Wir Wollen Mehr Demokratie Wagen.«
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»WIR WOLLEN MEHR DEMOKRATIE WAGEN.« Die Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung wurde im Jahre 1994 vom Deutschen Bundestag als bundesunmittelbare Stiftung des öffentlichen Rechts mit Sitz in Berlin errichtet. Sie hat die Aufgabe, das Andenken an Willy Brandt und seinen Einsatz für Frieden, Freiheit und Einheit des deutschen Volkes sowie die Versöhnung und Verständigung unter den Völkern zu wahren. Die Reihe »Willy-Brandt-Studien« soll – in Ergänzung zur zehnbändigen Edition »Berliner Ausgabe« – ein Forum zur Veröffent- lichung von Arbeiten über den ehemaligen Bundeskanzler sowie zu zeit- geschichtlichen und politischen Themen bieten, die mit seinem Namen verbunden sind. axel schildt / wolfgang schmidt (hrsg.) »Wir wollen mehr Demokratie wagen.« Antriebskräfte, Realität und Mythos eines Versprechens willy-brandt-studien band 6 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. ISBN 978-3-8012-0549-2 1. Auflage 2019 Copyright © 2019 by Verlag J.H.W. Dietz Nachf. GmbH Dreizehnmorgenweg 24, 53175 Bonn Umschlag: Antje Haack | Lichten, Hamburg Satz: Jens Marquardt, Bonn Druck und Verarbeitung: CPI books, Leck Alle Rechte vorbehalten Printed in Germany 2019 Besuchen Sie uns im Internet: www.dietz-verlag.de Das Bundeskabinett beim Bundespräsidenten vor der Villa Hammerschmidt in Bonn, 22. Oktober 1969. 1. Reihe (v. l.): Gerhard Jahn (Justiz), Käte Strobel (Jugend, Familie, Gesundheit), Bundespräsident Heinemann, Bundeskanzler Brandt, Walter Scheel (Auswärtiges), Karl Schiller (Wirtschaft), Georg Leber (Verkehr und Post), 2. Reihe (v. l.): Helmut Schmidt (Verteidigung), Alex Möller (Finanzen), Erhard Eppler (Wirtschaftliche Zusammenarbeit), Hans-Dietrich Genscher (Inneres), Walter Arendt (Arbeit), 3. Reihe (v. l.): Egon Franke (Innerdeutsche Beziehungen), Lauritz Lauritzen (Städte- bau und Wohnungswesen), Hans Leussink (Bildung und Wissenschaft), Horst Ehmke (Besondere Aufgaben), Josef Ertl (Ernährung, Landwirtschaft und Forsten). Inhalt Axel Schildt p / Wolfgang Schmidt EINLEITUNG 11 Martin Sabrow Zeit-Worte in der Zeitgeschichte 24 I. HERKUNFT UND ANTRIEBSKRÄFTE. DER RUF NACH »MODERNISIERUNG« UND »DEMOKRATISIERUNG« IN DEN 1950ER UND 60ER JAHREN Kristina Meyer Mehr »Mut zur Wahrheit« wagen? Willy Brandt, die Deutschen und die NS-Vergangenheit 41 Alexander Gallus »Revolution«, »freiheitlicher Sozialismus« und »deutsche Einheit«. Sehnsuchtsorte nonkonformistischer intellektueller Akteure in der Frühphase der Bundesrepublik Deutschland 59 Jens Hacke Demokratisierungs- und Modernisierungsprozesse in der Bundesrepublik Deutschland der 1950/60er Jahre. Ideengeschichtliche Sondierungen 73 Detlef Siegfried Parlamentarismuskritik und Demokratie-Konzepte in der Außerparlamentarischen Opposition und den neuen sozialen Bewegungen 88 Inhalt II. UMSETZUNG, WIRKUNG, GRENZEN. REALITÄT UND REZEPTION VON »WIR WOLLEN MEHR DEMOKRATIE WAGEN« 1969–1974 Elke Seefried Mehr Planung wagen? Die regierende Sozialdemokratie im Spannungsfeld zwischen politischer Planung und Demokratisierung 1969–1974 105 Dietmar Süß Die neue Lust am Streit – »Demokratie wagen« in