahn. und die hessische Regierung wollen zu- Beton, Kohle und Stahl ebnen den Auf- nächst keine Trasse durch Rheinhessen. bruch in die Moderne. Schon 1820 beklagt Mit jahrelanger Verzögerung machen sich Ludwig Böhme in seiner „Monographie der schließlich private Geldgeber ans Werk. deutschen Postschnecke“ das Reisen im Erst spät wird Worms zum regionalen Schritttempo. Von nach Darm- Eisenbahnknoten. Derweil sichert eine stadt bräuchten Passagiere in der Postkut- provisorische Schiffsbrücke den An- sche geschlagene zwölf Stunden. Da könne schluss ans rechte Rheinufer man getrost auch zu Fuß gehen. Eisenbahn ist deshalb ein Zauberwort, das Im 19. Jahrhundert gerät die Welt unter auch in Worms vor allem bei weitsichtigen

Dampf. Der neue Antrieb beschleunigt das Geschäftsleuten und den ersten Industriel- Mainz Foto: unbekannt, Stadtarchiv len viele Hoffnungen weckt. Die Maschinenfabrik Esslingen liefert die Lokomotive Nr. 3 „Bismarck“ für die Hessische Ludwigsbahn Ab 1825 sind in England die ersten kommerziellen Züge die Pfalz. Zwei Jahre später verbindet die So kommt fern der Hauptstadt 1844 in zwischen Darlington und Main-Neckar-Bahn Frankfurt und Heidel- Mainz ein Komitee zur Gründung einer pri- Stockton unterwegs. In den berg. vaten Mainz-Ludwigshafener Eisenbahnge- Jahren danach wird das Nur für Rheinhessen gibt es zunächst kei- sellschaft zusammen. Später wird man sie Streckennetz im Mutterland ne Pläne. Dem hessischen Staat fehlt das Hessische Ludwigsbahn nennen und erst der Industriellen Revolution Geld und er fürchtet die Konkurrenz für 1896 zur Königlich Preußischen und Groß- rasch erweitert. Die Nach- seine rechtsrheinische Strecke. Außerdem herzoglich Hessischen Eisenbahndirektion richt von diesen revolutio- wollen die Preußen nicht. Frankreich könne verstaatlichen. Drei Tage lang können Inte- nären Stahlrössern macht sonst im Kriegsfall binnen zwölf Stunden ressierte in Mainz und Worms Aktien zeich- in Windeseile die Runde Truppen bis vor die Tore der Festung Mainz nen. 8,6 Millionen Silbergulden, neuerdings um den Globus. Nur 15 schicken. Doch Geschäftsleute im Elsass die süddeutsche Leitmünze, kommen so in Jahre später verbindet ab und in Bayern sind dafür und wissen den die Kasse. Am 15. August 1845 gibt die Re- 1840 die Taunus-Eisen- liberalen Vordenker Friedrich List auf ihrer gierung in Darmstadt grünes Licht für den bahn Frankfurt und Wies- Seite. 1834 sind im Deutschen Zollverein Bau entlang des Rheins. Eigentlich würde baden. 1844 vergibt Bay- die Zollschranken zwischen den zahlreichen es jetzt schnell gehen. Aber kurz nachdem Foto: unbekannt, „Die Reichsbahn“ Nr. 12/13 1937 12/13 Nr. Reichsbahn“ „Die unbekannt, Foto: erns Staatsregierung die Kleinstaaten im Deutschen Bund gefallen. Anfang 1848 die Baugenehmigung vorliegt, Stolz posieren Beamte der Ludwigsbahn vor dem ersten Wormser Konzession für den Bau Auch für Worms werden Geschäftskontakte bringt die Märzrevolution mit der begleiten- Bahnhof von 1853 einer Bahntrasse durch außerhalb der Provinz immer wichtiger. den Wirtschaftskrise die Gesellschaft in fi-

72 WORMS IM WANDEL DER ZEIT -5000 -27 413 614 770 891 1000 1034 1074 1122 1184 1221 1254 1349 1392 1495 1511 1513 1521 1632 1689 1725 1792 1809 1814 1816 nanzielle Schieflage. Erst ein Aktienpaket für Umsteigen bis nach Problem. 1832 hat Großherzog Ludwig III. und Großherzogin den Staat Hessen schafft Abhilfe. Schließ- Paris fahren. Wer das Großherzog- Mathilde trockenen Fußes über den Fluss lich fließen 4,5 Millionen Gulden in Gleisbau nach dem späten tum Hessen der spazieren. und Infrastruktur. Frühstück um 10:55 Stadt Worms und Dabei bleibt es nicht. 1867 besteht von Auch in Worms wird gebaut. Dabei hat es Uhr losfährt, ist am dem Hospitalfonds Worms mit der Ludwigsbahn Anschluss über in der Stadt zuvor auf einer Art Bürgerver- nächsten Morgen des ehemaligen Pfeddersheim nach . Ab 1870 verkehrt sammlung eine heftige Kontroverse gege- zum ersten Hah- Heilig-Geist-Spi- der Raddampfer „Ludwigsbahn 1“ als Fähre ben, ob der Bahnhof östlich oder westlich nenschrei um 4:30 tals die histori- in nur sieben Minuten über den 320 Meter der Altstadt angelegt werden solle. Über ein Uhr da. schen Fährrechte breiten Fluss. Gleichzeitig ist rechtsrhei- „Friedhofsprojekt“ schimpfen viele Bürger, Noch in einer an- für 12 800 Gulden nisch der Bahnhof Rosengarten in Betrieb

weil die West-Variante durch das Liebenauer deren Richtung be- Worms Foto: Stadtarchiv abgekauft. Ein genommen worden. Fahrgäste können ihn Feld den „Neuen Friedhof“ tangieren würde. kommt Worms end- Auf Schienen bis Paris – 1853 wird dieser Traum von Jahrzehnt später von Darmstadt aus mit der neuen Riedbahn Dennoch wird sie gebaut, mitsamt einem lich Anschluss an Worms aus möglich ist man sich in den erreichen. Güterwagen werden auf drei fla- Stationsgebäude. Am 24. August 1853 die Region – nach Landständen prin- chen Kähnen längsseits des Dampfers über- dampft der erste Zug aus Mainz in die Stadt. Osten. Seit dem Mittelalter haben nur Fäh- zipiell einig: Eine feste Querung muss her. gesetzt und am Hafenbahnhof wieder ange- Die Provinzhauptstadt ist nun gerade noch ren den Rhein überquert. Das aber dauert Aus Kostengründen soll es eine Schiffsbrü- koppelt. Das klingt kompliziert: Aber dieser eine Stunde und 22 Minuten entfernt. Ein lange und ist für Waren und Pendler aus cke sein. Aber erst als die Stadt zehn Jah- Trajekt-Verkehr macht zwischen Mainz und Quantensprung für Worms. Und als im No- dem Ried umständlich. Je mehr die Worm- re später einen Winterhafen erstellt, um die Ludwigshafen neue Handelsströme vember auch der Anschluss nach Ludwigs- ser Betriebe aufblühen, desto mehr wird die Boote vor Eisgang zu schützen, wird das erst möglich. Allein 1886 werden fast hafen gelegt ist, können Reisende sogar mit abgeschiedene Lage nach Osten hin zum Projekt Realität. Am 14. Juni 1855 können 40 000 Güterwagen übergesetzt. Foto: unbekannt, wikipedia Foto: Martin Wein Ab 1855 verbindet eine Schiffsbrücke Worms vom Frühling bis zum Herbst mit dem Ried – wenn kein Hoch- wasser herrscht. Aufnahme von 1890 nach Osten Das heutige Bahhofsgebäude entsteht erst bis 1905 im Zuge des Brückenbaus über den Rhein

1839 1848 1853 1860 1873 1875 1898 1914 1918 1933 1938 1945 1946 1949 1950 1958 1959 1963 1964 1972 1990 1991 1995 1996 1997 2001 2019 WORMS IM WANDEL DER ZEIT 73 Kapitulation und Neuanfang 19Endlich45 wieder Backfischfest