der sozialdemokratischen Erfahrungswelt der Ära Brandt 125 Knud Andresen Radikalisierung oder Demokratisierung? Politisierte Jugendkulturen um 1970 142 Alexandra Jaeger Mehr Toleranz wagen? Die SPD und der Radikalenbeschluss in den 1970er Jahren 155 Daniela Münkel Willy Brandt als Hoffnungsträger? »Mehr Demokratie wagen« und die DDR 171 III. VORREITER ODER NACHHUT? »MEHR DEMOKRATIE WAGEN« IM INTERNATIONALEN VERGLEICH Philipp Gassert Mehr partizipatorische Demokratie wagen? Demokratisierung, Modernisierung und Protest im transatlantischen Vergleich 185 8 Inhalt Hélène Miard-Delacroix »Von einem weniger zu einem mehr«? Mehr Demokratie im Wechselverhältnis von Protest, Partizipation und Moderne in deutsch-französischer Perspektive 203 Martina Steber Sorge um die Demokratie. Deutsche und britische Konservative und das linke Demokratieprojekt in den 1970er Jahren 219 IV. FÜR MEHR DEMOKRATIE WELTWEIT? ZUR INTERNATIONALEN REICHWEITE DES WESTLICHEN DEMOKRATIEMODELLS Bernd Rother Welche Demokratie? Die Sozialistische Internationale und ihre Öffnung für neue Partner in der »Dritten Welt« 241 Frank Bösch Mehr Diktatur wagen? Der bundesdeutsche Umgang mit undemokratischen Staaten in den 1970/80er Jahren 262 ANHANG Abkürzungsverzeichnis 279 Personenregister 283 Die Autorinnen und Autoren 289 Bildnachweis 293 Inhalt 9 Einleitung axel schildt (†) ∕ wolfgang schmidt Versuch einer Historisierung »Wir wollen mehr Demokratie wagen.« Dieser Satz aus der ersten Regie- rungserklärung, die Bundeskanzler Willy Brandt am 28. Oktober 1969 vor dem Deutschen Bundestag in Bonn abgab, ist fünfzig Jahre später die vielleicht meistzitierte Formulierung eines deutschen Politikers nach dem Zweiten Weltkrieg geworden. Das Zitat gehört zum allgemeinen poli- tisch-gesellschaftlichen Wortschatz und ist, wie unzählige Variationen be- weisen, fester Bestandteil des Arsenals von Politikern, Journalisten und Werbetextern. Die positive historische Konnotation des geflügelten Wortes, die fast mystische Qualität gewonnen hat, steht außer Frage. »Wir wollen mehr De- mokratie wagen« ist das Synonym für die grundlegenden Reformen in der alten Bundesrepublik, die am Ende der 1960er und zu Beginn der 1970er Jahre verwirklicht wurden. Von »Fundamentalliberalisierung« (Jürgen Ha- bermas) oder gar der »Umgründung der Republik« (Manfred Görtemaker) war und ist dabei die Rede. Als Beispiele für die Erweiterung der Bürger- rechte und die Vermehrung von Chancen zur politischen und sozialen Teil- habe in der »Ära Brandt« können genannt werden: die Senkung des Wahl- alters und der Volljährigkeit, die Öffnung des Zugangs zu höherer Bildung für breite Bevölkerungsschichten, die Ausdehnung der betrieblichen Mit- bestimmung, die Humanisierung des Strafrechts, die rechtliche Förderung der Gleichstellung der Geschlechter, die Akzeptanz des sexuellen Selbstbe- stimmungsrechts sowie die Infragestellung von Verhaltensweisen und Hie- rarchien, die noch aus obrigkeitsstaatlichen Zeiten stammten. Das Verdienst, für diese Reformen gesorgt zu haben, wird zum einen der sozial-liberalen Koalition von SPD und FDP, zum anderen aber auch den starken Impulsen zugeschrieben, die von der APO und der