Das von der NS-Propaganda groß- 21. März 1945. Als die verbliebenen Worm- Fenstern und an Häusergiebeln zu emp- Krieges geworden. Es gibt wieder proviso- spurig als „Tausendjährig“ titulierte ser Bürger am ersten Frühlingstag des Jah- fangen. Die roten Hakenkreuzflaggen wer- risch Gas und Wasser. Weil nach der Ka- Reich endet in Worms schon nach zwölf res aus den Bunkern und Kellern ins Freie den zerschnitten und zu Kleidchen vernäht. pitulation vom 8. Mai viele Männer noch in Jahren – sechs Wochen vor dem Freitod steigen, beginnt eine neue Zeit. Schwere Parteibücher, Orden und Uniformen werden Kriegsgefangenschaft sind, räumen Frauen des „Führers“ – mit dem Einmarsch der „Tanks“ der 24. US-Panzer-Division sind vergraben, verbrannt oder versteckt. Man und Kinder Trümmer von den Straßen. Tau- Amerikaner. Alle öffentliche Ordnung und tags zuvor aus Richtung Bad Kreuznach fürchtet – von der NS-Propaganda ange- sende Evakuierte kehren zurück. Von April ein Großteil der Stadt liegen in Trümmern. nach Süden abgedreht. Nun rollen die ers- stachelt – Vergeltungsakte der Besatzer. bis Dezember wächst die Zahl der Einwoh- Später spricht man von einer „Stunde ten kampflos in Alzey, Ingelheim und Worms Vor allem aber steht das blanke Überleben ner wieder von rund 36 500 auf fast 48 000 Null“. Doch es gibt Kontinuitäten ein. Die führenden lokalen NS-Funktionäre für die meisten im Vordergrund. Jedes dritte Menschen. und versprengte Einheiten der Wohnhaus ist komplett zerstört. Strom- und Sie alle zu versorgen, ist eine Herkulesaufga- Wehrmacht haben in den Ta- Gasversorgung gibt es nicht mehr. Straßen be, denn auf übergeordneter Instanz gibt es gen zuvor fluchtartig die Stadt liegen voller Trümmer. Eisenbahngleise sind zunächst keine Ansprechpartner mehr. Je- verlassen und sich ans rechte blockiert. Alle Lebensmittel sind Mangel- der wirkt in seinem engen Bereich. Erst am Rheinufer abgesetzt. Der lang- ware. Eine strikte Ausgangssperre in der jährige Oberbürgermeister Nacht und zahlreiche Beschränkungen der Heinrich Bartholomäus, ein Militärregierung unter Hauptmann Neil J. van Überzeugungstäter, errichtet Steenberg sollen für Ruhe sorgen. Für die in Bobstadt noch ein Stand- Kinder haben die GI’s manchmal Kaugum- gericht gegen „Wehrkraft- mis übrig. zersetzung“ und Kollabora- Zunächst ist an Aufbau gar nicht zu denken. tion mit dem Feind. Um den Um eine humanitäre Katastrophe zu ver- amerikanischen Truppen den meiden und überhaupt Ansprechpartner auf Vormarsch zu erschweren, deutscher Seite zu haben, ernennt die Mili- haben Wehrmachtssoldaten tärregierung den früheren DVP-Politiker Lud- bei ihrem Abmarsch noch die wig Freiherr von Heyl zum „Stadtältesten“ Ernst-Ludwig-Brücke über und gesellt ihm einen „antifaschistischen den Rhein gesprengt. Nur Zwölferausschuss“ um den Lehrer und be- der westliche Brückenturm kannten linken NS-Gegner Dr. Ernst Kilb bleibt stehen. hinzu. Im Mai wird der schwer kranke Kilb Der Zusammenbruch des bis zu seinem Tod 1946 zum Bürgermeister NS-Regimes ist ein Ende ernannt. Erste Zeichen von Normalität stel- mit Schrecken. Zivilisten len sich ein: Im Juni erklärt der Hochheimer Schon in den Tagen nach der Einnahme der Stadt am 21. März 1945 regt beeilen sich, die Besatzer Pfarrer Johann W. Weil die Leichenbergung Im Sommer 1945 haben die Bewohner die Haupt- sich wieder Leben in den Ruinen der stark zerstörten Stadt mit weißen Bettlaken in den für beendet. 700 Wormser sind Opfer des straßen bereits von den Trümmern geräumt

90 WORMS IM WANDEL DER ZEIT -5000 -27 413 614 770 891 1000 1034 1074 1122 1184 1221 1254 1349 1392 1495 1511 1513 1521 1632 1689 1725 1792 1809 1814 1816 Im Herbst 1948 feiert man wieder ein Backfischfest. In den 1950er-Jahren ist es längst eine etablierte Einrichtung

30. August 1946 wird Worms Teil des letzten neu gegründeten deutschen Landes Rhein- land-Pfalz. Historische Bezüge nach Hessen werden damit gekappt. Nachdem am 10. Juli 1945 Franzosen unter General Marie-Pi- erre Kœnig die Amerikaner als Besatzer ab- Fotos: Bernward Ber tram / Stadt Worms gelöst und das Saarland annektiert hatten, hatten sie sich zeitweise weitere linksrhei- Heute ist das Backfischfest mit geschätzt bis zu 700 000 Besuchern das größte Volks- und Weinfest am Rhein nische Annexionen offen gehalten und sind erst durch die voranschreitenden Briten und 72 Jahre alte parteilose Wirtschaftswissen- Noch andere Kontinuitäten sind zu verzeich- re Instanzen. Er will nicht einsehen, dass ihm Amerikaner in deren Besatzungszonen un- schaftler Prof. Dr. Christian Eckert. nen. Zu einer ehrlichen Aufarbeitung der für seine Tätigkeit in der NS-Zeit eine Rente ter Zugzwang geraten. Ende November ha- Zu einem sichtbaren Datum des Neuanfangs NS-Verbrechen kommt es auch in Worms verweigert wird. Mit seiner Ansicht kann er ben sie einen Gemeinderat als beratendes wird für viele Bewohner der stark zerstör- nicht. Weder werden die Brandstifter des sich letztlich aber nicht durchsetzen. Gremium eingesetzt. Zu den ersten freien ten Stadt indessen erst der 24. September Judenpogroms ermittelt noch führende lo- Alles Streben richtet sich auf den Wieder- Wahlen kommt es in Worms erst am 15. 1946. Ein Dutzend Schausteller richtet wie- kale Persönlichkeiten des NS-Staats straf- aufbau. Dazu zieht man auch Experten mit September 1946. Die neu gegründete CDU der ein Weinfest aus, das zunächst der Lieb- rechtlich belangt. Der geflüchtete Oberbür- eindeutiger Vergangenheit heran. Ausge- – die Nachfolgepartei des katholischen Zen- frauenmilch gewidmet wird. Ganz Worms ist germeister Bartholomäus beispielsweise rechnet der ehrgeizige Stadtbaurat Walter trums – wird mit 13 Sitzen stärkste Fraktion auf den Beinen. 40 000 Besucher werden arbeitet nach dem Entnazifizierungsverfah- Köhler, der noch 1941 den uralten jüdischen im Stadtrat. Die SPD holt zwölf, die KPD drei gezählt. Zwei Jahre später heißt es wieder ren in der optischen Industrie in . Friedhof „Heiliger Sand“ mit pompösen und die linke Liste des Landwirts Friedrich offiziell Backfischfest. Immerhin hat die Ver- Sein Vorgänger Otto Schwebel, 1943 noch NS-Gebäuden zupflastern wollte, wird in den Plenk zwei Sitze. Erster gewählter Oberbür- anstaltung im Dritten Reich keinen propa- zum Regierungspräsidenten in Wiesbaden kommenden Jahren zum maßgeblichen Ar-

germeister nach dem Krieg wird der schon gandistischenFoto: Stadtarchiv Inhalt gehabt. aufgestiegen, klagt noch 1960 durch mehre- chitekten der modernen Stadtrekonstruktion.

1839 1848 1853 1860 1873 1875 1898 1914 1918 1933 1938 1945 1946 1949 1950 1958 1959 1963 1964 1972 1990 1991 1995 1996 1997 2001 2019 WORMS IM WANDEL DER ZEIT 91 RENOLIT SE 19Folien46 für die Welt

Aus dem Kern der Wormser Lederindus- Name RENOLIT ist eine Zusammensetzung trie heraus entsteht mit RENOLIT 1946 ein aus „RENO“, einem von der CHAG in der heute international tätiger Spezialist für Zwischenkriegszeit produzierten lederähn- hochwertige Folien, Platten und weitere lichen Stoff, und „LIT“, das sich von IGELIT Produkte aus Kunststoff. Die kommen fast ableitet. überall zum Einsatz, wo es Oberflächen Neue Schuhe sind nach Kriegsende rar. zu veredeln gilt IGELIT schafft brauchbaren Ersatz für das Oberleder, das Jakob Müller vor dem Krieg Jakob Müller aus Kirn und die bis 1945 welt- in der eigenen Werkstatt in Kirn bearbeitet größte Lederfabrik, die Cornelius Heyl AG hat. Es lässt sich zu allerhand anderen nütz- (CHAG), gründen am 4. Mai 1946 die „RE- lichen Utensilien verarbeiten – von Boden- NOLIT-Werke-Gesellschaft mit beschränkter platten bis zum Regenmantel. Im Jahr 1947 In den 1950er-Jahren produzieren Kalander-Anlagen mit mehreren beheizten Walzen Kunststofffolien aus PVC Haftung“, die mit fünfzehn Mitarbeitenden stellt RENOLIT IGELIT-Erzeugnisse her, re- als Bezüge für Möbelpolster und Büroprodukte ihre Tätigkeit aufnimmt. Weil es nach Kriegs- generiert kurzzeitig Altgummi und erzeugt ende kein Leder gibt, wird mit Genehmigung für den Streichsektor lederähnliche Stoffe. Kalander-Anlage mit mehreren beheizten nigt sich die internationale Ausrichtung des der französischen Besatzungstruppen ein 1950 läuft der Wiederaufbau auf vollen Walzen große, aus PVC bestehende Kunst- Familienunternehmens. Zum größten Schritt Lederersatzstoff aus IGELIT hergestellt. Der Touren. Bei RENOLIT produziert die erste stofffolien als Bezüge für Möbelpolster und entschließt sich die Geschäftsführung 2006 Büroprodukte. Es entsteht eine eigene Ver- mit der Übernahme der Industriefoliensparte triebsgesellschaft. Im Jahr 1954 zahlt Jakob des belgischen Chemiekonzerns Solvay für Müller die CHAG aus und legt zwei Jahre 330 Millionen Euro. Dazu gehören 19 Stand- später den Grundstein für den Stammsitz in orte in Europa und Nordamerika sowie Joint Worms mit heute rund 1000 Beschäftigten. Ventures in China und Brasilien. Die RENO- Das Produktportfolio wächst. Die RENOLIT LIT Gruppe wird zum Weltunternehmen mit Haus GmbH bietet ab 1964 Fertighäuser an. über 4700 Beschäftigten. Die Wirtschafts- Selbstklebende Folien etwa für Taxis oder woche zählt sie zu den 20 Hidden Cham- Polizeifahrzeuge kommen in den 1970ern pions in Deutschland. Worms bleibt als ins RENOLIT Portfolio und ab 1981 Folien Hauptsitz des unabhängigen Familienunter- für Fensterprofile. Die lassen sich erstmals nehmens der größte Standort, wo weiterhin beliebig einfärben und bescheren dem Un- Folien für Möbel, Fensterprofile und werbli- ternehmen die Weltmarktführung in diesem che Aufdrucke gezogen werden. Auch wenn Produktsegment. Mit thermisch verform- das Unternehmen mittlerweile weltweit tätig baren Möbelfolien kommt Ende des Jahr- ist, bleibt es in der Metropolregion Rhein- Alle Fotos: RENOLIT SE zehnts ein attraktives Design-Produkt hinzu. Neckar und in der alten Industriestadt Die RENOLIT Gruppe ist heute ein Weltunternehmen in Familienbesitz. Der Stammsitz bleibt in Worms Kurz vor der Jahrtausendwende beschleu- Worms einer der größten Arbeitgeber.