Studen- tenrevolte 1968 ausgingen. Mittlerweile darf es jedoch als Konsens in der zeitgeschichtlichen Forschung gelten, dass die Phase der »zweiten Grün- dung der Bundesrepublik«1 nicht erst 1968/69 begann. Bereits die erste 1 Vgl. Franz-Werner Kersting/Jürgen Reulecke/Hans-Ulrich Thamer (Hrsg.): Die zweite Gründung der Bundesrepublik. Generationswechsel und intellektuelle Wortergreifun- gen 1955–1975, Stuttgart 2010. Große Koalition von CDU/CSU und SPD, die ab Ende 1966 regierte, beschloss wichtige Reformen zur Modernisierung von Staat und Gesell- schaft. Die Reform der Hochschulen begann sogar schon 1964/65. Über- haupt setzte der politische, gesellschaftliche und kulturelle Wandel in der Bundesrepublik mit all seinen vielen Facetten bereits im letzten Drittel der 1950er Jahre ein und dauerte bis zum ersten Drittel der 1970er Jahre an. »Die langen 1960er Jahre« (Anselm Doering-Manteuffel) waren ein dynamischer Transformationszeitraum,2 der vom zukunftsoptimistischen Glauben an Wissenschaft und Fortschritt und ganz besonders von sozio- ökonomischen und demografischen Faktoren geprägt wurde, für die Schlag- worte wie Wirtschaftswunder, Massenkonsum, Westernisierung, Techni- sierung, Bildungsexpansion, Jugendprotest stehen. Willy Brandts »Wir wollen mehr Demokratie wagen« eignet sich als Sonde, um diese gesellschaftshistorischen Prozesse, aber auch um intel- lektuelle Vordenker der Entwicklung und politische Akteure zu beleuch- ten. Das Ziel dieses Bandes ist es, den berühmten Satz nicht als Über- schrift einer fragwürdigen Meistererzählung zu lesen und zu verstehen, sondern ihn zu »historisieren«. Das Versprechen, »mehr Demokratie wa- gen« zu wollen, ist einerseits in die bereits während der 1950er Jahre ein- setzende Debatte über Demokratisierung, Modernisierung und Liberali- sierung einzuordnen. Andererseits sind die praktischen Maßnahmen, Fol- gen und Reaktionen zu analysieren, die sich aus Brandts Absichtserklä- rung ergaben, und diese sollen wiederum mit den Entwicklungen in an- deren westlichen Staaten verglichen werden. Zur Historisierung gehört zunächst, das Titelzitat im zeitgenössischen Kontext zu betrachten. »Wir wollen mehr Demokratie wagen« tauchte ziemlich am Beginn von Brandts Regierungserklärung auf, kam gleich- wohl eher beiläufig daher. Unmittelbare Aufmerksamkeit erzeugten viel- mehr die mit Verve vorgetragenen Kanzlerworte in der Schlusspassage: »Nein: Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie. Wir fangen erst richtig an! Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein und werden – im Innern und nach außen!«3 Darauf reagierten die Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion mit wütendem Protest, während die Koalitionäre von SPD und FDP donnernd applaudierten und in Jubel ausbrachen. Das 2 Vgl. Axel Schildt/Detlef Siegfried/Karl Christian Lammers (Hrsg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000. 3 Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 6/5, 28. Oktober 1969, S. 20–34, hier S. 34. http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/06/06005.pdf (zuletzt abgerufen am 18. De- zember 2018). 12 Axel Schildt / Wolfgang Schmidt Pathos des Neuanfangs gehörte