92 WORMS IM WANDEL DER ZEIT -5000 -27 413 614 770 891 1000 1034 1074 1122 1184 1221 1254 1349 1392 1495 1511 1513 1521 1632 1689 1725 1792 1809 1814 1816 Neu GmbH Werkzeug für das Wirtschaftswunder1949

Aus der Nachkriegsnot geboren, 70 Jahre später ist der – wie es in der Ge- Heyl-Straße. Inzwischen gibt es Depen- werkzeugen sowie Werkzeugmaschinen macht Edmund W. Neu sich mit einem werbeanmeldung heißt – „Einzelhandel für dancen in Speyer und . bietet das Unternehmen auch komplette Werkzeug-Großhandel selbstständig. Präzisionswerkzeuge und Maschinen für Seit 2009 ist neben der Tochter des Grün- Werkstatt-Einrichtungen, Betriebs- und Der gewinnt mit Service und Qualität Eisen- und Holzbearbeitung sowie Kleinei- ders, Elfriede von Wihl, mit Eric von Wihl die Lagereinrichtungen für Gewerbeschulen, schnell Kunden weit über die Stadt- senwaren“ – zum international tätigen Unter- dritte Generation aus der Familie geschäfts- Ausbildungswerkstätten, Fachschulen und grenzen hinaus. In dritter Generation nehmen mit 80 Mitarbeitern herangewach- führend tätig. Der Wirtschafts-Ingenieur hat Universitäten sowie für den Export an. Mehr ist der Familienbetrieb aus Worms sen. Werkzeuge, Elektrowerkzeuge, den Umsatz seither vervielfacht. Die 15 Mit- als 70 000 Artikel sind auf einer Lagerfläche heute international im Werkzeugmaschinen, arbeiter im Außendienst sind nun verstärkt von rund 3000 Quadratmetern in Worms Geschäft Schweißtechnik, Be- als Werksvertretung namhafter Hersteller und in der Niederlassung Speyer zu finden. triebseinrichtungen für Werkzeug-Großmaschinen international Was hier nicht vorrätig liegt, kommt binnen Viel gilt es zu repa- und Arbeitsschutz unterwegs. Ein weiterer zentraler Service ist 24 Stunden direkt zum Kunden. Als 2010 rieren, zu bauen und gehen von Worms die schnelle Instandsetzung defekter Werk- die Generalsanierung der Nibelungenbrü- an Waren zu pro- aus in alle Ecken zeuge und Maschinen in der eigenen Werk- cke ansteht, kommen die Werkzeuge dazu duzieren im kriegs- Deutschlands und statt oder direkt beim Kunden. Neben dem wie nach dem Krieg wieder zuverlässig von zerstörten Worms. oft auch in Nach- komplexen Angebot an Hand- und Elektro- E. W. Neu. Zupacken können und barländer oder nach wollen die eingesesse- Übersee. Kunden nen Wormser und ihre kommen längst neu zugewanderten nicht mehr nur aus Mitbürger. Aber es fehlt dem Handwerk, seit dafür allerorten an gu- Mitte der 1950er- tem Werkzeug. Als der Jahre beliefert der gelernte Kaufmann Ed- Der erste eigene Bus liefert ab 1965 Waren aus Fachgroßhandel mund W. Neu 1949 aus auch Großunter- britischer Kriegsgefangenschaft zurück nehmen. nach Worms kommt, ist auch sein Lehr- 1955 stellen Neus den ersten Auszubilden- betrieb demontiert. Arbeit gibt es keine. den ein. Heute hat die Firma elf Azubis. Doch der zupackende 22-Jährige lässt sich 1963 wechselt das Geschäft vom ersten nicht unterkriegen. Unterstützt von Ehefrau gemieteten Laden in der Woog- in einen Elisabeth verkauft er – anfangs aus der el- Neubau in der Hagenstraße. Der Anspruch terlichen Wohnung heraus – die ersten Ma- auf ein Vollsortiment für Qualitätswerkzeug schinen und Werkzeuge. Auch für den Wie- verlangt nach mehr Verkaufs- und Lager- deraufbau der Nibelungenbrücke liefert Neu fläche. 1976 zieht das Unternehmen dann

Fotos: E. W. NEU GmbH Fotos: E. W. das dringend benötigte Werkzeug. an den heutigen Standort in der Cornelius- Heute ist der Hauptsitz des Familienunternehmens E. W. Neu in der Cornelius-Heyl-Straße 58

1839 1848 1853 1860 1873 1875 1898 1914 1918 1933 1938 1945 1946 1949 1950 1958 1959 1963 1964 1972 1990 1991 1995 1996 1997 2001 2019 WORMS IM WANDEL DER ZEIT 93 Lebenshilfe Worms 19Es64 ist normal, verschieden zu sein

Mit umfassenden Angeboten für in der Mittagszeit das Café L betritt, den wie die staatliche Fürsorge geschütztes Lernen, Arbeiten, Wohnen erwarten selbst gebackener Kuchen, mit schwer geistig behin- und die nötige Assistenz ermöglicht die hausgemachte Pasta und frischer Salat. derten Kindern ehemaliger Lebenshilfe Worms seit Jahrzehnten Dazu gibt es natürlich Kaffeespezialitäten KZ-Häftlinge oder Zwangs- Wormserinnen und Wormsern mit geisti- und ausgesuchten Wein aus der Region. arbeiter umgeht. Das ger Behinderung oder psychischer Aber bevor wir jetzt zu sehr ins Schwär- Elend lässt ihn nicht mehr Erkrankung einen möglichst normalen men geraten, geht es hier doch vor allem schlafen. Mutters ist über- Alltag. Aus dem sozialen Netz der Stadt um etwas Anderes. Denn auch wenn es zeugt: Betroffene Eltern, ist der Verein nicht mehr wegzudenken auf den ersten Blick vielleicht gar nicht die die Kraft dazu haben, auffällt: Das Café L ist auch im 21. Jahr- müssen sich zusammen- hundert noch ein besonderer Ort. Hier tun und das Schicksal kümmern sich Menschen mit und ohne ihrer Kinder in die eigene geistiges oder psychisches Handicap Spatenstich für eine gute Sache: In der Kurfürsten- Hand nehmen. So entsteht die „Lebens- zusammen um die Gäste – frei nach dem straße 10 entsteht eine neue Tagesförderstätte hilfe für das geistig behinderte Kind e. V.“ Motto: Es ist normal, verschieden zu sein. V. l. OB Gernot Fischer, Ministerpräsident Kurt Beck, zunächst 1958 als Zusammenschluss von Landrat Hansjochem Schrader und Wilfried Noll, 1. Vorsitzender des Lebenshilfe-Vereins 15 Fachleuten in Marburg. Nur sechs Jahre später gründen 53 engagierte Bürger einen Und wer bei seinem Besuch auf den Ge- selbstständigen Ortsverein auch in Worms. schmack gekommen ist, der wird feststel- Die Zeit ist reif für neues Denken. Der Worm- len: Die Lebenshilfe in Worms macht Men- ser Verein hat von Anfang an Rückendeckung schen mit und ohne Behinderung, aber auch aus der Stadtverwaltung. Bürgermeister Unternehmen noch viel mehr Angebote. und Sozialdezernent Georg Berg übernimmt oben: Natürlich wird in Tom Mutters Kindergarten Das alles ist viele Jahrhunderte lang völlig für die ersten Jahre den Gründungsvorsitz, auch Fastnacht gefeiert anders. Menschen mit Behinderung werden Werner Wittmann aus dem Jugendamt eh- rechts: „Ein Herz für Kinder“ sponsert eine Fußgän- ausgegrenzt, versteckt, von den National- renamtlich die Geschäftsführung. Schon im gerampel, damit Beschäftigte und Besucher sicher die Straße zwischen Werkstatt und Tagesförderstätte sozialisten schließlich sogar gezielt getötet. Jahr darauf beginnt die praktische Arbeit. Im überqueren können. Das freut auch Oberbürgermeis- Doch auch nach Kriegsende ist von Integ- Käthe-Luther-Kindergarten werden in einer ter Gernot Fischer (2. v. r.) und Lebenshilfe- ration oder gar Inklusion überhaupt keine vereinseigenen Sondergruppe zunächst fünf Geschäftsführer Gerhard Binder (vorne rechts) Rede. Es wird weiter verwahrt und bevor- Kinder mit Behinderungen betreut. Das ist mundet. Als UN-Beauftragter für von den ein Novum. Viele Kinder mit Handicap ha- Ältere Wormser werden sich erinnern: In der Nationalsozialisten verschleppte Displaced ben vorher keine Gelegenheit bekommen, Hafergasse gab es schon seit Menschen- Persons und deren Kinder erlebt der nieder- mit anderen Kindern zu spielen und von- gedenken ein traditionsreiches Kaffee- ländische Volksschullehrer Tom Mutters im einander zu lernen. In späteren Jahren öffnet haus. Das ist heute nicht anders. Wer jetzt Philippshospital im hessischen Goddelau, sich der Tom-Mutters-Kindergarten mitsamt

102 WORMS IM WANDEL DER ZEIT -5000 -27 413 614 770 891 1000 1034 1074 1122 1184 1221 1254 1349 1392 1495 1511 1513 1521 1632 1689 1725 1792 1809 1814 1816 der 2012 dazugekommenen Krippe der Le- Fahrräder, bieten einen Wäsche-Service Interessierte mit und ohne Sonderbegabun- haus in der Gaustraße. Zwei Jahre später benshilfe allen Kindern. Die Inklusion tritt in auch für Unternehmen. Die Beschäftigten gen sich gegenseitig inspirieren. Ein Projekt, ziehen dort 24 Behinderte ein. Zwei weitere den Vordergrund – unterstützt durch indivi- der Metall-Werkstatt biegen, bohren und das bereits bundesweit Aufmerksamkeit er- Häuser in der Samuelstraße und im Kling- duelle Förderung und Assistenzen. feilen nicht nur Schlüsselanhänger aus Mes- hielt. weg kommen 1996 und 2006 hinzu. Ein Doch was soll aus Menschen mit Behinde- sing und Metall. Je nach ihren Fähigkeiten Große Fortschritte in der Medizin und bei Fahrdienst, Sportangebote im eigenen Club rung werden, wenn sie aus der beschützen- produzieren sie selbst mit computergesteu- technischen Hilfsmitteln erlauben ab den und ambulante unterstützende Angebote den Umgebung der Sonder- oder Förder- erten Dreh- und Fräsmaschinen Präzisions- 1980er-Jahren immer mehr Menschen mit wie der ambulante Pflegedienst kommen schule entlassen werden? 1966 heißt die teile für die Industrie. Die Großküche ver- Beeinträchtigung eine zunehmende Teilha- hinzu. Rund 500 Menschen aus Worms und

Die Lebenshilfe bietet in Worms heute unterschiedlichste Arbeitsplätze – ob in der Gärtnerei, im Café L oder im Radhaus

Antwort darauf: „Beschützende Werkstätte“. sorgt seit 2011 Schulen, Kindergärten und be am Leben. Da auch die Lebenserwar- Umgebung mit Behinderungen betreuen die In den Räumen der Lederwerke Heyl neh- Betriebe mit 1250 vollwertigen Mahlzeiten. tung bei vielen Krankheitsverläufen sich der Einrichtungen und vereinseigenen Unter- men die ersten vier Mitarbeiter ihre Arbeit Zweijährige Bildungsprogramme bereiten von Normalbürgern angleicht, wird auch nehmen der Lebenshilfe inzwischen in allen auf. Keine zehn Jahre später werden es 1973 auf die künftigen Aufgaben vor und ermög- das eigenständige Leben immer wichtiger. Lebensphasen – von der Geburt bis in den bereits 40 sein. Und die Betätigungsfelder lichen bei passender Eignung auch die Vor- Auch viele Menschen mit Behinderung wol- Ruhestand hinein. Ein dichtes Netz vor Ort, werden immer zahlreicher. Heute pflegen bereitung auf eine Tätigkeit auf dem regu- len nicht lebenslang im Haushalt ihrer Eltern das trägt – Tom Mutters und vielen enga- Mitarbeiter der Lebenshilfe beispielsweise lären Arbeitsmarkt. Und im „atelierblau“ im wohnen. 1979 legt die Lebenshilfe deshalb gierten Wormser Bürgerinnen und Bürgern

Alle Fotos: Lebenshilfe Worms die Grünanlagen des Klinikums, reparieren Wormser Kunsthaus können künstlerisch den Grundstein für ihr erstes Wohngruppen- sei Dank.

1839 1848 1853 1860 1873 1875 1898 1914 1918 1933 1938 1945 1946 1949 1950 1958 1959 1963 1964 1972 1990 1991 1995 1996 1997 2001 2019 WORMS IM WANDEL DER ZEIT 103 Worms heute 20Kennzeichen19 WO

Worms hat sich seine Eigenständigkeit Worms im Jahr 2019. Das sind 15 228 Fuß- stets bewahrt. Mit innovativen Unter- ballfelder Fläche 48 km südlich von Mainz nehmen und einem besonderen histo- und 25 km nördlich von Ludwigshafen. 88 rischen Erbe zählt es zu den möglichen Kilometer sind es bis zur französischen Aufsteigern in der zweiten Reihe. Im Grenze. Nur 29,7 Prozent der Stadtfläche 21. Jahrhundert ist die Stadt indessen sind tatsächlich mit Häusern und Straßen noch immer auf der Suche nach einem bebaut. Dort wohnen (Ende 2017) 43 406 neuen Profil. Dabei stehen die Vorausset- Wormserinnen, um den Damen den Vortritt zungen nicht schlecht, dass sie künftig ein zu lassen, und 42 854 Wormser in 12 701 noch attraktiveres Zentrum in einer attrak- Einfamilienhäusern, 4972 Doppelhaushälf- tiven Region wird – im Kernland Europas ten und 23 439 Wohnungen. Der Wormser ist im Schnitt 43 Jahre alt und damit ein wenig jünger als der statisti- sche Durchschnittsdeutsche mit 44 Jahren und drei Monaten. 43 Prozent sind verhei- Als kreisfreie Stadt und Oberzentrum für den Wonnegau vereinigt Worms viele Vorzüge

ratet, knapp 41 Prozent ledig, 8,5 Prozent Damit zählt sie mit mehreren Hidden Cham- geschieden und rund sieben Prozent sind pions zum Rückgrat der deutschen Wirt- verwitwet. 15 320 Menschen – knapp 18 schaft, das in der Öffentlichkeit zugunsten Prozent der Einwohner – haben einen aus- neuer Technologien oft etwas unterschätzt ländischen Pass. wird. Dafür spricht auch der hohe Güter- Obgleich 61 Prozent der Stadtfläche für umschlag in die und aus der Stadt von ins- Weinbau und Landwirtschaft genutzt wer- gesamt 1 365 835 Tonnen. Vieles davon den – Wald gibt es dagegen so gut wie gar kommt nach wie vor über den Rhein – den nicht – arbeiten nur 236 Einwohner in die- wichtigsten Verkehrsfluss Europas. Aller- sem Bereich. Der typische Wormser schafft dings zeigt die Arbeitslosenquote von über im Büro – ob bei der Stadt oder in einem sechs Prozent selbst zu Zeiten einer histo- Verband oder Unternehmen. Neben diesen risch lang anhaltenden Hochkonjunktur und 14 388 Menschen halten 9 411 die Produk- praktisch unbegrenzt verfügbarer Investi- tionsanlagen in den Wormser Industriebe- tionsmittel auch die Grenzen wirtschaftlicher trieben am Laufen. Worms ist auch in der Leistungskraft. Dienstleistungsgesellschaft eine Stadt mit Es könnte mithin lohnen, auch andere Stand- 2011 bekommt die Stadt ein neues Theater und Kulturzentrum – Das Wormser nennenswertem produzierendem Gewerbe. beine stärker zu entwickeln. In der Stadt gibt

118 WORMS IM WANDEL DER ZEIT -5000 -27 413 614 770 891 1000 1034 1074 1122 1184 1221 1254 1349 1392 1495 1511 1513 1521 1632 1689 1725 1792 1809 1814 1816 Als kreisfreie Stadt und Oberzentrum für den Wonnegau vereinigt Worms viele Vorzüge

BU Alle Fotos: Martin Wein

Das 2018 eröffnete Haus am Dom der Kirchengemeinde St. MartinFoto: Stadtarchiv ist in der Stadt hoch umstritten. Letztendlich stört es weniger als andere Bauten der Umgebung

1839 1848 1853 1860 1873 1875 1898 1914 1918 1933 1938 1945 1946 1949 1950 1958 1959 1963 1964 1972 1990 1991 1995 1996 1997 2001 2019 WORMS IM WANDEL DER ZEIT 119 Worms – was hat diese Stadt am Oberrhein zwischen Mainz und Ludwigshafen nicht schon alles erlebt. Schon Römer siedeln im Wonnegau. Das Burgunder-Reich sorgt mit einiger Verspätung für sagenhafte Geschichten. Doch es geht auch handfester: Schon früh wird Worms Bischofssitz, bekommt einen prächtigen Dom und lockt als Austragungsort wichtiger Reichstage alle Großen des Reiches in seine Mauern. Nicht umsonst spricht man von der Stadt auch als „Jerusalem am Rhein“, denn sie wird im Mittelalter ein wichtiges Zentrum jüdischen Lebens in der Diaspora. Die causa Luther wird hier verhandelt und die Truppen des Sonnenkönigs Ludwig XIV. von Frankreich besetzen die Stadt. Mit Bierbrauern und Leder kommt schließlich die Industrialisierung in Gang. Das 20. Jahrhundert bringt zwei Kriege und eine Diktatur mit Fackelzügen und Schikanen. Der Dom brennt nach einem Luftangriff. Wie froh ist man, als endlich wieder ein Backfischfest in Frieden gefeiert werden kann. Und mit dem Wirtschaftswunder geht es auch in Worms aufwärts. Schließlich bekommen sogar die Nibelungen ihr eigenes Museum. In unserer modernen Stadtchronik erzählen wir diese bewegte wie bewegende Geschichte in einer Abfol- ge in sich geschlossener Kapitel. Hintereinander oder jedes für sich laden sie unterhaltsam ein zu einem kurzweiligen Streifzug durch die Vergangenheit in Wort und Bild. Festgemacht an wichtigen Jahreszahlen kommen dabei zentrale Epochen und Episoden der Wormser Stadtentwicklung in großen Linien und be- merkenswerten Details zur Sprache. Historische Bilddokumente und aktuelle Fotos erleichtern das Ver- ständnis und machen Lust auf die Lektüre. Eingebettet in dieses Konzept erzählen wir auch die Geschich- te wichtiger Unternehmen und öffentlicher Institutionen, die Worms bisweilen über mehrere Generationen prägen.

ISBN: 978-3-98193-401-4

9 783981 934014

413 - 891 - 1034 - 1254 - 1349 - 1495 - 1632 - 1792 - 1853 - 1898 - 1918 - 1945 - 1997 - 2019